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German Pages 1089 Year 1883
Die Vorurtheile der Menschheit Lazar Hellenbach , Lazar Hellenbach von Paczolay
Hellenbach :
Die Vorurtheile der Menschheit.
Erster Band .
Zu beziehen durch jede Buchhandlung. Sämmtliche Werke von L. B. Hellenbach Die Vorurtheile der Menschheit. Dritte verm . u. verh Aufl. 3 Bde. gr. 8 °. 1048 S. Brosch. M. 12.-, geb. M. 16.50 I. Band : Volkswirthschaftliche Vorurtheile. Politische Vorur theile.
Gesellschaftliche Vorurtheile.
II. Band : Vorurtheile in Religion und Wissenschaft. III. Band : Die Vorurtheile des gemeinen Verstandes.
( Einzelne Bünde werden nicht abgegeben .) Eine Philosophie des gesunden Menschenverstan des. Gedanken über das Wesen der menschlichen Erscheinung 290 Seiten. Brosch . M. 4.-, geb. M. 5.50
Der Individualismus im Lichte der Biologie und Philosophie der Gegenwart. 272 Seiten. Brosch. M. 4.-, geb. M. 5.50
Geburt und Tod , oder : Die Doppel - Natur des Men schen .
325 Seiten .
Brosch. M. 6.- , geb. M. 8.
Die Magie der Zablen als Grundlage aller Mannig Brosch . M. 4.–, geb. M. 5.51 faltigkeit. 200 Seiten. Die Insel Mellonta. 2. Aufl. 248 S. Brosch. M. 3, geb. M. · Seitenstück zu Bellamy's „ Rückblick auf das Jahr 2000 “ . Der Kampf am Rhein und an der Donau. 40 Seitei 1887 .
Preis M. -.51
Mr. Slade's Aufenthalt in Wien . Ein offener Brief a meine Freunde. 44 Seiten. Die neuesten Kundgebungen Welt. 68 Seiten.
Preis M. 1.
einer intelligible Preis M. 1.21
Ist Hansen ein Schwindler ? Eine Studie über den animal Preis M. –.51 schen Magnetismus. 38 Seiteu. Die antisemitische Bewegung. 56 S. gr. 80. Pr. M. 1.
Die Occupation Bosniens und deren Folgen. 52 : Preis M. 1.2
Der ungarisch-kroatische Conflict. 17 S. Preis M. -.5 Die
Logik der Thatsachen .
Eine Entgegnung aut di
Broschüre „ Einblicke in den Spiritismus“. (Von Erzherzo Jobann). 40 Seiten. 80. 5. Auflage.
Preis M. 1.
Das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert. Kriti der Gegenwart und Ausblicke in die Zukunft. Mit einem Vorwo von Dr. Karl du Prel.
Preis M. 3.–, geb. M. 4.
Hellenbach , der Vorkämpfer für Wahrheit un Menschlichkeit.
Abbildungen.
Skizzen von Dr. Hübbe-Scheiden .
M
Preis M. 1.8
Oswald Mutze, Verlagsbuchhandlung in Leipzig.
DIE VORURTHEILE DER
MENSCHHEIT. VON
L. B. HELLENBACH .
DRITTE AUFLAGE IN DREI BÄNDEN .
ERSTER BAND.
LEIPZIG , VON OSWALD MUTZE. VERLAG UND DRUCK 1893.
UNIVERSITY
OF
WISCONS
IN
WA
LIBRARY
Alle Rechte vorbebalten .
111101 1907
BE
Vorrede
.H362
Die Ansicht einer Gegend kann sich wesentlich ver ändern, wenn man sie von verschiedenen , insbesondere wenn von entgegengesetzten Höhepunkten aus betrachtet.
Auf
gleiche Weise übt die Verschiedenheit der philosophischen Anschauung einen grossen Einfluss auf die Naturbetrachtung und demzufolge auf die Handlungsweise der Menschen aus. Die Folge davon ist, dass sich für den Werth oder Unwerth
einer philosophischen Ansicht drei Gesichtspunkte ergeben ; man kann die Fragen aufwerfen : Hat sie in sich selbst, in ihrem Aufbau eine zureichende Begründung ? Steht sie im Einklange mit den Ergebnissen der Naturforschung ? Hat sie einen ethischen und praktischen Werth ?
Diese drei Fragen entspringen dem Bedürfnisse des intelligenteren Menschen, in seinem Denken, Erkennen und Fühlen Alles widerspruchsfrei zu erklären . Eine philosophische Anschauung wird daher am besten in ihrem ganzen Zu
sammenhange beurtheilt. Darin liegt der Grund, der mich zur Gesammtausgabe der drei Bände veranlasste , zumal viele Leser des zweiten Bandes von der Existenz eines
dritten gar nichts wussten, wenngleich dieser der wichtigste Da ich ferner die Erfahrung gemacht , dass der in meinen Schriften durchleuchtende
und entscheidendste ist.
transscendentale Optimismus wenigstens auf viele Leser einen wohlthuenden Einfluss geübt , so habe ich den Preis so tief gestellt, als es überhaupt möglich ist. Wien , im Oktober 1883. Der Verfasser.
Inhalt. Seite
Vorwort.
Vom Vorurtheile im Allgemeinen .
1
Erstes Buch : Volkswirthschaftliche Vorurtheile.
I. Capitel. Hunger und Elend . Das Verhältniss der Production zur Bevölkerung. macht der Staatshilfe .
Die Oho
Die antinomische Natur des Eigen 13
thumsrechtes
II. Capitel. Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen . Das eherne Lohn-Gesetz Ricard o's. — Die volkswirthschaftlichen Grundsätze Carey's.
Lilienfeld's Socialwissenschaft der
Zukunft
30
III. Capitel Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten. Der poetische Socialismus. Die Productiv- Associationen. Die Das collective Eigenthum . Boden -Rente . IV . Capitel. Die Lösung durch den Staat. Die ungerechte Vertheilung der Steuern. Die Erbsteuer und das Erbrecht. – Die Eigenthumsbildung
56
85
V. Capitel.
Die Lösung durch die Gesellschaft. Die Verpflichtung der Kinderlosen
Die Nächstenliebe.
. 108
Inhalt.
VI
Seite VI. Capitel. Das Recht der Staatsgewalt u. die landwirthschaftl. Produktion. Nutzwerth und Tauschwerth. Das Besteuerungs- und Expropria tions-Recht des Staates. Der Schutz des Eigenthumsrechtes. 125 VII. Capitel. Die Frage der Uebervölkerung.
Die Präventivmittel gegen zu grosse Der biologische Process. Fruchtbarkeit. Die Repressivmittel gegen Uebervölkerung VIII. Capitel.
.
138
Die Morgenrotho einer leidlichen Existenz. Das Minimum der Lebensbaltung.
Die Erziehung der nächsten
Generation. Die Epoche der garantirten Existenz. Der Der Pessimismus und der biolo Socialismus der Zukunft. 159
gische Process Zweites Buch : Politische Vorurtbe ile. I. Capitel.
Der Krieg Hartmann und der ewige Krieg. — Kant und der ewige Friede. Die drei Factoren der territorialen Staatenbildung. Der Wider
streit dieser Factoren mit den Entwickelungsbedingnissen ist der Krieg. - Die Vebereinstiminung derselben ist der Friede .
185
II. Capitel
Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung.
Das legitime Recht. – Die Verlogenheit der modernen parlamen tarischen Regierungen . der Wablordnung
Die Bildung als nothwendige Basis .
.
234
Drittes Buch : Gesellschaftliche Vorurtheile. I. Capitel. Der Aristokrat.
Die wirklichen und falschen Factoren einer bevorzugten Lebensstel . 251 lung. Gänzliche Entwerthung der Titel und Orden II. Capitel. Der Jude.
Die Die Vorzüge und Schattenseiten aller ungemischten Rassen. specifischen Eigenschaften sind eine Frucht der Sonderstellung. 263
VII
Inhalt.
Seite
III. Capitel. Das Duell .
Das Duell als Culturelement der Vergangenheit. – Der Zweikampf 269
ein Akt der Nothwebr.
Der einzige Ausweg
IV. Capitel
Unsere geschlechtlichen Beziehungen . I. Die Liebe im engeren Sinne.
Schopenhauer über die Liebe. Die dreifache Wurzel der Liebe. - Körperliche Eigenschaften . Charakter- Eigenschaften (Gesichts 277
zöge). – Die Gegenliebe . II. Die Coquetterie .
Das dreifache Thätigkeitsgefahl der Coquetterie. – Die echte und unechte Coquetterie .
295
chen Beziehungen der verschiedenen Völker. htliEhe. hlecDie Die gescIII. Riehl.
Die Fourier.
Schopenhauer .
EheDie alsEhe Vertra derg . Civilisation kein Institut im Interesse der Mono --
gamie. – Die Sorge für die nächste Generation der einzig richtige Standpunkt für unsere geschlechtlichen Beziehungen
306
V. Capitel. Das Recht der Lebensverneinung.
Die doppelte Natur der Todesfurcht. Der schmerzlose Tod der Die physischen Schmerzen keine Bedin eigentlich normale . Tiie Vergänglichkeit der Erschei gung der Culturentwicklung . nungsform und der Person , die Unvergänglichkeit des Lebens 354
und des Subjects . . Namensverzeicboiss der angefübrten Schriftsteller
.
. 364
Erster Band.
Erstes Buch :
Volkswirthschaftliche Vorurtheile. Zweites Buch :
Politische Vorurtheile.
Drittes Buch :
Gesellschaftliche Vorurtheile.
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1
Vom Vorurtheile im Allgemeinen . Alles was entsteht, ist werth , dass es zu Grunde
geht.“ Diese goldenen Worte legt Göthe dem Mephistopheles in den Mund. Sind sie wahr , so folgt daraus, dass alle menschlichen Institutionen , da alle entstanden sind , zu Grunde gehen müssen .
Was aber entsteht und zu Grunde geht, bildet eine Ent wickelungsreihe, hat eine Epoche der aufsteigenden Entwick lung, der Culmination und des Verfalles. Es kann sich also bei Untersuchung, ob irgend Etwas bereits zu den überwundenen Standpunkten gehört, und nur mehr als übernommenes Vor urtheil eine kümmerliche Existenz fristet, nur um die
richtige Beurtheilung der Evolution und um den Zeitpunkt handeln ; es kann nur die Frage entstehen , ob ich schon oder noch nicht Recht habe , wenn ich eine menschliche Anschauung oder Institution als Vorurtheil bezeichne , da
sie doch – so wie sie ist – früher oder später in diese Kategorie fallen muss.
Eine andere Bewandtniss hat es allerdings mit dem quid consilii , wenn Etwas als überlebt und schädlich an
erkannt wird . Aber gesetzt auch, das vorgeschlagene Heil mittel sei nichts werth , so ist es immer schon vom Vor
theile , wenigstens das Uebel erkannt zu haben. Bin ich nicht der geeignete Säemann , ist der Same schlecht oder verfrüht, so habe ich doch das Bewusstsein , die Grasnarbe umgerissen und vorgeackert zu haben. Hellenbach , Vorurtheile I.
1
2
Vom Vorurtheile im Allgemeinen.
Ich muss es mir angelegen sein lassen , den Leser
auf diesen objectiven Standpunkt zu stellen , weil ich mit Bestimmtheit annehmen muss , mit jedem meiner Leser durch irgend ein Capitel in heftige Opposition zu gerathen. Der Mensch entsagt sehr schwer Gewohnheiten und Gedanken, in die er sich hineingelebt, und eine undankbarere Aufgabe als die hier unternommene, wird es für einen Autor kaum
geben. Um also einen objectiven Gedankenaustausch zwischen meinem Leser und mir herzustellen
was
un
bedingt nothwendig ist – muss ich ihn einen Blick in die
Motive und Veranlassungen machen lassen , die mich dazu bringen konnten, so etwas zu unternehmen .
Wenn wir in der Geschichte vergangener Zeiten oder in
den Ethnographien der Gegenwart blättern, und uns die Zu stände unserer Vorfahren oderjetztlebender zurückgebliebener Völker vor die Augen führen , so stossen wir auf Einrich tungen und Gebräuche , welche Quellen der furchtbarsten Greuel und Leiden waren, und zum Theile noch sind, und welche wir als ganz unbegreifliche Vorurtheile und bei uns überwundene Standpunkte erklären. Haben wir nun ein Recht anzunehmen , dass unsere Nachkommen über uns anders urtheilen werden ?
Wir wundern uns, wenn Wilde ihre Unterlippe durch ein Stück Holz ausdehnen , die Wangen durchbohren und sich tätowiren lassen ; haben wir Gewissheit darüber , dass unsere Nachkommen sich nicht ebenfalls wundern werden, wenn
sie die gesundheitsschädliche Tracht unserer Frauen betrach ten, und von den Opfern, die wir bringen , und Lächerlich keiten , welcher wir uns schuldig machen , lesen werden, um das Toilettestück eines Ordens zu erwerben ?
Es schauert uns , wenn wir an die Menschenopfer denken, welche der Aberglaube einem Todten brachte, wo einem verstorbenen Ynka sein ganzes Gefolge und seine Weiber, manchmal 1000 an der Zahl, nachfolgen mussten ;
Vom Vorartheile im Allgemeinen.
3
haben wir Garantien , dass die materiellen Opfer, die so manche Grabesfeierlichkeiten kosten , und andere Förmlich keiten in späterer Zeit nicht auch belächelt werden ? Ueber den Aberglauben der Wilden haben wir kein Recht zu lachen , denn es ist Thatsache, dass noch heute Bauern dem Sturme Speise vorsetzen , um ihn zu be schwichtigen , und ihr Feld durch einen hineingegrabenen Dreifuss gegen Hagel assecuriren , und dass Gebildete den Freitag und die Zahl dreizehn scheuen .
Die Hochzeitsgebräuche der verschiedenen Völker er regen in uns Lachen , Mitleid oder Abscheu ; haben wir
Garantien , dass spätere Generationen unsere Hochzeiten nicht auch als einen scandalösen Gebrauch verurtheilen
werden ? Wir haben das Recht, an der Beständigkeit aller Institutionen , selbst der anerkanntesten und heiligsten zu zweifeln ; wie sollten wir auch glauben können , dass Ge bräuche, die so verschieden je nach Zeit und Ort vorkommen , unantastbar und unwandelbar seien ?
Wir können mit Recht die Frage aufwerfen , was unsere Nachkommeu wohl sagen könnten , wenn sie lesen werden , dass die Gesellschaft Verbrechen bestraft , die Erziehung der Kinder aber nicht in die Hand nimmt ? Dass
sie die früheren Generationen zwar beerbt, aber für die nächste eigentlich gar nicht sorgt , im Gegentheile deren Arbeit im vorhinein verpfändet ? Wir entsetzen uns über die Foltern der Inquisition ; was aber werden unsere Nach kommen dazu sagen , wenn sie von den Martern eines Ster benden in seinem Bette lesen werden , dessen Leiden der
Arzt durch einen plötzlichen, ohnehin unvermeidlichen, von dem Armen oft gewünschten Tod hätte ersparen können ? Sie werden uns mit Recht Barbaren schelten .
Der Wild
trägt den Scalp seines Feindes , der europäische Soldat irgend ein Symbol von nahezu gleicher innerer Bedeutung ;
4
Vom Vorurtheile im Allgemeinen.
was werden unsere Nachkommen zu allen Greueln des
Krieges sagen ? Was ist es nun , was am meisten zur Beseitigung von früher bestandenen Uebelständen beigetragen hat und etwa noch bestehenden auch ferner beitragen kann ? Zweifelsobne
der Widerspruch, welcher früher sehr schwer, jetzt verhält. nissmässig sehr leicht erhoben werden kann. Die Menschheit leidet auch gegenwärtig, und blutet aus
vielen Wunden, welche ihr zum grossen Theile durch volks wirthschaftliche, politische, gesellschaftliche und religiöse, vielleicht auch wissenschaftliche Vorurtheile geschlagen werden.
Ist daher nicht jeder berechtigt , die Existenz solcher Vor urtheile in allen Zweigen der socialen Einrichtungen zu
vermuthen , zu suchen , und wenn er welche gefunden zu haben glaubt , ist er nicht verpflichtet, sie zu bekämpfen ? Der arme Arbeiter hat wahrlich keine Zeit die Ur
sachen seiner misslichen Lage zu erforschen, und den Gang der Ereignisse zu beeinflussen ; umsomehr ist es aber die
Pflicht Jener, denen die Verhältnisse erlauben , sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, durch Wort, That und Schrift, wie es eben geht , dem Uebel zu steuern . Ein Jeder , der sich von einem Nebenmenschen bedienen lässt , contrahirt schon eine Schuld, die er durch die Art und Weise der Ver
wendung seiner frei gewordenen Kraft abzutragen hat. Das Traurige an der Sache ist , dass in der Regel nur Leiden den menschlichen Gedanken diese Richtung gehen, während die meisten , von Nahrungssorgen freien Menschen sich vergeblich bemühen, ihre lange Weile zu verscheuchen . In einem derartigen Versuche liegt auch keine An massung oder Selbstüberhebung. Wer an der Politik prakti schen Antheil nimmt oder eine glückliche Wahl und Ab
wechslung in der Lectüre volkswirthschaftlicher und anderer Schriften trifft, namentlich aber, wer selbst leidet, und da durch zum Denken veranlasst wird , kommt leicht zur
Vom Vorurtheile im Allgemeinen .
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Erkenntniss, dass die Entwickelung nur durch den Kampf der
Gegensätze ermöglicht wird, welcher Kampf den Rhythmus in der socialen Bewegung erzeugt, und die Gesellschaft der Vervollkommnung zuführt. Nur wer die Gegensätze berück sichtigt und selbst die extremsten Ansichten einer objectiven
Beurtheilung unterzieht , weil er sie als Symptome eines fehlerhaften Zustandes erkennt und würdigt, hat Aussicht seine Objectivität zu bewahren, und das wirklich Hinfällige
von dem noch nicht Hinfälligen zu unterscheiden. Es wäre eine sehr grosse
und eigentlich müssige
Arbeit, diesen Maszstab auf Alles anzulegen und Alles der Kritik zu unterziehen ; wohl aber lohnt es der Mühe, die Kritik an solchen Institutionen oder Lehren zu üben , aus
deren Consequenzen Leiden für die Menschen erwachsen . Wir haben volkswirthschaftliche, politische, gesell
schaftliche und religiöse Institutionen und Einrichtungen, welche grossen Veränderungen bereits unterzogen wurden und zweifelsohne noch unterzogen werden, die vielleicht Alle einmal gut waren, und entweder heute schlecht sind oder es morgen sein werden. Es kann daher nicht vom Uebel sein,
wenn wir wenigstens jene Vorurtheile herausgreifen, welche anerkanntermassen sociale Uebel hervorrufen, und für welche
wir keinen andern Entschuldigungsgrund finden, als die un erbittliche Nothwendigkeit oder irgend welche eingebildete höhere Zwecke; wir haben das Recht und selbst die Pflicht, die Frage aufzuwerfen, ob die erstere wirklich vorliegt, die letzteren thatsächlich einen Werth haben.
Dass die Heilmittel nicht auf der allgemeinen Heer strasse liegen werden , ist von vornherein zu vermuthen, denn sonst könnte der oft tausendjährige Schlendrian nicht
existiren, und es mag in der Gewalt der sogenannten „ öffent lichen Meinung der Grund liegen, dass die tiefer angelegten Männer der Wissenschaft Anstand nehmen, mit ihren Ideen hervorzutreten , wenn sie deren überhaupt haben , weil sie
Vom Vorurtheile im Allgemeinen .
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sich, wie schon Lange bemerkt, fürchten, ihren wissenschaft lichen Credit zu untergraben. (Seite 20, „Arbeiter-Frage“.) Ja wohl ! Die öffentliche Meinung ist gefürchteter als
der Tod , die Eitelkeit ist stärker als Mitleid und Pflicht gefühl! Das hat wohl schon Jeder beobachtet. Ich läugne es daber nicht, dass ich die Social-Demokraten, die mit der Feder für die Beseitigung der gesellschaftlichen Noth käm
pfen, achte , wenn ich ihre Ansichten auch bekämpfe, und die böse Saat, die sie streuen, bedaure. Unsere Nachkommen werden einen Fourier , Proudhon , Lassalle und Marx ganz
anders beurtheilen , als es die lebende Generation thut ; denn was man immer über ihre Theorien sagen mag , die Vor kämpfer einer besseren Zeit sind sie doch , man wird ihre
Irrthümer vergessen , und in ihnen nur die Märtyrer einer schönen Idee, der Humanität sehen, so wie man umgekehrt
jeden thatsächlichen und ungesetzlichen Eingriff in den Lauf der Entwickelung verfluchen wird. Solche Strolche, die durch Mord und Raub die Welt reorganisiren wollen , sollte man
doppelt strafen , ein Mal für das Verbrechen an der Gesell schaft, und das zweite Mal für das Verbrechen an ihrer
eigenen Sache. Dass die Vorurtheile unausweichlich sind und böse Wir
kungen haben, hat schon Bacon in seinem „ Novum organum“ anerkannt, und sie in Vorurtheile der Gattung, des Stand punktes, derGesellschaft und der Bühne unterschieden.
Unter den Vorurtheilen der Gattung verstand er die Verirrungen, die durch die menschliche Organisation verur sacht werden , indem wir die Dinge und die Welt nur so sehen , wie wir es vermögen , nicht aber wie sie sind ; die Geschichte vom Kant'schen „ Ding an sich " . Das Ver
kennen dieser Wahrheit ist zweifelsohne die ergiebigste Quelle der wissenschaftlichen Vorurtheile.
Unter den Vorurtheilen des Standpunktes meinte Bacon weniger den socialen Standpunkt des Menschen, als
Vom Vorurtheile im Allgemeinen .
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seine speciellen Anlagen. Er sagt: „ Jeder hat noch einen besonderen Gesichtspunkt“, und nachdem er noch die Ver
schiedenheit der Anlage, der Erziehung, des Umganges und der Beschäftigung hervorhebt, sagt er weiter, „dass der menschliche Geist nach der jeweiligen Laune des Einzelnen ein unbeständiges, vom Zufalle abhängiges Wesen sei.“ Es unterliegt nun allerdings keinem Zweifel, dass in diesen Ur
sachen viele volkswirthschaftliche, politische, gesellschaftliche und religiöse Vorurtheile ihre Wurzel haben werden. Es macht aber auch einen grossen Unterschied . ob
Derjenige, der die Welt durch seinen Intellect betrachtet, ein Proletarier oder Capitalist oder Landlord ist. Sonderbar ist seine Auffassung der „ Vorurtheile der Bühne “, welche Bezeichnung er von dem Umstande
herleitet , dass nach seiner Ansicht alle bisherigen philo sophischen Systeme nur Fabeln , Bühnen - Stücke gewesen wären . Ich glaube, dass die Bezeichnung : Vorurtheile, ver anlasst durch das Gewicht der öffentlichen Meinung , weit treffender , wenn auch mehr umfassend gewesen wäre. Diese ist leider so massgebend auf allen Gebieten des Wissens und Handelns , dass sie eben Alles umfasst wie sie beinahe für Alle massgebend ist.
Ich habe es vorgezogen, meine Eintheilung nicht nach den Quellen, sondern nach dem Thätigkeitsfelde, nach den
Wirkungen des Vorurtheiles zu treffen, und habe sie dem zufolge in volkswirthschaftliche, politische , gesellschaftliche, religiöse und wissenschaftliche eingetheilt . Ich ging auch von keinem Systeme oder Princip aus, sondern von der ein fachen Betrachtung : „ Wo drückt uns der Schuh ? "
Der Standpunkt , den wir einnehmen werden , wird darum auch kein theoretischer oder doctrinärer, sondern
ein rein praktischer sein. Die religiösen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Vorurtheile sind begreiflicher Weise die ältesten und am
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Vom Vorurtheile im Allgemeinen.
schwersten auszurotten ; sie weichen nur langsam einer ob
jectiven Kritik ; die volkswirthschaftlichen und politischen sind jüngeren Datums, und entstehen oft durch ein Schlag wort, welches die Massen verführt und begeistert , oft sehr viel Unheil anstiftet, aber doch wieder leichter zu entkräften und zu beseitigen ist.
Am empfindlichsten wird die Menschheit durch Fehler in volkswirthschaftlicher Beziehung getroffen, die, ab gesehen von den Leiden , die sie über die einzelnen Indivi duen verhängen , die Entwickelung ganzer Generationen
schädigen. Wesen, denen alle Bedingungen der physischen und intellectuellen Entwickelung fehlen, können überdies nur ein verkommenes Geschlecht erzeugen, und müssen zur Rück
bildung führen, wie das hier und da schon beobachtet wurde. So existiren z . B. das „ Fabriksbein “ und andere Gebrechen in den Fabriken Englands. Fast alle Gewerbe haben ihre specifi
schen Krankheits -Erscheinungen, die durch die lebenslängliche, durch keine Abwechselung unterbrochene und gesundheits
widrige Beschäftigung hervorgerufen werden, und in einzelnen Gewerben mitunter haarsträubende Leiden hervorrufen. Die volkswirthschaftlichen Vorurtheile sind daher die bedauer
lichsten, deren Beseitigung zur brennenden Frage geworden ist ; ihre Wichtigkeit, wie nicht minder die Schwierigkeit
ihrer Behandlung , müssen mich bei meinem Leser ent schuldigen, wenn ich das ganze trockene Gebiet der Volks wirthschaft mit ihm durchwühle. Aber es muss sein , wenn
ich ihm die Vorurtheile derselben klar und präcis formuliren,
und seine Ueberzeugung für meine Ideen gewinnen soll. In politischer Beziehung sind die innere Organi sation und die äusseren Beziehungen der Staaten bei fehlerhafter Behandlung geeignet , grosse Leiden zu veran lassen und der Entwickelung tiefe Wunden zu schlagen . Wir werden uns mit beiden beschäftigen ; namentlich ist die Nothwendigkeit der Kriege eines jener Vorurtheile , die
Vom Vorurtheile im Allgemeinen .
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unausrottbar scheinen , und doch ist nichts gewisser , als dass sie aufhören werden und müssen .
Der gesellschaftlichen Vorurtheile gibt es viele ; am wichtigsten sind die unserer geschlechtlichen Beziehungen, mit welchen wir uns daher vorzugsweise unterhalten werden. Was endlich die religiösen und wissenschaft lichen Vorurtheile anbelangt , so ist dieses Gebiet ein sehr weites; doch werden wir uns darauf beschränken , die
Wurzel der religiösen Vorurtheile bloszulegen , wodurch sich offenbaren wird , dass eine objective und vorurtheils freie Untersuchung dieser Quelle aller Religionen der Wissenschaft eine grosse Zahl von Verirrungen erspart hätte. Auch die Wissenschaften ererben bona fide Anschau
ungen , in welcheu sie befangen sind, und während sie glau ben, festen Boden unter den Füssen zu haben, befinden sie sich auf schwimmendem Moorgrunde. Ich hoffe, so manchen meiner Leser , den Einen von religiösen Ueberschwänglich
keiten, den Andern von den Folgen naturwissenschaftlicher Ueberhebung zu befreien . Es ist begreiflich, dass hier und da an trockener Lec türe zumal in den volkswirthschaftlichen Vorurtheilen kein Mangel sein wird. Hingegen verspreche ich meinem .
Leser, ihn zur Entschädigung in immer höhere und phan tastischere Regionen zu führen ; von den abgemagerten Gestalten einer hungernden Arbeiter- Familie bis in die schwindelnden Regionen der transscendenten Welt, über welche
der Schleier der Maja geworfen ist , dicht genug , um sie mit unserer dreidimensionalen, durch einen Zellenorganismus bewerkstelligten Anschauung nicht erfassen zu können. Nichts
destoweniger hat dieser Schleier schon hier und da ein dün neres Gewebe , das uns erlaubt, Umrisse , Contouren wahr.
zunehmen, welche genügen, um einige religiöse und wissen schaftliche Vorurtheile mit der Wurzel auszurotten .
Erstes Buch .
Volkswirthschaftliche Vorurtheile ,
-
I. Capitel. Hunger und Elend. Das Verhältniss der Production zur Bevölkerung. der Staatshilfe .
-
Die Ohnmacht
Die antinomische Natur des Eigenthumsrechtes.
Es ist geradezu eine Schmach für die Menschheit und deren gesellschaftliche Organisation, dass menschliche Wesen
durch Hunger , Frost und Elend zu Grunde gehen , und arme Kinder der Verwahrlosung verfallen und dem Siech thum von Geburt an entgegen geführt werden. Die öffent liche Meinung behauptet freilich, es könne nicht anders sein, Malthus und Ricardo sagen sogar , es müsse so sein ; ist das nun Wahrheit oder Vorurtheil ?
Ist ein Zustand der
Dinge undenkbar, welcher die Garantie aussprechen könnte : Von nun an verhungert und erfriert kein Mensch ; jeder Kranke findet Pflege , jedes Kind steht unter dem Schutze der Gesammtheit ! Die lebende Generation übernimmt selbst die Garantien für
die physische und intellectuelle Entwickelung der nach folgenden !
Ist das Utopie oder liegt es im Bereiche der Möglichkeit, und wäre diese letztere wirklich auf den Trümmern unserer Cul tur und Gesellschaft im Sinne communistischer und socialisti scher Schwärmer gegeben ? Die Lösung der Fragen in
Hunger uod Elend.
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Bezug auf Verbesserung des menschlichen Daseins wird um so wichtiger und dringlicher, als diese bisher vorgeschlagenen Mittel der Abhilfe, wenn sie in Anwendung kämen, gewiss nur den Verfall der Gesellschaft nach sich ziehen würden.
Das blosse Streben nach deren Verwirklichung schlägt der Menschheit Wunden , und verhindert durch die unausbleib
liche Reaction den Fortschritt. Und dennoch neigen bedeu tende auf dem Boden der Wissenschaft und nicht der
Socialdemokratie stehende Männer, wie Mill und Lange , zur Anschauung , dass ohne Socialreform eine Revolution unvermeidlich sei.
Beginnen wir also mit dem „ Hunger“ , der die Quelle zahlreicher physischer und moralischer Uebelstände und Leiden ist. Doch ist hier nicht von jenem Hunger die Rede,
welcher durch klimatische Verhältnisse plötzlich über ganze Länder hereinbricht, denen der Mensch ebenso hilflos gegen über steht, als wenn Erdbeben oder Vulkanausbrüche ihn
seine Nichtigkeit gegenüber den Naturkräften fühlen lassen ; hier handelt es sich um den langsamen Hungertod neben des Nächsten. Da regt sich in uns
dem Ueberflusse
die Frage , ob denn das so sein müsse , nicht anders sein könne , und ob wenigstens diesem Uebelstande abgeholfen wäre, wenn man die Gesellschaft durch communistische
Experimente der Barbarei zuführt ? Malthus wurde durch die Höhe der Armensteuer ver
anlasst , zu beweisen : „Dass durch drei Schillinge tägliche Zulage die Quantität Fleisch im Lande nicht vermehrt würde, daher nicht Unterstützung, sondern grössere Production noth wendig sei , um dem furchtbar zunehmenden Pauperismus zu steuern.“ Ein Satz , der allerdings nicht angefochten werden kann .
Er forderte weiter , dass die Production in arithmeti
scher , die Bevölkerung aber , wofern sie nicht gehemmt würde , in geometrischer Progression steige; ein Satz , der
--
Hunger und Elond . '
15
etwa in folgender Fassung richtiger lauten würde: dass nämlich die Production nicht in dem Verhältnisse , als möglicher Weise die Vermehrung der Menschen steige ; und daraus schliesst Malthus : es müssen daher die Menschen
dnrch Noth und Elend aufgerieben werden, und zwar in dem Masse als die Zunahme der Production mit der Zunahme.
der Bevölkerung nicht gleichen Schritt hält. Er sagt ferner : Ein Mensch , der geboren wird in einer Welt, die bereits besetzt ist, hat, wenn seine Familie nicht die Mittel besitzt,
ihn zu ernähren , oder wenn die Gesellschaft seiner Arbeit nicht bedarf, nicht das mindeste Recht irgend einen An
theil an Nahrungsmittel zu beanspruchen. Er ist überzählig und überflüssig auf Erden.
„ Für ihn ist kein Platz gedeckt
am grossen Tische der Natur. Die Natur gebietet ihm, sich fortzuscheeren , und wird nicht säumen, diesen Befehl in Ausführung zu bringen .“ Ob bei dem Umstande, dass die Pflanze das erzeugt,
was das Thier zur Nahrung braucht , und umgekehrt das Thier dasjenige erzeugt , dessen die Pflanze bedarf , nur eine grössere Circulation nothwendig sei , um eine grössere Bevölkerung zu ernähren – wollen wir später untersuchen , wenn es sich um die Frage der einstigen möglichen Ueber völkerung handeln wird ; hier haben wir nur die Gegenwart und Vergangenheit vor Augen. Die Frage , die hier zu beantworten ist, lautet: Ist die Welt besetzt ? Ist kein
Platz mehr vorhanden ?
Denn
nur unter
dieser Voraussetzung kann Malthus Recht haben . Die Beantwortung dieser Frage ist nun nicht so schwierig, weil die hiezu nothwendigen Daten gegeben sind. Wir kennen die Ausdehnung des cultivirbaren Landes ziemlich genau , ebenso die Zahl der Menschen und das Verhältniss von
Productionsmenge zur Bevölkerung, und glaube ich an einem concreten Falle die besten Anhaltspunkte zu gewinnen.
Hunger und Elend.
16
Die österreichische Monarchie ist ein Staat , der
abgeschnitten von der ganzen Welt , bei dem heutigen Stande seiner Bevölkerung, gewiss nicht Hunger leiden würde. Oesterreich exportirt an Victualien weit mehr als es in Missjahren zu importiren hätte. Oesterreich hat aller dings schöne Ebenen, aber es hat auch mächtige Gebirge und zum Theile auch weniger productive Gegenden , und doch leben in Oesterreich 3000 , in Europa nur 1500 , in Asien 1000, in Afrika nicht 400, in Amerika nicht 200, in Australien etwa 20 Menschen auf einer Quadratmeile. Es
gibt nun allerdings Sandwüsten und arktische Regionen , depen gegenüber die unproductiven Steppen und Gletscher Oesterreichs verschwinden , hingegen aber hat Oesterreich nur ein Dritttheil, Frankreich und Belgien die Hälfte seines Bodens Ackerland ; Oesterreich producirt circa 10 Metzen, England deren über 20 per Joch , es steht also nicht auf dem möglichen Höhepunkte der landwirthschaftlichen Ent wickelung ; endlich ist die viel mächtigere Vegetation der
tropischen Länder , die viel grösseren Stromlängen in den anderen Welttheilen , zu welchen die Menge des frucht baren Terrains immer im geraden Verhältnisse steht, auch zu berücksichtigen. Nach Humboldt gibt eine mit Bananen Stauden besetzte Fläche von 100 Quadratmetern 2000 Kilogramm Nabrungssubstanzen , wohingegen die gleiche Fläche mit Kartoffeln bestellt, zu den Bananen nur ein Ver bältniss gibt, wie 44 zu 1 und mit Weizen bestellt sogar nur wie
Die Producte Oesterreichs als den
133 zu 1.
möglichen Durchschnitt für die Ertragsfähigkeit des Planeten anzunehmen , ist demnach gewiss zulässig, da in China, wenn man von dessen Nebenländern absieht, auf einer sechsfach so grossen Ausdehnung 5000 Menschen per Quadratmeile
leben. Der Staat Georgien (Amerika), von dem behauptet wird, dass er allein im Stande wäre, die halbe Bevölkerung
-
Hunger und Elend
17
der Union zu ernähren, hat hingegen nur eine Bevölkerung von 1,000,000 Menschen. Der Planet ist also nicht Schuld, es wäre Platz genug, die Welt ist nicht besetzt !
Es kann vielleicht eine Zeit
kommen, wo die von Malthus aufgeworfene Frage auf der
Tagesordnun ; stehen wird , aber heute ist es lächerlich, den Fehler wo anders zu suchen , als in uns, in der
Organisation selbst, wie das an der Hand der Erfahrung leicht nachzuweisen ist.
Zur Zeit der Plantagenets , wo die Bevölkerung nur 2 Millionen in England betrug , producirte ein Morgen Land weit weniger als heute , und die Hungersnoth war
viel häufiger als gegenwärtig, wo 20 Millionen mit viel besserer Nahrung in England leben. Carey sagt (Seite 37 „ Volkswirthschaft“ ) von Frankreich : „ Im Jahre 1760 betrug
die Bevölkerung 21 Millionen, und der Ertrag von Getreide 94 Millionen Hektoliter , während 1840 die erste auf 34 Millionen, die letztere auf 182 Millionen Hektoliter gestiegen war, so dass in diesem Jahre 20 Procent mehr an Getreide
auf den Kopf kam, als in den früheren , während zugleich die Qualität des Getreides weit besser war ; und doch war
die angebaute Fläche kaum vergrössert worden. - Der Gesammt- Betrag hat sich verdreifacht, während die zu er nährende Auzahl nur um 60 Procent zugenommen hat.“
Dass in früheren Epochen die Hungersnoth ärger und häufiger wüthete, als jetzt, ist bekannt. Wo bleibt da die Theorie des Malthus ? Malthus beschreibt selbst die wunder
bare Fruchtbarkeit Afrikas, und bedauert , dass es nicht mehr Bevölkerung habe. Nach der Malthus'schen Theorie
aber müsste die Bevölkerung in Afrika rascher zunehmen, als in den bevölkerten Ländern , was aber durchaus nicht der Fall ist
Die Bevölkerung strebt also durchaus nicht
sich rascher zu vermehren, als die Nahrungsmittel. Hellenbach , Vorartheile I.
2
18
Hunger und Elend.
Angenommen selbst , aber nicht zugegeben , dass der Planet in manchen Epochen jene Menge Nahrungsmittel nicht erzeugte, die für seine damalige Bevölkerung nothwendig war , so ist gewiss, dass er sie unter anderen Verhältnissen,
bei einer anderen socialen Organisation hätte erzeugen können , und dass daher alle bisher durch den langsamen Hungertod zu Grunde gegangenen Menschen nicht im Sinne der Malthus'schen Theorie ein Opfer der Nothwendigkeit, sondern der mangelhaften Organisation wurden. Statistik und Wissenschaft haben selbst den Satz auf
gestellt, dass der Reichthum , die Production steige wie das Quadrat der Arbeiter und Proudhon ruft mit Recht aus : Was, Ibr Oekonomen ! Ihr wagt uns von Noth zu reden !
Wenn man Euch mit Hilfe Eurer eigenen Theorien beweist, dass, wenn die Bevölkerung sich verdoppelt, die Production sich vervierfacht, und folglich der Pauperismus nur durch Störung der socialen Oekonomie entstehen kann : so be schuldigt Ihr , statt Euch zu verantworten , das Uebermass der Bevölkerung, also etwas, was hier in die Sache in zubezieben eine Abgeschmacktheit ist.“ Es ist nun allerdings richtig, dass Proudhon im obigen 66
Satze nicht die landwirthschaftliche Production allein meint,
und den wichtigen Unterschied übersieht, der zwischen landwirthschaftlicher und industrieller Production besteht ; man könnte daher leicht auf den Gedanken kommen , dass wir die Noth der arbeitenden Classen nur einer fehlerhaften
Proportion der verschiedenen Productions zweige verdanken, was aber nicht richtig ist , und auf was wir später zurück kommen werden. Hier handelt es sich noch nicht daruin ,
wo der Fehler steckt, und wie dem abzuhelfen wäre, sondern ob der Hunger eine nothwendige Consequenz derangeb lichen Uebervölkerung ist , und darüber geben uns die Ziffern die klare Antwort : Nein , durch 1200 oder auch 1400
Millionen Menschen ist der gegebene Platz noch lange nicht
Hunger und Elend .
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besetzt, die Produktionskraft des Planeten noch lange nicht erschöpft.
Die Uebervölkerung ist an den traurigen Zuständen wabrlich nicht Schuld ; ist sie es aber nicht , so kann der Fehler nur in der Organisation liegen ; ob nun die fehler hafte Verschiebung der Bevölkerung oder der Produktion, oder etwas anders daran Schuld ist , kann uns vorläufig gleichgiltig sein. Der Fabriksarbeiter hungert, wenn er für seine Arbeit nicht genügend entlohnt wird , sei es nun wegen Ueber production des Artikels oder Uebervortheilung durch das Capital; er verhungert, weil er die Nahrungsmittel nicht bezahlen kann, nicht aber darum, weil sie nicht vorhanden
sind, geschweige denn, weil sie nicht erzeugt werden können . Er hungert, weil er noch andere Bedürfnisse hat, und seinen ganzen Erwerb zur Beschaffung der Nahrungsmittel gar nicht verwenden kann .
Der menschliche Organismus braucht nicht nur Nah auch rung , sondern – in unserem Klima wenigstens Wobuung und Heizung , und obschon wir Platz, Lehmerde und Kohle in Ueberfluss haben, wohnt die Armuth dennoch gesundheitswidrig, mitunter gar nicht ! Wenn wir also unsere bisherigen Betrachtungen zusam menfassen, so kommen wir zu dem Resultate : dass der Planet
fruchtbaren Boden, Kohle, Thon, Sand, Kalkstein und Eisen erze genug bat, um seinen heutigen Bewohnern , und einer noch bedeutend grösseren Zahl eine Existenz ohne Hunger und Elend zu bieten .
Es ist nicht minder eine unzweifelhafte Wahrheit, dass durch die Garantie eines Minimums der Existenz, durch eine Steigerung der Lebenshaltung der 80 nothwendige Impuls zur Thätigkeit nicht in Frage gestellt wird ; weil der Kampf ums Dasein überhaupt nur in den Kampf ums bessere Dasein übergeführt wird. Eine Gesellschaft, 2*
Hunger und Elend .
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welche die Garantie der Existenz zu übernebmen und die
Kinder selbst zu erziehen vermöchte, würde auch noch den
Vortheil gewähren , dass sie über weit mehr und kräftigere Zwangsmittel verfügte, als eine Gesellschaft , die nichts zu ihrer Verfügung hat, als Furcht vor Strafe und rohe Gewalt. Wenn in einem Staate Niemand ohne eigenes Ver schulden der Noth und dem Elend preisgegeben sein kann ,
wenn der Verwahrlosung der Kinder Einhalt gethan ist, so wird die Gesellschaft in allen ihren Mitgliedern nur Mit garanten der bestehenden Zustände und keine Feinde finden
können .
Nach allen Richtungen wäre also eine bessere
Lebenshaltung des Arbeiters ein Vortheil, dem nichts ent gegensteht, als die Furcht vor einer möglichen zu künftigen
Uebervölkerung, welchen Gegenstand wir später untersuchen . Nur eine oberflächliche Naturbetrachtung konnte über haupt auf eine Malthus . Ricardo'sche Doctrin verfallen. Carey sagt (Seite 566) : die eine grosse Ursache, die bisher den Fortschritt des Menschengeschlechts zu glücklichen Zu ständen verhindert hat, die eine, welcher das so allgemeine Laster und Elend zuzuschreiben ist , sei , wie uns Malthus sagt , die beständige Tendenz aller belebten Wesen , sich
über die Grenze der für sie präparirten Nahrung hinaus zu vermehren. Ehe wir die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des in diesem Satze ausgesprochenen Gedankens prüfen, werden wir uns erst , und zwar genau , über den Begriff des Wortes präparirt , das bier unserer Prüfung unterliegt, klar machen müssen.
Wenn ein Vater seiner Familie den
ganzen Inhalt eines gut gefüllten Speichers zur Verfügung stellte , würde er ihr dann einen Vorrath von Nahrung
„bereitet“ haben oder nicht ? Wenn er seiner Familie alle Kleiderstoffe und Brennmaterialien im grössten Ueberflusse gegeben und sie mit allen zur Umwandlung derselben er forderlichen Kenntnissen begabt hätte , könnte man ihm mit Recht vorwerfen , dass er nicht alles für sie bereitet
Hunger und Elend.
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habe , was zur Erhaltung der thierischen Wärme nothwen
dig ist , und noch dazu aus keinem anderen Grunde , als weil er sich geweigert habe , das Korn zu mahlen , das Brod zu backen, das Holz zu spalten und zu transportiren, die Baumwolle zu weben und zu Hemden zu verarbeiten ?
Nachdem er seinen Angehörigen die Möglichkeit verschafft, sich zu nähren und zu kleiden, sobald sie selbst nur wollten, könnte man dann ihn tadeln , wenn sie trotzdem durch Kälte und Hunger litten ? Würde der Fehler an ihm liegen oder an
ihnen ?
Gewiss nicht an ihm.
Haben nun die
Menschen jemals die Schatzkammer der Natur erschöpft gefunden ? Haben sie dieselbe nicht im Gegentheile immer gefüllt gefunden, so oft sie die Bedingung erfüllten , unter welchen die Erde Darlehn gibt, d. h. „ unter der Bedingung der pünktlichen Rückerstattung des Rohmateriales nach ge machtem Gebrauche !"
Doch trägt selbstverständlich nicht
immer der einzelne Arbeiter die Schuld, wenn er die Nah rungsmittel nicht zu schaffen weiss, sondern die Gesellschaft,
welche solche Verhältnisse schafft oder duldet , dass in der Mitte des Ueberflusses Menschen zu Grunde gehen . Tausend Millionen Menschen, meint Malthus , können
sich vermöge des Bevölkerungs-Princips eben so leicht ver doppeln , als einfache Tausend. Dies geschieht nur darum nicht, weil Laster und Elend , Krankheit und Epidemie, Krieg , Pest und Hungersnoth durch den Kampf ums Da sein erzeugt wurde. Mit Recht fragt aber Carey : „ Was ist in diesen Fällen Ursache, und was Folge ? Sind das Elend und das Laster die Ursache des Mangels an Nahrung,
oder ist dieser letztere eine nothwendige Folge des Ver säumnisses des Menschen , die Fähigkeiten , mit welchen er
begabt wurde, zu verwerthen ? Dies ist eine höchst wichtige Frage , da ein Gebrechen des Menschen selbst auch von Menschen gehoben werden kann , während ein Gebrechen in den Kräften der grossen, zu seinem Gebrauche verliehenen
22
Hunger und Elend.
Maschine ganz aus dem Bereiche aller Heilmittel läge. Wenn wir die Antwort auf diese Frage suchen, so stossen wir auf die Thatsachen, dass in England, Frankreich, Belgien, Deutschland und allen anderen Ländern , in welchen es der
Bevölkerung und dem Reichthum zu wachsen gestattet war, und in welchem demgemäss der Mensch grössere Kraft er langte , auf die Schatzkammer der Natur zu entnehmen, in den letzten Jahrhunderten der Nabrungsvorrath im Verhält niss zur Bevölkerung sich vermehrt hat, während umgekehrt
in der Türkei, in Mexico und andern Ländern, in welchen die Bevölkerung und der Reichthum abnahmen , und folglich die Kraft des Menschen, über die Dienste der Natur zu ver
fügen, beständig versank, dieser Nahrungsvorrath sich ver mindert hat. “ So wahr dies auch ist, so ist es doch nicht minder Thatsache , dass der Arbeiter auch in reichen
Ländern oft schuldlos zu Grunde geht. Dass das amerikanische und in einzelnen Gegenden afrikanische Weib wenig fruchtbar ist , gesteht Malthus selbst ein ; dort ist Platz und Fruchtbarkeit des Bodens
genug, der Menschen sind hingegen sehr wenige, und doch herrscht Laster und Elend, während von der Tendenz sich
zu vermehren nichts zu merken ist. Die magere westliche
Seite der Andes in Südamerika ist besser und glücklicher bevölkert , als die reiche östliche ; wie sieht es da mit der Ricardo -Malthus'schen Theorie aus ? Nicht also, dass
die Erde zu viel Bevölkerung hat, sondern im Gegentheile, sie hat viel zu wenig ! Eine Aenderung der Production ,
Consumtion und
Circulation , so wie sie nothwendig wäre , um Alle diese Uebelstände zu heben, kann allerdings nur sehr langsam vor sich gehen , gesetzt auch , dass der energische Wille vorhanden wäre. Mittlerweile gehen aber die Menschen zu Grunde, darum dürfen wir die Hände nicht in den Schooss
legen, und müssen der Entwicklung unter die Arme greifen ;
Hunger und Elend.
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wir sind dazu um so mehr gezwungen, als die immer mehr um sich greifende Socialdemokratie Forderungen an den
Staat stellt, die wie wir gesehen haben , vom Standpunkte der Malthu s'schen Theorie allerdings nicht zurückgewiesen
werden können, wohl aber von einem andern . Es gibt zwei Arten von Anforderungen , welche die Besitzlosen an die Gesellschaft stellen.
Die eine Art um
fasst die verschiedenen wirthschaftlichen Experimente mit Hülfe der Staatsmittel oder des Staats-Credits - auf
welchen Gegenstand wir im 3. Capitel zurückkommen
die andere Art beschränkt sich auf die Versorguug der Hilflosen, die aber nirgends zureicht, und zum Theile selbst vom Uebel ist.
Der erste und in Bezug auf die zweite Anforderung eigentlich einzige Einwurf , der da gemacht werden kann, ist, dass die Gesellschaft die Mittel nicht habe, um für das Minimum der Existenz und der Erziehung, geschweige denn
für die
zweifelhaften Experimente der Socialisten auf
zukommen .
Wenn wir einen Blick auf das Budget der Staaten werfen, so finden wir (nach Czörnig ), dass der Durchschnitt der Ausgaben nachfolgender 10 Staaten : Grossbritannien ,
Frankreich, Russland, Oesterreich, Preussen, Bayern, Belgien, Niederlande, Spanien, Portugal, folgendes ergibt : Oeffentliche Schuld Militär und Flotte
26
Finanz- Erhebungs- und Verwaltungskosten
20-3
Inneres Justiz
28.4
Procent
!!
2 32
Hingegen aber : für Unterricht .
2.2
für Humanitätsanstalten
0-3
!!
(Jetzt ( 1892] haben sich die Schulden und Ausgaben für Militär und Flotte mehr als verdoppelt !!)
Hunger und Elend .
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Also drei Zehntel Procent !! Man weiss wahrlich nicht, ob man da lachen oder weinen soll, denn dass dieses Ver
hältniss gerade so lächerlich als traurig ist , wird Jeder zugeben.
Aber ist dem abzuhelfen, kann man weniger ausgeben in den anderen Rubriken, oder wenn nicht, kann man mebr
einnehmen ? — Wollen wir die erste Frage früher ventiliren. Zufolge der ganz einseitigen und unrichtigen Zerlegung der Staatsausgaben , in ordentliche und ausserordentliche,
und zufolge der Unification der Staatsschuld, ganz gleich giltig , ob sie einer vernünftigen Investition oder der Ver zettelung und Vergeudung ihren Ursprung verdankt, ist es für den Statistiker schwer sich über den eigentlichen Ver mögensstand eines Staates ein Bild zu machen . Zwischen dem Gelde , welches Frankreich aufnimmt, um eine ver
nünftige und rentable Bahn zu bauen oder sonstige Ver
besserung zu machen , und den an Deutschland gezahlten
5 Milliarden, ist ein grosser Unterschied ; das eine ist eine Vermögensvermehrung , und das andere eine Vermögens schädigung. Leider aber ist es die Regel, dass die Staats
schulden keine Investitionen, sondern wirkliche Lasten sind , die auf der Production zu Gunsten der Inproductiven liegen.
Die lebende Generation hat die Gewissenlosigkeit , die Arbeit der künftigen Generation zu verpfänden und leider im wirklichen Sinne des Wortes zu verpuffen.
Die übliche Eintheilung in ordentliche und ausser ordentliche Steuern hat den ministeriellen Vortheil, den
Vertretern Sand in die Augen zu streuen. Für wirkliche gut überdachte Investitionen kann ein Staat Schulden machen ; alle andern Ausgaben müssen unmittelbar durch die Steuern gedeckt werden ; eine schwebende Schuld ist
das äusserste, was für unerwartete plötzliche Ausgaben zur Erleichterung der Steuerzahler contrahirt werden darf. Nur
zinsentragende Investitionen, oder solche, welche eine natür.
Hunger und Elend.
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liche Vermehrung der indirecten Einnahmen mit Sicherheit in Aussicht stellen, berechtigen uns, unsere Nachkommen mit der Zahlung einer Rente zu belasten.
Dass an eine rechtzeitige Verminderung der Staats schuld nicht zu denken ist , genügt es zur Kenntniss zu
nehmen , dass seit den Jahren 1847—1848 bis 1870—1871, also in ungefähr 24 Jahren die Schulden sich vermehrt haben : In Frankreich um >
Russland Oesterreich Preussen
78 Procent 127 96 106 117
Bayern Der directe oder indirecte Bankerott ist offenbar vor
der Thüre , wenn auf dieser Bahn weiter geschritten wird. Der zweite Abgrund des Volkswobles ist der Krieg, und obschon er in seinen Consequenzen eine volkswirth schaftliche Frage ist, so müssen wir ihn doch später unter die politischen Vorurtheile einreihen , weil das Uebel dort zu suchen ist. Nur das ist gewiss, dass eine namhafte Er leichterung da nicht zu erwarten steht , um so weniger, als bis zu jener Zeit, wo sich der Krieg durch den Krieg
ad absurdum geführt haben wird, die Staatsschulden durch
das Experiment riesenhaft angewachsen sein werden. Das Endresultat der Geschichte also ist , dass der Staat die zwei Ungeheuer seines Budgets, Krieg und Staats schuld , derzeit nicht zu beseitigen vermag. Ein Staats bankerott würde mehr schaden als nützen , eine allgemeine Entwaffnung ist derzeit unmöglich. Die Gesellschaft als collective Person hat also nichts , als unerträgliche Lasten ,
wie soll sie da Etwas für ihre bedürftigen Glieder thun ! Gerade darin aber, dass sie nichts hat , sondern schuldet, liegt die ganze Veranlassung des Elends, liegt die Berechti gung Proudhons zu dem Ausspruch : Eigenthum ist Dieb stabl! wenngleich er Einsicht genug hatte , zu begreifen
26
Hunger und Elend.
und zuzugeben , dass . die Vernichtung des Eigenthums noch grössere Wunden dem socialen Körper schlagen würde. Lilienfeld*) hat nicht ohne Grund den ökonomischen Process als die Physiologie des socialen Organismus, so wie die politische Gestaltung als Morphologie desselben bezeichnet ; in diesem Falle ist das Eigenthum der Nahrung
gleichzusetzen ; ohne Eigenthum ist jede Entwickelung des socialen Körpers eben so unmöglich, als es die Entwickelung des physiologischen Körpers ohne Nahrung ist. Da von einer namhaften Beschränkung der modernen Staatsauslagen nicht entfernt die Rede sein kann, so könnte also nur der Weg einer höheren Besteuerung eingeschlagen werden , um sich die Mittel zu verschaffen , und den in
die Augen springenden Anforderungen der Humanität ge nügen zu können. Doch leider ist die grössere Besteuerung
durchaus nicht geeignet, der Gesellschaft die nothwendigen Mittel zu beschaffen. Eine Abhülfe im Wege der Almosen durch Erhöhung der Steuern wäre geradezu verderblich und auf die Dauer unmöglich. Wenn wir über die Schwierigkeit sogar hinweggehen wollen , dass die Steuern schon hente sehr drückend empfunden werden, so bleiben dennoch andere Hindernisse, welche eine Rettung auf diesem Wege unmöglich machen.
Wenn wir nach der heutigen Verwendung der Steuern fragen , so finden wir, dass sie von Soldaten, Beamten und Capitalisten, also zumeist den Unproductiven verschlungen werden, und erst nach und durch Sättigung dieser Classen , indirect and verdünnt
in
die
Hände der Productiven
wandern. Die Unproductiven sind aber die Herren der Situation ; jede Steuererhöhung würde zuverlässig denselben Weg gehen , und wieder nur sehr verdünnt humanitären *) „ Gedanken über die Socialwissenschaft der Zukunft“. Paul V. Lilienfeld. 2 Bde. 1873 und 1875 .
Hunger und Elend.
27
Zwecken zugewendet werden. Aber auch abgesehen davon, ist die böse Wirkung jeder Steuererhöhung ein grösserer
Nachtheil, als die humanitäre Verwendung eine Wohlthat ist. Ob ich die Steuer auf ein Haus , ein Gut oder ein Product lege, so wird sie immer auf die Productionskosten geschlagen werden. Die Arbeit wird schlechter gezahlt, das Product wird theurer ; wird es verkauft , so zahlt es der Consument , also zumeist der Arme , denn er bildet die
grosse Majorität der Bevölkerung, derart, dass nach Lassalle durch die genauesten amtlichen Ausweise erwiesen wird, dass die blutarme Classe von 12 bis 3 Thaler Classen
steuer fast 90 Procent aller Steuerpflichtigen bildet. Man kann sich vorstellen , dass dies in Bezug auf die indirecten Steuern noch ärger ist , und darf nicht vergessen , dass der Reichere jede Steuer grossen Theiles wieder von sich ab wälzt. Selbst wenn er sich einschränkt, drückt er den Producenten und wellenartig pflanzt sich das fort, was oft zu ganz unnatürlichen Krisen führt. Wird das Product als zu theuer nicht verkauft, so behindert das die Production ,
und vermehrt das Elend. Lange sagt mit Recht ( Arbeiter Frage Seite 254 ), dass der Widerstand, den der Arbeiter dem Preisaufschlag seiner Lebensbedürfnisse entgegensetzen kann , sehr gering ist , während derjenige des Arbeitgebers sehr gross ist. Die Folge davon ist, dass die Arbeiter zwar nicht die ganze Last , aber einen sehr bedeutenden Theil
derselben zu tragen haben . Die meisten indirecten Steuern sind vollends ein Hemmschuh für Production und Circu
lation. Besteure ich den Capitalisten, so vertheure ich das Capital, dadurch die Production, dadurch das Product u. 8. f. Man hat das Alles längst eingesehen, und an die progressive Steuer gedacht , die aber auch nichts taugt. Eine kleine
Progression gibt nichts aus, eine grosse, in Anbetracht der wenigen grösseren Vermögen , auch nicht viel , und über
dies verzehrt Jeder dadurch das Capital. Auch ist mir nicht
Hunger und Elend.
28
bekannt, dass das Mehrerträgniss einer solchen Progressiv steuer jemals humanitären Zwecken gewidmet worden wäre. Im Wege einer Mehrbesteuerung geht es also nicht. Wenn die Wurzel des socialen Uebels nicht in der
Uebervölkerung liegt , so kann sie nur in der Organisation gesucht werden ; wir werden finden, dass die Quelle unserer socialen Leiden in der Natur des Eigenthumsrechtes ihren
Ursprung hat ; das Eigenthumsrecht hat einmal eine doppelte, eine antinomische Natur, wie Alles in der socialen Ent
wickelung ;*) es ist eine unbedingte Voraussetzung der Ent wickelung und Cultur, und doch die Geissel und der Fluch der leidenden Menschheit.
Auf welche Weise will man aber diese Gegensätze aus gleichen ? Das traurige Verhältniss, das darin besteht, dass die Gesammtheit nur collective Lasten hat, einzelne Indivi
duen hingegen das Capital besitzen , lässt sich nicht um kehren . Wir haben nicht die Macht, die Staatsschulden in
Capitalien zu verwandeln, wenigstens nicht auf dem Wege der Vermehrung der Steuern und einer namhaften Reduction der Ausgaben. Wir müssen also einen anderen Weg ein schlagen , und diesen werden wir auf indirecte Weise suchen .
Dass Hunger und Elend unvermeidlich sei , ist ein altes Vorurtheil der Conservativen, dass im Wege der Ver nichtung des Eigenthumsrechtes oder im Wege des Staats credits und der durch diesen vermittelten Productiv - Associa
tion das sociale Uebel gehoben werden könne, ist ein zwar noch junges , aber in den Köpfen der Socialdemokraten
bereits festsitzendes und sehr gefährliches Vorurtheil der Communisten und Socialisten . Dieses nachzuweisen, müssen
wir den Standpunkt näher untersuchen, welchen diese beiden Parteien in Bezug auf das sociale Problem einnehmen und *) Siehe das 10. Capitel meines „Individualismus“.
Hunger und Elend.
29
denselben getrennt behandeln. Dieses Capitel hat nur die Aufgabe, nachzuweisen , dass Hunger und Elend durchaus keine nothwendige Folge der Ueberfüllung des Planeten oder auch nur einzelner Länder seien, daher die eigentliche
Wurzel des Uebels wo anders liegen müsse. Sobald wir aber zur Erkenntniss kommen , dass die socialen Leiden
keine Naturnothwendigkeit sind , so ist es unsere heiligste Plicht, mit Aufwand unserer ganzen Kraft die Lösung des Räthsels zu suchen . Es würde sich auch an der Gesellschaft,
und gerade an dem besitzenden Theile derselben empfind lich rächen, wenn wir noch länger mit der bisherigen Gleich giltigkeit die besitzlosen Classen der oft unmöglichen Selbst hilfe überlassen würden.
II. Capitel. Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen . Die volkswirthschaftlichen Lilienfeld's Socialwissenschaft der Zukunft.
Das eberne Lobo -Gesetz Ricardo's .
Grundsätze Carey's.
.
-
Im Interesse jener Leser, welche den volkswirthschaft lichen Fragen fern stehen , wollen wir einen ganz kurzge fassten Ueberblick der national-ökonomischen Entwickelung
geben. Als die kleineren Handelsstädte und Handelsstaaten
mit Hilfe des Geldes eine unverhältnissmässige Kraft ent
falteten , richteten die Regierungen ihr Augenmerk auf den Handel , verstanden aber darunter nur die Art und
Weise , wie sie bares Geld , welches Staaten wie Venedig und Holland so mächtig machte, ins Land bekommen könn ten , sie verboten daher die Einfuhr und beförderten die
Ausfubr. – Die Unzulänglichkeit dieser Massregel, ja die Unmöglichkeit einer consequenten Durchführung derselben ist zu einleuchtend, als dass man sich nicht bald veranlasst gesehen hätte, davon abzugehen ; sie wurde durch das Mer cantilsystem verdrängt.
Handel und Industrie wurden unter
vollkommene Vormundschaft gestellt, Schutzzölle und Aus fuhrsprämien wurden nominell durch den Bedarf der Indu
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
31
strie , tbatsächlich aber durch die finanziellen Bedürfnisse
der Staatsmänner regulirt, der Ackerbau hingegen gedrückt. Die Reaction , der Gegensatz, blieb nicht aus. Quesnay stiftete die sogenannte physiokratische Schule. Er behauptete: nicht Geld, nicht Industrie; sondern Acker bauproducte seien der Nationalreichthum eines Landes — als ob eines ohne das andere blühen könnte ! derte freie Ein- und Ausfuhr.
und for
Diese Ansichten konnten
sich keine Geltung verschaffen , wenn schon aus keinem an deren Grunde, so schon des Widerspruches halber, in welchem sie mit den Ansichten und Bedürfnissen der Staatsmänner
standen , da letztere die Zölle in ihrem Budget nicht ent lehren konnten .
Einige Jahre später vertheidigte Adam Smith die
Industrie unter Aufrechthaltung des Freihandels , und be hauptete, dass jeder Schutz eine unnatürliche, krankbafte Richtung der Production geben könne, wobei er aber ver. dass der Schutz die Industrie auch hervorruft, und dadurch den Consumenten mit dem Producenten in nähere
Berührung bringt. Der absolute Freihandel und das absolute Einfuhrsverbot sind gleich verwerflich, und kann das richtige Verhältniss nur durch die Höhe der Transport- Steuer und die Summe der ersparten Arbeit geregelt werden, eine Frage, auf die wir später zurückkommen . Es ist hier noch der Umstand zu erwähnen, dass der
Ackerbau in England vom Jahre 1688 bis zum Jahre 1760 eines besonderen Schutzes sich erfreute , und zwar durch hohen Einfuhrzoll des fremden Getreides , und durch Aus
fuhrprämien für die eigene Frucht ; in dieser Zeit hatte England durchaus billiges Korn , das es noch über dies aus führte.
Als man vom Jabre 1760 ab das umgekehrte System
befolgte, hatte England mit furchtbarem Kornmangel zu
kämpfen , man musste ungeheure Prämien auf die auslän
32
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
dische Frucht setzen, die Armentaxen fort und fort erhöhen und konnte dem Uebel dennoch nicht steuern.
Adam Smith hatte aber behauptet , dass das frühere
System bis zum Jahre 1760 durch das Uebergewicht des Grundbesitzes, und das spätere durch das Uebergewicht der Industriellen und des Handels durchgesetzt worden sei ; nun waren aber bei dem ersteren System die Preise billig , für die Industriellen also günstig, bei dem letzeren jedoch war
gerade der umgekehrte Fall. Die Behauptung Smith's erwies sich daher in dem praktischen Resultate wenigstens als falsch, denn durch die höheren Fruchtpreise litten die Indu striellen am meisten, während gerade ihr Uebergewicht es
war , dem nach der Ansicht Smith's die Schuld an jenen Gesetzen zuzuschreiben war. Man konnte sich diesen Wider spruch nich“ erklären . Da riefen einzelne Stimmen : Wir werden so lange
fechten , hämmern und weben , bis wir kein Brod mehr zu essen haben !
Diese Worte wurden nicht beherzigt, obschon sie für die damalige Zeit den Zustand und den ökonomischen
Fehler richtig bezeichneten ; denn der Dampf und die mo derne Papierwirthschaft, welche ganz neue und selbst jetzt noch nicht genügend gewürdigte Umwälzungen in der Production und dem Tauschsysteme geschaffen, « xistirten damals noch nicht ; der Freihandel , die Ausbildung des Communicationswesens und noch mehr die Verschuldung
ganz Europas an England , machen es diesem Lande allerdings heute möglich , sich Brod aus fremden Ländern zu verschaffen und zu Hause nicht nur hämmern und
weben , sondern selbst die Fechter aus fremdem Sacke bezahlen zu können.
Fehlt es dem englischen Staate, der Gesammtheit auch
nicht an Geld oder Werthen , das Brod zu beschaffen , so sind in England der Hunger und dessen Folgen dennoch
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
33
beimisch, weil die Armuth das Schwanken der Productions
werthe nicht zu überdauern vermag , und die Armentaxen
nicht ausreichen. Schon aus dieser Consequenz müsste man folgern, dass das sociale Uebel in den obigen ökonomischen Verhältnissen seinen Grund nicht habe, denn es kommt und kam unter allen bisher bekannten Verhältnissen vor.
Der
Arbeiter wurde unter dem Systeme des Schutzzolles und des Freihandels sehr oft unter die Linie der nothwendigsten
Bedürfnisse gedrückt. Wenn der Weber nicht so viel weben und verkaufen kann, als er zum Austausche für Nahrungs mittel braucht, so wird er hungern.
Es gibt wohl Länder , wie Spanien , wo in dem zu grossen Missverhältnisse der productiven und der unproduc
tiven Bevölkerung allerdings eine Quelle des Elends zu suchen ist, doch gilt dies nicht für das übrige Europa. Ein Mensch bestellt mehrere Joche (nach der Statistik 6 bis 12 ), während
Eines für einen Menschen selbst bei mittlerer
Cultur ausreicht. So sehr die englische Industrie auch ange wiesen ist, ihre Producte gegen Nahrungsmittel zu tauschen , 80 liegt die Ursache wahrlich nicht in der Vernachlässigung der landwirthschaftlichen Production, sondern in den günsti
gen Eisenerz- und Kohlen-Lagerungen, in der maritimen Lage und dem grossen Colonialbesitze, welche Factoren so leicht eine Ueberproduction und demzufolge eine Entwerthung her vorrufen .
Es ist nicht zu leugnen , dass die richtige Verhältniss mässigkeit der Arbeitswerthe durch das unnatürliche Schwanken der Preise gestört wird ; nichtsdestoweniger ist
es schwer, eine Massregel der Productionszweige vorzu nehmen , und die Freiheit der Entwickelung zu hemmen . Die freie Concurrenz , diese grosse Wohlthäterin und Mutter des Aufschwunges, hat zur unausweislichen Con sequenz , dass Erwerb und Unternehmungen nur durch die
Nachfrage geregelt werden dürfen Hollenbach , Vorarthoile I.
und
sollen ; 3
dieses
34
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
Schwanken ist nicht zu vermeiden . Durch das Erkennen dieser
Nothwendigkeit gelangte man zul dem Ricardo'schen Gesetz, das Lassalle „ das eiserne Lohngesetz “ taufte. Es entsteht nun die Frage : Muss der Arbeiter wirklich immer an der äussersten Grenze der nothwendigsten Be
dürfnisse stehen ? Müssen die unausweislichen Schwankungen solche Extreme hervorrufen ? Soll da das Streben rach einer besseren Existenz nicht ausreichen , sondern die Peitsche der
Noth, die drohende Vernichtung durch Hunger und Elend im Interesse der Entwickelung unvermeidlich sein ? Gewiss ist das nicht der Fall ; das Streben nach einer besseren Existenz ist ein kräftigeres Motiv als die Noth, welche den Menschen stumpf und kraftlos macht. Der Landwirth , Fabrikant und Kaufmann hören nicht auf zu
erwerben , wenn ihre Geschäfte gut gehen ; das Streben nach einer besseren Wohnung oder Kost, nach einem Ver
gnügen , nach besserer Versorgung einer geliebten Person sind ein eben so wirksames und viel bumaneres Motiv für Ent
wickelung und Thätigkeit , als Noth und Elend. Der wirk liche Lebensbedarf des Arbeiters ist die Linie, welche nach unten die überschritten werden sollte ; wird diese Linie
überhaupt nur durch des Daseins N oth durft gezogen, dann allerdings steht es schlecht um die besitzlosen Classen, aber wahrlich auch um die Capitalisten , denn sie sitzen auf einem Vulkane.
Die Menschheit fühlt , dass die Demarcationslinie der
nothwendigsten Bedürfnisse von der Gesellschaft eingehalten werden soll , wie sie denn auch strebt, durch verschiedene Institutionen dem Elende zu steuern . Wenn wir aber bei.
spielsweise Volksküchen anlegen, so wird der Capitalist doch nicht ermangeln , die leichtere Existenz abermals für sich auszubeuten , den Arbeitslohn zu drücken, wozu ihn die freie Concurrenz selbst verurtheilt und zwingt , wenn nicht
der ganze Arbeiterstand auf eine gleiche Weise durch
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
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geeignete Organisation widerstandsfähig gemacht wird. An dieser Klippe müssen alle Bestrebungen und Lösungen der Conservativen oder Optimisten scheitern. Zur Aufklärung
der den wirthschaftlichen Fragen fernstehenden Leser füge ich bei , dass man unter Optimisten jene Volkswirthe ver steht, welche das „ Laissez faire“ und die kleinen Mittel für genügend erachten , und diese solide Welt als die best
mögliche ansehen. Die Pessimisten repräsentiren Jene, welche ohne einschneidende sociale Reform keine Abhilfe
sehen, und die gleichsam eine Mittelstellung zwischen den Conservativen und Socialdemokraten einnehmen .
Um nun die normale Lebenshaltung sämmtlicher Arbeiter zu erhöhen, bedarf es solcher Mittel , wie sie der
Staat nicht zur Verfügung hat. Die Socialdemokraten appelliren direct oder indirect an die Steuer, doch dass dies nicht der
Weg ist, der zum Heile führt, werden wir später sehen. Aus der bisherigen Entwickelungsgeschichte der Volks wirthschaft geht hervor, dass die materielle Existenz im Allgemeinen zwar grosse Fortschritte gemacht hat , der
Arbeiter jedoch gänzlich der Selbsthilfe und Ausbeutung durch das Capitel überlassen ist, wie das aus den Schriften
von Ricardo , Lassalle, Marx und Lange mit unwider leglicher Evidenz sich ergibt.
Diese Entwickelungsgeschichte lehrt uns aber auch, dass die Axiome der Volkswirthscbaft sich nach
Ablauf weniger Jahrzehnte immer als falsch und irrthümlich erwiesen haben ; dass daher in gar keinem Zweige des Wissens ein Misstrauen gerechtfertigter ist als in der National Oekonomie.
Das grösste Verdienst um Zerstörung vieler volks wirthschaftlicher Vorurtheile hat unstreitig Carey , der talentvollste unter den Optimisten , weil er die gemein
schädlichen Irrthümer und oft unglaublichen Inconsequenzen der Vertreter dieser „ unheimlichen Wissenschaft“, National 3*
36
Das sociale Problem voin Standpunkte der Conservativen .
Oekonomie genannt , nachweist; namentlich sind es einige Theorien von Malthus, Ricardo, Smith und Mill, die er glänzend widerlegt . Es lässt sich auch nicht in Abrede stellen, dass die Erfahrungen, welche Carey als Amerikaner zu Gebote stehen , dies ausserordentlich erleichtern. Der
Entwickelungs-Process auf einem so jungfräulichen Boden, der unter so viele autonome Staaten vertheilt ist, die sich den verschiedensten Experimenten unterziehen , muss sehr lehrreich sein .
Das wichtigste , schädlichste Vorurtheil , das Carey zerstört , ist die trostlose Lehre, zu welcher sich die
Ricardo -Malthus'sche Schule bekennt , nach welcher der eigentbumslose arbeitende Theil der Menschheit dem lang. samen Hungertode verfallen müsse. Carey ist der Apsicht,
dass die Stifter dieser Schule auf den falschen Weg gerathen sind, weil sie von dem Grundsatze ausgingen : „dass der erste Anbau auf den fruchtbarsten Ländern beginne.
Ob
Carey nun Recht hat, in diesem Irrthum die einzige Quelle zu suchen , wollen wir dahin gestellt sein lassen , aber so viel ist gewiss , dass dieser Ausgangspunkt ein falscher war. Der mit den meisten Nahrungsstoffen für die Pflanzenwelt getränkte Boden musste durch seine Ueppig keit der am schwersten zu bewältigende sein, ganz abgesehen davon , dass er unzweifelhaft den Niederungen angehört, welche durch ihre tiefe Lage der Cultur die verschiedensten
Schwierigkeiten entgegensetzen. Die Erfahrung lehrt in vielen Fällen, dass Carey im Rechte sei, wie sich das namentlich in Ungarn nachweisen lässt. Die Cultur entwickelte sich da zuerst an den Abhängen der Karpathen , zog sich immer in bessere Gegenden , um schliesslich im Banate zu enden, dessen Cultur zwar die grössten Anforderungen an die Arbeit stellt, aber am lohnendsten ist. Dass es in Amerika,
wo man am besten Gelegenheit hat, so etwas zu beobachten,
Das sociale Problem rom Standpunhte der Conservativen.
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ebenfalls der Fall ist , wird durch Carey unwiderleglich nachgewiesen. Die menschliche Gesellschaft befindet sich daher vom
unvermeidlichen Hungertode im Sinne der Malthus-Ricardo
schen Theorie viel weiter , als der Selbstüberhebung der
conservativen Volkswirthschaft lieb sein mag , weil deren Anhänger eben keine Entschuldigung für ihre schlechte Wirthschaft aufzubringen vermögen, und sich so gern hinter Malthus und Ricardo stecken , welche den Hungertod und ihre Unwissenheit durch ein Naturgesesetz wett machen
wollen , in dessen Consequenz die moderne Sclaverei des Menschen unvermeidlich wäre.
Von grosser Wichtigkeit und Interesse ist ferner der Nachweis, dass die Civilisation in demselben Maasse wächst, rie die zwischen dem Producenten und dem Consumenten
stehenden Hindernisse des Verkehrs beseitigt werden , und
folglich die Preise der Bodenproducte in ihren rohen und rerarbeiteten Formen sich vähern .“ (Seite 296.) Die Wahr heit dieses Gesetzes, das keine Ausnahme erleidet, wird auch
in Europa durch die plötzlichen Fortschritte erhärtet, die ein Land macht, wenn es durch vernünftig gezogene Bahnen einen grossen Theil dieser Hindernisse überwindet. Im
Widerspruche mit der ganzen modernen Schule sagt Carey mit Recht: „ Wenn der Reichthum und die Bevölkerung zu nehmen, werden die Menschen mehr und mehr in Stand ge setzt , sich mit einander zu associiren und ihre Arbeit zu
combiniren , unter beständig wachsender Kraft die Dienste der Natur zu erzwingen ; und jeder Schritt kennzeichnet sich durch eine beständige Zunahme des Arbeits -Ertrages, der Ge
schwindigkeit der Circulation, und der Leichtigkeit der Pro duction und Capitalanhäutung.“ (Seite 476.) Wie ganz anders klingt die Sprache dieses amerika nischen Republikaners im Vergleich zu dem Gefasel unserer conservativen und socialistischen Oekonomen !
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
Seite 482 sagt er :
„Ricardo's System ist ein System der Missklänge und wirkt bin auf die Erzeugung des Krieges unter den Gesell schafts-Classen und den Nationen. Er spricht mit Bewun
derung von der Freiheit des Verkehrs, und lehrt doch, dass das Monopol des Grund und Bodens im Einklange stehe mit einem grossen Naturgesetz. Er glaubt an die freie Selbstbestimmung und lehrt doch, dass, wenn Männer und Weiber sich ehelich verbinden wollen und also das thun, was am meisten zur Thätigkeit anregt und am meisten zur sie Veredlung des Gefühles und Verstandes beiträgt wahrscheinlich den Hungertod als Lohn dafür zu erwarten haben . Er billigt durchaus die gute Sitte , und hebt doch die Vortheile des Cölibats hervor , und unterstützt damit die vielen Beschränkungen , durch welche die Heirath verhindert
und die Unsittlichkeit befördert wird. Er spricht den Wunsch nach Freiheit des Getreidehandels aus , und belehrt doch
den Grundeigenthümer , dass seine Interessen durch dieselbe
benachtheiligt werden . Bei allem Eifer , den Zustand des Volkes zu verbessern , versichert er doch den Grundbesitzer, dass die Verbesserung der Culturmethoden die Grundrente
vermindern müsse . Er wünscht, dass die Eigenthumsrechte geachtet werden , und belehrt doch den Arbeiter , dass die Interessen des Grundbesitzers durch jede Massregel geför dert werden , durch welche Mangel an Nahrung erzeugt wird , indem die Grundrente vermöge des Monopols einigen Wenigen für das bezahlt werde , was eine gütige Gottheit zum Geimeingut Aller bestimmt habe .
Sein Buch ist das
wabre Handbuch des Demagogen , der durch Aufwiegelung gegen den Grundbesitz in Krieg und Raub die Quellen seiner Macht sucht. Seine Lehren sind unverträglich mit den aus
dem Studium aller gut beobachteten Thatsachen hervor gehenden Lehren , sie stehen sogar mit sich selbst im Wider spruch, und je eher sie also beseitigt werden , desto besser
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
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wird es sein für die Interessen des Grundherrn wie des Pächters , des Fabrikanten wie des Arbeiters und wie der ganzen Menschheit.
Nach der eingehendsten Kritik und unter Anführung schlagender Ziffern kommt Carey zu folgender Zusammen fassung ( Seite 483): „In den Jugendperioden der Gesellschaft, wo die Be völkerung klein und zerstreut ist, verleiht schon der Besitz
einer kleinen Summe von Capital ihrem Besitzer eine grosse Summe von Macht und setzt ihn in Stand , den Arbeiter von seiner Willkür abhängig zu erhalten als Leibeigenen oder Sclaven. Mit dem Zuwachs des Reichthums und der Bevölker
ung aber wächst die Combinationskraft, gleichzeitig nimmt die Productivität der Arbeit zu , sowie die Accumulations
kraft, und jeder Schritt in dieser Richtung ist begleitet von
einem Sinken der Kraft des bereits vorhandenen Capitals, über die Dienste des Arbeiters zu gebieten , und von einer Vermehrung der Kraft des Letzteren , über die Hilfe des Capitals zu gebieten.
Die dem Arbeiter zufallende Quote von dem vermehr ten Arbeitsertrag hat also die Tendenz beständig zu steigen , während die des Capitalisten ebenso regelmässig zu fallen strebt.
Die Beiden zufallende Quantität nimmt zu ; die des
Arbeiters aber wächst rascher, als die von dem Capitalisten zurückbehaltene, da der Letztere eine kleinere Quote von der vermehrten Quantität erhält, während der Erstere eine
stets zunehmende Quote von der zugleich zunehmenden Quantität erhält. Die Tendenz zur Gleichheit steht deshalb in geradem Verhältniss zum Anwachsen des Reichthums und der damit
zugleich wachsenden Productivität der Arbeit.
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
Der Reichthum wächst aber nach Massgabe der Ge schwindigkeit der Circulation . Die Circulation nimmt an Geschwindigkeit zu , wenn die Individualität mehr und mehr entwickelt wird, und damit auch die Kraft zur Vervielfältigung der Beschäftigungen unter den arbeitenden Classen .
Je rascher die Circulation ist , desto grösser muss die
Quote des Arbeiters sein , desto grösser muss die Tendenz zur Gleichheit, Erhebung und Freiheit bei dem Volke und desto grösser die Stärke des Staates sein.“
Bastiat gesteht ebenfalls zu , dass das grosse Gesetz des Capitals und der Arbeit in Bezug auf die Vertheilung der Erzeugnisse ihrer vereinten Arbeiten festgestellt sei.
„ Die absolute Quantität beider ist grösser , allein der rela tive Antheil des Capitals nimmt beständig ab im Vergleiche zu dem der Arbeit.“
Von Wichtigkeit ist auch der Nachweis, wie schädlich die indirecten Steuern gegenüber den directen auf die Ent wickelung und das Wohlbefinden der Menschheit wirken . Er citirt die Schilderung Sidney Smith's (Seite 494) : „ Der Schulknabe peitscht seinen besteuerten Kreisel ; der bartlose Jüngling bändigt sein besteuertes Pferd mit einem besteuer
ten Zügel auf einer besteuerten Strasse ; der sterbende Eng länder giesst seine Arznei, die siebeu Procent bezahlt hat. in einem Löffel, der fünfzehn Procent zahlte, legt sich danu auf das Cattunbett zurück , das zweiundzwanzig Procent
bezahlt hat , schreibt sein Testament auf einen Achtpfund stempel und stirbt in den Armen eines Apothekers, der eine Licenz von hundert Pfund für das Privilegium bezahlt hat, Dann wird sogleich sein ganzes
ihn zum Tode zu führen .
Eigenthum mit zwei bis zehn Procent besteuert. Ausser den Gerichtssporteln werden hohe Gebühren verlangt für sein Grab im Kirchenchor ; seine Tugenden werden der Nachwelt auf besteuertem Marmor verkündet , und er wird dann zu
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
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seinen Vätern versammelt , um endlich - nicht weiter be steuert zu werden .“66
Er weist nun an der Hand der Statistik nach , welchen schädlichen Einfluss das Uebermaass der indirecten Steuern nach sich zieht. (Seite 495) : „ Die Indier verkaufen Baum
wolle um einen Penny per Pfund und kaufen sie wieder in der Form des Zeuges um 20 bis 40 Pence. Die Baumwolle
bezahlt die Dividenden der ostindischen Compagnie , den Gehalt der Beamten, die Fracht der Schifte, den Lohn der
Seeleute , die Miethe der Waarenhäuser, die Gebühren der Eisenbahnen und der Makler, die Wechselstempel, sie geht durch Tausende von Händen und steuert auf jedem Schritt zum Unterhalt der Regierung bei. In Folge davon ist einer seits der Hindu zu arm, um Zeug zu kaufen , wäbrend auf der anderen Seite der Arbeiter in Manchester aus Mangel an Brot zu Grunde geht. Ebenso ist es in Carolina. Die Baumwolle verlässt die
Plantage zu sechs Cent per Pfund und kehrt in der Form von Zeug zu 60 Cent zurück. Auf ihrer Reise hat sie Steuern in jeder Gestalt bezahlt, und es wurde auf dem Wege ein so grosser Theil von ihr absorbirt, dass der Mann, der sie
producirte , ein Sclave bleibt , während Derjenige, der sie umwandeite, kaum ein Hemd kaufen kann." Die Richtigkeit dieser Anschauung geht am besten aus
der Besteuerung einer landwirthschaftlichen Industrie her vor. Vor dem Jahre 1848 kannte das decentralisirte Ungarn
keine indirecten Steuern mit Ausnahme des Salz -Monopols, und konnte daher kleine Brennereien und Rohzucker- Fabri
ken leicht errichten. Die Rübe wurde eigentlich als Futter
und bodenlockernde Hackfrucht gebaut. Um 4 bis 5 Procent Zucker nebstdem zu gewinnen , bedurfte es weder eines grossen Anlage- und Betriebsca pitals , noch einer sehr vor sichtigen Behandlung ; die dadurch nahrbaft gebliebenen Reste gaben Futter , die Bevölkerung gewann im Winter
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
geeigneten Erwerb, und man kann sich von dem wohlthätigen Einflusse, welchen eine kleine Anlage fast augenblicklich
hervorbrachte, gar keinen Begriff machen. Auch war es da durch möglich, dass jeder grössere Grundbesitzer auf Grund lage der eigenen Production zur Errichtung solcher kleinen Fabriken , welche seine Wirthschaft ausserordentlich em porhoben, schreiten konnte . Da kamen die indirecten Steuern in einer Höhe, welche
es zur Nothwendigkeit machten , statt 4 und 5 Procent Zucker deren 7, 8, 9 zu gewinnen, weil es sonst nicht mög. lich war die Steuer zu erschwingen. Eine solche Höhe des Zuckergewinnes setzte aber grössere Anlagen voraus , die kleinen Fabriken oder vielmehr Siedereien gingen ein ; die grossen Fabriken verlangen wieder eine grosse Menge von Roh material ; dieses ist aber nur unter sehr günstigen und seltenen
Verhältnissen zu finden , daher der grösste Theil der land wirthschaftlichen Bevölkerung der Wohlthat dieses Industrie zweiges entbehren muss. Dabei ist noch zu bemerken, dass Oesterreich Zucker einführt ! Ganz dasselbe findet statt bei den Brennereien , welche mit Ausnahme weniger sehr vor .
theilhafter Lagen, gänzlich aufgehört haben und mit ihnen der Erwerb des Arbeiters, wie nicht minder die höhere Cultur der Wirthschaft,
In dem Nachweise , dass der Planet an dem Elende der Menschheit keine Schuld trägt, und andererseits die Frei heit der Entwickelung, die Anhäufung von Capital und die
grössere Quote des Arbeiters Hand in Hand gehen, liegt das Todesurtheil für alle Theorien der Nothwendigkeit des Uebels einerseits und alle socialcommunistischen Velleitäten
andererseits, mit welchen letzteren wir uns übrigens gleich
befassen werden. Eines geht fast aus jeder Seite der aus gezeichneten Arbeit Carey's hervor , und das ist, dass der Fehler nur in der Organisation liegt.
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
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Wie richtig die Anschauungen Carey's sind , beweist der gegenwärtige Zustand Frankreichs im Vergleiche mit
dem der andern Länder Europas. Carey stellte Frankreich immer als den wirthschaftlichen Musterstaat auf, und wirk lich hat es nach einem unglücklichen furchtbaren Krieg,
nach Zahlung von 5 Milliarden an Deutschland durch seine Haltung in der allgemeinen industriellen und finanziellen Krise den Beweis geliefert, dass es kräftiger dastehe , als alle anderen Staaten der Welt.
Andererseits lässt sich nicht in Abrede stellen, dass
Carey denn doch einen specifisch amerikanischen Standpunkt einnimmt.
Amerika mit seinen Latifundien und verhältnissmässig
wenig Eisenbahnen und Einwohnern hat durch die Entfer
nung eines Marktes und die Lasten einer grossen Transport steuer weit mehr zu leiden als Europa.
Die sociale Ent
wickelung kann die antinomische Natur nicht verläugnen , kraft welcher kein Gesetz absolut und einseitig durchgeführt werden kann. Die Nähe des Producenten und Consumenten ,
die Beseitigung des entfernteren Transportes haben ihre Grenzen, wenn zu Folge besonderer Umstände die ersparte Arbeit grösser ist, als die verursachte Transportsteuer. Wenu in England durch Lage und Qualität von Metall und Kohle das gelieferte Product mir mehr Arbeit erspart als die doppelte Transportsteuer, nämlich meines verkauften Weizens und des gekauften Fabrikates, so wäre es immer hin ein Verlust , im Wege des Schutzzolles eine Industrie zu stiften, deren Producte im Weltverkehre die Concurrenz nicht bestehen könnten. Im Stuhlweissenburger Comitate erzeugt man in guten Jahren beiläufig 30 Metzen Weizen
oder 20 Metzen Mais per Joch ; im südlichen Theile der Steiermark habe ich nie zwanzig Metzen Weizen, aber sehr leicht über 30 Metzen Mais per Joch erzeugen können.
Thue ich nicht besser, den Weizen zu kaufen , als zu pro
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen
duciren ? Auf analoge Weise muss es sich auch mit vielen Industrie-Artikeln verhalten . * )
Die Ansicht Carey's, dass die rationelle Landwirth schaft immer auf die Industrie-Blüthe folge, hat eine aus.
nahmslose Geltung auch nur für amerikanische Verhältnisse. In Ungarn gibt es keine Industrie, und doch würden die Oekonomen der ganzen Welt staunen, wenn sie die ratio melle Bewältigung der ausgedehnten Flächen in zahlreichen Wirthschaften sehen würden , wo alles zu finden ist, was der menschliche Geist an Combinationen und Maschinen er sonnen . Ich habe in Deutschland und Frankreich blühende Städte und prachtvolle Wälder gesehen, aber Wirthschaften und einen Saatenstand wie in Ungarn nirgends angetroffen. Eine Dauer aber kann eine Landwirthschaft ohne Industrie
nicht haben , weil sie den Boden entkräftet, indem der Dün
ger eine Transportsteuer nicht verträgt , und phos phorsaure Kalke in geeigneter Beschaffenheit noch nicht gefunden sind , die im Sinne der Liebi g'schen Theorie vielleicht einmal auch auch diese Schwierigkeit überwinden würden .
Der specifisch amerikanische Standpunkt Carey's zeigt sich auch bei Beurtheilung der englischen Verhältnisse. England hat seinen Reichthum allerdings dem Handels System zu verdanken , und dadurch aber auch die Verar mung eines Theiles seiner Bevölkerung verschuldet ; doch darf man nicht übersehen, dass England heute der Gläubi. ger der ganzen Welt geworden ist , und wenn man nicht an
eine allgemeine Zahlungseinstellung und Confiscation aller mit eng lischem Gelde gemachten continentalen Anlagen oder in englischen Händen befindlichen Unternehmungen glaubt, kann England leicht auf den monopolisirten Handelsgewinn * ) Der Österreichische Metzen Weizen oder Mais bat etwas über einen Zollcentner im Durcbschnitte der Ernten .
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen .
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verzichten , ohne zu Grunde zu geben. Die dominirende Stellung Englands auf dem Gebiete der Industrie verdankt
es ohne Zweifel der Lage , Qualität und Massenhaftigkeit seiner Koble, gegen die jede Concurrenz in Europa wenig stens aufhört; diese Kohle geht aber in etwa 100 Jahren
zu Ende, und mit ihr die dominirende industrielle Stellung. Nichtsdestoweniger wird in England der Abbau und Vertrieb der Kohle mit demselben Leichtsinn getrieben , wie das
Schuldenmachen und Verpfänden der Arbeit der nächsten Generation auf dem Continente, während es doch die Pflicht der englischen Staatsmänner wäre , die Ausfuhr als Ruh material im Interesse der Industrie der Zukunft durch Zölle
etwas zu erschweren. Après nous le déluge ! heisst es auch in England .
Es unterliegt keinem Zweifel, dass Carey in vieler Beziehung das Richtige getroffen ; der Fehler liegt nur in
der Organisation , die Annäherung des Consumenten und Producenten muss von wohlthätiger Wirkung sein, die Nach frage nach Arbeit und der Preis derselben werden steigen,
das Rohproduct und das Fabrikat werden sich im Preise nähern , die Macht der Menschheit über die Natur wird wachsen.
Wann aber wird ein befriedigender Höhepunkt erreicht sein ? – Ist in jenen Staaten , die im Sinne Carey's wandeln, wie z . B. Frankreich, kein Hunger, kein Elend zu finden ? Existirt dort keine sociale Frage ? Werden einzelne Fabriken ihre Arbeit nicht ab und
zu einschränken oder gar einstellen ? Was soll mit dem be treffenden Arbeiter geschehen , wenn er täglich vergebens Arbeit sucht, und nicht sie, wohl aber seine hungernde Familie findet ? – Der Capitalist streicht – wie Lange treffend sagt
einfach den Namen von seiner Lohnliste,
und den Rest besorgt das Naturgesetz !
Was geschieht überhaupt mit den Kindern, die einen gerechten Anspruch darauf haben, durch physische, geistige
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen .
und moralische Pflege concurrenzfähig für den Kampf ums Dasein gemacht zu werden ? Bei der heutigen Organisation kann der Arbeiter nicht warten. Carey sagt : „ Der Landwirth verkauft seine Pfir
siche sogleich , so niedrig auch der Preis sein mag ; allein seinen Weizen und seine Kartoffeln bewahrt er auf in der
Erwartung besserer Preise. Da nun die Waare des Arbeiters
noch vergänglicher ist, als Orangen und Pfirsiche, ist die Nothwendigkeit des augenblicklichen Verkaufes der
selben auch noch dringender. – Die ganze Frage der Freiheit oder Sclavereiist deshalb in der Frage der Concurrenz im Ausgebote oder in der Nach frage nach Arbeit enthalten.“
Die Irrthümer zu beseitigen , die Zahl der Unglück lichen zu vermindern, die Lebenshaltung des Arbeiters zu vermehren , ist gewiss löblich und nothwendig , aber eine
Lösung der socialen Frage , eine Beseitigung von Hunger und Elend ist das nicht. Insolange der Staat durch wider sinnige indirecte Steuern die Circulation behindern und alle
Grundsätze einer gesunden Volkswirthschaft mit Füssen treten kann , ist der Menschheit auf diesem Wege allein nicht geholfen .
Das jungfräuliche Amerika kann aus den Lehren Carey's ungleich mehr Nutzen ziehen, als das alte Europa , wo in staatlicher und industrieller Beziehung ein Chaos vor handen ist, das nicht mehr beseitigt werden kann. Die Auf
hebung der meisten indirecten Steuern wäre das einzige, was Europa anstreben könnte. Wann könnte es aber dahin gelangen !
Das Einlenken in die Bahnen Colbert's und Carey's ist gewiss gut und nothwendig, aber die sociale Frage ist so brennend, dass damit allein nicht mehr geholfen werden kann . Der englische Arbeiter lebt allerdings besser , als
mancher Eigenthümer in der Türkei ; in Frankreich gibt es
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
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allerdings weniger Proletarier als in England, als vielleicht in Deutschland, darum aber halten sich diese Elemente doch für berechtigt an dem Umsturze der Gesellschaft zu arbeiten .
Ein Leipziger Socialistenblatt schrieb aus Anlass des ersten Attentates von Berlin Folgendes :
„Jener Mensch hatte, als er den wahnwitzigen Streich beging, keinen Heller Geld in der Tasche ! Das sagt mehr, als all die Berge bedruckten Papiers enthalten können, die man wegen der Geschichte vergeuden wird. Und wahrhaftig, sieht man all das thurmhohe Elend , wie es in unseren
Städten jetzt aufgebäuft ist , sieht man da die zahllosen ausgehungerten , ausgemergelten Gestalten nach Art des Attentäters, von denen keiner weiss , ob er morgen noch eine Brotkrume vorfindet oder schon vor dem grossen unbe-
kannten Nichts steht, dann wundert man sich, dass noch so erstaunlich wenig derartige Thaten des Irrsinns geschehen ! Wunderbarer Beweis von der Gutartigkeit und Schafsgeduld der Menschennatur. Alle diese Myriaden Menschen schleichen sich hinweg vom Gastmahl des Lebens,
an welchem der herrschenden Lehre zu Folge kein Platz für sie ist , still und schweigsam , damit den Geniessenden, den Prassenden , bei denen wohl just grosses Diner ange
sagt ist, der Appetit nicht gestört werde. So sterben sie auf der Tenne , bei Mutter Grün , auf der Strasse , im Spittel. Was thun sie auch hier ! Es sind überflüssige Hände, für die der Arbeitsmarkt keine Verwendung hat, also weg damit !
Aber es gibt einzelne energischere leidenschaftlichere Naturen
darunter.
Wenn ich denn schon hinweg muss ,
sagen die sich, dann soll es wenigstens unter Protest geschehen , dann will ich dich, du grausame, herzlose, gleich
giltige Gesellschaft zwingen , einen Augenblick stillzustehen und zu sehen , welch bitteres Unrecht du an mir begangen hast. So sprach beim Verhör jener Mörder seines Schlaf genossen , so sprachen jene Familien väter , so sprach dieser
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Das sociale Problem vom Standpunkte der conservativen,
Attentäter, so sprechen sie Alle, Alle ! Ihr von der satten Moral, die ihr so pharisäisch heute über den Mörder ab . urtheilt, habt ihr erst nichts mehr zu beissen, lasst ihr euch erst vom Elende mürbe treten und kneten, erfahrt ihr erst
all die moralischen Demüthigungen , welche die Armuth mit sich bringt und die so Vieles zur Erhöhung jener Verzweif lungsstimmen beitragen , und dann kommt hübsch wieder ,
dann wollen wir weiter reden ! Verbrechen ist im gesell schaftlichen Leben , was Krankheit im physischen ist. Fin Symptom der Störung, der Unordnung im Organismus. Wie von jedem Verbrechen , so gilt das auch von diesem hier.
Wer also ist schliesslich Schuld an der That, die ihr uus zuzuschreiben euch erfrecht ? Nicht wir , die wir diese Un
ordnung des gesellschaftlichen Organismus, diese wahnsin nigen und Wahnsinn erzeugenden Zustände bekämpfen, auch
nicht jener unglückliche Hirnkranke , der nur das noth wendige Product dieser wahnsinnigen Zustände ist, sondern ihr , ihr , ihr allein , die Vertheidiger , die Schöpfer dieser wahnsinnigen Zustände ! Auf die Anklagebank mit euch ! "
Ganz ohne Begründung sind einige dieser Behauptungen nicht. Mit Recht erhebt Lange den Einwurf gegen Carey, dass die grössere Macht, die der Mensch über die Natur erlangt , dem mittellosen Arbeiter nichts hilft, sondern zu
meist dem Unternehmer und Capitalisten der ganze Vor theil in den Schoss fällt. Nichtsdestoweniger schiesst Lange bei Bekämpfung Carey's oft über das Ziel. Seine Apimosität gegen Carey hat zwei Motive.
Lange , als Pessimist, muss in Carey , dem bedeu tendsten Optimisten, seinen gefährlichen Gegner sehen, und
insoweit ist er im Rechte ; ohne sociale Reform geht es nicht, was am schlagendsten durch das Beispiel von Massa chusets erwiesen wird, welcher Staat das Ideal Carey's bildet, und über dessen Zustände ein Comité von Senatoren und Ab
geordneten Folgendes berichtet : (Lange Seite 233. Ueber Mill.)
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
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,, Das Comité war sicher mit Recht betreten bei der
Wahrnehmung, dass inmitten eines beispiellosen Wohlstandes, eines entschiedenen Fortschrittes der Künste und Wissen
schaften, der Vervollkommnung aller Maschinen, welche die Arbeit vereinfachen , inmitten aller möglichen neuen Erfin dungen der Mensch, der Schöpfer, die erste Ursache aller dieser Dinge , allein zurückgeblieben ist. Denn eben der Wohlstand , dessen wir uns rühmen und der sich auf alle erstrecken sollte , ist im Begriffe aus den Arbeitern selbst Maschinen zu machen, Menschen ohne Denken, ohne höheren
Trieb , als wie er auch den Sclaven gestattet ist. Führen wir einfach die eigenen Worte eines Arbeiters an, welcher
sagte : „ Wir sind Sclaven, erschöpft von der Arbeit, abge nützt und entkräftet, und da wir keine Zeit haben, Geist und Herz zu bilden , ist es überraschend, dass wir herab gekommene, unwürdige Nichtswisser sind ?" Ein Anderer
sagte : „ Ich habe einen Sohn , den ich lieber im Sarge sehen würde, als in einer Fabrik , um alles zu leiden , was ich gelitten habe, und mehr zu erdulden, als ein Sclave in dieser verdorbenen und erniedrigenden Umgebung.“ Es war peinlich, von Allen denen, die uns aufzuklären bereit waren über die reissende Entsittlichung unseres Arbeiterstandes, der die Grundlage unseres nationalen Lebens bildet , das Nämliche hören zu müssen ; peinlich war es, einen bestätigen
den Blick thun zu müssen in das Herabgekommensein , in den immer tieferen Ruin und Verfall des Menschenge schlechts, das doch unvergänglich und unsterblich sein soll.
Die männliche und stolze Unabhängigkeit des Arbeiters von ehemals hat einer feilen Gesinnung Platz gemacht ; an die Stelle der Selbstachtung und Intelligenz sind Mangel
an Selbstvertrauen und wachsende Unwissenheit getreten, statt des ebrenwerthen Stolzes auf die Würde der Arbeit
hat das Gefühl völliger Unterordnung, statt des Triebes sich in der Mechanik zu vervollkommnen , der Ekel an einer Hollenbach , Vorurthello I.
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
untergeordneten Beschäftigung allgemein Platz gegriffen. Statt eines Adelsdiploms haftet an der Arbeit das Brand mal der Sclaverei.
Die Mitglieder des Comités sind daher sehr überzeugt, dass wenn unsere Nation vor sicherem Unglück und Unter gange bewahrt , wenn der industriellen Wissenschaft ihre
praktische Anwendung gerettet, wenn der Gesundheit, dem Leben und der Sittlichkeit des Volkes Rechnung getragen
werden soll, wenn wir endlich unseren Nachkommen die kost baren Güter der Freiheit und der „ Selbstregierung “ sichern
und hinterlassen wollen, wir die Wichtigkeit der Frage be greifen und ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen wenn nicht aus Menschenliebe, so doch aus Eigennutz.“ Mit der blossen Steigerung des Wohlstandes wird man selbst den bescheidensten Anforderungen der leidenden Menschheit nicht genügen , wenn nicht gleichzeitig eine richtige Proportionalität von Arbeit und Verdienst Platz greift. ,,Wehe dem Volk, dessen Reichthümersteigen, während die Menschen sinken."
Das zweite Motiv der Geguerschaft zwischen Lange
und Carey liegt in der diametral entgegengesetzten Welt anschauung beider. Der Amerikaner sieht überall Zweck thätigkeit und Zweckmässigkeit in der Natur, versteigt sich sogar bis zur Annahme eines liebenden Vaters im Himmel ; das musste Lange als Vertreter des Materialismus noth wendig verschnupfen .
So verbrecherisch , so unsinnig auch die Mittel der Socialdemokraten sind , eine gesellschaftliche Ordnung ein zuführen, die sie noch unglücklicher machen würde, als sie ohnehin schon sind, einen gewissen Grad von Berechtigung order doch Entschuldigung kann man einzelnen Sätzen ihrer Doctrinen nicht absprechen. Es ist daher nothwendig, das
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
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Programm der Socialisten einer genauen Untersuchung zu unterziehen , denn mit den ökonomischen Mitteln der Opti misten und dem Galgen allein , wird man das Uebel auch nicht beseitigen . Bevor wir uns nun in die Träumereien der Socialisten
einlassen, wollen wir noch eines Versuches, eine Socialwissen schaft auf Grundlage von Analogien aufzubauen , erwähnen. Haben die socialistischen Theorien Charles Fourier's
einen eigenthümlichen Schwung , zeigt die Arbeit Carey's die amerikanische Nüchternheit, so verräth die „ Socialwissen schaft der Zukunft“ von Lilienfeld den speculativen idealisirenden Deutschen.
Paul von Lilienfeld's „Gedanken über die Social wissenschaft der Zukunft"
enthalten
weit mehr Natur
wissenschaftliches, Ethnographisches, selbst Philosophisches, als Socialwissenschaftliches. Der Gedanke , dass der Staat ein Organismus und mit dem Menschen zu vergleichen sei, ist schon von Plato und Aristoteles ausgesprochen
worden , noch drastischer in dem Vergleiche des Menenius
A grippa von der Verschwörung der Gliedmassen gegen den Bauch.
Lilienfeld meint, dass mit der Anerkennung des Staates und socialen Körpers als eines Organismus alle Schwierig keiten gehoben wären , was aber leider nicht der Fall ist.
Die Erkenntniss , dass wir z. B. die Dampfmaschine den nach und nach erworbenen und ererbten Kenntnissen , der Anpassung an unsere Bedürfnisse und der Concurrenz, als des Kampfes ums Dasein verdanken, ist sehr lehrreich, aber
weder eine neue Erfindung , noch eine Verbesserung ; sie kann uns nur die Beruhigung gewähren , dass wir auch
weiter fortschreiten werden , und uns objectiv machen. Ebenso ist uns mit der blossen Erkenntniss, dass der Staat ein mit dem Menschen analoger Organismus ist, noch wenig geholfen .
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen .
Unsere socialen Zustände sind allerdings ebenso ein
Product der Entwickelung, wie es ein thierischer Organismus ist ; in wie weit nun die Entwickelung allgemeine Grund lagen und Gesetze hat , wie z. B. das Nebeneinander (die
räumliche Beziehung), das Nacheinander (die zeitliche Be ziehung) und das Uebereinander (die Consequenz dieser Be ziehungen) ; so gelten sie auch für beide Entwickelungsreihen gleich , was übrigens schon von Fourier und von mir in
meinen „ Gesetzen der socialen Bewegung“ 1864 , (siehe X. Capitel meines „ Individualismus“) – behauptet wurde. Lilienfeld ist ebenso im Rechte , den socialen Körper mit
dem Organismus zu vergleichen , als Carey , wenn er die Naturgesetze, als Fourier, wenn er die Attractions -Gesetze,
und ich , wenn ich die Gesetze der logischen Entwickelung heranziehe, denn der Organismus des Planeten - Systems, die Natur und unsere Begriffe sind Früchte der Entwickelung,
deren allgemeinste Formel noch nicht gefunden ist. Darin liegt die Analogie. Der Vergleich des Menschen im Staate mit der Zelle
im Organismus , unserer Werkzeuge, Capitalien , Sitten und Gebräuche mit der Intercellular-Substanz ist eben so tref
fend, wie die Analogie zwischen der ökonomischen und physio logischen , der rechtlichen und morphologischen, der politischen und tektologischen Entwickelung.
Aus den Betrachtungen
Lilienfeld's ergibt sich das Frevelhafte des communistischen und socialistischen Treibens, das gleichsam eine Rückbildung der Menschheit inauguriren will , und, ohne mit nachhaltigem Erfolge durchdringen zu können, nur den Fortschritt hindert
und verzögert. Doch kann der Staat nur mit dem Zellen complexe, nicht aber mit einem Organismus im eigentlichen Sinne verglichen werden. Die menschliche Gesellschaft kann dem Staate nur
die Bestimmung geben , den einzelnen Zellen ein bestmög liches Dasein zu schaffen, und der Kampf ums Dasein soll
Das sociale Problem von Standpunkte der Conservativen .
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sich auch nur um diese Frage drehen. Im menschlichen Orga nismus hingegen ist das Wohlbefinden der Zellen nicht der
Zweck, sondern nur eine beschränkte und relative Bedingung eines anderen höheren Zweckes. Im Interesse dieses Zweckes schneide ich die Zellen eines Geschwüres oder einer Neu
bildung ohne Rücksicht auf die Zellen weg ; man kann ein wenden, dass der Staat die schädlichen Elemente auch ein sperrt und aufhängt, aber er thut es im Interesse der übrigen Zellen , und darin liegt der Unterschied. Ludwig XIV.
hatte die Auffassung Lilienfeld's, dass alle Zellen für die Eine existiren . Lilienfeld sagt Seite 23 „das Einheitliche in
der psychischen Thätigkeit des Menschen bildet gerade die Seele. Es muss doch ein Wort für diese Erscheinung geben .“ Die Seele ist aber keine Zelle unter den Zellen.
Diese
Seele ist es eben, die dem Staate fehlt; die einzelnen Indi viduen trachten allerdings die anderen sich zu nutzen und dienstbar zu machen, wie das bei einem Zellenhaufen, der
kein physiologisches Individuumist, auch vorkommt ; von jenem zu diesem ist aber ein gewaltiger Schritt. Für das Uebersehen dieses gewaltigen Unterschiedes ist aber nicht Lilienfeld , sondern dessen Evangelium Häckel verantwortlich.
Häckel weiss nichts von der Seele des
Organismus; er bemerkt nicht, dass das, was als Seele fungirt, nicht das mechanische Product der noch so differen cirten Eiweissverbindungen sein kann, sondern von viel früher datiren muss , selbst in dem Falle, wenn es ursprüng
lich das mechanische Product einer längst verflossenen Zeit wäre, wie ich das in den ersten Capiteln meines „ Indi vidualismus“ nachgewiesen. Häckel verwechselt das Seelen
leben mit der Vorstellung, und nachdem er die Solidarität derselben mit dem Organismus nachweist , glaubt er daraus Schlüsse auf die Seele ziehen und diese mit dem
Organismus identificiren zu können. Nur weil Häckel nicht bemerkt , dass ein mehrzelliger Organismus ohne eine
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen,
schaffende und fungirenden Seele nicht denkbar ist, hat Lilienfeld nicht wahrgenommen , dass der Staat keine Seele hat. Sollten die Menschen wirklich nur als Zellen für eine höhere Individualität genommen werden , oder mit anderen Worten, wäre der Vergleich ein durchschlagender ,
80 müsste man sehr hoch greifen , etwa Planet , Sonnen system , Welt : „ Die ganze Reihe von Menschen “, sagt Pascal, „ durch den Lauf der Jahrhunderte , muss als ein Mensch, der ewig lebt und unaufhörlich lernt , betrachtet werden .“
Dieser Vergleich ist weit richtiger , als der des Staates mit einem lebenden Wesen .
Wir haben nicht mehr Grund für derlei Phantasie-Ge
bilde, als Fourier, wenn er erzählt, dass wir die Pfirsiche diesem und die Melonen jenem Planeten als deren aro matischen Projectionen verdanken. Die philosophischen Excursionen Lilienfeld's wären überhaupt besser unter blieben, denn sie sind nicht glücklich. Es muss — gelinde gesagt – als sehr gewagt bezeichnet werden , Kant in Dingen zu widersprechen , welche er mit grosser Decision ausgesprocben, oder denen er sein ganzes Denken gewidmet. Das Eine ist der Fall in Bezug auf den Unterschied der organischen und unorganischen Natur , indem Lilienfeld meint , (Seite 92, II. B.) dass das Darwin'sche Gesetz der natürlichen Züchtung die Ansicht Kant's berichtige, worauf wir in den wissenschaftlichen Vorurtheilen zurück
kommen werden – und Seite 374 geht Lilienfeld so weit,
das Kant'sche „ Ding an sich“ als etwas „Undenkbares, also als Unding “ zu erklären. Er übersiebt , dass in uns und ausser uns unendlich viel vorgeht, von dem nur ein ganz verschwindend kleiner Theil als Vorstellung in un serem Bewusstsein erscheint , also denkbar werden kann . Soll dann der ganze ungeheure Rest ein „ Unding “ sein ?
Das Kant'sche „ Ding an sich “ war der erste und unver meidliche Schritt zur Kritik unseres Erkenntnissvermögens
Das sociale Problem vom Standpunkte der Conservativen.
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und wenn Lilienfeld schon jemandem vertrauensselig nachtreten will , so ist es jedenfalls besser , sich an Kant als an Häckel zu halten.
Wenn aber Lilienfeld die Philosophen mit zu viel und die Naturforscher mit zu wenig kritischer Vorsicht behan . delt und verwerthet, so bat er doch darin entschieden Rechty
den Staat als Product einer Entwickelung zu betrachten und
diese als unter gleichen Entwickelungsgesetzen mit allen anderen Entwickelungen stehendanzuerkennen. Daher verträgt der sociale Körper keine Sprünge , und muss Zelle, Intercellular-Substanz und Nervensystem gleichen Schritt in der Entwickelung halten . Die Conservativen ver gessen auf die Zelle , die Socialisten versündigen sich an der Intercellular-Substanz und die Regierungen missbrauchen das Nervensystem des gesellschaftlichen Körpers ! Wir haben allen Grund, dem versprochenen III. Bande der Lilienfeld'schen Arbeit mit Spannung entgegen zu sehen ;
denn es ist anzunehmen , dass der bisher vernachlässigte Theil , — das eigentlich Socialwissenschaftliche darin mehr hervortreten wird .* )
Die Bestrebungen der Conservativen und Optimisten führen zur Zunahme des Reichthums und der Macht der
Besitzenden, sie können aber die Garantie der Existenz für die Besitzlosen nicht schaffen , und die Gesellschaft vor einem Umsturz nicht bewahren.
Betrachten wir uns nunmehr die Doctrinen ihrer Gegner. *) Ist mittlerweile erschienen , jedoch nicht aus dem Rahmen der beiden ersten Bände getreten. Jäger und Schäffle haben sich mit diesen Analogien ebenfalls beschäftigt, doch ist mebr als Anregung auch nicht zu finden .
III. Capitel. Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
Der poetische Socialismus. Boden - Rente.
Die Productiv . Associationen.
-
Die
Das collective Eigenthum.
Das „ sociale Problem “ ist ein schwer wiegendes Wort ! Edle Menschen und bedeutende Köpfe haben sich an diese Aufgabe gemacht und ganz gute Diagnosen des socialen Uebels gegeben ; die bisher vorgeschlagenen Heilmittel aber sind theils undurchführbar, theils unzureichend, theils ver derblicher als die Krankheit. Der Grund liegt darin, dass unsere socialen Zustände die Folgen und auch Ursachen einer unausgesetzten Entwickelung sind , welche letztere in ihrem natürlichen Verlaufe weder aufgehalten noch in ihren
wesentlichen Entwickelungsgliedern übersprungen werden kann ; Alles was wir thun können, besteht darin, die Hin
dernisse der Entwickelung zu beseitigen, und die schmerz haften Wehen des Entwickelungs-Processes zu lindern. Leider thun wir immer das Gegentheil ; wir greifen in die Ent wickelung durch schädliche und unvernünftige Steuern, be lasten durch leichtsinniges Schuldenmachen die Arbeit der nächsten Generation und verfahren zum Ueberflusse noch
mit aller denkbaren Rücksichtslosigkeit.
Das sociale Problein vom Standpunkte der Socialisten.
57
Charles Fourier war eine schwärmerische, für die Menschheit begeisterte Natur, bei welchem sich tiefe, ohne
alle Begründung ausgesprochene Gedanken und Wahrheiten neben einem ganz kindischen und oft lächerlichen Détail einer gesellschaftlichen Ordnung dicht aneinander gereiht vorfinden . Hätte er in einem anderen Zeitalter gelebt, so würden wir ihn als Propheten und Religions -Stifter finden Ich habe ihn stark im Verdacht, dass er zu jenen anorma
len Organisationen und Wahrträumern gehört, bei welchen das „Unbewusste“, oder nach meiner Auffassung die unserem vorgestellten Ich zu Grunde liegende Seele stärker und häufiger auf den Inhalt unserer Vorstellung Einfluss nimmt,
als es im gewöhnlichen , blos auf die empirische und be wusste Motivation angewiesenen Vorstellungsleben der Fall ist, daher unter vielem verworrenen Gefasel auch einzelne überraschende Wahrheiten zu finden sind , deren Ursprung
unbegreiflich ist. Wenn Plato von einer Gemeinschaft der Güter, Frauen und Kinder spricht, so wird das durch ihn
motivirt ; bei Fourier ist dies nicht der Fall, seine Gedan ken haben entweder gar keine oder eine nachträglich ge suchte Begründung ; und doch finden wir bei ihm Alles, was Carey mit sehr viel Fleiss und Geschick im Wege
der Erfahrung und Beobachtung und durch richtige Schlüsse von Ursache auf Wirkung und umgekehrt gefunden und behauptet hat. Der für das Wohl der Menschheit begeisterte Mann beurtheilte aber die Menschen nach sich selbst, und ver
gass auf den prosaischen und rücksichtslosen Egoismus der gegenwärtigen Generation. Er war durchdrungen über zeugt, dass die Ersparnisse, welche durch Association erzielt
würden, die Theilnehmer über die Nahrungssorgen hinweg heben und ihnen Genüsse schaffen könnten, die dem Ein zelnen
namentlich dem Landbewohner
unerreichbar
sind. Es ist auch wahr , dass die Menschheit dem Principe
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
der Association immer mehr huldigt ; doch liegt es in der Natur der socialen Entwickelung, dass die Association nur successive und nach Bedarf für einzelne Zwecke ins Leben
treten darf , wenn sie sich als lebenskräftig erweisen soll. Die Harmonie in der physischen Natur ist etwas erst im Wege der Entwickelung Gewordenes , warum soll sie im biologischen und socialen Processe nicht auch erreichbar sein ?
Carey vertheidigt diese Ansicht in den letzten Capiteln seiner Volkswirthscbaft ebenfalls. Fourier schwärmte für
Identität der physischen und socialen Gesetze wie Carey; er vertrat Reichthum und Luxus und sah nur darin und
in der Verschiedenheit , Ungleichartigkeit , Combination, grossen Bevölkerung , Association und Vielseitigkeit der Beschäftigung das Heil der socialen Gestaltung gerade wie Carey.
In der socialen Welt ist Alles relativ, das Gute nicht minder als das Schlechte ; zu Abrahams Zeiten wären die
meisten und besten Institutionen der Gegenwart undurch führbar gewesen , und hätte Niemand an deren Möglichkeit geglaubt. Wer zweifelt heute daran, dass die Sclaverei mit dem Fort schritte der Menschheit unverträglich ist ? Und doch wäre es
in den alten Zeiten unmöglich gewesen, dieselbe plötzlich auf zuheben , ja noch uplängst wüthete ein blutiger Kampf in Amerika zu Gunsten der Aufrechterhaltung dieser Institutionen . Man erkannte schon lange und allgemein die Nothwendigkeit der Aufhebung des Feudalverbandes , und doch wäre es zu gewissen Zeiten unmöglich gewesen , die Lösung dieses Verbandes durchzuführen, ja es ist die Authebung desselben selbst in der neuesten Zeit in manchen Gegenden zu plötz lich , zu radikal erfolgt; denn dieses imperative Verfahren beschädigte mitunter den Bauer und den Herrn zugleich . Wer zweifelt noch , dass die grossen stehenden Heere,
der Krieg überhaupt ein Unglück und ein unfruchtbares.
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
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Uebel seien , und zwar sowohl vom Standpunkte der Pro duction wie auch dem der Humanität und Moral, und doch ,
welcher intelligente Freund seines Landes könnte diesem die volle Abrüstung anrathen, wer kann jetzt schon an den allgemeinen Frieden glauben ? Doch so wie es zu allen Zeiten Vertheidiger des Volkes gegeben hat, so haben wir auch schon jetzt Friedensapostel , und ihre Idee wird den. Frieden zwar nichterzeugen , aber doch den Krieg beschränken. Fourier ist auch nur der Repräsentant einer Idee, und zwar einer erhabenen Idee, die zwar direct nicht zur Ausführung kommt, aber mit den vorbandenen socialen Formen als immer
weiter schreitende Synthese die Solidarität des Menschen geschlechts anbahnen wird, aber nur auf dem Wege der lang samen Entwickelung zum Siege gelangen kann. Nur die Be geisterung für die Menschheit war es, die Fourier den Fehler
begehen liess , nothwendige Phasen der Entwickelung über springen zu wollen, denn er bestimmte selbst in der Kette
der gesellschaftlichen Entwickelungsstufen den Garantismus als Bindeglied der Civilisation und Harmonie ,
glaubte aber durch seine Theorie diese Periode überspringen zu können . Doch verlassen wir den idealen und betreten wir den
positiven Boden .
Fourier verlangt zur Ausfübrung eines Phalanstère mit Grund und Boden , inclusive der darauf schon befind lichen Gebäude , ein Betriebscapital von circa fünfzehn Millionen Franken für 1600 Menschen und 3600 Joche.
Das ist eine Summe, ein Betriebscapital, wie es derzeit für die Welt nicht vorhanden ist , wofern man sich nicht auf
Errichtung einiger weniger Pbalanstères beschränken würde ; auch wird wenigstens kein Landwirth daran zweifeln, dass 1600 Menschen auf 3600 Jochen mit einer Investition von fünfzehn Millionen Franken unter allen Verhältnissen sehr
glücklich und zufrieden leben und Ungeheures produciren,
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Das sooiale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
werden, namentlich wenn man hypothetische Charaktere und Leidenschaften zu Hülfe nimmt , die derzeit ebenso wenig existiren, als solche Betriebssummen .
So ist die absolut
monarchische, constitutionelle , aristokratisch- und demo
kratisch -republikanische Regierung gleich gut, wenn die Elemente derselben das sind , was sie sein sollten , aber dcrzeit leider nicht sind.
Fourier gibt zwar zu , dass man auch mit weniger
Aufwand beginnen könnte ; aber er macht dies Zugeständniss
immer in der Ueberzeugung , wie er sie auch ausspricht, „ dass sich die nothwendigen Theilnehmer in grösserer Zahl ein finden werden, als man wünscht, sobald man ,,Hand ans Werk legt.“ Ich zweifle keinen Augenblick, dass bei dieser Anwendung von Kraft und bei einer solchen Entfaltung von Luxus die Arbeit anziehend würde“, und alle aus dem Eigennutze entspringenden Verbrechen aufhören würden.
Die materiellen Vorbedingungen stehen aber mit den Ziffern der
gegenwärtigen Bevölkerung und des gegenwärtigen
Nationalreichthums in grellem Widerspruche , die Vorbé dingungen der Intelligenz und Erziehung sind noch weniger gegeben . Die Theilnehmer einer solchen
Association müssten
nothwendig erst erzogen werden, etwa auf einer Insel, oder im
menschenleeren Innern Amerikas , und in diese neue
gesellschaftliche Ordnung gleichsam hineinwachsen. Zeugung
und Geburt haben einen grossen Einfluss auf die Anlagen, doch für die gesellschaftlichen Anschauungen ist nur die Erziehung massgebend. Wenn man die Mittel hätte, durch zwanzig Jahre 100 elternlose Kinder jährlich in eine
solche Anlage zu versetzen , deren Liebe sich nicht auf einzelne Individuen concentriren, sondern gleichsam verall
gemeinern würde, so konnte so ein Versuch gedacht werden, doch erst nach 30 Jahren würde man das Resultat beur
theilen können .
Es existiren übrigens communistische und
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
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socialistische Organisationen, auf welche wir in den gesell schaftlichen Vorurtheilen noch zurückkommen .*) Mit bei weitem mehr Verständniss und Wissen ist Proud .
hon an das sociale Problem getreten. Er behauptet vor Allem , dass die Nationalökonomie ein Chaos von Wider
sprüchen sei, und dass dies zum Theil so sein müsse, weil alle ökonomischen Kategorien oder, wie er es nennt, Epochen,
antinomischer Natur sind. Er hat richtig erkannt, dass die Doctrin Fourier's und noch mehr die eines Simon , Owen , Cab et u. s w. jeder praktischen Unterlage entbehren, und hatte die Systeme aller Socialisten und Communisten als Chimären charakterisirt. Durch seinen bekannten Satz ,, Eigen
thum ist Diebstahl!“ hat er allerdings die Wurzel des Uebels blosgelegt, doch ist ihm nur der polemische, negative Theil seiner Aufgabe gelungen. Wenn ein landwirthschaftlicher Arbeiter ein noch so bescheidenes Eigenthum besitzt, wie eine Schaufel oder
Haue, so ist er gegenüber einem Andern, der sie nicht hat, in einem erdrückenden Vortheil bei Bearbeitung des Bodens. Darin liegt der Vortheil des Eigenthums , der in dem Maasse zunimmt , als die Betriebsmittel sich compliciren. Daher kommt es denn , dass sowohl Proudhon als Lassalle , welcher letztere statt Eigenthum ,,Capital" setzt,
den Staats-Credit in Anspruch nehmen , um den Arbeiter
vom Drucke des Privat-Capitals zu emancipiren , worin beide die Lösung zu finden glauben. * ) Die Werke Fourier's sind zu umfangreich , um eine Ueber setzung zu lohnen, ein Auszug aus denselben aber wäre sehr wünscheng wertb, nur müsste eine gute Wahl getroffen werden. Fourier hat aller dings selbst einen gemacht, doch ist das, was ihm gefiel, nicht immer auch das Beste. Stein gab eine oberflächliche Schilderung beraus,
die aber mehr das System , als die vielen treffenden Gedanken zum Gegenstande bat. Mill hat den Werth Fourier's gefahlt und anerkannt.
162
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
Proudhon verwirft alle bisher vorgeschlagenen Mittel, Festsetzung der Löhne, Entschädigungssysteme, Antheil am Gewinne u. s. w. als vergeblich, undurchführbar oder un genügend.
Aehnliche Ansichten entwickelt Lassalle, der begab teste unter den Socialisten.
Er erklärt die vou der Bour
geoisie gepredigte Selbsthilfe ebenfalls für unzureichend, den Einfluss des Privat-Capitals für drückend und schädlich ,
wenn es den Arbeitsvorschuss leistet, und sieht die Rettung für den Arbeiter nur in der Productiv-Association, die auf
den Staats-Credit basirt ist , und in allgemeinen , directen Wahlen auf breiter Grundlage, welche letztere Frage wir den politischen Vorurtheilen vorbehalten müssen. Gegen das Princip der Productiv-Associationen lässt sich allerdings nichts ein wenden ; deren Vorzüge sind in
die Augen springend ; doch muss vor Allem constatirt
werden , dass es überhaupt nichts Gefährlicheres gibt , als Speculationen auf Basis eines Credites. Wenn ein Gutsbe sitzer 50.000 Gulden Rente besitzt, 30.000 verzehrt und mit den anderen 20.000 in Canalisirung, Bewässerung , Bauten und Anschaffung von Maschinen experimentirt , so ist das nicht nur unschädlich , sondern vortheilhaft für ihn , denn ein Theil seiner Investitionen wird gewiss den Erwartungen
mehr oder minder entsprechen, und irgend welche Verbesse rung nach sich ziehen. Andererseits aber ist entweder er oder der Geldgeber ein verlorener Mann, wenn derartige Unter nehmungen mit geborgtem Gelde nicht reussiren . Ich habe
da merkwürdige Beispiele erlebt, wie geniale Menschen mit grossem Vermögen auf diese Weise zu Grunde gegangen sind. Man wende nicht ein , dass zwischen dem Staate und
einer Privatperson ein Unterschied bestehe , denn in dem gegebenen Falle besteht er eben nicht. Wenn Jemand mehr
ausgibt als er einnimmt , so muss er Capital angreifen,
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
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rand falls er keines hat, Schulden machen ; dies gilt für das Individuum , die Actiengesellschaft und den Staat. Ist die Ausgabe eine Investition oder Anlage , so können alle drei ein gutes oder schlechtes Geschäft gemacht haben. Im letzteren Falle können alle drei zu Grunde gehen , beim Staate aber vermehrt jeder Fehler noch das Uebel in einer Weise, dass die Umkehrung der Verhältnisse oft unmöglich
wird . Auf England lastet gewiss die grösste Staatsschuld, doch ist in keinem Lande so viel auf Rechnung von Investitionen
zu setzen, welchen es seinen Colonialbesitz, seine industrielle und finanzielle Ueberlegenheit verdankt , der Art, dass die Summe, welche Englands Steuerträger für die Verzinsung ihrer Staatsschuld zahlen , mit jenen Summen , welche das englische Capital aus dem Auslande an Zinsen bezieht , so
ziemlich das Gleichgewicht halten dürften. Wenn man diese Zustände mit jenen anderer Staaten vergleicht, so zeigt es sich, dass zwischen Staats- und Privatvermögen diesbezüglich kein Unterschied besteht England ist reich , trotz seiner Staatsschuld . Productiv -Associationen durch Staatscredit ist
eine Speculation , wie eine andere ; etwas Gefährlicheres und Gewagteres aber als Arbeitsvorschüsse in diesem Sinne und Masse , wie das die Socialisten träumen , gibt es gar nicht. Wenn aber die Combinationen Lassalle's auch richtig
wären, so sind sie dennoch ganz unzureichend , weil sie nur
auf Schuster , Schneider und Handwerker überhaupt an wendbar sind. Es kann gedacht werden, dass die Schneider Schuster und Tischler von Paris drei Associationen bilden, dass der Staat den Bezug an Material garantirt , sie unter sich die Arbeiten theilen und die Producte gemeinsam ver
..kaufen , der weitaus grösste Theil der Arbeiter ist aber nicht Handwerker. Soll der Staat etwa sämmtlichen Grund
und Boden, alle. Kohlen- und Metallgruben kaufen ? Kann
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
ein Kohlenbergwerk von den Häuern etwa so geleitet werden, wie die Schneiderwerkstätte von den Schneidern ?
Was den Boden anbelangt, so könnte er nur entweder zusammengelegt und in grossen Wirthschaften auf intensive Weise bebaut oder zerstückelt werden .
Das erstere wäre
der Fourierismus und wegen des Widerstandes der Bauern undurchführbar, die Parcellirung aber wäre ein Fluch. Wie
wenig und wie theuer würde ein Land produciren , wenn der Grund und Boden principiell und überall zerstückelt würde ! Wenn wir Wein- und Gemüsegärten etwa ausnehmen ,
so ist die Zerstückelung geradezu gemeinschädlich, denn die Landwirthschaft ist auch eine Industrie, wo nur bei grösseren Anlagen Maschinen und Ersparnisse durchfübrbar sind, nicht zu gedenken , dass die Cultur einzelner Zweige derselben nur dem Grossgrundbesitze möglich ist. Der Herzog von Manchester zeigte im Jahre 1878 dem Kronprinzen von
Oesterreich eine Kuh, die 22,000, und einen Stier, der 33,000 Gulden kostete und dessen Sprung mit 5000 Gulden be zahlt wird. Nur Ambition und Reichthum kann solche Prämien bezahlen , welche die vollendete Ausbildung der
Racen hervorruft
Fourier predigte auch nicht die Zer
stückelung, sondern die Zusammenlegung des Bodens. Es herrscht nicht leicht über eine Frage eine solche Meinungsverschiedenheit, als über diese ; und doch wäre es
schädlich und unmöglich , das Princip der vollkommenen Zerstückelung oder auch Zusammenlegung durchzuführen. Alle Eroberer waren gezwungen Colonnen anzulegen , aus denen der Bauernstand hervorgegangen ist ; es muss eben grosse und kleine Besitzer geben. In England , wo der Boden vielleicht in zu wenig Händen ist, soll nach Caird bereits ein Rückgang der Pachtungen zu fühlen sein, während andererseits in jenen Ländern , wo der Boden zu sehr parcellirt ist, die Production zurückbleibt ; in England Böbmen und Ungarn ist diese sehr gross im Vergleiche zu
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
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Frankreich . In Ungarn hat man bis zum Jahre 1848 immer Arbeitskräfte herangezogen ; man schenkte gegen eine Anzahl Arbeitstage so einem Einwanderer Haus und Hof nebst
etwa 20 Jochen , weil sich der Boden in zu wenig Händen befand ; England wird vielleicht bei noch grösserer Concen tration des Bodens in wenigen Händen dahin gelangen, einen Bauernstand zu stiften , während die zu sehr parcellirten Länder Brod kaufen müssen.
Der schlagendste Beweis , dass die Zerstückelung der Production abträglich ist, liegt in dem Vergleiche der Pro duction Oesterreichs mit England . Dieses producirt mehr als das doppelte Quantum per Joch , und doch werden die nicht bäuerlichen Gründe Oesterreichs der englischen Land wirthschaft kaum oder doch nur ganz unbedeutend nach
stehen. Es kann daher der Ausfall nur auf Rechnung der verlotterten Wirthschaft des zahlreichen bäuerlichen Besitzes
gestellt werden.
Allerdings bat die Frage der Bewirthschaftung mit der des Eigenthums keinen Zusammenhang ; es können 10 Menschen ein Haus besitzen , ohne es in Stücke zu zerreissen , also auch eine Wirthschaft. So gut wie die Eisenbahnen auch ein fixes Eigenthum sind und dennoch in unendliche Eigenthums-Parcellen getheilt werden können, so mag das seinerzeit auch mit dem Boden geschehen, wie das in Indien der Fall ist, wo aller Boden der Actiengesell schaft gehörte , und jeder seinen Antheil verkaufen konnte, ohne die Production durch factische Zerstückelung zu schädigen. In den verschiedenen Ländern und Lagen wird das Eine oder das Andere das geeignetere sein ; man kann in der socialen Welt nicht Alles auf einen Leisten schlagen , und
gibt es da kein universelles , allein selig machendes Princip. Doch selbst den Handwerkern wäre mit einer Productiv Association nicht zu helfen . Hellenbach, Vorurtheile. I.
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
Lassalle berichtet , dass die 20.000 Schneider und 30.000 Schuster von Paris im Jahre 1848 Associationen
bilden wollten. Nehmen wir an, der Staat hätte Alles gethan, was Lassalle wünscht. Wie denn nun , wenn es sich heraus
stellte, dass um 5000 Schneider zu viel sind ? Wer soll die Waare kaufen ? Versorgt hingegen Paris das ganze
Land, was geschieht mit den Lyoner Schneidern ? Wie denn, wenn man in Lyon und Marseille billiger erzeugen würde ? Soll man die Pariser mit Zollschranken schützen ? kommen wir da hin ?
Wo
Der Chinese hat durch seinen Fleiss , die Originalität der Nahrung und seine Bedürfnisslosigkeit es dahin gebracht, jede Concurrenz eines nicht chinesischen Schusters zu ver nichten, und die Regierungen Amerikas und Englands ven tiliren ganz ernstlich die Frage, ob man der Einwanderung keine Schranken setzen soll.
Dieses Beispiel zeigt, wie ver
wickelt die Fragen der freien Concurrenz und des Mono pols sind .
Fourier hat auch diese Schwierigkeit erkannt und ihr in soweit Rechnung getragen, als er eine gleichartige Be
schäftigung den ganzen Tag über verwirft und jedes Mit glied eines Phalanstère Abwechslung in der Beschäftigung hat, wodurch es möglich wird, diese dem Bedarfe anzupassen . Doch begeben wir uns auf den positiven Boden .
Der Grundsatz , dass kein Product unter dem aufge wendeten Arbeitswerthe abgegeben oder mit anderen Worten die Verhältnissmässigkeit der Werthe bestimmt werde , ist
praktisch undurchführbar, weil nicht die darauf verwendete , sondern die dem Anderen ersparte Arbeit mass gebend ist im Sinne Carey's) ; und auch darum , weil die Producte Zusammensetzungen von so vielen verschiedenen Arbeitswerthen sind , dass kein menschlicher Verstand die
Aufgabe zu Stande brächte , diese Werthe zu bestimmen ,
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
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abgesehen davon , dass Klima , Zufälle, Erfindungen, Con juncturen etc., von welchen der Tauschwerth einer Sache
abhängt, ganz unberechenbar sind. Es lässt sich feststellen , wie viel Zeit ein Schneider braucht, um einen Rock zu fertigen , wie theuer aber er wohnt, isst, heizt, und wie viel er zurücklegen muss, um krank werden zu dürfen, lässt sich
schon nicht mehr berechnen . Wer könnte bestimmen, welchen Arbeitswerth die durch zahllose Arbeiterhände und Fabriks
werkstätten hindurchgehenden Stoffe repräsentiren , die in letzter Analyse landwirthschaftliche Producte sind, und von
den Witterungsverhältnissen der ganzen Welt abhängen , weil in einem Rocke chinesische Seide, amerikanische Baum-, australische Schaf-Wolle und ungarisches Garn verarbeitet werden können ?
Hat doch Adam Smith bereits im
vorigen Jahrhunderte nachgewiesen , dass die Nadel, das wohlfeilste Handwerkzeug des Schneiders , sich in 18 ver schiedene Arbeitszweige in einem Fabriksatelier zerlegt. Dazu kommt die Nähmaschine, die besser und schlechter,
theurer und billiger wird , u. s. f. ins Unendliche. Angenommen aber , es fände sich so ein Liebig der Ricardo'schen Arbeitsquanta oder ein Keppler der in dustriellen Oekonomie , und er würde die Formeln finden, die den inneren Arbeitswerth jedes Productes und dadurch den der Zusammensetzungen bestimmten , wie sollen wir den Tauschwerth bestimmen ?
Wer kann bestimmen ,
wie viel Ellen Tuch, wie viele Uhren , Wagen , Stiefel u. s. w . erzeugt werden dürfen ? Soll sie etwa der Staat
belehnen oder kaufen , und wenn , werhindert dann erst recht die Ueberproduction eines Artikels , und wer deckt den Verlust ? Hat man doch in Frankreich erlebt, dass der Landwirth, der Bauer seine Steuern und Bedürfnisse nicht
decken konnte, weil die Ernte zu gut war ! diesem Wege ist keine Abhülfe zu erwarten.
Auf
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Daş sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
Lassalle hat ganz Recht, wenn er seinem Gegner Schultze vorhält, dass der Arbeiter , um überhaupt arbeiten
beginnen zu können, schon Capital braucht , er sich da her diesem mit Haut und Haar überliefert, dieses ihm nicht mehr lässt, als den nöthigen Lebensunterhalt , eventuell und periodisch auf die Dauer geht es eben nicht) auch
weniger, bingegen den Ueberschuss behält ; aber es ist auch wahr, dass oft das Capital den Arbeitslohn zahlt, und der
Arbeiter allein gewinnt, während das Capital zu Grunde geht, weil es nicht nur keinen Ueberschuss, sondern nur Verlust erzielt . Ganz ohne Risico ist die Sache eben so wenig
wie das die Socialisten so gern glauben inachen möchten als andererseits das Capital nicht nur Risico-Prämie ist. Was würde erst werden , wenn der Staat sich mit National
werkstätten , Vorschüssen u. s. w. befassen würde ! Das wäre ein herrlicher Cirkel, wo der Staat Steuern ausschriebe und Schulden machte , dadurch die arbeitende Classe am meisten drückte , um seine Magazine mit unabsetzbaren
Arbeitswerthen zu füllen. Der Staat würde gerade dorthin gelangen , wo der Capitalist steht, zum Imperativ der freien Concurrenz , und würde den Arbeiter drücken müssen . Ganz mit Recht behauptet Lange , dass die Ricardo'sche Regel dadurch nicht behoben werde , wenn der Arbeiter zum Unternehmer wird . Er wird sich eben so vermehren ,
und wird die Concurrenz auf gleiche Weise bestehen müssen , Die Linie , auf welcher oder vielmehr um welche die Existenz des Arbeiters sich bewegt , kann weder beseitigt, noch
festgestellt werden , denn das würde die ganze menschliche Gesellschaft aus den Fugen bringen , dass sollen die Social politiker nie aus den Augen lassen ; aber sie kann er träglich gemacht werden , die „ Lebenshaltung “, wie Lange es formulirt, kann und muss erhöht werden , doch
darf sie der natürlichen Entwickelung nicht ent gegentreten . Nur auf diesem Wege kann die sociale
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
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Frage vergleichsweise schmerzlos gelöst werden, – denn dass sich die Entwickelung selbst zu helfen weiss, kann man nicht bezweifeln ; sie hilft sich auch heute, – aber wie !! –
im Sinne der langsamen und grausamen Ricardo-Malthus schen Vernichtung.
Unsere Aufgabe kann nur darin bestehen, dafür Sorge zu tragen, dass Ueberproduction, Capital, Conjunctur u. 8. w. den Arbeiter nicht in das Bodenlose unter diese
unvermeidliche Linie stosse , was nur dadurch er reicht werden könnte , wenn die Gesellschaft ihm erstens seine Lasten erleichtert , und eventuell zweitens seine Arbeitskraft gegen ein Minimum der Existenz übernimmt , und dadurch dem drückenden Capitale eine Art Concurrenz bereitet; natürlich unter der Voraussetzung, dass die Gesellschaft die Mittel hätte. Doch ist es selbstverständlich, dass sie den Uhrmacher nicht
etwa Uhren machen lässt , sondern ihn eventuell auch so verwendet, wie sie eben kann. In dem Verkennen dieser Nothwendigkeit liegt einer
der Hauptfehler der Socialisten , welche den Staat zum Fabriksinhaber machen wollen und nicht bedenken , dass er zwar Producte, nicht aber auch Consumenten schaffen kann und dass das richtige Verhältniss zwischen beiden herzu
stellen, der natürlichen Entwickelung überlassen werden muss. Diese bessere Lebenshaltung lässt sich auch erreichen , wenn man dem Besitzlosen zu einem Eigenthume
verhilft, damit er der Uebermacht des Capitals nicht ganz hilflos gegenüberstehe , was wieder gleichbedeutend in Be zug auf die Wirkung wäre , wenn der Staat oder die Gesellschaft , als Repräsentant aller , also auch der Besitzlosen , wenigstens ein Collectivver mögen hätte , an dem der Besitzlose participirt. Durch staatliche Kranken- und Altersversorgungskassen ist man in Deutschland schon einige Schritte weiter gegangen .
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
Wir sind also wieder dort angelangt, dass ein Staat, der mit der Besteuerung der Arbeitskraft und Arbeitswerk . zeuge Zinsen bestreiten muss , ohnmächtig ist, an sociale
Fragen praktisch heranzutreten . Denn die Anwendung des Staatscredits ad hoc vermehrt die Steuern, hemmt die Cir culation und macht den Staat zum Speculanten , zu dem er ein für allemal nicht taugt. Die Gesellschaft hat kein
Collectiv - Eigenthum , sondern nur Collectiv -Schulden , und die socialistische Curpfuscherei mit Hülfe der Steuern würde das Uebel selbst in dem Falle verschlimmern, als
in der Verwendung gar kein Missgriff geschähe
was
aber unser beschränktes Wissen nicht erwarten lässt. Proudhon sagt sehr richtig : „ Unsere Wissenschaft ist noch so roh und unredlich ; unsere Gelehrten thun so auf
gebläht mit so geringem Wissen ; sie läugnen so schamlos die Thatsachen weg, die ihnen unbequem sind , um nur die Ansicht , welche sie ausbeuten, in Schutz zu nehmen , dass ich gegen diese Freigeister eben so misstrauisch bin , wie gegen abergläubische Leute .“ Er richtet diese Worte gegen den Rationalismus und Materialismus, aber sie haben ihre Geltung auch für Oekonomie und Socialwissenschaft.
Es würde uns zu weit führen , wenn wir alle minder radicalen, mebr partiellen , mitunter auch ganz guten Vor schläge, die auf Verbesserung einzelner Zustände oder Beseitigung alter Uebelstände abzielen , einer näheren
Prüfung unterziehen wollten . Doch sind einige derselben nicht zu umgehen . Das sociale Uebel sitzt nur in der Abhängig. keit der Besitzlosen und den Vorurtheilen des
Eigenthums. Principiell wäre daher der auf Beiseitigung des Eigenthums gerichtete Communismus scheinbar auf richtigem Wege ; da aber die Theorien der heutigen
Communisten in ihrer praktischen Anwendung unfehlbar zur Barbarei und Rückbildung führen würden , so kann
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
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uns daher nur geholfen werden , wenn der Besitzlose ohne
Schädigung der freien Entwickelung und ohne Vernichtung des Eigenthumsrechtes zu einem Eigenthum gelangt.
So wie die Association, die unbedingt die Quelle der Cultur und die Garantie einer besseren Zukunft ist , nicht
spontan etablirt werden kann , sondern sich langsam aus sich selbst entwickeln muss , so muss das Collectiv-Eigen thum langsam entstehen, und darf nicht durch Vernichtung des Eigenthumsrechtes seinen Einzug halten .
Die Schriften Lange's gehören zu den besten auf dem Gebiete der deutschen Social - Wissenschaft, weil er zu der nothwendigen ökonomischen Vorkenntniss noch die philo
sophische Bildung hinzufügt, daher das ganze Gebiet von einem höheren Standpunkte betrachtet und die Begriffe durch ihn genauer abgewogen werden , als es bei Carey und Anderen der Fall ist
Lange sieht ein, dass es mit dem Optimismus eines Schultze - Delitzsch und Carey nicht geht , und alle Selbsthilfe eine Illusion sei ; er lehnt sich an Mill an, der ebenfalls mit dem Socialismus coquettirt. Er prophezeit eine Social - Revolution , wenn wir derselben nicht durch eine Socialreform zuvorkommen. Wie diesem Uebel aber gesteuert
werden soll , darüber ist Lange mit sich nicht im Klaren . Lange leidet an demselben Uebel, wie alle mir bekannten Volkswirthe und Social Politiker - er ist kein Landwirth ,
Lange behauptet zum Theil mit Recht (Seite 53 in der „ Arbeiter-Frage “ ), dass die eigentliche Lösung doch nur darin bestehen könne , dass die Ungleichheiten selbst auf das Mass dessen zurückgeführt werden , was die Harmonie des Gesammtlebens erfordert. Bei den alten
Athenern beliefen sich die Diäten eines diplomatischen Ge sandten etwa auf das Doppelte des Taglohnes. ,,Unsere
heutigen Gesandten brauchen den hundertfachen Tagelohn
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
des einfachen Arbeiters ... Wenn man bedenkt, dass der ganze Verbrauch dieser hohen Stellungen , ebenso wie der Verbrauch des Luxus , in letzter Linie immer darauf hinausläuft, dass eine grosse Zahl von Händen nicht für die nothwendigen Bedürfnisse Aller arbeitet, sondern nur die Erhebung eines Einzelnen über den Stand. punkt seiner Mitmenschen , so sieht man leicht, dass eine Weltwende in Beziebung auf den Kampf ums
Dasein fürs erste gar nicht denkbar ist , ohne eine bedeu tende Reduction aller dieser Ungleichheiten.“ Von der Art und Weise aber , wie dieser Ausgleich
stattfinden soll, ob man das, was oben steht, herunterziehen oder das , was gedrückt ist , hinaufheben soll , hängt der conservative oder radicale Standpunkt ab , den man ein nimmt. Lange steht so ziemlich in der Mitte , indem er das Bestehende theoretisch zwar zum Ausgangspunkt nimmt, praktisch aber durch einige Massregeln den Communisten nicht viel nachsteht.
Die Verschiedenheit und gegenseitige Abhängigkeit der Theile ist das Zeichen einer höheren Organisation, wie das
schon Goethe aussprach; selbst der Ackerboden ist der beste , der die verschiedenste Zusammensetzung hat , wie die Deltas aller Ströme beweisen. Die von den Communisten
angestrebte Gleichheit oder Vermögenslosigkeit Aller ist da her nothwendig der Ruin der Cultur und Gesellschaft.
Carey sagt (Seite 450): „ Der Mensch erhält Werth, wenn die Erzeugnisse seiner Arbeit denselben verlieren – und so erhält die Vermehrung des fixen Capitales im Verhält nisse zum beweglichen gleichen Schritt mit der Zunahme und Geschwindigkeit der socialen Circulation.“ Je mehr Capital also fixirt wird , je rascher die Circulation , desto intensiver muss der Fortschritt sein , was durch die Erfah rung auch vollkommen bestätigt wird.
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
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Was nun die Gleichbeit anbelangt, so sieht Lange
ein , dass sie dem Entwickelungsgesetze der Differenzirung widerstrebt, glaubt aber, dass dieses Naturgesetz kraft eines Anderen verdrängt wird , welches aus dem Zusammenleben
den Gedanken der Gleichheit erwachsen lässt. (S. 67.) Dieser Gedanke wird nun allerdings durch das Streben der
Durchführung die tieferen Classen immer mehr emporheben, aber doch nicht hindern , dass die höher stehenden nicht
abermals weitere Fortschritte machen werden. Lang e spricht Seite 132 dasjenige selbst aus, was nach meiner Meinung das berechtigte Maximum des Erreichbaren ist, dass es nämlich vor allen Dingen keine Glieder der Gesellschaft gäbe , die 80 wenig Lohn und Erholung genössen , dass es ihnen un möglich wird, sich zur Theilnahme an dem geistigen Leben der Gesammtheit zu befähigen . Er will ferner mit Recht, dass dies mit dem geringsten Druck der freien Bewegung geschehe, ein Wunsch, der aber mit so mancher seiner vor
geschlagenen Massregeln im Widerspruch steht. Ich halte es für eine gefährliche Doctrin, dem Arbeiter begreiflich zu machen , dass die Arbeitseinstellung über haupt , auch wenn sie erfolglos ist, wohlthätig wirke , weil sich ein „ gewisser Rachedurst mit der Hoffnung verbinde, beim zweiten Male einen besseren Erfolg zu haben" (S. 153).
Man kann dem Arbeiter wahrlich die Intelligenz nichtzumuthen ,
das richtige Mass einzuhalten ; es liegt ausser Zweifel, dass der Capitalist selten Mass hält, aber der Arbeiter würde es wahrlich noch weniger thun, und eine erfolglose Arbeits
einstellung muss den Arbeiter nothwendig schädigen. Ein englisches Fachblatt hat berechnet , dass bei der Arbeitseinstellung der schottischen Bergleute im Jahre 1856 der Verlust an Lohn allein 500.000 Pfund Sterlinge
betragen habe , wozu noch der Verlust der Unternehmer und anderer Fabriken dazu gerechnet werden muss. Kann
Lange so etwas billigen ? Haben die Arbeiter etwas er
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
reicht, was im Verhältnisse zu solchen Opfern steht ? Was hat der letzte grosse Buchdruckerstreik (1891 ) bezweckt ? Nichts ; wohl aber hat er den Arbeitern wie Arbeitgebern enorme Verluste gebracht.
Lange citirt die Anschauungen von Marx , „ dass die
Stunde des capitalistischen Eigenthums geschlagen habe. Die Expropriateurs werden expropriirt." Marx meint, dass obschon die Verwandlung der Arbeit in Capital sehr viel Zeit in Anspruch genommen, der umgekehrte Process sehr schnell vor sich gehen werde. „ Dort handelte es sich um
die Expropriation der Volksmassen durch wenige Usurpatoreu, hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usur patoren durch die Volksmasse .“ Es ist beinahe selbstverstände
lich , dass Lange die Doctrin verwirft, und sagt , dass eine Social - Revolution höchstens dazu dienen könnte, ohne
principielle und allgemeine Aufhebung des Privat - Eigen thums, Rechtsgrundsätze und Staatseinrichtungen zu schaffen, bei denen das gesellschaftliche Eigenthum mit dem Privat
Eigenthum in freie Concurrenz treten und jenen vermuthlich Jahrhunderte dauernden Kampf beginnen könne, der endlich mit dem Vorwalten des gesellschaftlichen Eigenthums in Verbindung mit der gesellschaftlichen Arbeit endigen würde.“ Das ist nun allerdings derjenige Zustand, der anzustreben ist, und den ich schon im Jahre 1848 als den Kern der socialen
Frage bezeichnet habe, nicht aber als Resultat einer Social Revolution, sondern als Frucht einfacher Massregeln, die wir später kennen lernen werden. Eine siegreiche Social-Revolution würde einen kurzen Fasching haben, und von einer furcht
baren Reaction abgelöst werden. Die Social Revolution , von welcher Marx träumt, dass sie gar nicht ausbleiben kann , weil das Capital die alte Gesellschaft ganz aufgelöst hat,
wird niemals stattfinden , in dem Sinne wenigstens , dass aus ihr eine neue Gesellschaft hervorginge. Sie kann einen theilweisen aber kurzen Sieg erringen , sehr viel verwüsten .
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
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und namenloses Elend über viele Menschen verbreiten , das ist Alles.
Nehmen wir den Fall an , dass in einem Staate die Arbeiter- Verbindung so weit gediehen wäre , dass sie das. Militär gewonnen, die bestehende Regierung beseitigt, alle Städte und Fabriken in ihren Händen hätte. Was würde die Intelligenz in einem solchen Falle thun ? Sie würde zweifelsohne fliehen und ihr Weiterkommen in einem be
nachbarten, von diesen Zuständen dicht heimgesuchten Lande suchen.
Nur mit Zwang könnten die Arbeiter Bruchtheile
derselben für die Leitung unserer mitunter sehr complicirten
Fabriken und Maschinen erhalten. Das Erschlagen der Fabriksherren und Capitalisten, oder auch nur deren Besei tigung, würde auf dem Lande die gleiche Behandlung der grösseren Grundbesitzer unabänderlich nach sich ziehen .
Die Gründe derselben würden zum grössten Theile als gemeinsame Weide behandelt , die Wälder ebenfalls ver
wüstet werden , und das unausbleibliche Resultat wäre ein furchtbares Sinken der Production ; denn der Bauer wird und kann nicht so viel erzeugen als grosse Besitzer , deren Gründe zusammengelegt sind und nicht dem Raubbau,
sondern einer rationellen Cultur unterzogen werden. Wir kommen auf dieses Thema noch zurück .
Jeder Versuch, dieses Treiben durch die in den Händen der Arbeiter befindliche Regierung zu hindern, würde ein. klägliches Ende nehmen . Denn wollte man eine Theilung vornehmen, so würde dem Bauer weniger bleiben als er früher hatte.
Was würde dazu der Nachbarstaat sagen ? Würde er
sich ruhig verbalten ? Ich glaube nicht. Gelänge es aber auch in Europa, so wäre es nur ein Gewinn für die anderen
Welttheile, die um die reichste und intelligenteste Bevölke rung bereichert würden, und ein Unglück für Europa, das um Jahrhunderte zurückginge : man darf nicht vergessen,
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Das sociale Problem yom Standpunkte der Socialisten.
dass nicht nur Sensen und grobe Stoffe erzeugt werden ; was sollen denn die Künstler und besseren Arbeiter beginnen, wenn der Bedarf ilirer Fabrikate plötzlich aufhört ? Es ist geradezu unbegreiflich, wie so intelligente und
für das Gemeinwohl begeisterte Männer, wie es zweifelsohne Marx und Lange sind , sich von einer Social-Revolution
etwas Anderes versprechen und sie überhaupt für möglich halten können . Wenn ich aber bestreite , dass von einer Social-Revo
lution etwas Gutes zu erwarten sei, so bestreite ich damit durchaus nicht, dass sich ein Mensch gegen die bestimmende Ordnung auflehnt, wenn diese ihm den Kampf ums Dasein un möglich macht, und ihn im Sinne der Malthus'schen Theorie für vogelfrei erklärt. Man kann Lange nur zustimmen, wenn er sagt,
dass die gegenwärtige Gesellschaft gewärtigen müsse, dass die Enterbten „ auf das Faustrecht zurückgreifen und wenn ihrer viele sind, dieganze bestehende Rechtsordnung stürzen , um sich auf den bestehenden Trümmern einzurichten, wie sie können,
einerlei, ob diese Einrichtung besser oder schlechter ist, als die vorher bestehende. Nachdem aber diese Einrichtung jedenfalls
schlechter sein wird , so hätte eine künftige Geschichte der socialen Entwickelung nur eine vorübergehende Epoche der
Rückbildung zu verzeichnen. Das weitaus Wahrscheinlichere aber wäre , dass durch eine Reaction der status quo ante sehr bald wieder hergestellt würde. Um die traurigen Zustände zu verbessern , verlangt
Lange in erster Linie Reduction der bestehenden Ungleichheiten. Gegen dieses Petitum ist nichts ein zuwenden, sobald, wie ich schon früher bemerkte, der Aus gleich nicht durch Eingriff in das Eigenthumsrecht und Störung der freien Bewegung und des Differenzirungs Processes, sondern durch Heranziehen der tiefer stehenden Classen bewerkstelligt wird .
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
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Weiters verlangt Lange eine bessere Proportion zwischen Anstrengung und Genuss.
Dagegen
ist unmöglich etwas einzuwenden. Nunmehr aber sagt Lange ( Seite 281 , Arbeiterfrage ): ,,hierbei sind auf dem Boden des Privat-Eigenthums , wie es gegenwärtig organisirt ist , die beiden grössten Klippen das Erbrecht und die Boden rente.“
Diese beiden Grundlagen der modernen Gesellschaft
sind , allerdings nur bei gehöriger Behandlung, durchaus keine Klippen , sondern vielmehr die Brücken , uns in andere und bessere Zustände zu führen .
Was den Grund und Boden anbelangt, so haben die Socialisten und alle radikalen Volkswirthe - mit Ausnahme
Fourier's – ganz verkehrte Begriffe. Die wesentlichsten Forderungen , die sie stellen , gipfeln in dem Verlangen
nach Zerstückelung und Expropriation zu Gunsten des Staates.
Ueber die Nachtheile der ersteren haben
wir schon oben gesprochen , was die letztere anbelangt, so
hat noch vor Lange Doctor Stamm ein ganzes Buch darüber geschrieben. Der Titel lautet : ,,Die Erlösung der dar benden Menschheit."
Doctor Stamm behauptet mit Recht, dass der Arbeiter oft auf unerlaubte Weise als Gebrauchswaare ausgenützt
wird, und sieht in der natürlichen, durch keine Arbeit ver dienten Steigerung des Bodenwerthes ebenso wie Lange
Seite 314, u. a. O.) eine ungerechte, weil arbeitslose Eigen
thumserwerbung. Er will diesen steigenden Werth der Ge sammtheit zuführen, worin er eine Hauptlösung des socialen Missverhältnisses erblickt. Die von ihm
vorgeschlagenen
Expropriationen des gesainmten Grund und Bodens ist aber eine Massregel , deren Durchführung unmöglich ist, deren Vortheile zweifelhaft und deren Nachtheile gewiss sind.
Zum Theile ist diese Expropriation schon vollzogen, denn der Boden ist hoch im Durchschnitt in der Höhe
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
eines guten Dritttheils der Rente) besteuert ; wenn die Zinsen für die Expropriation und etwaigen Lasten hinzu.
geschlagen werden, so wird das Unternehmen offenbar precår. Auch ist es nicht richtig , dass die Steigerung des Bodenwerthes ohne irgend ein Entgeld oder Arbeitsleistung
dem Besitzer zu Gute komme. Carey weist das Gegen theil aus .
Ich bin gewiss der Letzte, der in dem Capitale eine blosse Risico- oder „Entbehrungsprämie“ sieht, und - um mit Lassalle zu sprechen – die Millionen Rothschild's als Früchte seiner Entbehrungen betrachtet, wenn man die
Capitalisten den Proletariern gegenüberstellt. Wohl aber kann man von Entbehrungsprämien reden, wenn das Capital dem Grundeigenthümer entgegengestellt wird , denn wenn zwei Menschen die gleichen Summen , der eine in Grund und Boden , der andere in Prioritäten anlegt, so wird der
erstere bei mehr Arbeit weniger Rente haben, und wenn der Andere seinen Rentenüberschuss weiter anlegt und nicht mehr verzehrt , als den Rentenbetrag des Grundbesitzers,
80 wird der Capitalist trotz der Steigerung des Boden werthes nicht nur gleich reich, sondern zuverlässig reicher sein, als der Grundbesitzer , natürlich unter Voraussetzung von beiderseits normalen Käufen und Anlagen. Der steigende Bodenwerth ist nur das Aequivalent der schlechten Ver zinsung, was Lange in seiner 3. Auflage ( Seite 333) einsieht .
Das gleiche Verhältniss würde sich auch bei der
Durchführung dieser Massregel für den Staat herausstellen. Das Uebel liegt einfach darin, dass der Boden eben ein
Eigenthum ist, mit allen seinen Consequenzen. Doch selbst grössere Besitzer sind eben so oft Arbeiter als ein Kauf herr oder Fabriksinhaber und kommen wir da wieder in
die unbestimmbare Verhältnissmässigkeit der Werthe hinein . Wie oft haben zufällige Erfindungen oder leichte Com
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten,
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binationen einem Einzelnen Millionen eingebracht, z. B. die feuerfesten Cassen einem Schlosser !
Der arbeitslose
Erwerb, den Stamm so perhorrescirt, ist an sich eine Un billigkeit , aber das Streben , sich und den Seinen einen
solchen zu verschaffen , auch das stärkste Motiv der An strengung und Thätigkeit , das man nicht beseitigen darf, wenn man in der Entwickelung das Heil sieht.
Doch wollen
wir die Schwierigkeiten und Nachtheile der Reihe nach auf zählen .
Die erste Schwierigkeit wäre die Geldbeschaffung. Der Preis des Geldes ist immer bedeutend höher als
die Ertragsfähigkeit des Bodens ; wenn man also überhaupt, wenn auch nur mässig entschädigen und nicht einfach rauben will, so ist die Anlage schon viel zu kostspielig. Die Zer stückelung des Bodens hat für die Production entschiedene
Nachtheile , die wir bereits besprochen , und dort , wo sie oder das Pachtsystem möglich ist, geschieht sie von selbst. Doch würde die Expropriation und gleiche Auftheilung auf eine unüberwindliche Opposition der Majorität stossen. Die Socialdemokraten haben überhaupt ganz falsche Begriffe
von den grossen Vermögen , welche nicht mehr als einen Tropfen in einem Fasse Wein darstellen , wenn aus ihnen Bedürfnisse der Massen gedeckt werden sollen , wie das am besten durch zwei Beispiele illustrirt wird , von denen das erstere wahrscheinlich Anekdote , das andere That sache ist.
Der Frankfurter Rothschild soll auf einer Reise im
-Jahre 1848 der unfreiwillige Zuhörer einer solchen com munistischen Conversation gewesen sein , und den Sprecher gefragt haben, wie hoch er denn das Vermögen Rothschild's eigentlich veranschlage. Auf die Antwort : 40 Millionen Thaler, gab er sich zu erkennen, zog aus seiner Geldtasche einen Thaler und übergab ihn dem Sprecher mit den
Worten : „ Nachdem es 40 Millionen Deutsche gibt, so haben
80
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten
Sie wenigstens weiter keinen Anspruch auf mein Eigenthum . “ Um nur einige Gulden per Kopf zusammenzubringen, müssten alle Besitzer grösseren Eigenthums erschlagen, und die sehr
wichtigen und mächtigen Factoren , wie sie die grössere Capitalskraft vorstellt, vernichtet werden. Das ist gerade so, als wenn man die Maschine im Interesse der Handarbeiter zertrümmerte.
Das auf 30.000 Millionen
zu schätzende Vermögen
Oesterreichs würde auf seine Einwohner zertheilt , eine
Rente von nicht 50 Gulden per Kopf scheinbar betragen, aber wie man Hand an das Werk legen würde, so würden die 30.000 Millionen unter die Hälfte sinken, Häuser, Fabriken und zahllose Werthe würden ganz oder theilweise ihren Werth verlieren , wenn sich der Verbrauch auf eine
Arbeiter -Bevölkerung beschränken würde ; was ginge da zu Grunde und wie wenig würde gewonnen !!
Dass die Auftheilung aber gar nicht weiter gehen könnte , als zur Verwirklichung eines Almosens auf einige Wochen , beweist der zweite Fall , der eine Thatsache ist, und sich gerade gegen die Theorie Stamm's zuspitzt.
In dem Jahre 1848 kamen die Bauern eines ungarischen Dorfes zum ehemaligen Gutsherrn, und verlangten von ihm die gleiche Auftheilung der Gründe. Er ging darauf vor läufig ein , um Gewaltthaten auszuweichen , und verlangte die Liste sämmtlicher Bewohner und Conscription sämmt
lichen Bodens. Bei dieser Auftheilung auf dem Papiere stellte es sich heraus , dass jeder Bauer zur Befriedigung der besitzlosen Handwerker und Häusler, noch von seinem Besitze hätte etwas herausgeben müssen , weil der Ueber
schuss des Gutsherrn gar nicht ausreichte, um die Besitz losen auf das Niveau der Bauern zu stellen . Was würden sie erst sagen , wenn sie mit den Fabriksarbeitern theilen müssten ! Das ist ein treues Bild nisse. Der Grossgrundbesitz und
der agrarischen Verhält mit ihm die rationelle
Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
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productive fortschreitende Landwirthschaft vernichten , das geht, aber den Boden zum National- Eigenthum auf andere Weise zu machen, als es heute geschieht, nämlich im Wege der Steuer, das geht nicht. Man muss den sinnlosen Löwen muth gesehen haben , mit welchem ein Bauer sein Feld vertheidigt , selbst dort , wo Vernunft , Billigkeit , oft der eigene Vortheil ihm geboten hätten , sich den agrarischen Bestimmungen der Segregation und Comassation zu fügen, welchen z. B. Ungarn seinen Aufschwung verdankt , und noch mehr verdanken wird.
Zu der constanten Steigerung der Steuern kommen noch die ebenfalls steigenden Percentualgebühren bei Ver käufen, Uebertragungen, Rechtsgeschäften u. 8. W. Es lastet genug zu Gunsten der Gesam mtheit auf dem Bodenwerthe.
In Oesterreich wenigstens ist die Grund- und Häusersteuer mit allen Zuschlägen dreimal so gross als die Einkommen steuer
von Capitalien. Der Grundbesitzer ist in einem
gewissen Sinne ohnehin nur der Pächter des Staates ; unter
welchen Bedingungen der Pachtvertrag gekündigt werden soll , wird uns noch in einem späteren Capitel beschäftigen. Der Boden ist eine besondere Art des Eigenthums, dessen Behandlung für die Gesellschaft durchaus nicht gleichgiltig ist und sein kann, weil er der Nahrungslieferant ist . Lange fühlt sich nicht ganz sicher mit der Zerstück lung des Bodens , weil er ihr die andere Alternative der genossenschaftlichen Bewirthschaftung mit dem Bemerken
hinzufügt, dass diese das consequenteste wäre. Er sagt weiter , Seite 372 : ,, Beide Systeme wären wahrscheinlich fähig den Ertrag des Bodens bedeutend zu steigern, doch wäre das letztere rationeller , aber auch schwieriger." Die Parcellirung und Vertheilung würde die Pro
duction tief sinken machen , und die gemeinschaftliche Be arbeitung findet in den grossen Latifundien Ungarns auch Hellenbach , Vorurtheile I,
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialistev .
ohne Zerstückelung statt. Trotz Maschinen wird in einem
grossen Theile Ungarns das Schneiden und Dreschen , wie nicht minder noch viele andere Arbeiten im Antheile der Arbeiter verrichtet und entlohnt.
Die Parcellirung muss Lange aus seinem Programme fallen lassen. In Frankreich , der Schweiz und Westdeutsch land hält er den Boden-Communismus selbst für undurch
führbar, weil der Boden doch schon in zu vielen Händen
und die Neigung zu ihm zu gross ist, und doch wird er nicht läugnen können , dass gerade in diesen Ländern die Production der Nahrungsmittel passiv ist. Es kann daher nichts Unvernünftigeres geben , als die productiven Länder auch noch lahm zu legen. Die Landwirthschaft unterscheidet sich in dieser Be
ziehung nicht billig nur in so auch jene. Ersparung der
von den Fabriken ; so wie diese viel und grösseren Etablissements erzeugen können, Das Princip der Theilung der Arbeit und Kräfte macht sich auch hier geltend. In der
Ebene werden die Grundstücke immer und mit Recht die
Tendenz haben , sich zusammenzulegen , in der Nähe der Städte sich zu zerstückeln ; für die gebirgigen Gegenden gibt es keine allgemeinen Bestimmungen , weil da die Terrain - Verhältnisse die grössten Verschiedenheiten erzeugen.
Nur das Eine steht fest, dass der Boden jene Form an nehmen muss , welche für die Production am ge
eignetsten ist ; wie das zu erreichen , werden wir später sehen. Nebenbei will ich noch bemerken , dass Lange's Ansicht über die Restrinction des Ackerlandes nicht richtig
ist. Diese wird meistens die Vermehrung der animalischen Production und selbst des Getreides nach sich ziehen ; wie denn England trotz der Vermehrung der Weide- und Futter- Fläche doch mehr Frucht erzeugte.
Dadurch , dass Lange zugibt , dass der Staat auf , sittlicher Grundlage ruhen müsse , kann man durch Ver
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten .
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letzung des Eigenthumsrechtes so Manches nicht einfach durchführen , was uns volkswirthschaftlich gut scheint, denn noch sind wir nicht so weit , um so gewagte Ex
perimente vornehmen zu können. Der Staat oder die Ge sellschaft ist ein Organismus , der keine Sprünge verträgt.
Langsam ! langsam ! Die mitunter treffenden Ansichten Lange's werden wir im Laufe des Buches noch kennen lernen ; namentlich ist er ein ausgezeichnetes Recept für die Conservativen. Vernichtung des Eigenthums heisst so viel als Ver nichtung der Freiheit , der Entwickelung und Cultur , und zwar der geistigen und materiellen ; und doch ist das
Eigenthum ein blutsaugender Vampyr , eine unversiegbare Quelle der Vergewaltigung und des Elends !' 5 In diesem Widerspruche liegt das sociale Problem.
Lange sagt Seite 275 : „ Der gegebene Rechtszustand ist heilig zu erachten , so lange er dem vorausgehenden unge ordneten Zustande des Krieges Aller gegen Alle, dem Faust recht, gegenüber tritt und in allen Manifestationen, in welcher er sich den Rückfall in dasselbe im Namen eines höheren
Princips widersetzt Die Kehrseite dieses Zustandes aber, in welcher er selbst wieder zum juristischen Faustrechte wird und sich dem Streben nach Vervollkommnung der bürger
lichen Einrichtungen mit der ganzen Wucht der organisirten Dummheit widersetzt diese Kehrseite ist nichts weniger als ehrwürdig , weil die Ehre ein für alle Mal nicht den Formeln gebührt, sondern dem Geist , welchen sie bergen.“ Die Aussöhnung dieses Gegensatzes liegt aber nicht in der Auffindung irgend einer Organisation , die jedenfalls von selbst und durch sich selbst kommen wird und muss, sondern in der Beschaffung eines Eigenthums in jener Höhe wenigstens, dass die Lebenshaltung erträglich und die intellectuelle Entwickelung für Alle möglich wird .
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Das sociale Problem vom Standpunkte der Socialisten.
Wir wollen uns nunmehr mit der Frage beschäftigen, auf welche Weise der Besitzlose von der Bedrückung durch
das Eigenthum geschützt, und der Vortheile desselben theil
haftig, also Eigenthümer werden könnte , ohne Störung der freiheit lichen Entwickelung ; nur mit diesem Beisatze und unter dessen strikter Aufrechthaltung stimme ich dem Streben , die Eigenthunisverhältnisse abzuändern,
mit einigen socialistischen Wortführern überein ; Carey sagt : „ Barbarei ist die nothwendige Folge des Mangels an Association , wird ihm die Association entzogen , so verliert
der Mensch seine wesentlichen Eigenschaften und bildet nicht länger den Stoff der Socialwissenschaft.“ Die Art der Verwerthung des gemeinschaftlichen Vermögens , wenn es einmal geschaffen ist, wäre aber viel späteren Gene rationen zu überlassen, wofern es zu ökonomischen Experi menten verwendet werden soll ; denn unser ökonomisches Wissen ist noch viel zu gering und die Nationalökonomie heute noch eine „ unheimliches Wissenschaft.
Bevor man aber die Frage ventilirt , was man mit einem Vermögen machen soll , muss man dieses überhaupt erst schaffen. Diesbezüglich eröffnen sich uns zwei Wege, nämlich der Erwertung mit und ohne Intervention der Staatsgewalt. Wir müssen beide betreten und ist dies noth wendig , weil bei Ministern und Volksvertretern alle Vor
bedingungen des Verständnisses und Interesses in der Regel felilen, man daher lange warten müsste, während die Sache dringend ist. Der Impuls muss zuerst von unten kommen. Nichtsdestoweniger wollen wir auch eine Skizze liefern, warum und auf welche Weise der Gesetzgebung zu inter veniren hätte. Möge sie die Veranlassung und Anregung geben , dass irgend ein edler Machthaber die Initiative ergreife und mein Misstrauen zu Schanden mache! Auf solche Weise liesse ich mich gern Lügen strafen.
IV. Capitel. Die Lösung durch den Staat. Die ungerechte Vertheilung der Steuern.
Die Erbsteuer und das
Erbrecht. – Die Eigenthumsbildung.
Wir haben gesehen , dass die ganze sociale Frage sich um die Eigenthumsverhältnisse bewegt ; wobei aber nicht übersehen werden darf , dass diese nach zwei Rich tungen fehlerhaft sein können. Wohl und Wehe eines Volkes oder Staates bängen
von zwei Factoren diesbezüglich ab, erstens von dem vor handenen Reichth um überhaupt, d. i . von der Summe der bereits angebäuften Arbeit, und zweitens von der Art und Weise der Vertheilung. Ein Volk , das keine Bahnen, Strassen, Städte, auf
geschlossene Bergwerke , Boden-Cultur, also Investitionen überhaupt besitzt, ist arm , und die Mitglieder einer solchen Gesellschaft werden unter allen Umständen ein kümmer liches Dasein haben, wie das mit Ausnahme eines kleinen
Theiles von Europa und Amerika der Fall ist. Die stets steigende Lebenshaltung selbst der tiefsten Classen der Bevölkerung steht mit der Zunahme des absoluten Reich thums in einem innigen Zusammenhange. Darum lebt auch
Die Lösung durch den Staat.
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der englische Tagelöhner auf dem Lande weit beser, als ein Bauer und Landeigenthümer des östlichen Europa. Der steigende Reichthum eines Landes kann aber auch zur über mässigen Bereicherung Weniger, und zur entwürdi genden Sclaverei der Massen führen .
Die Pessimisten und
Socialdemokraten, die das allerdings einsehen, haben lauter
Massregeln im Sinne , welche die Entwickelung , Capitals bildung und den allgemeinen Fortschritt schädigen und eine bessere Proportionalität auf den Trümmern der Cultur und Gesellschaft herstellen, damit aber das Loos der Menschen
nur verschlechtern würden ; die Optimisten und Conservativen hingegen glauben genug gethan zu haben , wenn sie den Reichthum fördern , die richtige Proportionalität aber dem natürlichen Verlaufe überlassen . Es ist klar , dass man
weder das Programm der Socialisten , nach das der Con servativen acceptiren darf; man darf die freie Eigenthums erwerbungim Interesse der nothwendigen Reichthumszunahme nicht stören , und darf doch andererseits die Hände nicht in den Schoss legen , und zulassen, dass die Majorität der Bevölkerung in immer grössere Abhängigkeit vom Capital gelange. Dass die Synthese dieses Gegensatzes nur in der Bildung eines collectiven Eigenthums gefunden werden kann , schimmert bereits durch , und wird meinem
Leser am Schlusse dieses Buches sich unabweislich aufdrängen. Nur auf diesem Wege ist es denkbar und möglich , dass ein Rothschild Millionen erwerben oder ersparen und an häufen darf, in seinem Eigenthum geschützt werden soll , und dennoch eine bessere Proportionalität hergestellt werden kann .
Wie soll nun ein solches collectives Eigenthum ohne
Beleidigung des bestehenden Eigenthumsrechtes und der freien Entwickelung gebildet werden oder entstehen ? Denken wir uns zwei Arbeiter A und B ; A ist ver
heirathet nnd hat 4 Kinder, B nicht. Die Frau kommt nicht
Die Lösung durch den Staat.
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in Betracht , weil auch sie theilweise etwas erwerben kann,
und der nichtverheirathete Arbeiter seinerseits gewiss Aus lagen haben wird, welche bei dem verheiratheten A in Weg fall kommen ; worin aber ein grosses Missverhältniss besteht, ist, dass A 4 Kinder zu ernähren hat, ohne mehr zu ver dienen als B. Bei einem Verdienste , wo B noch ein ganz
behäbiges Leben führt, muss A darben. Dieses Verhältniss bleibt sich gleich , wenn A und B gleich dotirte Grundbe sitzer sind, ob sie nun 1000, 10.000 oder 50.000 Gulden zu verzehren haben. Daraus folgt, dass die Steuer einge
fordert im geraden Verhältnisse der Einnahme oder des Vermögens keine gerechte ist. Bei dem Arbeiter hat dieses Missverhältniss noch die
traurige Folge, dass er gezwungen ist, Weib und Kind auf den Arbeitsmarkt zu werfen , sich selbst Concurrenz zu
machen , die Entwickelung der nächsten Generation zu schädigen und eine Rückbildung zu veranlassen. Marx sagt mit Recht : ,,der Arbeiter verkaufte früher seine Arbeits kraft, worüber er als formell freie Person verfügte. Er ver
kauft jetzt Weib und Kind, er wird Sclavenhändler.“ Doch lassen wir diese Frage bei Seite und kehren wir zur Steuer
frage zurück. Ich habe in meinem „ Individualismus“ die Analogie der Gesetze der socialen und volkswirthschaftlichen Ent wicklung mit den allgemeinen Entwicklungsgesetzen hervor gehoben , aus welcher Analogie folgen würde , dass , wenn die Steuer im geraden Verhältnisse zur Masse des Vermögens
eingehoben wird , es schon a priori zu vermuthen ist, dass sie auch noch im verkehrten Verhältnisse zu etwas Anderem
eingehoben werden sollte , welches Andere einen Gegensatz zur Masse des Vermögens bildet , das Vermögen gewisser massen paralysirt und dadurch die Feststellung eines Steuer systems ermöglicht, welches das wahre Vermögen trifft. In
Die Lösung durch den Staat.
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der ganzen Natur, im Maschinenwesen , ja überall , wo Be wegung ist, wird ein analoger Regulator zu suchen und zu finden sein, wenn das nothwendige und harmonische Gleich gewicht hergestellt werden soll. Es erscheint daher schon von
diesem Standpunkte aus gerechtfertigt, die Steuern in irgend einem umgekehrten Verhältnisse zur Kinderzahl einzuheben, was auch ganz billig wäre, wenn es nicht andere Uebelstände nach sich zöge .
Wenn man die Laufbahn des Menschen von seiner Ge burt bis zu seinem Tode verfolgt, so wird man finden , dass
jedem Menschen Wohlthaten, sogar Rechte zu Theil werden, mithin auch Plichten zur Last fallen . Nicht nur die Sorge der Eltern und die Garantien , die durch die Staatsorgani sation dem Menschen geboten werden , sondern selbst alle
Erfindungen und Schöpfungen der Vorgänger kommen ihm zu Gute. Liebe zu seinen Kindern und Bürgerpflicht, Ge meinsinn , Nächstenliebe überbaupt sind die Tugenden, durch
welche er diese Schuld an die Menschheit abträgt. Es sind hierüber keine Normen festgestellt, es ist dem Gewissen und der Willkür jedes Einzelnen überlassen , dieser Ver pflichtung auf jene Art und Weise nachzukommen oder auch nicht nachzukommen, wie wir es eben sehen.
Die Entwickelung hat aber nach und nach ein Organ ausgebildet , das bei der Erfüllung dieser Pflichten inter venirt , und dieses Organ ist der Staat. Der Staat bestraft unmenschliche Eltern, vermittelt einen billigen, selbst unentgeltlichen Unterricht , so weit er kann , ist behilflich
beim Erwerbe und schützt endlich das Erworbene, d. i. das Eigenthum.
Da aber der Staat die Mittel hierzu durch
die Steuer gewinnt, so ist die Steuer im Principe ein schuldiger Tribut des Individuums an die Gesammt
heit. Die richtige Auffassung, das richtige Verhältniss der Rechte und Pflichten des Individuums und der Gesammt heit, entscheidet über das Wohl und Wehe der Menschbeit.
Die Lösung durch den Staat.
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Despotischer Absolutismus der Staatsgewalt und Anarchie sind nur die Extreme dieses Verhältnisses, in wie fern nämlich das Individuum oder die Gesammtheit zu frei oder zu ge bunden erscheint. Die Steuer ist die vis motrix, durch welche
die Berechtigungen und Verpflichtungen sowohl der Gesammt heit als des Individuums zum Ausdruck gelangen und reali sirt werden. Der gemeine Verstand billigt vollkommen, dass die Steuer im Verhältniss zum Vermögen eingehoben wird, denn das Eigenthum besteht nur durch die Garantie des
Staates, es pimmt letzteren auch im Verhältnisse zu seiner Grösse in Anspruch.
Doch gibt es auch Pflichten , die das Individuum an die Gesammtheit nicht im Wege der Steuern abträgt ; so
erscheint ein Familienvater , wenn er ein Besitzloser ist,
unverhältnissmässig überbürdet, da er für mehrere Existenzen zu sorgen hat ; ist er aber Eigenthümer, so vermindert sich sein Eigenthum in dem Masse , als sich die Familie mehrt. So wie durch die grössere Entfernung die Attraction und das Licht geschwächt wird, weil sie sich auf einen grösseren Kreis vertheilen , 80 schwindet das Eigenthum durch die Ver theilung auf einen grösseren Familienkreis. Die Staatswirthschaft hat auf diesen Umstand nie Rück
sicht genommen, sie hat z. B. einen Arzt, der sein Einkom men fatirt, gleichmässig besteuert, ob er ein Individuum
oder deren mehrere mit Nahrung, Kleidung und Wohnung zu versorgen hat. Desgleichen zahlt der Eigenthümer eine gleiche Steuer von seinem Eigenthume , ob er Kinder hat oder nicht, und im ersten Falle eben dadurch sich sein
Eigenthum nicht nur vermindert, sondern er gewissermassen schon selbst der Gesammtheit 1) pfer bringt und seinen Pflichten gegenüber der Menschheit Rechnung trägt.
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Die Lösung durch den Staat.
So richtig dies auch im Principe ist , so unterliegt es dennoch keinem Zweifel, dass sich der Durchführung des
selben bei der gewöhnlichen Steuer unübersteigliche Hinder nisse entgegensetzen würden ; eine Besteuerung der Jung gesellen von nur einiger Bedeutung wäre unbillig, weil diese
immer Nachkommen in einer späteren Zeit haben könnten ; eine Rückerstattung für diesen Fall würde der Einführung einer Heirathsprämie gleichkommen und die einfache Ein führung einer neuen Steuer, also eine Mehreinnahme nur die Missgriffe der Minister vermehren. Eine Steuer , die sich aber zur Vertheilung im obigen
Sinne , nämlich im Verhältnisse zum wahren Vermögen eignet, und sich diesem Principe sogar gegenwärtig schon nähert , ist die Erbsteuer. Die Erbsteuer wird z. B. in Oesterreich höher , wenn
das Erbtheil auf entferntere Verwandte fällt , und ist am höchsten , wenn es an Fremde übergeht. Wenn wir diese
Modalität mehr ausdehnen , und wenn wir dieser Steuer eine besondere Bestimmung geben , so würden die Folgen unabsehbar sein .
Nehmen wir an , der Staat würde sich entschliessen , alle humanitären Anstalten, als da sind : Spitäler, Waisen häuser, Kinderbewahr- und Erziehungs -Anstalten, Schulen ,
Versorgungs- und Invaliden - Häuser von den administrativen Auslagen, als da sind : Heer, Bureaukratie, Communication , Verwaltung überhaupt zu trennen. Nehmen wir an , dass er die letzteren Auslagen durch die gewöhnlichen Steuern bestreiten würde, während er die
ersteren einem Fond zuweise , der aus der Erbsteuer , den
schon bestehenden
Stiftungen und vielleicht den
Strafgeldern gebildet würde.
In jener kurzen Epoche, wo die beiden Reichshälften der österreichischen Monarchie ein finanzielles Gebiet bildeten, war das Erträgniss dieser Erbsteuer circa 4 Millionen Gulden,
Die Lösung durch den Staat.
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wobei die Erben in gerader Linie 1 Procent, die lachenden Erben (doch zumeist der seltenere Fall) 4-8 Procent zahl ten . In der Erhöhung dieses Procentsatzes einerseits und der
Behandlung der Erbsteuer als eines Capitales (nicht Erträg nisses) zu Gunsten der Gesammtheit liegt der Hebel zur Lösung der socialen Frage, weil darin die Aussöhnung der zwei entgegengesetzten Wirkungen des Eigen thums liegt. Ich habe das bereits im Jahre 1864 in den
Gesetzen der socialen Bewegung ausgesprochen. Es herrscht in allen Staaten der Gebrauch, die Kinder gegen testamentarische Verkürzung durch die Eltern zu schützen .
In Oesterreich besteht dieses Minimum, Pflicht
theil genannt , in der Hälfte des gesetzlichen Erbtheils ab intestato der Art, dass ein Kind die Hälfte, von 2 Kindern eines ein Viertel, bei 3 Kindern eines ein Sechstel mindestens erhalten muss ; und wird es gegen Verkürzung durch Schen
kungen, Scheinverträge u. s. w. unter diesem Pflichttheil selbst durch das Gesetz geschützt. Wenn man nun den Kinderlosen die Menschheit als Erbe zuschiebt der Art, dass letztere einen Pflichttheil bekommen muss , und die Kinderlosen nur einen Theil frei
nach Belieben vererben können, so ist dies nur gerecht und
billig, wenn es auch nicht nothwendig ist, dass man 50 Procent wie bei den Kindern bestimmt, es genügen auch 25 Procent.
Ueberhaupt wäre der Procentsatz als ein variabler
Factor zu betrachten, der je nach Bedarf ein zu viel oder zu wenig zu reguliren hätte. Ebenso wenig würde der Mitgenuss dieses Pflichttheiles für die sich überlebenden kinderlosen Gatten anzufechten sein, da es einen unwesent lichen Unterschied in der Zeit macht. Lange geht so weit zu behaupten (Seite 278), ,,dass es nicht im Widerspruche
mit dem Principe des Eigenthumes sei , das Erbrecht ab zuschaften , oder
zu beschränken .“
Das erstere ist aber
Die Lösung durch den Staat.
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nicht richtig , weil die freie Verfügung zum Begriffe des Eigenthums gehört, und wäre die gänzliche Abschaffung
geradezu schädlich, weil ein mächtiger Sporn des Erwerbes vernichtet würde.
Es mag für einen Rothschild im ersten Augenblicke überraschend sein, wenn einer seiner Brüder kinderlos stirbt,
und er um einige Millionen weniger erbt ; doch müsste er
bedenken , dass sein Bruder Kinder erzeugen und auch einen anderen Erben hätte einsetzen können ; dass diese
Millionen einer sehr edlen Bestimmung entgegengehen, und überdies eine Assecuranz für den ruhigen Besitz seiner eigenen bilden .
Denn nicht nur, dass die Noth gemildert, die Erziehung verbessert wird , es kann jeder Proletarier sich der grossen
Vermögen nur freuen, die ihm durch einzelne Glieder nach
wenigen Generationen so viele Erleichterung verschaffen . Er wird ja selbst täglich , ja stündlich Miteigenthümer von Häusern, Gütern, Fabriken , wie sollte er sie da nicht respectiren, besonders da er besser und im Geiste der
Solidarität erzogen und wenigstens von der drückendsten Noth befreit ist.
Es liesse sich schon leben auf diesem Planeten , wenn die Menschheit nur etwas vernünftiger wäre !! Doch so wie der Chirurg und Feldherr durch Beruf und Gewohnheit
für fremde Leiden gefühllos wird , so sind auch wir durch unvermeid den gewohnten Anblick des ( wie wir wähnen lichen ) Elends stumpf geworden .
Die Tagesblätter dieses Jahres ( 1878) brachten die Nachricht , dass in Californien im Laufe des Jahres 1878
3 Millionäre, Namens O'Brien , Hopkins und Reese, gestor ben sind , welche je 8 Millionen Dollars , aber keine Nach kommen hinterliessen ; demzufolge sind über 24 Millionen an lachende , den tieferen Schichten angehörige Erben ge kommen. Würde das diese weniger glücklich gemacht haben ,
Die Lösung duroh den Staat.
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wenn sie nur 12.000.000 Dollars bekommen hätten, und eine Rente von 6.000.000 Dollars für ewige Zeiten humani tären Zwecken gewonnen wäre ?
Um was sich das Gesammt - Vermögen der Einzelnen vermindert, weil es durch das Collectiv - Vermögen der Ge sammtheit absorbirt wird, das wird durch die Steigerung der Productions. Werthe immer wieder ersetzt. Sollte aber auch
ein Zeitpunkt heranrücken
was ich bezweifle
wo das
Individual - Capital fast ganz absorbirt wäre , so würde das wahrlich kein Unglück sein , und werden wir noch darauf
zurückkommen .
Beschäftigen wir uns vorerst mit den Ge
burtswehen dieses gemeinschaftlichen Capitals . Schon Stuart Mill hat den Vorschlag gemacht, dass das Erbrecht der Seiten - Verwandten aufzuhören hätte, und dass für den Fall eines mangelnden berechtigten Erben der
Staat an die Stelle zu setzen sei. Man müsse eine Grenze feststellen , „ bis zu welcher Jemand lediglich durch die Gunst Anderer, ohne irgend eine Anstrengung seiner eige
nen Fähigkeiten soll erwerben dürfen .“ Es ist das so ein leuchtend, dass es fast unbegreiflich erscheint, wienach nicht alle Volkswirthe auf den Gedanken gekommen sind; doch ist es ein Glück , dass es praktisch noch nicht geschehen, denn die Früchte dieser Massregel wären einfach den Weg
der gewöhnlichen Steuer gegangen , und so existirt noch etwas, was im Interesse der Menschheit und nicht der Kriege und Administration verwerthet werden kann.
Selbst ein Lange würde eine solche Einnahmsquelle einer fehlerhaften Verwendung zugeführt haben : er sagt (Seite 100 über Mill ) in Bezug auf Vermögens- Ausgleichung: „ Es ist nicht der Mühe werth, hier zu erörtern, ob solches
Geld dem Unterstützungs-Fond zufliessen, oder auf den un entgeltlichen Unterricht verwendet , oder in Dotationen für Productiv -Associationen verwandelt werden sollte ; in jedem
Falle würde dass Mass zur Verwendung oder zur Verthei
Die Lösung durch den Staat.
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lung aus der Sache selbst folgen , sobald man das Princip der socialen Gerechtigkeit annimmt. “ Es ist „ sehr der Mühe wert h ,“ die Bestimmung dieser Einnahme zu erörtern, denn in jedem dieser 3 Fälle würde der Zweck , nämlich die Beseitigung der zu grossen
Vermögens-Ungleichheit nicht erreicht werden ; dazu darf das Geld nicht verwendet werden.
Es muss die
Natur des Eigenthums annehmen , es muss Collective Eigenthum werden. Man darf weder durch Almosen die Arbeit billiger machen , noch durch Productiv -Genossen schaften eine Ueberproduction erzeugen, sondern man muss das Collectiv - Eigenthum immer stärken , und das Privat Eigenthum dadurch einschränken . Darin liegt der funda mentale Unterschied zwischen meiner und den anderen An
schauungen. Auch kann ich mich der Meinung nicht an
schliessen, dass das Verfügungsrecht – in Mangel von leib gänzlich aufgehoben werden , und die nahen Verwandten ab intestato ganz ausgeschlossen sein
lichen Nachkommen
sollten ; solcher radicaler Mittel bedarf es gar nicht. In Ungarn herrschte früher das Gesetz, dass ich frei über Alles verfügen kann, was ich erwerbe, und gar nicht über das, was ich ererbe ; es ist dies ganz logisch. Wenn ich ein grosses Vermögen meinen Kindern hinterlasse , und eines derselben stirbt kinderlos ab intestato, so ist ein Anspruch der Ueberlebenden immerhin wenigstens auf einen Theil be gründet.
Wenn dieser Fond für humanitäre Zwecke als ein Capi tal betrachtet wird , dessen Zinsen blos diesen Zwecken
zugewendet werden, so wäre dies die richtigste und gelindeste Form , durch welche ohne Eingriff in die Eigenthumsrechte dem Besitzlosen ein Eigenthum geschaffen würde. So gering diese Massregel auch erscheinen mag, so ist sie doch durch Heranbildung eines gemeinschaftlichen Eigenthums der Stein,
Die Lösung durch den Staat.
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der zur Lawine wird, welche die masslose Ausbeutung der Gesammtheit durch das Individuum vernichtet, an deren
Stelle nothwendig die Solidarität des Menschengeschlechtes. und die Nächstenliebe treten wird , während der jetzige
sociale Zustand den Egoismus beinahe zur Pflicht des Familienvaters macht. Wir können die Nothwendigkeit und
Nützlichkeit des Arbeiterproletariats ebensowenig als dessen prekäre Lage in Abrede stellen , namentlich jene des Industrie -Arbeiters ; die oft ohne alle Mitschuld und bei dem besten Willen um jeden möglichen fast immer ungenügenden
und schwer zu erreichenden Erwerb gebracht wird ; wie oft würden sich Verbrechen in eine Handlung der äussersten Nothwendigkeit, ja selbst der edelsten Hingebung auflösen , wenn man die Lage dieser Menschen berücksichtigen würde ! Man schützt sich durch Prämien gegen Elementar schäden , warum sollte die Menschheit nicht durch ein der
artiges solidarisches Vorgehen die Gesellschaft gegen Ver brechen und das Eigenthum gegen dessen Angreifer schützen ! Die sociale Frage ist im Anrücken , wenn nicht im Osten, so doch im Westen Europas. Armen-Institute helfen nichts,
die Sache muss anders gefasst werden ; wir werden gleich sehen, welche Folgen die consequente Durchführung dieser Massregel nach sich ziehen würde. Vorläufig sei nur be merkt, dass dieser Fond in doppelter Progression anwachsen würde, nicht nur durch erfolgende Erbschaften, sondern auch durch die stete Zunahme des Reichthums überhaupt. Was sagen die Entwickelungsgesetze dazu ?
Der Beitrag zu den Staatslasten muss im Verhältnisse zur Grösse des wahren Vermögens geleistet werden, also im geraden der Masse , im umgekehrten des Be darfes. Dieses Princip lässt sich bei der Erbsteuer obne allen Druck und ohne Störung der natürlichen Entwickelung leicht durchführen .
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Die Lösung durch deu Staat.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bestimmung des Staates immer mehr von dem politischen auf das
sociale Gebiet gezogen werden wird ; wenn wir daher die jetzigen Steuern für die jetzt gewöhnlichen Staatsausgaben, die Erbsteuer für die humanitären Zwecke in An spruch nehmen würden , so wäre die nothwendige Folge, dass die gewöhnlichen Steuern – unter Voraussetzung der
künftigen Beseitigung von Krieg und Anlehen – immer in Abnahme, das durch die Erbsteuer gebildete Capital immer in Zunahme begriffen wäre, so wie es dem Bedürf
nisse auch entspricht. Nachdem aber das individuelle Capital nicht nur befruchtende , sondern auch sehr ver derbliche Wirkungen zu Folge seiner antinomischen Natur aus
übt, so wäre es diesbezüglich nur von Vortheil, wenn, sowie dem Individuum die Gesammtheit, dem individuellen Capital auch das Capital der Gesammtheit entgegengestellt würde, welches die verheerende Wirkung des Eigenthums paralysirt. Derzeit bat der Staat nur Schulden, und ist daher die Beute des individuellen Capitals , daher das Verkehrte
in unseren Einrichtungen ; wenn aber der Staat, die Ge
sammtheit, selbst Capitalist ist, kann er , ganz abgesehen von dem Zinsenerträgnisse, dem Unfuge in vieler Hinsicht steuern, der Production an die Hand gehen und sie in ein besseres Verhältniss zur Bevölkerungszunahme stellen. Wenn durch das Capital der Gesammtheit auch das Individuum
ausgebeutet werden sollte, so ist dies gewiss vortheilhafter, als wenn durch das Individuum die Gesammtheit ausgebeutet wird , wie es gegenwärtig thatsächlich der Fall ist ; weil
im ersten Falle der Gewinn ein gemeinschaftlicher wird , denn die Bürger eines Staates sind ja die Actionäre dieser Actiengesellschaft. Die Hagel- und Feuerversicherungen sind
z. B. gewiss wohlthätige Institutionen , die wir der Spe culation zu danken haben, sie sollten aber keine Speculation sein, es sollte die Prämie in dem Verhältnisse geringer sein,
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Die Lösung durch den Staat.
als der Ausfall der Gesellschaft ein geringerer ist. Inter venirt der Staat, so ist diesem Uebel gesteuert, weil nicht das Individuum, sondern die Gesammtheit den Nutzen hat,
den die Assecuranzgesellschaft zieht u. 8. w. Man wird einwenden , dass dies zum Socialismus , zum Communismus endlich führt. Gewiss , aber in edler Form und unter Wahrung des individuellen Eigenthumsrechtes. Die Communisten und Socialisten schiessen einfach über
das Ziel, sie kämpfen für eine rein ideale Sache, die nichts als der Gegensatz zu unseren jetzigen Zuständen ist. Was schrecken Euch diese Worte, meine Herren Con servativen ? In der Steuer, in dem Expropriationsrechte des Staates liegt ja schon der Communismus und der Schutz des Eigenthums ; andererseits ist jeder Gasthof, jede Schule, jede Eisenbahn die Frucht des Socialismus, und diese In
stitutionen kommen ja den Besitzenden am meisten zu Gute. Zweifelt nicht, auf dieser Bahn wird fortgeschritten werden, Ihr werdet der Bewegung wahrlich keine Grenzen setzen !
Alles neigt zur Association ; wir haben Sängervereine, Turnvereine, Reisegesellschaften u . 8. f., deshalb haben
wir für die Individualität nichts zu fürchten ; im Gegen theile , wenn die Verallgemeinerung der Association ibren Höhepunkt erreicht haben wird , so wird das Individuum bei der absteigenden Phase erst zur wahren Geltung kommen, denn gegenwärtig weisen die äusseren Verhältnisse und nicht der innere Beruf dem Individuum das Feld der
Thätigkeit an.
Wollt ihr Euch aber gegen die Schrecken plötzlicher Uebergriffe sichern, so sucht den Schutz nicht in der Ge walt, nicht in der Vernichtung des Gegensatzes! Was habt Ihr bis jetzt vernichten können ? Etwa die Idee des freien
Glaubens, der persönlichen Freiheit, liberale Institutionen , Hellenbach , Vorurtheile. I.
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Die Lösung durch den Staat.
Pressfreiheit, Schwurgericht , Nationalgarde und was der gleichen mehr ist?
Habt Ihr dagegen nicht seit jeher gekämpft , und mit welchem Erfolge ? Ihr habt immer das kürzere Ende gezogen, und waret
nur dann Sieger, wenn die Gegenpartei Uebergriffe machte. Denn die Reaction ist in ihrem vollen Rechte und findet
allgemeine Unterstützung, wenn regierungsunfähige Idealisten oder verbrecherische Faullenzer sich der Staatsmaschine
bedienen wollen, um die wahre Freiheit der Entwickelung zu welcher auch das Eigenthumsrecht gehört – und den ehr lichen Kampf ums Dasein zu bindern. Hält die Fortschritts partei das Mass ein , und bleibt sie auf dem Boden des Gesetzes, des Rechtes und der Billigkeit , so werden die Conservativen der liberalen und nationalen Idee eben so
unterliegen, wie in einer späteren Zeit diese der Idee der Humanität unterliegen wird. – „ Liebe deinen Nächsten wie dich selbst “ ist das Losungswort der Zukunft.*) Wir gehen einem Zustande entgegen , der das Eigenthum und den Communismus , die Familie und den Socialismus in sich
aufgelöst enthalten wird ; und nachdem das Capital, welches von den Individuen für die Gesammtheit geschaffen werden soll (während gegenwärtig die letztere den ersteren tribut pflichtig ist ), vom Reichen zumeist gebildet und dem Armen zu Gute kommen wird , so liegt darin eine Aus
söhnung so mancher schroffer Gegensätze der jetzigen Civili sation. Nachdem die sociale Bewegung durch Vermittlung der Gegensätze fortschreitet, so ist es unsere Aufgabe, sie im Gleichgewichte zu erhalten , die logische und Natur
entwickelung beruhen auf denselben Principien. Zöllner *) Diese Sätze wurden schon im Jahre 1864 geschrieben , die
Macht der nationalen Idee hat nur Triumphe seither gefeiert.
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sagt* ): „ Es scheint einmal ein tief im Wesen aller Dinge begründetes Gesetz zu sein , dass jeder neue Gedanke hie nieden , sei es auf dem Gebiete socialer und nationaler
Schöpfungen im Leben der einzelnen Völker , oder sei es auf dem Felde der fortschreitenden Erkenntniss der Mensch
heit, nur unter den Convulsionen zweier kämpfen den Parteien als lebensfähige Wahrheit das Licht der Welt erblickt." National - Werkstätten und Phalanstère sind im Staate
enthalten, nur ist der Staat gegenüber der Gesellschaft noch nicht das, was er werden wird ; er wird aber auch weder ein Phalanstère errichten , noch eine National- Werkstatt werden .
Bildet das Vorhandene aus, wollt Ihr dies nicht, nun so kämpft, besiegt Euch wechselweise, und aus den Revolutionen
und Reactionen wird endlich doch die Synthese Eurer Gegen sätze hervorgehen !
Es liesse sich ein Buch schreiben, wenn man die Conse quenzen dieser Massregel ausmalen wollte. Die Art und Weise der Entwicklung so wie deren Resultate kann sich übrigens der Leser schon aus dem umgekehrten Bilde der
Civilisation zusammenstellen, welche als ein umgekehrtes Bild der Zukunft mit Recht von Fourier und Proudhon
bezeichnet wird. Die Steuer drückt zumeist den Armen , sie
wird zumeist den Reichen treffen ; die Segnungen der Staates kommen dem Reichen mehr zu Gute, das wird umgekehrt der Fall sein ; die Pflichten gegen die Kinder drücken den armen Familienvater, der Kinderlose wird sie ihm abnehmen ; das Individuum beutet die Gesammtheit aus, das wird in das Gegentheil umschlagen, und es werden dabei Alle gewinnen . Sollte aber die Gesammtheit zu sehr die Thätigkeit des
Individuums erschlaffen , so würde die Reaction nicht aus bleiben, dafür ist gesorgt.
*) Principien einer elektrodynamischen Theorie der Materie. Seite 15 der Vorrede. Leipzig. 7*
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Diese Erbsteuer wäre eine im richtigen Verhältnisse zum Vermögen auferlegte, im geraden Verhältnisse zur Masse , im umgekehrten zum nothwendigen Verbrauche.. Der Missbrauch des individuellen Capitales hätte seinen Regulator , sein Gegengewicht in dem Capitale der Ge sammtheit.
Die Schaffung eines derartigen Eigenthums ist der einzige Weg, die Ricard o'sche Linie, die „ Lebenshaltung “ des Arbeiters erträglich zu machen und zu erhöhen , ohne
einen Eingriff in die natürliche Entwicklung und die erworbenen Rechte zu wagen. Das sociale Uebel liegt nur in den Eigen thumsverhältnissen , einzelne Individuen sind reich, und die Gesellschaft hat Schulden ; das Erstere ist nicht nur erlaubt,
sondern selbst nothwendig , das Zweite hingegen muss abgeändert werden , und das geht am schnellsten und
sichersten nur im Wege der Regulation des Erb rechtes. Die Ungleichartigkeit wird zum Wohle der Ent wicklung immer bleiben , aber es wird Niemand hungern und darben , und jede folgende Generation wird physisch und intellectuell einen von uns nicht geahnten Fortschritt machen .
Es ist Gefahr im Verzuge, wir müssen an die Arbeit !
Lange citirt (Seite 68 über Mill) die Worte desselben , welche auch Rodbertus und Andere aufgenommen. „ Wenn man wählen müsste zwischen dem Communismus
mit allen seinen Chancen und dem gegenwärtigen Gesell schaftszustande mit allen seinen Leiden und Ungerechtig keiten ; wenn die Institution des Privateigenthums es als nothwendige Folge mit sich brächte , dass das Ergebniss der Arbeit so sich vertheile, wie wir es jetzt sehen, fast im umgekehrten Verhältniss zur Arbeit – dass die grössten Antheile denjenigen zufallen , welche überhaupt nie ge arbeitet haben , die nächstgrössten denen , deren Arbeit beinahe nur nominell ist , und so weiter hinunter, indem
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die Vergütung im gleichen Verhältniss zusammenschrumpft wie die Arbeit schwerer und unangenelımer wird , bis end lich die ermüdendste und aufreibendste körperliche Arbeit nicht mit Gewissheit darauf rechnen kann , selbst nur den
nothwendigsten Lebensbedarf zu erwerben ; wenn, sagen wir, die Alternative wäre: dies oder Communismus, so würden alle Bedenklichkeiten des Communismus, grosse wie kleine, nur wie Spreu in der Wagschale sein.“ Wenn ein Schriftsteller
und Parlamentsmitglied von der Bedeutung Mill's in dem conservativen England so schreiben darf , so kann an der acuten Natur des Uebels nicht gezweifelt werden. Die Dämmerung einer besseren Zeit würde hereinbrechen , wenn die Gesetzgebung den humanitären Zwecken Kindes rechte gegenüber den Kinderlosen eiuräumen würde. Wäre es nicht ein erhebendes Gefühl, wenn wir auf der Strasse
das Elend finden und uns sagen könnten : mit jedem Tage, jeder Stunde vermehren sich die Mittel , um diese Noth zu lindern ! Und wie wenig drückend wäre eine solche Steuer ! Der
Staat mit seiner heutigen allgemeinen Erbsteuer verlangt
Geld, der Erbe muss es auftreiben, was oft empfindlich ist; diese von mir geträumte Steuer verlangt kein Geld, sie begnügt sich mit Theilen der Erbschaft, mit Sicherstellungen , denn sie will Zinsen, und ob ein lachender Erbe statt drei Häusern nur zwei übernimmt, ob ein Gut um eine erträgliche Satz
post höher belastet ist , oder statt 100 nur 70 Actien in die Hände des Erben gelangen, ist wahrlich kein wesentlicher
Unterschied , und Derjenige, der bei dem ausgesprochenen edlen Zwecke dies bedauerte , verdient gar nicht, dass ihm ein unerworbenes Eigenthum werde. Die Formel zur Lösung des socialen Pro blems durch den Staat lautet : Einsetzung der Gesammtheit in (mehr oder weniger beschränkte) Kindesrechte
für
den
Todesfall
kinderloser
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Eigenthümer unter Fideicommiss ähnlicher Be schränkung auf das blosse Nutzungsrecht. Wir werden am Schlusse eines späteren Capitels auf den
Gang, welchen in diesem Falle die Entwickelung nehmen wird und muss, zurückkommen . Man wird vielleicht den Einwurf erheben , dass der Staat die Einnahme der Erbsteuer in ihrem jetzigen Stande
nicht entbehren könne , um selbe dem Zwecke der Capital bildung zu widmen ; diesem Uebelstande ist auf die einfachste Weise abzuhelfen .
Jeder Staat gibt, wenn nicht für Wohlthätigkeitszwecke, so doch für den Unterricht mehr aus, als die gegenwärtigen Einnahmen der Erbsteuer betragen ; der Staat kann dem
nach diese Last auf den Fond abwälzen, im Gegentheile ibm den fehlenden Betrag aufzahlen, was schon aus dem Grunde sehr wünschenswerth wäre, weil dieser Zukunftsminister für
die humanitären und socialen Angelegenheiten von der politischen Solidarität mit den anderen Kabinetsmitgliedern befreit werden soll. Die socialen Fragen müssen neben den politischen ihren Lauf nehmen und dürfen nicht miteinander verquickt werden. Auf diese Weise würde die Bildung des Collectiv-Vermögens durch das Plus des Pflichttheiles ge schehen , welches die lachenden Erben zu zahlen hätten, und in einem Jahrzehnt wäre das Versäumte eingeholt.
Der zweite Einwurf, der gemacht werden dürfte, ist die Be sorgniss, dass der Staat in einem gegebenen Momente sich des Fondes bemächtigen würde, um seinen politischen Velleitäten nachkommen zu können.
Dieser Fall ist kaum annehmbar.
Bis das collective Vermögen eine solche Höhe erreicht haben wird , dass es die Gelüste des Staates erweckt, ist das Eigenthums- und Rechtsbewusstsein im Volke bezüglich
des Collectiv -Eigenthums hinlänglich erstarkt, um durch den Druck der öffentlichen Meinung jeden Eingriff unmöglich zu machen.
Ein weiteres Hinderniss bildet die Natur des
Die Lösung durch den Strat.
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Vermögens , welches in erster Linie aus Hypotheken , in zweiter Linie aus Liegenschaften und zum geringsten Theile
aus Papieren bestehen wird; denn zwischen der heutigen Erbsteuer und dem künftigen Pflichttheile besteht der Unter schied, dass jene eine baare Staatseinnahme, dieser nur das Recht auf eine Rente ist, mit welcher der Erbtheil belastet wird , wenn er nicht aus Börseneffecten besteht. Auch aus
diesem Grunde wäre es angezeigt ,
dass dieses
Zukunfts -Ministerium vom Felde der Politik entfernt werde,
und zwar um so mehr, als die Verwaltung nicht durch das Plenum des gesetzgebenden Körpers, sondern durch einen Ausschuss oder Verwaltungsrath controlirt werden müsste, der aus den achtbarsten und unabhängigsten Männern ge bildet würde ; die Verwendung der immer zuwachsenden Zinsen mag dann immerhin der Legislative anheimfallen , aber natürlich im Rahmen der socialen und nicht politischen Bedürfnisse.
Wenn ich die Behauptung ausspreche , dass nur auf diesem Wege dem socialen Uebel abgeholfen werden kann was im letzten Capitel noch näher begründet werden wird – so will ich damit noch nicht gesagt haben, dass die Gesetzgebung ansonst nichts Erspriessliches leisten könnte. Meines Wissens ist der Bergbau das einzige Gewerbe, bei welchem gesetzliche Bestimmungen zum Zwecke der er höhten Lebenshaltung existiren, eine solche ist die obligate Stiftung von Bruderladen.
Bruderladen sind Versorgungs-Anstalten für im Dienste beschäftigte, erkrankte und überhaupt dienstunfähig gewor dene Bergarbeiter und für deren Witwen und Waisen. Zum Beitritt ist jeder Bergarbeiter verpflichtet und be stehen die Einkünfte :
a) In den regelmässigen Einzahlungen der Arbeiter, welche sich nach der Höhe des Verdienstes richten , indem
Die Lösung durch den Staat.
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entweder ein bestimmter Procentsatz vom Reinverdienst oder
aber ein für jede Arbeitskategorie fixirter Betrag per Tag, Woche und Monat entrichtet wird ; beide Modalitäten der
Beitragsleistung können durch statutenmässige Majoritätsbe schlüsse den Umständen angemessen gegründet werden ; ferner sind besonders dormirte Eintritts- und Heirathstaxen
zu erlegen.
b) In Leistungen der Werksinhabung, indem sich diese entweder zu fixen Jahresbeiträgen, oder zur Einzahlung von Beiträgen , die zu den Gesammteinzahlungen der Arbeiter
in einem gewissen , bestimmten Verhältnisse stehen , oder ferner zur Haftung für resultirende Betriebs - Deficite ver pflichtet. Bei manchen Bruderladen bestand und besteht
für die Werksinhabung keine rechtliche Verpflichtung zur Beitragszahlung , und wurde dies nur durch einmalige oder unregelmässig wiederkehrende Schenkungen von der Werks inhabung nach Belieben unterstützt .
In mehreren Staaten
des Continents wurden neuestens die Werksinhabungen zu regelmässigen gesetzlich normirten Beitragszahlungen mit Recht verpflichtet. c) In der Einkassiruug von Strafgeldern, d ) in diversen Schenkungen , und e ) in Zinsen des frucbtbringend angelegten Gesellschafts capitales. Die Mitglieder werden bei manchen Bruderladen in
nicht stabile und stabile eingetheilt. Erstere haben meistens nur das Anrecht auf Unter
stützung in Erkrankungsfällen, aber keinen Pensionsanspruch. Gewöhnlich sind ihre Beiträge geringer festgestellt, und erbalten sie nach einer bestimmten Dauer der Mitgliedschaft das Recht der stabilen Mitglieder.
Die Mitglieder haben im Allgemeinen Anspruch : Auf unentgeltliche ärztliche Hilfe und freien Medica mentenbezug oder Aufnahme in das Werksspital für die
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Mitglieder allein , oder auch für deren Familienglieder; auf den Bezug von Krankenschichten ; auf die Unterstützung der
Witwen und Waisen, wenn das Familienhaupt seiner Militär pflicht Genüge leistet ; auf ausserordentliche Unterstützung bei besonderen Unglücksfällen , wobei die Höhe derselben vom Verwaltungsrath bewilligt wird ; auf Beiträge zu den Begräbnisskosten ; auf Altersversorgung der Mitglieder bei eingetretener Dienstunfähigkeit oder nach einer erreichten normirten Dienstzeit, ferner auf Unterstützung der Witwen und der Waisen bis zu einem Normalalter.
Die Pensionen der Mitglieder, Witwen und Walsen sind bei einer bestimmten kurzen Dienstzeit fixirte Abfertigungen, oder regelmässig wöchentlich oder monatlich fällige genau normirte Bezüge.
Sie sind abänderungsfähig, jedoch ohne Rückwirkung auf bereits erworbene Rechte.
Manche Bruderladen unterstützen ihre Mitglieder noch weiter, durch Haltung von Werksschulen , Seelsorger, Er
richtung von Consumvereinen zum Bezug billiger Existenz mittel, wozu auch Ankauf und Betrieb von Mühlen, Schlacht häusern , Bäckereien etc. gehört , ferner durch Herstellung gemeinschaftlicher Bäder , Waschhäuser, Bibliotheken etc. Die Rechte der Mitglieder sind bei den verschiedenen
Bruderladen verschieden. Ein Mitglied hat nie das Recht die Rückzahlung seiner Beiträge zu fordern , sondern es sind diese Eigenthum der Bruderlade. Deren Vermögen ist unter die Mitglieder nicht theilbar und hat dieselbe bei einer etwaigen Auflösung nur die er
worbenen Rechte vorhandener Mitglieder zu befriedigen .
Ist diesen durch Absterben genügt , so fällt das Vermögen anderen verwandten Anstalten zu , wofür in den Statuten vorgesorgt ist. Der Werksinhabung ist meistentheils eine Einflussnahme und Controle gewahrt , die Verwaltung des Bruderladen
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vermögens besorgt jedoch selbstständig ein gewählter Ver waltungsrath. Das Oberaufsichtsrecht steht bestimmten Staatsbehörden
zu. Die Bruderladen sind sehr alt, manche derselben haben es zu sehr bedeutendem Vermögen gebracht, und vorhandene grossartige Baudenkmale zeigen noch jetzt von deren früherem Reichthum .
Es liegt gar kein Grund vor , dass Bestimmungen für den Bergbau nicht auf alle Fabriken und Etablissements aus
gedehnt werden könnten , wodurch die Lebenshaltung der arbeitenden Classen auf der ganzen Linie erhöht würde; nur ist es gefehlt, auf Pensionen statt auf Vermögensbildung
hinzuarbeiten . In Wien hat eine grössere Actien- Unterneh mung ( der Kohlen -Industrie -Verein ) für seine Beamten, die
auf die Bruderladen keinen Anspruch haben , statt der Pensionen die Einrichtung getroffen, dass jeder Beamte bei seinem Austritt oder bei seinem Tode dessen Erben ein
Capital vorfinden , das durch Einzahlungen der Beamten und des Institutes nebst den anwachsenden Zinsen gebildet wird. Die Gesellschaft und der Staat haben jedenfalls das Interesse, dass die Arbeitenden und Besitzlosen so viel als
thunlich Eigenthum erwerben, um selbes zu respectiren und den socialdemokratischen Doctrinen unzugänglich zu werden . In Frankreich hat der Renten-Besitz so viele Cointeressen
ten , dass z. B. an Erleichterung des Budgets durch einen Staatsbankerott nie gedacht werden könnte. Unsere krankhaften Zustände können nur durch Eigen
thums-Bildung geheilt werden, und alle anderen wirthschaft lichen und politischen Experimente sind eine unzulängliche Quacksalberei .
In so lange die Staaten Schulden haben , können sich unsere Verhältnisse nicht bessern, und wenn sie ein Vermögen
hätten , so würde es gar keiner besonderen Combinationen
bedürfen , um den Zustand des socialen Körpers erträglich
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zu machen ; es wird uns das im letzten Capitel dieses Buches noch mehr einleuchten .
Nachdem ein jeder Unbefangene weiss, dass unsere Re
gierungen im Wege der Sparsamkeit das Verhältniss um kehren werden , so bleibt nur die Bildung eines vom politischen Staatsleben unabhängigen Collectiv Eigenthums. Haben wir das, so macht sich das Andere von selbst. Jede Familie, die das Capital angreift, geht zu Grunde, und der seine Zinsen nicht verzehrt , muss gedeihen , wenn er es auch noch so sehr an richtiger Manipulation fehlen lässt. Wohin es mit der fortgesetzten Belastung der Gesammt heit zu Gunsten einer kleinen Minorität kommen muss, kann
sich Jeder selbst beantworten ; wohin wir aber auf dem ent gegengesetzten Wege gelangen , das werde ich mir erlauben , dem Leser am Schlusse zu entwickeln .
V. Capitel . Die Lösung durch die Gesellschaft. Die Nächstenliebe. Die Verpflichtung der Kinderlosen .
Hätte ich die leiseste Hoffnung, dass von unsere Volksvertretungen irgend eine volkswirthschaftliche That
von solcher Tragweite wie die Regulation des Erbrechtes zu Gunsten des Collectiv- Vermögens zu erwarten sei, so würde ich das Détail der Organisation und Thätig keit eines solchen Ministeriums für humanitäre Zwecke
weiter verfolgen. Man sollte zwar annehmen , dass ein jeder Volksvertreter nichts Eiligeres zu thun habe , als sämmtliche Autoren der Volkswirthschaft von nur einigem
Belange zur Hand zu nehmen , und doch gibt es ganze Parlamente, wo vielleicht nicht ein einziges Mitglied die Namen dieser Autoren kennt ; man sollte auch meinen , dass über
haupt nur der gewählt werden kann, der für die Interessen des Volkes ein Verständniss im Kopfe und ein Gefühl im Herzen trägt. In der Civilisation , die ja ein umgekehrtes Bild vernüi ftiger Zustände ist, müssen wohl die Vertretungs körper dieser Verkehrtheit auch entsprechen ; der Majorität fehlt nicht nur die Fähigkeit und die Sachkenntniss , um für die Interessen der Menschheit einzutreten , sondern sie
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kennt in der Regel nur ihre eignen persönlichen Interessen , sie steht auf dem Boden des individual - eudämonistischen
Moralprincips und noch dazu nicht etwa im transscendenten, sondern im rein materiellen Sinne. Doch geuug, wir wollen nicht vorgreifen und diese Volksbeglücker einem folgenden Capitel zur Amtshandlung übergeben.
Die ritterlichen , freiheitlichen und poetischen Illusionen der Civilisation haben aufgehört ; die ökonomischen Illusionen
arbeiten bereits an Zersetzung derselben, daher wird sie auch ekelhaft und stinkend , wie jeder faulende Organismus. Ich fühle mich zufolge der geistigen Impotenz, der un
verantwortlichen Ignoranz und des steigenden Egoismus der politischen Majoritäten verpflichtet, diesen Gegenstand und die zu ergreifenden Massregeln in eine solche Form zu giessen,
die des Imperativs der Gesetzgebung entbehren kann. Ich appellire an die Einsicht jener Menschen, die das Mandat der Nächstenliebe im Herzen tragen, denn selbst die intelligenten
und vom Pflichtbewusstsein erfüllten Mitglieder der Vertre tungskörper, deren es ja doch auch gibt, würden sie mit der praktischen Undurchführbarkeit im gesetzlichen Wege ent schuldigen, was aber eine Ausflucht ist, hinter welcher eigent lich nur Scheu vor dem dominirenden Familienegoismus und der öffentlichen Meinung, oft auch Bequemlichkeit steht. Ich muss daber einen Weg vorschlagen, den Jeder wandeln kann , ohne in Geruch socialdemokratischer Tendenzen zu
kommen, denn ich begreife diese Scheu, die Gesellschaft ist eben nicht einladend !
Dass ich übrigens die politischen Parteien durchaus nicht zu hart beurtheile, kann der Leser aus Hartmann's
Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins ersehen, bei dem sie ebenfalls im schlechten Credite stehen (Abschnitt der Triebfedern der Sittlichkeit), und dem man einen objectiven
Standpunkt in politischen Dingen zumal nicht wird ab sprechen können.
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Die Lösung durch die Gesellschaft.
Die Liebe im weiteren Sinne löst sich immer auf in
das Interesse des Einzelnen für die Gattung, die Gesammtheit. Am deutlichsten tritt dies allerdings hervor bei der Geschlechtsliebe, diesem dem Thiere und uns gemeinschaft lichen instinctiven Triebe, der von der organisirenden Natur auch im Interesse der Gattung eingesetzt wurde ; veredelter ist sie schon bei der Liebe zu den Angehörigen, die wir mit dem Thiere zwar noch gemeinsam haben, doch ist bei diesem die Anhänglichkeit und Aufopferung schon viel beschränkter. Sie erstreckt sich in der Regel nur auf die eigene Brut, und dies nur insolange, als diese des Schutzes der Eltern bedarf.
Immer identificirt sich diese Liebe - praktisch genommen
- mit dem Interesse für diese Gattung durch Aufopferung des Individuums. Am edelsten, am erhabensten, und nur dem Menschen eigenthümlich ist die reine Liebe zum Nächsten ,
zum Lebenden überhaupt. Die Epoche, in der wir leben, wo der Kampf um's Dasein, der Krieg Aller gegen Alle, den Egoismus in eine schauder hafte Blüthe treibt , ist begreiflicher Weise für die Ent
wicklung der Nächstenliebe keine günstige , doch regen sich die Spuren dieses in dem Menschen schlummernden Gefühles beim Anblicke fremden Leidens selbst in den
härtesten Naturen ; und die eigenthümliche Begeisterung, die sowohl einzelne Menschen als ganze Massen erfasst,
wenn sie für die Interessen der Gattung einstehen, kämpfen und sich opfern, oder aber Andere dies leisten sehen , gibt Zeugniss von der in dem Menschen liegenden, derzeit aber noch wenig entwickelten und in das Bewusstsein treten den Liebe zum Nächsten.
Bestrebungen Anderes , als Familie, die bungen Platz
Unsere nationalen und liberalen
sind , wenn man sie analysirt, auch nichts eine Ausdehnung der Liebe auf eine grössere schliesslich allgemeinen humanitären Bestre machen werden. Diese humanitären Bestre
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bungen klopfen als „ sociale Frage bereits an
111 unsere
Thüre.
Nun, meine Leser, die Ihr keine Kinder habt, Euch ist
die Pflege des edelsten Zweiges der Liebe zugefallen. Ihr habt die wichtigste Aufgabe zu erfüllen, denn an den Kinderlosen beiderlei Geschlechts ist es, so sonderbar es auch scheinen mag, den Grundstein zu einer neuen Ordnung der Dinge zu legen , durch welche das sociale Uebel zu Grabe ge tragen wird. Es war eine Zeit, wo das sociale Problem nur für den
Socialdemokraten existirte, heute läugnet selbst der conser vative Staatsmann nicht mehr dessen Vorhandensein . Nur sieht Jeder etwas Anderes darin .
Der Allgemeinheit der Arbeiter-Bewegungen und den Ereignissen in Frankreich und Deutschland mag es vor Allem zuzuschreiben sein , dass nunmehr auch die conservativ sten Politiker sowohl das Vorhandensein eines socialen Uebels
als auch die Gefahr für die bestehende Gesellschaft aner kennen – eine Gefahr, die um so drohender wird, als die
Verallgemeinerung der Bildung urd Heerespflicht eine un abweisliche Nothwendigkeit für die Erhaltung der Staaten
in ihrem gegenseitigen Kampfe ums Dasein geworden ist. Durch diese zwei Momente wird nach und nach der Zau
ber vernichtet, mit dessen Hilfe eine verschwindende Minorität die Massen bewältigen und im Zaume halten konnte, wobei noch ein Umstand hervorgehoben zu werden verdient , der jedenfalls nicht unwesentlich dazu beiträgt , die sociale Frage für alle Menschen auf die Tagesordnung zu setzen .
Dieser Umstand ist der gebrochene Einfluss der Kirche. Ein Glaube , der das Leben als eine kurze Prüfungs zeit hinstellt, welcher ewiges Glück oder Unglück folgt, war für Manche vielleicht ein Trost, doch ist eine solche Lehre von vornherein nicht geeignet , die Frage der materiellen
Existenz und des gesellschaftlichen Gedeihens in den Vor
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dergrund zu stellen. Soviel ist gewiss, dass die Anweisungen auf eine Entschädigung in einem anderen Leben den Credit verloren haben, und damit ist eine der ältesten und kräftig. sten Waffen der conservativen Partei stumpf geworden.
Aber auch ein Gegner der materialistischen Weltan schauung muss zugeben , dass die geistige und moralische Entwickelung erst dort beginnt, wo die materiellen Schwierig keiten überwunden sind, und darf man es Niemand verargen, sich etwas mehr mit dieser als der anderen Welt zu be fassen .
Auf jeden Fall ist es für den Menschenfreund ein er freuliches Zeichen , dass von den beiden sich bis jetzt
gegenüberstehenden Parteien zugegeben wird : „ Es gibt ein sociales Problem ", wenngleich jede derselben dessen Lösung ganz anders versteht. Die Pessimisten wollen durch Aende rungen im gesellschaftlichen Organismus eine andere Ordnung
der Dinge, eine neue Gesellschaft schaffen. Die Optimisten oder Conservativen hingegen wollen durch kleine Mittel
die Gefahren für die bestehende gesell. schaftliche Ordnung beseitigen
das ist der Unter
schied .
Zahllos sind die Mittel und Vorschläge , die man da zu hören bekommt , was nicht überraschen kann, weil die menschliche Gesellschaft in einem steten Fortschreiten be
griffen ist , und alle ihre Institutionen einer ewigen Ver wenn änderung unterworfen , demzufolge aber immer nicht schon fehlerhaft sind – so nothwendig fehler haft werden müssen , eine Wahrheit , die leider nicht erkannt wird. Alles, was von unseren Institutionen gut ist, ist es nur relativ, für eine Spanne Zeit.
Daraus ergibt sich folgende, leider aber nicht genug ge
würdigte Schlussfolgerung, dass die radicalen Anschauungen zwar immer zu beherzigen sind , weil sie durch einen
Fehler im gesellschaftlichen Organismus hervorgerufen werden,
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aber nie a uszuführen , weil die Gesellschaft ein Organis mus und zwar der complicirtesten Art ist, der radicale Mittel nicht verträgt, und die einseitige Durchführung einer Massregel, wäre sie theoretisch noch so richtig, immer vom Uebel ist, wenn nicht der Entwickelungszustand des ganzen socialen Körpers damit harmonirt. Wie viel anerkannt gute Institutionen besitzt Europa, die in Asien derzeit undurch
führbar wären ! Es ist an unseren Eigenthums- und Credit verhältnissen, an der freien Concurrenz, an den Steuern, an der Ehe , an der Staatsform sehr Vieles auszusetzen , aber einfach aufheben kann man keine der angeführten In stitutionen , ohne das Uebel zu vergrössern. Die sociale Frage löst sich endlich von selbst und könnte
auch mit einem Schlage gelöst werden . Um die europäische Cultur- Entwickelung zu garantiren, bedarf es keiner besonderen Mittel ; für die ist gesorgt , die kann dauernd nicht mehr vernichtet werden ; was mit Bagdad, Athen und Rom geschah,
kann mit den europäischen Culturstädten nicht geschehen. Asiatische Horden bat Europa nicht zu fürchten , und vor dem inneren Verfall ist es durch die Buchdruckerkunst ge schützt.
Verderbliche Katastrophen aber , wie sie
in Frankreich erlebt wurden , sind möglich , aber auch vermeidlich . Aus der Kritik der wirthschaftlichen Vorurtheile hat
sich ergeben : erstens, dass in solange die Staaten als solche nur Schulden haben , es ihnen nicht
möglich ist , die Beseitigung der socialen Uebel in die Hand zu nehmen , oder gar an die radicale Lösung der Frage selbst zu denken ; zweitens , dass wenn umgekehrt ein Staat ein seinen sämmtlichen Bewohnern collectiv gehörendes Activvermögen von der beiläufigen Höhe der gegenwärtigen Staatsschuld hätte , das sociale Hellenbach , Vorurtheile. 1.
8
114
Die Lösung durch die Gesellschaft.
Problem , im Sinne der conservativen Partei so gleich , im Sinne der Socialisten sehr bald im
Wege der natürlichen Entwickelung gelöst würde. Wenn ich also den Kinderlosen sage, sie seien berufen, die sociale Frage zu lösen , so heisst dies allerdings nichts Anderes , als : sie haben die Mittel , eine Saat zu streuen , welche einen anderen Zustand der Dinge zwar sehr langsam , aber mit unwiderstehlicher Gewalt herbeiführen muss.
Es gibt Sätze, die, wenn einmal ausgesprochen, eigent lich eines Beweises nicht bedürfen.
Es müsste Jedem der
gewaltige Unterschied einleuchten, der zwischen einer Gesell
schaft besteht , welche etwa drei Viertheile ihrer Steuerlast unproductiven Zwecken widmet , und in welcher jeder ge borene Staatsbürger schon als Belasteter zur Welt kommt
und einer Gesellschaft, deren Einnahmen productiven Zwecken zugeführt werden, und wo jeder Angehörige der Gesellschaft nicht nur nicht belastet, sondern ausser der übernommenen Cultur noch Vortheile und Wohlthaten geniesst, welche die Frucht der Arbeit seiner Vorgänger sind, wie dies bei ein zelnen Begüterten der Fall ist. Der Staat, die Gesellschaft , schuldet gegenwärtig ein zelnen Individuen ; leider gibt es keinen Staat, wo das Ver hältniss umgekehrt wäre, und die Gesellschaft nicht nur in einzelnen Individuen, sondern als Körperschaft ein collectives,
gemeinschaftliches, grosses Vermögen bätte. Wir würden sonst die wunderbaren Wirkungen schon erlebt haben !
Wie soll auch eine Gesellschaft, welche die Production auf alle mögliche Weise direct und indirect, mitunter bis an
die äusserste Grenze der Productionsfähigkeit besteuert, ohne das Gleichgewicht zu erreichen , den Ertrag dieser Steuern für Verzinsung, für Armeen und Administration ver
ausgabt , wie soll ein solcher Staat für Spitäler, Arbeits und Versorgungshäuser, Schulen und so weiter jene Summen
115
Die Lösung durch die Gesellschaft.
verwenden können , welche einzig und allein den nöthigen
Schutz der gegenwärtigen und die Heranbildung der nächsten Generation gewährleisten können ? Und doch ist die Auf gabe der Gesellschaft damit noch nicht erschöpft. Das Bild unserer gegenwärtigen socialen Zustände wird um so trauriger, wenn man sich ein Bild von den gesellschaftlichen Garantien macht, welche ein Staat zu leisten im Stande wäre, wo nicht
das Individuum allein Capitalist und die Gesammtheit Schuldner ist , sondern umgekehrt die Gesammtheit den mächtigsten Capitalisten repräsentiren würde. Viele betrachten den Staat, die Gesammtheit , auch
jetzt als den grössten Capitalisten , weil er das Gesammt vermögen besteuert und die Steuer für gesellschaftliche Zwecke verwendet; doch abgesehen davon, dass es überhaupt
eine Illusion ist, im Steuerwege das Eigenthum zu Gunsten des Besitzlosen belasten zu können , so liegt gerade in
dieser Auffassung der Gesellschaft als des Capitalisten, der im Wege der Besteuerung für das Allgemeine aufkommen müsse , der grosse Irrthum der Socialisten und die grösste Gefahr für die Gesellschaft.
Die europäischen Staaten besitzen ein sehr kleines Collectivvermögen und eine ungeheure Staatsschuld. Die tiefe volkswirthschaftliche Bedeutung, welche die Umkehrung dieser Verhältnisse haben würde, und in welcher allein die Lösung der socialen Frage zu suchen ist , liegt auf der Hand .
Wären die Staatsschulden , dieses Krebsleiden im
socialen Körper, durch rationelle Investitionen entstanden, 80 müssten sie allerdings nicht diesen schädigenden Ein fluss haben ; so aber sind es zumeist Vorbereitungen und
Folgen des Krieges, welche den Löwenantheil an den europäischen Staatsschulden haben. Was hat Frankreich durch die Belastung von neuen 5000 Milliarden gewonnen ?
Einige Tausend Menschen haben neue Rechtstitel auf fremde 8*
Die Lösung durch die Gesellschaft.
116
Arbeit erhalten, wogegen allerdings nichts einzuwenden ist, aber schliesslich gibt es einen Indifferenz - Punkt, wo die freien Lebensprämien das mögliche Mass der Arbeitsbelastung überschreiten.
Es ist allerdings richtig , dass die Entwickelung sich durch allmälige Vertheuerung der Arbeit und Entwerthung
des Geldes hilft, aber wie viel Elend ist da im günstigen Falle nothwendig , bis das Gleichgewicht wiederhergestellt werden könnte , selbst vorausgesetzt, dass es durch neue Schulden nicht wieder gestört würde ?
Ist es da zu wundern, dass die Massen so wenig geneigt sind, das Bestehende zu erhalten ? Die heutige Gesellschaft
wird durch die Macht, die Gewalt zusammengehalten, dieser aber muss nothwendig das Interesse Aller an der gesell
schaftlichen Ordnung zugefügt werden , weil die Macht im gegebenen Augenblicke versagen kann. Die Gesellschaft muss unbedingt für ihre Mitglieder mehr leisten, und diese müssen auch vollkommener aufgeklärt sein über das hohe Interesse, das sie an dem Bestande derselben haben. Die europäischen Staaten sind heute nicht in der Lage, nur für die Bedürfnisse der Kranken, Waisen und Erwerbs unfähigen aufzukommen , noch viel weniger der Erziehung
die nöthige Sorgfalt zuzuwenden, und doch ist dies die Haupt sache. Der Mensch wird zu Allem und Jedem gedrillt. Blicken wir zurück auf die entschwundenen Zeitalter und
Vorurtheile, ja nur auf die verschiedenen religiösen und sittlichen Zustände der anderen Welttheile, und wir müssen
zugestehen , dass die Menschen eben das sind , zu was man sie macht.
Jede Gesellschaft hat eben die Zustände , die
sie verdient .
Wenn in den unteren Schichten Noth , Unwissenheit
und Rohheit herrscht, in den Volksvertretungen noch dazu Egoismus und Corruption , ist es da zu wundern , wenn
Die Lösung durch die Gesellschaft.
117
Gefahren für den Bestand der Gesellschaft hervortreten , die
man durch die Gewalt allein zu bannen vermag ? Die Staaten sind heute nicht in der Lage, selbst berechtigten Anfor derungen der besitzlosen Classen nachkommen zu können , geschweige denn , sich auf sociale Experimente einzulassen . Der gesunde Sinn meiner Leser wird dies zugeben und wird dieser Ansicht noch mehr beipflichten, wenn wir die zweite
Behauptung, dass sich die sociale Frage selbst löst, sobald der Staat, statt Schulden zu haben, Vermögen hätte, in Er wägung ziehen.
Wenn beispielsweise die Bevölkerung einer Stadt ein collectives, dem Einzelnen nicht zustehendes Vermögen hätte, welches nicht nur ausreichen würde, jedem Arbeitsunfähigen unter die Arme zu greifen, sondern die Bürgerschaft in den Stand setzte , noch über dies hinaus etwas für die Theil
nehmer der Staatsgemeinde thun zu können, was würde sie wohl unternehmen ?
Den Ueberschuss einfach vertheilen ?
Gewiss nicht.
Blosse Almosen sind eine gefährliche Sache. Die An regung zur Arbeit muss bleiben, wenn diese auch nicht durch
drückende Noth veranlasst sein soll; das Streben nach Ver . besserung der Existenz ist der richtige Impuls zur Arbeit, ohne diese letztere darf die erstere nicht eintreten.
Was
aber z . B. ohne Gefahr geschehen dürfte, das wäre die Garantie für die Unterkunft der arbeitenden , nichts besitzen den Classen. Man kann sich die Folgen, die eine derartige
grosse Arbeitercolonie in sanitärer, polizeilicher, wirthschaft licher und cultureller Beziehung nach sich ziehen würde,
leicht ausmalen ; ein einziger Vortheil ist allein schon durch schlagend, nämlich : die Ueberwachung , Verpflegung und der Unterricht der Kinder, mit einem Worte : die Heran
bildung der nächsten Generation , die leider bei den unzureichenden Mitteln der arbeitenden Classen SO leicht gefälırdet wird.
118
Die Lösung durch die Gesellschaft .
Wenn in einem Staate , ohne eigenes Verschulden, Niemand der Noth und dem Elende preisgegeben sein kann , wenn der Verwahrlosung der Kinder Einhalt gethan ist, so wird die Gesellschaft in allen ihren Mitgliedern nur Mit garanten der bestehenden Zustände und keine Feinde finden
können . Leider ist ein derartiger finanzieller Zustand nicht sobald zu erwarten , und sind es die besitzenden Classen allein , die durch eine richtige Auffassung der Verhältnisse und durch ein , ich möchte sagen , solidarisches Vorgehen einen derartigen Zustand mit Hilfe einer einzigen Massregel
zwar sehr langsam , aber mit unwiderstehlicher Gewalt her beiführen könnten und sollten.
Es ergibt sich von selbst, dass die Verpflichtung , sich der Interessen der Gattung anzunehmen , vor Allen den
Kinderlosen obliegt , denn die Eltern vergelten an ihren Nachkommen, was sie ihren Vorfahren schulden. Wer aber
die Last der Erziehung von Kindern nicht trägt , hat eine
Schuld an die Menschheit zu tilgen , und die sicherste und in ihren Folgen wohlthätigste Art und Weise der Wieder vergeltung ist, wenn er einen Bruchtbeil seines Ver
mögens in Form einer Stiftung für humanitäre Zwecke freiwillig hinterlässt. Ziffern weisen die Tragweite einer solchen Gepflogen heit schlagend nach .
Wenn wir annehmen , dass der zehnte *) Theil der Be völkerung ohne directe Nachkommen aus dem Leben scheidet, und wenn wir voraussetzen , dass dieses Zebntel die Hälfte
seines Vermögens der Gesammtheit in beliebiger Form hinter lässt, so ergibt dies unter Voraussetzung der dreissigjährigen Dauer einer Generation ungefähr den sechshundertsten Theil des Gesammtvermögens der Staatsbürger, welcher alljährlich in das Collectivvermögen der Gesammtheit überginge. *) Nach den mir vorliegenden Steuerdaten ist in Oesterreich der
siebente Theil ohne Nachkommen gestorben.
Die Lösung durch die Gesellschaft.
119
Die Höhe des Gesammtvermögens der österreichischen Monarchie ist auf 3300 Millionen Jahreseinkommen geschätzt :
doch wollen wir tiefer greifen. Der Werth eines Joches mit allen darauf liegenden Gebäuden, Industrien , Bahnen und sonstigen Werthen und Capitalien darf gewiss nicht unter 200 Gulden angenommen werden. Gibt es doch Joche, die Millionen werth sind , während andererseits nur
Gebirgswaldungen und unproductive Flächen weit unter 200 Gulden zu beziffern sind.
Die österreichische Mon
archie umfasst rund 12000 Q.-Meilen, das wären 120 Millionen Joche.*) Wollen wir daher das Gesammtvermögen der Mon
archie auf rund 24000 Millionen Gulden veranschlagen, welche Ziffer auch gegenüber den Staatseinnahmen, die ja doch nur
einen Bruchtheil der Gesammtrente repräsentiren können, gewiss nicht zu hoch gegriffen ist. Es ist von allen Lasten, aber auch von allen Capitalien abgesehen. Das ergäbe also ein jährliches Vermächtniss von circa 40 Millionen zu Gunsten Aller. So verschwindend klein nun die aus diesem Vermächt
nisse erwachsende Verzinsung von 2 Millionen gegenüber den Bedürfnissen der besitzlosen Classen auch im ersten
Augenblick erscheinen mag , so ist die Wirkung eine um
so grossartigere, wenn man sich die Zustände versinnlicht, die dadurch schon in hundert Jahren herbeigeführt würden ,
denn da würde das Collectivvermögen schon in die Tausende von Millionen betragen, da ja das Privatvermögen überhaupt und damit auch die Quote für das Collectivvermögen jähr
lich zunimmt. Darum ist es auch gleichgiltig, ob die obigen Ziffern in Bezug auf Vermögensmassen , Procentsatz der Kind erlusen oder Generationsdauer zu hoch oder zu niedrig
gegriffen sind , weil es nur einen geringen Unterschied in der Zeit ausmacht.
In der Antinomie , in dem Widerspruche des Eigen thums liegt das sociale Problem , welcher Widerspruch nur *) Ein Österreichisches Joch hat 1600 Q.-Klafter.
Die Lösung durch die Gesellschaft.
120
durch eine theilweise Expropriation, durch einen so veredelten Communismus, wie ich ihn voraussehe , langsam aber un widerstehlich gelöst wird , ohne das Princip des Eigenthums rechtes zu verletzen, im Gegentheile es für Alle zu verheiligen. Mit hoher Befriedigung , mit gerechtem Stolze würde die Menschheit schon nach einer Reihe von Jahren ausrufen
können : „ Von heute ab gibt es keinen Obdachlosen mehr,
keine Mutter ist gezwungen , die Erhaltung ihres Kindes mit ihrer Schande oder durch ein Verbrechen zu ermög. lichen . Niemand kann dem langsamen Hungertode er liegen u. 8. W.“
Es ist allerdings wahr , dass der Staat im Wege der Gesetzgebung dieses Ziel am besten erreichen könnte, wenn er die Gesammtheit in die Kindesrechte gegenüber den
Kinderlosen einsetzen würde , ich zweifle auch nicht , dass dies einmal geschehen wird, doch dem zukünftigen Minister, der alle humanitären Angelegenheiten , als da sind : Kranken-, Versorgungs- und Unterrichtsanstalten mit allen Stiftungen fern von anderen politischen und administrativen Fragen in Händen haben wird , muss durch Vermehrung des gesell schaftlichen Vermögens vorgearbeitet werden. Jeder, der keine Kinder hat, mag seine freie Zeit und sein freies Vermögen geniessen , wie er will , und für einzelne Zwecke oder Per sonen, die seinem Herzen aus was immer für einem Grunde nahestehen , sorgen wie es ihn beliebt, doch einen Theil seines Habens soll und muss er der Gesammtheit zum Opfer bringen.
Thut er dies, so hat er genug gethan, er war nicht umsonst auf der Welt , thut er es nicht, so hat er Wohlthaten em pfangen, die er nicht vergolten und er tritt mit dieser Schuld beladen aus der Welt.
Habe ich also , angesichts obiger Ziffern , nicht Recht, wenn ich sage : Die Kinderlosen seien berufen , die sociale Frage zu lösen ?
Die Lösung durch die Gesellschaft.
121
Es wäre zweifelsohne erspriesslicher, wenn derartige Le gate keine begrenzte Bestimmung ihrer Verwendung hätten, und ein derartiges allgemeines Vermögen bestünde. Aber wem wäre die Verwendung anzuvertrauen ? Dem jeweiligen Majoritätsminister gewiss nicht ; der Geistlichkeit noch weniger, Es bleibt also nichts übrig als die Bestimmung selbst zu
treffen , und die Verwaltung den Gemeinden zu übertragen . Die Gründung eines Vereines, dessen Mitglieder sich ver pflichten, im Falle des kinderlosen Ablebens einen namhaften Bruchtheil ihres Vermögens der Menschheit zu widmen und sicherzustellen , wäre eine edle , schöne Aufgabe des deut schen oder des Johanniter- Ordens , welche beide dazu in jeder Beziehung berufen und sehr geeignet wären , sowohl was die Gründung als auch Verwaltung anbelangt.
So
etwas wäre praktischer als die Spielerei der Freimaurer und Orden überhaupt. Das Kreuz auf der Brust solcher Ritter der Nächstenliebe hätte dann einen schönen Zweck und Sinn. Auch bemittelte Verheirathete könnten beitreten , nur müsste eine Summe Geldes in diesem Falle definitiv erlegt werden . Im Namen der Humanität hat die Genfer Convention
das rothe Kreuz gestiftet, das von allen civilisirten Nationen respectirt wird und zum Symbol der leidenden Menschheit wurde; man könnte ein ähnliches verwenden , und ihm , zu Ehren Fourier's, eine blaue Farbe geben ; denn nach dessen
phantastischer Weltanschauung ist blau die Farbe der Liebe und roth die der Ambition. Wer weiss, ob so ein Talisman nicht geeignet wäre , den Träger in einem gegebenen Momente vor Volkswuth zu schützen ! Ein solcher Ritter der Nächstenliebe würde es jedenfalls verdienen , ein Gegen stand der Achtung Aller und insbesondere der Besitzlosen zu sein , die er mit Hülfe seiner Ordensbrüder aus der
thierischen Versumpfung zu einem menschenwürdigen Dasein im Laufe der Zeiten zu erheben strebt.
Die Lösung durch die Gesellscbatt.
122
Die Verpflichtung, irgend welche Procente seines Ver. mögens den Vereinszwecken für den Fall zu hinterlassen, dass man kinderlos sterben sollte, ist wahrlich keine drückende; mit dem ersten Legate würde die Thätigkeit des Vereines
beginnen, welchem die Verwaltung des Capitales und die Ver wendung der Zinsen obliegen wiirde , in wieweit bezüglich der letzteren keine besondere Verfügung des Erblassers vor
liegt. Dieser Verein würde in wenigen Jahren nach Beginn
siener praktischen Thätigkeit bedeutend zunehmen , sowohl in Bezug auf die Zahl der Theilnehmer , als Grösse der Mittel, und würde nach und nach die Staatsgewalt
in dies e Bahnen hinein zichen, die zur Synthese der Gegensätze und dadurch zur Erlösung der leidenden Mensch
heit führt. Es handelt sich hier nicht um die Erlösung der Menschheit im philosophischen Sinne, etwa vom biologischen Process, sondern um Erlösung jenes Theiles der Menschheit, dem selbst die bescheidensten Bedingungen der Entwicklung und des Kampfes ums Dasein in menschenwürdiger Weise fehlen .
Kein Moral-Princip hat eine grössere Macht geübt, als das der angenommenen Sitte ; was für Greuel und Lächerlichkeiten wurden dadurch nicht sanctionirt ! Ist es
einmal angenommen, dass ein anständiger Mensch, der keine Nachkommen hat , einen Theil seines Vermögens für das öffentliche Wohl auf dauernde Weise stiften soll, so ist die letzte Schlacht im brutalen Kampfe ums Dasein ge wonnen und zwar zu Gunsten der leidenden Menschheit.
Der Kampf ums bessere Dasein wird zwar immer dauern ,
aber er wird menschenwürdiger geführt werden. Unlängst starb ein Ritter eines solchen halbgeistlichen
Ordens und hinterliess sein Vermögen einem , seinen Namen tragenden entfernten reichen Verwandten , den er kaum kannte. Warum that er das ? Weil es Sitte ist ; herrschte
eine andere Gepflogenheit, so hätte er anders verfügt, und für
Die Lösung durch die Gesellschaft.
123
seinen entfernten Verwandten wäre es so ziemlich gleich giltig gewesen , ob er statt 200.000 Gulden nur 150.000 Gul den geerbt hätte .
Das , was ich als vorbereitende und humane Massregel vorschlage, ist nichts als ein Sicherbeitsventil, um die sociale Maschine langsam aber sicher und ohne gewaltige Erschütte rungen dem unvermeidlichen Ziele zuzuführen. Ich glaube nicht , dass Jemand Geschmack an den Greueln und der
Verwilderung der französischen Schreckensregierungen des vorigen Jahrhunderts und der neuesten Zeit finden kann, und
der nicht aus Menschenliebe seine Gleichgiltigkeit für die socialen Leiden aufgibt, sollte es im wohlverstandenen eigenen Interesse thup. Ludwig XV. und seinem Zeitalter ist es aller
dings gelungen der Katastrophe zu entgehen, und die nächste Generation zu opfern , wir aber können nicht wissen , wer oder vielmehr welche Generation der schwarze Peter wird,
und müssen daher bei Zeiten Vorkehrungen treffen, um den Krankheitsstoff und die Berechtigung zu solchen Katastrophen zu beseitigen.
Das , was ich von den Kinderlosen begehre , hat vor läufig weder mit Politik noch Wissenschaft zu thun , ich fordere nur die obligate Löschung einer bei den verschwundenen Generationen contrahirten Schuld , die zu Gunsten der kommenden Generationen deponirt wird, und wer unter meinen Lesern hat Garantien dafür, dass er an dem Schicksale der kommenden Geschlechter kein Interesse habe ? !
Die Formel der Lösung durch den Staat hatte gelautet: Einsetzung der Gesammtheit in Kindesrechte für den Todes fall kinderloser Eigenthümer; die Lösung durch die Gesell schaft lautet : Wenn du keine Kinder hast , so ver
füge mit einem Bruchtheil deines Vermögens zu Gunsten der Gesammtheit , und bezahle dadurch die Opfer deiner Vorfahren .
Die Lösung durch die Gesellschaft.
124
Materiell ist zwischen den beiden Formeln kein Unter
schied, nur dass die eine einen gesetzlichen Zwang hat, die andere nur auf humanitären und moralischen Motiven beruht
und dass die Lösung durch die Gesellschaft dem Erblasser die Sorge für die geeignete Verwendung auferlegt. Dass die Sorge für hilflose Kinder den ersten Platz unter den mög lichen Bestimmungen einnimmt, ist selbstverständlich. Schon Kant sagt mit Rücksicht auf die Kinder uncivilisirter
Völker in seiner Anthropologie, „ dass mit dem Menschen als Naturproduct nicht sehr zu prahlen sei.“ Wir geniessen die Früchte physischer und geistiger Arbeit, zahlloser Leiden und heroischer Aufopferung ver gangener Geschlechter – Niemand darf sich daher der Ver
pflichtung entschlagen , für die Nachkommen Opfer zu bringen , und ich stelle noch einmal die Frage an meine Mitmenschen : ,,Habt Ihr Garantien, dass der Zustand der
künftigen Generationen für Euch gleichgiltig sei ? “ Das vierte Buch, welches sich mit den religiösen und wissenschaftlichen
Vorurtheilen beschäftigen wird , soll uns auf diese Frage zurückbringen .
VI. Capitel.
Das Recht der Staatsgewalt und die landwirth schaftliche Production . Nutzwerth and Tauschwerth. Recht des Staates.
Das Besteuerungs- und Expropriations Der Schutz des Eigenthumsrechtes.
Wenngleich jede Bevormundung der Entwicklung in der Regel vom Uebel ist, und eigentlich nur die Beseitigung der
Hindernisse der Entwicklung Aufgabe der Staatsgewalt sein soll , 80 gibt es doch Industrien und Gewerbe , auf welche der Staat Einfluss nimmt und Einfluss nehmen muss. Der
Handel mit Brod, Fleisch, Arzneimitteln unterliegt besonderen Bestimmungen, und kann es keinem Zweifel unterzogen wer den , dass die landwirthschaftliche Production für die Gesell schaft zu wichtig ist, um das ausgezeichnete Werkzeug, was der Boden doch ist , unfähigen Händen zu überlassen. Es liegt im Interesse der Gesellschaft, dass nur derjenige den Boden bearbeite , der es am besten versteht. Im Wege der freien Concurrenz und Capitalsanlage geschieht dies zwar zum Theile ohnebin, bei dem conservativen Sinne der Grund eigenthümer aber bei weitem nicht in jenem Grade , als zu wünschen wäre.
126 Das Recht der Staatsgewalt u. d. landwirthschaftl. Production.
Es gibt nun eine Massregel , die sowohl diesem Um -stande Rechnung zu tragen , als noch zwei anderen Uebel
ständen abzuhelfen im Stande wäre; diese zwei Uebelstände
sind : ungleiche Vertheilung und kostspielige Eintreibung der Steuer. Trotz der Eintheilung in verschiedene Classen ist es
rein unmöglich, die durch Lage, Verhältnisse und Zusammen hang wesentlich beeinflusste Bodenrente richtig zu schätzen, wodurch die geringste Steuer-Erhöhung für Einzelne uner träglich wird, während sie bei wahrhaft gleicher Besteuerung sich gleichmässig auf Consumenten und Producenten ver theilt .
Die gegenwärtige Einhebungsweise ist einseitig, weil sie
lediglich nur den Nutzwerth berücksichtigt, welcher sich nur unvollkommen bestimmen lässt. Besitzt Jemand ein Gut, von ganz gleicher Bodenbeschaffenheit als irgend ein anderes, welches andere aber in Bezug auf Weide, Wege, Entfernung der Stadt, der Wiesen, des Waldes und in Bezug auf Quantität oder Qualität des Wassers, Häufigkeit der Gewitter u. 8. W.,
minder günstiger situirt ist, so sind dies Zufälligkeiten, auf welche der Steuer-Kataster theils gar keine, theils nur ge ringe Rücksicht nehmen kann. Der Besitzer eines solchen
Gutes wird nahezu dieselbe Steuer zahlen , wie der Eigen thümer eines gleich grossen , aber in Bezug auf diese Ver hältnisse vortheilhafter gelegenen Gutes.
Die jetzige Steuerbemessung ist aber nicht nur eine
Ungerechtigkeit, sondern derart complicirt, dass durch Steuer Aemter, Control-Behörden und Buchhaltungen die Finanz Auslagen in allen Staaten den grössten Posten der Verwal tung bilden.
Alle diese Uebelstände wären gehoben, wenn die Steuer bemessung auf den Tausch werth begündet würde, in welchem der Nutzwerth - bei Grund und Boden wenigstens — immer
Das Recht der Staatsgewalt u. d. landwirthschafil. Production. 127 enthalten ist. Es kann ein Gut immerhin einen durch seine
Annehmlichkeiten grossen Tauschwerth erhalten, doch nicht unter den Nutzwerth im Falle eines Verkaufes sinken . Die Steuer ist unter allen Umständen ein erster Ein
griff in das Eigenthumsrecht, aber auch der Impuls , oder
richtiger gesagt , das Zwangsmittel , das von Seite des Staates zum Zwecke einer erhöhten Thätigkeit des Land
wirthes angewendet wird , wenn auch nur die Staats Bedürfnisse das leitende Motiv bilden.
Die Expropriation zu Gunsten der Eisenbahnen , der öffentlichen Bauten und Bergwerke ist die zweite Beschrän
kung des Eigenthumsrechtes; beide Massregeln, nämlich das Princip der Steuer und das der Expropriation , beweisen, dass das Interesse des Einzelnen dem Interesse des Gemein
wesens unter Umständen aufgeopfert wird. Da das Vermögen den Schutz des Staates für sich in Anspruch nimmt, so ist es nicht mehr als billig, dass es im Verhältnisse zu seiner Grösse für die Staatsauslagen aufkomme ; da ferner ein Kohlenlager eine Wohlthat oft für das ganze
Land ist , so darf die geringe Intelligenz oder der geringe Unternehmungs-Geist des Eigenthümers kein Hinderniss für die Erschliessung dieser Schätze sein. Wer kann an der
zunehmenden Erweiterung des allgemeinen Expropriations und Besteuerungs -Rechtes zweifeln ? Es hat noch vor Kurzem Staaten in Europa gegeben, wo der Bau einer Strasse durch den Willen eines Einzelnen verbindert werden konnte, während gegenwärtig die unterirdischen Schätze schon das Eigenthum
des ersten Besitzergreifers sind , dem dieses Recht wieder genommen wird, wenn er es nicht benützt. Nur in Ungarn herrscht zum Theil noch das Princip „ usque ad inferos !“ Wenn
die landwirthschaftliche Production die
Basis jeder weiteren menschlichen Entwicklung ist , wenn ihre Wichtigkeit im geraden Verhältnisse zur Bevölkerungs zunahme steht, so ist vorauszusetzen , dass des Staat ebenso
128 Das Recht der Staatsgewalt u . d . landwirthschaftl, Production.
zur Beaufsichtigung der Production schreiten wird, als er im
Interesse der Gesellschaft auf Apotheker und Fleischhauer einen grösseren Einfluss übt, als auf Schneider und Schuster.
Lassalle hat Recht, wenn er sagt: „ Es lässt sich eben so wenig ein solcher Pflock in den Rechtsboden treiben , als sich ein Pflock in den Erdboden treiben und verlangen lässt, dass dieser selbst dann noch an seiner Stelle bleibe, wenn
sich das ganze Erdreich , in dem er haftet , in Bewegung setzt. “
Es entsteht nun die Frage : wie soll die Beeinflussung der Production durch den Staat bewerkstelligt werden ? Es unterliegt keinem Zweifel, dass alle directen Steuern,
wie es in England bereits der Fall ist , lediglich das Ein kommen ohne Rücksicht auf dessen Ursprung zur Basis haben werden, und dass die Privilegien, wie sie gegenwärtig für das mobile Capital in den meisten Staaten bestehen, aufgehoben werden müssen.
Wenn nun der Eigenthümer A eines Gutes , statt der
Rente den Tauschwerth fatirt, und irgend ein Capitalist B glaubt, dass er einen höheren Ertrag erzielen würde, demgemäss der Capitalist B das Recht hätte, dem Eigenthümer A das ent sprechende Capital auszubezahlen , d. h . wenn B den A im
Interesse der Gesammtheit expropriiren könnte, so wäre das zwar ein grosser Vortheil für den Aufschwung der Pro duction, ein richtiger Steuer-Schlüssel, eine grosse Ersparniss in der Administration , aber - ein empfindlicher Eingriff in das Eigenthumsrecht.
Wer Eigenthümer von Grund und Boden ist , weiss, wie man die Scholle liebt, die man bebaut, den Garten, den
man pflanzt , die Räume , an die sich schöne Erinnerungen knüpfen, die oft tief in die Jahrhunderte zurückgreifen. Es liegt in diesen Dingen ein Werth, der keinen Rentenertrag abwirft; doch wenn das Allgemeine dem Besonderen ,1 der
Staat dem individuellen Eigenthümer eine Concession macht,
Das Recht der Staatsgewalt u.d. landwirthschaftl. Production . 129
und umgekehrt eine erhält , so liesse sich doch etwas auf diesem Wege erzielen .
Ich will eine Methode in Anregung bringen , die dem Zwecke entspricht, ohne das Eigenthumsrecht auf gröbliche Weise zu verletzen .
Machen wir vorläufig einen Unterschied zwischen dem
abgerissenen Stück Feld , Wiese oder Wald , was nichts Anderes ist als, ein Arbeitswerkzeug, und jenem geschlossenen Körper, auf welchem sich die Wohnung oder Ansiedelung befindet. Es sei der geschätzte Werth eines Gutes = x fl. Nehmen wir an, dass B für ein Object der ersten Art, näm
lich für eine einzelne Parcelle, sei sie nun gross oder klein , das Capital von 2 x fl., und für eines der zweiten Art, näm
lich für einen mit einer Ansiedlung versehenen Complex, das
Capital von 3 x fl. an den Eigenthümer A und selbstver ständlich die diesem höher geschätzten Werthe entsprechende
Steuer - Quote an den Staat zu zahlen habe, um zur Ex propriation schreiten zu können, so wäre für das Eigenthums
recht und die Production Spielraum genug. Die Bekennt nisse des Eigenthümers werden sich nicht nach dem Rein ertrage, d. h nach dem Nutzwerthe allein, sondern auch nach der Möglichkeit der Expropriation, d. i. nach dem Tausch werthe, also durch Combination beider — nach dem wahren Werthe richten .
Ist dem A ein Grundstück entlegen , oder bewirthschaftet er es schlecht oder aber verkürzt er durch ein zu niedriges Einkommen - Bekenntniss zu sehr die Gesammtheit, so kann
er für den doppelten Betrag des von ihm einbekannten
Capital-Werthes durch B expropriirt werden, und es über geht das Eigenthum des A in begünstigtere , intelligentere
oder ebrlichere Hände. Was aber das Voluptuare anbelangt, so ist es zwar in der Ordnung , dass der Luxus besteuert
werde , aber auch nothwendig, dass der Eigenthümer durch ein grösseres Expropriations - Capital geschützt sei. Jenes Helleabach, Vorurtheile . 1.
9
130 Das Recht der Staatsgewalt u. d. landwirthschaftl Production. rein subjective und ideelle Praetium affectionis, welches einem bestimmten Eigenthume nur für eine bestimmte Person anklebt, lockt Niemand an , und wird nicht bezahlt , wohl aber der
Comfort, die Ausstattung sowohldurch Naturals Kunst. Wenn man aber annimmt , dass der Staat 20 Procent des Ein kommens für Staatszwecke einhebt , und der Zinsfuss fünf procentig ist, so repräsentirt jeder Steuergulden für die Ex
propriation einer Parcelle mit Ansiedlung 300 Gulden, ohne Ansiedlung 200 Gulden Expropriations-Capital; wenn dem nach z. B. ein schönes Schloss in einer reizenden Gegend mit geschlossenem Grund - Complexe , der 50.000 fl. Rente abwirft und auch dem entsprechend mit einer Million ein
bekannt ist , Liebhaber findet, so würde es eines Capitales von 3.000.000 Gulden zur Expropriation bedürfen , und überdies müsste der neue Eigenthümer die dreifache Steuer
wenigstens durch eine längere Reihe von Jahren zahlen, bevor er mit der Werthangabe heruntergehen darf. Mit jedem 1000 Gulden an Steuern nimmt das Expropriations Capital um 300.000 Gulden zu ; damit wäre der muth
willigen Vertreibung der Zügel angelegt , und der durch Gewohnheit und Erinnerung veranlassten Liebe zu einem bestimmten Aufenthalte jede mögliche Rechnung getragen ; aber der Ehrlichkeit in Bezug auf Vermögensangabe, ferner der Production namentlich unbewohnter Liegenschaften
würde dadurch kräftig unter die Arme gegriffen, die schlecht benützten Flächen würden verschwinden , die Steuer-Quote
würde fallen , und das Staats-Einkommen dennoch steigen. Ein anderer Vortheil wäre die richtige A brundung der
Besitze ; man gehe noch Ungarn und lerne den Auf schwung kennen , der durch die Commassation erzielt wurde. Es ist hierbei zu bemerken , dass je höher die Fassion sämmtlicher Werthe ist , desto tiefer der Pro
centsatz der Steuereinhebung wird, und da sich die Werth angaben nothwendig steigern werden , so muss jeder ge
Das Recht der Staatsgewalt u . d. landwirthschaftl. Production . 131
zahlte Steuergulden eine noch höhere Sicherheits - Prämie repräsentiren . Die Gesammtheit hat ein Interesse an der erhöhten Production und an der gerechten Steuervertheilung; von
diesem Standpunkte lässt eine solche Expropriation von Staatswegen nichts zu wünschen übrig ; doch auch für den
Eigenthümer ist sie durchaus nicht so radicaler Natur, als es im ersten Augenblicke scheint, sondern von vielen Vortheilen begleitet.
Es könnte vielleicht die Befürchtung Platz greifen, dass durch diese Massregel der Boden sich in wenigen Händen concentriren werde, doch ist dies falsch
Die Expropriation eines Feldes , das der Eigenthümer nicht gern verkauft, ist viel zu theuer , um ohne schwer wiegende Gründe nicht zu unterbleiben , sie zieht sich aber immer selbst Grenzen. Der das Land kennt, der weiss, dass der fleissige Bauer eben so oft den liederlichen und verkom
menen grösseren Grundherrn expropriirt, als umgekehrt. In der Nähe der Städte ist die Zerstückelung unvermeidlich , in gebirgigen Gegenden entscheidet immer die Lage , und nur in der Ebene ist die Tendenz der Zusammenlegung vor
herrschend, aber auch diese hat ihre Grenze. Der Gross grundbesitz kann ohne einen Bauernstand nicht leben, daher hat er ihn auch überall geschaffen , wo er ihn nicht vorfand, und noch heute sieht man die grösseren Besitzer Colonisten mit Eigenthumsrechten anlegen . Die kleineren englischen Pächter können mit Taglöhnern arbeiten , nicht aber der wahre Producent der in kurzen Zeiträumen eine massen
hafte Bevölkerung braucht, die ihm nur ganze Ortschaften liefern können.
In der Betreibung der ungarischen Wirthschaften herrscht eine Art Socialismus, der der Ausbildung fähig ist.
Trotz allen Maschinen wird die Ernte im Antheile
besorgt, nicht minder das Dreschen, und wo die Bevölkerung 9*
132 Das Recht der Staatsgewalt a. d. landwirthschaftl. Prod uction. der Umgebung nicht ausreicht, kommen aus mehr bevölkerten
Gegenden ganze Schwärme, die wegen Mangel an grösseren Wirthschaften zu Hause nicht genug verdienen . Jeder Grund besitzer ist gezwungen, auf die Bedürfnisse seiner Umgebung an Holz , Weide u. 8. w. Rücksicht zu nehmen , und um
gekehrt, muss aus denselben Gründen der Bauer auf die Wünsche seines grossen Nachbars ebenfalls Rücksicht nehmen ; es kann Einer ohne den Andern nicht leben . Die Productiv
Association ist nirgends so leicht durchzuführen, als bei der Landwirthschaft, aber wahrlich weder durch Communismus,
noch durch Zerstückelung des Bodens, dessen Form sich den jeweiligen Umständen anpassen muss ; nur die freie Be wegung kann der Entwickelung die richtige Bahn brechen.
Der Boden ist ein Arbeitswerkzeug , das nur derjenige haben soll , der es gut benützt ; das nun wird dadurch erreicht, ohne einen störenden Eingriff in das Eigenthums recht zu machen .
Zur Zeit der Plantagenets hatte England wenige Grund besitzer, die sich zu Adam Smith's Zeiten an Zahl ver mehrt hatten, dann zurückgingen und in neuester Zeit durch
den Rückgang der Pachtungen wahrscheinlich wieder zu nehmen werden. Eben so regulirt sich auch die Grösse der Güter von selbst.
Wenn wir die Nähe der Städte und die
Gebirgsgegenden ausnehmen , die eine ganz verschiedene Bewegung diesbezüglich haben , so müsste man annehmen , dass in der Ebene eine Wirthschaft um so mehr verhältniss
mässig rentire , als sie grösser ist , wegen Ersparniss an Arbeitskraft und Inventar, wegen der grösseren Intelligenz und Betriebsmittel der Besitzer. Bis zu einer gewissen Grenze ist dies auch der Fall ; die zu grosse Ausdehnung geht aber dann wieder in Arbeitsverlust über, besonders durch die Düngerfuhren und den Bedarf des Arbeiter- und Bauern
standes – die Ungleichartigkeit ist einmal die Bedingung jeder Enwickelung. Alle diese Verhältnisse werden durch
Das Recht der Staatsgewalt u. d . landwirthschaftl. Produotion. 133 die Besteuerung des Tauschwerthes und das Recht der Expro
priation unter obigen Bedingungen nur wohlthätig beeinflusst werden .
Die Schätzung eines Einkommens unter dem Damokles Schwerte einer Expropriation wird eine gerechte und billige Steuer- Repartition nach sich ziehen.
Die dadurch weit
grössere Summe des einbekannten Vermögens wird die Steuer- Quote herabsetzen , und wird daher derjenige Eigen thümer, welcher mehr fatirt, darum nicht nothwendig mehr Steuer zahlen, als er gegenwärtig zahlt, weil die gesammte Fassions-Summe grösser wird . So mancher Grundbesitzer hat ein Gut (oder Gutsbe
standtheile ), das aus was für immer Gründen, die in den Ver hältnissen liegen , nicht jenen Werth hat, als es dem Steuer ausmasse nach haben sollte ; er taxirt es so tief als mög
lich , jedenfalls aber mit Berücksichtigung der eventuellen Expropriation. Die Speculation, der wir bei so vielen Lastern und Uebeln , die sie veranlasst , doch auch etwas Gutes zu danken haben , wird sich mit dem gewohnten Unternehmungs
geiste dieser neuen Capitals-Anlage bemächtigen und unge
schickten, überdrüssigen oder betrügerischen, den Staat und die Gesellschaft verkürzenden Landwirthen und Fabrikanten
die Bürde abnehmen ; die Gesellschaft wird durch das höhere
Einkommen-Bekenntniss und die erhöhte Production jeden falls gewinnen. Der Fall einer ungerechten Besteuerung könnte gar nicht vorkommen , indem jeder Besitzer in der Fassion seines Eigenthumes bis auf die Grenze des reich lichen Tauschwerthes ginge . Nehmen wir den entgegengesetzten Fall an. Ein Aristo krat hat einen sein Schloss und seinen Park umgebenden
Besitz , den er selbst unter den günstigsten Bedingungen
nicht veräussern würde. Ich frage, ist es billig , dass sein Nachbar, der einen Besitz von gleichem Rentenwerthe, aber verschiedenem Tauschwerthe hat, dessen Schloss und Volup
134 Das Recht der Staatsgewalt u. d . landwirthschaftl. Production.
tuar keinen solchen Werth repräsentirt, weil eine solche Menge Geldes darauf nicht verwendet wurde – ich frage, ist es billig , dass diese beiden Besitzer gleiche Steuern zahlen ? – Die Vorfahren des einen Besitzers haben Millionen
todt gemacht, um einen Feenaufenthalt zu stiften, während die Anderen Steuer -Objecte geschaffen haben ; spricht dieser Umstand etwa gegen die höhere Besteuerung ? Es wäre eine eben so grosse Ungerechtigkeit, den schönen Wohnsitz nach dem Kostenpreise zu besteuern, als lediglich den Nutzwerth zu berücksichtigen. Wenn man Millionen hinauswirft , so
kommeu sie allerdings in andere Hände und gehen nicht ver loren ; aber die Erzeugung entbehrlicher Artikel findet ihre Grenze, wenn die der unentbehrlichen darunter leidet ; auch kann nur ein Kurzsichtiger den Werth und die Macht des Capitales nicht anerkennen, dessen Verwendung nicht gleich gültig sei.
Wir wissen , dass der Werth sich aus dem Tauschwerthe unbesch : det der Carey'schen Werth Definition, die dann nur auf die ersparte statt verwendete und Nutzwerthe
Arbeit zu übertragen wäre – zusammensetzt, und dass nur die
Verbindung beider den wahren Werth bildet ; es ist daher selbstverständlich, dass eine Besteuerung, die den Tauschwertlı ganz ignorirt, mangelhaft sein muss .
Es ist auch selbstverständlich , dass es sich hier nicht um das Détail einer gesetzlichen Bestimmung handelt, welche auf verschiedene Weise formulirt werden kann, sondern um ein Princip
Jedes Ding hat seinen Werth , den der Eigenthümer am besten zu schätzen weiss ; er wird nicht zu hoch greifen , weil er sonst zu viel Steuer zablen müsste ; er kann den Staat aber auch nicht betrügen, sonst wird er expropriirt. Die
Höhe der Procente, um welche der Expropriirende mehr zahlen muss , sowohl an Capital als Steuern, bildet den grösseren oder geringere a Schutz , den
Das Recht der Staatsgewalt u. d. landwirtschaftl. Production. 135 man dem Eigenthumegewähren will. Julius Fröbel
geht in seinen Gesichtspunkten der Politik " ebenfalls von dem Standpunkte aus, dass der Boden nur derzeit und vor
übergehend die Natur des unbeschränkten Privat-Eigenthumes haben könne , und dass der ihm gegenwärtig gewährte Rechtsschutz „ nur als eine Massregel vorübergehender Zweckmässigkeit betrachtet werden kann . “ Der Raum ist ein beschränkter , und es kann unmöglich dem Belieben einer kleinen Zahl von Eigenthümern überlassen werden, wie viel Menschen sie eventuell auf der Erde dulden
wollen .
Er führt sieben Punkte an , durch die das Privat
Eigenthumsrecht aufgehoben wird : 1. Communications zwecke ; 2. Communalzwecke ; 3. Befestigungen ; 4. Wasser bauten ; 5. Klimatische Ursachen ; 6. Montan-Production ; 7. Zu Gunsten einer den gesellschaftlichen Bedürfnissen
entsprechenden Vertheilung der Bevölkerung, Stadterweiter uug u. s. w. Von seinem Standpunkte aus hätte er ohne weiters auch einen achten Punkt hinzufügen können , zu Gunsten einer nachhaltigen Mehrerzeugung
von Nalrungsmitteln und Steigerung der Staats einnahmen .
Das ist dasjenige, was durch die Ein
hebung der Steuer vom Tausch werthe unter Schätzung und Expropriations-Berechtigung erzielt wird , ganz abgesehen von der Billigkeit der Eintreibung und Gleichmässigkeit der Vertheilung der Staatserfordernisse. Das Eigenthum für unantastbar zu halten , ist ein altes Vorurtheil der Conservativen ; es einfach als Staats -Eigenthum zu erklären , ein angehendes Vorurtheil der Social - Demokraten , und nicht nur
eine Ungerechtigkeit , sondern ein ökonomischer Missgriff. Nur die volle Freiheit, Boden zu erwerben und zu be
haupten, natürlich unter den obigen Einschränkungen, kann der Entwickelung förderlich sein. Lange hat ganz Recht, wenn er behauptet, dass in England die Forderung bald
136 Das Recht der Staatsgewalt u. d . landwirthschaftl. Production .
auftauchen könnte, dass der Erdboden ' überhaupt nicht Gegenstand des Privat- Eigenthums sein könne , sondern der Gesammtheit angehören und von ihr Demjenigen zur Nutzung gegen Entgelt übergeben werden müsse , welcher ihn am besten und mit dem besten Erfolge für die Gesammt heit bebauen könne.“ (Arbeiter-Frage Seite 297.) Das zu erreichen , gibt es wahrlich kein anderes Mittel, als die freie Concurrenz im Wege der Fassion und des auf diese gebauten
Expropriationsrechtes unter selbstverständlicher Vermittlung des Staates. Ein Jeder weiss, was ihm bevorsteht, und kann den Preis nach Belieben stellen, muss aber davon die Steuer zahlen .
Diese Massregel käme ebenso wenig als die Regulation des Erbrechtes mit den Fideicommis- oder sonstigen Stif
tungen in Conflikt. Die Ablösungssumme nimmt den Charakter des Fideicommisses an ; die Erbsteuer wird von den lachenden Fideicommisserben abgezahlt, wie eine andere Schuld seines
Vorgängers. Die zwei wesentlichsten Hebel zur Beseitigung des socialen Uebels können daher in Bewegung gesetzt werden, ohne irgend ein Recht zu kränken. Die Vortheile dieser Massregel für den socialen Körper bestünden also :
1. in der Einfachheit der Steuer-Einhebung,
2. in der Gerechtigkeit der Lasten - Vertheilung und 3. in der Hebung der Production , weil nicht nur die
Arbeit, sondern auch das Arbeits-Werkzeug einer Con currenz unterzogen wird ; wir haben dann, um es mit einem
Worte auszudrücken, den ehrlichen, loyalen Kampf ums Da sein, ohne Jemand zu opfern. Es ist das die Synthese der
zwei Gegensätze ; die eine Partei behauptet , dass sie mit ihrem Eigenthume machen könne , was sie will; die Andere glaubt, den Grundbesitz einfach als Staats-Eigenthum erklären zu können : die Wahrheit liegt eben in der Mitte, wie das
so gewöhnlich der Fall zu sein pflegt.
Das Recht der Staatsgewalt u. d. landwirthschaft). Production. 137
Die Doctrinen , wie sie Marx und seine Gesinnungs
genossen lehren , sind nur geeignet , Greuelscenen hervor zurufen , können aber nie ein praktisches Resultat haben, der Bauer gibt seinen Boden nicht her , wenn der Staat zu einer allgemeinen Expropriation schreiten würde, und die Landbewohner haben das physische und moralische Ueber
gewicht. Marx kennt die agrarischen Verhältnisse nicht ; die successive Expropriation aber durchzuführen , wie ich es vorschlage, hat keine Schwierigkeit. Die Fassions - Steuer gibt dem Boden die richtige Form und Behandlung ; die Erbsteuer zieht dem Privat Capital die gebührenden Schranken, die eine und die andere aber kann ohne gewaltsamen Eingriff in bestehende Ver hältnisse durchgeführt werden, und dennoch den berechtig
ten Anforderungen der Social-Demokraten genügen , da durch aber gleichzeitig diesen die Waffen aus den Händen reissen , mit welchen sie das conservative Element be
kämpfen. Wenn dieses hingegen die Hände in den Schoos legt, so darf es nicht überraschen , wenn ihm der Socialis mus über den Kopf wächst und auch seinerseits den
billigen Anforderungen nicht entspricht!
1
VII. Capitel.
Die Frage der Uebervölkerung . Die Präventivmittel gegen zu grosse Der biologische Prozess. Fruchtbarkeit. Die Repressivmittel gegen Uebervölkerung. -
Da es durchaus nicht zu den Unmöglichkeiten gehört, von irgend einem Anhänger der Malthus'schen Theorie den Einwurf zu vernehmen , dass durch ein zu grosses Wohl befinden der arbeitenden Classe der Vermehrung der Menschen zu viel Vorschub geleistet würde, so ist es nothwendig die
Frage der Uebervölkerung einer besonderen Betrachtung zu unterziehen .
Die Erhaltung der Kraft und die Gleichwerthigkeit der Kräfte sind Erscheinungen , die immer mehr in der Natur nachgewiesen werden. Wir finden auch überall Gegensätze, die sich gleichsam das Gegengewicht halten , und die Be wegung um so excentrischer machen , je schroffer sie sich
gegenüber stehen . Sollte nun für die Bevölkerungsmenge kein anderer Regulator existiren ,
als die Malthus'sche
Vernichtung ? Lange sagt (Seite 194 über Mill) : „ Das Malthus'sche Gespenst droht uns noch nicht mit dem Untergange der Menschheit, wohl aber, wenn wir es nicht zeitig beachten,
mit dem Untergange der europäischen Cultur oder mit einer
Die Frage der Uebervölkerung.
139
Regeneration durch die furchtbarste Social-Revolution. Und auch mit dieser Alternative droht das Malthus'sche Gespenst bisher nur von ferne. Wir brauchen es nicht zu fürchten, wenn wir unverdrossen Hand legen an die sociale Reform . Der Be
griff der Uebervölkerung ist für unsere Verhältnisse nur ein relativer. Dieselbe Bevölkerungszahl auf demselben Boden kann sich noch immer durch veränderte Verwendung ihrer
Arbeitskraft, der geistigen , wie der physischen , vergleichs weise höchst glückliche Verhältnisse schaffen und trotz eines gesteigerten
Bevölkerungszuwachses vielleicht auf Jahr
hunderte hinaus erhalten .“
Lange schlägt sehr viele seiner eigenen Behauptungen durch diesen Satz zu Boden, aber es ist eine Wahrheit, dass die Menge der Bevölkerung nicht Schuld ist, und noch lange nicht Schuld sein kann an dem, was man das sociale Uebel nennt.
Wenn wir auch früher nachgewiesen baben , dass die Menschheit derzeit noch nicht berechtigt ist , den Tod durch Hunger und Elend als eine Nothwendigkeit hinzu
stellen , weil die Bevölkerungsmenge nicht im Verhältnisse
zur Productionsfähigkeit des Planeten stehe, so unterliegt es doch keinem Zweifel, dass die Menschheit einmal vor die
Alternative gestellt werden könnte : Tod oder Verhinderung an der Geburt. Denn nicht nur, dass die Bevölkerung zu nimmt, sondern auch der Planet wird trotz aller denkbaren
Erfindungen und Zusammensetzungen von nährenden Stoffen durch die nothwendig zunehmende Abkühlung der Sonne und Erde den Ring der Bewohnbarkeit und Productionsfläche
immer mehr verengern , was uns durch den Planeten Mars, der an seinen Polen mit Eis viel umfangreicher bedeckt zu sein scheint, als unsere wärmere Erde, ad oculos demonstrirt
wird. Ja die Erde muss endlich in den Zustand des Mondes,
wahrscheinlich den der Asteroiden übergehen, bevor sie ihre Wiedervereinigung mit der Sonne feiert.
140
Die Frage der Uebervolkerung
Der hierzu nothwendige Zeitraum ist allerdings ein so langer, dass der biologische Process noch ganz merkwürdige Producte hervorbringen kann ; der Mensch hat so viele Thiere schon verdrängt, wer weiss ob er nicht auch durch
etwas Besseres verdrängt wird oder sich in ein solches um setzt ? Wahrscheinlich ist dies nicht , weil die höher ent
wickelten Gehirne sich durch den Schleier der Maja, durch die biologische Zellenexistenz nicht mebr foppen lassen, und eine höhere Organisationsform des Zellengebäudes den Schleier
noch durchsichtiger machen würde. Doch das sind philoso phische Probleme, die uns hier nichts angehen ; weit wichtiger ist die Frage : ob das Drängen der Natur in den biologischen Process nicht von selbst nachlassen wird ? Jetzt ist dieses Drängen ganz legitim , der Planet hat Platz , und Wohlstand und Cultur haben eine dichtere Bevölkerung, als der Planet heute besitzt, zur nothwendigen Voraussetzung ; doch können wir nicht mit Sicherheit aus sprechen, dass dieses Drängen noch bestehen wird, wenn die nothwendigen Bedingungen der Existenz fehlen werden.
Wenn man sich in diesem Labyrinthe nicht verlieren will, so muss man vor Allem über die verschiedenen möglichen Factoren , die bei Entstehung eines Menschen thätig sein könnten , im Klaren sein.
Dass die Beschaffenheit der Keimzellen
aus denen sich
ja der ganze Organismus ausbaut – und deren Relationen zur Aussenwelt wesentliche Factoren sind, bezweifelt Niemand ; ob sie ausreichend sind, ist eine Frage, die wir hier nicht zu
entscheiden haben. Ich habe in meiner „ Philosophie d. g. V.“ und noch eingehender in meinem „ Individualismus “ meinen Standpunkt zum Ausdrucke gebracht, hier aber müssen alle Fälle und alle denkbar möglichen Standpunkte ins Auge gefasst werden . Wer die bekannten Bestandtheile einer Eiweissver
bindung nicht für ausreichend hält , einen mehrzelligen
-
Die Frage der Uebervölkerung.
141
complicirten Organismus zu erbauen , zu beleben und zur selbstbewussten Thätigkeit zu bringen , der muss entweder zu einem metaphysischen Princip im Sinne Schopenhauer's oder Hartmann's greifen , oder zu irgend einem Einzel
wesen im Sinne der individualistischen Systeme seine Zu flucht nehmen , oder endlich mir beipflichten und die drei dimensionale Vorstellungsform unseres Ichs für die Er scheinungsform eines Wesens halten, das selbst die Frucht
einer langen Entwickelung ist , und sich einer sehr langen individuellen Functionsdauer erfreut oder hiezu verurtheilt wie mein Leser es lieber ausdrücken will .
ist
In allen diesen drei Fällen, insbesondere nach meiner Auffassung ist ein späteres Zurückgehen der Geburten oder menschlichen Erscheinungsformen immerhin denkbar. Wir wissen , dass selbst gegenwärtig nur wenige Zeugungsacte Folgen haben , und wenn einem Theile der unfruchtbaren
Acte auch die nöthigen Bedingungen fehlen mögen , so kann das von allen nicht angenommen werden ; wir wissen auch, dass die edleren Thiere sich bei weitem nicht so schnell und
sicher vermehren, als die tiefer stehenden . Die Mitwirkung
anderer Factoren, als der bekannten Atome in einer Zelle ,
ist gewiss zulässig. Es kann das empfindende Leben er blassen , es kann die befruchtende Fähigkeit nachlassen und erlöschen, und wenn der Vergleich Pascal's (siehe oben Seite 54) ein berechtigter ist, so wird die Menschheit eben so ihre unfruchtbare Altersperiode haben , wie der einzelne Mensch. Dühring hält selbst von seinem Standpunkte einen Menschheitstod für etwas Denkbares, welcher darin bestünde, ,,dass durch naturgesetzliche Entwicklung ein Punkt erreicht würde, bei welchem das empfindende Leben zum vollständigen Erlöschen käme. Indem sich dann unmittelbar keine neue empfindende Wesenreihe anschlösse , wäre ein echter Tod aller Animalität vollzogen. (Seite 190, Werth des Lebens.)“ Nachdem einmal ein Zustand ohne Menschen , ja ohne
142
Die Frage der Uebervölkerung.
Empfindung im animalischen Sinne existirt hat , so ist er auch nicht undenkbar in der Zukunft. Er ist sogar gewiss
auf unserem Planeten ; denn Alles, was entsteht, ist werth, dass es zu Grunde geht , und geschieht dies in der Ent wicklung nicht plötzlich, sondern allmählich . Nichtsdestoweniger wollen wir vorerst den Standpunkt der Materialisten einnehmen und mit ihnen den falschen
Schluss ziehen , dass weil ohne Zeugungsact kein mensch licher Embryo entsteht , dieser auch nur das alleinige Product des ersteren sei. In diesem Falle läge die Sorge auf uns, und müssten wir seiner Zeit die Geburten be schränken. Wie sollen wir das nun anfangen ?
Proudhon hat vier Methoden angeführt, die wir etwas näher besehen wollen. Die Eine ist die dreijährige
Säugung , als ein Mittel für länger dauernde und natür liche Unfruchtbarkeit. Abgesehen davon , dass nicht jede Mutter eine geeignete Amme ist, und dass die Säugung bei Voraussetzung einiger Kinder wirklich eine Sulaverei der Weiber wäre , so ist dieses Mittel durchaus nicht sicher.
Dass Ammen in die Hoffnung kommen, ist constatirt, dass man bei edleren Pferden und Kühen einige Tage (bei der Stute den 9. Tag) nach dem Gebären mit Erfolg zur neuen Zeugung schritt, ist bekannt. Ganz dasselbe gilt von
dem System der Unterbrechungen , das vielleicht bei einzelnen Individuen nicht ohne Wirkung ist , bei den
meisten aber gar keine Garantien bietet. Es gibt noch einige mechanische Hilfsmittel verschiedener Art, aber diese werden ja in dem unehelichen und (nach Geburt von 1 oder
2 Kindern) selbst ehelichen Verkehre alle angewendet, aber vergebens. Es wird dadurch bei zur Empfängniss und zur Befruchtung geeigneten Individuen kaum mehr erzielt, als die Verschiebung der Schwangerschaft um einige Monate. Ieh weiss einen Fall insbesondere , wo ein Mann mit 2 Frauen, summarisch genommen , in 6 Jahren ohne Vorsichts
Die Frage der Uebervölkerung.
143
massregeln 3 Kinder und in 15 Jahren trotz allen Vorsichts massregeln und langen Perioden der Enthaltsamkeit 7 Kinder erzeugte. Fehltritte der Frauen waren in diesem Falle wohl ausgeschlossen , wie das schon die Aehnlichkeit der Kinder mit dem Vater documentirte. Alle diese Vorsichtsmassregeln sind aber durchaus keine erst einzuführende Praxis,
sie
bestehen bereits, und verringern in Etwas den Progressions exponenten , einen Stillstand oder Rückgang der Bevölkerung wird man auf diesem Wege wohl nie erzielen, wenn er einmal nothwendig werden sollte.
Die dritte Massregel , die Proudhon aber in erster Linie aufstellt, ist : die Unfruchtbarkeit durch die Mast und Prostitution — so tauft Proudhon das System Fourier's
Wenn irgend Jemand die Verpflichtung hat , gerecht gegen Fourier zu sein, so ist es Proudhon, und wenn irgend Jemand ungerecht gegen ihn war , so ist es abermals
Proudhon, dem die Ideen Fourier's beinahe auf jeder Seite seiner Werke Stoff und anregendes Material geliefert haben . Es ist nur ein natürlicher, ja nothwendiger Process in der Eotwicklung der socialen Wissenschaft, wenn Proudhon die Sache wissenschaftlicher als sein Vorgänger behandelt, vieles
Richtige und Neue zu Tage gefördert hat ; auf diese Art haben sich alle Künste und Wissenschaften entwickelt; der Leser eines Werkes kann die Arbeit eines Menschenlebens, das Resultat mehrjährigen Denkens und Forschens in dem Zeitraume einer Woche sich eigen machen , und in Verbindung mit den eigenen Ideen als etwas Besseres, selbst Neues reproduciren. Die Welt ginge zurück, wenn es sich nicht so verhielte .
Es ist aber nicht erlaubt , Jemand etwas zu unter schieben oder fremde Behauptungen zu entstellen , um Ge legenheit zu bekommen , einen leichteren Triumph davon zutragen oder eine witzige Bemerkung anzubringen . Proudhon
Die Frage der Uebervölkerung.
144
sagt, das System Fourier's sei : „ Künstliche Unfruchtbarkeit
durch die Mast“, und weil Proudhon nicht weiss , ob nicht vielleicht etwas Wahres an der Sache sei, so will er es als Hypothese gelten lassen. Er sagt ferner : „ Der Fourierismus strebe nach der allgemeinen Prostitution , weil Lustdirnen unfruchtbar seien !“ Aus der Arbeit eine Intrigue, aus der Liebe eine Gymnastik zu machen , das sei der Traum des Phalanstère.
Es ist wahr, dass Fourier in seinen letzten Jahren seinen Schülern selbst gerathen haben soll, ihn der guten Sache
zu Liebe zu verläugnen , da er zu weit gegangen sei ; viel leicht befolgt Proudhon , nur diese Taktik, dann aber dürfte
er jedenfalls das Mass des Erlaubten überschritten haben. Was den ersten Theil der Behauptung „ Unfruchtbar keit durch die Mast“ anbelangt, so hat Fourier wahrlich
nicht Unrecht. Er meint, dass das Menschengeschlecht, je kräftiger es ist , je mehr es durch Arbeit und Vergnügen beschäftigt sein wird, desto weniger Fruchtbarkeit entwickeln werde. Diese Behauptung ist allerdings nicht ganz ohne jede Berechtigung ; wir beobachten in der That, dass die sehr kräftigen Frauen minder fruchtbar sind, und dass das Elend gewöhnlich gesegnet in dieser Beziehung ist. Nun dieses System nennt Proudhon das Hemmniss durch Mast
und Prostitution ! Fourier hat sich aber niemals auf die Unfruchtbarkeit der Lustdirnen berufen, ja er hat nie daran gedacht, denn er war für sein Phalanstère viel zu sehr be
geistert, als dass er sein Ideal so verunglimpft hätte ; über
dies war auch gerade Fourier als der nüchternste Mensch der Welt bekannt.
Es gibt aber noch eine Thatsache von Wichtigkeit in dieser Beziehung, die auch nicht weggeläugnet werden kann. In der Regel gibt sich wohl jedes junge Ehepaar ohne Rückhalt und ohne Vorsichtsmassregeln den Freuden der
Liebe bin denn es wünscht sich in der Regel doch wenig.
-
Die Frage der Uebervölkerung
145
stens ein Unterp, and der Liebe ; und sonderbar, zieht man die Statistik der Trauungen und Geburten oder nur den gothaischen Almanach darüber zu Rathe, so wird man finden, dass eine Frau sehr selten in der ersten Zeit der Ehe Mutter
wird, sondern es verstreichen im Durchschnitte einige Monate bis zur Empfängniss. Also zur Zeit der feurigsten Um armungen ist die Fruchtbarkeit in der Regel viel geringer. Die häuslichen Gewohnheiten und Einrichtungen der Ehe in der Civilisation sind der Art , dass der Act der Liebe und des Naturtriebes nur zu leicht zu einem Acte der Gewobn
heit, des Zufalles und des künstlichen Reizes ausartet ; und die Empfänglichkeit ist in diesem Stadium gewöhnlich am grössten.
Es ist allerdings schwer , sich über die Mysterien des Ehestandes Erfahrungen zu sammeln, um so mehr, als es sich hier um Daten handelt, die oft bei dem besten Willen der Betreffenden schwer festzustellen sind ; doch scheint es sich
zu bestätigen, dass die durch was immer verursachte grössere Herabstimmung des weiblichen Theiles ein Umstand ist, der die Befruchtung bei weitem mehr fördert , als die feurige Umarmung eines kräftigen Weibes. Die Unfruchtbarkeit der
öffentlichen Dirnen ist offenbar kein Gegenbeweis. Nachdem nun die Erfahrung lehrt, dass im Punkte der Frauen die Sicherheit des Besitzes bei weitem abkühlender wirkt, als
die Fraglichkeit desselben ; so mögen immerhin die grössere, aus was immer für einer Ursache fliessende Freiheit und
die kräftigere Organisation solche Momente sein, welche die Fruchtbarkeit beschränken.
Wir beobachten selbst in der uns umgebenden Natur,
dass junge Bäume , z. B. Nadelhölzer , wenn sie übersetzt
werden , Samen tragen , eben weil sie kränkeln , und nach dem sie sich eingewurzelt und erholt haben , wieder auf hören, Samen zu tragen, bis der eigentliche Zeitpunkt ihres Samen tragenden Alters eintritt. Hellenbach, Vorortheile . I.
10
146
Die Frage der Uebervölkerung.
Wie dem immer sei, wir können die Möglichkeit durch aus nicht bestreiten, dass die grössere oder geringere Frucht barkeit und Zunahme der Bevölkerung von uns unbekannten Ursachen beeinflusst werden könne, wie wir es ja auch jetzt
und zwar um so deutlicher wahrnehmen , wenn wir die Gegen wart mit der Vergangenheit vergleichen. Die geringere Fruchtbarkeit der südslavischen Haus
communionen , die in ihren häuslichen Eintheilungen und Einrichtungen von den Haushaltungen in anderen Ländern
Earopas vollkommen abweichen , ist ebenfalls eine unseren Satz bestätigende , wenn auch nicht völlig aufgeklärte Er scheinung.
Die Südslaven in Oesterreich haben eine Institution, wie sie sonst in ganz Europa nicht vorkommt : Eine „ Associa tion agricole ". Die meisten Bauernfamilien in und auch ausserhalb der Militärgrenze leben als gemeinschaftliche Be sitzer einer Ansässigkeit beinahe in einem dem vollkommenen
Communismus entsprechenden Zustande. Ein solches Bauern haus wählt seinen Hausvater , das ist den Dirigenten der Wirthschaft und zugleich Vertreter nach Aussen , dem die
anderen Hausgenossen Folge leisten müssen , den sie aber auch , wenn er nichts taugt, absetzen können. Es kommt oft vor, dass der Sohn und nicht der Vater Hausvater ist ; ein Beweis , dass diese Organisation auf rein social-demo kratischer Basis ruht, und durchaus keine Aehnlichkeit mit dem Patriarchenthum der Alten hat ; daher muss man auch die oft vorkommende Benennung dieses Verhältnisses als
„ das patriarchalische Leben der Südslaven “ als eine falsche, die „ der Hauscommunionen " aber als die bezeichnen . Die Arbeit , der Erwerb , Alles
richtige ist
in
diesen Hauscommunionen gemeinschaftlich, es sei denn, dass ein Glied der Familie mit Erlaubniss des Hauses sich auf
Tage und Wochen oder auch ganz vom Hause entfernt, um sich ein besonderes Vermögen zu erwerben. Der Wieder
Die Frage der Uebervölkerung.
147
eintritt in die Communion ist einem solchen Hausgenossen
immer gestattet. Vom productiven Standpunkte habe ich diese Hauscommunion in den „ Ideen über sociale Politik" in Oesterreich besprochen , uns interessirt hier nur eine einzige Erscheinung bei denselben. Die statistischen Tabellen weisen nun nach, dass in den Hauscommunionen bedeutend weniger Geburten vorkommen , als in jenen Häusern , wo diese Einrichtung nicht besteht ;
in jenen Gegenden , wo dieses Institut besteht, zählt man auf neun verheirathete Personen ein Kind unter sechs Jahren, wo dieser Verband nicht besteht, ein Kind auf je vier ver heirathete Personen. Noch um vieles greller wird der Unter schied , wenn man das Verhältniss der Geburten zu den Ehen in den einzelnen stark bevölkerten Communionen (es gibt deren von 100 Köpfen und darüber) vergleicht. Abge
sehen davon , ist es ein constatirtes Factum , dass in der Posavina (längs des Saveflusses), d. i. in einer Gegend, wo die Genossenschaften der einzelnen Hauscommunionen
besonders zahlreich sind, ein junges Bauernweib erst nach dem es mehrere Jahre verheirathet ist, Mutter wird. Dabei
ist zu bemerken , dass diese Weiber , wenigstens was den
Körperbau betrifft, in der Schönheit der Formen schwerlich wo in Europa übertroffen werden, oder auch nur in solcher Allgemeinheit ihres Gleichen finden . Die Hauptnahrung ist der nahrhafte Mais , und überdies haben sie den Vortheil,
sich bei dem Ueberflusse an Fischen , Geflügel und Wild enten einer kräftigeren Nahrung zu erfreuen , als die Be wohner der anderen Gegenden des Landes. Man hat jene Erscheinung in der Geburtsstatistik der Savegegend schon längst beobachtet und constatirt, und es ist ein allgemein verbreiteter Glaube, dass die Weiber jener Gegend ein Geheimniss besitzen , wodurch sie sich nach Belieben vor Schwangerschaft bewahren können . 10 *
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Die Frage der Uebervölkerung.
Wenn dem wirklich so wäre , so müsste man es für
ein grösseres Wunder halten, dass ein Geheimmittel, in das 80 viele Tausende eingeweiht sind , durch wenigstens Ein
Jahrhundert (denn so weit reichen unsere aus dem Unter thansverbande und den Taufbüchern geschöpften statistischen Behelfe ) ein Geheimniss bleiben konnte. Wenn wir die bis jetzt bekannten Arten und Methoden, wie man die Schwan gerschaft verhütet oder vernichtet , prüfend durchgehen, so finden wir keine einzige darunter , die man nicht noth wendig hätte entdecken müssen.
So hat man auch wahrgenommen , dass in grossen Städten die Fruchtbarkeit in dritter Generation abnimmt :
ich selbst habe beobachtet, dass in Gebirgsgegenden , wo die Ansiedlungen vereinzelt sind, die Fruchtbarkeit grösser ist, als in den Ebenen, wo die Bevölkerung mehr in grösseren Dörfern wohnt. Es ist eine allgemein bekannte Sache, dass die Magyaren sich langsamer vermehren , sie bewohnen die
Ebene und leben daher in grossen Dörfern. Alles dies lässt vermuthen , dass eine grössere Bevölkerung , nament lich wenn sie concentrirt und nicht zerstreut wohnt, in sich selbst den Keim der Einschränkung der Fruchtbarkeit trage, eine Annahme, die übrigens mit der sonstigen Versorglich keit der Natur vollkommen übereinstimmt. Als bestätigenden
Gegensatz hat man auch die Beobachtung gemacht, dass nach Seuchen Fruchtbarkeit und Zwillingsgeburten zunehmen. (Schnürer : „ Chronik der Seuchen. 1825. “ Casper : Lebens dauer des Menschen . 1835.) Schopenhauer führt diesen Umstand nicht ohne Berechtigung gegen die materialistische Richtung ins Gefecht, wenn er auch entschieden mehr zu Gunsten einer individualistischen Anschauung spricht als
für die unmittelbare Thätigkeit eines metaphysischen Willens. Diese Thatsachen beweisen allerdings einen Zusammenhang zwischen Tod und Geburt, doch muss dieser darum, weil er ein uns unwahrnehmbarer ist , kein metaphysischer sein.
Die Frage der Uebervölkerung.
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Wenn wir die jetzige Zunahme der Bevölkerung in
Europa als eine constante und auch für die andern Welt theile geltende Grösse annehmen würden, so würde — nach unseren Annahmen von der Ernährungsfähigkeit des Planeten
in den vorigen Capiteln – in beiläufig 300 Jahren der höchste Stand der Bevölkerung erreicht. Wenn durch die Wissenschaft die Circulation und Umwandlung von vegetabilischer in anima lische Substanz noch so gesteigert würde , so müsste ein Maximum doch einmal erreicht werden ; denn die Verdoppe
lung der Bevölkerung erfolgt in unserer Zeit, in Europa in 70–80 Jabren ; nun hat die Menschheit die Zahl von 1200 Millionen Seelen überschritten , demgemäss würde sich die Summe der Bevölkerung in 300 Jahren auf 6-8000 Millionen Menschen beziffern .
Diese Zunahme ist aber keine constante Grösse , denn
die Schwankungen in Europa bewegen sich zwischen zwei und zwei Drittel Procent. Es ist nicht denkbar , dass sich
die Bevölkerung auch in der Vergangenheit im gleichen Zeit raume wie jetzt, nämlich in etwa 80 Jahren verdoppelt hätte, denn sonst wäre das Menschengeschlecht nicht älter als 2500 Jahre. Die Zunahme der Bevölkerung war also zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene, und sie ist noch heutigen Tages in verschiedenen Ländern verschieden . Wenn nun Malthus
sagt, dass eben die Noth der Regulator dieser Zunahme ist, so folgt daraus noch nicht, dass es keinen andern Regulator
dafür gibt. Wir könnten jedenfalls vor diese Frage gestellt werden, darum ist es gar nicht inüssig , sie schon heute zu berücksichtigen. Wenn wir der Uebervölkerung schon heute steuern müssten , und wenn alle bisher angeführten Mittel nichts
taugen oder doch nicht ausreichen , die Empfängniss zu ver bindern und dadurch einer künftigen Uebervölkerung zu entgehen , so bliebe nichts als die Enthaltung von
150
Die Frage der Uebervölkerung .
der Liebe , oder die Vernichtung des Keimes. Be trachten wir vorerst die Entbaltung von der Liebe.
Wir wollen es dabingestellt sein lassen , ob ein junges Paar der Liebe überhaupt entsagen wird , ob zwei junge Eheleute , nachdem sie im Besitze eines Kindes sind , auf eine Fortsetzung des geschlechtlichen Verkehrs werden ver zichten
wollen und
trotz
der verführerischen Situation
werden widerstehen können , um so mehr , als sie auf die
verschiedenen Vorsichtsmassregeln eine trügerische Hoffnung setzen werden, wir wollen diese sittliche Stärke voraussetzen .
Was hätte das für Folgen ? - Das hätte die Folge , dass das beste Keimmaterial unterdrückt, und dem
schlechteren die Fortpflanzung überlassen wäre. Die willenskräftigeren, edleren, aufopfernden Menschen hinterliessen keine oder wenig Nachkommen und die leicht
sinnigen , sinnlichen Egoisten würden das Geschäft über nehmen . Könnte die Menschheit etwas Schädlicheres als diese rückbildende Zuchtwabl sanctioniren ?
An eine Entsagung in der Ehe wegen der Folgen ist überhaupt nicht zu denken . Wenn ein wohlaccreditirter Schutz
geist einem Ehepaare , das bereits Kinder hat, unmittelbar vor dem Acte sagen würde , dass dieser unbedingt Folgen haben werde , so würde das wie ein kaltes Wasser wirken, so aber sind beide Theile überzeugt, im Wege einer trüge
rischen Vorsicht von den Folgen verschont zu sein . Ich gestehe offen , dass alle bisher besprochenen Mass regeln nicht nur ihre Schattenseiten haben , sondern eine Debervölkerung nur vielleicht um wenige Generationen im
günstigsten Falle aufhalten würden. Wir dürfen uns daher keinen Illusionen hingeben. Wenn die Zeit gekommen sein wird, wo eine Vermehrung der Menschen nicht die Erhöhung der Production , wie bisher , sondern eine Ueberbürdung
Die Frage der Uebervölkerung.
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um in sich schliessen wird , und wenn die Natur selbst einen allgemeinen Ausdruck zu gebrauchen der Keim
entwickelung nicht steuern sollte, so bliebe nichts, als Ver nichtung des Keims. Darüber dürfen wir uns, wie gesagt, keine Illusionen machen.
Wenn wir kein Präventivmittel
erfinden, so bleibt nur ein Repressivmittel. Als solches kennen wir derzeit ausser dem Kindes
morde nur Castration oder Extraction des Fötus. Alle drei
Mittel gelten als verbrecherisch , die beiden letzteren sind das Eine gesundheitsschädlich und barbarisch , das Andere jedenfalls gewagt; doch sind nur diese drei Mittel sicher.
Die Castration glaube ich als von Allen verurtheilt , über geben zu können ; und es bleibt also nur die Vernichtung des Keimes in irgend einem Stadium . Ist diese erlaubt ?
Vom Standpunkte des Materialismus gewiss. Ist der sich entwickelnde Keim nichts als eine Eiweiss
masse , so kann ich ihn mit demselben Rechte vernichten, wie einen Apfelkern oder eine Mehlspeise. Ein bewusstes
empfindendes „ lch “ ist noch nicht vorhanden, und man kann sich vollkommen darüber beruhigen, einem unter ungünstigen
Verhältnissen gezeugten Zellenhaufen in der Herstellung eines unglücklichen „ Ich “ verhindert zu haben. Sollte das dem Leser gegen den Strich gehen, so möge er mich nicht dafür verantwortlich machen ; ich habe die Welt weder er
funden , noch gemacht , ich muss sie nehmen , wie sie ist ; auch bin ich kein Vertheidiger des naiven Materialismus. Die Verdichtung des Embryo liegt schon in allen Prä ventivmitteln , in der Enthaltsamkeit, in allen Vorsichtsmass regeln ebenso gut wie in der Extraction der Fötus; und wenn der Staat in einem allgemeinen Gebärhause ein neugebornes, jedes Bewusstseins enthehrendes Kind , in der humansten Rücksicht für die Menschheit und das Kind selbst, durch
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Die Frage der Uebervölkerung.
Cyankali, Chloroform , Kälte oder irgend welche Gase gar nicht zum Leben gelangen lässt, so unterscheidet sich dieser Vorgang von den andern und den Malthus'schen Hemmnissen durch nichts als durch seine Humanität. Wenn in dem Embryo
nichts steckt, als eine Eiweissverbindung, wenn kein anderer Factor eingreift, so wird die Gesellschaft zu diesem Mittel greifen , zu welchem übrigens alle Völker bei Uebervölke rung gegriffen, nur auf weniger humane Weise. Auch ist es nicht unmöglich , dass die Wissenschaft ein anderes expediens findet, wenn das Vorurtheil einmal zer stört sein wird, die Keimzellen für etwas Anderes zu halten als
Material; wodurch und wann der Fötus aufhört Material zu sein , ist noch nicht endgültig sichergestellt und gehört
nicht hierher ; hier steht nur in Frage , ob man den Ver nichtungsprocess auf humane und rationelle Weise selbst in die Hand nehmen , oder ihn auf grausame und gemein
schädliche Weise dem Kampfe ums Dasein überlassen soll. Sind aber andere Factoren thätig, so werden diese bei wirklicher Uebervölkerung schon das Ihrige leisten. Jeden falls aber ist es lächerlich, wenn die Oekonomen unter Be rufung auf die zukünftige Uebervölkerung , die Menschen langsam durch Noth, Elend, Selbstmord, Degeneration und
Siechthum , unter Begleitung von allen erdenklichen physischen und moralischen Martern zu Grunde gehen lassen, und zur Schande der Menschheit und Wissenschaft aufreiben. Ja wohl, meine Herren Oekonomen und Gesetzgeber, da hilft kein Schweitwedeln ! Ihr kommt aus diesem Dilemma nicht heraus, entweder müsst ihr die Production vermehren
und die gesellschaftliche Organisation verbessern oder Ihr müsst auf schmerzlose Weise das Leben vernichten und da bei die Auslese des Besseren auf humanere und rationellere
Weise vollziehen , als der Kampf ums tägliche Brod, der nicht die gerechten , gleichen Chancen hat, wie der Kampf
um's Dasein in der Natur. In dem Kampfe um's Dasein,
Die Frage der Uebervölkerung.
wie er gegenwärtig besteht
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das ist also in der Epoche
unserer verlogenen Civilisation
geht zumeist das Bessere unter und das Schlechtere bleibt , weil der rücksichtslose
Egoist bessere Chancen hat .
Ich stehe nun allerdings nicht auf dem materialistischen Standpunkte. Ich habe nie eine solche Absurdität voraus setzen können , dass eine Kohlenstoffverbindung innerhalb zwei bis drei Jahren eine denkende, empfindende und selbst
bewusste Maschine herstellen könne ; schon Kant hat die Entwickelung selbst eines Grashalmes ohne Absicht für eine Unmöglichkeit erklärt, und wir sollen einen in wenigen Monaten organisirten Zellenhaufen als ohne Absicht her gestellt annehmen ! Gustav Jäger ist gewiss ein aus gezeichneter Fachmann , und er gesteht offen , dass es eine vis formativa geben müsse.*) Ich halte die menschliche Existenz für ein vorübergehendes Glied eines langen Ent
wickelungsprocesses, unsere Leiden grossen Theils für die Folge von Irrthümern, zum Theil aber als das unausweich liche Mittel und die Vorbedingung der Vervollkommnung ; ich zweifle daher nicht, dass die Zunahme der Bevölkerung von
dem Augenblicke an , wo sie ein wirkliches und nicht ein gebildetes Uebel – wie gegenwärtig sein wird, auf viel einfachere Weise seine Grenzen finden wird , als wir es ahnen . Das Drängen in den biologischen Process wird ein fach schwächer werden, sobald die Zwecke erreicht sind, die *) Gerade , weil er sich dieser Nothwendigkeit nicht verschliesst, scheint es ihm vorbehalten zu sein, die Wissenschaft zu bereichern und etwas mehr Licht in diese Mysterien bringen zu sollen . In seiner
kleinen Brochüre „ Die Entwickelung der Seele" sehe ich Grundlagen, auf welchen eine Brücke zwischen Natur- Wissenschaft und Philosophie (und ganz besonders zu meinem „Individualismus“) geschlagen werden könnte. Namentlich gibt es bei anormalen Organisationen Erscheinun gen, die sehr gut auf seine Theorie passen.
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Die Frage der Uebervölkerung.
nur durch grossen Reichthum der Production und Mannig. faltigkeit jeder Art erzielt werden können. In Bezug auf das Warum und Wie ? –
möge sich der neugierige Leser die
Gründe, die mich zu dieser Behauptung führen, in meinem Individualismus“ suchen .
Dass es einen solchen Regulator geben kann , beweist z. B. das Aussterben der Ureinwohner Australiens, das gewiss nicht übervölkert ist, wo die Einwanderer den Eingebornen
die Existenzbedingungen gewiss nicht unterbinden ; im Gegen theile, man hat einzelnen Ueberresten aus Pietät die Garan tien der Existenz und gänzliche Versorgung gewährt, aber vergebens, sie sterben aus ! Warum das, Ihr Herren Materia
listen, Biologen und Oekonomen ?
Um diesen Fragen vorurtheilsfrei in die Augen zu sehen, muss man Nerven haben. Nur derjenige, der Kinder haben und erzielen will und kann , soll sie haben , der
das nicht kann und will , hat entweder der Gesellschaft, d. i. dem Staate die Entscheidung über das Geschick des Zellencomplexes anheimzustellen, oder aber sich der Zeugung zu enthalten.
Es mag das immerhin als eine Art Schuld
aufgefasst werden , Kinder in die Welt zu setzen , denen man eine traurige Existenz mit einiger Sicherheit zuer
kennen muss ; aber durch die Verpflichtung , den Embryo zu erhalten und aufzuziehen , straft man nicht nur die Mutter, der man allerdings einige Verantwortung zuerkennen muss , sondern man straft die Gesellschaft und das Kind selbst, welches letztere doch gewiss kein Vorwurf trifft.
Ich vertheidige die Kindesmörderin nicht ; sie handelt nicht aus höheren Rücksichten für das Kind oder die Gesellschaft, sondern zumeist aus Faulheit , Noth , falschem Ehrgefühl
u. 8. w., komisch aber ist es , dass der Staat sie bestraft, welchem sie ebenso wie der armen Geschöpfsanlage eine Wohlthat erweist.
Ich meines Theils kann nur bedauern,
dass meine ersten Athemzüge nicht Chloroform waren, ob
Die Frage der Uebervölkerung.
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schon es mir an Erziehung nicht gemangelt, und kann mich mit meiner Existenz nur versöhnen, weil ich sie als Glied
in der Entwickelung betrachte , und meine frühzeitige Ver nichtung nur eine Aenderung in Bezug auf Person und Zeit herbeigeführt hätte.
Wir kommen in einem späteren Capital auf die Wichtige keit und die Bedingungen einer guten Züchtung noch zurück ;
dass aber die Pflege in der ersten Kindheit eine der vorzüg lichsten ist , deren Mangel das beste Züchtungsmaterial zu, Grunde richtet, wird Niemand bestreiten , und daher wäre der Staat, als Repräsentant der Gesellschaft, immerhin im Rechte, den Ausspruch des Jesuiten : Sint , uti sunt, aut non sint, in Bezug auf die Kinderdabin zu ändern : Sint, uti esse oportet , aut non sint – zumal wenn die Ueber völkerung eine acute Frage geworden sein wird, denn von dieser ist ja die Rede. Die Chinesen setzen die Kinder aus, und nach Angabe
von Missionären sollen in Peking allein 2 — 3000 Kinder jährlich auf die Strasse gesetzt werden, die todt und lebendig in einem Karren aufgesammelt und in eine Grube geworfen werden. (Haushofer.) Die Neger verkaufen Sclaven , die Thibetaner und Kaukasier bringen einen Theil der Mädchen um oder verkaufen sie , die alten Mexikaner schlachteten die Menschen , die Griechen hielten Sclavenbetzen , wenn Und was thun die Europäer ? Sie deren zu viel waren. würgen sie langsam durch Noth , Hunger und Elend ! Ich
glaube, dass unter allen diesen Methoden mein mehr repres sives Mittel entschieden das humanste ist, so lange näm. lich kein besseres gefunden wird , und wir durch die Natur selbst dazu gezwungen werden. Diese beiden Fälle dass nämlich die Natur selbst bilft, oder die Wissenschaft ein erlaubtes Präventivmittel erfindet – sind nicht ausge schlossen , wo nicht und insolange nicht, kann an der Berechti
gung und Humanität staatlicher Repressivmittel nicht ge zweifelt werden. Daraus folgt aber immer, dass der Planet
Die Frage der Uebervölkerung .
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keine und wir alle Schuld des Jammers tragen , wenn die Uebervölkerung daran Schuld sein sollte, was sie aber nicht ist. Wäre es aber , warum setzt man keine Preise auf die Lösung dieses physiologischen Räthsels ? Kinder soll nur derjenige haben , der sie haben will,
und es ist eine traurige Erscheinung , wenn die Ankunft eines neuen Wesens eine Familie in Betrübniss setzt , weil sie ihrer Verpflichtung gegenüber dem armen Wurme nur schwer, schlecht oder gar nicht nachkommen kann. Die Hin
weisung auf die dadurch gebotene Enthaltsamkeit ist un praktisch und würde sie praktisch , wäre sie geradezu eine Rückbildung, wie wir dies schon hervorgehoben. Die Ehelosigkeit und die mit dieser noth wendig verbundene Unabhängigkeit des Weibes würde die Vermehrung gewiss einschränken , denn nach
einer solchen Entbindung mit den damit verbundenen Lasten und PAichten , würde ein Weib sich mindestens sehr viel Zeit lassen, bis es sich wieder einer neuen solchen Expedi
tion und Vermehrung ihrer Sorgen unterzieht ; dass aber ist verpönt, und das verheirathete oder abhängige Weib unter liegt der Pflicht, Gewohnheit und Gelegenheit. Bei solchen Verhältnissen können wir nichts Anderes thun, als mit aller
Anstrengung ein geeignetes Präventivmittel suchen und wenn wir keines finden, oder insolange wir keines finden , müssen
wir , falls es nothwendig wird , zu dem Repressivmittel der Vernichtung des Keimes in irgend einem Stadium der Ent wicklung greifen , das am humansten für alle Theile er scheint.
Das Wenigste , was die Civilisation thun müsste, wäre die Aufklärung der Jugend, welche Pflichten sie übernimmt, und welche Folgen das nach sich zieht, wenn sie Menschen
in die Welt setzt, die ohnehin überfüllt ist. Jedes Thier nimmt , allerdings unbewusst , bei seinen geschlechtlichen Beziehungen Rücksicht auf die geeignetste
Die Frage der Uebervolkerung.
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Zeit für Erhaltung der Nachkommenschaft. Bei den Men scher werden die Ehen ohne Rücksicht auf die Nachkommen
schaft geschlossen, wenigstens in den meisten Fällen , und der Mann kann sich dann nur schwer, das Weib gar nicht einer ehelichen Gemeinschaft entziehen ; doch darauf kommen wir bei den gesellschaftlichen Vorurtheilen noch zurück.
Wenn man ohne vorgefasste Meinung die Frage der Uebervölkerung ins Auge fasst, so kommt man zu nach folgenden Resultaten :
1. Es ist ein Vorurtheil , dass der Planet überhaupt, und in Rücksicht der uns zu Gebote stehenden Productions und Communicationsmittel auch nur relativ übervölkert ist.
2. Es ist nicht bewiesen , dass die Fruchtbarkeit, sei es durch die Natur, sei es durch Kräftigung des weiblichen Geschlechts, sei es durch die freie Bewegung in der Liebe,
von selbst die nothwendige Einschränkung nicht erfahren könnte .
3. Es ist ein Vorurtheil, dass die denkbaren Präventiv
mittel nicht gesucht und nicht der allgemeinen Kenntniss Preis gegeben werden . 4. Es ist ein Vortheil, der Uebervölkerung lieber durch die gegenwärtige langsame und grausame Aufreibung als durch humane Repressivmittel zu steuern , falls die Uebervölkerung wirklich die Schuld an dem Jammer der Menschheit trägt oder einmal tragen sollte
was ich aber
bezweifle .
Lange sagt richtig (Seite 238 Arbeiterfrage), „ dass die sociale Frage mit dem einfachen Recepte der Verdünnung der Bevölkerung durch Auswanderung , Erschwerung der
Ebe u. s. w. ohne irgend welche sonstige Mittel nicht ge löst werden könne,“ und (Seite 242), „ dass in verhältniss mässig dünn bevölkerten Gegenden der Kampf ums Dasein unter der ärmeren Bevölkerung oft viel verwüstender auf tritt, als in dicht bevölkerten Ländern.“ Dass aber das Elend
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Die Frage der Uebervölkerung.
überhaupt nicht von der zu grossen Bevölkerung herrühre, der er doch eine Mitschuld zuerkennt, erhellt auf unwiderleg liche und ziffernmässige Weise durch sehr viele Daten Carey's.
Die Furcht vor Uebervölkerung darf uns also wahr lich nicht abhalten, das Loos der arbeitenden Classen mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu verbessern .
VIII. Capitel. Die Morgenröthe einer leidlichen Existenz. Das Minimum der Lebensbaltung. Die Erziehung der nächsten Generation . Die Epoche der garantirten Existenz. Der Socialis mus der Zukunft. Der Pessimismus und der biologische Process.
Die Theorien eines Malthus haben das Elend , die
eines Darvin scheinbar den Egoismus sanctionirt. Der unvermeidliche Kampf ums Dasein wird mit der grössten
Rücksichtslosigkeit geführt, und man übersieht, dass er unter anderen Bedingungen für Alle nicht nur weniger grausam , sondern sogar heilbringend geführt werden könnte. Wir haben die bessere Lebenshaltung des Arbeiters als die unausweichliche Vorbedingung kennen gelernt , um dem Riccardo'schen Lohngesetz die Grausamkeit zu be
nehmen ; sie ist aber auch eine Vorbedingung für die Stabi lität des Wohlstandes der Capitalisten , wie das durch ein praktisches Beispiel der neuesten Zeit am besten nachge wiesen wird .
Es herrscht in Europa seit sechs Jahren eine wirth schaftliche Krise , der zufolge die Industrie überhaupt und in letzter Linie die Montan-Industrie ganz besonders betroffen
160
wurde.
Die Morgenrothe einer leidlichen Existenz. Bei den Kohlenwerken ist der Gewinn über den
Erzeugungspreis um 60 Procent gesunken , also bei sehr vielen Werken unter Null, weil das Anlage -Capital doch ver zinst werden muss , um so nehr, als fast durchaus Hypo theken auf dem Montan - Besitze lasten . Bei den Eisenwerken
sieht es noch trüber aus. Der Taglohn ist bei dem Arbeiter
zwar auch gefallen , aber nur um 10 Procent , was zufolge der ohnehin tiefen Lebenshaltung auch nicht überraschen kann . Sehr viele dieser unglücklichen Montanbesitzer zehren
vom Capital, in so weit sie nicht schon lange zu Grunde gegangen sind , und erhalten das Werk und dadurch den
Arbeiter in der Hoffnung auf Besserung. Dadurch aber , dass der Arbeiter seine Arbeit theils verliert , theils ge ringer verwerthet , hört er auf Consument, besonders der Industrie -Artikel zu sein – die Folge davon ist , dass die Bewegung, die Circulation gehemmt wird, und die Concurrenz einen selbstmörderischen Vernichtungskampf führt! Dass dieser Zustand aber durch die schlechte Lebenshaltung oder wie ich es lieber nenne, durch das zu tiefe Minimum der Existenz oft
hervorgerufen und immer wesentlich unterstützt wird, beweist uns das Land , in welchem das Eigenthum am tiefsten in die unteren Schichten gedrungen ist – Frankreich ! Frankreich hat sich trotz Krieg und abnormer Kriegscon
tribution am tapfersten in der Krise gehalten. Aus diesen
Thatsachen wird ersichtlich, dass die bessere Lebenshaltung ein Vortheil für das Capital in allen Formen ist.
Es ist selbstverständlich , dass der Staat, wenn er ein mal in der Lage sein würde , die Frage zu stellen : Was soll ich mit den Renten des collectiven Eigenthums machen ?
- in erster Linie an die Bedürfnisse derjenigen denken müsste, die den Kampf ums Dasein in keinem Falle bestehen können und diese sind Kinder und Kranke, wodurch die
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Die Morgenrothe einer leidlichen Existenz .
Lebenshaltung des Arbeiters auf indirecte Weise schon etwas gehoben würde. Für die Kranken ist wenigstens in den Centren gesorgt,
nur der arme Bauer ist durch die geringe Zahl dieser Centren stiefmütterlich bedacht; etwas Decentralisation würde da wahr . lich nicht schaden. Was aber die Kinder anbelangt, so steht es mit der Vorsorge der Gesellschaft für dieselben sehr schlecht. Wir sind nun allerdings noch sehr weit von jenen gesellschaftlichen Zuständen , wo die Gesellschaft oder der Staat principiell die physische und intellectuelle Ausbildung der nächsten Generation in die Hand nimmt ; einen grösseren
Einfluss auf dieselbe könnte er aber von dem Augenblicke an nehmen, als der Fond des collectiven Eigenthums gestatten würde, geeignete Arbeiterwohnungen zu bauen . Vor Allem muss in Erinnerung gebracht werden , dass
wenn der Staat als Repräsentant der Gesellschaft die Mittel hätte , für gesunde Wohnungen zu sorgen , das
noch immer nicht störend auf die freie Entwickelung der Production jeder Art wirken würde. Denn nach statistischen Ausweisen verbraucht z. B. in Sachsen eine Familie 12 Procent ihres Einkommens für Wohnung, 5 Feuer und Licht,
und zwar bemittelte Arbeiter so gut wie wohlhabende Familien . Es ist wahrlich für die Freiheit der Bewegung ganz irre levant, ob der Arbeiter statt 17 Procent nur 7 Procent oder
noch weniger für diese Bedürfnisse braucht. Der volks wirthschaftliche Congress in Wien des Jahres 1873 erklärte
durch seinen Referenten über die Wohnungsnoth, „ dass die Privatunternehmung nicht im Stande sei, eine befriedigende Lösung herbeizuführen , und dass man andere Mittel er greifen müsse." Gewiss, der Arbeiter kann durch den Zins den Gewinn des Privatunternehmers nicht zahlen, nur der Staat,
wenn er statt Gewinn zu ziehen Opfer bringt , kann helfen , aber wahrlich nicht im Wege der Steuer oder -- was auf Hollenbach , Vorurtheilo. I.
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Die Morgenröthe einer leidlichen Existenz.
dasselbe herauskommen würde - des Credits, sondern wend
ein grosses collectives Vermögen vorhanden wäre, und er aus dessen Zinsen bauen, die Wohnungen anfangs gegen einen billigen Zins , endlich umsonst dem Arbeiter geben würde. Vorausgesetzt, der Staat hätte die Mittel, diesem
Lebensbedürfnisse abzuhelfen, so entspränge daraus der Gesell schaft wahrlich kein Schaden .
Würde die Gesellschaft die
Garantie für die Unterkunft übernehmen, so könnte sie dem Arbeiter sagen : „ Willst Du gut wohnen , so baue oder miethe Dir ein Haus, wenn Du dies nicht kannst, so magst Du in meiner Colonie wohnen , wenn Du Dich der Haus ordnung unterwirfst.“
Wir werden seben , dass in dieser
Hausordnung ein Keim heilsamer Entwickelung verborgen liegt, wie nicht minder eine Garantie , dass die gesell schaftliche Vorsorge in keine Faullenzer- Prämie aus arte. Wir wissen aus Erfahrung, dass eine Militärcaserne trotz aller Garantien der Existenz und Sicherheit für die
Wenigsten eine anziehende Kraft besitzt.
Schultze - Delitzsch gibt folgende Ziffern als Be weis des steigenden Lohnes an , wobei er den Geldbetrag in den entsprechenden Werth von Fleisch und Mehl umsetzt: 1804
62 Pfund Fleisch oder 117 Pfund Weizenmehl
1814 1833
67 83
1850
85
>
175 267
99
320
Aus diesen Ziffern geht hervor, dass sich die anderen Bedürfnisse sehr vertheuert haben müssen , welche zum grossen Theile wenigstens durch Staatswohnungen erleichtert
werden würden , und dass in diesem Falle die sogenannte „ Lebenshaltung “, die Riccardo'sche Linie , eine günstigere würde, auf was es ja schliesslich ankommt. Die Vorsorge , welche die Gesellschaft für Verbrecher
und sonstige Arrestanten an den Tag legt, liefert eine sonder bare Illustration zur Gleichgültigkeit, mit welcher die Gesell
Die Morgenrothe einer leidlichen Existenz.
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schaft einen ehrlichen Arbeiter dem oft hoffnungslosen Kampfe ums Dasein überlässt. Die Vorsorge auch für Nichtverbrecher ist aber nicht nur eine Pflicht der Gesellschaft, sondern diese hat geradzu ein eminentes Interesse daran. Prof. E. Pflei. derer wirft mit Recht in seinem ,modernen Pessimismus “ in Bezug auf die moderne , Verbrechersentimentalität“ die Frage auf : ,,Ist es das böse Gewissen der Gesellschaft, welches
ihr sagt, wie viele Mitschuld an den einzelnen Vergehen sie selbst und ihr eigenes so sorgsam cultivirtes Wesen habe ? Wäre es aber nicht viel besser und humaner, mebr jene Mit schuld und deren verschiedene Formen oder Quellen weg zuschaffen ? " Hic Rhodus, hic salta ! Wenn wir vorraussetzen, dass der Staat die Mittel hätte,
deren Beschaffung der Gegenstand einer früheren Unterbal tung war, so könnte er die Garantie für die Unterkunft der arbeitenden Classen ohne Gefahr für den Fortschritt der Cultur
und freien Entwickelung übernebmen. Solche Arbeitercolonien würden für die Gesundheit, für zahllose Ersparnisse , ganz besonders aber für die Ueberwachung , Verpfle
gung und Erziehung der Kinder von unberechen barer Tragweite sein. „ Die schlechte Luft elender Zimmer“, sagt Lange, „ in denen neben dem Krankenbett ge kocht , gewaschen, bin- und hergegangen wird , wo Kinder schreien , wo zahlreiche Personen athmen , ist ohnehin eine todtbringende Umgebung. “ Die lebende Generation ist die Erbin der vergangenen Geschlechter , unser Zustand ist immer die Frucht der ge
nossenen Erziehung und der physischen , moralischen und intellectuellen Tugenden und Sünden unserer Väter ; es gibt daber nichts Wichtigeres als die Zusammensetzung der
nächsten Generation, nichts Heiligeres als die Erziehung und Entwickelung unserer Nachkommen .
In Bezug auf die intellectuelle Entwickelung haben die Staaten ihre Aufgabe in so weit anerkannt, als der Unter 11 *
Die Morgenröthe einer leidlichen Existenz.
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richt sein Ministerium und sein Budget hat ; in Bezug auf
die physische und moralische Entwickelung aber befinden wir uns in ganz umgekehrten Verhältnissen. Die verheiratete
Arbeiterin muss verdienen; was geschieht mittlerweile mit jenen Kindern , die noch nicht auf die Arbeit getrieben werden können ? – Wie ganz anders gestaltet sich die Sache, wenn die Kinder einer gemeinschaftlichen Obsorge überant wortet werden ! Bei der unverheirateten Arbeiterin gestaltet sich natürlicher Weise die Sache noch ungünstiger, sie kann der an sie gestellten Anforderung noch weniger genügen, und wenn sie das Kind von einer jammervollen Existenz, die Gesellschaft von einem gefährlichen Mitgliede noch vor dessen Entwickelung befreit, wandert sie mindestens in den Kerker.
Aus der Unfähigkeit vieler Eltern, für ihre Nachkommen
Sorge zu tragen , und aus der Wichtigkeit, welche die Er ziehung derselben für die Gesellschaft hat , folgt , dass der
Staat eigentlich und im Principe die Verpflegung und Er ziehung sämmtlicher Kinder in die Hand zu nehmen
hätte, und die Ueberlassung derselben an die Eltern als eine Concession, als Ausnahme zu betrachten wäre, deren erste
und wichtigste Bedingung die Lust und Liebe der Eltern ist , ihr Kind selbst zu erziehen ; denn die Sehnsucht einer Mutter nach ihrem Kinde ist doch die nothwendigste Garantie für Ueberantwortung desselben. Beides vereinen kann nur eine Arbeitercolonie. Die Nichtigkeit der Einwürfe, dass Derjenige, der keine Kinder ernähren und erziehen kann , sie auch nicht erzeugen soll, ferner, dass durch die Ueber nahme der Sorge für die Nachkommenschaft eine Uebervölke
rung und Ueberbürdung der Staatslasten hervorgerufen werde, haben wir bereits nachgewiesen . Was die Menschheit zu thun hat , um die Zahl der Nachkommen mit ihren Productionsmitteln ins Gleichgewicht
zu bringen, ist eine andere Frage ; hier handelt es sich nur
-
Die Morgenrðthe einer leidlichen Existenz.
165
um den Nachweis , dass dasjenige Material , was eben bestimmt ist , die nächste Generation zu repräsentiren , niemals sich selbst überlassen
werden kann und darf, die Verwahrlosung der Kinder ist ebenso eine Schmach als ein Unglück für die Gesellschaft. Lange's angestrebte „ republikanisch oder constitutionell organisirte und verwaltete Fabrik “ ist nichts anderes als der aus sich selbst herausgewachsene Socialismus , für den aber die Erziehung immer die wesentlichste Vorbedingung ist. Nach meiner Lebenserfahrung haben sich die etwas härter erzogenen Individuen im Lebenskampfe immer besser
bewährt und glücklicher gefühlt, als die Muttersöhnlein und verzogenen Töchter, und es wäre ein interessantes , hier aber nicht am geeigneten Orte befindliches Thema, was denn eigentlich besser wäre , die kommende Generation durch
die Menschheit für die Menschheit zu erziehen , oder sie
den nothwendig egoistischen Tendenzen des Familienlebens zu überlassen .
In Sparta bat etwas Aehnliches bestanden, die Kinder wurden ausser dem Hause erzogen, und standen nicht unter dem Einflusse der Eltern. Wenn man nun auch die Tendenz
der Erziehung und des ganzen Staatswesens verurtheilen muss, wie selbe in Sparta bestand, so wird man doch anderer
seits nicht läugnen können , dass Sparta das erreichte, was es erreichen wollte. Die Bürger Spartas hatten jene Tugenden ,
die der Staat bei seinen Bürgern haben wollte , nur war das Staats- oder Tugend-Ideal der Spartaner kein richtiges. So wie wir in der Natur beobachten , dass der Be gattungstrieb des weiblichen Thieres immer in eine Periode
fällt , die für die Nachzucht am günstigsten ist , so finden wir auch , dass die Elternliebe sich nur dort einstellt, wo sie für die Nachkommenschaft nothwendig ist , und darum steigert sie sich in diesem Verhältnisse sowohl was die Dauer als die Intensität anbelangt , wie wir das bei der
166
Die Morgonrðthe einer leidlichen Existenz.
hülflosesten aller Lebenserscheinungen nach der Geburt, dem Men chen sehen . Fourier war der Ansicht, dass Eltern ihre Kinder nur zu lieben haben , und dass dieses Verhält
niss durch den nothwendigen Ernst der Erziehung gar nie getrübt werden sollte.
Doch lassen wir das und packen wir die Sache blos
von der praktischen volkswirthschaftlichen Seite,
Wenn man die Bedürfnisse Eines Kindes in Nahrung, Kleidung, Wohnung und Unterricht zerlegt, so ist es klar, dass Ein Kind an Unterricht allein mehr kosten wird, als die drei andern Rubriken erheischen, und dass ich, wenn ich 100 Kinder erziehe, an allen Rubriken , besonders aber an Wohnung und Unterricht ausserordentlich ersparen werde, und nicht entfernt den 50fachen Betrag jeder Auslagen haben kann, den wir Ein Kind verursacht.
Der Schutz der Kinder, die Erziehung der nächsten Generation, ist also nicht nur ein Act der Menschlichkeit, nicht nur der wichtigste Factor in der Entwickelung der Menschheit, sondern hat ein volkswirthschaftliches Interesse,
weil man mit den geringsten Mitteln die grössten Resultate crzielt. Wie schön , wie beruhigt könnten wir in die Zukunft
blicken, wenn wir das Bewusstsein hätten , dass mit jedem Tage , ja mit jeder Stunde sich das gemeinschaftliche Ver
mögen mehre, welches nach einem Vertheilungs- Schlüssel, der auf Grundlage der Bevölkerung und des Flächenmasses entworfen, die stets wachsenden Zinsen für Erleichterungen der Eigenthumslosen verwendete ! Es mögen in der Ver wendung noch so viele Fehler geschehen , das collective Eigenthum absorbirt immer mehr das Privateigenthum und kann sich Jeder freuen , wenn er reiche und glückliche Menschen sieht , weil im Laufe der Zeit die Gesammtheit sie beerbt.
Die Morgenrothe einer leidlichen Existenz.
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Ich will os versuchen , dem Leser ein Bild der möglichen Zukunft zu geben, welches ahnungsvollen Naturen , wie Fourier, als Paradies oder goldenes Zeitalter vorgeschwebt, für mich aber auf diesem Wege unerreichbar ist, daher
der Leser keine poetische Schilderung, sondern nur trockene Sätze zu erwarten hat.
Nach meinen Entwickelungsgesetzen müsste es genügen ,
ein Stück der aufsteigenden Entwickelungsreiche erkannt zu haben, um ein Bild des entsprechenden Stückes der Declina tion zu gewinnen. Wenn wir ein solches in der Vergangen heit suchen, so finden wir, dass es vor der Civilisation Herran
und ganz eigenthumslose Sclaven gab , welches Verhältniss später in dem Feudal- oder Gutsherrn und den Leibeigenen, Hörigen, endlich Unterthanen schon eine mildere Form an
Dahm ; dieses Verhältniss hat nunmehr in Capital und Ar beit seinen modernen Ausdruck gefunden. Alle drei Ent wicklungsglieder sind eine eigenthümliche Form der Asso ciation, wo aller Vortheil auf der Einen Seite sich befindet, die den Arbeitswerth gegen die blossen Existenzbedingungen eintauschte und noch eintauscht, welche Thatsache die Mal thus-Riccardo'sche Theorie hervorgerufen hat.
Diese drei Entwickelungsglieder müssen nach meinen Gesetzen in der umgekehrten Ordnung und unter Umkeh rung des Verhältnisses zu einer Synthese der Gegensätze führen. Der Zeit nach müsste zuerst die industrielle, dann die
landwirthschaftliche Association durchgeführt werden, welche sich beide schon durch Dividenden, Tantièmen , Pachtsysteme,
wenn auch ganz primitiv und verworren , fühlbar machen. Das dritte und letzte Glied wäre der Socialismus selbst (als vorherrschende Institution und nicht wie jetzt als unvollkom mene hier und da vorkommende Ausnahme), der ohne Ver nichtung des individuellen oder Privat- Eigenthums dieses
Die Morgenråthe einer leidlichen Existenz. -
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gegenüber dem collectiven Eigenthume an Bedeutung lang sam verschwinden macht.
Wenn man diese Associationsformen mit den obigen Ent
wickelungsgliedern vergleicht, so wird man die Analogie und Antithese leicht herausfinden, die zwischen beiden in Bezug auf die Entwickelung von Freiheit und Eigenthum besteht. Schade nur, dass in der Epoche, welche zwischen diesen beiden
Reihen liegt, noch so viel Zeit und Unglück zu überwinden ist. Mit der Erkenntniss der zwei Seitenstücke des Bogens,
ist uns das mittlere Stück der Culminationspunkt, von welchem ab die entgegengesetzte Bewegung eintritt , noch nicht ge geben , dessen Durchlaufen eine längere oder kürzere Zeit in Anspruch nehmen kann .
Ich bekenne mich dadurch offen und principiell als An hänger eines Socialismus der Zukunft, doch muss dieser aus sich selbst naturgemäss herauswachsen , und darf weder
von unten noch von oben octroyirt werden ; denn es ist klar, dass noch viele Vorbedingungen fehlen , und dass noch viel gearbeitet und vorbereitet werden muss - insbeson
dere im Punkte der Erziehung - bevor auch nur vereinzelte socialistische Versuche auf die Tagesordnung gelangen dürfen , die, wenn sie auch gelängen, nur einige Glücklichere machen würden , die Massen aber in dem früheren Elende zurück liessen .
Zuerst wird der industrielle Arbeiter sich emancipiren
und gewissermassen Herr der Situation werden , denn der Preis der Arbeit wird steigen, wo hingegen der Antheil und Zinsfuss des Capitales fallen wird ,
und doch wird der
Capitalist mehr Renten haben , wie dies auch bis jetzt der Fall war. Genau dasselbe wird mit dem landwirthschaftlichen
Arbeiter und der Bodenrente geschehen. Was hatte, wie lebte denn der alte Feudalherr !
Die Gemahlin Carl VII.
soll die einzige Dame in Frankreich gewesen sein, die mehr als zwei Hemden besass.
Die Morgenröthe einer leidlicben Existenz.
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Zur Zeit der Sclaverei arbeiteten Viele für Einen , in
unseren complicirten industriellen Verhältnissen arbeitet Jeder für Alle ; das wird immer mehr zunehmen , und alle werden
dabei gewinnen ; zu einem wirklichen materiellen Communis mus wird es darum doch nicht kommen. Carey sagt ( Seite 276 ): „Der Communismus bleibt sich überall gleich , wo wir ihn in Russland oder in Frankreich, in den Gebräuchen eines Volkes oder in den Büchern der Gelehrten finden, die nicht einsehen , dass die Associationskraft nur mit der Ent
wickelung der Individualität wächst, und die erstere durch Vernichtung der letzteren zu fördern wähnen . So wie sich der Communismus gegenwärtig in den Büchern seiner Ver fechter darstellt, ist er nichts als ein Plan , den Menschen
in einen Zustand der Barbarei herab zu drücken , und es sind deshalb alle Bemühungen, ihm unter civilisirten Menschen Eingang zu verschaffen , so entschieden misslungen .“ Die Anschauungen Fourier's haben dasselbe Fundament, nur
dass er einen phantastischen Weihnachtsbaum für Kinder hineinpflanzt, während Carey einen wirklichen lebenskräftigen und fruchtbringenden Baum hineinsetzt.
Wenn man die
Lehren dieser Beiden vergleicht, so tritt der Unterschied zu Tage , der zwischen Ahnen und Wissen besteht. Immer aber kann nur von einem freiwilligen, natür lichen und successiven Inslebentreten der socialistischen
Institutionen die Rede sein ,
weil die Experimente von
Staatswegen immer gefährlich sind, und der Staat den Fort schritt und die liberalen Principien als Richtung und Com pass zwar würdigen soll , in seiner Haushaltung aber con servativ sein muss. Heute ist das freilich anders; wir
sind in der Epoche , wo die Tendenz eine egoistische und reactionäre ist, die aber die Maske eines falschen Libe ralismus animmt.
Carlyle entwirft von England , dem Lande der Frei heit, folgendes Bild : „ Zwischen unserem schwarzen West
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Die Morgenröthe einer leidlichọn Existenz.
indien und unserem weissen Irland, zwischen diesen beiden
Extremen der trägen Weigerung zu arbeiten, und der hun gernden Unfähigkeit Arbeit zu finden – welche Welt haben wir daraus gemacht mit unserem Mammonsdienst und unserer
wohlwollenden Philanthropie und den gottlosen , müssigen Thorheiten der einen und der andern Art ! Angebot und Nach frage, kümmert Euch nicht darum ! willkürliches Princip ; die Zeit wird es verbessern ; bis endlich die brittische industrielle Existenz ein ungeheurer Giftsumpf stinkender und mora lischer Pest zu werden scheint, ein scheussliches lebendes Golgatha von lebendig begrabenen Seelen und Körpern, ein
solcher mit der Hölle zusammenhängender Curtius -Schlund, wie ihn die Sonne noch nicht beschienen . – Dreissigtausend heimatlose Näherinnen , die sich rasch zu Tode arbeiten ; drei Millionen Arme, die in gezwungenem Müssiggang ver faulen und diesen Näherinnen sterben helfen ! Dies sind nur
einzelne Punkte aus dem traurigen Register der Verzweiflung. Es kommen noch dreissigtausend andere elende Weiber hinzu ,
versunken in jenem verpesteten Abgrund der Schande ; sie sind nach London abgeflossen aus dem allgemeinen stygischen Moraste des brittischen industriellen Lebens; eine solche
Anzahl ist in dem Abgrund des Geschäftes angehäuft .“ Wallace zieht Vergleiche zwischen den socialen Zuständen
der Wilden und England, und fragt: „Kann man eine Ge meinschaft eine höher entwickelte nennen, die, wie die eng
lische, den zwanzigsten Theil der Bevölkerung in die Arbeits häuser unil den dreissigsten Theil durch die Justiz verfolgt und bestraft ? "
Es ist unter solchen Umständen begreiflich , dass man
die Hände nicht in den Schooss legen kann, und dass mein
Bild der Zukunft gewiss schöner ist, als das Carlyle's der Gegenwart. Die Zustände, die wir haben , dürfen nicht bleiben , da müssen Vorkebrungen getroffen werden. Das absolute Laisser fuire in Bezug auf Eigenthum , Grund und
Die Morgenrothe einer leidlichen Existenz.
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Boden 1. 8. w. muss ebenso gründlich aufgegeben werden, als die socialistisch -communistischen Schlagworte und Phra sen bekämpft werden müssen . Man gebe dem Grund und Boden die freie Entwickelung im Wege der freiwilligen Expropriation , wie ich das im
6. Capitel begründet habe ; man gebe der Erbsteuer jene Bedeutung und Verwendung , wie sie hier vertreten wurde, und man hat den Grundstein für die höchste Production
der Nahrungsmittel und das Entstehen eines collectiven Eigenthums gelegt, das uns über alle Misèren und Ge fahren hinaushebt und eine bessere und blühende Generation ins Leben ruft!
Durch alle diese Combinationen gelangt man aber doch nicht zur Kenntniss des Zeitpunktes , wann die Morgenröthe einer besseren Zeit für die leidende Menschheit bereinbrechen könnte. Vorläufig sehen wir nur , dass in Wirklichkeit die beiden Gegensätze, Arm und Reich, immer klaffender auseinander gehen , und die Eigenthumsverhält nisse immer excentrischer werden.
Würde hingegen die von mir vorgeschlagene Erbsteuer gesetzliche Wirkung haben, so liesse sich der Zeitpunkt je nach dem Procentsatze des der Gesammtheit verfallenden
Eigenthums eines Kinderlosen mit ziemlicher Genauigkeit angeben , wenn in der Lebensdauer einer Generation und
der Proportion der Kinderlosen zu den Nachkommen habenden Eltern keine wesentlichen Aenderungen vorkommen sollten. Unter dieser Voraussetzung wollen wir obige Massregel da her als gesetzlich verwirklicht annehmen , um daraufhin zu speculiren. Vor Allem muss ich meinen Leser darauf aufmerksam
machen , dass es praktisch genommen nicht wahr ist , dass eine Familie, die doppelt so viel Rente hat, als die andere, aach doppelt so reich und glücklich sei, als die andere; bei sehr kleinem Vermögen ist der Unterschied sehr gross, bei
172
Die Morgenröthe einer leidlichen Existenz.
sehr grossem illusorisch , wie das ein praktisches Beispiel am besten erhärtet.
Wenn wir 1000 Gulden Rente oder Erwerb als jene Summe annehmen, welche eine Arbeiterfamilie haben muss, um nicht zu hungern, zu frieren oder nackt und obdachlos
herumzuirren, so ist eine Arbeiterfamilie, welche 2000 Gulden zu verzehren hat , viel mehr als doppelt so reich ; sie er freut sich nicht nur einer weit grösseren Behaglichkeit, sondern kann nebstbei Eigenthum erwerben oder kapitali. siren. Der Unterschied ist weit grösser, als der zwischen zwei Familienexistenzen, welche 10.000 und 20.000 Gulden
Rente haben, bei welchen im Punkte der Kindererziehung , Nahrung, Kleidung und Wohnung (in sanitärer Beziehung) kein nennenswerther Unterschied zu finden sein wird.
Ob
ein Garten 1 oder 10 Joche gross ist, ein Zimmer 10 oder 20 Q.-Klafter hat , ob die Pferde die Meile in 30 oder 40 Minuten fahren u. 8. w. ist doch ganz unwesentlich . Ganz illusorisch wird der Unterschied zwischen 100.000
und 200.000 Gulden Rente. Man hat nur Einen Magen, kann
gleichzeitig nicht an zwei Orten sein, und hat man es schon erlebt, dass sehr reiche Leute ihre Hasen vor der Jagd costumiren, Gärten illuminiren und kostspielige Feuerwerke abbrennen , Quadratmeilen einzäumen liessen u. s. w., um sich ihres Ueberschusses zu entledigen. Man wird doch nicht behaupten wollen , dass die Festgeber mehr genossen als deren Gäste, wenn so etwas überhaupt zu den Lebensfreuden gerechnet werden kann. Dies vorausgeschickt, können wir uns ein Bild zu entwerfen versuchen, welche Wirkungen die
Capitalisirung der freien Erbschaftsantheile zu Gunsten der Gesammtheit hätten .
Die Statistiker haben für Oesterreichs Staatsangehörige ein Jahreseinkommen von über 3000 Millionen angenommen ;
an wirklichem Vermögen mag Oesterreich nach der tiefsten
Die Morgenrotbe einer leidlichen Existenz.
173
Schätzung etwa 30.000 Millionen besitzen , wäbrend die
Stiftungs-Capitalien für humanitäre Zwecke (also das gemein schaftliche Vermögen ) höchstens 60 Millionen betragen mögen. Wäre von diesen 30.000 Millionen 1 Procent (300 Millionen )
gemeinschaftliches und 99 Procent Privateigenthum , so liesse sich mit 15 Millionen jährlicher Rente immerhin schon so Manches leisten, aber einen fühlbaren Einfluss auf die sociale
Entwickelung hätte das noch nicht. Nehmen wir hingegen an , dass das gemeinschaftliche Vermögen 10 Procent also 3000 Millionen bereits betragen würde, und dadurch jährlich ein Betrag von 150 Millionen verfügbar würde , so könnte das
schon als die Periode der garantirten Existenz bezeichnet werden . Sind aber 10 Procent genügend , eine so tief ein greifende Aenderung hervorzurufen , was mag da nicht ge schehen , wenn sich beide Capitalsformen das Gleichgewicht halten und 50:50 stehen ? Dann und wohl schon viel früher dürfte der Unterschied zwischen Arm und Reich wohl nur
illusorisch werden, und die Gleichheit der Erziehung, so wie
die Schwierigkeit und Reizlosigkeit der Isolirung zweifels ohne die Production und auch die Consumtion auf socialistische Basis von selbst stellen, welche Combination beider eben den Socialismus kennzeichnet, und ihn von der
blossen Productivassociation unterscheidet. Dann mag sich immerhin der Traum Fourier's verwirklichen , dass, analog unseren Heereszügen, die Jugend beiderlei Geschlechts aus zieht, um die schweren und nothwendigen Arbeiten zu voll
bringen, nur dass in unserer Zeit der Zwang zur Blutarbeit und Zerstörung führt, in jener künftigen glücklicheren Zeit aber die Liebe fruchtbringende Schöpfungen ins Leben rufen wird !
Bei einer Annahme von durchschnittlich dreissigjähriger Dauer des Genusses eines ererbten Vermögens, und unter
Voraussetzung , dass 10 Procent kinderlos stürben (in Oesterreich nach meinen statistischen , officiellen Ausweisen
174
Die Morgeurðthe einer leidlichen Existenz.
14 Procent ) und der Pflichttheil an die Gesellschaft nur
25 Procent betrüge, so wären mit Hinzunahme des einen jetzt bestehenden Procentes jeder Erbschaft in weniger als 100 Jahren 10 Procent zu Gunsten des Collectiv -Vermögens
expropriirt, und damit wenigstens jener gesellschaftliche Zustand geschaffen , den ich zu Ehren Fourier's mit Garantismus bezeicline. Die Gesellschaft hat es voll kommen in der Hand, durch die Steigerung oder Reduction
des Steuersatzes die Bewegung des Privateigenthums je nach Bedarf zu reguliren .
Setzt man nun voraus , dass der europäische Krieg innerhalb hundert Jahren sein Ende finden – mit welcher
Frage wir uns später befassen werden - und dass dadurch
das Militär -Budget wesentlich erleichtert würde, dass ferner , z. B. in Oesterreich, noch innerhalb hundert Jahren durch den Rückfall der Eisenbahnen ein Capital von 3000 Millionen
gewonnen wird , so wären alle Bedingungen gegeben, dem materiellen Elende gewaltige Schranken zu ziehen. Es ist selbstverständlich ganz unberechenbar, welchen Katastrophen die Menscheheit durch Missgriffe, sei es der Diplomaten oder einer siegreichen Revolution, entgegengeführt werden kann und wird , gewiss aber ist, dass insolange das gemeinsame Vermögen unter Null ist,
weil dem geringen
Stiftungscapitale eine ungeheure Staatsschuld gegenübersteht wie heut zu Tage, das Elend der sich selbst überlassenen Massen unvermeidlich ist, und dass wenn umgekehrt nur ein
ansehnlicher Procentsatz des vorhandenen Eigenthums in den Nutzgenuss der Gesammtheit übergeht, das geträumte goldene Zeitalter zur annähernden Wirklichkeit werden kann.
Der einzelne Mensch sinkt zum Thiere herab, wenn er
ausser Contact mit anderen Menschen gebracht wird ; und je mehr die Menschen zu einander in Beziehung treten, desto mehr entwickelt sich die Cultur , welche ihre höchste
Die Morgenrðthe einer leidlichen Existenz
175
Stufe nur in einer brüderlichen Association erreichen kann ; aber unreif darf die Frucht nicht vom Baume ge nommen werden !
Wenn mich mein Leser fragen würde , was ich also
für den wichtigsten und wesentlichsten Satz, für das praktische Resultat dieser volkswirthschaftlichen Abhandlung halte, so würde ich – anknüpfend an das 4. Capitel - ihm folgender massen antworten :
Wobl und Wehe einer jeden Bevölkerung hängen von zwei Grössen ab : Von der absoluten Menge der bereits capitalisirten Arbeit und
von der Proportionalität in Vertheilung der selben.
Ein Land, welches an Wohnungen , Strassen, Bahnen,
Bodenkultur, Fabriksanlagen , aufgeschlossenen Kohlenlagern U s. w. die nothwendigen Vorbedingungen des Wohlbefindens hat, wird für seine Bewohner ungleich mehr thun können, als ein uncultivirtes Steppenland , und hätte es selbst den fruchtbarsten Boden. England und Frankreich können für ihre Bürger besser sorgen , als asiatische oder afrikanische Staaten .
Einen so ziemlich richtigen Maszstab für den absoluten Reichthum eines Landes im Vergleiche zu dem eines anderen liefert der Werth des urbaren Bodens. Nach diesem zu
urtheilen , wären einige Staaten Europas vielleicht in der Lage ihren Bewohnern eine menschenwürdige Existenz zu
bieten . Wenn man den Vermögenswerth der Länder abzu schätzen und durch die betreffende Zahl der Bewohner zu
theilen vermöchte, so bätte man annähernd die durchschnitt
liche Höhe der möglichen Lebenshaltung, die aber z. B.
in England nothwendig höher ausfällt, als sie praktisch vor kommt, weil das Vermögen nicht gleich vertheilt ist. Daraus
folgt, dass es nichts Unsinnigeres und Frevelhafteres geben
176
Die Morgenröthe einer leidlichen Existenz,
kann, als das Eigenthum in welch immer einer Form zu schädigen und die Capitalisirung in welch immer einer Form zu hindern. Darum kann es nichts Schädlicheres geben, als unmotivirte und erfolglose Revolutionen und Kriege, die an Gemeinschädlichkeit nur durch eine sociale Revolution noch
übertroffen werden könnten. Kriege verwüsten nicht nur
Capital, sondern stören durch Bereicherung Einzelner die Pro portionalität ; denn der sie begleitende tiefere Curs der Werthe stärkt die grossen Vermögen , die ihn auszunützen vermögen. Sociale Revolutionen vernichten den Erwerb, die Capitalsansammlung, und führen zur allgemeinen Verarmung. Es kann bei ungleicher Vertheilung einer grossen Summe das einzelne Glied einer Gesellschaft weit reicher sein, als
bei gleicher Vertheilung einer kleinen Summe ; auf dieses einfache Rechenexempel scheinen die Socialdemokraten zu vergessen .
Doch gibt uns eine hohe Ziffer der durchschnittlichen möglichen Lebenshaltung noch keinen Maszstab für die
wirkliche durchschnittliche Lebenshaltung des Arbeiters; denn es kann in einem sehr reichen Lande die Proportionalität noch mangelhafter sein , als in einem minder reichen , wie das vielleicht durch England im Vergleich zu Frankreich illustrirt wird. In der besseren Vermögensvertheilung liegt die Ursache, dass Frankreich durch die Krise am wenigsten gelitten hat, weil die Nachfrage und damit Production und
Circulation nicht so schnell und so tief sinken können , wie in anderen Ländern .
Ob nun das Verhältniss der Verthei
lung ein besseres oder schlechteres sei , dafür haben wir einen sicheren und weit genaueren Maszstab ; denn das Procentverhältniss des collectiven und Privateigenthums liefert uns eine 100theilige Scala, an welcher wir in Com bination mit der absoluten Höhe des Vermögens) den ent sprechenden Zustand der Entwickelung und des Wohl befindens herablesen können.
-
177
Die Morgenröthe einer leidlichon Existenz.
Würde das Collectivvermögen 100 Procent betragen, also überhaupt gar kein Privatvermögen existiren, so wäre damit der volle Communismus und Socialismus ausgesprochen ein Zustand , der einen Grad von sittlicher Vollkommen
heit voraussetzen würde, der kaum je zu erwarten ist. Steht das Collectivvermögen nahe zu Null , so ist der Besitzlose dem vollen Drucke des Eigenthums schutzlos preisgegeben ;
doch bessert sich sein Zustand in dem Masse , als das Collectivvermögen steigt. Wie steht es nun mit unserer Epoche ?
In unserer Zeit gibt es wenige Staaten , wo die abso
lute Höhe der angehäuften Arbeitswerthe und des vorhandenen Capitals in dessen verschiedenen Formen eine genügende ist, um eine leidliche Durchschnittsexistenz überhaupt bieten zu können ; was aber die Proportionalität anbelangt, so be findet sich das Collectivvermögen nicht etwa nur nahe bei
Null, sondern sogar etwa 10 Procent unter Null !! Ist da eine andere Ordnung der Dinge zu erwarten, als wir sie kennen ? Kann es da etwas Anderes geben , als den rück sichtslosesten Kampf ums Dasein , als den Egoismus in seiner ekelhaftesten Gestalt ? !!
Dass der erste Wohlstands- oder Entwickelungsmesser nämlich der des absoluten Reichthums — im fortwährenden
Steigen begriffen ist, und jeden momentanen Rückgang bald wieder einbringt, ist begreiflich und durch die Erfahrung erhärtet; was nun den zweiten
die Proportionalität
anbelangt, so liegt es in den Händen meiner Mitmenschen, zuerst im Wege der. anzunehmenden Sitte , und später im Wege der Gesetzgebung den Grundstein zu einer besseren Existenz der Menschheit zu legen.
Man könnte den Einwurf erheben , dass die Mensch heit in ihrem primitiven Zustande auch kein individuelles Eigenthum hatte, der Planet hingegen das collective Eigen thum bildete, und dass dieser Zustand doch ein thierischer Hellenbach , Vorartheilo. I.
12
178
Die Morgenrothe einer leidlichen Existenz.
war. Dagegen wäre nun einzuwenden, dass selbst die Thiere ein Nest, einen Bau, ein Revier, eine Beute, einen Vorrath als ihr Eigenthum betrachten und vertheidigen , dass also gänzlich ohne Individual- Eigenthum der Mensch damals um 80 weniger war und nach meiner Anschauung es auch nie mals sein wird. In dem Vergleiche der vorhistorischen Zeit
mit dem von mir in Aussicht gestellten socialen Zustand liegt vielmehr eine Bestätigung meiner Entwickelungsgesetze. Wir Menschen kehren zu unserem Ausgangspunkte zurück, aber in veredelter, hoch complicirter Form. Das Individual
Eigenthum entwickelte sich immer mehr , absorbirte das Collectiv -Eigenthum – die Bodenfläche – und wir müssen, iher desto besser, die entgegengesetzte Bewegung ein schlagen , um wieder den Zustand irgend eines Paradieses zu erreichen ; doch ist dies kein einfaches Paradies für ein
je
glückliches Thier , wie das der Bibel für Adam und Eva, die bei schönem Klima ohne Feinde und ohne Arbeit zu Essen und Trinken in Fülle batten , darum aber auch aus langer Weile sündigen mussten, sondern es ist ein Paradies
für eine hoch differencirte und complicirte Gesellschaft. Aus diesem Bilde kann man ebenfalls entnehmen, wie innig die Eigenthums-Verhältnisse mit der Cultur -Entwickelung zu sammenhängen.
Trotz dieser meiner optimistischen Auffassung unserer Zukunft, muss ich mich gegen den möglichen , selbst wahr. scheinlichen Einwurf schützen , dass ich durch die Aussicht
auf eine Art goldenen Zeitalters dem biologischen Processe den Charakter des Pessimismus nehme und auf dem Stand
punkte des Eudämonismus innerhalb des biologischen Pro cesses stebe , der doch nichts kennt als die Entwickelung auf Kosten der Individuen, die Entwickelung um jeden Preis. Ich bin zwar kein Pessimist inn modernen Sinne, weil
ich die Natur nicht auf den uns bekannten biologischen
Die Morgenrothe einer leidlichen Existenz.
179
Process oder vielmehr auf die dreidimensionale, durch einen
Zellen - Organismus ermöglichte Anschauung der Welt be schränke.
Für mich ist das Leben als Zelle oder Zellen
complex nur ein Glied in der Entwickelung ; wäre das nicht der Fall , so könnte eine Existenz , wie sie der Planet uns
bietet , selbst bei Beseitigung des Elends und Vermehrung der Genüsse doch nur als eine schlechte aufgefasst werden ,
da abgesehen von Zufall , Krankheit und Tod , eine Welt, die eine so furchtbare Unterlage, wie die bisherige Geschichte der Menschheit , und ein so gewisses Ende , wie das des biologischen Processes auf der Erde hat , doch keine gute oder gar beste genannt werden kann. Was soll man zu einer Welt sagen : wo , abgesehen
von den grossen Naturkatastrophen , abgesehen von der Dummheit und Bosheit der Menschen , eine Tigerin ganze
Dörfer entvölkern, an Schlangenbiss jährlich mehr als 20.000 Menschen , an mikroskopischen Pilzen vielleicht Millionen zu Grunde gehen ?! Wie will man solche Anomalien mit einer optimistischen Anschauung dieser Welt, wie wir sie wahr
nehmen und empfinden , vereinbaren ? ! Die pessimistische Weltauffassung Schopenhauer's und Hartman n’s ist unangreifbar, insoweit es sich um die empirische und biologische Welt handelt ; in Bezug auf die Welt überhaupt, an sich aber nur dann, wenn wir die un mittelbare Projection des grossen Weltprincips und der Schlussstein der Natur in ihrer Entwickelung sind. Nur weil wir das nicht sein müssen , ist eine optimistische Auffassung möglich, wie ich das in meinem , Individualismus“ eingehender nac bgewiesen. zu Folge der Daher kommt es denn auch, diss ich Verlängerung der Individuation - in Bezug auf die Welt
ein Optimist sein kann, und mich dennoch den von Hart mann in seiner Phänomenologie citirten Worten Schopen . hauer's vollkommen anschliesse , also diesbezüglich mit 12*
180
Die Morgenrotbe einer leidlichen Existenz.
beiden Pessimisten übereinstimme :
Es ist keineswegs der
Zweck des Lebens , glücklich zu sein , vielmehr ist es im Leben ganz eigentlich darauf abgesehen , dass wir uns nicht glücklich fühlen sollen. Das Leiden ist in der That der Läuterungsprocess je mehr man leidet , um so eher
wird der wahre Zweck des Lebens erreicht (müsste hinzu
gefügt werden – werden können) , und je glücklicher man lebt, desto weiter wird er hinausgeschoben. Das Leiden ist also die wahre Bestimmung des menschlichen Daseins.“ (Phän. des s. B. Seite 42.) Der Zweck des menschlichen Da seips ist aber ein weiter gehender ; es kann dieses allerdings zur Verneinung des menschlichen , nicht aber des Da seins überhaupt führen. Wir werden uns im 4. Buche mit diesen Fragen beschäftigen. Das, was ich von der lebenden Generation verlange, ist übrigens in beiden Fällen dringend; denn hätten obige Philosophen Recht, so müsste der Process beschleunigt werden , um ihn schmerzlos zu machen und wie sie -
wähnen — beendigen zu können , was aber schon aus dem Grunde nicht geht , weil das Thun und Lassen der Be wohner eines Weltkörpers den Bewohnern eines anderen in nichts präjudicirt. Habe ich Recht, so müssen die Hinder nisse der Entwicklung und Vervollkommnung nur um so
dringlicher beseitigt werden . Die durch Vermebrung des Collectivvermögens stets steigende Lebenshaltung des Arbeiters und steigend bessere Erziehung der Jugend, die immer zunehmende Substitution der Maschine für menschliche Arbeit und der Fortschritt
der Wissenschaft überhaupt werden Zustände herbeiführen , welche den von Fourier geträumten in so mancher Be
ziehung wenig nachgeben dürften. Ein objectiver Beobachter der menschlichen Natur wird nicht in Zweifel ziehen , dass
Gemeinsinn , Abwechslung und Liebe über die Schwierigkeiten triumphiren können , über welche heut
Die Morgenröthe einer leidlichen Existenz.
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nur Noth und Zwang hinüberhelfen . Konnte und kann der Gemeinsinn oder irgend welche Idee die Menschheit in die Schrecknisse und Leiden des Krieges führen , warum
soll die Solidarität der Interessen sie nicht zur Verrichtung nothwendiger Arbeiten vermögen , zumal diese durch Ab wechselung erträglich, durch die Liebe sogar anziehend ge macht und idealisirt werden können ?
Die obigen zwei Bedingungen müssen aber früher er füllt werden ; es muss nicht nur der Reichthum über haupt zunehmen , sondern durch die Bildung des collectiven Eigenthums die Lebenshaltung des Arbeiters gehoben , und für die Erziehung
der nächsten Generation Sorge getragen werden . Eine Gesellschaft hat genau die Zustände, die sie verdient! In so lange der Arbeiter den Kampf ums thierische
Dasein kämpft, darf es nicht überraschen , wenn er unter Umständen zur Bestie wird ; macht man ihn zum Menschen, so hat die Gesellschaft von der socialen Frage nichts zu fürchten . Der biologische Process wird zwar immer als ein
Läuterungsprocess angesehen werden müssen , aber er wird menschenwürdig verlaufen , und sich nicht ums tägliche Brod herumbewegen , wie beim Thiere im Walde, sondern um höhere Interessen, wie denn unsere Bühnenliteratur in
ihren Dramen und Tragödien auch nicht den nackten Hunger und die Obdachlosigkeit zum Gegenstande ihrer Dichtung
hat; das kann und muss die Menschheit überwinden , für die Erziehung muss sie sorgen. Die grössten Hindernisse der Entwickelung sind die Robheit und Bedürfnisslosigkeit des gemeinen Volkes, man vergleiche die Zustände der west- und osteuropäischen Länder ! Es ist daher selbstverständlich , dass ein Staat, der
diese Wege wandelt und die Lebenshaltung erhöht, in kür zester Zeit aus allen finanziellen Kalamitäten herauskommen muss.
Die Staatseinnahmen müssen in weit grösserem Ver
Die Morgeprðthe einer leidlichen Existenz.
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hältnisse steigen, als die Lebenshaltung," wie das durch die Erfabrung auch bestätigt wird , ganz abgesehen von dem collossal anwachsenden Collectiv - Vermögen.
Die garantirte Existenz und Erziehung wird die Pro duction und Nachfrage vermehren , die Circulation beschleu nigen und den Procentsatz von Rohheit , Dummheit und Bosheit immer vermindern ; dadurch wird aber der socia listischen Production und Consumtion der Weg immer mehr
geebnet, ohne Zwang, ohne Katastrophe , ohne Aufhebung der Individualität oder des Eigenthumsrechtes, ohne Eingriff in die natürliche Entwickelung oder fremde Rechte ! Die ganze Menschheit wird sich nicht nur moralisch verbessern und intellectuell immer mehr entwickeln , sondern auch
physisch verschönern ; die Zoochemie ist überdies auf dem
besten Wege in die geheimnissvolle Werkstätte der Zellen zu dringen, und die Bedingungen sowohl der gedeiblichen organischen Entwickelung als verheerenden Zerstörung zu entschleiern.
Doch ist der Menschheit damit nicht geholfen , wenn die Solidarität der menschlichen Interessen als Idee von
Einzelnen vertheidigt wird , die zum Lohne dafür physisch oder gesellschaftlich an das Kreuz geschlagen werden, son
dern sie muss praktisch werden. Sowie die politische Soli darität durch den Staat, so muss die wirthschaftliche durch
ein Collectiveigenthum zu Stande gebracht werden , und müssen wir einerseits mit aller Aufopterung ein solches her anbilden , andererseits mit kräftiger Hand die zur Rückbil dung führenden Bestrebungen der Socialdemokratie nieder. schlagen.
Zweites Buch.
Politische Vorurtheile.
1
1
I. Capitel .
Der Krieg. Hartmann und der ewige Krieg.
Kant und der ewige Friede. Die drei Factoren der territorialen Staatenbildung. - Der Widerstreit
dieser Factoren mit den Entwickelungsbedingnissen ist der Krieg. Die Uebereinstimmung derselben ist der Friede. „ Die Natur will unwiderstehlich , dass das
Recht zuletzt die Obergewalt behalte. Was man nun hier verabsäumt zu thun , das macht sich zu letzt selbst , obzwar mit viel Ungemächlichkeit.“ Diese goldnen Worte schrieb Kant in seinem Auf satze „ zum ewigen Frieden ,“ den er für kein Phantom hielt. Um so überraschender ist es , dass 100 Jahre später , wo
der Krieg weit verheerender auf die Culturentwickelung ein
wirkt, als damals, ein auf dem Moralprincip der Entwickelung stehender Philosoph des deutschen Nordens den Krieg als „ ein Hauptmittel der natürlichen Zuchtwahl“ bezeichnet, und gewissermassen dadurch den Rassenkampf als Cultur mittel glorificirt. („Phänomenologie des sittlichen Bewusst seins “ von Hartmann.
Seite 670 ).
Muth , physische Kraft und gute Organisation sind zweifelsohne Eigenschaften , die im Kriege einen Werth
186
Der Krieg .
haben , und ein Volk , welches sie besitzt , hat allerdings Vortheile gegenüber einem anderen, welches sie nicht besitzt, und ist es gleichgiltig, ob es diese Eigenschaften nie gehabt oder verloren hat ; nichtsdestoweniger muss das siegende Volk durchaus nicht die bessere Rasse , noch das Cultur
element sein, wie das die Erfahrung vergangener Zeiten und der Gegenwart bestätigt. Die Hunnen, Mongolen und Türken waren weder die bessere Rasse noch ein Culturelement; auch
können die Zeiten , die dem Verfalle der griechischen und römischen Cultur durch ganze Jahrhunderte folgten , kein Fortschritt genannt werden ; dass sich endlich aus der all gemeinen Versumpfung eine neue bessere Cultur erhob, ist
von den Siegen der wilden Horden gänzlich unabhängig, und wenn auch — die bessere Rasse hatte nicht gesiegt. Was haben auch die Feldherrntalente eines Prinz Eugen von
Savoyen mit der österreichischen Rasse, die Feldherrntalente eines Corsen mit der französischen Rasse und Cultur zu
schaffen ? Und wer kann den entscheidenden Einfluss der selben auf das Kriegsglück bestreiten ? Weder waren die Franzosen die bessere Rasse weil sie damals siegten , noch sind es heute die Deutschen ; und
wenn Deutschland materiell und freiheitlich so fort zurück gehen wird, wie Frankreich hinauf, so werden die Franzosen Vortheile erreichen , aber deshalb noch nicht zur besseren Rasse werden. Es hat ganz den Anschein, als ob thatsächlich
die Besiegten vorwärts und die Sieger zurückgingen ; denn die vollkommenere Heeresorganisation allein ist noch nicht massgebend für die böhere Cultur.
Jede Rasse hat ihre guten und schlechten Eigenschaften , die durch einen Krieg nicht beseitigt werden. Nach den Aufstellungen Hartmann's müsste eigentlich und con sequenter Weise ein siegendes Volk das besiegte entweder verdrängen oder deren Frauen schwängern, was aber nicht der Fall ist, sondern es findet das Resultat des Krieges in
Der Krieg.
187
einigen Territorialveränderungen und in einigen Milliarden Staatsschulden seinen Ausdruck ; von einer Auslese ist da nichts zu finden .
Hartmann glaubt, dass „ höchstens die Frage aufge worfen werden könnte , ob nicht die Menschheit dahin ge langen wird , dem Culturprocesse an Stelle der natürlich en
die künstliche Zuchtwahl zur Basis zu geben , d. h . die
Rassenveredlung in ähnlicher Weise durch rationelle Züch tung in die Hand zu nehmen,“ wie bei Thieren und Sclaven , und gibt Hartmann für diesen Fall zu bedenken , „ dass ihre (der künstlichen Zuchtwahl) Durchführung den Indivi duen neue , jetzt ungeahnte Opfer an Glück auferlegen würde, welche die durch Kriege auferlegten Leiden um Vieles übertreffen würden .
Die Rassenveredlung wird zweifelsohne immer mehr Platz greifen, aber weder durch behördlich geregelte Zucht wahl , noch durch Kriege , sondern durch selbstständi gere Stellung des Weibes und damit zusammen hängende freie Wahl in der Liebe ! Wir kommen
auf diesen Gegenstand im 3. Buche zurück. Wenn die deutschen Siege den Staatsmännern , Kriegern
und der Jugend überhaupt etwas zu Kopf gestiegen sind, so ist das begreiflich - haben sich doch die Franzosen einer
ähnlichen Illusion durch längere Zeit hingegeben ! – Aber ein Philosoph darf weder aus einer objectiven Beurtheilung der Dinge durch die allgemeine Strömung gerissen werden, Doch darf er irgend welche Concessionen der herrschenden Öffentlichen Meinung machen; selbst wenn dadurch im Inter esse der Culturentwickelung ein Vortheil erwachsen sollte ; es ist Sache der Staatsmänner und Jesuiten , durch den
Zweck die Mittel beiligen zu wollen , für den Philosophen ist diese Moral schon vom Standpunkte der Unzuverlässigkeit unprakticabel. Der Krieg ist eine verwerfliche Sitte, die
188
Der Krieg.
Kriegsbereitschaft der Ruin der europäischen Staaten; man darf diese Dinge nicht idealisiren . Nehmen wir den Fall an , ein Amerikaner machte
irgend eine Erfindung, die einer Heeresleitung ein entschie denes Uebergewicht verschaffte, und durch einige Zeit ein Geheimniss bliebe. Nehmen wir an, dass er diese Erfindung
an eine nicht auf dem Höhepunkte der Cultur stehende Regierung verkaufte, wie sähe es da mit der Zuchtwahl aus ? Ein Element der Culturentwickelung ist schliesslich Alles ;
alle Wege führen nach Rom ; es wäre nicht schwer, auch die Bordelle und Lustdirnen als Culturelemente in gewisser
Beziehung hinzustellen, die thatsächlich nur bei Culturvölkern vorkommen , und die Moral und Sittsamkeit den übrigen
Frauen erleichtern ; dasselbe gilt auch von den Duellen U. S. W.
Der Krieg ist die ultima ratio , um einen scheinbar oder wirklich unvermeidlichen Zustand , ein Entwickelungs
hinderniss zu beseitigen ; und so weit dieses durch ihn be wirkt wird , ist er auch ein Culturelement ; doch lässt sich das auf andere Weise erreichen . Dass die allgemeine Wehr
pflicht durch Disciplin und körperliche Ausbildung auch gute Seiten aufzuweisen hat , wird gewiss Niemand in
Zweifel ziehen, doch ist das auf andere Art leichter, billiger und menschlicher zu haben. Man kann im Zweifel sein, ob und auf welche Weise der Krieg vermieden werden
könnte, als Rassen - Auslese lässt er sich nicht verwerthen ; den Ausrottungskriege gibt es nicht mehr. Das Einzige, was als „ Auslese“, also zu Gunsten Hartmann's ange führt werden könnte, ist die höhere Ziffer der Sterblichkeits und Selbstmordfälle beim Heere im Frieden ; die Ueberan strengung trifft da das schwächere Material und beseitigt es. Doch ist dieses Material in der Regel nur darum zu schwach,
weil die nothwendigen Bedingungen der Ent wickelung schon in der Kindheit fehlten .
Auch
--
Der Krieg .
189
darf nicht übersehen werden , dass das ganz Untaugliche zurückbleibt, und die Kanonen ohne alle Rücksicht das kriegstaugliche Material decimiren . Ich glaube mit meinem Leser übereinzustimmmen , wenn ich wenigstens in Bezug auf den Krieg nicht an das neueste, in vieler Beziehung werthvolle Product eines lebenden Philo sophen anknüpfe, sondern an den alten Kant, den die Siege Friedrich's II. nicht beirrten , den Krieg als ein zu ver
meidendes und zu bekämpfendes Uebel anzuerkennen. Wer
immer für einen Gegenstand schreibt, über welchen Kant eine Meinung ausgesprochen , wird überhaupt gut thun , an ihn anzuknüpfen .
Kant's erster Definitivartikel zum ewigen Frieden lautet :
„Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.“ Diese Anschauung war in dem Zeitalter Kant's be greiflich , wo die Erbrechte der Fürsten , wie nicht minder deren stehende Heere und Ambitionen die Hauptursache des
Krieges waren. In einem Zeitalter hingegen , wo nationale und volkswirthschaftliche Interessen die leitenden Ideen sind,
Wo es keine stehenden geworbenen Heere und kein bares Geld gibt, sondern nur mit Credit und Volksheeren ein
Krieg möglich wird, ist die republikanische Regierungsform keine Vorbedingung mehr. Es geht übrigens aus dem Geiste seines Aufsatzes hervor , dass es ihm mehr um das Wesen der Sache , nämlich um die Repräsentativ - Verfassung zu thun war. Diese Voraussetzung wäre in Europa so ziemlich erfüllt. Der zweite Definitivartikel lautet :
„Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein. “
190
Der Krieg.
Das hat nun allerdings seine Richtigkeit ; doch könnte damit nur ein Föderalismus der europäischen Staaten ver standen werden , der den europäischen Krieg aus schliesst; denn die anderen Welttheile sind weder reif zum ewigen Frieden , noch zu einem Föderalismus ad hoc.
Die
Entwaffnung in Europa müsste selbst die Möglichkeit eines Krieges mit nicht europäischen Mächten im Auge behalten. Dieser Föderalismus, ohne welchen an eine ausgiebige Reduc tion der stehenden Heere nicht zu denken ist, setzt aber die Beseitigung aller Veranlassung zu einem Con flicte und eine Solidarität der Interessen vor & us, deren Bedingungen erst gesucht werden müssen , und
mit denen ich mich bereits vor 10 Jahren eingehend be schäftigt habe, und zu welchen wir gleich gelangen werden . Dass Kant mit Recht die Föderation der europäischen
Staaten als Bedingung des ewigen Friedens voraussetzte, ergiebt sich am deutlichsten aus einem praktischen Beispiele. Oesterreich und Frankreich sind zwei Staaten , die Jeder ungefähr eine Million Streiter in einem gegebenen Augen
blicke aufstellen könnten. Setzen wir voraus, dass im Inter esse des Budgets diese beiden Staaten ein Schutz- und Trutzbündniss auf zwanzig Jahre feierlich abschliessen würden, nicht nur etwa im Wege ihrer Diplomaten , sondern im Wege einstimmiger Parlamentsacte oder meinethalben Plebig
cite, durch Eide oder sonst wie, und dass demzufolge jeder dieser Staaten 25 Procent an den Armeeauslagen ersparte; so wäre trotz dieser Reduction ihre Wehrkraft dennoch eine grössere.
Denken wir uns nun, dass Italien aus finanziellen Grün den ebenfalls beitreten wollte, so könnten vielleicht 10 Pro cent, für jeden Theilnehmer also 35 Procent, erspart werden , wenngleich die Macht dieser föderirten Staaten eine grössere geworden . Die heilige Alliance wurde zwar zu dem Zwecke
geschlossen, die Entwickelung in Bande zu legen, hatte aber
Der Krieg .
191
den Vortheil einen lange dauernden Frieden zu schaffen, dem
Europa seinen wirthschaftlichen Aufschwung verdankt. Es geht daraus hervor , dass die Föderation allerdings zum ewigen Frieden führen könnte, wenn man Garantien für die Respectirung der gegenseitigen Interessen finden würde. Gibt es solche Garantien ?
Ich habe im Jahre 1868 eine Brochüre geschrieben
über die „ Ursachen und Wirkungen des nächsten Krieges“, die im Buchhandel nicht mehr existirt, und in welcher die Veranlassungen zum Kriege besprochen werden, deren Beseitigung daher die Vorbedingung zu einem ewigen Frieden oder doch zur europäischen Solidarität und theil weisen Entwaffnung bildet. Der Umstand nun, dass seit jener Zeit zwei Kriege in Europa geführt wurden , ermög licht es, den Werth meiner Ansichten zu prüfen, und werde ich daher die ganze Schrift reproduciren , also gleichsam eine zweite Stereotypauflage veranlassen , wenngleich ich 80 Manches hinzuzufügen und zu verbessern hätte.
Durch
den unveränderten Abdruck aber wird der Leser in
den Stand gesetzt, an der Hand der Erfahrung, die ihm die Geschichte der verflossenen Jahre liefert, die Richtig keit oder Unrichtigkeit meiner Anschauungen zu prüfen,
und falls er die Richtigkeit zugeben muss , wird er kennen lernen , was wir anzustreben haben, um die Menschheit von
den Folgen eines der verderblichsten und traurigsten Vor. urtheile zu befreien .
Der Wortlaut dieser bei Wigand in Leipzig er. schienenen Schrift lautete :
Auf ganz Europa lagert eine schwüle Luft, die beim geringsten Anlasse gleich den Ausbruch eines Krieges befürchten macht; ein Beweis, dass in den Verhaltnissen Europas irgend etwas
Unnatürliches und Verkehrtes liegen muss , weil es ja sonst nicht denkbar wäre, dass man in unserer aufgeklärten Zeit ohne gewich
192
Der Krieg .
tige Motive eine Katastrophe befürchten würde, die so vielen
Tausenden unserer Mitmenschen qualvolle, physische und mora lische Leiden verursachen muss.
Das Recht der Kriegsführung
liegt nach den europäischen Staatsrechten allerdings in den Händen der Monarchen , doch so wenig als dies buchstäblich zu nehmen ist , muss ja selbst ein Monarch Motive für seinen Willen haben. Die Zeiten Tamerlan's sind vorüber, die öffentliche Meinung ist
eine Macht geworden , und diese buldigt unbestritten Einem ober sten Principe dem Fortschritte , trotz allem Missbrauche, den man mit der öffentlichen Meinung und den Anforderungen des Fortschrittes macht,
Ich habe es mir daher in diesen wenigen Blättern zur Auf gabe gestellt, den Fortschritt wirklich als das oberste Princip und
dessen Zusammenhang mit den Ideen der Zeit, daher auch mit der Frage des Krieges und Friedens nachzuweisen ; aus den gewonne nen Resultaten , auf die gegenwärtige europäische Lage angewandt, ergeben sich dann ron selbst diese in der Luft schwebenden
Kriegsbefürchtungen als etwas Nothwendiges. Alles was ist, ist nothwendig, und wir glauben nur dort an Zufall und Willkör, WO es uns noch nicht gelungen ist, die Nothwendigkeit zu er kennen und zu begreifen.
Das metaphysische Bedürfniss des Menschen schafft sich für die Weltanschauung immer eine Unterlage , sei diese nun der Glaube an eine Vorsehung, oder aber die Ueberzeugung, dass die Menschheit und die ganze Natur ihrer Selbstentwickelung über lassen sei, immer wird man und in allen Fällen zu dem Resultate gelangen , dass die Welt der Vervollkommnung entgegengeführt werde, und hierin durch Nichts aufgehalten werden kann . Denn wenn der Mensch auch nicht vom Affen sich entwickelt haben
mag, so muss er doch auf einer diesem sehr nahen Stufe gestanden sein , wie es noch jetzt lebende Geschlechter beweisen. Der
weisse Mensch ist gegenüber dem farbigen auch gegenwärtig ein so entschieden edleres Geschöpf, dass sich der Culturzustand der südamerikanischen Staaten genau nach dem Verbältnisse der weissen zur farbigen Haut berechnen lässt. Wenn wir daher die
materielle Lage, die geistige und moralische Befähigung der euro päischen Bevölkerung mit den Verhältnissen und der Beschaffen
heit ' mancher Völkerschaften Amerika's und Afrika's, oder aber unsere heutigen Zustände mit jenen der früheren Jahrhunderte
Der Krieg
193
oder gar Jahrtausende vergleichen, so drängt sich ' uns, ohne einer weiteren Beweisführung zu bedürfen, rein empirisch die Ueber zeugung auf, dass die Menschheit unaufhaltsam vorwärts schreite, sowohl in der materiellen als geistigen Cultur, und zwar in einer
mehr geometrischen als arithmetischen Progression , weil die Un
terschiede des Culturzustandes gegenwärtig in Jahrzehoten fühl barer sind, als früher in Jahrhunderten. Wenn hier und da Rück schritte bemerkbar sind , so beirren diese den Gang der Ent
wickelung eben so wenig, als wie z. B. Gebirge oder die Abplattung der Planeten diesen die Kugelgestalt nehmen. Die Idee des Fortschrittes beherrscht auch thatsächlich der
massen die Gemüther , dass ehrgeizige oder habsüchtige Motive sich nur unter dem Deckmantel des Fortschrittes zur Geltung zu bringen vermogen , daher oppositionelle Parteien eben so wie die
revolutionäre Propaganda gezwungen sind , sich einer gesunden , im Bedürfnisse der Bevölkerung lebenden Idee zu bemächtigen, wenn sie Erfolg haben wollen. Wo man über Agitation klagt, dort kann man mit Sicherheit annehmen, dass etwas für den Fort schritt reif sei, weil eine revolutionäre Propaganda gleich den
Wespen sich nur an das reifende Obst heranwagen kann ; sie ist eben nicht die Ursache von Störungen, sondern die Wirkung fehlerhafter Zustände. So wurde das Regime der Bourbons in Spanien als ein schlechtes gestürzt, und dabei ist es ganz gleich
giltig, ob die Führer der Revolution aus Patriotismus , Ehrgeiz oder Habsucht gehandelt. So hatte mancher deutsche Fürst ganz eigennützige und weltliche Motive zur Zeit der Glaubenskämpfe,
and dennoch war deren nicht nur angebliche, sondern auch wirk liche Frucht die Glaubensfreiheit. Die inneren Staatsumwälzungen , wenn auch oft nur durch
persönlichen Ehrgeiz durchgeführt, sind immer Krisen der Ent wickelung auf politischem und volkswirthschaftlichem Gebiete, die den Fortschritte nach einer oder der andern Richtung mittelbar oder unmittelbar zu Gute kommen .
Doch nicht nur die joneren
Kämpfe, sondern auch die äusseren Kriege der Staaten müssen nothwendig der leitenden Idee des Fortschrittes unterliegen, namentlich jetzt , wo dichte Bevölkerung , hohe Cultur und die verheerende Wirkung die Verantwortung eines Krieges so sehr erschweren .
Was aber sind die Ursachen und Wirkungen der Kriege ? Als wirkliche oder doch angebliche Ursache erscheinen streitende Interessen der Länder und Völker; die Wirkung aller bedeuten Hellenbach, Vorurtheile 1 .
13
Der Krieg .
194
deren Kriege hingegen waren und sind Territorialver anderungen . Sind die gegenwärtigen Territorialverhältnisse
der Entwickelung hinderlich, so kommt es zum Kriege und muss es zum Kriege kommen ; und das Resultat desselben wird zweifels ohne die teilweise oder gänzliche Beseitigung dieser Hindernisse nach sich ziehen .
Betrachten wir die bisherige Entwickelung der europäischen Staatenbildung , so finden wir drei Factoren , die ihr zu Grunde liegen .
Der erste und alteste, in der gegenwärtigen Epoche aber
bereits schwächste Factor ist der todte Buchstabe der Verträge und Rechte, welcher sein Leben und seinen Werth nur von den beiden nachfolgenden Bedingungen erhalten kann, und auf dessen Bekämpfung und Vernichtung der Krieg eben hinausläuft, wenn der Inhalt dieser Verträge mit den vitalen Interessen der Nationen in Widerspruch gerätb. Es gibt zwar überall eine sehr berech tigte conservative Partei, die sich dieser Theorie widersetzt, weil es in deren Interesse liegt , das Bestehende aufrecht zu erhalten, welche Partei in diesem Strebed durch den Umstand unterstützt
wird , dass jeder Uebergang, jede Transition schmerzbaft ist, daber von vielen Elementen angefeindet wird.
Doch hat eine höhere
Macht nicht nur das Individuum , sondern die ganze Gesellschaft, ja selbst die Natur zur Veredlung und Vervollkommnung durch den Untergang verurtheilt, wie dies die Geschichte unseres Plane ten in jeder Beziehung beweist. Die conservative Partei kann und wird daher den schnellen Lauf der Dinge mässigen, gänzlich authalten kann sie ihn nicht . Was für einen Werth übrigens die feierlichsten Verträge unter Umständen haben , lehrt ja die Ge schichte der letzten fünfzig Jabre. Wenn die durch Verträge bestehende Ordnung der Dinge ohne Zweifel auch den zunächst liegenden Ausgangspunkt der ferneren Entwickelung bildet , ein
dauerndes Hinderniss für Aenderung der Lage ist sie nicht, und war sie nie , denn sonst hätte es ja überhaupt seit der Völkerwan derung keine Kriege gegeben.
Der zweite weit wichtigere Factor sind die materiellen Be
dürfnisse , die geographische Lage eines Landes. Natürliche
Grenzen, geeignete Vertheidigungspunkte , productive Flächen, vortheilhafte Verkehrsadern , wie Flüsse und Meere, waren und sind noch heute Factoren, welche die Staatenbildung beeinflussen, und die in jedem Falle mit in die Rechnung einbezogen werden n.üssen . Aufallende Beispiele hierfür bietet uns die Entstehungs
-
Der Krieg
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geschichte Englands, Spaniens, Norwegens und Schwedens. Oester reich bat Spanien, Neapel und Belgien verloren , Galizien hingegen
erworben , weil die geographische Lage eben ein mächtigerer Factor geworden ist als Erbrechte und Verträge. Doch auch dieser Factor wird in dem Verhältnisse schwächer, als die Isolirung und Absperrung der einzelnen Staaten abnimmt , der
Freihandel und die humanitären Bestrebungen hingegen erstarken. Wabrend nun die geographische Lage und die materiellen Bedürf nisse eines Landes als Factoren gewürdigt, Rechte und Verträge hingegen überschätzt werden , hat man einen dritten Factor , der
sich in der neueren Zeit erst. Geltung verschafft, unterschätzt. Dieser dritte Factor ist ein mächtiges, geistiges Element : Die nationale Idee , deren Zauber vielleicht älter ist , als man gemeinhin glaubt ; nur waren die Träger derselben die
Monarchen ; jetzt hat sich diese Idee demokratisirt, verallgemeinert, und ist auf die Natioven übergegangen . Man hat Unrecht zu glauben , dass die nationalen Bestrebungen
eine vorübergehende, meist durch Agitation Einzelner hervorge rufene Krankheit seien , an welcher weder die gleichgiltige Masse des Volkes noch der objectiv denkende Mensch leide, weil weder das materielle Wohl noch der moralische Werth eines Volkes
hiervon abhängt. Ich werde nachträglich beweisen, dass dem nicht so sei ; doch dieses vorläufig zugegeben, entstünde noch die Frage,
wie lange diese Krankheit wohl dauern, und ob man sie ignoriren kann . Es gibt nichts im Leben der Völker, was nicht für eine Zeit eine ganz gesunde Institution , für eine andere Zeit eine Krankheit wäre. Die nationale Idee ist aber für jetzt eine all gemeine europäische Krankheit, wenn sie überhaupt eine ist, gegen
welche kosmopolitische Theorien fruchtlos ankämpfen. Jedermann wird z. B. zugeben müssen , dass je grösser und cultivirter ein
Volk sei , von desto grösserer Bedeutung auch dessen Literatur und seine Leistungen sein können und müssen , denn je zahl reicher eine Nation ist, desto mebr der bervorragenden productiven Kräfte kann sie erzeugen , und desto grösser ist der Leserkreis, der eine Literatur ermöglicht.
Unter allen Sprachen der Welt ist nun die englische die
jenige, die für die Zukunft die grössten Chancen hat. Nord amerika bat den mehr als doppelten Flächenraum Europas , ist
durch seinen Bodenreichtbum , durch seine Flüsse , Lage und noch viele andere Bedingungen berufen , seine Bevölkerung in einer Progression zu vermehren, die Europa auch nicht im Ent 13 *
Der Krieg.
196 ferntesten einhalten kann.
Nun ist aber die englische Sprache
schon heute die ausgebreitetste der Welt , wie verschwindend klein dagegen ist nicht die Zukunft der französischen Sprache,
die nicht den dreissigsten Theil jener geographischen Ausdehnung und schon heute nicht die Hälfte jener numerischen Verbreitung besitzt ?
Welche unzählbaren Vortheile für Wissenschaft und
Cultur hätte nicht die Erhebung der englischen
Sprache zur
allgemeinen Cultursprache ? Es wäre das Werk einer Generation, sie allgemein zu machen, für was ich mich entschieden begeistern würde, wäre nicht ein Hinderniss , nämlich
die Undurchführ
barkeit! Man mache diesen Vorschlag einer französischen, deutschen oder italienischen Volksversammlung , und man wird finden, dass selbst Krankheiten Factoren sind , die auch der grosse Napoleon
anerkannt, weil er sie eben empfunden hat ; doch ist er zu dieser Erkenntnisserst post festum gekommen. Ich glaube nicht, dass die Gegenwart und nächste Zukunft einen Meuschen hervorbringen wird , der an Gaben des Glückes und des Geistes dieser riesen
haften Erscheinung gleich kommt, und doch hat Napoleon einge standen , dass er den nationalen und liberalen Ideen unter legen sei.
Ich kann jedoch die Annahme , als sei die nationale Idee
eine krankhafte Erscheinung , überhaupt gar nicht zugeben. Das nationale Gefühl erweckt den Gemeinsinn , verallgemeinert die Bildung, schafft nationale Institute und zeichnet sich sichtlich durch das Streben aus , die materielle Wohlfahrt zu heben, und
Alles zu beseitigen , was sich diesen humanitären Zwecken ent gegenstemmt ; die nationale Idee fördert daher den Fortschritt,
und alle Bemühungen, sie niederzuhalten, sind vergeblich.
Aber nicht allein, dass ein für seine Nationalität begeistertes Volk Gutes schafft, die Erfahrung lehrt überdies , dass ein Volk , insolange es mit nationalen Fragen zu kämpfen hat, nicht zu der nothwendigen Ruhe gelangt, um Gutes zu schaffen und die mate riellen Interessen zu fördern. Es befindet sich in einer fieberhaf ten Aufregung und ist im Gegentheile bereit, das materielle Wohl
seinen nationalen Bestrebungen unterzuordnen ; und doch ist es höchste Zeit, dass man an die materiellen Fragen unserer Gesell. schaft herantrete, um die grosse Majorität der Menschheit der trau rigen Lage zu entreissen, in der sie sich befindet. Hätte die nationale Idee wirklich nur diese negative Bedeutung , dass man sich von ihr wie von einem unausweichlichen Uebel loskaufen müsse , um
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Der Krieg .
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zur Ruhe zu gelangen , so wäre dies schon genügend , ihr Rech nung zu tragen , Man braucht aber nicht in die möglich tiefere Bedeutung
der nationalen Idee einzudringen ; ein Blick auf die Ereignisse dieses Jahrhunderts genügt , um es als Thatsache hinzustellen : dass eine in mehrere Staaten zertheilte Nationalität
nach Einigung , verschiedene in einem Staate lebende Nationalitäten nach Trennung streben , welches Streben, wohl durch materielle Interessen, die in der Natur, der geographischen
Lage ihren Grund haben , beschränkt werden kann, niemals aber durch bestehende Verträge , wie dies die Schweiz und Amerika
beweisen .
Die Schweiz ist ein Land , das drei Nationalitäten be
herbergt, das in Gebirgen eingeschlossen , sich eine freiheitliche Existenz
zu erhalten wusste , während die drei herrschenden
Sprachen nicht nur von deren Bewohnern , sondern von den meisten gebildeten Menschen des Continents gesprochen, und von
mehr als 100 Millionen Menschen cultivirt werden ; es hat daher keine Wahrscheinlichkeit, dass die Schweiz jemals ein Verlangen nach Aenderung ihrer Lage empfinden werde. Eines jedoch ist
gewiss, dass es die Verträge nicht, wohl aber die Gleichberech tigung , die Freiheit und vor Allem die Gebirge sind , welche die Schweiz vor Theilung schützen. Amerika bat sich von England losgerissen, aber gewiss nur darum , weil der Ocean zwischen beiden liegt. Dort, wo solche materielle Interessen nicht obwalten , dort hat sich die nationale Idee als eine unwiderstehliche Macht erwiesen .
Zu Anfang dieses Jahrhunderts gab es keine in mehrere
Staaten zerrissene bedeutendere Nationalität , ausser in Italien, Deutschland, Polen und im Oriente , da Frankreich, England und Spanien diesen Process bereits in früheren Jahrhunderten abge
wickelt hatten . Italien hat es verstanden, selbst in seinen Nie derlagen zur Einigung zu gelangen ; die Walachei hat sich mit der Moldau vereinigt , Griechenland sich losgerissen, Serbien be
deutend emancipirt * ), und was in Europa an derartig ungelösten nationalen Fragen geblieben , das bildet thatsächlich noch heute eben den Herd der Agitation , den Keim eines Conflictes. A1 ) einen Krieg zwischen Spanien und Frankreich wird heutzutage *) Serbien und Rumänien haben seit jener Zeit die vollkommene Souveränität erreicht, was ein schlagender Beweis für die Nothwendig keit ist, mit welcher die Entwickelungen vorwärts schreiten .
Der Krieg.
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Niemand glauben , weil beide Länder durch glückliche Grenzen getrennt , von zwei verschiedenen Nationen bewohnt sind ; selbst
einige hunderttausend Franzosen jenseits der Pyrenäen oder Spanier diesseits derselben
würden das Vertrauen auf den
Frieden nicht erschüttern . Es gibt also Verhältnisse, die den Krieg
ausschliessen, und so muss es auch welche geben , die ihn her. vorrufen , und diese sind es eben , die ich dem Leser vor fahren will .
Einer schönen Helena zu Liebe führt man keine
Kriege mehr, Occupationen fruchtbarer Länder und Sclavenarbeit der besiegten Feinde sind auch nicht möglich, die Erbrechte der Fürsten weichen den materiellen und geistigen Bedürfnissen der
Nationen ; deren Befriedigung aber ist von der geographischen und nationalen Lage abhängig. Im Einklange mit der obigen Entwickelung fürchtet Europa den Ausbruch des Krieges theils
im Oriente , theils am Rheine. Und warum das ? Weil Deutsch land eine in mehrere Staaten zerrissene Nation bewohnt, den Orient aber
mehrere Nationen in Einem Staate
bewohnen .
In
dem einen Falle ist es die Einigung , in dem andern Falle die Trennung , die das Streben kennzeichnet. Im Westen existirt
eine Macht , von der man annimmt , sie wolle die Einigung Deutschlands hindern , wohingegen im Osten eine Macht die
Auflösung
der
ist es , warum fürchten .
Türkei zu fördern geneigt sein soll. wir
Das
den Ausbruch eines allgemeinen Krieges
Wir stehen also vollkommen auf dem Standpunkte der Er Ist die Menschheit in ihrer Entwickelung fortgeschritten , oder nicht ? Diese Frage muss entschieden bejaht werden. Ist die Menschheit berufen , nunmebr stille zu stehen, hat fahrung , wenn wir die folgenden Fragen aufwerfen :
sie etwa bereits die höchste Stufe erklommen ? muss verneint werden,
Diese Frage
Ist die nationale Idee und was damit zusammenhängt, ein Moment des Fortschrittes oder nicht ?
Ich würde diese Frage
bejahen , doch weil es so verknöcherte Conservative gibt , die im Stande wären, die Frage auch heute noch zu verneinen, so wollen wir sie anders formuliren. Kann man Angesichts der staatlichen Einigung der ehemaligen französischen , spanischen und englischen Länder in früheren Jahrhunderten, Angesichts der Ereignisse in der Walachei, Moldau , Serbien , Griechenland und Italien in neuerer Zeit läugnen , dass die nationale Idee eine Kraft sei, die sich Geltung zu verschaffen weiss ? - Diese Frage muss bejaht
Der Krieg .
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werden , und mehr braucht es nicht ,
um mit Bestimmtheit die
nächsten europäischen Conflicte und deren Folgen in vorhinein zu bestimmen .
Doch bevor wir dies thun , wollen wir auch in die tiefere
Bedeutung der nationalen Idee eingehen und nachweisen , auf welch' materieller, in die Interessen der Menschheit tief eingrei fender Grundlage dieser Imperativ der Kriegsführung beruht, und
wie der nächste, wir wollen hoffen auch letzte europäische Krieg, den unentbehrlichen Grundstein für die Segnungen des Friedens
und den Aufschwung der Cultur bildet „ Le peuple a le droit du pain, " ist ein Ausspruch, den, wenn ich nicht irre, Saint Just gethan , was indess der Wahrheit des selben keinen Abbruch thut.
Thatsache ist es , dass sich das
Volk mit einer Anweisung auf das künftige Leben nicht mehr zufrieden stellen lässt , und seine Aufmerksamkeit den irdischen Gütern zuwendet, die trotz ihrer colossalen Anhäufung der Masse des Volkes unerreichbar sind und auch bleiben.
Umsonst ist die
natürliche Production des Bodens, umsonst hat der menschliche Geist den grössten Theil der Arbeit der rohen Kraft der Maschinen
tiberantwortet, umsonst sind alle die Erfindungen , durch welche Ein Mensch mehr leistet , als früher Hunderte, umsonst schafft man von fernen Welttheilen selbst die Nahrungsstoffe theils als
Dünger, theils als concentrirte Fleisch-Gallerte nach Europa ! Die arbeitenden Classen gewinnen nie mehr, oft aber weniger als den
nackten Lebensunterhalt , und können auch nicht mehr gewinnen.
Denn die Arbeit ist in Folge ihrer Theilung ins Unendliche , in Folge der freien Concurrenz , in Folge der Vorbedingung des Capitals, in Folge der Abhängigkeit der Werthe von Angebot
und Nachfrage zur Waare , der Arbeiter eine Sache geworden derart, dass selbst conservative Nationalökonomen gestehen , die Menschheit scheine der Producte halber , nicht aber die Producte der Menschheit wegen zu existiren . Die arbeitenden Classen kämpfen mit den Nahrungssorgen gleich dem Thiere, und be
sitzen zum Unterschiede von diesem die reflectirende Vernunft, gerade nur um ihre traurige Lage nicht nur in der Gegen
wart, sondern auch in der Vergangenheit und Zukunft vor Augen zu behalten.
Die Socialdemokraten sagen , diese Erscheinung sei die Folge der masslosen Ausbeutung der Arbeit durch das Capital,
Der Krieg.
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und doch ist jeder Vorschlag , der das Eigenthum oder nur die freie Concurrenz in Frage stellen würde , ein noch grösseres Uebel als das bestehende. Die Natur selbst ist die Anhängerin der freien Concurrenz, diese ist sogar deren oberstes Princip am Firmamente , in der Vegetation und in allem organischen Leben.
Die Natur schafft gerade durch die freie Concurrenz gewaltige uud schwache Köpfe, arbeitsame und faule Organismen , so wie sie grosse und kleine Weltkörper , die zahllosen Bäume, Gräser und
Thierarten geschaffen. Es liegt auch überhaupt in der ökono mischen Natur aller volkswirthschaftlichen Kategorien , dass sie gleichzeitig die Quelle des Guten und Schlechten, des Wohlstandes
und der Armuth sind. Eigenthum , Theilung der Arbeit, freie Concurrenz, Production von Tauschwerthen , Credit u s. f. sind lauter Quellen der höheren Cultur, dass sie aber auch vom Uebel
sind , ist die Folge nicht der Ausbeutung der Arbeit durch das Capital
denn dies ist unausweichlich
sondern
der Aus
beutung der Gesellschaft durch das Individ uu m. Plato so gut wie Adam Smith haben schon das Ver
derbliche betont, wenn das regierende Element den Staat als für sich geschaffen und nicht umgekehrt auffasst. Wie viel mehr muss
die Umkebrung des Verhältnisses jetzt verderblich sein, wo zu den grossen Bedürfnissen einer zahlreichen Bureaukratie noch das
Börsenkapital hinzutritt, um mit jener im Vereine die Staats gewalt für die individuellen Zwecke auszubeuten und das alge meine Interesse zu schädigen, wie die Geschichte unserer Eisen bahnen , Creditinstitute und Anlehen beweisen. Das nationale
und constitutionelle Princip ist eben das Streben , die Interessen der Gesammtheit zu wahren, die Gesellschaft von der Willkür einzelner Individuen und Kasten zu befreien, und sich selbst zur Geltung zu bringen.
Wenn das constitutionelle Prinzip auch geeignet ist , den Kampf gegen die Ueberschreitungen der Bureaukratie mit Erfolg zu bestehen , so ist es doch ohnmächtig dem Capitale gegenüber, insolange der Staat Schulden auf Schulden zu häufen und da
durch die Gesellschaft zu belasten gezwungen ist. Ist die Gesell schaft hingegen activ, so ist die Uebermacht des individuellen Capitals auch ohne die Dazwischenkunft der Socialdemokraten gebrochen, und nur mehr wohlthätig, nicht verderblich.
dies ein Gegenstand , wofür die Beweisführung ein Buch füllen
könnte und eseigentlich erfordern würde; ich muss mich jedoch begnügen im Wege der Induction den Beweis herzustellen , der
Der Krieg .
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übrigens jedem denkenden , vor Allem aber fühlenden Menschen gentigen dürfte .
Wenn ein Privatmann sein Vermögen auf die irrationellste
Weise bewirthschaftet, jedoch weniger ausgibt , als er einninımt, So muss er dennoch gedeihen, während umgekehrt der grösst mögliche Zinsenertrag ein Vermögen nicht retten karn, wenn über denselben hinaus das Capital constant angegriffen wird. Was sollen also die genialsten Conceptionen über Arbeit , Tausch ,
Concurrenz, Capital, Credit helfen , insolange der Staat selbst der Macht des Capitals unterliegt, da ja die übermässige Ausbeu
tung der arbeitenden Classe jedenfalls doch auf mittelbarem Wege erfolgt. Jedes Individuum ist als Staatsbürger gleichsam Actionär einer Gesellschaft, was allerdings nicht hindert und auch nicht bindern darf, dass es noch anderweitiges, von dieser Actien gesellschaft unabhängiges Vermögen besitzen kann .
päischen Staaten
Die euro
sind nun durchwegs passive Gesellschaften,
derart, dass selbst ein Theil des individuellen Vermögens zur Deckung jenes Passivums verloren geht. Derjenige nun, der kein individuelles Vermögen besitzt , ist als geborener Actionär
einer passiven Gesellschaft geborener Schuldner obne Vermögen , er ist der weisse Sclave der Civilisation. Das Capital findet zufolge unserer Finanzwirthschaft Gelegenheit , sich die ganze Gesellschaft solidarisch zinspflichtig zu machen ,
nachdem es
obnebin die individuelle Arbeitskraft, die Werkzeuge , den Roh stoff, ja selbst die Verkehrsmittel , mit einem Worte Alles occu pirt, welche Occupation schon in der vorchristlichen Zeit be gonnen hat.
Hätten umgekehrt die europäischen Staaten keine so riesen baften Armeen, keine Staatsschulden, wären sie sogar Gläubiger ihrer Staatsangehörigen statt deren Schuldner, so besässe jeder
Staatsbürger ausser seinem individuellen Vermögen noch den Genuss des Gesammtvermögens, dessen stiller Theilnehmer er wäre.
In dem Masse als
nun
das Staatsvermögen anwachsen
würde, verschwände die Macht des individuellen Vermögens , und die sociale Frage ginge successive durch sich selbst ohne Erschüt terungen ihrer Lösung entgegen. Es ist hier nicht der Ort nach zuweisen, wie der Staat durch eine rationelle Handhabung des Credit- und Steuerwesens von seinem activen Stande zu Gunsten
seiner Bürger den geeignetsten Gebrauch machen, und dadurch den Gegensatz zwischen Capital und Arbeit zum synthetischen Ausgleich bringen soll und kann , es genügt die volle Ueberein
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stimmung aller liberal Denkenden , dass die Staaten durch ihre riesenhaften Schulden und Militärausgaben gezwungen sind, die
Production zu belasten , die Staatsschulden zu vermehren , die Bedürfnisse der Cultur hingegen zu vernachlässigen .
Nachdem
man aber zur Erreichung des anerkannt nothwendigen activen Standes die schon contrahirten Schulden ebensowenig reduciren ,
als die bestehenden Steuern wesentlich erhöhen kann, so erübrigt nur die Reduction des Armeebudgets von dem ungefähren Dritt theile der gesammten Staatseinnahmen auf etwa ein Zehntel, wie
in der Schweiz, wenn der Staat seiner Aufgabe nachkommen und
das Verhältniss der productiven Stände zu den unproductiven günstiger gestellt werden soll.
Diese Armeereductionen , das allgemeine Petitum von ganz
Europa, sind jedoch insolange unmöglich , als sie nicht allgemein sind, und allgemein können sie nicht werden , bis nicht die Ter ritorialverhältnisse in Europa ihre natürlichen Grundlagen haben ;
als solche haben wir das durch die materiellen und geographi schen Verhältnisse beschränkte nationale Princip gefunden, und
somit ist die nationale Idee gleichzeitig die Vorkämpferin einer rein materiellen , darum auch nicht zu beseitigenden Frage ge worden, denn sie ist es, welche die europäische Gesellschaft von
den erdrückenden Armeebudgets befreien wird , und auch allein nachhaltig befreien kann. Daher kommt es auch, dass die Mensch heit , geleitet durch den richtigen Instinct, sich für die ver lockendsten Propositionen socialer Reformen nicht begeistert, während sie allen liberalen Forderungen zujauchzt, und sie nichts so sehr in Flammen setzt, als das nationale Feuer. die gesetz Was verlangt ein Volk im Allgemeinen ? gebende Gewalt , Majoritätsregierung, Schwurgerichte , Pressfreiheit,
allgemeine Wehrpflicht. Diese Schlagworte sind aber lauter Ga rantien , denen nachweisbar das Streben innewohnt, die Gesell schaft über das Individuum zu setzen , das heisst so viel, als die bestehende Ordnung unzukehren . Die Gesellschaft will sich die
Gesetze selbst geben , sie will nach ihrem Geschmacke regiert werden , sie will allein den Werth oder Unwerth geschriebener
Gedanken beurtheilen , sie will endlich über Krieg und Frieden entscheiden .
Es ist wahr, auch diese obigen Errungenschaften sind in
Europa grösstentheils noch auf dem Papiere ; die liberale Idee hat vorerst den formellen Sieg errungen , weil der Anstand ver bietet ohne liberale Formen zu regieren . Die conservativen Stände,
Der Krieg.
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ohne Zweifel die zähesten , haben über Europa den falschen Liberalismus gebracht; sie wussten ihn nämlich zu fälschen, nach
dem derselbe schon unausweichlich geworden ; denn das liberale Prinzip hat sich nur so weit Bahn gebrochen , dass keine euro päische Macht auf die Dauer ohne eine Majoritätsregierung formell wenigstens bestehen kann. Doch hat man sich nicht zur
Aufgabe gestellt, die Minister den Majoritaten anzupassen , was doch der natürliche Zweck des Constitutionalismus ist, sondern umgekehrt die Majoritäten den Ministern. Der Minister regiert nicht derart, dass er die Zustimmung der Kammer erwirbt, son dern er schafft sich mit Hilfe der Regierungsgewalt eine Kammer, die ihm zustimmt.
Was auch ganz natürlich ist.
Denn ist ein
Bild verkehrt, so müssen alle Theile des Bildes auch verkehrt sein, und nachdem die meisten europäischen Staaten nicht Mittel zu Gesellschaftszwecken , sondern umgekehrt die Majorität der
Staatsbürger das Mittel sind, und die Staatsmaschine der Zweck ist, so muss diese umgekehrte Pyramide , die Ausbeutung der Gesellschaft durch
das Individuum ,
sich auch überall finden
lassen. Durch diese in Frankreich auf der höchsten Stufe stehende Regierungsweise wird aber die Repräsentativverfassung eine kost
spielige Illusion für die Regierten und ein Verderben für die Regierenden , weil diese statt den ehrlichen unschädlichen Kampf der Parteien unter einander und innerhalb einer Verfassung, aiso die freie Concurrenz gewähren zu lassen , einen Kampf gegen die Regierung und die Verfassung selbst hervorrufen. Statt der Oppo sition hat man dann eine Revolution.*) Das Sonderbare an der Sache ist , dass es ein streng mon
archisches Interesse ist , den falschen Liberalismus zu beseitigen. Die Gefahr, dass Parteien Missbrauch mit den Regierungsmitteln
zu Gunsten der Parteizwecke treiben können , ist die legitimste Stütze des monarchischen Prinzips , weil es über den Parteien stehen kann und soll , und weil der Instinct des Volkes auch im
monarchischen Prinzipe gegen den Ehrgeiz und die Immoralität der Parteipolitik Garantien sucht, die mit einer Civilliste keines wegs zu theuer bezahlt sind, wenn sie sich bewähren. Ein Thron
muss gegenüber seinen Staatsbürgern der Hort der Ehre und Morai sein ; sind die Minoritäten preisgegeben , oder gar die Majoritäten gefälscht, so wird der Thron, als seinem Zwecke nicht entsprechend , überflüssig , und mit mehr oder weniger Erfolg * ) Die auch nicht ausgeblieben ist.
Der Krieg .
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unterwühlt.
Das sind die Früchte eines falschen Liberalismus.
Die fortschreitende Bildung der Massen wird auch diesen Misse brauch bald zu Grabe tragen.
Man kann die freien Wahlen be
hindern , man kann die Presse kaufen, unterdrücken, man kann Versammlungen verbieten, aber Eines kann man nicht , das Denken kann man weder verbieten noch hindern.
Man denkt,
urtheilt, spricht in kleinen Kreisen , diese Kreise werden immmer zahlreicher, umfassen endlich die gesammte Intelligenz, und wenn,
aus was immer für einem Grunde , die Öffentliche Meinung den Muth oder die Mittel findet, zum Durchbruch zu kommen , so klagt man über Agitation. Man vergisst , dass zu spät
es bei Fortschrittsideen genügt , wenn ein Zehntel Procent der Bevölkerung vom Geiste der Zeit angefressen ist ; daher denn auch die relative Widerstandskraft einer Nation mathematisch be
stimmbar ist, und von dem Verhältnisse der Tagespresse zur Zahl seiner Bewohner und dem Grade der Bildung überhaupt abhängt.
Ist dieser falsche Liberalismus überhaupt von keiner Dauer, so ist er selbst für momentane Zwecke ein verwerfliches, durch nichts zu rechtfertigendes Mittel. Es ist besser , loyaler und staatsmännischer gegen den Willen einer Kammer à la Bismarck
aufzutreten , und sich durch den Erfolg zu rechtfertigen , als die Öffentliche Moral zu untergraben, und der Willkür die Gleissnerei beizufügen. Es ist besser einer wandelbaren Majorität, als dem Institute selbst ins Gesicht zu schlagen ; es ist ritterlicher ohne Kammer bei voller moralischer Verantwortung zu regieren , als willkürlich unter Abwälzung der Verantwortlichkeit mit falschen Vollmachten zu handeln . Das erste vergeben Nationen dem Er. folge, das zweite nie. Mit solchen Mitteln wird man nationale Bestrebungen auch nicht niederhalten, sondern ihnen vielmehr einen
viel leidenschaftlicheren und verderblicheren Charakter aufprägen. Der unbewusste Instinct , der Geist der Menschheit beab
sichtigt durch die nationale Idee , das ist durch die Solidarität und Zusammengehörigkeit grosser Massen , die moralischen Früchte des Familienlebens auszudehnen , den Egoismus zu todten, den Patriotismus zu beleben. Die nationale Idee wird die Völker vom Uebermasse des Militärbudgets befreien , und in ihre Culturbestrebungen die Palme des Friedens tragen. Nur auf
diese Weise können die Staaten befähigt werden , ihrer Aufgabe zu genügen. Wenn ich aber auch die nationale Idee als ein Moment des
Fortschrittes und daher als eine unbesiegbare Kraft anerkende,
Der Krieg .
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80 habe ich dennoch gleich im Anfange zugestanden , dass sie durch materielle Interessen allerdings Beschränkungen erleiden
kann, dass also die Zersetzung bestehender und Bildung neuer Staaten im nationalen Sinne immerhin durch die Natur gegebene Grenzen finden kann. Es ist daher nothwendig , einen Blick auf Deutschland, den Orient und deren nächste Umgebung zu werfen , um diese Grenzen aufzusuchen , die den nationalen Bestrebungen möglicher Weise gezogen werden könnten.
Im Herzen Europas lebt eine grosse , vielleicht die cultur
fähigste Nation, die bis zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts unter einem deutschen Kaiser , wenigsteus dem Scheine nach geeinigt
Diese Einigung war allerdings nur eine ideelle , welcher die steten inneren Spaltungen Hohn sprachen. Deutschland wurde durch Napoleon zerrissen , durch den nationalen Aufschwung der Völker wieder befreit, und mit einer Einigung in Gestalt der Bundesverfassung durch die Fürsten beglückt. Der geringe prak dastand.
tische Werth dieser Einigung wurde durch die neuesten Er
eignisse klar gestellt , und Deutschland erhielt durch den Prager Frieden eine Gestalt, an deren Unhaltbarkeit wohl Niemand zweifeln wird.
Es ist wahr , dass Preussen durch seine Machtentwickelung
und durch die Schnelligkeit, mit welcher es die österreichischen Heere im Vergleiche zu Frankreich geschlagen , das deutsche
Nationalbewusstsein vielfach gehoben hat, auch unterliegt es keinem Zweifel , dass die Ueberzeugung eine allgemeine sei , Preussen
werde sich mit der gegenwärtigen Lage nicht begnügen , und
das Werk der nationalen Einigung fortsetzen . Nichtsdesto weniger lässt sich nicht in Abrede stellen , dass Deutschland gerade durch den Prager Frieden zerrissener dastehe denn je, und wenn der nationale Geist sich auch vorläufig nur in Toasten
kund gibt, so ist er doch hinreichend vorhanden , um die Un behaglichkeit des jetzigen Zustandes durchblicken zu lassen . Jene Macht also , die für die Aufrechthaltung des Prager Friedens kämpfen sollte , kämpft offenbar für etwas Unhaltbares und muss unterliegen , wobei der sonderbare Fall einzutreten scheint,
dass jene siegende Macht , die diesen Frieden geschaffen, ihn zu beseitigen strebt , während die besiegte Macht, der derselbe auferlegt wurde , ihn aufrecht zu erhalten Willens ist , in dem
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frommen Glauben , dadurch ihre Neutralität erhalten zu können. Preussen kann , ohne seiner nun einnal unternomnienen Mission untreu zu werden, bei den Bestimmungen des Prager Friedens nicht stehen bleiben , und Oesterreich kapn durch nichts sicherer in Krieg und zwar in einen sehr unvortheilhaften Krieg ver wickelt werden , als durch Aufrechthaltung der gegenwärtigen
deutschen Zustände, die übrigens durch den nächsten Conflict auf jeden Fall in Trümmer gehen , aus welchen sich eine grössere Einigung Deutschlands unter allen Umständen er heben wird.
Wer immer Sieger bliebe , ob es das Haus Habs
burg oder Hohenzollern ist , welches dieses Werk der Einigung nach österreichischer oder preussischer Anschauung um einen Schritt weiter brächte , das ist objectiv genommen gleichgiltig. Doch das kann mit Sicherheit angenommen werden , dass sich
Deutschland in einer Lage befindet, die keine Dauer verspricht, vielmehr einer Aenderung entgegen geht. Es würde dies eben keinen Krieg hervorrufen müssen, wenn Frankreich es nicht stets für seine Aufgabe gehalten , eine zu grosse staatliche Macht in Mitteleuropa nicht zu dulden , wie
die ewigen Kämpfe gegen das Haus Habsburg beweisen . Das Deutschland der Bundesacte hätte durch den Umstand , dass ein zelne Bundesfürsten auch ausserdeutsche grosse Besitzungen hatten , und mebrere Bestandtbeile gar nicht deutsch bevölkert
sind , allerdings eine gewaltige Macht vorgestellt, wäre die Bun desverfassung überhaupt etwas mehr als ein Stück Papier gewesen. Die wirkliche Einigung einer solchen Macht hätte in Frankreich und wahrscheinlich auch sonst wo auf Widerspruch gestossen. Dieses Deutschland , vom adriatischen Meere bis zur Ostsee, und von der Nordsee bis an die untere Donau , möchte ich beinahe
sagen , besteht nicht mehr , kann und wird nie mebr aufgerichtet werden ; wenn aber alle wirklich deutschen Länder sich auch einigen , so überragen sie noch immer nicht die Grösse und Be
völkerung Frankreichs *) , noch weniger aber könnte das mögliche
Deutschland ohne Oesterreich , Frankreich Besorgnisse einflössen. Nichtsdesto weniger glaubt man , dass die französische Diplomatie einer
grösseren
Einigung
hindernd entgegentreten werde
eine französische Nationalversammlung thäte es nicht.
C
Bei
einem solchen Stande der Dinge ist es begreiflich, dass von *) Das hat sich seit der Abtrennung von Elsass und Lothringen allerdings geändert.
Der Krieg.
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einer Entwaffpung in diesem Theile Europas nicht die Rede sein könne.
Der Orient befindet sich in einer Gåbrung , die bereits seit vielen Jabren von ganz Europa als die orientalische Frage be zeichnet wird ; und obschon mit Ausnahme Russlands, alle Cabi nete die Aufrechthaltung der Pforte sich zur Aufgabe setzen , SO
hat sich dennoch das griechische und rumänische Element beinahe gänzlich, das slavische theilweise losgerissen. Und warum das ? Weil die durch den Koran bedingten socialen Verhältnisse der Mohamedaner dem Fortschritte hinderlicher sind , als die der Christen , jene daher im Wege der freien Concurrenz verdrångt werden müssen , und weil das nationale Fieber auch dort seine Wirkungen äussert, und nunmehr in steigender Progression äussern wird .
Nicht das Dogma des Glaubens, nicht das sinnliche Para dies und die sieben Höllen sind es, durch welche die Civilisation
der Türkei unmöglich wird , sondern die Sclaverei des Weibes, der Menschen und viele andere Unzukommlichkeiten des durch den Koran bedingten socialen Lebens. Die Türkei besitzt that sächlich weder eine Literatur , noch irgend welche Objecte der Kunst.
Darwin hat nachgewiesen , dass der Kampf um das Dasein, die freie Concurrenz, die Zauberformel sei, durch welche die Natur
die Vervielfältigung und Vervollkommnung der Organismen her. vorruft; die Nationalökonomie bat nachgewiesen , dass es wieder die freie Concurrenz sei, welche in der Industrie die staudens werthe Production hervorbrachte. Und das , was auf der Wiese und in der Fabrikstadt gilt, das gilt auch im Leben der Staaten und Nationen ; die, welche zurückbleiben, müssen untergehen, sie werden verdrängt , und wenn sie der Druck nicht zu gesteigertem Lelen aufstachelt, so gehen sie auch unter. Der Türke ist, in
solange der Koran über seine socialen Verbältnisse herrscht, nicht civilisationsfähig , die wahrbafte Emancipation der südslavischen Völker ist gleichzeitig ein Gebot der Cultur und der nationalen
Idee ; wer daher für die Aufrechthaltung der gegenwärtigen Verhältnisse in der Türkei eintritt, schwimmt gegen den Strom, der ihn unfehlbar in seinen Fluthen begräbt.
Deutschland also und der Orient sind in einem Zustande, der nicht aufrecht erhalten werden kann, und da ergibt sich der Unterschied , dass Deutschland seiner Entwickelung aus sich selbst
und durch sich entgegengeht, weil von Aussen Niemand seine
Der Krieg .
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Entwickelung fördert, im Gegentheile sie wird erschwert; während
im Orient es eine fremde Macht ist, die auf die Auflösung der Türkei entschieden hinarbeitet ; die nationale Idee hat hier eine
doppelte Aufgabe: zu einigen was getrennt ist, und zu trennen, was gewaltsam zusammengehalten wird. In Deutschland sind die Verhältnisse klar.
Das Bedürfniss
der nationalen Einigung tritt immer mehr zu Tage , und wofern keine Hirdernisse in den Weg gelegt würden, dürfte sich das reife deutsche Volk auch mit einer langsameren Entwickelung begnügen.
Hindernisse materieller oder geographischer Natur jedoch sind nicht vorhanden ; das Einzige , was in Deutschland selbst die nationale Einigung erschwert, sind die geschichtlich entwickelten
Kleinstaaten, die je nach dem stärkeren oder schwächeren Wider stande, welchen sie den Anforderungen des Fortschrittes leisten sollten, auf mehr oder minder radicale Weise zu Grabe getragen würden.
Die Rücksicht für historische Rechte scheint es auch
zu sein , welche die Träger der nationalen Idee in Deutschland zur Mässigung und langsameren Entwickelung veranlassen , keines wegs aber die Haltung Frankreichs, welches, insolange die Ver
hältnisse des Orients ungeklärt sind , gar nicht in der Lage ist, Verwickelungen am Rheine hervorzurufen, weil diese an der ent fernten Donau entschieden werden würden, wie dies nicht nur in der Natur der Sache liegt, sondern auch durch die Reisen hoher französischer Persönlichkeiten nach dem Osten bestätigt wird. Die deutsche und orientalische Frage stehen in einem So engen Zusammenhange, dass die erstere ohne die zweite gar nicht gelöst werden kann. Wäre z. B. die Neutralität Russlands und die Ruhe in der Türkei sichergestellt, so ist es klar, dass
in den gegenwärtigen Verhältnissen Preussen gegenüber Frankreich und Oesterreich an dem Prager Frieden zu rütteln nicht wagen
könnte ; insolange aber Preussen die gegenwärtigen Verhältnisse aufrecht erhält, entfällt für Frankreich jeder mögliche Vorwand und für Oesterreich auch jedes Verlangen einer Einmischung. Sollten dennoch Verwickelungen durch welch immer unvorher gesehene Zufälle hervorgerufen werden , so wäre im Osten an einem Auflodern des nationalen und religiösen Feuers
zu hellen Flammen nicht zu zweifeln ; * ) denn das europäische *) Dieser unvorhergesehene Zufall ist nun wirklich eingetreten. Durch die Candidirung eines Hohenzollern für den spanischen Thron wurde Louis Napoleon in die Lage versetzt, mit Preussen anzubinden,
Der Krieg.
209
Staatsleben steht in einer solchen Wechselwirkung , dass ein Kampf, Sieg oder eine Niederlage irgend eines Princips an einem Punkte , über dasselbe Princip in ganz Europa entscheiden kann . Wir dürfen uns nur an die französische Revolution
des Jahres
1848, die darauf folgende Reaction und deren Wirkungen in ganz Europa erinnern. In richtiger Würdigung dieses Umstandes hat der Kaiser
der Franzosen , Prinz Napoleon und noch andere Personlichkeiten Reisen gemacht , die keinen andern Zweck hatten, als die Wider standskraft Oesterreichs und der Türkei gegen Russland kennen
zu lernen . Desgleichen lässt das Interesse der preussischen Diplo matie an den orientalischen Angelegenheiten eine ähnliche An
schauung über deren Tragweite für Deutschland vermuthen. Es unterliegt demnach keinem Zweifel, dass eine weitere und schnel lere Entwickelung Deutschlands insolange aufgehalten ist , als die Verhältnisse des Orients und hiermit auch Oesterreichs keine
Uebersicht gewähren , dass ferner , da die Interessen des Fort schrittes und der Humanität in der Türkei auf weit flagrantere Weise geschädigt sind als die nationale Sache in Deutschland, der Kampf mit den bestehenden Verhältnissen im Osten zuerst zum Ausbruche gelangen und seine Rückwirkung auf Deutsch land äussern wird.
Die Verhältnisse an der untern Donau sind
abr weder so klar noch bekannt , als die Verhältnisse Deutsch
lands, woraus die Nothwendigkeit erfolgt, die orientalischen Wir.
ren einer eingehenderen Betrachtung zuesunterziehen. Die Beur
theilung ist eine schwierigere , weil
sich
nicht um Eine,
sondern mehrere Nationalitäten, nicht um die Form eines Staates,
sondern um die Zersetzung bestehender und die Entstehung neuer Staaten handelt , und doch ist sie in diesem Augenblicke die
nähere und wichtigere , weil die natürlichen Grundlagen des öst lichen Europas eine nothwendige Vorbedingung für die natür. liche Grundlage der deutschen Verhältnisse bilden.
Die Frage,
dem er im deutsch -österreichischen Kriege aufgesessen. Revanchege laste, Ländergier, innere Verlegenheiten , Alles hatte dazu beigetragen,
Napoleon diesen fortschrittswidrigen Krieg beginnen zu lassen , der ihm den Thron kostete
wie ich dies weiter unten sogar ausdrücklich
für diesen Fall in Aussicht gestellt. Dass die Vergrösseru og Preussens und die Haltung Russlands und Oesterroichs während des französisch
deutschen Krieges die orientalische Krise ermöglichte, liegt auf der Hand. Die Vergrösserung Preussens im Westen ermöglicht die Oesterreichs im Osten, und umgekehrt. Hellonbach, Vorurtheile. I.
14
210
Der Krieg
ob Nationalitäten das Recht haben, die Entwickelung der anderen zu hindern , oder gar fremde Nationalitäten den eigenen nationa len Zwecken unterzuordnen , ist eben keine locale , an einen be
stimmten Meridian gebundene, sondern eine allgemein europäische Angelegen heit , welche offenbar dort früher zur Austragung ge langt, wo das Uebel greller zu Tage tritt. Von der Türkei haben sich bis jetzt an christlichen Völkern losgerissen : die Griechen, die Rumänen, und von den Slaven die Serben und Montenegriner. Zwischen diesen letzteren liegt noch eine Million derselben Nationalität angehöriger Slaven, und Östlich von Serbien etwa fünf Millionen Bulgaren, die zwar eine slavische, doch von der serbocroatischen verschiedene Sprache sprechen, Die Albanesen sind ein noch todter Körper, der hier nicht in Be
tracht kommt. Die Südslaren überhaupt zerfallen der Sprache nach in drei Gruppen : die Serben, Croaten , Dalmatiner, Montene
griner , Bosniaken als erste Gruppe , die diesen nahe sprachver wandten Slovenen als zweite, und die Bulgaren als dritte Gruppe. Wer ein südslavisches Reich auf Grundlage der nationalen Idee
hofft oder befürchtet, befindet sich daher in einer gleichen Illusion, denn es ergeben sich mindestens zwei Gruppen , wenn man die Sprache, und drei Gruppen, wenn man sociale, geographische und
andere Verbältnisse berücksichtigt . Zu diesen Völkern steht Russ land in noch nicht entschleierten Beziehungen.
Russland hat in seiner Ausdehnung , in der Jungfräulichkeit seines Bodens, in seinen dem Eisenbahnbaue so günstigen Ebenen und in der viel grösseren Progression der Bevölkerungszu nahme gegenüber Europa derartige Bedingungen seiner Macht und Grösse, dass es unbegreiflich erscheißt, wie russische Staats männer ibre Aufmerksamkeit auch nur einen Augenblick von den Einige gut angelegte Administrativ - Massregeln können das von so manchen inneren Bedürfnissen des Landes ablenken können.
socialen Uebeln des Westens nicht angefressene Russland weit mächtiger machen , als einige tausend Quadratmeilen europäischen
Bodens ; es ist demnach sehr zu bezweifeln , dass es Russland um eine wirkliche Annexion zu thun sei. Eine agressive Politik Russlands dem Westen gegenüber müsste überdies das ganze
liberale Europa vereinigen und zu den Waffen rufen, denn es wäre eben so ein entschiedener Rückschritt, wenn das um ein Jahrhundert zurückgebliebene Russland westliche Theile Europas mit seinen
Staatseinrichtungen beglückte, als umgekebrt die Besitzergreifungen Russlands in Asien dem Fortschritte zu Gute kommen , und
Der Krieg .
211
von jedem Freunde der Menschheit begrüsst werden müssen. Nichtsdestoweniger scheinen die russischen Staatsmänner zu über
sehen , dass sie zu Hause für ihre Thätigkeit die grossartigsten Mittel und das weiteste Feld besitzen , das dem menschlichen Geiste überhaupt geboten werden kann. Ist es das religiöse Ge fühl der heimischen Bevölkerung , das jene Staatsmänner veran lasst, sich ihrer Glaubensgerossen in der Türkei anzunehmen ?
Fürchten sie um ihren Einfluss in Europa , den sie dadurch sicher stellen wollen ? Wollen sie kleinere Nachbarstaaten an der Grenze , oder ist es wirklich ein grosses Slavenreich , das ihnen
vor Augen schwebt ? Das Wahrscheinliche an der Sache ist, dass Russland schon seit geraumer Zeit die Möglichkeit einer euro päischen Coalition befürchtet, wie denn thatsächlich fünf Mächte sich an dem Krimkriege betheiligten, und dass es daher an seinen westlichen Grenzen ihm glaubens- und sprachverwandte Staaten sehen will.
Fürst Adam Czartoriski soll es gewesen sein, der in Alexan der dem Ersten von Russland den Gedanken eines Slavenreiches
allerdings angeregt hätte , gleichsam als Entschädigung für den Untergang Polens.
Hätten die russischen Staatsmänner , vor
Allen aber Nikolaus der Erste im Sinne dieser Idee gehandelt, das heisst , hätte Russland die nationale Selbstständigkeit Polens aufrecht erhalten und sich etwa mit der Confiscation der
äusseren Politik begnügt, so wäre es nicht unmöglich geworden,
dass andere, in nationaler Beziehung gedrückte slavische Völker eine Polen ähdliche nationale Existenz unter dem Schutze und
der Oberherrschaft Russlands wenigstens für wünschenswerth ge balten hätten. Das Schicksal Polens jedoch ist das Gespenst ,
das jeden intelligenten Slaven von dem Gedanken einer Absorp tion durch Russland ernüchtern muss ; und es ist keine Ansicht
irriger , als dass ein solches Streben pach Einigung mit Russland in der Slavenwelt existire , wenn nicht vielleicht mit Ausnahme
der Ruthenen, die eben Russen sind. Damit soll aber keineswegs gesagt werden, dass die Slaven der Türkei namentlich ihre Blicke
nicht oft nach Petersburg richten . Ist es nicht Russland , das
an der Befreiung Montenegros, Serbiens und Rumäniens theils mittelbaren , theils unmittelbaren Antheil genommen und diese
Lånder in mehrfacher Beziehung unterstützt hat? Ist nicht Russ land der einzige Staat, der für die Aufrechtbaltung der Pforte nicht nur nicht einsteht, sondern sie vielmehr bekämpft ? Bosnien, dieser in socialer Beziehung von Serbien und Bulgarien so ver 14 *
212
Der Krieg.
schiedene, mit Ungarn und Croatien so analoge Theil der Türkei, hat seine Blicke sehr oft auch auf Oesterreich gerichtet; die zum mohamedanischen Glauben übergegangenen ehemaligen adeligen
Familien haben sich oftmals klar darüber ausgesprochen , wie sehr sie eine Wiedervereinigung mit Ungarn beziehungsweise mit Oesterreich wünschten , und wieder zum christlichen Glauben
übergingen. Nicht die Fiction des gemeinschaftlichen slavischen Blutes , sondern ganz einfach die materiellen und nationalen Interessen sind es, die die Sympathien der christlichen Bevölkerung der Türkei für Russland
als ihre einzige Hoffnung erzeugen .
Serbien , Rumänien und Montenegro würden sich entschieden weigern, das Schicksal Polens theilen zu wollen, und ein russischer
Staatsmann , der da glauben kann, Russland sei nach Westen hin zu vergrössern, schwimmt gegen den Strom. Das unterliegt jedoch keinem Zweifel, dass der erste Schritt zu einer slavischen Föderation die Freigebung Polens hätte sein müssen , worunter ich nur das nationale, nicht historische Polen verstehe. Wollte man die Sympathien der türkischen Südslaven für
Russland vernichten , so könnte dies einfach durch die Ueber nabme von dessen Rolle , besonders aber durch die Emancipation der Bulgaren und die Entwickelung und Ausbildung der serbo
croatischen Literatur und Nationalität geschehen , die gegenüber den Bulgaren und Slovenen die bedeutendste ist.
Denn der Fall,
dass eine Nation mit selbstständiger Literatur diese letztere opfern würde, kann nicht vorkommen ; würden aber, was allerdings unwahrscheinlich ist , durch ein oder zwei Generationen den Süd
slaven die Bedingungen ihrer Entwickelung entzogen , so würde
bei dem unendlichen Aufschwung, den die russische Literatur nothwendig nehmen muss , und bei der Armuth der eigenen , die russische immerhin noch genug verwandte Sprache sich als Cultursprache einschleichen, was bis jetzt noch durchaus nicht der
Scheint daher der europäischen Politik der Einfluss Russlands im Oriente gefährlich, und dessen Beseitigung wünschens
Fall ist.
werth , so gibt es hierfür ein sehr einfaches Mittel.
Man Fer
schaffe den Bulgaren , als einer für sich bestehenden Gruppe, eine Rumänien und Serbien analoge Selbstständigkeit , theile
die zwischen Serbien ,
Croatien , Dalmatien
und Montenegro
liegenden Gebiete , nämlich die Herzegowina, türkisch Croatien und Bosnien nach geographischer Lage und socialer Beschaffenheit zwischen die angrenzenden Länder , auf jene rationelle Weise,
wie sie sich beinahe von selbst ergiebt, und der russische Einfluss
Der Krieg .
213
hätte aufgehört zu leben. *) Die Südslaven werden gegebenen Falls mit Begeisterung ihre junge Freiheit gegen Angriffe Russlands vertheidigen. Geschieht das aber nicht , wie es leider wahrscheinlich ist,
wer kann sich dann wundern, dass diese Völker mit dem Feinde ihres Erbfeindes sympathisiren , und wenn Russland jemals für die Befreiung der christlichen Slaven von der Herrschaft des Halbmondes in den Kampf zöge, die ganze Bevölkerung fanatisch zu den gewohnten Waffen greifen würde ?
Alexander der Erste hat durch seine Proclamation von Kalisch das deutsche Volk zum
Kampfe gegen Napoleon mit Erfolg begeistert; es wäre nicht unmöglich , dass Alexander der Zweite auf ähnliche Weise die
türkische Wirthschaft zu Fall brächte, und jede europäische Intervention kommt zuverlässig zu spät. Es ist durch nichts bewiesen , dass die Aufrechthaltung der Pforte ein Bedürfniss des östlichen Europa bilde, doch wenn dem auch so wäre, welche Moral
der Welt kann England oder Frankreich be
rechtigen , im Interesse seines Handels oder geträumter Gleich gewichtstheorien zwölf Millionen Menschen die Bedingungen der Cultur zu entziehen ?
Wenn es einen Staat in Europa gibt , der ein entschiedenes Interesse an den Zustäuden der Türkei hat, so ist es ohne Zweifel
Oesterreich. Zwischen den beiden Schauplätzen der deutschen und orientalischen Verwickeluugen gelegen , scheint Oesterreich berufen , entweder das entscheidende Wort zu sprechen oder zu zerfallen , je nachdem es dem naturgemässen Gange der Ent
wickelung Vorschub leisten oder bindernd entgegen treten wird. Wirft man einen Blick auf die Karte der Donauländer , so ergibt sich gleichsam von selbst , dass die meisten dieser Asteroiden der europäischen Staatenfamilie sich zu grösseren Complexen aus derselben veranlassenden Ursache vereinigen müssen, welche über haupt die Österreichische Monarchie ins Leben rief. War es früher die Macht der Türken , so sind es jetzt die mächtigen Nationalitäten im Westen und Osten , welche die kleineren Nationen
zwingen werden , durch den Anschluss die staatlichen Bedingungen zu erfüllen , die ihnen das numerische Uebergewicht der andern *) Nunmehr ist es geschehen , wenn auch noch nicht der Art um Ruhe zu haben. Doch selbst das, was geschah, musste früher durch Hunderttausende von Menschenopfern und hunderte von Millionen ere kauft
werden !
Oesterreich bat abermals grosse Fehler begangen.
(Siehe ,Occupation Bosniens und deren Folgen ". Leipzig, Osw .Mutze.)
Der Krieg .
214
Nationen auferlegt, wenn auch zu Folge der nationalen Idee diese Einigung niemals eine solche Concentration erreichen kann und darf, als es
von Vielen gehofft und gewünscht wird. Die
nationale Idee hält die verschiedenen Völker aus einander, die materiellen Interessen und die Furcht vor den grösseren Nationali
täten fügt die kleineren Nationalitäten zusammen. Das ist das Wesen der Sache ; die Form , unter welcher
diese Lebensbedingungen zu erreichen sind , ist gleichgiltig; es kann die österreichische Monarchie , es kann das Königreich
Ungarn , die Donauconföderation , und es können noch andere Formen diese Aufgabe erfüllen. Die Österreichische Monarchie hätte zu Folge ihres historischen Bestandes an leichtesten und schon längst die neun verschiedenen Nationalitäten mit der beinahe allen gemeinschaftlichen deutschen
Cultursprache vereinigen können , wenn sie überhaupt auf der Bahn des Fortschrittes gewandelt und diesen nicht bei jeder Gelegenheit verläugnet hätte.
Nichts war natürlicher , als der
in neuester Zeit entstandene Gedanke, eine mässige Centralisation des Reiches
mit einer nationalen Autonomie
der Länder zu
versöhnen , und er scheiterte und musste aus folgenden drei Ursachen scheitern .
Die October - Februar - Institution kam fürs
erste zu spät , weil der deutsch - bureaukratische Absolutismus die slavischen Nationalitäten gegen das deutsche Element einge nommen und für das liberale Ungarn gewonnen hatte , welches
aber im Jahre 1860 ganz andere Bedingungen setzte , als im Jahre 1850 , wie die Enunciationen eines Eötvös , Ghizi und so
weiter bezeugen. Ungarn forderte sein volles historisches Recht, weniger weil es historisch und ein Recht ist , als weil es ihm die grössten Garantien und Handhaben für seine nationale Existenz und Grösse bot, was ganz begreiflich ist.
Die nationale
Idee ist nach Aussen ein Egoist. Zweitens hatte diese Institution kaum die Formen , geschweige den Kern einer Verfassung , und musste selbe namentlich ron den ungarischen Ländern als ein
entschiedener Rückschritt in liberaler Beziehung betrachtet werden. Der entscheidendste Fehler der Februarinstitution war aber ihre
innere Inconsequenz. Während das Februarpatent in der west lichen Hälfte entschieden zu Gunsten des deutschen Elements
durch einen engeren Reichsrath centralisirte , trieb es in der öst lichen Hälfte eine entgegengesetzte decentralisirende Politik , um das magyarische Element zu schwächen ; Croatien und Sieben bürgen durften mit Ungarn nach Anschauung der Regierung
Der Krieg.
215
keinen eigenen Körper bilden. Die ganze Verfassung war daher weder centralistisch , noch dualistisch , noch föderalistisch , am
allerwenigsten liberal, und musste als dem Fortschritte hinder lich in Brüche gehen. Es ist dies nicht ein wohlfeiles Urtheil nach erfolgter Thatsache, sondern ich hatte diese Argumentation
der Buchdruckerschwärze anvertraut , als das Februarpatent in der höchsten Blüthe stand.
Ob eine einbeitliche österreichische Monarchie je wieder zur Erfüllung dieser Aufgabe schreiten kann , ist eine Frage,
deren Beantwortung von zwei Bedingungen abhängt. Die öster reichischen Regierungskreise haben nie viel Voraussicht gezeigt, und es bedurfte stets der thatsächlichsten und empfindlichsten Beweise, wenn sie ihre Wanderung auf dem Holzwege wahrnehmen sollten .
War dies aber der Fall ,
SO
muss man zu ihrer Ehre
gestehen, dass sie gleich Kehrt machten . Auf die Zeit der 1848ger Concessionen folgte der starre absolute Centralismus, auf Solferino wurde mit diesem gebrochen , und es begannen die Verfassungs illusionen der conservativen Parteien, welche von oben und unten hinter das Licht geführt wurden. Nach Königgrätz wurde das Staatsschiff der ungarischen Fübrung übergeben. Erweist sich diese Führung als schlecht* ), aber auch nur dann , wird sie be seitigt werden , und hiermit wäre die erste Bedingung gegeben ,
die zweite läge in dem Einschlagen des richtigen Weges. Vor läufig ist es an Ungarn , die Beweise seiner Lebensfähigkeit zu
geben. Soll dieses die Rolle Oesterreichs übernehinen , so ist es unschwer , die Bedingungen vorauszubestimmen , unter welchen es gelingen kann .
Ungarn besitzt eine historische Vergangenheit, eine freisinnige
Verfassung, glückliche geographische Grenzen , und eine der Grösse des Landes entsprechende günstig gelegene Hauptstadt; es hat also alle Bedingungen einer dauernden Existenz , voraus gesetzt, dass es die nationalen Schwierigkeiten überwindet. Die in Ungarn lebenden Nationalitäten sind geographisch zerstreut, einzeln genommen schwach , zum Theile ohne oder doch nur mit unbedeutender Literatur der Art , dass die materiellen Ver
hältnisse und der bisherige Vorsprung der ungarischen Nationalität, so schwach sie auch an sich ist , dem ungarischen Elemente und der mag yarischen Sprache als Cultursprache sichern , selbst wenn Ungarn die volle Gleich berechtigung seiner Nationalitäten aus *) Das hat sie in vollem Masse gethan.
Der Krieg .
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spricht, und vielleicht gerade nur in diesem Falle. Nur durch grobe Fehler der ungarischen Staatsmänner könnten Schwierig. keiten entstehen. Eine Ausnahme hiervon machen die als com
pacte Masse in dem historisch berechtigten dreieinigen König reiche lebenden Südslaven.
Die Croaten und Serben sind die
unmittelbaren Nachbarn und Sprachgenossen der türkischen Slaven . In diesem Umstande liegt das berechtigte Motiv einer ganz ver schiedenen Behandlung.
Ungarn muss selbstverständlich mehr als jeder andere Staat durch eine gesunde Volkswirthschaft *) – die ihm nach der bis herigen Gebahrung dringend nothwendig ist - und wahrhaft liberale Regierung die nicht magyarischen Nationalitäten für so
manche Opfer entschädigen. Die Einhaltung dieser Bedingungen allein garantirt aber noch nicht die Zukunft Ungarns , weil es zwischen den grossen Nationalitäten noch immer zu klein ist, Darin liegt auch der Grund seiner Verbindung mit dem deutschen Oesterreich , wenngleich dieser Verband einen zweifelhaften Werth hat . Eine so entschiedene Sache die Einigung der nicht Öster
reichischen Deutschen ist , bleibt die Frage, ob das österreichisch deutsche Element auch nach dem Westen gravitiren und an dem Einigungswerk Theil nehmen wird, eine offene, weil eben gewaltige materielle Interessen und die geographische Lage Hindernisse in den Weg legen , die im eigentlichen Deutschland nicht vorhanden sind. Die Deutschen in Oesterreich besitzen eine grosse Haupt stadt , die durch argehäuftes Capital und Intelligenz als ein
gewaltiger Factor auftritt. Sie leben überdies theilweise mit Slaven gemischt um Landeshauptstädte gruppirt, in welchen sich durch Jahrhunderte alle Verkehrsadern und Institute concentrirt haben , da entsteht nun die Frage , wird das slavische Element auf die Dauer niedergehalten werden können , oder aber , wenn letzteres befriedigt, wird den Deutschen die übrigbleibende Stellung genügen ? Diese Frage zu beantworten , übersteigt die
menschliche Berechnung , aber das Eine ist gewiss, dass vor Lösung dieser Frage der Werth der Stütze , die das deutsche Element in Oesterreich -Ungarn bieten kann , ein zweifelhafter ist and
um
SO zweifelhafter, als die österreichische Diplomatie
sich an Louis Napoleon hält, der ein sterblicher Mensch und noch viel sterblicher als Monarch ist.
* ) Leider hat Ungarn dieser Erwartung nicht entsprochen und dadurch sein Primat gefährdet.
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Den ungarischen Staatsmännern , wenn sie um sich blicken , muss es klar sein , dass das noch nicht existirende , durch die
Karpathen getrennte Polen nie ein Mitglied , sondern höchstens ein zeitweiliger Alliirter werden könnte , dass das schon heute weit selbstständigere Rumänien als staatlicher Bundesgenosse für Ungarn eher eine Gefahr als eine Wohlthat wäre , weil das
rumänische Element in Ungarn selbst zu stark vertreten ist, und dass demgemäss die Completirung eines ungarischen Staates zur erforderlichen Grösse nur durch die westlichen Südslaven
möglich wäre , wofür noch wesentliche Motive sprechen.
Oester
reich besitzt nur zwei Nationalitäten , deren Umfang sich auf die Grenzen der Monarchie beschränkt, nämlich die czechische
und magyarische. Von allen anderen Nationalitäten ist keine so geeignet , eine Anziehung zu Gunsten Oesterreichs oder Ungarns
auszuüben , und selbst nicht hinaus zu gravitiren , als die west lichen Südslaven , die weder für Oesterreich noch für Ungarn ein zersetzendes Element bieten ,
wenn
man sie nicht dazu zwingt.
Sie sind in dem eigentlichen Ungarn, sehr schwach vertreten, dem magyarischen Elemente nicht überlegen ,, um das für Ungarn so wichtige adriatische Meer gruppirt, in den socialen Verhålt nissen Ungarn ganz analog, durch eine natürliche Grenze getrennt und doch durch ein altes bistorisches gesetzliches Band wenigstens theilweise verbunden. Die nationale Consolidirung derselben ist überdies geeignet, den so unmotivirten Gelüsten Italiens, einem
übermässigen Deutschland und dem russischen Einflusse gleich zeitig ertgegenzutreten, was ja die angebliche Politik Oesterreichs und Frankreichs bildet. Triest von den Einen für eine deutsche, von Anderen für eine italienische Stadt gehalten , wird , nebenbei gesagt, kraft der demokratischen Natur der nationalen Idee, kraft der geographischeu Lage und der materiellen Interessen in nicht ferner Zeit eine slavische Stadt sein , für die Krain , Croatien und Ungarn das Hinterland bilden. Das
kleine
Croatien
hat
sich
auch
thatsächlich
in
den
Jahren 1848 bis 1866 als ein wichtiger Factor , sowohl als Gegner wie als Bundesgenosse erwiesen , und ich fürchte kein Dementi durch die Ereignisse der nächsten Zukunft für die
Behauptung , dass das Schicksal Ungarns durch das Verhältniss zu den Südslaven , also zunächst zu Croatien wesentlich beein Ausst werden wird. Die Frage also : ob Ungarn die Mission der österreichischen Monarchie übernehmen kann, ist dadurch zu einer Zeitfrage geworden. Wird es durch innere oder äussere Ereig
Der Krieg.
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pisse früher überrascht, als es mit dem nationalen Elemente der Südslaven Frieden schliesst, so hat es für seine Machtstellung Alles zu befürchten und zu verlieren .
Der Wille von Seite Ungarns, wenigstens von Seite Franz
Deák's war vorhanden , aber es giebt Elemente , die diese Aus söhnung theils aus Kurzsichtigkeit, theils aus persönlichen Mo tiven seit jeher hintertreiben. Der Ausgleich Ungarns mit Croatien ist zwar formell mit Hülfe aller denkbaren Mittel in Scene gesetzt,
eine Aussöhnung jedoch im wahren Sinne des Wortes nicht er folgt, da abgesehen vom staatsrechtlichen Verhältnisse auf dem
Lande ein unleidlicher, jedes politische Leben erstickender Druck der freiheitliche Nimbus der ungarischen Krone ist bei den Südslaven verloren gegangen . Die Freiheit war das Band beider Länder, ist die nicht gewährt und gesichert, so reisst das stärkste Motiv der staatlichen Gemeinsamkeit.* )
lastet
Die von der Österreichisch- ungarischen Regierung gegen wärtig befolgte Politik steht demnach nach beiden Richtungen im diametralen Gegensatze zu den Anforderungen der natürlichen
Entwickelung. Aus der Zusammensetzung und Lage der öster reichischen Monarchie ist es zwar ersichtlich, dass das Zusammen schmelzen des deutschen Nordens mit den Südstaaten für die grosse
Majorität der Bevölkerung Oesterreichs und Ungarns eine höchst gleichgiltige Angelegenheit bilde , und dass die Befreiung der christlichen Bevölkerung der Türkei ohne Hilfe Russlands geradezu den so gefürchteten Einfluss Russlands zu beseitigen im Stande wäre, abgesehen davon, dass die höhere Kultur der Nachbarvölker immer einen Gewinn bietet , da ja der Reichthum nur in der Menge und dem schnellen Absatze der Tauschwerthe besteht. Gesetzt aber , es wäre dem auch nicht so , es låge für den Be stand Oesterreichs wirklich eine Gefahr in der nationalen Einigung Deutschlands und in der Befreiung der Christen des Orients,
was ich entschieden in Abrede stelle , so könnte dies doch nicht aufgehalten werden , weil ja die Welt nicht für die An schauungen und Wünsche eines österreichischen Staatsmannes, sondern für den Fortschritt und die Entwickelung geschaffen ist. Die nationale Berechtigung und Einigung der Deutschen und der Nationalitäten der Türkei ist eben so wenig in Zweifel zu ziehen , als die Frankreichs, Italiens oder Englands. Auf fried
*) Dieses Verhältniss hat sich nach Einführung einer nationalen Regierung etwas gebessert.
Der Krieg
219
lichem Wege aber haben Territorialveränderungen bis jetzt nicht stattgefunden , es muss daher früher oder später zum Kriege kommen , es mag die Entscheidung in einem allgemeinen oder mehreren partiellen Kriegen erfolgen. Nicht unberechtigt ist die Frage vom Standpunkte der
Humanität, ob diesen Anforderungen des Zeitgeistes wirklich nicht ohne Kämpfe gewillfahrt werden kann, ob der Krieg, dieses horren dum , diese Schande unserer Zeit, eine unausweichliche Sache sei ? Es ginge wohl, aber es geht nicht!
Louis Napoleon hatte eine allgemeine Kongressidee zur Schlichtung aller europäischen Fragen. Die Motive, die ihn hierzu
veranlassten , mögen welcher immer Natur gewesen sein , sie ge hören nicht vor unser Forum, aber die Idee war human, gesund ; sie scheiterte an dem Misstrauen , und vielleicht noch
dem schlechten Gewissen der conservativen Parteien .
nehr an
Sollte sie
jetzt mehr Aussicht auf Erfolg haben ? Doch schon früher war Europa und zwar in diesem Jahr
hunderte bereits zweimal in der Lage, neue Territorialverhältnisse auf natürlichen Grundlagen zu erzielen , aber beidemale ohne Erfolg .
Napoleon I. schien berufen , solche zu schaffen ; er hatte wahrlich die Macht, den Verstand und das Glück dazu, was alles
ihn so lange begleitete, als es galt, die morschen Staatseinrich tungen zu vernichten und tabula rasa zu machen. Statt aber diese Grundlagen zu suchen, stiftete er Dynastien für seine Familie, und diese verschwanden mit seinem Glücke, oder vielleicht sein Glück mit ihnen.
Der Wiener Congress war abermals in der Lage , die Land karte Europas auf rationelle Weise zu verfassen , doch auch da haben nicht die Interessen der Länder, sondern die der Individuen die Entscheidung herbeigeführt. Ein Congress ad hoc würde die
Sache höchstens verschleppen , oder den Krieg zur Folge haben, wie umgekehrt ein Krieg einen Congress , es ist also gleichgiltig,
mit welchem von beiden man beginnt.*) Eine partielle Verständigung Oesterreichs entweder mit Preussen in Bezug auf die deutsche, oder mit Russland in Be zug auf die orientalische Frage, könnten zwar den Krieg besei * j Der Berliner Congress hat ebenfalls seine Aufgabe nicht ver standen ; es wäre nicht schwer gewesen , dauernde Zustände ohne Aussicht auf spätere Kämpfe im Oriente zu schaffen .
Der Krieg.
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tigen , aber die Österreichischen Diplomaten haben nocb niemals
überrascht, sondern sich immer überraschen lassen , warum also sollte jetzt eine Ausnahme gemacht werden , Oesterreich hat obne zu kämpfen seine Östlichen Länder erworben , und seit geraumer Zeit alle westlichen Länder in Spanien , Italien , den Niederlanden und Deutschland trotz allen Kämpfen verloren ; hat es sich diese Lehre in den letzten zwei Jahrzehnten zu Nutze
gemacht ? Oesterreich hat zu jener Zeit, als die deutsche Kaiser krone in dem Hause Habsburg beinahe erblich war , nichts gethan , um das Einigungswerk vorzubereiten und durchzuführen ;
im Gegentheile , einzelne Ständemitglieder usurpirten nach und
nach alle Rechte der Souveränität , Oesterreichbat in Deutsche land seit dem Jabre 1815 als erste deutsche Grossmacht die
folgenden 50 Jahre abermals unbenützt vorüberstreichen lassen, und nichts weniger als dem Fortschritte gebuldigt.
Nach dem
Jahre 1848 erstickte es jede freibeitliche und nationale Regung, während alle anderen Staaten mehr oder weniger constitutionelle Formen beibehielten . Preussen führte überdies eine materiell gute
Regierung, entwickelte der erste Staat in Europa nächsten Zukunft angehöriges nationales Heer ,
ein der
errichtete mehr Hochschulen als Oesterreich und Frankreich zusammen
genommen besitzen , bemächtigte sich einer genau vorgesteckten da ist es wohl nicht zu verwundern , dass Desterreich , überdies im Süden durch die nationale Idee Italiens nationalen Politik
-
angegriffen, unterlag.
Es hat also hinlänglich Gelegenheit gehabt,
in Erfahrung zu bringen , dass der Fortschritt ein mächtiger Factor sei. Nicht genug dessen, Oesterreich hat auch die Ge schichte Italiens aufliegen , an dessen Zerstückelung es mit solchem Eifer seit 40 Jahren gegen die nationale Idee fruchtlos
gearbeitet und dennoch trotz alle dem und alle dem ist wenig Hoffnung vorhanden , dass die österreichischen und auch anderer Länder Staatsmänner begreifen werden , dass der Staat nicht Zweck , sondern nur Mittel zum Zwecke und der höchste aller Und sonderbar ! Frankreich ,
Zwecke der Fortschritt sei .
das Geburtsland der Freiheit, und Oesterreich , eben in freiheit
liche Gewänder gehüllt, kämpfen gegen , die preussischen Junker und die russischen Despoten , ohne es zu wollen , für den Fort schritt!
Die heiligsten
Interessen
der Menschheit
verlangen die
Beseitigung der übermässigen , stehenden Heere, und dem zu Folge die Beseitigung aller sogenannten Fragen. Alle Territorial
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Fragen sind aber heute lediglich nationale Fragen und es werden
daher Bewaffnung und Kriege so lange dauern , als jene nicht gelöst sind. Der Sieg wird sich früher oder später an jene Fahne heften , die sich für die Bedürfnisse der Menschheit , für die Ideen der Zeit entfaltet, denn sie wird getragen von der bewussten Begeisterung der denkenden, von der unbewussten Sympathie der fühlenden Menschen .
Ist Europa von der unproductiven übermässigen Last der Heere befreit, sind die wirklichen Vertreter des Volkes nicht ge zwungen , zur Deckung des Deficits der Production vermehrte
Lasten an den Hals zu werfen , statt Ueberschüsse zu sammeln, die die Arbeit umstrickenden Ketten des Capitals noch enger
zu ziehen , statt sie zu lockern ; so ist ihnen die Möglichkeit gegeben , nicht nur für die bürgerliche und politische Freiheit, sondern auch für die materielle Existenz der Staatsbürger zu sorgen . Es ist dies aber die Aufgabe unseres Jahrhunderts , die
insolange ungelöst bleiben muss, als die Finanzminister gezwungen
sind zu fragen: Woher die Deckung, statt : Wohin der Ueber schuss ?
England , Holland , vielleicht auch Frankreich , sind Länder, die durch den Besitz fremder Staats- und Industriepapiere , also im Besitze fremder Arbeit, weit leichter einer socialen Krise
entgehen sollten , als passive Staaten , und doch ist das grösste Elend dort zu finden, obschon das meiste Capital dort vorhanden
ist. Staaten mit einem günstigen , das Gleichgewicht haltenden und nicht übermässig belasteten Budget können dem Elende
hie und da steuern , den Conflict zwischen Capital und Arbeit aber auf dem Wege der Steuern und Almosen nicht beseitigen. Die Activität der Gesellschaft allein kann die arbeitenden Classen
retten , ohne die Eigenthums- und Gesellschaftsverhältnisse aus Rand und Band zu bringen.
Steht aber die materielle Frage in so innigem Zusammen hange mit der Entwaffnungsfrage , und diese wieder mit der
nationalen Idee, wo ist dann der Staatsmann , der da glauben kann , einen Stand der Dinge aufrecht erhalten zu können , der im grellsten Widerspruche mit dem Bedürfnisse der Zeit steht ? Der da glauben kann, den natürlichen Lauf der Entwickelung auf
halten zu können, etwa auf Grundlage eines Stückes Papier, be schrieben oft von unberufenen Händen, im Widerspruche mit den Interessen derjenigen, in deren Namen Verpflichtungen eingegangen wurden ?
Der Krieg .
222
Schon Oxenstierna hat es ausgesprochen , mit wie wenig Verstand die Welt regiert werde, wir müssen daber annehmen , dass die Staatsmänner Europas nicht immer wissen , was sie wissen sollten , und manchmal auch gar nicht begreifen , was sie begreifen
sollten , z. B. die Natur
der demokratischen und
nationalen Bewegung , und doch giebt es zwei Männer , in deren
Händen nicht die Entscheidung der Frage
denn die ist ent
schieden - wohl aber ihre blutige oder unblutige Lösung liegt,
zwei Männer, die das wissen und begreifen müssten , denn der Eine ist Monarch, der unter dem Thronhimmel nicht aufgewachsen
und eben darum mit dem politischen Leben wohl vertraut, durch demokratische Principien und Bewegungen den Thron bestieg. Der Andere ist ein Minister , der für die liberale und nationale Sache sein Leben gte , und nur durch sie und für sie die Regierung übernahm .
Es ist eine anerkannte Sache , dass Europa die persönliche und politische Freiheit und damit den gewaltigen Culturaufschwang dieses Jahrhunderts Frankreich, und gerade den siegreichen Waffen Frankreichs verdankt , und nun soll der Kaiser der Franzosen,
der auf Grundlage des allgemeinen Stimmrechtes , also der freien Wahl sich die Krone auf das Haupt gesetzt, der unlängst das
nationale Princip in Rumänien und Italien verfochten , dieselbe Fahne gegen das nationale Princip und gegen die Interessen der Freiheit und Cultur führen ? Er mag es immerhin wagen , aber er dürfte es bereuen . Graf Julius Andrassy hat durch viele Jahre den Reihen der äussersten Fortschrittsmänner angehört , für Moral, Recht, Freiheit und das nationale Princip gekämpft ; ist er etwa zur
Erkenntniss gekommen , dass dies jugendliche Illusionen waren ? Die nächste Zukunft wird entscheiden , ob die Ansichten seiner Jugend oder die ministerielle Erkenntniss in das Reich der
Illusionen gehört.*) Wenn Louis Napoleon durch Missgriffe nur seine Dynastie und nicht die Zukunft Frankreichs compromittiren kann, so ist eine Unterschätzung der nationalen und freiheitlichen
Anforderungen für Ungarn's Zukunft geradezu verderblich. war eine Zeit , wo die Führer der ungarischen Opposition und *) Graf Andrassy hat ein Compromiss zwischen den Gegensätzen seiner Doppelnatur geschlossen , welches daher nur halbe Massregeln
gestattete, hundert Millionen und einige Tausend Menschenleben . kostete, ohne die Frage gelöst zu haben.
Der Krieg .
223
jetzigen Regierung nicht nur mit den Croaten , sondern auch mit den massgebendsten Männern Rumäniens und Serbiens in Bezug auf die nationale und freiheitliche Lage ihrer Nationsgenossen
moralische Verpflichtungen eingegangen sind , welche die gegen wärtigen Staatsmänner , gestützt auf die königliche Macht, ver gessen zu haben scheinen.
Kossuth bat diese königliche Macht
unterschätzt und dadurch viel Unheil über sein Vaterland gebracht; Andrassy ist auf dem besten Wege , durch Ueberschätzung der selben zu einem gleichen Resultate zu gelangen . Wer sich an die Spitze der östlichen Cultur stellen will, wie man dies in Ungarn
so oft liest und hört, der darf doch wahrlich die Grundlagen der politischen Moral und des Fortschrittes nicht verläugnen, wenn er entfernt auf Erfolg hoffen will. Ich
habe
vor Jahren an anderer Stelle die Identität der
Gesetze der Dialektik mit jener der socialen Bewegung nach gewiesen *), zu Folge welchen die Civilisation gegenwärtig zur Ver allgemeinerung der Rechte und der Pflichten schreitet , weil sio
den Gipfel der entgegengesetzten Bewegung im siebzehnten und achtzehnten Jabrhundert erklommen .
Die allgemeine Webrpflicht,
die Zerstörung der Zünfte, die Rechte der Kammern , das Actien wesen oder vielmehr Unwesen , die Geschwornen - Gerichte , die bürgerliche und politische Gleichstellung sind nothwendige Folgen der Bewegung vom Besondern zum Allgemeinen , deren Tendenz der Geist der Menschheit sebr richtig mit dem Worte „ Demokratie“
bezeichnet hat. Die nationale Idee ist nur ein Zweig derselben, der die Bildung zu verallgemeinern, die Familie zu erweitern und den Gemeinsinn zu wecken bestimmt ist , bis die durch die ver schiedenen Literaturen und geographischen Verhältnisse erzeugten
Verschiedenheiten der Nationen ihre Aufgabe erfüllt, und dem Kosmopolitismus die Wege gebahnt haben werden , auf dass der Satz zur Wahrheit werde :
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst , oder wie vielleicht Christus gesagt haben mag : „Liebe deinen Nächsten als dich selbst. “
Den natürlichen und nothwendigen Lauf der Dinge aufhalten
zu wollen , ist sträflich und gleichzeitig lächerlich . Die euro päischen Territorialverhältnisse sind aber unnatürlich , darum kommt erschienen im *) In den Gesetzen der socialen Bewegung Jabre 1864 - die im Buchhandel nicht mehr existiren. Das wesent
lichste darüber fiodet der Leser im 8. Kapitel meines ,,Individualismus.“
224
Der Krieg .
es früher oder später zum Kriege ; wird durch diesen die natürliche Grundlage gewonnen , so ist es Angesichts der schnellen Zunabme an Bildung und Cultur in unserem Jahrhundert der letzte europäische Krieg ! Im December 1868.
Der Leser wird zugestehen müssen, dass die Thatsachen
der letzten 10 Jahre den obigen Anschauungen bis auf den Umstand entsprochen haben , dass der deutsch- französische Krieg dem orientalischen voranging, der durch die geplante
spanische Thronbesteigung eines Hohenzollern veranlasst wurde. Napoleon wollte die deutsche Einigung hindern, ver lor darüber den Thron, Frankreich seine deutschen Provinzen ; Deutschland aber ging stärker, grösser und geeinigter aus dem Kampf hervor, wie dies (auf Seite 206 u. 222) voraus gesagt
wurde. Die Zweckmässigkeit im Interesse der Entwickelung und des Fortschrittes hat auf die Dauer eine unwidersteh
liche Gewalt, die man zwar für eine kurze Zeit niederhalten und dadurch der Unzweckmässigkeit zu einem vorüber .
gehenden Siege verhelfen kann , doch geht letztere immer auf die eine oder andere Art selbst ad absurdum ; sie ver nichtet sich selbst.
Die deutsche Zerfahrenheit hatte bei
spielsweise sehr lange gedauert, aber es dürfte sehr schwer fallen, Deutschland heute zu lockern. Der Dynastie Habsburg waren seit Jahrhunderten zwei
Wege offen gestanden, oder wenn man will, zwei Aufgaben zugefallen. In früherer Zeit , als Preussen noch schwach und der Türke stark war, wäre es die Aufgabe der deutschen
Kaiser aus der Dynastie Habsburg gewesen, eine strammere Centralisation durchzuführen ; noch der Wiener Congress und der Frankfurter Fürstentag hätten andere Resultate herbei führen können , wenn die ultra - conservative Staatskunst eines Metternich und die Misswirthschaft eines Bach nicht
Der Krieg .
225
vorangegangen wären, die der Entwickelung entgegenstehende Maximen hervorriefen , aus deren Schoos nur todtgeborene Kinder zu erwarten waren. Oesterreich hat seine Mission in
der deutschen Frage verfehlt. Im Jahre 1854 bot sich Oesterreich die Gelegenheit,
seiner zweiten Aufgabe gerecht zu werden , als es fünf
hundert Millionen verausgabte, Rumänien occupirte , aber wieder herausgab , statt Russland ein für allemal von der
Türkei abzuschneiden und Englands Macht , Freundschaft und Interesse zu gewinnen.
Kossuth hat -- allerdings zu
erkannt, dass die kleineren Nationalitäten sich nicht bekriegen dürfen, sondern sich einigen müssen, wenn sie leben wollen, und hat das Wort der ,,Donauconföderation “ ausgespro spät
chen, deren Nothwendigkeit und Unvermeidlichkeit in irgend
einer Form Jedem einleuchtet, welcher nur einen Blick in eine ethnographische Karte wirft und die Uebereinstimmung der nationalen und materiellen Bedürfnisse dieser Länder wahr
nimmt, die – eingekeilt zwischen dem deutschen und russischen Elemente und zwei Meeren – das Stromgebiet der unteren Donau umfassen. Eine solche Politik hätte allerdings Aus sicht auf Erfolg gehabt, weil die materiellen und nationalen Interessen der Donauländer dabei nur gewonnen hätten,
und die türkische Wirthschaft eine jede Entwickelung hin derte. Hätte Oesterreich dies damals gethan, so wäre der orientalische Krieg 20 Jahre später nicht ausgebrochen, und hätte Oesterreich seine Aufgabe im Osten erfüllt, so
wäre auch die Lösung der deutsch -österreichischen Diffe renzen ohne Krieg leicht möglieh gewsen.
Ich gebe zu, dass die materiellen und nationalen Inter essen nicht immer congruiren, doch in diesen Falle gibt es eben Kämpfe , die vermieden werden sollten. Im grossen Ganzen ist dies in Europa wenig der Fall, sondern kommt nur bei kleineren · Districten vor, wo im gütlichen Wege immer zu helfen wäre. Hellenbach , Vorurtheile I.
Man bedenke , dass die theuerste 15
Der Krieg.
226
Expropriation solcher Districte viel weniger kostet, als der Krieg, der überdies keine dauernden Zustände schafft, falls
die Wurzel des Conflictes nicht beseitigt wird. Was hilft es, die Italiener mit dem Schwerte zurückzuweisen, wenn die
nationalen Sympathien als constante Factoren jedeGelegen heit ergreifen, bis es einmal gelingt, ihnen Geltung zu ver schaffen ? Der frühere oder spätere Verlust der Lombardei
und Venedigs war vorauszusehen, so wie das Fiasco Italiens, so oft es auf Triest oder Dalmatien seine Blicke werfen
sollte, weil es die materiellen, nationalen und selbst histori schen Factoren gegen sich hat. Die Grenzen können nur durch die Bedingungen der
besten Entwickelung wahrhaft garantirt werden , daher in
erster Linie der Besitz der Meeresküste ein begreifliches Streben ist, weil diese die beste Grenze bildet ; Gebirgszüge
wie die Pyrenäen, Alpen, Karapathen und der Balkan sind zweifelsohne auch Factoren. Die kleinen europäischen Flüsse hingegen , deren Breite nur wenige hundert Klafter im besten Falle beträgt, können einen strategischen oder Zoll werth haben, eine Trennung der Interessen bilden sie nicht, wofür die Donau in Oesterreich das praktische Beispiel liefert.
Ganz etwas Anderes ist es mit den Flussmündungen ,
die liegen allerdings in der Interessensphäre jener Länder, deren Hauptverkehrsadern sie sind . Dies vorausgeschickt, wollen wir, nach 10 Jahren, die obige Brochüre fortsetzen .
Ich muss mich in diese politische Kannegiesserei einlassen, weil ich nachzuweisen habe, dass erstens der Krieg durch aus keine Nothwendigkeit sein müsste , und dass zweitens der Krieg einmal aufhören wird , weil so wie die Planeten
sich gegenseitig so lange entweder in die Sonne hinein oder aus dem Sonnensystem herauswerfen, bis nur die möglichen Bahnen übrig bleiben, dies auch mit den Staaten der Fall
sein muss. Das Unzweckmässige vernichtet sich selbst, und
227
Der Krieg.
darum ist die gegentheilige Ansicht über die Nothwendig, keit und Ewigkeit der Kriege ein Vorurtheil. In dieser Brochüre wurde ein deutscher und ein orientali
scher Krieg als nothwendiges Ergebniss der unzweckmässigen
Staatenbildung hingestellt. Ist diese nun zweckmässiger ge worden ? Was Deutschland anbelangt, gewiss ; es ist grösser, geeinigter, mächtiger , eine Grossmacht im wahren Sinne des Wortes.
Hätte Deutschland an seinen Grenzen eine
deutsche Bevölkerung , die den Anschluss wollte , so
würde dieser früher oder später auch erfolgen. Die Deut schen Oesterreichs und der Schweiz wollen aber den An
schluss nicht, weil er ihren materiellen Interessen zu widerläuft , und ihre nationalen derzeit nicht zu leiden
haben. Böhmen und Mähren sind in ihrer Majorität slavisch,
daher schon nicht rein deutsche Länder , die in ihrer Majorität immer mehr zu Wien als nach Berlin gravitiren werden. Wien selbst ist eine kosmopolitische Stadt par ex cellence , ist das Centrum einer grossen Monarchie , ja in
einem gewissen Sinne Mitteleuropas, was nimmer zu einer deutschen Grenzstadt heruntersinken will und wird, und die Deutschen Steiermarks und Kärnthens mit sich reisst.
Bleibt Tyrol und Salzburg. Die Bevölkerung dieser Länder ist eine eminent katholische und conservative , die für
Berlin keine Sympathien hat. Es müsste sich in Deutsch land Vieles bessern , und in Oesterreich noch vieles ver schlechtern, um eine für den Anschluss günstige Stimmung hervorzurufen ; doch wenn diese auch einmal zu erwarten wäre, so stünde es wahrlich nicht dafür, durch Generationen
gerüstet dazustehen, und durch die Lasten der Kriegsbereit schaft für höchst problematische Eventualitäten mittlerweile zu Grunde zu gehen.
Die Kriegs- und Kriegsbereitschaftsfrage für Deutsch land liegt in der moralischen Eroberung von Elsass und Lothringen ; sind diese der nationalen Idee gewonnen , so 15*
Der Krieg.
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wäre die Gefahr eines deutsch - französischen Krieges be seitigt : und nur die in der nächsten Generation sehr un
wahrscheinlichen ) Sympathien der Elsässer für Frankreich, wirthschaftlicher Niedergang, oder Verwickelungen mitanderen Staaten könnten für Deutschland gefährlich werden ; darum wäre auch ein deutsch - österreichischer Krieg für Deutsch
land ein grosses Wagniss ohne vernünftigen Zweck ; denn Oesterreich stünde möglicherweise nicht allein , und Deutsch
land würde im günstigsten Falle nur den Sauerteig ver mehren, an dem es innerhalb seiner Grenzen keinen Mangel hat. Ich glaube , dass die drei mitteleuropäischen Gross mächte sich nicht leicht in einen Kampf einlassen werden, wo für keine derselben viel zu gewinnen und — namentlich für Preussen und Oesterreich
Alles zu verlieren ist ;
denn zwischen diesen beiden letzteren würde es sich um Sein
oder Nichtsein bandeln ; sie stehen als leitende Mächte einer Föderation weit mehr als andere Staaten unter dem Damokles
Schwerte der Zweckmässigkeit. Frankreich und Oesterreich
haben jedes seine Millionen Soldaten, wie Deutschland ; der Zufall ist ein grosser Herr, und die überlegene Heerführung bängt oft an zwei Augen , die einmal da, ein andermal wo anders sich finden.
Was also die westliche Hälfte Europas anbelangt, so könnte eine theilweise Abrüstung ohneweiters in Scene ge
setzt werden. Für eine gänzliche ist schon der gesellschaft liche Zustand derzeit nicht geeignet. Leider ist dies nicht der Fall in der östlichen Hälfte.
Oesterreich , dessen finanzielle Lage diese Abrüstung am nothwendigsten erbeischt, kann nicht zur Ruhe kommen,
und wird es auch nicht zu Folge begangener Fehler , die aber in der neueren Zeit weit mehr die Vertretungen als die Regierung treffen . Die österreichische Meeresküste ist von Südslaven be
wohnt (die italienischen Kaufleute in den Handelsstädten
Der Krieg.
229
geben gar keinen Ausschlag), die österreichisch -ungarische Monarchie kann daher des serbocroatischen Elementes nicht
entbehren, und weil dieses seine Vereinigung, welche durch die geographische Lage unterstützt wird , anstrebt und zweifelsohne mit der Zeit auch erreichen wird , so ist es eine für Oesterreich -Ungarn klar vorgezeichnete Politik, sich
selbst zum Krystallisationspunkt der Vereinigung zu machen und einen solchen im Hinterlande seiner Meeresküste nicht
zu dulden. Dem zu Folge hätte die Regierung gleich bei Beginn der Wirren in loyaler Weise der türkischen Re
gierung einen Termin für Bewältigung des Aufstandes geben und dem serbisch-türkischen Kriege zuvorkommen sollen .
Es hat diesbezüglich nicht an Stimmen gefehlt, welche eine solche Politik der Regierung anriethen, auch nicht an Willen bei der Regierung selbst, aber Ungarn schwärmte für die Türken, und der Reichsrath machte zu seiner De
vise : ,,Keine Intervention, keine Occupation, keine Annexion “, was so viel heisst als Abdication und Liquidation. Es ist sehr schön und vernünftig , sich für einen guten und mög lichen status quo zu begeistern, einen schlechten und un
haltbaren zu vertheidigen, verdient die entgegengesetzte Bezeichnung.
Es wird so lange Blut fliessen, bis die Donau -Confö deration oder etwas ihr Aehnliches nicht zu Stande gebracht
sein wird. Dass dies im Wege einer friedlichen Auseinander setzung möglich wäre, wird Derjenige nicht bezweifeln, der die Verhältnisse der Balkanländer kennt.
Die Türken und
Tscherkessen auf die eine, und die Bulgaren auf die andere Seite des Balkans anzusiedeln , hat dort keine Schwierig
keiten, und es ist billiger und weit humaner als der Krieg, mit dem man Tausende von Millionen verschleudert, Alles
verwüstet , um schliesslich Zustände zu schaffen , wo sich der Türke und Bulgare gegenseitig würgen .
Der Krieg.
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Das was unsere Nachkommen als das Unbegreiflichste anstaunen werden , ist die Verirrung des menschlichen Geistes, welche bei der jetzigen Generation diplomatische Staatskunst heisst.
Ihre Aufgabe könnte doch wahrlich keine andere sein , als Alles zu beseitigen , was zu einem Conflicte führen, Alles zu fördern , was ein aufrichtiges und herzliches Ein
verständniss der Völker schaffen kann ; praktisch aber thut sie immer das Gegentheil ; ihre Verträge sind eine wahre Brutanstalt von Conflicten , Hinterthüren und Täuschungen, ihre Waffen Ränke und Lügen . Misstrauen und Zwietracht
ist die Saat , Verwüstung und Krieg die Ernte. Die Ent lastung von jährlich 1000 Millionen an europäische Kriegs budgets dürfte wohl der Mühe lohnen, dass die Staaten über eine friedliche Grenzregulirung sich freundschaftlich ausein ander zu setzen den Versuch machten. SchlechteGrenzen
heisst Krieg , gute Grenzen Friede , ohne diese sind alle Betheuerungun und Verträge werthlos; die Sprache ist auch ein Factor, wie nicht minder ein erworbenes Recht. Dies Alles in Einklang zu bringen ist das Schwert wahrlich nicht
geeignet , der Appell an dasselbe liefert nur den Beweis, dass die Entwickelungsbedingungen nicht gegeben sind. Eine momentane Unterdrückung ist noch keine Lösung ; Eines aber lässt sich nicht unterdrücken , und das ist der Fort
schritt und dessen Bedingungen . Das in seiner Production und Industrie darniederliegende Europa ruft nach Frieden und Entlastung ! Was könnte man mit 1000 Millionen Gul den jährlich nicht leisten !
Vergebens ! Das gute Herz ist bei Diplomaten und Staatsmännern ein noch seltenerer Artikel als der klare Ver stand, und die wenigen Ausnahmen sind in einer erschreck lichen Minorität.
Was haben die Conferenzen in Constantinopel und Berlin zu Tage gefördert, als den Krieg ? Eine culture
Der Krieg.
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un fähige Rasse künstlich erhalten und culturfähige Rassen unterdrücken, ist eine unvernünftige That, eine sittliche Ver irrung ; wenn die Diplomaten nicht wussten , dass die Türkei nicht mehr lebensfähig in Europa ist , so hätten sie Hand werker werden sollen , aber nicht Diplomaten ; wenn sie es wussten und dennoch Alles aufboten , diesen Zustand nach
Möglichkeit aufrecht zu erhalten, so sind sie keine Menschen, sondern Teufel!
Die Greuel des Krieges, die Lasten der Bereitschaft sind so gross, dass jeder Staat in Europa nicht immer ein sehr
gutes Geschäft machen würde, der im Interesse der Ent waffnung irgend welche Opfer brächte. Dem allgemeinen Frieden muss die Förderation der Staa
ten , und dieser die Feststellung geeigneter Grenzen voran geben unter möglichster Berücksichtigung der nationalen Wünsche , und wo dies nicht geht , unter voller Entschädi gung der Staaten und Privatpersonen , die durch diesen Transmutations- Process Schaden leiden sollten. Schwer wäre
dies nun allerdings nicht, aber angesichts der Verlogenheit unserer Zustände scheint es fast unmöglich. Es gibt Staaten
und Minister, die mit einer Frechheit Absichten wegläugnen, Jie das Streben ihres ganzen Lebens sind, und doch könnte da nur die offene Sprache helfen.
Ob man der Bürger eines grösseren oder kleineren Staates ist, ob inan die Regierung wechselt oder auswandert,
das ist Alles verschwindend gegen einen Zustand, wo man unter den Lasten der Steuern und unter dem Drucke des
wirthschaftlichen Niederganges zusammenbricht, noch mit der
Zuversicht, auf diesem Wege einer socialen Katastrophe entgegen zu gehen , welche an Schrecken und Unvernunft die französische Revolution weit hinter sich lassen wird.
Unsere Staatsmänner haben keinen Begriff davon, was es heisst, mit Deficit arbeiten und Schulden machen, Steuern
erhöhen und die Bewegung in der Production und dem Aus
232
Der Krieg.
tausche hemmen ! noch viel weniger können sie sich einen
Begriff davon machen , wie eine Gesellschaft aussieht, die statt Schulden ein Collectivvermögen besitzt. Hat die Vernunft und Menschenliebe über die Staaten
lenker keine Macht , nun so wird die finanzielle Noth die
Staaten zwingen , die Abrüstungsfrage zu stellen. Jene Staaten, die das Glück haben, richtige Grenzen zu besitzen oder sie leicht erreichen können, werden mit ihren directen oder auch indirecten Nachbarn leicht ein Bündniss schliessen
können, das ihr Heeresbudget erleichtert. Das ist der Weg der langsam zum ewigen Frieden führt. Die Monarchen sind
besonders darauf hingewiesen, diesen Weg zu wandeln (wie dies Heinrich IV. von Frankreich beabsichtigte) , weil sich der öffentlichen Meinung sonst leicht der Gedanke bemächti
gen könnte , dass der Weg zum ewigen Frieden nur über die Throne führt, was durchaus nicht richtig , wenigstens nicht nothwendig ist. Sollte es einem Monarchen nicht zur Zierde und Ehre gereichen , wenn er im Interesse der Er
leichterung des Budgets Bundesgenossen sucht ? Liegt darin eine Erniedrigung seiner Person oder Würde, wenn er offen gesteht, dass er im Interesse seiner Völker und der leiden
den Menschheit auf immer , und wenn dies unthunlich , so auf eine bestimmte Zeit abzurüsten wünscht, und demzufolge Bundesgenossen sucht, die von der gleichen Absicht beseelt
sind ? Ein solches Verbrüderungsfest zweier oder dreier Staaten wäre erhebend und durchaus nicht unmöglich, auf agressive Militärstaaten aber würde es ernüchternd
wirken ! (- Verstehen Sie, Herr Caprivi ?) Der Krieg und die Kriegsbereitschaft stehen mit der • wirthschaftlichen Entwickelung und dem Fortschritte im Widerspruch ; damit ist ihnen das Todesurtheil gesprochen, wenn nicht die Einsicht, so wird die europäische Staats
schuld uns zwingen, diese Uebel zu beseitigen.
Der Krieg.
233
Die Abrüstung muss eintreten ; dieser müssen Ausein andersetzungen der Staaten vorausgehen, und wenn da die Diplomaten statt zu lügen, die Wahrheit reden werden, so kann die richtige territoriale Gestaltung Euro
pas ohne Krieg erfolgen. Erfolgen aber wird sie , mit oder ohne Krieg .
II. Capitel. Der falsche Liberalismus und die parlamenta rische Regierung. Das legitime Recht. rischen Regierungen .
.
Die Verlogenheit der modernen parlamenta
Die Bildung als nothwendige Basis der Wahl ordnung
Wer das landesfürstliche Recht bestreitet , muss folge
richtig auch das Vertrags- und Eigenthumsrecht bestreiten. Güter, Häuser, Capitalien werden ererbt, gekauft, erheiratet,
durch Verträge oder Geschenke erworben, und knüpfen sich an jedes Eigenthum nicht nur Vortheile , sondern auch Sorgen, Opfer und Pflichten. Ganz dasselbe gilt von den Rechten
der Krone. Der Einwurf, dass Gewalt , List , Betrug und andere unmoralische Mittel oft dazu verhalfen , gilt auch
für das andere Eigenthum ; auf welch' erbärmliche und niederträchtige Weise wird dies oft erworben ?! In was für entsetzliche gesellschaftliche Abgründe lassen uns nicht oft Gerichtsverhandlungen und Erbschaftsprocesse blicken ! Wo würde man da hingelangen, wenn man die Rechtlichkeit und Moralität der Erwerbung von Generation zu Generation hinauf untersuchen wollte und würde !
Welches Volk hat
nicht ein anderes von seinen Sitzen vertrieben , um wieder
Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung.
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durch ein anderes verdrängt zu werden ? Noch heutzutage
werden Kriege geführt, und nicht etwa nur von Monarchen, sondern auch von Republiken, und mit diesen Kriegen auch landesfürstliche Rechte erworben .
Allerdings kommt es vor , dass die königliche Gewalt 80 weit missbraucht wird, dass die Revolution als Nothwehr
aufgefasst werden kann , welche aber zumeist eine Rechts verletzung in sich schliesst.
In absoluten Staaten , wo der Monarch durch nichts gebunden ist , als durch seinen Willen , kann eigentlich seinerseits nur ein Missbrauch seiner Gewalt, nicht aber eine Verletzung des Volksrechtes vorkommen , das eben nicht existirt. Aber auch dort, wo ein mehr oder weniger
beschränktes, offenes oder stillschweigendes Vertragsrecht factisch besteht, kann der Missbrauch eines dem Monarchen
zustehenden Rechtes, z. B. das Recht der Kriegführung, un erträglich werden, ohne dass er das formelle Recht verletzt, und gewissermassen dadurch seines Rechtes verlustig würde.
Daher denn in Bezug auf diese Verhältnisse der Weg des Compromisses der einzig richtige ist. Der Einwurf, dass es sich da um kein Privat-Eigenthum ,
sondern um Menschenrechte handle, ist nicht zulässig, denn wie wir in der Abhandlung über die volkswirthschaftlichen Vorurtheile gesehen , versetzten die Eigenthumsverhältnisse den Menschen oft in ein viel unwürdigeres und abhängigeres Verhältniss, als das landesfürstliche Recht es je getban. Die französische Nation mag begreifliche Motive gehabt
haben, ihre Dynastie zu entthronen , aber gerecht und vor theilhaft war es und ist es nicht, dass die französische Na
tion das königliche Recht und Eigenthum einfach und ohne Entgelt confiscirte und noch confiscirt. Wenn 20 Millionen Menschen für ihr Wohlergehen das königliche Recht beseitigen zu müssen glaubten , so hatten
236
Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung.
sie mindestens die Pflicht, der betreffenden Dynastie für den Verlust ihrer Heimath, ihrer Schlösser und Erinnerun
gen eine volle Entschädigung zu gewähren und eine Verein barung anzustreben.
Wenn die Gesellschaft im Interesse
einer Bahn oder Wasserleitung einen Landmann von Haus und Hof vertreibt, so gewährt sie volle Entschädigung; ich wüsste nicht , dass ein Monarch einen geringeren Anspruch hätte. Heinrich V. von Frankreich hat auf seinen Königs
titel und die königlichen Residenzen und Renten genau das selbe Recht als irgend ein Privatmannn auf den Namen seines Vaters und auf sein ererbtes Eigenthum. Wenn das allgemeine Interesse auch eine Expropriation seiner sonstigen gemeinschädlichen Rechte vornehmen müsste , ge bührt ihm immer eine Entschädigung. Der Parlamentarismus ist der moderne Ausdruck
des anzustrebenden Compromisses zwischen Landesfürst und Volk und zweifellos der richtige Weg der Entwickelung unter der Voraussetzung aber, dass das Parlament auch wirklich der Vertreter des Volkes ist, denn
die Beschneidung der königlichen Rechte zu Gunsten einer kleinen Zahl von socialen und industriellen Freibeutern ist
nur vom Uebel, daher denn in der richtigen Wahlord nung , nicht aber in dem Umfange der Parlamentsrechte der entscheidende Schwerpunkt liegt. Gegenwärtig ist der Parlamentarismus zumeist eine Carricatur, weil die Parla
mente die Bevölkerung weder repräsentiren, noch deren In teressen vertreten , daher von einer Theilung der gesetz gebenden Gewalt zwischen Volk und Monarch , und
ner
Regierung der Majorität gar nicht die Rede sein kann . Der Amerikaner Carey entwirft folgendes Bild von den Volksvertretern und Beamten Amerikas. Er sagte (Seite
311 seiner Volkswirthschaft), dass man den Mann für einen falschen Propheten gehalten hätte , der vor zehn Jahren
Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung.
237
(1846) vorausgesagt hätte (wir bringen nur einen kleinen Auszug seiner vorgebrachten Gravamina ): ,,dass nach zehn Jahren die regelmässigen Ausgaben der Bundesregierung im tiefen Frieden auf sechsig Millionen oder auf fünfmal so viel wie dreissig Jahre vorher steigen würden ;
dass die Empfänger dieser beträchtlichen Summe, Lie feranten, Secretäre oder Postmeister, zur Zahlung von regel
wässigen Abgaben verpflichtet werden würden , lediglich zu dem Zwecke, die Männer im Amte zu erhalten, von denen
sie angestellt wurden oder die ihnen Lieferungen verschafft hatten ; dass die Zahlung dieser Abgaben zu der Bedingung gemacht würde, unter der sie ihre Aemter beibehalten dürften ;
dass gleichzeitig mit diesen Erpressungen von den Re gierungsbeamten alle Besoldung bedeutend erhöht, und dass so der Staatsschatz für blosse Parteizwecke und zur Förde
rung von Privatinteressen ausgebeutet würde ; dass die Centralisation dermassen vervollkommt würde,
dass die höchsten Autoritäten in Stand gesetzt würden,
einem Corps von 60- bis 80.000 Beamten ihre Ansichten in Bezug auf politische Fragen förmlich vorzuschreiben ; ... dass die Regierung den Mitgliedern der Legislatur ihr Verhalten vorschreiben und öffentlich die Aemter ausschrei
ben würde , die Denjenigen gegeben werden sollten , deren Abstimmung mit ihren Wünschen übereinstimmte ; dass die Gesetzgebung des Landes fast gänzlich unter die Herrschaft der Schifffahrts-, Eisenbahn- und anderen
Transport-Compagnien gefallen sein würde , und dass sich die Gesetzgeber mit den Vorstehern derselben in den Ge winn ungeheurer Schenkungen an Gold und Staatsländereien theilen würden :
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Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung.
dass die Centralisation so weit gediehen sein würde, dass dadurch die Ausgaben einer einzigen Stadt fast den Ausgaben der Bundesregierung vor dreissig Jahren gleich kämen ;
dass die Verausgabung der städtischen Einkünfte und
die Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung in den Hän den von Magistratspersonen sein würde, von welchen Viele nur des Zuchthauses würdig seien ;
dass der Kampf um die Vertheilung dieser Einkünfte
so heftig werden würde, dass deshalb der Stimmenkauf einen Umfang und Preis erreichen würde, wie nie zuvor und dass die Wahlen mittelst Bowiemessern, Pistolen und selbst mit Hülfe von Kanonen entschieden werden würden .“
In den monarchischen Staaten Europas ist es nicht viel besser ; alle Schriftsteller dieser Richtung klagen über die Corruption ; aber selbst dort, wo von einer eigentlichen Corrup tion nicht die Rede sein kann, entsteht durch die Furcht vor
der öffentlichen Meinung oder das Streben nach Popularität eine solche Verlogenheit des ganzen parlamentarischen Lebens, dass viele wirkliche Patrioten den Absolutismus allen parlamentarischen Regierungsformen vorziehen ; worin sie aber nicht Recht haben. Ob ein Parlament oder in dessen
Ermangelung die Bureaukratie der vielköpfige Tyrann ist - macht keinen wesentlichen Unterschied ; geholfen kann
nur werden, wenn dem politischen Sittenverderboiss über. haupt Einhalt gethan wird. Bei einem Volksvertreter müssen Patriotismus, Intelli genz und Unabhängigkeit vorausgesetzt werden, demzufolge aber auch beim Wähler . Was nun den ersteren, den Pa
triotismus, anbelangt, so wird von den Wahlordnungen in dem Bürgerrecht, den Steuer- und anderen Bestimmungen eine Garantie für das Interesse am Gemeinwohl gesucht, und lässt sich da auch nicht viel mehr thun ; was hingegen die nöthige Intelligenz anbelangt, so enthalten die Wahl
Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung. 239 ordnungen theils gar keine, theils ungenügende Bestimmun gen , daher denn die so beliebten directen Wahlen auf breiter Basis ein furchtbarer Missgriff sind .
Lassalle hat wenigstens eingestanden , dass er sie
für ein sehr gutes Agitationsmittel hält und verwerthet, wie aber ein Lange sich dem Wahne hingeben konnte, dem historischen Staate den Vernunftsstaat dadurch zu suppliren, dass alle Bürger sich an der Bestimmung der öffentlichen
Angelegenheiten gleich berechtigt betheiligen , ist un begreiflich. Will man die Volksmassen an dem Wahlacte partici piren lassen , so müssten die Wahlen indirect sein, wie
denn die Republik Venedig durch Verengung und Erwei terung der Wahlausschlüsse, ja selbst durch das Loos, allen Coterien und Intriguen vorbeugte , um die Wahlen auf die Geeignetsten zu lenken. Fröbel bemerkt mit Recht, dass der Umstand einer Wahl schon Eigenschaften für den Act voraussetzt , weil
man die Wahl sonst nicht nöthig hätte. Ein Bauer oder Fabriksarbeiter kann zu irgend einer bestimmten Persönlichkeit Vertrauen haben , und sie als Wähler berufen, aber er besitzt nicht entfernt den Bildungs
grad, um die Aufgabe und Fähigkeit eines Volksvertreters beurtheilen zu können, und so sind denn bei directen Wah len auf breiter Basis, bei der grossen Zahl der Parlaments mitglieder, bei der socialen Abhängigkeit der Massen ins
besondere, der Intrigue, Agitation und dem Eigenputze alle Thore geöffnet, daher den Parlamenten der Charakter einer Volksvertretung ganz und gar abgeht, und deren Mit gliedern die geeignete Qualification wohl kaum zugesprochen werden kann .
Aus diesem Missgriffe entpuppen sich dann mit strenger
Nothwendigkeit alle die Calamitäten , die das Princip des Parlamentarismus praktisch ad absurdum führen .
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Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung. Hat ein Ministerium oder auch der Monarch eine
Volksvertretung, den Volkswillen, vor sich, so wird das ge nügen , wenn die Berechtigung der Vertretung auch nicht weit geht. Ist dies hingegen nicht der Fall, so reducirt sich die Thätigkeit des Ministeriums auf die Aufgabe, einen Ma joritätsbeschluss formell zu Stande zu bringen , was auf die bekannte Weise geschieht. Der Eine wird Director in einer Creditanstalt, Sparcasse oder Eisenbahn , der andere bekommt eine Concession , einen Orden, eine Stelle, ganze Gruppen werden mit anderen Concessionen, etwa ungerecht
fertigten Bahnen und dergleichen gewonnen , in einem Se nate oder Oberhause , wo es unqualificirte Mitglieder auf Lebenszeit gibt, erfolgt ein Pairschub von gefügigen Perso nen , endlich wird der Vertretungskörper aufgelöst und die ganze Regierungsmaschine zum Zwecke der Falsification der Wahlen in Bewegung gesetzt. Das Endresultat ist dann , dass das Ministerium nicht aus der Majorität hervorgeht,
sondern umgekehrt, diese dem Ministerium entstammt, welches wieder von der Majorität auf die verschiedenste Weise aus gebeutet wird, und das heisst dann parlamentarisch regieren und die Gewalt zwischen Volk und Souverain theilen !!
Woher kommt es , dass in England diese Zustände nicht so hervortreten, wie am Continente ? Weil Diäten losigkeit, Bildung , grössere Unabhängigkeit der eng lischen Volksvertreter und Wähler das Parlament wirklich
zu einem getreueren Spiegel des Volkes machen ; ein wirk licher ist er noch immer nicht.
Insbesondore aber ist der
Engländer mehr Volkswirth als Politiker, was am Continent leider nicht der Fall ist.
Fröbel verwirft aus denselben Motiven die Diäten der Parlamentsmitglieder. Der
ganze Parlamentarismus ist eine kost
spielige und gemeinschädliche Comödie , wenn die Wahlordnung nichts taugt , und ist diese gut,
Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung. 241
so ist der ganze Rest mehr uder weniger neben sächlich .
Hat ein Parlament das Recht , die bestehenden Steuern zu verweigern (was ein Unsinn ist) , so kann man ein Ministerium gar nicht verurtheilen , wenn es lieber zu den Mitteln der Corruption in deren verschiedenen Formen greift, als einen Staatsstreich ausübt , die Staatsmaschine stille stehen lassen , geht denn doch nicht.
Erhöhungen
und Aenderungen der Steuern können den Parlamen ten vorbehalten sein, nicht aber die Verweigerung der schon bestehenden, aus den Gesetzen fliessenden Steuern. Hartmann sagt in seiner Phänomenologie des sitt lichen Bewusstseins, Seite 570 : „ Wir müssten einen Mann,
der an die Spitze eines zerrütteten und auf verfassungs mässigem Wege nicht mehr reformirbaren Staatswesens ge
stellt ist, tadeln, wenn er aus Scheu vor dem Kainszeichen der Eidbrüchigkeit zögern wollte , den aus den Fugen gehenden Staat durch eine verfassungswidrige Handlung zu retten und durch die That zu beweisen, dass das moralische Recht, beziehungsweise die Pflicht, zur Revolution ebensogut für die oben wie für die unten Stehenden gilt. Staatsstreich
und Revolution von unten sind Correlat- Begriffe; man kann nur beide für erlaubt oder beide für unzulässig halten . Der Staatsstreichmacher soll aber auch wissen , dass er sich als moralische Person opfert , indem er das Staats wesen rettet, und soll sich nicht darüber wundern , dass
das Volk , welches der Beurtheilung der Moral aus teleolo gischem Gesichtspunkt noch fern steht , ihn moralisch ver abscheut und brandmarkt , und mit Recht , wenn nicht die zwingende Nothwendigkeit der Staatsrettung , sondern per sönlicher Ehrgeiz das Motiv des Staatsstreiches war. “ Fröbel sagt (S. 237 Ges. d. Politik ) :
Eine Steuerver
weigerung ist eine Revolution und bedeutet nach der An sicht der Verweigerer, dass dieser Staat wie er ist , nicht Hellenbach , Vorurtheile. I.
16
242 Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung.
weiter bestehen soll.“ Es ist begreiflich, dass sich der Staat wehrt, wie er kann .
Es ist eben „ der Fluch der bösen That , dass sie fort zeugend Böses muss gebären!“ Der Fehler, der in dem
falschen Liberalismus, in dem Uebergreifen der Parlaments rechte und der Falsification des Volkswillens liegt , erzeugt
nicht nur die Staatsstreiche, sondern auch die ganze Ver logenheit unserer politischen Zustände. Frankreich bat seinen ersten und zweiten napoleoni schen Staatsstreich den directen Wahlen zu verdanken ;
gegenwärtig ist die Wahl des Staatsoberhauptes den beiden vereinigten gesetzgebenden Versammlungen vorbehalten, also indirect, und man kann überzeugt sein, dass die Präsidenten
wahl in Frankreich eine gute und nicht stürmische sein wird, insolange dieser Wahlmodus bleibt, und keine Falsificationen der Parlamente vorkommen.
Die Berechtigung, auf die politischen Angelegenheiten seines Landes direct oder indirect Einfluss zu nehmen, kann ohne einen bestimmten Bildungsgrad gar nicht gedacht werden. Greifen wir zu einem zweiten praktischen Beispiel als Illustration dieser Behauptung . Das alte Königreich Ungarn führte alle seine Angelegen
heiten in lateinischer Sprache, wodurch jeder von den öffent lichen Angelegenheiten eo ipso ausgeschlossen war, der nicht lateinisch sprechen konnte , und daher seine Studien nicht absolvirte ; andererseits wurden alle Doctoren , Geistliche, mit einem Worte alle diplomisirten Leute in die Comitats Congregationen des Adels zugelassen, aus deren Mitte zwei, sage zwei Reichstagsdeputirte für ein ganzes Comitat se wählt wurden, ähnlich war der Vorgang in den Städten .
Zu jener Zeit hatte Ungarn keine Schulden , gar keine in directen Steuern mit Ausnahme des Salzmonopols, und nur der Bauer zahlte etwa
Gulden directe Steuer für 20 Joche (circa
40 Morgen), wofür er aber freie Justiz, ärztliche Hilfe und
Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung. 243 Arzneien erbielt. Nur ein solcher auf Grundlage der Bildung und indirecter Wahl zu Stande gebrachter Vertretungskörper konnte durch Jahrhunderte einer österreichischen Regierung
gegenüber eine Constitution erhalten. Ich glaube nicht noth wendig zu haben , ein Bild von jenen Zuständen zu ent werfen, die in Ungarn seit jener Zeit bestehen , wo directe Wahlen auf breiter Basis die Angelegenheiten des Landes zu einem Tummelplatze für pecuniäre und ehrgeizige Be strebungen von Personen und Parteien gemacht haben. Schon die erste Frucht der directen Wahlen auf breiter
Basis war der Krieg vom Jahre 1848 , die Verwüstung des Landes und Vernichtung der Verfassung ; die Arbeit dieser Legislative seit dem Jahre 1861 leistet auf langsamem Wege dasselbe.
Mit einem
solchen Parlamente lässt sich nichts
schaffen .
In der gegenwärtigen Epoche des industriellen Auf
schwunges ist es allerdings nicht die lateinische Sprache, die das Kriterium für die Eignung zum Volksvertreter abgeben
kann, um so nothwendiger aber ist die volkswirthschaftliche
Vorbildung, an der es in continentalen Parlamenten fehlt, weshalb wir auch England und Amerika gegenüber so weit zurück sind.
Ein drittes Beispiel bietet uns die lange und glänzende
Dauer Venedigs. Venedig blühte nicht eben darum, weil es eine aristokratische Republik war , sondern weil ein aristo kratisches Regime die ungebildeten Massen vom politischen Felde verdrängte. Die Bildung hat zu herrschen. Es ist nicht meine Aufgabe Wahlordnungen vor
zuschlagen , oder etwa zu prüfen , ob die Serben Recht hatten , Advokaten und Geistliche vom Landtage auszu
schliessen , denn die Wahlordnungen müssen den bestehen den Verhältnissen Rechnung tragen ; in der Türkei wäre die Bedingung Lesen und Schreiben zu können schon etwas ; hier handelt es sich nur um Bekämpfung des Vorurtheiles, 16*
244 Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung.
dass das Volkswohl durch directe Wahlen und papierene
Parlamentsrechte oder Ministerverantwortlichkeit gefördert
und garantirt werde. Nur ein bestimmter Bildungsgrad kann zu einer directen Wahl berechtigen und ein noch viel höherer muss für die Wählbarkeit bestimmt werden, wenn man von den Parlamenten etwas Erspriessliches er warten will.
Es macht geradezu einen tragi - komischen Eindruck, wenn im Wege der falschen Majoritäten und zu Folge der Parteiverhältnisse so ganz unfähige Menschen Minister werden ,
und sehr häufig in Eisenbahnen-, Steuer- und Zollangelegen heiten Massregeln ergriffen werden , dass man davon eine Gänsehaut bekommen könnte.
Ein Parlament bat eigentlich keinen anderen Zweck in
der Entwickelung, als die sachgemässe Discussion und Con trole der wirthschaftlichen Interessen, und die parlamen tarische Regierungsform keinen andern, als die fähigsten zur Regierung zu bringen. Zu dieser Einsicht werden wir übrigens bald durch die Fortschritte der Socialdemokratia gebracht werden. Es ist Gefahr im Verzuge !
Wenn ein Land durch sein Votum einer unfähigen Re gierung Widerstand leisten soll , was ja der Zweck des Parlamentarismus ist, so muss das Parlament 1. in Wirklichkeit das Volk repräsentiren, 2. sachgemäss beschliessen.
Beides ist nur zu erreichen , wenn die Wahlordnung etwas taugt, nicht aber, wenn das Parlament grosse Rechte
hat , und Minister in Anklagestand versetzen kann. Es ist das eine sehr schöne Institution, wenn nur die Vertrauens männer des Volkes Minister sein können, aber sehr gefährlich, wenn sie nur die Vertrauensmänner einer Coterie zu sein brauchen und diese Coterie nicht das Beste des Landes ist.
Was nun die Oberhäuser anbelangt
wenn man sie
schon für nothwendig hält - , so ist es klar, dass auch sie
Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung. 245
die richtige Zusammensetzung haben müssen , wenn der Parlamentarismus nicht zur Carricatur werden soll .
Das
Kriterium in dieser Beziehung ist vor allem die Unab hängigkeit der Mitglieder von der Regierung , die aber mit Ausnahme des englischen Oberhauses und vielleicht des amerikanischen und jetzigen französischen Senates nirgends
in genügender Weise gefunden wird. Das dem englischen ähnlichste ungarische Oberhaus hat durch das Stimmrecht der Obergespäne, die nur mehr Beamte sind, und durch das Stimm
recht aller auch noch so wenig besitzender Magnaten seine un abhängige Stellung verloren. Das Haupt einer historischen Familie, welches einen Grundbesitz inne hat, der an Steuern
ungefähr so viel zahlt, als ein Wahlbezirk, ist ein ganz berech tigter Factor in einer gesetzgebenden Versammlung; und wenn dieser Besitz ein der Familie gesicherter ist, so kann ein solches selbst erbliches Mitglied niemals schaden , denn es bietet so manche Garantien für Patriotismus, Gemeinsinn und Unabhängigkeit , deren sich die meisten Abgeordneten nicht erfreuen. Ist so ein Pair auch ein unwissender Esel, so wird er für die Erziehung seines Sohnes nur um so ge
wissenhafter sorgen, als er selbst seine Unbehilflichkeit und Lächerlichkeit empfindet. Die Zahl dieser Mitglieder be schränkt sich selbst, und kann nicht ins Unendliche gehen . Da Pairs in der Regel keine Diäten beziehen, so ist deren Zahl auch gleichgiltig . Was nun die lebenslänglichen Mitglieder anbelangt, so kann es nicht schaden, wenn reich begüterte Bischöfe , die
Bürgermeister der grossen Städte, die Rectoren der Universi täten , Vertreter der Grossindustrie in bestimmter und be schränkter Zabl , abgetretene Minister von längerer bestimmter Dienstzeit in den Senat eintreten , denn das lässt sich motiviren, und eine unabhängige Stellung voraussetzen. Man
kann einer Regierung selbst das Recht einräumen , ohne Rücksicht auf einen sehr grossen und bestimmten Grund
246 Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung.
besitz oder Steuerbetrag eine mässige und genau bestimmte Zahl von Mitgliedern (etwa 10 Procent) zu ernennen , um - der Intelligenz jeder Art den Weg zu öffnen , welche Zahl
sie aber nie überschreiten darf und in der gegebenen Frist completiren muss. Wenn so eine Stelle leer wird , und die Regierung gezwungen ist , sie zu besetzen , so wird sie in der Regel eine gute Wahl treffen. Ein Senat, der will
kürlich und ohne Beschränkung an Zahl und Qualification mit Beamten, Generälen und Pensionisten – und was man 80 gemeinhin Mameluken nennt
gefüllt werden kann,
mag eine sehr ehrenwerthe Gesellschaft, nie aber einen ge setzgebenden Körper im parlamentarischen Sinne abgeben. Die Senatoren des Kaiserreichs waren eine solche Carricatur des Parlamentarismus.
Es ist darum eine müssige Frage , ob die Staatsform eine monarchische oder republikanische sein soll ; dadurch
werden die Vorzüge oder Nachtheile der Zusammensetzung des gesetzgebenden Körpers oder einer Wahlordnung nicht entschieden ; auch ist der Unterschied zwischen einem Präsi denten der Republik und einem König der Belgier kein
greitbarer. Die Civilliste beider ist ein grösserer Gehalt, das Recht Beider genau begränzt , und stehen beide nur
so lange an der Spitze der Regierung, als sie die executive Gewalt in Händen haben , und die Werkzeuge Gehorsam leisten. Nur das Eine ist gewiss : Je schlechter die Volks vertretung , desto unentbehrlicher ist die monarchische Ge
walt , daher sie nur bei hochgebildeten Nationen beseitigt werden darf. Doch selbst Frankreich hätte viel Ungemach erspart, wenn es die Verhältnisse gestattet hätten, ohne Re volutionen und Dynastiewechsel in ruhiger Entwickelung seine heutige Staatsform zu erreichen, und statt dem Präsi
denten Mac Mahon, den König Heinrich an der Spitze des Staates oder vielmehr der Repräsentation zu haben.
-
Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung. 247
Die Uebernahme der Kron- und Staatsgüter darch das Land und die damit verbundene Zahlung einer Civil.
liste hat dem Königthume sehr geschadet; denn so erscheint das Königthum als eine Last der Steuerträger , während früher das Regieren eine Last des Königs war . Der wahre
König soll der weitaus grösste Grundbesitzer des Landes und schon dadurch der geeignete Vertrauensmann des Volkes sein, wie denn in autonomen Gemeinden oder Kreisen die wahrhaften Grossgrundbesitzer ebenfalls die geeignetsten
und beliebtesten, weil unabhängigsten Vorstände sind. Zu einem gut bezahlten Beamten hätte sich das Königthum nicht herabwürdigen und seine Unabhängigkeit nicht opfern sollen .
Eine wirkliche , historische und legitime Dynastie ist für ein Land wegen der grösseren Stabilität immer ein Vor
theil , der selbst mit einer Civilliste von Millionen nicht zu theuer bezahlt ist ; wo eine solche fehlt, ist eine Schaffung
und Einsetzung einer neuen mindestens überflüssig ; wo es aber deren mehrere gibt, die mit einander rivalisiren , und als Prätendenten auftreten , wie in Frankreich, dort ist die Monarchie geradezu vom Uebel. Doch sind diese Fragen nebensächlich, die Hauptsache bleibt doch der Sittenzustand und der Grad der Intelligenz
eines Volkes, und da dieser doch nirgends ein vollkommener war, noch sein wird , so müssen durch die Staatsform und
Gesetzgebung die Garantien geschaffen werden , um dem politischen Sittenverderbniss und der politischen Verlogen heit wenigstens nach Möglichkeit Einhalt zu thun und die
parlamentarischen Freibeuter unschädlich zu machen. Dazu ist aber ein gefälschter Parlamentarismus wahrlich nicht geeignet ; die richtige auf die Bildung basirte Wahl
ordnung allein gibt Garantien , insoweit diese überhaupt möglich sind. Der moderne Parlamentarismus eignet sich weit mehr die Civilisation in Fäulniss zu bringen und einen
248 Der falsche Liberalismus und die parlamentarische Regierung . vorübergehenden Cäsarismus heraufzubeschwören. Was einst
in Rom und wiederholt in Paris geschah ( im Jahre 1848 auch in Pest) , sollte sich das in Berlin und Wien wieder holen müssen ? Ist es nicht möglich aus fremder Erfahrung zu lernen ?
Stehlen , Rauben und Morden ist nicht schön , in einer Volksvertretung aber seine persönlichen Interessen vertreten , ist noch viel schlechter !
Das Volkswohl durch directe Wahlen der Massen, durch die grosse Zahl der Volksvertreter und die grossen Rechte der Parlamente zu fördern, ist das Vorurtheil unseres Zeit
alters. Diese politischen Schlagworte waren gut, als es galt, dem Volke eine Stimme und ein Organ für dessen Angelegen heiten zu schaffen ; die abstracte Theorie der Idealisten hat,
wie natürlich, über das Ziel geschossen, und wir haben ihren Irrthum geerbt. Wir unterhalten uns wie die Kinder mit der äusseren Hülle, und der Kern : die wahre Freiheit und der
wirkliche Fortschritt – müssen darunter nothwendig leiden.
Drittes Buch .
Gesellschaftliche Vorurtheile.
_
I. Capitel. Der Aristokrat. Die wirklichen und falschen Factoren einer bevorzugten Lebensstellung. Gänzliche Entwerthung der Titel und Orden.
Wenn Jemand durch einen grossen Grundbesitz eine gesicherte und unabhängige Lebensstellung hat , wenn er im Sinne Darwins der Erbe der Cultur und des Kampfes ums
Dasein von einigen Generationen ist , welche für physische, intellectuelle und anderweitige Pflege leicht Sorge tragen
konnten, und wenn er einen in der Geschichte seines Landes bekannten Namen trägt , und dadurch unter der Aufsicht und Controlle der öffentlichen Meinung weit mehr als ein Anderer steht, so ist ein solches Individuum in dem Besitze von Factoren , die selbst in einem Lande wie Amerika als
solche anerkannt oder vielmehr empfunden werden. Er ist ein Aristokrat , deren es selbst in Ländern gibt, die den Adel im europäischen Sinne gar nicht kennen ; es gibt unter
den Bauern eines Dorfes und Bürgern einer Stadt ebenfalls Aristokraten
Diese Factoren haben aber mit den Diplomaten und
Titeln eigentlich gar nichts zu thun, wenn sie auch oft mit einander verknüpft sind. Die Wichtigkeit , die man der
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Der Aristokrat.
Geburt zuerkennt, ist also kein Vorurtheil, denn sie bestimmt die Eigenschaften der Rasse, Erziehung und Lebensstellung ; wohl aber gehören die Titel und Orden in die Reihe jener Institutionen , die sich bald überlebt haben werden .
Es gab allerdings einmal eine Zeit , wo der „Graf" Rechte batte, also ein Graf war , heut zu Tage ist er es nicht mehr, er heisst nur so ; es kommt wohl vor, dass ein Graf sich im Besitze obiger Factoren befindet und dann ist er eben ein Aristokrat, doch wenn ihm diese Factoren
fehlen, so ist er weit mebr ein Proletarier und wird er sehr leicht zum Gegenstande des Mitleides oder der Lächerlichkeit. Dass der Schwerpunkt in den obigen Factoren zu suchen ist,
wird durch die gesellschaftliche Stellung so mancher Familien nachgewiesen , welche ohne einem berühmten alten Geschlechte anzugehören , in drei bis vier Generationen einen grossen Grundbesitz erworben haben, und welchen die Sprossen be rühmter Geschlechter , die eine rückgängige Richtung dies bezüglich genommen, gesellschaftlich nachstehen . In England bieten die Titel allerdings eine gewisse Gewährleistung, weil sie eben noch an andere Bedingungen als die Geburt geknüpft sind ; im übrigen Europa ist dies längst nicht mehr der Fall, und werden die Titel zu Folge
ihrer Entwerthung auch für die Staatsgewalt zu dem ein zigen Zwecke unbrauchbar werden, den sie heute haben. Es ist komisch , das gerade Dasjenige, was die Demo kratie am meisten belächelte, nämlich das sogenannte blaue Blut der Rasse, noch das einzig Reelle an der Sache ist, was allerdings mit dem Pergamente des Diploms nichts zu thun hat. Jede constante, nach einer bestimmten Tendenz gerichtete Züchtung muss nothwendig zu Mängeln und Vor zügen führen. Wenn man durch genaue Züchtung guter
Rassen das sogenannte Vollblutpferd zu Stande brachte, so ist es gewiss , dass Nachkommen von gut genährten , culti virten Generationen andere Eigenschaften oder doch Dispo
Der Aristokrat.
253
sitionen haben müssen , als Nachkommen von Generationen, die eine solche Pflege nicht hatten. Schopenhauer be zeichnet es geradezu als bornirt und lächerlich , die Abstam mung für unbedeutend zu halten. Zu Zeiten Christi kannte man den Adel nicht , und doch liess man Jesus von David abstammen , in welchen Stammbaum der intervenirende
heilige Geist allerdings etwas Confusion brachte. Das thatsächliche Züchtungsresultat entspricht auch voll kommen diesen Principien . Geistig inüsste der männliche Adel
zufolge der Oberflächlichkeit und Vielseitigkeit des Unterrichts gegenüber den Mittelklassen längst verkümmert sein, wenn die vorzügliche, den anderen Gesellschaftsschichten zumeist über legene Erziehung des weiblichen Geschlechts nicht Einhalt thun würde; das physische Uebergewicht würde er zweifelsohne haben, wenn die aufreibende, oft ausschweifende und zu üppige Lebensweise nicht wieder hindernd in den Weg träte. Zwei
Specialitäten sind ihm aber geblieben, Muth und die feineren sogenannten aristokratischen Formen , sowohl der Körper bildung als des Umganges, welche Aristokraten selten abgeht. Lange sagt: „Der Adel zeichnete sich in mehreren Epochen der Geschichte nicht nur durch ein anerzogenes vornehmes
Wesen , sondern durch angeborene , namentlich physische Vorzüge aus ;“ den Muth hat selbst Washington als Specialität der Gentlemen anerkannt, und ist er die Frucht der Lebensweise seit jeher ; die obigen Eigenschaften sind unverkennbar und sprichwörtlich. Die Ausnahmen bestätigen nur die Regel , denn wenn wir von der geschlechtlichen Vermischung auch ganz absehen, so finden wir diese Formen schon sehr häufig bei nichtadeligen , aber durch einige Ge Derationen wohlhabenden Familien, weil sie die Frucht der
Anpassung und Vererbung sind. Nachdem ich speciell diese beiden biologischen Factoren nicht mehr vertheidige, als die Differencirung des Keims als geeigneten Materiales, mittelst welchem ein Wesen einen Organismus projicirt und in den
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Der Aristokrat.
biologischen Process tritt , so ist es immerhin möglich und selbst wahrscheinlich, dass eine edle Seele selbst einen un geeigneten Keim zu einer edleren Form verarbeitet , denn
im Keime liegt nichts als eine determinirte Disposition. Der Einfluss der Abstammung ist aber dennoch grösser als man glaubt, da die Keimzelle das Material ist, aus welchem der ganze Organismus aufgebaut wird. Ich hatte in meinem Leben ott Gelegenheit einen tieferen Blick in Familienromane
zu werfen , und Resultate der verschiedensten Kreuzungen selbst bis in die zweite und dritte Generation zu beobachten
und zu vergleichen, und habe ich in ihnen nur Bestätigungen dieser Auffassung gefunden , die einen praktischen Thier züchter nicht in Staunen versetzen können .
Aus alle dem ist aber nur ersichtlich, dass ein Adels
diplom , nachdem es die wirklichen Factoren nicht gewährt und keine Rechte, wie etwa früher Steuer- oder Militärdienst
freiheit damit verknüpft sind, nichts ist, als ein Stück Papier. Grundbesitz , Züchtungsresultate , historische Voreltern , glänzende Familienverbindungen verleiht es nicht, was also soll man mit diesem Titel verknüpfen ? Doch nicht Verdienste
um den Staat ?! Bei einer kleinen Minorität mag das der Fall sein , die Majorität der Erwerber hat ihn ohne Ver dienste erworben, schon zufolge der Erblichkeit , Wenn Jemand einige Tausend Joche besitzt oder er
wirbt, wenn er sich dort ein angenehmes Etablissement be reitet, und an die Staatsgewalt mit dem Vorschlage heran tritt, er wolle diese oder jene Opfer dem allgemeinen Inter esse bringen , wofern man ihm erlaube, sich den Herrn oder
Grafen von und auf „ Breitenstein “, oder wie das Nest sonst heissen mag, zu nennen ; oder wenn Jemand wirklich grosse Verdienste hat, und die Staatsgewalt ihn mit einem solchen „ Breitenstein " belehnt, so hat dies einen Sinn, und ist dies
ein unschuldiges Vergnügen . Eine Titelsverleihung wäre auch ohne Grundbesitz ad personam für Staatsbeamte,
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Dor Aristokrat.
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Würdenträger oder bedeutende Männer verwendbar und hätte vielleicht einen praktischen Werth, wenn man keinen solchen Missbrauch damit getrieben hätte ; aber so wie diese Ordens- und Titel- Epidemie heut zu Tage ausgebeutet und behandelt wird, ist sie ohne Werth, sogar vom Uebel.
Die sonst glückliche Hand der Maria Theresia hatte für Heldenthaten einen Orden gestiftet (um den man aber ein kommen muss!) , der nebst einer für die damalige Zeit an sehnlichen Lebensrente den Freiherrnrang verlieh.
Wäre
sie dabei stehen geblieben , so könnte man die Institution ganz gut finden ; dadurch aber, dass sie den Titel beding ungslos erblich machte, sind ganze Generationen erstanden, die als unglückliche Candidaten des Grössenwahns herum wandern und in ihrem vermeintlichen Adel nur ein Hinderniss für ihr Fortkommen finden . Erst wenn die wirklichen
Factoren hinzutreten , wie Reichthum , Persönlichkeit, Familienverbindungen u. 8. w ., wird eine solche Stellung er träglich. Der Nachweis lässt sich auch umgekehrt führen. Wenn durch ein Decret alle Titel plötzlich abgeschafft würden, 80 hätte Fürst Liechtenstein ganz genau dieselbe Stellung
wie vordem ; sein Reichthum ,
seine Voluptuarien , sein
Glanz und Einfluss blieben dieselben ; er wäre nach wie
vor ein Aristokrat ersten Ranges. Sein fürstlicher Titel ist dabei ganz Nebensache. Ist er denn überhaupt ein Fürst ? Trotz seiner unmittelbaren Herrschaft Vaduz ist er es nicht,
er heisst so, und hat ein fürstliches Vermögen, einen fürst
lichen Rang, wohingegen der Fürst von Serbien , mit dem er gewiss keinen Tausch einginge, ein Fürst ist , der einer fremden Grossmacht den Krieg erklären , im eigenen Lande seine Gegner aufknüpfen lassen kann . In früheren Zeiten konnte der Monarch allerdings
durch seine Machtstellung irgend Jemand die Rechte des Adels verleihen, nachdem es diese nicht mehr gibt, so kann er sie auch nicht verleihen, er kann nur Jemanden in die
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Der Aristokrat.
Lebensstellung versetzen , dass er oder vielmehr seine Nach kommen in den Besitz und Vortheil obiger Factoren gelangen können .
Läge in einem Titel wenigstens irgend welche Garantie der Ehrenhaftigkeit oder der Ausdruck eines Verdienstes,
80 wäre er immerhin als eine Auszeichnung unter den Mit bürgern zu betrachten und zu verwerthen. Aber weder
das Eine noch das Andere ist der Fall ; der Titel allein gibt gar keine Garantie, und ist auch nur höchst selten die Frucht persönlichen Verdienstes.
Die sogenannten Standeserhöhungen erfolgen heut zu Tage grösstentheils im Wege der Ordensverleihungen. Ein Orden ist ein Zeichen, dass man irgend einer Körperschaft angehöre, wird getragen und man müsste daher annehmen, dass mit einem solchen Zeichen irgend welche Rechte oder
PAichten verknüpft seien , welche zu besitzen der Eigen thümer seinen Mitbürgern gegenüber documentirt. Die Chi nesen , ein in vieler Beziehung höchst praktisches Volk, erkennen an den Knöpfen und sonstigen Abzeichen genau, mit wem sie zu thun haben , und wenn unsere Aerzte und andere Fachmänner erkennbar und die Menschen wenigstens in intellectueller Beziehung durchsichtiger wären , so hätte das seine Vortheile ; was aber soll ich mir denken , wenn
ich ein farbiges Knopfloch begegne? Mir sind die Menschen, die einen Legitimationsschein gar nicht brauchen , immer lieber, als jene, die ohne Noth und Veranlassung ihn osten sibel tragen .
Es gibt so viele Orden , dass ich sie gar nicht kenne ; über die Kenntniss des goldenen Vliesses, des deutschen und Johanniterordens (welche vielleicht die einzigen sind , die Etwas über den Träger zufolge der Bedingungen aus sagen ) habe ich es nicht gebracht , obschon es mir an Ge legenheit nicht fehlt, aber wenn ich sie auch unterscheiden
würde, so wüsste ich noch immer nicht, ob der Träger
Der Aristokrat.
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irgend einen Prinzen am Bahnhofe erwartet, in eine Aus- ' stellung geführt oder mit irgend einem Album beschenkt hat, oder ob er einem fremden Attaché einen Liebesdienst erwiesen, einem Minister Geld zur Wahlagitation geliefert, oder so etwas dergleichen gethan hat. Das Tragen eines Ordens hat oft, ja meistens nur die Eitelkeit und das Wan deln auf krummen Wegen zur Unterlage. Wie soll auch darin etwas Auszeichnendes gefunden werden , wenn ein Cassenfabrikant deren 40 erwerben kann ?
Ist er 40mal
ehrenwerther oder 40mal lächerlicher als ein anderes Men schenkind ?
Die Sache liegt bereits umgekehrt; die höheren Diplo maten sind ganz unschuldig daran, dass sie in ihrem ganzen Leben unter einem Ordensregen stehen, und aus sehr vielen Rücksichten die Orden tragen müssen. Jeder Besitzer von Orden ist oft gezwungen, im officiellen Verkehre und mit
Rücksicht auf die Zusammensetzung der Gesellschaft eine Auswahl unter seinen Orden zu treffen ; aber ein Mensch aus den distinguirteren Kreisen wird nie mit Ordensbändern, und seien sie noch so niedlich, spazieren gehen oder gar reisen , wie man dies so oft bemerkt. Die Orden haben
ihren Credit als Toilettestück , wenigstens in den besseren Kreisen, längst verloren , und unsere gar nicht so weit ent fernten Nachkommen werden über die Titelsucht ihrer
Väter ein homerisches Gelächter aufschlagen . Wollte die Staatsgewalt mit den Ordens- und Titel
verleihungen Belohnungen und Aneiferungen verknüpfen, so müsste sie vor Allem keinen solchen Unfug damit treiben,
und die fremden Titel nicht anerkennen (denn ein Fürst Reuss stellt bekanntlich auch Diplome aus) ; sie müsste ihn entweder dur ad personam verleihen , oder wenn erblich, an einen bestimmten Besitz knüpfen, weil sie ihn sonst ent
werthet. Der Widerspruch in der Lebensstellung eines Grafen mit einer Grafschaft im Monde ist auch für den Hellenbach , Vorurtheile. I.
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Der Aristokrat.
Träger eine Last ; er wird zum Opfer des Vorurtheils und
zum Proletarier der gemeinschädlichsten Sorte; das bekannte „ Noblesse oblige“ und die falsche Repräsentation haben schon schwere Opfer gefordert. Ein Staat , der nur aus Arbeitern bestünde , müsste durch Mangel an Cultur zu Grunde gehen ; so wie aus dem Fürstenthume Serbien nie ein Culturstaat wird, weil er fast nur aus Bauern besteht.
Die Cultur kann nur in dem
Masse steigen , als die einzelnen Bürger und Gruppen ver schiedener sind ; die richtige Proportionalität ist da von der grössten Wichtigkeit. Ein Zuviel oder Zuwenig an Schnei
dern, Bergleuten, Taglöhnern , Beamten , Soldaten u. s. w. ruft schon Störungen im gesellschaftlichen und wirthschaft lichen Organismus hervor. Ein mittelloser betitelter Adliger ist aber ein schädlicher Pilz im socialen Körper, und wirkt zersetzend, wenn er an Zahl und Macht überhand nimmt.
Die Staatsgewalt thut daher sehr unrecht, wenn sie dieses Element zu sehr vermehrt, das ohne eigentliche Arbeit
sehr gut leben will, und durch seine Verkommen beit das Anseben des Standes schädigt, welches der Staat doch ausbeuten will. Die Titel dürfen nur ad personam , erblich aber nur facultativ verliehen werden , wenn sie unschädlich und verwerthbar sein sollen.
Nachdem aber in dieser Richtung schon viel gesündigt
wurde, so müsste die Annäherung an das englische System, wo die Titel nur mit einem bestimmten Grundbesitze oder
einer bestimmten Stellung verbunden sind, im Wege der Gesetzgebung dadurch angebahnt werden , dass jeder nach Publication des Gesetzes oder von einem festgesetzten
Zeitpunkt an Geborene nur dann in Besitz des Titels gelangt, wenn die daran geknüpften Bedingungen erfüllt sind ; es läge darin sogar ein mächtiger Sporn. auf anständige Weise Etwas zu erwerben oder doch zu einer gesicherten Lebens
stellung zu gelangen , während jetzt ein solcher Titel nur
Der Aristokrat.
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ungerechtfertigte Ansprüche erzeugt. Das wäre der einzige Weg zur Sanirung der diesbezüglichen Lächerlichkeiten,
dieser wird aber in parlamentarischen Regierungsformen kaum eingeschlagen werden , weil er vernünftig ist, und die Ma
jorität einer Landesvertretung handelt selten vernünftig. Eitel keit und Grössenwahn sind nirgends mit solcher Sicherheit zu treffen, als in Parlamentsgebäuden , die durch obige Götzen in der Regel gefüllt werden .
So wie der theoretische und abstrakte Demokrat die
Factoren des Besitzes und der Rasse vergebens läugnet, so läugnet er auch vergebens die Consequenzen der Erziehung, und darum hat man Unrecht, die Exclusivität der verschie-. denen Gesellschafts-Schichte ndiesen zum Vorwurfe zu machen ,
welche Exclusivität übrigens in der besten Gesellschaft weit geringer ist als bei den Mittelclassen.
Wenn durch eine Verkettung von Umständen irgend Jemand aus der Mittelclasse gezwungen wäre, einen Abend in einer Fuhrmannskneipe zuzubringen , so würde ihm die Luft, der Schmutz, die Gemeinheit gewiss sehr unbehaglich vorkommen, während die Fuhrleute gar keine Ahnung von
seinen Empfindungen hätten. Auf gleiche Weise herrscht in dem geselligen Verkehre des ,high life “ ein Ton, dessen
Zauber durch das derbere und eckigere Benehmen anderer weniger gedrillter Naturen, wenn auch minder grell, gestört
wird, welche gleichfalls die Wirkungen, die sie hervorbringen, weder ahnen noch begreifen . Diese glatten , delicaten und elastischen Formen eines
von Kindheit an in guter Gesellschaft lebenden Menschen stehen aber ebenfalls in gar keinem Zusammen hange mit Orden und Diplomen ; man kann sich die ersteren ohne diesen Firlefanz erwerben, und können sie durch diesen nicht verliehen werden.
Es ist allerdings richtig , dass die lächerliche An massung Einzelner oft etwas Verletzendes hat ; wo aber wäre 17 *
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Der Aristokrat.
sie nicht zu finden ? Wie benimmt sich ein erster Schneider
einer Residenz gegenüber einem Flickschneider auf dem Lande , ein Finanzbaron gegenüber einem Kleiderjuden ? Wenn man den gesellschaftlichen Verkehr, wie er zwischen den reichsten Aristokraten und den nur auf das Nöthige
reducirten, minder glücklichen Sterblichen besteht, mit den
Beziehungen einer Firma von 20 Millionen Capital zu einer Firma von 30.000 A. Capital , oder eines Sectionschefs mit einem Diurnisten vergleicht, so sieht man erst wo der gute Ton und wo die Anmassung zu Hause ist.
Gewiss ist allerdings , dass die Anmassung immer als vollgiltiger Beweis genommen werden darf, dass etwas faul sei ; denn das wirkliche Verdienst ist nie anmassend , der wirkliche Aristokrat ist immer liebenswürdig, die Titelträger
ohne Mittel und Verstand sind immer aufgeblasen und lächerlich , was auch ganz begreiflich ist. Der wirkliche
Aristokrat ist ein selbstleuchtendes Gestirn, das sein Licht überall mitnimmt, wohin es immer geht, während diejenigen,
die das eigene Licht nicht haben , nur so lange leuchten , als sie sich in obiger Gesellschaft befinden , daher sie auch so eifersüchtig und lächerlich in Sachen des Umganges sind.
Sus de glandibus ! Jeder will sich zur Geltung bringen, wird ihm diese von selbst zuerkannt, so braucht er sich nicht zu bemühen , und kann sich mit Anstand in das Kleid der Bescheidenheit wickeln. Wenn nun so ein unglücklicher
adeliger Proletarier nichts ist, nichts weiss und nichts hat, als einen Titel, was ist da zu wundern, wenn er das Einzige was er hat gegenüber Anderen zur Geltung bringen will ?
Der Jäger und Literat , der Geldprotze und das schöne Geschlecht, sie flunkern alle gern mit dem , worin sie eine Ueberlegenheit fühlen. An dem Streben, sich Geltung
zu verschaffen , kann ich nichts Tadelnswerthes finden ; das Komische an der Sache ist nur, wenn man etwas zur Geltung
Der Aristokrat.
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bringen will, was keinen Werth hat. Das Was und Wie ist hier entscheidend.
Schopenhauer sucht das Wesen des Lächerlichen in der
Incongruenz eines gedachten Begriffes und eines Anschau lichen , welches sich von jenem Begriffe in Eigenschaften auffallend unterscheidet, die ansonst mit diesem Begriffe ver knüpft sind. Wenn man nun von Jemand sagen würde, er sei der Herr von Sickingen , oder von Berlichingen , so wird man sich einen Abkömmling dieser Rasse denken, und
mag das ganz gut eine Anempfehlung in der Welt sein. Dem Begriffe .der englischen Gentry liegt so etwas zu Grunde,
und das ist ganz legitim und durchaus nicht lächerlich, die Lebensstellung des Betreffenden sei, welche sie wolle. Mit den Bezeichnungen : der Fürst , Graf, Ritter von, oder der
freie Herr auf u. s. w. haben sich Begriffe verknüpft, die sich ohne entsprechenden Besitz, Aufwand und Lebensstel lung nicht recht denken lassen, und wenn der Träger eines solchen Titels diesen Begriffen nicht entspricht , so wird zwar nicht er , wohl aber der Titel und der ganze Stand
lächerlich. Wenn hingegen eine Persönlichkeit , die nichts kennt, als die Börse, den Wechsel und geschäftlichen Er werb , sich so einen Titel kauft, und in ihrer persönlichen
Erscheinung und Handlungsweise immer das gerade Gegen theil der Ritterlichkeit zu Tage tritt, so entsteht dann erst recht die Verschiedenheit zwischen dem Gedachten und dem Geschauten, - dann wird auch der Träger lächerlich. Grössenwahn ist die Vorhalle der Narrheit. Natur
betrachtung, Unglück, eine lange Kette von Enttäuschungen führen zu dem entgegengesetzen Standpunkte. Der Philosoph und der Landmann leisten am leichtesten Verzicht auf die
Illusion der zeitgenössischen Anerkennung. Die
Geburtsaristokratie
fällt durchaus nicht unter
die Vorurtheile, insoweit sie auf Abstammung , Erziehung,
Lebensstellung und insbesondere Grundbesitz fusst ; denn
Der Aristokrat.
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das sind wirkliche Factoren , und deren Eigenthümer sind im öffentlichen Leben als sehr geeignete Vertrauenspersonen verwendbar und nützlich; wo hingegen der Glaube, dass ein Diplom, ein Titel dies Alles ersetze oder schaffe , ein Vor urtheil ist. In früheren Zeiten , als ein Diplom wirkliche Rechte verschaffte, hatte es einen Werth; heut zu Tage hat es keinen, es sei denn eine Schenkung à la Wellington oder Bismarck mit inbegriffen. Doch selbst in diesem Falle ist es
gleichgiltig, ob Bismarck vor seine Unterschrift ein G. oder F. oder auch nichts setzt.
Sein Verdienst oder sein Glück
denn das ist zumal bei einem Diplomaten schwer zu ent scheiden
wiegt schwerer als seine Titel !
II. C a pitel.
Der Jude. Die Die Vorzüge und Schattenseiten aller ungemischten Rassen. specifischen Eigenschaften sind eine Frucht der Sonderstellung.
Wenn ein so edler Mensch wie Charles Fourier
und ein so bedeutender Denker wie Schopenhauer gleich sam in Uebereinstimmung ein so abfälliges Urtheil über die jüdische Rasse abgeben , so ist es wohl der Untersuchung werth , ob die alte Antipathie gegen die Juden irgend welche
plausible Begründung habe. Da die Juden und Zigeuner sehr reine, d. b . unvermischte Rassen sind , so wäre schon a priori anzunehmen , dass sie sich durch gute und schlechte Eigenschaften von den anderen Stämmen auszeichnen müssen, welche Eigenschaften die Con
sequenz ihrer Sonderstellung sind , die sie sich nicht selbst gegeben haben , sondern welche ihnen aufgedrungen wurde. Demnach sind alle guten und schlechten Eigenschaften der selben indirecter Weise das Verdienst und die Schuld der
Nicht- Juden . Wir wollen uns zuerst mit ihren guten Eigen
schaften beschäftigen ; doch bevor wir dies thun , sei be merkt, dass der Grund offenbar nicht in ihrem Glauben zu
suchen ist. Die Religionen verdanken ihren Ursprung wahr
Der Jude.
264
träumenden Schwärmern , ihre Formen schlauen Priestern ,
und der Umstand , dass man dem alten Testamente ein neues hinzugefügt, ist viel zu geringfügig , um darin die Quelle der Verschiedenheit zu suchen , welche die jüdische Rasse von den anderen unterscheidet.
Es ist allerdings wahr , dass die älteren jüdischen Propheten eine Unsterblichkeit nicht kannten, dem zu Folge auch Jehovah nur von irdischer Vergeltung weiss und spricht; es ist darum erklärlich , warum die Juden das Leben und materielle Wohl so hoch stellten, dass selbst Spinoza noch
zu beweisen sucht, dass das schlechteste Dasein dem Nicht sein vorzuziehen sei. Es mag in der älteren Zeit der Glaube
immerhin von Einfluss auf die praktische Richtung der Juden gewesen sein ; in unserer Zeit aber , wo der Glaube an eine überirdische Entlohnung auch bei den Christen immer mehr abhanden kommt, könnte der Unterschied als ausgeglichen betrachtet werden.
Die Juden sind eine eminent praktische und intelli gente Rasse. Wer je auf dem Lande gelebt, hat die Nütz lichkeit und Verwendbarkeit der Landjuden, unbedingt die
beste Species der Gattung , trotz ihres wucherischen Vor ganges , kennen gelernt ; die Findigkeit , Ausdauer , Combi nation und Energie der Juden überhaupt sind unglaublich und erstrecken sich diese nicht blos auf den Handel.
Wer zu den besseren Schachspielern zählt, weiss, dass das bessere Spiel nur in der weiter gehenden Combination der möglichen Varianten besteht, und immerhin anstrengend ist.
Man kann es daher durchaus nicht für blossen Zufall
halten ,
wenn die
besten Schachspieler unstreitig die
Juden sind.
Ob sich der Jude auf den Pferdehandel oder die Börse
wirft, er bewahrt seine Ueberlegenheit und besteht siegreich jede Concurrenz, was auch ganz natürlich ist, weil man ihm
durch Jahrhunderte den Kampf ums Dasein so erschwert
Der Jude.
265
hat ; er musste intelligenter sein , wenn er dem Druck, der auf ihm lastete, Widerstand leisten wollte.
Diese Vorzüge müssen nothwendig auch von Schatten seiten begleitet sein ; der Jude ist in der Regel Handelsmann. Charles Fourier war ein grosser Feind des Han
delsstandes, dem er in seiner Jugend selbst angehörte ; er nannte den Handel kurzweg das Gewerbe der Lüge , und hatte darin nicht Unrecht , da das Bestreben Werthe so
billig als möglich zu kaufen , und so theuer als möglich zu verkaufen , ohne Lüge, Ueberlistung und Ausbeutung von Noth und Verlegenheiten nicht leicht durchführbar ist. Der Handelsmann frägt nicht darnach , ob ein Product durch Sklaven oder um den Preis der Gesundheit und des Lebens
zu Stande gekommen , sondern nur ob es billig ist ; er ver kauft dann abermals ohne jede Rücksicht um den theuersten Preis. Carey sagt mit Recht, dass der Handelsmann ärger
als jeder Eroberer sei , der doch zuweilen das Verlangen fühlt, die Lage seiner Nebenmenschen zu verbessern , wäh rend der Handelsmann den Producenten beim Einkauf, den
Consumenten beim Verkauf ohne weiters verhungern lässt. Das der nothwendige Vermittler zwischen Production und Consumtion eine dominirende und bedrückende Stellung ein genommen , ist auch wahr ; dass sich aber die Juden der
Production enthalten und vorzugsweise dem Gewerbe des Handels zuwenden , ist doch die Schuld der Nicht-Juden, welcbe in früheren Zeiten so viele Erwerbszweige dem Juden gesetzlich verwehrten
Wenn Schopenhauer den Juden vorwirft, dass sie in jedem Staate Fremde ohne Patriotismus und nur Egoisten sind , die von allen Staatsämtern und politischen Rechten ausgeschlossen werden müssten, so ist dagegen einzuwenden , dass sie gerade darum , weil man das Letztere gethan , zur ausschliesslichen Pflege und Solidarität ihrer Stamminteressen getrieben wurden.
266
Der Jude.
Die Physiognomie und Sprache der Juden hat in der Regel nichts Einladendes und Ansprechendes; was war aber
ihr Loos schon in Aegypten und in der ganzen Welt bis fast auf den heutigen Tag ?
Man betrachte die engen
schmutzigen Stadttheile , die man ihnen überall zuwies, man bedenke die Verachtung und Verfolgung , die sie erlitten, und man wird sich über die unvortheilhafte Rasseneigen thümlichkeit nicht mehr wundern können .
Die sanfteren Züge des weiblichen Geschlechtes machen es begreiflich, dass der orientalische scharfe Typus in der Jugend sehr schöne Gesichter hervorbringen kann, aber eine schöne alte Jüdin ist mir denn doch nie vorgekommen.
Die Gleichgiltigkeit für ihre Erscheinung und Verachtung jeder Repräsentation mögen das Ihrige dazu beigetragen haben ; allerdings haben sie dadurch auch viel Geld er spart und sich zur praktischen Geldmacht gezüchtet. Dass die ursprüngliche Rasse sie zu dieser Sonderstellung nicht verurtheilte , geht aus den Eigenthümlichkeiten ihrer näch sten Verwandten, der Araber, hervor. Man kann etwas Wür digeres und Vornehmeres in der Erscheinung nicht finden , als den Araber besserer Sorte.
Wie sieht neben einem
solchen Sohn der Wüste ein europäischer Börsenjude aus !! Es ist charakteristisch , dass Aerzte, Juristen, Dichter, Schriftsteller (nicht die schreckliche Species der Zeitungs
reporter ) so leicht und schnell alle obigen Schattenseiten , selbst die des charakteristischen Gesichtsausdruckes ab
streifen ; allerdings entsteht bei dem innigen Causalnexus von Charakter und Gesichtsausdruck die Frage , ob nicht der abweichende Ausdruck und die abweichende Beschäfti
gung einen vom normalen Judenthume abweichenden Oha
rakter zur gemeinschaftlichen Ursache habe. Dass der Ein fluss der Beschäftigung auf die Gesichtsbildung selbst bei Anderen ein sehr grosser ist , beweisen übrigens die unver kennbaren Physiognomien der katholischen Geistlichkeit und
Der Jude.
267
selbst der protestantischen Pastoren. Einige Jahre Seminar leben genügen, um den Gesichte einen unvertilgbaren Stem pel aufzudrücken. Einer meiner Freunde aus den besten Familien des Landes wurde als der jüngere von mehreren Brüdern dem geistigen Stande überliefert, doch schon mit einigen zwanzig Jahren kehrte er ins Privatleben zurück, bewirthschaftete seine Besitzung, trug nie wieder ein geist liches Gewand , und ich zweifle , dass er während dieser
ganzen Zeit überhaupt die Schwelle einer Kirche betreten ; man keinen Augenblick im Zweifel sein, und musste aus der Physiognomie den Schluss ziehen, es mit einem gewesenen Priester zu thun zu haben.
-nichtsdestoweniger konnte
Man wirft den Juden ferner ihre Arroganz vor , und
es ist wahr , dass so ein reichgewordener Parvenue in der
ersten Generation wenigstens ein widerliches Exemplar zu sein pflegt; was oft so weit geht , dass wenn sie in Bade orten oder Sommerfrischen sich zu zahlreich einfinden , durch ihr arrogantes lärmendes Benehmen diese für rück sichtsvollere Menschen ungeniessbar machen und zu Grunde richten ; wer aber kann sich über diese Reaction wundern,
wenn man an die Erniedrigung denkt , die dieser Stamm erduldet ?
Das Vorurtheil unserer Vorfahren hat eine böse Saat
gestreut, deren Früchte wir nunmehr vor uns liegen haben ;
die Emancipation der Juden wird nach und nach die mora
lischen , die Mischung die typischen Eigenthümlichkeiten verflachen ; beide Theile müssen aber zur Erkenntniss der Wahrheit kommen , die Einen müssen begreifen , dass das
charakteristisch Jüdische in vieler Beziehung und in der Regel etwas Anstössiges ist, und müssen streben es abzu streifen; die andern müssen sich schuldig bekennen , die Schattenseiten veranlasst oder doch verschärft zu haben, und müssen das Ihrige thun, den Uebergang zu erleichtern ,
268
Der Jude.
Es ist selbstverständlich hier nicht die Rede von den
durch Generationen cultivirten Spitzen des Judenthums,
sondern vom grossen Durchschnitte, vom Normal- Juden, der den Typus seiner Rasse im Gesicht und in der Gesinnung, in Wort und That offenbart, der eine Solidarität im besten Falle nur mit seinen Leuten" anerkennt. Es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass
es höchst verderblich und gefährlich ist, wenn sich das Grosskapital in einzelnen Händen und speciell in Juden händen befindet und sich fortwährend in Riesensummen an häuft, nicht nur wird dadurch der Staats- und Volkswirth
schaft enormer Schaden zugefügt, die Unzufriedenheit und Armuth treibt schliesslich auch die Gutgesinnten zur Ver zweiflung und zum Hasse gegen die Juden resp. gegen diese ungesunden Verhältnisse. Schon ist das Judenthum zur bedrohlichen Macht und Gefahr des Staates geworden. Der Gedanke , dass die Juden an die Bildung eines neuen nationalen Staates schreiten, oder wie ein komischer Abgeordneter es wünschte, dazu von der Staatsgewalt ge
drängt werden sollten, ist eine Unmöglichkeit. Denn erstens wollten sie es nicht , zweitens könnten sie es nicht ; die
Nicht- Juden haben es selbst verschuldet, dass der Jude nur in der Interzellular - Substanz des Staatsorganismus
leben kann , und in dem eigentlichen Zellen -Complexe zu Grunde ginge. Ich habe unter den Taglöhnern , Maurern, Handwerkern, Wald-, Ziegel- und Erdarbeitern alle Natio nalitäten gefunden, aber keinen Juden ! Der ist intelligent genug , um die eigenen Hände nicht gebrauchen zu müssen , aber auch zu bequem , um die fremden ent behren zu können.
Man sollte die Schranken einer specifischen Natio palität zu beseitigen streben, wie es überhaupt an der Zeit ist , dass der Begriff der „ Nation " erblasse , und der „ der Menschheit“ sich erleuchte !
III. Capitel. Das Duell.
Das Duell als Culturelement der Vergangenheit. - Der Zweikampf ein Akt der Nothwebr.
Der einzige Ausweg .
Heinrich Heine beginnt ein nachgelassenes Gedicht mit den Worten : ,,Zwei Ochsen disputirten sich In einem Hofe fürchterlicb “
und wollte er mit diesem Gedichte das Duell lächerlich machen .
Es mag dieser Vergleich nun oft zutreffen , aber nicht
immer, und finde ich den Ausspruch eines alten Türken aus der alten Zeit, wo es noch von der europäischen Civilisation unbeleckte Türken gab.* ) viel zutreffender. Ich wurde ein
mal durch den Consul dem einstmaligen Pascha von Belgrad vorgestellt , und äusserte der Consul , dass er mich vom Fechtboden aus kenne, und dass ich ein sehr guter Fechter sei . Diese Worte mussten von dem Dolmetsch sehr schlecht *) Von einem europäisirten Türken – einem fast nur in den Gross sagte eine geistreiche Frau : „La nature l'avait fait sanglier, la civilisation en a fait cochon. “ (Die Natur schuf ihn als Eber, die Civilisation aber macht ihn zum Schwein.) Es liegt städten lebenden Gesandten
sehr viel Wabres darin !
270
Das Duell.
wiedergegeben worden sein , weil der alte Türke sie dahin
verstand, dass ich mit dem Consul viele Zweikämpfe gehabt hätte , und er schüttelte demzufolge den Kopf mit der uns verdolmetschten Bemerkung: „ Der Narr hat mit dem Narren immer Streit, der Weise mit dem Narren selten, der Weise mit dem Weisen nie .“
Diese Aeusserung scheint mir viel zutreffender , denn man kann noch so weise sein , und mit dem Narren doch
Streit bekommen, und wenn auch ich das Vorurtheil nicht habe, einem Narren zu Liebe meine Knochen zn wagen, so haben es doch die Anderen, was leider genügt , wie das
eine objective Beurtheilung unserer gesellschaftlichen Verhält nisse ergiebt.
Im Sinne der Auffassung , dass alle menschlichen In stitutionen , wenn noch so gut , schlecht werden müssen und zwei Seiten haben, war der Zweikampf auch einmal ein Cultur
element gegenüber noch roheren Zuständen, das sich über lebt hat und auch thatsächlich eine gute und schlechte Seite besitzt. Allerdings ist das Gute bereits erreicht, und kann
ohne Duell erhalten werden, daher denn dieses längst verdient, als überflüssig und gemeinschädlich beseitigt zu werden , wogegen das Mittel der Straffälligkeit, das man anzuwenden versucht hat, nicht ausreicht.
Der Besitz des Weibes und die Nahrung , demzufolge
auch das Nahrungsgebiet, veranlassen das Thier zum Kampfe, zum Einsetzen des Lebens. Beim Urmenschen wird das nicht anders gewesen sein , sehen wir ja die wilden Bewohner
der Erde jeden fremden Eindringling und auch ihren per sönlichen Widersacher im Stamme selbst mit aller Grau
samkeit und Hinterlist abschlachten . Diesem Zustande gegen über erscheint das Duell mit seinen Vorsichtsmassregeln,
seinen loyalen Bedingungen gleichsam als ein Akt der höchsten, Humanität, die sich auf die Fehdebriefe und
Das Duell.
271
Kriegsführungen unter der Aegide einer gewissen Ritter
lichkeit erstreckt hat . Waitz erzählt von den Malayen, denen er eine gewisse Ritterlichkeit zuerkennt , dass in schwierigen Rechtssachen bisweilen der Zweikampf auf Tod und Leben von ihnen zur Entscheidung gewählt wird, dessen Ausgang als Gottesurtheil gilt , genau wie in unserem Mittelalter. Selbst Zwistigkeiten unter ganzen Stämmen wurden durch den Kampf weniger Auserwählter entschieden, was immer noch vernünftiger ist, als wennn sich Alle be kämpfen und ausrotten .
Eine weitere wohlthätige Consequenz dieses Rechtes, Jeden zur persönlichen Verantwortung zu ziehen , war die Verfeinerung der Umgangsformen. Es ist selbstverständlich, dass ein Jeder eine gewisse Vorsicht beobachtet, der da weiss, dass er durch ein verletzendes Benehmen vor diese ultima ratio gestellt werden kann , und ist es für Niemanden unter normalen Verhältnissen wenigstens von Reiz seine eige nen oder fremde Knochen zu zerschmettern . Auch lässt sich nicht läugnen, dass die rohe Gewalt, die in einem Wirthshause
zur Schlägerei führt, bei den dem Duell unterliegenden Gesellschaftsschichten weder zum Ausdrucke kommt, noch an selbe in der Regel appellirt wird. Muth und Gewandt heit, wie nicht minder das Bewusstsein des Rechtes sind
Factoren , die oft leicht über die physische Kraft siegen, zumal das Recht auf die Verschärfung , die Kugel , ein unbenommenes ist, auch kann die gewonnene Zeit zur Ein sicht und ruhigen Ueberlegung führen.
Die gute Seite des Duells beschränkt sich demzufolge auf die Beseitigung der Rohheiten , der Schlägereien und des Todtschlages, indem es ihnen etwas Besseres substituirt;
aber damit ist noch nicht gesagt, dass das Duell eine gute In stitution sei ; im Gegentheil, das Duell ist ein Unsinn, weil der Ausgang sehr oft in gar keinem Verhältnisse zur Ver anlassung, ja sogar im grellen Widerspruche mit dem Rechte
Das Duell.
272
und der Billigkeit steht. Es kann Jemand meine ganze Existenz auf die unverantwortlichste Weise schädigen und vernichten und mich überdies erschiessen.
Wenn zwei Menschen freiwillig sich den Hals brechen, 80 geht dies strenge genommen Niemand etwas an ; die Rechtstitel des Staates
Verlust an Steuerkraft und Be
darf an Kriegsmaterial
sind denn doch zu schwach , und würden leicht sehr weit ausgedehnt werden können . Aber es ist in der Regel eine ganz falsche Anschauung,
dass die Kämpfenden das freiwillig thun ; die Sache liegt praktisch ganz anders. Entweder glaubt sich jemand durch mich beleidigt und fordert mich, so verlangt die Gesellschaft oder das Vorurtheil, dass ich mich schlage ; oder umgekehrt, ein Anderer thut mir etwas an , und die Gesellschaft ver langt von mir, dass ich ihn fordere. Ich halte diese Anforde
rung an mich für einen Unsinn , aber bin doch gezwungen, darauf einzugehen , weil ich vor der Alternative stehe , ent weder mit Weib und Kind auszuwandern , alle meine Ver bindungen , meine ganze Lebensstellung aufzugeben , oder meine Knochen zu riskiren.
Wenn mir das zweite als das
kleinere Uebel erscheint, nuu so thue ich es, ebenso als
wenn ich mich einer gefährlichen Reise unterziehen müsste. Für einen vernünftigen Menschen ist das Duell nichts als ein Akt der Nothwehr , dem er vielleicht häufiger als ein Anderer, aber doch nicht unter allen Umständen aus zuweichen in der Lage ist. Meine Ehre kann nie in der Hand eines Einzelnen
liegen ; das unverschämte Benehmen eines Einzelnen kann meine Ehre nicht schädigen , wohl aber kann es durch das
Vorurtheil zum Angriff auf meine Lebensstellung werden, die ich vertheidigen muss , so gut wie meine Börse oder mein Leben, wenn ich angefallen werde. Es ist auch lächer
lich , in dem Fordern oder Schlagen einen sicheren Beweis männlichen Muthes zu suchen , weil möglicherweise ein
273
Das Duell.
sehr muthiger Mann sich nicht schlagen , und ein feiger es schliesslich doch thun kann. Ich weiss zwei Beispiele, dass Feiglinge , durch die Unmöglichkeit ihrer gesellschaftlichen Stellung aufgestachelt, sich nicht nur endlich schlugen, sondern Raufbolde wurden . Wie wäre nun diesem Uebelstande abzuhelfen ?
Ich sehe nur den einen Weg, dass das gesellschaftliche
Verdict statt denjenigen zu treffen, der sich der Consequenz der Beleidigung entzieht, denjenigen treffe, und zwar in dem entsprechenden Masse treffe , der die gesellschaftlichen Be ziehungen in einem Gliede der Gesellschaft verletzt und
beleidigt. Um das praktisch durchzuführen , müsste man an das Vorhandene anknüpfen. Es ist nämlich der Umstand , dass man durch Vermittelung zweier Zeugen dem Duell den
Charakter des Todtschlages benimmt , geeignet , der Sache eine andere Wendung zu geben.
Wenn jeder Fordernde an
die Bedingung gewiesen wäre , bestimmt qualificirte Persönlichkeiten anzugehen, deren erste und unerlässlichste Bedingung das vierzigste Lebensjahr wäre, und wenn diese durch Wahl noch anderer sich zu einer Art Schwur- oder
Ehrengericht constituirten , so wäre das Forum gewonnen ,
welches den im Rechte Befindlichen schützen , und den Anderen verurtheilen könnte. Ich kann gedeckt durch den
Spruch des Gerichtes, die Satisfaction verweigern, und der Schuldige kann durch den Spruch des Gerichts - bei Auf lehnung gegen seine Sentenz oder selbst schon durch die
Grösse seiner Schuld – gesellschaftlich excommunicirt werden . Unter den gegenwärtigen Verhältnissen kann ich es nicht vermeiden, mich zu schlagen, aber stets ist es mir gelungen ,
einen Conflict zwischen Anderen beizulegen ; ich glaube, dass bei geeigneten Secundanten oder Ehrengerichtsge
schworenen ein Duell fast unmöglich ist. 18
Hellon bach, Vorurthoilo . 1 .
Das Duell.
274
Die Gesellschaft befindet sich da in einer eigenthüm
lichen Lage. Hebt sie das Recht auf, eine Genugthuung zu verlangen , so werden sich Sitte und Umgangsform ver schlechtern, die Anmassung vermehren ; erkennt sie das Recht an , wie es heute besteht, so kommt sie in Conflict mit
der Vernunft und den Gesetzen ; es bleibt ihr darum nichts anderes übrig, als dieses Recht zu reguliren. Denn die Staatsgesetze reichen dazu , zufolge des Princips: „ Gleiche Rechte für Alle“ nicht aus, weil in Strafsachen die Durch führung dieses Princips eine Illusion ist, was auch Hartmann in seiner Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins näher ausführt. Wenn ich und ein brodloser Vagabund in einem Zucht
hause unsere Lebenszeit zubringen, so ist das keine gleiche Strafe ; ich wäre sehr gestraft, wenn ich bei gleichem Verbrechen zweifelsohue auch mehr Strafe verdienen würde; er fühlt sich versorgt , und ist es nichts Ungewöhnliches , dass Ver
brechen zum Zwecke besserer Versorgung begangen werden. Ebenso kann für das verletzte Ehrgefühl einer Oebstlerin
und eines Gentleman keine gemeinschaftliche Formel ge funden werden ; das zu beurtheilen werden die Oebstlerinnen untereinander und die Gentlemen untereinander besser ver
stehen. Nur eine Art Schwurgericht kann da helfen, aber
ohne Rechtsgelehrte ! Denn diese haben es glücklich dahin gebracht ,
dass selbst die allgemeinen Schwurgerichte in
Formen oft ersticken und ad absurdum gehen. Es hat sich der Fall ereignet , dass eine ich glaube des Gattenmordes geständige Verbrecherin vom Schwurgerichte der Art
freigesprochen wurde, dass letzteres die Frage : „ Ob sie das Verbrechen , ihren Mann erschlagen zu haben , begangen “ trotz des Geständnisses und des Thatbestandes vernente.
Die Umstände waren allerdings der Art , dass Jeder die Freisprechung bejubelte, und die Geschworenen es vorzogen, eine solsche Absurdität zu bebaupten, als die von dem Gatten misshandelte Mörderin zu verurtheilen.
Die Geschworenen
276
Das Duell.
mussten lügen , wenn sie dem Satze „ sumum jus summa injuria " nicht abermals eine praktische Illustration geben wollten .
Ein Ehrengericht im obigen Sinne hat kein anderes Amt , als denjenigen zu schützen , von dem mit Unrecht
Genugthuung gefordert wird , und den zu verbannen , der die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens unterwühlt. Ob sich diese Verbannung auf gesellschaftliche Kreise oder Städte und Länder beziehe , ist aber Sache der Staats
gewalt , das Erstere kann sie nicht hindern , zum Zweiten müsste sie die Hand reichen .
Die Könige von Frankreich haben allerdings grossen Missbrauch mit ihrer Gewalt getrieben oder vielmehr treiben
lassen , aber die berüchtigten Haftbriefe und Verbannungen vom Hofe und auf die Güter hatten auch ihre guten Seiten ; ich sehe keine Schwierigkeit, dass ein solches Schwurgericht berechtigt, und darin von der Staatsgewalt unterstützt würde, einen ungezogenen Lümmel von der Gesellschaft auszu schliessen und je nach Umständen auch aus der Stadt oder
dem Lande auf längere oder kürzere Zeit zu verbannen . Das Duell zählt zweifelsohne zu den gesellschaftlichen Vorurtheilen , dessen Häufigkeit mit der grösseren Sittlichkeit
und Bildung immer mehr abnimmt. Insolange die Gesell schaft nicht auf einem sehr hohen Standpunkte steht und das wird sie noch lange nicht – , und insolange der Staat und die Gesellschaft nichts erfinden , um die Aus schreitungen auf andere Weise zu verhüten und zu bestrafen ,
als das gegenwärtige Gesetzbuch, insolange wird das Duell nicht aufhören , denn es ist ein Act der Nothwehr für den einen, manchmal selbst für beide Theile.
Der feinfühlende Mensch empfindet jede Verletzung tiefer, als der rohe, kann sich aber nicht entschliessen, den
üblichen gesetzlichen Weg zu ergreifen, der nur für brutale Fälle und robe Menschen berechnet ist. Dass in der mangelhaften 18
Das Duell.
276
Gesetzgebung der Fehler liegt, wird schon durch den Um stand erwiesen, dass das Duell immer mehr in die unteren
Schichten, gleichzeitig mit der Bildung und dem gesteigerten Ehrgefühl dringt. In alter Zeit schlug sich nur der Adel und Kriegsmann , dann der Deputirte , Schriftsteller und Student, jetzt ist das Duell unter den Gebildeten fast all gemein.
Von den höchsten Spitzen ist diese Empfindlichkeit und mit ihr das Duell
ausgegangen , welche sich
immer mehr in die tieferen Schichten herabsenkt.
Diese
Empfindlichkeit soll bleiben , sie trägt gute Früchte ; nur soll die Sühne für Verletzung der guten Sitte nicht in den
unvernünftigen zufälligen Folgen des Duells, sondern in der Verbannung bestehen. Das räudige Schaf wird von der Heerde getrennt ; heute verstösst die Gesellschaft den , der sich nicht schlägt, sie sollte aber den verbannen , der einen Anlass zum Schlagen gibt.
IV. Capitel
Unsere gesellschaftlichen Beziehungen . I.
Die Liebe im engeren Sinne.
Sehopenhauer über die Liebe.
Die dreifache Wurzel der Liebe.
Körperliche Eigenschaften. Charakter-Eigenschaften (Gesichtszüge ). Die Gegenliebe.
Ich weiss , dass ich mich mit meinen Anschauungen in greller Opposition zu dem befinde, was man so gemein hin „ öffentliche Meinung“ nennt ; doch auf das muss ja Derjenige gefasst sein, der ein Buch der Vorurtheile schreibt. In keinem Falle aber dürfte der conservative Schmerzens
schrei greller zu vernehmen sein, als bei der Lectüre des nachfolgenden Capitels. Nur Wenige haben sich von der öffentlichen Meinung
80 weit emancipirt, um einzusehen , „ dass das Eigenthum und die Ehe nachweisbar so viele Formen angenommen und Veränderungen erfahren haben , dass man sich wohl fragen dart, ob dieselben noch etwas mehr als ein Ergebniss der
Geschichte, als historische Kategorien seien ? " (Aus der An trittsrede des Prof. Schuster im Jahre 1877, Leipzig),
278
Unsere goschleohtliohon Boziehungen.
Im Punkte der Liebe und Ehe bin ich gezwungen ,
meinen Zeitgenossen die heuchlerische Larve vom Gesichte zu reissen, aber auch verpflichtet, auf die Grundlagen zu rückzugreifen , aus welchen sich unsere geschlechtlichen Ver hältnisse entwickelt haben .
Arthur Schopenhauer ist meines Wissens der
erste Philosoph, der die Geschlechtsliebe vom metaphysischen Standpunkte beleuchtet , wenn er sie auch scheinbar sehr prosaisch auffasst. Ich werde aus seiner nur einige Blätter
betragenden Abhandlung (die Welt als Wille und Vorstel lung, 3. Auflage, III. Band) einige Sätze herausheben , welche das Wesentlichste und für uns Nothwendigste enthalten und die genügen werden, meinen mit Schopenhauer nicht be
freundeten Lesern von der Anschauung dieses Philosophen über die Liebe Kenntniss zu geben.
Mein Gewährsmann meint , dass der Mensch das ein zige Thier sei , welches mit bestimmter Auswahl eines be stimmten Individuums lieben könne , und erklärt sich dies folgendermassen : „ Der Endzweck aller Liebeshändel ist wirklich wich
tiger, als alle anderen Zwecke im Menschenleben , und da her des tiefen Ernstes , womit Jeder ihn verfolgt, völlig
werth . Das nämlich, was dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres als die Zusammensetzung der nächsten Genera tion ... Wie das Sein, die Existenz jener künftigen Per sonen durch den Trieb überhaupt, so ist das Wesen , die Essenz derselben durch die individuelle Auswahl ( also die
Liebe) durchweg bedingt und wird dadurch in jeder Rück sicht unwiderruflich festgestellt.“ Man sieht, dass die Priorität der Darwin'schen Lehre
zum Theile Schopenhauer zukommt. Wie laut auch hier die hohen und empfindsamen, zumal aber verliebten Wesen aufschreien mögen über den derben Realismus meiner Ansicht, sind sie doch im Irrthum.
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
279
Denn ist nicht die genaue Bestimmung der Individualitäten der nächsten Generation ein viel höherer und würdigerer Zweck, als jene ihrer überschwenglichen Gefühle und über sinnlichen Seifenblasen ? Ja, kann es unter irdischen Zwecken
einen wichtigeren und grösseren geben ? Er allein entspricht der Tiefe , mit welcher die leidenschaftliche Liebe gefühlt
wird , dem Ernst , mit welchem sie auftritt, und der Wich tigkeit, die sie sogar den Kleinigkeiten ihres Bereiches und
ihres Anlasses beilegt. Nur sofern man diesen Zweck als
den wahren unterlegt , erscheinen die Weitläufigkeiten , die endlosen Bemühungen und Plagen zur Erlangung des ge
liebten Gegenstandes der Sache angemessen. Denn die künf tige Generation in ihrer ganzen individuellen Bestimintheit
ist es , die sich mittelst jenes Treibens und Mühens ins Dasein drängt. Ja, sie selbst regt sich schon in der um sichtigen, bestimmten und eigensinnigen Auswahl ... Im Begegnen und Heften sehnsüchtiger Blicke ent steht der erste Keim des neuen Wesens , der freilich wie alle Keime meistens zertreten wird Zunächst und wesentlich ist die verliebte Neigung
gerichtet auf Gesundheit, Kraft und Schönheit, folglich auf Jugend ... Die höchsten Grade der Leidenschaft aber entsprin gen aus derjenigen Angemessenheit beider Individualitäten
zu einander, vermöge welcher der Wille, d. i. der Charakter des Vaters und der Intellect der Mutter in ihrer Verbin. durg gerade dasjenige Individuum vollenden, nach welchem
der Wille zum Leben überhaupt, welcher in der ganzen Gattung sich darstellt , eine dieser seiner Grösse angemes sene , daher das Mass eines sterblichen Herzens überstei
gende Sehnsucht empfindet, deren Motive eben so über den Bereich des individuellen Intellectes hinaus liegen .
. . Das ist die Seele einer eigentlichen grossen Leiden schaft. “
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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Ich werde mit wenigen Worten diese abgerissenen Sätze erläutern , und habe sie nur angeführt, weil ich die Quelle bezeichnen musste, aus der ich geschöpft.
Dieser scharfsinnige Denker meint, die Natur babe die Erhaltung des Menschengeschlechtes unter die Garantie der Liebe gestellt; so lange sich die Menschen lieben werden, wird ihr Geschlecht nicht aussterben. Die Bestimmung der Liebe vom Standpunkte der Natur ist also in erster Linie die Erhaltung des bestehenden Geschlechtes ; in zweiter Linie dessen Veredlung durch die Zuchtwahl. Die von Darwin nachgewiesene Wichtigkeit derselben in der Thierwelt dürfte meinem Leserkreise gewiss nicht unbe kannt sein .
Doch ist die Liebe für das menschliche Geschlecht von
viel grösserer Bedeutung, weil es sich bei diesem nicht um Kraft und Gesundheit allein handelt.
Der Mensch bedarf
zur Erreichung seiner Bestimmung noch anderer Eigen schaften als das Thier.
Der Umstand , dass je höher er in moralischer und geistiger Beziehung steht, desto wählerischer ist in Bezug auf den Gegenstand seiner Zuneigung , ist für uns schon ein Anbaltspunkt, dass die Liebe zu einem bestimmten In dividuum auf die Vervollkommnung des Menschengeschlech tes als Gattung von grossem Einflusse sein müsse. Zwei Menschen , die sich in ihren Eigenschaften zu
sagen , die sich gleichsam ergänzen , sympathisiren mit ein ander, lieben sich endlich , pflanzen sich fort. Jeder hat die äufigen Contraste in körperlicher und auch sonstiger
Beziehung , die in der Regel zwischen zwei Liebenden be stehen , gewiss 'beobachtet . Es ist Thatsache, dass nament lich in körperlicher Beziehung die Contraste sich gefallen . Darum meint Shakespeare und mit ibm mein Philosoph : Wer liebte je, der nicht beim ersten Anblick liebte !
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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Doch darin gehen die Herren zu weit. Gar so vor ausbestimmt ist denn die Sache doch nicht. Dadurch würde der Liebe ein beinahe rein sinnlicher Charakter aufgeprägt.
Die Zahl derer, die auf den ersten Anblick gefallen, ist viel grösser , als die derjenigen , die man wirklich lieben kann.
Es werden immer die Fragen von Einfluss sein , ob das innere Wesen ebenso , wie das Aeussere dem eigenen Ideale entspricht , und ob die empfundene Neigung erwie dert wird .
Das sind für die Liebe höchst wesentliche Dinge , die aber auf den ersten Anblick nicht entschieden werden kön
nen , es sei denn , dass man von der Individualität einer Person schon früher Kenntniss erlangt hat; dann aber ist
der erste Anblick eigentlich der letzte nothwendige Impuls für die so wundervolle Empfindung.
Die Philosophen sind in der Regel incompetent in der Liebe. Jean Jaques Rousseau wurde von einer Schönen mit den Worten verabschiedet: „ Studiere Ma thematik und lasse das Lieben. “ Noch häufiger wird der
Fall eintreten , dass der Philosoph seine Schöne verab schiedet, und am häufigsten der , dass sie sich gar nicht finden .
So viel steht fest, dass die Philosophen , besonders wenn sie zur Kategorie der aussergewöhnlichen Denker ge hören , wenig Erfahrungen in der Liebe machen , und dies war bei unserem in Frage stehenden Philosophen höchst
wahrscheinlich auch der Fall. Daher ist es erklärlich, dass er nicht wusste , dass gerade die edlere Liebe durchaus
nicht auf den ersten Anblick erfolgen muss , und in der Regel auch nicht erfolgen kann. Die Liebe besteht in der Zuneigung zweier Wesen
verschiedenen Geschlechtes, die vor Allem verschiedene Grade der Heftigkeit haben kann. Die Heftigkeit der Liebe aber kann die Begleiterin ebenso einer gemeinen als edlen Liebe
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
sein . Wohl aber kann der Grund , in welchem diese Zunei gung eigentlich wurzelt, der Liebe einen verschiedenen Cha rakter aufprägen .
Selbst die physische Schönheit eines Mannes z. B. kann auf eine mehrfache Weise einen Eindruck auf ein weibliches Wesen hervorbringen .
Ein Herkules ist eben so eine Voll
kommenheit, wie ein Apollo ; oft wieder nimmt man unbe wusst gewisse äussere Formen für die sicheren Bürgen eines bestimmten Charakters an , und da liebt dann ein Weib weder den Herkules noch den Apollo , es liebt vielleicht irgend einen vermutheten oder wahren Zug des Charakters, der in seinem Aeusseren zu liegen scheint, und der auf sie eine magische Gewalt ausübt.
Wie oft hat eine einzige That genügt , um den zün denden Funken in das Herz eines Mädchens zu schleudern !
Ich weiss einen Fall, wo eine Dame aus den höchsten Stän
den Kenntniss von der aufopfernden Freundschaft eines Mannes erhielt, ihn durchaus kennen lernen wollte, und all sogleich heirathete. Andererseits bestätigt die Erfahrung, dass sehr viele heftige und tiefe Leidenschaften oft nach sehr langem Verkehre entstanden sind , in welchem beide Theile anfänglich auch nicht im entferntesten daran dach ten, dass sie sich je lieben würden . Also ist es keineswegs
der erste Anblick , der für die Liebenden auf bejahende Weise entscheidend sein muss , wohl aber kann der erste Anblick die Möglichkeit der Zuneigung verneinen. Beim ersten Anblicke kann man das Urtheil fällen , diese oder diesen könnte ich nie lieben , nicht aber diese oder diesen liebe ich. Es würde gewiss bedingt lauten , wenn man
bei der Liebe überhaupt überlegte , und sie nicht vorzugs weise ein unbewusster Vorgang wäre. Das verneinende Urtheil gilt besonders vom Manne,
dessen Neigung von den körperlichen Reizen des Weibes mehr abhängig ist, als die Liebe des Weibes von den Rei
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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zen des Mannes ; dafür verlangt der Mann keinen Muth,
keine Kraft, keine Energie , sondern Schönheit und andere Eigenschaften von dem Gegenstande seiner Liebe, während das Weib, besonders das höher begabte, die ersteren unbe
dingt verlangt, die beiden letzteren leichter vermisst. Alles dies scheint darauf hinzudeuten , dass Eigenschaften des
Charakters und Willens mehr durch den Vater vererbt wer den, die physischen mehr durch die Mutter ; denn die Natur ist weise in der Vertheilung der Triebe, wie der Kräfte. Dieser Ansicht ist auch Schopenhauer . Die Liebe würde sich daher eber classificiren lassen,
je nach den Motiven, die da ins Spiel kommen, vom Wohl gefallen an der physischen Erscheinung bis zur Bewunde rung der moralischen und geistigen Eigenschaften. Wer aber könnte die zwischen diesen beiden liegenden zahllosen Ver schiedenheiten überblicken und in gleichartige Gruppen ab theilen, da es doch ausser Zweifel steht, dass die Liebe aus
einem einzigen, einzelnen Motive ebenso wenig vorkommt, als ein reines Temperament. Wer könnte die Ursache des magischen Zaubers er
gründen , welcher einer bestimmten Hand gegenüber vielen Hunderten und Tausenden gleich schöner Hände innewohnt ? Eine weitere Eigenthümlichkeit der Liebe scheint un
serem Philosophen ebenfalls entgangen zu sein , und das ist, dass die aus der Uebereinstimmung hervorgehende Nei gung zweier Wesen keineswegs von beiden ursprünglich getheilt und empfunden werden muss , sondern dass die ersten nothwendigen Schritte immer nur von Einem Theile
ausgehen, und dass dessen wahrhafte Neigung nur in den seltensten Fällen zurückgewiesen wird .
Die Erfahrung lehrt täglich, dass man die Liebe eines
Weibes oft sehr schwer und langsam gewinnt, dass es also auf ein gegenseitiges Sichzusagen nicht immer ankommt
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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wenigstens nicht in Bezug auf äussere oberflächliche Eigen schaften. Der Eine liebt, der Andere lässt sich lieben. – Diese
Form wird immer mehr oder weniger vorkommen, und kann zwischen denselben Personen die gegenseitige Stellung oft geändert, es können die Rollen gewechselt werden. Wir Männer wissen alle aus Erfahrung, dass uns ein Weib auf einmal in einem anderen Lichte erscheint , wenn wir uns
von ihm geliebt wissen. Dasselbe gilt, wenn auch in gerin gerem Masse von uns Männern gegenüber den Frauen, nur dass die Frauen aus später zu erörternden Gründen uns
nicht trauen , überhaupt schon wegen ihrer weit geringeren Fruchtbarkeit viel exclusiver mit ihrer Liebe sein müssen ;
die wahre tiefe Leidenschaft aber, wenn es ihr möglich ist, sich als eine solche zu erweisen , gewinnt das weibliche Herz unbedingt , wenn es überhaupt einer Liebe fähig ist. Die Frauen haben in der Regel ein viel edleres Herz als wir Männer.
Die Gegenliebe ist eine Grundbedingung für edlere
Naturen. Ein kräftiger männlicher Charakter kann alle mög lichen Eigenschaften an einem Weibe wahrnehmen , inso lange sie für ihn Gleichgiltigkeit zeigt , wird er sie nicht lieben . Es ist gleichsam , als ob er sich zu täuschen fürch
tet in der Wahl des geliebten Gegenstandes , und nur die
Gegenliebe ihm die Beruhigung gäbe , dass sie wirklich für einander bestimmt seien . Ebenso bewundert das Weib viel
leicht lange im Stillen die glänzenden Eigenschaften eines Mannes und wie überrascht , wie glücklich ist es , wenn es
Zeichen der Neigung an ihm wahrnimmt ; ohne diese wäre er für die Betreffende einfach ein interessanter Mann ge blieben .
Die Bedingungen der Liebe im praktischen Leben sind übrigens doppelter Art ; solche, welche die Natur selbst setzt, und das sind die echten , und solche, die aus unseren
jeweiligen socialen Verhältnissen entspringen , das sind die
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
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unechten ; jene beherrschen das ideale Gebiet der Liebe, diese das Gebiet der materiellen Existenz fassen wir uns zunächst mit der ersteren .
der Ehe.
Be
Als erste echte Grundbedingung müssen wir be stimmte körperliche Eigenschaften bezeichnen das ist die prosaische Seite der Liebe. Die Kindheit und das Alter als unfruchtbar erregen keine Liebe ; darin ist auch der Grund zu suchea , warum
Mädchen verhältnissmässig viel früher und Männer viel später noch Leidenschaften erregen können. Die allerdings selten vorkommende Liebe zu einem Kinde , was aber ge
wiss ein Mädchen sein wird , ist einfach Anticipation und Wahrnehmung der sich entwickelnden Eigenschaften der Zukunft. Kräftige Männer werden sich leichter als schwache Männer in zarte Frauen verlieben , weil sie den Mangel dieser Eigenschaft im Interesse der Nachkommen gleichsam ersetzen ; überhaupt werden , wenn nicht besondere Eigen
heiten des Charakters massgebend werden, die Contraste die Hauptrollen spielen. Man würde aber die Liebe sehr prosaisch auffassen, wenn man sie auf das beschränkte, was wir hier als erste Bedingung derselben kennen gelernt. Es wäre dies zwar immerhin schon ein wesentlicher Unterschied vom Thiere,
das eine Auswahl oder Liebesintrigue kaum kennt, und wo nur der rohe Kampf den stärksten der Gattung zumeist einen Vorzug gibt.
Bei dem Menschen entscheidet selbst
in körperlicher Beziehung nicht die Kraft und Gesundheit allein . Der Adel der Formen überhaupt, sowie die speciellen Arten der Schönheit sind bereits Factoren, die auf die Ge fühle und die Entscheidung der Wahl Einfluss üben.
Das Naturgesetz , welches alle Organismen im In
teresse ihrer Entwickelung zur freien Concurrenz verurtheilt, kraft dessen nicht nur die Gattungen unter sich , sondern selbst die Individuen in der einzelnen Gattung den Kampf
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
ums Dasein kämpfen , und dem wir zweifelsohne die Ver
schiedenheit und entsprechende Vollkomenheimt der Orga nismen verdanken , hat auch für den Menschen seine volle Giltigkeit.
Nur ist der Mensch nicht in dem Masse wie das
Thier auf seine physische Kraft angewiesen, daher wird er in seiner Auswahl keineswegs durch die Kraft und selbst
Schönheit der Formen allein geleitet. Die Bestimmung des Menschen wurzelt vielmehr in der intellectuellen Thätigkeit, der geistigen und moralischen Kraft, daher denn ein höherer Grad von Liebe (nicht von momentaner Heftigkeit derselben )
in den physischen Eigenschaften allein sein zureichendes Motiv nicht haben wird.
Die gegenseitige Anziehung oder Sympathie, die aus der zusagenden physischen Beschaffenheit herrührt, wird natürlich viel häufiger, weil leichter, eintreten, als die Nei . gung zweier entwickelter und hervorragender Charaktere; daher denn die Anforderungen in unseren Liebesintriguen genau im Verhältnise zur Bildungsstufe der Betreffenden
stehen. Körperliche Reize, vor allem Gesundheit und Jugend als deren nothwendige Voraussetzung , sind zwar für alle Liebesverhältnisse eine nothwendige Vorbedingung; bei ge meinen Naturen aber reichen sie aus , bei edle ren hingegen sind sie unzureichend.
Die zweite Grundbedingung liegt in bestimmten Eigenschaften des Charakters , des Herzens , der Seele , des Geistes , wie mein Leser es eben zu nennen pflegt, und was wir im gegebenen Falle bei zwei Liebenden kurzweg als den Einklang der zwei Charaktere bezeichnen wollen. Diese Bedingung tritt um so stärker hervor, je höher ein Individuum an moralischem Werth und wahrer Bildung
dasteht, jedoch kann die vorhergehende Bedingung niemals gänzlich übergangen werden ; denn sie bleibt doch der un bewusste Grundton der Liebe, der für sich allein allerdings ebenso werthlos ist, wie in der Musik.
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
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Hierher gehören in eminenter Weise die Gesichtsformen , welche schon einen Schluss auf den Charakter gestatten. Der Anblick eines Menschen erlaubt uns nicht nur zu sagen, er
sei kräftig, gesund , jung , schön ; wir werden auch sagen, seine Erscheinung verrathe Muth , Geist , Verstand , Milde,
Güte, Melancholie und so weiter. Der Körper ist hier nur der Ausdruck bestimmter Eigenschaften. In diesem Punkte nun ist der Spielraum ein unendlicher und das eben beweist, dass die physische Vervollkommnung des
Menschengeschlechts weit hinter der Wichtigkeit zurückbleibt, welche die intellectuelle und moralische Ausbildung , also
ein auch nach dieser Richtung geeigneter Organismus hat, und das eben bekundet den grossen Unterschied der Ent wickelung zwischen Thier und Mensch. Bei jenem hat die Natur hauptsächlich gesorgt, dass die Gattungen durch die kräftigsten Individuen erhalten werden , bei dem Menschen treten ausser dem Körper noch der Charakter und die In telligenz als Factoren auf im Punkte der Liebe , also auch der Fortpflanzung . Die Erfahrung lehrt, dass Tänzerinnen , Kunstreiterinnen,
Schauspielerinnen und Sängerinnen sehr leicht eine Leiden schaft erregen, und rührt dieses zum Theil daher , weil sie eben von sehr vielen gekannt sind, während die anderen Sterb lichen nur in einem kleinen Kreise von Bekannten leben
und sich der Wahrnehmung und Beurtheilung Weniger unterziehen .
Aber die Tänzerinnen und Kunstreiterinnen
ermöglichen einen tieferen Einblick in körperliche Formen , wäl
die beiden Anderen durch
die Darstellung der
verschiedensten Charaktere leicht die empfindliche Seite eines ihrer Zuhörer in Vibration versetzen . Gesetzt , es würde etwa ein starrer und strafter Charakter für Sanftmuth
und Hingebung empfänglich sein , wie muss da eine mit Wahrheit gespielte Rolle dieser Art nicht wirken, wenn die
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
Darstellerin auch sonst dem körperlichen Ideale ihres Zu sehers nur einigermassen entspricht. Instinctmässig und in Uebereinstimmung mit dem bis her Gesagten betrachtet auch die Gesellschaft die Liebe zu
einer Schauspielerin oder Sängerin mit anderen Augen als die zu einer Tänzerin , weil die Liebe zu der letzteren in der Regel eine niedrigere , erstere eine edlere Quelle zu verrathen scheint, was immer rückwirkend einen Schluss er laubt auf den Liebenden.
Die Sorglosigkeit des griechischen Zeitalters, die Frei heit in der Liebe und die wenig verhüllten , dem Auge sichtbaren Reize sind gewiss mit die Ursache , dass jenes Zeitalter so edle Formen und so kräftige Charaktere her
vorbrachte, wie wir sie im Mittelalter und selbst gegenwärtig nicht finden . Die gegenwärtige Generation liegt in den Fesseln der schmutzigen Interessen , des starren Egoismus ; die Ehen werden zumeist unter den Auspicien dieser hässlichen Götzen geschlossen , darum aber auch dieser ver
kommene Tross von egoistischen , kalt rechnenden Seelen. Nur einigen Wenigen ist es vorbehalten , über die Interessen der Gattung zu wachen, und durch die wahre Liebe zu ver
hüten , dass der geeignete Keim für das Edle und Schöne nicht ganz verschwinde ! Die einseitige Auffassung dieser zwei Bedingungen der
Liebe hat den Anlass gegeben , dass die Einen sie blos als Begierde , die Andern als Schwärmerei bezeichneten. Wenn die Liebe auch nicht immer Schwärmerei , sondern
oft blos Begierde ist, so ist sie niemals blosse Schwärmerei ohne jede Begierde. Es kann nämlich die erste Be dingung - . bestimmte körperliche Eigenschaften ohne
die zweite allerdings zu einer Liebe führen , doch wird die zweite gewiss nie ohne die erste vorkommen. Ich kann sehr
gut begreifen, dass man Jemanden liebt , wenn er physisch nicht anziehend ist, aber abstossend darf er doch nicht
Unsere geschlechtlichen Beziehungen
289
sein . Zwischen diesen beiden Bedingungen liegt alles das, was wir Begierde und Schwärmerei nennen , nur werden natürlich die Liebenden darüber keine Reflexionen anstellen .
Man wird aus dem Munde eines Liebenden sehr oft hören, welche Eigenschaften ihn so bezaubern , aber warum ihn
die schwarzen oder blonden Augen, warum ihn die Sanftmuth oder die Lebhaftigkeit fesseln und gewinnen , das weiss er nicht, denn das hat seine Ursachen sehr oft in der Seele, und ragt damit in die transcendente Welt. Im Volksmunde
heisst es : „ Die Ehen werden im Himmel geschlossen.“ Liebe und Hass, Wohlwollen und Widerwillen sitzen oft tief im innersten Wesen des Menschen , und ganz un
abhängig von Intellect und Erfahrung. Wenn sich der Mensch ändert, was allerdings nur inner halb gewisser Grenzen möglich ist, so ändert er auch oftmals den Geschmack ,
Die Nothwendigkeit der Uebereinstimmung zweier Liebenden in diesem Sinne wird wohl der Erklärungsgrund
sein , warum Sonderlinge wählerischer sind , dann aber um so entschiedener lieben , als Männer von vielseitiger allge meiner Richtung . In dem ersten Falle sind die An
knüpfungspunkte seltener als im zweiten. Die Liebe hat aber noch eine dritte echte Be
dingung, die für Viele die massgebendste zu sein scheint, während sie eigentlich nur den Beweis liefert, dass die
beiden ersten Bedingungen beiderseits vorhan den sind.
In der Regel entwickelt sich diese dritte Bedingung erst zuletzt , und sie ist es, die in zwei Menschen das Ver
langen zur Vereinigung , zu Einem Leben erzeugt, und in dem ganzen Menschengeschlechte Liebeshändel von den sinnlichsten Formen bis zu den erhabensten und idealsten veranlasst. Hellonbach ', Vorurtheile . I.
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
Diese dritte Bedingung für die Liebe ist die Gegen. liebe , ich möchte sie die Garantie für den Einklang der obigen Entwickelungsbedingungen nennen ; sie ist als die Gegenprobe anzusehen , dass zwei Menschen wirklich für einander passend sind. Es bietet in seltenen Fällen die Hoffnung dafür Er
satz , dass Gegenliebe denn doch einmal erfolgen werde ; dort, wo auch diese schwindet, tritt nicht selten Hass, Ver zweiflung , Wahnsinn oder Selbstmord ein. In der Regel
aber erlischt die Neigung , und es gibt nicht leicht einen so verlässlichen Prüfstein für den moralischen Werth eines
Charakters, als sein Verhalten bei verschmähter Liebe ; das ist der Augenblick, wo er sich enthüllt. Man kann da den spröden Gegenstand seiner Liebe hassen und dadurch seinen Egoismus an den Tag legen,
oder gar an seinen glücklichen Nebenbuhler sich rächen , und so das heilige Recht des Weibes , das einer höheren Macht gehorcht , mit Füssen treten. Man kann sich aber auch mit dem Bewusstsein ihres Glückes begnügen und seine Leidenschaft in Wohlwollen verwandeln .
Ich habe oft sagen gehört, dass die Liebe des Mannes aus der Begierde entspringe, und bei dem Weibe die Be
gierde aus der Liebe ; dies ist insoweit richtig , als der Mann von den körperlichen Reizen mehr abhängig ist und abhängiger sein muss, als das Weib. Weil aber die Männer sehr gern eingestehen, dass ihnen ein Weib gefalle, während bei den Frauen das Gegentheil der Fall ist , da sie ihre
Begierden mehr unterdrücken und verschweigen , so mag obiger Satz diesem Umstande theilweise seine Entstehung zu verdanken haben, allgemeine Giltigkeit hat er nicht. Die physischen Bedingungen sind zwar unerlässlich, sie müssen vorhanden sein, insbesondere sind sie ein Erfor
derniss an dem Weibe , doch für einen Menschen höherer Ordnung werden sie niemals massgebend , sie allein reichen
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
Bei einem Menschen von Kopf und Herz folgt die Begierde der Liebe nach, und diese fällt und steigt mit der Gegenliebe ; die beiden ersten Bedingungen allein ge
nicht aus.
nügen nicht , daher die Coquetterie der Frauen auch meistens auf diesem Gebiete thätig ist. Die Frauen haben allen Grund kritischer zu sein , als
die Männer. Sie können nur auf wenige Existenzen ihre Vorzüge vererben und verlieren immer mehr ihre An ziehungskraft , was bei den Männern natürlich nicht so der Fall ist. Dieser Unterschied ist auch - und zwar der einzige
Grund, welcher den Mann von Natur aus zu einer etwas freieren Bewegung in der Liebe berechtigt. In dieser dritten Bedingung der Liebe ist das Motiv zu suchen , warum besonders die Frauen die ersten Liebes
erklärungen zurückweisen und mit ihrer Gegenliebe zögern ; sie wollen Gewissheit darüber haben und ihre Liebe nicht
vergeuden. Daher auch das Streben der Frauen , sich die Beweise von Liebe zu verschaffen, wozu reiche aber schwär
merische Personen den ausgesprochensten Hang haben. Der Liebende , der die Beweise der Gegenliebe sucht, thut dies ohne allen Grund der Vernunft , lediglich aus
instinctmässigem Verlangen, weil ihn diese Beweise so glück
lich machen ; er ahnt nicht, dass es sich um die Bestätigung eines Verhältnisses handelt, dessen harmonische Richtigkeit zur Veredlung des Menschengeschlechtes führt. Der erste Anblick eines Weibes kann in dem Manne
ganz bestimmt das Gefühl erzeugen , das es ihm körperlich gefalle , missfalle oder gleichgiltig sei ; über dieses hinaus geht es jedoch im ersten Augenblicke nicht. Erst später treten die anderen Bedingungen in ihre Rechte . Von den drei Grundbedingungen der Liebe wird keine gänzlich wegfallen, und das verschiedene Verhältniss derselben unter einander prägt ihr den Charakter auf, nicht aber der Grad der Heftigkeit. Die gemeinen Naturen sind mehr von der 19*
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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ersten Bedingung, von der körperlichen nämlich, abhängig ; die edleren Gefühle fussen mehr in der zweiten und die edelsten
in der dritten Bedingung , d. i. in der Gegenliebe , weil der vollendetste Charakter sein
Glück über
haupt in dem Glücke des Anderen sucht
Bei der edlen Natur beginnt die Liebe dort , wo sie bei der gemeinen aufhört. Erst nachdem die gegenseitige
Neigung wahrgenommen wird , beschäftigt man sich mehr mit einander ; dann treten die Eigenschaften der Seele in den Vordergrund und am spätesten die des Körpers ; die ganze Persönlichkeit zeigt sich in einem anderen Lichte.
Diese Erfahrung wird wohl Jeder an sich oder Anderen ge macht haben, dass sich zwei Menschen mit Indigkeit lieben, die sich schon jahrelang früher kannten, ohne im mindesten daran gedacht zu haben ; denn je schöner eine Blume sich entwickeln soll , desto mehr Bedingungen stellt sie für ihr Gedeiben .
„ La beauté en général n'est que la fleure de la santé!“ sagt Le Maire. Setzt man hinzu : du corps et de l'âme, so ist in diesen wenigen Worten Alles gesagt. Alles, was wir schön an dem Menschen finden , ist unbewusst, metaphysisch : die Gesundheit des Leibes und der Seele.
Unbewusst , ohne eigentliche Rechenschaft fühlen wir uns durch das Schöne angezogen . Ich glaube dargethan zu haben , dass immer ein tiefer Grund dahinter verborgen sei, der sich entschleiert , wenn wir die Liebe als das Stre ben der Veredlung auffassen , und dann entsteht das dop pelte Bild , das Bewusste unserer Vorstellung und Empfin dung und deren unbewusste Veranlassung und unbewusster Zweck.
Graue oder gar weisse Haare flössen keine Liebe ein, am allerwenigsten an einer Frau ; und doch ist und kann die Farbe nicht Schuld sein , da ein gepudertes Haar den
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
Meisten sehr gut lässt
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es ist aber das Kennzeichen des
Alters, daher der unbewusste Schluss, dass die Bedingungen für den verborgenen Zweck der Liebe fehlen. So verräth die Hand das Alter, die Cultur des Men
schen , ja selbst auf den Charakter kann man mit viel Wahr scheinlichkeit aus der Hand schliessen , selbstverständlich
nicht nach der Zigeuner -Methode, nach den Falten, die durch die ersten Biegungen entstehen.*) Schöne Zähne , ein üppiges Haar sind Beweise für Gesundheit und Eigenthümlichkeiten des Organismus , eben so eine schlanke Gestalt , welche gesunde Organe des Un
terleibes zur Voraussetzung hat. Ein schöner Busen hat für die meisten, man kann sagen für alle Männer einen grossen
Reiz. Aber er ist auch das hervorragendste und wesent lichste Merkmal der Weiblichkeit des Organismus, und seine Schönheit ein fast untrügliches Zeichen von Jugendkraft und Gesundheit. Es wäre überhaupt nicht schwer, für Alles, was wir als schön und reizend an dem Körper finden , den
Grund nachzuweisen , weil es eben physische Gründe sind, an die wir aber gar nicht zu denken brauchen , weil wir
uns durch die Schönheit unbewusst angezogen fühlen , und die körperliche Schönheit für Alle mehr oder weniger dieselbe ist.
Weit schwerer zu enträthseln ist die Schönheit des
Gesichts , denn dieses ist der Spiegel der Seele. Da han delt es sich nicht um die Gesundheit des Leibes , sondern *) Selbst das ist nicht so gewiss. Nach Carus (Symbolik der menschlichen Gestalt. Seite 319 und 322) sind die zwei wichtigsten Linien , die Glücks- und Lebenslinie , ganz gut motivirt. Die erstere kommt nur bei Tagvölkern vor , die zweite bedingt einen kräftigen Daumen, der von Carus und Anderen als Bedingung einer höheren Ent
wickelung gehalten wird . Es scheint da das unbewusste Ressort wieder einmal richtig geführt zu haben , wie das bei Entdeckung von Heil mitteln wohl oft vorgekommen sein mag.
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um die Eigenthümlichkeit des Charakters. Ein junges Ant litz soll es sein , namentlich bei dem schönen Geschlechte, aber ob ein heiterer oder ein schwermüthiger , ob ein
schüchterner oder ein lebhafter Ausdruck derjenige sei, der uns zu fesseln weiss , das lässt sich nur fühlen , nicht be stimmen. Doch das ist gewiss, dass jeder Zug im Gesichte, die Stirn wie die Nase, besonders aber der Mund und das Auge den Ausdruck innerer Eigenschaften und Zustände tragen, welche der Mensch unbewusst herausfühlt, und in Sympathie, Antipathie und Gleichgiltigkeit übersetzt, nur Wenigen
den Denkenden , Forschenden - ist es ge
gönnt , diese Empfindungen einigermassen enträthseln und ins Bewusstsein übertragen zu können. Und gleichwie das Auge das Organ ist , welches den
prüfenden Blick auf alle diese Räthsel der Natur richtet, so ist es auch das Organ, das mit einem Blicke ebenso gut ein leichtfertiges „ Du gefällst mir“ als ein tiefempfundenes von Glück und Sehnsucht begleitetes „ ich liebe Dich “ zur überzeugenden Mittheilung bringen kann .
Das Auge , als das vorzüglichste Organ des unbe wussten Lebens, urtheilt richtiger und spricht gewaltiger in
der Liebe als der Verstand , daher die Ueberlegenheit des weiblichen Geschlechts in diesem Punkte , das weit mehr unter der Herrschaft der unbewussten Lebenskraft steht als der Mann .
Doch da gerathen wir in ein Gebiet, das eine selbst
ständige Behandlung verdient – die Coquetterie.
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
295
II .
Die Coquetterie. Das dreifache Thätigkeitsfeld der Coquetterie. echte Coquetterie.
Die echte und un
Der Kampf um's Dasein mag die Thiere zwingen, die
ihnen nothwendigen Organe auszubilden ; die Erblichkeit der Eigenschaften in Verbindung mit den Millionen von Gene rationen mag nach und nach Fische , Säugethiere und Vögel aus einem ursprünglichen Knochenbaue ins Leben
gerufen haben , immer bleibt Etwas für die Metaphysik übrig.
Wer z. B. lehrt das Haselhuhn seinen aus einigen Takten bestehenden Ruf?
Wenn im Frühjahre 20 und
mehr junge Hühnchen aus den Eiern kriechen , so leben sie das Familienleben bis zum Spätherbste , dann trennen sie sich , und wenn das Frühjahr heranbricht , so hat die Henne ohne allen Unterricht – ohne es je gehört zu haben - ihr kleines Lied erlernt, womit sie sich den Geliebten
sucht – das „ Wie “ gehört in das Gebiet der Metaphysik, mag man es „ das Unbewusste “ oder sonstwie taufen , und kann durch mechanische und chemische Gesetze nimmer erklärt werden.
Der grausame Mensch hat es dem Haselhuhne abge lauert , er hat den kleinen Knochen im Hasen gefunden, aus dem er sich die Pfeife bereiten kann , die jene Töne wiedergiebt.
Verrätherisch setzt er sich ins Dickicht , klagt dem Walde seinen falschen Liebesschmerz, und so schwach die Töne auch klingen , das Haselhuhn hört sie doch -- denn es klingt wie wahre Liebe ,
so sehr sich der hochmüthige
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
Mensch auch gegen diesen Vergleich sträuben mag -
und
das verrätherische Blei streckt das Huhn zu Boden.
Es ist das Opfer einer geheuchelten falschen Liebe ; der ihm an Verstand überlegene Mensch übernimmt die Rolle einer falschen Coquette.
Gewöhnlich wird der Begriff der Coquetterie nur in
diesem gewöhnlichen Sinne genommen. Wollen wir ihn ge nauer betrachten.
Wir haben nachgewiesen, dass die eigensinnige Auswahl bei der Liebe ihren tiefen Grund in bestimmten Eigen schaften habe , die für eine bestimmte Person von ausser ordentlicher Anziehung sind, und durch deren Wahrnehmung
das Verlangen nach Vereinigung, die Liebe entsteht. Wir haben diese Eigenschaften in körperliche und nichtkörperliche (ein Ausdruck, der nicht strenge genommen werden darf) geschieden , und haben gefunden , dass die Wahrnehmung dieser Eigenschaften und die daraus ent springende Neigung auch für jenes Individuum von eigen thümlichem Reize ist , an welchem sie wahrgenommen werden .
Die nach geschehener Wahrnehmung erfolgte Gegen liebe krönt eigentlich das Werk. Um nun die Gegenliebe zu erwerben und sich ihrer
zu versichern , wird der Liebende bestrebt sein , auch seine Eigenschaften geltend zu machen , ja diese selbst zu modificiren, nur um bei dem geliebten Gegenstande auch das selbe Verlangen zu erzeugen. Diese zweite Operation ist eine eben so nothwendige , tief ernste als die Liebe selbst,
weil ja gerade die sich ergänzenden , daher sympathisirenden
Typen und Charaktere bestimmt sind, das Menschengeschlecht zu veredeln , während der gemeine Trieb nur die Aufgabe hat es zu erhalten. Die Sympathie soll eine gegenseitige, nicht einseitige sein , und nur darum hat die Natur der Liebe an sich schon einen solchen Reiz verliehen , weil ein
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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gegenseitiges zu gleicher Zeit eintretendes Gefallen etwas seltenes ist und die Natur sich daher sicher stellen wollte, eventuell die Liebe des anderen Theiles durch den blossen
Reiz der Gegenliebe zu erwecken. Coquettiren heisst daher im weiteren Sinne : Gefallen wollen ; im engeren Sinne um Liebe werben , und gibt es so viele Arten von Coquetterie, als es Arten des Gefallens gibt. Es ist daher nicht richtig, unter Coquetterie das blos künstliche Streben zu verstehen.
Für die Coquetterie haben die Frauen ein eigenes instinctives Talent, es ist ihnen angeboren, wie den Blumen das Duften und Blühen. Weil die Männer offen um Liebe
werben , ist ihnen die Coquetterie nicht so nothwendig als den Frauen , um die geworben wird ; letztere müssen ihre Werthe entfalten , um Abnehmer zu finden. Wäre unsere
sociale Ordnung eine andere , würden die Frauen etwa seit Jahrtausenden werben , so müssten die Männer die Coquetterie pflegen , darum coquettirt eine Frau im Allgemeinen am meisten dann , wenn sie nicht liebt. Tritt dieser letztere Fall ein , liebt sie , so wird ihr das Urtheil der anderen gleichgiltiger – sie coquettirt nur mehr mit Einem. Wer Frauen und Menschen überhaupt angenehm sein will, der bemerke und bespreche nur deren schöne Seiten ,
verberge seine eigene und fremde Ueberlegenheit, und es wird und kann ihm nicht fehlen.
Darum sind auch eitlen
Frauen gewandte Männer auf kurze Zeit viel gefährlicher, wenn diese ohne Liebe bestimmte Zwecke verfolgen , sie heucheln den Einklang ihrer Individualitäten, sind sentimental,
leidenschaftlich , lustig, melancholisch , wie man es gerade braucht.
Dieses Streben , seine vortheilhaften Seiten zu zeigen, seine Schwächen zu verbergen , ist ein allgemeines und natürliches , ja selbst nothwendiges, und diese Operation,
seine körperlichen Vortheile zur Geltung zu
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bringen , ist die Coquetterie in der ersten Be dingung der Liebe. Man beurtheile dies ruhig , und man wird die Richtig keit obigen Satzes anerkennen. — Leicht tröstet sich z. B., dem der Zufall das üppige Haar in Unordnung bringt, und tief besorgt um den Kopfputz sind die , denen die Natur diesen Schmuck nur kümmerlich verliehen .
Die Frauen coquettiren ohne Ausnahme mit ihren körperlichen Reizen , natürlich wenn sie welche haben , und wenn ihnen die Coquetterie der höheren Ordnung nicht ge bietet , es zu unterlassen ; wenn sie nämlich sittsam , an
spruchslos oder bescheiden erscheinen wollen . Die Coquetterie in dieser Richtung umfasst wieder Alles das, was wir als
zweite Grundbedingung der Liebe kennen gelernt haben, nämlich den Einklang der Charaktere. Anstand und Sittsamkeit sind wenigstens formell als
gefällige Eigenschaften angenommen (das warum werden wir im Ehestandskapitel erfahren ), und siehe da, die Frauen sind anständig und sittsam.
Sie trachten sich alle Eigen
schaften anzueignen oder doch zur Schau zu tragen , durch die sie gefallen könnten , und werden sie überall geltend machen .
Es ist für den objectiven Beobachter vom äussersten Interesse, die dem Grade der Bildung entsprechende, ver schiedene , natürliche und durchaus nicht zu verurtheilende
Coquetterie des schönen Geschlechtes zu beobachten. Ich spreche von der natürlichen , nicht künstlichen , die erste ist anziehend , die zweite abstossend und gut , um Ein faltspinsel zu fangen ; zwischen beiden ist der Unterschied wie zwischen den Blumen der Natur und den der Putz macherin .
Der erste und zweite Grad der Coquetterie ist das Bestreben , seine körperlichen und geistigen Vorzüge zur Geltung zu bringen ; es kann auf Alle, auf Viele , auf Ein
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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zelne berechnet sein. Der dritte noch höhere Grad kann
nur auf Wenige angewendet werden , denn er wurzelt in der magnetischen Wirkung der Liebe überhaupt, und gründet sich auf unseren dritten Satz , dass Liebe sehr leicht Gegenliebe erzeuge.
Es kann eine Frau sich für den Gegenstand ihrer Neigung schmücken , sie mag ihm ihren Geist, ihr gutes Herz, alle ihre Tugenden zur Schau tragen
Karte , die sie zu spielen hat , ist und bleibt ihm ihre Neigung verräth.
die beste wenn sie
Je natürlicher , je unberechneter , je versteckter eine
Frau ihre Neigung errathen lässt , desto grösser ist die Wirkung. Bleibt ein Mann auch dann noch kalt , so ist es gewiss nur , weil er an Alles das nicht glaubt , was er sieht; kann sie ihn davon nicht überzeugen , so muss sie die Sache als verloren betrachten .
Diesem Umstande ist es zuzuschreiben , wenn älter werdende Coquetten immer mehr an Hingebung bieten, und in Bewegung setzen , da die früheren Mittel nicht mehr reichen .
An sich ist die Coquetterie gewiss nicht strafbar, sie wird es nur unter Umständen.
Ich muss meinen Lesern ins Gedächtniss rufen , dass wir noch immer auf dem Standpunkte der blossen Liebe stehen , unbekümmert um die durch anderweitige Verhält
nisse gezogenen Schranken , eingegangenen Verpflichtungen W. - gleichsam als lebten wir in dem alten Athen oder auf den Freundschafts - Inseln , als wären wir
u , S.
in dem Ikarien eines Cabet oder dem Phalanstère eines
Fourier.
Nach dem Satze : „ Rien n'est beau que le vrai , le vrai seul est aimable “, ist jede Coquetterie erlaubt, die ehr lich und aufrichtig ist , und sollte sie sich auch auf mehr als einen Gegenstand ausdehnen.
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Wenn man sich durch körperliche oder geistige Vor züge angezogen fühlt , warum soll man sich nicht um die Neigung dieses Wesens bewerben ? Warum soll es unmöglich sein , dass man in zärtlicher Dankbarkeit zerfliesst für die hingebende Liebe eines Wesens, und doch in den Fesseln körperlicher Reize einer Anderen gefangen ist ? Man entscheide sich , wenn man sich zwischen einer
Maria Stuart, einem Klärchen Egmont's und einer Kleopatra befindet, und von allen dreien allerdings auf verschiedene Weise – geliebt würde ! Es ist beinahe ebenso unmöglich, Maria Stuart nicht zu lieben, als Klärchen weinen zu sehen, oder der Kleopatra zu widerstehen, wenn nicht ein höheres
sittliches Moralprincip Einsprache erhebt. Die Liebe hat eben eine dreifache Wurzel! Wohl dem, der Alles in einer
Person vereinigt vorfindet, die also an Körper , Seele und Liebe seinen Anforderungen entspricht. Der Deutsche hat für die Coquetterie der ersten zwei Grade keinen Ausdruck , wohl aber für die dritte Stufe
derselben , denn er nennt sie ganz richtig liebäugeln. Wenn die Sprache Zeugniss für den Charakter einer Nation gibt , so ist schon dieser Umstand zweifelsohne bezeichnend.
Das ehrliche deutsche Weib kennt wenig von den
Künsten der Coquetterie , um Körper und Geist zur an schaulichen Geltung zu bringen , aber es – liebäugelt. Der Franzose hingegen hat das Wort Coquetterie offenbar dem Hühnergeschlechte abgenommen. Denn der Hahn wendet alle Kunstgriffe an , um sich seinen Damen ange nehm und bemerkbar zu machen .
Er kräht alle Augen
blicke , ist galant, schützt sie , verfolgt sie stets mit seinen Liebesanträgen.
Man erkennt leicht den Unterschied in der Auffassung
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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der Coquetterie , der den thatsächlichen Verhältnissen und Volkseigenthümlichkeiten auch entspricht.
Die Sympathie ist ebenso eine Naturkraft und ebenso unwiderstehlich, wie die Attraction, und sie wirkt auch wie diese im geraden Verhältnisse zur Menge der Anziehungs punkte, im verkehrten der Entfernung. Je näher, je häufiger zwei Menschen in Berührung kommen , welche wirklich für eipander bestimmt sind , desto schneller entwickelt sich die Liebe. Das wird Niemand in Zweifel ziehen, der je geliebt, der da weiss, wie die Stunden gleich Augenblicken zerfliessen,
wenn man nur dieselbe Luft mit dem Gegenstande seiner Liebe athmet.
„In dieser Armuth, welche Fülle ! In diesem Kerker, welche Seligkeit!"
ruft Faust in Gretchen's leerer Kammer. Darum darf Niemand den Stein auf einen Anderen
werfen , wenn er ihn lieben und um Liebe werben sieht ; er folgt einem tiefliegenden Naturgebote und alle Coquet terien sind für die Liebe das, was die Zweige für den Baum, welche die Knospenbildung vorbereiten. Wer aber seine Vorzüge absichtlich benützt , um über das gewöhnliche Wohlgefallen hinaus die Neigung bestimmter Personen zu erregen , ohne selbe erwidern zu
können, der ist tadelnswerth , der handelt aus Berechnung, nicht aus Liebe , bat folglich auch die Folgen seiner Handlungs weise zu berechnen. Nur die wahre Liebe muss nicht rechnen, sie ist blind ; d. h. sie muss eben nicht blind sein, sie hat das Recht dazu. Man darf sie nicht verantwortlich machen
für das, was sie veranlasst. Das Strafbare der Coquetterie kann niemals darin
liegen, dass man bezaubernde Eigenschaften hat , die ja dann am gefährlichsten sind , wenn man sie zu zeigen am wenigsten bentübt ist ; das Verdammungsurtheil kann nur
Unsere geschlechtlichen Beziebungen .
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die Coquetterie in ihrer dritten Form treffen , wenn man entweder eine Neigung affectirt, die man nicht hat , oder wenn man auch nur eine stärkere Neigung als man hat
verräth. In der ersten Art sündigen zumeist die Frauen, in der zweiten die Männer. Selten , dass der Mann eine
Neigung gänzlich aus der Luft greift, sehr häufig aber übertreibt er , um Opfer zu verlangen , die ihm nicht ge bühren. Hierbei kann selbstverständlich das Motiv für diese
schwarze That der Coquetterie ein milderes und schärferes Urtheil nach sich ziehen .
Bei der socialen Abhängigkeit des weiblichen Geschlechtes mag es nicht Wunder nehmen , wenn ein Mädchen dort Neigung des Herzens oft nicht einmal heuchelt, sondern
ehrlicher Weise zu erkennen gibt, wo nichts als Verlangen nach einer ohnehin schmal zugemessenen Freiheit oder nach Versorgung vorhanden ist. Die daraus entspringende Pflicht gehört in das Capitel des Ehestandes. Ich sehe vorläufig von diesen Verhältnissen ab , und erkläre das Heucheln eines nicht bestehenden Gefühles für die schwärzeste Sünde , und zwar weil es der am
leichtesten auszuführende und abscheulichste Betrug ist,
weil es möglicherweise die traurigsten Folgen haben kann, weil es endlich nicht nur ein Vergehen gegen einen Einzelnen,
sondern selbst gegen die Gattung, gegen die Gesammt heit ist.
Und dennoch werden so oft Existenzen würdiger Menschen auf Jahre , selbst auf das ganze Leben geknickt
von Händen , die ein Huhn nicht abstechen könnten !
„Das Unglück sei nicht so gross für die Herren “, werden meine etwaigen Leserinnen einwenden. Das könnt Ihr nicht ermessen, in dieser grossen , langen Kette von Ursache und Wirkung in unserem Leben ! Während
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
303
der Arme nutzlos an Eurem Triumphwagen zog , hat er vielleicht die Blume dort zu pflücken versäumt, die für sein ganzes Leben und selbst künftige Generationen hätte massgebend sein können ! Die Männer finden in dem Kreise ihrer Bekannten
gewiss sehr viele, die hübsch genug sind , um sie unter Umständen lieben zu können ; dieser Blumenkranz von Auserwählten verringert sich um ein Bedeutendes, wenn man die nicht körperlichen Eigenschaften in Mitleiden schaft zieht. Der Tanzboden ist das Feld der Liebe in der Civili
sation , weil , was zu jung und zu alt zum Lieben ist, auch nicht tanzen kann.
Nehmen wir daher an , dass eine grössere Provinzial stadt auf einem Balle dreihundert Tänzerinnen aus den
Kreisen ihrer Honoratioren rekrutiren könne , so wird darunter jeder Tänzer gewiss fünfzig bezeichnen können,
die ihm gefallen ; unter diesen fünfzig aber wird kaum die Hälfte gleichzeitig auch sonst seinem Geschmacke ent
sprechen ; je bedeutender die Individualität des Mannes, desto geringer ist diese Zahl der für ihn möglichen Aus erwählten . Unter diesen wird er dann gewiss jene lieben , welche eine Neigung für ihn zeigt , und das ist dann
keine gleichgiltige Sache , ob dies Wahrheit oder Be trug ist. Mit dem Keime einer solchen Liebe beginnt ein neues
Leben ; die Sonne geht anders auf, die Natur spricht eine andere Sprache , verschwunden ist der Druck aller Sorgen und Leiden , wenn sie nur nicht bis zu dem geliebten
Gegenstande hinanragen ; man will nur ihre Liebe , braucht nichts als ihre Liebe – die ganze Welt hängt an ihren
Blicken , hat man die , hat man die ganze Welt. Die ganze Ambition zerfliesst in dem Bestreben ihr zu gefallen, der Neid verstummt, man hat Niemanden mehr zu beneiden,
304
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
in Bezug auf den geliebten Gegenstand aber verliert er Namen und Charakter, er wird zur Eifersucht. Das kann die Liebe sein und werden ! Und wenn es
auch Gänseblümchen gibt , die , durch die ersten Strahlen der Sonne hervorgerufen , in zahlloser Menge eine kurze Existenz fristen, so gibt es aber auch Aloen, die jahrelang Blatt an Blatt setzen , bis sie unter Aufwand aller Lebens kraft in prachtvolle Blüthe treten. Es gibt, um mit Heine zu reden , auch Menschen aus dem Geschlechte der Asra, ,die sterben, wenn sie lieben.“ Welcl' bittere Enttäuschung dann , wenn man den
traurigen Lebensfaden wieder dort aufzunehmen gezwungen ist , wo man ihn fallen gelassen ; das Gebäude , das man
hochaufstrebend in die Ewigkeit zu errichten glaubte, liegt in Trümmern, die oftmals die Fähigkeit mit begraben , ein neues aufzubauen , weil man alles darauf verwendet, was man hatte. Die Welt wird zur Einöde. Wohl dem, der dann noch Pflichten zu erfüllen und höhere Zwecke hat , ist das Leben für Manchen eine Last
sonst
Nun wenden wir uns zu den männlichen Coquetten . Der gemeine Mensch verspricht dem Mädchen das Hei .
rathen und verführt es, der gebildete Mann appellirt an die Grösse einer Leidenschaft, die er gar nicht fühlt, um zu dem selben Resultate zu gelangen . Der eine und der andere ist ein Betrüger, und an allen herzzerreissenden Scenen , die auf dem irdischen Theater abgespielt werden , hat die Lüge in der Liebe den Löwenantheil.
Darum liebt so viel Ihr könnt und wollt , aber seid ehrlich, zahlt nicht mit falscher Münze, denn das schmerzt.
Für alles Unglück, das eine aufrichtige und ebrliche Liebe zur Folge haben könnte , tragen unsere verkehrten socialen Einrichtungen die Schuld, und trifft es nicht den Kern der menschlichen Bestimmung.
Unsere geschlechtlichen Beziehungen . Wie könnte dies auch anders sein !
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Gretchen hat
recht, wenn es ruft : „Alles was dazu mich trieb , War so gut, ach war so lieb.“ Darum
meine etwaigen Leserinnen
coquettirt
mit Eueren Händen und Füssen, mit Haaren und Zähnen, mit Kopf und Herz ; tragen ja die Blumen ihre Reize zur Schau, warum sollt Ihr das nicht dürfen ? Ihr könnt Euere
Formen nicht runder , Eure Witze nicht schärfer machen, als sie eben sind , da könnt Ihr ungestraft nicht betrügen.
Nur mit Euerer Neigung coquettirt nicht , denn bis man Euere Falschheit durchschaut, ist es oft zu spät.
Verrathet nie mehr als Ihr wirklich empfindet. Für Euere wabren Empfindungen spricht Euch die Natur frei, wenn Euch das dumme Vorurtheil auch verdammt.
Daraus aber folgt, dass das menschliche Auge, als der Spiegel der Seele , der strengen Controle des Gewissens unterworfen ist ; denn das erste, was den magischen Zauber der Liebe entzündet, und die geheimnissvollen Pforten für ihre unbeschreiblichen Freuden und Leiden öffnet, ist der
Blick. Verspricht er mehr als er halten kann , so ist er vom Uebel.
Wer diese Schilderung vielleicht für eine romanhafte Uebertreibung hält , der mag in die Statistik der Selbst morde und der Criminaljustiz, der mag in die Irrenanstalten blicken, und er wird sehen, dass die Verirrungen der Liebe nicht nur auf der Bühne , sondern in Wirklichkeit ihre Opfer fordern . Ich habe mehrere Menschen an einer un
glücklichen Liebe langsam dahin sterben gesehen , die in jener Statistik nicht mitbegriffen sind.
Die Coquetterie ist also ein wichtiger Factor in der
Entwickelung des Menschengeschlechtes ; man könnte sie die Wissenschaft der Liebe taufen , wenn sie nicht ein unbe wusster Vorgang wäre; dort , wo sie bewusst , berechnend Hellon bach , Vorurtheile. 1.
20
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
306
auftritt, kann sie eben so gefährlich als nützlich werden, je nach der Anwendung .
Die Art und Weise , wie zwei Wesen sich gefallen können und zu gefallen streben, entscheidet über die Stufe,
welche sie in der Rangordnung der organischen Wesen ein nehmen.
Man
sage mir , auf welche Weise ein Weib
coquettirt, und ich werde wissen, was es werth ist. Nachdem wir nun Zweck und Mittel der Liebe kennen
gelernt, können wir einen Blick auf die gegebenen socialen Verhältnisse werfen und untersuchen, ob unsere gegenwärtigen geschlechtlichen Beziehungen dem Zwecke der Liebe wirklich entsprechen.
III.
Die
Ehe.
Die geschlechtlichen Beziehungen der verschiedenen Völker. Ehe als Vertrag.
Riehl.
Schopenhauer.
Fourier.
Die
Die Ehe
als Civilisation kein Institut im Interesse der Monogamie. Die Sorge für die nächste Generation der einzig richtige Standpunkt für unsere geschluchtlichen Beziehungen.
Der Liebe eine tiefere Bedeutung zu geben , hat durchaus nichts Ueberraschendes , denn sie ist das Werk
der Natur, und es wird gewiss Niemand daran gezweifelt haben , dass etwas Tiefes, Magisches diesem Gefühle zu Grunde liege , wenn er sich auch niemals bestrebte , tiefer in den Gegenstand einzudringen.
Die Ehe hingegen ist eine dem Wechsel unterworfene, menschliche Institution , sie ist kein Naturgesetz und hat darum auch keine metaphysische Unterlage , ausser jener, die ihr eben die Liebe gibt ; ein sicherer Beweis dafür ist, dass der Ehestand noch von keinem Dichter besungen
wurde und keinen Tonsetzer begeistert hat, während selbst
307
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
der Anblick einer Blume dies zu Stande brachte . Die Ehe mag alles auf der Welt sein, eine poetische Institution ist sie nicht.
Selbst Schiller sagt : „ Mit dem Gürtel, mit dem Schleier reisst der schöne Wahn entzwei ! “
Unsere bisher gewonnenen Anschauungen über die Liebe lassen die Monogamie allerdings als das Ideal er
scheinen , das der Einzelne anzustreben hat ; er soll eben derart wählen, dass alle Bedingungen einer Liebe fürs ganze Leben erschöpft seien. Doch ist dieses Ideal der Monogamie mit unserem Institute der Ehe durchaus nicht zu verwechseln,
das in seiner heutigen Gestaltung eine Frucht unserer gesellschaftlichen Zustände ist, in welchen Kinder ohne den liebenden Familienkreis schwerer gedeihen.
Die Ehe ist
allerdings die Monogamie für einzelne Frauen, nicht für die Männer, welchen dieses einseitige Ideal der Monogamie erst
dann vorschwebt , wenn sie selbst eine Frau besitzen , was sehr spät, mitunter gar nicht geschieht. Vor der Ehe stehen sie auf dem Boden der freien Concurrenz, nach der Ehe schwärmen sie aber für das Monopol und selbst dies nur in einseitiger, egoistischer Weise. Wenn wir aufrichtig sein
wollen , so ist die Institution der Ehe unter den jetzigen
socialen Verhältnissen eine Nothwendigkeit für das Wohl unserer Kinder, ein trauriges Privilegium der Männer, keines
wegs aber ein Tempel der Liebe , und am allerwenigsten eine Institution im Interesse der wirklichen Monogamie und Sittlichkeit, wie man das so gerne hervorhebt. Schon
Rousseau hat die Zwangsehe vom Standpunkte der Liebe verworfen .
Versteht man unter der Monogamie nur den Gegen satz zur Polygamie , d. h. begnügt man sich damit , dass zum Unterschiede von dem Eherechte der Mohamedaner
nur Eine Frau und deren Kinder als legitim zu betrachten
seien, während die geschlechtlichen Beziehungen nicht ver 20 *
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
308
heiratheter Männer frei gegeben und die armen, nicht ver heiratheten Mädchen mit ihren Kindern ihrem Schicksale
überlassen sind , so kann man allerdings sagen : in Europa
herrsche die Monogamie , wenngleich in keinem Welttheile ein derartiger Wechsel der Personen und ein solches Sitten verderbniss im geschlechtlichen Umgange vorkommt , wie bei uns. Europa ist geradezu der Hauptherd für Polygamie, Polyandrie und Pantagamie. Zur Entschuldigung für uns Männer muss man jedoch zugeben , dass das Institut der Ehe in seiner gegenwärtigen Form bei einer Bevölkerung von einigen Tausend Menschen auf der Quadratmeile noth wendig zum Sittenverderbiss führen muss , das immer im geraden Verhältnisse zur Dichtigkeit der Bevölkerung steht.
Doch
werfen wir vorerst einen Blick auf die ge
schlechtlichen Verhältnisse der Erdenbewohner überhaupt, was bei dem so verschiedenen socialen Zustande derselben
eben so viel heisst , als die Untersuchung der geschlecht lichen Verhältnisse aller Zeiten und Entwickelungsstufen .
Bei der Bevölkerung Afrikas, den Negern , Kaffern , Hottentotten , der Nubarasse u. 8. w. herrscht durchwegs die Polygamie für den Reichen. Die Weiber werden zumeist gekauft, sind dann , wie natürlich , das Eigenthum ihrer Bei den Kaffern wird sogar der Ehebruch mit Kühen entschädigt, weil man die Frauen mit Kühen kauft, was ganz consequent ist.
Männer.
Australien und Polynesien , das durch seine insulare Lage ganz besondere Zustände mitunter erzeugte , kennt mit einer einzigen Ausnahme auch nur die Polygamie für die Reichen. Diese lehrreiche Ausnahme findet statt auf
Aetas, einer Philippineninsel. Dort wirbt der Bräutigam um ein Mädchen, und dieses wird dann in den Wald geschickt. Der Bräutigam muss sie dort suchen , findet er sie , so ist
die Ehe vollzogen, findet er sie nicht, so darf er nicht mehr
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
309
um sie werben. Natürlich hängt alles davon ab , ob sie sich in jener undurchdringlichen Vegetation finden lassen Dadurch haben beide Theile freie Wahl, und es herrscht dort , zumal die Bewohner auch arm sind , die
will,
Monogamie. Meine Leser werden zugeben müssen, dass dies eine hochpoetische Einrichtung ist , leider aber nur unter den dortigen Verhältnissen und bei den geringen Bedürf nissen dieser Völker durchführbar.
Auf den Marquesas - Inseln hingegen herrscht wegen Mangels an Frauen Polyandrie. Auf dem Festlande Australien werden die Weiber zumeist geraubt. Bei den Malayen wieder herrscht Freiheit für die Mädchen und Keuschheit bei den Frauen .
Noch ist bemerkenswerth , dass bei den Malayen, bevor sie zum Islam übergingen , sowohl in der Succession als auch in der Familie überhaupt , die Mutter massgebend war.
Der Mann war blos der Erzeuger der Nachkommen
schaft und wurde von der Mutter der Braut geworben . Ihr
Vermögen gehörte den Kindern, seines den Kindern seiner Schwestern eventuell Brüder. Gab er aber ein Geschenk für die Braut und zahlte sie die Hochzeit, so waren die
Rechte gleich, kaufte er sie hingegen, so war er Herr und
Gebieter. Es unterliegt keinem Zweifel, dass wir Europäer von diesem Naturvolke etwas lernen könnten. Wir werden
später auf diese Frage zurückkommen. Noch muss ich be merken , dass die malayischen Frauen damals in jeder Be ziehung ausgezeichnet gewesen sein sollen. Die Indianer Amerikas haben die Polygamie für die Reichen.
Die alten amerikanischen Culturvölker lebten
monogamisch , abermals mit Ausnahme der Adeligen und Reichen und - siehe da - die hatten bereits Lustdirnen, ohne welche die vielgepriesene sogenannte Monogamie der Ehe gar nicht bestehen kann.
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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Die arktischen Völker in dem kalten Norden leben
ebenfalls in der Polygamie mit Ausnahme der Aleuten, in soweit sie durch Russland zum christlichen Glauben über
getreten sind. Bemerkenswerth ist die verschiedene An schauung über die Eifersucht bei den Korjaken . Die Wandernden tödten das treulose Weib, die Sesshaften sind beleidigt , wenn man die Liebe ibrer Frau oder Tochter verschmäht.
Die Kamtschadalen sind auch nicht eifer
süchtig, bei ihnen, wie überhaupt bei vielen anderen Völkern, bat die Jungfräulichkeit keinen Werth .
In Asien , das wissen meine Leser ohnehin , herrscht die Polygamie natürlich für den Reichen überall. Hervorzuheben ist nur, dass bei den Javanen die Ehe leicht
löslich und bei den Mongolen die Stellung des Weibes etwas günstiger ist. Bei den Chinesen besteht die Variante,
dass von den Frauen nur Eine eine hervorragende Stellung hat , die Kinder aber alle legitim sind.
Es ist also eine
geschwächte Polygamie, eine Annäberung an die sogenannte Monogamie, und da China bekanntlich sehr stark bevölkert ist , so fehlen auch die Prostitutionshäuser nicht.
Das
Gleiche gilt von den Japanesen, die Polygamie ist gesetzlich gestattet , aber nur den Reichen möglich. Was bei ihnen merkwürdig eingerichtet ist , sind die Prostitutionshäuser, wohin die Mädchen auf einige Zeit bingeschickt werden, um sich etwas zu erwerben . Dies abgerechnet, herrscht grosse Sittenreinheit in Japan .
Aus dieser Zusammenstellung ersehen wir nun , dass wenn auch verschieden in der Form
der Sache nach
die geschlechtlichen Beziehungen für den männlichen Theil
der Menschheit in der ganzen Welt , Europa mit einge schlossen, dieselben sind. Jeder Mann lebt, wenn er kann, in Polygamie , dort , wo diese gesetzlich nicht gestattet ist, pimmt der aussereheliche Verkehr und die Prostitution zu.
Was auf der einen Seite an Moral gewonnen wird , geht
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
311
auf der anderen verloren. Es kann übrigens in geschlecht licher Beziehung beinahe keine Combination gedacht werden, die nicht in irgend einem Winkel der Erde thatsächlich bestünde.
So z. B. herrscht in einzelnen Bezirken Neu
seelands und Südamerikas , auch auf den Nicobaren und hie und da in Afrika der vollkommenste Communismus der Weiber.
Bei dem so verschiedenen Culturzustande der Völker
ist es schwer , berechtigte Schlüsse auf den grösseren oder geringeren Einfluss der ehelichen Beziehungen auf die Cul
tur zu ziehen , doch geben uns zwei Secten in Amerika, die unter gleichen Culturverhältnissen ganz entgegengesetzte
Familienverhältnisse haben, hierzu die Mittel an die Hand. Die eine dieser Secten ist polygamisch organisirt , und dürften meine Leser mit den Sitten und Gebräuchen der Mormonen
bekannt sein.
Rudolf Gottschall spricht
sich in einem Aufsatze über die mystisch socialen Ge meinden der Gegenwart“ (Unsere Zeit , 1869) folgender massen aus :
„ Die bisherigen Staats- und Naturrechtslehrer, die Theologen und Philosophen haben die Polygamie als eine
Einrichtung dargestellt , die für ein orientalisches Klima, für despotische Regierungen und verweichlichte Völker allein tauglich sei , und überhaupt nur unter diesen bestimmten
ethnographischen Bedingungen in der Weltgeschichte auf tauche. Das Mormonenthum ist ganz geeignet , Bedenken gegen diese Theorien zu erregen, denn sie sind wie so viele anscheinend philosophische Axiome nur Abstractionen von geschichtlichen Erfahrungen , und die neue Erfahrung geht mit einem neuen Axiom schwanger, das eine Zeit lang den Schein der Unfehlbarkeit bewahrt. Auch sind die Heiligen
des jüngsten Tages keine verächtliche Secte mehr.
Es
handelt sich hier nicht mehr um Conventikel einzelner
Frommen, um irgend eine „ Agapomene“, die in einem
312
Unsere geschlechtlichen Beziehungen,
Winkel der Erde ihr Gesetz für sich hat ; es handelt sich um einen Staat, der nach festen Formen organisirt ist.
Das Mormonenthum mag immerhin eine Specialität sein, die sich vielleicht von der Ueberfluthung der andersgesinnten
Völker und ihrer Cultur nicht zu behaupten vermag ; aber auch als Specialität führt es den Beweis , dass mit der Polygamie eine geordnete Gesellschaft, ein blühendes Staats wesen sehr wohl bestehen kann. Das Salzthal hat weder ein orientalisches Klima , noch stehen die Mormonen unter
Knechtschaft und Despotismus, noch sind sie träge, arbeits scheue Drohnen ; sie haben sich als tüchtige Colonisten, als Heissige, ordentliche Männer bewiesen , und es ist eines ihrer Hauptdogmen , dass die neue Kirche die Arbeit als edel betrachtet. Schon das Aeussere der Salzstadt macht diesen Ein
druck der Ordnung und Sauberkeit.
Auf dem konischen
Hügel , der die Stadt beherrscht, dem Tempelberge , den Brigham Young zuerst im Traume gesehen, ist zwar der Tempel noch immer nicht gebaut, aber seine Grundmauern das alte Tabernakel, die grosse Laubhütte und das neue Tabernakel nehmen bereits die geweihte Stätte ein, welche überdies der ganzen Stadt ihre Gestalt gibt , denn von
jeder Seite der Tempelparcelle geht eine 100 Fuss breite Strasse aus, welcher gleichbreite mit Locust- und Alantus bäumen bepflanzte Strassen nach den Seen zu parallel
laufen. Es finden sich Hôtels, grosse Magazine, die wie das Rathhaus aus rothem Stein gebaut sind , kleinere Läden,
Blockhäuser,
Ueberreste der ersten Einwanderung und
Schweizerhäuser in Obstgärten, Wohnungen der verschiede
nen Frauen in der Stadt der Heiligen, Nur Spielhäuser, Schnapsläden, Lagerbiersalons fehlen. Die Polizei der Mor monen ist ganz vortrefflich ; sie hat genug der fremden
Elemente zu überwachen , welche die Salzstadt heimsuchen, Schlangenindianer mit langen Haaren , die 7–8000 Gold
Unsere geschlechtlichen Beziehungen,
313
gräber mit dem Bowiemesser im Gürtel, welche im Winter nach der Salzstadt kommen, die californischen Stutzer und heidnischen Officiere in blauer Uniform , die bisweilen ein Mormonenmädchen oder eine Mormonenfrau entführen .
Wenn auch der Tempel der Mormonen nicht vollendet
ist, so steht dafür das Theater, welches von dem Propheten als eine Anstalt zur Bildung der Sitten betrachtet wird, als ein fertiger und stattlicher Bau in der Salzseestadt.
Einzelne Töchter Young's wirken selbst mit als darstel lende Künstlerinnen , und geben so der Bühne die höhere Weihe. Auch ist dies Beispiel unerlässlich , damit die Töchter der Heiligen ihm folgen : denn bei der grossen Entfernung der nächsten Bühnen (etwa 700 Meilen) kann der Prophet oder der Director nicht Engagementsreisen unternehmen , um neue Jüngerinnen Thaliens anzuwerben . Das Publikum dieses Theaters, wo meist nur kurze Stücke
aufgeführt werden, wie überhaupt die Mormonen die Kürze auch in den Predigten lieben , ist durchaus nicht kopfhän gerisch , sondern bei bester Laune, worin der Prophet mit seinem Beispiele voranzugehen pflegt. Ist doch überhaupt das Ritual der Mormonen ein festlich heiteres ; eine ibrer
Grundlehren ist : „Gott dienen heisst das Leben geniessen“ ; die Erde ist ihnen ein Paradies zur Freude gemacht; Theater und Concerte , Bälle , Wasserpartien bilden den
entsprechenden Cultus dieses Dogmas. Ebenso wenig ist selbst aus ihrer Kirche das Nützliche ausgeschlossen. Wie
die Bischöfe , ohne Schädigung ihrer geistlichen Würde, weltliche Hantirung treiben , die meisten , auch Brigham
Young , Mühlenbesitzer und Farmer , Viehhändler und Buchdrucker sind , so versammeln sie sich selbst im er höhten Baldachin des Tabernakels zur Berathung weltlicher Angelegenheiten . Dixon wohnte einer solcher Mormonen
synode bei, in welcher keinerlei dogmatische Fragen , nicht einmal die von den Pluralitäten verhandelt wurden, sondern
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
314
der vorsitzende Bischof Alle frug, was für Fortschritte die
Arbeiten in ihrem Sprengel, das Bauen , Anstreichen, Drai niren und die Gartenzucht machten, und wo 200 angekom mene arme Auswanderer so placirt wurden , dass sie ihr tägliches Brod sich verdienen konnten. Die Sorge für die Armen ist bei den Mormonen eine heilige Pflicht; der Bischof selbst erbittet für die Nothleidenden die Hilfe der
Reichen , und selbst die Kirchenzehnten werden im Noth falle zur Unterstützung der Armen verwendet.“ Demselben Aufsatze wollen wir die Schilderung einer
dem Mormonenthume entgegengesetzten Secte entnehmen, die sich am Oneida Creek niedergelassen hat , und dort im Zustande der freien Liebe
lebt , also der Pantagamie
huldigt.
Es wird genügen , meinen Lesern einen Satz aus den Fundamentalartikeln dieser Schwärmer und den Werbungs
brief ihres Propheten um die Liebe seines Mädchens Weibes kann man da nicht sagen vorzuführen , um sich ein Urtheil zu bilden , welche sonderbare Religion wir da vor uns haben .
In den dieser Genossenschaft zu Grunde liegenden Satzungen heisst es : Wenn der Wille Gottes auf Erden geschieht wie im Himmel, dann wird keine Ehe sein. Das Hochzeitsmahl des
Lammes ist ein Fest, wo jedes Gericht frei ist für jeden Gast. Neid , Eifersucht, Streit haben da keine Stelle, so wenig wie die Gäste bei einem Erntefest jeder eine beson dere Schüssel beanspruchen , und mit den anderen streiten dürfen um ihr Theil. In der Gemeinschaft der Heiligen ist
nicht mehr Grund, den geschlechtlichen Verkehr gesetzlich
zu beschränken , als es für Speise und Trank der Fall ist, und sich zu schämen ist so wenig Anlass in einem Falle wie im anderen . Für die Zeit des Abfalles hat Gott zwischen
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
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Männern und Weibern eine Scheidewand gesetzt aus guten
Gründen , aber wehe über den , der das für die Zeit des Abfalles gegebene Gesetz abschafft, ehe er steht in der Heiligkeit der Auferstehung .“ Diesem Glauben entsprechend, lautete sein Liebesbrief an Haritet Holton :
„Ich wünsche und erwarte,“ heisst es , „ dass meine Jochgenossin alle die lieben wird, welche Gott lieben , ob Männer oder Frauen , und zwar mit einer Leidenschaft, wie sie irdischen Liebhabern unbekannt ist , und so frei und
offen , als ob sie mit mir in keiner besonderen Verbindung sei. Der Zweck einer Verbindung wird thatsächlich nicht sein , ihr Herz zu monopolisiren und dem meinigen zur Sclavin zu machen , sondern beide zu vereinbaren und zur freien Genossenschaft mit Gottes allgemeiner Familie zu bringen .“
Es ist nicht die Bestimmung dieser Schrift, die Zu stände weder dieser noch anderer Secten ausführlich zu
schildern, denn das wäre eine zu umfassende Aufgabe; wir begnügen uns mit der Beantwortung der wenigen Fragen, die Gottschall selbst aufgeworfen : Und wie sieht sie denn aus , diese Niederlassung am Oneida Creek ? Herrscht nicht die grösste Anarchie in diesem modernen Babel, welches alle bisherigen Grundlagen
der Cultur verläugnet ? Kann man sich ein anderes Bild von diesen Zuständen machen, wie etwa von den Zuständen in Münster zur Zeit Johanns von Leyden und der Wieder täufer, und verdienen diese wüsten Heiligen nicht ebenfalls mit glühenden Zangen gekneipt und in Käfigen zur Schau gestellt zu werden ? ,,Mit diesem Pathos sittlicher Entrüstung würde man
auf dem Boden des freien Amerikas nur eine tragikomische
Rolle spielen ; die Thatsachen sprecben zu deutlich dagegen. Am Oneidabach herrscht die grösste Ordnung, Friede, Ruhe
316
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
und Wohlhabenheit. In zwanzig Jahren ist das wilde Wald land gelichtet und verschönert worden , dass es wie eine reiche Domäne in Kent aussieht. Strassen, Brücken, Mühlen sind erbaut , Wiesen , Obst und Weingärten angelegt, Fabriken in Gang gesetzt zum Eisengiessen , Korbflechten,
Früchte - Einmachen , Seidenspinnen ; die Lieblichkeit der schönen Rasenplätze fesselt das Auge. Auf einem Hügel mit anmuthiger Aussicht steht das Haus der Gemeinde, die
grosse Halle , Capelle , Theater , Concertsaal, Casino , die Werkstatt befindet sich in der Mitte derselben ; sie ist mit Bänken , Armstühlen , Werktischen , einem Lesepulte, einer Bühne, einer Gallerie, einem Pianoforte versehen. In dieser Halle spielen und nähen die Schwestern, predigen die Ael testen , liest der Bibliothekar die Zeitungen vor. In der Nähe ist das Wohnzimmer , eigentlich das Damenzimmer, und um dieses Zimmer liegen die Schlafzimmer der Familie und ihrer Gäste. Unter dieser Etage sind die Bureaux, das Empfangszimmer, eine Bibliothek, ein Geschäftslocal, Küche,
Refectorien , Fruchtkeller , Waschhaus befinden sich in be sonderen Gebäuden. Die Niederlage ist vor dem Hause gelegen und weiterhin liegen die Mühlen , die Farmen , die Ställe , die Schuppen für die Kühe , die Pressen und die Werkstätten. Die Familie hat im Verlauf der letzen Jahre
viel Geld verdient und dasselbe nützlich durch Erbauung von Mühlen und Drainirung des Landes angewendet. Ein Trapper von Canada, welcher der Gemeinschaft beitrat, ein eifriger Industrieller , hatte durch Anfertigung von Fällen der Industrie am Oneidabach den höchsten Aufschwung gegeben, die deutsche Concurrenz von Solingen und Elber
feld aus dem Felde geschlagen und der Familie in einem einzigen Jahre einen Gewinn von 80,000 Dollars ver schafft.
„ Die Lebensweise ist eine mässige , wie bei den Zit terern vom Berge Libanon ; die Diät der Vegetarians vor
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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wiegend, auch vermeidet man hitzige Getränke. Die Männer
tragen den breitkrämpigen Hut, den losen Rock und Knie hosen , die jungen Damen in der Regel braune und blaue Kleider aus Mousselin , Baumwolle und grober Seide ; das
Haar tragen sie kurzgeschnitten und in der Mitte geschei telt. Corsets und Crinolinen werden nicht getragen. Eine Tunica fällt bis auf die Knie herab , weite Beinkleider aus demselben Stoffe, eine bis an den Hals zugeknöpfte Weste,
kurze herabhängende Aermel und ein Strohhut bilden das anmuthig kleidende Costüm der Bibelcommunistinnen. Während die Mormonenfrauen etwas Gedrücktes
haben , sind diese Damen geschäftig , munter und sehr zufrieden mit ihrem Loose , da auch ihr Einfluss und ihre Macht eine nicht unbedeutende ist. “
Was lernen wir aus diesen beiden socialen Experi Einerseits , dass man der europäischen Ehe
menten ?
einen Einfluss auf die Cultur zuschreibt, den sie nicht hat,
weil die Cultur ohne Monogamie auch bestehen kann , und
umgekehrt sich die Monogamie ohne Cultur vorfindet ; andererseits lehrt uns die Betrachtung der Stellung des Weibes bei allen anderen Völkern der Erde, dass die Cultur
allerdings mit der grösseren Freiheit und Emanci
pation der Frauen im Zusammenhange stehe. Dieser be vorzugten Stellung des Weibes überhaupt ist der gewaltige Unterschied, der zwischen Mohamedanern und Christen be steht , zum grossen Theile zuzuschreiben , keineswegs aber unserer fadenscheinigen Monogamie. In der Erziehung der Kinder, nicht in den geschlechtlichen Ver hältnissen liegt der Schwerpunkt der Frage ; denn diese letzteren sind überall dieselben ; man findet in
allen Welttheilen dieselbe Abwechslung; der Unterschied besteht lediglich darin , dass in Europa weniger Rohheit, dafür bei den Naturvölkern mehr Aufrichtigkeit und Wahr heit in diesen Dingen herrscht. Es wird also erfahrungs
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
gemäss das bestätigt, was wir gleich im Anfange bei der
Liebe gesagt und gefunden , dass es sich in Sachen der Liebe nur um die nächste Generation handle.
Doch
wollen wir nicht vorgreifen . Ich habe da die Auswüchse einzelner Secten , welche den sonderbarsten Gebräuchen zu allen Zeiten und in allen
Religionsformen gehuldigt , gänzlich übergangen , und will meine Leser weder mit den Hochzeitsfeierlichkeiten, wie sie in Indien, Birma , Kaschemir , Südarabien u. 8. w. vorkom
men , noch mit dem Anaitis- und Aphroditen - Dienst der Alten bekannt machen. Dieses oberflächliche Bild der ge schlechtlichen Beziehungen wird ja genügen , um meine Leser zu ermuthigen , in der Ehe nichts Anderes zu sehen , als einen durch Erziehung und Vorurtheile geheiligten Gebrauch, der ohne Weiteres einer objectiven Kritik unterzogen werden kann , und welcher zweifelsohne , sowie er nicht immer be
standen und nicht überall besteht, auch wesentlichen Modi ficationen unterzogen werden wird. Bevor wir jedoch die Ehe von unserem Standpunkte aus betrachten , wollen wir auch Ansichten einzelner Vor gänger, die über diesen Gegenstand schrieben, kennen lernen,
denn wer sich ein richtiges Urtheil über Etwas bilden will, was die Frucht menschlichen Denkens ist , der thut am besten, das vorhandene Material zu prüfen und die Gegen sätze aufzusuchen , weil das Wahre und Richtige meistens
in der Synthese derselben zu finden sein wird.
In dem einen Lager nun heisst es : Die Monogamie und Unlösslichkeit der Ehe ist die Grundbedingung der
Sittlichkeit, und das Familienleben der Grundpfeiler der Civilisation und der Gesellschaft. „Geht hinaus aus Europa,
und betrachtet Euch den Culturzustand jener Völker, wo die Monogamie nicht herrscht. Unsere Gesellschaft ist nur darum in Verfall, weil das Familienleben in seiner Reinheit und
Unsere geschlechtlichen Beziehangen.
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Einfachheit nicht aufrecht erhalten wird. Wir müssen einen Schritt zurückschreiten ."
Im anderen Lager heisst es wieder : „ Die Monogamie ist zwar ein Fortschritt gegenüber der Vielweiberei der Mohamedaner , eben weil sie das Weib mehr emancipirt. Darum aber emancipirt weiter , schreitet fort auf dieser Bahn , denn die heutige Ehe ist die Quelle des Egoismus und der Feind der christlichen Liebe ; der Familienvater vergisst in der Sorge für seine Familie , dass alle Men schen Brüder und Glieder einer Familie sind , er denkt nur an die Seinen und zwar auf Unkosten der Anderen.
Die Ehe ist das Hinderniss der Association , die Erspar nisse und Genüsse verschaffen und der beschämenden Noth
unserer Nächsten ein Ziel setzen würde. Euere Monogamie ist überdies eine Fiction, an die sich Niemand bindet." Während die Einen eine Freiheit gewähren wollen ,
welche in Verlegenheit setzen würde, beweisen die Anderen, dass die Unterthänigkeit des Weibes ein Gebot Gottes und der Natur sei.
W. G. Riehl , der vollendetste Reactionär der Gegen wart , beruft sich im Anfange seines Buches „die Families sogar auf die Worte der Genesis : ,,Dein Wille soll deinem Manne unterworfen sein .“
Auch ohne die Worte der Genesis wird dies überall
der Fall sein , wo der Mann die Verantwortung hat, wo die Arbeit des Mannes , sie sei nun eine materielle oder
geistige, die Hauptstütze der Familie oder gar die physische Kraft überhaupt das entscheidende Moment im socialen Leben ist ; in diesen Fällen würde es gar nicht des Schutzes der Gesetze und der Macht der Gewohnheit bedürfen , um das Weib zu unterjochen ; es unterwirft sich von selbst.
Die Menschheit war in ihrer frühesten Entwickelung durchaus auf die rohe Kraft angewiesen, und da der Mann
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
der stärkere war , so datirt die Unterordnung des Weibes allerdings von lange her. In unserer Zeit , wo Intelligenz, Fleiss und Ausdauer weit wichtigere Factoren sind , als die rohe Kraft, hat die Unterordnung des Weibes ihre Legitimität verloren. Das scheint Riehl wohl gefühlt zu haben , darum suchte er sich einen andern Rechtstitel, er behauptet : ,,In dem Gegensatze von Mann und Weib sei
die Ungleichartigkeit der menschlichen Berufe und damit auch die sociale Ungleichheit und Abhängigkeit, als ein Naturgesetz aufgestellt.“ Er beweist nun allerdings, dass das Weib zum Theile einen anderen Beruf habe als
der Mann , was gewiss Niemand in Abrede stellen wird ; was er aber nicht beweist, ist seine Behauptung, dass mit der Ungleichartigkeit des Berufes auch die Abhängigkeit gegeben sei. Er begnügt sich damit , nach und nach die Worte zu verwechseln , statt Verschiedenartigkeit setzt er nach und nach Ungleichheit, und verwechselt diese dann
mit Abhängigkeit. Nun ist eine Abhängigkeit der Beweis von Ungleichheit , nicht aber umgekehrt ; es können Dinge sehr gut ungleich und verschiedenartig sein, doch liegt darin noch kein Abhängigkeitsverhältniss. Während Riehl die Ungleichheit begründet, was nicht schwer ist , und wir ohnehin wissen , bleibt er uns den Beweis für die Ab
hängigkeit schuldig, wenigstens vom Standpunkte der Natur. Denn dass unsere jetzigen socialen Verbältnisse in den meisten Fällen diese Abhängigkeit mit sich bringen , ist selbstver ständlich , doch tragen eben diese die Schuld, nicht aber
der Beruf des Weibes in der Familie; denn diesen hat ja das europäische mit dem mohamedanischen und selbst malayischen Weibe auch gemein, und wie gross ist doch der Gradunterschied der Abhängigkeit! Schon daraus wäre er sichtlich, dass der Beruf des Weibes für das Familienleben
in verschiedene Formen der socialen Stellung gebracht werden kann : und kann man denn ernstlich glauben , unsere Zu
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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stände seien das bestmögliche und letzte Stadium der Ent wickelung ? Riehl selbst meint , der tiefste Grund zur Autorität
in der Familie , zum Hausregimente werde gelegt bei der
Erziehung der Kinder. Der Ansicht bin ich auch , nur erlaube ich mir dazu zu setzen , der tiefste und einzige Grund.
Die durch Generationen fortgesetzte Erziehung zu
bestimmten Zwecken ist vollkommen geeignet, bei Thieren und Menschen Verschiedenheiten zu erzeugen, die in förm
liche Gattungen ausarten , was von dem modernen englischen Naturforscher mit ausserordentlichem Fleisse und Scharfsinne
nachgewiesen wurde. Dass zwischen Mann und Frau stets ein wesentlicher Unterschied obwalten und daraus auch ein
verschiedener Beruf entstehen wird , unterliegt gar keinem Zweifel; dass dieser Beruf vorzugsweise in der Pflege der Kinder zu suchen sein wird , kann man um so weniger bestreiten , als in der ganzen Thierwelt dies auch der Fall
ist. Von da aber zur Unterordnung und socialen Unfreiheit ist ein gewaltiger, durch nichts als unsere verkehrten Ein richtungen zu rechtfertigender Schritt. Das monogamische Verhältniss hat damit gar nichts zu schaffen . Die ganze Argumentation der Conservativen ist nichts, als ein circulus
vitiosus: Weil das jetzige schöne Geschlecht für die Selbst ständigkeit nicht taugt, so müssen wir es für die Abhängig keit erziehen ; und dagegen sage ich mit nicht weniger Recht : Weil wir unsere Frauen für die abhängige Stellung er ziehen , so sind sie für eine selbstständige eben unbrauchbar. Wäre dies auch der Fall , wenn wir sie für eine grössere Selbstständigkeit heranziehen würden, so dass, wenn
sie seinerzeit einen Vertrag mit uns eingingen , dieser der freie Entschluss eines freien Wesens , nicht aber die Folge eines moralischen Zwanges , einer socialen Noth wendigkeit wäre ? Hellenbach , Vorurtheile . 1 .
21
322
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
Eine Frau, die ohne ihren Mann sich oder ihre Kinder aus was immer für einem Grunde nicht zu erhalten vermag, ist von ihrem Manne allerdings abhängig und muss es sein. Ist nun die Erziehung des weiblichen Geschlechtes von vorn
herein der Art eingerichtet, dass das Weib nur mit Hilfe eines Mannes existiren kann, so bleibt ihm nichts übrig, als sich auf Lebenszeit zu überliefern und zum Zwecke der Zwischen der Prostitution en détail und auf Zeit und der Prostitution
geschlechtlichen Funktion zu verkaufen .
auf Lebensdauer ist kein Unterschied .
Wir erziehen die
Frauen für die Abhängigkeit und insolange sind sie aller dings unfähig eine andere Stellung einzunehmen . In die Lehranstalten dürfen die meisten Mädchen nicht
hinein , die Luft der Freiheit und Wahrheit könnte diesen
Treibhauspflanzen schädlich werden und den Herren der Schöpfung den Spass verderben. Darum eifert Rieblauch gegen die jetzige Erziehungsweise der Mädchen, „nur keine wissenschaftliche und künstlerische Bildung .“ Was ist aber die Folge dieser Einrichtung ? Dass das Mädchen in
erster Linie den Versorger sieht , und wenn sie die Ver sorgung findet , bona fide ihren Mann , oft aber auch sich
selbst betrügt, indem da von beiden Theilen etwas für
Neigung genommen wird, was nicht Neigung ist. Ein aus einem solchen Verhältnisse entspringender Ehevertrag ist aber dem Zwecke der Liebe geradezu ent gegen und nichts Anderes, als ein Dienstvertrag, ein Kauf. der sich von den Käufen in anderen Welttheilen nur durch die mildere Form unterscheidet. Je selbstständiger man die
Frauen macht, desto seltener werden sie sich verkaufen. Um richtig zu wählen, und dadurch eben das monogamische Verhältniss annähernd zur Wahrheit machen zu können, bedarf es gerade und vor allem einer freien Wahl ; diese aber kann ein Mädchen nicht treffen , das allein nicht
Unsere geschlechtlichen Boziehungen.
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existiren kann , und gerade darum je eher je lieber unter die Haube zu kommen trachten muss.
Die Abhängigkeit des Weibes ist also eine Frucht unserer Erziehung, unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, die ebenso wenig ein Gebot der Natur ist , als das Ab hängigkeitsverhältniss der Sclaven oder Unterthanen eines war ; wenngleich man zu jener Zeit die Welt ohne Sclaven
und Unterthanen gar nicht denken konnte. Noch kläglicher sieht es aus mit den Argumenten für die Unlöslichkeit der Ehe. Riehl meint , dass das Thier sich nur vorübergehend verbinde (was übrigens auch nicht
durchaus wahr ist) , der Mensch aber für die Lebensdauer. Das muss man nun allerdings der Phantasie Riehls über
lassen, in der Wirklichkeit kommt das nicht vor, höchstens als Ausnahme der Ausnahmen. Wo ist der Mann, der sich nur einmal und auf Lebensdauer bindet ?
Oder meint
Riehl etwa, dass das nur für die Frauen Geltung habe ?
Wenn dem so ist, warum setzt er dann das Wort „Mensch “, wo er „ Weib “ sagen sollte ? Das ist die Art und Weise, mit der man oberflächliche Leser irre führt.
Betrachtet Riehl den Mann als frei in dieser Be
ziehung, und das Weib als zur Liebe nur im Ehestande berechtigt, so widerspricht er sich selbst, weil der Mann ohne ein Weib doch nicht
nach Riehl'schem Codex -
sündigen kann. Es müsste also Frauen geben , die nach dem Riehl'schen Recepte leben, und wieder andere Weiber, die den entgegengesetzten Beruf haben. Denn dass die unverheiratheten Männer
ein asketisches Leben
führen
sollen , das wagt Riehl nicht auszusprechen , und doch ist es unumgänglich nothwendig , wenn seine Theorie zur Wahrheit werden soll.
Da sollte man meinen , dass vielleicht ein Jeder heirathen müsse, nachdem es nicht wahrscheinlich ist, dass er sich blos mit Essen , Trinken und einem beschaulichen 21*
324
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
Leben oder dem Schicksale einer Arbeitsbiene begnügen werde. Doch das will Riehl auch nicht. Ein nachgeborner Bauernsohn darf nicht heirathen, damit sein älterer Bruder
gemächlich als reicher Bauer leben könne, ein nachgeborner Sohn eines Aristokraten darf nicht heirathen , weil er Proletarier erzeugt u. s. f. Wer z. B. keine Zeit hat, seine Kinder zu erziehen , darf auch nicht heirathen . Dem soll so
sein, damit es echte Bauern, Bürger und Aristokraten geben könne, und alle übrigen, das gesammte Proletariat, soll sich begnügen , fein zuzusehen, wie die anderen glücklich leben, und dann in Erfüllung ihrer Pflicht und zur Wahrung des
Principes sterben . Weil aber die heirathsfähigen Stände doch für ihre Bequemlichkeit einiges Proletariat zur Arbeit
brauchen, so verurtheilt Riehl ihre zweit- und drittgeborenen Söhne, und selbstverständlich alle Töchter hierzu, die nicht
das Glück baben , so einen bäuerlichen , bürgerlichen oder adeligen Standesherrn zu heirathen. Eine herrliche Ordnung der Dinge , die aber zum Glücke nur in den Büchern Riehls zu finden ist. Zum Glücke nicht für die Gegenwart, wohl aber für die Zukunft verhält sich die Sache in der Wirk
lichkeit ganz anders. Die Hälfte des weiblichen Geschlechtes lebt ausser der Ehe, von der anderen Hälfte nur ein kleiner Bruchtheil in einem wirklichen, dem Riehl'schen Ideale ent sprechenden Familienleben , das Proletariat wächst immer
mehr an , und hat im Capitalisten seinen Aristokraten gefunden, die alte Gesellschaft mit ihrem Zwange und ihren Privilegien geht thatsächlich aus den Fugen, und eine neuere und freiere bildet sich heran - leider unter schmerzhaften
Zuckungen, wie sie jede Geburt, jeder Tod, jede Transition veranlasst !
Und so wie die Freiheit des Weibes mit der
höheren Cultur stets Hand in Hand geht , und beide bis jetzt immer vorgeschritten sind, so wird es auch in Zukunft geschehen.
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
325
Die Ehen auf Zeit (mitunter auf sehr kurze) werden thatsächlich immer häufiger, wenn sie Riehl auch einen logischen Unsinn zu nennen beliebt. Ein logisches Unding ist nur das, was in sich selbst einen Widerspruch hat, wie etwa ein dreieckiges Viereck , niemals aber das , was ganz gut gedacht werden kann , und überdies in der Erfahrung so häufig vorkommt. Riehl meint nämlich, dass man , wenn
man einmal Ja gesagt, nicht wieder Nein sagen könne – dies sei das wahre Salz der Ehe.
Der Meinung bin ich
zwar auch, aber in einem anderen Sinne; das ist Dasjenige, was die Ehe für die grosse Majorität der Menschen so versalzt , dass immer Wenigere Geschmack an ihr finden würden, wenn es so bliebe !
Doch vernichtet Riehl selbst durch einen einzigen Satz eine ganze Doctrine; er gesteht selbst , dass es eine Calamität sei , wenn die Leute früh heirathen, und ebenso, wenn sie gar nicht heirathen , d. h. mit anderen Worten, seine Ehe ist unter allen Umständen
eine Calamität.
Wenn also eine Ehe so leicht zur Calamität werden kann, wie es ihr wärmster Vertheidiger sagt, warum soll sie unlöslich sein ? Die Möglichkeit der Trennung ist für glückliche Ehen ohne Bedeutung , für unglückliche eine Wohlthat .
Riehl ist ein sehr feiner Beobachter der socialen Zu
stände, die er sehr geistreich analysirte, und deren Fäulniss er richtig erkannt hat ; nun glaubt er durch einen Rück . schritt dem Uebel abhelfen zu können. Doch das ist ein
vergebliches Streben ; das Familienleben nimmt ab , das nationale und Vereinsleben nimmt zu , wir sind im Ueber gange begriffen und müssen vorwärts.
Riehl steht auf dem Standpunkte der Ehe als eines Sacramentes, und damit ist Alles gesagt. Es wird gut sein , wenn wir die bedeutenderen Stimmen durchgehen , welche nicht auf dem sacramentalen , sondern auf dem objectiven
326
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
und kritischen Standpunkte stehen .
Wir werden dabei
Gelegenheit haben , wahrzunehmen, wie sehr die Ansichten sich einer freieren Bewegung zugekehrt haben. Kant argumentirt auf folgende Weise (Anthropologie, das Recht der häuslichen Gesellschaft ): „ Der natürliche Ge brauch , den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des
anderen macht, ist ein Genuss, zu dem sich ein Theil dem anderen hin gibt. In diesem Act macht sich ein Mensch selbst zur Sache , welches dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet. Nur unter der einzigen Be dingung ist das möglich , dass , indem die eine Person von der anderen , gleich als Sache erworben wird , diese gegenseitig wiederuin jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her. Es ist aber der Erwerb eines Gliedmasses am Menschen zugleich Erwerbung der ganzen Person , - weil diese eine
absolute Einheit ist ; folglich ist die Hingebung und Annehmung eines Geschlechtes zum Genuss des anderen nicht allein unter der Bedingung der Ehe zulässig, sondern auch allein unter derselben möglich . Dass aber dieses persön liche Recht es doch zugleich auf dingliche Art sei, gründet sich darauf, weil, wenn eines der Eheleute sich verlaufen, oder sich in den Besitz eines Anderen gegeben hat, das Andere
es jederzeit und unweigerlich, gleich als eine Sache, in seine Gewalt zurückzubringen berechtigt ist.“ Aus dieser Auf
fassung geht hervor , dass der geschlechtliche Verkehr nur dann ein menschenwürdiger ist, wenn kein Theil zur Sache wird , sondern in freier Verfügung und auf Grundlage der
Gegenseitigkeit sich dem Geschlechtstriebe hingibt. Dieses gegenseitige Einverständniss kann aber durch viele Um stände verloren gehen , und dann bleibt doch der Zwang, den Kant mit vollem Rechte als etwas Menschenunwürdiges verwirft.
Nur die Rücksichten für die nächste Generation
können auch hier massgebend werden .
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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Schopenhauer hat sich bereits auf den Standpunkt des Vertrages gestellt, was ganz richtig ist. Doch auch er konnte sich von den herrschenden Vor
urtheilen nicht befreien. Er meint , die Ehe sei ein still schweigender Vertrag des ganzen weiblichen Geschlechtes unter sich , kraft dessen es sich gewissermassen verpflichte, einem Manne nur in dem Falle sich zu ergeben , wenn er die Pflicht der Erhaltung auf Lebenszeit übernehme, so
wohl die des Weibes als der Kinder. Das Weib, das sich ohne diese Bedingung einem Manne ergebe, begehe an dem ganzen weiblichen Geschlechte ein Verbrechen. - Es ist dies ein sehr zutreffendes Bild der Zustände, in denen die
privilegirten Classen leben ; das Verbrechen wird aber nur an dem conventionellen Gebrauche dieser Classen , nicht
aber am ganzen Geschlechte begangen. Würde dieses Princip im Grossen durchgeführt werden, so würde das männliche Geschlecht schliesslich allein zur Arbeit und Verantwortlichkeit verurtheilt ; die Männer müssten sich im Schweisse ihres Angesichts die Gunst des Weibes verdienen. Wir wollen die Folgen dieser Theorie
übergehen, deren allgemeine und strenge Durchführung für beide Geschlechter traurig wäre , es genügt sich an die Thatsache zu halten , dass dieser stillschweigende Vertrag keine praktische Unterlage hat. Abgesehen davon , dass das Weib in den meisten nämlich bei der arbeitenden Classe mehr
Fällen
arbeitet als der Mann , dieser sich seiner Verpflichtung immer entziehen kann, wird die Zahl der diesem Vertrage abtrünnigen Frauen immer grösser, und ist bereits so gross, dass von einem solidarischen Vorgehen des ganzen Ge schlechtes nicht annähernd die Rede sein kann .
Der Um
stand , dass die Frauen die dieser Solidarität Abtrünnigen
einstens verabscheuten, mag Schopenhauer wahrscheinlich mit auf diesen Gedanken gebracht haben. Man verabscheut
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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heut zu Tage nur jene Liebeshändel , die nicht die Liebe zur Unterlage haben , und das mit Recht. Was darüber
hinaus, ist theils ein von Jugend an eingeprägtes Vorurtheil, am häufigsten eine Komödie. Die Auffassung Schopen hauer's ist ohne praktischen Werth, weil ein Gesetz , das von Niemand befolgt wird, todt ist. Eine Solidarität be
steht in einzelnen Kreisen, und zwar gerade in den Kreisen meiner Leser, die immer unbedeutender werden, und welche noch überdies ein grösseres Gewicht auf den äusseren Anstand legen .
Einen weit mehr vorgeschrittenen Standpunkt nimmt schon Dühring ein. (Seite 159. Der Werth des Lebens.) Er plaidirt für Aufhebung der Zwangsehe, und sieht die
Möglichkeit ihrer Verwandlung in eine freie und gleiche Ehe mit Recht nur „ in der vollen wirthschaftlichen Selbst ständigkeit und materiellen Existenzsicherung des Weibes. Man sieht , dass die Institution der Ehe sich auch theore tisch – praktisch schon lange vom Riehl'schen Ideale entfernt.
Was also ist die Ehe ? Ein Vertrag zwischen zwei Individuen verschiedenen Geschlechtes, der aber weder für die Liebe, noch weniger für die Verwirklichung der Mono gamie nothwendig ist , sondern lediglich im Interesse der
Kinder, nämlich des Familienlebens geschlossen wurde oder vielmehr hätte geschlossen werden sollen. Die Erfahrung liefert hierzu den praktischen Beleg.
Bei jenen Classen der Bevölkerung , wo die Lage der ehe lichen und unehelichen Kinder eine nahezu gleiche ist, dort haben die letzteren das entschieden numerische Ueberge
wicht; je greller hingegen der Unterschied bei den besser gestellten Classen naturgemäss hervortritt, desto seltener kommen Liebesverhältnisse der Mädchen vor.
Je entschie
dener die Solidarität der Menschheit und Nächstenliebe zur allgemeinen Geltung gelangt, desto entbehrlicher wird das
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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Familienleben , weil die Familie eben nur eine grössere wird. Ist der Staat einmal in der Lage, die Existenz und Erziehung der Kinder , die Pflege der Kranken und die
Versorgung der Greise zu garantiren , so wird die Freiheit der Liebe immer mehr ihren Einzug halten , und wahrlich nicht zum Schaden der Moral und der Menschheit. Man wird diesen Zustand von mancher Seite für eine
Utopie halten , aber ich frage offen , ob unsere heutigen Verhältnisse vor zweitausend Jahren nicht ebenfalls für
eine Utopie gehalten worden wären ? Wo ist das Hinder niss, dass ein derartiger Zustand nicht sehr bald eintrete ? In diesem Jahrtausende noch könnte sich Europa der stehenden Armeen entledigen , im nächsten Jahrhunderte erbt es alle Eisenbahnen , durch die Regulation der Erb steuer kommt der Staat unzweifelhaft einmal in die Lage, seine Bürger schon bei der Geburt zu Eigenthümern eines
Staatsvermögens, statt zu geborenen Trägern der Staats schulden zu machen .
Welche Umwälzung aber würde dies hervorbringen ! Macht man die Menschen glücklicher , so macht man sie besser , jedenfalls unschädlicher; sie werden moralischer, weil man es ihnen erleichtert , und vor allem , weil man sie besser erzieht.
Betrachtet man den Kastengeist vergangener Jahr hunderte und die Nivellirung der Gegenwart, so findet man
leicht heraus, wie sich der individuelle Werth immer mehr zur Geltung bringt , während in früheren Zeiten die angeborenen Verhältnisse die allein massgebenden waren ; darum hat auch das Familienleben an seiner ausschliess
lichen Bedeutung eingebüsst , während die allgemeinen, die nationalen Interessen in den Vordergrund getreten sind. Man tritt für das heutige Institut der Ehe in die Schranken, weil man nichts Besseres, sondern nur Schlech teres kennt , nämlich jenen Culturzustand der Menschheit,
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
wo es eben noch keine monogamische unlösliche Ehe gab. Man ist nur zu sehr geneigt, aus den vielen glücklichen Ehen den Schluss zu ziehen , dass die Ehe auf Lebenszeit
eine glückbringende Institution sei , welcher man das zu Gute schreibt, was lediglich auf Rechnung der richtigen Wahl , des moralischen Werthes und der günstigen Ver hältnisse der Eheleute zu setzen wäre.
Was sollen denn zwei Menschen beginnen , deren Ge schicke aneinander gekettet sind , wenn nicht sich gegen seitig unterstützen und des Lebens Last tragen helfen ? Haben wir nicht eben so viele und erhabene Bilder von
Freundschaft, Liebe, Aufopferung in kritischen Lagen und Katastrophen aller Art zu verzeichnen ? Das Schöne daran aber ist die Handlungsweise der Betreffenden , nicht die
Katastrophe.
So ist ein glückliches Familienleben das
Verdienst der verschiedenen Factoren , durchaus nicht der Ehe selbst.
Ueber die gegebenen Verhältnisse kann der
Mensch nicht hinaus, er fügt sich so gut es geht , und
handelt ihnen angemessen. Die Gesellschaft findet die Ehe vor, sowie das Duell und die Mode , und unterwirft sich denselben ; es ist eben das Vernünftigste, den gegebenen
Verhältnissen Rechnung zu tragen , selbst wenn man die Ehe für einen überflüssigen Zwang , das Duell für einen Unsinn und die Mode für eine Lächerlichkeit hält.
Das Interesse der Kinder fordert einen Vertrag, man
kennt heute keine anderen Verträge als die Eheverträge , darum sind sie eine Nothwendig. keit , und weil es eben Verträge sind , so müssen sie ein gehalten werden , wie alle anderen Verträge, doch haben sie wie diese wesentliche Bedingungen ihrer Giltigkeit. Der eine sucht eine Hausfrau, der andere braucht sein Weib ins Geschäft, der dritte sucht eine Mutter für seine
Kinder, der vierte die Zablerin seiner Schulden, der fünfte die Protection des Schwiegervaters, der sechste eine Arbei
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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terin , der siebente eine Köchin - und ein Theil sucht nichts , wird von der Liebe ergriffen , kann ohne den Ehe
vertrag nicht in den Besitz des geliebten Gegenstandes ge langen, es bleibt ihm daher nichts übrig, als ihn einzugehen. Kann er es nicht , oder will er es nicht , so muss er auf seine Liebe verzichten .
Die Ehe ist also ein Vertrag , der der Form nach für jede einzelne Religionsgenossenschaft zwar gleich , dem Motive, also dem Wesen nach aber sehr verschieden ist. Was sind nun die allgemeinen Bedingungen eines Vertrages ?
Es steht den Bürgern eines Staates frei, Verträge jeder Art zu schliessen , nichtsdestoweniger haben alle Ge
setzgebungen formelle Bedingungen ihrer Giltigkeit aufge stellt. Die Ungiltigkeit eines Vertrages im Allgemeinen wird theils durch die Unzurechnungsfähigkeit des Contrahenten ,
theils durch die Unmöglichkeit der Erfüllung, theils durch den Vertragsbruch des einen Theiles veranlasst. Wenn in Oesterreich ein Contrahent über den halben Werth Verlust
hat, so hört die Verbindlichkeit auf. Dort nun, wo es sich um die ganze Existenz, wie bei der Ehe handelt , ist die
nur theilweise Aufhebung des Vertrages beinahe nicht durch zuführen, obschon Alles, was die Giltigkeit eines Vertrages
erschüttert, in der Ehe, wie sie gewöhnlich geschlossen wird, gegeben ist. Fürs erste ist der eine Contrahent, das Weib , gewöhn
lich nicht in der Lage, die Verhältnisse zu überblicken ; es geht Verbindlichkeiten ein , deren Umfang es nie über sieht. Zweitens werden die Verbindlichkeiten selten genau
eingehalten , und gewöhnlich geschieht der Vertragsbruch von Seite des Mannes; dieser Vertragsbruch braucht eben nicht immer in der Untreue zu bestehen. Ich bin weit entfernt aus diesen Umständen für die Frauen
die Berechtigung abzuleiten , den Vertrag ohne weiters zu
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
332
brechen , ich bekämpfe nur in erster Linie die oktroyirte
Gleichartigkeit dieses Vertrages für so verschiedene Individuen und Verhältnisse, in zweiter Linie die leicht .
sinnige Weise , mit welcher diese Verträge geschlossen werden.
Wenn eine Frau die Ueberzeugung hat , dass sie ihr Mann aus Liebe geheirathet, wenn sie sich im Wesent lichen über eine Zurücksetzung nicht beklagen kann, so ist es jedenfalls ein schweres Vergehen , wenn sie sein Ver trauen täuscht und ihn betrügt ; sie thut besser ein Opfer unserer gesellschaftlichen Verhältnisse zu bleiben , als den Vertrag zu zerreissen . Sie wird im ersten Falle weniger leiden , als im zweiten ; das Bewusstsein erfüllter Pflicht
wird sie entschädigen für verlorene Freuden , während nur in seltenen Fällen die Liebe ihr den Ersatz bieten wird,
entweder für die flagrante Lüge, zu welcher sie ihr ganzes Leben verurtheilt ist , oder für die schiefe Stellung, die sie gegenüber der Gesellschaft einnimmt.
Den Frauen ist gegenwärtig leider nur das Schicksal beschieden , aus der väterlichen in die eheliche Gewalt zu
übergehen, was manchmal wohl erträglich ist , da es gute Väter und gute Männer gibt , aber frei ist eine Frau nie, es sei denn sie wäre so stark und unabhängig oder so
leichtsinnig, dass sie der Welt und deren Zufriedenheit nicht bedarf.
Diesen Standpunkt wird man aber gewiss
keiner Frau anrathen .
Nachdem
die Ehe ein Vertrag ist , so muss er eben
gehalten werden, das Einzige was man thun kann, insolange unsere gegenwärtigen Eheverträge bestehen , ist , dafür zu sorgen , dass die Freiheit bei Schliessung des Vertrages ge sichert werde , dass die Vertragsschliessenden den Umfang
und die Tragweite ihrer Verpflichtung genau kennen , und dass der eine Contrahent so viel als möglich die Persön lichkeit und die Motive des anderen Contrahenten kennen
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
lerne.
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Zu diesem Zwecke aber müsste man die Frauen
anders erziehen.
Doch davon später.
Wenn zu Gunsten der heutigen Ehe vom Standpunkte
der Moral gekämpft wird , so ist es überhaupt eine lächer liche Anmassung zu glauben , dass sich die sociale Ent wickelung nach den Bedürfnissen der in dem Kopfe eines Menschen steckenden Moral, nicht aber die Moral nach den
Bedürfnissen der socialen Entwickelung richten werde. Welche Gräuel waren nicht schon moralisch ?!
Ich erlaube mir in dieser Beziehung nur folgende
Frage an die Herren der Schöpfung zu stellen. Wenn die Monogamie Euer Ideal ist , warum macht Ihr nicht selbst
den Anfang damit ? Warum verurtheilt Ihr nur einen Theil der Frauen allein und nicht Euch dazu ?
Ihr be
kämpft ja selbst ein Jeder die Monogamie durch die That, so lange Ihr nicht verheirathet seid, und selbst dann predigt Ihr das sittliche Ideal nur Euerem eigenen
Weibe , nicht immer dem fremden , vorausgesetzt, dass Ihr noch jung und hübsch genug seid, das sittliche Ideal einem anderen aus dem Kopfe zu schlagen ! Schande über Euch , Ihr Heuchler !
Diese fadenscheinige Monogamie als sittliches Ideal führt in der heutigen Praxis ganz wo anders hin. Die gegen wärtige Lage des weiblichen Geschlechtes und der einzig mögliche , unlösliche Ehevertrag erschweren die Ehe , ver urtheilen dadurch die männliche Jugend und den grössten Theil des weiblichen Geschlechtes zur Liebe nicht nur
ausserhalb der Ehe , sondern ausserhalb eines jeden Ver trages.
Zum Glücke leben wir im Zeitalter der Emancipation aller Unterdrückten .
Richtet man den Blick in die Ver
gangenheit, und vergleicht man sie mit der Gegenwart, so kann Niemand der auffallende Unterschied entgehen , der in der Beurtheilung des Vertragsbruches und der Liebe
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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ausserhalb des Ehevertrages liegt.
Was waren einst ge
fallene Mädchen, pflichtvergessene Frauen, und was sind sie heute ?! Die Lockerung des Eheverhältnisses, noch mehr aber die Freiheit des nicht gebundenen Weibes sind in
fortwährender Zunahme hegriffen , und der unlösliche Ehe vertrag, gebaut auf die abhängige Stellung des Weibes, ist ein morsches , zusammenfallendes Gebäude , welches Ver
trägen ganz anderer Art wird Platz machen müssen , so wie denn die Civil-Ehe und die protestantische Ehe überhaupt als die ersten Angriffe auf selbe zu bezeichnen sind .
Das Weib ist unter Umständen das natürliche Haupt
der Familie, es trägt die Schmerzen der Geburt, die Last der Pflege, an ihm ist es die Bedingungen zu stellen, unter welchen es sich dieser Last und auf wie lange unter werfen will.
Da meint man denn, die Frau stelle eben die Bedingung, dass ihr der Mann auf Lebenszeit zur Stütze diene.
Ja , aber kann sie denn heute eine andere Bedingung stellen ? Sie hat nur die Wahl zwischen dieser oder keiner.
Ueberdies ist aber diese Stütze oftmals ohne Werth , die ganze Bedingung eine Chimäre, ihr oft eine Last, eine un erträgliche Fessel und durchaus keine Wohlthat ; sie räumt dem Manne das Recht ein , die Zahl der Familie und da.
durch ihre Leiden und Sorgen beliebig zu vermehren , und Existenzen zu schaffen , die ihrem mütterlichen Herzen nur Kummer bereiten und ihre Gesundheit vernichten .
Wenn sie diese Bedingung aber wirklich stellt , so kann
sie Niemand
daran hindern ; aber unerfahrenen
Mädchen von vornherein diese Bedingung als die einzig mögliche und erlaubte aufzuoktroyiren , ohne dass sie selbe beurtheilen können, sie dabei so zu stellen, dass sie selbst
ständig zu leben nicht vermögen , ist ein nicht zu recht fertigendes Gebahren.
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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Der Mann kann durch Verträge gebunden werden, was er für seine Kinder zu thun verpflichtet ist , und so
wie der Ehevertrag über den Glauben , so kann er auch über Namen und Vermögen der Kinder entscheiden . Wird eine Verbindung mit einem Kinde gesegnet , so erscheint eigentlich der Vertrag erschöpft; Menschen , die für ein ander passen , oder ihre Kinder lieben , werden ihn gewiss nicht muthwillig brechen. Wo dies nicht der Fall ist, dort beginnt ein unglückliches oder doch überflüssiges weil seinen Zweck nicht erfüllendes - Familienleben . Die leich
tere Löslichkeit des Ehevertrages würde nur wohlthätig auf die Beziehungen zweier Ehegatten wirken ; die glückliche Ehe wird dadurch nicht berührt , für die unglückliche ist sie das wirksamste Heilmittel. Gerade die Frage der Kinder ist es , die in dem Ehevertrag der Zukunft erörtert und festgestellt werden soll und wird. Dass ein Mann mit einem weiblichen Wesen ein Liebes
verhältniss eingehen will , geht eigentlich Niemanden , auch nicht den Staat Etwas an, die allgemeine Kundgebung der Hochzeit ist geradezu ein Skandal. Was aber den Staat sehr angeht, ist das Loos der Kinder , und um das wird er sich um so mehr interessiren , als er zur Garantie der
Existenzen herangezogen wird. Die Ehe wird immer ein Vertrag bleiben, man gebe aber die Freiheit des Weibes,
ihn nach Gutdünken und ungezwungen schliessen zu können, und man wird statt Unglück oder Betrug in die Ehe zu führen, Glück und Wahrheit hineinbringen !
Hatten jene Malayen nicht Recht , dass sie für die verschiedenen Verhältnisse auch verschiedene Eheverträge gelten liessen ? Der Fürst Schwarzenberg hat Recht, wenn er eine Frau nimmt, die seinen Namen trägt, und seinen Kindern Namen und Vermögen hinterlässt, es liegt dies in seinem und seiner Kinder Interesse, während einer Künst lerin oder einem reichen unabhängigen Mädchen ein auf
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
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Lebenszeit geschlossener Vertrag nur in seltenen Fällen glückbringend sein dürfte, und nur unser Vorurtheil beraubt sie der Freiheit des Handelns.
Die Arbeiterinnen lieben , wen sie wollen, und heirathen
dann, wen sie wollen . Dass das Loos dieser Wesen oftmals ein so trauriges ist , liegt gerade in dem Umstande , dass
sie keinen Vertrag schliessen können , als den Einen , der für sie zumeist unmöglich ist ; darum lieben sie ohne jeden Vertrag .
Meine Leser dürfen nicht vergessen , dass sie zumeist zu den privilegirten, glücklicheren Menschen gehören, deren Stellung und Erziehung eine Aenderung dieser Verhältnisse allerdings nicht so nothwendig erheischt; sie dürfen aber auch nicht vergessen ,
dass sie eben eine sehr kleine
Minorität der Gesellschaft sind .
Doch geben wir uns keine Mühe Verhältnisse ändern zu wollen , welche sich nur sehr langsam entwickeln. Der Kampf mit der Geistlichkeit , die Ehe aus ihren Händen
auf das Gebiet des gewöhnlichen Vertrages zu ziehen, wird bereits mit Erfolg gekämpft. Ist dies einmal durchgeführt, so wird die Gesellschaft, der Staat bald gewahr werden, was er eigentlich in den Ehevertrag hineinzusetzen hat. Ich bin gewiss der Letzte, der Sprünge in der socialen Entwickelung zugeben kann. Für die zwingende Macht der socialen Entwickelung
hat die Sprache das unverstandene Wort „ Zeitgeist“. Wenn wir die in meinem „ Individualismus“ enthaltenen Entwicke
lungsgesetze nun auf die Ehe anwenden, so haben wir blos die Richtung zu prüfen , welche das eheliche Verhältniss gegenüber vergangenen Zeiten angenommen .
In der frühesten Periode des Menschengeschlechtes, sagen wir, in der von Vielen so getauften Affenperiode, kann an der Freiheit und Ungebundenheit des Weibes kaum ge zweifelt werden, und dem gegenüber ist das Verbrennen der
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
indischen Witwen und die strenge Auffassung der Ehe in
unserem Mittelalter zweifellos der Culminationspunkt der weiblichen Unfreiheit gewesen , von wo ab die entgegen. gesetzte Richtung sich bemerkbar macht, welcher auch unsere Zeit angehört.
Haben also diese von mir aufgestellten Gesetze ihre Giltigkeit, so gehen wir unwiderstehlich und unabwendbar
der Freiheit des Weibes entgegen. Die wenigen Schwan kungen , etwa durch mächtige reactionäre Einflüsse hervor
gebracht, werden den Lauf der Dinge ebenso wenig auf halten, als das Himalaya -Gebirge der Erde die Kugelgestalt benimmt.
Wie weit soll aber diese Freiheit des Weibes gehen ? Das ist allerdings schwer zu beantworten .
Schon die
Logik sagt uns in Bezug auf die beiden ersten Formen des Denkens, dass die Eine dieser beiden Bewegungen nicht weiss , woher sie kommt , die andere nicht , wohin sie geht. Dies gilt auch in der socialen Entwickelung, die Bewegung geht bis zum Culminationspunkte, von wo ab sie entgegen gesetzte , der früheren - in Bezug auf Zahl der Glieder analoge aber veredelte und synthetische Richtung be
ginnt. Wo der Culminationspunkt liegt, wann er eintritt, das wissen wir nicht , aber das können wir mit Sicherheit schon annehmen , dass die Emancipationsbestrebungen des schönen Geschlechtes noch sehr lange andauern und
sehr langsam reussiren werden , weil auch die frühere Phase eine sehr lang dauernde war und vieler Stufen der Entwickelung bedurfte, durch die wir durch müssen. „Es ist ein Gesetz der Teufel und Gespenster, Wo sie hereingeschlüpft, dort müssen sie hingus.“
Wird dieser Culminationspunkt erreicht und durch das
Uebermass eine Reaction hervorgerufen sein , dann werden wir einer veredelten , monogamischen Form der Liebe ent gegengehen . Hellenbach
Vorurtheile . I.
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
Ich vertrete die Ansicht, dass die Eheverträge vor Allem der hohen Bestimmung der Liebe Rechnung tragen
sollen , und weil dies nicht geschieht , so blüht die Liebe auch weit mehr ausser - als innerhalb der Ehe. Was nun die Ehe anbelangt, so glaube ich nachgewiesen zu haben,
dass erstens die Ehe nichts ist , als ein Vertrag , der je nach den Verhältnissen und dem Willen der Contrahenten,
ein verschiedener sein sollte , und zweitens , dass das Ideal der Monogamie nur durch die freie und richtige Wahl, niemals durch den Zwang der Ehe annähernd er reicht werden kann.
Leider hat die wahrhaft freie Wahl
eine andere sociale Stellung des Weibes zur nothwendigen Voraussetzung . Jener Theil des weiblichen Geschlechtes , der sich durch seiner Hände Arbeit nicht ernähren kann , darf nur ausnahmsweise als unabhängig betrachtet werden , wenn er nämlich hinlängliches Vermögen besitzt. Durch Intelligenz und Kenntnisse kann sich ein Mann unabhängig machen ,
dem Weibe sind dazu beinahe alle Wege versperrt. Diese armen Geschöpfe müssen warten, bis sie jemand gegen das Versprechen der Versorgung in Besitz nimmt ; da ist denn in der Regel die Liebe das schwächere Motiv.
Der Vor
theil ist nur auf Seite der Männer, nicht der Frauen . Der gemeine Mann glaubt sich die Last des Lebens zu erleichtern , und nimmt ein Weib zur Hausfrau , wie
dies bei der grossen Majorität der europäischen Bevölkerung der Fall ist. Der besser gestellte, mit grösseren Bedürf nissen ausgestattete , kann schwer heirathen , schliesst die
Ehe aus vielen Gründen, und liebt er auch, so geschieht es oft in Erwiderung einer Liebe , die dem Mädchen nur das
Verlangen nach Versorgung einflösst. Die Enttäuschung erfolgt schon nach Monaten , denn der Mann kauft für die Versorgung Liebe, bekommt aber schlechte Waare und wird betrogen .
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Unsere gesohlechtlichen Beziehungen .
Wenn man sich nur wenig in der Welt umsicht, so gewahrt man , wie selten ein tieferes Gefühl den Ehebünd. nissen zu Grunde liegt , was aber nicht sein sollte. Die wirkliche Liebe ist , traurig aber wahr – nur in der
Freiheit garantirt, da glänzt sie im idealen Lichte , unab hängig von allen materiellen Bedingungen und allen häus lichen Bedürfnissen , welche die Prosa des Lebens in den Ehestand bringt. Unter den gegebenen Verhältnissen haben die Frauen nur zwei Dinge im Auge zu behalten : Die freie Wahl und richtige Wahl. Charles Fourier , der Vater des modernen Socia
lismus , gilt für einen geistreichen Narren , was durchaus nicht so gewiss ist , als die Behauptung wäre , dass er ein grosser Freund der Frauen war.
Er hatte z. B. den närri
schen Gedanken , dass unsere heutigen Armeen , statt mit gezogenen Kanonen und schnell schiessenden Gewehren di Knochen
ihrer Mitmenschen zu zerschmettern und di
Werke der Cultur zu zerstören, in einer fernen Zukunft als Cultur - Armeen auftreten werden , welche Strassen , Eisen bahnen , Kanäle und andere gemeinnützige Werke zu voll
bringen hätten ; und bestimmt er dazu die Jugend beiderlei Geschlechtes , die unter Klang und Sang hinauszieht , wie zu einem Feste, etwa wie heute zum Tanze und zur Jagd. Das wäre nun
so meint Fourier
die Epoche,
wo auf den Boden der freien Concurrenz die Schöne Ge
legenheit hätte , unter den zahlreichen Werbern zu wählen und ihr Herz zu verschenken , wem sie eben will , ohne irgend jemand zu fragen , ohne Partezettel , ohne den Tag, ja die Stunde beinahe anzugeben , in welcher sie unter
Kenntnissnahme der ganzen Stadt , oder des Dorfes , in die Mysterien Hymens eingeweiht wird. Fourier nennt unsere
Hochzeitsgebräuche geradezu einen Scandal . 22*
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Unsere geschlechtlichen Beziehungen. Man mag nun über unsere Gebräuche denken wie man
will, das Eine ist gewiss, dass wenn auch unsere Hochzeits gebräuche nichts taugen , die seinigen dafür unmöglich sind; eine solche Freiheit der Wahl kann es bei uns schon darum
nicht geben , weil jedes Paar eine Familie gründen soll,
während Fourier Familien von mehr als tausend Köpfen zur Voraussetzung seines socialen Systems hat. Man braucht zur Gründung einer Familie leider mehr als die Liebe. Unter unseren Verhältnissen kann daher von einer der.
artigen Freiheit der Wahl , kraft welcher sich ein Mädchen
den Liebhaber, eventuell den Vater ihres Kindes nach Gut dünken aussucht, gar nicht die Rede sein, da der Kreis der Werber immer ein sehr beschränkter ist , und andere Ver hältnisse massgebend sind . Doch ist es schon nicht immer möglich , den zu hei
rathen, den man liebt, so müsste man doch mit aller Kraft verhindern , dass Mädchen in die Lage kommen , den zu heirathen , den sie nicht lieben , was ja soviel heisst , als sich zum geschlechtlichen Gebrauche zu verkaufen, also pro
stituiren. Darum ist vor allem nothwendig, dass die Frauen ihre Tochter so stellen und erziehen , dass sie auch ohne einen Mann leben und sich erhalten können, und man dürfte nicht das Hauptaugenmerk der Erziehung darauf richten, dass sie einem Manne gefallen. Die heutige Erziehung der besseren Classen geht mehr oder minder darauf hinaus, die Mädchen den Männern so anziehend als möglich zu machen ; man
will sie anbringen , wie der Kaufmann seine Waare, sorgt aber nicht dafür, dass die Waare wirklich gut sei, sondern
dass sie vor allem gut scheine. Es ist der äussere Effect, nicht der innere Gehalt, auf den hingearbeitet wird. Die Mädchen ihrerseits unterstützen diese Tendenz um
80 mehr, als man ihnen das Heirathen als eine solche Nothwendigkeit in den Kopf gesetzt, dass sie sich beinahe schämen , wenn sie nicht bald unter die Haube kommen .
Unsere geschlechtlichen Beziehungen
341
Der erste Schritt zur Beseitigung des Jammers , der noth wendig entsteht, wenn ein Weib sich für ihre Versorgung verkauft, ist aber die Möglichkeit sich selbst zu er halten.
Wie viele weibliche Existenzen sind der Vernach
lässigung dieses Grundsatzes in der Erziehung zum Opfer geworden ! Dem weiblichen Geschlechte eine solche unabhängige
Stellung annähernd zu schaffen, liegt nun allerdings nicht
in der Macht der Frauen , wohl aber können sie viel dazu beitragen .
Ein Fortschritt ist in dieser Beziehung schon geschehen ; die Post- und Telegraphen -Bureaux haben sich dem schönen Geschlechte bereits geöffnet. Es war wahrlich eine Schmach für das weibliche Geschlecht, dass man es nur dem geschlecht
lichen Gebrauche zuführte , und es nur dafür erzog , daher denn auch ihr Leben fast keinen Zweck hatte , wenn die
Kinder keiner Pflege mehr bedurften. Deshalb werden die
Ausdrücke „alte Jungfer und alte Weiber“ vom Volks munde noch heute in beinahe verächtlichem Sinne ge
braucht, als lästige und überflüssige Inventarstücke der Gesellschaft.
Sind die Frauen aber auch in der Lage , der Stimme
ihres Herzens folgen zu können , so sind sie noch immer nicht sichergestellt , dass sie sich in ihrer Wahl , d. h . so wohl in ihren eigenen als den fremden Empfindungen nicht
täuschen . Ist es wirklich Liebe , was sie fühlen und ein flössen ?
Das Leben überhaupt, und der Ehestand insbesondere sind passive Geschäfte, die Liebe der einzig wärmende Sonnenstrahl in dieser kalten Welt, die Frauen setzen also
ihre ganze Existenz auf diese eine Karte , gibt es daher für sie etwas wichtigeres, als die genaue Prüfung ihrer
342
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
Neigungen und noch mehr ihrer Bewerber ? Sowohl Eltern als Kinder nehmen einen dem Zwecke der Liebe wider
sprechenden Standpunkt ein.
Die Eltern denken nur an
bessere Versorgung der Tochter , nicht an die zukünf tige Generation, und nehmen weniger Rücksicht auf persönliche Eigenschaften als auf Vermögen und Stellung des Bräutigams oder der Braut. Die Tochter folgt instinctiv allerdings ihrer Neigung, aber denkt nicht daran, dass wenn die natürlichen Anlagen eines Kindes auch die massgebend sten sind, die Erziehung und Stellung desselben doch eben falls wichtige Factoren bilden, die thatsächlichen Verhältnisse
daher auch in die Wagschale fallen .
Sowohl Eltern
als Kinder würden sich in ihren Ansichten
nähern und weniger divergiren , wenn sie beide durch das Interesse für die nächste Generation
geleitet , und von diesem Standpunkte aus die Verhältnisse beurtheilen würden. Nur dann ist es zu erwarten , dass Mädchen unter Umständen ihre Neigung bekämpfen , und andererseits Eltern nie ihre Kinder verhalten würden, ohne Neigung zu heirathen. Das weibliche Geschlecht kann beinahe immer voraus
setzen , dass der Mann aus Neigung heirathet , denn die Ehe ist eine schwere Last für ihn , es sei denn , dass für den werbenden Mann auch andere Motive vorliegen könnten .
Ist dies nicht der Fall , so wird ein Mann nicht leicht eine Lebensgefährtin nehmen, für die er keine Neigung bat. Ist diese aber auch vorhanden, so ist es nicht gleichgiltig, welcher
Art diese Neigung ist, in welcher der besprochenen Bedin gungen die Liebe des Mannes eigentlich Wurzel gefasst hat.
Die körperlichen Reize verschwinden früher oder später, darum ist eine Liebe , die nur dieses Motiv hat , nichts als ein kurzer Rausch ; einen dauernden Bestand können offen
bar nur die auf Eigenschaften des Charakters gegründeten Sympathien haben,
Unsere geschlechtliohen Beziehungen.
343
Doch auch da ist grosse Vorsicht nöthig ; denn das erwärmende Feuer der Liebe hat das Eigenthümliche, dass Männer und Frauen im Interesse der zu erwerbenden
Gegenliebe ihre guten Eigenschaften nicht nur künstlich hervorheben und die schlechten verbergen, sondern sie sind thatsächlich besser, während sie lieben. Die Liebe hat einen
entschieden wohlthätigen Einfluss auf alle Menschen ; sowie sie bei manchen Thiergattungen Schmuck, Farbenglanz,
Gesang hervorruft, verschönert sie auch beim Menschen den Körper und noch weit mehr die Seele.
Wenn die Liebe erblasst , geht mit der wegfallenden
Ursache auch die Wirkung verloren ; der nicht mehr ver liebte Mensch scheint nicht mehr besser , als er ist; er ist in der That viel schlechter, als er damals war . War wirkliches Metall vorhanden , so verliert es nur an Glanz ;
war es eitler Firniss , so bietet es ein noch traurigeres Bild . Ein schlechtes Ende nehmen immer jene Ehen , wo
das Liebesverhältniss auf der ersten Bedingung allein be ruht und wo die Eigenschaften des Charakters entweder nicht zusammenstimmen , oder bei einem oder gar beiden Theilen ohne massgebenden Werth sind ; d . b. weder be wusst , noch unbewusst von Einfluss waren ; solche Ehen
haben keine Dauer , weil die erste Bedingung nichts Blei bendes an sich hat. Nachdem der körperliche Reiz ausser Kraft getreten , geht die Gegenliebe und selbst das Ver langen nach derselben verloren ; eine auf diese Weise und selbst unter den Symptomen der grössten Leidenschaft in Scene gesetzte Ehe geht in Brüche. Als Gegenstück hiervon reicht die auf den Charakter
basirte Liebe , und die Ueberzeugung geliebt zu sein , voll kommen aus , eine sehr glückliche Ehe zu bilden , nament lich genügt dies dem Weibe, das von der ersten Bedingung
weniger abhängig ist als der Mann.
Wohl zu beachten
bleibt , dass der Ehestand unter allen Umständen eino
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
344
Subtraction bei den materiellen Vorzügen vornimmt , und nur die geistigen davon unberührt bleiben ; denn es ist eine merkwürdige Eigenthümlichkeit der Liebe im Ehe stande, dass das Familienleben auf die Dauer der Leiden schaft so ungünstig wirkt, und doch ist es gerade die
Leidenschaftlichkeit der Liebe , die so glücklich macht. Im Ehestande erstickt die Liebe gleichsam im eigenen Fette .
Ein übereilter Schritt zu einem lebenslänglichen Bünd. nisse bestraft sich bitter , wenn man einen Fehlgriff in
Bezug auf den Charakter seines Lebensgefährten gemacht hat , weil nach dem Erlöschen der sinnlichen Liebe nichts bleibt, als die Last, der Zwang der Ehe. Darum warne ich alle Frauen und Mädchen vor der
Neigung eines Mannes , die gleich oder doch schnell
durch den blossen Anblick hervorgerufen wird. Solche Neigungen haben im besten Falle das physische Wohlgefallen zur Unterlage , oft auch ganz schmutzige Interessen.
Es ist wahr , es gibt Erscheinungen , an welchen der Charakter so deutlich zum Ausdrucke gelangt, dass sie gleich gewinnen oder abstossen ; nichts destoweniger hat mir noch nie ein Wesen nur annähernd eine Neigung ein geflösst, das ich nicht durch näheren Umgang oder durch ihre Lebensgeschichte habe beurtheilen können. Man muss selbst ein Gesicht in den verschiedenen Stimmungen des
Lebens beobachten , um ein Urtheil fällen zu können, weil die Gesichtszüge erst dann den Schleier der Seele lüften,
wenn sie durch irgend eine Empfindung angeregt werden . Welcher unglaublichen Veränderung unterliegt nicht ein Antlitz , wenn es spricht oder lacht ! Eine schnelle, bei oberflächlicher Bekanntschaft erwachende Neigung hat zu
meist etwas Thierisches an sich, und ihre Heftigkeit beweist oft nichts, als dass derjenige, der sie fühlt, eine leicht erreg
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
345
bare Natur hat, und nicht gewohnt ist, seinen Leidenschaften
Zügel anzulegen. Während umgekehrt, wenn ein Mann langsam eine Neigung für Jemanden fasst, offenbar tiefer liegende Gründe und nicht oberflächliche Eigenschaften die Veranlassung sein können ; darum hat eine solche Neigung auch mehr Aussicht auf eine Dauer.
Alles, was ich bis jetzt in Bezug auf die Wichtigkeit und Nothwendigkeit bei Beurtheilung einer Neigung gesagt, wäre hinlänglich motivirt durch den Umstand , dass ja die
Frauen ihr Schicksal an den Gegenstand ihrer Wahl knüpfen , und mit ihm ihr Leben zubringen sollen. Noch wichtiger aber erscheint die Wahl vom Standpunkte der künftigen Generation , welche ja der Endzweck unserer Liebeshändel ist.
Das auf rein sinnlichen
und physischen
Motiven beruhende Verlangen mag immerhin Garantien bieten für physische Eigenschaften
der Kinder. Doch ist die Menschheit überhaupt nicht berufen, nur in physischer Beziehung sich zu vervollkomm nen, und selbst die physische Vervollkommnung, wofern man von der rohen Kraft absieht , ist nur die Frucht geistiger Cultur. Der gewaltige Unterschied , der zwischen einer Ureinwohnerin Australiens oder Amerikas und einer europäischen Schönheit selbst in physischer Beziehung besteht , ist nur durch die geistige Cultur von tausenden möglich gemacht worden.
Jahr
Der materielle, geistige und moralische Zustand der Welt ist eben das Werk der Menschheit , welcher dieser Planet anvertraut ist ; wir überlassen unseren Nachkommen
nicht nur die Welt mit ihren Schätzen und Lastern , voll brachten Culturarbeiten und Staatsschulden , gesetzlichen Zuständen und haarsträubenden Vorurtheilen , nein wir setzen selbst unsere Nachkommen in die Welt mit Anlagen
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
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und Dispositionen , denen wir das Werk von Millionen Jahren und Generationen anvertrauen !
Kann es also für ein weibliches Wesen , das ja auch
ein unentbehrliches Glied in der Weltbildung ist , gleich giltig sein, wer der Vater ihrer Kinder ist ?
Vielleicht steigen in einem schönen Kopfe, der dies liest , leise Zweifel aut , ob denn die Natur der Kinder
wirklich von den Eltern überhaupt und deren gegenseitigen Neigung insbesondere so abhängig sei , da man zwischen Eltern und Kindern oft so disparate Gegensätze findet ; und ob denn die Liebe allein Garantien bieten könne ?
Ich bin gewiss der Letzte , der die Menschen als ein rein chemisches Mischungsverhältniss der bekannten Eiweiss
verbindungen , aus denen die Zellen , diese Bausteine der
organischen Gebilde , bestehen , hinzustellen geneigt wäre. Die geheimnissvolle Kraft, die in den organischen Gebilden thätig ist , oder vielmehr selbe herstellt , mag noch 80
selbstständig und unabhängig sein , die Beschaffenheit und Natur des Keimes , welcher ihr in diesem Falle zur
Thätigkeit angewiesen ist, wird sie immer beeinflussen. Erleichtern wir durch ein Gleichniss unsere Verstän
digung.
Ein Rohr oder eine Saite geben keinen Ton , es ist ein Techniker, ja selbst ein Musiker nothwendig , um das Instrument zu erbauen und im bildlichen Sinne zu beleben.
Die Fähigkeiten und Erfahrungen des Musikers sind darum zweifelsohne ein Factor , doch nicht minder ist es das Instrument, das Werkzeug, das ihm zu Gebote steht. Der
selbe Musiker wird auf einer Orgel ebensowenig einen Walzer, als auf einem schwachen , schlechten Claviere eine Liszt'sche Fantasie spielen wollen und können ; er wird durch die Beschaffenheit seines Instrumentes selbst in seiner
Fantasie disponirt. Und so ist es auch mit dem Menschen .
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
347
Anlage, Erziehung und Erlebnisse sind Factoren auch in dem Falle, wenn sie nicht die einzigen sind , und man der Seelentheorie selbst weitgehende und unberechtigte Con cessionen machen würde. Wäre der Körper auch wirklich nichts anderes , als ein Instrument, als das Organ irgend einer Seele , einer Kraft, so ist es selbst in diesem Falle
in seiner ursprünglichen Anlage von entschiedener Wichtigkeit. Je erhabener aber eine Liebe ist , je mehr sie den thierischen Charakter abstreift , desto mehr sind die Be dingungen gegeben, welche für die Veredlung der Gattung vorausgesetzt werden müssen. Man sagt zwar mit Recht, je vollkommener die staatlichen, gesellschaftlichen und volks wirthschaftlichen Verhältnisse seien , desto gebildeter und cultivirter werde die Bevölkerung sein und werden. Doch eben so richtig ist es , wenn man behauptet , dass die Ein richtungen eines Staates um so vollendeter sein werden , je
vollkommener dessen Bürger sind. Es sind das Wechsel wirkungen , von denen sich jede auch als Ursache geltend machen kann. Materieller Wohlstand und Volksbildung Factoren, die sich ebenfalls gegenseitig hervorrufen — sind durchaus nicht wichtiger , als wahrhafte , echte Liebesver hältnisse.
Weil es zur Zeit wenigstens nicht möglich ist , dem Zuge des Herzens allein zu folgen , da für die Pflege und Ausbildung der Kinder das Familienleben in der Regel und materielle Mittel beinahe unabweisbar nothwendig sind , so
hat der Ehevertrag unter den gegebenen Verhältnissen allerdings seine Berechtigung, doch nur im negativen Sinne ; d. h. es mag gerade im Interesse der möglichen Erziehung der Nachkommenschaft eine Berechtigung gefunden werden,
ein liebendes Paar wegen der gegebenen Verhältnisse zu trennen , aber umgekehrt soll nie ein Bund geschlossen werden , weil die Verhältnisse zweier Menschen einander anpassend, und sie sich gerade nicht zuwider sind.
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
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Wer kann die Wichtigkeit der Paarung selbst in
körperlicher Beziehung bestreiten , da man doch so auf fallende Beweise an der Beständigkeit des National Charakters, wie z. B. der Juden hat, welche abgesehen von ihrer typischen Eigenthümlichkeit , unter allen Himmels strichen sich dem Handel und der Speculation , nicht aber der Industrie und Production zuwenden , blos weil man ihnen diese durch Jahrhunderte theils erschwerte, theils unmöglich machte , und das Vorurtheil sie zur Inzucht
zwang ! Nachdem aus dem Keime der ganze Organismus sich entwickelt, so ist es begreiflich, dass das Material einen entscheidenden Einfluss für alle Zeiten haben muss . Die
Beschaffenheit der Eiweissverbindungen scheint einen mass gebenden Einfluss auf Temperament, Energie und dadurch auf das ganze Leben zu haben. Die Sorge der Eltern , bei Verehelichung ihrer Kinder die materielle Seite in den Vordergrund zu schieben , oder gar als allein massgebend zu betrachten , beruht überdies
auf einer doppelten Illusion. Die grössten Tyrannen der Welt , der Zufall und die Einbildung, machen alle Combinationen über das zukünftige Glück eines Menschen illusorisch.
Der Zufall zertrümmert
ein Vermögen, vernichtet die Gesundheit, neue Verhältnisse aber ändern die Menschen , und selbst dort , wo die mate riellen Uebel nicht hinanreichen , treten die eingebildeten Leiden auf, und machen Glück und Unglück zu höchst
relativen Begriffen. Gibt es nicht unglückliche Reiche und glückliche Arme ?
Man wird in einzelnen Fällen allerdings mit viel Wahrscheinlichkeit auf die unglückliche Existenz eines Mädchens an der Seite eines bestimmten Mannes schliessen, niemals aber ihr Glück an der eines anderen verbürgen können.
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
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Dazu kommt , dass eine angenehme Existenz weit dies in der heutigen Welt überhaupt möglich ist
SO -
noch lange nicht den Zweck unseres Daseins bildet , und das schon darum nicht , weil bei unseren gegenwärtigen Zuständen die angenehme Existenz des Einen nur durch die unangenehme eines Anderen erkauft wird . Wenn ich Jemand 10.000 Gulden Renten gebe, damit er glücklich und angenehm leben könne , so setzt das schon voraus , dass es Andere gibt, die durch die Noth gezwungen sind, ihm ihre Arbeitskraft abzutreten . Der selbst nichts arbeitet, braucht um so mehr Andere, die für ihn arbeiten , als er grössere Bedürfnisse hat.
So nothwendig und unabänderlich dieser Kreislauf des Tauschsystemes auch ist , so beweist er allein schon
zur Genüge , dass der Zweck der organischen Welt nur in der Vervollkommnung liegen kann , durch welche allein
ein steigend angenehmeres Dasein für eine steigend immer mehr zahlreichere Menge erzielt werden kann
Wer nun könnte sich anmassen , zu behaupten , dass die angenehme und sorglose Existenz diejenige sei, die zur Vervollkommnung führt ? Schon die Apostel sagten : „ Wen ich liebe, den züchtige ich“ , und sagten weiter, dass die Reichen schwer ins Himmelreich eingehen.
Der Kampf im Leben
allein macht es möglich , dass sich ein Charakter erprobe und heranbilde, dass sich der Geist schärfe und das Herz erweitere. Das Bestreben, unsere Nachkommen nur für eine bebäbige Existenz in die Welt zu setzen und zu erziehen , ist daher ein fehlerhaftes.
Wer seinen Kindern ein unabhängiges Vermögen hinter lassen kann, der thut gewiss Recht ; doch soll so ein be mittelter Nachkomme nur der Arbeiter in einem höheren
Sinne sein , der sich den Wirkungskreis seines Schaffens
nach seinen Anlagen wählt, statt dass sie ihm durch die
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
350
Noth aufgedrungen werden . Zur Erfüllung dieses Berufes bedarf es jedoch abermals eines Menschen, der an Körper, Geist und Herz gesund ist, was unbedingt das grösste Gut der Welt ist. Das aber kann nicht die kalte Berechnung des Verstandes , nicht die Zifferhöhe des Vermögens,
sondern nur die einer höheren Quelle entspringende und zu
diesem
Zwecke
schaffen . Wenn man
von
der Natur eingesetzte
Liebe
der
Volks
und zwar mit Recht
-
bildung durch viele und gute Schulen eine hohe Wichtig. keit beilegt , wer könnte das , was aller Bildung vorangeht
die natürlichen Anlagen der Kinder nämlich – für unwesentlich bezeichnen ? Wodurch werden diese aber wesent
lich bestimmt , als durch die Eigenschaften der Eltern ? Nun braucht es aber gar keiner besonderen Beweisführung, es genügt , den Satz auszusprechen , um ihn sogleich für wahr anzunehmen : Dass so wie der Geschlechtstrieb über
haupt die Existenzen ins Leben ruft, dessen so veredelte und bis ins Unendliche steigerungsfähige Form die Liebe
den sichersten Führer und Leiter in der zu
treffenden Wahl also der Veredlung bilde. Dass die Frei heit der Wahl jene Grenze nicht überschreiten darf , wo die Bedingungen der Pflege und Erziehung der Kinder aufhören, ist selbstverständlich, weil die künftige Generation ja der Endzweck unserer Liebeshändel ist. Wir können also unter den gegebenen Verhältnissen nichts anderes thun , als die Töchter der Art zu steilen und zu erziehen , dass sie ohne einen Mann zu leben ver
mögen , und wenn sie dennoch eine Wahl treffen , so ist das Loos der Kinder ins Auge zu fassen , und sind von
diesem Standpunkte die Verhältnisse zu prüfen. Selbst die Abstammung ist berücksichtigenswerth. Schopenhauer hat ganz Recht, wenn er zur Veredlung der menschlichen Rasse Paarung von edlen , gutmüthigen Vätern und intelligenten
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
ich würde noch hinzufügen gesunden
351
Müttern in
Vorschlag bringt. Das Gegentheil hiervon , eine in ihrer Organisation beschränkte Mutter und ein seiner Gemüthsart
nach schlechter Vater erzeugen immer eine traurige, gefähr liche Generation, weil das Keimmaterial entschiedenen Ein fluss auf Organisation und Temperament übt. Das Zweite , was ebenfalls ohne Gesetzgebung (denn auf die darf man sich nicht verlassen ) in Angriff genommen werden könnte , sind Stipulationen in Bezug auf den Fall der Trennung , auf die Kinder u. s. w. Je mehr das ehe liche Verhältniss den Zwang verliert, und den Weg des Compromisses wandelt , desto ehrlicher und freier waltet die Liebe.
Unter allen Umständen kann ich es nur als ein Vor
urtheil erkennen , wenn man das heutige Institut der Ehe von der alle menschlichen Einrichtungen treffenden Be
stimmung der Wandelbarkeit und Entwickelungsfähigkeit aus nimmt. Gegenüber früheren barbarischen Zuständen war die
Ehe ein Fortschritt, der Zukunft gegenüber ist sie eine sich überlebende Institution , wofür schon die steigende
Lokerung und der Umstand sprechen , dass die relative Zahl der Ehen mit der Dichtigkeit der Bevölkerung im um gekehrten Verhältnisse steht.
Wäre der vom Mutterleibe abgetrennte menschliche
Embryo befähigt, wie ein Fischembryo für seine Entwicke lung selbst zu sorgen, so könnte es nichts Erlaubteres und
weniger Gemeinschädliches geben , als die Liebesfreuden eines jungen blühenden Paares. Alles, was die Menschen zum Geschlechtstrieb reizt , ist, unbewusst , die Garantie
eines für den Kampf ums Dasein geeigneten Organismus, 80 die schöne Gestalt, die schöne weibliche Brust , die schönen Zähne , das üppige Haar u . s. w. Der Umstand,
dass ein menschlicher Embryo noch andere Bedürfnisse hat,
Unsere geschlechtlichen Beziehungen.
352
legt oder soll wenigstens der Begierde Zügel anlegen , die natürlich um so complicirter werden , als es die Lebens. stellung der Betreffenden ist. Das Kind bedarf der wohlwollenden Sorge und Be handlung, der einsichtsvollen Leitung und Erziehung , wo soll der arme Wurm das finden , wenn nicht im Kreise einer Familie ?
Die Gesellschaft thut nichts und kann mit
ihren heutigen Mitteln oder vielmehr Schulden nichts thun. Daraus geht aber hervor , dass wenn jene Epoche ein treten wird , die wir, um einen landläufigen Ausdruck zu gebrauchen , das goldene Zeitalter nannten (Seite 159), einerseits diese heuchlerische Monogamie der Ehe quand même, andererseits die Prostitution (deren stete Begleiterin) verschwinden werden , hingegen die wahre ehrliche Liebe wie ein Phönix aus der Asche der Civilisation hervor gehen wird .
Wenn wir auf die geschlechtlichen Verhältnisse der Thiere einen Blick werfen , so finden wir , dass der männ liche Theil dem Geschlechtstriebe eigentlich immer zugäng lich ist, während der weibliche Theil – offenbar unbewuss
im Naturzustande nur periodisch und in solchen Zeit punkten seine Einwilligung gibt , welche für die Aufzucht des Nachwuchses die grösste Garantie bieten . Das ist der
Gesichtspunkt , von welchem aus auch der mit hoch ent wickeltem Bewusstsein ausgestattete Mensch ausgehen sollte. Das wäre heilsam für die bestehende und folgende Generation ,
Das Weib hat den Kampf ums Dasein zu kämpfen, wie der Mann, und soll sich der Liebe nur bingeben, wenn die Bedingungen gegeben sind, sowohl was die Eignung des Vaters, als die Aufzucht des Kindes anbelangt. Ein zweites
Mal wird es sich besser besinnen und gut überlegen , was
es zu thun hat ; denn selbst die am weitesten vorgeschrittene Gesellschaft wird die Eltern
immer in Mitleidenschaft
Unsere geschlechtlichen Beziehungen .
353
für die Verpflegung ziehen , und zweifelsohne in mit der Zahl der Kinder steigende Mitleidenschaft ! Die Geburten werden sich vermindern , die Keimanlagen und die Er
ziehung bessern , und die Familie wird in immer grössere Gruppen aufgehen , wodurch der Familien- Egoismus , die falsche Monogamie und die Prostitution zu Grabe gelegt werden.
Es wird also genau das Gegenstück unserer
heutigen Zustände zur Wahrheit werden, in denen sich das Weib gegen Versorgung verkauft, die Prostitution blüht, die Pflichten der Nächstenliebe vergessen werden , und überdies auf den kurzen Rausch eines liebenden Paares
sich in der Regel ein furchtbarer Katzenjammer einstellt ! Ich bin zwar ebensowenig ein Galilei , wie das Institut der Ehe ein Planet, aber ich kann mit voller Ueberzeugungs stärke über das Institut der Ehe meinen etwa protestiren den Mitmenschen zurufen :
„ E pur si muove !
Hellenbach , Vorurtheile. J,
23
V. Capitel. Das Recht der Lebensverneinung. Der schmerzlose Tod der Die doppelte Natur der Todesfurcht. eigentlich normale. - Die physischen Schmerzen keine Bedingung der Culturentwickelung. – Die Vergänglichkeit der Erscheinungsform und
der Person, die Unvergänglichkeit des Lebens und des Subjects. Sowie das Vorurtheil der Nothwendigkeit und Ewig
keit des Krieges den Uebergang zwischen den volks wirthschaftlichen und den politischen Vorurtheilen bildete und bilden musste , weil es in beide Gebiete hineinragt, ebenso bildet dieses Capitel den Uebergang von den gesellschaftlichen zu den religiösen und wissenschaft lichen Vorurtheilen ; es ragt ebenfalls in alle drei Arten von Vorurtheilen hinein.
Ich habe es aber nicht hinüber gezogen , sondern dem Schlusse der gesellschaftlichen Vorurtheile zugefügt, weil ich im Sinne der Vorrede den ersten Band vom zweiten
unabhängig machen wollte, und es meinen Lesern gegenüber für einen Fehler gehalten hätte, dass wir die Menschheit im Sterben gleichsam verlassen, nachdem wir ihre Schmerzen von der Wiege an untersucht , und so manches gefunden haben, was ihr schadet und was sie braucht :
Das Recht der Lebensverneinung.
355
In der Jugend die Bedingungen einer geeig neten Entwickelung ; Im Mannesalter stenz ;
das Minimum einer Exi
Auf der Neige der Lebenskraft ein schmerz loses Ende.
Für das gefürchtetste und doch unvermeidliche Uebel in der Welt gilt in der Regel der Tod, und zwar aus zwei Ursachen, erstens wegen der ihn gewöhnlich begleitenden Zustände und Schmerzen , und zweitens wegen der unbe
kaunten Folgen. Der Eine erwartet das Nichts, ein Anderer fürchtet vielleicht Strafe , die Mehrzahl ist im Unklareni und diese Ungewissheit, ob es ein Wiedersehen, ob es über
haupt ein Leben und welches gebe, wenn der Mensch aus gerungen , trägt viel dazu bei , die Schrecknisse des Todes
zu vermehren. Wer die Schmerzen des Todes beseitigen, und der Menschheit Gewissheit geben könnte , dass das
Leben irgend eine Art Fortsetzung bat , den würde sie gewiss für einen Wohlthäter halten .
Wir wollen uns aber
hier mit den physischen Schrecknissen befassen. Das
schmerzlose Einschlafen , der
Tod
an
Alters
schwäche , ist das eigentlich normale Lebensende , welches aber derzeit eine Ausnahme bildet. Skropheln und Seuchen , mangelhafte Entwickelung und unvernünftige Lebensweise
rufen Störungen im Organismus hervor, und man kann mit
aller Berechtigung sagen , dass fasst Alle eines unnatür lichen Todes sterben .
Es scheint fast, als ob der Jammer des Lebens mit
den Schrecken des Todeskampfes im geraden Verhältnisse stünde , und dass die letzteren mit einer höheren Cultur
entwickelung abnehmen sollten. Es ist dies auch ganz in der
Ordnung : je weniger Reiz als das Leben bietet, umsomehr muss die Natur den Austritt erschweren, wenn die Armeen
im Entwickelungskampfe nicht fahnenflüchtig werden sollen . 23 *
Das Recht der Lebensveraeinung .
356
Die Naturwissenschaft hat den grössten und verderb lichsten Theil der Krankheiten als die Folge von dem Eindringen, Entstehen und der Vermehrung von Pilzen insbesondere der Pathogenen - erkannt, eine gesunde Con stitution und eine vernünftige Lebensweise erschweren die Thätigkeit dieser verderblichen mikroskopischen Gebilde, und mag es nach und nach gelingen , auch die geeigneten Repressivmittel zu finden, wie wir an der Carbolsäure, der Salicylsäure , dem Natron u. a. m. schon welche gefunden . Der Tod wird sich voraussichtlich der Form von Alters
schwäche immer mehr nähern, wenn die Culturentwickelung
zunimmt ; gegenwärtig aber sind die Todeskämpfe mitunter furchtbar.
Die Wissenschaft hat nun auf unzweifelhafte Weise
den Beweis erbracht, dass sie die Empfindung der schmerz
lichsten Operationen beseitigen kann, und es ihr ein Leichtes wäre , die Bewusstlosigkeit bis zum Tode zu erhalten , den sie auf überraschend schnelle Weise in Scene setzen kann. Warum thut sie es also nicht ?
Wenn Jemand elend darniederliegt, jede Hoffnung einer leidlichen Herstellung des Organismus entschwunden ist, und er durch trügerische Hoffnungen getragen oder aus Todesfurcht oft unleidliche Schmerzen tragen will , so ist
das seine Sache; wenn aber einer es nicht will ? Wo ist ein vernünftiges Motiv zu finden , ihm seine Bitte zu verweigern ? Wer weiss , ob der Tod nicht alle
seine Schrecknisse verlieren würde, wenn die Ueberlebenden ihre Angehörigen sanft entschlafen statt dem oft furcht baren Todeskampfe unterliegen sehen würden ! Alle Einwürfe, die da gemacht werden , sind nicht stichhaltig. Gegen einen Missbrauch kann man sich schützen ; man kann die Bedingungen feststellen , unter
welchen die Lebensvernichtung des Lebensmüden zu er folgen hat. Selbst wenn die Lebensverneinung nicht aus
Das Recht der Lebensverneinung.
357
Untauglichkeit des Organismus erfolgt, sondern in der Un möglichkeit wurzelt, den Kampf ums Dasein zu bestehen, liat die Gesellschaft insolange als sie für Arbeit und ein Minimum der Existenz nicht aufkommt, kein Recht, irgend Jemand den Austritt aus dem Leben zu bestreiten oder zu
verweigern. Im Gegentheile, solche Individuen gefährden die Gesellschaft.
Jeder Lebensmüde erleichtert durch seinen Tod die
Existenz der Ueberlebenden , ob er ein Vermögen hinter lassen, oder dem Arbeiter die Concurrenz erleichtert; jeden falls macht er Platz und werden Nahrungsmittel disponibel, denn ein solches Individuum kann den Arbeitern in der
Culturentwickelung nicht mehr zugezählt werden .
Ist es
nicht lächerlich, wenn eine Gesellschaft sich dagegen sträubt, die da behauptet , dass der Planet für seine Productions fähigkeit übervölkert sei ?
Ob Jemand Recht daran thut , aus einem Leben zu scheiden , aus dem er nichts mehr zu machen weiss , ist eine andere Frage, die Jeder mit seinem eigenen Gewissen auszumachen hat, und auf welche wir später zurückkommen werden ; den Staat aber geht dies wahrlich nichts an. Rosig ist das Loos Derjenigen gewiss nicht , die zu einem solchen Entschlusse kommen ; wenn die Zahl der Selbst
mörder sich auch verzehnfachen sollten , nie wird sie ein Zehntel Procent der durch Krieg , Hunger und Elend zu Grunde Gehenden erreichen. Dem Tode die Schrecklichkeit
nach dieser Richtung benehmen , liegt also entschieden in
der Gewalt der Gesellschaft; dass sie es nicht thut , ist eine Frucht des Vorurtheils. Ist der Mensch nichts als ein chemisches Product der
Atome , so kann es doch keinen Anstand haben , wenn er einen Schauplatz verlässt, auf dem er nur sich und Andern
zur Last fällt; ist er im Sinne Schopenhauer's die Projection eines metaphysischen Willens, wer kann ihm das
Das Recht der Lebensverneinung .
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Recht abstreiten , das Leben zu verneinen ? Auch die von
Hartmann geforderte Hingebung an den Entwickelungs Process bildet kein Hinderniss ; denn für ein solches Indi viduum gibt es nichts mehr zu entwickeln , weder für sich
noch für Andere. Es bleibt also noch, uns als Gäste des Planeten , Erde genannt , zu betrachten . Wir werden uns
mit den möglichen verschiedenen Formen dieser Annahme noch befassen , unter allen Umständen aber ist es begreif
lich , dass ich aus einem Hause , wo ich nichts mehr zu thun habe , und wo es mir nicht gefällt, überdies den anderen Bewohnern noch lästig bin , und über alles das
doch einmal hinaus muss, lieber selbst gehe, als mich in der Weise hinauswerfen lasse, wie es Natur und Gesell schaft derzeit leisten.
Den Thieren erweist man die Wohlthat einer schnellen Tödtung um so sicherer , je lieber man sie hat , wenn ihr Zustand ein hoffnungs- und freudeloser geworden ist ; dem Menschen aber nicht !!
Die scheinbeilige Gesellschaft darf nicht vergessen, dass sie selbst im Sinne des Malthus'schen Satzes denkt und
handelt, der da lautet : „ Ein Mensch, der geboren wird in einer Welt, die bereits besetzt ist, hat, wenn seine Familie
nicht die Mittel besitzt , ihn zu erhalten , oder wenn die Gesellschaft seiner Arbeit nicht bedarf, nicht das mindeste Recht , irgend einen Antheil an Nahrungsmittel zu bean spruchen,
Er ist überzählig in der Welt , überflüssig auf
Erden ; für ihn ist kein Platz gedeckt am grossen Tische
der Natur. Die Natur gebietet ihm , sich wegzuscheren. und wird nicht säumen, diesen Befehl selbst in Ausführung zu bringen .“ Und aus einer solchen Welt soll ich nicht das Recht.
haben, auszuscheiden, wenn es mir gefällt ? – Macht Euch nicht lächerlich , meine Herren !
Insoweit es sich um die
Pflichten gegen sich selbst und nicht gegen Andere handelt,
Das Recht der Lebensverneinung.
359
so habe ich das Recht , in eine Gaserzeugungs-Anstalt zu gehen und meine Leiche gegen den Freundschaftsdienst zu verkaufen , mich mit allen der Wissenschaft zu Gebote stehenden Mitteln schmerzlos aus der Welt zu schaffen .
Ich habe das Recht , meinem Arzte zu sagen , dass ich
Schmerzen dulde, dass mein Organismus schadhaft wird, dass ich die kurze Spanne Zeit weder für mich noch für Andere nutzbringend zu verwenden weiss, ihn daher notariell auffordere, mich bestens aus der Welt zu expediren . Die physischen Todesmartern wären also leicht aus der Welt zu schaffen .
Sollte ich aber auch der Natur der Weltordnung
gegenüber das Recht nicht haben , so ist das meine An gelegenheit , der Gesellschaft gegenüber habe ich es , und diese bat nicht nur kein Recht , mich daran zu hindern, sondern ist schon aus Rücksichten der Humanität ver
pflichtet, das Unabänderliche und Schmerzliche so wohl wollend als nur möglich zu erleichtern. Dass der biologische Process kein Wirthshaus ist , weiss ich auch , aber es gibt eben Verhältnisse, wo jeder denkbare Zweck desselben zur Unmöglichkeit wird . Wer zum Entschlusse der Lebens
verneinung gelangt, hat Dornen genug im Lebenspfade ge funden , um ihm den letzten Kelch der Leiden zu ersparen !
Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, dass der bio logische Process ein Entwickelungs - Process ist , und dass alle unsere Kämpfe und Leiden ein nothwendiges Product dieses Processes sind ; darum ist es feig, vor Widerwärtig keiten zurückzuschrecken und den Kampf aufzugeben , der
allein unsere eigene und fremde Entwickelung fördern kann. Es ist geradezu unverantwortlich, wenn ein Familienvater seine Kinder noch hilfloser zurücklässt , lediglich , weil ihm der Kampf unerträglich geworden. Alles das hat aber nicht allgemeine Giltigkeit; was für Vortheile soll meine oder eine fremde Entwickelung davon haben, wenn mich ein un.
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Das Recht der Lebensverneinung.
heilbares Uebel martert, erwerbsunfähig und hoffnungslos macht ? Was soll es nützen , das Absterben durch Mangel an Nahrung noch einige Zeit zu verlängern ?
Es gibt auch Fälle , wo das Schicksal im bürgerlichen und politischen Leben den Knoten derart schürzt, dass der Selbstmord möglicherweise geradezu zu einer schönen That wird.
Kant war in Bezug auf die Erhaltung der Persön lichkeit des Subjectes der Sittlichkeit so streng, dass er das Abschneiden der Haare , „ wenn es zum äusseren Erwerb beabsichtigt wird “, nicht ganz schuldfrei erklärt; und doch reiht er unmittelbar daran casuistische Fragen , ob unter Umständen ein Selbstmord nicht gerechtfertigt wäre, z. B. der Selbstmord eines Curtius, Seneca, eines von der Wasser scheu Ergriffenen u. s. w. , welche Fragen er aber nicht beantwortet. Daraus ist zu schliessen, dass er es mindestens für zweifelhaft hielt ; aber weit wahrscheinlicher ist es, dass
er die Lebensverneinung unter Umständen für zulässig hielt, aber bei der damaligen Macht der Kirche und dem vor mundschaftlichen System der Regierungen seine Ansicht in einem praktischen Fall nicht aussprechen wollte, der durch
das Gesetz verdammt war. (Anthropologie von der Selbst entleibung.) Selbst wenn man Plichten gegen Andere hat, so kann
es manchmal in Frage kommen , ob man diesen Pflichten durch den Tod nicht besser als durch das Leben nachzu kommen vermag.
Den moralischen Richter in allen diesen so complicirten Fällen zu machen , ist die Gesellschaft oder der Staat wahrlich nicht befähigt und nicht berufen . Ich räume dem Staate nicht nur das Recht ein , die
Frage über das Motiv der Lebensverneinung zu stellen, im Gegentheile, ich halte es geradezu für dessen Pflicht, durch geeignete Mittel Uebereilungen zu verhüten , etwa wie dies
Das Recht der Lebensverneinung.
361
beim Uebertritte in eine andere Religionsgenossenschaft üblich ist ; dem ernstlichen Entschlusse aber, zumal wenn er in physischen Leiden seine Veranlassung findet, sollte der Staat nicht hindernd in den Weg treten. Es würde eine unendliche Beruhigung in dem Bewusstsein liegen , dass es eine ultima ratio gibt , die mich ohne Martern sanft aus einem Leben führt , dem ich keinen Reiz mehr abge winnen kann .
Uebrigens wäre es immerhin schon ein Fortschritt, wenn das Recht der Lebensverneinung wenigstens auf dem Krankenlager anerkannt würde. In einer gut organisirten Gesellschaft könnte der jetzt so häufige Selbstmord nur bei wirklich Gehirnkranken vorkommen. Die moralischen und Seelen- Leiden sind für die Ent
wickelung nicht ohne Werth, denn sie sind es, die uns die Reife und Genussfähigkeit geben , ein Gegenstand , der im nächsten Buche näher besprochen werden wird. Ganz anders liegt der Fall, wenn es sich um Beseitigung
jener Todesfurcht handelt , die in der Ungewissheit , ob es ausser dem biologischen , uns bekannten Sein noch ein anderes gibt und geben kann , ihre Wurzel bat ; und falls es ein solches Leben gibt
was bei der Unendlichkeit des Weltalls nicht unwahrscheinlich ist - ob dieses mit
uns in einem Zusammenhange steht , d. h. ob für uns ein solches in Aussicht zu nehmen ist.
Ich will diesbezüglich nicht vorgreifen , weil das ein
Gegenstand des nächsten Buches sein wird, aber im Interesse
des gerundeten Abschlusses (siehe Vorrede) glaube ich Folgendes zufügen zu sollen. Was die erste Seite der Frage anbelangt , so haben vielseitige Erfahrungen besonders in neuerer Zeit Anhalts
punkte für die Annahme ergeben , dass es ein solches Sein gibt.
Das Recht der Lebensverneinung.
362
Der Beweis eines uns unbekannten Seins , ausserhalb
des uns bekannten biologischen Processes , kann uns mit einer gegründeten Hoffnung erfüllen , aber eine Gewiss heit würde das noch nicht bieten , dass diese Existenz unsere Zukunft sei , wohl aber erlaubt uns eine Reihe anderer Erfahrungen das mit einer an Gewissheit grenzen den Wahrscheinlichkeit anzunehmen.
Unsere ganze Persönlichkeit ist eine durch einen Zellenorganismus hervorgebrachte Vorstellung , welche mit
diesem nothwendig zu Grunde geht. Für den Beweis nun, dass unsere vorgestellte Persönlichkeit überhaupt nichts
anderes ist, als die durch einen Zellen-Organismus bewerk stelligte in drei Dimensionon vorstellende Erscheinungsform irgend einer Wesenheit, glaube ich schon in meinen beiden
früheren Schriften schwerwiegende Argumente angefübrt zu haben.
In meiner „ Philosophie d . g. V. “ finden sich solche schwer wiegende , aus der Erfahrung genommene Beweis mittel für eine tiefer liegende, in ganz anderen physikalischen Verhältnissen und Raumdimensionen sich bewegende Wesen heit der menschlichen Natur überhaupt , und in meinem
„ Individualismus“ stellt sich bei Kritik der ver schiedenen Biologien und philosophischen Systeme heraus, dass ohne eine solche Annahme die ersteren unmöglich, die letzteren mindestens unverständlich sind .
Ich muss den
sich dafür interessirenden Leser auf diese Schriften ver weisen.
In dem folgenden Buche werden die Beweise noch
derart vermehrt werden, dass der aufmerksame und objective Leser auch über diese Seite der Todesfurcht gründlich be ruhigt werden wird.
Das Leben hat eine Fortsetzung , diese besteht aber wahrlich nicht in einer ewigen Glückseligkeit oder Strafe ; die durch den Organismus zur Darstellung gebrachte Person geht zu Grunde ; das dieser Person zur Unterlage dienende
Das Recht der Lebensverneinung.
363
Subject bleibt ; das Glas der Weltanschauung ändert sich allein , und nicht die Welt.
Diese Sätze stehen mit den
allgemeinen , theils naturwissenschaftlichen, theils religiösen Anschauungen im grellen Widerspruche. Es wird Sache
des nächsten Buches sein, diese allgemeinen Anschauungen als ererbte Vorurtheile zu entlarven , und die Religionen ihres göttlichen Nymbus , die Naturwissenschaften ihrer Anmassung zu entkleiden , und als das zu zeigen , was sie
wirklich sind! Die ersteren sind „aus unbewusster Quelle ins Bewusstsein tretende Allegorien “; die Naturwissenschaften sind „ Anwendungen des Causalitätsgesetzes auf die Er scheinungen , auf die Materie“ , wobei aber der behandelte Stoff in seiner Wesenheit unbekannt , und das Causalitäts gesetz unseren Anschauungsformen entsprechend, also relativ
ist. Daraus folgt, dass es mit der Infallibilität der Religionen und Naturwissenschaften nicht weit her ist , da die einen nur bessere oder schlechtere Bilder, die andern nur relative
Wahrheiten enthalten , und dass daher beide an über nommenen Vorurtheilen keinen Mangel leiden werden. Doch brechen wir ab. Ich hoffe und wünsche, meinen Leser auf diesem Boden wiederzufinden , und wenn er diesen Wunsch theilt, so habe ich Alles erreicht, was ich erreichen konnte und wollte , denn ich suche Bundesgenosser
Die
Menschheit hat sich durch Jahrtausende den Kopf zer
brochen , woher das Uebel in die Welt gekommen , es ist einmal Zeit , sich mit der Frage zu beschäftigen , wie es
aus der Welt hinauszuschaffen wäre ; je grösser nun die Zahl derjenigen ist , die sich damit befassen, desto leichter wird es sein, die Vorurtheile zu brechen.
Druck von ( swald Mutze in Leipzig .
Namens - Verzeichniss der im ersten Bande genannten Schriftsteller. Aristoteles . Bastiat Caird
Seite 51 . 169. 64. 170.
Carlyle Carey .
17, 21 , 36-39, 43-51, 71 , 72, 78, 169, 236, 237.
Carus .
99
293.
Czörnig
23 .
Darwin
159, 280. 141 , 328.
Dübring : Fourier
51–54, 64-66, 77, 99, 125 , 144, 166–169, 173 , 174, 180, 263, 265. 299, 339, 340. 135, 239, 240, 241.
Fröbel Göthe Gotschall Häckel
72.
311, 315 . >
Hartmann
.
Haushofer
Humboldt, Alex. Heine .
Jäger, Gust. Kant
53.
109, 141, 179, 185, 187, 241, 358 . 155. 16. 269. 155 .
54, 121, 153, 185-190, 326, 360.
.
Lange
6, 14, 35, 45, 48, 50, 63, 71–83, 93, 100, 135 bis 139, 149, 157, 165, 253. 27, 34, 35, 62–66, 78, 128, 239.
Lassalle Lazarus
238.
Le Maire Lilienfeld Malthus Marx Plato
292.
26, 32, 67, 200.
14, 17, 21, 23, 69, 138, 159. 35, 74, 76, 137.
Pfleiderer, Eilm .
51, 200. 163.
Proudhon
25, 62, 70, 99, 142, 144.
Quesnay .
31.
Riccardo .
22, 35, 69, 100, 159.
Rousseau
307. 319–325 . 307,
Riehl Schiller
Schopenhauer
141, 179, 253, 262, 263, 265, 278 , 327, 357.
Schultze Schuster
71 , 162.
Shakespeare Smitb, Ad .
.
Stamm
Steinthal Viko Waitz . Wallace
Zöllner
277. 280.
31 , 32, 67 , 200 . 77 . 238 . 238 . 271 . 170 . 98.
Hellenbach :
Die Vorurtheile der Menschheit.
Zweiter Band.
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Sämmtliche Werke von L. B. Hellenbach : Die Vorurtheile der Menschheit. Dritte verm. u. verb. Auf . 3 Bde. gr. 80. 1048 S. Brosch. M. 12.-, geb. M. 16.50. I. Band : Volkswirthschaftliche Vorurtheile. Politische Vorur. theile.
Gesellschaftliche Vorurtheile.
II. Band : Vorurtheile in Religion und Wissenschaft.
III. Band : Die Vorurtheile des gemeinen Verstandes. ( Einzelne Bände werden nicht abgegeben .)
Eine Philosophie des gesunden Menschenverstan des. Gedanken über das Wesen der menschlichen Erscheinung. 290 Seiten. Brosch. M. 4.-, geb. M. 5.50.
Der Individualismus im Lichte der Biologie und Philosophie der Gegenwart. 272 Seiten . Brosch . M. 4.-, geb. M. 5.50.
Geburt und Tod , oder : Die Doppel- Natur des Men schen .
325 Seiten .
Brosch . M. 6.- , geb. M. 8.-,
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Brosch. M. 4.–, geb. M , 5.50.
Die Insel Mellonta. 2. Aufl. 248 S. Brosch. M. 3, geb. M. 4. Seitenstück zu Bellamy's „ Rückblick auf das Jahr 2000 “ . Der Kampf am Rhein und an der Donau. 40 Seiten . 1887 .
Preis M. -.50.
Mr. Slade's Aufenthalt in Wien . meine Freunde.
Ein offener Brief an Preis M. 1.
44 Seiten.
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68 Seiten .
Preis M. 1.20.
Ist Hansen ein Schwindler ? Eine Studie über den animali Preis M. –,50 . schen Magnetismus. 38 Seiten.
Die antisemitische Bewegung . 56 S. gr. 80. Pr. M. 1. Die Occupation Bosniens und deren Folgen . 52 S. Preis M. 1.20.
Der ungarisch - kroatische Conflict. 17 S. Preis M. –.50. Die Logik der Thatsachen . Eine Entgegnung auf die Broschüre „ Einblicke in den Spiritismus“. ( Von Erzherzog Preis M. 1. Jobann). 40 Seiten. 8 °. 5. Auflage. Das neunzehnte und zwanzigste Jabrhundert . Kritik der Gegenwart und Ausblicke in die Zukunft. Mit einem Vorwort von Dr. Karl du Prel . Preis M. 3.-, geb. M. 4.-.
Hellenbach , der Vorkämpfer für Wahrheit und Menschlichkeit . Abbildungen.
Skizzen von
Dr.
Hübbe-Scheiden. Mit Preis M. 1.80.
Oswald Mutze, Verlagsbuchhandlung in Leipzig.
DIE VORURTHEILE DER
MENSCHHEIT. VON
L. B. HELLENBACH .
DRITTE AUFLAGE IN DREI BÅNDEN .
ZWEITER BAND.
LEIPZIG , DRUCK UND VERLAG VON OSWALD MUTZE . 1893.
Alle Rechte vorbebalten.
An den Leser. In den Vorurtheilen von Religion und Wissenschaft herumstöbern , heisst in ein Wespennest greifen ; weil Un fehlbarkeit und Grössenwahn nirgends so zu Hause sind, als in den Kreisen der religiösen und wissenschaftlichen
Monopol -Inhaber , namentlich gilt es für unschicklich und gefährlich, die religiösen Fragen aufzurütteln. Diese Aengst lichkeit der Gemüther entspringt theils religiösen Ueber
zeugungen, theils socialen Besorgnissen. Was nun den ersten Punkt anbelangt, so möge der Leser darüber beruhigt sein , dass ich das Religionsbedürf niss für kein Vorurtheil , sondern für ein Privilegium der Menschheit halte ; nicht die Religion , wohl aber so manche religiöse Anschauungen und Gepflogenheiten sind ein Vor urtheil ; man kapd z. B. der christlichen Anschauung des irdischen Pessimismus und transscendenten Optimismus bei
pflichten , ohne darum alle Consequenzen , die seine Nach folger gezogen , zu billigen und anzuerkennen ; man kann die Gottheit jenseits aller menschlichen Erkenntniss liegend annehmen und sie daher gänzlich aus dem Spiele lassen, ohne darum ein Gottesläugner zu sein.
Was die Besorgnisse in socialer Beziehung anbelangt, so gipfeln sie in der Anschauung , dass man durch Zerstö
IV
An den Leser.
rung religiöser Vorurtheile nicht dazu beitragen solle, dem leidenden Theile der Menschheit eine tröstende Illusion zu
nehmen. Ich bin auch weit entfernt, das zu thun , im Gegentheile , ich werde vielmehr das zerstören , was die
Menschen irreligiös macht, und den schädlichen Einfluss der religiösen Vorurtheile in wirthschaftlichen, politi schen und gesellschaftlichen Dingen kaum berühren, weil dieser dann von selbst aufhört. Die vielen Feiertage, die der europäischen Bevölkerung vielleicht 1000 Millionen Gulden jährlich kosten , der Missbrauch religiöser Empfin
dungen zu politischen Zwecken, die Besteuerung der Geburt, des Todes und der Ehe – das sind alles Uebelstände, welche aber zum Theile die natürliche Frucht des Kampfes
ums Dasein und der Intoleranz sind. Die Religionen ruhen in Peking, Bagdad und Rom auf der Autorität eines gött lichen Gesetzes , eines fremden Moralprincips , daher bona fide die Berechtigung zur Intoleranz, in letzter Consequenz
zum Scheiterhaufen . Dort muss die Sache gepackt werden . Ich werde mich demzufolge nicht in den bekannten libe. ralen Gemeinplätzen bewegen , umsoweniger, als ja die Parlamente den Kampf fast überall aufgenommen haben, der von beiden Seiten mit viel Leidenschaftlichkeit und
wenig Objectivität geführt wird. Ich werde tiefer greifen. Was die Vorurtheile in der Wissenschaft anbelangt, so ist es klar , dass jede extreme Richtung eine Reaktion
hervorruft, die dann in der Regel auch ihrerseits alles Maass überschreitet, und im Sinne der Entwickelungsgesetze wieder durch den Gegensatz abgelöst wird – aber in anderer und zwar veredelter Form.
Alles wird in dieser Welt unter
Schmerzen geboren ! Es kann nicht Wunder nehmen , dass auf eine Epoche, wo hinter jede mit unerbittlicher Nothwendigkeit wirkende,
aber unverstandene Naturkraft ein Gott , zu jeder Quelle
An den Leser.
V
eine Fee, in jedes Schloss ein Geist gesetzt, und im Namen Gottes die furchtbarsten Greuel verübt wurden , eine Zeit kommen musste , wo jede Zweckthätigkeit geläugnet, der Mensch als das mechanisch - chemische Product mikroskopi
scher Zellen bingestellt , und das ungeheure Weltgebäude
auf die kümmerliche Hervorbringung und Existenz von lebenden Wesen einiger Planeten beschränkt wurde. Diese ganz legitime und begreifliche Reaction schoss über das
Ziel und erzeugte durch Gewohnheit und Autorität die modernen wissenschaftlichen Vorurtheile.
Religiöser Wahn und philosophische Speculation haben in den verflossenen Jabrhunderten allerdings so wunderliche
Blasen geworfen und solche Vorurtheile geschaffen , dass man es den Naturwissenschaften nicht verargen kann , wenn sie sich mit Ekel abwendeten , tabula rasa machten , und sich nur auf das beschränkten , was sie an der Hand der
Erfahrung in den Bereich ihrer Untersuchung ziehen konnten .
Dieses Material wuchs nunmehr so mächtig an , dass in den Naturwissenschaften eine unausweichliche und wohl
thätig wirkende Zersplitterung in zahlreiche Fächer eintrat.
Diese Zersplitterung und Specialisirung lieus aber die Natur forscher allmälig vergessen , dass sie ihr Gebiet selbst beschränkten , und die weitaus grössere Zahl derselben lebt
in dem Wahne und Vorurtheile, dass die Natur oder unsere Naturerkenntniss jene Schranken habe, die sie – die Forscher – sich selbst gezogen. Sie stellen sich auf den Standpunkt des Richters , der da sagt : Quod non est in actis, non est in mundo !
Die Mehrzahl dieser Fachgelehrten kommt mir vor,
wie der Nachwuchs in einem Thiergarten , für den die Welt ausserhalb der Einfassung nicht existirt.
Das Erste und
Nothwendigste ist daher , diese Schranken niederzureissen
VI
An den Leser.
und den Gesichtskreis zu erweitern , auf die Gefahr hin, dass der Eine oder der Andere abspringt , sowie denn das Wild ein Loch in der Umzäunung auch nicht benützen will, und wenn gewaltsam hinausgedrängt, ängstlich um den Zaun herumläuft.
Der Leser muss daher entschuldigen , wenn ich hie und da mit der Thüre ins Haus falle ; aber ich muss zwei grosse Löcher in zwei Mauern schlagen , da die vielen
kleinen Oeffnungen immer unbenützt blieben. Die eine Mauer ist die göttliche Autorität der Offen barung aller der verschiedenen Religionen , die uns ein heteronomes , zumeist ungenügendes Moralprincip aufge zwungen ; die andere Mauer ist die von den Naturforschern
freiwillig gezogene Schranke , welche sie für Alles blind macht , was jenseits dieser Schranke liegt. Das ist es , was ich dem Leser in Bezug auf den Inhalt sagen wollte, doch muss ich bemerken, dass ich ihm
kein Recht zuerkenne, ein Urtheil über das Buch abzugeben, bis er nicht die letzte Seite gelesen , da ich erst in den
drei letzten Capiteln in der Lage bin, zu einer Verständigung mit dem Leser zu gelangen. Schopenhauer sagt irgend wo , dass die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Welt anschauung sich am besten in der Anwendung auf die Welt prüfen lasse, analog der Lösung eines Räthsels, die auf alle gegebenen Bestimmungen passen muss. Nur derjenige Schlüssel kann der rechte sein , der das Schloss öffnet. Würde meine Arbeit gleich anfangs eine Befriedigung
hervorrufen , so wäre der Titel des Buches verfehlt, ich hätte nicht über Vorurtheile geschrieben . Ich fühlte mich weiters verpflichtet, die sonderbare Form der Behandlung meinem Leser gegenüber zu recht fertigen. Die religiösen Vorurtheile sind ein sehr wichtiges, die wissenschaftlichen Vorurtheile ein sehr schwieriges Thema,
An den Leser.
VII
sie stehen beide wenigstens mit einem Fusse in dem ver pönten transscendenten Gebiete , welches der Mehrzahl der
Leser fremd ist. Die Religion oder Weltanschauung , und in deren Consequenz das Moralprincip der Menschen , ist für die Culturentwickelung so massgebend , dass ein jeder Schriftsteller, der in diesen Fragen herumwühlt, eine grosse Verantwortung übernimmt , die selbstverständlich mit dem Einflusse wächst , den er ausübt. Es ist daher vor Allem nothwendig , dass er seine Gedanken klar darstelle , damit er nicht missverstanden werde.
Nachdem aber auf keinem
Gebiete so zahlreiche Einwürfe zu erwarten sind , als auf
diesem, und ein einziger nicht beantworteter Einwurf genügt, den weiteren Aufbau des ganzen Gebäudes in Frage zu stellen, so musste ich es mir angelegen sein lassen , alle
Einwürfe zu berücksichtigen , die mir im mündlichen und schriftlichen Wege als die häufigsten vorgekommen , wenn
es sich um diese Fragen handelte.
Das würde nun am
besten der Dialog leisten. Ich habe aber kein Talent für
dramatische Darstellung , und beschränkte mich darauf, durch Widerlegung von Einwürfen und Vergleiche mit ent gegengesetzten und verwandten Ansichten den Gegenstand zu verdeutlichen.
Die heteronome Autorität, sei es nun die der
Kirche oder der Universität , schlägt bei unselbst ständigen , oberflächlichen oder nur im praktischen Leben befangenen Menschen so tiefe Wurzeln , dass es in erster Linie sehr viel zu bekämpfen gibt. Ein altes Sprichwort
sagt, man könne es nicht Allen recht machen ; ich habe den Nachtheil, es Keinem recht zu machen. Aus den Recensionen des ersten Bandes konnte ich ersehen , dass der Eine gerade das tadelte , was ein Anderer lobte ; weil man sehr leicht ein Vorurtheil überwunden haben , und doch tief in einem anderen stecken kann ! Ich kann mit
Bestimmtheit darauf rechnen , dass ich alle Priester aller
VIII
An den Leser,
Religionen und die meisten Naturforscher zu Gegnern haben werde ; nichtsdestoweniger hoffe ich sie beide im IX., X. und XI. Capitel wieder etwas auszusöhnen, welches X. Capitel mir allerdings wieder die Spiritualisten übelnehmen werden, die uns so viel von der transscendenten Welt erzählen, von der sie doch ebensowenig wissen können, als wir durch ein rothes Glas die Welt blau zu sehen vermögen.
Wenn ich
aber nach Wahrheit streben und Vorurtheile bekämpfen will , so habe ich eben keine anderen Mittel und Waffen , als
Objectivität in der Auffassung und Rücksichtslosig
keit in der Beurtheilung !
Durch Zerlegung der grösseren Capitel in kleinere Abschnitte sind hinlängliche Ruhepunkte gegeben, um das Lesen leicht zu unterbrechen, was mitten im Texte zu thun ich dem Leser widerrathen würde.
Die Erfahrung, die ich an den Recensionen des ersten Bandes gemacht , haben mir bewiesen , dass es noth thut , den Begriff des Vorurtheils festzustellen . Es hat sich nämlich gezeigt, dass Einige den Ausdruck : Vorurtheil mit unrichtigem oder übereiltem Urtheil gleichbedeutend halten ; ja Einer hat sogar geglaubt , ein Vorurtheil sei etwas, was dem Urtheil vorangeht, was ohne Urtheil gedacht wird oder geschieht. Der gute Mann scheint nicht zu wissen , dass unsere einfachsten Vorstellungen und Empfin dungen schon Urtheile sind. Ein Vorurtheil ist ein auf die Autorität Anderer in der Regel unserer Vorgänger - sich stützendes,
geerbtes oder anerzogenes , jedenfalls fremdes Urtheil, das längere oder kürzere Zeit, je nach Pietät, Gedankenlosigkeit oder Unkenntniss der Nachkommen in Ansehen steht ; in der Regel brechen es die Zeit und vermehrte Erfahrung.
Weil wir uns aber in Allem auf die Erfahrungen und Urtheile unserer Vorfahren stützen müssen , so ist es be
An den Leser.
IX
greiflich , dass es auf allen Gebieten des Lebens Vorurtheile gibt. Die religiösen Anschauungen ruhen gänzlich, die wissen schaftlichen theilweise auf fremder Autorität.
Das ist Alles , was ich dem Leser zu sagen habe, bevor er sich in dieses tiefernste und doch phantastische
Gebiet begibt. Wien , den 3. September 1879. Der Verfasser.
Inhalt . Seite
Vorwort.
Viertes und fünftes Buch : Vorurtheile in Reli . gion und Wissenschaft. I. Capitel.
Der Gottesglaube.
Gott als Unterlage der Weltordnung und Naturbetrachtung . - Die Natur als Unterlage für den Gottesbegriff. – Die Gottesläugner.
1
II. Capitel. Die religiösen Vorurtheile.
Die gemeinschaftliche Quelle der Offenbarungen. – Die christliche Offenbarung.
Das Prophetenthum der Neuzeit. . III. Capitel.
.
17
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
Deren Entstebung.
Deren Folgen
56
IV. Capitel.
Die bebauptete Existenz anderer Wesensreihen. 1. Die behaupteten Thatsachen der Neuzeit 2. Die Einwürfe gegen die bebauptete Existenz anderer Wesens. reihen . .
7+ 97
V. Capitel.
Die vierte Raumdimension.
Deren Erschliessung im Wege der Speculation, der Analogie und der Thatsachen .
Werth der Hypothese.
Einwürfe ... 114
XII
Inhalt. Seite
VI. Capitel.
Die Identität der projicirenden Kräfte innerhalb und ausser halb des Zellen - Organismus. 1. Die Organprojection. Die Thatsachen der Organprojection obne Zellen. Das Problem der Organprojection durch Zelled. Einwürfe. Die Seele Haeckel's und Jäger's . 2. Die vierdimensionale Raumanschauung innerhalb der -
134
menschlichen Erscheinungstorm . Das Fernsehen im Raume, in die Vergangenheit und Zukunft ein physiologischer Vorgang.
Das unbewusste Schaffen.
Fernwirkung Hansen's . . 3. Die Identität der Sprache
-
Die .
152 164
.
4. Einwürfe
168
5. Zusammenfassung .
171
VII. Capitel,
Der Eintritt in den biologischen Process. 1. Die Palingenesis als unvermeidliches Postulat der Entwicke lungs-Theorie und jedes individualistischen Systems . . 2. Die Einwürfe des gemeinen Verstandes 3. Die entgegenstehenden Systeme der Philosophen
175 187 196
VIII. Capitel .
Die verwandten Anschauungen der neueren Zeit. Gustav Th . Fechner. D. Heinrich Schindler. Gotthold Lessing. – D. G. Russel Wallace. Zusammenfassung mann . H. v . Kleist.
Alfred
Widen
-
.
203
IX . Capitel. Die Erhaltung der Kraft das einfachste und einzig brauch bare Moralprincip.
Das Moralprincip des Das Moralprincip des Materialismus . Das Moralprincip des transscen metaphysischen Monismus. Das Moralprincip Kant's und Christi 239 denten Individualismus.
Inhalt.
XIII Seite
X. Capitel. Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
Die Divergenz der Ansichten. Die drei Arten des Contactes. Die Werthlosigkeit des unbewussten Schreibens. Die Vision eine unvermeidliche Quelle des Irrthums. Die Methode Zöllner's der einzige schmal bemessene Weg XL. Capitel.
261
Zusammenfassung und Schluss.
Die Prüfung der Unterlagen und Schlüsse. – Die Opposition der Priester und Naturforscher .
Das angestrebte Ziel . .
282
Namen - Verzeichniss der im zweiten Bande genannten Schrift steller .
XV
Namens -Verzeichniss der im zweiten Bande genannten Schriftsteller. Adami. Adler
Seite EO.
Flammarion . 67, 76. Fourier Charles.
182 , 185 , 205,
227, 299.
Agassiz. 95.
Agrippa V. N. 39, 153.
Galilei.
Anaxagoras. 10. Apulejus. 39.
Gauss. 65, 115 , 122, 285, 289. Goethe . 1, 15, 17, 56 , 60 , 74 , 95, 114 , 133 , 134, 175 , 239, 255,
Aristides.
153.
Aristoteles. 57 .
AureliusPrudentius. 39 . Baader.
204.
Babosen . 179, 196. Bertoletti. 52 . Biedermann.
3.
Böhme. 39, 178. Büchner.
135 .
Cabagnet. 178, 268. Carus.
145 .
Cicero. 159, 255.
Comte August. 68 . Crookes . 67, 76 , 78, 87 , 92 , 93, 282, 285, 286.
63.
281.
Güldenstubbe. Haman . 20.
164 .
Hare. 67, 76 . Hartmann , Ed. v .
20 , 58 , 103,
116 , 171 , 179 , 182, 196—202, 215 , 218 , 239 , 243 , 252, 254, 287 . Hase. 3.
Haeckel. 92–94 , 103, 135 , 143, 146–148, 183, 201, 226 . Hegel, 3, 6, 7.
Cuvier. 95 . Davaine. 106.
Helmholtz. 65, 103 , 115 , 285 . Heraklit . 10, 180, 185 . Herbart. 68, 171, 177, 196, 237. Herder. 28, 47.
Davis. 178, 263, 268. Darvin . 57, 146 , 182, 226.
Hobes. 27. Holbein. 240.
Demokrit. 57 .
Jäger Gustav. 149, 150 277. Kant. 12, 18, 21, 47, 57 , 58 , 61 , 62, 65, 65, 68, 69, 71 , 72, 75, 94-96,
Drossbach. 196, 229, 296—298 .
Dubois Reymond. 12. Duhring. 114. Edmunds. 84 .
Empedokles. 185.
99, 108, 115 , 120 , 122 , 131, 133 , 134 , 146–148, 164, 173, 183 , 218 , 235 , 236 , 240 , 254,
Fechner . 3, 5, 89, 203—217, 240. Fichte, Joh. Gottl. 3, 6, 257.
256 , 259, 260, 285, 287 , 289. Keppler. 12, 62, 169, 285, 298.
Fichte, Im. Her. 3, 100, 103, 196,
Kerner. 80 . Kieser, 153.
204 .
Fischer, J. C. 161 .
Klein. 285.
Nameng -Verzeichniss.
XVI
Kleist. 231, 235.
Schindler. 19, 38 , 47, 79 ,80, 87, 98, 122, 129, 153, 159, 160, 161, 162, 218–221.
Lange. 54, 66 , 69, 72, 75 , 76, 91, 95, 115, 115 , 116, 119, 202, 240, 241, 242, 254, 258 .
Schleiermacher.
Leeser.
221 .
Schopenhauer . 57–59, 62, 64, 66,
26.
68 , 76 , 96 , 158 , 171 , 179 , 181,
Laotsee .
6.
Leibniz. 62, 63, 69, 171 , 177, 196,
182, 185, 187 , 202, 218, 254,287,
206 , 237,257 Lessing. 185, 203, 227–229. Liebig . 62.
289.
Lilienfeld .
24 .
Sömering. 144. Sokrates. 10, 159, 169, 260. Sophokles. 10.
Ludwig, 89.
Spencer. 23. Spir. 132.
Luther. 60,90, 295.
Stamm .
Macaulay. 255. Macb. 65 , 115.
Stobåus. 38 .
Lipsius. 3.
Mainländer .
196 .
Strauss. 22, 27 ,240, 255. Swedenborg 47, 96 , 153 , 178, 221, 268 .
Mappes. 84. Martial.
52.
39.
Tertullian. 26, 153 .
Mayer, A. 149.
Thiersch. 37, 89, 133.
Melanchthon.
Meynert. 65.
Tycho Brahe . ? Ueberweg. 240, 255 .
Müller, F. A. 26.
Ulrici. 77, 89, 111, 113, 240, 241 ,
Nägeli.
63.
282 ,
106.
Newton. 12, 13 , 57, 62 , 63 , 285.
Vogt. 233.
Owen . 98. Pfaff. 12.
Wallace. 43, 48 , 67 , 76 , 92 , 98, 201 , 203 , 204, 221–226 , 282,
Pfleiderer , Otto. 2, 20, 103, 184. Perty . 98, 153, 158, 235.
Wagner. 28.
Plato. 10, 57, 153, 182, 185, 240, 260, 278, 289. Plantus. 39. Poucbet. 183. Půckler. 80.
221.
Renan . 22, 27 . Riemann. 65, 115 , 285, 289. Scharschmidt. 144.
Scheibner . 67, 76, 8 Schiller.
161 .
Weber. 67 , 76 , 78 , 89 , 93 , 96 , 137, 198, 201, 285 . Wegener. 131, 232, 233. Wundt. 89 , 108–112 , 120 , 131, 133 .
Ptolomäus. 63 . Pythagoras. 182, 184. Reichenbach.
285.
Widenmann. 229-232.
Zöllner. 12, 33, 55, 65, 66, 67, 72, 73 , 75-78 , 61-89 , 92, 93, 96, 101 - 107 , 117 , 120—124 , 136, 137, 151, 165, 182, 198 , 201,204, 222, 236 , 237 , 269–271 , 279, 282–287, 289, 298 .
Zweiter Band.
Viertes und fünftes Buch :
Vorurtheile in Religion und Wissenschaft.
I. Capitel. Der Gottesglaube. Gott als Unterlage der Weltordnung und Naturbetrachtung. - Die Natur als Unterlage für den Gottesbegriff. – Die Gottesläugner. Wer darf ihn nennen ? Und wer bekennen : Ich glaub' ihn ?
Wer empfinden Und sich unterwinden
Zu sagen : Ich glaub' ihn nicht ? Goethe.
Wenn der Papst , der Scheich ül Islam , der Dalai Lama (und es gibt noch andere Päpste) zufällig zusammen treffen würden, so ist es allerdings zweifelhaft, ob der Eine den Anderen mitleidig als einen armen Verirrten betrachten, oder ob sie , wie die zwei Grossauguren in der schönen Helena , sich gegenseitig ins Gesicht lachen würden. Wie dem immer sei , alle drei können nicht Recht haben, wenn
sie für ihren Glauben die Autorität einer göttlichen Offen barung in Anspruch nehmen, falls es nicht mehrere Götter oder göttliche Ansichten gibt. Bevor wir aber an die Frage
der Zulässigkeit und des Ursprunges der göttlichen Offenbarungen herantreten, müssen wir uns über den Gottes begriff zu einigen versuchen - so unfruchtbar dieses Thema auch
ist.
Etwas werden wir aus diesem Versuche doch
lernen können . Hellenbach , Vorurtheile. II.
1
2
Der Guttesglaube.
Zur Beruhigung meiner Leser bemerke ich in Voraus, dass es sich nicht um die Gottheit handelt, welche im
Herzen eines grossen Theiles der Menschheit als Ahnung
oder Glaube an eine Vorsehung und Gerechtigkeit wohnt, sondern um den Gott in den Büchern der wirklichen oder vermeintlichen Gelehrten , die etwas von ihm zu wissen
vorgeben und mitunter in seinem Namen sprechen. Wir werden in diesem Capitel nur zeigen , dass der Verstand zur Erkenntniss Gottes nicht führt; wo die Quelle des
Glaubens an eine Gottheit liegt , auf das werden wir später zurückkommen .
Wir haben es bei Bekämpfung der religiösen Vor urtheile nicht mit dem Glauben an eine Gottheit zu thun, sondern mit dem Missbrauche einer angeblich göttlichen Autorität ; nun ist es aber eine missliche Sache, den gött
lichen Ursprung der verschiedenen Offenbarungen zu be kämpfen, ohne sich über den Ausdruck „ Gott“ wenigstens in so weit zu verständigen , dass damit etwas gemeint sei, von dem wir nichts wissen und nichts wissen können.
Ich
bin dem Leser die Aufklärung schuldig , warum wir im ganzen Buche mit der Gottheit eigentlich nichts zu thun haben .
In Bezug auf den Gottesglauben haben wir insbesondere drei Gruppen zu unterscheiden. Es gibt Menschen , die nichts kennen , als die Bibel
oder den Koran , und deren Ausgangspunkt für ihr Thun und Lassen, Denken und Fühlen der Gottesglaube ist ; das sind die wahren, ächten Gottesgläubigen, die kein autonomes
Moralprincip haben. Diesen gegenüber stehen die Gottes läugner. Zwischen diesen beiden Gruppen stehen wieder
jene, die zwar von der gegebenen Erfabrung ausgehen, aber im Wege der Naturbetrachtung zum Gottesbegriffe zu ge
langen wähnen. Befassen wir uns zuerst mit jener Gruppe,
Der Gottesglaube.
3
für welche der Gottesglaube die Unterlage der Naturbe
trachtung und socialen Weltordnung bildet. Diejenigen , welche die Gottheit zum Ausgangs punkte ihres Denkens nehmen , gehen offenbar von etwas aus, was jenseits jeder menschlichen Erkenntniss liegt ; wo die dann hinkommen müssen , kann man sich leicht vor stellen , selbst ohne in ihren Werken nachzusuchen. Es
gibt nicht leicht einen gewissenhafteren und berechtigteren Schriftsteller in Sachen der Religions-Philosophie, als Pro fessor Otto Pfleiderer , der mit allem Fleisse die ver
schiedenen religiösen und philosophischen Systeme geprüft hat, und doch kommen bei ihm Sätze zu Tage, bei welchen sich Alles und Nichts denken lässt. „ Sich in Gott wissen, und Gott in sich , in Gott eins mit der Weltordnung und durch Gott frei von der Weltschranke, und zwar beides in
seiner untrennbaren Zusammengehörigkeit – das ist das Wesen der Religion. “ Zu dieser seiner durchschossen ge
druckten Definition bemerkt Pfleiderer (Seite 258 Rel. Phil.), dass selbe ihren Ursprung in Fichte's und Hegel's Religions - Philosophie habe , und dass Hase , Lipsius , Biedermann , I. H. Fichte , Fechner , Rümelin , damit übereinstimmen .
Es machte auf mich anfangs einen niederschlagenden Eindruck , dass so viele Gelehrte einen Satz als Definition
oder doch als richtigen Ausdruck betrachten konnten , bei dem ich mir gar nichts Bestimmtes denken kann. Ich tröstete mich mit dem Gedanken , dass Gott ein so elasti scher Begriff sei , dass jeder daraus machen kann , was er will
Ein Freund hatte den Einfall, mir gegenüber zu behaupten , dass 4 = 6 sei , und als ich dem widerstritt, stellte er folgende Gleichung auf : 6 = 4 + 2.
Der Gottesglaube.
4
Diese Gleichung multiplicirte er mit 6
4
6
- 4,
und erhielt demzufolge das Product : * 6 + 6 - 6 X 4 = 6 x 4 + 6 x 2 - 4x4 - 4 x 2. Indem er nun die positive Grösse 6 x 2 auf die
andere Seite setzte, erhielt er die Gleichung : 6 x 6 - 6 x 4 - 6 x 2 = 6 x 4 - 4X4 - 4 x 2, oder : 6 (6 4 2) 4 (6 = 4 – 2), oder : 6
4.
Wie ist es nun möglich, dass bei richtiger Thesis und richtigem Vorgange eine unmögliche Grösse herauskommen konnte ?
Einfach darum , weil 6 - 4 - 2 = 0 ist und
ich mit 0 Alles unbeschadet multipliciren und überhaupt manipuliren kann. Der Begriff „ Gott“ ist - wohlge merkt für das menschliche Erkenntnissver mögen - gleich 0. Es mag ein höchstes Wesen , eine
höchste Vernunft immerhin existiren , es mag die Noth wendigkeit dieser Existenz immerhin einmal streng bewiesen werden – das Verständniss bliebe für uns immer unerreich bar, der Begriff inhaltsleer . Man kann an einen Gott
glauben , man kann ihn aber nicht zum Ausgangspunkt nehmen, denn dann ist man in der Luft. Man kann auch
nicht an ihn appelliren , denn die Welt, d. h. die mensch ich will nicht liche Welt , die Menschheit , ist von Gott wohl aber ihrem Schicksale über sagen verlassen
lassen. Wäre sie das nicht , so könnte sie kein solches Bild des Jammers sein , wie sie es ist. Haben die Leiden
der Menschheit aber einen Zweck, einen Entwicklungswerth, was ich entschieden annehme, so ist es abermals überflüssig, seine Intervention anzurufen.
Was ist eine einzelne Zelle
für den Menschen , und doch ist die Spannung zwischen diesen Entwicklungsstufen – Zelle und Mensch
wahrlich
nicht so gross, als die Spannung zwischen Mensch und Gott.
Der Gottesglaube .
5
Professor Fechner sagt (Zenda Vesta , I. Theil,
Seite 423 ): „ Der Streit, ob ich sagen soll , die Natur sei eins mit Gott , oder etwas anderes als Gott, oder etwas in Gott , oder Gott etwas in der Natur , löst sich hienach in
einen Wortstreit auf.“ Das ist nur dadurch erklärlich, dass Fechner selbst gesteht ( Seite 434) , „ dass dieses Denken sich um etwas uns Undenkbares dreht.“ Ein Begriff, der undenkbar ist , wird in seiner Anwendung zur Null , und
mit deren Hilfe kann man den grössten Unsinn zu einem Dogma erheben und zweifellose Wahrheiten ad absurdum führen : 6 = 4.
Ein Gott von so willkürlicher Beschaffen
heit kann selbst die Naturgesetze aufheben , darum war er immer das beste Auskunftsmittel, wenn uns unsere Naturerkenntniss im Stiche liess.
Die kindische Vorstellung unserer Väter von der Gottheit musste durch den Fortschritt der Naturwissen
schaften erbleichen.
Als in der menschlichen Auffassung
die Erde das Centrum der Welt war , Sonne , Mond und Sterne nur für deren Beleuchtung und Erwärmung existirten, war es begreiflich , wenn die Naturvölker an einen Gott
glaubten, der Alles zum Besten und im Interesse der Mensch heit geschaffen. Nachdem es sich aber herausgestellt hatte, dass die Erde keine Scheibe , der Himmel kein Gewölbe, sondern eine Unendlichkeit von Welten sei, denen gegenüber
die Erde als ein Nichts verschwindet, und als die Zweck mässigkeit der Organismen der Anpassung verfiel, konnte selbst der von Christus vergeistigte Gott in seiner Eigen schaft als liebender , in die Geschicke der Menschen ein greifender Vater nicht mehr haltbar sein.
Die unend
liche Welt fordert einen unendlichen Gott in
jeder Beziehung, und ist dieser für den Menschen in unab
sehbar weite Ferne gerückt. Es genügt der Versuch , sich eine Vorstellung von der Welt zu machen , um uns von
Der Gottesglaube.
6
unserer vermeintlichen Gottähnlichkeit und von unseren
unmittelbaren Beziehungen zu Gott zu heilen. Wenn wir uns die Erde als ein Hasenschrott denken,
in eine Entfernung von 15 Klaftern einen Kürbis legen, so hätten wir ein ungefähres Bild des Verhältnisses und der Entfernung von der Sonne ; legen wir auf die Entfernung von 450 Klaftern eine Haselnuss als den entferntesten
Planeten Neptun, dazwischen eine Nuss als Jupiter, und so fort bis zu Sandkörnern (Asteroiden) , so ist das Sonnen system fertig. Der nächste Fixstern , also das nächste Sonnensystem wäre aber dann erst in New York , in
Central-Asien und Südafrika ; das ginge nun so fort ins Unendliche , nicht aber nur in einer Dimension , sondern
rechts und links, oben und unten, in Millionen und Millionen von Systemen , von denen wir aber nur die leuchtenden
Körper und nicht einmal diese alle sehen , und wir gar nicht wissen , wie es denn eigentlich mit der Endlichkeit und Unendlichkeit des Raumes und der Materie steht ! Was ist die uns sichtbare Welt -- und was sind wir ?
Ein müssiger Kopf machte einmal die Berechnung, dass die ganze auf der Erde derzeit lebende organische Welt in einer Kiste von dem Inhalte einer Kubikmeile Platz
hätte. Gewiss ist, dass die lebenden Menschen nicht einmal
den 300 -sten Theil der Kiste ausfüllen würden , und doch ist eine Kubikmeile ungefähr der 2650 millionste Theil der Erde ! Wir sind ein elendes intelligentes Gewürm auf der
Kruste eines der winzigsten Weltkörper ! Und wir wollen
an den Weltgeist anknüpfen und streiten uns Jahrtausende, ob er der Schöpfer oder Lenker der Welt, ob er ihr imma nent sei , und was dergleichen mehr ist ! Ist das nicht
lächerlich ? Es ist darum auch ganz gleichgiltig, ob — nach Pfleiderer
Hegel in der intellectuellen Erhebung
über die Natürlichkeit, oder wie Fichte in der sittlichen, oder wie Schleiermacher in der religiösen Einheit mit
Der Gottesglaube.
7
Gott die Unendlichkeit des Geistes verwirklicht sieht. Mit
einer Null kann man Alles ungestraft machen,
Es ist
allerdings ganz gleichgiltig, ob ich sage : „ Es ist geschehen ," oder „Gott hat es gewollt,“ ,,die Welt besteht,“ oder „ Gott hat sie geschaffen .“ Moses lehrte zwar , dass man den Namen Gottes nicht missbrauchen soll ; der constitu tionelle Gebrauch verbietet schon die Krone in den Bereich
der Discussion zu ziehen und macht sie unverantwortlich . Das hindert aber unsere Theologen und Theosophen nicht, vom Gottesbegriffe einen Gebrauch zu machen , als ob sie darüber im Klaren wären , wie der Techniker über eine
Dampfmaschine. Mit der Behauptung , dass die Gottheit jenseits des
menschlichen Erkenntnissvermögens liegt, und jede Hoffnung auf deren Eingreifen in das Schicksal des einzelnen Men
schen kindisch sei, soll aber durchaus nicht gesagt werden, dass der Glaube an einen Gott in Brüche gehen müsse, und dass das , was man Andacht, Gebet, Erhebung nennt, eine ganz wirkungslose Sache sei. Hegel sagt in seiner Religions-Philosophie , dass die Religion „ die Region sei, worin alle Räthsel der Welt gelöst, alle Widersprüche des tiefer sinnenden Gedanken enthüllt sind , alle Schmerzen
des Gefühles verstummen, die Region der ewigen Wahrheit, der ewigen Ruhe. In der Beschäftigung mit ihr entladet sich der Geist aller Endlichkeit, diese Beschäftigung gibt
die Befriedigung und Befreiung ; die Völker haben dies religiöse Bewusstsein als ihre wahrhafte Würde , als den Sonntag des Lebens angesehen ; aller Kummer , alle Sorge, diese Sandbank der Zeitlichkeit, verschwebt in diesem
Aether, sei es im gegenwärtigen Gefühl der Andacht oder in der Hoffnung. In dieser Region des Geistes strömen die Lethefluthen , aus denen Psyche trinkt, worin sie allen Schmerz versenkt , alle Härten , Dunkelheiten der Zeit zu
einem Traumbild gestaltet und zum Lichtglanz des Ewigen
Der Gottesglaube.
8
verklärt.
Diese schönen Worte sind sehr wahr , denn die
geistige Erhebung über die thierischen Empfindungen und Leiden ist nicht nur ein subjectiver Gewinn , sondern hat
auch objectiven Werth, was uns später klar werden wird . Aber es kann dies alles wahr sein, ohne Intervention einer Gottheit.
Eine Kirche hat etwas Ehrwürdiges selbst dann, wenn
sie kein imponirendes Denkmal der Baukunst ist; denn sie ist der Ort , wobin sich viele Menschen flüchten , um mit Zurücklassung ihrer materiellen und thierischen Sorgen sich an ihre eigentliche transcendente Heimat zu wenden , wo sich der Unterschied zwischen Thier und Mensch nicht als ein bloss gradueller , sondern principieller offenbart. Die
Stimmung , wie sie in der Kirche häufig vorkommt und eigentlich immer vorkommen sollte , ist diejenige, wo wir am wenigsten Thier und am meisten Mensch sind. Dieses Eintauchen in die transcendente Welt hat die Wirkung
eines erfrischenden Bades für Geist und Herz ; ob diese Stimmung nun durch eine Kirche, ein Ereigniss oder durch die Naturbetrachtung leichter hervorgerufen wird, ist gleich
giltig. Die von allen Religionsstiftern empfundene Ahnung einer transcendenten Welt theilen die meisten Menschen ,
doch ist diese Stimmung oder Andacht etwas ganz anderes, als das Wissen von göttlichen Dingen und Welt-Unterlagen, für was sich die Theologie und so manche Philosophie aus gibt. Unter allen Umständen ist das Ausgehen von Gott ein offenbarer Missgriff, der die Menschheit immer auf Ab
wege geführt hat und noch führt, der unsere Erkenntniss in keiner Weise fördert; daher denn die theosophischen
Schriften von schwülstigen Phrasen und leerem Wortgefasel wimmeln.
Uebergehen wir nunmehr zur zweiten Gruppe, welche die Naturbetrachtung als Unterlage für den Gottesbegriff nimmt.
Der Gottesglaube.
9
Es giebt sehr Viele, die zwar nicht von Gott ausgehen, wohl aber sich dem Glauben hingeben , von der Natur
betrachtung aus zum Gottesbegriffe gelangen zu können. Ich werde den Leser nicht mit den bekannten vier Beweis
arten des Gottes-Daseins und deren Widerlegungen unter halten , sondern im Wege der Analogie die Schwierigkeit
eines Erfolges und Nutzlosigkeit desselben deutlich zu machen suchen. Bei dem jetzigen Stande unseres Wissens
kommt mir das ebenso sanguinisch vor, als wenn ein Wiener, der gewohnt ist, einen Sonntags - Ausflug auf das Land zu machen, eines schönen Morgens den Gedanken fassen würde,
diesmal den Himalaya zu besteigen. Man weiss , was das Himalaya -Gebirge ist; man weiss , wo es liegt, und kann demnach leicht berechnen, dass hiezu viel Zeit gehört, mehr Zeit , als so ein Wiener Spaziergänger an einem Sonntage
disponibel hat. Was aber die Gottheit ist , wo sie zu finden und wie viele Zeit wir dazu noch brauchen werden, davon wissen wir nichts. Und doch werde ich eher glauben, dass es einmal gelingen könnte , in einem Tage von Wien
nach dem Himalya -Gebirge zu gelangen
etwa mit Hülfe
eines Ballons oder der 4. Raumdimension -
als dass der
menschliche Verstand zur Vorstellung eines Wesens gelangen werde, das man als Schöpfer, Träger oder Lenker des Welt ganzen , als Weltseele oder Weltgeist bezeichnet und auf
fasst. Ich kann allerdings Niemand verargen, wenn er sich einer solchen Hoffnung hingibt, ich theile sie einfach nicht, und glaube, dass es noch unendlich vieler Stufen der Entwicklung bedürfen wird , bis diese Hoffnung realisirt werden könnte.
Ich bestreite durchaus nicht, dass man im
Wege der Naturbetrachtung sich zu dem Gedanken einer waltenden Gottheit hinaufschwingen kann, aber ich bestreite, dass dies bis jetzt derart geschehen sei , um auf das hin
eine Theologie oder ein Moralprincip aufstellen zu können. Ein Rückblick auf die bisherigen Erfolge der Menschheit
10
Der Gottesglaube .
nach dieser Richtung wird genügen, unsere totale Unfähig. keit diesem Probleme gegenüber nachzuweisen. Schon Heraklit hat in seinem ewigen Flusse des Werdens eine unsichtbare Harmonie, ein alles regierendes
Denkende angenommen ; diesem Gott des metaphysischen Bedürfnisses hat Sokrates einen teleologischen hinzugefügt. Er war einfach der Ueberzeugung, dass Alles nach einem einheitlichen Plane geordnet und zweckmässig sei ; Sophok les glaubte an eine göttliche Vorsehung , Anaxagoras konnte die Welt nur als das Werk einer höchsten Vernunft
denken, und von dem göttlichen Plato sagt Pfleiderer , dass er den letzten Schritt gemacht , indem er das Letzte
des Seins , den Weltgrund , mit dem Letzten des Sol lens, dem Weltzweck , oder das Absolute der Metaphysik mit dem Absoluten der Moral in eins gesetzt hat. Zweitausend Jahre sind seitdem vergangen , haben
wir aber diesbezüglich Fortschritte gemacht ? Wie tief sind wir vergleichsweise in die Werkstätte der Natur eingedrun gen, und doch ist der Glaube an Gott nur Glaube geblieben ! Wie sollte das auch anders sein ? Was sind wir denn ? Be
wohner der Erde. Was ist die Erde ? Ein winziger Himmels körper. Eine einzige Welle des Oceans kann den intelli
genten Ameisenhaufen, Menschheit genannt, mit allen seinen Werken und seiner ganzen Geschichte begraben. Wir können mit unseren Verstandeskräften zu dem Weltgeiste nicht hinanragen , selbst wenn die Wissenschaft die deutlichen
Spuren einer schöpferischen oder ordnenden Vernunft an den Tag bringen würde. Man sagt , die Wege des Herrn seien unerforschlich, noch weit unerforschlicher ist er selbst ! Das Suchen nach einer Gottheit auf diesem Wege, so
wenig Chancen es gegenwärtig auch hat , ist nicht nur un schädlich, sondern jedenfalls vernünftiger, als das Ausgehen von ihr. Was wird es uns aber helfen , wenn wir auch wirklich die Nothwendigkeit einer höchsten Vernunft, die
Der Gottesglaube,
11
Spuren einer beabsichtigten Zweckmässigkeit , die Unaus weichlichkeit einer ersten Ursache gefunden haben werden ? Zu einem Gottesbegriffe werden wir darum doch nicht gelangen , wenn sich der Glaube an seine Existenz auch in unzweifelhafte Gewissheit verwandelt haben wird . Was sollen
wir uns z. B. bei den modernen Gottheiten „ dem Willen,
dem Unbewussten, Kraft und Stoff denken ? Nur auf diese Weise ist es erklärlich , dass so viele Götter und Weltanschauungen durch Jahrhunderte neben einander bestehen konnten und noch bestehen .
Wir wissen
nichts und können nichts wissen, unser Wahrnehmungs- und Denkvermögen ist viel zu beschränkt , um so etwas jemals erhoffen zu können. Wenn wir aber nichts von ihm wissen,
ihn nie erforschen oder begreifen können , wie kann man da in seinem Namen etwas feststellen , sprechen und thun, und dem Kinde eine Vorstellung einimpfen , welche, wenn nicht ganz verworfen, so doch durch den Zweifel wesentlich modificirst und erschüttert wird. Ein so schwankender Be
griff ist zur Unterlage eines Moralprincips ganz untauglich. Ausser diesen beiden Gruppen, nämlich der von Gott ausgehenden und durch Naturbetrachtung zu ihm gelan
genden , existirt noch eine dritte Gruppe ,
die Gottes .
läugner. Diejenigen , welche die Gottheit oder vielmehr deren Existenz gänzlich läugnen und mit dem Mechanismus und Chemismus auszureichen hoffen , sind gleichfalls vom
Vorurtheile befangen. Diese Anschauung ist modern, sie verleiht einen wissenschaftlichen Nimbus , und das genügt,
dass sich die Mehrzahl der sogenannten gebildeten Welt dazu entweder wirklich bekennt, oder doch sich zu bekennen vorgibt. Ich kenne Menschen, die mit Ostentation ausrufen : o du mein lieber Kraft und Stoff ! und darin einen Beweis
ihrer geistigen Ueberlegenheit finden ; sowie es eine Zeit
gab , wo Niemand an dem Gott der Bibel zweifelte , so ist
Der Gottesglaube.
12
jetzt eine Zeit hereingebrochen, wo die chemisch-mechanisch materialistische Weltanschauung für einen gebildet sein wol lenden Menschen etwas selbstverständliches ist ; in gewissen
Kreisen ist sie zu einem ererbten Vorurtheile geworden. Wo der gemeine Verstand etwas Geordnetes, Werk zeugliches sieht , dort schliesst er auf eine Absicht ; darum
glaubt er an eine Seele , die den Organismus bildet und entwickelt. Weil nun die Weltsysteme auch einen verhält nissmäsig stabilen Organismus verrathen , so ist es begreif lich , dass der gemeine Verstand auch auf eine Weltseele schliesst. Die Naturforscher vom Schlage eines Dubois Reymond erhoben dagegen die Einwendung , dass sie an eine Weltseele erst dann glauben werden , wenn sie das ein Gehirn der Welt wahrgenommen haben werden Schluss , den Dubois besser nicht gemacht hätte . Denn das Gehirn ist allerdings ein wunderbares Vorstellungs werkzeug, und man kann deshalb auf eine Seele schliessen ; wer aber kann behaupten , dass dieser Vorstellungsapparat der einzig mögliche sei , und das es keine andere Weise des Wahrnehmens , Vorstellens und Denkens geben könne ? Wir haben da die Schranke der eigenen Erkenntniss als Schranke der Natur !
Gegen die Annahme einer Weltseele hat die Natur wissenschaft eine viel kräftigere Einwendung als die obige
erhoben. Die moderne Naturwissenschaft hat allerdings mit Glück versucht, den Weltenbau auf ihre Weise zu erklären ;
doch ist es sonderbar , dass gerade die hervorragendsten Geister der Astrophysik, die am meisten dazu beigetragen, dass etwas Licht in diese Finsterniss gelangte, sich
dieser Anschauung nicht angeschlossen haben ; so Keppler, Newton, Kant. Professor Pfaff hat in seinen geistreichen Vorträgen die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Weltord nung mit jener verglichen , die darin bestünde , dass mich ein Stein in einer Gasse 100,000mal an derselben Stelle
Der Gottesglaube.
13
zufällig treffen könnte. Man kann es allerdings Niemand verwehren , das für einen Zufall zu halten , die Wenigsten werden es aber glauben , selbst wenn sie es sagen – denn so etwas kommt auch vor. Die Ordnung , die in der Be wegung und Vertheilung der Himmelskörper gefunden wird ,
der Ausgleich aller Störungen , die so verderbenbringend sein könnten u. s. w ., kann man für zufällig ausgeben, doch ist es sehr auffallend , dass unter den Millionen möglichen Combinationen gerade diese durch den Zufall zu Stande gebracht wurde , welche eine organische Welt ermöglicht ! Newton hat im dritten Buche seiner Principien den Zufall ausdrücklich ausgeschlossen ; wie durch Zufall intelligente Wesen entstehen sollen, ist ebenfalls unbegreiflich, liegt aber eine Nothwendigkeit vor, dass aus dem Chaos der Atome das entstehen muss, was wir die Natur nennen , so wäre das schon der glänzendste Beweis für die Existenz einer der Welt vorangehenden oder sie leitenden , oder ihr inne wohnenden Vernunft. Zöllner's Buch der Kometen gibt sehr viel zu denken in dieser Beziehung , und hat er in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen (I, Seite 209-216)
eine Zusammenstellung der Ansichten der klarsten Köpfe des Menschengeschlechts über die Nothwendigkeit der Existenz einer Gottheit geliefert. Die Existenz einer Gott heit ist jedensfalls viel schwerer zu leugnen , als zu be weisen .
Ich hoffe, dass der Leser sich die Ueberzeugung geholt haben wird , dass man mich mit Unrecht unter die Gottesläugner, wie das von mancher Seite geschehen, zählen würde ; ich bekenne nur meine Unfähigkeit , etwas von ihr zu wissen und sie in den Bereich einer Diskussion zu
ziehen. Ich muss es verwerfen, ein Gebäude auf ein Funda ment aufzufübren , das ganz unergründlich und unfassbar ist. Ich ignorire die Gottheit nicht aus dem Grunde, weil
ich ihre Existenz bestreite, sondern weil sie zu erhaben ist,
Der Gottesglaube.
14
und mein Erkenntnissvermögen unter allen Umständen an
sie nicht hinanreicht. Meine vermeintliche Gottlosigkeit ent springt dem Gefühle meiner Ohnmacht.
Schon Epikur
lehrte, dass nicht derjenige gottlos sei , der die Götter der Menge leugnet , sondern der , welcher den Ansichten der
Menge über die Götter beipflichtet, denn diese sind einer Gottheit unwürdig .
Insoweit der Gottesglaube Gefühlssache ist, ist er gut, weil er , wenn auch in kindischer Form , die Menschen zur resignirten Hingabe an die Culturentwicklung führen kann, und sie mit Hoffnungen erfüllt , die sachlich nicht unbe gründet sind ; er muss aber Sache des Gefühls, er nuss Glaube bleiben, der uns instinktiv mit Zuversicht erfüllt, sich aber nicht für ein Wissen von Gott ausgeben , was lächerlich ist. Die Gottheit darf noch weniger in unsere irdischen Angelegenheiten hineingezogen werden, was unter Umständen schädlich ist, wie die Geschichte sattsam lehrt.
Eine solche Charta bianca trägt immer böse Früchte ; der gemeinschädlichste und greulichste Fanatismus war immer der religiöse .
Sowie die religiösen Empfindungen kein Vorurtheil sind, ebensowenig ist es der Glaube an ein höchstes Wesen , wohl aber muss es als ein Vorurtheil bezeichnet werden , wenn wir dessen unmittelbare Einflussnahme für so viele
verschiedene und in sich selbst wechselnde Religionen an Die Religion ist ein Entwicklungsproduct, wie
nehmen.
Alles auf der Welt. Man darf von einer Gottheit zu deren
Begründung nicht ausgehen , weil unsere Erkenntniss nicht an sie hinanreicht ; man muss sich nicht der Hoffnung hingeben , sie je · begreifen zu können , selbst wenn es uns
auf unwiderlegliche Weise gelingen sollte, die Spuren einer ordnenden , leitenden Vernunft nachzuweisen , also dem teleologischen Beweis ein unangreifbares Fundament zu geben was allerdings nicht ausgeschlossen ist.
Der Gottesglaube.
15
Der unsinnige Gedanke , dem Weltgeiste eine solche intervenirende Rolle zu geben , wie es oft geschah , führt
dann zu dem Probleme , wie denn das Uebel in die Welt gekommen sei. Eine Frage , auf die man keine Antwort weiss , und welche die abgeschmacktesten Lösungsversuche hervorrief. Selbst der Polytheismus wäre viel vernünftiger als der Monotheismus, falls der Herr und Schöpfer der Welt die intervenirende Rolle übernehmen soll , die man ihm so oft zuschiebt. Wir kommen auf den modernen Polytheismus später noch zurück.
Es gibt Menschen , die nicht allein stehen können , sondern sich anlehnen müssen, die sich allein fürchten, und sich in Gesellschaft eines Zweiten beruhigen , selbst wenn
dieser Zweite ein ganz hülfloses Wesen , ja ein Kind ist. So gibt es Menschen, die Alles durch Gott, mit Gott oder in Gott thun wollen, während es immer deutlicher zu Tage
tritt, dass wir das sind und werden, zu was wir uns selbst machen ; dass alle Erfahrungen
seien sie welcher Art
immer — zu unserer Entwicklung beitragen, und die Weis heit oder das Wohlwollen des Weltgeistes sich auf diese Einrichtung beschränkte. Der einfache Landmann hat daher nicht Unrecht, wenn er sein Vertrauen auf die waltende
Vorsehung setzt, und sich diese vorstellt, wie er eben kann. Erfüll Dein Herz, so gross es ist, Und wenn Du ganz in dem Gefühle selig bist, Nenn' es dann, wie Du es willst, Nenn's Glück ! Herz ! Liebe ! Gott ! Ich habe keinen Namen.
Goethe.
Ein Buch über göttliche Dinge soll man nicht schrei ben , es sei denn , dass man
so wie wir es thun
be
weisen will , dass wir von Gott nichts wissen und begreifen können , und so oft wir uns des Gottesbegriffes in unseren Speculationen bedienen , genau dorthin gelangen , wohin der
16
Der Gottesglaube.
Mathematiker gelangt, wenn er eine Null als Factor in Rechnung und Manipulation bringt. Wir wollen uns nunmehr unserer eigentlichen Aufgabe, nämlich der Untersuchung zuwenden, ob denn das, was von den Religionsstiftern oder deren Nachkommen als göttliche
Offenbarung ausgegeben wurde, auch wirklich eine göttliche Offenbarung ist, oder ob die verschiedenen Religionen einen andern Ursprung und welchen haben. Es ist höchste Zeit, dem Missbrauche ein Ende zu machen , der mit den gött lichen Autoritäten und den religiösen Empfindungen und Bedürfnissen der Menschheit getrieben wird.
II. Capitel. Die religiösen Vorurtheile. Die gemeinschaftliche Quelle der Offenbarungen. Die Offenbarung Das Prophenthum der Neuzeit.
christliche
Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine ew'ge Krankheit fort; Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage; Weh Dir : dass Du ein Enkel bist , Goethe.
Ist die Zahl der Religionen für den Credit des gött lichen Ursprunges der Offenbarungen schon verhängnissvoll, so wird dieser noch weit mehr geschädigt durch die Spal
tungen und den Widerspruch in ein und derselben Religion. Vor dem Concilium zu Nicäa gab es über 60 Evan gelien , welche die Geschichte und Lehre Christi so ver
zerrten und auseinander logen , dass die Kirchenväter die Legende nicht mehr zusammen zu leimen vermochten . Namentlich sollen sich die Evangelien des heiligen Thomas
und Josephus an Blödsinn ausgezeichnet haben. Die from . men Kirchenväter legten in ihrer Verlegenheit sämmtliche Evangelien auf einen Altar , riefen den heiligen Geist an, die Auslese zu treffen , und gingen schlafen . Den andern
Morgen fand man fünf Evangelien auf dem Altare, die andern auf dem Boden. Die auf dem Altare gebliebenen waren die Hellenbach , Vorurtheile . II .
2
Die religiösen Vorurtheile.
18
nüchternsten ; es waren nämlich die uns bekannten vier Evangelien und eines von Jakobus , das erst später ausge merzt worden
sein soll .
Die Kirchenväter thaten recht,
„ an den Früchten sollt Ihr sie erkennen. Genau so ver hielt es sich auch bei den Buddhisten, die ebenfalls durch eine Art Concil eine Musterung halten mussten.
Was die Entstehung der Religionen anbelangt, so
ist sie bei allen Religionen dieselbe; alle Religionsstifter und Propheten wollen göttliche Inspiratior.en gehabt haben . Nun hat schon Kant gesagt, man müsse nicht Alles glau ben , was die Leute sagen , aber auch nicht, dass sie es ohne Grund sagen. Vergebens ! Der eine Theil glaubt jeden Blödsinn, der ihm oft aus sehr egoistischen Interessen eingetrichtert wird, der andere will nicht einmal eine Unter
lage für diese Schwärmerei zugeben, obgleich sie eine solche hat , und zwar eine sehr interessante , die uns über unsere eigene Natur mehr Aufklärung verschaffen wird, als es das Messer der Anatomen, das Mikroskop der Physiologen und die Retorte der Chemiker vermögen . Diese spontanen Ge danken oder Kundgebungen müssen durchaus nicht von einer Gottheit herrühren, sie könnten aber sehr leicht wirk
lich aus einer den Propheten unbewussten Quelle stammen . Eine weitere Analogie besteht darin , dass alle Reli gionsstifter ihr Prophetenthum durch Zeichen und Wunder zu beweisen trachten.
Was den Inhalt anbelangt , so kommen die drei
wichtigsten und ausgebreitetsten Religionen : Buddhaismus, Christenthum und Islam in dem einen Punkte überein, dass der Mensch moralische Aufgaben habe , von deren Lösung sein weiterer Zustand abhängt. Ob ich im Wege der Seelenwanderung in das Nirwana , oder durch die Leiden des Lebens , durch das Fegefeuer in den Himmel komme, oder durch sinnliche Freuden belohnt werde, ist unwesent
lich. Diese Religionen stehen in anderer Beziehung mitein
Die religiösen Vorurtheile.
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ander allerdings auch im Widerspruche. Am auffallendsten ist aber , dass jede einzelne Lehre in sich selbst wider sprechende Sätze beherbergt. Die Analogien der Religionen untereinander und die inneren Widersprüche allein weisen
schon darauf hin, dass sie eine gemeinschaftliche, aber nicht reine Quelle haben.
Der Grund für das Widerspre
chende der Lehren untereinander und in sich kann aller
dings zum Theile in der späteren Verzerrung liegen , doch
ist es unzweifelhaft, dass die verschiedenen Religionsstifter nicht immer auf gleiche Weise inspirirt sein konnten, wenn
sie es überhaupt waren , weil sie so wechselnde und sich vielfach widersprechende Anschauungen kundgaben, von wel chen einige nicht das Resultat eines gewöhnlichen Denkens und Schliessens sein konnten. Alle Religionen sind ein
Gemisch von erhabenen und lächerlichen Lehren und Legen den, deren Ursprung wir suchen und finden werden. Schon
Augustinus beschwert sich , dass es kein Kriterium gebe, um das Wahre von dem Falschen der Offenbarungen und Visionen zu unterscheiden . Was den Priestern nicht passte, das war Teufels- Eingebung; die Heiligen und Hexen werden sich uns als sehr nahe Verwandte erweisen. Dr. Schindler
sagt in seinem „magischen Geisterleben“ (Seite 180) : „ Die Christen verwerfen nicht nur die Orakel als Anstalten des
Teufels, auch in ihren eigenen Reihen ist jede Wahrsagerei ein Werk des Teufels, die nicht mit der Dogmatik überein stimmt. Die heidnischen Weihungen, die römischen Augu rien und Ertispicien , die Sibyllen sind den Kirchen vätern Zauberei, während dem Römer die thessalischen Zauberer,
die Weissagungen der Chaldaer, der Celten, Britten, Gallier, die Wunderthaten der Christen , ihr Heilen durch Hand auflegen , ihr Dämonen-Austreiben, ihr Todten -Erwecken und Zukunft - Verkünden als Zauberwirken erscheint, und Christus
und die Apostel, wie aus Origines und Arnobius erhellt, der Anklage der Zauberei nicht entgehen. Alles kommt 2*
20
Die religiösen Vorurtheile.
auf den Standpunkt an.
Während die Kirche die ihr zu
sagende Vision als göttliche Offenbarung verehrt, verwirft sie die Geschichte und Visionen des Cherinthus , Markus, der Montanisten, des Martiades und Martianus, des Manes, des Julianus Apostata, der Donatisten , der Besina, Gemahlin
Childerich's, wie die Visionen der Wiedertäuter, des Justus Velsius und Franziscus de la Cruz, der besessenen Mönche
und Nonnen. So steht Offenbarung der Offenba rung gegenüber.“ Vorläufig wollen wir das Unbe wusste als Quelle annehmen ; diese Hartmann'sche
Bezeichnung ist zwar nicht lehrreich , aber insoweit richtig, als wir davon nichts wissen. Wir werden später in diese bloss negative Bezeichnung tiefer eindringen. Dass bei allen Offenbarungen Wahrheit und Irrthum
Hand in Hand gehen , und dass sie unserer Erkenntniss nicht entspringen, ist nicht etwa nur meine individuelle An schauung. ,, Der Grund der Religion liegt in unserer ganzen
Existenz und ausser der Sphäre unserer Erkenntnisskräfte welche alle zusammengenommen den zufälligsten und ab stractesten Modus unserer Existenz ausmachen. Daher jene
mythische und poetische Ader aller Religionen, ihre Thorheit und ärgerliche Gestalt in den Augen einer heterogenen, incompetenten , eiskalten und hundemageren Philosophie.“ ( Hamann. Vergleiche Pfleiderer's Religions - Philosophie.) Letzterer sagt auch (ebendaselbst Seite 8) : „ Man sieht, die positiven Religionen sind für Lessing wie dann wieder für Hegel – nichts als die nothwendigen Entwicklungs stufen des menschlichen Verstandes oder der natürlichen
Religion ; keine kann also als unmittelbare Offenbarung im kirchlichen Sinne gelten, da bei jeder mit ihrer Wahrhei auch Irrthum mit unterläuft.“ Dass übrigens die Religionen
wirklich den allgemeinen Entwickelungsgesetzen unterworfen sind, ist in die Augen springend, zu welcher Einsicht eine nur etwas nähere Betrachtung der Geschichte der Religionen führt.
Die religiösen Vorurtheile.
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Die mosaische Religion kannte keine Unsterblichkeit
der Seele. Jehova war ein zorniger, blutdürstiger Gott, der
sein Volk durch physische Leiden züchtigte, durch physische Freuden belohnte. Die Lehre Jesu war das gerade Gegen stück ; Jesu war der Vertreter des irdischen Pessimismus und transcendenten Optimismus. Sein tragisches Ende be siegelte gewissermassen seine Lehre , deren schönster und
treuester Repräsentant er war. Diese extreme, nur auf das Transcendente angewiesene, asketische Lehre musste noth wendig mit der Culturentwickelung in Conflikt kommen , daher denn die späteren Nachfolger, Paulus und Augustin, insbesondere aber der Protestantismus das Diesseits und
Jenseits in einen gewissen Einklang zu bringen bestrebt waren , was ihnen aber nicht gelungen ist. Uns interessirt nur die Entstehung jener Religionen , welche eine Autorität
und grossen Einfluss auf die Gemüther üben, und zwar auf Grundlage der Autorität einer göttlichen Offenbarung, denn diese Provenienz wollen ja die drei ausgebreitetsten Reli gionen haben . Christus hat zwar keine eigentlichen Visio nen, wie die anderen Propheten, und beginnt er gewöhnlich
mit den Worten : „ Wahrlich ich sage Euch “ ; nichtsdesto weniger ist er doch der von Gott gesandte Messias, der im Namen seines Vaters spricht und handelt. Kant hat leider für sehr viele Menschen umsonst
gelebt. Ich wiederhole seinen Satz, dass man nicht Alles glauben müsse, was die Leute sagen, aber auch nicht , dass sie es ohne Grund sagen. Diese goldene Regel
haben aber weder die gläubigen Söhne der Kirche, noch viel weniger die patentirten Männer der Wissenschaft be folgt. Die ersteren glauben blindlings alles, was man ihnen sagt, die anderen wollen nicht einmal eine Unterlage für
diese Erscheinungen zugeben und suchen. Dass diese Ge danken nicht von einer Gottheit herrühren , ist allerdings unschwer anzunehmen , doch könnten sie aus einer den be
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Die religiösen Vorurtheile.
treffenden Propheten unbewussten Quelle stammen.
Die
Propheten können ehrlicherweise behaupten , dass ihre
Lehren Eingebungen sind , wenn auch nicht göttliche weil sie von ihrem gewöhnlichen Bewusstsein und ihren
gewöhnlichen Conceptionen abweichen , und eigenthümliche Erscheinungen , für welche sie keine Erklärung hatten , sie in dieser Ansicht bestärkten . Renan und David Strauss sind durch ihre Welt
anschauung gezwungen, Alles in Abrede zu stellen, was die Geschichte nicht nur der christlichen Religion , sondern aller Religionen, alter und moderner, berichtet ; ihre Welt
anschauung steht aber mit der Erfahrung in flagrantem Widerspruche ; wir werden nicht nothwendig haben , zu einem so radikalen und doch ganz unfruchtbaren Mittel zu
greifen. Ich habe mit ihnen den gemeinschaftlichen Gegner, aber ich kämpfe mit ganz anderen Waffen. Thatsachen, die unbequem sind, einfach zu läugnen, ist ein altes Mittel, was aber nicht ausreicht, wenn sich jene immer wiederholen . Wenn Jemand etwas thut, sieht , schreibt oder sagt, worüber er sich keine Rechenschaft zu geben vermag , wie
so das geschehen , und wenn er gar den Glauben an einen persönlichen und die Privatangelegenheiten der Menschheit leitenden Gott im Kopfe hat, so ist es ganz gut begreiflich, dass er diese ihm unbewusste Thätigkeit einer göttlichen
Eingebung zuschreibt. Dass es aber eine solche unbewusste Thätigkeit auch heute gibt , davon kann sich jeder über zeugen, der nur einigermassen den Willen dazu hat. Wenn
man nun eine solche geschriebene Enunciation eines Hand
werkers oder einer anderen mit diesem auf gleicher Bildungs- oder Geisterstufe stehenden Persönlichkeit zu Gesicht bekommt , und die frappante Aehnlichkeit vieler dieser sogenannten Eingebungen mit den Schriften des alten und neuen Testamentes wahrnimmt, wie soll man da
bei gleichen Wirkungen nicht auf gleiche Ursachen schliessen ?
Die religiösen Vorurtheile .
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Was haben die alten Propheten gethan ? — In dunkeln Worten Moral gepredigt, unverständliche Kosmogonie ge
lehrt, viele falsche und einige wahre Prophezeiungen gemacht, Kranke manchmal wirklich geheilt ; also genau dasselbe
gethan, was auch die modernen Medien in wenig verän derter Weise thun, und wie Reisende versichern , die Der wische und Fakirs auch leisten. Das Factum steht, aber
die Erklärung war bisher immer mangelhaft. Wie sie nun immer ausfallen mag , Eines ist gewiss , dass zwischen den alten Propheten und modernen Medien kein Unterschied obwaltet , als der ihrer jeweiligen Individualität und des
Zeitalters; anormale Organisationen sind sie alle , aber es ist selbstverständlich ein grosser Unterschied , ob diese Anormalität der Organisation im Dienste eines Sokrates ,
Christus, Jac. Böhme, Swedenborg, Charl. Fourier, einer Johanna d'Arc, oder eines schlichten einfachen Wesens
steht. Es macht auch einen grossen Unterschied, in welchem Zeitalter man lebt. Es ist ein Vorurtheil, die Kundgebungen der alten Propheten und modernen Medien für göttliche Offen barungen zu halten ; es ist aber nicht minder ein Vorurtheil,
die alten und neuen Propheten aller Nationen und Zeiten lediglich für Betrüger und unsere ganze Geschichte für ge fälscht zu erklären . Es genügt auch nicht, sie einfach und vornehm als Schwärmer zu bezeichnen . Das sind sie aller
dings , nur dass ihre Schwärmerei denn doch auch einen Grund haben muss ; und zwar hat sie nicht nur eine sub jective Disposition , sondern auch objective Ursachen zur Unterlage , welchen wir später auf den Grund kommen werden. Mit dem „ Credo, quia absurdum est“ aut der einen Seite , und mit dem blossen Ausrufe „ Schwindel“ auf der andern , wird man der Sache freilich nicht auf den Gruud kommen .
Schon der Umstand allein , dass nach Aussage aller Ethnographen und Reisenden alle Religionen und Vorurtheile
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Die religiösen Vorurtheile.
eine solche Aehnlichkeit haben , müsste eine ihnen allen
gemeinsame Quelle vermuthen lassen ; einen Welterlöser erwarteten fast alle Völker : Juden, Indier, Aegypter, selbst Griechen und Römer (z. B. der eleusinische Cultus ). Spencer und Lilienfeld führen in ihren social - wissenschaftlichen
Werken zahlreiche Beispiele aus den verschiedensten Autoren an ; Lilienfeld sagt Seite 155 in seinen Social-Gesetzen : „ Der Raum fehlt uns, um nur flüchtig einen Parallelismus zwischen den verschiedensten Religions-Systemen des Alter thums und der neuen Zeit durchzuführen. ... Wir wollen hier nur auf die auffallenden Analogien hinweisen, die man
zwischen dem Brahmanismus , dem Buddhaismus und dem Christenthume bei näherer Bekanntschaft mit der Sanskrit
Literatur entdeckt hat“. Auch in der Religion der alten Aegypter finden sich dem Christenthume verwandte Anklänge.
Die Trimurti, das Fleischwerden des Brahma, Krischna, mit dem Strahlenimbus umgeben – im Schoose der himmlischen Jungfrau sitzend – die asketische Weltanschauung Budd
ha's mit seinem Nirvana, Horus im Schoose der Isis sitzend, alles das deutet auf Analogien hin . Buddha wurde so gut wie Christus übernatürlich er zeugt; er ging als Lichtstrahl in den jungfräulichen Leib der Mutter, bei seiner Geburt geschahen Zeichen und Wunder, Götter huldigten dem Neugebornen , er war ein Prinz von Geblüt ; er durchschaut im tiefen Sinnen das Uebel der Weit, und erkannte den Pfad der Erlösung. Buddha war
so gut wie Jesus der Ansicht, dass es schwer sei, reich zu
sein und doch den Weg der Erlösung zu finden ; auch ver sprach er fast mit denselben Worten , durch seine Lehre
ewig bei seinen Jüngern zu bleiben , zu denen nur jene gezählt werden könnten , die ihm wahrhaftig dienten und das Liebste opferten u. 8. w. Es ist also klar, dass Buddha in seinen Visionen oder Träumen in vielen Dingen genau
80 sah , wie Jesus , und ist es lächerlich , wenn man die
-
Die religiösen Vorurtheile.
Gleichartigkeit der Quelle läugnet, aus welcher mehr oder weniger alle, insbesondere aber diese beiden Religionen hervorgegangen sind. Doch gibt es noch viele andere Analogien, z. B. zwischen Eva und Pandora , Bachus und Moses , die beide auf zwei Tafeln Gesetze schreiben und das Meer zurücktreten lassen ;
Jupiter zerstört Thyam, Jehova Sodom aus ähnlichen Grün den ; Klytemnestra und Isaak, Niobe und Loth's Frau u. s. w Wenu wir das allen Propheten und Religionsstiftern Gemeinschaftliche zusammenfassen, so finden wir folgendes Uebereinstimmende :
1. Alle Propheten und Medien sind Ausnahmsnaturen, bei welchen Vorstellungen und Thätigkeiten vorkommen, welche sie einem ihnen unbewussten Einflusse zuzuschrei
ben gezwungen sind, 2. Dieser ausnahmsweise Zustand tritt auch bei ihnen
nur ausnahmsweise auf ; daher man nie weiss , ob das von ihnen Gesagte, Geschriebene oder Geschaute auf Rechnung des Bewussten oder Unbewussten zu setzen ist.
Dadurch
wird auch der häufige Unsinn und das Widersprechende in den Aussagen eines und desselben Propheten begreiflich und erklärlich .
3. Es ist nicht zu läugnen , dass in seltenen Fällen Kundgebungen erfolgen , die für unsere Zeit- und Raum erkenntniss unbegreiflich und dem Wissen und Bildungs
grade der betreffenden Persönlichkeit ganz und gar unent sprechend sind.
4. Es ist nicht zu läugnen , dass in den sagenhaften Mythen und Wundern ein allen gemeinschaftlicher rother Faden zu finden ist , weil bei allen nur ein bestimmter
Umfang von ganz analogen Erscheinungen und Wirkungen gefunden wird.
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Die religiösen Vorurtheile.
Es würde uns zu weit führen , diese vier Punkte bei
allen Propheten der verschiedenen Religionen anzuwenden und zu prüfen , darum wollen wir uns hauptsächlich mit Christus , als der hervorragendsten und einflussreichsten Persönlichkeit befassen.
Was den ersten Punkt anbelangt , so dürfte kaum ein Widerspruch irgendwo erhoben werden ; denn alle Pro pheten berufen sich entweder auf den directen Verkehr
oder doch die Inspiration oder übertragene Mission Gottes. Selbst der chinesische Philosoph Laotse , der 600 Jahre vor Christus lebte, und aus der Urgottheit den Yang und
Yn — nach Pfleiderer : Kraft und Stoff — hervorgehen liess , im Uebrigen den Verfasser von „ Kraft und Stoff (Büchner ) dem Anscheine nach überragt, wollte sein Wissen auch von ,, Tao" haben.
Dieser Tao war ein rein
geistiges Wesen, dessen Sichtbarwerden eben die geschaffene Natur ist. Mahomed wird durch den Erzengel Gabriel
unterrichtet, Tertullian hält sogar jedes erbauliche Buch für inspirirt u . s. w.
Was den zweiten Punkt anbelangt, so kann man in Müllers Briefen über die Religion genügende Zusammen stellungen finden. Aus den Aeusserungen Jesu tritt sehr oft die volle Emancipation vom mosaiscben Glauben hervor und ein anderesmal zeigt sich wieder der Einfluss des ererbten Vorurtheiles. Wir brauchen auch gar nicht in der Vergangenheit zu suchen , die festzustellen , für uns sehr schwierig sein muss ; es genügt , uns an die Erfahrungen der Gegenwart zu halten .
Wir wissen , das Inspiration,
Begeisterung, Paroxismus, Stimmung etwas so Wechselndes ist, dass es uns gar nicht Wunder nehmen kann, wenn wir Widersprüche in den Aussagen der Propheten finden, selbst für den Fall, dass sie immer aus einer und derselben Quelle ihre Inspirationen holen würden. ·Was den dritten Punkt anbelangt, die Wahrheit und
Die religiösen Vorurtheile.
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Grossartigkeit einzelner Kundgebungen, so habe ich zahllose derlei Erfahrungen gemacht , und kann ich auf eine grosse Zahl von Ereignissen dieser Art in Büchern, Zeitschriften und Tagesblättern hinweisen . Richtige , den Thatsachen entsprechende Visionen , Ahnungen , selbst Prophezeiungen innerhalb gewisser Grenzen kommen so häufig vor , dass fast wöchentlich ein solcher Fall zur öffentlichen Kenntniss
gebracht wird, wenn man einen grösseren Kreis von Tages
blättern zusammenfasst. Wir werden auch diesbezüglich der Sache auf den Grund kommen, und all das Uebernatürliche
wird sich uns in ein ganz Natürliches auflösen. Was nun den vierten Punkt, die Wunder und Zeichen anbelangt, so ist es schwer , an Ereignisse anknüpfen zu
wollen, die vor fast 2000 Jahren sich ereignet haben sollen, und von denen wir so unvollkommene , ja mangelhafte Be richte zur Verfügung haben , an deren Fälschung spätere Generationen das lebhafteste Interesse hatten.
Es scheint
viel lohnender, sich an spätere Materialien zu halten , was wir übrigens nachträglich auch thun werden , ich will vor erst nur den Nachweis liefern, dass, wenn auch ein grosser Theil der Jesus zugeschriebenen Wunder und Zeichen eine Wirklichkeit wäre , wir darum noch durchaus nicht vor etwas Uebernatürlichem stünden.
Wir werden also vor
läufig das Leben Jesu von diesem Gesichtspunkte aus be trachten , der ein von Renan und Strauss ganz ver schiedener ist. Hobbes war der Meinung , dass Wunder
wie Pillen zu behandeln seien , die man ganz hinunter schlucken müsse , und nicht kauen dürfe. Die gläubige Menschheit schluckt sie, das Gros der Naturforscher wirft
sie weg ; wir sind weder so gläubig, noch so stolz – wir werden sie analysiren. Doch muss ich den Leser darauf aufmerksam machen , das Jesus durchaus nicht der einzige Wundermann ist ; er wurde z. B. von Apollonius von Tyana nach dem Zeugnisse eines Lucian und Origenes weit übertroffen .
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Die religiösen Vorurtheile.
Richard Wagner lässt den Mime sagen , dass nur ein
dummes kühnes Kind
mit dem Wotapschwert den
Wurm versehrt“ , und Wotan sagt wieder zu Mime : „Nur wer das Fürchten nie empfand, schmiedet Nothung neu !" Das Nichtfürchten hat gewiss seinen Werth, aber
noch lange ist es nicht so nützlich, als das Fürchten schäd lich ist. Wem das Anathema der Priester oder der wisssen schaftlichen Vereinsmeier im Mindesten imponirt, der wird
allerdings den Kampf weder mit dem Drachen des Aber glaubens , noch dem blendenden Lichtfeuer der Wissen schaften bestehen, wer aber diese zwei warnenden Schreck geister mit artiger Geringschätzung bei Seite schiebt, der
wird über das Vorurtheil siegen und sich eine ganz schmucke Brünnbild abholen. Darum , mein lieber Leser , nur keine Furcht, weder vor dem Teufel, noch vor der Lächerlichkeit! Sondern frisch darauf los ! Die Grossverschleisser der himm
lischen Freuden und nicht minder die Urpächter der irdi schen Weisheit sind durchaus nicht sattelfest und unvers
wundbar, doch haben wir gar nicht nothwendig, den Kampf mit ihnen aufzunehmen, wir haben sie einfach vorläufig zu
ignoriren, und können uns ja später nach Bedarf mit ihnen unterhalten .
Als das erste und älteste Evangelium wird das des
Markus betrachtet, wenngleich es auch Stimmen giebt, welche die Evangelien des Matthäus und Lucas 60 Jahre, das des Markus 68 Jahre nach Christus zu Rom und Alexandrien entstehen lassen . Sowohl dieser Umstand als auch die Form der Er
zählung berechtigen uns , dieses Evangelium als das aller Wahrscheinlichkeit nach treueste anzunehmen ; eine Ansicht, die auch Herder vertrat. Und doch soll nach Eusebius
selbst dieses aus Lehrvorträgen des Petrus entstanden sein. (Müller's „Briefe“ Seite 14.) Wie dem immer sei , gan %
Die religiösen Vorurtheile.
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aus der Luft gegriffen werden die verschiedenen Legenden kaum sein, und werden wir das Erzählte mit späteren ver wandten Legenden vergleichen können , um uns dadurch ein Urtheil über ihren Werth , ihre Wahrscheinlichkeit und Consequenzen zu bilden. Was die Geburt Christi anbelangt, so hat man von
gewisser Seite schon aus den Sätzen des alten Testamentes seine göttliche Sendung beweisen wollen. Diese Ankündi gungen sind so unbestimmt, dass die Juden weder damals
noch jetzt in Jesu den verheissenen Messias sehen wollten und wollen. Die christlichen Schriftgelehrten sind diessbe züglich von einer staunenswerthen Genügsamkeit. Der Prophet Jesaias 40. 3. sagt : „ Es ist eine Stimme eines
Predigers in der Wüste ; bereitet dem Herrn den Weg, machet auf dem Gefilde eine ebene Bahn unserm Gott“.
Und der Prophet Maleachi 3. 1. sagt : „ Siehe, ich will meinen Engel senden, der vor mir her den Weg bereiten soll .
Und bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr,
den Ihr begehret". Das sind die Stellen der Schrift, auf welche sich Markus beruft. 1. C. 2. 3.
Rechnet man noch
die Stelle hinzu , welche sich auf dessen Tod bezieht , dass er „ den lebelthätern gleich gerechnet ist“ , Jesaias 53. 12. und Marcus 15. 28., so ist das alles und man muss gestehen, sehr wenig ! Die Schilderung, welche Jesaias vom Messias entwirft, ist noch weniger zutreffend. C. 11.
Was nun die Wunder anbelangt, so wollen wir uns vorerst mit den wunderbaren Heilungen befassen , deren an
14 Stellen im Evangelio des Markus Erwähnung geschieht. Diese Thatsachen alle für wahr angenommen , müssen wir hervorheben, dast Christus 1. nicht Alle, sondern nur Viele heilte ; 1. 34. , 6. 4. und 5.;
2. dass er auch Mittel und Berührung anwendete;
Die religiösen Vorurtheile.
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3. dass er mitunter eine persönliche Empfindung hatte, wenn er heilte. „ Und Jesus fühlte alsbald an sich selbst
die Kraft, die von ihm ausgegangen war , und wandte sich um
zum Volk und sprach , wer hat meine Kleider be
rührt ? " 5. 30 .
Es ist dies nothwendig zu constatiren , weil in allen Zeiten und selbst in unsern Tagen solche Thatsachen be richtet werden. Die modernen Quacksalber , Magnetiseurs
und sympathetischen Wunder-Doctoren machen es genau so ; sie heilen nicht Alle, sie verwenden Mittel, berühren, mag netisiren, massiren u. s. w. Es hat sich also diessbezüglich bei Jesus nichts zugetragen, was nicht auch heute vorkommt ;
ob es im Wege der Einbildung oder unbekannter Einwir kungen geschieht, ist vorläufig gleichgiltig. Ich kenne eine Dame, die von sehr Vielen und wiederholt um magnetisirte
Wolle von weit und breit angegangen wird, und sehr Viele behaupten , Hülfe gefunden zu haben , darum ist sie aber doch kein Messias. Auch wird sich schwerlich die Gottheit
einmischen. Dass aber nicht immer blosse Einbildung von Seite des Kranken das Heilmittel ist, geht aus den Experi
menten der Leipziger und Dresdener Professoren mit Han sen hervor.
Von den Zeiten Solon's bis aufMesmer und den heuti
gen Tag wurde über Magnetismus viel gesprochen, behauptet und gelogen. Man konnte nur sehr schwer ins Reine mit diesen
Erscheinungen gelangen , weil sich nur schwer und selten ein Experiment beobachten liess. Die geeigneten Individuen waren selten, auf welche man wirken konnte, noch seltener
waren Magnetiseure, wenn man von den Charlatans absieht. Eines ist gewiss , dass es immer Menschen mit einer unbe greiflichen Willensmacht gegeben hat; was aber einst Wunder war, ist zum Experiment geworden , wovon sich der Leser sogleich überzeugen wird.
Ein Leipziger hatte die Freundlichkeit , mir einige
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Zeitungs -Artikel, darunter die Dresdener Nachrichten vom
22. April und die Leipziger Nachrichten vom 6. April 1879, nebst noch anderen , zu senden. Das letztere Journal schreibt : Im Banne des Magnetismus.
Die merkwürdigen Experimente, welche der Magnetiseur Han sen kürzlich hier in der Centralhalle vorführte , wurden von vielen
Besuchern derselben als Aeusserungen der bisher wissenschaftlich noch
wenig bekannten Naturkraft, die wir Magnetismus nennen, aufgefasst, während viele andere Besucher die Vorführungen als aus einem Ein verständniss zwischen dem Magnetiseur und Magnetisirten hervorgehend, also als Schwindel, betrachteten. Um dieser Frage auf den Grund zu kommen , ersuchten wir einen unserer Herren Berichterstatter,
Herrn
V. Müller, sich persönlich solchen Experimenten unterziehen zu lassen und wahrheitsgetreu darüber zu berichten. Das Ergebniss_findet der
geneigte Leser in den nachfolgenden Zeilen , die keinen Zweifel ge statten, dass hier wirklich eine wunderbare, noch geheimnissvolle Natur Die Red. d. Lpz. Nachr.
kraft waltet.
Nicht sowohl die Wahrnehmung durch Auge und Ohr , die blosse Anschauung der in den Vorstellungen des jüngst hier
anwesenden Magnetiseur Hansen vor einem überraschten Publi kum vorgeführten , fast unglaublich erscheinenden Experimente, sondern vielmehr die direkte Empfindung einer bestimmt wir kenden Kraft gab zuletzt den Ausschlag , die bestimmte That
sache von dem Vorhandensein eines intensiv ausgeprägten ani malischen Magnetismus constatiren zu lassen.
Auch ich gehörte , dass muss ich unverhohlen gestehen , ursprünglich zu einem der stärksten Zweifler an der Hansen'schen Theorie und Praxis. Wenn er mich eines besseren belehrt , ver danke ich es der letzteren. Dreimal schlug mich der Magnetismus
in seine Fesseln , dreimal widerstand ich vergebens einer geheim nissvollen , anziehenden Kraft und nahm dann endlich Angesichts zahlreicher ehrenwerther Zeugen die Ueberzeugung aus allen
diesen Versuchen mit hinweg, dass die Experimentc des Herrn Hansen , soviel sie auch belächelt, bezweifelt und angegriffen worden sein mögen , immer die unantastbare Wahrheit einer bestehenden Thatsache umschliessen .
Im Laufe der letzten Woche des März prüfte mich Hansen auf das Vorhandensein meiner Empfänglichkeit für den Magne tismus. Er fand sie , indem er mich scharf und durchdringend mit seinen grossen, wie in unheimlichem Feuer glühenden Augen fixirte , meine beiden Hände in die seinen nahm und dann die
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Die religiösen Vorurtheile.
Daumen fest umschloss. Der Eindruck , denn ich von dem Manne mit den scharf hervortretenden Augen , in denen weitgeöffnete
Pupillen lagen , empfand, war geradezu ein gewaltiger, unwider stehlich packender . Unwillkürlich befand ich mich von einer besonderen Macht eingenommen. Es schien in der That, als ob
seine weitgeöffneten Augen ein magnetisches Bindemittel aus. strömten. Ein starker empfindlicher Druck , den Hansen auf meine Stirn, dicht über den Augenbrauen ausübte , ein langsames Umstreichen meines Gesichts , ein mehrmaliges Umkreisen seiner Hände um meinen Kopf (gleichsam als wollten sie die Laft zertheilen) machte mich völlig magnetisch. Hansen drückte mir die Augenlider zu ich öffnete die Augen widerstanden noch der Kraft noch ein stärkerer Druck , und wie ein Flor legte es sich auf die Augen , die ich trotz aller Anstrengung
nun nicht mehr aufzuschlagen vermochte. Ein rasches „ Wach “, ein Hauch und im Nu erhob ich den Blick , überrascht meine Umgebung betrachtend. Weitere Versuche blieben an diesem Tage ohne Wirkung
an mir. Hansen war diesmal weniger gut disponirt , was leicht erklärlich , als das geheimnissvolle Fluidum bei ihm auch öfters
in der Stärke und Ausdauer zu wechseln pflegt. Kurz nach der Montagsvorstellung begann im Privatcomptoir des Herrn Römling Herr Hansen seine weiteren Versuche mit mir.
Eine Anzahl
competenter Zeugen wohnten denselben bei. Diesmal glückte Alles mit grösserem Erfolge. Nur ganz kurze Zeit unterlag ich der Einwirkung des stechenden und brennenden Blicks , den Herr Hansen auf mich warf, als mich auch schon seine eigentümliche Kraft in ihre Kreise zog.
Wieder wurden meine Augen geschlossen , der Druck war schon krampfhafter, die Augenlider blieben fest uud unbeweglich, ein nebelartiges Wallen um sie war das Einzige , was ich ver spürte. Nun setzte Hansen seinen Blick scharf in den meinen ein ; er ging einige Schritte vorwärts, wobei er seine Hände ausgestreckt lebhaft nach mir bewegte.
Regungslos blieb ich zurück. Pochte ich doch auf meinen eigenen Willen , ihm nicht zu folgen. Immer schneller wurden Hansen's Gestikulationen .
Da , ich kann selbst nicht sagen , wie
es eigentlich geschah, neigte sich mein Kopf nach vorn , er rückt weiter vor, das Gleichgewicht des Körpers schwankt, der Schwer
punkt rückt aus seiner Lage und , um den Körper nicht stürzen zu lassen, ziehe ich mechanisch die Beine nach. Ich folge. Dann
Die religiösen Vorurtheile.
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wieder dasselbe Spiel. Immer muss der Kopf vorneweg ,
immer
wieder schleppen sich die Beine nach. Ich gehe , gehe Hansen nach , um den Tisch herum , im Kreise , wohin mich sein Blick lenkt. Hansen stösst mich zurück.
Ich weiche.
Der Kopf beugt
sich diesmal nach hinten , die Beine suchen rückwärtsgehend ihren naturgemässen Halt.
Bei vollster Besionung und Empfindung folgt hier der Empfängliche willenlos dem Einflusse einer Macht, weshalb, weiss er selbst nicht. Noch weiter geht Hansen. Mit scharfer Bewe gung streift er mein Gesicht und drückt wieder scharf auf die Stirn . Er heisst mich meinen Namen sprechen. Dies geschieht.
Ein zweiter Druck und dieselbe Bewegung auf die Stirn macht die Aussprache schon gedämpfter. Ein dritter Druck hebt meine Willenskraft zum Sprechen ganz auf. Ich ringe und ringe mit einer unsichtbaren Kraft. Nur die Lippen bewegen sich noch .
Ein Hauch von Hansen , ich bin der Sprache wieder mächtig. Dann lege ich die Spitze meines rechten Zeigefingers auf Han sen's innere Handfläche; er streicht mebrmals stark den betref fenden Arm und nur mit dem Finger an seine Hand gelehnt, gehe ich ihm nach , wes Weges er mich weist. Instinktives. Ge horchen ist Alles, was man empfindet. Der dritte Versuch geschah in einem Privatzirkel , in der
Wohnung des Herrn Professor Zöllner , in Gegenwart erlesener Beobachter .
Herr Hansen wiederholte såmmtliche oben darge
legte Experimente an mir. Hier sollte mir nun der interessan teste seiner Versuche, der schon bei Hansen's öffentlichem Auf
treten so grosse Sensation erregte, nicht vorenthalten bleiben. In aufrechtstehender Stellung , die Beine fest zusammen gepresst, vom Kopfe bis zum Fusse wurde ich magnetisirt. Iu diesem Zustande bestrich mich Hansen mit beiden Händen gleichmässig von oben bis unten , presste zu öfteren Malen seinen Kopf an die Magengegend meines Körpers und schob nochmals die Beine an den Knieen fest zusammen . Nach mehr maliger Wiederholung dieser Procedur war ich richtig „präparirt“. Hansen nabm mich wie ein Stück Holz in die Arme und legte den gleichsam erstarrten Körper auf zwei Stühle , derart, dass
der Kopf auf dem einen , die Füsse auf dem anderen ruhten. Der Körper hing ruhig in der Schwebe. Willenlos liess ich den ganzen Vorgang an mir vorüberziehen . Dabei verspürte, ich
nicht die geringste Anstrengung, die doch sonst bei jeder der artigen Uebung unvermeidlich gewesen wäre. Zunächst benutzte Hellenbach , Vorartheile. II.
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Die religiösen Vorurtheile.
Herr Hansen mein liebes Ich als Sopha. Wohlgefällig setzte er sich auf mich. Trotzdem war mir sein Aufenthalt auf meinem
Magen durchaus nicht beschwerlich. Auch , als Herr Hansen sich anschickte , aufrechtstehend auf meinem Körper zu balan ciren , empfand ich weder einen besonders starken Druck , noch irgend welche schmerzhafte Einwirkung seiner Stiefelabsätze. Ruhig schaute ich aus meiner horizontalen Lage in aller
Gemüthsruhe den sonderbaren gymnastischen Uebungen Ilansen's zu , bis ich durch eine schnelle Bewegung seinerseits mit aller Vehemenz in eine rechtwinkliche Stellung nach dem Fussboden zu zusammenknickte. Hülfreiche Hände verhalfen mir wieder zur
üblichen menschenwürdigen Basis. Aus allem Diesen habe ich entschieden das feste Bewusst sein von der Existenz einer råthselhaften Kraft ziehen müssen. man sie Magnetismus nennen , oder als Unterdrückung, Ersterbung des eigenen Willens , der eigenen Beherrschung be zeichnen, immer tritt in der ganzen Erscheinung die Thatsache
Mag
hervor, und die ist es , welche zum Denken reizt , weiche mit
Bewunderung und Erstaunen den Beobachter, sei er activ oder passiv, erfüllt.
Hansen operirt mit einer Sicherheit, die nur aus dem Be wusstsein entspringen kann , dass seine Sache eine gerechte ist ; und dabei ist sein ganzes Auftreten ein so anspruchloses , be scheidenes ja fast gemüthliches , dass es ihm in den meisten Fällen überraschend schnell gelingt , den schüchtern und doch so neugierig sich ihm Nahenden unter den Einfluss seines mag -
netischen Fluidums zu bringen , wie sehr sich Jener auch immer dagegen sträubt. Von Charlatanerie haben wir keine Spur bei ihm entdeckt. Eigenthümlich ist die verschiedene Wirkung seiner Experimente. Während er bei mir nur physisch und
zwar mit eigener grosser Anstrengung zu wirken vermochte, versetzte er andere Empfängliche, physisch und psychisch zu gleich, in den Zustand der eigenen Willenlosigkeit. Volkmar Müller. Das Dresdener Journal schreibt : ,, Ein magnetischer Redactions -Versuch !
Dass des Magnetiseur Hansen's sensationsvolles Auftreten im Victoria - Salon in allen Kreisen Dresdens auf das Leb
hafteste besprochen wird , war vorauszusehen ; wurde doch allein in unserm Redactionszimmer seit Sonnabend von Gelehrten wie
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Die religiösen Vorurtheile.
Laien heftig gestritten ; die Controverse hiess : Wahrheit oder, Täuschung ? Je ausserordentlicher und unfasslicher eine Erschei nung ist , desto natürlicher ist ihr gegenüber der Zweifel. Einige bei uns laut gewordene Aeusserungen in dieser letzteren Richtung waren auch zu den Ohren des artistischen Directors des Victoria
Salons , Herrn Lichtenstein , und durch ihn zu Prof. Hansen's Kenntniss gekommen und gestern Vormittag erschien Letzterer
unerwartet im Redactionslokale und erklärte sich bereit , sofort die Echtheit seiner Kraft durch den Augenschein zu beweisen. Dass dieses Anerbieten mit Interesse angenommen ward , ist darunter auch Verfasser selbstredend . Einige Mitarbeiter dieses einige der Herren Setzer und ein zufällig anwesender
kaiserl. Postbote begannen sofort die magnetische Sitzung , bei der durch die vollständige Unbekanntschaft mit den Experi mentirenden und der ausserdem von vielen Umstehenden ge führten schärfsten Controle jede Annahme einer aussermagneti.. schen Beeinflussung durchaus ausgeschlossen war. Die Vorberei
tungen wurden genau in derselben Weise vorgenommen , und ganz wie dort lähmte Prof. Hansen die körperlichen und geisti gen Functionen von vier der Sitzungstheilnehmer, was hier im
Dienste der Wahrheit offen erklärt sei. Verfasser dieses , wie die von ihm als empfänglich ausgewählten übrigen Herren empfanden die Gewalt des undefinirbaren Fluidums auf's Uu Verfasser dieses vermochte, trotz aller Anstren gung , die geschlossenen Augen nicht zu öffnen und auch den geschlossenen Mund nur nach vielem Anstrengen wieder zu be
zweifelhafteste.
wegen , während dies den Anderen gar nicht gelang. Der eine Herr aus dem Setzersaal war nicht im Stande seinen Namen, noch sonst etwas über sich zu sagen , nicht weil ihm die Fähig keit der Sprache genommen war
sondern
die hatte er
weil sein Gedächtniss durch die mächtige Hand Hausen's mo mentan ausgelöscht war ; derselbe Herr musste , nur mit einem Finger Hansen's offene Hand berührend , mit ihm herum laufen,
musste ferner dasselbe thun , nur vom Blicke des Magnetiseurs gefesselt, vergebens versuchte er mit aller Energie Schläge , erst nach der Hand des Magnetiseurs und da er dieselbe mit den Knöcheln empfindlich gestreift, nun desto kräftiger nach dem dargebotenen Kopfe seines Beherrschers zu führen , dicht am Kopfe nahm seine Faust eine abschweifende Richtung an ; er sank ferner sofort in eine vollständige körperliche und geistige Lethargie , in welcher er todt und starr dalag , bis eine blitz 3*
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Die religiösen Vorurtheile .
schnelle Handbewegung und ein Aüchtiges Anbauchen Seiten Hapsen's ihn sich selbst zurückgab u. s. w. Angesichts dieser Experimente , bei denen , wir wiederholen es auf das
Nachdrücklich ste , in Folge des Umstandes schon , dass Niemand auch nur Minuten vorher von dem Kommen Herrn
Hansen's etwas wusste und der unbezweifelbaren Glaubwürdigkeit
der betreffenden Magnetisirten , musste uns wenigstens jeder Zweifel schwinden , und da wir diese Kraftäusserungen in so glaubwürdiger Weise vor uns sahen und fühlten , wie wollten
wir denn und könnte überhaupt Jemand die Grenze dieser Kraft bestimmen und sagen , Das ist möglich und Jenes nicht ? Die Macht dieses Magnetiseurs , scheint es , findet ihre Grenze
eben nur in der geringeren Empfänglichkeit des einzelnen Sub jectes für die Einwirkung des Fluidums. Für de
festen Glauben
Hansen's an seine Kraft spricht , doch auch zur Evidenz, dass er sich in einen Kreis ihm gånzlich fremder Menschen begah, von denen ihm , ehe er noch begann , kurz vorher die Zweifel offen ausgesprochen wurden . Welche Anstrengung die Kraftentwicklung dem Operirenden selbst verursacht , davon hat
ganz
sich Verfasser dieses auch noch dadurch persönlich überzeugen können , dass er durch Auflegen der Hand an den Kopf des selben fühlte , wie er pass und heiss war. Es ward uns erzählt, dass am Morgen nach dem ersten Auftreten Hansen's ein hiesi ger vornehmer Herr bei jenem Herrn Küche , mit dem er die Ammengeschichte ausführte , und der , durch seinen öfteren Ver kehr im Victoria - Salon der Mithilfe verdächtig geworden war, erschien , ihm eine grosse Summe bot , wenn er der Wahrheit
die Ehre geben und gestehen wolle , dass er aus Gefälligkeit sich als in dem Wahne befangen gestellt habe , und dass Herr Küche darauf antwortete : „ und wenn Sie mir Millionen geben , ich weiss von Nichts !" Dies scheint uns nun voch zweifelloser als erst. Gewiss ist , dass der Besuch Professor Hansen's im
Redactionslokale einer der interessantesten und überzeugendsten war, die wir zu en p'angen das Vergnügen hatten. “
Ich habe die Mühe nicht gescheut , nach Leipzig zu
reisen, sowohl um diese Tbatsachen mit eigenen Augen zu sehen, als auch um mit Hansen Rücksprache zu nehmen ;
ich gehöre eben nicht zu jenen , die, wie so manche Natur forscher, über Dinge zu urtheilen sich anmassen ,
Die religiðsen Vorurtheile.
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die sie nicht nach Kräften zu erforschen be müht waren. Ich habe diesen Versuchen in einer nach
Hunderten zählenden Versammlung von Studirenden der Leipziger Universität und auch im engeren Kreise beige wohnt , und kann obige Notiz nicht nur bestätigen , son dern versichern, dass einzelne Experimente noch weit über das hinaus gingen. Einer der Studenten , ein Pole dem Namen nach , kam derart unter die Macht des magischen Willens Hansen's, dass er im bewusstlosen Zustande Alles that , was Hansen wollte , sich niederkniete und wie im
Starrkrampfe in einer unnatürlichen Stellung durch Minuten verharrte, während die Anwesenden seine Pupillen betrach teten , Wer die Physiognomien der Magnetisirten beob achtete, wenn sie von Hansen in ihren natürlichen Zustand
zurückgerufen wurden , konnte schon an dem Wechsel des Gesichtsausdruckes wahrnehmen , dass von einem Betruge keine Rede sein kann. Ueber einzelne Experimente und die aus ihnen sich ergebenden Consequenzen werden wir uns später unterhalten. Professor Thiersch widmet sich der Untersuchung dieser Experimente ; wie dem aber immer sei , der Beweis ist hergestellt, dass wir von der Macht des menschlichen
Willens so viel wie gar nichts wissen. Kann Hansen die Menschen steif machen , warum soll ein Anderer die
Lahmen nicht gehend machen können. Beides ist unerklär lich, wenn auch nicht dasselbe. Zwischen Hansen und Jesus ist allerdings der gewaltige Unterschied der Indivi dualität , der Tendenz u. s. w. , aber beide sind anormale Organisationen, die mit einem magischen oder magnetischen,
jedenfalls aussergewöhnlichen Willen begabt waren.
Aehn
liches kommt auch im gewöhnlichen Leben vor, wenn auch
minder grell und auffallend. Ich war einmal auf Besuch bei einem Nachbarn , der von einem heftigen Gesichts- und Kopfschinerze befallen
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Die religiösen Vorurtheile .
wurde ; er bat mich, seine Hände zu fassen, fühlte Erleich terung und schlummerte ein. Des Nachts wurde ich von seiner Frau gebeten , wieder zu ihm zu kommen, um aber mals seine Hände zu fassen, worauf er wieder Erleichterung
fühlte und einschlief. Des Morgens fühlte er sich wohl. Ich bin weder Arzt noch Magnetiseur , noch Messias, und ich erinnere mich nicht , je früher oder später Aehnliches gethan zu haben , es würde das auch gar nichts beweisen, wenn ich nicht eine Müdigkeit im Arme bis zum Ellbogen empfunden hätte , welche beweist, dass etwas in mir vorgegangen sein muss. Wenn ich in heisses Wasser einen kalten Gegenstand
lege, so werde ich das Wasser abkühlen ; wenn ich in eine dicke Flüssigkeit eine dünne schütte, so werde ich sie ver dünnen, beziehungsweise verdicken, es ist also ganz begreif lich, dass ein gesunder Mensch im gesunden Zustande durch die Regelmässigkeit seiner Zustände , Bewegungen oder Strömungen im Innern seines Körpers die Irregularität eines Kranken zu beeinflussen vermag .
Wie sollte man
sich sonst die Wunderwirkung der animalischen Bäder er klären , wo ein steifer Arm mit zwei drei Bädern wieder
ganz hergestellt wird ? Die Zellen des eben hingeschlachteten Thieres sind noch lebend , und die erhaltende, fungirende und heilende Kraft unseres Organismus scheint sich der ihr gebotenen Kräfte zu bemächtigen, um den eigenen Organis mus zu heilen ; es ist daher sehr gut denkbar , dass es Organismen gibt, die in einem sehr hohen Grade die Fähig. keit besitzen , auf einen fremden einzuwirken . Wie dem immer sei , das Eine ist gewiss , dass in allen Zeiten und
auch jetzt zahllose Fälle vorkommen , oder doch berichtet werden, wo Heilungen durch Berührung, magnetischen oder magischen Willen behauptet werden. Schindler hat folgende bemerkenswerthe Stellen in seinem magischen Geistesleben angeführt, bei Stobäus
Die religiösen Vorurtheile.
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aus den Sentenzen Solon's : , Doch wer bitter gequält von 77
böser beschwerlicher Krankheit , mit den Händen berührt wird , steht plötzlich gesund.“ Bei Martial : ,,Die Berührerin durchläuft mit ge.
schickter Kunst den Körper und besprenget mit fertiger Hand alle Glieder.
Wie wenn ich ihn mit gezogener Bei Plautus : Hand berührte, dass er schliefe. “
Ferner noch von Apulejus und Aurelius Pru dentius, Agrippa und Jacob Böhme. Was also die Wunder Christi in Bezug auf Heilun gen betrifft, so haben sie nichts voraus gegenüber ganz
ähnlichen Fällen oder Behauptungen der Vergangenheit und Gegenwart .
Das ist es , was ich vorläufig nachweisen wollte ; wir werden später schon mehr Licht in die Sache
bringen können. Dass die Erweckung von Todten offenbar einer Uebertreibung zugeschrieben werden muss , ist um so weniger zu bezweifeln , als selbst in unseren Tagen ein Laie den Unterschied zwischen Tod , Scheintod und Ohn macht nicht zu treffen vermag. Es kann auch ganz gut angenommen werden , dass Jesus an Macht des Willens
andere anormale Organisationen ebenso überragte , als er seine Zeitgenossen an Intelligenz , Wohlwollen und Moral weit überragt . Bei den anderen Wundern muss man einen Unter
schied machen zwischen Begebenheiten, deren Beurtheilung selbst einen Augenzeugen schwer gewesen wäre , ob man es nämlich mit einem Wunder , oder aber einer gemachten oder zufälligen Begebenheit zu thun habe , und zwischen Begebenheiten , die nur fünf gesunde Sinne brauchen , um nicht missverstanden zu werden.
Zu den ersteren gehören das sich Legen des Windes, die unbegreifliche Menge von Fischen und Broden, der ver trocknete Feigenbaum ; was kann da Zufall und Vorbereitung
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Die religiösen Vorurtheile .
nicht alles veranlassen , wer will die Garantie übernehmen , dass ein begeisterter Anhänger nicht nachträglich seinen Unmuth mit oder ohne tendenziöser Absicht an dem Feigen.
baume ausgelassen !? Die Finsterniss bei seinem Tode, das Zerreissen des Vorhanges im Tempel gehören auch zu den nur mit Gewalt in einen nothwendigen Zusammenhang ge. brachten Ereignissen. Zieht man diese Legenden ab , so
bleibt nichts als die Prophezeiungen, die gehörten Stimmen, die Visionen und das Wandeln auf dem Meere.
Was die Prophezeiungen anbelangt , so finden sich deren drei über sein eigenes Schicksal bei Marcus S. 31., 9. 31. oder 10. 33. Christus sieht voraus , dass er durch
die Priester und Schriftgelehrten, die er in ihrem Erwerbe gestört und doch bedroht , wird verurtheilt werden. Nun das war allerdings nicht schwer vorauszusehen , wenigstens
zu jener Zeit , als Christus die Voraussage machte , wo er Communismus und Askese lehrte, wo er sich den König der Juden nennen liess und von David abstammen wollte u . s. w. Ich glaube nicht, dass irgend welche Machtbaber der Welt
einen Agitator seiner Art ruhig gewähren liessen. Jesus lehrte und that beiläufig, was man heutzutage Hochverrath oder socialistische Propaganda nennen würde , und ein solcher Agitator könnte, falls sein Name in die Oeffentlich keit gedrungen, sein Schicksal sehr leicht voraussagen ; dass er wieder auferstehen werde, war keine Prophezeiung, son
dern die nothwendige Consequenz seiner Lehre : irdischer Pessimismus und transcendenter Optimismus.
Nun aber muss man erwägen, dass er auch falsche Prophe
zeiungen machte , denn die beiden Prophezeiungen bei Markus (9. 1. und 13. 30. ) : dass die lebende Generation noch erleben werde das Reich Gottes u. s. w., haben sich
nicht bewahrheitet, und dürften höchst wahrscheinlich ein Schreckschuss für die Zuhörer der Apostel gewesen sein
Was die gehörten Stimmen anbelangt, so wäre nach
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Die religiösen Vorurtheile.
Markus Christus derjenige, der die Stimme nach der Taufe
des Johannes vernommen , nach Matthäus aber Johannes. (Mark. 1. 11 und Matth . 3. 17.) Die Stimme aus der Wolke könnte als von Allen gehört vielleicht angenommen
werden , aber die Stelle ist ganz unklar. Derartige Hallu cinationen Einzelner , die sich selbst objektiv bewahrheite ten , sind eine so häufige Erscheinung , dass Christus da auf gleicher Stufe mit vielen Anderen steht.
Wir brauchen
weder auf Sokrates, Keppler oder Johanna d'Arc zurück zugreifen , im bürgerlichen Leben erscheinen fortwährend Notizen in den Blättern über ähnliche Fälle.
Ganz dasselbe gilt von den Visionen. Es gibt auch heute Menschen , die da behaupten , eine Vision gehabt zu liaben, wenn jemand stirbt, oder wenn sie auf den Friedhof gehen ; es kann daher durchaus nicht überraschen, dass die Frauen bei dem Tode einer so hervorragenden Erscheinung
wie Jesus, an seinem Grabe einen Engel sitzen sehen wollten. Selbst die Erscheinung Christi zwischen den ver sammelten Aposteln ist nichts Neues ; in Amerika und England versammeln sich auch einige Menschen , die den Aposteln an Wissen und Bildung weit überlegen sind, und haben solche Visionen selbst collectiv.
Ob das nun wahr
sei, und wie sich das erklären liesse , gehört vor der Hand nicht her. Ich habe mich nur zu dem Nachweise verpflich tet, dass zwischen den alten und neuen Aposteln
in Bezug auf das Wunderbare kein Unterschied ist. Jetzt bleibt das auffallendste Wunder noch, das Schwe ben Christi auf dem Meere. Hier ist von keinem Tode
oder Grabe die Rede , ein Grund zu einer Hallucination
liegt nicht vor ; und wenn mehrere Menschen gleichzeitig Jemanden in der Luft schweben sehen
auf
dem
Meere
ist
wohl
dasselbe
denn das Gehen so wäre eine
Sinnes - Täuschung doch schwer anzunehmen ; sehr Viele werden daher den Schluss ziehen, dass die ganze Geschichte
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Die religiösen Vorurtheile.
erfunden sein müsse. Ich kann darauf nur antworten, Jesus
braucht kein Messias zu sein , kein Sohn Gottes , dem es gestattet wäre, die ewigen Naturgesetze aufzuheben , um auf dem Meere wandeln zu können .
Es ist durchaus nicht notlı
wendig, dass die Evangelisten diessbezüglich gelogen. Der heilige Franciscus und die heilige Theresa sollen geschwebt
sein . Die Chroniken des Alterthums berichten , dass das freie Schweben als ein Beweis von Hexerei und Teufels
Besessenheit angeschaut und häufig beobachtet wurde ; Aehnliches berichten übereinstimmend alle Ergebnisse der spiritistischen Literatur ; und ich muss der Wahrheit gemäss
bestätigen , dass ich und zwei meiner Freunde , von denen sich der eine nur mit der Verwaltung seines Vermögens, Graf Ch ... k , und der andere fast nur mit den Karten
beschäftigt, Graf Cs . . y, also beide einer mystischen Rich tung noch weniger angehören als ich , in meiner eigenen frei in der Luft ge Wohnung man könnte sagen
schwebt sind , Allen sichtbar , und dass weder wir drei noch der anwesende Amerikaner , der selbst sitzend nur die Hand auf die Sessellehne legte, irgend einen Anspruch auf die sociale Stellung eines Messias erheben . Wenn man die ganze heilige Schrift durchliest , so
wird man finden , dass der grösste und beste Theil der sogenannten Wunder und Zeichen immer und bei allen Völkern zu finden war , und auch heutigen Tages zu
finden ist ; daraus geht nun allerdings nicht hervor , dass er durchwegs auf Wahrheit beruhe , wohl aber , dass er, wenn thatsächlich wahr , nicht auf das Conto des Ueber natürlichen oder gar der Gottheit gebucht werden darf, weil man da ganz gewiss zu falschen Bilanzen kommen muss . Der Leser muss sich ebenso vor dem spiri tistischen
Schlusse
hüten :
„ Wenn
das
Alles
wahr
ist , so ist es übernatürlich , göttlich u. . w. “ , als : , wenn die Wissenschaft das für unmöglich erklärt, so ist es nicht
Die religiösen Vorurtheile.
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wahr.“ Aus diesen voreiligen Schlüssen sind die religiösen und wissenschaftlichen Vorurtheile entstanden .
Denn die
Männer der Wissenschaft wissen sehr viel , aber denken mitunter sehr wenig , weil es ihnen sonst klar sein müsste,
dass es nur logische und mathematische Unmöglichkeiten
gibt, während alles, was in der Erfahrung gegeben ist , eo ipso möglich war und ist. Unser ganzes Wissen in Bezug auf die Natur beruht auf Erfahrung und muss sich jenes dieser immer anpassen .
Die Stellen Joh. 8. 59. und Luc. 4. 30., zufolge wel chen Christus seinen Verfolgern entschwindet, „ mitten durch sie geht“ , „sich verbirgt“ u. s. w. , wird von Vielen so ge deutet , dass er die Gabe des Verschwindens gehabt habe.
Nun , das wird auch in neuerer Zeit laut vielen überein stimmenden Nachrichten aus Amerika und England be hauptet.
Ein Beweis , dass diese Dinge keine neue Erfin
dung und Specialität des christlichen Wunderglaubens sind . Alfred Russel Wallace , der geistige Mitarbeiter Darwin's , führt in seiner Vertheidigung des modernen Spiritualismus eine ganze Reihe übereinstimmender Behaup
tungen der Evangelisten und Spiritisten und analoger That sachen an ; in wie weit sie auf Wahrheit beruhen oder richtig erklärt sind , ist vorläufig Nebensache; wir haben es hier nur mit der Frage zu thun , ob zwischen den ; Wundern
der alten und neuen Propheten ein
Unterschied bestehe.
Jeder aufmerksame Leser der
einschlagenden Schriften wird zugestehen müssen , dass wir vor einem ganz analogen Phänomen in beiden Fällen stehen. Sind sie heute wahr, so werden sie auch damals wahr ge
wesen sein , sind sie erlogen , so wird das um so leichter damals zu bewerkstelligen gewesen sein . Es waltet hiebei nur der Unterschied, dass es uns sehr schwer fallen dürfte, die Wahrheit von damals sicherzustellen , während es sehr leicht ist, die Thatsachen der Gegenwart zu prüfen.
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Die religiösen Vorurtheile .
Ja, aber
wird der Leser ausrufen
wenn Christus
dies Alles nicht durch göttliche Intervention vollbrachte , und sich für einen Abgesandten Gottes ausgab , so war er ja ein Betrüger ? Das war er gewiss nicht. Er war einer der edelsten und wohlwollendsten Menschen , der die Lage seiner Mit menschen würdigte, und erkannte , dass mit den irdischen
Freuden und Zwecken, mit den alttestamentarischen Glaubens artikeln die Welt nicht verstanden werden , die Menschheit
sich nicht entwickeln könne. Er muss eine tief empfindende und hoch intelligente Erscheinung gewesen sein, ausgerüstet mit einem sehr kräftigen Willen und einer unwiderstehlichen Anziehungskraft für seine Umgebung. Bei solchen Eigen schaften, bei so edlen Absichten ist es ganz natürlich , dass er sich nach und nach für einen Abgesandten Gottes , für den Messias hielt. Alle Schwärmer hat noch ein Geist, ein Engel, eine Vision in die Einsamkeit , die Kirche oder die
Wüste geführt. So auch ihn. (Marc. 1. 42., Matth. 4. 1., Luc. 4. 1.) Ich kenne mehrere Personen, welchen Gedanken aus unbekannter und unbewusster Quelle zukommen. Doch das wäre noch das Wenigste. Er verrichtet - ihm selbst Anfangs unbekannte sogenannte Wunder , seine Umgebung schreit sie für das und ihn für einen Propheten und Messias aus, wie sollte er nicht selbst daran ehrlich geglaubt haben ? Haben es vor ihm und nach ihm nicht so viele Religions stifter gethan ? Was soll denn die Lehre Buddha's, die
Begeisterung der Jungfrau von Orleans und so vieler Anderer für eine Unterlage haben , als eine unbewusste ? Johanna war für so manchen auch ein Messias für eine kurze Zeit ;
auch sie war ein gottgesandtes Wesen für ihre Zeitgenossen . Um wie viel mehr verdient nicht Jesus die Bezeichnung
eines Màsiah, eines Christus, d. h . eines Gesalbten, der sich von Andern wesentlich unterscheidet. (zouotos heisst eigent lich der Angestrichene .)
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Die religiösen Vorurtheile.
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Die Naturvölker haben Träume als Offenbarungen ge
nommen, was die Indianer noch heutigen Tages thun. End lich ist man auf das ekstatische Schauen gekommen , was durch die verschiedensten Mittel hervorgerufen wurde, selbst zu öffentlichen Orakeln führte und wie eine Epidemie oft ansteckend wurde. Man lese die Geschichte der Camisar
den und der Convulsionaires de St. Medard, und man wird finden, dass sie weissagten , alle Sprachen verstanden 11. S. W.
Schindler hat in seinem ,magischen Geistesleben“ (S. 120) von den epidemischen Extasen, wo alle Wunder der Offen
barung vertreten sind, folgende Zusammenstellung gemacht, die ich nur ganz summarisch berühren will : Paderborn , Mora in Schweden 1670 , Calv. 1673 , Amsterdam 1516, Horn 1670 , Brandenburg 1680 ( 180 Mädchen auf einmal), Annaberg.
Schon Plutarch hat die Offenbarungen als
Frucht des Enthusiasmus genommen und sie als das Ineinander
zeichnet ,
von Göttlichem und Menschlichem gekenn wenn wir dem „Göttlichen “ etwas Anderes
substituiren , was wir vorläufig das „ Unbewusste nennen wollen , so ist das ganz gerechtfertigt. Philo meint, dass insolange wir das Bewusstsein haben und volle Tages klarheit durch dasselbe über die Seele gegossen wird, sind wir nicht im Zustande der Begeisterung. Die hebräischen Seher hiessen ,,Verzückte , Rasende" , und der Türke hält jeden Narren für einen Heiligen. Man sieht, dass es immer
sogenannte Offenbarungen gab , die mitunter ganz gut auf gefasst wurden , und ist es nicht zu wundern , wenn deren eigentliche Quelle bei dem damaligen Stande der Natur auffassung begreiflicherweise immer einer Gottheit in die Schuhe geschoben wurde. Christus hat gewiss eine bewusste oder unbewusste
Mission gehabt , die er sich halb bewusst , halb unbewusst gegeben ; er ist ein Messias , ein Christus , aber nicht der
Messias , denn er steht wahrlich nicht allein , wenn auch
Die religiösen Vorurtheile.
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vergleichsweise ausserordentlich gross da.
Es
kann
in
einem gewissen Sinne auch ein Staatsmann , ein Feldherr
eine Mission haben ; möglich , dass sie Ludwig XVI. und Marie Antoinette ebenso wie ein Attila oder Napoleon auch batten.
Es soll der Feldmarschall Moltke einen der wich
tigsten Pläne im deutsch - französischen Feldzuge im unbe wussten Zustande ausgearbeitet und gegeben haben *). Das Unbewusste im Menschen ist ein Factor, und zwar ein sehr
gewaltiger Factor, aber die Naturen sind verschieden, und die Lebensstellungen sind es auch.
Wenn man den Satz aufstellt, dass zwischen Christus und den anderen anormalen Organisationen kein principieller, sondern nur ein gradueller Unterschied sei, so wird er gewiss missverstanden und von Vielen perhorrescirt werden ; es ist daher eine Erläuterung nothwendig.
Wenn zwei Menschen blonde Haare oder die Diphte ritis haben , so kann der eine darum doch ein König , der andere ein Bettler sein ; nachdem Jesus doch ein Mensch
war, oder wurde, so hatte er eine menschliche Organisation, die gewissen Organisationen analoger war, als anderen. Man kann daher unbeschadet aller geistigen und moralischen Grösse und Erhabenheit immerhin behaupten, dass in Bezug
auf unbewusste Vorstellungen , Visionen, Heilkraft und ver meintliche Wunder zwischen Christus und Anderen nur ein gradueller Unterschied bestehe. Auch wird es uns später
klar werden, dass man bisher fünf toto genere verschiedene Arten von solchen merkwürdigen Organisationen unterschei
den kann , von denen jede wieder in sich Exemplare von nur gradueller Verschiedenheit aufweist. Zwischen einem Hansen , einem Slade und der Seherin von Prevorst haben wir ein Arten unterschied , während zwischen letzterer * ) Brochure eines Arztes , der sich mit Psychiatrie befasst, Titel und Name sind mir entfallen .
Die religiösen Vorurtheile.
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und irgend einer anderen Visionärin vielleicht nur ein anormale Organisationen aber gradueller sein könnte sind sie alle.
Wir müssen es dahingestellt sein lassen , ob die Pro
pheten vom Schlage eines Bockelson (Johannes von Leiden), Matthiesen , Melchior Hofmann oder David Joris wirklich Visionäre waren ; doch ist das gar nicht unwabrscheinlich. Wir baben übrigens ein anderes , uns in jeder Beziehung weit näher stehendes Beispiel an Swedenborg.
Swedenborg galt mit Recht für einen der gelehrtesten Männer seiner Zeit , der auf dem Gebiete der Physik, Astronomie und anderer Naturwissenschaften sehr beachtens
werthe Abhandlungen schrieb. Er war ein sehr bescheidener, geachteter , vermöglicher und redlicher Mann , bereits 51 Jahre alt , als er anfing, Visionen zu haben und Dinge niederzuschreiben, welche er für göttliche Eingebungen hielt. Diese vermeintlichen göttlichen Eingebungen tragen genau den Charakter seiner Zeit ; er sah mitunter thatsächlich Dinge ganz richtig , die man mit den Augen nicht sehen
kann, und welche er mit einen inneren Auge zu sehen be hauptete. Er that genau das , was wirkliche Sonambulen manchmal wirklich leisten. Dass er bona fide handelte und
schrieb , dieses Zeugniss geben ihm alle Zeitgenossen, auch Kant und Herder ; er war Religionsstifter en miniature, denn seine Anhänger sind nicht nur in England und Schwe den, sondern auch in Amerika, Ost-Indien und Süd - Afrika zu finden . Wenn man daher den Unterschied der Zeit und
Bildung, welcher zwischen der Epoche Christi und Sweden borg's besteht, berücksichtigt, so wird man zugeben müssen, dass zwischen Jesus und Swedenborg nur ein gradueller Unterschied sei, Jesus widmete sich seiner Aufgabe aller dings mit der Aufopferung seines Lebens , Swedenborg be
trieb das Prophetengeschäft nur nebenbei. Von physikali
schen Erscheinungen berichtet die Geschichte nichts bei
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Die religiösen Vorurtheile.
Swedenborg , während bei Slade , Hansen und Anderen
wieder keine Symptome von unbewussten Lehren u. s. w. zu finden sind .
Wenn wir die Producte des modernen Spiritualismus durchgehen, so finden wir , dass er sich genau auf dieselbe Grundlage stützt , wie das alte Prophetenthum. Einer der beachtenswerthesten Repräsentanten dieser Lehre oder Secte ist der Naturforscher Alfred Russel Wallace.
Er stützt
sich in seiner „ Vertheidigung des modernen Spiritualismus “ auf das Zeugniss des Plutarch in Bezug auf Orakelsprüche
der verzückten Pythonissa , und meint , dass mit Rücksicht
auf die modernen Experimente der Spiritisten man die Hand nicht wegzuläugnen brauche, die bei Belsazar,s Fest mahle an die Wand schrieb, dass die „ Sprachengabe “ und „ Wunder der Heiligen " , das zweite Gesicht u . s. w. ganz gut Thatsachen sein können . Ob nun Wallace recht die
hat oder nicht, bleibt sich für unsern Fall gleich , es kann damals und jetzt sehr viel gelogen worden sein ; es kann damals und jetzt den Erscheinungen und Erzählungen irgend eine reelle Ursache zu Grunde gelegen sein , die nicht aufgeklärt ist. Ich behaupte nur , dass wir auch heute vor denselben Veranlassungen stehen , wie damals, vor Producten des unbewussten Lebens.
Es ist eine schwer
wiegende Thatsache, dass Wallace nicht ohne Begründung sagen kann , dass es nichts Auffallenderes, Wunderbareres
in der Geschichte gebe , als die Thatsache , dass, ob nun in den Hinterwäldern Amerikas oder in den Landstädten
Englands unwissende Männer und Frauen , die fast alle in den gewöhnlichen sektirerischen Begriffen von Himmel und Hölle erzogen worden sind , in dem Augenblicke, wo sie von der seltsamen Gabe ergriffen werden , Lehren über diesen
Gegenstand von sich geben , welche mehr philosophisch als religiös sind , und die sich ganz von jenen unterscheiden, welche so tief in ihre Gemüther eingepflanzt sind “. Selbst
Die religiösen Vorurtheile.
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das Sprechen fremder Sprachen ist eine durch zahllose Zeugen der Vergangenbeit und Gegenwart beglaubigte Be hauptung.
Dass zwischen Jesus und anderen anormalen Organi sationen nur ein gradueller Unterschied ist – was die
unbewusste Inspiration und das Wunderbare anbelangt kann ich auch durch den Vergleich zweier ganz verschiedener , noch jetzt lebender Personen nach weisen , welchen beiden die Fähigkeit innewohnt , unbe wusste , scheinbar aus ganz fremder Quelle stammende Ge danken zu haben , und von welchen die eine ebenfalls zu einer Art schwärmenden Prophetin geworden , während die
andere, ein österreichischer Offizier, die Sache ganz nüchtern nimmt , und ab und zu sich unterhält und experimentirt. Beginnen wir mit diesem letzteren.
Eigennutz, Unwissenheit und Eitelkeit waren seit jeher die Klippen , an welchen eine objective und vorurtheilsfreie Untersuchung dieser unbewussten Thätigkeit scheiterte; dort , wo diese Momente in Wegfall kommen , ist die freie Bahn und der Erfolg gesichert. Der in Frage stehende Offizier ist weder unwissend, noch eitel, im Gegentheile, es
würde ihn – bei der herrschenden öffentlichen Meinung unangenehm berühren , wenn man von seiner zufälligen
Fähigkeit , ihm unbewusste Gedanken niederzuschreiben, wüsste.
Nachdem ich mit ihm häufig verkehrte , und ihn
über die Natur dieser Erscheinung aufgeklärt, so betrachtet er sie auch als nichts anderes, denn als interessantes Phä nomen .
Alle Menschen träumen und haben in diesen Träumen
so wie ich sehr oft die dümmsten und nichtssagendsten Erlebnisse ; das schliesst aber nicht aus , dass Andere hie und da einen Traum haben, der durch die nachträgliche Erfahrung seine Bestätigung findet, und ohne ein Fernsehen oder ein richtiges Ahnen nicht erklärbar ist. Genau so Hellenbach , Vorurtheile. II.
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Die religiösen Vorurtheile .
verhält es sich mit diesem Schreiben ; der grösste Theil
dieser Producte ist werthlos und nichtssagend , ein Theil aber sehr anregend , und in einem noch geringeren Theile kommt dieses Fernsehen wirklich zum Ausdrucke. Wir werden
später noch darauf zurückkommen , für jetzt wollte ich nur
nachweisen , dass es durchaus nicht Seltenes ist , scheinbar ganz fremdartige Eingebungen zu haben. Nicht so glatt und objectiv geht es mit der zweiten Persönlichkeit von statten ; diese nimmt die Kundgebungen in Bausch und Bogen für Enunciationen einer Geisterwelt ; sie gibt Rathschläge , wird nicht nur aus allen Gegenden Europas, sondern selbst aus Asien und Amerika consultirt, befragt, ist eine schöne Frau von liebenswürdigem Charakter -- ist es da zu wundern, wenn sie sich statt für eine anor
male Organisation für eine Prophetin hält , und durch ihre keiner kritischen Auswahl unterzogenen Publicationen sich und der Sache, der sie dienen will, schadet ! Machen wir nun einen gewaltigen Sprung ! Denken wir uns einen edlen Menschen ,
den das
traurige Loos seiner Mitmenschen aneifert , über die Welt nachzudenken und dem Elende und der Verkommenheit zu
steuern ; nehmen wir an , dass er zu diesen Wahrträumern gehört , dass er überdies jene Fähigkeiten und Eigenthüm lichkeiten besitzt , die wir bei so vielen anormalen Organi sationen beobachtet haben , und auch jetzt beobachten können . Berücksichtigen wir ferner , dass er ein Jude war und vor 2000 Jahren lebte. Wie soll er nicht auf den ehrlichen Glauben kommen , ein Abgesandter Gottes zu sein,
wenn ihm Dinge kund werden, von welchen er nicht weiss, woher , und wenn er Dinge thut, die weder er noch viel weniger seine Zeitgenossen begreifen konnten ! Man darf auch nicht vergessen , dass so Manches aus seinem Leben vergrössert und so Manches zugefügt worden sein mag -
fama omnia acrescit ! Eigennutz, politische Motive und Opor
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tunität mögen so manchen Propheten und so manche Secte hervorgerufen haben, aber der grössere Theil muss solchen anormalen Organisationen angereiht werden . Wenn der Inhalt und die Verschiedenheit der Reli
gionen gegen eine göttliche Offenbarung sprechen , so ist das Einzige, was man bis jetzt für eine solche ins Treffen geführt, die Wunder und Zeichen , ebenfalls hinfällig ge worden. Die Aussage der Propheten kann für deren gött liche Sendung um 80 weniger beweisen , als sowohl ein
absichtlicher wie unabsichtlicher Betrug möglich ist. Die Zahl der auf Offenbarung sich stützenden Religionen ist keine geringe ; berücksichtigt man noch, dass jede einzelne sich in verschiedene Secten spalten konnte und in sich unvereinbarliche Widersprüche enthält, so ist es klar, dass die Legitimation als göttliche Offenbarung ihren Werth verlieren muss und verloren hat , was zu bedauern wir durchaus keine Ursache haben .
Es muss uns mit Grauen
erfassen , wenn wir an vergangene Zeiten und die grässlichen Opfer der religiösen Vorurtheile denken , an die zahllosen Schandthaten, die im Namen Gottes verübt wurden. Wenn man die Kriege und Schlächtereien wegen der
Consubstantialität, der Bilder-Verehrung, die Niedermetzlung der Manichäer , die Kreuzzüge , den Hussiten - Krieg , die Hostien -Kriege, die Bartholomäus-Nacht, die Inquisition, die Ausrottung in den andern Welttheilen berücksichtigt, so wird man auf Rechnung der religiösen Vorurtheile nur von christlicher Seite 10 Millionen Menschenleben als Opfer
setzen können. Die mohamedanische Religion wird nicht viel weniger aufzuweisen haben , nur der indische Glaube
macht bis auf das Witwenverbrennen eine glänzende Ausnahme.
In
diesem Sinne
wurden
die religiösen
Vorurtheile allerdings gebrochen , dem Bonzenthume die Zügel angelegt, aber es wüthet dennoch auf indirecte Weise fort. Der mohamedanische, russische und katho 4*
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Die religiösen Vorurtheile.
lische Glaube schaffen wegen der vermeintlichen Unfehl barkeit und Alleinseligmachung auch heutigen Tages sehr
fatale Complicationen. Das Princip der göttlichen Offen barung bringt es dann mit sich , dass die Glaubensform gleichsam einbalsamirt und zur Mumie wird ; der Syllabus der Schrift kommt mit dem Fortschritt und der Aufklärung
in Widerspruch , der Glaube schwindet, mit ihm aber die
Ueberzeugung einer transcendenten Existenz. Das Gute geht und das Schlechte bleibt. Nach Bertoletti soll die mesopotamische Pest von 1874 ausser den excessiven Ueber
schwemmungen den im Jahre 1873 aus Persien nach Hedjef aus religiösem Vorurtheile übertragenen 12000 menschlichen Leichen zu verdanken sein .
Die Doctoren Stamm und
Adler , die sich mit den Seuchen beschäftigten , theilen dieselben Ansichten. Unsere socialen Verhältnisse verhindern
allerdings diese Pestentwickelung , nichtsdestoweniger sind unsere Leichenbestattungen gesundheitsschädlich genug. Doch das ist das kleinere Uebel.
Das Traurige an der Sache ist , dass mit dem ver lorenen Glauben an eine himmlische Gerechtigkeit die mate riellen Interessen und mit ihnen der Egoismus in eine bös artige Blüthe gerathen sind ; mit dem verlorenen Glauben an eine transcendente Existenz und Folge unserer Thätig.
keit ist auch das Gefühl der Verantwortung , wenn nicht ganz erstickt , so doch sehr gedämpft worden. Die mate rialistische Weltanschauung hat einen Cynismus herauf beschworen, der die Gesellschaft in grosse Gefahren stürzt; ibre Macht muss darum gebrochen und ein neuer Glaube
gestiftet werden, welcher dem gegenwärtigen Culturzustande entspricht, und durch welchen die Grundidee aller
Religionsstifter wieder zu Ehren gebracht wird , die in der Anschauung gipfelt, dass unser Thun und Lassen weder für die Anderen, noch für uns selbst gleichgiltig ist, und dass derjenige, der sich zu dem Grundsatze bekennt:
Die religiösen Vorurtheile.
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„ Après moi le déluge“, die Rechnung ohne Wirth macht. Das, was allen Propheten und Menschenfreunden unbewusst
vorgeschwebt , muss nun unserem Bewusstsein erobert, der Glaube zu einem Wissen erhoben werden , und kann es keinen natürlicheren und kürzeren Weg dazu geben , als die Untersuchung, wie denn die alten Propheten zu ihren unbewussten Bildern und Ansichten ge kommen sein mögen. Das ist aber insolange unmög. lich , bis wir nicht ein zweites Loch in eine andere Mauer geschlagen und die wissenschaftlichen Vorurtheile nieder gerissen baben werden. Der Glaube in seinen heutigen Formen taugt nichts, der Unglaube mit seinem Egoismus noch weniger ; auf was
soll sich da ein brauchbares Moralprincip gründen ? Rechts ein Abgrund, links ein Abgrund, und in der Mitte gar nichts ! Wenn die Offenbarungen der Propheten weder gött licher Natur noch bewusste Conceptionen sind, woher kommen sie, wie entstehen sie ? Diese Frage lässt sich nicht beant worten , bevor wir keinen näheren Aufschluss über unsere
eigene Natur haben. Sind wir nichts, als ein Complex von Zellen , ein Eiweissklumpen , dann allerdings gibt es keine Antwort auf diese Frage ; ist hingegen dieser Zellencomplex nur die Organisationsform einer andern wenn auch unbe kannten Grösse, dann hätte die Erklärung keine Schwierig keit , denn dann wäre nur eine unvollkommenere, krank
hafte, oder auch aussergewöhnliche Organisation voraus zusetzen , welche ein Durchschimmern des eigenen transcendenten Wesens , dieser unbekannten Grösse , der Seele , gestattet. Eine mangelhafte, oder richtiger gesagt
anormale Organisation kann je nach dem Werthe und der falls sich Beschaffenheit des organisirenden Subjectes ein
solches nachweisen
lassen
sollte
je nach den
äusseren Umständen und der Erziehung ebensogut ins Narrenhaus als zum Prophetenthum führen ; sie kann eben
Die religiösen Vorurtheile.
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sogut die Quelle schwungvoller Compositionen der Kunst als epileptischer Zustände werden. Das sind nahe ver wandte Zustände , so sonderbar es auf den ersten Blick erscheinen mag . Es muss die Frage folgendermassen gestellt werden : Ist die Existenz , die wir haben und kennen , das Leben selbst oder nur eine Erscheinungsform des Lebens ?
Beschränkt sich
das Leben überhaupt auf die uns bekannten Eiweiss geschöpfe oder nicht ? Können noch andere Daseins weisen , Lebensformen oder Wesensreihen existiren oder nicht ?
Ist dieses Leben nur eine Erscheinungsform , so
müsste in uns nothwendig ein Kern existiren , der früher
war und später sein wird , als die vorübergehende Form des Zellenorganismus. Doch unterbrechen wir den Faden dieser
Betrach
tungen , und begeben wir uns auf den Boden der Erfah rung und Wissenschaft. Da eröffnen sich zwei Wege für uns.
Der erste ist derjenige , den ich in meinem „Indi
vidualismus“ gegangen , wo ich aus der Entwickelung der Organismen den Nachweis erbrachte , dass irgend eine unbekannte Grösse die Entwickelung besorgen muss , wenn sie -- die Entwickelung – durchsichtig werden soll. Die einzelne Zelle meiner Haut wird sich den klimatischen
Verhältnissen anpassen , die morphologische Entwick lung aber kann weder die einzelne Zelle , noch weniger die Zellenmasse besorgen ; und obschon oder vielmehr weil
unser morphologischer Bau zweifelsohne ein Entwickelungs und Anpassungsproduct ist , so muss eine dauernde Grösse den langsamen Weg der stufenweisen Anpassung wandeln . Ein Haufen Samenthierchen kann das nicht.
Aber nicht nur der Bau , auch die Function macht unüberwindliche Schwierigkeiten. Der wärmste Vertheidiger des Materialismus, Friedrich Albert Lange, sagt: ,,Aus
der Atomistik erklären wir die Gesetze des Schalls , des
Die religiösen Vorurtheile.
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Lichtes, der Wärme, der chemischen und physikalischen Veränderungen in den Dingen im weitesten Umfange, und doch vermag die Atomistik heute so wenig wie zu Demokrits
Zeiten auch nur die einfachste Empfindung von Schall, Licht, Wärme, Geschmack u. . w. zu erklären. Bei allen Fortschritten der Wissenschaft, bei allen Umbildungen des Atombegriffes ist diese Kluft gleich gross geblieben , und sie wird sich um nichts verringern , wenn es gelingt , eine vollständige Theorie der Gehirnfunctionen aufzustellen und
die mechanischen Bewegungen sammt ihrem Ursprung und ihrer Fortsetzung genau nachzuweisen , welche der Em
pfindung entsprechen, oder anders ausgedrückt, welche die Empfindungen bewirken.“ Ueber dies hinaus ist das Subject des Selbstbewusstseins immer unfindbar, ob man die Atome
als empfindungslos oder als empfindend
wie Zöllner
annimmt, weil dadurch die Schwierigkeit nur verschoben wird. Auf dem Wege , den ich meinen Leser führen werde, wird es sich herausstellen, dass diese unbekannte Grösse welche der denkende Materialist selbst eingesteht, wie wir ge
sehen haben – weder ein metaphysischer Monis mus , noch ein metaphysischer Individualismus ist , sondern etwas ganz Anderes , und wir werden finden, dass diese Streitfrage zwischen Monisten , Monadisten und
Materialisten noch weit hinausgeschoben werden muss. Die Erscheinungen bei anormalen Organisationen werden uns höchst schätzbares Material liefern , und werde ich meinen
Leser durch die Klippen spiritistischer Gedankenlosigkeit und naturwissenschaftlicher Arroganz glücklich an ein reizendes Ufer bringen. Dieser Weg ist jedenfalls weit weniger schwierig, und doch kürzer, sicherer und – unter haltender !
III. Capitel.
Die Vorurtheile in der Wissenschaft. Deren Entstehung.
Deren Folgen.
Denn eben , wo Begriffe fehlen , Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein . Goethe .
Dass so manches wissenschaftliche Axiom ein Vorurtheil
sein kann , dafür spricht der alte Satz : „ Non jurare in verba magistri ! “ Das Entstehen desselben liefert schon den Beweis , dass den Wortführern der Wissenschaft ebenfalls etwas Menschliches passiren kann ; und da wir uns auf das Urtheil unserer Vorgänger stützen, so ist die Möglich
keit der Vererbung von Irrthümern schon gegeben mit dieser aber sind die Vorurtheile unausweichlich , wie
die Entwickelungsgeschichte der Wissenschaften das auch bestätigt.
Dass es sich da um die Naturwissenschaft handelt,
ist selbstverständlich ; doch auch da müssen wir einen Unterschied machen. Die Mathematik, Physik und Chemie, sowie deren vielverzweigte Nachkommenschaft sind vorneh
men Leuten zu vergleichen , welche seit langer Zeit eine sichere Unterlage für ihre Existenz haben , und darum auch – wie das gewöhnlich der Fall zu sein pflegt – nicht
anmassend sind ; ganz anders steht es mit jenem Theile der Naturwissenschaften , die sich mit der organischen Natur
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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befassen, und gegen welche vorzugsweise meine Opposition gerichtet ist, weil eine unrichtige Anschauung diessbezüglich von sehr weittragendem und verderblichem Einflusse sein kann. Die Biologie, Zoologie u. 8. w. sind jüngeren Datums,
sind Parvenus , deren Wortführer sehr häufig Schwindler, und darum vorlaut und aufgeblasen. Obschon diese Wissen schaften noch in den Windeln liegen , so glaubt doch schon
Jeder, wenn er auch nur den vorsichtigen Darwin gelesen, bereits allen Räthseln der Welt gewachsen zu sein , und vornehm über einen Plato und Aristoteles , einen Kant und Schopenhauer hinweggehen zu können. In
diesen Theil
der Naturwissenschaft haben sich
Schlagwörter und Schlagworte eingeschlichen , wie in die Politik und socialen Verhältnisse, die bereits zu Vorurtheilen
geworden sind und grosses Uebel angerichtet haben.
So
werfen die Wissenschaftler mit den Worten „ Monismus und
Dualismus “ herum , als ob das unversöhnliche Gegensätze wären , und überdies versteht ein Jeder etwas anderes
darunter. Dass sich aus jedem Monismus ein Dualismus entwickeln, und der Dualismus eines aus Zellen bestehenden Körpers und einer belebenden Seele sich selbst auf rein materialistischer Grundlage ausbilden könnte (siehe das
t. Capitel meines Individualismus) , sehen sie nicht ein ; dass schon Demokrit, dieser Grundpfeiler materialistischer
Anschauung, einen derartigen Dualismus anerkannte , das wissen sie nicht.
Die Lichtseite der sogenannten positiven Wissenschaften und des Materialismus ist die Entwickelung der Naturwissen schaft. Stehen auch die grossen Förderer des Wissens von Plato bis auf Newton und Kant durchwegs auf anti materialistischem und idealistischem Boden, so hat die Oppo sition des Materialismus, das zweifellose Verdienst einer
heilsamen Kritik und Ernüchterung ; in ihrer gegenwärtigen
Verfassung hat die Naturwissenschaft aber durch Missverständ
58
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
niss und Ueberschätzung alle Ideale zerstört, und die üblen Früchte des Egoismus , der Laster und der schlechten Motivation für die Handlungsweise der gebildeten Welt
hervorgerufen. Die Lichtseite des darauffolgenden ächten Monismus eines Schopenhauer und Hartmann ist die gründliche Bekämpfung des Materialismus; die Schatten seite desselben ist aber der Pessimismus. Diese Gegensätze auszusöhnen , ist mit eine Aufgabe meiner Arbeit, die objectiv Alles ausscheiden soll , was auf die Autorität der
Vorgänger hin als Axiom dasteht, und doch nur ein gemein schädliches Vorurtheil ist , d. h. schon jetzt als solches erkannt werden kann .
Der Büchermarkt ist mit solchen aus dem falsch ver
standenen Darwinismus entsprungenen Büchern, Brochuren und Brochurchen ganz überladen . Den Kant haben diese modernen Autoren gar nicht oder nur oberflächlich gelesen, und glauben ihn und die ganze Philosophie mit dem moder nen Schlagwort „ metaphysische Speculation “ abfertigen zu können. Schopenhauer haben sie todtgeschwiegen ; erst als Hartmann mit naturwissenschaftlichen Geschützen
ebenfalls anfing, Löcher in das Kartenhaus zu schiessen, und seine Philosophie einen grossen Leserkreis fand, schlu gen sie einen furchtbaren Lärm, und jeder, der Hartmann einen Fusstritt gab, wähnte sich einen grossen Mann. Das war nun allerdings innerhalb der eigenen Coterie ein billiger Triumph. Da spielte Hartmann diesen Herren den
Schabernack , incognito sich selbst zu bekämpfen , welche Schrift mit ungeheurem Jubel von ihrer Seite aufgenommen
und als das beste gegen Hartmann Geschriebene gepriesen Welche Ueberraschung, als sich nachträglich er wurde. selbst als Autor erwies ! Er hat sich eben die Natur wissenschaft des Näheren besehen ,
während die Natur
forscher die Philosophie verschmähen, aber doch philosophiren wollen. Hartmann hat ihnen gegenüber den Vortheil
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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eines Spielers, der nicht nur seine, sondern auch die fremden Karten sieht !
Es ist höchste Zeit, den verderblichen Ein
fluss, den die Naturforscher auf das herrschende traurige
Moralprincip ausüben, zu brechen. Beschäftigen wir uns vorerst ganz objectiv mit der
Frage, wie den Vorurtheile in die Wissenschaft sich ein schleichen konnten ?
Auf die Zeiten eines grassen Aberglaubens und einer ganz bodenlosen Speculation musste eine Periode der Reak tion nothwendig eintreten ; der Aufschwung der Naturwissen schaften machte es möglich, alle diese Hirngespinnste nieder zureissen und der Speculation eine practische Richtung zu geben . Um dies erreichen zu können, musste die Wissen schaft sich nach einem sicheren Fundament umsehen , auf welches ein neues Gebäude aufgeführt werden konnte und
dieses war die Erfahrung , das Experiment; sie musste sich auf das beschränken , was sie in den Bereich
derselben ziehen konnte und alles Andere ignoriren. Dieser ganz richtige Weg brachte es aber mit sich, dass der Nach
wuchs auf diese freiwillig gezogene Schranke vergass und das, was ausserhalb dieser Schranke lag , nach und nach als gar nicht vorhanden betrachtete. Quod non est in actis, non est in mundo ! Die weitere Folge davon war, dass die Wissenschaft mitunter selbst auf die Ausdehnung ihres Er
fahrungsgebietes , also auf die Muttermilch ihrer Ent wickelung verzichtete. Alle Ideale wurden zertrümmert, die Menschheit der materialistischen Weltanschauung überliefert
und selbst ein Schopenhauer, der unter Allem am mäch tigsten gegen den Materialismus anstürmte , wusste hinter
die Erscheinungswelt nichts Anderes zu setzen , als einen unfassbaren , blinden Willen , und wusste dem ungeheuren
Weltgebäude keinen andern Zweck, als Erlösung vom Leben durch einen allgemeinen Tod, durch das Nichts ! So mächtig wirkte das Vorurtheil in den gebildeten Kreisen !
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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Treffend sind die bekannten Worte Goethe's , dass
für die gelehrte Welt das nicht existire, was sie nicht greift und misst. Die moderne Wissenschaft aber ging noch viel weiter ; sie läugnet nicht nur das, was sie nicht greift,
sie will nicht einmal an das greifen, was nicht von Allen als bereits gegriffen anerkannt ist. Wenn man z. B. einen Naturforscher fragen würde, ob es Geschöpfe aus Gold oder Silber gebe, so würde er gewiss antworten : „ Nein , es gibt nur Eiweissgeschöpfe. Und warum gibt es nur Eiweiss geschöpfe ? „ Weil alle lebenden Wesen solche sind und ich Es ist nun allerdings wahr , dass auch der Mensch nur eine Zusammensetzung von einer
keine anderen kenne" .
Unzahl solcher Eiweissgeschöpfe ist, wie ja schon Luther vorahnungsvoll gesagt haben soll , der Mensch sei ein Madensack.
Wäre der obige Schluss aber deshalb richtig ? Würden die Herren etwas schärfer nachdenken , so würden sie
wissen, dass der Satz : „ Es gibt nur Eiweissgeschöpfe “, ein Erfahrungssatz ist, also jeden Augenblick durch die Erfahrung widerlegt werden kann. Aus der Erfahrung, dass wir nichts Anderes kennen, als Eiweissgeschöpfe, die geboren werden und absterben,
folgt noch immer nicht, dass es keine andere Wesensreihen als solche, und keinen anderen Weltzweck als Vernichtung geben könne. Die Wissenschaft hat recht, wenn sie sich mit dieser Frage nicht beschäftigt, insolange keine Daten aus der Erfahrung vorliegen , sobald aber Anhaltspunkte
vorliegen würden , so müsste sie es thun ; denn mit dem selben Rechte , als sie sagt, insolange du keinen Beweis aus der Erfahrung schöpfen kannst , habe ich mit der Möglichkeit der Existenz anderer Wesensreihen nichts zu schaffen, weil ich mich um Hirngespinnste nicht kümmere“, genau so könnte ein Anderer behaupten, „ weil ich aus der Erfahrung weiss, dass es noch andere Wesensreihen gibt,
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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als die in der Naturgeschichte verzeichneten, so haben alle deine gelehrten Behauptungen keinen Werth, sie sind eitle Hirngespinnste, sobald sie die Erfahrung gegen sich haben .“ Gibt es nun Menschen, die so etwas behaupten ? Es gibt deren sehr viele, und darunter sehr achtbare und vertrauenswürdige. Der alte Kant hat allerdings gesagt, man müsse nicht Alles glauben, was die Leute sagen, aber hinzugefügt, dass man auch nicht annehmen dürfe, dass sie es ohne Grund
sagen ; das Vorurtheil unserer Vorfahren war der blinde Glaube und, wenn man will, der Aberglaube: das Vorurtheil unserer Zeitgenossen besteht im Unglauben , den Goethe als,
umgekehrten Aberglauben bezeichnet, ferner im Pessimismus und einer vollkommenen Indolenz, hingegen in einem blinden Glauben und Vertrauen zu den officiellen Vertretern der sogenannten positiven Wissenschaft, welche ihrerseits das Vertrauen auf unverantwortliche Weise missbraucht.
Es hat dies seinen guten Grund. Die Männer der Wissenschaft mit ihren Forschungsresultaten sind jedenfalls
vertrauenswürdiger, als die Propheten und Priester mit ihren göttlichen Vollmachten ; die materielle und intellectuelle Entwickelung ist in den Händen der ersteren besser aufge hoben ; leider aber tritt auch die Wissenschaft in die Fuss
stapfen der Kirche; sie ist ebenso untolorant, anmassend, unfehlbar und alleinseligmachend geworden, wie die Kirche. Namenilich haben die privilegirten und diplomisirten Ur pächter der Naturwissenschaft in erster Linie vergessen, dass die oben berührte Beschränkung ihrer Thätigkeit, so
heilsam und gerechtfertigt sie auch war, keine Beschränkung der Natur ist.
Weil sich die Naturwissenschaft mit Recht
um die Gottheit oder die transcendente Welt nicht kümmert,
folgt noch nicht, dass der Chemismus und die Eiweiss geschöpfe das Alpha und Omega der Natur sind ; die Natur darauf zu beschränken , ist zum Vorur
Die Vorurtheile in der Wissenschaft .
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theile geworden. Keppler , Leibnitz , Newton , Kant , Liebig , also so ziemlich die ersten Koryphäen der Wissenschaft, haben dieses Vorurtheil nicht gehabt. Was sehr begreiflich ist, denn weder das Firmament, noch das organische Werden kann durch den blossen Chemismus, so weit wir ihn bis jetzt kennen, durchsichtig gemacht werden. Die Wissenschaft ist aber noch von einem zweiten
Vorurtheile befangen . Sie nennt sich die positive Wissenschaft.
Der ganze Inhalt der Naturwissenschaften ist aber
etwas Relatives und nicht positiv ; wir erleben Wirkungen, beziehen sie auf Ursachen , abstrahiren aus diesen Erfahr
ungen Gesetze, die aber doch nur relativ sind , weil sie von unserer Organisation abhängen , durch welche wir die
Erfahrungen machen. Wir wissen nicht, was der Sauerstoff, oder ein Atom überhaupt ist ; die Atome sind für uns noth wendige Vorstellungen ganz unbekannter Grössen und Ver Die Materie ist selbst nur ein Hilfsbegriff, hältnisse. und die ganze Welt, selbst die Geometrie ist etwas Rela tives, Alles ist meine Vorstellung, was es noch sonst , an sich, ist, wissen wir nicht.
Es bleibt nichts stehen, als der
Satz : Keine Wirkung ohne Ursache, was wir auch ohne Naturwissenschaft wissen .
Würden die Naturforscher sich mit der Philosophie mehr befreundet haben , wenigstens mit den Schriften Kant's
und Schopenhauer's , so würden sie stets vor Augen haben, dass wir es nur mit Phänomenen unseres Erkenntniss
vermögens zu thun haben ; dass wir daher vom Ding an sich nichts wissen und sehr Vieles existiren kann, was für
uns nie oder doch sehr selten phänomenal werden kann. Was den Inhalt anbelangt, so ist die Bezeichnung „ positive Wissenschaft“ eine schlecht gewählte. Die Wissenschaft kann aber diese Bezeichnung viel
leicht auf die Methode zurückführen wollen, weil sie sich nur
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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mit dem befasst, was durch die Erfahrung gegeben , also in diesem Sinne positiv sei. Die eigene Erfahrung kann da nicht ausschliesslich
gemeint sein , sonst müsste ein Geograph die ganze Welt in Augenschein genommen , ein medicinischer Schriftsteller alle Kranken gesehen haben u. 8. W.
Die Wissenschaft
muss sich auf fremde Erfahrung stützen ; diese ist aber ab weichend und streitig ; es kann daher von einer positiven Wissenschaft wieder nicht die Rede sein .
Es ist nicht
einmal richtig, dass sie sich nur oder überhaupt an die Erfahrung hält, wie sich das auch später herausstellen wird. wenigstens jener Theil, um Die Naturwissenschaft den es sich hier handelt - ist weder dem Inhalte , noch
der Methode nach positiv, sondern durch und durch relativ und unzuverlässig. Die Erfahrung ist für sie Unterlage und oberste Controlsbehörde , und doch ist diese grenzenlos, und deren Beurtheilung ganz relativ und unvollkommen. Die Naturwissenschaft ist gezwungen, fremde Erfahr ungen zu benützen , weil ein Jeder nicht alle Erfahrungen selbst machen kann , und es hat die Naturwissenschaft in ihren Büchern immer eine sehr grosse Zahl fremder Erfahr
ungen ; ein Schriftsteller stützt sich auf den andern. Nur 50 war es möglich , dass das Gebäude gedieh , aber auch nur so ist es erklärlich , dass die Vorurtheile Wurzel
schlugen und die Naturforscher intolerant wurden , und Alles, was ihren Hypothesenaufbau insoweit gefährdet, dass ein Umbau nothwendig würde , von ihnen a priori aus geschlossen wird.
Wir haben das oft erlebt. Die Biographien von Ptolo mäus , Ticho Brahe , Copernikus , Melanchton ,
Galilei , Newton , Leibnitz einerseits, der Kampf des Plutonismus , Vulkanismus und Neptunismus andererseits, endlich die Geschichte des Fernrohrs und der Meteorsteine
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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beweisen zur Genüge , dass es mit den Axiomen der Wissenschaft immer auf gleiche Weise bestellt war. So hat die Wissenschaft den Satz aufgestellt, dass nichts in unserem Intellect sich befinde, was ihm nicht durch die Sinne zugeführt werde. Für die meisten der Naturforscher ist dieser Satz ein Axiom ; und doch steht ihm die Erfahrung entgegen. Schopenhauer nennt denjenigen einen auf Bildung keinen Anspruch habenden Menschen, dem diese Erfahrungen fremd sind ; ich begnüge mich , zu behaupten , dass er ein einseitig Gebildeter sein
muss ; weil eine gründliche Kenntniss der Philosophie oder Geschichte, oder Ethnographie schon genügen müsste, obiges Axiom als zweifelhaft zu erkennen.
Die neuere Zeit hat einen ähnlichen , aber sehr
wichtigen Kampf einer kleinen achtungswerthen Minorität gegen die grosse Majorität der Männer der Wissenschaft heraufbeschworen .
Und sonderbar !
Es handelt sich da
nicht um die Verschiedenheit einer Erklärung, eines Systems,
um eine wissenschaftliche Anschauung, nein, es handelt sich um die Erfahrung selbst , um ganz einfache That sachen , die von einem Theile, der sie in Erfahrung gebracht, behauptet werden, von Andern, die diesbezüglich keine Erfahrung gemacht, a priori als unmöglich verworfen werden .
Die Minorität behauptet, das intelligente Wirken einer anderen Wesensreihe beobachtet zu haben , und unter gegebenen Bedingungen immer beobachten zu können , die Majorität wendet sich verächtlich von dieser Behauptung ab , die sie als unwahr , weil unmöglich und unwissen schaftlich, verwirft. Der objective Denker, der sich zwischen den beiden Parteien befinden würde — welchen Standpunkt
wir einnehmen wollen - hat hier zwei Fragen zu beant
--
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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worten, 1. ob es noch andere Wesensreihen geben könne , und 2. ob es noch andere Wesensreihen wirklich gibt. Obschon es klar ist , dass mit der Bejahung der zweiten Frage die erste eo ipso bejaht ist , wird es doch gut sein , sich auch mit der ersten vorübergehend zu be schäftigen , weil das Vorurtheil - nicht der alten Weiber, sondern - der Männer der Wissenschaft noch zu kräftige Wurzeln hat, um nicht vorher eine kleine Lockerung vor zunehmen . Es wäre ja auch der Fall denkbar, dass es keine anderen Wesensreihen gibt, als Eiweissgeschöpfe, wohl aber geben könnte.
Was nun die erste Frage anbelangt , so ist es klar,
dass für einen Organismus, der — nach Meynert – 612 Millionen Nervenkörper allein in der Rinde seines grossen Gehirns besitzt, nur eine sehr grosse Zahl sehr verdichteter Atome wahrnehmbar ist. Es ist ferner eine nicht zu läug
nende Thatsache , dass der eigentliche Zustand der sogenannten Materie der sehr verdünnte , also für uns Die verdichteten Himmelskörper unwahrnehmbare ist. nehmen nur einen ganz kleinen Bruchtheil des uns bekannten Raumes ein ; auch hat dieser verdichtete Zustand eine weit geringere Dauer, als der ausgedehnte. Schon die Grobheit unserer Sinne erlaubt uns daher nicht, die Möglichkeit der Existenz uns unwahrnehmbarer Wesen zu bestreiten.
Eine zweite Schwierigkeit, die Möglichkeit der Existenz anderer Wesensreihen zu bestreiten , bildet die Relativität unserer Raumvorstellung.
Wir sehen den Raum in drei
Dimensionen ; dass nun der Raum durchaus nicht auf diese drei Dimensionen beschränkt sein müsse , war die Ansicht unserer bedeutendsten Köpfe, als Kant , Gauss , Riemann, Helmholtz , Zöllner, Mach. Ist das möglich, so können wir uns der Folgerung nicht verschliessen, dass so wie eine unendlich gerade Linie verschwindend ist gegenüber einer unendlich grossen Ebene , diese es wieder gegenüber der Hellenbach , Vorurtheilo. II .
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66
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
dritten Dimension , dem Körper , ist , auch der dreidimen sionale Raum gegenüber dem immerhin denkbaren vier dimensionalen wieder verschwindend sein muss. Es braucht eine Wesensreihe daher nur entweder klein, oder dünn, oder in einer uns nicht vorstellbaren Raumdimension zu sein,
um für uns nicht zu existiren. Darüber kann kein Zweifel obwalten , dass die Möglichkeit der Existenz einer anderen Wesensreihe gegeben ist ; mit dieser Möglichkeit aber selbst die Wahrscheinlichkeit – würde Kant sagen.
Lange , dieser gründliche Kenner und Vertheidiger materialistischer Anschauung, aber auch der Philosophie, sagt : „ Man könne einräumen, dass uns z. B. Wesen denkbar sind, welche vermöge ihrer Organisation gar nicht im Stande sind, den Raum nach drei Dimensionen zu messen , die ihn vielleicht nur nach zweien, vielleicht gar nicht nach deut
lichen Dimensionen auffassen. Dem entsprechend wird man auch die Möglichkeit einer Auffassung nicht abläugnen können , welche sich auf vollkommenere Raumbegriffe stützt , als die unserigen.
.
Und es müssten auch
Intelligenzen denkbar sein , welche dasjenige simultan auffassen, was uns in Zeitfolge steht. “ Die Naturforscher glauben aber , dass sie der philo sophischen Errungenschaften entbehren können. Für ihre
Forschung könnte man das in gewissem Sinne gelten lassen, aber dann sollen sie sich nicht mit Naturphilosophie be würde Schopenhauer fassen . Diese Philosophaster sagen – sollen und dürfen dann nicht etwas für unmöglich erklären ,
was
ein Kant, Lange und Zöllner für
denkbar halten .
Die Beantwortung der zweiten Frage ist schon sehr oft, auf sehr bestimmte Weise aber durch Professor Zöllner's Experimente schaftlichen Abhandlungen
beschrieben in seinen wissen in neuester Zeit erfolgt, an
deren Wahrheit ich wenigstens um so weniger zweifeln kann ,
--
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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als ich das Gleiche zu verschiedenen Malen selbst erlebt,
und dauernde, objectiv vorhandene Producte einer mehr dimensionalen, oder doch uns unverständlichen physikalischen Thätigkeit gewonnen wurden, welche jede Sinnestäuschung ausschliessen.
Wenngleich es lächerlich ist, an der Com
petenz und Vertrauenswürdigkeit eines Zöller, Weber , Crookes , Hare , Flammarion, Scheibner, Wallace und Anderer zu zweifeln , zumal in Untersuchungen , wo
ein gewöhnlicher Verstand und fünf gesunde Sinne auch genügen würden, so wollen wir doch eine kurze und objec tive Untersuchung dieser Thatsachen vornehmen und deren möglichen Zusammenhang zu finden trachten . Denn vor Allem muss das Eis gebrochen werden ; mit einem Fana tiker des Glaubens, oder der Unfehlbarkeit der Kirche ist
eine nutzbringende Auseinandersetzung ebenso unmöglich , als mit einem Fanatiker der Unfehlbarkeit der officiellen Wissenschaft.
Nur derjenige kann finden, der einsieht, dass es etwas zu suchen gibt und demzufolge sucht. Wer nicht so viel Selbstständigkeit des Denkens besitzt, um das Zeugniss der sichergestellten Erfahrung höher zu stellen , als alle Com pendien der Wissenschaft, oder ein so steifes Gehirn hat,
dass eine einmal fest gewordene Ansicht nicht mehr auf thauen oder biegsam werden kann , dem ist einfach nicht zu helfen .
Zu den heftigsten Gegnern einer Untersuchung dieser Phänomene gehören begreiflicherweise die Anhänger einer
mechanistischen, materialistischen Weltanschauung. Diese reicht nun allerdings nicht aus, um nur alle, auch aner kannte Thatsachen des gewöhnlichen Lebens aufzu klären , doch kann man die Hoffnung , das später einmal zu treffen , gerade nicht verwerfen. Diese Erscheinungen, an die wir jetzt herantreten, vernichten scheinbar wenig stens jede Hoffnung einer mechanistischen Erklärung, daher 5*
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Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
die heftige Opposition ; doch ist dies nur scheinbar. Ich wenigstens bin vorsichtig genug, zwar anzuerkennen , dass die mechanistische Anschauung wenig Chancen hat , aber darum noch nicht alle verliert; ich will nicht vorgreifen, jedoch durch ein Gleichniss das erläutern . Wenn ein Techniker einen Automaten construirt, so leistet dieser Alles mechanisch . Nun wird man einwenden, das habe zwar seine Richtigkeit, aber den Automaten hat Jemand gedacht und construirt. Auf das wird der Mate rialist anworten, dass auch der Mechaniker nur ein Product eines mechanischen Processes sei. Genau so verhält es
sich in unserem Falle. Wir werden finden, dass Kant im Rechte war, als er behauptete, dass es kindisch sei, anzu . nehmen, dass auch nur ein Grashalm ohne Absicht werden
könne ; wir werden das organisirende Subject für den Menschen nachweisen , und die roh -materialistische Auf fassung für Entstehung des Menschen geht in die Brüche. Der Materialist aber kann , wenn davon überwiesen, aller dings wieder einwenden :
Wenn ich die Existenz anderer
Wesensreihen, ja selbst ein der menschlichen Erscheinungs form zu Grunde liegendes Subject zugeben müsste , weil deren Existenz erwiesen ist, so ist die Provenienz doch unbekannt ; ich habe mich nur um eine Hausnummer
geirrt , diese Subjecte und anderen Wesen können und müssen das Product rein mechanischer Kräfte sein. Woher und wie sollen sie anders entstanden sein ?"
Man sieht leicht, dass der Streit in Permanenz bleibt,
denn auf das gibt es keine Antwort.
Schopenhauer,
Herbart und August Comte könnten Alles unterschreiben, was hier steht und noch kommen wird, und dennoch ihren
Zank untereinander fortsetzen . Unser Erkenntnissvermögen reicht nicht aus für Lösung so weit abliegender Fragen ; begnügen wir uns mit dem Resultate, falls ein solches zu erreichen sein sollte, dass wir Menschen weder die einzigen
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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intelligenten Wesen der Welt, noch das unmittelbare Pro
dact mechanischer Kräfte sind, und dass unsere phänomenale Welt eine transcendente Unterlage hat. Selbst ein Lange gesteht ein, „ dass der Gedanke, die Erscheinungswelt sei nur das getrübte Abbild einer anderen Welt der wahren
Objecte, die sich durch die ganze Geschichte menschlichen Denkens hindurchziehe. “ Diese Ahnung der Menschheit werden wir als eine richtige finden, und das ist bereits ein sehr grosser Gewinn, weil sich so Manches daraus folgern und daran knüpfen lässt. Ob ich die Seele materialisire, oder die Materie
im Leibnitz'schen Sinne - spiritualisire, ist ganz und gar ein leeres Wortgefasel und gleich giltig . Lange ist gewiss der geist- und kenntnissreichste Kenner des Materialismus und selbst Materialist, und er muss abermals eingestehen ,
„ wie schwierig , ja unmöglich es für den Materialismus, sofern er Atome annimmt, bleiben muss, von dem Ort der
Empfindung und überhaupt den bewussten Vorgängen Rechen schaft zu geben. Sind sie in der Verbindung der Atome, dann sind sie in einem Abstractum , d. h . objectiv nirgends. Sind sie in der Bewegung ? Das wäre dasselbe. Man kann
nur das bewegte Atom selbst als den Sitz der Empfindung annehmen. Wie setzt sich nun Empfindung zusammen zu einem Bewusstsein ? Wo ist letzteres ? In einem einzelnen
Atom oder wieder in Abstractionen , oder gar im leeren Raume, der dann eben nicht leer wäre, sondern mit einer eigentlichen immateriellen Substanz erfüllt?“ (Seite 390, Gesch. des Mat. II.)
Man sieht , dass in diesen Fragen alle Systeme am Ende mit ihrem Latein sind. Atome und Monaden, Wille und Unbewusstes werden immer miteinander streiten, aber
doch nebeneinander gehen können. Es unterhalte sich mit diesen Problemen, wer da will!
Ich verspreche meinem Leser, diese Fragen ganz aus
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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dem Spiele zu lassen. Wir werden – um es mit einem Satze auszudrücken zwar eine transcendente Unterlage für unsere Existenz finden, ob aber diese Unterlage eine monistische, atomistische oder monadologische sei, das wird
unentschieden bleiben. Was liegt auch daran ? Wir brauchen das innerste Wesen der Wärme, der Elektricität und des
Magnetismus nicht zu kennen , und können darum doch durch Dampfmaschine und Telegraphenleitung unsere Lage verbessern.
Ebenso brauchen wir auch nicht alle Räthel
der Welt zu lösen, und dennoch bessere Motive für unser Handeln und eine trostreichere Weltanschauung gewinnen, als uns die moderne Wissenschaft bietet.
Ueberdiess liegt aber ein eigentlicher Widerspruch dieser Thatsachen mit den Wissenschaften nicht vor ; die
Eroberung dieses neuen Erfahrungsgebietes zieht nur eine
Modification einiger wissenschaftlichen oder vielmehr un wissenschaftlichen Behauptungen nach sich, die ich in ihrer
jetzigen Fassung als ererbte Vorurtheile bezeichnen muss, die sich in die Wissenschaft durch Autorität und
Gewohnheit eingeschlichen haben. Die Wissenschaft hat deren immer gehabt, und wird deren immer haben, und ich glaube nicht, dass es vielleicht mit Ausnahme der Gesetze der Logik und reinen Mathematik etwas gibt , was nicht
dem Wandel unterworfen wäre , oder doch nur relative Wahrheit und Gewissheit hätte.
Selbst unsere Geometrie
und Stereometrie bat nur für den dreidimensionalen Raum
eine Giltigkeit. Wir werden uns daher erlauben , das Anathema der
wissenschaftlichen Kreise ebenso zu ignoriren , wie wir das Anathema der Kirche ignorirt haben , und werden uns an
eine objective Untersuchung jener Thatsachen heranwagen, die mit der modernen Naturanschauung in unversöhnlichem Widerspruche zu stehen scheinen. Wir werden uns dabei ganz wohl befinden , und inwieweit die Thatsachen nicht
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
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genügen sollten, werden wir uns mit Hypothesen begnügen, und diese dann im Wege der Anwendung auf die Natur prüfen . Es wäre doch des Teufels , wenn wir nicht ins Reine kommen sollten !
Der alte Satz Kant's, dass man nicht Alles glauben müsse, was die Leute sagen, aber auch nicht , dass sie es ohne Grund sagen, hat sich bei den religiösen Vorurtheilen als richtig erwiesen ; sollte er sich hierin nicht auch als richtig erweisen ? Die einen glauben Alles, was ihnen die alten und modernen Propheten erzählen , die andern läugnen
eine reelle Unterlage für diese Erscheinungen , und sie haben beide unrecht. Genau so ist es auch mit der Existenz
anderer Wesensreihen; die Einen glauben an die Existenz
übernatürlicher Geister, die anderen ignoriren Thatsachen, die sie a priori für unmöglich erklären, und – sie haben beide unrecht, die Spiritisten so gut als die Naturforscher. Der alte Kant , der klarste Verstand, den die Menschheit erzeugt, behält nicht nur Recht in Bezug auf obigen Satz, er hat selbst in Bezug auf den Zusammenhang dieser sonder
baren Erscheinungen, wie in so vielen anderen Dingen, den Nagel auf den Kopf getroffen, wie wir später sehen werden. Die Naturwissenschaft hat mit Recht die mass- und
bodenlose Speculation vergangener Zeiten verworfen , und
sich nur an die gegebene Erfahrung gehalten. Aus dieser Methode und Disciplin entwickelte sich eine mechanistische Weltanschauung. Alles, was dieser Anschauung nur im Ent ferntesten entspricht, wird von der jüngeren Generation, die in ihr aufgewachsen ist, a priori verworfen - darin besteht das Vorurtheil, welches durch die Macht der Erziehung, Autorität, Gewohnheit und der öffentlichen Meinung gestützt wird, wie alle anderen Vorurtheile !
Ich müsste eigentlich zuerst mit dem „Subjecte“ unseres Selbstbewusstseins beginnen , und dessen vierdimensionale Natur nachweisen ; das geht aber nicht, ohne dem Leser
72
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
den vierdimensionalen Raum zu erklären. Diese schwierige Aufgabe wird jedoch wesentlich erleichtert, wenn wir die Thatsachen, die einen solchen bestätigen, vorangehen lassen. Ich bin gezwungen, den Leser diesen sonderbaren Weg zu führen, denn wenn wir die Erscheinungen , welche den Religionen zu Grunde liegen, aufklären, wenn wir das Vor urtheil der Wissenschaft in Bezug auf die Unterlage der menschlichen Erscheinung brechen wollen , so müssen wir einerseits das scheinbar Uebernatürliche auf etwas Natür
liches zurückführen, und andererseits aus demselben geeig nete Consequenzen ziehen können. Das kann uns aber nicht gelingen, ohne die Phänomenalität und Künstlichkeit unserer Vorstellungen überhaupt, der Raumvorstellungen insbesondere durch ein Argumentum ad hominem aus dem Kreise tiefsinniger Speculation auf den Boden der nackten Thatsache und des gemeinen Verstandes zu ziehen. Das ist
nun dasjenige, was Zöllner auf eine alle seine Vorgänger übertreffende Art und Weise gethan ; wir müssen denselben Weg wandeln, und werden zu unserer nicht geringen Ueber raschung auf unserer Wanderung fast alle bedeutenden Denker der Menschheit, am häufigsten Kant finden.
Kant hat ein im Menschen liegendes Transscendentales angenommen , und zwischen Subject und der vorgestellten Persönlichkeit unterschieden. Ich will und werde ein solches
transscendentales Subject im Menschen erfahrungs
mässig nachweisen, in welchem sich nicht nur die Quelle der Offenbarungen entpuppen , sondern auch die Brücke finden wird, um über die Kluft zu führen , welche zwischen
dem Menschen als Gegenstand der empirischen Forschung, und dem Menschen , wie er sich als Subject unmittelbar selbst weiss, befindet , was aufzuklären der Materialismus eingestandenermassen nicht vermag. (Siehe Lange , Gesch. des Mat., II, Seite 68.) Der uns wahrnehmbare und deutliche Unterschied, der
Die Vorurtheile in der Wissenschaft.
73
zwischen unserer auf sinnlicher Erfahrung ruhenden Vor stellung und den Producten unserer transscendentalen Natur besteht, zeichnet sich besonders durch eine veränderte Raum anschauung aus. Unsere Anschauung ist eine dreidimen
sionale ; hypothetisch wurde die vierdimensionale von Vielen erschlossen und angenommen. Zöllner ist der Erste, der sie im Wege der Erfahrung nachweisen zu können behauptet, und nicht nur die Anschauung (wie ich in meinen Schriften ), sondern einen vierdimensionalen Raum als etwas Wirkliches, Aeusserliches.
Es ist daher nothwendig, den Leser mit den
Forschungsresultaten Zöllner's früher bekannt zu machen .
Doch möge der dem philosophischen und wissenschaftlichen Boden ferner stehende Leser vor der scheinbaren Undeut
lichkeit des soeben überwundenen Capitels nicht erschrecken ; diese für ihn vielleicht noch unverständlichen Sätze werden
bald einer fasslichen und klaren Anschauung weichen, welche er mit leichter Mühe gewinnen wird. Die Sache muss eben gsündlich gepackt werden , denn es steht viel, sehr viel auf dem Spiele ! Das Moralprincip – und mit ihm das Schicksal der Menschheit
liegt zwischen den zwei Mühlsteinen der
kirchlichen und wissenschaftlichen Autorität ; die Frucht dieser Reibung sind Laster und Leiden der Menschheit
diesem duròs ¿ ya muss auf beiden Seiten ein Ende gemacht werden !
IV. Capitel. Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen . Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet
Es gibt zuletzt doch noch 'n Wein. Goethe .
1. Die behaupteten Thatsachen der Neuzeit. Was ist das Leben ?
Die meisten Menschen werden sagen : „Dumme Frage ! So lange ich , Peter X, denke, fühle und handle , so lange lebe ich !“
Auf diese Weise wird das Leben mit dem „ Ich“
identificirt und verwechselt, was aber ganz unrichtig ist. Der lebende Organismus ist viel früher vorhanden , als das denkende, fühlende und handelnde Ich ; dieses ist ein künst
liches Product des Organismus, welches sehr oft entschwindet,
wenngleich der Organismus noch fungirt. Das „ Ich“ ist ein Product des Lebens, aber nicht das „ Leben “. Eine ein
gehendere Begründung dieses Unterschiedes befindet sich im ersten Capitel meiner Philosophie des gesunden Menschen verstandes .
Frage, was das Leben sei, habe ich, wenigstens im negativen Sinne, in meinem ,,Individualismus be antwortet.
Die Antwort lautet :
Das , was wir Leben
nennen, ist nur eine vorübergehende Erscheinungsform des selben , wobei es offene Frage bleibt , ob das Leben ein kosmisches oder nur tellurisches Entwickelungs-Product sei.
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
755
Das Buch war im Drucke bereits beendet, als Zöll .
ner's erster Band der wissenschaftl. Abhandl. erschien, in welchem er die Existenz vierdimensionaler Wesen im Wege
des Experimentes erkannt zu haben behauptet, was für einen Kenner philosophischer Literatur durchaus nichts so Absonderliches ist; denn schon Kant betont die Wahr scheinlichkeit einer vierdimensionalen Welt, und Lange , der Vergolder des Materialismus, sagt (S. 430, Gesch. des Mat.), „ dass Wesen mit raumähnlichen Anschauungen von mehr als drei Dimensionen denkbar seien, obschon wir uns
dergleichen schlechterdings nicht anschaulich vorstellen können .“
Zöllner war die Veranlassung, dass ich am
Schlusse jener Schrift die Aufstellung machte, „dass der Mensch die dreidimensionale Erscheinungsform eines vier dimensionalen Wesens sein könnte.“ Demzufolge wäre unser
,, Ich “ die dreidimensionale Vorstellungsform eines tiefer liegenden Subjectes. Schon Kant macht auf die Möglichkeit aufmerksam , dass „ Seele “ und „ Ich“ wohl einerlei Subject, nicht aber einerlei Person sein könnten. Wir werden hier nicht diesen langen Weg der Induction wandeln , um die Wahrheit und Richtigkeit dieses Satzes zu beweisen ; der Leser, den dies interessirt, kann sich mit meinem „ Individualismus“ beschäftigen. An dieser Stelle wollen wir der gelehrten Welt im Wege der einfachen, aber
sichergestellten Thatsache an den Leib gehen. Das Gewicht der Thatsachen wird obigen Satz auf eine weit handgreif lichere Weise bewahrheiten, als es die eingehendste Kritik
der gelehrten Compendien der Naturwissenschaft vermöchte. Wir werden nämlich untersuchen , ob sich Spuren eines
anderen Lebens in der äusseren Erfahrung, oder einer tiefer liegenden Thätigkeit in uns selbst finden – denn das wäre ausschlaggebend , und es gibt sehr gewichtige Stimmen unter den bedeutendsten Männern der Natur
wissenschaft, die so etwas behaupten , und sowohl Kant
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
76
als Schopenhauer, wahrlich keine beschränkten Köpfe ! waren der Meinung, dass nur von daher Licht in diesen Dingen zu erwarten sei. Dieses Licht wird das geheimniss volle Subject so weit beleuchten , dass wir uns die Ueber zeugung holen werden, dieses sei – unmittelbar wenigstens — weder der „ Wille “ oder das „ Unbewusste", noch eine
Leibnitz'sche Monade. Diese letztere Frage wird dadurch , nebenbei gesagt , nicht endgiltig gelöst , sondern nur ver schoben werden.
Jeder Unbefangene wird zugestehen , dass es sehr schwer sei , Männer wie Zöller , Weber , Scheibner und
SO
viele Andere ,
wenn
sie
für
eine
einfache
Thatsache einstehen , für Betrüger zu erklären , ob sie aber nicht betrogen sind, das ist die Frage, die doch nur derjenige zu beantworten im Stande ist, der diese Phäno mene, wenn schon nicht durch die eigenen Augen, so doch im Wege der diesbezüglichen Literatur kennt ; der da weiss, was der Chemiker Hare in Amerika, der Astronom Flam
marion in Frankreich, der Physiker Crookes und Natur forscher Wallace in England über diesen Gegenstand gesagt haben. Wer alles das nicht gelesen und auch nichts gesehen hat , der spricht wie der Blinde von der Farbe, und dieser wird freilich nicht anstehen, wenn zwischen die Alternative gestellt, alle diese Thatsachen für das Product
einer raffinirten Taschenspielerei, oder das Werk übersinn licher Wesen zu halten, bei der gegenwärtig herrschenden Meinung sich für das Erstere erkläreu. „ Denn wenn es eine andere uns in der Regel unwahrnehmbare Wesensreihe geben würde , die sich zu äussern vermöchte , so hätte sie
sich ja längst auf eine andere , und nicht so zwecklose, kindische Weise geäussert ; auch würde sie wahrscheinlich der Intervention irgend eines Slade nicht bedürfen .“ Das ist der häufigste und begreiflichste Einwurf, den sich obige Herren aber wahrscheinlich auch gemacht haben werden .
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
77
Es wird vicht schwer fallen , alle Bedenken in Bezug auf
das Kindische , Zwecklose und Seltene dieser Er scheinungen zu beseitigen , aber ich verschiebe das , und will den Leser vorerst mit den Thatsachen , ganz unabhängig
von ihren Consequenzen, von ihrer Ungereimtheit und Uner klärlichkeit , beschäftigen .
Wenn der Leser , wie wahr
scheinlich, der Ansicht ist , dass nur Kinder oder Narren sich mit diesen Dingen befassen können, so habe ich darauf zu erwidern, dass Kinder und Narren auch ab und zu die Wahrheit reden , und dass der Besuch eines Narrenhauses denn doch von Interesse sein kann.
Seien wir einmal für
eine halbe Stunde närrisch ! Das kann den Kopf nicht
kosten ! Wir werden im nächstfolgenden Capitel Gelegenheit haben, uns wieder zu ernüchtern. Doch möge sich der Leser insoweit beruhigen , dass
er sich in guter Gesellschaft befinde. Prof. Ulrici in Halle , der auch keine eigenen Erfahrungen gemacht hat, ist der Ansicht, dass viele der Zöllner'schen Experimente allein schon jeden Zweifel einer Taschenspielerei ausschliessen, und dass die Untersuchung dieser Phänomene eine wissen schaftliche Frage geworden seien . (Der Spiritismus eine wissenschaftliche Frage. Halle.) Der Einwurf, dass man es da mit Taschenspielereien zu thun hat, ist ganz richtig. Es sind Taschenspielereien, wenn unter Taschenspielerei ein schwer verständlicher und
schwieriger physikalischer Vorgang verstanden wird, der einen ungewöhnlichen Sinneseindruck hervorbringt.
Was
aber streitig ist, das ist der Urheber der Taschenspielerei. Wer vollbringt das , wenn es der vermeintliche sichtbare Taschenspieler nicht vollbringen kann ? Oder glaubt man denn , dass solche Bedingungen, die Gewissheit mit sich bringen, nicht festzustellen sind ? Das wäre doch ein Armuths zeugniss nicht nur für unsere physikalischen Kenntnisse und Fortschritte, sondern auch für unseren Verstand ; denn dazu
78
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
bedarf es wohl keiner complicirten Maschinen , im Gegen theile, die einfachsten Massregeln sind die sichersten. Wollte
man das bestreiten , so würde man ja der ganzen Natur wissenschaft selbst den Boden unter den Füssen wegziehen. Ein Taschenspieler bedarf entweder seiner oder fremder
Hände, und in Ermangelung derselben vorbereiteter mecha nischer oder chemischer , mit einem Worte physikalischer Vorrichtungen. Wir können uns Wirkungen ohne Ursachen nicht denken , und wenn ein Taschenspieler dieser Vorbe dingungen entbehrt, so kann er auch nichts leisten. Und nun erst, wenn Dinge zu Stande gebracht würden , welche durch menschliche Hände und Maschinen gar nicht zu be werkstelligen sind !
Es wird sich sehr oft der Fall er
eignen , dass man die Vorrichtungen nicht durchschaut, noch öfter, dass man die Geschicklichkeit nicht begreift, doch nie kann sich z. B. der Fall ereignen , dass ein
uns gleich organisirtes Wesen ohne Hände und phy sikalische Vorbereitungen durch seinen blossen Willen mechanische Wirkungen in der todten Materie erzeugt. Ich
weiss vielleicht nicht , wie es ein Taschenspieler macht, wenn er aus einem Tische oder einer Flasche grosse Gegen stände zu Tage fördert, und kann vielleicht den Mechanismus
nicht durchblicken, der die Sinneserscheinung oder Sinnes täuschung in mir erzeugt, aber ich weiss , dass ihm die Möglichkeit und Absicht, Zeit und Mittel zu Gebote stehen, eine solche Täuschung hervorzubringen . Dort , wo das nicht der Fall ist, wo die Geschicklichkeit der Hand oder
die Herstellung eines Mechanismus irgend welcher Art unbedingt ausgeschlossen wäre, da sind jedem Taschen spieler die Mittel unterbunden, und es muss die Ursache zu den Wirkungen anderwärts gesucht werden. Zu glauben, dass Männer von Fach, wie Crookes , Zöllner, Weber u. s. w., auf die Dauer und unter den gegebenen Be dingungen von mitunter ganz ungebildeten und unwis
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
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senden Menschen gefoppt werden könnten , ist wohl zu lächerlich.
Wenn ich einen Taschenspieler in mein Zimmer bringe, und er die Hände auf den Tisch legt, wenn sich dann mir
gehörige Gegenstände auf Entfernungen bewegen, die ihm unerreichbar sind, und unsichtbarer Hände Dinge verrichten, die meinen Gedanken entsprechen , wenn Hände fühlbar, ja sichtbar werden, die durch ihre Zahl und Form beweisen,
dass sie keinem der Anwesenden angehören können , und sichtbare Spuren ihrer Thätigkeit zurücklassen, daher eine Hallucination ganz ausschliessen – zumal mehrere Zeugen anwesend sind, die dieselbe Hallucination haben müssten so weiss ich, dass dies der Taschenspieler nicht
zu Stande bringen kann. Wenn ich vollends ein ganz unge bildetes Weib binde , ja deren Hände auf dem Rücken
annähe , sie in einen Sack stecke, mit Draht umwickle, diesen mit einem Glockensignale in Verbindung bringe; wenn ich überdiess zu ihren Füssen sitze , den Kopf auf den Schooss lege, mit nieinen Händen ihre Hände controlire, und wenn trotzdem an mir selbst und um mich ganz andere fühlbare Hände thätig sind ; wenn dies durch viele Tage etwa auf meinem und meiner Freunde Landsitz geschehen würde — 80 weiss ich , dass dies kein Taschenspieler ohne unsichtbare Organe vermag, am allerwenigstens wird es eine ganz kenntnisslose Amerikanerin treffen. Die Herren Natur forscher sind daher im vollen Unrechte, wenn sie sagen, dass alle diese anerkannten Gelehrten Betrogene sein
könnten, aber keine Betrüger ; die Sache liegt umgekehrt, sie müssten Betrüger sein, denn betrogen sind sie nicht.
Man kann sich in der Erklärung irren und die richtige Ursache für eine Wirkung nicht finden , aber Wirkungen ohne Ursachen kann es nicht geben ! Es sind mehr als 20 Jahre , dass Dr. Schindler sein
„magisches Geistesleben“ veröffentlichte , er ist Arzt,
Die behauptete Existenz anderer Wesensreiben.
80
Gelehrter und Sachverständiger so gut wie die anderen Naturforscher, hat aber zum Unterschiede von den Anderen
die Frage studirt, die einschlägige Literatur gelesen , und Erfahrungen gesammelt. Er sagt Seite 296 : „Wie sich bei den besessenen Knaben in Annaberg nach dem Zeugnisse des Hospital- Predigers Adami Gegenstände im
Zimmer ohne Anstoss bewegten ; wie bei Frau H. Medicinflaschen, Gläser und Möbel , sogar ein Stuhl mit der darauf sitzenden Person, nach Kerner's Zeugniss, in die Luft erhoben wurden ; wie nach Fürst Pückler bei den oben erwäbnten Mädchen
die Tische sich rührten und die Füllungen aus der Thüre sprangen ; so sehen wir nicht nur , wie sich in ganz Europa alle beweglichen Gegenstände bequemen müssen , einer unbe kannten Kraft zu folgen , wozu es oft einer unmittelbaren Be
rührung gar nicht bedarf, sondern wie sich auch in ganz Amerika in den
spiritistischen Zirkeln die Möbeln bewegen , Klingeln
durch die Luft wandern , Tische mit mehreren Personen , sowie Personen selbst freischwebend in der Luft verweilen, musikalische Instrumente gespielt, Trommeln geschlagen werden u. s. w ."
Er knüpft nun am Schlusse seines Buches, das fast nichts ist als eine Sammlung alles dessen, was die Geschichte der Menschheit diesbezüglich bietet, folgende Bemerkung daran :
,,Diese Thatsachen
lagen
so ausserhalb uns bekannter
Naturkräfte und Möglichkeiten , dass der Verstand bei ihrer Erklärung wirklich am Ende war.
Entweder leugnete man das
Factum ganz, indem man lieber das Zeugniss der eigeuen Sinne verwarf, als dass man eingestehen wollte , die Ursache der Er
scheinung nicht zu kennen , oder man flüchtete sich bei der Unzulänglichkeit unserer Naturerkenntniss in ein selbst geschaf fenes Geisterreich , so dem Aberglauben verfallend , wie er seit Und
Jahrtausenden die Menschen am Fortschritt gehiudert.
doch , verfolgen wir die Ercheinungen , für deren Wahrheit zu viele und unverdächtige Zeugen durch mehrere Jahrtausende
sprechen , von der einfachen Bewegung des Tisches bis zu der unbewusst hervorgebrachten Flechtarbeit und dem Bedecken des Papieres mit unbekannter Schrift im verschlossenen Zimmer; von dem Knarren im Holze bis zum Zersprengen der Fenster scheiben und Thüren , von dem undeutlichen Klopfen im Tische
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
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bis zum harmonischen Spiele musikalischer Instrumente ; von dem Schlagen der Ruthe bis zum Herumfliegen der Gegenstände, welche Mauern durchdringend aus einem Zimmer in das andere versetzt werden . ... So können wir an dem innern Zusammen
hange der Erscheinungen nicht zweifeln , wenn wir auch von ihrer Erklärung noch fern stehen.“
So spricht ein objectiver und competenter Forscher, der, nebenbei gesagt, die Existenz einer anderen Wesens reihe nicht annimmt.
Uebergehen wir nunmehr zu jenem Manne der Wissen schaft, der meines Wissens als Erster versuchte, practische Resultate für die Naturwissenschaft im engeren Sinne aus
diesen Erscheinungen zu gewinnen, und an dessen Competenz nur der zweifeln kann , der ihn nicht kennt, sei es persönlich oder aus seinen Schriften. Zöllner schreibt im zweiten Bande seiner wissen
schaftl. Abhandl. (I. Theil, S. 340) Folgendes : „Da wir fast regelmässig bei allen Sitzungen (während Slade's Hände den Anwesenden sichtbar auf dem Tische lagen und seine Füsse in der mehrfach erwähnten seitlichen
Haltung jederzeit beobachtet werden konnten) unter dein Tische die Berührung von Händen fühlten und, wie oben bemerkt, solche auch vorübergehend unter denselben Bedingungen durch
unseren Gesichtssinn wahrgenommen hatten , so wünschte ich ein Experiment anzustellen , durch welches in noch überzeugenderer Weise der Beweis von der Existenz solcher Hände geliefert
werden könnte. Ich schlug daher Hrn. Slade vor , ein flaches, bis an den Rand mit Weizenmehl gefülltes Porzellangefäss unter den Tisch steilen zu lassen und dann seinen „ Spirits“ den Wunsch auszusprechen , dass sie , bevor sie uns betasteten, zunächst ihre Hände in das Mehl steckten.
Auf diese Weise
mussten sich die sichtbaren Spuren der Berührung an unseren Kleidungsstücken auch nach der Berührung zeigen , und gleich
zeitig konnten die Hände und Füsse Slade's auf zurück gelassene Reste von anhaftendem Mehle untersucht werden. Slade erklärte sich sofort bereit , die vorgeschlagene Prüfungs bedingung einzugehen. Ich holte einen grossen Porzellannapf
von etwa 1 Fuss Durchmesser und 2 Zoll Tiefe, füllte ihn bis Hellenbach , Vorurtheile. II.
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82
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
zum Rande gleichmässig mit Mehl und stellte ihn unter den Tisch .
Während wir uns zunächst um den eventuellen Erfolg
dieses Versuches gar nicht kümmerten , sondern noch über Minuten lang die magnetischen Experimente fortsetzten, die magnetischen während welcher Zeit Slade's Hände jederzeit sichtbar auf dem Tische sich befanden , fühlte ich plötzlich mein rechtes 5
Knie unter
dem Tische
von einer grossen Hand etwa eine
Secunde lang kräftig umfasst und gedrückt , und in demselben Momente, als ich dies den Anwesenden mittheilte und aufstehen wollte , wurde der Mehlnapf etwa 4 Fuss weit von
seinem
Platze unter dem Tische auf dem Fussboden ohne sichtbare Berührung hervorgeschoben. Auf meinem Beinkleid hatte ich
den Mehlabdruck einer grossen , mächtigen Hand , und auf der Mehloberfläche des Napfes waren vertieft der Daumen und die
vier Finger mit allen Feinheiten der Structur und Falten der Haut abgedrückt.
Eine sofortige Untersuchung der IIände und
Füsse Slade's zeigte nicht die geringsten Spuren von Mehl, und die Vergleichung seiner eigenen Hand mit dem Abdrucke im Mehl erwies die letztere beträchtlich grösser. Der Abdruck befindet sich noch heute im meinem Besitze , obschon durch
häufige Erschütterungen die Feinheit der Zeichnung durch herab fallende Mehltheilchen allmälig verschlechtert ist. “ Dieser Fall ist so einfach und klar, dass Jeder, der mit
eigenen und nicht lediglich fremden Gedanken zu denken ver mag, schon nach dieser Thatsache mit mir ausrufen könnte : Zöllner und seine Freunde müssen Betrüger sein , oder der Beweis ist hergestellt ; denn betrogen können sie in diesem Falle nicht sein.
Und so wie mit diesem Falle ist
es noch mit vielen anderen , und so wie es den Leipziger Gelehrten ergangen ist, erging es noch vielen anderen. Es kann sich übrigens Jeder auf eine noch weit mehr in die Augen springende Weise die Ueberzeugung in Leipzig zu jeder Zeit selbst holen, denn im Zimmer des Professor Zöllner befindet sich ein Tisch , dessen Fuss von zwei hölzernen Ringen umschlossen ist eine Abbildung davon befindet sich in Zöllner's Abhandlungen , 2. Band). Der Fuss , um den sich die Ringe schlingen , spaltet sich
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
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unten in drei Füsse , und ist oben durch die Tischplatte gedeckt.
Diese Ringe können nur auf zweierlei Art angebracht worden sein , falls es durch menschliche Wesen im drei dimensionalen Raume geschehen soll : 1. dass man die unteren Füsse oder die Tischplatte entfernt, oder 2. indem man die Ringe aufschneidet und wieder leimt. Das Letztere wäre übrigens leicht nachträglich zu constatiren. Wie kamen nun diese Ringe um den Tischfuss ?
Zöllner wollte, dass die beiden Ringe im Wege der vierten Raumdimension (was es für ein Bewandtniss damit hat - später) ineinander gehängt würden, um ein bleibendes Denkmal einer Thätigkeit zu erhalten , die nur im vier dimensionalen Raume denkbar ist . Es wurden selbe zu diesem
Zwecke an einem Faden gehängt, dessen beide Enden an einen
Spieltisch gesiegelt wurden, bei welchem Zöllner gewöhnlich experimentirte. Das geschah aber nicht ; die Ringe ver schwanden von dem Faden und mussten gesucht werden.
Man fand sie zur allgemeinen Ueberraschung an dem Tisch fusse des nebenstehenden Tisches, wo sie noch heute hängen.
Ich habe den Tisch gesehen und ihn als ganz fest und solid gefunden , und glaube nicht, dass ein Tischler mit seinen Werkzeugen im Zeitraume einer halben Stunde so ganz ohne Spuren den Tisch von der oberen Platte befreien und wieder herstellen könnte. Anzunehmen , dass Slade
von dem Tische getrennt auf eine für Zöllner unsicht bare Weise in wenigen Secunden das zu vollbringen ver möchte, ist absurd, es bliebe daher nichts als die Annahme, Professor Zöllner sei ein Lügner, der im Einverständnisse mit Slade die Welt dupirt ! Wenn ich meinem Nebenmenschen ein falsches Motiv
für seine Handlungsweise gebe, so ist das ein Verbrechen , was in dem Masse an Scheusslichkeit zunimmt , als die Handlung folgenschwerer wird. Einem Manne von der Be 6*
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
deutung Zöllner's zuzumuthen, in einer Frage, welche für die Weltanschauung und das Moralprincip der Menschheit von weittragenden Folgen sein kann, sich der Lüge und des Betruges schuldig zu machen, wäre ganz und gar absurd und unverantwortlich .
Auch steht weder diese Thatsache
noch Zöllner allein da, ich und Andere theilen mit ihm die volle Verantwortlichkeit.
Jede Handlung eines Menschen erfordert aber ein Motiv ; wo wäre das für uns zu finden ? Haben wir einen
materiellen Nutzen ? Sind wir nicht in einem gewissen Sinne Märtyrer der öffentlichen Meinung ? Der Leser möge über zeugt sein , dass er nicht skeptischer zu Werke gegangen wäre, als dies bereits von vielen Seiten geschehen .
Als der spiritistische Schwindel in Amerika am höchsten gestiegen war – in den 50er Jahren – vereinigte der
Agrikultur-Chemiker und Professor Mapes noch andere Skeptiker, um die Sache zu prüfen , und gaben sie sich das Versprechen, 20 Sitzungen zu opfern und auszuhalten . Die ersten 18 Sitzungen waren so trivial und nichtssagend, dass sie bereits ihre verlorne Zeit bedauerten ; die letzten zwei
Versuche waren aber derart, dass sie ihre Experimente vier Jahre fortsetzten und die Thatsache als richtig consta tiren mussten.
Dass sich Jeder zufolge unserer Erziehung
skeptisch gegen diese Dinge verhält, ist begreiflich ; aber gerade dieser Skepticismus muss bei fortgesetzter Unter suchung zu einer Entscheidung führen . John Worth Ed. monds sagt : „Ich besuchte einen Zirkel immer mit irgend einem Zweifel in meinem Innern in Bezug auf die Mani festationen bei einem früheren Zirkel, und es ereignete sich dann etwas, das direct auf diesen Zweifel hinzielte und ihn
vollständig vernichtete. . . . . Zuweilen blickte ich mit einem Lächeln zurück auf die Erfindungsgabe, die ich verschwen dete , um Mittel und Wege anszufinden , die Möglichkeit einer Täuschung zu vermeiden . “
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
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Auch ich habe alle Einwürfe, die ich in der Regel zu hören bekomme, und vielleicht noch andere mir selbst
gemacht. Es hat vieler Jahre und langer Erfahrungen be durft, um mich von der Realität der behaupteten Phänomene zu überzeugen , und selbst jetzt , wo ich an der Realität dieser Erscheinungen nicht mehr zweifeln kann , bin ich voll Misstrauen gegen jedes solches Medium, das möglicher weise, durch Eigennutz oder Eitelkeit getrieben, sich sehr leicht zu einer Falsifikation herbeilässt. Ich bin um so mehr misstrauisch , weil ich weiss , dass diese , wenn auch
ganz passive Fähigkeit, solche Erscheinungen zu veranlassen, im innigen Zusammenhange mit der Beschaffenheit der Zellen des menschlichen Organismus steht, welche wechselt
und deren Eigenthümlichkeit für derartige Experimente oft ganz verschwindet. Ich will eine Probe davon geben. Als ich die Bekanntschaft Slade's machte, wusste ich zwar, dass er mit Zöllner experimentirt hatte , aber ich kannte das Resultat dieser Experimente nicht, mein Miss trauen war daher begreiflich. Ich hatte Slade in Verdacht , dass er die Wander ungen seiner Schiefertafeln trotz der hindernden Tisch
füsse durch seine Füsse bewirke , und die handähnlichen
Berührungen durch den blossen Fuss besorge, den er auf allerdings nicht begreifliche Weise entblössen und wieder bekleiden müsste. Die Ursache dieses Verdachtes liegt in
folgendem Umstande : Als ich im Jahre 1875 mit der Miss
Fowler experimentirte , erzählte ich die diesbezüglichen Resultate dem Grafen Andrássy , und er war es , der mir sagte, dass man seinerzeit, als er in Paris lebte, Hume im Verdachte hatte, er habe die handartigen Berührungen durch seinen entkleideten Fuss bewirkt.
Mit dieser Vor
eingenommenheit bewachte ich seine Füsse mit ausser gewöhnlicher Sorgfalt. Da kam die Schiefertafel statt in die
Hand zu dem Knöchel meines rechten Fusses , und kroch
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
unter meinen Augen , sich fest an meinen Fuss drückend, in meine Hand . Ich musste also den ersten Verdacht fallen
lassen. Was nun die Händedrücke anbelangt, so wurde ich darunter eine linke – (Slade's Linke lag auf dem Tische, von Graf Bombelles festgehalten ) an meiner rechten Hand gefasst und gepresst , in einer Ent fernung, die Slade ganz unerreichbar war, und um jede Möglichkeit einer Sinnestäuschung oder Hallucination zu be seitigen, war meine Hand ganz nass und matt ; sowohl ich als der anwesende Graf B. betrachteten längere Zeit die einer dünnen Seifenauflösung ähnliche Flüssigkeit, die meiner Empfindung nach aus ihr gepresst wurde. Ich war gezwungen, auch meine zweite Erklärungsweise fallen zu lassen. An von zwei Händen
demselben Abend entstand in mir ein neuer Verdacht gegen
Slade. Das Zimmer, in welchem wir experimentirten, war durch eine Portière vom Nebenzimmer getrennt. Wir hörten plötzlich Tritte, Slade wurde leichenblass – es war mein Diener , der ankündigte , dass der Thee servirt sei.
Die
sichtliche Ueberraschung Slade's wurde mir verdächtig, weil in mir der Gedanke aufstieg, er fürchte, durch den Vorhang von einer dritten Person beobachtet worden zu sein .
Mit diesem
Gedanken setzten wir uns zum Thee,
Slade sass auf einem Fauteuil zurückgelehnt, vom Tische ziemlich entfernt, und waren mir dessen Hände und Füsse
fort unter den Augen. Gestalt
Mein Freund übersah seine ganze
– mir war seine Magengegend durch die Tisch
platte verdeckt – und obschon wir etwa eine Stunde eifrig conversirten , kam der freistehende Theetisch nicht einen Augenblick zur Ruh mein Verdacht über uns unbekannte Manipulationen Slade's unter dem Tische
wurde wieder auf die unwiderleglichste Weise vernichtet. Der ganze Abend verlief auf eine Weise , als ob diese Wesensreihe mich in wohlwollender Weise überzeugen wollte denn Slade hatte keine Ahnung von meinem Verdachte.
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
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Es wurden oft 2 Meter entfernte freistehende Stühle mit
Heftigkeit umgeworfen . Aber alles das , was ich in dem Capitel über die anormalen Organisationen in meiner Philos. des ges. Verst., in der Brochure ,,Slade's Aufenthalt in Wien " , und was Zöllner in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen vor
bringen, ist vergleichsweise nichts gegen einzelne Erschei nungen, die uns aus England mitgetheilt werden ; z. B. von Crookes , der
Physiker erster Grösse - ein Medium
8 Tage in sein Haus aufnahm . Man wird sagen, dass diese Berichte falsch sein könnten, was allerdings möglich ist, aber
ich habe so viel für Schwindel gehalten, von dessen Realität ich mich nachträglich selbst überzeugen musste , dass ich gegen die Männer der Wissenschaft und die öffentliche
Meinung auf gleiche Weise misstrauisch bin. Ein Herr von L .... n , der einige Sitzungen bei mir mitmachte, erzählte davon in Berlin ; und da man sich das nicht erklären konnte, so fielen seine Landsleute – die Berliner –
auf folgende Lösung des Räthsels : Ich war mit Slade einverstanden, habe das Gewölbe durchgebrochen, und dritte Personen waren die leitenden Kräfte ! Was wohl der Haus eigenthümer und die Glashandlung unter mir dazu gesagt hätten ! Ich muss wiederholt auf die treffenden Notizen über
den Widerstand der öffentlichen Meinung in Bezug der
Meteorsteine verweisen, die Zöllner angeführt, wo ganze gelehrte Körperschaften es als einen Blödsinn erklären, zu denken , was aber durch eine 2000 jährige Erfahrung festgestellt war. Schindler hat
an
SO
etwas
nur
die Daten gesammelt, zufolge welchen diese Erscheinungen genau so in jedem Jahrhundert bei Ekstatikern , bei soge nannten Besessenen , Hexen und andern Opfern des Vor
urtheiles constatirt wurden. Es würde den Leser ermüden, in die Details einzugehen. Wir stehen durchaus vor keinem
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
Novum ; es sind Zustände, die manchmal ganz epidemisch wurden und nichts seltener sind, als einzelne Krankheiten.
Die Thatsachen stehen einmal, und unser Verständniss oder Nichtverständniss derselben wird an ihrem Gewichte
wahrlich nichts ändern, es seien die Consequenzen, welche sie wollen .
Ist denn die Existenz noch anderer Wesensreihen aber
wirklich so etwas Unmögliches, Staats- oder Glaubensgefähr liches , dass die weisen Professoren und frommen Bischöfe so aus Rand und Band in merkwürdiger Uebereinstimmung gelangen ? Worin liegt denn das Gemeinschädliche , wenn Liebhaber - Photographen und Optiker für ihr Vergnügen ohne alles pecuniäre Interesse sich bestreben, im Wege der Photographie sicherzustellen, ob irgend etwas da sei, was
die aktinischen Strahlen reflektirt oder aussendet, und sich dann wirklich etwas findet ?
Ich begreife, wenn der Leser , der für diese That sachen keinen Erklärungsgrund hat, sich sträubt, sie einer
anderen Wesensreihe zuzuschreiben , die da plötz lich auftauchen soll.
An den Thatsachen ist ein Rütteln
unmöglich , wohl aber kann an der Erklärungsweise Zweifel erhoben werden. Ich will vorgreifend den Leser versichern , dass die Spiritisten oder Spiritualisten so Manches einer Wesensreihe zuschreiben, was unser höchst eigenes Product ist, und dass sie fast durchgehends auch eine unrichtige Vorstellung dieser Wesensreihe haben ; das hindert aber nicht, dass es eine andere Wesensreihe geben könne und auch wirklich gibt. Der Spiritist schreibt Alles immateriellen, übernatürlichen Geistern zu, und hält etwaige unbewusste Kundgebungen für Offenbarungen , was durch und durch falsch ist. Diese Wesensreihe ist weder immateriell,
noch übernatürlich , noch sind es Geister ; und von einer
Offenbarung ist keine Spur.
Die behauptete Existenz anderer Wegensreihen .
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Professor Ulrici aus Halle sagt in seiner Brochure, welche wir schon erwähnt, Seite 22 :
„ Jeder Unbefangene wird Zöllner beistimmen , wenn er bemerkt: „Meine Leser mögen selbst beurtheilen, inwieweit es uns nach solchen Thatsachen noch möglich ist , Hrn. Slade für einen Betrüger oder Taschenspieler zu halten.“ Dazu kommt , dass die Experimente , die er in zwölf Sitzungen mit Slade angestellt, in Gegenwart seiner Freunde , der Professoren Th.
Fechner, W. Weber und W. Scheibner , veranstaltet, und dass er , dies zu erwähnen , von ihnen „ausdrücklich autorisirt“ worden, d. h. dass diese echten und rechten „ Männer der Wis senschaft“ die Thatsächlichkeit der berichteten Thatsachen be zeugen . Unter diesen Umständen bleibt den Leugnern und Zweiflern nur die Alternative übrig , entweder durch ihr Schwei gen anzuerkennen, dass sie ihre Zweifel mit nichts zu begründen vermögen , also das vollkommen Beglaubigte nur nicht glauben
wollen , oder nachzuweisen , wie es möglich gewesen , jene Männer (und viele andere Zeugen von unanfechtbarer Glaub würdigkeit) so auffallend zu täuschen. Auch mir haben auf meine brieflichen Anfragen die genannten Herren freundlichst gestattet , sie ausdrücklich unter denen mit anzuführen , die sich nach den Resultaten der Leipziger Sitzungen von der
Realität spiritistischer Phänomene überzeugt halten.“
Nach
Zöllner's Bericht (II, 1 , 333) waren in einer dieser Sitzungen,
in welcher der Versuch mit dem in die Luft geschleuderten Taschenmesser, sowie das Experiment mit dem selbstschreibenden , und zwar zwischen einer von Slade über dem Tischrand vor
aller Augen gehaltenen Doppeltafel schreibenden Schieferstift Veranstaltet wurde , die Herren Professoren Geh. R. Thiersch , Geh. R. C. Ludwig (Physiologe) und Prof. Wundt (Philosoph )
mit gegenwärtig. Nichtsdestoweniger scheinen diese Herren, wie Z. andeutet, an der Realität und Objectivität dieser selbst geschehenen spiritistischen Erscheinungen zu zweifeln .
Das steht
ihnen frei; aber meines Erachtens wäre es ihre Pflicht als her vorragender Vertreter der Wissenschaft, öffentlich darzulegen , was
sie gesehen und weshalb sie an der Objectivität des Selbstgesehenen zweifeln , - also Taschenspielerei oder Betrug, Täuschung, Illusion voraussetzen zu dürfen glauben.“
Ulrici beweist durch seine Publication, dass er drei
Eigenschaften besitzt : Selbstständigkeit des Denkens, Unab
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
hängigkeit der Stellung und Muth; eine dieser Eigenschaften kann eben den Herren Professoren Thiersch , Ludwig und Wundt abgehen, und das genügt. Es ist allerdings auch denkbar, dass sie entweder keine Zeit oder so schwache
Nerven haben , diese Emotion nicht zu ertragen. Dass sie erst durch vermehrte Erfahrungen sich eine klare Einsicht verschaffen wollten, was ein sehr richtiges Motiv wäre, kann nicht angenommen werden, denn sie hätten sich sonst kaum zurückgezogen . Es ist diesen Herren in ihrer Stellung schwer, bei dem Vorurtheile und der Selbstüberschätzung der Akademiker aufzutreten, und um so verdienstvoller ist es für jene , die in gleicher Stellung diesen moralischen Muth haben . Mit meinen Nerven und in meiner Stellung
habe ich leichtes Spiel, allen Akademien der Wissenschaft ins Gesicht zu lachen , falls ich die Erfahrung für mich habe. Nicht so die Professoren der Leipziger Universität. Was nun die Thatsächlichkeit dieser Phänomene anbe
langt , kann ich mich in weitere Berichte nicht einlassen ;
es kommen übrigens noch einige im weiteren Verlaufe vor, insoweit sie zur Erklärung herangezogen werden müssen. Demjenigen meiner Leser , dem dies nicht genügen sollte, den muss ich auf Ulrici's Brochure, eventuell Zöllner's
Werke und Wallace's Vertheidigung des modernen Spiri tismus verweisen ; dem das auch nicht genügen sollte, nun, der möge sich nach England oder Amerika begeben, oder warten , bis sich in Deutschland solche Naturen finden werden , was , wenn auch in geringerem Grade , schon
geschehen , nur sind sie dem Publicum zufolge des be stehenden Vorurtheiles nicht zugänglich. Derjenige aber, der in die Geschichte der Menschheit, in die Aussage so vieler
intelligenter Forscher kein Vertrauen setzt, und mit eigenen Augen auch nicht sehen will , hat selbstverständlich auch
kein Recht, mitzureden. Doch so wie es mir im mündlichen Verkehre oft gelungen ist, durch den ganzen Zusammenhang
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
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überzeugender zu wirken, als durch eine einzelne Thatsache, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich das Misstrauen des Lesers legen wird, wenn er tiefer durch dieses Buch in den Gegenstand und dessen Erklärung eingeführt sein wird. In der ersten Zeit, als diese Phänomene in der Form
gesellschaftlicher Unterhaltung aus Amerika importirt wurden – denn als Wunder Gottes oder des Teufels sind sie so alt als die Menschheit - war die Wissenschaft nicht so
spröde. Sie hoffte in erster Linie , sie mechanisch zu er klären ; als einzelne Erscheinungen das unmöglich machten,
fing man an mit Elektricität, Galvanismus und Magnetismus zu arbeiten ; endlich kam der Vitalismus und die Inner vationsströmung -- Namen für unbekannte Dinge – an die Reihe. Erst als die Annahme von etwas Wollenden und
Denkenden zur absoluten Nothwendigkeit wurde, und man nur die Wahl hatte , entweder fremde Wesen oder eine magische Seele anzunehmen – dann lehnte die Wissenschaft
die Sache vornehm ab und steckte den Kopf unter den Flügel, denn das will sie nicht finden und sehen. Mit ihrem Wissen ist es nicht zu erklären , mit ihren bisherigen Be hauptungen steht das im Widerspruche, statt dem Nimbus eine Blamage – fort damit, die Thatsachen existiren nicht,
der sich mit ihnen befasst, ist ein Ignorant, der an sie glaubt, ein Narr, und damit Punctum ! Genau so hat es seinerzeit
die Kirche gemacht, anathema sit ! Und die Naturforscher werden es genau dorthin bringen, wohin es die Kirche ge bracht. Man wird über ihre Köpfe weg die Wissenschaft
der Erfahrung anpassen, und es werden beide – Wissen schaft und Erfahrung - dabei gewinnen ! Nach Lange muss sich der Materialismus „ auf den
Boden der exacten Forschung stellen , und er (der Materialismus) nimmt dies Forum gern an, weil er überzeugt ist , dass er hier seinen Process gewinnt.
Viele unter
unseren Materialisten gehen so weit , die Weltanschauung,
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
zu welcher sie sich bekennen , geradezu als eine nothwen dige Folge des Geistes der exacten Forschung hinzu. stellen ; als ein natürliches Ergebniss jener ungeheuren
Entfaltung und Vertiefung“ (sic !), „ welche die Naturwissen schaften gewonnen haben, seit man die speculative Methode aufgegeben hat und zur genauen und systematischen Erfor schung der Thatsachen übergegangen ist.“ Wenige Zeilen später kommt das traurige Geständniss, dass „ nicht gerade die gründlichsten Forscher, die Entdecker und Erfinder, die
ersten Meister eines speciellen Gebietes sich mit der Ver kündigung der materialistischen Lehre zu befassen pflegen.“ Das ist auch ganz natürlich ; wenn Columbus nur immer im bekannten mittelländischen Meere herumgefahren wäre, so hätte er Amerika nicht entdecken können.
Doch kehren
wir zur „exacten Forschung“ zurück. Was that Wallace und Crookes ? Sie speculirten gar nicht , sondern untersuchten gegebene Thatsachen so
exact, als nur möglich. Zöllner, dieser sündige Mensch, unterstand sich zwar, über den Raum zu speculiren, über ging aber dann auch zur exacten Prüfung der Thatsachen. Nichtsdestoweniger sagt Häckel von Wallace , dass auf sein Urtheil nichts mehr zu geben sei , weil er unter die Spiritisten gegangen, und für die Leipziger Professoren hat er nur Mitleid , dass sie so irre gehen konnten. (Siehe deutsche Rundschau.) Daraus geht die Moral hervor, dass ein Naturforscher nur solche Thatsachen einer „ exacten Forschung unterwerfen darf, die in Uebereinstimmung mit den Ansichten Häckel's stehen ; was diesen wider
spricht, darf „ der exacten Forschung“ gar nicht unterzogen werden . Und so etwas nennt sich Naturforschung und unfehlbare Wissenschaft! In den Bereich der Naturforschung
gehört doch Alles, was sich in der Natur zuträgt, und die Vertiefung der Naturwissenschaft kann doch nicht nur darin bestehen, dass man einen Schleim unter ein Mikroskop stellt!
Die behauptete Existenz anderer Wesepsreihen.
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Ich frage jeden Unparteiischen, auf welcher Seite sich das lächerlichere Vorurtheil befindet, auf Seite der alten
Weiber, die für unverstandene Phänomene kindische Ursachen aus ihrem Katechismus holten, oder auf der Seite der Männer
der „ exacten Forschung“, die trotz des Zeugnisses von Tausenden von Chroniken, Gerichtsverhandlungen, Zeitungs artikeln, mit einem Worte trotz des Zeugnisses der Welt geschichte und ihrer sehr competenten Collegen die Realität von Thatsachen bestreiten , die sie gar nicht kennen ? Häckel wird doch zugestehen , dass in physi kalischen Fragen das bestimmte Zeugniss eines Crookes, Weber und Zöllner weit schwerer wiegt als die vorge
fasste Meinung aller Biologen ? Der Leser mache mir nicht den Vorwurf , dass ich die Herren ungebührlich behandle; ich greife Niemand an, im Gegentheile, ich vertheidige die Angegriffenen, und führe genau die Waffe des Gegners ; ich kämpfe loyal. Jene Herren Naturforscher, welche sich eines unerlaubten Missbrauches
ihrer Autorität schuldig gemacht, verdienen auch keine Rück sicht. Die Kirche hat durch ihren Irrthum und ihre Autorität
Hunderttausende um ihre Existenx — wenn auch bona fide gebracht, die ihr Leben im Kloster beschlossen -- anderer
Opfer gar nicht zu gedenken. Die modernen Naturphilosophen haben ihr Gewissen mit einer gleichen Schuld beladen. Ihr überlegenes Wissen , ihre anmassende Sprache , der Druck der öffentlichen Meinung machen es begreiflich , dass die lebende Generation die höhere und ideale Weltanschauung verloren hat, und im Kampfe ums Dasein einen haarsträu
benden Egoismus an den Tag legt, der kein anderes Motiv mehr kennt, als den Kriminal-Codex und im besten Falle
die öffentliche Meinung. Hatte ich doch selbst blindes Ver trauen zu ihrer an den Tag gelegten Sicherheit, bis nicht ein Zufall, eigentlich ein Schneefall, mich auf ein fremdes
Schloss brachte, wo ich die Veranlassung fand, den Herren
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
Naturforschern auf die Finger zu sehen , wenn sie in den
Schnapssack ihrer Naturphilosophie griffen. (Siehe Seite 180 Philosophie des gesunden Verstandes .) Ich habe vor diesen Herren den Respect ganz und gar verloren , und Rücksicht verdienen sie vorläufig keine.
Häckel – selbst ein Opfer des Vorurtheiles und der der auf seinem Gebiete gewiss grosse Verdienste hat, die wir später noch würdigen werden, scheint die nachfolgenden Worte Kant's entweder nicht gelesen oder vergessen zu haben. Dieser schreibt in seinen allgemeinen Anschauung
Prolegomenen : „ Naturwissenschaft wird uns niemals das
Innere der Dinge, d . i. dasjenige, was nicht Erscheinung ist, aber doch zum obersten Erklärungsgrunde der Erschei nung dienen kann, entdecken ; aber sie braucht dieses auch
nicht zu ihren physischen Erklärungen ; ja, wenn ihr auch dergleichen anderweitig angeboten würde , z. B. Einfluss immaterieller ( ?) Wesen , so soll sie es doch ausschlagen, und gar nicht in den Fortgang ihrer Erklärungen bringen, sondern diese jederzeit nur auf das gründen, was als Gegen stand der Sinne zur Erfahrung gehören , und mit unseren wirklichen Wahrnehmungen nach Erfahrungsgesetzen in Zusammenhang gebracht werden kann . “ Aus diesen Worten des unvergleichlichen und unsterblichen Philosophen geht hervor, dass die Naturwissenschaft sich nur mit den Gesetzen der Phänomenalität zu befassen hat , und das
Innere der Dinge ausserhalb ihrer Competenz liegt , weil sie dadurch zur speculativen Philosophie würde. Die Frage der Existenz oder Nichtexistenz anderer Wesensreihen gehört
gar nicht in ihr Gebiet, insolange keine phänomenalen,
greifbaren Erfahrungen vorliegen. Liegen diese vor, so kann sie die Wissenschaft nicht weiter ignoriren ; insbesondere hat sie sich zu hüten , die Möglichkeit abzustreiten. Dass die Männer der Wissenschaft die Trabanten des Jupiter zu
einer Zeit abstritten, wo andere Männer der Wissenschaft
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
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sie bereits gesehen , ist bekannt. Cuvier leugnete die Möglichkeit der Existenz fossiler Affen und Menschen , Agassiz die der Reptilien in den paläozoischen Gebilden,
die der Säugethiere in den secundären Gebilden - und es war Alles unrichtig, das wissenschaftlich Urmögliche wurde zur unläugbaren Thatsache. Lange sagt anknüpfend an diesen Eigensinn der Naturforscher : „ Merkwürdig, dass schon im nächsten Jahre nach dem Todesjahre Cuvier's und Goethe's ein Fund bekannt wurde, der allein genügt hätte, die Theorie
des Ersteren zu stürzen, wenn nicht Autoritätssucht und blindes Vorurtheil weit verbreiteter wären, als schlichte Empfänglichkeit für den Eindruck der Thatsachen.
anderer Wesensreihen.
Genau so ist es mit der Existenz
Die beste Illustration dazu liefert
der Umstand, dass der Fund Eines gebildeten Menschen an solchen prähistorischen Ausgrabungen für sehr viele, nicht mehr zu beglaubigende Nebenumstände ausreicht, um
ein System zu stürzen , während Thatsachen , die durch tausende von Jahren und Menschen bestätigt werden, und deren Untersuchung nichts im Wege steht , einfach weg geleugnet werden , weil Eitelkeit und Autorität gewisser officieller Kreise darunter leiden .
Es ist selbst verständlich , dass ein Naturforscher Philo soph, und ein Philosoph Naturforscher werden kann, aber es müssen die Vorbedingungen gegeben sein und die Methode geändert werden . Der Naturforscher muss Stoff, Materie, Atom, das Phänomenale als Realität nehmen, während diese
für den Philosophen nur Producte des Erkenntnissvermögens sind .
Niemand hat die Grenzen zwischen Naturforschung
und Philosophie so genau auseinander gehalten , als der grosse Kant. Wie wenig Material hatte er zur Verfügung, und doch erkannte er die Entstehung der Planeten und des Systems, den Darwinismus u. s. f.; es wird demnach wohl
Niemand behaupten , dass Kant kein Naturforscher war.
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
In Bezug auf die Erscheinungen bei anormalen Organi sationen hatte er kein anderes Material, als drei Notizen über Swedenborg , und doch hatte das genügt , den Zusammenhang vollkommen zu erkennen , was wir im Ver laufe des Buches uns überzeugen werden. Wenn ich meinen Lesern auch keine anderen Bundesgenossen zusichern könnte, als Kant , Schopenhauer , Weber und Zöllner , so wäre das für den Kampf, dem wir entgegen gehen , mehr
als genug ! Die Mystik in das Licht der Naturwissenschaft zu stellen, ist unsere Aufgabe : es kann aber nicht gelingen, wenn man einerseits aus ihr ein Werk Gottes oder des
Teufels macht, und andererseits die Thatsachen leugnet, obschon sic zu allen Zeiten, an allen Orten, bei allen Völ
kern vorkommen. Das Zeugniss der Geschichte und ihrer eigenen Zeitgenossen macht die Herren Naturforscher nicht
irre; die chinesischen und indischen , die griechischen und römischen, jüdischen und christlichen Schriftsteller,Christus und Lutber , so gut wie Wallace und Zöllner , müssen Lügner oder Betrogene sein , damit die Herren mit ihrer vermeintlichen Allwissenheit Recht behalten können. ,,Denn
wäre das nicht Trug und Lug, so würden wir Naturforscher lächerlich , und das kann nicht sein. Wir haben uns nie geirrt , unser Wissen ist ja positiv , steht ja höher als alle Erfahrung ! Wer an unserer Unfehlbarkeit zweifelt,
den können wir allerdings nicht verbrennen , aber wir stossen ihn aus der Gemeinschaft der gebildeten Welt,
wir stellen ihn an den Pranger der Unwissenheit, des Blöd sinns, der Narrheit !!" Nur zu, meine Herren ! Doch gebt fein Acht, das Euer vermeintlicher Thron sich nicht in etwas ganz Anderes verwandle ! -
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Die bebauptete Existenz anderer Wesensreihen.
2. Die Einwürfe gegen die behauptete Existenz anderer Wesensreihen. Nichts ist geeigneter, eine Anschauung zu klären, als
der Widerspruch, den wir auch nach Schluss eines jeden
wesentlicheren Capitels im Namen des gemeinen Verstandes erheben werden.
Der gewöhnlichste Einwurf, der gegen die Existenz anderer Wesen erhoben wird, lautet :
Würde eine andere Wesensreihe existiren , die da
auftauchen, und zwar auf so sonderbare Weise auftauchen soll, und hätte sie ein Interesse an uns, so wäre der Con
tact schon längst und auf andere Weise geschehen , und würde es nicht erst der Intervention einiger amerikanischen Schwindler im 19. Jahrhundert bedürfen ; auch würden die Manifestationen nicht so kindisch sein.“ Man wendet also ein : 1. dass diese Wesensreihe schon
längst auf uns eingewirkt hätte, 2. dass, wenn sie ein Interesse für uns hätte, sie belehrend und wohlwollend einwirken würde , 3. dass sie einer Intervention eines Slade nicht
bedürfte, und 4. dass die Manifestationen zu läppisch seien . Wollen wir diese Fragen getrennt behandeln. Es ist vor Allem nicht richtig, dass in früheren Zeiten nichts geschehen sei, was der Existenz einer anderen Wesens
reihe zugeschrieben worden wäre. Die Geschichte aller Zeiten und Völker ist voll von Berichten, die das Gegentheil
behaupten. Die sogenannten aufgeklärten Leute haben viel leicht nicht daran geglaubt, so wie sie es jetzt auch nicht thun , und sehr bedeutende Menschen haben es aber ge glaubt. - Es ist also einfach kein Unterschied zwischen einst und jetzt, es frägt sich nur , welcher von beiden Theilen Recht hat ; aller Wahrscheinlichkeit nach Jeder und Keiner. Es wurde und wird viel phantasirt und gelogen, aber es dürfte Alles weder damals noch jetzt so ganz ohne Hellenbach , Vorurtheile. II.
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Die behauptete Existenz anderer Wesengreihen.
irgend eine Unterlage sein. Eines ist gewiss, neu sind diese
Erscheinungen nicht. Man lese die Schriften Owen's, Wallace's und Perty's, und man wird genug Erzählungen finden, die dem abergläubischen und unwissenden Mittelalter gar nicht angehören , sondern der neueren Zeit. Schindler hat erdrückende Beweise aus allen Welttheilen gesammelt, so dass es fast wunderbar wäre , wenn alle Acten über
die Hexenprocesse und die geschichtlichen und officiellen Berichte über die so ganz analogen Phänomene bei Be. sessenen und Ekstatikern nur Lügen wären. Der zweite Einwurf betrifft die Art der Einwir
kung. Man sagt, dass, wenn es eine andere Wesensreihe gebe, die in der Lage sei, mit uns in Contact zu kommen,
sie sich gewiss nicht darauf beschränken würde, uns ihre Existenz durch scheinbar kindische Aeusserungen zu docu mentiren . Darauf habe ich eine sehr einfache Antwort : Die
Seltenheit liegt, ganz abgesehen von der Schwierig. keit ( auf die wir später kommen), schon in den Resultaten und Folgen der wirklichen oder auch nur geglaubten An näherung. Kann es für eine Wesensreihe einladend sein,
uns dem Scheiterhaufen, dem religiösen Wahne , der Ver rückheit, im besten Falle dem Schrecken oder der Lächer lichkeit zu überliefern ? Das sind die Resultate, denen wenig
Gutes gegenübersteht ; der Materialismus und sogenannte Positivismus wirkten vergleichsweise viel wohlthätiger. Wie viele Menschen gibt es aber auch , die sich einen solchen Contact wünschen ? Erst in neuerer Zeit, wo diese furcht. baren Uebelstände nicht mehr zu befürchten sind, wäre ein
häufigerer Verkehr unschädlich ; und siehe da, er stellt sich ein ! und zwar mit positivem Nutzen und wahrer Ent. schiedenheit gerade bei jenen , die ruhig und objectiv sind und darüber nicht den Verstand verlieren.
Er stellt sich
unverzüglich ein, wenn die Bedingungen gegeben sind, welche den Contact möglich machen , und die durchaus
Die bebauptete Existenz anderer Wesensreihen.
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nicht so einfach sind. Es ist sehr die Frage , ob er sich nicht auf den blossen ernstlichen Willen und Gedanken ein
stellt, von uns aber nicht wahrgenommen und empfunden oder falsch verstanden wird.
Kant sagt : „ Abgeschiedene Seelen und reine Geister
können zwar niemals unsern äussern Sinnen gegenwärtig ? sein, noch sonst mit der Materie in Gemeinschaft stehen ,
aber wohl auf den Geist des Menschen , der mit ihnen zu einer Republik gehört, wirken, so dass die Vorstellungen, welche sie in ihm erwecken, sich nach dem Gesetze seiner Phantasie in verwandte Bilder einkleiden, und die Appa renz der ihnen gemässen Gegenstände ausser ihm anregen....
Es wird künftig noch bewiesen werden , dass die menschliche Seele auch in diesem Leben in einer unauf
löslichen verknüpften Gemeinschaft mit allen immateriellen Naturen der Geisterwelt stehe, dass sie wechselweise in
diese wirke und von ihnen Eindrücke empfange , deren sie sie sich aber als Mensch nicht bewusst ist, so lange Alles
wohl stebe.“ ( Träume eines Geistersehers.) Die Thatsachen haben die Anschauung Kant's inso
weit bestätigt, als es sich später herausstellen wird , dass wir wirklich eine Art Republik mit jener Wesensreihe aus machen, dass wir nur verwandte Bilder solcher Anregungen haben können , und dass sich der Mensch alles dessen nicht bewusst ist, so lange Alles wohl steht. Nicht richtig
hingegen ist die Annahme Kant's von reinen Geistern, die allerdings als solche weder uns sichtbar werden , noch in die Materie eingreifen könnten , und von deren Existenz auch keine Spuren vorliegen. Wenn man schon einen Aus druck für diese unbekannte Wesensreihe gebrauchen wollte,
so ist der alte Ausdruck „Gespenst“ noch der beste ; denn ent weder sind solche Vorstellungen ganz subjective Gespinnste unseres Gehirns, oder sie haben eine objective Unterlage, dann muss diese auch erst für unser Wahrnehmungsvermögen 7*
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
gesponnen werden . Wir haben die Producte dieser wirk lichen oder vermeintlichen Einwirkung vor uns , Erhabenes
und Lächerliches, Vernünftiges und Dummes. So verschie dene Resultate müssen wohl auch verschiedene Ursachen
haben, die wir erst aufsuchen müssen. Vorläufig wissen wir nur, dass wir unter Umständen von einer fremden Intelli genz umgeben sind, weil wir ein intelligentes Wirken con
statiren können, wenigstens in Bezug auf die physikalischen Erscheinungen ; was hingegen die Eingebungen und Kund gebungen anbelangt , so müssen wir vorsichtiger sein und sie vorläufig auf Rechnung des Unbewussten setzen, bis wir diesem sehr verwickelten physiologischen oder psychischen
Vorgange näher an den Leib gehen werden. Dass diese letzteren für die Erkenntniss unserer Natur die wichtigeren sind, darin hat J. H. Fichte Recht.
Ein Contact , der physikalische Erscheinungen zur
Folge haben soll , ist nur unter ganz aussergewöhnlichen Umständen möglich. Es genügt nicht nur der beiderseitige Wille, sondern noch ganz andere physikalische Bedingungen. Sind diese letzteren gegeben , so ist der Verkehr ein viel häufigerer , als man glaubt. Dieser Verkehr ist für jede Wesen einem theilweisen Eintritt in den biologischen Process,
einer Veränderung der physikalischen Verhältnisse gleich zu setzen, und daher durchaus keine so einfache Handlung. Gesetzt, der Leser hätte einen Bruder auf den Philippinen
Inseln, und wollte ihn sehen, so genügt blosser Wille auch nicht, weil wir Zeit, Geld und Schiffe brauchen, um unseren Vorsatz auszuführen . Wenn wir auf den Grund des Meeres, also in andere physikalische Verhältnisse treten wollen, so brauchen wir auch Vorbedingungen , ohne welche wir es kraft unserer Organisation nicht zu Stande bringen können.
Auch dürfen wir nicht vergessen , dass unsere biologische
Bestimmung die Entwickelung ist, und nicht etwa das grosse Loos zu gewinnen, was die Menschen in der Regel von einem
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
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Verkehre mit der vermeintlichen anderen Welt erwarten .
Die wichtigste und am schwersten erfüllbare Bedingung aber
ist die Gegenwart eines Organismus, welcher organische
Substanzen in genügender Menge und latenter Form disponibel hat, ohne welchen jene Wesen den nothwendigen
Verdichtungsgrad zur Organprojicirung nicht zu Stande bringen , nicht spinnen können , um uns in irgend einer Weise direct oder indirect wahrnehmbar zu werden.
Der
totale Eintritt in den biologischen Process ist ohne Keim auch nicht möglich ; und der Keim ist auch nichts anderes
als lebende organische Materie, weil aber im letzteren Falle die Zellen sich vermehren und ausbilden müssen , so kann
die Organprojection auch keine so spontane sein. Ich habe dies in dem Anhange zu meinem ,Individualismus “ übrigens schon erwähnt.
Was endlich die Einwendung anbelangt , dass diese Erscheinungen zu kindisch seien , um sie einer anderen Wesensreibe zuzuschreiben, so ist das in der Regel aller dings der Fall, und hat dies seinen guten Grund, auf den wir noch zurückkommen werden ; aber selbst das , was wir schon heute als sichergestellt betrachten können, ist nicht immer kindisch zu nennen . Wenn Zöllner im Sinne seiner
Raumtheorie das Verschwinden von Gegenständen und Knoten im endlosen Faden , und Fussabdrücke im geschlossenen
Raume verlangt, und es geschieht wider Erwarten Zöllner's oder des Mediums, so ist das gerade nicht kindisch. Die Erscheinungen hängen in erster Linie von den Wünschen der Experimentirenden, dem guten Willen und den Fähigkeiten dieser sonst unwahrnehmbaren Wesen , endlich von den gegebenen Bedingungen ab . Wir haben da drei verschiedene
Gründe, denen das Kindische zugeschrieben werden kann. Nicht jeder Experimentirende ist ein Zöllner , nicht jedes Medium ein Slade , die physikalischen Bedingungen und Disposition sind sehr verschieden , und die Experimente,
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
d. i. die im dreidimensionalen Raume sichtbaren Wirkungen, sehr schwierig darzustellen.
Ich glaube , die gemachten Einwürfe und Bedenken nach dieser Richtung beseitigt zu haben. Es hat sich sehr viel auf dieser Erde zugetragen, was mit Recht oder Unrecht der Einwirkung anderer Wesen zugeschrieben wurde; es haben diese Einwirkungen
angebliche, bleibt sich gleich
ob nun wirkliche oder nur mehr Unheil als Heil ge
stiftet; was aber die Bedingungen anbelangt, unter welchen eine solche Einwirkung bis zur Sichtbarkeit oder Fühlbarkeit für uns möglich wird, so sind deren mehrere, aber die eine ist unbedingt nothwendig : das Vorhandensein einer organi schen Substanz, die nach den bisherigen Erfahrungen nur ein lebender Organismus, und auch dieser nur höchst aus
nahmsweise zu liefern vermag. Ich werde später den Zu sammenhang dieser sonderbaren Bedingung mit den Vor kommnissen bei Sterbenden und den Offenbarungen der Alten nachweisen. Wir sind z. B. auch nicht in der Lage, auf die Fische einzuwirken oder uns ihnen bemerkbar zu
machen , weil sie sich in anderen uns unmöglichen physi kalischen Verhältnissen bewegen ; ausnahmsweise geht es aber doch. Die Zahl der Fische, die ein menschliches Auge
nie getroffen , ist fast unendlich gross gegen die wahrge nommenen , noch grösser aber ist die Zahl jener Fische, die nie einen Menschen erblickt.
Wir haben in der Regel
kein Interesse an den Fischen, doch gibt es einzelne Lieb haber, die ihre Fische mit der Hand füttern.
Es ist dies
allerdings ein hinkendes Gleichniss, aber es bringt uns in Erinnerung, dass die Verschiedenheit der physi kalischen Verhältnisse genügt , dass verschiedene Wesensreihen unbemerkt nebeneinander und miteinander
existiren können , ohne Kenntniss von einander zu haben, und dass es dann doch möglich wird, Ausnahmen zu con statiren .
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
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Der Leser könnte aber abermals eine Einwendung erheben und folgendermassen argumentiren : „Man könnte ohne Weiteres zugesteben, dass, wenn meine and Zöllner's Erfahrungen nicht auf einer bisher noch nicht
entdeckten Täuschung beruhen , auch so manche Berichte aus früheren Zeiten an Bedeutung gewinnen müssten ; man könne ferner zugeben , dass die Seltenheit dieser Vorkommnisse theils durch die Folgen , theils durch die Bedingungen zur Noth be gründet werden könnte ; daraus würde aber nur folgen , dass ich und Zöllner, welche einen längeren Contact hatten , auch in
der Lage sein müssten , näheren Aufschluss über die Natur, Existenz, Vergangenheit dieser Wesensreihe zu geben , was aber weder wir noch andere vermögen .
Wenn wir einmal wirklich
in der Lage wären , mit einem Bewohner etwa eines anderen Planeten
Gedanken
auszutauschen ,
müsste
man
nicht
weiter
kommen, als ich und Consorten ? Alles, was bis jetzt aus diesem angeblichen Verkehr mit dieser behaupteten Wesensreihe ge
wonnen wurde, sei die Zöllner'sche Hypothese, dass diese Wesen über eine vierte Raumdimension verfügen sollen ! Wenn es eine solche Wesensreihe geben würde , die mit uns in einen Verkebr treten könnte , so wäre es ihr ein Leichtes, die ganze Menschheit und nicht nur Einzelne von ihrer Fxistenz zu über zeugen, sie aufzuklären und zu beeinflussen .“
Das ist ein Einwurf, den ich sehr oft vernommen. Nehmen wir einmal den Fall an , wir wollten über
die Natur, Existenz und Vergangenheit des Menschen eine Aufklärung haben, und gingen demzufolge auf Reisen , in erster Linie nach Berlin, und wären gezwungen, den ersten Vorübergehenden zu fragen ; was für eine Antwort würden wir wohl erhalten ? Entweder keine, oder eine nichtssagende. Nehmen wir den Fall selbst an , wir würden durch einen
glücklichen Zufall Helmholtz begegnen , der uns Stich hielte, und eine vernünftig klingende Antwort gebe. Wir würden vergnügt danken . Aber der Zufall wollte, dass wir den andern Tag Hartmann , den dritten Pfleiderer begegnen, in Jena Häckel , in Stuttgart Fichte u. s. f.
Wir würden , falls wir nicht eine selbstständige Meinung
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Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
hätten, ganz confus, und würden sagen, dass Alle verschie dene, ja widersprechende Ansichten haben, dass sie es also
selbst nicht wissen , und dass alle diese Ansichten keinen grösseren Werth haben können, als Meinungen überhaupt. Ja, wenn es sich selbst um ganz gewöhnliche Fragen handeln
würde , bekämen wir von einem Bauern , einem Geist lichen , einem Fabriksarbeiter oder einem Aristokraten und über Leben . Künstler ganz verschiedene Aufklärungen Beschäftigung u. s . w. Denken wir uns aber , dass der Verkehr nicht zwischen Mensch und Mensch wäre, was die
Sache begreiflicherweise sehr erleichtert. Wir haben gewiss Alle schon mit einem intelligenten Hunde verkehrt, haben gewiss so manche seiner Gedanken
errathen, und auch einen kleinen Theil der unsrigen ihm verständlich gemacht, aber einen Gedankenaustausch kann man das doch kaum nennen , und doch ist der Hund ein Zellenorganismus mit fünf analogen Sinnen , so wie wir. Wir werden auch zugeben müssen, dass die Verschiedenheit mit der Entwicklungsstufe wächst, und so wie die Hunde untereinander verschiedener sind , als die Karpfen unter einander , wir Menschen verschiedener als die Hunde , so kann eine andere vielleicht höher stehende und anders ent
wickelte Wesensreihe noch eine weit grössere Verschiedenheit haben. Es kann darum sehr leicht gedacht werden, dass der mangelhafte Verkehr nur auf die verschiedene Natur und die Unzulänglichkeit unserer Organisation zu setzen wäre. Die Seltenheit und Unfruchtbarkeit obiger Ereignisse
beweisen daher gar nichts.
Was den grossen oder geringen Werth der Zöllner schen Hypothese anbelangt, so hat man sehr Unrecht, diese Experimente zu unterschätzen. Die grössten Denker haben unsere Raumvorstellungen für etwas Ideales gehalten, und uusere dreidimensionale Anschauung als die Frucht unserer Organisation hingestellt. Wenn nun erfahrungsgemäss Dinge
Die behauptete Existenz anderer Wesengreihen.
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vollbracht werden, die entweder nur oder bestens durch
eine höhere Raumdimension ihre Erklärung finden können, so ist so ein Experiment von grosser Tragweite. Dass eine höhere oder, wenn man will, andere Raumdimension existirt, geht aus den Zöllner'schen Experimenten wirklich hervor, und kann da von einem Sollen nicht mehr die Rede sein.
Das Muschel-Experiment, zufolge welchem eine Muschel durch eine andere oder durch den Tisch unter Wärmeent
wickelung durchgedrückt wurde, würde beweisen, dass eine Durchdringung der Materie ohne Zerstörung des Gefüges möglich sei, und da bei Schlingung eines Knotens in dem
Darmausschnitt sich ebenfalls Wärme entwickelte, so scheint die Schlingung des Knotens im endlosen Faden allerdings nicht mit jener Nothwendigkeit die vierte Raumdimension zu beanspruchen ; wohl aber ist das der Fall bei dem Verschwinden der Gegenstände, insbesondere eines Tisches (welchen Fall wir später besprechen werden ), der doch nicht zerfliessen und sich wieder zusammenfügen kann. Wie kam er weg , wo war er , und wie kam er zurück ? Das lässt sich wohl nicht anders erklären, als dass unsere Raum Anschauung nur eine unvollkommene sei, und uns gleichsam
nur ein Theil der möglichen Richtungen des Raumes, der n Dimensionen haben kann, zugänglich ist. Es ist begreiflich, dass Zöllner als Physiker par excellence sich mit solchen Fragen und Problemen vorzugsweise beschäftigte, während ich anderen Fragen meine Aufmerksamkeit widmete. Wir
sehen daraus, dass zu allen anderen Vorbedingungen auch noch die Beschaffenheit des Experimentirenden einen wesent lichen Einfluss auf die Resultate eines solchen Contactes
nimmt. Wird dieser Contact durch alte Weiber (wenn auch
männlichen Geschlechts) besorgt , dann freilich kann kein werthvolles Resultat gewonnen werden ; ernste Männer wollen sich aber zufolge des Vorurtheiles und seines allmächtigen
Einflusses mit solchen Dingen in der Regel nicht befassen.
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Die behauptete Existenz anderer Wesepsreihen.
Der Leser wird ausrufen : Man kann doch nicht ver
langen , dass ernste Männer sich auf den Standpunkt der Wunder von Maria Taferl stellen und sich von unsichtbaren
Geistern umgeben denken sollen?! Kaum dass wir uns aus dem finstern Aberglauben durch die Naturwissenschaft herausgearbeitet, sollen wir wieder zum Standpunkt der alten Weiber und längst verflossener Zeiten zurückkehren ! Ja, lieber Leser, gerade darum schreibe ich ja über die Vorurtheile der Menschheit, weil die alten Weiber dies
bezüglich nicht mehr und nicht weniger von Vorurtheilen befangen sind , als die berühmten Männer der berühmten
Naturwissenschaft. Das habe ich ja von Anfang gesagt, dass der kritiklose Glaube die Entwickelung seinerzeit ebenso schädigte , als gegenwärtig die kritiklose Verwerfung der Thatsachen durch die Wissenschaft.
Was aber die ange
zogene und belächelte Unsichtbarkeit anbelangt , so erlaube ich mir meinem Leser ins Gedächtniss zu rufen ,
dass nach Nägeli dreissig Millionen Stück Spaltpilze für ein Gramm im lufttrockenen Zustande nothwendig sind und dass nach Da vaine vom Bacillus Anthracis in einem
einzigen Tropfen Blute mehrere Millionen Stück enthalten sein können.
Ich rufe ihm ferner ins Gedächtniss, dass
unsere Gasarten wie nicht minder die einzelnen Atome uns
ebenfalls unsichtbar sind. Daraus folgt, dass unsere Sinne
wohl sehr grob, ich möchte sagen auf Täuschung ein gerichtet sein müssen. Also auch ohne der vierten Raum dimension wäre die Unsichtbarkeit noch keine Hexerei. Dass diese Wesen Geister sind, das müsste ich bestreiten, wenn
man unter Geist etwas Körperloses, Immaterielles oder Ueber natürliches versteht, dass aber auf dieser ungeheuren Welt noch andere Wesensreihen existiren werden , als Eiweiss
geschöpfe auf der Kruste abgekühlter Planeten , ist schon an sich mehr als wahrscheinlich.
Es ist eines der
lächerlichsten Vorurtheile der sogenannten ge
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
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bildeten Welt , die Natur auf die Hervorbring
ung von Zellen und Zellencomplexen zu be schränken; es wird uns das noch komischer vorkommen, wenn wir uns die Ueberzeugung geholt haben werden, dass
die Eiweissgeschöpfe, zu welchen auch wir gehören , das Secundäre sind , und das eigentliche Leben ganz und gar jenseits dar Zellen -Existenz liegt, die ja nur eine vorüber gehende Erscheinungsform der eigentlichen Lebewesen ist.
Das jenseitige, d. h. zellenlose Leben verhält sich zum diesseitigen, d. i. in Zellen dargestellten Leben , etwa wie eine Hand ohne Handschuhe zu einer Hand mit Hand schuhen .
An der Existenz noch anderer intelligenter Wesens
reihen auf unserem Planeten oder überhaupt kann nicht mehr gezweifelt werden , sie ist eine Thatsache von so
unzweifelhafter Gewissheit, als irgend eine andere , als die Existenz von Fischen , Vögeln und Säugethieren ; und so wie es nicht nothwendig ist , dass jeder einzelne Mensch jedes einzelne Thier mit eigenen Augen sehen muss , um
an dessen Existenz zu glauben, so steht es auch mit dem Glauben an diese Wesensreihe. Und so wie es Jedem unbe
nommen ist , eine bestimmte Species etwa der Meeres geschöpfe selbst kennen zu lernen, ebenso ist es mit diesen Erfahrungen , aber man muss suchen. Wer die Eruption des Aetna sehen will, muss hinfabren, sintemalen der Aetna uns nicht aufsuchen wird.
Wohl aber ist uns die Natur dieser Wesen nicht so
begreiflich und zugänglich als die der Eiweissgeschöpfe. Zwei Eigenschaften derselben sind aber nichtsdestoweniger durch die Experimente festgestellt worden. Die erste, welche namentlich Zöllner interessirt und beschäftigt, ist die, dass diese Wesen in anderen Raum- und Zeit
verhältnissen existiren. Eine Behauptung , die ich schon im Jahre 1875 , gestützt auf meine Erfahrungen,
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
108
veröffentlichte. (Siehe Philos. des ges. Menschenverst.) Die zweite Eigenschaft, die mich interessirt und die eine ungeheure Tragweite für die Erkenntniss unserer eigenen Natur hat, ist : dass sie uns ganz analoge Organe projiciren. Die vierte Raumdimension meinem Leser klarzustellen,
insoweit dies überbaupt geht, ist sehr schwer, nichtsdesto
weniger will ich es auf die gemeinfasslichste Weise ver suchen , damit er wenigstens wisse , um was es sich dabei handelt.
Alle diese dunkeln und scheinbar übernatürlichen Vor
gänge werden sofort durchsichtig und natürlich, wenn man ihnen zwei Hypothesen zu Grunde legt, welche die ganze Welt in ein anderes und schöneres Licht stellen.
Die eine
derselben ist der vierdimensionale Raum , oder die Idealität
unserer Raumvorstellung, die bereits Kant vertrat. Die zweite werden wir später kennen lernen . Dieses Capitel befand sich bereits unter der Presse, als mir Professor Wundt's offener Brief an Prof. Ulrici
zukam.
Da sich darin einige Einwürfe von so competenter
Seite befinden, so wollen wir sie den obigen anreihen und beantworten.
Prof. Wundt läugnet weder seine Theilnahme an einigen
Experimenten, noch zweifelt er an der Wahrheit der Zöllner schen Berichte ; er gibt keine Aufklärung über die Art und
Weise , wie sie zu Stande gebracht wurden . Nichtsdesto weniger verwirft er sie aber doch , weil er in ihnen eine Durchkreuzung der Naturgesetze und ein Aufgeben der Causalität erblickt - ein sonderbarer Schluss !
Wundt gesteht die Bewegung der Magnetnadel zu, aber meint , dass Slade einen starken Magnet im Rock ärmel gehabt haben könnte. Das würde wohl nur die Folge haben, dass die Nadel gegen den ruhigen Arm Slade's sich gekehrt hätte ; um sie rotiren zu machen , müsste Slade
einen Magnet am Fusse gehabt, und mit diesem eine
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
109
drehende Bewegung unter dem Tische hervorgebracht haben . Angenommen nun, das Letztere wäre der Fall , aber man
hätte diesen Betrug nicht gleich entdeckt ; wäre für die Zeit der Unerklärlichkeit etwa ein Loch in die Naturgesetze
und die Causalität geschlagen worden ? Gewiss nicht, man hätte die Ursache einfach nicht gefunden. Wenn man sie nun findet, den verborgenen Magnet nämlich, so würde sich herausgestellt haben, dass das Loch in unserer Erkenntniss war, die schlecht oder gar nicht suchte, oder nicht fand. Bei mir erhielt die Magnetnadel Stösse, und ging auf ge dachtes Commando 80 versicherte wenigstens der an wesende Fürsi L ....
unter Bedingungen , die alle
(bei sich etwa getragenen ) Magnete Şlade's nicht verursacht haben konnten. Ist deshalb an eine Aufhebung der Natur gesetze oder der Causalität nur zu denken ? Gewiss nicht, das Loch ist in unserem Wissen , und darum hat ein Forscher den Experimenten nachzugehen , nicht aber sich von ihnen auszuschliessen . Wundt gesteht selbst zu, dass die Hexenprocesse eine frappante Aehnlichkeit der damaligen und heutigen Vorkommnisse zu Tage treten lassen , liegt da der Gedanke nicht nahe, dass ein diesbezügliches Loch in unserem Wissen sich befinde ?
Ausser diesem ganz unrichtigen Schlusse in Betreff der Aufhebung der Naturgesetze, sind es die Conse.
quenzen , die Wundt perhorrescirt. Denn dass es dann Gespenster – wie er sich ganz richtig ausdrückt – sein müssten, und zufolge der sichtbar werdenden Organe abge storbene Menschen , das ist ihm einleuchtend. Wenn das aber der Fall wäre, so sähe er sich zu folgenden Schlüssen genöthigt:
,,Physisch geraden die Seelen unserer Verstorbenen in die
Sclaverei
Medien .
gewiss
lebender
Menschen ,
der
sogenannten
Diese Medien sind , gegenwärtig wenigstens , nicht
sehr verbreitet und scheinen fast ausschliesslich der amerikani
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen .
110
schen Nationalität anzugehören. Auf Befehl derselben führen die Seelen mechanische Leistungen aus , welche durchgängig den Charakter der Zwecklosigkeit an sich tragen : sie klopfen , heben Tische und Stühle, bewegen Betten, spielen Harmonika u. s. 7."
Ei, ei, Herr Professor !
Wenn Sie Ihre Freunde in
Leipzig und Umgebung , etwa auch mich aus Wien zu Tische laden würden, und einige eben in der Lage wären , dieser Einladung Folge zu leisten , wären diese dann in ihrer physischen Abhängigkeit ? Ich kann nicht jede Ein ladung annehmen , und ich will es auch nicht , es würde eines besonderen Motives bedürfen, um z. B. deshalb nach
Leipzig zu reisen. Glauben Sie , dass sich das bei jenen Wesen nicht auf analoge Weise verhalten werde ? Wenn ich einen Ihrer Wünsche erfülle , so habe ich noch nicht
Ihren Befehlen gehorcht ; wenn ich Ihre Wünsche nicht erfülle, so beweist dies wieder nicht gegen meine Existenz. Wundt fährt fort :
„ 2. Intellectuell verfallen die Seelen in einen Zustand, der, soweit ihre durch Schieferschriften niedergelegten Leistungen auf ihn schliessen lassen, nur als ein beklagenswerther bezeichnet werden kann . Diese Schieferschriften gehören durchgängig dem Gebiete
des höheren oder niederen Blödsinns an , namentlich
aber des niederen, d. h. sie sind völlig inhaltsleer.“
Glauben Sie denn, Herr Professor, wenn Sie und ein Neger aus dem Innern Afrika's an einem Tage sterben, dass Sie beide auf der gleichen Stufe der Intelligenz stehen könnten ? Glauben Sie, dass irgend ein Wesen, welcher Art immer, mehr wissen kann, als es irgend wann und irgend wo gelernt? Diese Wesen, wenn sie wirklich Abgestorbene sind - was wir noch nicht wissen, und auf was wir später
kommen werden – haben jene Intelligenz, die sie sich erworben oder erwerben , und mich würde das Gegentheil Wunder nehmen. Dass es aber auch - allerdings in sehr geringen Procenten - Antworten gibt , die Sie nicht zu
Stande brächten , mögen Sie mir vorläufig glauben. Und
Die behauptete Existenz anderer Wesensreiben.
111
doch hat der Planet Menschen Ihrer Intelligenz kaum einige Tausende , während die Blödsinnigen , wie Sie sie nennen, nach hunderten von Millionen zählen. Besteht eine Identität
dieser Wesensreihe mit uns, so kann die Proportion drüben doch keine andere sein als hüben. Sie haben , Herr Pro fessor, in diesen Dingen noch zu wenig Erfahrung, um ein Urtheil abgeben zu können. Der moralische Zustand scheint Ihnen ein besserer zu
sein. Da haben Sie Recht, denn man hat dort nicht für die
Ernährung der Zellen und Erhaltung des Organismus in unserem Sinne zu sorgen, die Motivation ist richtiger, die etwaige polizeiliche Aufsicht wegen grösserer Durchsichtigkeit wahrscheinlich leichter , um in Ihrer Sprache zu reden.
Denn wie man in den Wald hineinruft, so hallt es zurück ! Der Vorwurf, den Sie dem Professor Ulrici machen ,
ein Zerrbild einer Weltordnung durch sein spiritistisches System vertrete , „indem es Menschen von mindestens höchst gewöhnlicher geistiger und sittlicher Be gabung zu Trägern übernatürlicher Kräfte und damit zu
dass
er
auserlesenen Werkzeugen der Vorsehung stempelt – “ dieser
Vorwurf ist nicht gerecht ; ich habe wenigstens das aus der Brochure nicht herauslesen können.
Doch das ist Neben
sache. Diese aussergewöhnlichen Naturen können allerdings manchmal auserlesene Träger “ sein , wie es vielleicht Christus war , aber sie können auch ganz gewöhnliche, kranke, auch böse und dumme Menschen sein. Wenn Sie
in diesen Dingen mehr eigene Erfahrung hätten, oder fremde benützten, so würden Sie wissen , dass man in Indien das Geheimniss besitzt, fast jeden Organismus, der die Procedur aushält , um den Preis der Gesundheit in einen solchen Zustand zu versetzen , dass er die nothwendige organische Substanz abzugeben vermag , die zu diesen Dingen noth wendig ist. Auch auf diesen Punkt werden wir noch kommen.
112
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
Der Blinde ist nicht dafür verantwortlich , dass er nicht sieht; doch gibt es Menschen, die Augen haben, aber nicht sehen wollen, wie auch der Strauss den Kopf unter den Flügel stecken soll. Ich begreife, wenn Jemand sagt, ich babe keine Zeit oder kein Verständniss für Untersuchung
dieser Dinge ; ich entschuldige, wenn Jemand aus Besorgniss für die Erhaltung seiner Familie sich scheut , dem herr
schenden Vorurtheile entgegenzutreten ; der moralische Muth ist eine schöne, aber seltene Eigenschaft; die angegebenen Motive Wundt's sind aber unrichtige Schlüsse, die man
von einem Professor der Philosophie nicht erwarten sollte. Wenn ich einen Sessel aufhebe, und dadurch der Anziehungs kraft der Erde entgegentrete, so ist das gewiss keine Auf hebung der Naturgesetze und Causalität, selbst dann nicht, wenn ich es mit einem für Wundt unsichtbaren Faden
oder es aus einem für ihn unsichtbaren Orte thue. Das Wunderbare läge nur darin , dass Wundt von mir nichts weiss und sieht.
Sollen
aber die Causalität
von
dem
Fassungs-, und die Naturgesetze von dem Erkenntnissver mögen Wundt's abhängen ? Nicht übel ! Was die Competenzfrage, die Wundt anregt, anbelangt, so würde ich in physiologischen Fragen gewiss mich an Wundt und nicht an Zöllner wenden, für diese That
sachen aber gibt es gar kein competenteres Forum , als Weber und Zöllner, die aus gegebenen Daten sehr richtige Consequenzen zu ziehen vermögen, was zwar die Sache eines Philosophie -Professors sein sollte, aber nicht immer ist.
Der offene Brief Wundt's beweist, wie tief die Vor urtheile des wissenschaftlichen Prestige noch sitzen.
Wer
scheinen will , muss sehr oft das Sein opfern, und umge kehrt.
Die Herren Professoren wollen ihren wissenschaft
lichen Nimbus nicht verlieren , und ziehen es vor, stille
Beobachter “ zu bleiben, die Anderen mögen die Kastanien aus dem Feuer holen .
Das werden sie auch , und zwar
Die behauptete Existenz anderer Wesensreihen.
113
mit dem Bewusstsein, dass die Bekämpfer der Vorurtheile nie auf Rosen gebettet waren !
Ulrici hat Recht, aut - aut! Entweder man erkennt die Thatsachen an oder nicht. Im ersten Falle muss man
die von Anderen gezogenen Consequenzen entweder auch anerkennen, oder sie durch bessere ersetzen , mit dem vor nehmen Ignoriren ist es aus ; der Spiritismus ist ein Range geworden, den man zwar in die Erziehung schicken muss,
weil er sich noch in den Tölpeljahren befindet, aber nicht umbringen kann ; er ist lebendig und im steten Wachtsthume
begriffen. Entweder sind wir, die wir für die Thatsächlich keit einstehen , Betrüger oder Betrogene; im letzteren Falle muss man nachweisen, warum und wie ; das hat aber noch Niemand unternommen ; die Gegner wissen nichts vor
zubringen, als den Vorwurf des Schwindels. Das kann den Spiritisten Musik in den Ohren sein , denn Gemeinplätze pflegen am meisten dort aufzutreten , wo es an Argu menten fehlt.
Hellenbach , Vorurtheile. II.
8
V. Capitel. Die vierte Raumdimension .
Deren Erschliessung im Wege der Speculation, der Analogie und der Thatsachen.
-
Werth der Hypothese.
Einwürfe.
Versinke denn ! Ich könnte auch sagen , steige ! 's ist einerlei . Goethe.
Der gemeine Verstand wird immer die Ansicht ver treten ( unbegreiflicherweise auch ein Dühring !), dass Alles, was existirt, innerhalb der drei Dimensionen des Rauines, die wir kennen , existiren müsse ; „ ausserhalb derselben könne es nichts geben.“
Der gemeine Verstand wird aber auch behaupten, und hat es seinerzeit behauptet, dass die Erde stehe, und nicht zugeben , dass sie in ungeheuerer Schnelligkeit sich fort bewege, dazu noch um ihre Axe drehe, und dass wir inner halb 24 Stunden einmal mit dem Kopfe und einmal mit den Füssen gegen die Sonne stehen. Und dennoch hat der gemeine Verstand Unrecht, eine Reihe von Schlüssen über zeugt ihn nach und nach davon, und ebenso führt uns das Nachdenken zur vierten Raumdimension.
Es ist ein Vorurtheil, den dreidimensionalen Raum für etwas Andereres zu halten, als eine unserer Organisation anklebende Anschauungsform , was übrigens schon Kant erkannte , und es kann darum sehr gut noch ganz andere
115
Die vierte Raumdimension.
Raumdimensionen geben, welcher Gedanke nach den neuesten noch nicht veröffentlichten Forschungen Zöllner's sogar
vor Kant klar ausgesprochen wurde. Schon der heilige Augustin hatte die wenn auch ganz rohe Vorstellung einer sichtbaren und unsichtbaren Welt, welche letztere nur bei besonderen Mischungsver hältnissen und
Temperaturzuständen
wirksam
werde. Nach Kant war es Gauss , und in neuerer Zeit Lange , der sich diesen Speculationen ebenfalls hingab. Ausser seiner bereits angeführten Aeusserung über die Möglichkeit von Wesen mit höheren Raumanschauungen sagt er (S. 439, Ges. d. Mat.): „Denken wir uns ein Wesen, welches sich den Raum nur in zwei Dimensionen vorstellen
kann. ... Würde nicht für dieses Wesen ein mathematischer Zusammenhang der Erscheinungen gegeben sein, obwohl es niemals den Gedanken unserer Stereometrie fassen könnte ?
Der relativ wirkliche Raum, d. b. unser Raum mit seinen
drei Dimensionen kann seinery Escheinungswelt gegenüber als Ding an sich gedacht werden. Dann ist der mathe matische Zusammenhang zwischen der veranlassenden Welt und der Erscheinungswelt dieses Wesens ganz ungestört,
und doch kann aus der Flächenprojection im Bewusstsein des Letzteren kein Schluss auf die Natur der veranlassenden Dinge gezogen werden. “ Genau so verhält es sich bei uns gegenüber einer vier
dimensionalen Welt, was uns später deutlicher werden wird. Nach Lange waren es Riemann und Helmholtz, die sich damit auch beschäftigten.
Von Letzterem führt
Lange die treffende Anschauung an , die auch herein gehört, dass die Sinne uns nur Wirkungen der Dinge, nicht diese selbst oder deren getreue Bilder geben. Wir müssen also den Bestand einer transscendenten Weltordnung aner kennen , möge diese nun auf „ Dingen an sich selbst“, oder möge sie auf lauter Relationen beruhen, die in verschiedenen 8*
Die vierte Raumdimension.
116
Geistern sich als verschiedene Arten und Stufen des Sinn
lichen darstellen, ohne dass eine adäquate Erscheinung des Absoluten in einem erkennenden Geiste überhaupt denkbar wäre. Als diese transcendente Weltordnung wird sich für uns der vierdimensionale Raum ergeben , oder richtiger gefasst
ein allgemeiner Raum von n Dimensionen , der
unseren dreidimensionalen oder euklidischen Raum in sich
fasst.
Lange nennt ihn einen Specialfall des Ersteren .
Den wenigsten meiner Leser wird das verständlich sein ; ich habe es nur angeführt, um ihnen die Beruhigung
zu geben, dass die vierte Dimension keine Spielerei, sondern eine von ernsten und gelehrten Männern durchdachte Specu lation sei ; auch Hartmann und Andere haben ihrer Er wähnung gethan .
Ich werde mich nunmehr bemühen , auf die möglichst populäre Weise die Sache klarzustellen , und zu diesem Zwecke mir einbilden , eine intelligente und hübsche Frau als Leserin zu haben , was auf jeden Fall ein viel interes santeres Bild ist, als der Kopf irgend eines Professors. Wenn ich eine empfindende und denkende gerade Linie wäre, so würde für mich kein Rechts und kein Links,
kein Oben und kein Unten existiren ; diese Richtungen wären mir fremd, mit einem Worte ich hätte ein ein dimensionales
Erkenntnissvermögen, und die Richtungen der zweiten und dritten Dimension würden für mich nicht existiren.
Angenommen nun ich würde an der Seite gekratzt, so wäre mir das unverständlich.
Würde ich aber mein Er
kenntnissvermögen nicht für die Grenze alles Seienden halten , wie es so manche denkfaule oder denkunfähige Naturforscher thun , so könnte ich leicht zu dem Schlusse kommen , dass es noch Richtungen im Raume oder Raum dimensionen geben könne, die nur für mich nicht existiren.
Nunmehr vermehrt sich mein Erkenntnissvermögen
Die vierte Raumdimension.
117
um eine Raumdimension , ich werde zur Ebene ; ich habe nicht nur ein Vorn und Hinten , sondern auch ein Rechts und Links. Jetzt wird es mir klar, dass man mich an der
Seite kratzen konnte, und ich werde mich mit Befriedigung an den richtigen Schluss erinnern , den ich als ein dimen sionales Wesen gemacht, dass zufolge der gemachten Er fahrung es eine zweite Raumdimension geben müsse , die für mich als ein dimensionales Wesen nicht existirte.
Nunmehr werde ich aber auf einmal von oben oder
unten gekratzt ; das wäre mir abermals unverständlich, und es bliebe mir nichts übrig , als weiter zu schliessen , dass es noch eine dritte Raumdimension giebt , welcher mein Erkenntnissvermögen abermals nicht gewachsen ist. Endlich erwerbe ich mir auch diese dritte Raum
dimension , d. h. ich erweitere mein Erkenntnissvermögen so weit , dass es auch diese Raumdimension erkennt , oder
mit andern Worten , ich gelange in den Besitz jener An schauungsformen , wie sie der Mensch wirklich hat ; das
Kind muss sie erst erwerben . Jetzt erst begreife ich wieder, wie ich früher als zwei dimensionales Wesen von oben und
unten gekratzt werden konnte. Ich habe nicht ohne Grund dieses Beispiel zuerst gewählt , weil eine Thatsache , die sich im Jahre 1875 zutrug , also fast drei Jahre vor den Zöllner'schen Experi
menten , das gewählte Beispiel auf eigenthümliche Weise illustrirt. Sie befindet sich auf Seite 158 meiner „ Philosophie des ges. Menschenverst.“ , wo die Experimente, die ich mit Miss Lotty Fowler erlebte, zusammengestellt sind. Besagte Miss wurde an Händen, Füssen und am Leibe
an einen Sessel geschnallt und gebunden , derart, dass sie sich nicht rühren konnte , doch das ist Nebensache. Ich sass zu ihren Füssen auf dem Boden, mein Ohr lehnte fest
an ihrem Knie, um sie und jede Bewegung zu beobachten, überdiess controlirten meine Hände unmittelbar bei jedem
118
Die vierte Raum dimension.
Ereignisse ihre auf dem Rücken zusammengebundenen Hände. Die erste Empfindung, die ich an mir selbst hatte , war ein Krabbeln zwischen ihrem Knie und meinem Ohre, oder vielmehr zwischen ihrem Oberkleide und dem Knie,
genau so , als ob ich ein Sacktuch über das Ohr spannen und dann mit den Fingern darüber krabbeln würde. Da es nun unmöglich ist , dass eine Hand zwischen mein Ohr und ihr Knie sich hätte schieben können , überdiess auch
nicht vorhanden war, so ergeben sich , falls es nicht eine reine Hallucination war , nur drei Möglichkeiten : 1. die fremden Finger konnten durch ihr Knie durch über mein Ohr hinlaufen , oder 2. diese Finger sind nur potentiell vorhanden und erzeugen dynamisch in mir die Empfindung einer Realität , die sie nicht haben, oder 3. es geht mir So, wie es dem ein dimensionalen, dann zweidimensionalen,
endlich dreidimensionalen Wesen ergangen ist : es giebt nicht nur ein Vorne und Hinten, ein Rechts und Links, ein Oben und Unten, sondern es giebt noch eine Richtung, noch eine Raumdimension, von der ich eben keine Kenntniss habe. Was nun den ersten Punkt anbelangt, so ist es schwer
anzunehmen , dass Finger , die dicht genug sind , um ein kräftiges Krabbeln auf der Oberfläche meines Körpers her. vorzurufen , nicht eine Revolution oder doch Empfindung
innerhalb eines mit Empfindung begabten, hoch organisirten Körpers hervorbringen sollten ; und dass die Miss das gewiss signalisirt hätte, ist nicht zu bezweifeln , denn sie bauschte Alles auf, was sie konnte, übertrieb ohnehin Alles, was sie hörte , sah und empfand . Die zweite Erklärung kann nun allerdings nicht als undenkbar ausgeschlossen werden, aber hat gewiss keinen grösseren Anspruch auf Annahme , als die dritte. Wir werden später den Ideengang Zöllner's diessbezüglieh verfolgen ; ich will dem Leser nur einen handgreiflichen Begriff dessen beibringen, was man eigentlich unter der vierten Raumdimension meint, nämlich eine Rich
Die vierte Raumdimension .
119
tung im Raume, die weder vorn noch hinten, weder rechts
noch links , weder oben noch unten , also etwas ganz Un vorstellbares ist , nichtsdestoweniger aber darum doch existiren und aus Thatsachen erschlossen werden kann . Der menschliche Verstand kann sich dem Verständ
nisse der vierten Raumdimension nur im Wege der Analogie nähern , indem er sich einprägt, dass die zweite Dimension sich zur dritten , wie die dritte zur vierten verhalte und umgekehrt, wie wir aus der Argumentation Lange's schon entnehmen konnten. Der Unterschied , der zwischen einem
zweidimensionalen und dreidimensionalen Wesen besteht, entspricht ungefähr dem Verhältnisse einer Raupe zu einem Vogel , oder einer Lokomotive zu einem Luftballon , aus welchem man die Ebene , d. i. die zweite Dimension , über sieht, und vieles wahrnimmt, selbst vorhersagen kann, was den auf der Ebene Befindlichen unwahrnehmbar ist. Wenn ich einen Raum mit einer Mauer umgebe , so ist er für
zweidimensionale Wesen abgeschlossen , für einen Vogel aber offen , und will ich ihn gegen diesen schliessen , so muss ich auf die Mauer ein Dach setzen. Für ein vier dimensionales Wesen aber bliebe der für drei Dimensionen
abgeschlossene Raum ebenso offen , wie eine eingezäunte
Ebene nur für ein Pferd verschlossen , aber für den Vogel offen ist.
Wenn ich eine Linie durchschneide, so ist der Durch
schnitt ein Punkt, aus welchem sich die gerade Linie eben
zusammensetzt. Wenn ich eine Ebene durchschneide, so ist der Durchschnitt die gerade Linie , die Durchschnittslinie, und Wesen , deren Vorstellung über diese gerade Linie nicht hinausgeht , wüssten nichts von der Ebene , d. i. der zweiten Dimension. Wenn ich einen dreidimensionalen Körper, sei es nun eine Kugel oder ein Würfel, durchschneide, so
ist der Durchschnitt eine Ebene , die Durchschnittsfläche also die zweite Dimension , und Alle, die auf dieser Ebeno
120
Die vierte Raumdimension.
lebten, und nur von ihr wüssten, hätten keine Ahnungen vom dreidimensionalen Körper , der zahllose solche Ebenen in sich schliesst.
Ganz analog können wir schliessen , dass
wir, die dreidimensionalen Körper, und die dreidimensionale Welt der Durchschnitt einer vierdimensionalen sind, von welcher wir in unserer Beschränktheit keinen Begriff haben.
Der weise Kant sagt: „Es ist im metaphysischen Verstande wahr, dass mehr als eine Welt existiren könne . “ Und nach
dem er über den dreidimensionalen Raum gesprochen , fügt er hinzu, dass die Existenz mehrerer Welten nur unter der
Voraussetzung noch anderer Raumdimensionen wahrschein lich sei. (Siehe Kant's Gedanken von der wahren Schätzung
der lebendigen Kräfte.) Doch ich vergesse , dass ich zu einer schönen Dame spreche.
Wenn ich mir die zweite Dimension als Tischplatte vorstelle, auf welcher sich zweidimensionale Wesen bewegen, und in einen Cylinder , sagen wir einen nicht zugespitzten Bleistift senkrecht auf die Tischplatte drücken würde , so
wäre dieses plötzliche Hinderniss für die zweidimensionalen Wesen kein runder Cylinder, kein Bleistift, sondern ein Kreis, falls der Bleistift rund und nicht eckig ist ; wäre er das, so würden die zweidimensionalen Wesen ein Vier- oder Sechseck in ihm erblicken, weil sie den in die dritte Dimen.
sion ragenden Theil des Stiftes nicht wahrnehmen. Wenn wir nun annehmen , dass ein zweidimensionales Wesen die
Kraft hätte, eine Scheibe oder ein Viereck dieser Grösse vor
sich herzuschieben , und es auf einen für es unsichtbaren Cylinder stossen würde , der zufolge seines Gewichtes sich
nicht schieben lässt, so wäre das Wunder fertig für den ge wöhnlichen zweidimensionalen Verstand ; für einen zweidimen sionalen Wundt wäre das ein Loch in der Causalität, für einen zweidimensionalen Kant und Zöllner ein Anhalts
punkt zur Speculation über den dreidimensionalen Raum .
121
Die vierte Raumdimension.
Wenn mich jemand berührt, so suche ich die Ursache dort, wo ich berührt worden bin . Wenn jemand eine hef tige Bewegung mit der Hand oder etwas Glänzendem macht, so berühren die Schwingungen meine Augen ; doch suche ich
die
Ursache
nicht
bei meinen Augen ,
sondern
in der Entfernung, etwa in der dritten Raumdimension, während eine Corallenzelle sie dort nicht suchen könnte, sie hat wahrscheinlich keine Vorstellung für die Entfernung. Wenn man einem Blindgeborenen den Staar sticht, und ihm
einen Kupferstich zeigt, so kann er nichts wahrnehmen, er muss erst lernen , die perspectivischen Wirkungen zu unter scheiden. Man sieht aus allem diesem, dass die Welt so ist, wie wir die Fähigkeit haben , sie wahrzunehmen , und durchaus nicht so sein muss, wie sie uns scheint. Einen vierdimensionalen Raum oder eine vierdimensionale Welt läugnen, ist gerade so, als wenn der Fisch die Existenz des
Vogels läugnen wollte . Einzelne Fische haben allerdings die vielleicht Gelegenheit, einzelne Menschen wahrzunehmen wie einzelne drei- und vierdimensionale Wesen die
Massen
beider Wesensarten
sind sich durch
aber
ver
änderte physikalische Verhältnisse fremd. Der Leser, oder vielmehr meine schöne Leserin , mag alles bisher Gesagte
nur als eine kleine Lockerung des Erdbodens betrachten , in welchen die Saat erst gestreut werden muss. Wenden wir uns nunmehr zu Zöllner. Ich werde mich bemühen,
seinen Gedankengang so kurz und gemeinfasslich als möglich wiederzugeben .
Wenn ich einen geraden Faden habe , so kann ich eine Schlinge nicht machen , wenn ich die zweite Raum
dimension nicht zur Verfügung habe ; denn ich kann ihn nicht drehen, der Faden bleibt gerade. Habe ich die zweite
Raumdimension zur Verfügung, sagen wir eine Tischfläche, so kann ich den Faden so drehen (um 360 Grade) , dass
eine Schlinge gebildet wird. Will ich den Faden wieder
122
Die vierte Raumdimension .
gerade machen , so muss ich ihn wieder zurückdrehen.
Hätte ich hingegen die dritte Raumdimension zur Verfügung, d. h. kann ich den Faden von der Tischfläche aufheben, so
brauche ich nicht erst ganz herumzufahren, ich kippe ihn Nun meint Zöllner weiter, wenn ein Faden endlos ist, also z. B. ein Ring wäre , so kann ich keinen Knopf
um .
oder Knoten hineinmachen, ohne ihn aufzuschneiden. Würde das wirklich vorkommen, so könnte es nur im Wege einer uns unbekannten Biegung, einer uns unbekannten Raum dimension geschehen . Das war die Veranlassung, warum Zöllner bei Anwesenheit Slade's in Leipzig diesem sein
Verlangen aussprach , einen Knoten in einem an beiden Enden an ein Brett gesiegelten Faden zu knüpfen oder vielmehr knüpfen zu lassen , denn Slade's Hände lagen auf dem Tische, und wusste Slade vom vierdimensionalen Raum und den diesbezüglichen Ansichten eines Kant , Gauss u. s. w. nicht mehr als ein Zulu -Kaffer.
Man glaube aber ja nicht, dass dieses Knotenschürzen
etwas Neues sei. Schindler , der die Hexenprocesse und Geschichte der Besessenen fleissig durchgestöbert, berichtet von letzteren, „eine fremde Macht trieb in ihnen scheinbar ihr Wesen ; sie wurden durch die fürchterlichsten Krämpfe gepeinigt, hoch in die Luft erhoben, in das Wasser und ins Feuer geworfen, in ihrer Nähe wurden Knoten ge schürzt und Bande gelöst von unsichtbarer Hand , und
allerhand Erscheinungen magischen Fernwirkens lieferten den unsicheren Beweis geisterartigen Mitwirkens; Spuren
erlittener Gewaltthätigkeiten zeigten sich an ihnen , und nach ihrer Genesung setzten sie sich hin und schrieben lange Berichte , ohne sich zu bedenken , ohne zu wissen, was sie schreiben würden , da, wie sie sagten , die Feder
unwillkürlich über das Papier glitt und in ausgewählter Sprache und Schreibart das zu Papier brachte , was aus unbekannter Quelle ihnen zuströmte.“ Das Flechten und
Die vierte Raumdimension.
123
Binden an Pferdemähnen , Kühschweifen und Menschen haaren, zieht sich wie ein rother Faden durch das ganze
Mittelalter ; selbst die deutsche Sprache verdankt diesen
Erscheinungen das Wort: „ Truten - Zopf“, für ein wirres,, schwer lösbares Gebinde.
Nur der kann die volle Identität
aller Erscheinungen des Mysticismus der alten, und des Spiritismus der neuen Zeit läugnen, der sie beide nicht kennt. Die Knoten wurden bei Zöllner geschlungen, ohne
dass eine Trennung des Fadens an irgend einer Stelle wahrzunehmen gewesen wäre. Zöllner , die Kraft der Vorurtheile in den wissenschaftlichen Kreisen wohl kennend, beschränkte sich nicht darauf, und es wurden solche Knoten durch Lederschnüre und Darmausschnitte dargestellt , wo
eine Durchdringung der Materie leichter bemerkbar ist. Diese Möglichkeit der Durchdringung der Materie ohne Störung des Gewebes, obschon selbst diese auf eine vierte
Raumdimension hinweist, veranlasste mich, an Zöllner zu schreiben , und ihm das Verschwinden der Gegenstände als ein noch viel sprechenderes Zeugniss für die vierte Raum dimension an das Herz zu legen.
Mein Brief lautet folgendermassen (den Inhalt meines Briefes hat Zöllner in seinen wissenschaftlichen Abhand
lungen abgedruckt, daher ich den Inhalt wiederzugeben im Stande bin ):
„ Das Verschwinden des Buches wurde in meiner Flug schrift nur oberflächlich behandelt, weil ich mich darin nur
mit jenen Thatsachen beschäftigte , welche ausserhalb der Peripherie lagen, die Slade's Gliedmassen erreichen konnten, und ich that dies , um dem gedankenlosen Einwurfe ,,er werde es irgendwie gemacht haben“ zu begegnen. Die Sache verhielt sich folgendermassen. Slade legte ein Buch und (an eine genau bezeichnete Stelle) ein Stück Stift auf die Schiefertafel, die er dann unter die Tischplatte brachte. Das Buch verschwand , musste oft an den ver
Die vierte Raumdimension.
124
schiedensten Orten gesucht werden , und fiel einige Male von der Zimmerdecke durch die Glocken des dreiarmigen Kronleuchters auf den Tisch . Einmal schlug es hierbei die Kette aus der Rolle, durch welche der Aufzug bewerk
stelligt wird. Ein Schleudern unter der Tischplatte durch das Handgelenk ist überhaupt unmöglich, weil ein geschleu dertes Buch diese Curve nicht beschreiben kann .
Slade's
Ober- und Unterarm waren sichtbar und ruhig , und ein Schleudern durch das Fussgelenk wäre ebenso wie das Auf steigen des Buches zuverlässig bemerkt worden. Das
Experiment wiederholte sich zu oft und unsere Aufmerksam keit war zu gross.
Ich halte eine Constatirung eines derartigen Ver schwindens Ihrerseits für sehr wichtig; denn wenn das sichtbare und fühlbare Hinaufsteigen der Schiefertafel an meinem Fusse eine unwahrnehmbare mechanische Thätigkeit, das Knüpfen der Knoten im endlosen Faden eine vierdimen sionale Thätigkeit beweist, so würde das Ein- und Austreten eines Gegenstandes eine andere Raumdimension gleichsam in
unserer unmittelbaren Nähe auf eine so stupende
Weise darlegen , dass keinen Augenblick an meiner Auf
fassung gezweifelt werden könnte, die dahin geht, dass unsere Bewusstseins- Illusion nichts sei als die durch einen wunder
baren Organismus zu Stande gebrachte dreidimensionale Anschauung einer mehrdimensionalen Welt. Sollten Ihre Bemühungen mit einem derartigen Erfolge gekrönt werden, so bitte ich , mir davon freundschaftliche Mittheilung zu machen . “
Nunmehr schreibt Zöllner (Wiss. Abh . 2) : „ Den vorstehenden Brief hatte ich am 5. Mai Morgens
8 Uhr empfangen. Ohne desselben gegen Slade oder Herrn O. von Hoffmann Erwähnung gethan zu haben , sprach ich in der um
11 Uhr stattfindenden Sitzung Herrn Slade den Wunsch aus, noch einmal, wie im December vorigen Jahres, in recht eclatanter
Die vierte Raumdimensiun.
125
Weise das Verschwinden und Wiedererscheinen eines materiellen
Körpers beobachten zu können. Sofort zu einem Versuche bereit, ersuchte Slade Herrn von Hoffmann , ihm irgend ein Buch zu geben ; Letzterer nahm hierauf ein solches in Octav gedrucktes und gebundenes Buch von dem an der Wand befindlichen kleinen Bücherrepositorium . Slade legte dasselbe auf eine Schiefertafel, hielt dieselbe zum Theil unter den Rand der Tischplatte und zog sofort die Tafel ohne Buch wieder hervor. Wir untersuchten sorgfältig den Spieltisch an allen Seiten , sowohl von Aussen als von Innen . Ebenso wurde das kleine Zimmer untersucht, aber alles war vergeblich , das Buch war verschwunden. Nach ungefähr fünf Minuten nahmen wir wieder behufs weiterer Beob achtungen am Tische Platz, Slade mir gegenüber, von Hoffmann zwischen uns zu meiner Linken .
Kaum hatten wir uns nieder
gesetzt, so fiel das Buch von der Decke des Zimmers herab auf den Tisch, indem es auf seinem Wege zuerst ziemlich kräftig mein rechtes Ohr gestreift hatte. Die Richtung , aus welcher es von oben herabkam , schien demgemäss eine schräge , eine von einem oben
und hinter
meinem
Rücken
befindlichen Punkte
ausgehende gewesen zu sein .
Slade hatte während dieses Ereig nisses vor mir gesessen und seine beiden Hände ruhig auf der
Tischplatte gehalten. Er behauptete kurz vorber, wie gewöhnlich bei solchen physikalischen Phänomenen , Lichter zu sehen , sei
es in der Luft schwebende oder an Körpern haftende,
wovon
jedoch weder mein Freund noch ich jemals etwas wahrzunehmen vermochte.
In der Sitzung am folgenden Tage den 6. Mai
Vormittags 11 % Uhr bei hellem Sonnenscheine , sollte ich indessen , ganz unerwartet und unvorbereitet , Zeuge einer noch viel grossartigeren Erscheinung dieser Gattung sein ,
wie gewöhnlich mit Slade an dem Spieltisch Platz genommen. Mir gegenüber stand , wie dies öfter bei andern Versuchen der
Fall war, ein kleiner runder Tisch in der Nähe des Spieltisches, ganz in der Stellung , wie dieselbe auf Taf. XII oder XIII bei
den weiter unten zu beschreibenden Versuchen photographisch nach der Natur reproducirt ist. Die Höhe des runden Tisches beträgt 77 Centimeter, der Durchmesser der Tischplatte 46 Centimeter , das Material ist Birkenholz und das Gewicht des ganzen Tisches beträgt 45 Kilogramm .
Es mochte etwa eine
Minute verstrichen sein, nachdem Slade und ich uns niedergesetzt und unsere Hände gemeinsam übereinander gelegt hatten , als
der runde Tisch langsame Schwankungen machte , was wir beide
126
Die vierte Raumdimension.
deutlich an der über der Platte des Spieltisches hervorragenden runden Tischplatte erkennen konnten , während der untere Theil des Tisches durch die Platte des Spieltisches meinen Blicken entzogen war. Die Bewegungen wurden sehr bald grösser, und indem sich der ganze Tisch dem Spieltisch näherte , legte er
sich , die drei Füsse mir zugekehrt, unter den Spieltisch. Ich und, wie es schien, auch Herr Slade wussten nicht, in welcher Weise sich die Erscheinungen weiter entwickeln würden , da sich
während des darauf verfliessenden Zeitraumes von einer Minute gar nichts ereignete. Slade war eben im Begriff, eine Tafel mit Schieferstift zu Hülfe zu nehmen , um seine „ Spirits “ zu fragen, ob wir noch etwas zu erwarten hätten , als ich die Lage des, wie ich vermuthete, unter dem Spieltisch liegenden runden Tisches näher in Augenschein nehmen wollte. Zu meiner und Slade's grösster Ueberraschung fanden wir jedoch den Raum unter dem Spieltische vollkommen leer, und auch im ganzen übrigen Zimmer vermochten wir den noch eine Minute zuvor für unsere Sinne vorhandenen Tisch nicht mehr aufzufinden . In der Erwartung
des Wiedererscheinens des Tisches setzten wir uns wieder an den Spieltisch, und zwar Slade dicht an meine Seite, an dieselbe Tischkante, welche derjenigen gegenüberlag, in deren Nähe vorher
der runde Tisch gestanden hatte. Wir mochten so etwa fünf bis sechs Minuten in gespannter Erwartung der vorkommenden Dinge
gesessen haben, als plötzlich Slade wieder Lichterscheinungen in der Luft wahrzunehmen behauptete. Obschon ich, wie gewöhnlich, nicht das geringste hiervon zu bemerken vermochte, folgte ich
doch unwillkürlich mit meinen Blicken den Richtungen , nach welchen Slade seinen Kopf wandte, während hierbei unsere Hände stets fest übereinanderliegend sich aụf dem Tische befanden ; unter dem Tische berührte mein linkes Bein fast stets in seiner
ganzen Ausdehnung das rechte Bein Slade's , was durch die Nähe unserer Plätze an derselben Tischkante ganz unwillkürlich
bedingt war. Immer ängstlicher und erstaunter nach verschie- . denen Richtungen in die Luft nach oben blickend , fragte mich
Slade , ob ich denn nicht die grossen Lichterscheinungen be merkte; indem ich diese Frage entschieden verneinte , meinen
Kopf aber , den Blicken Slade's stets folgend, nach der Decke des Zimmers hinter meinem Rücken emporwandte , bemerkte ich plötzlich in einer Höhe von etwa fünf Fuss den bisher verschwun
denen Tisch mit nach oben gerichteten Beinen in der Luft sehr schnell auf die Platte des Spieltisches herabschweben.
Die vierte Raumdimension.
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wir unwillkürlich , um von dem herabfallenden Tische nicht ver letzt zu werden , mit unseren Köpfen seitwärts auswichen , Slade zur Linken und ich zur Rechten , so wurden wir dennoch beide,
bevor der runde Tisch anf der Platte des Spieltisches sich
niedergelegt hatte , so heftig an die Seite des Kopfes gestossen, dass ich den Schmerz an meiner linken Kopfseite noch volle
vier Stunden nach diesem (ungefähr 11 Uhr 30 Minuten statt gefundenen) Ereigniss empfand. Die vorstehend beschriebenen Thatsachen
der Beobachtung
widerlegen
also
empirisch das
Dogma von der Unveränderlichkeit der Quantität der Materie in unserer dreidimensionalen Anschauungswelt . Da aber jenes Dogma von der Beharrlichkeit der Substanz seinen dogmatischen Charakter gar nicht aus der Erfahrung schöpfen kann , sondern
lediglich aus den Principien unserer Vernunft , die auserem Geiste ebenso wie das Causalgesetz a priori, d. h. vor aller Erfahrung inhärent sind , so tritt an unsere Vernunft die Aufgabe, unseren
Verstand von dem oben erwähnten Widerspruche zwischen den Thatsachen der Beobachtung und einem Principe unserer Ver Bereits im ersten Bande dieser Abhandlungen habe ich ausführlich dargelegt, wie diese Aufgabe durch die
nunft zu befreien . Annahme
einer vierten Dimension
gelöst werden kann.
des Raumes
sehr einfach
Der oben während einer Zeit von 6 Minuten
verschwunden gewesene Tisch muss doch irgendwo existirt haben, und die Quantität der ihn constituirenden Substanz muss , dem erwähnten Vernunftprincipe zufolge , absolut constant geblieben sein.
Wenn wir nun aber die Frage : „ Wo ?" nur durch Angabe
eines Ortes beantworten können , und empirisch bewiesen worden ist , dass dieser Ort in dem uns anschaulichen Raumgebiete von drei Dimensionen nicht liegen kann , so folgt hieraus mit Noth wendigkeit , dass die uns bisher geläufige Beantwortung der Frage wo ? eine vollständige , und daher erweiterungsbedürftige und erweiterungsfähige sein muss. Wie hierdurch zugleich auch der Begriff des Nebeneinander mit Hülfe der vierten Dimension des abslouten Raumes eine Erweiterung erfährt , habe ich oben (S. 348) in einer Anmerkung ausführlich auseinandergesetzt, und erlaube mir meine Leser auf jene Stelle zu verweisen . Ebenso habe ich bereits im ersten Bande meiner wissenschaftlichen Ab
handlungen (S. 269) in der Abhandlung über Wirkungen in die Ferne“ gezeigt, dass das so fruchtbare „ Axiom von der Erhaltung der Energie“ für den Raum von vier Dimensionen seine volle Gültigkeit behalte , indem ich a. a. 0. wörtlich be
Die vierte Raumdimension.
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merkte : Betrachtet man den Abstand zweier Atome und die
Intensität ihrer Wechselwirkung in unserem dreidimensionalen Raume als Projectionen von gleichartigen Grössen aus einem
Raume von vier Dimensionen , so können sich lediglich durch veränderte Lagenverhältnisse des vierdimensionalen Objectes Grösse und Gestalt und den Vorrath von potentieller und kine tischer Energie der dreidimensionalen Projection (des materiellen
Körpers ) ändern , ohne dass diese Eigenschaften an dem vier dimensionalen Objecte eine Aenderung erleiden. Das Axiom von der Erhaltung einer constanten Summe von Energie behielte also für den Raum von vier Dimensionen seine volle Gültigkeit,
ja es ist bei näherer Betrachtung sogar die Prämisse, auf welcher die Uebertragung der erweiterten Raumanschauung auf physische Vorgänge beruht.“
Ich vergesse schon wieder , dass ich zu einer Dame spreche !
Also, gemeinfasslich gesprochen ! Nachdem der Tisch
weder durchsichtig gemacht, noch in unsichtbaren Dampf verwandelt und wieder zusammengesetzt werden konnte , so muss er nothwendig wohin und aus dem Zimmer hinaus
gebracht worden sein , welches Zimmer aber verschlossen war. Verschlossen ?! Ja, für oder besser nach drei Dimen sionen allerdings, nicht aber für die vierte Dimension. Diese
und noch viele andere Thatsachen , die anzuführen zu viel Raum nehmen würden , lassen keinen Zweifel mehr übrig, dass Kant Recht hatte , dass unserer Raumvorstellungen idealer Natur und eine Folge unser Organisation seien, und dass ganz gut noch andere Raumdimensionen existiren können. Ob man nun sagt die vierte oder n -te, bleibt sich
gleich. Der Raum ist nur einer , aber das Vermögen sich seiner zu bedienen und die Form der Anschauung ist eine verschiedene.
Bei Beurtheilung der Experimente Zöllner's hat Ulrici bemerkt, dass es allerdings gerade „ denkbar " wäre, „ dass durch elektro-dynamische Kräfte ein Körper in seine Atome zerlegt und nach einiger Zeit durch Vereinigung
Die vierte Raumdimension .
129
derselben in der früheren Form wieder hergestellt werden könnte " - etwa wie Wasser durch Elektricität in Sauerstoff
und Wasserstoff aufgelöst wird
doch meint er , dass
die Zöllner'sche Auffassung annehmbarer sei.
Bei dem
Tische ist aber eine andere gar nicht zulässig , denn ein Tisch kann weder unbemerkt in seine Theile aufgelöst,
noch weniger wieder genau so hergestellt werden , zumal in zwei, drei Minuten und einem geschlossenen Raum. Schindler, der vom vierdimensionalen Raum nichts wusste – wenigstens als er sein „magisches Geisterleben “
schrieb – bespricht das „ Werfen “ von Gegenständen und bemerkt dabei, es habe das Eigenthümliche, „dass die Gegen stände, trotzdem sie aus grosser Entfernung herbeifliegen, doch am Körper machtlos herabfallen .“ Er bemerkt ferner, dass dieses Werfen mehr den Charakter der Anziehung und Abstossung gewinne alles das lässt auf eine andere Be wegung im Raume, oder die Idealität, oder vielmehr Rela
tivität unserer Raumvorstellungen schliessen , an welcher selbst die intelligenteren Materialisten nicht zweifeln. Lange
gesteht in seiner Geschichte des Materialismus (I, Seite 59) zu , dass wir leicht auf die Vermuthung geführt werden, ,dass unser Raum mit seinen drei Dimensionen , unsere Zeit mit ihrer gleichsam aus dem Nichts auftauchenden und in das Nichts verschwindenden Gegenwart nur mensch liche Formen der Auffassung eines unendlich inhaltreicheren Seins sind.“
Der Leser oder vielmehr die Leserin wird fragen, „ ja was kaufe ich mir für diese vierte Raumdimension ?
Das wird sich schon finden , wir werden sie später schon brauchen , vorläufig wissen wir wenigstens , um was es sich handelt, wenn wir von der vierten Raumdimension sprechen ; auch haben wir in Erfahrung gebracht, dass so Manches, was für einen zweidimensionalen Raum unmöglich Hellenbach , Vorurtheile. II.
9
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Die vierte Raumdimension .
wäre, für einen dreidimensionalen leicht möglich, demzufolge aber so Manches im dreidimensionalen Raum unmöglich ist, was durch einen vierdimensionalen möglich und natürlich wird . Dass es sehr Vieles gibt, was und unmöglich scheint,
ist constatirt ; dass es so Manches gibt, was nur durch einen vierdimensionalen Raum begreiflich wird, ist ebenfalls Thatsache; der vierdimensionale Raum existirt, und es exi stiren intelligente Wesen in ihm ; oder — anders gefasst es existiren intelligente Wesen, welche eine vierdimensionale Bewegung und Fähigkeiten haben , die für uns im drei
dimensionalen Raume unmöglich und unverständlich sind. Meine Leserin wird wieder fragen: „ Ja, das mag sehr interessant sein, dass es vierdimensionale intelligente Wesen gibt , aber was kaufe ich mir dafür ? Was habe ich als Mensch davon ?
Das ist nun allerdings richtig ; wenn unsere Kenntniss sich darauf beschränkte, so wäre das nur interessant, wenn auch sehr interessant ; aber wir werden uns auf diese Aus
beute nicht beschränken , wir werden noch ein anderes Resultat herausschliessen , das mehr als bloss interessant ist. Meine Leserinnen werden wohl wissen, dass eine Zange
auf hört eine Zange zu sein, wenn ich die eine Hälfe weg werfe, und dass ich dann nur ein Stück Eisen in der Hand habe. Nun denn, der vierdimensionale Raum, oder vielmehr dessen Theorie, ist eine solche halbe Zange , wir werden nunmehr das zweite Stück dazu suchen , und mit Hilfe Beider werden wir dann auch gründlich fassen können.
Nachdem wir nunmehr das schwerste Capitel hinter
uns baben, wo die Versuchung sehr nahe lag, nur für sehr wenige Leser verständlich zu schreiben , so kann ich die
Fesseln wieder wegwerfen, die das schöne Geschlecht uns aufzulegen gewohnt ist, und erlaube ich mir zuzufügen, dass die Theorie des vierdimensionalen Raumes auf allen Gebieten der Naturwissenschaft höchst verwerthbar ist und bereits
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Die vierte Raumdimension.
herumspuckt. Mach sagt in seiner „Geschichte und Wurzel
des Satzes von der Erhaltung der Arbeit“, dass man sich die Theorie der Elektricität nur darum picht erklären könne, weil man die Erscheinungen derselben durch Molekular
Vorgänge in einem Raume von drei Dimensionen erklären wolle ; ferner, dass man sich die chemischen Elemente auch nicht in einem dreidimensionalen Raume vorstellen müsse , wenn man die Spectra der
selben mechanisch erklären wolle. Für Dr. Wegener ist der vierdimensionale Raum wieder ein Postulat für das
Princip der Erhaltung der Kraft. (Sein und Denken, Leipzig 1879.) Es ist auch in die Augen springend, dass eigentlich Alles in unserer Welt vierdimensional ist , aber uns nur dreidimensional vorkommt, wie der stehende Bleistift oder Cylinder als Kreis für ein zweidimensionales Wesen. Die Naturwissenschaft wird sich bequemen müssen, ihrer
Betrachtung einen doppelten Standpunkt zu geben. Kant sagt, dass die dreifache Abmessung daher zu rühren scheine, weil die Substanzen in der existirenden Welt so ineinander
wirken , „ dass die Stärke der Wirkung sich wie das Quadrat der Weiten umgekehrt verhält. “ Wundt führt unsere Raum
Anschauungen auf die Bewegungsempfindungen zurück, und macht erstere dadurch von der Organisation abhängig. (Menschen- und Thierseele.) Mit dieser Abhängigkeit unserer dreidimensionalen Raumanschauung von unserer Organisation gehen die grossen Ziffern unserer Astronomie Hand in Hand, die vielleicht nur eine Frucht unserer Organisation, unseres Massstabes sind. Unseren Raumanschauungen liegt allerdings
ein Verhältniss der Dinge zu Grunde, unsere Organisation legt aber an dieses den Massstab unserer dreidimensionalen
Anschauungsform . Wie schwer sich der menschliche Verstand von der ge
wöhnlichen Anschauung emancipirt, beweist ein Aufsatz über die vierte Raumdimension in den philosophischen Monatsheften 9*
132
Die vierte Raumdimension .
von A. Spir , dessen Einwendungen wir des Näheren be sehen werden, da dies nur zur besseren Aufklärung meines Lesers über den hochwichtigen Gegenstand beitragen kann. Spir meint, es sei schlechterdings nicht denkbar, dass von einem Punkte aus eine Linie gezogen werden könnte, welche nicht durch unseren Raum hindurchginge.“ Er macht
dann selbst die Einwendung, dass dadurch die Unmöglich keit nicht bewiesen würde , weil ja ein zweidimensionales
Wesen auch glauben würde, dass alle möglichen Linien in der Ebene liegen ; und doch ist dies faktisch für uns dreidimensionale Wesen nicht der Fall. Diesem richtigen Einwurfe begegnet er auf folgende unglaubliche Weise : „Nun, hat man einen so weit fortgeschrittenen Standpunkt erreicht, dann bleibt nichts Anderes übrig , als auf das Denken ganz zu verzichten .
Denn wenn das Undenkbare selbst
denkbar sein soll , dann hat man keinen vernünftigen Grund mehr zu glauben , dass von Allem , was man für wahr hält, nicht auch das Gegentheil wahr sein , dass zweimal zwei fünf oder zehn , dass ein Dreieck nicht rund , und das Eisen nicht hölzern sein könnte.“
Ich will ganz bei Seite lassen , dass für mich etwas undenkbar sein könnte, was für einen Anderen ganz gut
denkbar sein mag ; Spir macht offenbar keinen Unterschied zwischen denkbar“ und „ vorstellbar“. Die Möglichkeit einer vierten Raumdimension ist denkbar, diese selbst aber nicht vorstellbar; Kant hat sie als denkbar gedacht - ohne auf das Denken darum zu verzichten. Auf gleiche Weise kann man sich die Existenz einer Gottheit und eines Atomes
denken , aber vorstellen kann man sich weder Gott noch
das Atom. Es ist ferner nicht richtig, dass die dritte und
vierte Dimension Gegensätze seien, die sich aufheben, wie Holz und Eisen, rund und eckig ; die dritte Dimension ist in der vierten enthalten , diese nur eine Art Erweiterung
der dritten. Wenn der Raum nach Spir's eigener Anschau ung nur eine apriorische Form unserer Anschauung ist, so
Die vierte Raumdimension.
133
ist es ganz gut denkbar, dass andere Wesen eine andere
apriorische Form der Anschauung haben ; eine Ansicht, die durch die obigen Sätze Kant's und Ausführungen Wund t's nur an Wahrscheinlichkeit gewinnen kann. Es tritt immer mehr heraus, dass die Schopenhauer sche und Hartmann'sche Philosophie , insoweit sie das Phänomenale unseres Bewusstseins klarlegte und als das
Secundäre anerkannte, eine grosse Wahrheit aussprach und vertheidigte. Es wird sich weiter herausstellen , dass es ein Vor
urtheil ist, uns zum Mittelpunkt der Welt zu machen, uns für das einzig Reelle zu halten , und alles Andere , was wir gerade nicht sehen können, in das Reich der Imagination zu verlegen ; umgekehrt , meine Herren ! Die Realität liegt ausserhalb unserer Vorstellungen , diese sind das Künstliche ! Natürlichem genügt das Weltall kaum : Was künstlich ist, verlangt geschlossnen Raum. Kann mein Leser diese Worte Goethe's so recht
durchdenken ? – Unser Bewusstsein, unsere Persönlichkeit ist das Künstliche, unser Vorstellungsvermögen der geschlossene Rau m !
Wenn es meinem Leser nicht klar sein sollte, was ich damit meine, so wird es ihm bald deutlicher werden . Nur
keine Furcht vor dem schwarzen und weissen Vorurtheilen, keine Furcht vor den priesterlichen und wissenschaftlichen Anathema, und wir werden die Brünnhild gewinnen ! Aber wir müssen frei sein, und uns nicht an Andere anlehnen,
die da auf der Kanzel oder dem Katheder stehen.
Am
allerwenigsten darf uns die öffentliche Meinung,
diese Dirne, imponiren ! Nur wer das Fürchten nie empfand, der ...
VI. Capitel. Die Identität der projicirenden Kräfte innerhalb und ausserhalb des Zellen -Organismus. Wir sind gewohnt, dass die Menschen verhöhnen, Was sie nicht verstehen !
Goethe.
1. Die Organprojection. Die Thatsachen der Organprojection ohne Zellen. Das Problem der Organprojection durch Zellen . Einwürfe. Die Seele Haeckel's und Jäger's.
Es hat der Zufall sehr oft Entdeckungen veranlasst,
welche einen gewaltigen Einfluss auf die Entwickelung der Menschheit ausgeübt. Diese Entdeckungen waren meistens technischer und chemischer Natur; wir verdanken der Buch druckerkunst, dem Fernrohre, dem Mikroskope, dem Dampfe
unseren Fortschritt; sie lieferten uns eine höhere Bildung, bessere Natur-Anschauung, Ueberwältigung und Benützung der Naturkräfte .
Den grössten Einfluss übte aber immer das Moral
princip , der Glaube, weil aller Fortschritt der Technik für ein wildes Volk unfruchtbar ist , wohingegen ein sitt liches Volk mit einem vernünftigen Glauben auch ohne
grosse technische Fortschritte ein heiteres, verhältnissmässig glückliches Dasein haben kann. Man muss von Blindheit geschlagen sein , wenn man den Zusammenhang unserer
Die Identität der projicirenden Kräfte.
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materialistischen und jeden Glaubens baren Zeit mit dem rücksichtslosen, nur durch die Gewalt der Gesetze und den Einfluss der bürgerlichen Ehre eingedämmten Egoismus leugnen wollte. Ein solches Ungeheuer, wie jener Amerikaner, der mittelst Sprengeschosse Hunderte von Menschenleben und Millionen an Werthen auf offenem Meere der Vernich tung preisgab, um ein arbeitsloses Leben führen zu können , kann nur das Product einer Epoche sein , die nichts kennt, als die materielle Existenz, und die im Kampfe ums Dasein
sich jedes Mittel bedient , wofern es materielle Vortheile gewährt, und Aussicht vorhanden ist , etwaigen drohenden gesetzlichen oder gesellschaftlichen Folgen entrinnen zu können.
Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, sind einige Erfahrungen der jüngsten Zeit geeignet, eine ungeheure Umwälzung hervorzurufen , weil der schon von Buddha ge träumte und von Christus geglaubte und gelehrte Zu sammenhang unserer irdischen Thaten und Erlebnisse mit
transcendenten Folgen von einem Glauben zu einer Gewiss heit erhoben werden kann ; allerdings nicht im Sinne von Belohnung und Strafe , wohl aber im Sinne einer noth
wendigen und vielleicht ewigen Entwickelung. Die blosse Gewissheit der Existenz einer anderen intel
ligenten Wesenreihe wäre nun allerdings noch nicht geeignet, ein solches Resultat herbeizuführen ; denn dass die Natur
nicht auf die Erlaubniss der Herren Vogt, Büchner , Haeckel und Anderer angewiesen ist , scheint selbstver ständlich ; die mehr dimensionale Natur , d. h . die von uns verschiedene Bewegung dieser Wesen im Raume, kann , so interessant dies auch ist , ebenfalls keinen besonderen Ein
fluss haben oder Rückschluss erlauben ; diese Experimente haben aber noch etwas Anderes zu Tage gefördert , was
eine grosse Tragweite besitzt. Bei dem Umstande, dass der Leser zwar dem Eindrucke unterliegen könnte , dass
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Die Identität der projicirenden Kräfte,
weder Zöllner noch ich und Andere ihn irreführen, was den Thatbestand anbelangt, durch die alte Gewohnheit und den Consensus gentium aber sehr leicht wieder in Zweifel ge rathen könnte , so mag der Leser die Existenz dieser
Wesensreihe immerhin nur als eine Hypothese annehmen ,
deren Wahrheit durch die Anwendung geprüft werden soll, wir werden ja sehen , was dabei herauskommt; zu ihrer Verwerfung haben wir ja noch immer Zeit. Zöllner fiel in vielen Berichten über derlei ausser
gewöhnliche Vorfälle auf, dass einige derselben mit seiner
Raumtheorie in Einklang stehen, und als sich die Gelegen heit bot, benützte er sie, um persönlich Experimente zu machen. Er liess sich keine Kunststücke von Slade vor
machen, sondern umgekehrt, er war es, der Probleme aufgab. Zöllner handelte als Physiker von Fach, der sich um den Raum , die elektro- dynamischen und physikalischen Verhält nisse und die Attractionsgesetze interessirt. Aber nicht nur der Physiker , auch der Biologe , Philosoph oder ganz ge wöhnliche denkende Mensch kann aus diesen Dingen Vieles lernen und folgern , was für uns noch von weit grösserer
Wichtigkeit ist , als die Bestätigung anderer Raumdimen sionen. Aus diesen Erscheinungen geht nämlich hervor, dass die wirkenden Kräfte, welche diesen Thatsachen zu Grunde liegen, auch Organe zu projiciren vermögen , die den unseren ganz analog sind. Ich werde alle meine Bebauptung bestätigenden zahl losen Berichte diessbezüglich bei Seite lassen , und mich auf die eigene und Zöllner's Erfahrung allein stützen , weil
ein Theil der Beobachtungen von fremden Personen viel leicht nicht jener Nüchternheit begegnete, die unbedingt nothwendig ist; und auch darum , weil die Verantwortung eines Schriftstellers zu gross ist , um für das Zeugniss
dritter Personen einzustehen, die er nicht persönlich kennt, endlich weil das Material , was meine zwanzigjährige Er
-
Die Identität der projicirenden Kräfte.
137
fahrung und die Leipziger Untersuchungen zu Tage ge fördert, ja selbst eine einzige sichergestellte Thatsache vollkommen genügt. Was mich anbelangt , so habe ich zu verschiedenen Malen Hände der verschiedensten Art sehr
oft und auch gleichzeitig gefühlt , die selbst Spuren ihrer Thätigkeit hinterliessen – selbstverständlich immer nur in Gegenwart solcher anormaler Organisationen . Sie wurden auch gleichzeitig von mir und Anderen gesehen. Weit wichtiger und überzeugender ist , was Zöllner in dieser Beziehung zu Tage gefördert. Den einen Fall, wo sich der Abdruck im Mehle befand , haben wir bereits kennen gelernt, noch weit eclatanter ist folgender Fall, welcher uns dauernde
Producte verschafft hat. Zöllner schreibt (Seite 345 der
wissenschaftlichen Abhandl., 2. Band, 1. Th.) : „ Viel wichtiger erschienen mir jedoch Versuche, welche
dauernd einen bleibenden Eindruck von Berührungen hinterliessen, wie dies bei dem Abdrucke der Hand in dem mit Mehl gefüllten
Napf der Fall war. Zu diesem Zwecke klebte ich einen halben Bogen gewöhnlichen Schreibpapiers auf ein etwas grösseres Holz brett; es war der Deckel einer Holzkiste , in welcher mir Herr
Herz aus München vor vier Jahren grosse Prismen für spektro
skopische Zwecke gesandt hatte.
Ueber einer stark russenden
Petroleumlampe ohne Cylinder wurde das Papier bei stetiger Bewegung in dem Flammenmantel gleichmässig mit Russ über
zogen und alsdann unter den Tisch gelegt, an welchem Wilhelm Weber , Slade und ich Platz genommen hatten. In der Hoff nung , auf dem bewussten Papiere abermals den Abdruck der
Hand, wie am vorhergehenden Tage , zu erhalten , hatten wir unsere Aufmerksamkeit wiederum den magnetischen
zunächst
Experimenten zugewandt.
Plötzlich wurde das Brett unter dem
Tische kräftig , etwa 1 Meter weit , hervorgestossen , und als ich dasselbe aufhob , befand sich auf demselben der Abdruck eines nackten linken Fusses . Sofort ersuchte ich Slade , aufzustehen und mir seine beiden Füsse zu zeigen. Es geschah , und dies in der bereitwilligsten Weise ; nachdem derselbe seine Schuhe aus gezogen hatte , wurden die Strümpfe auf etwa anhaftende Russ untersucht, jedoch ohne jedweden Erfolg. Hierauf
musste Herr Slade seinen Fuss auf einen Massstab setzen , wobei
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Die Identität der projicirenden Kräfte.
sich ergab , dass die Länge seines Fusses vom Haken bis zur
grossen Zehe 22,5 Centimeter betrug, während die Länge des Fussabdruckes zwischen denselben Stellen nur 15,5 Centimeter betrug. Nach zwei Tagen , am 17. Dezember 1877 Abends 8 Uhr , wiederholte ich diesen Versuch , nur mit dem Unter
schiede , dass an Stelle des oben erwähnten Brettes ( 46 Centim . lang und 22 Centim . breit) eine Schiefertafel benutzt wurde,
deren vom Holzrande nicht bedeckte Schieferfläche 14,5 Centim . Auf die nicht bedeckte Schiefer fläche klebte ich einen halben Bogen Briefpapier (Bath ), welcher beschnitten genau dieselben Dimensionen der Schieferfläche besass. Unmittelbar vor der Sitzung und in Gegenwart von Zeugen be breit und 22 Centim . lang war.
russte ich selbst in der oben beschriebenen Weise die Papier fläche. Hierauf wurde die Tafel, wie früher dass Brett , mit der bewussten Seite nach oben , unter den Tisch gelegt , an welchem
wir sassen. Auf ein gegebenes Zeichen erhoben wir uns nach etwa vier Minuten und auf der Tafel befand sich wiederum der Abdruck desselben linken Fusses , den wir zwei Tage früher auf dem oben näher bezeichneten Brette erhalten hatten. Ich habe diesen Abdruck auf Taf. X in verkleinertem Massstabe
photographisch mit dem verjüngten Massstabe reproduciren lassen . Von meinem Collegen , Herrn Gemeinrath Thiersch , erfuhr ich nachträglich , dass die Methode der Abdrücke von menschlichen Gliedmassen auf bewusstem Papier eine bereits für anatomische und chirurgische Zwecke vielfach angewandte sei. Nach dem
Urtheile von Herrn Thiersch , der zur Vergleichuug mit dem
auf Taf. X reproducirten Abdruck eine grosse Zahl solcher Fussabdrücke von verschiedenen Personen aufgenommen hat, ist
der in Gegenwart des Herrn Slade erlangte Abdruck derjenige eines Männerfusses , der durch Schuhwerk stark eingeschnürt war, so dass , wie es häufig geschieht , eine Zehe über zwei benachbarte gedrückt wird und daher nur vier Zehen beim Auf setzen des Fusses die bewusste Platte berühren , wie dies auch auf der Photographie der Fall ist. Herr Thiersch legte mir den Abdruck eines menschlichen Fusses vor, bei welchem in der angedeuteten Weise gleichfalls nur vier Zehen erschienen waren . Um diese Russabdrücke zu fixiren , ist es nur erforder lich , dieselben durch eine verdünnte alkoholische Lösung von
Schellack zu ziehen. In Betreff der im Verhältniss zur Breite sehr stark verkürzten Länge des Fusses bemerkte Herr Thiersch, dass sich dies durch ein nicht gleichzeitiges Aufsetzen des Hakens
Die Identität der projicirenden Kräfte. und des Vordertheiles eines grösseren Fusses
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bewirken lasse.
In der That zeigte mir derselbe einen Fussabdruck , bei welchem in der erwähnten Weise annähernd eine ähnliche Verkürzung erzeugt
worden
war .
Wollte
man
nan
auf Grund dieser
Beobachtungen annehmen, Herr Slade habe selbst durch Aufsetzen eines Fusses auf diese Art den Abdruck erzeugt, so erforderte
dies erstens die Annahme, dass Herr Slade die Fähigkeit besitze,
sich ohne Anwendung seiner Hände ( die stets, von uns beobachtet, auf dem Tische lagen ) Schuhe und Strümpfe aus- und wieder anzuziehen ,
und
zweitens
eine
solche
Geschicklichkeit
im
Auftreten auf einen eng begrenzten Raum (die Tafelfläche) besitze, dass er, ohne diese Fläche zu sehen, doch dieselbe stets mit Sicherheit zu treffen vermöge. Sicherlich würde dies eine grosse Uebung zu dem beabsichtigten Zwecke bei Herrn Slade voraussetzen und daher naturgemäss die Vermuthung erwecken, derselbe habe dies Experiment schon öfter producirt. Abgesehen von dem lebhaften Erstaunen des Herrn Slade und seiner Ver
sicherung , noch niemals solche Phänomene in seiner Gegenwart beobachtet zu haben , sind mir bis jetzt noch in keinem Offent lichen Berichte über Herrn Slade's Productionen ähnliche That. sachen bekannt geworden . Dass die Strümpfe Slade's nicht
für diesen Zweck an ihrem unteren Theile ausgeschnitten gewesen
( wie einige „Männer der Wissenschaft“ in Leipzig
sind
vermutheten , die in geringfügigen Dingen unsere physikalische
Beobachtungsgabe vertrauensvoll in Anspruch nehmen , sich aber im vorliegenden Falle nicht scheuten , uns Bauernregeln für die davon haben Anstellung exacter Beobachtungen zu ertheilen) wir uns , wie schon oben bemerkt , unmittelbar nach den Ver suchen überzeugt. Um indessen allen solchen Zweifeln (und den fast nicht minder wunderbaren Erklärungsversuchen als die
Thatsachen selber sind) zu begegnen , schlug ich Herrn Slade einen Versuch vor, welcher vom Standpunkte der vierdimensionalen In der That , wenn die intelligenten Wesen herrühren , welche sich im absoluten Raum an Orten befinden, Raumtheorie leicht gelingen musste.
von
uns
beobachteten
Wirkungen
von
die in der Richtung der vierten Dimension neben den von Herrn Slade und uns occupirten Orten im dreidimensionalen
Raume liegen , und daher nothwendig für uns unsichtbar sein müssen , so ist für jene Wesen das Innere einer allseitig um.
schlossenen dreidimensionalen Raumfigur ebenso leicht zugänglich, wie uns dreidimensionalen Wesen das Innere einer allseitig durch
140
Die Identität der projicirenden Kräfte.
eine Linie (zweidimensionales Gebilde) umschlossenen Fläche . Ein zweidimensionales Wesen kann sich zu einer geraden Linie nur eine Normale in dem betreffenden zweidimensionalen Raum gebiete (dem es durch seine Erscheinung angehört) vorsteller. Wir dagegen , als dreidimensionale Wessen , wissen , dass es
unendlich viele Normalen zu einer geraden Linie im Raume gibt, welche in ihrer Gesammtheit den zweidimensionalen geometrischen Ort der Normalebene jener Geraden bilden. Analog können
wir uns nur eine Normale zu einer Ebene vorstellen ; ein Wesen von vier Dimensionen würde sich aber unendlich viele Normalen
zu einer Ebene vorstellen können, die in ihrer Gesammtheit den dreidimensionalen geometrischen Ort bilden würden , welcher in
der vierten Dimension normal zu jener Ebene stånde.
Wir
können uns natürlich , als dreidimensionale Wesen , von diesen Raumverhältnissen keine Vorstellung machen , obschon wir im
Stande sind , begrifflich durch Analogie die Möglichkeit ihrer realen Existenz zu erschliessen.
Die Wirklichkeit ihrer Existenz
kann nur durch Thatsachen der Beobachtung erschlossen werden . Um eine solche beobachtete Thatsache zu erlangen , nahm ich
eine von mir gekaufte Doppeltafel (book slate ), d. h. zwei Tafeln , welche an der einen Seite mit Charnieren aus Messing
wie ein Buch zum Aufklappen mit einander verbunden waren . Beide Tafeln beklebte ich in Abwesenheit Slade's) im Innern, auf den einander zugewandten Seiten , wie oben beschrieben , mit einem halben Bogen vou meinem Briefpapier, welches unmittelbar vor der Sitzung in der angegebenen Weise gleichmässig mit Russ überzogen wurde. Diese Tafel schloss ich und bemerkte Herrn Slade , dass , wenn meine Theorie von der Existenz intelligenter vierdimensionaler Wesen in der Natur begründet sei,
es für dieselben ein Leichtes sein müsste , die bisher nur auf offenen Tafeln erzeugten Fussabdrücke auch im Innern der ver schlossenen Tafeln herzustellen. Slade lachte , und meinte , dass dies absolut unmöglich sein würde; selbst seine „ Spirits “, welche er befragte , schienen anfangs über diesen Vorschlag sebr betroffen, antworteten aber schliesslich doch mit der stereotypen vorsichtigen Antwort, auf einer Schiefertafel : „ We will try it ( „wir wollen es versuchen “).
Zu meiner grössten Ueberraschung
willigte Slade ein , dass ich mir die geschlossene Doppeltafel
(die ich nach ihrem von mir selbst hergestellten Ueberzug mit Russ nicht aus meinen Händen gab) während der Sitzung auf meinen Schooss legte , so dass ich sie stets zur Hälfte beob
Die Identität der projicirenden Kräfte. achten konnte.
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Wir mochten in dem hell erleuchteten Zimmer
etwa fünf Minuten an dem Tische gesessen haben , die Hände
in der gewöhnlichen Weise mit denen Slade's oberhalb des Tisches verbunden , als ich plötzlich zweimal kurz hintereinander fühlte , wie die Tafel auf meinen Schooss herabgedrückt wurde,
obne dass ich das geringste Sichtbare wahrgenommen hatte. Drei Klopflaute im Tisch kündigten an , dass Alles vollendet sei , und als ich die Tafel öffnete, befand sich im Innern auf der einen Seite der Abdruck eines rechten , auf der andern der
jenige eines linken Fusses , und zwar desselben , den wir bereits an den beiden vorhergehenden Abenden erhalten hatten.“
Ich glaube, diese Thatsache ist ebenso klar und einfach, als sie in ihren Folgen weittragend ist. Ich könnte noch zahllose Beispiele erzählen , wo man plastische Eindrücke von Organprojectionen in Paraffin unter Bedingungen erhielt, die keinen Zweifel übrig lassen, es sei denn, die anwesenden Berichterstatter wären schamlose Betrüger, was nach meinen
Erfahrungen und denen der Leipziger Gelehrten wahrlich nicht mehr annehmbar ist. Man kann Augen und Ohren haben, aber nicht sehen und hören wollen , für diesen Schlag
Menschen schreibe ich nicht, sondern für jene, die da wissen, was eine Thatsache und was ein Schluss ist , und nicht durch vorgefasste Meinung - seien sie nun religiöser oder wissenschaftlicher Natur -
auf ein selbstständiges Denken
Verzicht geleistet haben .
Nachdem also den menschlichen ganz analoge Organe projicirt werden, so entsteht die Frage : Wer oder was hat diese Organe projicirt ? Darauf gibt es nur drei denkbare Antworten :
1. Irgend ein metaphysisches , pantheistisches oder pantelistisches Princip, etwa das „ Unbewusste“. Das ist nun eine Antwort, die man auf Alles geben könnte, mit der man aber auch Niemand befriedigen wird. Mit einem „ Gott hat’s gewollt“, oder „Gott hat's gemacht“
beweist man eben, dass man keine Antwort hat. Jedenfalls
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Die Identität der projicirenden Kräfte.
bliebe auch dann die Frage offen : Mittelbar oder unmittel bar ? Man kann doch nicht Taschenspielereien , wenn auch
vierdimensionaler Wesen, für göttliche oder teuflische Werke
ausgeben, und einfach zur Tagesordnung übergehen. 2. Slade (es giebt übrigens noch viele andere der .
artige Organisationen oder Medien) selbst kann eine unsicht bare Hand oder Fuss projiciren. Wer so etwas aufstellen könnte , müsste zugeben , dass in Slade ein solches Schema der menschlichen Gestalt existirte, welches unter Umständen auch ohne Fleisch, Blut und Knochen zu fungiren vermag ; aber durch eine solche Annahme käme er dann von selbst
auf die dritte Erklärungsweise. 3. Es müssen Wesen sein, welchen entweder die Kraft
potentiell innewohnt , solche Organe zu projiciren , oder welche solche Organschemen überhaupt an sich sind , oder doch rudimentär in sich haben. Halten wir an dieser dritten
Erklärungsweise fest. Die Thatsachen bestehen , bevor wir aber zu deren Consequenzen übergehen , müssen wir einen
Blick auf die Organbildung der menschlichen Gestalt lenken . Kleine Samenthierchen und Eiweisskörperchen ver mehren sich im Mutterleibe zu einem Zellenhaufen , nicht aber lediglich den sie umgebenden Relationen und dem unter sich geführten Kampf ums Dasein entstprechend , nein , sondern im Sinne der Bildung eines zweckmässigen Organismus, der erst spät zur Thätigkeit gelangt, und mit Organen ausgerüstet ist, wie wir sie wohl kennen, aber weder in ihrer Function,
noch weniger in ihrer Entstehung begreifen . Ich habe in
dem dritten Capitel meines „Individualismus“ nachgewiesen, dass ohne ein zweckthätiges und intelligentes Wirken der Aufbau eines mehr zelligen Organismus, wie es der Mensch ist , ganz unmöglich sei. Im fünften und achten Capitel finden sich die Gründe für die Behauptung, dass das, was wir Leben nennen, oder vielmehr was das Leben veranlasst, durchaus nicht mit dem Organismus entstehen und zu
Die Identität der projicirenden Kräfte.
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Grunde gehen muss, sondern dass nur in dem Falle , wenn es nicht zu Grunde geht, die Haeckel'sche Auffassung des innigen Zusammenhanges der Keimes- und Stammes Geschichte begreiflich und möglich wird.
Es ist dort bewiesen worden , dass die einzelne Zelle des Körpers sich den sie umgebenden Verhältnissen anpassen könne , die morphologische Entwickelung des Ganzen aber den Zellen weder collectiv noch einzeln zugedacht werden könne , und dass unser morphologischer Bau zwar
zweifelsohne ein Entwicklungs- und Anpassungs- Product sei, aber nur durch eine dauernde Grösse der langsame
Weg der stufenweisen Anpassung zurückgelegt werden könne. Es würde uns zu weit führen, auf die Nothwendigkeit eines solchen Factors näher einzugehen , ich muss mich
daber mit einem einzigen Beispiele begnügen , und im Uebrigen den Leser auf meinen „ Individualismus “ ver weisen. Die menschliche Zunge ist im Vergleiche zu vielen anderen weit complicirteren Bestandtheilen des menschlichen Körpers ein einfaches und verhältnissmässig gleichartiges Organ. Das Kind kommt mit einer ausgebildeten Zunge
zur Welt, wenngleich ihm die Nahrung durch die Nabel schnur zugeführt wird , von einer Anpassung daher nicht die Rede sein kann ; zwischen den Epithelzellen, aus denen die Zunge besteht, liegen — zu Nervenzellen umgewandelte Epithelzellen - die Geschmackzellen. Welcher Kampf ums
Dasein , welche Anpassung soll diese Verwandlung veran lassen ? Soll das Alles in einer Keimzelle mechanisch prä destinirt liegen ? Es gehört ein grosser Grad von Denk faulheit dazu , die Nothwendigkeit irgend eines Factors,
einer organisirenden Grösse nicht einzusehen. Da die Mutter
zumeist gekochte Speisen geniesst , alles durch die Magen säfte angegriffen wird, so ist die Entstehung, die so grenzen lose Differenzirung der Zellen , und ganz insbesondere die
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Die Identität der projicirenden Kräfte.
teleologische Arbeit eines Embryo etwas ganz Wunderbares, weil von Anpassung nicht die Rede sein kann, und in einer
Keimzelle sich wohl ein differenzirtes Material, nicht aber ein nach Zwecken arbeitender Factor vererben kann .
Was diese Grösse aber ist – das ist allerdings eine andere schwierige Frage, welche wir vorläufig bei Seite lassen müssen, und die ich auch in meinem „ Individualismus“ offen gelassen und ihr die allgemeine Forinel einer zusammen gesetzten Unbekannten gegeben habe
xy ,
was
von
einer Zahl oberflächlicher Kritiker falsch verstanden und
beurtheilt wurde. Weil ich sage , dass in diesem xy eine Emanation des „Willens“ oder des „Bewussten“ ebensogut sein könnte, als es das Product einer Monade oder blosser
Stoffcombination sein kann, und deshalb doch eine dauernde individuelle Existenz haben könne , habe ich mich noch für keine dieser Anschauungen compromittirt, und behaupte ich darum durchaus nicht, dass die Seele eine Stoffcombi nation sei, was mir Scharschmidt und andere vorwerfen.
Im Gegentheile, ich sage ausdrücklich, dass die Seele nach meiner Auffassung kein tellurisches , sondern aller Wahr scheinlichkeit nach kosmisches Product sei.
Ich bin einfach
ehrlich und sage offen , dass ich nicht weiss, was der Ur sprung des Lebens ist; ich weiss nicht, was die Seele ist, ich weiss nur , dass sie vorhanden und ihre Existenz vom
Zellen -Organismus unabhängig ist. Der Anatom Sömme ring sagt im Beginne des Capitels über das Hirnleben, dass die Gehirnmasse zum Leben nicht nothwendig sei, und rechtfertigt diese Behauptung durch Anführung von Miss geburten, die ohne Hirn, zum Theile auch ohne Rückenmark
zur Welt kamen und schrieen, saugten und eine Zeit lebten. Dass Schildkröten nach Hinwegnahme des Gehirns Monate lang leben, und entzweigeschnittene Thiere in den getrennten Theilen kurze Zeit Leben zeigen, ist bekannt, woraus erhellt, dass unser Zellen -Organismus nur eine Form eines anderen
Die Identität der projicirenden Kräfte.
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ist. Carl Gustav Carus knüpt an solche Betrachtungen an und meint, daraus schliessen zu können, dass unsere Existenz
nur „ ein irdisches Symbol eines geistigen Daseins “ sei, ein Satz, der in seinem Grundgedanken zwar richtig, in seiner Ausdrucksweise misslungen ist und lauten müsste : Unsere irdische Existenz ist die Projection eines wirklich oder rudimentär vorhandenen Organismus in oder aus lebenden Zellen, nicht aber ein durch die Zellen erbauter und dann doch
mit
einheitlichem
Selbstbewusstsein
fungirender
Complex, wie einige naive Naturforscher behaupten ! Erläutern wir durch Einwürfe diese Anschauung. Man könnte vor Allem einwenden :
„ Der Koch rührte Mehl , Butter, Milch u. s. w. nach seinen Zwecken zusammen , der Keim sei aber bereits der
angeteigte Kuchen , der nur noch der äusseren Umstände nöthig hat. Der Keim sei kein Marmor, der des Bildhauers bedarf, um
etwas darzustellen ; der Keim sei das vollständig angelegte Wesen, das besser oder schlechter geräth , je nach den äusseren Umständen und innerem Werth.
Der organisirende Kern , die
Menschenseele, liege schon im Keim !“
Wenn wir aber für den Kuchen doch einen Koch, für die Statue den Bildhauer brauchen, so brauchen wir auch etwas für den Keim, selbst in dem Falle, wenn er bereits so angelegt und wunderbar beschaffen wäre , den ganzen
Rest allein zu leisten . Wie soll er zu dieser Anlage gekommen sein ?
Die Naturwissenschaft hat dafür die Anpassung
und Vererbung, die dieses Wunder mit Hülfe der unendlichen Zeit leisten soll.
Das ist aber eben nicht
der Fall, wie das deutlich und handgreiflich beim Entstehen der sogenannten mehrzelligen Individuen hervorgeht. Es ist
klar (siehe III. Capitel des „ Individualismus " ), dass bei Zellen , die sich nicht abtrennen , sondern im Zusammen
hange leben, der Kampf ums Dasein nur die verschiedene Ausbildung der einzelnen Zellen , und das ausgeschiedene Hellenbach , Vorurtheile . II.
10
Die Identität der projicirenden Kräfte.
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Protoplasma oder Keim -Material nur eine grössere Disposition zu einer gemeinschaftlichen Existenz zur Folge haben kann. Der Uebergang eines Zellenhaufens in ein physiologisches Individuum ,
die Bildung
von Geschlechtszellen
kann
weder durch Vererbung , noch Anpassung , noch Kampf ums Dasein erklärt werden , sondern nur deren weitere
Ausbildung und Differenzirung, wenn sie einmal vor . handen sind. Würde hingegen ein Zellen haufen ein
ewiges Leben haben, und sich fort anpassen können, dann wäre der Darwinismus möglich und verständlich . Es ist ferner klar (siehe das fünfte Capitel des Indi vidualismus), dass jene Stoff- oder Kräfte- Verbindung, welche das Leben auf der tiefsten Stufe veranlasste , durchaus nicht zu Grunde gehen muss, und habe ich für diese unbekannte Grösse, dieses Bildungs- Schema, den allgemeinen
Ausdruck xy, oder schlechtweg „ Seele“ adoptirt. Nur unter dieser Voraussetzung ist es begreiflich, wie ein mehrzelliges Individuum entsteht, wie es sich entwickelt und fungirt; dann wird es selbstverständlich , dass je entwickelter ein Organismus ist, desto zusammengedrängter die früher durch laufenden Perioden bei seiner embryonalen Entwickelung zu Tage treten müssen, oder in der Sprache Haeckel's : dass die Keimes - Geschichte eine Recapitulation der Stammes Geschichte sei.
Dagegen wenden die Naturwissenschaftler ein, „ dass die Zweckthätigkeit ein für alle Mal abgethan sei. Schon Empedokles habe nachgewiesen , dass Organismen wie überhaupt jede zweckmässige Gestaltung der Dinge durchaus keines denkenden , nach einer vorbewussten Idee schaffenden
Wesens bedarf, sondern dass der Zufall in Verbindung mit unend lichen Zeiträumen genüge, alles das hervorzubringen. Es gelte dies von den Himmelskörpern, den Pflanzen, Thieren und Menschen“.
Gewiss ist das richtig, aber bei den Organismen fehlt eben der „ unendliche Zeitraum “ ; diese sterben ab , und
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Die Identität der projicirenden Kräfte.
wenn nichts bleibt, als aufgelöste Stoffe, so ist der Strom der Entwickelung unterbrochen ; wenn hingegen ein Factor bleibt, dann ist der unendliche Zeitraum gegeben. Wenden wir das Alles statt auf die Erscheinungsform des Organismus auf diesen Factor, das xy , die Seele, an, und die Lehren eines Darwin , Haeckel und anderer Naturforscher werden
durchsichtig und widerspruchsfrei. Die grösste Schwierigkeit in diesen Fragen ist für den Ungewohnten die constante und scharfe Trennung der Begriffe der Seele und des vorstellenden I chs. Das Ich ist ein Phantom , ein Spiegel der Seele, das Product eines sehr complicirten Organismus,
welcher aus Zellen , die einem bestimmt qualificirten Organismus entnommen sind , aufgebaut wird .
Dieses
Material differenzirt sich allerdings auch im Laufe der Zeit, aber vor Allem ist es die Seele, die dem Processe steigender Entwickelung unterliegt.
Haeckel gibt jeder Zelle eine Seele, wenngleich er zugesteht, dass man nicht wisse, was sie sei , woher sie komme und wohin sie gehe.*) Nachdem sich der Organismus aus vielen Billionen solcher Zell -Seelen zusammensetzt, so können diese nicht collectiv eine selbstbewusste Zelle bilden, sondern man muss nach einer neuen Seele greifen, die Haeckel als , aristokratische Seelen -Zelle “ von den anderen
abstammen lässt, was ganz gut möglich ist , wenn die Seelen die Organismen überdauern , aber unmöglich ist, wenn sie Producte der Organismen sind. Haeckel meint, dass Kant auch einmal ein Kind gewesen , und
folglich die Seele ihre individuelle Entwickelungs-Geschichte Aus der Anwendung dieses Satzes geht hervor, dass Haeckel den Unterschied zwischen Seelen haben müsse.
Thätigkeit, organischer Thätigkeit und Vorstellung sich nicht klar zu machen vermag, oder es versäumt. *) Siehe „ Deutsche Rundschau “ 10. Heft 1878. 10*
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Kant wurde gezeugt, und es entwickelte sich ein
Organismus ; dieser Organismus fing an , Vorstellungen zu haben, endlich zu denken, natürlich mit Hülfe seiner Organe, die nur darum so vollkommen waren , weil eine Unzahl von
Organismen vorangegangen ist , welche die Bedingungen aller Art herstellten, unter welchen eine so hoch entwickelte Organisation wie die Kant's möglich wurde. Ist nun diese
Gehirnfunction, welche die Vorstellung des Kant und seiner im Kopfe befindlichen Welt zu Stande brachte, die Seele Kant's ? Gewiss nicht, sie ist nur der Reflex einer Thätigkeit des Organismus, an der immerhin die Seele auf irgend eine Weise participirt, welchen Organismus sie selbst aus der gegebenen Zellen entwickelt, und welche Seele oder Seelen zelle immerhin einmal eine sehr tiefe Stufe haben konnte.
Der vorgestellte uud vorstellende Kant war einmal ein Kind, und die Persönlichkeit Kant's hatte ihre Entwickelung, die aber mit der Entwickelung der Seele nicht identisch ist. Es könnte also vor Allem die Seelenzelle, die den
Organismus Kant's baute, bewohnte, oder in ihm fungirte, ganz gut nur ein vorübergehender Gast gewesen sein ; Haeckel wenigstens könnte das nicht für unmöglich proclamiren, da er nicht weiss oder doch nach seinem eigenen Geständnisse
zur wissenschaftlichen Anerkennung
eine
Antwort auf die Frage nicht bringen konnte : was die Seele
sei, woher sie komme und wohin sie gehe? Ob sich in den Geschlechtstheilen bloss „ Zell - Seelen“, oder auch „ aristo kratische Seelen - Zellen “ befinden , oder ob sich die demokratische Zell-Seele in eine aristokratische Seelen -Zelle,
die ein ganzes System von Zell - Seelen beherrscht, im Mutter leibe verwandle, das erfahren wir nicht, und wenn es uns
Haeckel auch sagen würde, so wäre das eine Ansicht, für welche die Begründung noch aussteht ; in sämmtlichen Werken Haeckel's ist sie wenigstens nicht zu finden . Wenn ich das
Mondlicht betrachte, so ist das Bild meine Vorstellung ;
Die Identität der projicirenden Kräfte.
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wenn mein Organismus die Nahrung verarbeitet, so ist das eine mir unbekannte und unbewusste organische Thätigkeit; noch viel weniger wissen wir von den möglichen Seelen
Thätigkeiten. Den grossen Unterschied von Seele und „ Ich " hat Haeckel nicht weg , obschon Kant ihn sehr deutlich hervorhob, und zwischen Person und Subject scharf unter: schied . Es macht einen komischen Eindruck , dass D. A
Mayer in seiner Brochure: „ Der Kampf um das Dasein der Seele“ Haeckel den Vorwurf macht, dem Dualismus in die Hände zu arbeiten, weil sich seine Ansichten von diesem nicht mehr unterscheiden , und selbst Spiritisten ihre „ absurde“ Lehre auf Haeckel stützen könnten.
(Seite 31.
Was wohl Herr Mayer in 10 Jahren zu diesem seinen Satze sagen wird ?!) Das letzte Wie und Warum sagt Mayer bleibt uns ja überall ein Räthsel; Physiker und Chemiker lassen solche unbekannte Grössen stehen, warum
soll der Biologe sich scheuen, in den ersten Lebens erscheinungen eine unbekannte Grösse anzunehmen ? Gewiss, ich habe das auch gethan, und wenn ich diese unbe kannte Grösse „ Seele" taufe, so wird dadurch noch kein Pro oder Contra in Bezug auf Monismus und Dualismus geschaffen. Auf einem viel rationelleren Standpunkte steht dies bezüglich Jäger. Dieser erkennt die Nothwendigkeit einer Vis formativa, einer gestaltenden Grösse an ; er erkennt, dass wir zwar wissen, wodurch ein Thier lebt, nicht aber,
warum es nach einer specifischen Methode lebt ; dass wir den Ernährungstrieb , nicht aber den Ernährungs-Instinkt kennen ; dass wir den Fortpflanzungstrieb wohl kennen, der Instinkt uns aber ein Räthsel sei ; er sagt wörtlich : „ Wir kennen so ziemlich die Mechanik des lebenden Körpers, und zwar die grobe und die feine. Wir wissen , mit welchen Kräften dieselbe arbeitet , wir wissen auch , dass etwas in
ihm steckt, das ihn treibt , aber warum das immer nur in einer ganz bestimmten Richtung treibt , das wissen wir
150
Die Identität der projicirenden Krätte.
nicht ; wir kennen die Lokomotive, aber der Locomotivführer hat sich bis jetzt unserer Nachsuchung zu entziehen gewusst, wir haben nur einen Namen für ihn , die Seele.
Er
folgert weiter, dass jedes Thier eine specifische Seele haben müsse, und weist nach, dass der Geruch und die Geruchs
stoffe in näherer Beziehung zur eigentlichen Thätigkeit der Seele stehen. Er sagt : „ Die specifische Seele ist es ,
die
sich auch ihren specifisch geformten Leib baut, sie ist der Entwickelungs-Architekt.“ *)
Wenn wir aber ein potentielles Schema , welches die Continuität aufrecht erhält, annehmen , dann ist die Anpassung und Vererbung verständlich , dann muss die
Keimes - Geschichte eine Recapitulation der Stammes Geschichte sein, die dunklen Seiten der Biologie werden klar, und es kommt Licht in die Natur überhaupt.
Recapituliren wir also : Es ist eine Thatsache , dass es Wesen gibt , die den unseren analoge Organe projiciren können.
Es ist eine Thatsache , dass die Organ -Projection in aus Zellen zusammengesetzten Organismen den dunklen Punkt der Morphologie und Biologie überhaupt bilden. Schluss : Es ist ganz berechtigt, die Organ projicirenden Kräfte der Menschheit und dieser Wesensreihen für identisch
zu halten ; oder wenigstens diese Hypothese als eine solche zu betrachten, die eine nähere Untersuchung verdient. Man wird vielleicht zugeben , dass in Bezug auf das Unzureichende der naturwissenschaftlichen Erklärung die *) „ Die Entdeckung der Seele“, Leipzig, Günther's Verlag, 1878. Der Identification der Seele mit den duftenden Stoffen und der
Unterscheidung von Geist und Seele kann ich mich nicht anschliessen. Das treibende Element kann Geruch entwickeln , ist aber nicht das
Gerochene, sonst müsste es verflüchtigen, und die Menschen verschiedene Quantitäten Seele in verschiedenen Momenten haben.
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Die Identität der projicirenden Kräfte.
ganze Argumentation zwar etwas für sich habe, „doch sei es auffallend, dass noch niemals auch nur eine Spur
irgend einer Verbindung aufgefunden wurde , die diese Anschauung unterstützen würde.“ Man kann so Manches erschliessen , was man in einer Retorte nicht zu fangen vermag.
Wir dürfen nicht vergessen , wie grob unsere Sinne, wie viele Atome nothwendig sind, bis wir sie wahrzunehmen im Stande sind , dass ferner gerade die vier für das organische Leben wichtigsten Gasarten uns überhaupt unsichtbar sind , wenn sie keine besonderen Verbindungen
eingehen oder keinem ungewöhnlichen Drucke ausgesetzt werden ; wir dürfen nicht vergessen , dass es noch eine
Unzahl Stoffe geben mag, die wir nie wahrnehmen können, endlich, dass es noch andere Raumdimensionen geben kann, und wir für das Unsichtbar-sein und -werden bereits hand
greifliche Beweise haben . Die Unfindbarkeit und Unsicht
barkeit kann nach den mikroskopischen Errungenschaften und den Experimenten Zöllner's kein Hinderniss bilden, € De Hypothese anzunehmen , welche mit einem Schlage
Licht in die Entwickelungs-Theorie , Aufklärung über die Religions-Geschichte aller Völker , Lösung der mystischen Wunder, und in ihren Consequenzen Trost und Beruhigung der durch die Entwickelungskämpfe leidenden Menschheit zu bringen vermag. Wir brauchen diese Hypothese nur auf die Natur anzuwenden, und wir werden ihre Richtigkeit und ihren wohlthuenden Einfluss anerkennen müssen und die
Erscheinungswelt dadurch durchsichtiger machen . Die
Projection menschlicher Organe
durch
sonst
unsichtbare Wesen aus organischer Substanz wäre eigentlich allein schon genügend, die Identität dieser Wesen mit jenem unbekannten Kern der menschlichen Erscheinung, den ich ganz allgemein mit xy bezeichnet habe, festzustellen ; wir entdeckten an ihnen eine Eigenschaft, die wir selbst haben
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Die Identität der projicirenden Kräfte.
und nicht erklären können , nämlich die Bildung von Organen, die sich untereinan der nur dadurch unterscheiden, dass die Organe der einen Wesensreihe aus Zellen bestehen,
die der anderen aus unbekannten organischen Stoffen . Nunmehr werden wir den entgegengesetzten Weg ein schlagen ; ich werde meinen Lesern den Nachweis liefern, dass auch wir Eigenschaften haben , die wir an jenen Wesen wabrnehmen oder doch erschliessen schaften vierdimensionaler Natur !
und zwar Eigen
2. Die vierdimensionale Raumanschauung innerhalb der menschlichen Erscheinungsform . Das Fernsehen im Raume, in die Vergangenheit und Zukunft ein
physiologischer Vorhang. - Das unbewusste Schaffen . – Die Fernwirkung Hansen's. Falsch Gebild und Wort Verändern Zeit und Ort ! Seid hier und dort ! Goethe .
Recapituliren wir : 1. Das Auftreten von nicht aus Zellen gebildeten Organen, welche flüchtig, aber den mensch lichen ganz analog sind, ist eine vollkommen sichergestellte
Thatsache; andererseits ist die Projection der mensch lichen Organe aus Zellen ein unerklärtes Räthsel; daraus
ergibt sich der Schluss: Die Identität der projicirenden Kräfte in beiden Fällen ist von vorneherein etwas sehr Annehmbares und Wahrscheinliches. 2. Alles, was von diesen
Erscheinungen berichtet wird, lässt mit Sicherheit auf ganz andere uns unbekannte Raumverhältnisse schliessen,
Ist die Identität eine Wahrheit, so müsste diese vierte Raumdimension und eine mit ihr verbundene höhere Anschauungsweise selbst in der menschlichen Natur ab und zu nachzuweisen sein. Zu Gunsten meiner Anschauung,
dass das in uns liegende Subject, die Seele , das xy , mit
Die Identität der projicirenden Kräfte .
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jenen Wesensreihen identicsh ist, sprechen nun in nicht zu beseitigender Weise zahlreiche Erscheinungen des Somnam bulismus und Wahrträumens.
Diese werden sofort durch
sichtig , wenn unsere Sinpeswabrnebmungen nur eine be stimmte Modification einer auch ohne Zellen -Organe mög
lichen Thätigkeit sind. Nur in diesem Falle ist es begreif lich, dass ein entweder krankhafter oder anormaler Organis
mus statt von Aussen, gleichsam von Innen so unglaubliche, wenn auch in der Regel verworrene Gesichte und Mit theilungen zu Stande bringt, die dem wirklich normalen Organismus unmöglich sind . Nur auf diese Weise ist das Durchleuchten einer anderen Raumanschauung bei Kranken und Sterbenden begreiflich. Man hat die Realität dieser Erscheinungen lange be zweifelt, wenngleich sie so alt als die Menschheit und seit einem Jahrhunderte ein Gegenstand der öffentlichen
Discussion geworden sind ; nicht ohne Begründung nahm man Anstand , sie ernst zu nehmen und sich mit ihnen zu beschäftigen , weil Schwindel , Betrug und Ueber tölpelung da sehr leicht durchführbar sind. So schwierig es aber auch sein mag , Lüge und Wahrheit zu unter
scheiden, und so häufig auch ohne alle Absicht Täuschungen unterlaufen – den Grund werden wir später kennen lernen so bleibt noch immer ein ungeheures Material übrig, das ohne Erklärung dasteht, im Wege dieser Hypothese aber eine ganz naturgemässe Erscheinung ist. Richtige Ahnungen, Visionen und Prophezeihungen hat es immer gegeben , sie wurden aber in alter Zeit zumeist auf die Rechnung der Gottheit gestellt. Wir haben das
Zeugniss eines Plato und Aristides, dass die Priesterin nen zu Delphi ab und zu richtige Gesichte hatten ; Tertul .
lian und Agrippa von Nettesheim geben Schilderungen, wie man zu solchen Visionen gelangt , die haarscharf mit den neueren Beobachtungen stimmen. Die Visionen Sweden
Die Identität der projicirenden Kräfte.
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borg's sind bekannt, und in neuerer Zeit haben wir zahl
lose Berichte von Kieser, Ennemoser , Perty u. A. Doctor Schindler erzählt von einer seiner Somnambulen,
dass sie sich täglich in das Krankenzimmer ihrer Nichte
versetzte , und über den Verlauf der Krankheit, die Mittel und deren Wirkung berichtete: „wir waren genau davon unterrichtet, ehe die ankommenden Mittel den Verlauf
bestätigten .“
Wir werden uns auf drei erläuternde Bei
spiele beschränken , die genügen werden , weil das eine das Fernsehen dem Raume nach , das andere ein Fernsehen in
die Zukunft, das dritte in die Vergangenheit nachweist. Auf den möglichen und selbst wahrscheinlichen Einwurf des Lesers, dass ein Sehen in die Zukunft unmöglich sei, habe ich in erster Linie die Antwort, dass das, was wirklich ist, möglich sein muss , und zweitens , dass schon die Alten
die drei Parzen Lachesis, Klotho und Atropos, von denen die eine die vergangenen , die andere die gegenwärtigen, die dritte die zukünftigen Dinge sah, so schön als Töchter der Nothwendigkeit auffassten . Wenn ich auf dem Aetna stehe, 80 werde ich so Manches als nothwendig voraussehen , wovon die Bewohner der Ebene und die auf den Schiffen Fahrenden nichts ahnen ; ebenso muss die
vierte Raumdimension eine ähnliche Ueberlegenheit bieten,
Ursachen und Wirkungen zu überblicken. Der Mensch sieht besser in die Zukunft, als das Thier , der Gebildete weit mehr, als der Ungebildete u. s. f. Graf E ..... 2 .... ist eine in Oestereich sehr
bekannte Persönlichkeit , und Niemand , der ihn kennt,
wird bezweifeln , dass er eine eminent praktische Richtung seinem Leben giebt. Kunst, Industrie und Volkswirthschaft
nehmen seine ganze Zeit in Anspruch , und wenn ich noch hinzufüge , dass er sehr reich und unabhängig ist , so wird
jeder Unparteiische zugeben, dass das Zeugniss eines solchen Mannes schwer ins Gewicht fällt. Die Revolution in Ungarn
Die Identität der projicirenden Kräfte.
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und die unerquicklichen Zustände in Oesterreich veranlass ten ihn , eine Reise ins Ausland zu machen, umsomehr, als einer seiner Brüder als kaiserlich gesinnt von den Insur genten aufgeknüpft wurde. In Brüssel proponirte ihm ein Freund, zur Zerstreuung zu einer dort befindlichen Somnam bule zu gehen ; er ging hin, wie man in eine Bildergallerie geht, um seine Zeit in der Fremde auszufüllen. Sie sagte ihm , dass er ein schmerzhaftes, längeres Leiden am Fusse gehabt , dessen Veranlassung sie lange nicht finden konnte , weil es weder ein Schlag noch ein Schuss , sondern ein Pferdebiss war , auf den er in diesem Augenblicke gar nicht dachte.
Und da sein Bruder von
den Insurgenten gefangen und aufgeknüpft wurde, alle näheren Détails ihm aber unbekannt waren, so frug er um das Schicksal eines nahen Verwandten , und sie schilderte eine Scene, wo die Insurgenten mit Sensen Jemand er
schlugen, es war dies ein Graf d'o ....., an den Z .... nicht dachte; er frug daher um das Schicksal eines noch näheren Verwandten, und erhielt eine genaue Schilderung, sogar des
unbekannten Ortes, wo er eingescharrt wurde, im Schlamm , wo er die Leiche auch fand , in dem Zustande, wie sie es sah und sagte. Er hatte damals nur Kenntniss von dem Factum und dem kriegsrechtlichen Urtheil. Es ging ihm wie so vielen Anderen und mir, dem eine Amerikanerin,
ohne mich je gesehen zu haben , ohne meinen Namen oder auch nur von meiner Ankunft
etwas zu wissen,
Schilderungen aus meinem Leben machte , welche die Möglichkeit eines Sehens in die Vergangenheit ausser Zweifel stellen. Es machte auf mich den Eindruck, als ob
alle meine Gedanken und Erlebnisse photographische Ein drücke in mir gemacht, die sie mit gröserer oder geringerer Klarheit zu lesen vermochte. (Die näheren Umstände befinden
sich in meiner „ Philosophie des ges. Menschenverst.“ S. 151.) Der Leser wird sagen , es sei nicht unmöglich , dass
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Die Identität der projicirenden Kräfte.
da irgend ein geplanter Betrug, eine Täuschung unterlaufen, darum greife ich zu einem dritten Beispiele, wo alle Ein würfe scheitern und ein richtiges Schauen der Zukunft zu Tage tritt. In meiner ,,Philos. des ges. Menschenverst.“ befindet sich S. 126 ein Fall, wo ein Derwisch in Agram eine schriftliche
Prophezeihung an meinen verstorbenen Freund Graf Sermage aus Dankbarkeit für eine kleine auf der Strasse erwiesene
Gefälligkeit richtete, und zwar im Jahre 1845. Die Prophe zeihung bezog sich auf eine Reihe von Jahren und ist voll kommen eingetroffen. Wer sich um das Détail interessirt, kann es dort finden . Auch zweifle ich nicht, dass das Docu ment sich noch heute im Archive seines Sohnes befindet. In Aegypten und Indien nehmen die Derwische und Fakirs einen Knaben, lassen ihn in eine dunkle Flüssigkeit
sehen , räuchern oder magnetisiren ihn , und jeder Dritte oder Vierte ist geeignet , richtige Bilder in der Flüssigkeit von Dingen zu sehen, die sich auf Meilenweite zutragen . Ich frug Hansen , ob er , da es ihm möglich ist,
seinen Willen geeigneten Persönlichkeiten im bewusstlosen Zustande aufzuoctroyiren, niemals einen Magnetisirten zwang, in die Ferne zu schauen ; er bejahte die Frage dahin, dass er es zweimal gethan , und zwar mit Erfolg , was mich durchaus nicht überrascht.
Wenn Hansen einem Menschen
bei vollem Bewusstsein die Finger an den Tisch festmacht,
oder die Faust oder den Arm versteift, derart , dass der Betreffende die Fähigkeit der Bewegung verliert , so ist diese auf die Muskel ausgeübte Willenskraft zwar unbe als wenn greiflich , aber doch etwas ganz Anderes , als das Gehirn ganz bewusstlos ist, alle Gliedmassen und die Augen genau die Stellung behalten , in welche sie
Hansen versetzt , und der Organismus dann so fungirt, wie Hansen durch seinen blosen Willen es verlangt. Die gesprochenen Worte können es nicht veranlassen ; es kann ja das Ohr doch nicht hören und gleichzeitig nicht
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hören ; dass die Empfindung der Magnetisirten aufhört, ist durch mehrere Versuche constatirt worden. Begreiflich werden diese Erscheinungen abermals nur , wenn der menschliche Organismus nur die aus Zellen bewerkstelligte Projection eines anderen ist. In dem Masse, als der Erstere dem Starr
krampfe verfällt , gewinnt der Andere an Freiheit, und ist es nicht nur denkbar , sondern Thatsache , dass der vier dimensionale Organismus zu fungiren anfängt, wenn der dreidimensionale lahm gelegt wird . Es wird dies übrigens von allen Magnetiseuren bestätigt.
In meiner ,,Philos. d. ges. Menschenverst.“ befindet sich auf S. 181 folgende Note : „ Ich wurde einmal wach mit der Em pfindung, dass der auf meinem Schoosse liegende Arm ein geschlafen sei. Ich wollte mit der linken Hand denselben durch Drücken wieder beleben , und fand ihn nicht. Als ich nun den Arm suchte , stiess ich ganz nahe am Kopfe auf eine fremde Hand , welche wie die eines Todten anzu
fühlen war (was ganz begreiflich ist , weil die linke Hand ihre Empfindungssignale ins Gehirn sandte , während sie von der rechten ausblieben ). Als ich die Fortsetzung dieser Hand verfolgte - es herrschte durch Schluss der Fenster laden volle Finsterniss – und bereits über den Ellbogen
an den Oberarm gelangt war, welcher die Richtung gegen meinen Körper nahm , also sich als mein eigener einge schlafener Arm manifestirte, so trat das bekannte Prikeln
der Wiederbelebung ein , aber meiner Empfindung nach in der auf dem Schoosse liegenden Hand, welche Täu schung etwa eine Secunnde andauerte, nach welcher die eingebildete Hand erst in die wirkliche zurückkehrte.
Ich war offenbar auf meinem Arm eingeschlafen , und lag zufolge meines ruhigen festen Schlafes die ganze Nacht auf ihm. “
Ich habe mich zwar nie auf einer Hallucination
ertappt, doch könnte das darum doch eine Sinnestäuschung gewesen sein ; wie aber, wenn sie es nicht war ?! Prof.
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Perty erzählt im Juli-Hefte der „ Psychischen Studien“ die Fähigkeiten eines Fräulein Sophie Swoboda in Bezug auf Fernsehen , Fernwirken und die Bilocation . Im letzteren
Falle bedeckt sie eine leichenähnliche Blässe und liegt sie im ohomachtähnlichen tiefen Schlafe. Ob das künstliche
Sistiren des Zusammenhanges und die Herbeiführung solcher Zustände dem menschlichen Organismus zuträglich sei, das
ist allerdings eine andere Frage. Ich balte es für angezeigt, den Leser, der denn doch vielleicht in die Gelegenheit kommen könnte, Hansen oder
einen anderen derartigen Magnetiseur zu sehen , auf Fol gendes aufmerksam zu machen . Weder Hansen noch ein Anderer kann sich derzeit Rechenschaft über die Natur .
seiner Macht geben. Es gelingt besser, schlechter, oft auch gar nicht ; seine Disposition wechselt, und es wird Hansen gewiss seine Kraft einmal verlieren . Wenn nun Hansen -
was ich selbstverständlich durchaus nicht behaupte sei es aus Eitelkeit der Noth , zu unlauteren Mitteln greifen -
sollte , so wird das an der Thatsache nichts ändern , dass
er diese Kraft hatte , die ich persönlich empfunden , als Hansen mit mir allein im Zimmer war , und ob ab sichtlich oder unabsichtlich , ist mir unbekannt, denn ich frug ihn nicht – er im Laufe des Gespräches mich fest ansah, Seine Pupillen erweiterten sich unglaublich , ich empfand eine Neigung zum Schlafe, aber wollte nicht, und da ich selbst durch sehr grosse Dosen Chloroform nicht
zur Bewusstlosigkeit gebracht werden kann , so würde das
Experiment mit mir wohl immer nur ein unvollkommenes Resultat haben.
Der Leser möge daher nicht überrascht werden , wenn Experimente misslingen , oder ganz aufhören und durch Betrug Täuschungen veranlasst werden sollten. Das, was Hansen bisher mit so vielen Hunderten, vor so vielen Tau
senden geleistet, genügt vollkommen . Schopenhauer hat
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das scharfe Urtheil ausgesprochen , dass ein Mensch , der die Erscheinungen des Somnambulismus nicht kennt, keinen Anspruch auf Bildung habe, was ich nicht mit unterschrei
ben möchte, doch hat ein solcher gewiss kein Recht, über die menschliche Natur ein Wort mitzureden. Die Herren Bio
logen und Zoologen sind die Adresse, an welche die Worte Schopenhauer's mit vollem Rechte zu leiten sind.
Die Erfahrung lehrt, dass es Menschen gibt, die zeit weise ein solches Fernsehen haben ; dass die Meisten, welche von den indischen Priestern und Derwischen aufgenommen
werden, sich diese Eigenschaft erwerben können ; dass Mag netiseure den Körper vieler Menschen in den Zustand zu versetzen in der Lage sind , um ein solches Fernsehen zu ermöglichen .
Aber noch mehr als alles das !
Das blosse
Herannahen des Todes bringt schon bei sehr Vielen ein solches gleichsam vorgreifendes Schauen zu Tage. Sokrates , Cicero und eine Unzahl Anderer bestätigen das, und mit Recht sagt Schindler , dass daran nur Der zweifeln kann , der Alles als unwahr verwirft, was seine Erklärung überragt. Dass es sich da nicht immer um ein Vorgefühl innerer Zustände, die den Tod nach sich ziehen, handelt, beweisen Bukingham und viele Andere, die eines gewaltsamen Todes starben .
Ein sehr lehrreicher Fall zur physiologischen Begrün dung dieser Erscheinungen ist folgender. Ein Hussar eines österreichischen Cavallerie-Regimentes hängte sich auf, wurde
aber noch rechtzeitig entdeckt, herabgenommen, und dessen Wiederbelebung gelang. Da er nach einiger Zeit ertappt wurde, des Nachts in voller Parade auf den Friedhof ge gangen zu sein , so wurde er von seinen Vorgesetzten ins Gebet genommen , und da ihm zugesichert wurde , dass er keine strafbare Handlung begangen, sondern nur aufrichtig die Ursache seines sonderbaren Handelns angeben möge, so stellte es sich heraus, dass er zum Visionär geworden, was
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er früher nicht war . Er starb schliesslich an Epilepsie. Man sieht , dass die unnatürliche und verlängerte Bewusst losigkeit genügte, den normalen Organismus in einen anor
malen umzustimmen , und dass so wie der Zellenorganis mus vollkommen zu fungiren aufhört, der andere, oder die vierdimensionale Unterlage, wenn auch unvollkommen , zu fungiren beginnt.
Aus allen diesen Thatsachen geht für einen nüchternen und vorurtheilsfreien Verstand die eine Wahrheit hervor, dass wir es da mit keinem Wunder , sondern mit einem physiologischen Vorgange zu thun haben , was Schindler bei seiner Erfahrung als Arzt und gründlicher Kenner der einschlagenden Literatur auch erkannte. Er sagt Seite 139 :
„ Das Fernsehen , von alten Philosophen bis etwa auf Xenophanes und Dicearch geglaubt, als Ahnung durch unzählige Thatsachen bewiesen, als Vorhersagung von Pythagoras, Empe
dokles , Demokrit, Galen , Bernardino , Renzi , Savonarola, Angelo, Cartho , Cardanus , Huss , Cazotte , Swedenborg , die Lenormand,
Frau v. Krüdener und Anderen glücklich geübt, bei Orakeln, Sibyllen und Besessenen in älterer und bei den Somnambulen
in neuerer Zeit wiederholt beobachtet , ist somit ein physio logischer Vorgang , der viel von seinem geheimnissvollen Wesen verliert, wenn wir bedenken, dass alles Geschehende das Resultat einer unendlichen Vergangenheit in nothwendiger Verkettung der
sich gegenseitig bedingenden Kräfte ist , und dass die Zukunft als nothwendiges Postulat schon vorgebildet daliegt; wenn wir bedenken , dass es überhaupt keinen Zufall, weder in dem Ge triebe des Weltalls ; noch im Menschenleben gibt, dass jeder
Zustand und jede That, selbst die scheinbar freie, das noth wendige Resultat einer Kette von Fakten ist , deren inneren
Zusammenhang die Kurzsichtigkeit des Verstandes nur nicht erkennt ; wenn wir bedenken , dass wir noch andere Sinne baben, als unsere fünf, mit denen wir die physikalischen Eigenschaften
der Aussenwelt wahrnehmen , andere , die uns mit dem inneren Leben der Dinge vertraut machen , ohne dass wir es wissen ; wenn wir bedenken , wie das dadurch entstehende Vorgefühl schon bei niederen Thieren auf eine bewunderungswürdige Weise
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ausgebildet ist , also nicht von der Intelligenz ausgeht, ja , wo das Gehirn fehlt, selbst nicht ins Bewusstsein kommen kann ; wenn wir endlich bedenken , dass die Thätigkeit in jenem Pole
unserer Seele nicht an die Kategorien der Zeit und des Raumes geknüpft ist, wie sie das Morgens geschickt an das Gestern, das
Schicksal ferner Zeiten an die Vergangenheit knüpft, die Ent fernung für ihr Denken und Fühlen existirt.“ Wie sich der Sonne Scheinbild in dem Dunstkreis
Malt, eh' sie kommt, so schreiten auch den grossen Geschicken ihre Geister schon voran,
Und in dem Heute wandelt schon das Morgen. Schiller.
Ich kann mich diesen Worten (bis auf das Wort „ Pol" worüber später) nur anschliessen. Was ich vierdimen sionale Raumanschauung innerhalb der menschlichen Erschei nungsform nenne, tauft Schindler ,, das magische Geistes leben “ , und kann der Leser das grosse Material, wenn er es will, dort aufsuchen . Das ausnahmsweise Zutagetreten
dieses innern Sinnes ist nicht mehr zu läugnen ; in früheren Jahrhunderten verwechselte man diese innere Stimme mit
einer äusseren ; ob es nun der Rabe des Wotan, der Adler
des Pythagoras, der Schutzgeist des Sokrates , irgend ein Erzengel oder die Jungfrau Maria war, ist bedeutungslos. Jeder Glaube hatte seine diesbezüglichen Secten : Munis ( Bramanismus ), Derwische, Sufis, Therapeuten, Kabalisten u. S. W.
So manche Schöpfung der Kunst mag dieser Quelle auch
etwas
Seite 220
zu
einige
verdanken haben ; Schindler führt merkwürdige Aeusserungen Raphael's,
Michel Angelo's und Mozart's an . J. C. Fischer führt („das
Bewusstsein “
Seite 77–82) für die unbewusste
Quelle so vieler, und zwar gerade der bedeutenden Leistungen folgende Zeugen an, die wir nur namentlich anführen wollen :
Aeschyl, Plato, Rafael, Michel Angelo , Baco , Diderot, Lessing, Georg Forster, Goethe, Beethoven, Mozart, Haydn, Hellenbach , Vorurtheile. II.
11
L
162
Die Identität der projicirenden Kräfte.
Jean Paul, Lenau, Heine, Carlyl, Gervinus, Grillparzer, Schopenhauer, Jessen, Pecht. Dass es aber dennoch ein physiologischer Process ist, zeigt die Ausbildungsfähigkeit dieser Eigenschaft. Agrippa von Nettesheim entwirft eine Schilderung, die keinen Zweifel lässt, dass er diese Phänomene vielfach beobachtete.
Er
sagt : „ Es ist in jedem Menschen diese Kraft, aber in jedem der verschiedenen Menschen verschieden an Stärke. und wird vermehrt und vermindert an Stärke durch Uebung und Gebrauch. Wer das Alles richtig kennt, kann in seiner
Erkenntniss steigen bis dahin, wo die Kraft seiner Imagi. nation die allgemeine Urkraft, das Naturleben erreicht.“ ... Dann erlangte er eine solche Kraft, dass er durch grosse Zwischenräume und Entfernungen und vieles das Maass Ueberschreitende thun könne. Genau so lautet die Aussage der indischen Weisen , und dass Krankheit diesen inneren
Sinn ebenfalls manchmal hervortreten lässt, ist constatirt . Schindler hält es für wahrscheinlich , dass jeder Tages sinn sein Supplement habe , doch davon in einem anderen Capitel. Ein weiterer Umstand , der für einen physiologischen Zusammenhang spricht, ist, dass nach meinen Erfahrungen
die Entwässerung des Zellensystems von günstigem Ein flusse ist. Feuchtes Wetter, verstopfte Poren, Schnupfen sind hinderlich ; die Vorbereitungen in Indien Só weit beginnen mit einer
ich etwas davon erfahren konnte
haarsträubenden Hungerkur ; alle Derwische und Fakirs sollen mager sein , die wenigen, die ich gesehen, waren es auch ; eine Frau, die sehr leicht und interessant unbewusste Gedanken niederschrieb , verlor bei zunehmender Fettleibig. keit beide Eigenschaften , und versicherte, dass es ihr peinlich Da dieses Stande kommt
sei .
-
Schreiben
durch
eine
sie entstehe wie immer
Innervation
zu
ist das sehr
begreiflich. Ich könnte mit Bestimmtheit behaupten, dass
163
Die Identität der projicirenden Kräfte.
z. B. Agrippa mager war, wenigstens zu jener Zeit, als er solche Eigenschaften hatte, und ich glaube nicht, dass irgend welche Phantasie sich Faust fettleibig darstellen dürfte. Magerkeit ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, sondern Trockenheit, grösseres specifisches Gewicht. Die Fähigkeit Hansen's und analoger Naturen ist noch in ein solches Dunkel gehüllt , dass man gar keine Anhaltspunkte zu ihrer Erklärung gewinnen kann ; ein Ich glaube nicht , dass Hansens Kenntniss aller der verschiedenen
stützendes Moment ist die Thatsache doch .
Seh- , Gehör- , Ganglien- , Muskel- und Knochen - Zellen hat ; doch würde das auch nichts helfen . Er will , und das genügt , um in der Ferne zu wirken. Wenn wir etwas greifen wollen , so geben wir uns auch weiter
keine Rechenschaft über die Vorgänge in unserem Körper ---es geschieht , aber es ist keine sogenannte Fernwirkung.
Das Durchleuchten der magischen oder vierdimensionalen Natur im Menschen hat sich bis jetzt zumeist auf das
Fernwahrnehmen bezogen, bei Hansen ist es ein Fern wirken. Es ist eine merkwürdige Erscheinung , dass er partiell einen Finger, die Hand, den Fuss, das Gehör, die
Zunge oder auch den ganzen Körper und das Bewusstsein
la bmlegen oder versteifen kann. Die Experimente Hansen's drängen ebenfalls zu der Anschauung hin , dass hinter unseren normalen Functionen immer noch eine Fähigkeit analoger
Natur schlummert, die bei einzelnen Organisationen durch bricht , und sich dann durch Ueberwindung räumlicher Schwierigkeiten auszeichnet , die uns nur im Wege einer anderen Raumdimension wenigstens begreiflich und denk bar wird.
Der Leser wolle mir nunmehr mit Aufmerksamkeit folgen : Wie unser bewusstes, durch den Organismus ver mitteltes Leben einschlummert , und das unbewusste an
Intensität gewinnt , so treten Erscheinungen zu Tage, die 11 *
164
Die Identität der projicirenden Kräfte .
bei sehr grosser Steigerung nur im Wege einer vierten Raum dimension erklärbar werden. Und umgekehrt, wie die vier dimensionale Wesensreihe sich organischer Materie bemächtigt, so kann sie Organe projiciren, die ganz und gar die unseren sind - nur dass sie nicht aus lebenden Zellen bestehen ! Kann es einen stärkeren Beweis für die Identität beider Wesensreihen geben ?
Können wir Menschen nach allen diesen Erfahrungen etwas Anderes sein, als eine Erscheinungsform mit einem fictiven eingeschränkten Bewusstsein, durch welches ein und dasselbe Subject nur eine neue Person wird, wie das schon Kant hinstellte ?
3. Die Identität der Sprache. Nach der gewiss richtigen Auffassung Kant's würde jede Einwirkung auf uns nur die Veranlassung sein, Bilder hervorzurufen, die unserem Bewusstsein gegeben sind. Das Schreiben
wenn
auch fremder Gedanken
durch
menschliche Hand kann daher ganz gut als irgend eine
Uebertragung in unsere Begriffe und Sprache betrachtet werden ; nicht so ist es aber, wenn eine Schrift nicht durch menschliche Hand erfolgt, also von einer Uebertragung nicht die Rede sein kann .
Ein kräftig stützender Moment für die Identität wäre daher
die directe Schrift. Wir wollen das „ Mene Tekel Upharsin “ der alten Zeit übergehen; denn die Gegenwart ist ganz voll davon, wie auf Seite 311 bei Schindler zu finden ist. In neuerer
Zeit wurde die directe Schrift von Güldenstubbe behauptet, der sie sehr oft unter den grössten Garantien erhielt. In
neuester Zeit aber gelang dieses Experiment wiederholt unter solchen Bedingungen , die jeden Betrug und jede Sinnestäuschung ausschliessen .
Wenn in meinem Zimmer
init meinen Tafeln theils im verschlossenen Raume , theils
Die Identität der projicirenden Kräfte.
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frei in der Luft , theils in fremden verschiedenen Händen von verschiedenen Zuschauern hörbar und in verschiedenen
Sprachen geschrieben wird, so kann dies nur durch jemand geschehen, der unter Menschen gelebt hat und sich auf der Höhe des menschlichen Intellects befindet, denn ganz fremd artige Wesen könnten es noch weniger, als unsere Hunde
und Katzen erlernen . Die menschliche Sprache fordert eine menschliche Existenz .
Wir sind also abermals dahin gelangt, dass entweder
Slade und die ihm analogen Naturen unsichtbare Organe projiciren können , oder irgend eine andere Wesensreihe es vermag. Es bedarf eben keines besonderen Verstandes, um einzusehen , dass dies auf eins herauskommt.
Hat Slade
eine solche Projectionskraft , ein solches Schema in sich, nun so ist die aus Zellen zusammengesetzte Hand nur eine Erscheinungsform einer anderen Hand . Damit hört aber jede Schwierigkeit auf, die Existenz einer anderen Wesens reihe anzunehmen .
Es wird dies um so wahrscheinlicher,
als die Schriften in den verschiedensten Sprachen vorkommen, in deren Besitz die sie Vermittelnden in manchen Fällen
zuverlässig nicht sind. Es gibt unter uns Menschen, welche diese eigenthüm
liche Organisation in einem allerdings viel geringeren Grade als Slade besitzen ; in den Händen dieser kann die Schrift
allerdings im Beisein eines Slade – auch bewerkstelligt werden , und ist auch wiederholt bewerkstelligt worden (Grossfürst Constantin ) ; in diesen Fällen ist also jede mög. liche Manipulation Slade's ausgeschlossen. Wer in diesen Dingen Erfahrungen hat, erkennt diese Naturen sehr bald, wie folgender Fall nachweist. Zöllner hatte die Freund lichkeit, mir einige Bürstenabzüge des zweiten Bandes noch
während der Drucklegung zu geben. Als ich sie gelesen, machte ich ihn darauf aufmerksam , dass unter den Leipziger
Herren einer sich selbst zum Medium qualificire und aus
166
Die Identität der projicirenden Kräfte.
bildungsfähig wäre. Ich erkannte dies nur aus dem Berichte.
Zöllner bestätigte mir sofort , dass sich das bewahrheitet hätte, und der Betreffende sich darum von den Experimenten zurückzöge, weil ihm eine derartige Eigenschaft nicht zusagt und wünschenswerth erscheine.
Schon daraus könnte der
Leser schliessen , dass wir da nicht auf dem Boden des Uebernatürlichen und Wunderbaren stehen, sondern auf rein
physikalischem Boden, der uns aber zufolge der Seltenheit dieser Thatsachen und zufolge der von der Wissenschaft uns eingeimpften Vorurtheile noch fremd ist.
Was für Consequenzen lassen sich aber aus diesen Thatsachen ziehen ? – Wenn der Bewohner eines anderen
Planeten auf die Erde eine Kugel werfen könnte, in welcher ein Brief in unserer Sprache eingeschlossen wäre, so würde wohl Jeder den Schluss ziehen, dass der Schreiber unseren Planeten einmal bewohnt haben müsse , und gewiss nicht annehmen , dass unsere Begriffe und Sprachen sich auf einem anderen Planeten identisch entwickelt haben.
Dass
Slade alle Sprachen spricht , die bei ihm zum Vorschein kommen, ist um so weniger anzunehmen, als es zu Zeiten der Hexenprocesse und Besessenen so gut wie jetzt eine ganz sichergestellte Thatsache ist , das Menschen in der
Ekstase in fremden, ihnen unbekannten Sprachen schrieben und sprachen – es mögen die Herren Naturforscher über diese für ihre vorlaute Bürgschaft so unbequeme Thatsache die Nase rümpfen und die Hände ringen, so viel sie wollen. Man kann nun allerdings diese Fähigkeit auf die betreffende Person zurückschieben und jeden fremden Einfluss ablehnen; doch kann man das nur, wenn man Voraussetzungen über das innere Wesen des Menschen macht, denen zufolge das Agens im Menschen schon früher war , daher auch später sein wird, daher gerade das, was man bekämpfen will, zur Nothwendigkeit wird.
Die Identität der projicirenden Kräfte .
167
Die Identität der Schrift, Sprache und Begriffe ist
Thatsache; es wird sogar von Manchen die Identität des Schrift -Charakters von bestimmten Verstorbenen behauptet ; ich erhielt selbst (nicht direct) dreimal solche Unterschriften, jedoch waren zwei davon so bekannten Persönlichkeiten angehörig, dass der Schreibende ein Facsimile bewusst oder unbewusst schreiben konnte. Das drittemal erhielt ich aller
dings eine überraschende Unterschrift, die dem Schreibenden ganz unbekannt war, was aber durch ein Fernsehen immer
hin auch erklärt werden könnte, daher nichts beweist. Nur
die directe, durch keine menschliche Hand vermittelte Schrift kann als ein schwerwiegendes Argument betrachtet werden. Es ist hier der Ort , eine andere sonderbare Erschei
nung zur Sprache zu bringen. Sowohl die mystischen Bücher, als Schriften der Somnambulen, sowohl die directe als indirecte Schrift enthält Schriftzeichen , die uns fremd sind und unter sich eine gewisse Analogie haben . Der Charakter derselben lässt auf eine Zeichen- und nicht Buch
stabenschrift schliessen, so wie sie die Chinesen und Japa nesen haben , die bekanntlich miteinander nicht sprechen , sich aber schreiben können , wie mir Baron Hübner , der
diese Länder bereiste , selbst als Augenzeuge bestätigte. Diese Schrift hat eine auffallende Aehnlichkeit mit unserer
Stenographie , z. B. das Zeichen, welches wir in Oester reich wenigstens für die Sylbe keit und heit haben. Eine
solche Begriffs-Schrift und Sprache, die in unvollkommener Weise in China existirt, ist selbst für uns denkbar , und
wurde sie von Fourier auch prognosticirt; für jene Wesens reihe liegt die Wahrscheinlichkeit derselben auf der Hand .
Uebergehen wir nun zu den Einwürfen , die der Leser aller Wahrscheinlichkeit nach der Identität jener Wesens reihe mit uns selbst machen dürfte.
Die Identität der projicirenden Kräfte.
168
4.
Einwürfe .
Man könnte ein wenden , dass wenn die Existenz dieser
Wesensreihe und ihre Identität mit den in uns projicirenden und fungirenden Kräften eine Wahrheit wäre, diese Wesen, welche in Bezug auf Natur und Welt im Klaren sein und überdies
noch
ein
Interesse für Hinterbliebene
haben
müssten , um so sicherer , häufiger und kräftiger in unsere Geschicke eingreifen würden, nicht aber auf solche kindische Weise , wenn wir es wirklich mit ,, Verstorbenen" zu thun hätten .
Wir haben bereits auf Seite 98 diesen gegen die Existenz einer anderen Wesensreihe gerichteten Einwurf
beantwortet; was aber die gegen die Identität gerichtete Spitze anbelangt, so müssen wir die obige Antwort ergänzen.
Diejenigen, die so etwas behaupten, haben eine ganz unrich tige und eigentlich unmögliche Vorstellung von diesen Wesen. Diese Wesen, falls sie mit uns identisch sein sollen, müssen
genau denselben Charakter, dieselben Fähigkeiten und Launen haben, wie sie sie immer hatten, wenn auch modificirt durch die Verschiedenheit der Naturbetrachtung und den Mangel
unserer Sinne und Empfindungen. Wer kein Interesse für Astronomie hat , und keine einschlagenden Kenntnisse besitzt, kann sie durch den Tod gewiss nicht erwerben , und muss sich selbe verschaffen. Wer sie aber besitzt, wird die
Sternenwelt nur von einem anderen Gesichtspunkte be trachten. Die Sache liegt vielleicht gerade umgekehrt; der etwa schon früher erworbene Charakter und Vorrath an
Kenntnissen kommt im biologischen Process zum Ausdrucke, und äussert sich als menschlicher Charakter und als ange borenes Talent .
Es muss nothwendig unter den Existenzen ausser halb des biologischen Processes einen grossen Haufen mittel mässiger und unbedeutender Wesen und sehr wenige hoch
Die Identität der projicirenden Kräfte.
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entwickelte Wesen geben, gerade so wie hier ; falls sie die selben sind.
Darum muss es hüben und drüben so ver
schiedene Ansichten geben , je nach dem Standpunkte und dem Entwickelungsgrade. Die weitaus grösste Zahl dieser Wesen kann nicht helfen , selbst wenn sie wollte ; und sie
will meistens nicht , weil der grösste Theil unserer Leiden uns sehr gesund ist , ohne welche unsere Entwickelung gar nicht möglich wäre. Doch nicht nur das allein , sondern unsere Gleichgültigkeit, unser Unglaube machen eine innigere
Relation bei fast Allen ganz unmöglich . Das Band , was uns mit jener Wesenreihe knüpfen kann , ist einzig und allein der Wille , die Liebe und der Gedanke ; haben
die Menschen in der Regel die Gewohnheit und Intensität eines solchen Willens ? Derjenige, der sie besitzt und keine kindischen Zwecke verfolgt, steht vielleicht wirklich unter
ihrem Schutz und Einfluss; Sokrates, Keppler und so viele intelligente Menschen haben so etwas behauptet und ehrlich
geglaubt. Es ist selbstverständlich , dass diese möglichen
Einwirkungen nicht so fühlbarer Natur sein müssen oder auch nur sein können , wie bei uns , wenn wir jemand um Hilfe oder Rath bitten. Wir gehen oft mit einem bestimmten Gedanken im Kopfe herum, irgend welche Ereignisse oder Persönlichkeiten, die uns zufällig in den Wurf kommen, und mit unserer Idee in gar keinem Zusammenhange stehen, nehmen oft einen entscheidenden Einfluss auf Modification dieser Idee, und beeinflussen oft entscheidend unsere Thätig
keit und unseren ganzen Lebenslauf. Das Fatidike in unserer Existenz ist schon vielen Denkern aufgefallen ; auch haben wir eclatante Beweise von unbegreiflichen Ahnungen und Warnungen der merkwürdigsten Art in der alten und neueren
Zeit häufig erhalten . Wer kann eine bessere Lösung dieser Räthsel geben, als es meine Hypothese ist ?
Ich bin gern
bereit , mich ihr anzuschliessen , falls sie etwas taugt , die Thatsachen aber einfach läugnen , genügt wahrlich nicht.
170
Die Identität der projicirenden Kräfte .
Wenn die Fürsten, Minister und Volksvertreter ihren egoisti
schen Ambitionen, die Capitalisten den Millionen, die rohen Masden den thierischen Trieben nachjagen , muss das in einer Wesenreihe, welche die Nichtigkeit dieser Bestrebungen durchblickt, nicht Ekel und Unwillen hervorrufen ? Unser irdisches Schicksal kann in den Augen jener Wesen keine grössere Bedeutung haben , als bei uns ein lieblicher oder
schrecklicher Traum, der uns beglückt oder quält. Was die Einwendung anbelangt, warum diese Wesen erst der Intervention eines Slade und Consorten nothwendig haben sollten, so ist die Beantwortung dieser Frage nicht so einfach, und gehört eigentlich in ein späteres Capitel; weil es aber von Wichtigkeit ist , alle wesentlicheren Bedenken des Lesers zu beheben , bevor ich weiter baue, so muss ich mich auf
die Beantwortung der Frage, wenigstens in Kürze, durch ein Gleichniss einlassen.
(Ist auch Seite 101 berührt.)
Es gibt zweierlei Blumen , künstliche und natürliche. Für die ersteren brauche ich Stoffe, Material, für die zweiten brauche ich Zellen und die diesen nothwendigen Existenz
bedingungen , zu welchen auch die nothwendige Zeit in unserem Sinne gerechnet werden muss. Zur Organprojection bedarf es also überhaupt einer organischen Substanz, Ist die Projection eine künstliche , nur flüchtige, so bedarf es weiter nichts , als dieser organischen Substanz und der projicirenden Kraft. Soll die Projection aber eine aus Zellen
bestehende sein , so bedarf es eben der geeigneten Zellen, der entsprechenden Entwickelungs - Bedingungen und der Zeit. Das ist der Unterschied zwischen den von mir so oft
empfundenen fremdartigen, unbekannten und unseren eigenen bekannten Händen.
Nun gibt es auch in der Natur harte
und weiche, steife und dehnbare Körper. Ich kann auf eine Marmorplatte keinen Eindruck hei vorbringen, einen hölzer nen Stab nicht ausdehnen , während Kautschuk sich nicht
nur eindrücken, sondern auch auseinanderziehen lässt. Die
Die Identität der projicirenden Kräfte.
171
Möglichkeit, auf unseren Organismus einzuwirken , muss nothwendig eine verschiedene sein , und noch seltener muss die Disposition sein , ihm etwas entnehmen zu kön nen. Dass aber darin eine grosse Verschiedenheit herrscht, geht schon aus dem Umstande hervor , dass die Peripherie innerhalb welcher eine mechanische Thätigkeit beobachtet wird , bei den verschiedenen Medien eine verschiedene und genau bestimmte ist ; auch ist bemerkenswerth , dass die Rückwirkung auf den Organismus eine verschiedene ist, indem bei Vielen Bewusstlosigkeit erfolgt, und in diesem Stadium treten gewöhnlich die auffallendsten Phänomene ein. 5. Zusammenfassung .
Die Existenz anderer Wesenreihen ist festgestellt, und haben wir Eigenschaften an ihnen entdeckt, welche auf eine vierte Raumdimension schliessen lassen.
Wir haben ferner
gefunden , dass sie uns analoge Organe projiciren können, und sich in unserer Sprache auszudrücken vermögen (nach amerikanischen und englischen Berichten geht die Projection so weit, dass sie sie sprechen). Wir haben ferner gefunden, dass bei Erschlaffung des bewussten Lebens innerhalb der menschlichen Natur obige Erscheinungen nämlich eine vierdimensionale Thätigkeit und das Sprechen fremder Sprachen - in der ganzen Welt und zu allen Zeiten beobachtet wurden.
Wir wissen aus dem Studium der Naturwissenschaften,
dass die morphologische Projection unserer Organe aus Zellen ein unerklärtes Räthsel ist, wie nicht minder die Entstehung unseres Bewusstseins. Das Subject unseres Selbstbewusstseins
hat noch niemand gefunden, wenngleich dessen Vorhanden sein eine Nothwendigkeit ist ; daher auch die Substitution eines metaphysischen Individualismus oder Monismus der Philosophen für dieses Subject. (Leibniz, Herbart, Schopen hauer, Hartmann.) Aus allen diesen Prämissen ergibt sich
172
Die Identität der projicirenden Kräfte .
mit Nothwendigkeit die Identität des menschlichen Sub jects mit jener Wesensreihe. Ist aber die Identität dieser Wesensreihe mit uns eine Wahrheit was sie zuverlässig so haben wir also nicht zwei verschiedene Wesens.
ist
reihen vor uns , sondern eine Wesensreihe in zwei
verschiedenen Erscheinungsformen ; die uns be kannte unterscheidet sich von jener nur dadurch , dass die Organprojection und mit ihr die Vorstellungsweise aus lebendigen Zellen erfolgt, die eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt und jenes Traumleben hervorruft und ermöglicht,
das wir das menschliche Dasein nennen ; dieses ist die Ausnahme, jenes die Regel. Diese Ansicht steht aber auch mit der Entwickelung der Himmelskörper in dem vo!lkommensten Einklang. Die Existenz der uns bekannten Eiweissgeschöpfe , zu
denen wir selbst zählen , ist auf einem Himmelskörper nur in einer bestimmten Periode möglich , welche Periode eine sehr kurze Zeit dauert im Vergleiche zu der individuellen
Existenz desselben als Himmelskörper , die selbst nur eine kurze Episode der Existenz als Materie überhaupt bildet. Wie lange mag es gedauert haben, bis sich die Nebelmasse verdichtete, um Planeten abschleudern zu können ; wie lange mag es gedauert haben , bis sich die Planeten so weit ab.
kühlten, um organische Wesen unserer Art hervorbringen zu können , und welche Zeiträume mögen nicht vergehen , bis die Erde nachdem sie schon lange kein organisches Leben von Eiweissgeschöpfen gewähren kann – berstet und in Trümmern der Sonne zustürzt ! Unser eigenes Sonnen sytem bietet uns die Beispiele von zur Eiweiss - Existenz
noch nicht und nicht mehr tauglichen Himmelskörpern. So wie sich nun der sogenannte biologische Process auf eine kurze Spanne Zeit beschränkt, so beschränkt er sich auch
auf einen unendlich kleinen Raum, auf die Peripherie kleiner, winziger Körper. Der geeignete Zustand eines Himmels
Die Identität der projicirenden Kräfte.
173
körpers für den uns bekannten biologischen Process ist also in Bezug auf Raum und Zeit vergleichsweise ebenfalls ein Ausnahmszustand , wenn er auch Millionen Jahre dauert.
Es mag in diesen Gründen das Drängen in den biologischen Process seine Aufklärung finden . Bevor wir aber weiterschreiten , will ich die Be hauptung rechtfertigen, dass Kant auch diese Fragen , wie so viele, richtig löste. Kant hielt unseren dreidimensionalen
Raum für eine Vorstellungsform ; er erkannte die Möglich keit einer vierten Raumdimension, und auf Grundlage dieser die Möglichkeit, selbst Wahrscheinlichkeit anderer Welten ; er unterschied zwischen Subject und Persönlichkeit unseres
Bewusstseins; er sagte voraus , dass es noch einmal werde bewiesen werden , dass wir eine Republik mit anderen Wesen ausmachen, deren Einwirkungen Bilder in
uns erzeugen , und dass wir uns dessen nicht bewusst sind, so lange Alles wohl steht - was ganz natürlich ist, denn der Zweck unseres Organismus ist die Herstellung jener Persönlichkeit, welcher Zweck in dem Masse weniger erreicht
wird, als das tiefer liegende Subject unabhängiger fungirt. Mit einem Worte, Kant ist auf der ganzen Linie im Rechte ! In der weiteren Folge werden wir sehen, dass er ebenfalls mit vollem Rechte behauptete, dass nicht einmal ein Gras Dass es gebildete Menschen geben konnte , die das nur einen Augenblick wird für unsere Nachkommen ganz und gar bezweifeln halm ohne Absicht werden könne.
unbegreiflich sein ! Der Leser wird zugestehen müssen , dass die Gründe, welche für die Identität dieser Wesen
mit uns selbst
sprechen, zwingender Natur sind, und dass diese Hypothesen sich sehr gut auf die Natur anwenden lassen. Eine vor urtheilsfreie Naturbetrachtung und alle diese Experimente geben uns nur die Gewissheit , dass der menschliche Leib
und das mit demselben verknüpfte vorgestellte „ Ich
nur
174
Die Identität der projicirenden Kräfte.
eine Erscheinungsform der Seele sei , welche die Fähigkeit nicht verliert , menschliche Organe zu schaffen , und in menschlichen Begriffen zu denken.
Ueber die Natur der Seele und den eigentlichen Zusammenhang dieser zwei so verschiedenen Lebensformen erfahren wir aber dadurch noch nichts.
Die Identität
ist gewiss , wie aber wird sie möglich ? Wenn wir die Antwort auf diese Frage suchen , so
stossen wir auf einen alten Glauben , der sein Entstehen nicht dem Experimentiren , nicht richtigen Schlüssen und dem Wissen sein Dasein verdankte, sondern jenem unbe wussten richtigen Ahnen, der aber demzufolge auch vielfach missverstanden und verzerrt wurde.
VII. Capitel.
Der Eintritt in den biologischen Process. Er findet sich in einem ew'gen Glanze, Uns hat er in die Finsterniss gebracht,
Und Euch taugt einzig Tag und Nacht. Goethe.
1. Die Palingenesis als unvermeidliches Postulat der
Entwicklungs-Theorie und jedes individualistischen Systems. Wir haben bis jetzt nur niedergerissen , und nichts geschaffen. Wir haben gesehen , wie sehr die Menschheit gefehlt , sich in blindem Vertrauen auf den göttlichen Ur sprung ganz natürlicher Erscheinungen der Herrschaft der Priester zu überantworten ; wir haben auch gesehen , auf was für einen gefährlichen Boden uns die moderne Natur
wissenschaft geführt, indem sie der Menschheit den Glauben an eine transcendente Weltunterlage raubte. Das eine Extrem musste nothwendig in das andere führen, aber nunmehr ist es an der Zeit, den Ausgleich dieser Gegensetze zu suchen, und ist es klar , dass der Pendel der Entwicklung wieder
auf die andere Seite, von welcher er ausgegangen , schwingen wird. Er wird aber nicht zu dem alten Glauben und Aber
glauben führen, sondern nur das Vertrauen auf eine bessere Zukunft wieder herstellen .
Das neue Gebäude wird auf
sicherer Grundlage ruhen , wenn es auch noch nicht ganz
176
Der Eintritt in den biologischen Process.
ausgebaut werden kann, bis nicht der Pendel abermals die
rückläufige Bewegung durch systematische Ausnützung einer umfassenden Erfahrung antreten wird. Die Zahl der Bau steine ist gegenwärtig noch eine geringe. Wollen wir einen Blick auf unser Baumaterial werfen .
Die Erfahrung lehrt uns , dass unserem „ Ich“ irgend ein transcendentes Subject zu Grunde liegt, was unter Um ständen unser Vorstellungs- und Wahrnehmungs-Vermögen durchleuchtet.
Dieses ist
also
kein reines Product des
Leibes , wie das ein grosser Theil der Naturforscher be hauptet, weil er Seele und Bewusstsein verwechselt. Es
geht dies nirgends so deutlich hervor, als in der Argumen tation von Lamettrie , welche Lange in seiner Ideali
sirung des Materialismus ganz erbaulich citirt. Er sagt : „ Man nehme an , dass in einem schwach beleuchteten unter
irdischen Gemach , von welchem jeder Schall und Sinnes Eindruck ferngehalten wird , ein neugeborenes Kind von einer nackten und immer schweigenden Amme nothdürftig gepflegt und so ohne irgend eine Kenntniss der Welt und
des Menschenlebens grossgezogen werde, bis zum Alter von 20, 30 oder gar 40 Jahren. Dann erst soll dieser Mensch seine Einsamkeit verlassen. Man frage ihn nun, was er in
seiner Einsamkeit gedacht und wie er bis dahin genährt und erzogen worden sei. Er wird nichts antworten ; und nicht einmal wissen , dass die an ihn gerichteten Worte etwas zu bedeuten haben. Wo ist nun jener unsterbliche
Theil der Gottheit ? Wo ist die Seele, die so gelehrt und aufgeklärt in den Körper eindringt ? " So der Auszug Lange's aus Lamettrie, der seinerseits im Auszug nur
wiedergiebt, was Arnobius schon ausgedacht. Nun citirt Lange die Antwort Lamettrie's : „Keine Sinne, keine Ideen ;
wenig Sinne , wenig Ideen ; wenig Erziehung, wenig Ideen ; keine Sinneseindrücke, keine Ideen – also hängt die Seele
wesentlich von den Organen des Leibes ab, mit welchen sie
Der Eintritt in den biologischen Process.
177
sich bildet, wächst, abnimmt ; ergo participem leti quoque convenit esse. “
Ich dächte, dass von den Organen nur das Bewusstsein,
die Ausbildung des „ Ich “, nicht aber die Seele abhänge. Weil der für Eindrücke organisirte Mechanismus zufällig keine Eindrücke empfängt, so folgt doch nicht daraus, dass sich der Mechanismus selbst zusammensetzt. Wir brauchen uns
nicht in eine Auseinandersetzung mit Autoren einzulassen, denen es gleichgiltig ist, wie sie etwas beweisen, sondern denen es nur darum zu thun ist , eine in ihnen schon feststehende Anschauung zu stützen, wie es eben geht. Sie
machen es wie ein Richter , der die eine Partei auf jeden Fall verurtheilen will, und dann nur die Motive herholt, wo er sie eben findet.
Wir wissen mit Bestimmtheit , dass in uns etwas fungirt, und in einer Weise manchmal fungirt oder vielmehr ausnahmsweise fungiren kann , dass es nothwendig früher
dagewesen sein musste , als der Organismus. Die durch brechende vierdimensionale Anschauung kann nicht in und durch Samenthierchen in uns und neben dem dreidimen
sionalen Bewusstsein und Dasein herangebildet werden und bestehen ; die Seele muss sie gehabt haben , und hat sie immer , nur das dreidimensionale Traum
leben hat die Seele ohne menschlichen Orga nismus nicht. Leibniz , Herbart und alle Individualisten haben - wenn auch in unrichtiger Form – eine Menschwerdung, aber nicht Mensch - Entstehung angenommen . Wir wissen
durch Erfahrung , dass die Seele des Menschen war und sein wird , und unser menschliches Dasein nur eine Er scheinungsform der Seele ist, die mit Hülfe von lebenden Zellen einen Organismus schafft, der durch ein Bewusstsein als eine entstehende und vergängliche Persönlichkeit denkt,
fühlt, empfindet. Das ergibt sich mit Nothwendigkeit aus, Hellenbach , Vorurtheile. II.
12
178
Der Eintritt in den biologischen Process.
den vorigen Capiteln. Die Seele bringt durch die Ent wickelung das menschliche Dasein zu Stande, und das ihr bereits sichergestellt nicht als Monade , nicht als unmittelbare Emanation des ,,Willens" oder des Unbewuss ten “ . Nun entsteht aber die schwerwiegende Frage, sollte sie das , was sie einmal gethan , nicht öfter thun ? Wohl die meisten meiner Leser werden darauf ant.
worten : „ Das ist ja sehr einfach , frage diese Wesen , wenn sie existiren und Du mit ihnen zu verkehren Gelegenheit
hast, kann die Antwort nicht fehlen ; sie sind competent !“ Ich
muss
vor Allem bemerken , dass ich nicht zu
jenen Organisationen gehöre, welche irgend welchen unmittel baren Contact mit jener Wesensreihe derart bewerkstelligen
können , dass er für mich in irgend einer Weise fühlbar werden könnte .
Wenn man aber auf das Resultat solcher
Belehrungen blickt , so ist das wahrlich nicht einladend. Aus der heiligen Schrift, den Büchern eines Swedenborg, Böhme , Davis , Cabagnet u. . w. wird man Kos
mogonie nicht lernen , sondern , wenn man überhaupt die Geduld hat, das zu lesen, Widersprüche finden und sich
nur die Ueberzeugung schaffen , dass dieser Weg genau dorthin führt, wohin Propheten und Spiritisten gelangt sind. Die Frage wurde übrigens von Vielen bereits gestellt, und die Folge war, dass sich die Spiritisten, so wie die Mensch heit in Secten , in zwei Hauptlager theilen , genau wie
der Buddhismus und das Christenthum ; die Einen glauben an einen Wiedereintritt , die Anderen nicht. Es wird uns später klar werden , dass die Antworten verschieden klingen müssen, schon je nach der Persönlichkeit, welche
die Frage stellt, und offenbar auch je nach dem Wesen, das - eventuell angenommen
sie beantwortet.
Mir
persönlich wäre es immerhin erlaubt , je nach Umständen und Inhalt , irgend eine Antwort für richtig zu halten,
komme sie von wo und wie immer ; aber dem Schriftsteller
179
Der Eintritt in den biologischen Process.
ist es nicht erlaubt, auf eine solche Antwort hin etwas
aufzubauen, denn ich bin kein Prophet, kein Spiritist, kein Religionsstifter.
Mein Vertrauen , mein Geld kann ich
einem schlechten Zahler borgen, nicht aber fremdes. Alles,
was ich bis jetzt dem Leser geboten, war ein nothwendiges Ergebniss der sichergestellten Erfahrung und des unbe. fangenen Urtheils; das soll auch weiter der Fall sein ; wir werden die Frage ohne diese zweifelhaften Orakel beantworten. Jeder Glaube auf Autorität hin muss ausgeschlossen bleiben,
zumal wenn die Autoritäten ganz verschieden aussagen. Hartmann sagt in seiner Bekämpfung der Bahnsen schen Philosophie , „ dass die Seelenwanderung die unaus
weichliche Consequenz jeder individualistischen Anschauung sei“.
Das hat seine Richtigkeit. Nachdem nun die indivi
dualistische Anschauung eine nicht mehr abzulehnende Auf fassung ist , so ist ein Wiedereintritt in das menschliche Dasein - wohl in den meisten Fällen - unzweifelhaft. Doch
wir werden die Frage von einer ganz anderen Seite packen. Wenn der Eintritt in den biologischen Process einen Entwickelungswerth haben soll, so kann der Wiedereintritt nur dann aufhören, wenn dieser Entwickelungswerth erreicht ist. Wer wollte aber bei so vielen Hemmnissen der ver schiedensten Art annehmen , dass dieser Werth in einem Leben bei Allen oder auch nur Vielen erreicht wird ?
Das Princip der Palingenesis oder Seelenwanderung liegt schon in der Evolutions - Theorie der Naturwissenschaft; nur das Vorurtheil unseres materialistischen Zeitalters konnte eine
solche Monstruosität verschulden, dass man an eine teleologisch fungirende Ablagerung unserer Anpassung in jede Keimzelle glauben, und das für genügend halten konnte. Diese Ab surdität dürfte wohl die Hauptveranlassung gewesen sein
für das Entstehen der Schopenhauer'schen Philosophie. Schopenhauer erkannte die Nothwendigkeit einer ver . anlassenden Ursache für den Bildungstrieb, und machte die 12 *
Der Eintritt in den biologischen Process.
180
phänomenale Welt zur unmittelbaren Objectivation eines metaphysischen Willens. Das war kurz, aber nicht gut.
Die Biologen liefern uns die Bedingungen der organischen Entwickelung, sie weisen auf die Gewalt der Relationen hin, die zur Anpassung zwingen, aber die eigent liche vis motrix, dasjenige, was anpasst, das fehlt. Da zeigen sich unter den Menschen Organisationen, die ohne Augen sehen, ohne Ohren hören, Sprachen sprechen und schreiben , die sie nicht kennen , die also offenbar in
sich etwas haben müssen, was unabhängig von der Eiweiss verbindung des älterlichen Keim -Protoplasmas sein muss. Endlich treten Wesen mit uns in einen Contact, denen wir Intelligenz, eine höhere Raumdimension, Kenntniss unserer Begriffe und, formell wenigstens, gleiche Organe zuerkennen müssen .
Welche andere Brücke wollen wir da schlagen,
als dass unsere ganze Vorstellungsform nichts Anderes sei, denn eine bestimmte Form der Anschauung eines
von dieser Form ansonst unabhängigen Wesens ? Was soil das Leben dann Anderes sein, als ein Traum, aus dem wir
Dass die Seele mit dem Körper entstehen und dann als Geist ewig leben soll , ist ein Unsinn , dass aber Lebewesen in den biologischen Process eintreten, und
erwachen ?
selbst wiederholt " eintreten , lässt sich denken und recht fertigen.
Wer sich der Naturbetrachtung ernstlich hingibt, dem stellt sie sich als das Product einer Entwickelung dar, was Heraklit bereits erkannte, und was nunmehr durch die
Naturwissenschaften znr nachweisbaren Gewissheit geworden
ist. Eine ganz merkwürdige Rolle spielt da die Capitali sirung der organischen und anorganischen Kräfte , der Bewegung. Auch bei den Himmelskörpern sind Bewegung und Wärme die wesentlichen Factoren, die ineinander umge
setzt werden und gleichsam Capital bilden. Diese Capitals bildung zeigt sich auch in der Hervorbringung der Erd
Der Eintritt in den biologischen Process.
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kruste; die organische Entwickelung ruht vollends auf der ,,Anpassung und Vererbung"; unsere socielle und industrielle Entwickelung ganz analog auf der freien Concurrenz und der Capitalsbildung, die Erfindungen , die zunehmende Ge
schicklichkeit, die Kraft der vermehrten Capitalien , alles das wirkt zusammen, um den Fortschritt zu beschleunigen und sicherzustellen . Nicht anders ist es mit den Wissen schaften , und wahrlich wird es auch nicht anders mit dem eigentlichen Lebensfactor, der Seele, sein. Das wäre von vornherein zu vermuthen. Die den Organismus ausbauende
Seele, diese unbekannte Grösse, dieses xy, muss sich diese Fähigkeit im Wege der Anpassung und Capitalsbildung ebenso erworben haben , wie jeder andere Factor in der Entwickelung.
Die Erscheinungen an den anormalen Organisationen müssen daher durchaus nicht als Quelle für eine solche Weltanschauung betrachtet werden ; sie krönen nur das Gebäude und machen das zur Gewissheit, was eine unbe
fangene Naturbetrachtung als das Höchstwahrscheinliche erkennt.
Ich kann den Leser keinen deutlicheren Beweis
dafür erbringen, als dass ich ihm meinen eigenen Ideengang darlege.
Die Welt hat sich mir , und ich glaube Jedem , der über sie nachdenkt, als das Product eines grossartigen Ent
wickelungsprocesses dargestellt, und zwar im Wege einer fortgesetzten Capitalisirung. Es schien mir daher immer als ein ungeheurer Verlust, wenn der Fortschritt sich lediglich auf das stützen würde , was ich objectiv hinterlasse – mögen es Schöpfungen und Anregungen welcher Art immer sein – und Alles verloren ginge, was ich
subjectiv
in meinen Fähigkeiten
capitalisire. Diese meine Ansicht wurde durch die dies bezügliche Gedankenlosigkeit der Materialisten und meisten Naturforscher nur unterstützt.
Den Gedanken der Seelen
182
Der Eintritt in den biologischen Process.
wanderung haben allerdings die Indier längst ausgesprochen, aber auf eine Weise, die mir nicht zusagte. Von Pytha
goras wissen wir zu wenig ; er behauptete zwar , dass er sich dessen bewusst sei , dass seine Seele den Körper des von Menelaus getödteten Trojaners Euphorbos bewohnt habe ; doch abgesehen, dass das sehr leicht eine Fabel sein könnte, so hat er es vielleicht auf demselben Wege erfahren , wie anderen und auch mir von früheren Existenzen erzählt
wurde, deren ich mir aber nicht im Entferntesten bewusst bin,
und anderen Richtigkeit ich nicht glaube, wenngleich für eine derselben eine auffallende Uebereinstimmung der Aussagen
vorliegt. Die Vorstellung einer Seelenwanderung, wie sie mir vorschwebt, habe ich nirgends gefunden, nur ist merk würdigerweise Fourier der Einzige, welcher ohne nähere Begründung und mit dürren Worten die Ansicht Plato's ausspricht, dass, so wie wir zwei Drittheile unseres Lebens wachen und ein Drittheil schlafen , wir auch dem ent
sprechend in derselben Proportion
die übrigens sehr
zweifelhaft ist - abwechselnd da und dort existiren . Erst später wurde es mir klar , dass Fourier ein solches schreibendes Medium oder ein Wahrträumer war.
Die Schriften Schopenhauer's und Hartmann's waren meiner Anschauung schon viel näher, besonders was die zwei Momente betrifft, dass die Welt das Product unserer Vorstellung sei, und dass der eigentliche Schwerpunkt im Unbewussten liege. Die Frage gipfelte nur mehr darin , wo die Individuation anfängt und aufhört. — Der Untersuchung
dieser Frage ist insbesondere das vierte Capitel meiner Philosophie des gesunden Menschenverstandes“ und das sechste meines „ Individualismus“ gewidmet. Der eigentliche Begründer meiner Ansicht, insofern sie festen Fuss fasste, ist Darwin ; dass ein in der Stufen leiter der Entwickelung hochstehender Organismus ohne Ausnahme bei den tieferen beginnen musste , und dass er
Der Eintritt in den biologischen Process.
183
diese Stufe nur dadurch erreichen kann, dass er sie durch
läuft, und diese Stufen dann im Embryo desto zusammen. gedrängter erscheinen , je höher ein Organismus steht das sind die hauptsächlichen Quellen und Stützen meiner Seelenwanderung gewesen. Die Beobachtungen mit anormalen Organisationen und
Haeckel's Schriften, die Versuche Pouchet's über das Farbenwechseln der Thiere , die Umwandlung des Axolotl und andere naturwissenschaftliche Räthsel, waren nur eine Bekräftigung meiner Anschauung, die in mir schon lange entwickelt ist, in der ich mich aber so isolirt fühlte , dass
es Zöllner's Auftreten bedurfte, um mir einen praktischen Werth zu versprechen, wenn ich mich den unausbleiblichen Angriffen der nur mit dem Stroine der öffentlichen Meinung schwimmenden Literaten noch weiter aussetze , als ich es
durch meine Philosophie des ges. Menschenverst, ohnehin ge than. Dass die Herren Naturforscher sich irrten, das ist sehr verzeihlich, dass sie sich aber so aufblähten, und nunmehr dem Philosophen Kant die Ehre geben müssen, dass er vor 100 Jahren selbst bei dem damaligen Stande der Natur wissenschaft richtiger sah , als sie alle , sowohl in Bezug auf die Raumdimension , als die Organismen , und dass
Schopenhauer's Prophezeiung so früh in Erfüllung ging, das werden sie nicht so leicht zugestehen und vergeben.
Der Leser sieht , dass alle Wege zum Princip der Seelenwanderung führen können , und mich wenigstens ge führt haben , ohne auf das angewiesen zu sein , was auf dem sonderbaren Wege dieser Phänomene zu Tage ge fördert wird .
So sonderbar diese von mir vertretene Palingenesis
einem recht- oder vielmehr kirchengläubigen Christen und einem officiellen Naturforscher vorkommen mag, so ist sie doch entweder der klar ausgesprochene Glaube so mancher grossen Geister zu allen Zeiten gewesen , oder mindestens
184
Der Eintritt in den biologischen Process.
nicht im unlöslichen Widerspruche mit den Anschauungen der bedeutenden Denker gestanden. Wir kommen bei den Einwürfen und verwandten Anschauungen darauf noch zurück. Pfleiderer sagt: „ Die Seelenwanderung ist für das indische Denken feststehendes Axiom ; so lange die Wurzel der Einzelexistenz das Verlangen nach Dasein und der Trieb nach Genuss nicht ertödtet ist, ist die Seele dem Gesetze immer neuer Wiedergeburten zu immer neuen Und jede neue Daseinsweite ist
Schmerzen unterworfen .
mit den früheren durch das Gesetz der Vergeltung aufs
Innigste verkettet, jedes Wesen ist in jedem Momente auf jeder Stufe seiner Existenz genau das, wozu es sich selbst in seinem ganzen früheren Dasein gemacht hat, sein gegen wärtiger innerer und äusserer Zustand ist die Frucht seiner vergangenen Thaten , und wieder ist sein gegenwärtiges Thun der Same seiner Zukunft .“
Diese Anschauung unterscheidet sich von der christ lichen darin , dass sie für das Bedürfniss des Ausgleiches
nicht die Intervention der Gottheit verlangt und in Anspruch nimmt , sondern die Entschädigung in der innern Noth wendigkeit des Naturgesetzes, in der Erhaltung der Kraft, in dem Grade der Entwickelung , als der Frucht unseres Wirkens, sncht. Nur ein hoher Grad der Entwickelung
kann Erlösung bringen, darin stimmt der Buddhismus mit dem Christenthume überein. Ob mit der Erlösung vom biologischen Processe die Nirvana oder die Nähe Gottes gewonnen wird, ist nebensächlich , denn darüber werden wir
keine Speculationen machen können
das sind Bilder und
weiter nichts. In Asien ist also die Seelenwanderung der
allgemeine Glaube seit jeher gewesen, dem selbst die besten und edelsten Männer der alten Welt anhingen , und der ihnen als der vernünftigste und natürlichste schien . Werfen wir einen Blick auf das Zeitalter der Griechen.
Dass Pythagoras und seine Schule daran glaubten , ist
Der Eintritt in den biologischen Process.
185
bekannt ; ebenso ist sie das Fundament für Empedokles und für die Heraklitsche Anschaung. Der göttliche Plato stellt verschiedene Gründe in seinem Phädon auf,
welche die Präexistenz der Seele als nothwendig erscheinen lassen. Wachen und Schlafen, Leben und Tod waren ihm analoge, eigentlich Correlat-Begriffe, die aus der Natur des
Werdens und der gegensätzlichen Bewegung hervorgingen . Der Leib entspreche dem charakteristischen Hange der Seele , das Erdenloos sei nur die Consequenz der eigenen Leistung und Wahl, die Gottheit sei daran schuldlos. Es ist das schlecht verstandene Christenthum , welches diesen Glauben untergrub , und ein Entstehen und dann
ewiges Leben in Leiden oder Seeligkeit lehrte , was nach keiner Richtung denkbar ist. Man hat von Johannes und
Jesus geglaubt, sie seien der Prophet Elias, was also, wie überhaupt die Incarnation Christi selbst, die Menschwerdung anderer Wesen schon in sich schliessen würde ; man braucht aber unter der Hölle und den ewigen Strafen nur den biologischen Process , unter den ewigen Freuden die Be freiung von ihm zu verstehen, um die Seelenwanderung mit dem Christenthume in Einklang zu bringen . Lessing, Fourier und Schopenhauer haben sich von dieser Idee einer Unsterblichkeit der Seele, die erst entstehen und
dann ewig leben soll, losgesagt. Das die individualistische Richtung
insofern sie diese Präexistenz als Monade
zugiebt - nicht haltbar ist , wenn sie nicht eine immer währende Thätigkeit der Seele annimmt und das uns be kannte Leben als Erscheinungsform auffasst, habe ich in
meinem „ Individualismus “ an den einzelnen Sytemen nach gewiesen.
Alles , was in dem Capitel über die vierdimen
sionale Anschauungsform innerhalb der menschlichen Da seinsform gesagt wurde , bildet eine Bestätigung für die Nothwendigkeit einer Art Palingenesis. Die Schwierigkeit , welche die Naturforscher für die
186
Der Eintritt in den biologischen Process.
Filiation der Entwicklung haben , und die sie mit dem Hinweis auf die noch unvollkommene Ausbeutung der in
der Erde schlummernden Ueberreste und die grossen Erd Revolutionen und Wasserflächen überwinden , wird durch
meine Annahme nur um so geringer. Ist der biologische Process nur die ausnahmsweise Erscheinungsform , so liegt der entwickelnde Factor in dem jenseitigen , offenbar viel umfangreicheren Gebiete. Um nicht missverstanden zu werden , bemerke ich,
dass der Wiedereintritt in den biologischen Process nur insolange als unvermeidlich zu betrachten ist , bis das durch ihn angestrebte Entwickelungsresultat nicht erreicht ist ; ferner, dass unsere reelle Verwandtschaft mit dem
Thiere nicht ausschliesst , dass zwischen Mensch und Thier kosmisch eine vielleicht unüberbrückte Kluft bestehe; end
lich, dass die Ausdehnung der Palingenesis auf alle Lebende nur ein Analogieschluss ist.
Wir haben bisher nur die
Existenz von Wesen unserer Art ausserhalb des biolo
logischen Processes erschlossen, das Zwingende meiner Argu menation bezieht sich daher nur auf uns. Allerdings ist
bei der grossen Analogie, die zwischen uns und den Säuge thieren besteht , die Uebertragung auch auf sie sehr nahe liegend. Der mir durch den Zweck und Leserkreis gezogene
Umfang meiner „ Vorurtheile “ erlaubt mir nicht, auf diese sehr tief gehenden Fragen näher einzugehen. Ich habe das nur erwähnt, damit der diesen Gegenständen näher stehende Leser nicht glaube, dass ich an ibnen ganz vorübergegangen sei. Es befinden sich übrigens in meinem „ Individualismus“ diessbezügliche Andeutungen. Wir wollen nunmehr durch die Widerlegung einiger Einwürfe, welche sich die Mehrzahl der Leser machen
dürfte , den Begriff der Seelenwanderung zu verdeutlichen und festzustellen suchen , und werden wir zuerst die Ein
Der Eintritt in den biologischen Process.
187
würfe, die der gemeine Verstand macht , widerlegen , dann auf die entgegengesetzten philosophischen Systeme über gehen. Wenn wir dann noch die verwandten Anschauungen durchgehen und die Unterschiede gefunden haben werden, die uns von ihnen trennen , so wird der Leser das mir vor schwebende Bild klar sehen, und das Urtheil abgeben können , auf welcher Seite Wahrheit und Moral ist , und welches Glas der Weltanschauung ein durchsichtigeres und be friedigenderes Bild giebt. 2. Die Einwürfe des gemeinen Verstandes. 1. Einwurf: Die mangelnde Erinnerung des Vorlebens.
Die früher angeführten Thatsachen liefern allerdings
den unangreifbaren Beweis, dass Schopenhauer mit Un recht die Individuation auf unser irdisches Dasein be
schränkte , und dass das Leben der Seele ein sehr langes, vielleicht ewiges, unsere menschliche Existenz eine vorüber. gehende Erscheinungsform sei. Hat das seine Richtigkeit, so ist die Seelenwanderung eine nicht mehr abzuweisende
Consequenz. Der Leser könnte daher meinen und sagen : „Was nütztes , durch die Annahme einer Organ proji cirenden Seele Schwierigkeit in der Biologie und der Erfahrung
zu beseitigen und aufzuklären, wenn die Consequenz dieser Hypo
these nur neue und noch grössere Schwierigkeiten bietet. Wenn wir schon existirt haben, woher kommt es dann, dass wir so gar
nichts von unserem Zustande wissen , und gar keine Erinnerung haben ? Wäre das denkbar ? Wenn wir Wesen anderer Art, sagen wir vierdimensionale Wesen wären, die sich mit Hülfe eines aus Zellen aufgebauten Organismus in eine dreidimensionale Vor stellungsform begeben, so wäre es undenkbar, dass so gar nichts aus der früheren Epoche zum Vorschein käme. “ Wir dürfen vor Allem unsere Persönlichkeit nicht mit
dem unserer Erscheinung zu Grunde liegenden Wesen ver
wechseln. Wollen wir uns ins Gedächtniss rufen (Cap. I
188
Der Eintritt in den biologischen Process.
der ,,Phil. d. ges. Menschenverst.“ ), dass das Ich ein Phantom ist , ein künstliches Product unseres Organismus , das sich erst spät entwickelt und zu Grunde geht ; wollen wir be rücksichtigen, dass nur ein sehr geringer Theil der Vorgänge in uns als Vorstellung reflectirt und acquirirt wird , das „ Ich “ sich daher um so weniger an das erinnern kann, was
dem Vorstellungsapparate aus Zellen hervorgegangen ist. Genügt doch schon der Schlaf, um jede Erinnerung zu ver nichten. (
In der Regel kann in unseren Intellect nichts
hinein, was ihm nicht durch die äusseren Sinne zugekommen ist ; unser „ Ich “ ist nur das Phantom dieses Apparates, das Product unserer Erlebnisse in diesem Leben mit diesem
Apparate. Alles, was diesem Leben vorhergegangen ist, hat allerdings einen Einfluss auf die Qualification des „ Ich “, aber nicht als etwas Bewusstes, sondern als etwas Unbewusstes,
als Instinkt , Ahnung , Charakter, Anlage u. s. w. Wenn die Seele über das normale , aus der sinnlichen Erfahrung
fliessende Vorstellungsvermögen hinausgeht, so entstehen in dem vorgestellten „ Ich“ eben die früher besprochenen ausser gewöhnlichen Bilder und Wahrnehmungen, welche die tiefer liegende , in anderen Raum- und Zeitverhältnissen lebende
Seele verrathen. Die Vergangenheit kommt zum Vorschein, aber nicht als Vorstellung, sondern als Instinkt und Anlage. Der Charakter ist immer die Folge von Erfahrung , der empirische ist die Frucht unseres bekannten Daseins , der intelligible, der einer unbekannten Vergangenheit. 2. Einwurf : Der Verlust unseres Bewusstseins.
Man könnte nun einwenden, „dass die Seele ausser halb des Zellenorganismus von dem ganzen vor . gestellten Ich auch nichts wissen könnte." Das muss nun durchaus nicht daraus folgen. Wenn ich vor mein Auge ein Mikroskop stelle, dann mit dem freien Auge, endlich mit dem Fernrohre die Welt betrachte,
Der Eintritt in den biologischen Process.
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so habe ich die Welt nur auf verschiedene Weise kennen gelernt; diese drei Anschauungen haben wohl nacheinander,
aber nicht gleichzeitig nebeneinander Platz. Es steht nur in Frage , welcher dieser Zustände der normale ist. Wir können allenfalls in Gedanken reproduciren , aber in dem
Augenblicke , wo wir das Glas benützen , sind wir von der gegebenen Betrachtungsweise absor birt, und haben nicht gleichzeitig alle drei Anschauungen.
Das biologische Leben ist vergleichweise auch nur ein Augenblick in der Thätigkeit der Seele. Wenn ich mich zur Ruhe begebe, so weiss ich, dass ich auf einige Stunden die Besinnung und Erinnerung verlieren werde, und meine Träume wissen ebenfalls oft sehr wenig von der wirklichen Existenz , und ich , munter werdend , nur das Bemerkens
werthe von meine Träumen. Was ist das Leben anderes, als ein böser, im Interesse meiner Entwickelung durchlebter Traum ? Das an die dreidimensionale Wand — sit venia verbo geworfene Bild weiss nichts von der Seele , wohl
aber erinnert sich die Seele ihres Bildes , ihres Traumes.
Der Organismus ist gleichsam nur das Mikroskop oder Fernrohr, unsere Persönlichkeit ist das Bild, das eigentlich
Sehende ist unter allen Umständen das Subject; dieses bleibt, jene schwindet. 3. Einwurf: Das mangelnde Motiv des Eintritts. Wie soll ich mir aber vorstellen , dass ein von allen
Leiden , Krankheiten und Sorgen befreites Wesen mit vollkom menerer Anschauungsform in dieses Jammerthal mit beschränkterer Anschauungsweise einziehen wird , um mit einem schmerzlichen Tode zu enden ? Wie soll man glauben , dass es diese Procedur noch
überdiess wiederholt ?
Woher soll man
die
denkbarer
Motive für den Eintritt in den biologischen Process nehmen ? "
Die Beantwortung dieser Frage ist eine sehr schwierige, nicht weil die Antworten fehlen , sondern weil deren zu
190
Der Eintritt in den biologischen Process.
viele sind ; man weiss daher nicht, welche die richtigen sind ; und welche Gründe noch vorliegen könnten .
Es ist
aber auch nicht meine Aufgabe, alle diese Motive zu er.
gründen ; es genügt, wenn solche überhaupt widerspruchsfrei gedacht werden können. Wir dürfen unsere Anforderungen nicht zu hoch spannen : ich kann verschiedene Veranlassungen zum Eintritt in den biologischen Process als denkbar an
geben , aber durchaus keine Garantie übernehmen , ob es deren nicht mehr oder weniger, also auch noch andere giebt. Nor Allem glaube ich die Aufmerksamkeit des Lesers darauf lenken zu sollen , dass der biologische Process ein Ausnahms 1
Zustand eines Himmelskörpers ist, der verhältnissmässig zur Dauer des Planeten nicht lange währt ; das eigentliche Leben liegt also schon aus diesem Grunde aller Wahr scheinlichkeit nach jenseits des biologischen Processes, dessen
Zweck nur die Entwicklung sein kann. Der Eintritt in das uns bekannte Leben kann daher so wohl im Interesse
der eigenen als fremden Entwicklung erfolgen.
Be
schäftigen wir uns zuerst mit der eigenen Entwickelang. Die Seele des Menschen kann wohl nicht als ein
fertiges Werk aufgefasst werden , das aus der Hand eines Schöpfers hervorgeht, sondern nur als das Product einer Entwickelung. Weil nun ein bloss beschauliches , durch kleine Empfindungen, Kämpfe und Leiden erprobtes Leben nur einen sehr geringen Werth für eine Entwickelung haben kann, so mag der Eintritt in dieses Leben eine nothwendige Bedingung derselben sein . Alle unsere Thätigkeiten, Empfin . dungen und Vorstellungen bedürfen der Organe ; je mehr, je besser , je entwickelter diese sind , eine desto höhere Stufe der Entwicklung nehmen wir ein. Wie aber sollten
wir uns diese erwerben , als im Wege der Anpassung und des Kampfes ? – Die von mir ,, Seele" getaufte unbekannte Grösse hat vielleicht gar keinen anderen Weg zu ihrer Entstehung, Veredlung und Reconstruction , als den biolo.
Der Eintritt in den biologischen Process.
191
gischen Process , in welchem sie zeigen kann , was sie werthet , und kennen lernt und erwirbt, was sie braucht. Die organisirende Seele ist als ein Weber zu betrachten,
der aus der gegebenen Keimzelle den Organismus innerhalb der gegebenen Relationen aus lebenden Zellen zusammen setzt, oder richtiger als ein Baum, der sich belaubt. Das verschiedene Material ist nicht gleichgiltig , da
ja eine Zelle gewissermaassen die andere erzeugt, und das ganze Gewebe den Charakter des ursprünglichen Materials behält; daher auch die Vererbung und der Atavismus. Alle Raupen spinnen sich mehr oder weniger ein, aber zur Erzeugung der Seide bedarf es einer bestimmten Raupe. Von der Beschaffenheit der ersten Zellen, und des ursprüng.
lichen , den Aeltern entnommenen Protoplasmas hängt selbst verständlich sehr viel ab. Diesen grossen Einfluss haben die Naturforscher mit der zureichenden Ursache verwechselt.
Die Wissenschaft mag und wird vielleicht die chemischen und organischen Verbindungen oder Lebewesen noch auffinden ,
welche die Anlagen des Muthes, Zornes , der Melancholie u . s. w . bedingen oder veranlassen, deren Wurzel im Keime
des väterlichen Organismus liegen , und dem entsprechend auch in der Aehnlichkeit der äusseren Erscheinung zum
Ausdruck kommen. Die Quantität von Bronce, Stein, Holz oder Gyps entscheidet über die Grösse und Beschaffenheit einer Statue, was aber diese darstellt , und wie sie es
darstellt , liegt nicht in dem Materiale, und darum auch wahrlich nicht in Samenthierchen und Keimzellen .
Alles capitalisirt sich im Leben , besonders in den Relationen des jugendlichen Organismus , der sich zur Zeit der Mannbarkeit für das wichtige Geschäft der Fort pflanzung mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zur
Die organisirende Seele sucht sich dadurch gewissermassen die zu ihrem Lebenszwecke vollen Blüthe entfaltet.
erspriesslichen Lebensbedingungen bewusst oder unbewusst
192
Der Eintritt in den biologischen Process.
aus, und in der humoristischen Aeusserung: „man könne in der Wahl seiner Aeltern nicht genug vorsichtig sein“ – liegt mehr tiefer Ernst, als deren Erfinder vielleicht geahnt. Insoweit ich mir eine Vorstellung von der Existenz jener Wesen zu machen vermag , kann ich ganz gut begreifen, dass ihnen ein solches Leben der Empfindungen zur
Entwickelung ab und zu nothwendig wird. Aber noch mehr als das , wo ist die Garantie , dass dieses Leben mit der Zeit nicht das schönere werden kann, wenn die Menschheit über Krankheit, Elend, Todesfurcht und Todesschmerzen triumphiren sollte ? Was für einen Fortschritt in Cultur und Wohlbefinden hat die Menschheit
in drei Tausend Jahren gemacht , und wie mag sie in anderen drei Tausend Jahren nicht aussehen ? Es wäre -
gar nicht möglich , dass unser Drang nach Fortschritt, Genuss, Liebe u. s. w. gar nichts anderes ist als der unbe wusste Trieb, aus dem Planeten ein Paradies zu machen, und der möglichen Langweiligkeit der vierdimensionalen Existenz für so Manchen zu entgehen , wenigstens so oft
es geht. Es mag diese epikuräische Anschauung nicht für Alle ihre Anwendung finden , aber für einen Theil gewiss. Die zweite , wahrscheinlich sehr seltene Veranlassung
mag in der Entwickelung der anderen liegen. Das schönste Bild einer solchen Aufopferung mag sich in Christo ver wirklicht haben , wie nicht minder in anderen Individuen, die sich selbst eine Mission gaben . Es kann das Märtyrer
thum eines Ludwig des XVI. und der Königin Marie Antoinette ebensogut einen höheren Zweck gehabt haben,
als die blutigen Gestalten der Märtyrer , als Attila oder Napoleon der I. Ein weiterer Grund mag auch in der Sinnlichkeit liegen , ein anderer in der Liebe zu anderen Individuen, u. s. f. ins Unendliche !
Nunmehr will ich den Grund angeben , der mir als der allgemeinste und sicherste vorschwebt
wir müssen
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Der Eintritt in den biologischen Process.
uns schlafen legen , wir müssen sterben , ohne es ver hindern zu können , und ebenso werden wir munter , und werden geboren, ohne es hindern zu können, der Rythmus der Bewegung , der Pendel der Entwickelung zwingt uns dazu, wenn wir vorwärts kommen wollen .
Welchen Opfern unterzieht sich nicht ein Jäger , ein Raritätensammler, ein Naturforscher , wenn er ein seiner
Sammlung fehlendes Exemplar sich schaffen will, und wir sollten eine lumpige Existenz nicht opfern, einen bösen Trauin nicht träumen wollen , um uns eine nothwendige Erfahrung, eine Nuance des Charakters , eine fehlende Organisations-Fähigkeit zu erwerben ! Uebrigens bezweifle ich nicht , dass unter denjenigen , welche sich mehr den geistigen als sinnlichen Genüssen zuwenden, die Nothwendig keit eines Eintrittes in den biologischen Process früher aufhört. Wer Herr seiner Leidenschaften, Herr der Situation
in allen Widerwärtigkeiten , resignirt im Unglück ist, was hätte der noch weiter unter uns Menschen zu lernen ? er aber sinnlich
Ist
nun wohl , der biologische Process
dauert noch lang !
Was heisst übrigens Leben ? Wir können uns ein solches ohne Organe nicht
denken ; der ganze Werth
einer Existenz ist von der Natur der Organe abhängig. Die Ausbildung derselben hängt wieder von den Relationen und der Anpassung ab ; was können wir von den nothwendigen verschiedenen Metamorphosen wissen und begreifen, die zur
Ausbildung nothwendig sind ! So wie wir uns Werkzeuge und Maschinen schaffen müssen , wenn wir in Cultur und Wohlsein leben wollen , ebenso müssen wir uns die Organe
schaffen, wenn wir eine bessere Naturanschauung gewinnen wollen. Welche Gründe die Seele zu diesem animalischen Ba de veranlassen , ist schwer genau anzugeben , aber es genügt, dass solche gedacht werden können.
Der Leser wird sagen , das sei allerdings denkbar Hellenbach , Vorurtheilo. II.
13
Der Eintritt in den biologischen Process.
194
jedenfalls phantastisch , poetisch , aber nicht überzeugend . Ich habe aber in Bezug auf die denkbaren Veranlassungen auch nicht mehr versprochen als denkbar Mögliches. Doch kehren wir den Spiess um ; auf der einen Seite haben wir ein unerklärtes Entstehen , Entwickeln und Fungiren der Organismen aus einem Eiweiss -Stoff, auf der anderen Seite
haben wir die thatsächliche Thätigkeit uns unsichtbarer und unsere Sprache gebrauchender Wesen , die überdies, so weit sie uns wahrnehmbar werden, menschliche Organ Formen projiciren ; wie wollen wir uns da aus der Schlinge ziehen ?
Nur auf diese Weise wird das Räthselhafte ver
ständlich, das Unbegreifliche natürlich . 4. Einwurf: Die mechanische Unbegreiflichkeit des Eintrittes.
„ Die denkenden Männer der Wissenschaft sind weit entfernt, die Lücken der Biologie nicht anzuerkennen ; sie wissen
sehr gut , dass die ganze menschliche Natur für uns ein Räthsel ist.
Die Palingenesis würde allerdings über die Schwierigkeiten
der Morphologie, des Bewusstseins und des Subjectes hinüber helfen ; wie und wann soll sich aber das vierdimensionale Wesen des Keimes bemächtigen ?" wie wir so gern sagen Die positive Wissen
schaft ist sehr froh , wenn sie die Bedingungen soweit kennt , um das „Dass mit Sicherheit auszusprechen , das „ Wie“ bleibt sie in der Regel schuldig. Wissen wir, wie die Krystalle anschiessen ? Können wir fast auf dem ganzen Gebiete des organischen Lebens das „ Wie angeben ? Eins ist gewiss, dass nur ein kleiner Theil der Keime zum wirklichen Leben gelangt, bei den tief stehenden Organismen sehr leicht, bei den höheren sehr schwerr -- ein Umstand, der für mich und nicht gegen meine Anschauung spricht. Dass es im Wege der vierten oder n -ten Dimension geschieht, ist nicht nur wahrscheinlich , sondern zweifellos, weil die
Welt nicht dreidimensional ist , sondern nur von uns so
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Der Eintritt in den biologischen Process.
angeschaut wird ; dass es uns daher unvorstellbar ist , ver steht sich von selbst.
Was hingegen das „ Wann “ betrifft, so würde die Analogie dahinweisen , dass es ein ebenso langsamer und successiver Process ist , als das Einschlafen .
Wir müssen
zugeben , dass es noch schwerer verständlich ist , wie die Keimzelle im Mutterleibe ohne einen organisirenden Factor
Nase , Ohren , Augen u. s. w. zu Stande bringen soll ? Es wird uns nie gelingen, hinter die Coulissen derart zu blicken, dass nichts verborgen bliebe , denn den Schleier der Maja zerreissen , heisst sterben ! Wir müssen uns vor Allem gewöhnen , die organische,
aus Zellen zusammengesetzte Welt für die Ausnahme, und die andere
für die sagen wir vierdimensionale Welt Diese vier- , mehr- oder auch gar nicht
Regel zu halten .
räumliche Welt ist eine durch und durch andere , als die durch einen künstlichen Organismus in unserem Kopfe vor gestellte
derzeit dreidimensionale
Welt.
Ich glaube , dass die Experimente in Leipzig uns genügende Daten
für die Aufstellung
gegeben
haben,
dass es für die vierdimensionale Welt weder Ferne noch in unserem Sinne gibt ; ich glaube selbst, dass ihre ganze organisatorische Thätigkeit eine durch den Lauf der Zeit ganz unbe wusste geworden ist. Alle unsere bewussten Thätig keiten gehen nach und nach in unbewusste Fähigkeiten über, sie capitalisiren sich , aus den Zahlen werden Logarithmen , und so geht es immer weiter und weiter Verschluss
auf der Stufenleiter der Entwickelung ! Wir wissen nicht, warum wir Nahrung brauchen, noch wie wir sie verwerthen ; es hungert uns , wir suchen Nahrung , viel anders wird es
mit dem Eintritt in den biologischen Process, oder richtiger, dem Bedürfniss nach einem Zellen -Organismus jener Wesen auch nicht sein. Und so wie es unter uns nur Wenige gibt, 13 *
196
Der Eintritt in den biologischen Process.
die sich über den innern Vorgang Rechenschaft zu geben vermögen, so wird es auch dort nur wenige geben, die das Unbewusste ins Bewusste zu übertragen vermögen, und sich von dem biologischen Process emancipiren können , was in der Sprache der Evangelisten heissen würde : in den Himmel, in die grössere Nähe Gottes kommen.
3. Die entgegenstehenden Systeme der Philosophen.
Die Einwürfe gegen das Princip der Seelenwanderung können durch die verschiedenen philosophischen Systeme direct und indirect erhoben werden, indirect, weil sie damit
im Widerspruche stehen , direct hat sie meines Wissens in neuerer Zeit eigentlich nur Hartmann erhoben .
Den
unversöhnlichen Gegensatz bildet nur die moderne, naiv mate rialistische Anschauung. Für die individualistischen Systeme hat es keine besondere Schwierigkeit, sich dem Principe der Palingenesis oder Seelenwanderung anzuschliessen ; die diess bezügliche Verschiedenheit, das Pro und Contra, kann der Leser in meinem „ Individualismus “ finden . Es werden dort die
Schwierigkeiten und Widersprüche durchgesprochen, in welche sich die individualistischen Systeme des Leibnitz , Her bart , Drossbach , Bahnsen , Mainländer und J. H. Fichte dadurch verwickeln , dass sie den Schwerpunkt zu sehr auf eine Existenz legen , die nur ein Traum des
Lebens ist , und sich den Consequenzen entziehen , welche jeder Individualismus mit sich bringt.
Für die monistische Anschauung Schopenhauer's und Hartmann's handelt es sich nur um den Beginn und das Ende der individuellen Phänomenalität ; der Erstere
spricht sich klar aus , dass man mit Sicherheit nicht be. stimmen könne , wo die Wurzel der Individuation aufhört;
auch diese Frage hat ihre Erörterung in meinen beiden philosophischen Schriften gefunden , und kann daher über
Der Eintritt in den biologischen Process.
197
gangen werden. Doch hat in neuerer Zeit Hartmann in seiner „ Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins “ abermals in der Seelenwanderungsfrage Stellung genommen, und zwar mit Rücksicht auf das Moralprincip. Er sagt Seite 161 :
„ Da die subjective sittliche Gesinnung nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel ist, so ist die Frage ohne ethische Be deutung , ob dem Individuum als solchem in künftigen
Lebensläufen noch Gelegenheit zu einer persönlichen Läu terung geboten werde oder nicht ; jedenfalls würde eine
solche Forderung durch Seelenwanderung innerhalb der Menschheit ebensogut erfüllbar sein , als durch Seelen wanderung nach anderen Planeten und Sonnensystemen, oder nach anderartigen Erscheinungswelten .“ „ Alle solche Phantasien sind völlig bedeutungslos für denjenigen , welcher die Realität nur in der Sphäre der
objectiven Erscheinung kennt, und deshalb die Realität der Individuation nicht in der Substantialität der Individuen, sondern in ihrer objectiven Phänomenalität sieht. Für solchen Standpunkt ist nämlich das, was die Seelenwanderung auszu drücken bestimmt ist, die substantielle Identität verschiedener
Individuen, nicht bloss für zeitlich getrennte, sondern auch
räumlich geschiedene Individuen, wahr , nicht bloss für ge wisse, sondern für alle Individuen.“ Hartmann übersieht, dass man den Satz ohne weiters
unterschreiben könnte : „ Die Realität der Individuation liegt nicht in der Substantialität der Individuen, sondern in ihrer objectiven Phänomenalität“ die Seelenwanderung aber deshalb doch im logischen Sinne zu Recht bestehen könnte. Es hängt Alles von der Frage ab : Wo beginnt die objective Phänomenalität ? Die Thatsachen haben in das unmittel bare Band zwischen der menschlichen Erscheinungsform
und dem „ Unbewussten " bereits einen Riss gemacht und
etwas eingeschaltet, was einen Zweifel an die Realität einer weiter gehenden Individuation nicht mehr zulässt.
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Der Eintritt in den biologischen Process .
Man kann oder könnte vielmehr zugeben , dass das substantiell Identische an den Individuen immer nur das
Jenseits der Sphäre der Individuation gelegene Wesen sein kann.“ Die Sphäre der Individuation kann aber eine viel grössere sein , als sie Hartmann annimmt. Hartmann
hat ganz recht, wenn er bestreitet , dass es irgend ein ethisches Interesse geben könne , die Weltordnung anders als rein immanent zu verstehen , doch geht das mit meiner Anschauung weit besser als mit seiner. Er fügt hinzu
( Seite 762), dass man die sittliche Weltordnung nicht über den „ erfahrungsmässigen Zusammenhang der objectiven Erscheinungswelt hinaus erweitern dürfte ;“ das hat keinen
Anstand, aber wie, wenn sich die objective Erscheinungswelt selbst erweitert ? Wie denn, wenn das, was nach Hartmann
erst zu constatiren ist, bereits constatirt wäre ? Ich glaube nicht , dass Hartmann den Muth hat, zu glauben , dass
er anders ,,sehen könnte, als Zöllner , Weber, ich und Andere ; liegt der Fehler in den gezogenen Consequenzen, nun, so möge er sie nachweisen.
Der vielgeschmähte Philosoph des Unbewussten hat
nichtsdestoweniger eine grosse Wahrheit ausgesprochen, als er das „Unbewusste“ als Unterlage unserer Erscheinung
erklärte ; er war da viel vorsichtiger, als Schopenhauer mit seinem ,, Willen “ . Insolange von dem Unbewussten nichts
ausgesagt und nur auf die Phänomenalität unseres Bewusst seins hingewiesen wird , ist die Position Hartmann's auch unangreifbar. Leider kann man sich aber auch so gut ver bergen, dass man dann selbst nicht heraus kann oder heraus darf, und wie man das unternimmt, ist es um die vermeint.
liche Sicherheit geschehen . Der Ausdruck : „ das Unbewusste“ ist ein richtiges Prädikat für eine uns unbekannte Grösse; wir werden dieser unbekannten Grösse mit der Zeit immer
näher rücken , aber sie nie ergründen . Alles, was ich über unsere Unzulänglichkeit in Beziehung auf die Gottheit ange
Der Eintritt in den biologischen Process .
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führt, gilt natürlich auch für die analogen Speculationen der Philosophen. Etwas wissen wollen von einem „ Unbe wussten “ , hat begreiflicherweise seine Schwierigkeit.
In ethischer Beziehung war Hartmann weit vor sichtiger ; er sagt Seite 762 : „ Nur soviel ist zuzugeben , dass möglicherweise das Menschheitsleben nur einen 80 kleinen Ausschnitt der universellen sittlichen Weltordnung zeigt , wie die Erde ein kleines Stück des Kosmos bildet.
und dass sich in späteren Phasen des Erdenlebens uns viel leicht natürliche Zusammenhänge dieser verschiedenen Aus schnitte der sittlichen Weltordnung kundgeben können, ohne dass es dazu der Seelenwanderung und des Spiritismus bedarf. “
Es ist schon so manches Kunstobject aus einer ver achteten Rumpelkammer hervorgeholt worden, in welche es von unverständigen oder in ihrer Meinung vorgefassten Leuten geworfen oder gelassen wurde. Als eine solche Rumpelkammer müssen wir die Mystik sei sie nun alt religiöser oder neu - spiritistischer Natur - betrachten . Die anormalen Organisationen waren , je nach ihrem innern
moralischen Werth , ihrer Intelligenz und ihrer Zeit , die Veranlassung von religiösem Glauben , mystischem und spiritistischem Aberglauben ; sie waren aber und sind jeden falls die Veranlassung von Thatsachen , die geeignet sind, irrthümliche Anschauungen der Philosophen und Natur forscher zu beseitigen und richtig zu stellen , was für die Betreffenden gewiss keine Schande ist , denn durch die Erweiterung der Erfahrung ist das immer geschehen. Diese Thatsachen sind nun allerdings geeignet , etwas mehr Zu sammenhang und Einblick in die sittliche Weltordnung zu
bringen und zu gewähren. Das frühzeitige Abschneiden der individuellen Entwickelung hört auf, und wahrlich nicht zum Schaden der Entwickelung ; denn nach der Hart mann'schen Philosophie werden nur die Relationen der
200
Der Eintritt in den biologischen Process.
Entwickelung günstiger, wäbrend das Capital der subjectiven Erfahrungen verloren geht. Ein mir unbekannter Autor sagt in einem Artikel über die Philosophie des Unbewussten und ihre Gegner
(„ Unsere Zeit “, März 1879) : Dass ich einen Individualismus vertrete , ohne einen metaphysischen Monismus im letzten Sinne zu bestreiten, und die Individualisation für die ganze Dauer des Weltprocesses nur als möglich , nicht als noth wendig hinstelle. Die Brücke kann also geschlagen werden,
welche beide Ansichten in Verbindung setzt und Hartmann's Philosophie mit der Erfahrung aussöhnt. Nachdem nun die Thatsachen entschieden für mich Partei genommen haben, und noch mehr Partei nehmen werden - da die Expe mente in immer weitere Kreise dringen werden – so ist es klar , dass eine Correctur der Hartmann'schen Philo
sophie wird vorgenommen werden müssen , wenn sie nicht in vielen Theilen das Leben verlieren soll. Wer nun könnte
die Correctur besser vornehmen , als der Autor selbst ? Wenn ich nach Paris fahre und , in Chalons ankommend,
glaube , Paris bereits erreicht zu haben , so werde ich aus steigen und nach Wahrnehmung meines Irrthums wieder einsteigen und weiter fahren. Mein Irrthum beraubt weder die Stadt Paris ihrer Existenz, noch mich meines späteren
Eintreffens. Meine Anschauung , falls sie von Hartmann zugegeben würde, hindert ihn nicht , zu behaupten, dass es
ein Unbewusstes, einen metaphysischen Monismus gebe, und hindert ihn nicht , wenn auch später dahin zu gelangen . Wir werden später Hartmann auf seinem Wege der Entwickelung seiner ethischen Anschauung begleiten.
Hartmann und ich stehen sich ganz klar gegenüber. Hartmann sagt in seiner Schrift: „ Neukantianismus, Schopen
hauerianismus u. Hegelianismus“ (zweite Auflage, Seite 227) : „ Aller Individualismus muss unerbittlich an der Relativität
des Individualitäts - Begriffes scheitern , wie solche von
Der Eintritt in den biologischen Process.
201
Haeckel und mir nachgewiesen wurde. “ Mein Indivi. dualismus scheitert aber nicht daran , weil ich seine Rela tivität ohne weiters zugeben kann, und diese Frage, ob ein
metaphysischer Monismus oder eine solche Monadologie das Richtige sei, schon als über unserem Horizont stehend be
trachte ; mein Individualismus kann in beiden Fällen Recht behalten , wenn ich auch mehr zum Monismus hinneige.
Hartmann sagt weiter ebendaselbst : „Das Wesen , das sich einmal einen ihm adäquaten Leib geschaffen, wird es auch öfter thun , und so ist die Seelenwanderung eine von dem Individualismus unabtrennbare Doctrin .“ Die ganze Entscheidung liegt also in der Beantwortung der Frage : Besteht mein relativer Individualismus über die bekannte
Erscheinungsform des Zellenorganismus hinaus zu Recht oder nicht ? Die Thatsachen sprechen laut für mich , und
diesen , nicht meiner Argumentation muss sich Hartmann anpassen . Allerdings können er, Haeckel und noch einige Andere das thun, unbeschadet der Fundamente ihrer An schauung, weil mein Individualismus eben ein relativer ist.
Hartmann kann Crookes , Wallace , Zöllner , Weber,, mich und Andere weder für Betrüger noch Betrogene halten .
Wir haben in dieser Frage zwe: Strömungen vor uns liegen : die öffentliche Meinung und die Thatsachen . Die erstere haben Hartmann , Haeckel u. s. w. für sich,
während Zöllner und ich gegen dieselbe schwimmen müssen. Doch ist es klar, dass die Thatsachen auf die Dauer die stärkere Strömung für sich haben werden ; darum ist es nothwendig , dass die Korypbäen des Wissens und Denkens die Strömung wechseln, wenn es auch sein Unan genehmes hat, denn sonst werden sie ganz gewiss ersaufen ! Die Herren Materialisten
sintemal und alldie
weilen sie ihren Rosenmund zu stark aufgerissen es bereits !
sind
202
Der Eintritt in den biologischen Process.
Ich muss aber noch einmal wiederholen , dass ich die Niederlage der Materialisten, Individualisten uud Monisten so wie wir sie jetzt kennen gelernt haben , nur in Bezug auf die Erklärung der menschlichen Erscheinung behaupte. Das dieser unmittelbar zu Grunde liegende Subject ist weder ein blosses Zellenproduct, noch eine Monade, noch der „Wille“, sondern eine unbekannte Grösse, welche andere Raumverhältnisse und die Fähigkeit hat, Organe zu projiciren; es könnten aber Lange , Leibniz und Schopenhauer das zugestehen , und dennoch den alten Zank darüber beginnen, was für eine Unterlage dieses Subject haben mag - ein Terrain , auf welches wir ihnen nicht folgen werden. Ich begnüge mich mit dem , was erfahrungsmässig sichergestellt ist und doch ausreicht, Licht in solche Fragen zu bringen , die der Menschheit von Wichtigkeit sind.
4
VIII . Capitel. Die verwandten Anschauungen der neueren Zeit. Gustav Th . Fechner. Wallace .
D. Heinrich Schindler. Alfred Russel D. G. Wiedemann. H. V. Zusammenfassung. Kleist.
Gotthold Lessing.
Es könnte obiger Titel den Leser leicht verführen, dieses Capitel zu überschlagen. Doch abgesehen davon , wie sehr das Lesen desselben zur Deutlichkeit seiner Auf
fassung beitragen wird , kann ich den Leser versichern, dass er höchst interessante Citate, besonders bei Wallace und Lessing finden wird , die nicht verfehlen werden, einen gewaltigen Eindruck auf ibn hervorzubringen. Es ist auch wahrscheinlich , dass die meisten meiner Leser der
bisher entwickelten Anschauung Misstrauen entgegenbringen werden , weil sie so ganz gegen die herrschende Meinung auftritt. Wenn man krank ist , so ruft man einen Arzt, wenn wir ein Haus oder eine Uhr ausbessern müssen , so
rufen wir die Sachverständigen , denen wir die Sache ver trauensvoll überlassen ; nicht anders ist es mit der Welt
anschauung. Die öffentliche Meinung lässt sich von Lite raten, Redacteuren und Professoren führen , aber auch irra leiten ; es kann auf den Leser daher nur beruhigend wirken
und ihn ermuthigen , wenn er siebt , dass auch andere be rechtigte Stimmen für eine , der meinen wenigstens nahe
Die verwandten Anschauungen.
204
verwandte Anschauung erheben. Ich hätte die Zahl sehr vermehren können ( durch Ba a der , Hoffmann , I. H.
Fichte und Andere), ich habe aber obige Wahl getroffen, weil Fechner die Experimente Zöllner's zum Theile mitgemacht, Schindler das geschichtliche Material gründ lich studirt, Wallace die umfassendsten Erfahrungen auf
diesem Gebiete gemacht hat. Die Anderen haben sich so gar direct oder indirect zu einer Art Palingenesis bekannt. 1. Gustav Th.'Fechner. Fechner's Erdgeist .
Die Theologie in der Natur.
Determinismus
und Indeterminismus.
Was nun den Unterschied anbelangt , der sich den verwandten Anschauungen gegenüber ergibt, so werden wir uns kurz fassen können, mit Ausnahme Fechner's , weil da drei Fragen , welche nicht übergangen werden dürfen, berührt werden , und die wir bei dieser Gelegenheit zur Austragung bringen können ; diese Fragen sind der Poly theismus , der, wie der Leser sehen wird, noch nicht todt
ist , die Teleologie in der Natur und die Freiheit des Willens.
Die Menschheit war immer geneigt , die unendliche Kluft, die zwischen einem menschlichen Wesen und der
Gottheit besteht, auf irgend eine Weise auszufüllen . Die Formen dieser Vorstellung haben sich geändert, die Sache ist geblieben. Die sonderbaren Abwege , auf welche die menschliche Vernunft bei diesen vergeblichen Versuchen gerathen, geben uns den besten Beweis, dass wir noch viel weniger geeignet sind , uns mit dem allumfassenden Welt. geist zu beschäftigen .
Der poetische Polytheismus der Naturvölker ist zuerst dem Heere der Engel und Dämonen gewichen , welches wieder unser materialistisches Zeitalter mechanisch zer stampfte und chemisch in nichts auflöste, oder doch aui
Die verwandten Anschauungen .
205
gelöst zu haben glaubt. Trotz der damaligen Herrschaft des Materialismus träumte schon Fourier – denn eigent liche Gründe hatte er keine angegeben
dass nach dem
Menschen der Planet die nächste Stufe in der Leiter der
Individualitäten vorstelle , der nicht nur ein individueller Körper , sondern ein lebendes Individuum sei. Ohne von Fourier zu wissen , hat Fechner diese Anschauung
(Zenda - Vesta) zu begründen versucht. Der Umstand, dass der Mensch so gut wie der Planet
ein Individuum und das Product einer Entwickelung ist,
muss nothwendig Analogien hervorbringen , denn die Ent wickelungsgesetze sind immer dieselben : der pendelartige Rythmus der Bewegung , die Gegensätze , die auf- und absteigende Bewegung mit ihrer Culmination, der Fortschritt durch Capitalisirung u . s. w. Es ist auch ganz klar, dass
die organische Welt bei Herstellung eines Auges, des Hör und Stimm -Organes, der Lungen und Gliedmassen , der Nerven und Adern ganz und gar den Gesetzen der unor ganischen Natur unterworfen ist, wenn es sich um das Auf fangen von Schwingungen handelt, wenn es etwas zu blasen
und bewegen , zu leiten und zu pumpen gibt. Was will man mehr ! Kapp weist in seiner Philosophie der Technik nach, dass unsere Fernrohre, Claviere, Telegraphenleitungen , Brückensysteme u. s w. in einer viel grösseren Vollkommen heit in unserem Organismus zu finden sind , und aus dem Organischen ins Unorganische , aus dem Unbewussten ins Bewusste erst übertragen wurden ! Aus dem Umstande nun, dass wir an der Erde analoge
Vorgänge beobachten, wie beim menschlichen Körper, darf man sich aber den Schluss nicht erlauben , dass die Erde als ein etwa beseeltes , vorstellendes Individuum angesehen werden könne.
Fechner ist der Ansicht (Seite 20 I. B.) , dass der
Keim des Organismus doch uranfänglich im Balle der Erde
200
Die verwandten Anschauungen .
schlummern musste, was eine schwer beweisbare Sache ist; es gibt sogenannte Naturforscher, welche sich nicht ent
blödeten, die Keime des organischen Lebens durch Meteor Steine auf die Erde bringen zu lassen, um der Verlegenheit zu entgehen , die das erste Entstehen des Lebens jenen bereitet, deren Welt durch die Bretter des eigenen Erkennt nissvermögens begrenzt ist. Genau betrachtet sieht es vielmehr aus , als ob wir Organismen Gäste , nicht aber Kinder des Planeten seien, welche sich auf ihm häuslich
niedergelassen, und so gut als thunlich eingerichtet haben. Wir haben physikalische Verhältnisse vorgefunden, und haben uns ihnen angepasst, nicht aber hat der Planet vorsorglich auf uns gedacht, wie das leicht einzusehen ist. Man hat z. B. mit Recht die grössere Gliederung der Meeresküste als in Zusammenhang mit der grösseren Cultur
entwickelung gebracht.
Europa stebt diessbezüglich im
geraden Gegensatze zu Afrika, in dem einen die grösste Cultur und relative Küsten-Länge , in dem andern das gerade Gegentheil.
Wenn wir nun einen Blick auf die
Karte werfen , so finden wir , dass die grössten Welttheile sehr schlecht gegliedert sind, und dass eine wahrhaft ideale Lage der Nordpol mit dem ihn umgebenden Gürtel der ganzen Welt und seinen zahlreichen Inseln hätte. Befände
sich diese Configuration nicht unter der erstarrenden Hülle des Eises , sie wäre der Sitz einer unglaublichen Cultur ; das geeignetste Land ist also der Entwickelung entzogen. Der Isthmus von Suez musste erst nothdürftig durchstochen werden , der von Panama harrt eines Surrogates für die freie Durchfahrt, und tief bedauern muss es jeder Freund der Menschheit, dass die Niederungen zwischen dem schwar zen und caspischen Meere , und weiter zu den Seen Aral
und Balkasch nicht eine nur etwas tiefere Einsenkung haben, die genügt hätte, um die Schiffahrt und Cultur bis an den Fuss des Himalaya-Gebirges führen zu können. Dem
Die verwandten Anschauungen.
207
analog würde eine Bucht statt der Wüste Sahara die kli matischen und Culturverhältnisse zweier Weltheile geändert
haben. Von diesem Standpunkte aus und noch vielen anderen, die anzuführen der Raum mangelt, hat der Planet schlecht für uns gesorgt, und scheint es, dass wir uns den Verhält .
nissen, und nicht diese sich uns angepasst haben. Der Planet Mars scheint eine weit bessere Gliederung zu besitzen. Das Räthsel der Entstehung des Lebens wird nicht löslicher , wenn wir dem Planeten als solchem ein Leben
zusprechen ; eine Zweckmässigkeit zu unseren Gunsten kann ihm ebenfalls nicht zugesprochen werden. Es ist auch nicht richtig , was Fechner Seite 155 sagt, dass dem Bestande der Erde keine Krankheit , kein
Tod drohe , wie dem unseres Leibes“. Abkühlung, Aus trocknung, Zerfall, Sturz in die Sonne, das ist es, was der Erde als Individualität droht.
Was soll dann von ihr
bleiben ? Hat sie eine Seele, welche, wie die unserige, nach Fechner , nur den Leib verliert, dann wäre ja auch sie nur als Bewohner des Planeten aufzufassen .
Doch ist die
ganze Analogie unhaltbar , weil der menschliche Leib das
Product und nicht eine Bedingung der Seele ist (was von der Erde in keiner Weise angenommen werden könnte), welcher Leib von ihr zu Zwecken mit aus Zellen bestehen
den Organen angelegt wurde, für dessen Entstehen uns die zureichenden rein chemischen und mechanischen Ursachen
fellen ; beim Planeten hingegen liegt die Sache umgekehrt, da haben wir ausreichende Ursachen in den bekannten
Naturkräften, während die teleologische Anlage unerweislich
bleibt. Der Organismus hat eine teleologische Anlage, der Planet hat sie nicht ; die uns bekannten Naturkräfte reichen
zur Erklärung der Planetenbildung aus, zur Erklärung des Organismus reichen sie nicht aus.
Der Streit über die
Zulässigkeit eines teleologischen Wirkens hat viel Aehn lichkeit mit dem über die Seele und den Monismus.
Die
208
Die verwandten Anschauungen.
Theisten sehen überall eine Zweckmässigkeit, die Natur forscher des gewöhnlichen Schlages läugnen sie selbst dort, wo sie offen am Tage liegt, in dem Wahne, dass die Gesetz mässigkeit der Natur darunter leiden würde.
Man kann
dem Planeten weder in Bezug auf Entstehung, noch Gestalt, noch Function eine Zweckthätigkeit zugestehen, und selbst die Seele kann ohne eine solche entstanden sein - für
den Organismus aber können wir sie ebensowenig abweisen,
als für die Entstehung irgend eines Fernrohrs. Mit Rücksicht auf uns hat der Planet sich schon
ganz radikaler Verwüstungen schuldig gemacht , was auch begreiflich ist, denn seinem ganzen Bestande liegt die strenge Causalität zu Grunde , und ist von Motiven oder
Gründen bei ihm nichts zu entdecken , diesen beiden Wurzeln des zureichenden Grundes, die nur in der organi schen Welt gefunden werden. Es gibt Naturforscher, welche da wieder einen Dualismus wittern werden , den sie in ihrer
Voreingenommenheit a priori verwerfen, weil sie nicht über legen, dass sich aus einem Monismus und selbst Materialis mus ein Dualismus entwickeln kann. Es wundert mich bei nahe , dass sie die Verschiedenheit der Geschlechter nicht
perhorresciren , denn das ist auch ein Dualismus. Alles , was Fechner Seite 107 und 108 im I. B.
anführt über die zweckmässige Lage der Erde zur Sonne, beweist nur unsere zweckmässige Anpassung an die aus ihr entsprungenen Verhältnisse. Wir brauchen nur einen Blick auf das Planetensystem selbst zu werfen .
Die grossen Planeten , Jupiter und seine entfernteren Nachbarn , sind so gross , dass die Abkühlung noch keine genügenden Fortschritte gemacht haben kann, um ein uns
analoges Leben zu ermöglichen. Gleich neben ihm ist ein Haufen von ganz winzigen Himmelskörpern, die wahrschein lich die Trümmer eines Planeten sind, den die grosse Nähe
und Mächtigkeit Jupiters ins Verderben gestürzt.
Auch
Die verwandten Anschauungen .
209
wir schleppen an unserer Seite einen todten , weil aus getrockneten Körper herum, den unsere Nähe in so furcht
bare Gebirge zur Zeit seiner flüssigeren Beschaffenheit zer rissen ; vielleicht dass wir, oder vielmehr späte Nachkommen
das Schauspiel erleben , wie der Mond zerfällt , was aber gewiss nicht ohne Katastrophen für uns vorübergehen wird .
Die Wissenschaft liefert wenigstens genügende Anhalts punkte für diese Anschauung.
Alle diese grossen Verschiedenheiten der Planeten sind aber die nachweisbaren Folgen der Naturgesetze, und das scheinbar teleologische Verbältniss, das zwischen einem
Weltkörper und seinen Geschöpfen besteht , findet seine Lösung in der Anpassung des organischen Lebens an die jeweiligen Verhältnisse des jeweiligen Himmelskörpers, nicht aber umgekehrt. Ich glaube daher mit Recht behaupten zu können , dass die Naturbetrachtung weit mehr zur Ansicht
drängt , wir seien Gäste , nicht aber Producte des Planeten, von denen immerhin jeder eine andere Farbe – wie Fechner meint - , oder ein anderes Aroma - wie Fourier meint - besitzen mag.
Und so wie man von
dem Geiste einer Nation spricht, mag man auch von dem Geiste der Menschheit sprechen, der sich aus den Menschen so zusammensetzt, wie der Staat aus seinen Bürgern, nicht
aber wie der Organismus aus den Zellen ; dieser Geist der Menschheit wäre noch keine Seele der Planeten.
Denn wenn wir aus den Organen auf eine waltende Seele schliessen , so fehlen uns bei dem Planeten die Prämissen , wir finden durch und durch nur causale , blinde Nothwen
digkeit, aber keine Organe, keine Motive, keine vorbedachte Einrichtung
Fechner sagt in seiner neuesten Publication „Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht “ Seite 66 : „Jedes Gestirn hat seine eigene Sinneswelt, die sich über der seiner
Geschöpfe einheitlich zusammenschliesst, und gegen die der Hellenbach , Vorurtheile. II.
14
210
Die verwandten Anschauungen .
andern Gestirne abschliesst , für das göttliche Bewusstsein aber ganz aufgeschlossen bleibt , so dass die Gestirne eine Zwischen- und Vermittlungsstufe zwischen ihren Geschöpfen und Gott bilden.“ Es ist dies eine Anschauung, die ebenso
schwer zu widerlegen als zu behaupten ist , weil sie unsere Erfahrung und Erkenntniss übersteigt; jedenfalls aber ist der Schluss Fechner's ein Analogie - Schluss. So wie die Zellen unseres Körpers einen Organismus bilden , welcher ein höheres Bewusstsein hat , so mag sich Fechner auch den Erdgeist denken, für welchen wir gleichsam die Zellen bilden ; dann ist es aber auch nothwendig , die Analogie ganz durchzuführen : Wir werden von der Existenz der Erdseele und deren Bewusstsein genau so viel wissen , als die Zellen von un s.
Ich habe diese Speculation über den Erdgeist oder die Erd seele schon darum hereinbezogen , um an ihrer Unzulänglichkeit unsere Ohnmacht erst recht nachzuweisen, sich Speculationen über die Weltseele hinzugeben.
Wir
können den Planeten beobachten, wir leben auf ihm, wissen sehr viel von ihm , und müssen unsere Unfähigkeit einge stehen , über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein und die Beschaffenheit einer Erdseele etwas auszusagen ;
und da wollen wir von der Weltseele, von einem Gott faseln , wo wir doch von der Welt so viel als nichts wissen .
Es geht weder mit dem Monotheismus noch Poly theismus; für solche Fragen reicht unser Erkenntniss vermögen nicht aus . Uebergehen wir nunmehr zu Fech ner's sonstiger Weltanschauung. Fechner hat in diesem seinem neuesten Buche viele
mir verwandte Anschauungen gebracht. Leider beschäftigt sich Fechner auch in dieser Schrift viel zu viel mit Gott,
wenn auch weniger als in seinem „Zenda-Vesta“, wo die beiden ersten Bände sich fruchtlos mit dem Gottesbegriffe
Die verwandten Anschauungen.
211
quälen. Er tadelt die Unnachweisbarkeit und Dunkelheit der Philosophien der Monaden , des Materialismus und des Unbewussten , welche letztere der Welt ein allgemeines Unbewusstsein unterlegt; ist aber sein „übergreifendes allgemeines Bewusstsein “ etwa klarer ? Was soll unsere Erkenntniss, was unser Moralprincip dabei gewinnen ? Nach Fechner sind die Menschen den Zellen des
Organismus analog , und die ganze zukünftige Menschheit ist gleichsam der Leib des erwähnten Erdgeistes. Er sagt
Seite 103 , III. B.: „ Der Geist des Irdischen , ein einiger Geist, gewinnt in der Geburt immer neuer Menschen immer
neue Anschauungen , ja Anschauungsweisen der Welt, das sind ebensoviel neue Anfänge seiner innern Fortentwicklung. Die Entstehung dieser Geister liegt in einem höhern allge meinern Zusammenhang begründet, als den wir im Diesseits verfolgen können. Hinter dieser Welt der Geister des Dies
seits spielt aber noch eine Welt Geister des Jenseits, welche hervorgegangen sind aus den Geistern des Diesseits , wie die Welt unserer Erinnerungen und alles dessen, was folg weise aus unsern Erinnerungen erwachsen ist, hinter unserer Anschauungswelt spielt , aus der sie erst hervorgegangen, doch Beides nicht getrennt von einander. Die Geister des Jenseits weben und wirken noch in unser Leben diesseits hinein , wie die Welt unserer Erinnerungen in die Welt
unserer Anschauungen ; nur , wie wir in der Anschauung nicht mehr das Einzelne , was sich von Erinnerungen ein webt , einzeln unterscheiden können , so vermögen wir auch
um so weniger in unserem jetzigen Anschauungsleben das, was von den Geistern des Jenseits in uns bineinwebt und
hineinwirkt, einzeln zu unterscheiden ; aber die Geister selbst vermögen sich zu unterscheiden. Dieses Wirken der Geister des Jenseits in uns hinein hilft uns schon hienieden bilden und schon zu etwas mehr machen als bloss sinn
lichen Wesen .
Nach seiner Ansicht muss der Geist des 14 *
Die verwandten Anschauungen.
212
Menschen offenbar entstehen , er hat nach seiner Meinung
kein Vorleben. Consequent entwickelt sich bei ihm ein zu früh verstorbener Mensch auf Kindes- oder Jünglings -Basis (S. 176 ). Der wäre nun allerdings in grossem und unver dientem Vortheil ; es wird ihm das Alter und Siechthum
erspart , und überdies kann die Entwickelung ohne Zellen Organismus nur viel angenehmer gedacht werden.
In solche Verlegenheiten muss jeder Individualismus ge langen, der dem menschlichen Wesen unterlegt wird, lediglich
um ihm eine Zukunft zu retten , und der nicht Rücksicht auf die nothwendige Vergangenheit nimmt. Eine frühere Existenz und Wiederholung der Procedur, aus Zellen einen
Organismus zu bilden , sind unvermeidliche Consequenzen jedes Individualismus. Fechner hat hingegen ganz recht, wenn er sagt , wir sollen nicht meinen (S. 231 ) , „ dass wir durch unsern Tod in eine ganz andere Welt hinausgerückt werden ; sondern in derselben Welt, in der wir jetzt leben, werden wir fortleben , nur mit andern neuen Mitteln sie zu
erfassen und mit grösserer Freiheit sie zu durchmessen. Es wird die alte Welt sein, in der wir einst Aiegen werden, und in der wir jetzt kriechen. Wozu auch einen neuen Garten schaffen, wenn in dem alten Garten Blumen blühen, für die sich im neuen Leben ein neuer Blick und neue
Organe des Genusses öffnen . Dieselben irdischen Gewächse
dienen Raupen und Schmetterlingen , aber wie anders er scheinen sie dem Schmetterling als der Raupe , und indess die Raupe sich an eine Pflanze heftet, fliegt der Schmetter
ling durch den ganzen Garten.“ Das ist ein ganz richtiges Bild , doch kann das nicht begriffen werden , wenn der menschliche Geist nach Durchbruch des Zellen-Organismus ,,einen der umgebenden Natur ähnlichen Leib finden soll;
potentiell wenigstens schon früher gehabt haben , bevor er ihn in Zellen darstellte , um das Phantom des menschlichen „ Ichs “ zu Stande zu bringen.
diesen muss er
Die verwandten Anschauungen .
213
Es ist ganz consequent , wenn Fechner Seite 234 sagt : „ Es scheint mir in der That für den Unsterblichkeits glauben sehr misslich , die Unsterblichkeit des Menschen
zur exceptionellen Sache zu machen , oder selbst, wie von Manchen geschieht , an besondere höhere Vorzüge des
Menschen zu knüpfen , so dass nur geistig oder moralisch
bevorzugte Menschen der Unsterblichkeit theilhaftig würden. Die rohesten Völker scheinen mir hier das Richtigste ge
troffen zu haben. Der Lappe glaubt seine Rennthiere, der Samojede seine llunde im andern Leben wiederzufinden,
und wer von uns einen treuen Hund hat , wird ihn auch dereinst gern wiederfinden . Sollte es überhaupt keine Ge. schöpfe, tiefer stehend als der Mensch , im andern Leben geben ? Wenn aber, so ist es nur natürlich , dass diese
Geschöpfe, denen der Mensch dort begegnet , aus denen erwachsen sind, denen er hier begegnet ist. “ Woher soll aber diese unendliche Zahl von Ge
schöpfen auf den verschiedensten Stufen der Entwickelung
kommen, wohin soll sie gelangen, wenn sie nicht überhaupt da war, und nur die Formen wechselt, die Stufen erklimmt ? Nur dann ist es möglich, dass wir statt für unsere Werke,
durch unsere Werke bezahlt werden, was doch Fechner mit Recht behauptet (Seite 287) : „ Keine Ansicht kann eine strengere, vollständigere, unverbrüchlichere , naturge mässere Gerechtigkeit aufstellen ; keine besser den Worten
entsprechen , dass Jeder ernten wird , was er gesäet hat ; er säet in seinen Wirkungen und Werken jetzt sich selbst und erntet dereinst daraus wieder sein Selbst ; keine besser
der Mahnung , sein Pfund nicht zu vergraben ; Jeder ist
selbst das Pfund, das sich austhut, wie das , was ihm einst mit seinen Zinsen zurückgezahlt wird . In keiner legt sich besser das Wort aus , dass uns unsere Werke nachfolgen
werden , ja sie werden uns nachfolgen , wie dem Kinde bei der Geburt seine Glieder nachfolgen, d. h. während unsere
214
Die verwandten Anschauungen.
Werke jetzt binter uns liegen , nur von uns äusserlich gemacht erscheinen , werden wir mit dem Tode erkennen,
dass wir damit uns selbst gemacht haben. Denn im Kreise unserer Wirkungen und Werke wohnen wir fortan, als wäre es unser eigener Leib, mit Bewusstsein. Das künftige Leben wird so Alles erfüllen , was das Gewissen jetzt ferneher droht und verheisst, gerechter noch , als es das Gewissen
droht und verheisst. Mancher schliesst jetzt noch sein Auge vor der fernher drohenden Geissel des Uebels, das
er durch sein Wirken gegen sich selbst heraufbeschworen, und vergisst zuletzt , dass sie droht ; aber beim Erwachen im folgenden Leben wird er sie in seinem Fleische und Blute wüthen fühlen und sie nicht länger vergessen können.“
Ganz verfehlt muss die Ansicht genannt werden , dass (S. 307) „ Gott die Sünden der Aeltern noch in ihren Kindern straft.“ Sünden der Aeltern mögen allerdings den Lebenskampf der Kinder erschweren, es werden die Aeltern darunter leiden , die Kinder treten hingegen nur in jene
Verhältnisse, die ihrer Entwickelung nothwendig sind. An der Culturentwickelung haben alle Menschen ein solidari sches und jeder einzelne noch ein individuelles Interesse ; Fechner ist im Rechte, wenn er den Werth einer Hand lung für deren Folgen , und die Gesinnung unterscheidet, die schon an sich reale Folgen für das Individuum haben Nur ist das ganz richtige Bild der Zukunft, das muss. Fechner vorschwebt, nicht haltbar , wenn dieser das ent sprechende Gegenstück der Vergangenheit nicht zu Hilfe kommt. Die Seele des Menschen kann nur dann eine solche
Zukunft haben , wenn sie auch eine solche Vergangenheit gehabt, und die menschliche Existenz nur eine vorüber gehende Erscheinungsform ist , durch welche die Illusion unseres Bewusstseins ermöglicht wird.
Fechner spricht eine grosse Wahrheit aus , wenn er sagt : „ So suche Jeder , sich hier Liebe zu erwerben,
Die verwandten anschauungen .
215
damit er nicht einsam und geflohen von Anderen im Jen seits dastehe. Doch muss sich Fechner auch die Frage aufwerfen , ob nicht so Mancher aus früheren transcendenten Gründen hier einsam und verlassen dasteht. Wir finden
so manche Menschen , die haushälterisch sind, endlich geizig werden ; wer weiss, ob sie nicht durch bittere Erfahrungen zu dieser Anlage gekommen sind, die Leichtsinnige erst zu machen haben? Es gibt Menschen, die Begabung und An lage für Einzelnes, Vieles oder Alles haben ; wer weiss, ob diese ihre Anlagen nicht das Verdienst früherer Arbeit war ?
Wir brauchen nicht in die abgeschmackten Mythen der Naturvökker zu verfallen, die Anpassung – auf naiv mate rialistischer Basis der modernen Naturwissenschaft ein Un
ding – löst das Räthsel im Wege der Palingenesis. Ist der Mensch eine Erscheinungsform der Seele , ein aus Zellen
dargestelker Organismus, so braucht die Seele nicht einen neuen Leib zu finden oder zu erbauen , was beides sehr schwer verständlich wäre, sondern sie hat ihn . Der durch die Zeller hergestellte Schleier der Maja zerreisst , das
persönliche „ Ich“ verschwindet wie ein Traum, das Subject bleibt.
Fechner's neuestes Product :
„ Die Tages - Ansicht
gegenüber der Nacht-Ansicht “ ist eigentlich nur eine verbesserte und zusammengedrängte zweite Auflage von ,,Zenda Vesta “ , unterscheidet sich aber von diesem dadurch , dass
Fechner auf die bestehenden materialistischen und pessi mistischen Anschauungen kritisch eingeht , und sie seiner optimistischen gegenüberstellt. Der eigentliche Unterschied , der zwischen meiner und
Fechner's Anschauung besteht , liegt darin , dass er die vis formativa, die für die teleologische Anlage des Menschen nothwendig ist, und das Bewusstsein „ in der schöpferischen Macht, von der seine Entstehung abhängt,“ sucht. (S. 121.) Nach Hartmann ist es ein unbewusster , nach Fech
216
Die verwandten Anschauungen .
ner ein bewusster Gott , aus dem der Mensch unmittel
bar hervorgeht. Ich hingegen habe nicht nothwendig , an einen Gott , an etwas so unfassbares zu appelliren ; das menschliche Bewusstsein ist nur eine andere Form eines
andern Bewusstseins , die teleologische Anlage das Ent wickelungsproduct grosser Zeiträume. Andererseits finden sich auch Stellen , die Fechner's
eigener Anschauung entgegenstehen , und uns die Veran lassung geben , die Frage des Determinismus und Indeter
minismus vom Standpunkte der Palingenesis zu beantworten. Fechner lässt eine indeterministische Vermahnung des Vaters an den Jungen statt der deterministischen Mass regelung folgendermassen lauten (Seite 176) : „ Im Grunde, lieber Sohn, wirst du dich wohl schon vor der Geburt
oder in einem metaphysischen transscendentaien intelligiblen zeit- , raum- und erscheinungslosen Reiche der Dinge an sich zum Guten oder Schlechten, hiemit zum Himmel oder
zur Hölle entschieden haben , da kann Niemand etwas dafür , nicht einmal der liebe Gott ; lass dir also gefallen, was die Freiheit nun einmal aus dir gemacht hat. Ist dein
intelligibler Charakter da in zeitloser Ewigkeit fertig ge worden, so hängt dann freilich in seiner zeitlich empirischen Erscheinung Alles im Sinne des Charakters nothwendig
zusammen und sieht somit ganz deterministisch aus , aber den intelligiblen Charakter hast du doch selbst mit Freiheit gemacht ; und wenn der deterministische Gegner deiner Freiheit mit empirischen Thatsachen zu sehr zusetzt , 50 braucht sie sich bloss in das intelligible Gebiet zu retten ;
da kann Niemand nachkommen, und das ist die Hauptsache. Um so besser aber siehst du nun ein , wenn du überhaupt etwas von all dem einsiehst, dass alle empirische Erziehung im Grunde nichts leisten kann, dich besser zu machen ; dein
Charakter ist ja schon in zeitloser Ewigkeit fertig.“ Die Schwierigkeit, unser determinirtes Leben mit einer
Die verwandten Anschauungen.
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Verantwortlichkeit für unsere Handlungeu auszusöhnen , kann
nurim Wege meiner Anschauung gelöst werden, zufolge welcher der intelligible Charakter ein Entwickelungsproduct ist. Unser Thun und Lassen ist dann allerdings determinirt, aber der wesentlichste Factor , der Charakter , kann sich durch Erfahrung ändern, und es gelangt dadurch die Frei keit und Verantwortlichkeit doch auch in ihre Rechte. Sagt Wenn diesseitige Tor
doch Fechner selbst Seite 179 :
19
turen nur Geständnisse erzwingen, so werden die jenseitigen endlich Besserung erzwingen .“ Ich muss vor Allem bemerken ,
dass diesseitige Erfahrungen ebenfalls zu Motiven werden können ; vor Allem aber erlaube ich mir die Frage zu stellen , ob es nicht viel einfacher und logischer ist, das, was werden soll , auch für die Vergangenheit gelten und den überbewussten Gott" bei Seite zu lassen ?
Fechner vergleicht die Türken mit den Christen zu Gunsten des Determinismus, also der fatalistischen Türken ; nun ich muss gestehen, dass ich nicht weiss, ob Fechner
die Türken nur von Leipzig aus kennt , muss es aber ver muthen ; denn ich , der ich sie aus nächster Nähe kenne, kann in Hinblick auf türkische Sitte und Moral dem Deter
minismus , wie er in der Türkei als Moralprincip besteht, das Wort nicht reden, da er Gott und nicht den Charakter zur Quelle hat. Fechner ist ein Vertreter einer Tages ansicht ; seine Gegner , die auch die meinen sind , mag er immerhin mit Recht als die Vertreter einer Nachtansicht
bezeichnen , doch gibt es Tagesansichten , die auf weniger mystischer Grundlage ruhen, als die seine, und den Geist
der Erde“ als ein „Mittelwesen zwischen Gott und uns “ dazu nicht brauchen. Solche Ergiessungen, für welche wir
in der Erfahrung gar keine Anhaltspunkte finden, schaden
der ansonst gewiss anerkennenswerthen Tendenz Fechner's. Sein Hauptwerk „ Elemente der Psychophysik“ kommt hier nicht in Betracht, obschon es das werthvollste ist.
Die verwandten Anschauungen .
218
2. Dr. Heinrich Schindler.
Schindler ist das gerade Gegenstück der Spiritisten, als Arzt und gründlicher Kenner dieser Phänomene in der Geschichte der Menschheit zweifelt er nicht an ihrer Realität, verwirft aber die Intervention anderer Wesensreihen , indem
er Alles auf das „ magische Geistesleben “ des Menschen zurückführen will, also auf das, was wir die vierdimensionale Thätigkeit der Seele innerhalb des Zellen-Organismus genannt haben. Die Spiritisten machen es umgekehrt ; bei ihnen ist Alles „Geister - Spuk “ , mitunter selbst das zufällige Krachen der Einrichtungsstücke, Krankheiten oder sonstige Schicksalsfälle.
Dass in der menschlichen Natur ein Gegensatz wahr genommen wird, ist unläugbar, und haben alle Denker ihn
auf ihre Weise zu erklären gesucht , oder vielmehr ihn getauft; wir werden die analogen Gegensätze der Neuzeit
summarisch einander entgegensetzen. Ding an sich
Erscheinung
Subject
Person
Kant :
Vorstellung, Intellect
Schopenhauer : Wille Hartmann : Unbewusstes Nach meiner Auf- Uns bewusste Triebe und
stellung entweder : oder auch :
Ahnungen der Seele Vierdimensional
-
Bewusstes Bewusste Urtheile
des „ Ich “ Dreidimensional.
Schindler gibt diesen Gegensätzen eine neue Be zeichnung, er nennt sie „ Polarität des Geistes“. Die eine Seite wäre dann die „ magische“. Er sagt (Seite 10 ): Wenn der gesammte Organismus in der Willensrichtung des Tages begriffen ist , wenn die Sonne des Gehirns leuchtet
und das wie nur
ihre Strahlen in die Aussenwelt versendet , da verschwindet bildende Leben mit seinen Ganglien aus dem Bewusstsein, die Sterne am Firmament vor den Strahlen der Sonne , und ein stilles sinniges Wirken , wie im Innern der Erde , sorgt für Ernährung und Stoffwechsel. Aber wenn der Tag sich neigt , wenn das Leben des Gehirns und der Sinne sich zurück
Die verwandten Anschauungen .
219
zieht , wenn die Bildungsrichtung den Schauplatz des Lebens einnimmt , da treten aus allen Tiefen des Raumes die Sterne
leuchtend hervor : da sind es nicht die Sinne , welche uns mit der Aussenwelt in Verbindung setzen, da ist es das stille Walten und Schaffen der mütterlichen Erde, was tief in den Organismus, das eigene Gebilde schöpferischer Thätigkeit , hineindringt ; da sind es ihre geheimen Gedanken und Regungen , welche in uns
wiederklingen , ohne dass wir diese Klänge hören und verstehen. Sehen wir diesen Dualismus im Leben alles Tellurischen , was
kann uns abhalten , ihn auch im Geiste zu vermuthen, denn was ist der Geist anders , als die höchste Stufe lebender Thätigkeit, was ist das Leben anders , als die erste Regung geistiger Ent
wickelung!
Die Polarität organischer Lebensthätigkeit wiederholt
sich als Polarität des Geistes."
Eine Polarität, d. h. ein Gegensatz besteht ; doch ist mit der Behauptung, dass die „ Exaltation des magischen Seelenpoles“ diese Phänomene bewirke und in anderen eine gleiche Exaltation hervorrufe, für die Erklärung nichts ge wonnen .
Die obigen Gegensätze sagen alle mehr aus , als
der Begriff der „Polarität“. Es ist das übrigens durchaus kein schlecht gewählter Ausdruck für das immerwährende Schwanken von Fühlen und Denken , Ahnen und Wissen u. s. w. Wenn Schindler den grössten Theil dieser Er scheinungen der eigenen „magischen “ Natur zuschreibt , so hat er ganz recht. Kann man aber alle so erklären wollen ? Schindler verwickelt sich dadurch in einen Wider
spruch mit vielen seiner eigenen Anführungen, wenn er das a ufrichtig meint, und nicht dem Vorurtheile Concessionen macht. Er sagt z. B.: „ Capentarius berichtet, dass ein kranker Bischof Griechisch und Lateinisch gesprochen, während er der letzteren Sprache
nicht mächtig war ;
Ludwig Hugo erzählt, dass ein Bedienter Heinrich des
IV. im Fieber Griechisch geredet , und Fernelius , dass ein Kranker im Schlafe Lateinisch und Griechisch sprach. Eine junge Frau, welche weder schreiben noch lesen konnte, redete , wie D. Benecke anführt, im Nervenfieber unauf
220
Die verwandten Anschaúungen.
hörlich Griechisch, Lateinisch und Hebräisch “, und so geht es Seiten lang fort, bis Schindler selbst sagt, dass bei den Besessenen es als ein Kriterium der wahren Besessen
heit galt, wenn sie fremde Sprache redeten. Es muss also doch etwas an der Sache sein , wenn es geschichtlich und ämtlich tausendmal constatirt wurde.
Gibt Schindler
die Wahrheit dessen, wenn auch nur in einem Falle zu, was er denn doch überhaupt zugibt , so ist es klar , dass das magische Geistesleben als solches nicht mehr ausreicht. Man kann der Seele ein Fernsehen >, tieferes Wahr
nehmen u. 8. w. zuerkennen , nicht aber ein Sprechen von Sprachen , wenn sie sie nicht erlernt und gesprochen. Es bleibt also nur die Wahl , entweder andere Wesen anzu
nehmen, die durch den fremden Organismus sprechen, was Schindler verwerfen muss , weil er ihre Existenz nicht zugibt , und Alles durch die eigene Seele erklären will ; was das Natürlichere ist die Seele kennt das Idiom, welches in einem Zustande der Befreiung vom ficti
oder
ven „ Ich“ zu Tage tritt , was so viel heisst , als Seelen wanderung. Ist diese aber gegeben, so wird ein Zustand der Seele ausserhalb des Zellen -Organismus nicht nur denk. bar, sondern geradezu unausweichlich .
Ich gestehe offen , dass es mir ganz und gar unwahr. scheinlich wird , dass ein Mann , der so genaue Kenntniss der Facten hat, nicht auch die Consequenzen ziehen sollte, und sich vom Vorurtheile so umstricken lassen würde ; ich glaube daher , dass das Buch nur den Vorposten zu ver gleichen ist , welche dem Gros der Armee den Aufmarsch erleichtern sollen.
Vielleicht hat Schindler recht , un
ich unrecht , die Nerven der öffentlichen Meinung nicht zu
berücksichtigen. Ein angeschossener Hirsch wird von den Mitgliedern des Rudels im Selbsterhaltungstriebe ausge. stossen ; ebenso lehrt die Erfahrung, dass die Herren Pro
fessoren, Doctoren und Mitglieder der verschiedenen wissen
Die verwandten Anschauungen.
221
schaftlichen Vereine alle als Ketzer ausstossen, die auf den Nimbus der vermeintlichen „ exacten Forschung“ störend einwirken könnten. Wer aber nicht zum Rudel gehört,
kann offenbar nicht ausgestossen werden ; den Kampf fürchte ich nicht, warum soll ich mir nicht das Vergnügen machen, auf der grossen Domaine der menschlichen Vorurtheile ,,ein bischen aufzumischen“.
Meine Existenz ist ohnehin ver
pfuscht , mag sie sich wenigstens auf diese Weise ver werthen !* )
3.
Alfred Russel Wallace .
Wallace gründet seine Weltanschauung fast einzig
und allein auf die Thatsachen des Spiritualismus – wenig stens in seinen diesbezüglichen Schriften , welche Welt
anschauung ihm aber durchaus nicht im Widerspruche mit
den Naturwissenschaften, deren sehr competenter Vertreter er ist , zu stehen scheint. Er sagt in seiner Vertheidigung *) Man muss überhaupt darauf gefasst sein , dass die nächste Zeit die Thatsacben zwar zugeben , aber unter dem Drucke des Vor
urtheils die haarsträubendsten Erklärungsweisen bringen wird. So hat ein Leipziger Cand. med. (Leeser) eine Erwiderung auf Wundt's
Brochure veröffentlicht, in welcher er Letzteren bekämpft und die Thatsachen zugesteht ; doch hat er einen solchen Respect vor der vierten Raumdimension und anderen Wesensreihen, dass er es vorzieht,
alle diese Erscheinungen dem Reichenbach'schen 0 d zuzuschreiben, Der Brand von Upsala muss odische Strahlen bis zu dem auf dem Meere schwimmenden Swedenborg ausstrahlen ; der verschwundene Tisch wird „ odisch“ gehoben und im Rücken Zöllner's gehalten ; die thätigen, schreibenden, fühlbaren und sichtbaren Hände und Füsse
sind auch odische Ausstrahlungen ! – Es wäre höchst interessant zu wissen , 1. wie diese odischen Kräfte entstehen , oder im Wege der Anpassung erworben werden sollen , und 2. warum , da sie doch vom
Organismus unabhängig werden sollen (d. b . da meine Hand ganz rubig sein und doch mir unbewusst schreiben kann u. 8. w.),
ich
frage, warum diese odischen Kräfte oder Organe dann zu Grunde gehen sollen ? Es wird ein Räthsel durch ein grösseres erklärt. Dass
222
Die verwandten Anschauungen.
des modernen Spiritualismus (Seite 47 , Uebersetzung von Gregor Wittig, Leipzig ):
„Bei jeder anderen experimentellen Untersuchung wird ohne Ausnahme die Bestätigung der Thatsachen eines frühe ren Beobachters als eine so grosse Vermehrung ihres Werthes erachtet, dass sie Niemand mehr mit derselben Ungläubigkeit behandelt , mit welcher sie das erste Mal, da sie angekün digt wurden , hätten aufgenommen werden können . Und wenn die Bestätigung von drei bis vier unabhängigen Beob achtern unter günstigen Bedingungen wiederholt worden ist und nichts weiter als eine Theorie oder ein negatives Zeug niss dagegensteht, so werden die Thatsachen zugestanden wenigstens vorläufig und bis sie durch ein grösseres gewich tiges Zeugniss widerlegt werden, oder bis die genaue Quelle der Täuschung der vorhergehenden Beobachter entdeckt ist. ein höchst unver Aber hier wird ein total verschiedener nünftiger und unphilosophischer Weg verfolgt. Jede
frische Beobachtung, welche sich auf ein früheres Zeugniss stützt , wird behandelt , als ob sie jetzt zum ersten Male auftrete; und man verlangt wieder neue Bestätigung für sie. Und wenn diese neue und unabhängige Bestätigung kommt, so wird dennoch nach weiterer Bestätigung verlangt, und so geht es weiter ohne Ende. Dieses ist ein recht eine Hand aus Zellen weit wunderbarer ist , als eine solche aus orga
nischer oder irgend welcher Od - Substanz , müsste einem Mediciner einleuchtend sein , und ihm den Gedanken der Identität der Projec
tionskraft nahe legen. Ebenso kann es ihn geläufiger sein, die drei dimensionale Anschauungsform als Product der Organisationsform zu
erkennen , wodurch die Verschiedenheit der Raumánschauungen und Dimensionen gegeben ist , wie das schon Kant erkannte. Allerdings war er kein Candidatus Medicinae, sondern Philosoph, und die haben in der Gegenwart nicht mitzureden. Solche Bestrebungen nach wenn auch unhaltbaren Erklärungsweisen sind übrigens nicht vom Uebel, im Gegentheile , sie sind die unvermeidlichen Geburtswehen neuer Gedanken.
Die verwandten Anschauungen.
223
pfiffiger Weg , eine neue Wahrheit zu ignoriren oder zu unterdrücken ; aber die Thatsachen des Spiritualismus sind überall vorkommend und von einer so
unbestreitbaren
Natur, dass sie in jedem ernsten Forscher die Ueberzeugung erzwingen. So ist es gekommen, dass, obgleich jeder neue Bekehrte einen verhältnissmässig grossen Theil von der Reihe beweisender Thatsachen wiederholt verlangt, ehe er ihnen beipflichtet, die Zahl solcher Bekehrten dennoch wärend eines Viertel - Jahrhunderts sich stetig vermehrt hat. Geistliche aller Secten , Schriftsteller und Rechtsgelehrte, Aerzte in grosser Zahl , nicht wenige Männer der Wissen
schaft, Schulartisten, philosophische Skeptiker , reine Mate rialisten , sie alle sind bekehrt worden durch die überwäl tigende Logik der Phänomene , welche der Spiritualismus ihnen vorgeführt hat.“ Er sagt ferner sehr schön und richtig (Seite 93) : „ Die so oft aufgestellte Behauptung, dass der Spiritualismus das Ueberbleibsel oder die Wiedererweckung alten Aberglaubens
sei , ist so äusserst unbegründet, dass sie kaum einer Be achtung werth ist.
Eine Wissenschaft der menschlichen
Natur , welche auf beobachtete Thatsachen begründet ist, welche nur an Thatsachen und Experiment appellirt, welche keinen Glauben auf Vertrauen annimmt , welche Unter suchung und Selbstüberzeugung als die ersten Pflichten
intelligenter Wesen einschärft, welche lehrt, dass Glückselig keit in einem zukünftigen Leben nur gesichert werden kann durch höchste Ausbildung und Entwickelung der höheren Fähigkeiten unserer intellectuellen und moralischen Natur, und nach keiner anderen Methode ,
sie ist und muss
der natürliche Feind alles Aberglaubens sein. Der Spiri tualismus ist eine Experimental-Wissenschaft und gewährt
die einzige sichere Grundlage für eine wahre Philosophie und eine reine Religion. Er vernichtet die Ausdrücke „ übernatürlich “ und „ Wunder“ durch seine Erweiterung
Die verwandten Anschauungen.
224
der Sphäre des Gesetzes und Reiches der Natur ; und indem er dieses thut, nimmt er auf und erklärt Alles, was
wahr ist im Aberglauben und in den sogenannten Wundern aller Zeitalter. Er, und nur er allein, ist im Stande , sich
widerstreitende Glaubensbekenntnisse in Einklang zu bringen ; und er muss schliesslich zur Versöhnung unter der Mensch heit in Sachen der Religion führen, welche durch so viele Zeitalter hindurch die Quelle unauthörlicher Zwietracht und
unberechenbaren Uebels gewesen ist ; - und er wird im Stande sein , dieses zu vollbringen , weil er an den Beweis anstatt an den Glauben appellirt und Thatsachen für Mei nungen substituirt; und er ist somit auch im Stande, die
Quelle vieler Lehren nachzuweisen, welche die Menschen so oft für göttlich gehalten haben .“ ( Seite 107) : ,, Der Spiritualismus liefert, wenn er wahr ist, solche Beweise von der Existenz ätherischer Wesen und
ihrer Kraft, auf die Materie zu wirken , dass er die Philo sophie umgestalten muss. Er beweist die Wirklichkeit vorher unbegreiflicher materieller Gestalten und Existenz weisen ; er weist den Geist ausserhalb des Gehirns nach
und die Intelligenz als losgelöst von ihrem sogenannten materiellen Körper ; und damit schneidet er alles Vorurtheil gegen unsere fortdauernde Existenz ab , nachdem der phy sische Körper disorganisirt und aufgelöst worden ist. Doch noch mehr , er beweist so vollständig , als die Thatsache bewiesen werden kann, dass die sogenannten Todten weiter leben ; dass unsere Freunde stets bei uns sind , wenn auch unsichtbar, und uns leiten und stärken, wenn sie in Folge Mangels an geeigneten Bedingungen ihre Anwesenheit nicht
kundgeben können. Er liefert somit jenen Nachweis eines zukünftigen Lebens , nach dem so Viele in ängstlichem
Zweifel, so Viele in positivem Unglauben dahinleben und Wie schätzbar die durch geistige Mittheilungen gewonnene Gewissheit ist, kann daraus entnommen werden,
sterben .
Die verwandten Anschauungen.
225
was ein Geistlicher , welcher die modernen Phänomene als Zeuge erlebt, zu einem meiner Freunde gesagt hat : - „ Der
Tod ist für mich jetzt ein ganz verschiedenes Ding von dem, was er mir jemals zuvor gewesen ist; von der grössten Niedergeschlagenheit wegen des Todes meiner Söhne aus gegangen, bin ich nun voller Vertrauen und Heiterkeit, ich bin ein verwandelter Mann.“ – Dieses ist die Wirkung des modernen Spiritualismus auf einen Mann , welcher Alles besass, was der Glaube an das Christenthum ihm zuvor
gewähren konnte ; und dieses ist die Antwort für Diejenigen, welche fragen : „ Wozu nutzt er? " Er setzt eine bestimmte,
reelle und praktische Ueberzeugung an Stelle eines vagen, theoretischen und unbefriedigenden Glaubens. Er liefert wirkliche Kenntniss über einen Gegenstand von lebendiger Wichtigkeit für alle Menschen , von dem selbst die weisesten
und die fortgeschrittensten Denker dafür gehalten haben, dass kein Wissen über ihn erreichbar sei. (Siehe Wallace,
„ On Miracles etc.“, p. 212—213. Deutsch bei O. Mutze, Leipzig.) Der Unterschied , welcher zwischen meiner und Wal .
lace's Ansicht besteht, liegt in folgenden Punkten : 1. Wallace schliesst aus dem Wirken einer fremden
Intelligenz, aus der Natur mancher Kundgebungen und der Aehnlichkeit einzelner Erscheinungen mit Verstorbenen auf die Identität dieser Wesen mit uns ; ich lege hingegen den grössten Werth auf die Projection uns analoger Organe, deren
Projection durch Zellen bisher ein ungelöstes Räthsel war. 2. Wallace macht keinen scharfen Unterschied zwi .
schen fremder Einwirkung und dem Durchleuchten der eigenen vierdimensionalen Natur beim Fernsehen und Wahr
träumen , der von weittragender Bedeutung ist. Aus der Vernachlässigung oder vielmehr zu geringen Beachtung dieser beiden Punkte entspringt der Umstand, dass
3. Wallace Alles , was dem biologischen Processe vorhergeht, und was einen öfteren Eintritt in denselben Hellenbach , Vorurtheile. II.
15
Die verwandten Anschauungen .
226
nothwendig macht, nicht berührt, seine Leser diessbezüglich also über seine Ansicht im Unklaren lässt, während ich die
Projection der Organe diesseits und jenseits des Zellen
Organismus in Zusammenhang bringe , und die öftere Wiederholung als eine Nothwendigkeit aufstelle. Durch meine Auffassung wird die Lehre Darwin's ,
wie nicht minder Haeckel's Auffassung von der Stammes und Keimes -Geschichte - dass die letztere eine Recapitu lation der ersteren sei – zur annehmbaren Wahrheit ; das Fernsehen anormaler Organisationen und das Auftreten
fremdartiger Wesen werden zu begreiflichen Erscheinungen, unser ganzes Wesen zu einem Entwickelungs-Product , die
bestehende Weltordnung zum gerechtesten Moralprincip, das nur gedacht werden kann ! Ich bin das , zu was ich mich gemacht , und werde das sein , zu was ich mich machen
werde, die Summe meiner Erfahrungen, Arbeiten und Leiden capitalisirt sich in mir, und führt mich - früher, später zur Vervollkommnung, zur Befreiung von dem uns bekannten biologischen Process ! Dass wir Menschen an der äussersten Grenze der Zellenexistenz stehen , findet seine Begründung in dem Umstande, dass der Zweck derselben -- die Illusion unseres Bewusstseins, der Schleier der Maja , bei den vor . geschritteneren Köpfen nicht mehr vollkommen erreicht werden kann.
Christus hatte recht , wenn er vom ewigen zukünf tigen Leben sprach, für jene, die das Thier in sich nieder geschlagen haben, und mit Verachtung der irdischen Freuden
ihren Geist zu einer transscendenten Welt richten , jedoch nicht im Sinne eines Kloster - Geistlichen , sondern eines Kämpfers für die Culturentwickelung. Er selbst steht da
als leuchtendes Beispiel einer grenzenlosen Hingabe an den Entwickelungsprocess !
Die verwandten Anschauungen .
227
4. Gotthold Lessing. Wir kommen nunmehr zu einer Gruppe , welche inso fern als noch näher verwandt den durch mich vertretenen
Ansichten gelten muss, als sie den Wiedereintritt in unsere bekannte Lebenserscheinung klar und deutlich ausspricht. Von Fourier habe ich das bereits erwähnt, wie nicht
minder, dass es nicht eigentliche Gründe sind, die ihn dazu
veranlassen , sondern ein Gemisch von Annehmbarkeit und unbewusstem Glauben. Ob
die
Ansichten Lessing's diessbezüglich auf
gleichen Motiven wie bei Fourier ruhen , wage ich nichi
zu entscheiden , ist auch gleichgiltig ; eine gründliche Er örterung dieser Fragen ist bei ihm nicht zu finden . Das, was hier angeführt werden wird, genügt, um die Ver wandtschaft der Ansichten zu beweisen.
Lessing sagt in seiner „ Erziehung des Menschen geschlechtes“ : „ Sie wird gewiss kommen , die Zeit eines neuen, ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementar
büchern des neuen Bundes versprochen wird.
Vielleicht,
dass selbst gewisse Schwärmer des dreizehnten Jahrhunderts einen Strahl dieses neuen, ewigen Evangeliums aufgefangen haben , und nur darin irrten , dass sie den Ausbruch des selben so nahe verkündigten. Der Schwärmer thut sehr oft
richtige Blicke in die Zukunft, aber er kann diese Zukunft noch nicht erwarten .
Er wünscht diese Zukunft beschleu
nigt, und wünscht, dass sie durch ihn beschleunigt werde.“ Lessing nimmt den rothen Faden , der sich durch die Kundgebungen des unbewussten Lebens zieht , wahr, wenngleich er sich über die Provenienz dieses Fadens und
die Veranlassung keine Rechenschaft zu geben vermag, warum die Producte dieser Schwärmer so verschwommen sind. Er wirft dann die Frage auf: Was hat er (der
Schwärmer) davon, wenn das, was er für das Bessere hält, 15*
Die verwandten Anschauungen.
228
erkennt, nicht noch bei seinen Lebzeiten das Bessere wird ? Kommt er wieder ? Glaubt er wieder zu kom men ? – Sonderbar , dass diese Schwärmerei allein unter den Schwärmern nicht mehr Mode werden will!"
Nunmehr schliesst er den bemerkens
werthen Aufsatz mit folgenden Worten : „ Und wie , wenn es nun gar so gut als ausgemacht wäre, dass das grosse langsame Rad , welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere , schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde , deren jedes sein Einzelnes eben dahin liefert ?
„ Nicht anders ! Eben die Bahn , auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt , muss jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben. - In einem und ebendemselben Leben durchlaufen haben ? Kann er in eben demselben Leben ein sinnlicher Jude und ein geistiger Christ
gewesen sein ? Kann er in ebendemselben Leben beide überholt haben ?
„ Das wohl nun nicht !
Aber warum könnte jeder ein
zelne Mensch auch nicht mehr als einmal auf dieser Welt vor handen gewesen sein ?
„Ist diese Hypothese darum so lächerlich , weil sie die älteste ist ? Weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte , sogleich darauf ver fiel ? „ Warum könnte auch ich nicht hier bereits einmal alle
die Schritte zu meiner Vervollkommnung gethan haben , welche bloss zeitliche Strafen und Belohnungen den Menschen bringen können ? Und warum nicht ein andermal alle die , welche zu thun , uns die Aussichten in ewige Belohnungen so mächtig helfen ? „ Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen , als ich
neue Kenntnisse , neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin ? Bringe ich auf Einmal so viel weg , dass es der Mühe , wieder zu kommen , etwa nicht lohnet ? Darum nicht ?
Oder weil
ich es vergesse , dass ich schon dagewesen ? Wohl mir , dass ich das vergesse . Die Erinnerung meiner vorigen Zustände würde mir nur einen schlechten Gebrauch des Gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf jetzt vergessen muss , habe ich denn
Die verwandten Anschauungen.
229
das auf ewig vergessen ? Oder weil so viel Zeit für mich ver Und was habe ich denn Verloren ? loren gehen würde ? zu versäumen ? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein ?
Lessing hat sich sehr viel mit den griechischen Klassikern beschäftigt, und mag er daher den Impuls zu dieser Anschauung bekommen haben ; doch ist es höchst bemerkenswerth, dass er, ohne die Stützen zu haben, welche
die moderne Entwickelungs - Theorie der Organismen und die Experimente mit den anormalen Organisationen bieten, die Seelenwanderung als die natürlichste Unterlage für das Weltverständniss und die Moral betrachtete.
5. Dr. Gustav Widenmann. Das Wiedererscheinen auf diesem Planeten wurde von
Dr. Gustav Widenmann in einer kleinen gekrönten Preis
schrift behauptet und vertheidigt. Er hat die ganz richtige Anschauung, dass die Menschen „naturgemäss an den weitern Gang der Geschichte ihres Planeten gebunden sind, und die Theilnahme an deren Stufenentwickelung zu ihrer eigenen Vollendung nothwendig sei.“ Er vergleicht das „ abwech selnde Kommen in die Welt “ und das „ Zurückgehen in die Ruhe mit dem Wechsel von wachen und schlafen innerhalb eines Erdenleben." Was ganz richtig ist , wenn man die
Worte versetzt, d. h. unser Leben mit dem Schlafe ver gleicht , nicht aber umgekehrt. Widenmann lehnt sich an Drossbach an, und kommt dadurch in grosse Verlegen heiten. Auch will er nicht in Widerspruch mit der Prophe zeiung der Schrift kommen, welche ein Wiederaufstehen am jüngsten Gerichte verheisst. Was geht mit dem unver weslichen Stoffe, welcher von dem Tode an in der Erde
ruht, bis zur Wiederholung, Belebung am Ende der Planeten Geschichte vor ?" Das ist bei seiner Anschauung allerdings
nicht zu beantworten. Er glaubt, dass erst an jenem Tage, „ nach Ablauf der Menschheits- Geschichte,“ wir die früheren
230
Die verwandten Anschauungen .
Spuren und Eindrücke wiederfinden und überblicken werden. Diese Ansichten sind um so unbegreiflicher, als er über den Somnambulismus sich Seite 43 folgendermassen äussert : „Ausser den phantastischen Ausgeburten und Wande rungen der Phantasie im niederen Grade dieses krankhaften
Schlaflebens, zeigen sich im höhern Grade desselben, in dem Stadium , wo sie auf Fragen antworten , sehr oft Blicke, welche ein tiefes, in das Innere einzelner Organismen und in die Zukunft eindringendes Wissen verrathen, was selbst Männer der kältesten Kritik (siehe z. B. das Werk von
Fischer aus Basel über den Somnambulismus) zugaben, und führen Reden, ertheilen Ermahnungen in hohem moralisch religiösem Styl und poetischem Schwung ; wenn sie jedoch erwachen , so wissen sie von Allem , was sie geschaut und was sie gesprochen , von dem ganzen Verkehr , welchen sie während des Schlafes mit den Umgebungen hatten , nicht das Mindeste , halten es meist für ganz unmöglich , dass dies alles mit ihnen geschehen sei, und während im Schlaf die Verhältnisse des wachen Lebens ihnen offen daliegen, ist nach dem Erwachen Alles, was im Zustand dieses innern Schauens mit ihnen vorging, aus ihrem Bewusstsein vertilgt. Der wache Geist ist also von einem gewissen Schauen und
Erkennen ausgeschlossen, welches diesen krankhaft Schlafen den aufgeht.“ Diese Thatsache weist denn doch darauf hin , dass unser Schlaf mit dem Erdenleben , und unser Tagesleben
mit einer unbekannten Existenz zu vergleichen ist , wie es Fourier auch richtig verglichen hat. Sagt Widenmann doch selbst Seite 46, „ dass der Körper seinem gewöhnlichen wachen Leben nach im Zustande einer Verdunklung sein muss, welche jenes tiefere Schauen verhindert.“ Sonderbar
ist es, dass er den leiblichen Tod für keine Nothwendigkeit, sondern für ein ererbtes Uebel hält ; er sei etwas Unnatür
liches , und darum graue er uns so. „ Ist eine solche Ent
Die verwandten Anschauungen .
231
artung des menschlichen Gattungsstoffes in uns, so geht sie auch auf unsere Nachkommen über , und ebenso kann sie auch durch unsere Aeltern in uns gekommen sein .“ Ich kann mir diese Behauptung nur durch das Streben erklären , die Fabel des Sündenfalls und der Erbsünde im buch stäblichen Sinne retten zu wollen. Weil Widenmann die Thatsache eines tieferen
Schauens im bewusstlosen Zustande nicht läugnen kann, so gibt er der Seele - bei ihm Individualkraft genannt – in der Zwischenzeit zwischen Erdenleben und Erdenleben wohl
ein tieferes Schauen und Empfinden , aber keine „ volle Thätigkeit aus Mangel des natürlichen Werkzeuges.“ Wie soll aber das Schauen oder gar Empfinden ohne irgend ein Organ denkbar sein ? Und wenn ein solches vorhanden, so ist Thätigkeit doch nicht auszuschliessen ! Ganz richtig meint Widenmann , dass sobald die Seele auf diese ,,Erde
hereingeboren wird , wird sowohl das in der Zwischenzeit
Erlebte als der Inhalt der früher durchgemachten Erden leben aus dem Bewusstsein gewischt sein .“ Es ist das richtig im Gedanken, aber sehr unklar im Ausdruck, denn das wird nicht weg gewischt, sondern es ist in dem ver gestellten „ Ich“ nicht da , weil dieses normalgemäss nichts enthält, als was ihm durch die Sinne des Zellenleibes zuge führt wird. Ebenso richtig ist die Anschauung Widen . mann's , dass trotz dieses Vergessens der Seele bleibt, was sie „in der Uebung des früheren Lebens , was sie durch
die Läuterung während des Zwischen-Zustandes gewonnen . “ Seite 51 sagt er sogar ausdrücklich , dass die Mythe der Griechen vom Lethe trinken so verstanden werden soll,
dass dies geschehe, wenn die Individualkraft wieder in den Erden - Tag eintritt.
Durch den Ausdruck Tag ent
steht die Confusion ; das ist die Nacht der Seele , das Zellenleben, der Traum, und es verwischt sich in der Seele
überhaupt nichts ; es liegt in ihr Alles capitalisirt , was sie
Die verwandten Anschauungen .
232
geschaffen und erfahren, in die Person des Zellen -Organis muss aber, in das geträumte „ Ich“, geht das Alles höchstens als Ahnung , jedenfalls aber als Instinkt und Anlage über. Durch den Satz (S. 67 ) : „ Aber nicht bloss das Interesse der wiederkommenden Individualkräfte lässt sich als Grund
des Wiederkommens denken, sondern auch das Interesse der anderen Menschen , beweist Widenmann eben falls, dass er es mit der Bibel nicht verderben , und der Sendung Christi ein offenes Thor lassen wollte. Doch hat
er darin übrigens recht, wie nicht minder mit der Behaup tung : „Für solche Menschen , welche kraft ibrer umfassenden Natur die Menschheit vollständiger in sich tragen als andere,
ist ein Wiederkommen eine geringere Nothwendigkeit, ja vielleicht wäre ihr Eintreten zu anderen Zeiten , als der, welche das Gepräge ihres Wesens trägt, eher eine Störung,“ was zu reguliren er dem göttlichen Geiste überlässt.
Widenmann ist jedenfalls ein Vertreter der Ent wickelung durch ein periodisches Erdenleben, nur sind seine Ansichten weit mehr ein vernünftiger Glaube, als ein Wissen
auf Grundlage von Erfabrung und richtigem Denken, darum ist Alles so verschwommen, unklar und oft widersprechend.
6. Dr. Eduard Wegener , Als eine verwandte Anschauung kann auch die des Dr. Eduard Wegener gelten, wie er sie in einer kleinen Schrift :
„Zum Zusammenhang von Sein und Denken,"
( Leipzig, Mutze) niedergelegt hat. Ich kann dem Leser den Gedankengang nicht mittheilen , wie Wegener zur Ent stehung des Bewusstseins gelangt, nur so viel sei gesagt, dass er im Wege stets vermehrter Schwingungen vom Ton zum Lichte , endlich zur Wärme und zum Bewusstsein gelangt, und meint er , dass sich auf diese Weise ein dem mate
riellen Körper analoger, ätherieller Geistes-Organismus ent wickele, „und dass sich fortdauernd während des Lebens,
Die verwandten Anscbauungen .
233
bei jedem Gedanken , bei jedem einzelnen Vorstellen kraft des ersteren (materiellen) nach dem Principe von der Erhal tung der Energie in die Imaginäre des letzteren (geistigen) umsetze “ .
Er folgert nun weiter : „ Wenn , so wie des Menschen Auge bricht, ein blendendes Licht, ein Blitzstrahl aus dem Bette hervorbräche, und wenn sich ein Donnerschlag hören liesse, oder auch , wenn plötzlich der Mensch in heissen Staub zerfiele und verschwände , ja wenn er vor unseren sichtlichen Augen aufgehoben würde und flöge gegen Himmel,
dann würden wir zu dem Schlusse berechtigt sein, dass die Seele sterblich sei.
Wir würden dann annehmen müssen,
dass sie wieder zu Licht , Elektricität, Schall geworden, dass sie wieder in Wärme übergeführt und in Kraft ver wandelt sei, welche den Leichnam unseren Augen entrückt hat. Nichts von alledem findet statt. Unsere Lieben sinken
zurück , werden stumm und kalt für uns ein Zeichen, dass der Geist (?) als solcher weiter lebt, und nicht der Erde wiedergegeben wird .“ Er fasst die Seele als ein räumliches, nicht ausge -
dehntes, sondern geistiges Wesen auf, das nicht unserer dreidimensionalen Welt angehört. Das Letztere hat seine Richtigkeit. Aber räumlich ausgedehnt kann sie darum doch sein, und rein geistig ist sie nicht. Ueber Raum und Geist ist schwer zu streiten, denn Raum ist etwas sehr Relatives, und der Begriff Geist gar nicht festzustellen. Ein Körper liches ist für uns das , was auf unsere Seite wirkt, und da
die Seele wirken kann , so ist sie auch ein Körperliches. Eine interessante Auffassung ist es hingegen, dass das, was für uns verschwindet , nur aus dem dreidimensionalen Raum heraus verschwindet und in den vierdimensionalen übergeht.
234
Die verwandten Anschauungen.
7. H. v. Kleist.
Die meisten Dichtungen , dramatische zumal , pflegen ihr Thema oder doch die Veranlassung in der Erfahrung zu
haben ; gewöhnlich sind es Ereignisse , an die der dichte rische Gedanke anknüpft. Was der Dichtung Kleist's bei seinem Käthchen von Heilbronn zu Grunde liegen mochte, das weiss ich nicht, aber das ist gewiss, dass der Grund gedanke und das ganze Détail der träumerischen Natur des Käthchens der menschlichen Natur in meinem Sinne ent
spricht , derart , dass ich keinen Anstand nehme , Kleist eine verwandte Anschauung zuzusprechen . In der Gartenscene sieht Käthchen mit geschlossenen
Augen, und spricht in für das „ Ich “ unbewusstem, für das Subject bewusstem Zustande. Sie blickt in das Innere des Grafen, erkennt die Liebe des sie nur Misshandelnden, prophezeit ihre Trauung. Sie erzählt ihm , dass sie ihn im Traume gesehen. Der Graf, von solchen Hallucinationen sonst frei, sieht sie auch , als er wie todt im Bette liegt,
das ganze Bild entrollt sich seinen Augen wieder. Die Uebereinstimmung und das Mal überzeugen ihn , dass es keine Imagination, sondern eine richtige Hallucination war, er ruft „ die Himmlischen und Urewigen “ an , erklärt sich als doppelt. Was mir ein Trauin schien, nackte Wahrheit ist's ! " Auf das hin fasst er Vertrauen zum zweiten Theile
seines Traumes, dass sie des Kaisers Tochter sei. Die wahrträumenden Naturen sind selten, noch seltener
dürfte es sich fügen, dass zwei solche Naturen durch das Schicksal zusammengeführt werden ; sollte das aber der Fall sein, so sind Dinge, wie sie Kleist poetisch schildert,
nach den gegebenen Erfahrungen nichts Unmögliches. Ob nun Kieist an diese Dinge geglaubt , das ist allerdings unerweislich , dass er sie gedacht, und zwar richtig gedacht,
Die verwandten Anschauungen .
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ist klar. Dichtungen sind aber Producte , an denen das Unbewusste mehr Antheil nimmt , als an anderen Geistes Producten. Es ist die Dichtung sogar immer um so werth voller , als sie mehr die Frucht des Gefühls und weniger der Combination ist.
Es bleibt sich daher gleich , ob
Kleist irgend eine Thatsache auf den Gedanken brachte, oder ob dieser aus seinem Urinnern kam
ich betrachte
ihn als einen Gesinnungsgenossen , denn das Factum zuge geben, entwickelt sich der Rest von selbst. Der Umstand , dass Kleist das „Käthchen“ dichtete, beweist natürlich nichts, aber die Art und Weise, wie er
es that, beweist eine richtige Auffassung der menschlichen Natur.
Er unterscheidet die bewusste Persönlichkeit von
dem unbewussten Subject, dem er ein Fernsehen, ein vier dimensionales Schauen zuerkennt, und zwar bei einzelnen
Naturen im Schlafe, bei einer anderen im sehr kranken Zustande. Ist das nicht ganz richtig ? Hat er sein Käthchen anders ausgestattet , als wir die menschliche Natur ge funden ?
Höchst interessant sind einige Beispiele von Fern wirkungen, die Professor Max Perty im Julihefte 1879 der „ Psychischen Studien “ veröffentlicht; und wenn einer meiner Leser die volle Wahrheit dieser Berichte bezweifeln sollte, so möge er sich der Worte Kant's erinnern , dass man
zwar den einzelnen Fall bezweifeln kann, aber allen Fällen zusammengenommen doch nicht widerstehen könne. Habe ich
mich von einzelnen solchen Fällen unwiderleglich überzeugen können , wie soll ich in die Erfahrungen Perty's und so Was läge auch daran, wenn in einzelnen Fällen Lüge und Betrug im Spiele waren ? Gibt es nicht falsche Documente und Geldzeichen,
vieler Anderer Zweifel setzen dürfen ?
und ruhen nicht dennoch unsere ganzen Cultur- und Rechts Zustände auf der Wahrheit und Echtheit derselben ?
Die verwandten Anschauungen.
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Zusammenfassung . Man muss einen Unterschied machen zwischen einer zwingenden Nothwendigkeit , einem unerschütterlichen Be
weise und einer durch eine grosse Reihe von Beobachtungen bestätigten Annahme. Wir haben bisher Folgendes sicher gestellt :
1. Dass es eine andere intelligente Wesensreihe gibt, die nicht zu den Eiweiss- Erscheinungen gehört.
2. Dass diese Wesensreihe in anderen physikalischen und ganz besonders anderen Raumverhältnissen existirt. 3. Dass sie den menschlichen analoge Organe zu pro
jiciren vermag ; falls ihr ein Organismus das Material dazu liefert. 4. Dass bei kranken oder anormalen Menschen Seelen
thätigkeiten auftreten , die ebenfalls nur durch eine dem
Menschen innewohnende Wahrnehmungsweise erklärt werden können, die mit unseren Sinnes- und Raumanschauungen nicht in Einklang zu bringen sind. Die Existenz und Identität zweier intelligenter Wesens
reihen – wenn auch in verschiedenen Erscheinungsformen
ist also dadurch erfahrungsgemäss bewiesen ;
die
Thatsachen sind unerschütterlich und unangreifbar festge
stellt, die sichtbaren Beweise befinden sich im Besitze Zöllner's und Anderer.
Kant hat schon zu seiner Zeit
die Ansicht ausgesprochen , dass man die einzelnen That sachen dieser Art wohl in Zweifel ziehen, aber allen zusam mengenommen Glauben beimessen müsse , und wie gering
war vergleichsweise das damalige Material gegen jetzt ! Derjenige, der dieses Gebiet ignorirt , beraubt sich selbst der Handhabe, einen tieferen Blick in die Natur zu machen . Was nun die Seelenwanderung oder besser gesagt den mehrmaligen Eintritt in den biologischen Process der Zellenwelt anbelangt , so liegt begreiflicherweise ein der
Die verwandten Anschauungen .
237
artiger zwingender Beweis nicht vor. Nichtsdestoweniger drängt sie sich unwiderstehlich auf.
Zöllner sagt (Natur der Kometen , Seite 320 ), dass der bewusste Erkenntnissprocess der Menschen im Wesent lichen als eine nur intensiv und extensiv gesteigerte Wieder
holung derselben fundamentalen Verstandes-Operationen zu betrachten sei, „ durch deren unbewusste Anwendung sich in einer ungeheuren Reihe von Generationen behufs der praktischen Orientirung durch unbewusste Schlüsse die so reich gegliederte Mannigfaltigkeit der Aussenwelt des menschlichen Bewusstseins entwickelte“ . Das ist wahr,
aber nur möglich, wenn das schliessende Subject die Urtheils Resultate in sich aufspeichert; in der Keimzelle lassen sie sich nicht ablagern ; nur wenn der Mensch die Erscheinungs form eines dauernden Subjectes ist , wird Alles durch sichtig ; dass aber die Herstellung dieser Erscheinungsform nur eine einmalige sein sollte, ist ganz und gar unhalt bar , wenn sich das menschliche Bewusstsein dagegen be greiflicherweise auch sträubt.
Man kann sich mit dem
Gedanken des Eintrittes in den biologischen Process und der daraus fliessenden Illusion unseres Bewusstseins nur
aussöhnen, wenn man an das denkt, was diesem substituirt
werden müsste. Die Monaden des Leibniz , die Realen Herbart's, die Emanation eines Alleinen-Willensoder Unbe wussten sind weit unbegreiflicher und durch gar nichts in der Erfahrung Gegebenes zu begründen. Was aber am entschiede sten gegen diese Anschauungen spricht, ist, dass die Welt ganz unverständlich wird, wohingegen das nächste Capitel den Beweis erbringen würde, dass mein Schlüssel die meisten Schlösser öffnet, und die schönste Ausbeute gibt.
Meine Anschauung ist die einzige , welche die organische Entwickelung verständlich macht, und dabei dem Welt gebäude einen vernünftigen , moralischen und sitt lichen Zweck unterschiebt. Es ist daher begreiflich,
238
Die verwandten Anschauungen.
dass ich dem folgenden Capitel den grössten Werth beilege, welches das aufgeführte Gebäude unter Dach setzen soll. „ An den Früchten sollt Ihr sie erkennen .“ Betrachten wir uns einmal die Frucht, welche dieser Baum der Er
kenntniss trägt ! Den eigentlichen Werthmesser einer philo . sophischen Anschauung bildet in letzter Linie doch nur das
Moralprincip, welches aus derselben hervorgeht !
IX . Capitel. Die Erhaltung der Kraft das einfachste und einzig brauchbare Moralprincip . Das Moralprincip des Materialismus. Das Moralprincip des meta physischen Monismus. Das Moralprincip des transscendenten Indivi dualismus.
Das Moralprincip Kant's und Christi. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichniss. Goethe.
Wir sind nunmehr an jenem Capitel angelangt, welches ich als die eigentliche Geburtsstätte meiner „ Vorurtheile der Menschheit" bezeichnen muss. So wie im ersten Bande
die Verschiebung der Eigenthumsverhältnisse auf eine un schädliche, humane, alle Rechte schützende Weise den Brenn punkt bildete , deren Beherzigung uns von den Schrecken einer socialen Revolution bewahren kann ; so ist die Fest stellung eines brauchbaren Moralprincips der Brennpunkt des zweiten Theiles .
Meine Leser werden im Laufe dieses
Capitels ermessen können, welche Wunden die Menschheit ihrer eigenen und der fremden Entwickelung dadurch schla gen muss , wenn die Zersetzung des alten Glaubens durch den Verstand auch die ernste Ueberzeugung einer trans
scendenten Weltunterlage im - wenn auch relativ - indivi dualistischen Sinne zertrümmert.
1. Das Moralprincip des Materialismus. „Vergebens predigt die Moral die Tugend , die nur
ein schmerzliches Opfer des Glückes sein würde, in Gesell
240
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip.
schaften , wo das Laster und die Verbrechen beständig gekrönt, gepriesen und belohnt werden, und wo die scheuss lichsten Frevel nur an denen bestraft werden , welche zu schwach sind , um das Recht zu haben , sie ungestraft zu begehen .“ So spricht Holbein , der Materialist. Es geht aus dieser Aeusserung hervor, dass sein Zeitalter bereits Mangel an Motiven für die Moral litt. Seither ist es nicht besser geworden.
Wie sollte es auch ?
Lange macht Kant den Vorwurf, dass er sowie schon Plato an eine intelligible Welt und einen intelli
giblen Charakter glaubte; er kennt nur diese Welt, und der gehe es am besten, wenn die Individuen am ungestör testen ihre eigenen Interessen verfolgen“. Wenn Alle ihr Ziel erreichen würden , so ginge es noch an, aber leider baut sich derzeit das Interesse des Einen auf dem Ruine
des Anderen, daher kann das Princip der ausschliesslichen Sorge für die eigenen Interessen - in welchem er das
Wesen des ethischen Materialismus erkennt (Seite 512, II,) wohl nicht als ein erspriessliches Moralprincip erkannt werden . Lange sagt ausdrücklich : „ In der That lässt sich schon heute kaum verkennen, dass die Weltanschauung derjenigen
Kreise , welche vor allen Dingen dem Erwerb nachjagen, und welche einem praktischen Egoismus huldigen, sich mehr und mehr zu einem Materialismus hinneigt.“ Strauss und Ueberweg stellen eigentlich zwei Religionen auf, eine materialistische für die Reichen , und
eine andere für die Armen. Consequent hat Strauss für die Socialisten , falls sie im Sinne materialistischer Ethik
auftreten sollten, nur Kanonen . Steht es so mit der Theorie, wie muss es da in der Praxis aussehen ? - Das Moral.
princip ist der schwächste Punkt des Materialismus. Ulrici berührt den wunden Fleck , wenn er sagt:
„ Unsterblichkeit ist nicht nur die strengste Widerlegung des Materialismus , sondern auch ein Hauptstützpunkt des
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip .
241
Glaubens an einen nach ethischen Principien waltenden Gott , weil sie die Bedingung ist der Erreichbarkeit der ethischen Bestimmung des Menschen , der Verwirklichung des ethischen Moral-Ideals, d. b. der vollkommenen Aus
und Durchbildung des menschlichen Wesens überhaupt, wie der Subjectivität des Einzelnen, nach der Jeder von Natur strebt , so sehr er auch über Form und Gehalt derselben
irren mag.“ Wenn wir nun auch die Göttlichkeit und den Materialismus bei Seite lassen - letzteren darum, weil wir nicht wissen , wie das Subject geworden so können wir
dennoch die zweite Hälfte obigen Satzes unterschreiben. Nach den jetzigen Erfahrungen ist eine relative Unsterb lichkeit , ein anderes Dasein garantirt, mit derselben aber
auch die Erreichbarkeit des „ menschlichen Ideals. “ Ulrici bemerkt ferner : „Heutzutage durchdringt alle
civilisirten Nationen ein Zug zum Sensualismus und Mate rialismus, eine Zweifelsucht oder doch Gleichgiltigkeit für alles Uebersinnliche , Ideale , eine immer weiter sich ver breitende , alle Rechts- und Sittengesetze verachtende , in Rohheit und Brutalität ausartende Selbstsucht, Genuss- und
Habsucht, die, wenn ihr nicht Einhalt geschieht, die Kräfte des Geistes wie des Leibes abschwächen und daher schliess lich zum Ruin aller Civilisation und Cultur führen muss.“
Das ist durch und durch wahr , und ebenso wahr ist es, dass diesem Uebel durch nichts besser entgegengetreten
wird, als durch die Ueberzeugung, dass sich in uns Alles capitalisirt, und wir für unabsehbare Zeiten durchsichtig sind, wie eine Laterne ; dass es daher auch für mich nicht
gleichgiltig ist , ob ich im Verborgenen niederträchtig oder edel handle, weil das Eine und das Andere sich capitalisirt, und nur für Wenige , und selbst für diese Wenigen nur kurze Zeit verborgen ist. Eine Voraussetzung, die mit dem Materialismus im grellen Widerspruche steht. Dass das materialistische Moralprincip – nach Lange's Il ellenbach , Vorurtheile. II.
16
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Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip.
eigenem Zugeständniss der volle Gegensatz zum christlichen — zur Social Revolution fiihre, darüber ist sich Lange klar ; er sagt am Schlusse seiner Geschichte des Materialismus : “ Wohl wäre es der schönste Lohn abmattender Geistes
arbeit , wenn sie auch jetzt beitragen könnte , dem Unab
wendbaren unter Vermeidung furchtbarer Opfer eine leichte Bahn zu bereiten und die Schätze der Cultur unversehrt in
die neue Epoche hinüberzuretten ; allein die Aussicht dazu ist gering." Schon früher sagt er (S. 538 ), dass nur Ideen and Opfer unsere Cultur noch retten könnten, und Seite 536 sagt er : „Eins ist sicher, wenn ein Neues werden und das
Alte vergehen soll, müssen sich zwei grosse Dinge vereinigen : eine weltentflammende ethische Idee und eine sociale
Leistung , welche mächtig genug ist, die niedergedrückten Massen um eine grosse Stufe emporzuheben.“
Was nun die „ sociale Leistung “ anbelangt , so haben wir im ersten Bande eine Massregel kennen gelernt, welche geeignet ist , die grosse sociale Schlacht , die unsere ganze Cultur und Millionen an Werthen unter den Trüm
mern tausendjähriger Errungenschaften begraben kann , in eine ganz unblutige und friedliche Arbeit zu verwandeln ; eine Massregel, welche die Kanonen nach Ablauf der leben den Generation , wenigstens was deren Verwendung dem Arbeiter gegenüber anbelangt, schon in die Rumpelkammer stellen könnte .
Was hingegen die mangelnde „ ethische Idee " anbe . langt , so ist dieses Geständniss des intelligentesten und geschicktesten Vertheidigers des Materialismus ganz unbe zahlbar ; denn dieses Geständniss beweist , dass der Mate
rialismus eine ethische Idee gar nicht besitzt, sondern eine
sucht , und dass sein bisheriges Moralprincip, der Egois mus , nichts taugt. Nun denn , wir werden diese ethische Idee liefern , aber sie wird auch den grössten Theil der
Die Erbaltung der Kraft als Moralprincip.
243
materialistischen Behauptungen, Errungenschaften und An schauungen ins Grab legen. Friede seiner Asche ! Was er sollte , hat er redlich
gethan ! Ich meine das nicht ironisch, die Cultur verdankt dem Materialismus viel !
2. Das Moralprincip des metaphysischen Monismus. Hat sich das Moralprincip den Materialisten als eine
Karrikatur, als Phantom erwiesen , so ist dasjenige, an welches wir jetzt herantreten , zwar von Fleisch und Blut,
aber noch immer eine magere, hässliche Dirne, um die Niemand freien wird
es ist kein Götterkind, keine
Brünbild !
Wir werden uns an die jüngste Publication Hart mann's halten, erstens weil es die jüngste ist , und Hart mann's Moralprincip doch noch annehmbarer ist, als das Schopenhauer's. Der Leser wolle sich durch die erste Seite nicht abschrecken lassen , welche die Eintheilung Hartmann's wiedergibt; das Buch ist nicht so trocken, als der Auszug; aber der Kritiker ist es dem Autor schuldig, den Aufriss der Hartmann'schen Ethik anschaulich zu machen .
An dieser Kritik wird sich meinem Leser das
Moralprincip des transscendenten Individualismus, das eben das meine ist und unmittelbar folgt, am besten entwickeln, so dass nur eine Zusammenfassung nothwendig sein wird, welche dann kurz und klar gegeben werden kann.
Hartmann hat seine Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins in zwei Abtheilungen zerlegt.
Die erste Ab
theilung beschäftigt sich mit dem pseudo - moralischen , die zweite mit dem ächten sittlichen Bewusstsein . Die
erste zerlegt er in die egoistischen und heteronomen
Moralprincipien ; unter die ersteren zählt er auch die trans scendente , positiv eudämonistische Moral , d. i. die christ liche Anschauung, und meint , dass sie in eine heteronome 16 *
244
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip.
Moral umschlagen müsse.
Das kann sie nun allerdings,
muss es aber nicht.
Das ächte sittliche Bewusstsein zerlegt er in die sub
jectiven , objectiven und absoluten Moralprincipien; die ersteren nennt er treffend die Triebfeder der Sitt
lichkeit, die er unter einem mit den sie vertretenden Philo sophien kritisirt. Die zweiten nennt er Ziele der Sitt lichkeit, die dritten den Urgrund der Sittlichkeit. Als Ziele der Sittlichkeit bezeichnet er das Gesammt wohl, die Culturentwickelung und sittliche Weltordnung, die nach meiner Auffassung aber mit einem vernünftigen trans scendenten Eudämonismus noch besser vereinbarlich sind.
Als Urgrund der Sittlichkeit stellt er folgende Moral
principien auf : Die „ Wesens- Identität der Individuen,“ die wir aber weder läugnen noch beweisen können, schon darum nicht, weil wir nicht wissen , wo die scheinbare Spaltung beginnt und aufhört.
Diese Frage liegt jenseits unseres
Erkenntnissvermögens, wie nicht minder die , Wesens-Identität mit dem Absoluten “ und das „ Moralprincip der Erlösung, 6
sobald darunter die Erlösung von der Weltexistenz über haupt verstanden werden soll.
Uns ist nur die Erschei
nungsform als aus Zellen erbauten) Organismen bekannt ; von dem, was darüber binausgeht, weiss die Hartmann'sche Philosophie nichts. Sie verwirft einen positiven absoluten
Zweck und plaidirt für einen negativen. Die Weltexistenz ist ein Gottesschmerz, seine Unseligkeit, die erst durch uns gleichsam überwunden werden muss , demzufolge dann das
Moralprincip der Erlösung als die höchste und letzte Stufe der Entwickelung , als die vollkommenheit des sitt lichen Bewusstseins hingestellt wird. Wir werden dann
meine moralische Weltordnung mit der seinen vergleichen. Meine ist jedenfalls viel schlichter und einfacher , ich ver tiefe mich nicht so , weil ich weiss , dass wir Beide den
Grund nicht erreichen werden, es daher rathsamer ist, nicht
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip.
245
tiefer zu gehen, als es unser Erkenntnissvermögen verträgt und unsere Erfahrungs- Data reichen , Mein Leser wird wissen , dass der Köder, mit welchem
Hartmann die Menschen zur Hingabe an die Cultur entwickelung fesseln will, die Befreiung von der bewussten Weltexistenz ist. Die Hingabe an die Culturentwickelung wäre ein ganz richtiges Ziel , die Befreiung von der Welt
existenz aber ist eine schwache Triebfeder. Hören wir, wie er dieses schwache Motiv zur Geltung bringt.
Meine der indischen Seelenwanderung wie auch der christlichen Lehre verwandte Anschauung bringt ein trans scendentes Moralprincip mit sich ; diesem macht Hart mann nun im Allgemeinen den Vorwurf, dass es die Ewig keit der Strafe annimmt (Seite 29). „ Ein so barbarischer Gott , der auf endliche Schuld unend. liche Strafe setzt , kann nur von einem Volk in barbarischen
Culturzuständen geglaubt werden ; bleibt hingegen in der Hölle die Möglichkeit der Bekehrung , so hat es ja mit derselben noch Zeit ; bestehi aber gar die Strafe nur im Vorwurf des eigenen Gewissens, so muss nothwendig mit der Zeit Abstumpfung und Verjährung eintreten , abgesehen davon, dass es mit solcher Ge
wissensstrafe überhaupt im Allgemeinen nicht ängstlich genommen wird. Wird aber erst einmal die jenseitige Vergeltung als eine der Schuld proportionale , zeitlich vorübergehende Strafe aufge fasst, so verschwindet ihre grösstmögliche Dauer vor der Ewig
keit einer durch vollbrachte Busse geläuterten Existenz so sehr, dass es dann auf eine Hand voll mehr oder weniger in der
Bussezeit gar nicht mehr ankommt.“ Alle diese Einwürfe entfallen meiner Anschauung gegen
über. Was ich immer wirke oder erfahre, capitalisirt sich im individuellen Subject, und die Hand voll mehr oder
weniger“ entscheidet die Stufe meiner Entwickelung ; es kommt daher sehr viel darauf an. Die Vergeltung ist keine bloss jenseitige oder diesseitige, sie ist eigentlich gar keine Vergeltung, sondern nur eine ununterbrochene Capitalisirung,
246
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip,
ich strafe und belohne mich selbst, und bedarf keiner frem
den Autorität, die mich belohnt oder bestraft, Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, dass man auch ohne solche Motive Menschen gut und vernünftig handeln sieht. Hartmann sagt (Seite 116) : Wohl dem , der mit einer solchen unschätzbaren Gabe eines natürlichen feinfühligen Takts gesegnet ist ; er findet sich in allen Lagen des Lebens zurecht, für ihn gibt es keine Con Alikte , überall weiss er mildernd und Segen stiftend einzugreifen, und schreitet, von seiner Umgebung verehrt und beneidet, bewun dert und geliebt, durch's Leben , ohne der Regeln und Maximen,
ohne überhaupt einer anderen Ethik zu bedürfen , als die er unbewusst im Busen trägt.
Solche Anlage lässt sich jedoch
nicht erwerben , sie wird als ein Geschenk von Gottes Gnaden angeboren und kann nur vor Unterdrückung durch üble Gewöhnung geschützt, durch Bethätigung nach ihrem eigenen Sinne gebildet und verfeinert werden .“
Zu einer solchen Handlungsweise gehört nicht nur die
Anlage , sondern auch andere günstige Constellationen der
socialen Verhältnisse, die nicht immer gefunden werden ; doch selbst diese Anlage ist kein Geschenk von Gottes Gnaden , sondern muss und kann nur erworben werden. Hartmann gesteht also zu , dass es solche Anlagen gibt ; woher kommt aber diese unbewusste Ethik ?
Meine Religion gibt darüber Aufschluss. Wenn ein Kind sich die Finger verbrennt, wenn ein Verschwender im Elende stirbt , ein Mörder gehängt wird , so sind das ebenso Erfahrungen , wie das befriedigende Gefühl einer vollbrachten guten That, eines wohlwollenden Opfers. Schon in diesem Leben werden gewisse Vorgänge, wie z. B. vor sichtiges Handeln zu einem unbewussten Vorgange ; hat Hartmann Garantien, dass alle unbewussten ethischen und auch sonstigen Anlagen nicht die Frucht vergangener Erfahrungen sind ? Wieviel Unbewusstes liegt nicht z. B. in meinem Clavierspiel, das erst ein „ Unbewusstes“ mit der
Die Erhaltung der Kraft als Moralprinoip.
247
Zeit wurde ? Die Liebe , das Mitgefühl braucht durchaus nicht auf der „ unbewussten Identität“ zu fussen , welche
übrigens immerhin tief im Hintergrunde der Zeiten und Welten wahr sein kann, aber dort gewiss noch nicht ist , wo sie Hartmann wähnt. Wenn Jemand durch eine be
wusste autonome That sittlich handelt , so ist das sein -
ich möchte sagen irdisches - Verdienst; wenn er es unbe wusst, aus natürlicher Anlage thut , so ist es die Frucht
capitalisirter sittlicher Thätigkeit, das Ergebniss früherer Erfahrungen. Schon Buckel betrachtet den Einfluss, den unsere bewusste Verstandesthätigkeit und unsere unbewussten, instinktartigen , wirkenden Ueberzeugungen ausüben , als gleichwerthig. Es ist richtig, dass dieser unbewusste Instinkt durch die Erziehung in Generationen erzeugt wird , doch ist es unrichtig, dass er in Keimzellen abgelagert werden kann. Dadurch bekommt der Streit über die Freiheit des
Willens und der Zurechnungsfähigkeit eine ganz andere
Lösung. Hartmann hat von seinem Standpunkte ganz recht, wenn er behauptet, dass Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit durchaus auf phänomenalem Gebiete liegen , und dass ihre Wurzeln nicht tiefer hinabreichen können , als diejenigen der phänomenalen Indivi . dualität; diese aber reicht eben viel weiter, als Hart mann glaubt. Man kann demzufolge die Verantwortlich keit einer zeitlichen That ganz gut über das irdische Leben hinaus suchen und schieben , ohne darum in das Ueber zeitliche und Transscendente “ zu greifen. Die Thatsachen der neuesten Zeit haben übrigens den Beweis geliefert, dass der Ausdruck „transscendent“ in seiner bisherigen allge meinen Bedeutung, als das Sinnliche oder die Erfahrung
Uebersteigende, nicht mehr anwendbar ist. Die Determination des Willens beruht auf den Motiven
und dem charakterologischen Willen, selbst nach Hartmann ; dass die Menge und Richtigkeit der Motive mit der längeren
248
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip.
Erfahrung zunimmt, wird Niemand bestreiten können. Darauf gründet sich unser ganzes Erziehungs -System und Straf
Verfahren . Die längere Dauer der Individuation erklärt die charakterologische Anlage und die bessere, oft ins unbewusste Handeln bereits übergehende Folgeleistung auf richtige und gute Motive ; sie erklärt unsere psychische Reactionsfähigkeit den gegebenen Relationen des Lebens
gegenüber, und dadurch den „ intelligiblen Charakter; " auf welcher Seite stärkere Motive für Hingabe an die Cultur
entwickelung liegen , ob in Hartmann's oder in meiner Weltanschauung - das kann ich ruhig der Beurtheilung des Lesers überlassen. Nur weil Hartmann eine längere
Dauer der Individuation läugnet, verfällt er dem Pessimis mus. Hartmann sagt Seite 554 : Wer nur ein wenig in den Lauf der Natur hineinschaut und darauf achtet, wie Millionen von Spermatozoiden und Tau
sende von Eiern zu Grunde gehien , ohne nur in den Keimungs process einzutreten ; wie Milliarden von Embryonen vernichtet werden auf eines , das zur Entwickelung gelangt , wie viel Kinder als Säuglinge dahingerafft werden ; wie viel hochbegabte Menschen nach genossener Ausbildung sterben müssen , bevor sie dazu
gelangen, sich schaffend zu bethätigen ; wie durch schreckliche Naturereignisse rücksichtslos Glück und Leben von hundert. tausenden feipfühligen Menschen zermalmt wird ; wie der Kampf
ums Dasein unter Racen, Völkern und Stämmen immer von Neuem zahllose Opfer fordert; wie überall die Individuen niederer Ordnung massenhaft für das Gedeihen der durch sie constituirten
Individuen höherer Ordnung geopfert werden , wer alles dies sieht, der wird sich nicht der Ueberzeugung verschliessen können, dass die Individuen in keinem Reiche der Natur eine Geltung als Selbstzweck beanspruchen können , dass sie überall nur als Mittel figuriren und schonungslos ohne alle Rücksicht auf ihr Wohl oder Wehe, oder auf ihre Existenz im Dienste der Individuen
höherer Ordnung verbraucht werden , sobald ihr Opfer diesen mehr Gewinn bringt als ihre Erhaltung."
Diese ganze Argumentation zerfällt in sich , da es
Die Erbaltung der Kraft als Moralprincip.
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nicht die Individuen selbst sind , die da zum Opfer fallen, sondern vorübergehende Erscheinungsformen derselben. Wir haben nicht mehr nöthig, Combinationen darüber zu machen, wie es am Nordpol aussehen könne oder müsse, sobald es uns einmal vergönnt sein wird, ihn vom Luftballon
aus zu sehen ; Columbus hatte nicht nothwendig , Combi nationen über Chancen der Entdeckung zu machen, als er Land in Sicht hatte, und wir haben nicht nothwendig, uns
in eine langathmige Discussion über einen Fall einzulassen, der auf einer falschen Voraussetzung beruht. Nachdem wir mit Bestimmtheit wissen , dass die Individuation länger >
dauert, als das Phantom des Zellenorganismus, können wir über alles brevi manú hinwegschreiten , was auf der ent gegengesetzten Voraussetzung fusst. Der „Nullpunkt der Empfindung" ist die ganze Lock speise , welche Hartmann's Ethik liefert, zu welcher schmalen Kost wir durch die Peitsche des „Pessimismus“ getrieben werden sollen.
Es ist das eine eigenthümliche Erscheinung ! Betrachten wir unser Leben, so finden wir, dass aus dem unbewussten Leben immer deutlicher ein bewusstes hervorgeht ; wir finden aber auch , dass bewusste Thätigkeiten immer mehr in
unbewusste Fähigkeiten übergehen ; die Summe der Erfah rungen verschwindet, der Instinkt bleibt. Die ganze morpho logische Entwickelung scheint diesen letzteren Weg – vom Bewussten ins Unbewusste gegangen zu sein. Fechner sagt (Seite 118, ,,Die Tagesansicht" ): „ Es
zeigt sich allgemein ,
dass
die
speciale
bewusste
Thätigkeit, die zur ersten Entstehung irgend einer dieser Zweck einrichtungen gehörte, um so mehr erspart wird , je öfter șie hervorgerufen wurde, und endlich nur eines allgemeinen Anstosses des Bewusstseins zur Wiederkehr bedarf , oder gar im Flusse der Gewohnheit sich ohne solchen wie von selbst wiederholt, wenn sich dieselben Aussenbedingungen wiederholen . Welchen Aufwand
von special gerichteter Aufmerksamkeit braucht die
250
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip.
Spinnerin , um das Spinnen , die Strickerin , um das Stricken zu erlernen ; hat sie es gelernt, so setzt sie sich zu gewohnter
Stunde an das Rad , oder nimmt den Strumpf in die Hand, richtet sich innerlich durch den Act eines einfachen Entschlusses
auf Spinnen oder Stricken ein , und spinnt oder strickt, indem sie an andere Dinge denkt ; denn wie das Zustandekommen , bedarf auch die Leistung derartiger innerer Einrichtungen um so weniger einer specialen Richtung des Bewusstseins darauf, je
öfter die Wiederholung derselben stattgefunden hat; und in gewisser Weise scheidet sich Beides nicht. Die Leistung der Spinnerin besteht darin , dass die Einrichtung , zu der sie sich beim Hinsetzen an das Rad, den einmaligen Anstoss gibt, immer neue, jedoch eine gewisse Periodicität einhaltende Phasen durch läuft ; der Fuss hebt und senkt sich , die Hand bewegt sich längs des Fadens , tunkt ein u. s. w.; zu all dem muss sich die Einrichtung ändern , kurz sie hat einen Zeitverlauf durch zumachen ; was nun eben die ersten Male nur mit speciell darauf gerichtetem Bewusstsein geschehen kann , indess dies nach Mass
gabe der öfteren Wiederholung immer mehr zurücktritt“ . Man könnte aber auch sehr viele Argumente für das Gegentheil anführen , wie aus dem Unbewussten das Be wusste entstanden , z. B. unser menschliches Bewusstsein;
dieses Schwanken zwischen bewusst und unbewusst gilt insbesondere für die Seele und das Ich des Zellenorganis mus. Ob im Hintergrunde das Unbewusste, der Wille, eine Monade, die platonische Idee“ oder sonst etwas stehe, kann sehr gut als offene Frage bei Seite gesetzt werden . Das Hartman n'sche Moralprincip besteht in der Hingabe an die Culturentwickelung , um aller Cultur und Existenz los zu werden , noch dazu ohne Garantie, dass
dies erreicht werden könne, und wenn selbst, ohne Garantie, dass die Geschichte nicht wieder von vorne anfängt.
Mein
Moralprincip liegt in der Gewissheit, dass sich alle unsere Erfahrungen , unser ganzes Thun und Lassen in uns selbst capitalisirt , und das der Weg unserer Vervollkommnung, wenn vielleicht auch kein ewiger, so doch sehr lange dauern der ist.
Wir müssen uns begnügen , die Erlösung vom
-
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip.
251
Zellenorganismus, oder dessen Uebeln , von den irdischen Leiden zu suchen ; ob wir eine Erlösung von der Welt . existenz aufs Programm zu setzen haben, darüber werden wir urtheilen können , wenn wir die Weltexistenz kennen
gelernt haben werden ; heute sprechen wir darüber, wie der Blinde von der Farbe !
Es gibt Schriftsteller, welche aus Eitelkeit ihre Bücher zu sehr anschwellen lassen, weil sie der Welt zeigen wollen, was sie alles wissen ; es gibt welche, die ihre Bücher und
Druckbögen vermehren , weil sie einen ergiebigen Absatz haben oder erwarten. Es fällt mir nicht bei, diese Motive
fiir die Dickleibigkeit der „ Phänomenologie “ verantwortlich zu
machen ; thatsächlich ist sie ein sehr dickes Buch , und sie ist complicirt, weil Hartmann etwas zusammenschweissen will, was sich nicht zusammenschweissen läst: Ein gutes
Moralprincip mit der Philosophie des Unbe wussten , ein tauglich es wirksames Motiv mit dem absoluten Pessimismus ! Eine brauchbare Ethik
lässt sich vom Standpunkte des Pessimismus nicht schreiben, darum schrieb Hartmann eine Phänomenologie des sitt lichen Bewusstseins überhaupt, und da er auf dem Stand punkte der unmittelbaren Wesens- Identität der Indivi duen unter sich und mit dem Absoluten ausserhalb der bekannten Zellenexistenz steht was nicht mehr haltbar
ist – so konnte er unter dieser Voraussetzung sehr leicht und mit Erfolg die Ethik der anderen Systeme begraben ; da aber seine Ethik auch nicht lebensfähig ist , so geht
daraus hervor , dass der Weltpessimismus das Grab jeder Ethik überhaupt ist. Was klar daliegt, kann in wenigen Worten ausge sprochen werden. Wenn Hartmann nach so vielen Publi
kationen noch gegen 900 Seiten Ethik nothwendig hätte, 80 wäre dies traurig
nicht für den Leser, der sehr viel
Interessantes in Bezug auf die verschiedenen ethischen
252
Die Erbaltung der Kraft als Moralprincip.
Systeme findet; nicht für den Verfasser, dessen Wissen und Denken nur an Ansehen gewinnen ; aber traurig für die Philosophie des Unbewussten. Die Hingabe an die Cultur
entwickelung ist ein ganz richtiges Princip ; aber das Motiv, welches die Menschen im Sinne der Philosophie des Unbe wussten dazu bestimmen soll, also das Wichtigste ist, taugt
nichts ; die Wenigsten werden es begreifen, und diese Weni gen werden es erst recht verwerfen. Für die Erlösung des
Unbewussten vom Dasein , für ein so metaphysisches und problematisches Programm werden sich die Wenigsten be geistern. Alle Religionen und Systeme der Welt liefern wirksamere Motive. Die Phänomenologie des sittlichen Be wusstseins ist in ihrer Art das Beste, denn sie gewährt den umfassendsten und deutlichsten Ueberblick der ethischen
Systeme, und ist, wie alle Schriften Hartmann's, anziehend geschrieben , bei deren Leoture Jeder gewinnt, nur nicht die Philosophie des Unbewussten. Meiner Ethik genügen nunmehr wenige Seiten.
3. Das Moralprincip des transscendenten Individualismus.
Das Moralprincip kann entweder ein heteronomes , auf fremder Autorität beruhendes, oder ein autonomes
Das Widersprechende vieler Lehren , seien sie nun göttlicher , spiritistischer oder menschlicher Abstammung, genügt allein , um jedes heteronome Moralprincip von sich sein .
zu weisen, wenn wir auch nicht die Geschichte der Mensch
heit mit ihren Verirrungen , welche sie den heteronomen Moralprincipien zu verdanken hat, vor uns liegen hätten. Es ist daher selbstverständlich, dass wir es nur mit einem autonomen Moralprincip zu thun haben können . Ein autonomes Moralprincip kann nun entweder im Egoismus oder im reinen Wohlwollen , in der wirk lichen Sittlichkeit seine Wurzel haben.
253
Die Erbaltung der Kraft als Moralprincip.
Das egoistische Moralprincip kann abermals eine dop pelte Natur haben , je nachdem die gesteckten Ziele oder Motive im irdischen oder transcendenten Gebiete zu suchen sind.
Die erstere Nuance ist das Normale der
sogenannten gebildeten Welt - darum liegt sie aber auch im Argen .
Dieses Sittengesetz, welches rein im irdischen Gebiete seine Motive sucht, zerfällt abermals in zwei Arten, nämlich in das Sittlichscheinen und das Sittlichsein.
Wer nur sittlich scheinen will, trachtet sein Thun und Lassen darnach einzurichten , dass er dem Gesetze oder
der Missachtung seiner Mitbürger oder Standesgenossen nicht verfalle, und erlaubt sich Alles, wenn er diese Klippen umschifft. Auf ganz gleicher Stufe des innern Werthes – wenn auch nicht der Gemeinschädlichkeit – steht derjenige, der diese Furcht vor Strafe und Missachtung ins transscen dente Gebiet überträgt.
Sittlich sein wegen der innern Harmonie und Seelen ruhe ist dem reinen Wohlwollen ganz nahe verwandt, und
geht mit der Zeit nothwendig in dieses über. Mein Moralprincip ist ein sehr einfaches.
Nachdem
jede Kraft erhalten bleibt, und sich Alles in der Welt capi
talisirt, und eigentlich ewig fortwirkt, das Gute sowie das Schlechte, so geht mein Moralprincip einfach aufEntwicke lung und Vervollkommnung hinaus, sowohl auf die eigene , als fremde, und darum auch die aller Relationen, seien sie nun politischer oder socialer, religiöser oder ästhe Die anderen Moralprincipe weichen in Bezug auf das Ziel nicht viel ab davon ; der gewaltige Unterschied liegt hingegen in den Motiven. Statt einer
tischer Natur.
problematischen Erlösung von der Existenz habe ich das Motiv, dass meine ganze geistige und moralische Thätigkeit sich nach und nach in unbewusste Anlage verwandelt ; ich bin das , zu was ich mich
254
Die Erbaltung der Kraft als Moralprincip.
gemacht , die Gesellschaft , der Staat, die Menschheit sind das, zu was sie sich machen !
Darum vorwärts ! Ob der letzte Zweck ein positiver oder negativer ist, das werden wir nicht entscheiden , das weiss weder ich noch ein Anderer.
Freilich !
Wer nichts
anerkennt, als die Welt der Zellen - Organismen dieses Planeten, oder dann gleich in einen metaphysischen Monis mus abspringen zu können glaubt, der muss auf Alles ver
zichten , die Erlösung wünschen, und dem Schopenhauer'. schen oder Hartman n'schen Pessimismus verfallen. Scho .
penhauer sagte , „ wir wissen nicht, wie tief die Wurzel der Individuation reiche" , nunmehr aber wissen wir , dass
sie weiter reicht, und daher hat es mit dem Erdpessimis mus wohl seine Richtigkeit, aber mit dem Weltpessimismus noch seine Wege !
Mein Moralprincip ist nicht subtil , sondern greifbar. „Bilde dich aus , erwerbe dir Liebe , denn das sind sehr fruchtbar angelegte Capitalien !“ Ob Christus auf bewusstem oder unbewusstem Wege sein Moral
princip in die Worte fasste: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“ , das weiss ich nicht; wie sehr er aber recht
hatte , das fängt auf eine sehr unwiderstehliche Weise zu dämmern an ! Von den Folgen einer schlechten Handlung kann mich keine göttliche Barmherzigkeit und keine Abso lution befreien, sondern nur die eigene Arbeit, in dieser liegt die Ewigkeit der Strafe. Kant's ethische Grundregel: Handle so , dass die Maximen deiner Handlungen zugleich das Princip einer
allgemeinen Gesetzgebung sein könnten, ist ein guter Prüf stein für unser Handeln , aber es liegt darin kein Motiv; das muss sich erst Jeder suchen. Wenn Alle diese Grund
regel befolgen würden, so müsste die Gesellschaft gedeihen,
und dadurch würde allerdings auch der Einzelne gewinnen. Wenn Christus sagt, liebe deinen Nächsten, wie dich selbst,
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Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip.
so ist das ein sehr guter Rath, aber das Motiv liegt darum doch erst in der stillschweigenden Voraussetzung, dass Gott meine Liebe belohnen werde. Der gemeine Verstand fragt aber dann, warum belohnt er mich nicht gleich ? Warum duldet er , dass das Laster triumphiren kann ?
Der
Zweifel erschüttert seinen Glauben und sein Vertrauen .
Wir brauchen keine weiteren Beweise zu suchen, wir sehen
ja,
was diese beiden Moralprincipe genützt! Der belohnende
und strafende Gott ist das Fundament der christlichen Moral.
Nun wird wohl keiner meiner Leser bezweifeln , dass die moralischen Zustände in den Händen und Anschauungen
der dominirenden und gebildeten Classen liegen ; wie der Herr, so der Knecht, und mit zwei verschiedenen Religionen
im Sinne eines Strauss und Ueberweg geht es nicht auf die Dauer ! Nun sagt , ich glaube Macaulay , dass schon zu Cicero's Zeiten kein Mensch im Senate gesessen,
der an Jupiter geglaubt hätte. Die Doppel-Moral des
Beati possidentes“ auf der einen Seite, und der Anweisungen an ein Jenseits auf der anderen, hat auch dem römischen Staate nicht gut angeschlagen. Sprechen wir also ohne Metapher! Wo ist denn der Glaube an diesen belohnen den und strafenden Gott heute zu finden ?
Bei Schrift
stellern oder auf der Universität ? Etwa in den Parlamenten, der Handelskammer oder auf der Börse ? Die Geschichte
liefert den Beweis, dass er selbst im Vatikan oft abhanden gekommen ist. Nur der Unglückliche denkt an eine trans scendente Welt !
Wer nie sein Brod mit Thränen ass, Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend sass,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte ! Goethe.
Die heiligen Schriften sind für alle massgebenden Kreise ein todter Buchstabe , was ebenso gefehlt ist, als
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Die Erhaltung der Kraft als Moralprinzip.
wenn man sie zum Worte Gottes macht.
Sie sind Samm
lungen von Aeusserungen , welche von Naturen gemacht wurden , in welchen das transscendentale Subject einen
grösseren Einfluss auf den Intellect nimmt ; darin liegt die
Quelle ihres tieferen Blickes, ihrer Ahnungen und Prophe zeiungen, ihrer tiefen Ueberzeugung und Schwärmerei, ihrer sogenannten Wunder. Christus ist gewiss im Rechte, wenn
er von der Werthlosigkeit der irdischen Güter spricht, doch ist er nicht schuld , wenn die Klöster aus dieser seiner Ansicht entsprangen u. S. W.
Wer das reine Wohlwollen
bereits im Herzen trägt, der bedarf allerdings keiner weite ren Motive mehr ; wie viele aber gibt es deren ? Mit der blossen Erfüllung der christlichen Lehre und Kant'schen Moral sind die Aufgaben des Menschen aber
auch nicht erschöpft. Denken wir uns zwei Menschen , welche beide nach den Principien Kant's und Christi leben , Gutes thun, lieben ; der Eine ist reich und geniesst nebenbei sein Leben, der Andere ist arm , und arbeitet an seiner geistigen Ent wickelung, kämpft siegreich mit Sorgen und Noth. Hat der Arme nicht ein grösseres Verdienst ? Der gläubige Christ wird antworten , dass er auch besser belohnt werden wird ;
wenn das aber auch der Fall wäre , wie kommt dann der Reiche dazu, der in gleicher Lage vielleicht ebenso gehan delt hätte ?
Christus sagt , dass der Reiche schwer in das Him
melreich eingehe, und dass er den liebt , den er züchtigt
eine Ungerechtigkeit fände also immer statt. Nicht nur die barmherzige Schwester und der schlichte , ehrliche Bürger , auch die Colberts und Lesseps wollen ihren Platz.
Alle derlei Einwürfe und Bedenken hören von dem
Augenblicke auf, wo das Prinzip der Erhaltung der Kraft und die unendlichen Zeiträume gegeben
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip. sind.
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Mit der Erkenntniss dieser Wahrheit strahlt uns
sofort eine wahrhaft göttliche Gerechtigkeit und Liebe ent gegen ; ein schöneres Geschenk könnte ein wohlwollender
und gerechter Gott nicht geben. Da erblicken wir die von Leibniz geahnte „prästabilirte Harmonie“, die nur in dem vollen Gleichgewichte liegt, welches zwischen Lernen und Wissen , Leiden und Empfinden, der edlen That und der angeborenen Tugend besteht ! Die Zauberformel, welche der Welt eine sittliche Unter
lage gibt, heisst : Erhaltung der Kraft , Capitalisirung, also genau das Princip , welches wir in den Beziehungen der Sternenwelt , der Entwickelung von Pflanzen und Thieren , in der Entwickelung von Cultur und Socialwissenschaft
finden ! Auf dieses Grundgesetz will die Naturwissenschaft ihren Monismus bauen ; nur für die Moral , für die Ent
wickelung des edelsten Geschöpfes der Erde soll es keine Geltung haben, die im Menschen angehäufte Kraft soll ver loren gehen ! Der Satz des älteren Fichte , den er unter dem Ein
drucke der französischen Revolution schrieb : „ Kein Samen
korn, das ich streute, geht in der sittlichen Welt verloren ; ich werde am Tage der Garben die Früchte desselben erblicken, und mir von ihnen unsterbliche Kränze winden "
– ist volle Wahrheit, nur dass wir den Tag der Ernte nicht
erst zu erwarten haben , weil jeder Tag ein Tag der Saat und Ernte ist. Wenn ich eine Ueberlegenheit des Wissens oder der Moral über meine Mitmenschen habe, so
ist das mein Verdienst ; wenn ich sie nicht habe, so ist das meine Schuld, und alle irdischen Leiden und Freuden sind - mit Ausnahme des aus ihnen resultirenden Entwickelungs
Werthes — eine Lappalie ! Daher kann die Natur auch mit den Individuen wüsten, sie preisgeben, verloren geht darum nichts
doch
!
Würde Lange noch in seinem Zellengewande , in der Hellenbach, Vorurtheile. II.
17
258
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip
dreidimensionalen Welt herumspazieren , oder richtiger ge
sagt, durch das dreidimensionale Glas die Welt anschauen, so würde ich ihn fragen , wie denn die Welt , oder sagen wir lieber Europa aussehen würde , wenn Jeder die
Ueberzeugung im Herzen trüge , dass jede seiner Hand lungen vom frühen Morgen bis in die Nacht ewig photo graphirt in dem Subjecte liege, welches er durch alle Raum dimensionen und alle Zeiten hindurch ist und bleibt ? und
noch mehr als das : dass die Handlungen des Menschen jeden Augenblick das ganze Wesen seines Seins bestimmen ? Lange muss ein intelligenter und objectiver Mensch gewesen sein , ich zweifle daher nicht, dass er antworten würde : ,, Freilich , das wäre schön ! Wir hätten keine Be
trüger, keine Mörder und Diebe ; wir hätten keine herzlosen und rücksichtslosen Geschäftsleute, wir hätten keine Volks vertreter , die um die Gunst des Pöbels , der Redactionen oder Minister buhlen ; die allgemeine Parole würde lauten : Wahrheit und liebende Aufopferung !"
Man denke sich , wenn die Landgeistlichkeit statt die Interessen der Kirche , die Interessen der Menschheit ver treten würde , wenn sie statt der , selbst dem bäuerlichen Verstande bereits bedenklichen formellen Satzungen der Kirche, in voller Ueberzeugung eine reine Moral mit Unter stützung der ganzen gebildeten Welt lehren würde !
Die
Kinder- und Ehelosigkeit der katholischen Geistlichkeit müsste diese dazu besonders geeignet machen ; weil ein Familienvater nie mit dieser Hingebung seine ganze Kraft für das Allgemeine einzusetzen vermag. Doch dürfte die Ehelosigkeit selbstverständlich nur die Frucht der freien Wahl und des Berufes, nicht aber eines bindenden Gelöb
nisses eines jungen Menschen sein, derart, dass Jeder vom Cölibat , aber auch dem Berufe zurücktreten könnte.
Dass
die theologischen Studien in einen Cursus von Naturwissen schaft und Philosophie umgewandelt werden müssten , ist
Die Erhaltung der Kraft als moralprincip.
259
selbstverständlich. Es wäre viel angezeigter , dass Männer, welche die Jugendzeit hinter sich haben, sich einer so hoch
wichtigen Aufgabe unterzögen , als jungen Menschen einen Beruf aufzuerlegen , zu dem nur lange , und in der Regel
bittere Erfahrung befähigt. Da hätten wir also so eine weltumfassende ,, ethische Idee" !
Hat sie nicht eine furchtbare Revolution hervor
gebracht , wo ihr der Glaube in Wirklichkeit und Auf richtigkeit zu Grunde lag ? Sollte sie es heute nicht können, wo ihr ein Wissen zu Grunde liegt ?
Der von Kant
geahnte Zukunftsbeweis für den Zusammenhang der irdischen
und transscendenten Welt , für diese „ gemeinschaftliche Republik “ hat sich nunmehr gefunden. Der Fisch kann ebensowenig die Luft durchkreisen , als der Adler in des Meeres Tiefe dringen ; aber an der Grenze ihrer physikalischen Welten, an der Oberfläche des Meeres haben sie einen bedingten Contact. An der Grenze zwischen der drei- und vierdimensionalen Welt entdecken
wir in uns Spuren der vierdimensionalen Natur , ausser uns die Spuren dreidimensionaler , uns homologer Organe vierdimensionaler Wesen ; wir haben in dem ganzen Ge biete der Naturwissenschaft keinen Satz , der zuverlässiger
sichergestellt wäre, als – die Identität beider Wesensreihen ! Wenn sich nun diese Ueberzeugung mit ihren Consequenzen der gebildeten Welt aufgedrungen haben , und wenn sie dann in immer tiefer stehende und zahlreichere Kreise einge
drungen sein wird, so braucht man auf die Früchte dieser ethischen Idee nicht lange mehr zu warten. Der Durchbruch dieses Gedankens und Glaubens
- ist übrigens garantirt; die Zeichen mehren sich , dass die Wahrheit den Sieg bald erringen
dieser ethischen Idee
Weit bekümmerter bin ich um die „ sociale That“, um die rechtzeitige Verschiebung der Eigenthums werde.
verhältnisse auf humane Weise , um die Erziehung der 17 *
Die Erhaltung der Kraft als Moralprincip.
260
nächsten Generation. Ob da die gegensätzliche Spandung nicht früher zur Explosion führt , als die Menschen zur Aussöhnung der Gegensätze gelangen – das weiss ich nicht! Dass die Gefahr einer socialen Umwälzung um so grösser und in ihren Folgen furchtbarer ist , je schlechter es mit der ethischen Anschauungsweise steht, ist klar ; für die
Gegensätze, die im socialen Körper wüthen, sind der Egois mus und die Unwissenheit der Politiker und Machthaber
verantwortlich ; für den Verlust des Glaubens an eine trans scendente Welt, und die dadurch hervorgerufene Immoralität haben die Eitelkeit und Selbstüberschätzung der Natur
forscher die Verantwortung zu tragen .
Alle stecken
ch
tief in den Vorurtheilen und in den Banden der öffentlichen
Meinung , welche letztere sie durch ihre zuversichtliche Haltung irre führten.
Menschen von Herz und Kopf haben an einer trans
scendenten Welt nie gezweifelt, von Buddha , Sokrates , Plato , Jesus bis Kant u. s. f.
Nur ein Theil der
Naturforscher schaute immer links , und vergass darüber, dass es eine rechte Seite auch noch gibt , läugnete diese,
und der gedankenlose Schwarm betete es nach, und schaut todesmuthig links. Das Vorurtheil erlaubt heute gar nicht, dass ein anständiger Naturforscher ab und zu einmal rechts schaut .
Siehe Zöllner !
Hüllt Euch in Euren Nimbus, wir gingen und gehen in die freie frische Luft, haben den Drachen des Aber
glaubens uns gegenüber unschädlich gemacht, uns durch das blinde Feuer der Wissenschaften nicht irre machen
lassen , haben es durchschritten und fanden in der Erhal
tung der Kraft“ die schönste Gabe einer Gottheit , oder, um das Gleichniss durchzuführen – die ewig junge, blühende Brünhild, die ich meinem Leser versprochen !
Wir sind die Schöpfer unseres Glückes , doch ist nicht Alles das „ Glück “, was wir dafür halten !
X. Capitel. Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
Die Divergenz der Ansichten. – Die drei Arten des Contactes. Die Werthlosigkeit des unbewussten Schreibens. Die Vision eine unvermeidliche Quelle des Irrthums. Die Methode Zöllner's der einzige schmal bemessene Weg. Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag Und ist so wunderlich , als wle am ersten Tag . Goethe.
Buddha und Christus waren jedenfalls die bedeu tendsten Seher, welche die Menschheit besass ; was wussten sie uns von der transscendenten Welt zu sagen ? Buddha hiess eigentlich Siddharta (der Name Buddha bedeutet der ,,Erweckte " ), und war ein Königssohn . Göttliche Kraft und Weisheit hatte er sich schon vor der
Geburt erworben, und zog als ein Strahl durch die Augen in seine schöne Mutter. Wunder begleiteten ihn von Jugend auf; er liebte die Einsamkeit, gab sich tiefen Betrachtungen hin , und entsagte mit 29 Jahren der Welt. Sechs lange
Jahre that er Bussübungen , wurde vom Gotte der Wollust vergebens in Versuchung geführt – und er that dies Alles, um sich vom biologischen Process, die Menschen vom Elende des Daseins zu befreien . Zu Benares tritt er endlich als
Lehrer auf , und schickt seine Jünger als Bettler in die Welt , um zu predigen .
262 Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
Die Analogie mit Christus ist eine so durchschla gende, dass man fast versucht wäre, an die Identität beider Erscheinungen zu glauben , falls man die beiden Legenden als volle Wahrheit nehmen wollte.
Beide Religionsstifter
empfehlen dieselben Heilmittel , haben im negativen Sinne dasselbe Ziel, d. i. die Befreiung von den irdischen Uebeln - in Bezug auf die transscendente Welt aber
la u fen sie weit auseinander ; wo der Eine ein ewiges Leben in Aussicht stellt, lehrt der Andere – einen ewigen Tod !
Wer hat Recht ? Was diese beiden den Interessen der Menschheit sich
opfernden Wesen mit ihrem inneren Auge zu schauen und zu offenbaren nicht vermochten , das wollen unsere modernen
Medien und Spiritisten im Wege des Contactes mit jener Wesensreihe herausbringen und offenbaren ! Auf welche Weise ist denn dieser zu bewerkstelligen ?
Es gibt angeblich drei Arten des Contactes mit jener Welt ; betrachten wir uns zuerst die am häufigsten in der neueren Zeit vorkommende, das unbewusste Schreiben ,
welchem eine ganze Literatur blühenden Unsinns entsprun gen ist. Dieses Schreiben geschieht im Wege einer unbe kannten und unbewussten Innervation, sei es auf die Muskeln oder das Gehirn , von welchem Schreiben wir nur wissen, dass es in sehr vielen Fällen nicht aus dem Bewusstsein stammt.
Man muss diese Antworten mit dem Ergebnisse zweier Bäche vergleichen, die einen abwechselnd sehr verschiedenen Wasserstand haben , wo Jeder etwas dazu liefert, aber in
sehr wechselnden Quantitäten . Die Sache wird um so ver wickelter , als sowohl bei den eventuell wirkenden , als bei den vermittelnden Kräften des Mediums drei Factoren zu
berücksichtigen sind : Intelligenz, Wille und mate rielle Fähigkeit , wodurch zahllose Varianten entstehen. Wenn der eine Strom die uns bekannte dreidimensionale
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ? 263
Vorstellungsform darstellt , wie sie durch die Natur des
Organismus und bewusste Erfahrung gegeben ist, und der andere Strom den unbewussten Theil, so kann dieser aber
mals als gespalten gedacht werden , nämlich die vierdimen sionale Natur oder der innere Sinn des Mediums selbst, und
der Einfluss anderer Wesen . Nur so ist es erklärlich , dass so viele Propheten , Religionsstifter und Medien die widersprechendsten Kosmogonien und Naturlehren aufstellen konnten, wohingegen ich wieder auf diesem Wege einmal
die Antwort erhielt, dass , vom vierdimensionalen Stand punkte gesehen , die Welt „ nur als ein Entwurf für eine nur von Wenigen unter ihnen verstandene - oder besser geahnte Ausführung erscheine“, mit anderen Worten , dass sie über Welt und Natur auch nichts wissen ; wo liegt
da die Wahrheit ? Diesem Umstande mag es zuzuschreiben sein , dass in den Werken Davis' einzelne Stellen enthalten
sind , welche durch die Wissenschaft ihre Bestätigung er halten, während der weitaus grösste Theil der spiritistischen Kundgebungen leeres Gefasel ist. Wenn aus der vierdimensionalen Region etwas in dem
dreidimensionalen Organismus angeregt werden soll , so ist doch kein anderes Material da , als die vorgefundenen Be
griffe , die sich mit den einzugebenden nicht vollkommen decken können, daher nur ihm verwandte zur Verfügung stehen.
Die Quellen des Irrthums sind schon deshalb so
vielfache , dass der objective, kritische Standpunkt nie ver lassen werden darf, und nur weil er nie eingehalten wurde, so ist einerseits das Entstehen aller Vorurtheile in Bezug auf Religion , Mystik und Aberglauben erklärlich , sowie andererseits der Ekel , mit welchem sich die Wissenschaft von diesem Gebiete abwendete.
Hätte das Product der durch unsere Sinne vermittelten
Vorstellungen eine Farbe, etwa gelb, das aus unserer tiefer liegenden Natur eine andere , etwa blau , und das von uns
264 Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
fremden Wesen Herrührende eine dritte Farbe, etwa weiss,
die wir unterscheiden könnten ; so würden wir sehen , wie wenig aus der dritten Kategorie stammt , und wie viel, besonders bei Poeten und Musikern , aus der unbewussten Region kommt , selbst bei scheinbar ganz menschlichen Conceptionen.
Wenn man unsere Gedanken einer solchen
Spectral-Analyse unterziehen könnte, so würden sich immer Linien aus drei Anregungsherden finden, aber in sehr ver schiedener und wechselnder Proportion, besonders bei anor malen Naturen . Rein könnten diese Farben nie erscheinen ;
Alles, was in unsere Vorstellung dringt , wäre grün , wenn wir bei den gewählten Farben bleiben ; weil die Vorstellungs Maschine mit ihrem ganzen Inhalte nicht übergangen werden kann. Ebensowenig kann das Subject in uns , auf welches sich Alles bezieht, und welches das Schema für den Zellen bau bildet, die vierdimensionale Seele , übergangen werden. Im gewöhnlichen Leben hat die Maschine das Uebergewicht, während die blaue Farbe bei Dichtern, Künstlern, insbeson
dere bei Medien ab und zu das Uebergewicht bekommt. Genau so kann auch die weisse Farbe nie rein gefunden werden , und in einer Aeusserung von mehreren Sätzen können alle drei Farben abwechselnd das Uebergewicht bekommen. Auf diese Weise wird es klar , wie nach so Wunderbares und Einfältiges zu Stande kommt , und dass
ein intelligentes, gebildetes Medium viel bessere Antworten liefert, und dennoch manchmal ganz tolle Dinge gegen sein eigenes Wissen niederschreibt, sowie umgekehrt ein blödes, unwissendes Medium doch bie und da etwas niederschreibt, die blaue oder was weit über sein Verständniss geht weisse Farbe hat in diesem Falle eben das Uebergewicht ;
daher kommt es auch , dass die verworrensten Antworten
über Welt und Natur gegeben werden , weil selbst jene Wesen sie nicht durchblicken , und überdiess nur unsere Begriffe dazu verwendet werden könnten. Wenn ich auf
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ? 265
einem Klaviere spiele , wo es mehrere verstimmte Saiten gibt, bin ich an der Katzenmusik wahrlich nicht schuld .
Wer immer Erfahrungen in diesen Dingen mit ver schiedenen Medien gemacht , wird bestätigen , dass alle diese Kundgebungen keinen grösseren Werth baben , als Meinungen. Man erhält gerade so verschiedene und wider sprechende, vernünftige und dumme, erhabene und triviale Antworten, wie im menschlichen Verkehre - aber zweifellos
auch Antworten , die den unläugbaren Stempel der Origi nalität an sich tragen , und von Wahrnehmungsfähigkeiten Zeugniss geben , welche unser Sinnes- und Erkenntniss Vermögen übersteigen. Wenn meine Weltanschauung richtig ist , so kann dies gar nicht anders sein .
Ich stellte einmal die Frage , ob meine Ansichten in Bezug auf mögliche Veranlassungen zum Eintritt in den biologischen Process die richtigen seien , und erhielt die Antwort , es sei so , mit der weiteren Erläuterung : „ dass sich die freie Bewegung
ohne Dienste in der organischen
Welt – nach dem Grade der geleisteten Arbeit richte ; ein genussvolles Leben muss bald wieder anfangen , das Versäumte nachzuholen “. Diese Antwort entspricht meinen
Ansichten , habe ich daher Garantien , dass sie nicht das Spiegelbild meiner eigenen Gedanken ist ? - Das schrei bende Medium war der österreichische Offizier, an dessen
Ehrenhaftigkeit ich keinen Augenblick zweifle, bat er aber Garantien , dass von seinen eigeneu Gedanken nichts bei dieser Antwort mitgewirkt ?
Wenn wir aber davon auch ganz absehen , dass wir reinen , unvermischten Wein nicht erhalten können , so bleibt noch die offene Frage , ob selbst ein reiner Wein noch etwas taugt. Wenn wir uns vorstellen , dass eine zweidimensionale Welt an uns mit Fragen der Naturphilo
sophie herantrete, so ist die Wahrscheinlichkeit ein Millionstel, dass sie auf einen geeigneten Sachverständigen stossen
266 Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
würde ; denn mit einseitigen Fachgelehrten wäre da nicht gedient, und mehr als 1500 naturwissenschaftlich gebildeter Philosophen, oder philosophisch gebildeter Naturforscher von selbstständiger Denkungsart dürfte der Planet kaum zählen. Dieses eine Millionstel müsste aber noch mit einer Grösse
multiplicirt werden ; denn schon Plato hatte die Ansicht, dass die reinere Seele dem ihr mehr Verwandten sich zu
wende, während die tiefer stehende körperlicher und unserem irdischen Dasein näher stehend zu betrachten sei. Wenn das so wahr ist , als es wahrscheinlich ist , so hätten wir den Bodensatz zur Verfügung, während der leichtere Alkohol
uns unerreichbar wäre ; schon Christus sagte , dass sein Vater verschiedene Wohnungen habe. Doch selbst mit dieser multiplicirten Unwahrschein
lichkeitsgrösse sind wir noch nicht am Ende der zu unseren Ungunsten laufenden Rechnung ; was werden uns jene Wesen
sagen wollen , und was zufolge unserer Begriffe sagen können , vielleicht sogar sagen dürfen ? Antwort bekom men wir auf Alles , aber welche !
Es ist gerade so , als
wenn wir auf einen Maskenball gingen , wo jede ange sprochene Maske antwortet , und wir in der Regel dann so klug sind , wie zuvor. Denken wir uns , dass ein zwei dimensionaler Bewohner des Mars an uns die Frage richten
könnte , wie wir geboren werden , wie wir sterben , oder leben u. s. w.
Was für verschiedene Antworten würde er
nicht von den verschiedenen Menschen erhalten ? Wie ver möchte er unsere Zustände überdiess zu verstehen ?
Man kann diesen Verkehr auch mit dem Umgange vergleichen, den wir mit Kindern haben. Wenn uns Kinder über Moral, Liebe, Gott, die Entstehung der Menschen und der Welt Fragen stellen , so werden wir unsere Antworten
der Capacität und der genossenen Erziehung anpassen. Wir werden einem christlichen Kinde den Glauben an einen
himmlischen, liebenden, uns stets beobachtenden Vater nicht
Was könnten wir vou einer transscendenten Welt wissen ? 267
nehmen , und ein Judenkind nicht über die Mission eines Christus belebren wollen .
So verschieden und schlecht als
die durch die Kinder Interpellirten auch sein mögen , so werden sie doch selten ein Kind demoralisiren , oder ihm
an seiner Gesundheit schaden wollen . Dem entsprechend sind die Antworten in Bezug auf Moral und selbst Gesund heit meist zutreffend, in Bezug auf Weltanschauung von
zweifelhaftem Werthe , weil die Weltauffassung für diese Wesensreihe ebenso verschieden und dunkel ist , als für uns, wenn die Welt sich ihnen auch von einem anderen Stand
punkte darbietet.
Ich kann Jedem nur den Rath ertheilen, derartige Conversationen nicht weiter zu treiben, als nothwendig ist ,
um sich die Ueberzeugung zu verschaffen , dass auf unbe wusstem Wege manchmal wirklich etwas zu Stande kommt,
was ausserhalb des Intellectes liegt. Hat er das — das einzige praktische Resultat - erreicht , so kann er die
Sache fallen lassen ; einen anderen praktischen Nutzen wird er daraus nicht ziehen.
Der Mensch soll seine Autonomie
nie aufgeben, und einem Rath eines Unbekannten, der ihm überdies nur mittelbar und verwässert zukommen könnte, kein Vertrauen schenken .
Damit soll aber nicht gesagt sein , dass nicht ab und zu eine richtige, oder anregende, oder unterhaltende Antwort zu Tage komme ; ein fremdartiger rother Faden ist vor handen, doch kommt er selten zum Vorscheine. Wenn ein Seiler in ein Schiffstau einen solchen rotben Seidenfaden
eindrehen würde, so wäre er auch in ihm enthalten, würde aber sehr selten sichtbar werden ; in der Regel würde man
nur den Spagat sehen und greifen , den man für keine Seide ausgeben darf. Darum taugen diese Enunciationen in keiner
Weise für Publicationen, etwa als Offenbarungen aus dem Jenseits u. s. w. Diese oft unglaublich naive Literatur
268 Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
entfremdet jeden intelligenten Leser einer an sich wichtigen Forschung Nur keine auf Autorität fussenden Offenbarungen,
seien sie göttlicher, spiritistischer oder akademischer Natur ! Moralische Sentenzen haben uns Christus , Buddha und
Zoroaster so schöne geliefert, dass nichts Besseres nach kommen wird , wenngleich auch diese dunkel und deutungs fähig sind , was aber den Aufschluss über Welt und Natur
anbelangt , so betrachte man sich einmal die Apokalypse des Johannes , die Wanderungen Swedenborg's in die Gestirne, die Schriften Davis', Cahagnet's und Anderer, und man wird grossentheils einen Gallimathias von Unsinn und Widerspruch finden , was zu vermehren durchaus kein Bedürfniss vorliegt. Das grösste Hinderniss einer objec tiven Untersuchung und Besprechung dieses Gebietes sind die Spiritisten selbst ; von ihnen gilt der Satz, Gott bewahre mich vor meinen Freunden .... mit meinen Feinden werde
ich schon fertig werden ! Unsere Träume haben ebenfalls Wurzeln im Unbewussten ; sie fördern eine ganz erkleckliche Menge Unsinns in unsere Traumbilder ; doch gibt es Menschen , die mitunter wirklich bemerkenswerthe und ahnungsreiche,
selbst schöpferische Träume haben . Kann man daraus eine Berechtigung ableiten , unsere Träume per Bausch und Bogen zu veröffentlichen ? Das unbewusste Schreiben ist aber ein den Träumen verwandter Zustand. Nachdem ich den Leser nunmehr auf den relativen
Werth dieser Kundgebungen aufmerksam und , wie ich hoffe, objectiv gemacht habe , hat es gar keinen Anstand, dass ich ihm als praktische Erläuterung einige derartige
Conversationen mittheile ; denn er weiss , dass sie kritisch aufzunehmen sind , und durchaus nicht mit Sicherheit als aus einer anderen Welt pur et simple stammend genommen
werden dürfen . Ich habe bei dem geringen Werth dieser Conversationen nie welche Hefte angelegt; der Zufall aber
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ? 269
wollte , dass ein Freund , ein sehr bekannter Schriftsteller, nachdem ich gerade von Leipzig kommend ihn im Mai des Jahres 1878 besuchte , selbst einige Fragen aufschrieb, welche er beantwortet zu haben wünschte , selbstverständ
lich nur , weil er es für interessant hielt , über die eben aufgetauchte vierte Raumdimension einiges aus dem unbe wussten Ressort zu erfahren . Diese von ihm aufgeschrie benen Gedanken hatten noch überdiess den Vortheil , dass sie eben nicht meine Fragen waren .
Der Schreibende
wäre auch nicht in der Lage gewesen , sie einfach zu be antworten , denn der zweite Band der Wissenschaftlichen
Abhandlungen Zöllner's war noch nicht erschienen , er konnte ihn daher auch nicht gelesen haben . Gleich nach meiner Rückkehr nach Wien legte ich ihm die Fragen vor,
die er folgendermassen beantwortete : 1. Frage. Wollt Ihr uns einige Fragen beant worten über die Art und Weise , wie die physika lischen Phänomene zu Stande kommen ?
Antwort : „ Jedenfalls werden diese Fragen beantwortet werden können , wenn es einmal so weit kommt , dass sie in einer ganz präcisen Form gestellt werden ; es gibt der Auf fassungen so viele, dass es schwer hält, einen treffenden Ausdruck für einen Vorgang zu finden , der selbst in unseren
Kreisen mitunter nicht gehörig fixirt ist ; aber es wird schon gelingen.“ 2. Frage . Kommen die Phänomene durch Hände oder sonst wie zu Stande ? Antwort : . ,Wenn es nicht die Hände des gewissen
Wesens wören , so ist nur die Möglichkeit, dass es durch Ver mittlung eines noch höheren Organismus geschieht; aber es ist gewöhnlich so, dass beides sich unterstützt. “ 3. Fiage.
Ob bei Torsion um die Axe von 360
Graden ein starrer Körper ein Hinderniss bildet ,
270 Was könnten wir von einer transcendenten Welt wissen ?
wenn ein Theil des Körpers umgewendet wird , und der übrige nicht ? Antwort :
Geht nicht , nachdem die Theile zum Ganzen
gehören und das Ganze eins ist, seinem Zwecke und seiner Be
stimmung nach , nur ganze Gegenstände können in das ent gegengesetzte symmetrische Verhältniss gebracht werden ." Mit der Veranlassung zu dieser Frage hat es folgendes
Bewandtniss : Wir – der Verfasser der Fragen und ich sprachen über die Zöllner'schen Experimente und deren Unfruchtbarkeit für alle philosophisch nicht gebildeten Natur forscher; es fiel die scherzhafte Aeusserung, dass Haeckel so lange widersprechen werde, bis ihm nicht im Wege der vierten Dimension die rechte Hand links gedreht werde, und er mit zwei linken herumgeht.
4. Frage.
Sind die Organe , welche die Ab
drücke hervorbringen , im Augenblicke der Ac
tion von annähernd gleicher Dichtigkeit , oder sind dieselben nur dynamische Potenzen , welche Veränderungen in den als Matrizen fungirenden materiellen Dingen her vorbringen ? Antwort :
„Es hat die Kraft immer nur die Wirkung
durch die Materie , analog der Bildung von Organismen , und selbst bei der Kraft der Cohäsion ist es stets $0 , dass Wesen die ganze Thätigkeit durch ihren Willen vermitteln ; aber uns Unbewusst , wie als ob viele Tausende an einem kleinen Gegenstande arbeiten würden ; aber nur einer be
fiehlt und ordnet , und die Vebrigen seinem Einflusse sich fügen ; doch ist es keineswegs wie beim Baue eines Hauses, sondern eher so wie bei einem Bienenstocke, wo die Ge sammtheit ohne Bewusstsein des Zweckes für Jahre hinaus thätig ist."
5. Frage.
Welcher Art ist die Betheiligung
des Mediums bei den mechanischen und Mate . rialisations. Phänomenen ?
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ? 271
Das Medium gibt durch seinen Willen und seine eigenartige Disposition die Möglichkeit, dass sich ge wisse entweder nur der Passion oder der Belehrung wid Antwort :
mende Wesen bei ihm einstellen , und so durch vorgefundene
Werdens - Stoffe die nöthige Kraft zu Aeusserung bringen können .“
Dieser Ausdruck „ Werdens - Stoffe" ist originell , und ist gewiss weder meinem noch dem Gehirn des Schreiben den entsprungen. Ob darunter bekannte Eiweiss - Stoffe oder
andere uns unbekannte gedacht werden sollen, ist schwer zu entscheiden .
Woher kommt es , dass diese Er scheinungen sich nicht öfter auch ohne Medien produciren ? 6. Frage.
Antwort :
„ Wo es einen Zweck gibt , oder eine liebe
Person zu schützen , jedesmal; aber wir wollen unbedingt verstanden sein , und nicht ins Leere uns anstrengen und
vorwitzig verspottet und missverstanden werden . Es muss der Wille und das Interesse derart sein , dass man sich dann die
Materie holt , wo sie immer zu finden ist; von Kindern selbst,
die mehr zur Mediumschaft disponirt sind , als Ihr glaubt, daher das Vertrauen , dass sie Glück bringen.
Wir
sind
nicht Wesen von unbewusster Thätigkeit, daher wir nur dort thätig sind , wo es einen Zweck zu erreichen gibt ; sonst
können freilich Motive der verschiedensten Art Anlass zu Er scheinungen werden , aber das Edle und Weise offenbart sich nur dort , wo es gesucht und verstanden wird. Perlen wirft man nicht vor die Schweine."
7. Frage. Wenn die zur Materialisation noth wendigen Stoffe schon vorhanden sind , sind sie es in diesem - dreidimensionalen - Raume oder aus dem vierdimensionalen ?
Antwort :
„Es gibt im Menschen selbst Stoffe , die nur
als Vorarbeit zur künftigen Wesenheit gelten , und sie werden
272 Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
auch geborgt , wo sie im Ueberflusse und unbenützt aufge speichert liegen ; doch es ginge zu weit , das Gebiet des Un sichtbaren und Unrorstellbaren Euch erklären zu wollen , denn
bei Euch erschöpft und schafft gewöhnlich der Name den Be griff, bei uns umgekehrt." 66
Der letzte Satz hat Anspruch auf Originalität . 8. Frage. Findet bei dem Knoten -Experi mente und ähnlichem Durchdringlich werden der Materie die Schürzung durch das Durch dringen der Materie statt , oder erfolgt sie mit Hülfe der vierten Dimension ? Antwort:
„ Diese Frage zu beantworten bin ich nicht
im Stande, da ich mich nicht mit manuellen Geschicklich
keiten beschäftigt habe; aber es kann Auffassungen geben, dass es vier , ja selbst mehrere Dimensionen gibt.
Ich neige
mich mehr zur getrennten und wieder auf organische Art zusammengefügten Materie, als zu Manipulationen , die eine unfruchtbare Handfertigkeit erfordern . Der vierdimensionale Raum kann dabei ganz gut bestehen , denn es deutet schon die Durchdringung selbst an , dass man mit Factoren zu rechnen gezwungen sein wird , die bisher nur verlacht wurden. Ganz so, wie bei uns.
Diese Antwort verdient immerhin eine Beachtung. Sie wurde geschrieben , bevor Zöllner den Versuch mit
der Blase machte, welcher Versuch diese Aeusserung be stätigt. Denn es hat sich dabei herausgestellt, dass die
Schlingung denn doch nicht ohne Durchdringung der Materie möglich sei, wahrscheinlich zufolge der nothwendigen Torsion. Es ist jedenfalls auffallend , dass die Muschel erhitzt war, und die Blase gleichfalls, also dieselben Erscheinungen der Wärme-Entwicklung, was auf Durchdringung und Schlingung also das Eine und das Andere schliessen lässt , wie es die Antwort behauptet.
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
273
9. Frage. Ob ein Mensch im Wege der vierten Dimension verschwinden könnte ? Antwort : „Ein Mensch unter Umständen . Man hat zu viel Respect davor, um es immer zu thun , aber es gab schon Fälle , wo Menschen verschwanden und vor ihren Verfolgern unsichtbar wurden .
Christus im Tempel.
Ich stellte nunmehr selbst die Frage , ob sie mich im Interesse der Wissenschaft in die vierte Dimension bringen wollten ? – Es erfolgte die Antwort : „Ja , im Dienste der Wissenschaft, wenn sie Sprünge machen könnte. Es gibt Fälle , wo es geht und wieder unmöglich ist, da es Gesetze auch für uns gibt , die Euren Ansichten über den Selbstmord analog sind."
Ich gestehe offen , dass ich mir das nicht anders zu deuten wüsste , und ein andere Analogie zu finden ver möchte , als : Eingriff in die natürliche Entwickelung“. Oder sollte der energischere Eingriff in den biologischen Process oder dreidimensionalen Raum schon etwas Todes ähnliches für ein vierdimensionales Wesen sein ?
Von derselben Persönlichkeit , welche diese Fragestel lungen veranlasste , erhielt ich brieflich das Ersuchen , eine
Frage in Bezug auf die Distanz der Wirkungs-Fähigkeit zu stellen, die Antwort lauten : „ Alles erweist sich als eine Strahlen - Emission des Ge
hirns und der übrigen die Gehirnfunctionen vermittelnden Organe ; es ist daher die Wirkungs - Sphäre abhängig von der äusseren Hülle des Mediums; selbst auf die Porosität der Haut kommt viel an ; es wird in diesem Falle oft als krankhaft erkannt. Dann natürlich von der Art der Gesinnung des Mediums , welcher eben die Gehirn - Function ihre Qualität ver dankt. Es hat das so viel Einfluss, dass ein zweifelndes Medium nie oder nur unter Anwendung der gewaltigsten Er
schütterungen ,
Wirkungen
von Magneten - Bewegungen oder
sonst sichtbare Vorgänge hervorrufen kann.“ Hellenbach , Vorurtheile . II .
18
274 Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
Unter den Papieren, welche obige Antworten enthielten, fanden sich noch folgende, die vielleicht nicht ohne Interesse sind , nur fehlen die Fragen , weil ich sie spontan stellte, auf die sich aber aus den Antworten schliessen lässt. Alle diese Antworten erweisen sich als die Abspiegelung meiner eigenen Gedanken , was in der Regel der Fall ist, und was die Antworten werthlos macht.
,,Das Fragen ist so störend wie das Zuschauen .
Er
wiesenermassen ist es ein Factum , dass Wesen erst dann sich nennen , wenn sie es für absolut nothwendig hallen. Wir em pfinden mitunter eine Scheu , die Vergangenheit uns durch unseren gehabten Namen so lebhaft zu vergegenwärtigen ; und so sehr wir auch mit Liebe an Personen hängen, die uns näher
gestunden , so (andere Schrift) sehen wir doch ein , dass die Grenze des vollen Verständnisses nicht so leicht mehr zu finden ist.
Vieles wird vergessen , und manches Gefühl verliert seine
Wichtigkeit; es bleibt nur das wahre Wesen der Liebe und der Freundschaft übrig (andere Schrift), losgelöst von allem Ballast der Sinnlichkeit.“
„ Die Einverleibung ist eine Erziehung seiner selbst, und Anderer ; übrigens in ihrem Umfange uns gerade so dunkel, wie der Zneck der Schöpfung und des Daseins. Es kann die Bildung eines Organismus ein Zwang sein , wie es die Nahrung und der Schlaf sind , und Niemand darf sich ihnen entziehen . “ oder
„Es stellt sich erst nach dem Ableben der volle Werth Uni rth eines Wesens so klar vor das Bewusstsein ,
dass man nicht verstanden werden möchte , wenn die Frage beantwortet würde. Jeder hat seine Aufgabe zu lösen , und fühlt auch durch das ganze Leben den Drang , ihr ge Untreu seiner Aufgabe werden , heisst, recht zu werden . eine Reue auf sich laden , und doch wieder den Lauf er neuern. “
-
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
275
Eine sehr hübsche Aeusserung ist folgende, welche spontan und ohne Fragestellung erfolgte, allerdings aber unserer Conversation sich anpasste, und plötzlich abbrach : „Das , was Genuss ist , und die Sorge um denselben und das Begehren nach ihm , erstirbt wohl schon auch bei Euch,
no
er
vorüber .
Der
Genuss
durch
Kunst
und
Wissenschaft hat eine längere Dauer , und zwar so lange Kunst und Wissenschaft nicht durch eine höhere Anschau ung verdrängt werden ,
dann sind sie so wie so werthlos.
Der Genuss aber , welcher aus der Fülle der Kraft und der Stärke des Geistes quilli, bleibt, und das ist auch das Erbe Eueres
Lebens.
Leiden und Drangsale sind erhebend in
der Erinnerung , wenn es gelang , sie zu überwinden ; Reich thum und Wohlergehen sind was werth nur in der Anwen dung , und die Erinnerung , welche wir an unsere gehabte
Macht, Einfluss und sonstige Stellung haben , ist abhängig von der Verantwortung , und dürfte bei Wenigen angenehm Vergangenheit hat einen Reiz durch ihre Fruchtbarkeit
und der Rückblick aufs Leben ist nur dann ein lohnender ,
wenn das Leben der Aufgabe, welche sich die Seele gestellt, im
Der Leser wolle ja nicht glauben, dass diese Schreibe reien immer so hübsche Resultate haben ; da kann man eine Apokalypse , grässliche Dummheiten und ganz tolles Zeug auch zu Stande bringen ; manchmal geht es gar nicht, der Arm schlägt herum , alle Bleistifte brechen u. s. w. Interessant ist nur das Phänomen, die geschriebenen Sätze sind es nur selten . Dabei ist zu bemerken, dass ein objec
tives Medium selten gefunden wird , welches die Sache als das nimmt , was sie ist , und genau signalisirt „ das geht mir durch das Gehirn , das ist nur der Arm , das ist das Gegentheil meiner Erwartung“ u. S.s. f. Diese wenigen
Beispiele werden genügen , dem Leser die Unfruchtbarkeit dieser Conversationen nachzuweisen ; hingegen wird er aus 18*
276
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
ihnen ersehen, wie leicht auf diesem Wege in alten Zeiten Schwärmer und Propheten entstehen konnten. Die Ver öffentlichung solcher Kundgebungen ist vom Uebel, weil der
Inbalt von problematischem Werthe ist , aber die That sache der unbewussten Gedanken ist sehr lehrreich. Der zweite Weg , der zur näheren Bekanntschaft mit der transscendenten Welt führen soll , ist das vierdimen sionale oder aussersinnliche Schauen der Seele .
Das Ahnen, der Traum, und selbst die Vision können uns ebenfalls keine Aufklärung bringen ; denn angenommen , dass die Seele sich auch ganz von den Fesselu ihrer be schränkten Wahrnehmungsweise befreien , d. h . also unge trübt schauen könnte, so wird dass Geschaute doch wieder
vermenschlicht, um es uns verständlich zu machen, und das Höchste , was sie erreicht , ist ein Einblick in den Körper (Seherin von Prevorst) , die Diagnose einer Krankheit , die oft Niemand versteht , ein Blick in grössere Fernen des Raumes oder der Zeit, wo sie sich oft irrt. Die glückliche Heilung einer Krankheit , die Befriedigung einer Neugierde sind aber noch lange kein Einblick in die transscen dente Welt ! Wir haben auch bei dieser Art des Con tactes keinen anderen Gewinn , als einen Einblick in die
Fähigkeiten der Seele ; eine Lehre , auf die zu bauen wäre, finden wir nicht ! Mitunter schöne ethische Gedanken,
etwa ein guter medicinischer Rath , das ist Alles.
Was die chemischen und besonders vegetabilischen Heilmittel anbelangt , so macht es mir sehr den Eindruck, dass die meisten der letzteren auf diesem unbewussten
Wege zur Kenntniss der Menschheit gekommen sind Wir wissen jetzt allerdings durch die Erfahrung, ob und was sie taugen ; diese Erfahrung musste aber einmal ihren
Anfang genommen haben , und wenn auch manchmal der Zufall das Seinige hierzu that, immer war dies gewiss nicht der Fall. Es mag so mancher dieser unberufenen Heil
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
277
künstler oder Künstlerinnen im halb unbewussten Zustande
und nicht wissentlich gehandelt haben .
Die dritte und einzig sicherzustellende Art eines Con tactes ist das physische, matérielle Eingreifen in die drei dimensionale Welt, oder richtiger gesagt, das Hervorbringen von Wirkungen, die unserer dreidimensionalen Sinnesanschau ung zwar wahruehmbar werden , aber unverständlich sind.
Nach den bisherigen Erfahrungen ist dieser Contact nur in
Anwesenheit eines Organismus möglich, welcher das Material für Verdichtung und Organbildung abzugeben vermag. Die sichtliche Erschöpfung, die sich oft bis zur Bewusstlosigkeit
und zum Auftreten krampfhafter und epileptischer Zustände steigert, sprechen dafür ; auch die Seherin von Prevorst
bekam Krämpfe (ebenso wie Cagliostro) bei ihren zum Theile auch Anderen sichtbaren Visionen ; an einer Stelle
sagt sie sogar ausdrücklich , dass sie die Erscheinung auch einem Anderen hätte sichtbar machen können , aber zu starke Krämpfe dadurch bekommen hätte . In England
will man selbst die Entströmungen wahrgenommen haben. Dass die Beschaffenheit der Zellen, die Natur der Eiweiss
Verbindungen, das Massgebende ist – dafür sprechen ent schieden sehr viele Umstände. Schon Jäger hat in seinen kleineren Schriften unser Wollen und den Instinkt der Thiere und Kinder mit der Zellenbeschaffenheit in Verbin
dung gebracht, Antipathie und Sympathie mögen ihre Quelle darin haben.
Interessant sind manche seiner angeführten
Argumente ; meine Beobachtungen stimmen zum Theile damit überein .
Die Laune , Gesundheit , insbesondere die
Hautthätigkeit, das Wetter sind von grossem Einflusse. Sind die Poren verstopft und die Thätigkeit der Haut eine geringe . so ist der Unterschied gleich fühlbar. Auch die Beschaffenheit und der Charakter der Anwes nden sind von
einem lächerlichen Einfluss. Sinnliche , dem idealen Leben fern stehende , oder gar übelwollende thierische Menschen
278
Was könnten wir von einer tranescendenten Welt wissen ?
üben einen hemmenden Einfluss ;
die entgegengesetzten
Eigenschaften einen fördernden . Das Bilden der Kette mit
den Anwesenden mag vielleicht letztere zu einer unfühl baren Mitleidenschaft heranziehen.
Dass auf diesem Wege keine directen Nachrichten über die transscendente Welt an uns gelangen können, die einen Werth haben , ist nicht nur durch die Erfahrung erhärtet, sondern fast selbstverständlich. Nach den Ansichten Plato's
und den Behauptungen aller schauenden Somnambulen können uns wahrnehmbare Einwirkungen nur durch uns näher stehende Wesen hervorgebracht werden. Plato sagt : „ Ich denke sie (die Seelen materieller Menschen ) mir vielmehr durchdrungen von dem Körperlichen , welches die stete Verbindung und Gesellschaft des Leibes , mit dem sie immer
umging, ihr anbildete. Dasjenige nun , was eine solche Seele mit sich nimmt , müssen wir für etwas Zusammengesetzies, Schweres, Irdisches und Sichtbares halten , welches sie darnieder drückt und zwingt , auf der Erde wieder zu erscheinen , und,
wie sie das Unsichtbare und die Unterwelt schaut, um Gräber umherzuirren.
Bei diesen haben schon oft sich Seelen der Ver
storbenen in schattenähnlichen Bildern sehen lassen ; denn diese haben solche Seelen an sich, die sich nicht völlig vom Körper
getrennt, und die etwas Sichtbares mitgenommen haben , weswegen sie auch gesehen werden können .“
Plato übertreibt , wenn er weiter sagt , dass es nicht die Seelen der Frommen sind , sondern der Gottlosen , die
gezwungen werden , umher zu irren ; sie brauchen gerade nicht die Ruchlosen zu sein , es genügt , dass sie die Mate rielleren seien ; auch wäre auf das Band der Liebe und die
höheren Zwecke nicht zu vergessen. Gesetzt, dass es wahr sei, dass Christus – allerdings kurz nach seinem Tode -
seinen Jüngern erschien , so wird man daraus doch nicht den Schluss ziehen wollen, dass Jesus nicht zu den Frommen zählte.* )
*) Anknüpfend an diesen Gegenstand werde ich zwei Einwürfe widerlegen ; den einen dürften die Spiritisten, den anderen die Furcht
Was könnten wir von einer trangscendenten Welt wissen ?
279
Der einzige Weg , durch diese Art Contact etwas von
der transscendenten Welt zu erfahren , ist derjenige, den Zöllner ergriffen ; er ist zwar langsam und beschwerlich, aber sicher. Wenn einmal die nothwendige Objectivitat in diesen Dingen mehr Gemeingut sein wird , so werden sich gewiss die anormalen Organisationen , welche das Material
zu diesen physikalischen Experimenten bilden, leichter finden lassen und benützt werden.
Nur die Rückschlüsse ,
die wir aus diesen Experimenten auf die vierdimensionale Welt zu machen vermögen , bilden das geringe Material, mit dessen Hülfe wir einen bescheidenen Einblick in die trans
scendente Welt machen können
was sich aber sehr
langsam und unvollkommen entwickeln wird. Jede Art von Offenbarung muss verworfen werden, denn sie stützt samen machen. Meiner Behanptung, dass nur organische Substanzen eines lebenden Organismus das Material der Verdichtung und Organ
Projection zu liefern vermögen, werden die Gläubigen die zahlreichen Berichte entgegenstellen , nach welchen sich ähnliche Erscheinungen an bestimmte Orte knüpfen.
Sollte es mit diesen Berichten auch
seine volle Richtigkeit haben, so würde das nichts dagegen beweisen,
weil man nicht weiss, von wo dieses Verdichtungsmaterial geholt wird. Doch wenn das auch nicht der Fall wäre, 80 würde daraus nur hervor. gehen , dass diese Wesen nicht Gäste aus einer andern Welt, sondern vielmehr noch gar nicht dabin abgegangen sind . (Unter der andern
Welt verstehe ich andere physikalische Verhältnisse) . Die Furchtsamen werden vielleicht durch die ihnen nachgewiesene Möglichkeit eines Contactes sich dem guten Willen anderer Wesen preisgegeben fühlen . Diese Besorgniss ist unbegründet. In der ganzen Welt gilt das Recht des Stärkeren ; unter uns Menschen drückt sich das allerdings schon
sehr complicirt aus , denn nicht Kraft und Waffen , sondern Intellect, Geld , sociale Stellung u. 8. w. sind massgebend. In jenen Regiunen
könnte es nur noch complicirter sein, aber das grosse Wort fübrt die Moral und die Liebe. Die Besorgniss , bei hellem Tage in belebter Strasse gemordet zu werden , wäre noch immer vernünftiger , weil wahrscheiulicher, als die Furcht vor der Welt der Pbantoine – denn
für uns sind sie im subjectiven und selbst objectiven Sinne nicht mehr als das.
280
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
sich auf Autorität (noch dazu unbekannter Wesen), und ist
dadurch nur eine Quelle des Vortheiles. Es liegt auf der Hand , dass die Unterschiede , die
zwischen uns Menschen in Bezug auf Erkenntniss der Natur bestehen, bei einer viel höher entwickelten Gesellschaft nur noch verschiedener sein müssen. Alles , was auf diesem
Wege erlebt worden ist, geht doch nicht über den Rahmen hinaus , Lebenszeichen zu geben. Daraus können wir nun folgende Schlüsse ziehen : Entweder können , dürfen oder wollen diese Wesenş reihen nicht mehr sagen ( für alle drei Eventualitäten können
wir uns ganz gute Gründe denken), oder sie glauben , dass diese Lebenszeichen schon genügen , um den Rest des Weges allein zu machen . Vor Allem darf man nie vergessen , dass Sterben nicht Alles wissen , sondern nur anders schauen bedeutet, und es dann immer darauf ankommen wird, wer schaut.
Wenn ich mit meinem Diener und meinem Hunde
eine Reise durch Asien nach Peking mache , so wird der Gewinn dieser erweiterten Erfahrung für Jeden von uns ein sehr verschiedener sein ; und wenn wir alle drei eine
Sternwarte oder Wagner'sche Oper besuchen , so wird das Resultat ein noch weit verschiedeneres sein.
Unsere Ge
danken können nur entweder unser eigenes oder fremdes, oder ein gemischtes Produkt sein .
Was das eigene Wissen
anbelangt , so haben wir in unseren mangelhaften Sinnen und Gehirnthätigkeiten genug Quellen des Irrthums. Das Ahnen, der Instinkt , der Traum sind begreiflicherweise noch weniger verlässlich ; aber selbst angenommen, dass die Seele von den Fesseln ibrer beschränkten Wahrnehmungsweise gänzlich befreit wäre , so bleibt sie dennoch dem Irrthum
unterworfen und ist nichts weniger als allwissend : Ein Arzt weiss mehr als ein Laie , aber er irrt doch sehr oft, wenn er einen Kranken beurtheilt.
Was könnten wir von einer transscendenten Welt wissen ?
281
Was also können wir von der transscendenten Welt
wissen ? Dass sie existirt , dass eigentlich auch wir uns in ihr befinden , unser Gehirn sie aber in beschränkter Weise auffasst. Und ist das Alles ?
Das ist, wenn auch nicht viel, doch genug ; denn daraus folgt, dass unserer Vervollkommung nichts im Wege steht , dass ihr durch die hemmenden Zufälle unseres bekannten Lebens keine Grenzen gesetzt werden , und dass ein wirkliches Band der Liebe durch den Tod nicht zer rissen werden kann .
Und bat an ihm die Liebe gar Von oben theilgenommen ,
Begegnet ihm die selige Schaar Mit herzlichem Willkommen. Goethe.
XI. Capitel. Zusammenfassung und Schluss . Die Prüfung der Unterlagen und Schlüsse. Die Opposition der Priester und Naturforscher. Das angestrebte Ziel.
Ich sehe auf den Lippen meiner Leser die Fragen : „ Sind aber alle diese Unterlagen
wahr ?
Sind
die
Folgerungen richtig ? Ist der ununterbrochene Strom der Entwickelung gewiss ?"
Was die Unterlagen anbelangt, so sind sie gewiss wahr und richtig.
Wem obiges Material nicht genügt, der
lese Wallace's: „ Vertheidigung des modernen Spiritualis mus“ (übersetzt von Wittig , Leipzig) ; Crooke s : „ Der Spiritualismus und die Wissenschaft“ (von demselben) ;
„ Sla de's Aufenthalt in Wien“ (Oswald Mutze in Leipzig) ; Ulrici's : „ Der Spiritualismus“, wo die Zöllner'schen Ex perimente im Auszuge gebracht sind , was alles zusammen etwa 300 Seiten ausmacht; wahrlich keine grosse Anforderung! Dem dies nicht genügt, der packe seine Koffer und mache selbst Erfahrungen , wo sie eben zu machen sind.
Will er
weder an fremde Erfahrungen glauben, noch eigene machen ist ihm allerdings nicht zu helfen . Der Rest heisst aber
dann : Schweigen ; denn wer weder sehen noch lesen will, kann auch nicht mitreden .
Ich kann leider nicht annehmen , dass die Mehrzahl meiner Leser sämmtliche
Werke Zöllner's zur Hand
Zusammenfassung und Schluss.
283
nehmen wird , und muss annehmen , dass der Leser dem Drucke der Autorität der öffentlichen Meinung und der Durchschnitts - Männer der Wissenschaft schwer entwachsen
wird ; ich glaube ihm daher eine Beruhigung dadurch zu gewähren , wenn ich ihm einen Einblick in die Bedeutung Zöllner's und dessen Ideengang verschaffe. Wer in einem chemischen Laboratorium arbeiten will, muss doch offenbar Chemie früher lernen , und wer philo
sophiren will , muss früber Philosophie studiren – das ist klar ; und doch erlauben sich die Männer der Naturwissen
schaft Naturphilosophie zu treiben, ohne die nothwendigste Vorbedingung zu erfüllen. Bei Zöllner liegt der Fall ganz anders ; er kennt die philosophischen Errungenschaften, er weiss, dass Philosophen wie Kant und Schopenhauer im Wege des Denkens Sätze aufstellen , welche 50 und 100 Jahre später durch die Wissenschaft bestätigt wurden. Aus dieser seiner Erkenntniss fliesst , dass Zöllner als Physiker ersten Ranges dennoch die phänomenale und relative Natur
unseres
Wissens und auch den
Werth
der Speculation erkennt. Er ist mit einem Worte kritisch in der Beurtheilung und speculativ in der Untersuchung, was ihm seine Collegen um so weniger verzeihen , als er ihre Oberflächlichkeit, Eitelkeit und Anmassung gebührend
züchtigt. Doch möge der Leser selbst das Richteramt üben, ich werde ihm den Ideengang Zöllners so deutlich und kurz als möglich vorführen ; der Leser möge dann ent scheiden , ob Zöllner nicht auf streng wissenschaftliche
Weise vorgegangen . Zöllner schrieb ein Buch über die „ Natur der
Kometen “, dass trotz seines astro -physikalischen Titels ein eminent philosophisches Werk ist , daher grosses Aufsehen
bei allen Denkern erregte. Beobachtungen an den Kometen Schweifen führen ihn zu Speculationen über die Stabilität der Materie.
Er weist nach , dass eine endliche Dampf
284
Zusammenfassung und Schluss.
oder Gasmasse im unbegrenzten Raume keine stabile Gleich gewichtsfigur zu bilden im Stande sei , sondern sich durch eine stetig mit der Zeit abnehmende Dichtigkeit im Raume verlieren müsste. Wäre der Raum ein unendlicher und die
Materie eine endliche, so hätte die Welt , die wir kennen, nie entstehen können , wenn die Zeit auch eine unendliche
ist , d. h . wenn die Materie anfanglos ist ; denn sie hätte sich sonst verflüchtet. Da aber die Welt besteht, so muss eine unserer Voraussetzungen falsch sein ; er stellt darum die vier Voraussetzungen auf: 1. Die Quantität der die Welt bildenden Materie ist eine endliche; 2. der Raum , in welchem
sich diese Materie befindet, ist der unbegrenzte euklidische Raum ; 3. die Zeit , während welcher sich die Materie in diesem Raume befindet, ist eine unendlich grosse ; 4. die
Materie besitzt ausser den bekannten allgemeinen Eigen schaften auch diejenige der Verdampfung bei jeder Tem peratur über dem absoluten Nullpunkte. Da der letzte Punkt nicht bestritten werden kann , so bleiben nur die drei ersten Punkte zu untersuchen . Zöllner weist nun streng wissenschaftlich nach , dass bei einer
unendlichen Menge der Materie Druck und Dichtigkeit einen derart grossen Werth haben miissten , dass unsere Welt abermals nicht möglich wäre.
Was nun die unendliche Zeit anbelangt, so ist es klar , dass , wenn die Welt einen Anfang genommen hätte, sie nur durch einen Gott in diesen Zustand hätte versetzt
werden können, welcher Zustand aber dann doch zur gänz lichen Auflösung der Welt führen würde. Zöllner verwirft
begreiflicherweise dieses Auskunftsmittel, welches in Bezug auf die Entstehung bei einem ganz unwissenschaftlichen Räthsel, einem Wunder , beginnt und dennoch über das Ende nicht befriedigt. Es bleibt also nur der Fehler in der Voraussetzung des euklidischen Raumes übrig.
Der Leser wird nunmehr begreiflich finden , dass ein
Zusammenfassung und Schluss.
285
Mann wie Zöllner , zumal als Professor der Astrophysik, den Raum zum Gegenstande seiner Speculation machen musste , und da nicht nur ein Denker wie Kant , sondern die bedeutendsten Physiker und Mathematiker, wie Gauss , Riemann , Klein , Helmholtz und Andere die Denk barkeit einer vierten Raumdimension anerkannten, ist es da
nicht ganz begreiflich , wenn er angesichts unerklärbarer Thatsachen den Versuch macht , Probleme aufzugeben , die unter Voraussetzung einer vierten Dimension erklärlich, in
dreidimensionalen Raume aber unerklärlich sind ?
Wir haben das Experiment mit den Schlingen , den Abdrücken im geschlossenen Raume und das Verschwinden der Gegenstände kennen gelernt ; ich kann noch hinzufügen, dass der berühmte Wilhelm Weber und noch andere Pro
fessoren häufig an diesen Experimenten theilnabmen. Meine Experimente mit zwei verschiedenen Medien kann der Leser
in der Philosophie des g. V. und in der kleinen Brochure ,, Slade's Aufenthalt in Wien finden ; l'echnet man hiezu die Erfahrungen des Physikers Crookes und des Natur forschers Wallace, so kann man den ganzen Rest und das Zeugniss der Geschichte entbehren. Alle jene, die über
die Hypothese der vierten Raumdimension Glossen machen, beweisen nur, dass weder Philosophie noch Mathematik zu dem Repertoire ibres Wissens gehören ; leider muss man das selbst bei so manchem Berichterstatter der Fachblätter wahrnehmen .
Hierin liegt der gewaltige Unterschied zwischen den gewöhnlicheu Naturforschern und Zöllner; während die ersteren durch mikroskopische Untersuchungen, durch Aus grabungen und Sectionen das Material der Wissenschaft
vermehren , geht Zöllner weiter , und speculirt , wie es seinerzeit Newton und Keppler gethan , denen er sich würdig anschliesst.
Derselbe Unterschied besteht auch zwischen Zöllner und den anderen mit diesen Phäno
286
Zusammenfassung und Schluss.
menen speciell experimentirenden Physikern. Als Crookes eine Harmonika auf unbegreifliche Weise spielen hörte, so liess er einen Käfig herstellen, in welchen er die Harmonika
steckte, weil kein menschlicher Finger sie dort ergreifen konnte, und sie spielte doch*). Aus dieser Thatsache geht nun allerdings die Lehre hervor, dass unsere physikalischen Kenntnisse noch ein Loch haben, doch ist dieses Vorgehen Crookes' mit dem weitblickenden und wohl durchdachten
Experimentiren Zöllner's gar nicht zu vergleichen.
Ein
Mann, der im Wege des Experimentes und der Naturwissen
schaft die Apriorität unseres Causalitäts-Bedürfnisses , die Idealität unserer Raumvorstellungen , die unbewusste Natur
unserer primitiven Verstandes - Schlüsse nachweist, ist den Philosophen an naturwissenschaftlichen Kenntissen , und den Naturforschern an philosophischer Bildung überlegen ;
ein solcher Mann ist aber geeignet, die von Vielen geahnte und erhoffte Brücke über die Kluft zu schlagen , welche derzeit Philosophie und Wissenschaft trenat.
Der Leser möge daher in Bezug auf die Unterlagen beruhigt sein, und sich durch die weit tiefer stehende
Autorität irgend eines ohne Untersuchung, ohne Kenntniss der Literatur und Philosophie absprechenden Professors nicht irre machen lassen. Am allerwenigsten darf der Leser einen Werth auf die Zeitschriften oder gar Tagesblätter
legen, die der Erhaltungstrieb anweist, auf die herrschende Meinung Rücksicht zu nehmen, und nichts zu bringen, was *) Es würde mich nicht wundern, wenn irgend ein geistreicher Naturforscher diese Thatsache dahin erklären würde, dass das Medium ich glaube Hume die Fähigkeit hatte , einen Schnurrbart so
kräftig auszutreiben, dass er mit dessen Halfe in das Drahtnetz drang und die Töne hervorbrachte. Es ist diese Erklärung durchaus nicht
absonderlicher, als das Greifen und Schreiben (noch dazu in fremden Sprachen) durch die „ odischen “ Finger der Medien !
Zusammenfassung und Schluss.
287
sie in Opposition zu ihren Lesern bringen oder discreditiren könnte.
Nur ein Mann von der Bedeutung Zöllner's konnte
es wagen , sein festbegründetes wissenschaftliches Ansehen auf das Spiel zu setzen , und sich den gedankenlosen
Schreiern preiszugeben. Was also die Solidität der Unter. lagen anbelangt , so bleibt nichts zu wünschen übrig ; die Thatsachen sind klar, sehr zahlreich, so alt als die Mensch
heit , und von den competentesten Capacitäten geprüft, welche die lebende Generation aufzuweisen hat.
Hat aber die Anschauung Zöllner's auch etwas so Haarsträubendes , dass sich die wissenschaftliche Welt da gegen auflehnen müsste ?
Jeder denkende Kopf hat dem Phänomene der Welt etwas unterlegt; Kant das unbekannte „Ding an sich “, Schopenhauer einen „ Willen“, Hartmann das „ Unbe wusste“ ; nur ein flacher Kopf kann ihre Erscheinung mit ibrer Realität für identisch halten . Nach unserer Auffassung
ist die von uns vorgestellte Welt die Projection einer Welt von Objecten in einem Raume von vier Dimensionen , die wir aber nur in drei Dimensionen sehen und uns erklären der Leser erinnere sich des Bleistiftes, der auf eine
Tischplatte gestellt wird , wodurch für zweidimensionale Wesen ein dreidimensionaler Körper zu einem zweidimen sionalen, ein Cylinder zu einem Kreise wird . Durch diese Annahme kommt Licht in so viele Probleme , welche die
Werke Zöllner's enthalten, in so viele Probleme, welche wir in den verschiedenen Berichten bei anormalen Organi
sationen finden ; durch diese Avnahme wird die tiefe Ueber zeugung der hervorragenden Religionsstifter von einer be stehenden transscendenten Welt erklärlich !
Was nun die Folgerungen und die Ewigkeit unserer
Zusammenfassung und Schluss.
288
Entwickelung anbelangt , so sind beide so gewiss , als ein menschliches Urtheil es überhaupt sein kann . Denken wir uns , wir wären die Geschworenen eines Gerichtshofes.
Der Gegenstand der Urtheilssprechung wäre
ein Mord, und die Entscheidung unseres Dafürhaltens invol vire ein Todesurtheil – also eine schwere Verantwort lichkeit.
Nehmen wir an , man würde uns als Beweismaterial
bei dem Mörder und in dessen Wohnung gefundene Blut spuren und Gegenstände vorzeigen , die das unzweifelhafte Eigenthum des Gemordeten waren. Das wäre nun aller dings sehr gravirend , wenn der Mörder nicht auszuweisen vermag , wie er zu diesen Gegenständen gekommen ist. Wenn es sich nun gar heraustellt, dass in der Wohnung des Gemordeten Gegenstände gefunden wurden , die das unzweifelhafte Eigenthum des Mörders waren, z . B. Messer,
Kleidungsstücke, Haare u . s. w., so werden unsere Bedenken schwinden , besonders wenn sich ein natürlicher Zusammen
hang der Motive ergibt. Genau so ist es in unserem Falle .
Wir finden in der vierdimensionalen Welt - ich weiss vorläufig keinen besseren Ausdruck – ein intelligentes vier
dimensionales Wirken, unsere Organformen, unsere Sprache und Schrift. Das ist sehr verdächtig, weil wir uns zu dem Schlusse gedrängt fühlen , dass jene Wesen , von welchen diese Aeusserungen ausgehen , in der dreidimensionalen Welt oder Anschauungsform gelebt haben müssen ; wie
wären sie sonst zu diesen Organen und Kenntnissen ge kommen ?
Nun stellt es sich weiter heraus , dass wir in der menschlichen Natur ebenfalls und sogar sehr oft Thätig keiten finden, die nur ein vierdimensionales Wesen zu Stande bringen kann , wie z. B. die Wirkungen in zeitliche, räum
Zusammenfassung und Schluss.
289
liche Ferne, welche vom dreidimensionalen Standpunkte unerklärlich wären.
Ja noch weit mehr ; es stellt sich
heraus (und zwar in einer merkwürdigen Uebereinstimmung Kant's, Schopenhauer's , Gauss' , Riem a n n's und
Zöllner's) , dass der euklidische Raum nur die Befriedigung
des
Causalitäts - Bedürfnisses
unserer Organisationsform sei. Das führt uns nothwendig zum Schlusse, dass wir in unserem tief inneren Wesen auch vierdimensionaler Natur sein müssen , und dass nur unsere Anschauungsform eine dreidimensionale, die Wesens- Identität beider Reihen aber eine unzweifelhafte Thatsache sei .
Wenn nun vollends der ganze Zusammenhang alle
unsere biologischen und moralischen Räthsel , von denen diese Zellenwelt so voll ist , löst ; wenn dadurch so viel scheinbar Uebernatürliches , was nun einmal nicht mehr wegzuläugnen ist , natürlich wird ; wenn vollends das End
resultat in voller Uebereinstimmung mit den Ansichten der
edelsten und intelligentesten menschlichen Erscheinungen steht , wie eines Plato , Christus , Kant u. s. w.; so
können wir mit Beruhigung die Frage stellen , wo denn eine Weltanschauung existirt , welche nur an nähernd eine ähnlich sichergestellte Unter lage ,
welche nur annähernd bei so
schöner
Moral so kräftige Motive aufzuweisen hätte , welche nur annähernd auf so sichere Weise
Fortschritt , Cultur und Glück der Menschheit zu begründen vermöchte ?
Die christliche Moral, die ebenfalls auf einen trans scendenten Optimismus binweist, ist gewiss schön , aber dadurch , dass man die nach dem Tode Christi gesam melten Aehren zum Worte Gottes , zum Dogma gemacht hat, wurde der Geist der Lehre durch Formen erstickt. Hellenbach , Vorurtheile. II.
19
290
Zusammenfassung und Schluss.
Die ungebildeten Massen halten das für das Wesentliche, und glauben mit Hülfe von Messen , Communion und Abso lution sündigen zu können ; die Gebildeten werden durch die Unhaltbarkeit dieser Formen dem Glanben schon in
frühester Jugend abwendig gemacht, wo dann das Kind mit
dem Bade ausgeschüttet wird , indem der Glaube an eine transscendente Welt mit untergeht. Der naturwissenschaft liche Préstige setzt dann diesem Unglauben die Kione auf, und statt Glauben , Hoffnung und Liebe finden wir Un
oder Aberglauben, Pessimismus und Egoismus. In der ange strebten Zerstörung dieses lieblichen Trifoliums liegt die Berechtigung meiner „ Vorurtheile der Menschheit“, welche den Missbrauch der göttlichen Autorität , aber auch die sinnlose Anmassung der Naturwissenschaft auf gleiche Weise bekämpft.
Die christliche Lehre entbehrt aber auch greifbarer Motive und verlangt einen Glauben , zu welchem die blen dende Erscheinung Christi begreiflicherweise hinreissen konnte. Seine Lehre war ein richtiges Schauen eines sehr edlen und wohlwollenden Menschen; von dem Augenblicke aber , als man mit der einen Hand eine göttliche Offen barung daraus machte , deren Auslegung der geistlichen Hierarchie überlassen wurde , und mit der anderen Hand
weltliche Zwecke damit verfolgte , war es um den Glauben geschehen. So ein Pater Franziskaner auf der Kaozel wird
mit seiner Predigt weder hinreissen, noch viel weniger über zeugen. Christus sagt zwar, wohl denen, die da glauben und nicht sehen.
Gewiss , wer das Gefühl einer transscen
denten Welt fest im Herzen trägt , ist die edlere Natur ; aber man darf nicht vergessen , dass Ahnen und Denken zwei entgegengesetzte Pole sind ; und wenn es Menschen
gibt, die sich anlehnen müssen, weil das Gehirn zu unthätig ist , so gibt es auch welche, deren Gehirn zu mächtig arbeitet , um sich mit einen Glauben zu begnügen , der
Zusammenfassung und Schluss.
eine solche Geschichte und Vertretung bat.
291
Es muss
übrigens auch solche Käutze geben ! Die christliche Moral, so wie sie heutzutage vertreten ist , reicht nicht mehr aus – das beweist die Erfahrung ;
der Glaube ist fort, nur der Aberglaube und Formen sind geblieben. Das Vorurtheil hat die beiden Brennpunkte unserer Entwickelung
Religion und Wissenschaft
derart auseinandergelegt, dass unsere Bahn eine ganz excentrische geworden ist ; diesen Gegensatz zu mildern, ist ein angestrebter Zweck mein - r ,, Vorurtheile der Menschheit “. Ist dieser aber erreichbar ? Gewiss , wenn ich auf die lebende Generation der Priester und Naturforscher auch
keine grossen Hoffnungen setze. Es ist Jedermann unbenommen, den Worten Christi Glauben zu schenken ; es muss den Anhängern seiner Lehre unbenommen bleiben , sich zu einer Gesellschaft, Secte, Schule oder Kirche zu vereinigen, und für deren Verbreitung zu arbeiten ; es ist auch ganz gut begreiflich , dass der Staat, wenn er sich Erspriessliches aus dieser Verbreitung verspricht, diese fördert. Insolange es sich um die Lehre Christi handelt , ist Alles in Ordnung ; sobald aber das Wort Gottes daraus wird , und die göttliche Autorität und Unfehlbarkeit noch überdiess die Thaten und Vor
schriften der langen Reihe von Päpsten in der Vergangen heit und Zukunft decken und sanctioniren soll, dann beginnt die Staguation , der Missbrauch und die Unordnung. Das
Geschäft mit dem Dogma wird übrigens täglich schlechter, warun , sollte es die Kirche nicht mit der Lehre Christi, dieses edlen , tief schauenden Sehers versuchen ? – Sie würde dabei wahrlich wicht verlieren !
Denn heute braucht
sie nicht mehr au den Glauben, sie kann an den Verstand appelliren.
Christus lehrte , dass es eine himmlische Gerechtig keit und Vorsehung , ein ewiges Leben , Belohnung und 19 *
Zusammenfassung und Schluss.
292
Strafe gibt; dass die irdischen Güter vergleichsweise werth los und vergänglich seien, dass wir für unsere Mitmenschen nur Wohlwollen und Liebe haben , und an dieser seiner Lehre vertrauensvoll und unerschütterlich festhalten sollen.
Er pflanzte mit einem Worte die Fahne des transscenden talen Optimismus auf, und brachte Trost und Hoffnung in das damalige traurige Dasein. Ich glaube nicht, dass gegen den Geist dieser Lebre etwas eingewendet werden kann ;
der ganze Rest, die sonderbaren Formen sind auf Rechnung seiner Zeit, Zeitgenossen und Nachfolger zu setzen. Darum ein Hoch dieser Lebre, aber fort mit den Formen und der göttlichen Autorität, welche diese Formen erstarren macht,
die Entwickelung hindert und die ungebildeten Massen der
Religion geradezu entfremdet. Diese brauchen allerdings eine sinnlichere , mehr greifbare Form , als intelligente Menschen ; solche Formen sind aber dadurch nicht ausge schlossen .
Wir feiern die Geburt und den Todestag so
manches grossen Mannes, den Jahrestag eines besonderen Ereignisses , warum sollte so etwas nicht erhalten bleiben können ? Aber es ist doch ein grosser Unterschied, ob man
die Formen so einrichtet, dass die ganze gebildete Welt ohne Heuchelei der ungebildeten ein gutes Beispiel gibt, oder ob man
vom Erhabenen zum Lächerlichen ist ja
bekanntlich nur ein Schritt – an Formen festhält, die um 1000 Jahre hinter der Culturentwickelung zurückgeblieben sind . Was soll der Ungebildete von einein Glauben halten, über den sich die Intelligenz gänzlich hinaussetzt ? Soll
sich diese etwa zu einer solchen Rolle hergeben , um die Macht der Priester und Verdummung der Massen zu fördern ?
Was die Männer der Wissenschaft anbelangt, so wissen diese sehr gut , dass es immer die Erfahrung war , welche ihre Irrthümer aufklärte und beseitigte. Die jüngere, noch
wicht compromittirte Generation wird die Erweiterung des
Zusammenfassung und Schluss.
293
Erfahrungsgebietes begrüssen und ausbeuten, wohl wissend, dass das Todtschweigen und Ueberschreien nichts nützt, auch nicht das Rufen nach der Polizei , gegenüber den Thatsachen haben wir nur ein Mittel , und dieses ist deren
Prüfung ! Aber auch abgesehen davon ; ist denn die Erhal. tung der Kraft eine unwissenschaftliche Annahme ? Ist mit ihr eine transscendente Weltunterlage nicht nothwendig ver knüpft ? Hat Euch denn « as Forschen nach dem unendlich Kleinen so unfähig gemacht, Eure Blicke nach dem unend lich Grossen zu richten ?
Die eine der streitenden Parteien hat auf ganz un natürliche Weise die Welt in zwei Theile, in Himmel und Erde, zerrissen ; die andere Partei hat diese Zweitheilung
verworfen , nur eine Welt anerkannt , diese aber ebenso unnatürlich verkleinert.
Beide Parteien haben in einem
gewissen Sinne recht! es gibt wirklich nur eine Welt, diese aber ist sehr gross und grossartig. In dieser Welt gibt es hingegen verschiedene Daseinsweisen , also Anschauungs weisen, also Welten . Dieser Reichthum der Daseinsweisen, der im Wege der mikroskopischen Untersuchungen nach unten zugestanden werden muss, hat wahrlich auch nach
oben seine Giltigkeit ; einen denkenden Menschen kann es wahrlich nicht überraschen , wenn sich Spuren dieses Reichthums hie und da finden .
Jede Anschauung, sei sie nun gut oder schlecht, stellt die Welt in ein eignes Licht; wenn der Leser mit der Beleuchtungsweise , welche der zweite Band meiner „ Vor urtheile“ liefert, einen Rückblick auf den ersten wirft, so wird es ihm klar werden , warum ich den Selbstmord ver
werfe , wenn er der Entwickelung aus Feigheit gewaltsam Grenzen setzt ; warum ich die Liebe höher stelle, als unsere socialen Gewohnheiten; warum ich die Habsucht irgend eines Handelsmanues, die Titelsucht der Burgoisie , die Selbstüberhebung eines Aristokraten belächle; warum ich
Zusammenfassung und Schluss.
294
Minister und Abgeordnete, wenn sie aus egoistischen Motiven
handeln , unter die Raubmörder stelle ; warum ich endlich die Staatskunst unserer Diplomaten verdamme , die nicht einen kosmopolitischen Gedanken bis jetzt zu Tage zu bringen vermochte. Der Leser wird aber auch zugeben müssen , dass , wenn der hier niedergelegte „ ethische Ge
danken“ allgemein würde , die „sociale That“, nämlich die Verschiebung des Eigenthums und Pflege der Collectiv- Inter essen , auf sich nicht warten lassen wird .
Sobald ich aber meinen Nächsten liebe , wie mich
selbst, so ist es auch gestattet, mich über Alles zu lieben ; es ist dies nicht nur gestattet , sondern geboten , aber ich soll nicht mich , meine Persönlichkeit, etwa gar unter
Aufopferung der Moral und Entwickelung lieben , sondern das transscendentale Subject, welches jene Persönlichkeit in Zellen darstellt.
Dieses verlangt für sein Gedeihen
Vervollkommung und Liebe ! Wohl dem , der über ein grosses Capital der Letzteren bereits verfügt!
Ich habe dem Leser versprochen, ihn aus der hungern den Arbeiterfamilie in schwindelnde Regionen zu führen ;
ich habe mein Wort gehalten ; doch möge der Leser seine Gedanken wieder zurück auf das dringende Bedürfniss der socialen Abhilte lenken dort sind nicht nur die Eintritts
karten für die besten Plätze des Weltüberblickes zu holen, sondern es liegt grosse Gefahr im Verzuge. Je älter ein Vorurtheil ist , desto kräftigere Wurzeln muss es haben, desto schwerer ist es auszurotten, und desto
mehr Zeit wird dazu in Anspruch genommen werden müssen. Der naturwissenschaftliche Materialismus ist jung, und geht auch schon zur Neige ; er war eine Seifenblase der Reac tion gegenüber einer überschwenglichen Speculation und kirchlichen Anmassung weiter nichts. Die religiösen Vorurtheile sind zwar alt, aber die Reaction hat schon mit
Zusammenfassung und Schluss.
295
Huss und Luther begonnen, und die Parlamente arbeiten
fleissig an Zersetzung derselben. Bei den religiösen und wissenschaftlichen Vorurtheilen handelt es sich nur um eine
Veränderung der Anschauung, nicht aber um ein Aufgeben von Religion und Wissenschaft.
Ganz anders liegt die Sache bei unseren socialen Verhältnissen . Der rücksichtslose, rohe Kampf ums Dasein ist sehr alt, und noch ist kein praktischer Schritt gemacht
worden , seine Rücksichtslosigkeit zu beschränken ; denn Almosen und Spitäler retten einzelne Opfer, aber nehmen keinen Einfluss auf den Kampf selbst. Wir haben im ersten Bande gesehen , dass nur durch Bildung des Collectiv Eigenthums eine solidarische Erziehung der nächsten Gene
ration , ein besseres Gleichgewicht unserer Eigenthumsver hältnisse und eine der Solidarität der Interessen ermöglicht werden kann. Die Bildung eines solchen Collectiv - Vermögens erfordert aber Zeit , und zwar eine sehr kostbare Zeit ! Die gebildeten Classen müssen nicht nur den Grund gedanken der christlichen Lehre, den transscendentalen
Optimismus retten , sondern auch die von Christus empfohlene Nächstenliebe auf obige Weise und im eigenen Interesse bestätigen ! Ich habe den begreiflichen Wunsch, wenigstens einen Theil meiner Leser von der Richtigkeit des ersteren und der Nothwedigkeit der zweiten überzeugt zu haben.
Wenn ich dem materialistischen Moralprincip
auch nur Wenige entreisse , wenn ich auch nur einzelne Junggesellen veranlasse , die collectiven Interessen wahrzu . nehmen , so bin ich schon zufrieden. Es ist das auch der einzige Lohn, den ich zu erwarten habe, denn publicistische Lorbeeren werde ich nicht ernten !
Ich habe mir das
ganze klerikale Lager , das Gros der Naturforscher und Gelehrten zu Feinden gemacht; ich bin , was man sagt verpflegt !
Den göttlichen Ursprung der Offenbarung bestreiten,
296
Zusammenfassung und Schluss.
jede Offenbarung im Principe verwerfen, eine transscendente Existenz und die Nichtigkeit so vieler irdischen Bestrebungen proclamiren , und von der Wissenschaft verworfene That sachen anerkennen , selbe hingegen auf natürlich physikali schen Boden stellen
heisst, es mit Allen verderben und
Niemand befriedigen .
Niemand ? – Doch ; es gibt Menschen, die ein fühlen des und dabei muthiges Herz im Leibe tragen und mit der nothwendigen Selbstständigkeit des Denkens verbinden ; auf deren stille Sympathie will ich rechnen, mit den obigen Herren werde ich kämpfen. Noch habe ich von ihnen das Fürchten nicht gelernt“. Le jeu est fait, die Partie kann be
ginnen ! Ganz ohne Kampfgenossen bin ich ja auch nicht. Drossbach schreibt in der soeben erschienenen
Brochure : „ Ueber Kraft und Bewegung“ : „ Der Mensch ist nach ihm *) ein materielles Ding , nicht verschieden von den andern Erscheinungsdingen , er ist wie diese das hin fällige Product wechselnder Verhältnisse, er ist, um es gleich ganz zu sagen , eine Sache , eine Waare , wie man sie auf dem Markte kauft oder verkauft und die Vernichtung des Selbstbewusstseins steht vor ihm als das sichere Ende seines
Lebens. Diese Aussicht zerstört alle Freuden, dieses Gefühl der Nichtigkeit und der Abhängigkeit ist furchtbare Qual, das Leben hat keinen Werth.
Auch kann da von Liebe
und Aufopferungsmuth keine Rede sein , wo der Glaube herrscht, dass die Arbeit der vorhergehenden Geschlechter
nur den folgenden Generationen zu gut komme , und dass doch zuletzt Alles in das Nichts versinke , dass alle An strengung , die auf höhere und entferntere Ziele als die
Befriedigung der nächsten Bedürfnisse des gegenwärtigen
Lebens gerichtet ist, unwiederbringlich verloren sei für den nach ihnen Strebenden. Unter solchen Geschöpfen blind wirkender Naturkräfte gibt es weder Rechte noch Pflichten, *) Dem „ Empirismus“ .
Zusammenfassung und Schluss.
297
keinen Unterschied zwischen gut und bös , und der edle liebreiche Menschenfreund wird nicht höher geachtet als
der Raubmörder , denn beide handeln nur so wie sie ge trieben von Naturgesetzen handeln müssen. Beherrscht von
solchem Vorurtheil sucht der Mensch das Leben auszunützen, so lange es dauert und so gut es geht , aber so sehr er auch nach Genüssen strebt, er wird durch keinen befriedigt, er verliert allen Muth und bildet sich ein pessimistisches System , um seiner feigen Gesinnungsart einen philosophi schen Anstrich zu geben. Ein solch elender , aller edleren
Gefühle lediger, aller Hoffnung beraubter Mensch hat keinen Sinn für das Wohl und Wehe Anderer ; in seinem Herzen ist kein Platz mehr für die Liebe, er will den Andern nur
zur Befriedigung seiner egoistischen Wünsche benützen, und wenn die Andern gleiche Gesinnung baben , so wollen sie auch ihn in gleicher Weise benützen, so entsteht der Krieg Aller gegen Alle und die grössere Macht entscheidet ; so gibt es nur Herren und Knechte , Herren , die keinen Augenblick sicher sind, dass sie nicht gestürzt werden, und Knechte , die die Fessel nur mit Ingrimm tragen ; so gibt
es keinen geordneten Staat , kein Gemeinleben , keine Familie. Nur eine neue Weltanschauung, welche einerseits den Kern der verschiedenen Formen , in denen das sittliche Gefühl sich ausgeprägt hat , bewahit , und anderseits den
Irrweg, auf welchen die mechanistischen Wissenschaften in ihrer Reaction gegen die einseitig idealistischen , der sinn lichen Erfahrung ungenügend Rechnung tragenden Lehren sich befinden , erkennt – eine Weltanschauung , welche in dem Menschen die Achtung ror sich selbst wieder erweckt,
die durch jene Lehren vernichtet worden ist – kann vor dem Untergang des bisher in Staatenbildung, Wissenschaft and Kunst Errungenen schützen *) wenn sie in weite * ) Eine Ethik auf der hier bezeichneten Grundlage mit einer
auf ihr gegründeten Physik ist noch zu sclireiben , meint Drossbach.
298
Zusammenfassung und Schluss.
Kreise verbreitet und wenn insbesondere die Erziehung der Jugend auf ihrer Basis unternommen wird , denn die Erziehung auf ächt sittlicher Grundlage mit Stärkung und Klarmachung des Gefühls unserer Selbst
ständigkeit und moralischen Zurechnungsfähigkeit macht den Menschen erst zum Menschen , und diese Erzie hung ist weitaus wichtiger für das Leben des Einzelnen
wie für das Bestehen der Gesellschaft im Allgemeinen, als die gegenwärtig in den Vordergrund gestellte Schulbildung, welche nur die empirischen Kenntnisse vermehrt und zur Veredlung des Charakters nichts beiträgt. Gerade in unserer Gegenwart muss auf die Wiederbelebung des immer mehr abhanden kommenden Bewusstseins
unserer
moralischen
Würde und Zurechnungsfähigkeit mit aller Macht und im ausgedehntesten Maasse hingearbeitet werden. Es sollte die dringende Nothwendigkeit ächt sittlicher Er ziehung, frei sowohl von den Dogmen der Kirchen als von den Dogmen der bisherigen wissenschaftlichen Doctrinen, klar erkannt und ohne Aufschub sofort Hand ans Werk
gelegt werden , denn nur dadurch – nicht durch Gesetze, noch durch Kanonen
kann der zunehmenden Verwilde
rung Einhalt gethan und gewaltsamen Strömungen im Fort schritt der Entwickelung vorgebeugt werden .“ Drossbach ist ein Vertreter der Seelenwanderung im Herbart'schen Sinne ( siehe meinen .,Individualismus“ ),
jedenfalls ein füblender und denken der Mensch , und würde ich den Herren Naturforschern die Lektüre dieser
Brochure anempfehlen, die ihnen die Relativität ihres Wissens klar machen könnte.
Ich will hoffen, dass sich die Armee
der vorurtheilsfreien Streiter für die Interessen der Mensch
heit täglich vermehre ! Sehr schön sagt Zöllner von Keppler , dass dieser für Alle ein psychologisches Räthsel bleiben werde, welche nicht im Stande sind , den Zusammenhang zu begreifen,
Zusainmenfassung und Schluss.
299
„ welcher die Arbeit des Kopfes mit dem Pulsschlag des menschlichen Herzens in Verbindung setzt“ . Ich habe diese zwei Funktionen wohl zeitweise trennen, aber nie im Wider
spruch lassen können , weil ein solcher die sichere Bürg schaft eines Fehlers im Kopfe oder Herzen ist ; darum glaube ich auch, dass ich zwei Pforten habe, durch welche ich bei meinem Leser eindringen kann , das Herz und den
Kopf. Ich will meinen Leser aus dieser Lethargie heraus reissen , ich will in ihm die Zuversicht erzeugen , dass es so nicht bleiben könne , dass es anders werden müsse ! Fourier hat die socialen Zustände unserer Civilisation
als das umgekehrte Bild unserer Zukunft bezeichnet ; er hat
Recht ; wir wissen nunmehr , dass dem so sei. Wenn ich einen Handschuh umdrehe , so wird aus einem linken Hand
schuh ein rechter – der gerade Gegensatz. Wenn ich das Moralprincip des Egoismus in sein Gegentheil umkippe , in die Pflege der Collectiv - Interessen ; wenn ich unsere Existenz für die phänomenaie erkenne , die in den Augen der Majorität die einzig reale ist - so muss eine Anerkennung dessen zur vollen Umkehrung unserer Zustände führen .
Wahrlich kein Unglück ! Langsam wird es gehen, aber es wird gehen ; den praktischen Thaten mussten seit jeher die befruchtenden Gedanken vorausleuchten ! Hat diese Ueber
zeugung nur bei einem Theile der gebildeten Welt Wurzel gefasst , so werden die Früchte ball zu Tage treten. Ist
die Bewegung aber einmal im Gange, so geht es mit Riesen schritten zur Emancipation von den Vorurtheilen ! Einen sehr mächtigen Alliirten babe ich auf jeden Fall , falls sich Körner der Wahrheit in meinen Gedanken
befinden , und dieser Alliirte ist - die Zeit , die jede Wahrheit zum Siege führt, sobald sie ausgesprochen ist !
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entfaltet ; welches den göttlichen Geist mit ewiger Kraft und Lieb lichkeit begabt, und welches der von Gott ererbte Schatz der mensch lichen Seele ist ; und dieses Prinzip heisst : „ Die Grosse Harmonie."
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theile. Gesellschaftliche Vorurtheile. II. Band : Vorurtheile in Religion und Wissenschaft. III. Band : Die Vorurtheile des gemeinen Verstandes. ( Einzelne Bände werden nicht abgegeben.)
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DRITTE AUFLAGE IN DREI BÄNDEN .
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Alle Rechte vorbehalten.
Vorrede. An meine Leser und Leserinnen !
Das vorliegende Buch zerfällt in zwei Theile : die Vor urtheile des gemeinen Verstandes, und die von diesen los gelöste Naturbetrachtung. Diese Eintheilung ist objectiv genommen ganz richtig ; vom Standpunkte des Lesers aber, was etwa für ihn neu , belehrend oder unterhaltend sein werde, müsste das Buch eigentlich in drei Theile zerfallen. Die ersten 60 Seiten oder vier Capitel sind trocken ,
enthalten eigentlich für den philosophisch gebildeten Leser nichts Neues; diese 60 Seiten sind nur da, um dem Leser die Lectüre von ebensoviel trockenen Büchern das ist immerhin ein Gewinn , und das zu ersparen
mag ihn trösten. Mich hat das Zusammenziehen viel Mühe gekostet.
Die nächstfolgenden 70 Seiten oder vier Capitel behan
deln zwar ein Thema, das von den Philosophen auch behandelt wurde, aber meine Anschauungen weichen von diesen ab, und stellen diese 70 Seiten an den Leser nicht mehr die
Anforderung des Wissens, wie die früheren, sondern nur mehr des Denkens. Sie sind nicht mehr trocken, wenn auch
gerade nicht unterhaltend , doch sind sie nothwendig , ins besondere das 5. Capitel über die Phänomenalität der
Vorrede.
IV
Persönlichkeit, deren Verständniss den Schlüssel abgibt, sich in den folgenden Capiteln zurechtzufinden ; wer diese 70 Seiten überschlagen würde, käme in die Lage eines Japa
nesen , der ins deutsche Schauspielhaus geht, er würde so Manches sehen , aber von der Handlung sehr wenig ver
stehen ; der Leser stünde gleichsam vor einer Sammlung historischer Bilder, deren Gegenstand ihm unbekannt wäre. Der ganze Rest von weit über 200 Seiten (die letzten
drei Capitel) wird dem Leser wie ein sonderbarer Traum vorkommen , und einige meiner Leser werden , so will ich hoffen , wünschen , dass dieser Traum kein solcher , sondern Wirklichkeit wäre oder würde.
Diesen Lesern erlaube ich
mir einen besonderen Rath zu ertheilen .
Nach meiner eigenen Erfahrung habe ich bei Lecture eines Buches meine Aufmerksamkeit nie so concentriren
können , dass ich nicht – durch allerlei Gedanken veranlasst Bruchtheile von Seiten nur mechanisch gelesen hätte,
was zur Folge hatte, dass ich bei nach einiger Zeit wieder holter Lecture Vieles fand, was mir früher entgangen, und mir vieles verständlich wurde, was es früher nicht war. Es ist eben nicht wahrscheinlich , dass des Lesers Unaufmerk samkeit gerade bei derselben Stelle eintreten würde. Wird
mein Leser nach einer einmaligen , sagen wir füchtigen Durchlesung das Buch wieder in die Hand nehmen, so wird er den ersten, trockenen Theil in einem ganz anderen Lichte sehen, und auch das Ganze besser verstehen. Er wird dann zu seiner Ueberraschung finden, dass gerade das , was
er für Wirklichkeit gehalten , der Traum , und der gewünschte Traum die Wirklichkeit Im Juni 1880 . Der Verfasser.
Inhalt.
Seite
Vorwoit.
Die Vorurtheile des gemeinen Verstandes. I. Capitel. Einleitung II. Capitel.
Die Phänomenalität unserer Sinneswahrnehmungen . Das Gebör. – Das Gesicht. Der Geruch und der Geschmack . Der Tastsinn .
6
III . Capitel. Phänomenalität der Materie .
Die Fernwirkung der Atome. – Die Aether -Hypothese. – Die letzten Realitäten.
Die Phänomenalität der Materie wird von
allen tieferen Denkern anerkannt
22
IV . Capitel.
Phänomenalität unserer Raumvorstellung. Die Raumvorstellung wird durch die Bewegungs- Empfindungen gewonnen . Die auf diese Weise gewonnene Raumvorstellung
entspricht nicht dem wirklichen Raume im metaphysischen Sinne .
Kant und die Fernseher . .
44
V. Capitel. Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit,
Das Bewusstsein unserer Persönlichkeit entwickelt sich spät. Das zweidimensionale Spiegelbild und das dreidimensionale Bild im menschlichen Bewusstsein . — Unsere Sinne nehmen nicht wabr, sondern entscheiden nur über die Art der Wahrnehmung
63
Inhalt.
VI
VI. Capitel.
Seite
Die scheinbare Freiheit des Willens.
Die Freiheit des Thung und die Unfreiheit des Willens. — Die
Erfahrung ändert das Wollen , also den Charakter. Kant und Schopenhauer. - Die Nothwendigkeit unserer Handlungen 78
und das Gefühl unserer Verantwortlichkeit .
Die von den Vorurtheilen des gemeinen Ver stand es losgeloste oder philosophische Naturbetrachtung .
VII . Capitel. Das intelligible Subject.
Welche Probleme sind zu lösen ? — Schopenhauer und die alte Kabbala.
Barnard und das Räthsel des Lebens.
Kant
und die Doppelnatur des Menschen . .
95
VIII . Capitel.
Der intelligible Charakter. Ursprung und Motiv des „Sollensa in uns. Die Ethik Schopenhauers. – Die volle und geringe phäno
Die Ethik Kants.
menale Befangenheit menschlicher Naturen . – Das Fatum im
empirischen Leben. – Das Vorhandensein des intelligiblen Subjects und Charakters fahrt nothwendig zur Existenz einer 117 intelligiblen Welt IX. Capitel . Die intelligible Welt. Die Die beiden zur intelligiblen Welt führenden Wege. Widersprüche mit der phänomenalen Gesetzmässigkeit. 138 Der phänomenale Schein der Naturgesetze I. Die Schlässe aus den Widersprüchen mit der phäno menalen Gesetzmässigkeit.
Der Naturforscher Alfred Russel Wallace und das intelligible Subject. Der Chemiker William Crookes und der Meta organismus. — Prof. Friedrich Zöllner und die vierte Raum dimension. – Prof. Wundt und die protestantische Kirchen zeitung. .. Prof. Zöckler . . II. Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten. Die Identität beider Welten.
Einige nothwendige Attribute
der intelligiblen Welt. – Die denkbare Einwirkung der intel
149
Inhalt.
VII Seite
ligiblen Welt aut uns.
Die denkbare Einwirkung auf die
William Eglinton in Wien. – Der denkbare
Materie .
Zweck der Phänomene.
Unsere denkbare Einwirkung auf
die intelligible Welt III. Zusammenfassung . Die Wertblosigkeit der spiritistischen Offenbarungen. - Die ver meintliche Absurdität der Palingenesis. Die Uebergänge
188
274
vom Leben zum Tod
X. Capitel. Die Vorurtheile der „ Aufgeklärten “ liber die Vorurtheile der „ Abergläubigchen .“
Die öffentliche Meinung. — Der Aberglaube. — Der Dreizehnte. Der Freitag Alchemisten .
-
Der Kibitz . Tag und Nacht. Die Magier Die Astrologen .
Die
288
XI. Capitel. Der praktische Werth der vorurtheilsfreien Weltanschauung. Die Måpner der Wissenschaft. Die Blauen XII. Capitel.
Der Verfall der Civilisation.
Gibt es Vorurtheile im Gebiete der Philosophie ? Definition, Umfang und Aufgabe der Philosophie Schlusswort
3
319
359 367
Dritter Band .
Die Vorurtheile des gemeinen Verstandes.
I. Capitel. Einleitung . Wenn ein Maler ein Gemälde entwirft, so muss er
für die Herstellung der Bedingungen Sorge tragen und den Grund legen , auf welchem das Bild zur Darstellung gebracht werden soll. Ich befinde mich in einer ähnlichen Lage; ich muss meinen Leser durch einige trockene, wenn auch nicht zu lange Capitel hindurchführen , bevor ich daran denken und hoffen kann , ihm ein verständliches, neues und an
ziehendes Gemälde zu liefern. Diese drei Capitel tragen die Aufschrift: „ Phänomena lität unserer Sinneswahrneh
mungen , der Materie und unserer räumlichen Vorstellungen.“ Es wird daher gut sein , den Leser durch Angabe des zu erreichenden Zweckes vorzubereiten .
Wenn wir die Hand in ein Wasser tauchen, so haben wir eine andere Empfindung, als wenn wir sie an die Wand drücken , wir sagen das Wasser sei füssig, die Mauer sei fest, und doch ist es nur die Empfindung des verschie denen Widerstandes, die uns veranlasst , die Mauer für
undurchdringlich zu halten, was sie nicht im mindesten ist. Es ist daher nothwendig, dass ich mich über die Natur der Sinneseindrücke mit meinem Leser früher verständige.
Wir glauben weiter, dass die Welt voll der Stoffe
sei , denen wir verschiedene Kräfte zuschreiben , und doch Hellenbach , Vorurtheile. III.
1
2
Einleitung
ist das ganz falsch ; die Welt besteht nur aus Kraftäusse rungen, und unser Verstand macht aus den Empfindungen den Stoff. Der gemeine Verstand pflegt sich dahin auszu drücken , dass der Ofen wärme ; er weiss wohl , dass es das Holz oder die Kohle ist , welche dem Ofen die wärmende
Eigenschaft gibt ; er geht noch weiter , und schreibt dem Verbrennungsprocesse die Wirkung zu ; die Zahl derjenigen ,
welche diese Wirkung in die Schwingungen verlegen , die unsere Haut treffen , ist schon eine geringe ; noch geringer
ist die Zahl derjenigen , welche über den Zusammen hang und die Umsetzung von lebenden Kräften ( kinetische Energie) in Spannkräfte Rechenschaft zu geben vermögen, und doch ist es dringend nothwendig , dass mein Leser einen richtigen Begriff von Dem erhalte , was wir so leicht und ganz allgemein als Materie bezeichnen . Noch schwieriger ist das dritte Capitel , welches die Phänomenalität unserer räumlichen Vorstellungen betrifft : weil der Massstab für die räumlichen Verhältnisse uns durch
unsern Organismus angeboren ist, und nur ein philosophisch angelegter Kopf aus eigner Initiative zu erkennen vermag , dass gerade darum unsere Anschauung der räumlichen Beziehungen der Objecte durchaus der einwirkenden Rea lität nicht entsprechen müssen ; denn wären wir anders
geboren , so hätten wir andere angeborene Anschauungs formen , woraus folgt, dass es mit den vier Billionen Meilen Sternweite eben so wie mit dem Zwischenraume der Atome
und den Quadrillionen Molekeln in einem Cubikcenti meter Luft, deren sehr viele zusammengelegt für uns noch unwahrnehmbar sind , noch seine Haken habe, wenn die
phänomenale Gesetzmässigkeit auch diese Ziffern ergibt. (Siehe Jonston Stoney Philos. Mag. Vol. 36, Seite 141.)
Der Leser wird im ersten Augenblicke vielleicht ausrufen , dass ich ihn in's Bodenlose führe , wenn ich die Phänomenalität alles dessen behaupte , was die alleinige
Einleitung.
3
Unterlage unseres Wissens und Denkens ist ; doch ist der Teufel nie so schwarz , als er an die Wand gemalt wird . Es fällt mir nicht bei , zu bebaupten , dass unseren Sinnes wahrnehmungen keine Realität , unseren Empfindungen
keine wirkenden Veranlassungen unterliegen ; auch nicht, dass die räumlichen Beziehungen der Objecte nicht existiren.
Wohl aber müssen wir den kritischen Stand
punkt einnehmen, und die phänomenale Natur unserer Vorstellungen von diesen Dingen gründlich begreifen , wenn ich meinen Leser durch die Erkenntniss der Phäno
men alität unserer Persönlichkeit auf ein nicht nur
interessantes , sondern auch hoch wichtiges Gebiet mit Nutzen bringen soll.
Der Leser mag vielleicht ausrufen : „ Also auch meine Persönlichkeit ist phänomenaler Natur ? Ich soll auch nicht existiren , wo doch der Vater der modernen Philosophie gerade das Ich als den einzigen sicheren Pfeiler der Speculation erkannte ? – Wenn das „cogito, ergo sum auch keine Giltigkeit mehr haben soll , wo werden wir da hin gelangen ?"
Halt ! mein Leser ! Wenn ich auch nachgewiesen haben werde , dass das Phantom unserer Persönlichkeit ein sich
langsam entwickelndes Product unseres Organismus ist , so würde daraus noch nicht folgen , dass es keine reelle
Unterlage habe ; auch das Bild im Spiegel hat eine und gesetzmässig entsprechende Unterlage und ist doch nur ein Bild , ein Phantom. Eines ist gewiss, dass wenn unsere Persönlichkeit , wie wir sie in unserem Bewusstsein stehen
haben, eine Realität wäre, es für uns besser sein würde, wir wären nie geboren ; denn eine solche Realität ist des Jammers nicht werth, der unserer Existenz vorhergeht, sie
begleitet und ihr folgt. Ist hingegen unsere Persönlichkeit nur ein Phänomen , nur ein Bild , dann gewinnen wir den
Anspruch auf die Befriedigung jenes Bedürfnisses, das durch 1*
4
Einleitung
Liebe und Moral hervorgerufen, den Menschen zum Gegner einer pessimistischen Weltanschauung macht. Nur die Phäno menalität unserer Persönlichkeit , die von Kant tiefsinnig erschlossen , von Schopenhauer und Hartmann weiter aus geführt wurde, kann uns den Schlüssel zu einer befriedigen
den Weltanschauung liefern . Darum möge sich der Leser der Lecture der drei ersten Capitel mit Resignation unter ziehen, welche das Fundament einer kritischen Betrachtung der Natur und unserer eigenen Individualität einzig allein
ermöglichen. Ich habe am Schlusse eines jeden dieser drei
Capitel eine Zusammenfassung gesetzt , in welcher klar ausgesprochen ist, was bewiesen werden sollte; dieser Zweck wird auch bei jenem meiner Leser erreicht sein, der zufolge mangelhafter Detail - Kenntnisse des einen oder andern
Zweiges der Naturwissenschaft einzelne Beweisführungen nicht verstanden haben sollte. Es führen bekanntlich alle Wege nach Rom , und die Wahrheit muss auf verschiedene Weise zu beweisen sein ; ist meinem Leser ein Argument unklar , so genügen auch die anderen , ihm verständlichen, vollkommen . Jedes einzelne Argument ganz gemeinfasslich darzustellen , hätte diesem Buche, und besonders den drei
ersten Capiteln, einen zu grossen Umfang gegeben. Der Zweck dieser drei Capitel ist nicht, dem Leser unsere Sinneswahrnehmung zu erklären , oder das Räthsel
der Materie und des Raumes zu lösen, was zum Theil eine unmögliche , jedenfalls aber schwierige Aufgabe wäre. Es handelt sich nur darum , die von dem gemeinen Verstande
so leicht als Realität genommene Phänomenalität der Welt nachzuweisen ; es müssen die Vorurtheile des gemeinen Ver standes gebrochen werden , denn es steht ein hoher Preis
auf das Gelingen ! Wer durch den phänomenalen Schleier hindurch die Schattenumrisse der wirklichen Realitäten zu erfassen ver .
mag , der ist der Culturentwicklung gewonnen , sowohl
Einleitung
5
der eigenen als der fremden, der wird in den Kämpfen des Lebens den Muth nicht verlieren , weil er dieses von einem höheren Standpunkte aus zu betrachten vermag ; und so wie ein mehrfach umgerissener Boden neuen Saaten ein üppiges Wachsthum verspricht, so wird sich auf den Trüm mern der Vorurtheile des gemeinen Verstandes ein Bild der
„ intelligiblen Welt“ aufbauen lassen, deren Existenz der von der Phänomenalität befangene gemeine Verstand mit Hartnäckigkeit läugnet, ohne welche intelligible Unter lage aber der Schwindel der phänomenalen Welt gar nicht möglich wäre. Ich habe im zweiten Band der Vorurtheile gezeigt, dass der Aufriss der intelligiblen Welt , wie ihn die Reli
gionsstifter, Propheten und Spiritisten auf einander wider sprechende Weise versuchten , werthlos ist ; ich habe weiteres gesagt , dass die Experimente im Genre eines Zöllner
allerdings einige Data zu liefern vermögen, mit deren Hülfe sich Schlüsse ziehen lassen ; hier aber soll ein neuer, meines
Wissens noch nie begangener Weg betreten werden. Wir werden den Aufbau auf der Grundlage der Veraussetzung versuchen, dass die phänomenale Welt nur ein durch das Gehirn erzeugtes Bild der intelligiblen sei. Wir werden den Versuch machen – eines gemeinfasslichen Gleichnisses mich bedienend – aus der phänomenalen ( drei dimensionalen) Photographie auf das intelligible (vier-dimeu sionale) Original zu schliessen. Es ist daher begreiflich, dass Alles auf die Wahrheit und Richtigkeit obiger Voraus setzung ankommt, darum aber auch Alles aufgeboten werden muss, sie sicher zu stellen.
Je höher ein Gebäude werden
soll, desto solider muss der Unterbau sein ; wer die Schriften Schopenhauer's, Drossbach's und Kant's kennt, kann sich die drei folgenden Capitel schenken , wer sie nicht kennt, für den sind sie obligat.
Zweites Capitel . Die Phänomenalität unserer Sinneswahrnehmungen . Das Gehör.
Das Gesicht.
Der Geruch und der Geschmack.
Der Tastsinn .
Das Vorurtheil des gemeinen Verstandes besteht haupt sächlichst darin, dass er subjective Empfindungen für reale
Objecte der Aussenwelt nimmt. Schon die Sprache , diese erste Lehrmeisterin unserer Begriffe, muss ihn dazu ver führen. Sie spricht von einem Ton des Claviers, einer Farbe, von Stoff und Materie , und doch sind das lauter Dinge, die nur in unserer Vorstellung zu Stande kommen, wenn
auch äussere Einwirkungen sie veranlassen . Die Vorurtheile des gemeinen Verstandes werden im wahren Sinne des Wortes vererbt, denn sie sind eine Consequenz unserer Organisation. Der erste Gegenstand, mit dem wir uns befassen werden , ist demnach die Phä nomenalität unserer Sinnes wahrnehmungen im Allgemeinen.
Es ist durch die Erfahrung erwiesen und Jedermann verständlich , dass die auf unsere Sinne einwirkenden Kräfte
einen gewissen Grad von Intensität haben müssen , wenn
Die Phänomenalität unserer Sinneswahrnehmungen.
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sie uns fühlbar werden sollen; nicht jede Schwingung wird zum Tone oder zur Lichtempfindung; auch wissen wir nichts davon, wenn wir einige Mohnkörner in den Kleidern tragen ; weder wird deren Gewicht für uns fühlbar werden , noch werden sie unsere Nase afficiren .
Weniger bekannt ist es , dass die Steigerung auch
ihre Grenze hat, d. h. dass wir von einer gewissen Grenze ab die Vermehrung nicht mehr oder als etwas Anderes empfinden. So empfinden wir Schwingungen als Licht durch das Auge , oder auch als Wärme durch die Haut.
Das Ergebniss dieser ersten Betrachtung ist , dass
unser Organismus nicht etwa nur der Qualität nach, sondern auch in Bezug auf die Quantität der Einwirkung ein beschränktes Instrument ist.
Ja , wir werden finden ,
dass quantitative Aenderungen in uns qualitativ ver schiedene Empfindungen hervorrufen, d. h. als solche empfunden werden.
Doch selbst dieses Segment von Empfindungsfähigkeit zeigt auffallende Verschiedenheiten ; denn wenn die Inten sität der Empfindung auch im Verhältnisse zur Intensität
der Einwirkung steht, so sind diese Progressionen nicht gleich , d. h. die Steigerung beider ist keine ganz gleiche. Wir bemerken sehr leicht den Unterschied der Beleuchtung , wenn es sich um eine oder zwei Kerzen handelt, ob aber
40 oder 41 Kerzen brennen , das können wir nicht mehr unterscheiden . Wundt hat für die einzelnen Sinne folgende
Zahlen gefunden, um welche die Einwirkung vermehrt werden muss, um von uns empfunden zu werden . Licht 1 Procent.
Muskelbewegung 6 Procent (z. B. beim Heben eines Gewichts). Druck , Schall und Temperatur 33 Procent.
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Um diese Beiträge muss die ursprüngliche Einwirkung vermehrt werden, wenn wir sie empfinden sollen. Fechner
und Wundt haben gefunden, dass die Empfindungen um gleiche Grössen zunehmen , wenn die veranlassenden Reize 80 zunehmen , dass ihr Zuwachs zur ganzen vorhandenen Reizgrösse immer dasselbe Verhältniss beibehält; dass würde aber den Verhältnissen von Zahl und Logarithmus ent
sprechen, daher sich denn der Satz ergiebt: „die Empfindung wächst wie der Logarithmus der Reize.“ Wir haben nicht nothwendig, so tief in diese Fragen einzugehen , um uns klar zu machen , dass alle unsere
Wahrnehmungen etwas Phänomenales , von dem Instru mente (Leib genannt) Abhängiges seien. Wir sind einer Wage zu vergleichen , die weder für ein sehr kleines noch ein
sehr grosses Gewicht, sondern nur für eine sehr
beschränkte Menge von Abmessungen brauchbar ist. Feblt uns ein Sinn , so entbehren wir einer Reihe von Vorstel
lungen gänzlich, obschon die einwirkenden Kräfte existiren; aber auch die Sinne, die wir haben , können nur für ein kleines Segment der vorhandenen wirkenden Kräfte ver wendet werden.
Wollen wir das an den einzelnen Sinnen deutlicher zu machen suchen . Das Gehör.
Die Naturwissenschaft hat es zu einer ganz unzweifel haften Gewissheit erhoben , dass alle unsere Gehörvorstel
lungen , seien es nun harmonische Töne oder gewöhnliches Getöse , die Folgen von Schwingungen sind , die in starren Körpern ebenso wie in der Luft hervorgebracht werden
können, wenn ihre Intensität, Dauer und Fortpflanzungs fähigkeit in den verschiedenen Medien auch begreiflicher weise eine verschiedene ist.
Die Phänomenalität unserer Sioneswahrnehmungen.
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Man kennt selbst die Zahl der Schwingungen , die zur Hervorbringung der verschiedenen Tonempfindungen noth wendig sind, das 32 füssige
der Orgel, – der tiefste Ton,
wie er meines Wissens nur in der Cisterzienser Kirche zu
Prag am Hradschin und in einer Hamburger Orgel aus Metall zu finden ist - gibt 32 Schwingungen in der Secunde oder richtiger, 32 Schwingungen erzeugen in unserem Kopfe
den Ton des tiefsten C ; das 16 füssige C gibt 64 Schwingungen und das geht so fort, immer um das Doppelte , nämlich
128, 256, 512 , 1024 bis 2048 Schwingungen für das drei gestrichene C, während die Länge des Rohres von 32 Fuss immer um die Hälfte verkürzt werden muss und auf einen halben Fuss herabsinkt . Es sind die Ziffern dieser Schwin
gungen bei den verschiedenen Experimenten nicht iminer scharf zu nehmen, weil Temperatur, Dichtigkeitsverhältnisse einen Einfluss haben ; nichts desto weniger hat Dulong mit der von Caignard de la Tour erfundenen Sirene sehr scharfe Messungen vorgenommen.
Man weiss so ziemlich die Grenze , innerhalb welcher das menschliche Ohr Schwingungen zu empfinden vermag, und es schwebt die Empfindungsfähigkeit zwischen 32 und 36,000 Schwingungen ; es wurden von Savart allerdings auch etwas tiefere und höhere Zahlen angegeben , doch hat dies für uns keine Bedeutung. Die übereinstimmenden
Messungen von Chladni , Dulong , Sauveur , W. Weber und Anderen haben für das gewöhnliche Stimmungs - A zwischen
800 und 900 Schwingungen in der Secunde ergeben , mit Ausnahme Euler's , der nur 784 Schwingungen gefunden haben will. Man darf auch nicht vergessen, dass ausser den
schon angeführten Temperaturs- und Dichtigkeits- Verhält nissen auch die Orchester nicht ganz gleichgestimmte Stimm gabeln haben .
Uns genügt es , zu wissen , dass wir es mit Schwin gungen zu thun haben , was schon Leibnitz erkannte.
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Newton war der Erste, der sie als Wellenbewegungen erkannte und für die Fortpflanzung in der Luft das Gesetz
aufstellte; dass sich diese Wellen direct wie die Quadrat wurzeln der Elasticitäten und umgekehrt, wie die Quadrat wurzeln der Dichtigkeiten verhalten ; eine Aufstellung, welche später durch Chladni erfahrungsmässig geprüft und für die atmosphärische Luft ganz genau, für die Fortpflanzung in Sauerstoff, Stickstoff, Stickgas , Kohlensäure- und Sal. petergas so ziemlich genau befunden wurde, nur in Wasser
stoffgas, diesem leichtesten Materiale, das wir kennen, ergab sich eine grosse Differenz. Gewiss ist , je höher der Ton, desto mehr Schwingungen in der Secunde müssen erfolgen, und wenn diese Schwingungen die Höhe von 36,000 (nach andern 38,000 ) in der Secunde erreichen , so hört der Ton auf , und nur ein Zischen ist anfangs noch zu ver
nehmen. Es ist ferner noch hervorzuheben , das die Ton höhe dem Logarithmus der Schwingungszahlen proportional ist. Ein Professor der Mathematik , der seine Wissenschaft liebte , rief seinen Schülern zu, dass Gott selbst weiter nichts
sei , als ein grosser Mathematiker; wenn man das Obige
berücksichtigt, und sich weiters überzeugt , dass es mehr oder weniger mit den andern Sinnen sich ebenfalls so ver hält , die Zahlen überhaupt eine grosse Rolle in der uns
anschaulichen Welt spielen , so kann man diesen Erguss eines für sein Fach begeisterten Professors ganz gut be greifen. Ist ja selbst die Harmonie in der Musik nichts als die Folge von Zahlenverhältnissen gleichzeitiger Schwin gungen.
Alle diese Schwingungen gingen aber als Töne ver loren , wenn wir kein Ohr hätten , das durch eine wunderbare
Construction
an
seinen
Nerveuenden
diese
Schwingungen auffinge, die sich schliesslich in unserem Ge
hirn als Tonvorstellungen darstellen. Der Ton ist also
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nicht dort , wohin der gemeine Verstand ihn verlegt , er ist nicht etwa in der Geige oder Trompete, sondern nur in unserm Kopfe. Wir brauchen einen Tauben nur in eine Oper zu führen , um uns zu überzeugen , dass Musik nur dort existirt, wo ein Ohr vorhanden ist, das Schwingungen in Töne zu umsetzen versteht.
Uebergehen wir nun auf die interessanteste Function unseres Organismus, das Sehen. Das Gesicht.
Das menschliche Auge ist nicht nur das nothwendigste und wichtigste, sondern auch das interessanteste Organ,
durch welches der Verstand die Ansch: uung der Welt gewinnt , und doch ist es nur für die Empfindlichkeit der
Lichteinwirkungen construirt. Das Auge ist mit einer Glas linse oder einem Spiegel zu vergleichen, durch welchen die Lichtstrahlen aufgefangen werden, und welche auf die End organe (kleine Stäbchen oder Zapfen ) wirken. Es ist wahr scheinlich, dass die Nervenenden im Ohre gleich den Saiten eines Clavieres nur für bestimmte Einwirkungen empfänglich sind ; ob dies beim Auge auch der Fall, ist schwer zu ent
scheiden , für die Aufklärung der quantitativen und quali tativen Lichteinwirkungen aber durchaus nicht nothwendig. Bevor wir aber zur Licht- Empfindung schreiten , müssen wir uns klar werden, was denn das Licht selbst ist. Es war seit jeher das gewöhnliche Auskunftsmittel der Naturforscher, wenn sie eine wirkende Kraft wahr
nahmen , und keinen Stoff zur Hand hatten , dem sie die entsprechende Kraft zuschreiben konnten , einen solchen zu
erfinden , und ihm alle Eigenschaften beizulegen, die noth wendig waren , um sich die Erscheinungen erklären zu können ; dass das keine Erklärung sei , auf das kamen in der Regel erst die Nachkommen . Selbst ein Newton griff
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Die Phänomenalität unserer Sinneswahrnehmungen.
zur Annahme unendlich kleiner materieller Theilchen , zu einem Lichtstoff und wurde der Gründer der Emis
sions- oder Emanationstheorie. Die Schwierigkeiten , welche die Refraction und Inflection der Lichtstrahlen dieser Hypo
these bereiteten , war übrigens Newton nicht entgangen , und hat er selbst am Schlusse seines optischen Werkes die
Frage aufgeworfen , ob sich denn die Lichterscheinungen nicht besser auf Vibrationen - aber wieder eines Stoffes, des Lichtathers
zurückführen liessen .
Um dem Leser
nur einen beiläufigen Begrift der monströsen Consequenzen bei der Emissionstheorie zu geben , wird es genügen, die Ausführungen der Fachmänner anzuführen , denen zu Folge die Geschwindigkeit des Lichtes beim Eintritte in Glas beschleunigt wird und in einem zwölf Billiontel einer
Secunde das 1.5fache betragen müsste ; so zu lesen bei Brandes. La Place auch ein Anhänger der Emis sionstheorie hat ähnliche Ziffern . Die entscheidendste
Widerlegung der Newton'schen Theorie sind die Wirkungen des achromatischen Refractors, dessen Möglichkeit vou Newton auch ganz consequent bestritten wurde. Die eigentlich schon von Newton angeregte Vibrations oder Undulations - Theorie , der zu Folge das Licht ein
Product von Schwingungen gleich dem Schalle wäre, wurde von Huygens und Euler zuerst vertheidigt. Durch diese Theorie lassen sich die Erscheinungen der Lichtbrechung weit besser erklären , und braucht man nicht zu so ungeheuer lichen Ziffern zu greifen. Die Schnelligkeit des Lichtes oder
der Schwingungs-Fortsetzungen sind für unsere räumlichen Anschauungen ohnehin gross genug, um sehr verdächtig zu werden – ein Thema , auf welches wir später noch zurück
kommen werden - doch sind diese für unsere phänomenale Raumanschauung ganz gesetzmässig und relativ sicher gestellt, und zwar auf doppelte Weise , vor allem durch die Mond
finsternisse des Jupiter , welche je nach der grösseren Ent
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fernung von der Erde , später oder früher ein- oder aus treten , welche Zwischenzeit vierzehn Secunden beträgt; und da wir uns um 590,009 Meilen vom Jupiter entfernen , so ergiebt die Rechnung , dass das Licht oder vielmehr die Lichtschwingungen 42,000 Meilen in der Secunde durchlaufen
müssen. Obschon auch so gewichtige Astronomen wie Römer und Cassini die Sache richtig auffassten , so genügte die vorgefasste Meinung eines Descartes , dass das Licht sich
ohne Zeitverlust fortpflanze, um obige Anschauung von den Franzosen verwerfen zu lassen. Erst als Bradley im Wege
der Abweichung des Lichtes die gleichen Ziffern heraus brachte, kam diese Auschauung zur Geltung.*) Durcb nichts aber wird die Phänomenalität der Gesichts
wahrnehmungen klarer nachgewiesen , als durch die sub jective Natur unserer Farbenempfindungen , die lediglich nur durch die Verschiedenheiten der Thätigkeit der Retina
hervorgebracht werden. Goethe hatte die Sache gegenüber der allgemein angenommenen Anschauung Newton's angeregt; Schopenhauer ist aber der eigentliche Begründer der neueren Auffassung. Der Leser mag in dessen kurzer Abhandlung über das Senen und die Farben sich die näheren Beweise
für den subjectiven Ursprung der Farben holen. Wie richtig die Theorie Schopenhauer's ist, geht aus dem Expe rimente mit Herrn von Zimmermann hervor , der farben
blind war , das heisst , dessen Retina nicht die Fähigkeit hatte, ihre Thätigkeit qualitativ zu theilen , und der daher nur Weiss und die verschiedenen Nuancen von Grau kannte, als welches ihm alle andern Farben erschienen .
Nach der
Theorie Schopenhauers müssen einem solchen Auge Roth und Grün ganz gleich erscheinen, und wirklich zog Zimmer . mann anstatt einer rothen Uniform anstandslos die grüne *) Die Tbeorie Parrots , der auch einen Lichtstoff apnahm, ist
beate ein überwundener Standpunkt.
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an , während die Verschiedenheit der andern Farben ihm als eine Verschiedenheit von Grau erschien. In dem Kreise
meiner Bekannten befinden sich Einige, an denen die gleiche Erscheinung beobachtet wurde.
Nachdem es ausser Zweifel gestanden , dsss die opti schen Erscheinungen durch Schwingungen hervorgebracht
werden, entstand die Frage, was denn eigentlich schwinge ? Die Naturwissenschaft ist nicht verlegen eine Antwort zu geben , sie setzt einfach einen Stoff voraus , dem sie alle
Eigenschaften zuspricht, die sie nothwendig hat , um die Erscheinungen zu erklären ; so muss der Aether ein den
ganzen Weltraum erfüllendes und alle Körper durchdrin gendes , vollkommen elastisches Fluidum sein ; er muss im freien Raume eine andere Dichtigkeit haben als in luft
artigen Aüssigen Körpern, in nicht krystallisirten konstant, in krystallisirten aber veränderlich sein. Der Leser sieht, dass die Naturwissenschaft sich das sehr bequem gemacht hat. Es hat noch Niemand die Spuren dieses Aethers
gefunden , aber er wird gleich mit allen nothwendigen Eigen schaften vorausgesetzt. Wir werden später die Schwierig. keiten , die diese Aether-Hypothese macht , berühren ; für jetzt genügt es uns zu wissen , dass es Schwingungen sind , mit denen wir es zu thun haben , ob es nun ein unbe kannter Aether oder etwas Anderes ist , was da schwingt, kann uns gleichgiltig sein .
Das Licht ist kein Stoff, wie man früher glaubte, sondern eine Bewegung , durch welche die obigen Nerven enden afficirt werden , wodurch Empfindungen entstehen, aus welchen der Verstand durch Schlüsse von der Wirkung
auf die Ursache und durch fortwährende Erfahrung Vor stellungen hervorruft, die in ihren ersten Anfängen unbe
wusste Schlüsse sind, endlich aber zu unseren bewussten Vorstellungen werden , aus denen sich das Bild der Welt
Die Phänomenalität unserer Sinneswahrnehmungen.
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zusammensetzt. Schopenhauer hatte vollkommen recht, wenn er sagte : die Welt ist meine Vorstellung.
Dass Licht und Farbe nur subjective Erscheinungen sind, beweisen schon die Blinden, die fehlerhaft Construirten, Erkrankten und Farbenblinden . Ohne Organ keine Vor
stellung , mit verschiedenen Organen verschiedene Vorstel das ist klar, aber selbst bei gleichen Organen und gleichen auf uns einwirkenden Gegenständen entstehen ver schiedene Vorstellungen , wenn das Medium , durch welches die Bewegung durchwirken muss , ein anderes wird. Die Aenderung eines in das Wasser getauchten Stabes ist
lungen
bekannt .
Wenn man in einem Vollbade sitzt, und die innere Handoberfläche vertikal unter dem Wasser hält, so werden
Finger und Handoberfläche kurz und breit, fast viereckig ; gibt man der Hand die horizontale Lage — selbstverständ - 80 werden Finger und Hand schmal und langgestreckt ; hebt man da den Daumen auf , dass er allein senkrecht steht , so wird er zu einem lich immer unter dem Wasser
Stumpf. Wir haben dasselbe Medium ( Luft und Wasser) und , räumlich genommen, doch ein ganz anderes Bild. Aus allen diesen Versuchen geht hervor, dass die wir
kende Ursache Schwingungen sind , die unser Verstand in Bilder verwandelt. Roth soll die grösste Wellenlänge und die geringste Schwingungszahl, Violett die kürzeste Wellen länge und die grösste Schwingungszahl haben , unser Ver stand übersetzt diese Schwingungen in Roth und Violett. Was diese Schwingungen hervorbringt, gehört nicht hierher, eben so wenig, was das Schwingende eigentlich ist ; wir haben nur auf gemeinfassliche Weise uns überzeugt, das unsere
Gesichtsvorstellungen phänomenaler Natur sind, doch ist damit selbstverständlich nicht gesagt , dass die Wirkungen ohne Ursache seien. Wenn wir von der Pracht der Farben
und Lichterscheinungen sprechen, so liegt das Wunderbare
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Die Phänomenalität unserer Sinneswahrnehmungen.
weit mehr in der Construction unserer Augen und Ohren ;
denn das, was sie hervorbringt , sind nur Schwingungen. Licht und Wärme sind eigentlich identisch , weil sie sogenannte Aetherschwingungen sind, welche durch einen
luftleeren Raum auch wirken , hingegen sind die Schall wellen Luftschwingungen , die sich durch einen luftleeren Raum nicht fortpflanzen. Wir sind es , die diese Schwin gungen je nach der Zahl derselben in gleichen Zeiträumen und je nach unseren Organen in Licht und Wärmeempfin dungen umsetzen. Auch ist es eine sichergestellte Thatsache, dass eine theilweise Lähmung der Augenmuskeln eine Aende rung in der Raumanschauung hervorruft ; denn die Gegen stände werden verschoben, was durch die grössere Anstren gung und die erhöhten Bewegungsempfindungen veranlasst wird. Das Auge ist nämlich so empfindlich für die geringste Drehung, dass selbst der sechzigste Theil eines Winkelgrades, also eine Winkelminute empfunden wird. Carl Freiherr du Prel sagt in einem Aufsatze über die „möglichen Plane tenbewohner " :
„ Das dem Auge sichtbare Spektrum der Sonne gibt die Regen bogenfarben : Roth, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo, Violett. Es ist aber nachweisbar, dass der zerlegte Sonnenstrahl noch mehr Strahlen enthält, als welche die Netzhaut reizen . Das Auge ist nur für ein
Intervall der wirklich vorhandenen Strahlen empfänglich. Jenseits des rothen Endes finden sich unsichtbare Strahlen, welche wärmen, jenseits des violetten Endes solche, welche chemisch wirken und nur dann sicht bar werden, wenn man sie etwa auf Uranglas auffängt. Der chemische
Theil des Spektrums ist sogar länger als der sichtbare Theil. Wenn aber schon von den Strahlen, welche nachweisbar sind, nur etwa ein Drittel uns sichtbar wird , so ist die Zahl derjenigen, welche nachzo weisen wir keine Hilfsmittel besitzen , uns ganz unbekannt.
Weil nun die Sichtbarbeit der Strahlen nicht von ihnen selbst, sondern vom Auge abhängig ist, so können wir uns auch recht wohl Wesen vorstellen, welche ganz andere Bestandtheile des Sonnenspek trums sehen, als wir , und da diese Wesen an den Dingen alle jene Eigenthümlichkeiten erkennen würden , welche auf diesen Strahlen beruhen, so ist gar nicht zu bestimmen, welchen Umfang ihr Wissen
Die Phänomenalität unserer Sinneswahrnehmungen .
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über diese Dinge hiedurch gewinnt ; denn auch unser Wissen würde
viel umfangreicher sein, wenn unsere Sinne uns orientiren würden über die ganze Länge des Spektrums ohne jede Lücke. Da die Unterschiede der Schwingungen, in deren Wahrnehmung unsere verschiedenen Sinne sich theilen, nur quantitativer Natur sind, so würde eine blosse Modification unserer Sinne eine Verschie
bung der jedem einzelnen Sinne zugetheilten Intervalle denkbar sein, der Art , dass wir als Wärme empfänden , was uns Tun ist , dass wir hören würden, was wir als Licht und Farbe empfinden, oder umge
kehrt, dass wir sehen, was wir hören, Aber nicht nur Modificationen unserer Sinne, sondern auch ganz andere Sinne sind denkbar.
Wenn wir keinen Sinn besitzen für die
Erscheinungen des Magnetismus, der Elektricität und der chemischen Affinität, so kann doch der Anpassungsprocess anderer Wesen voll kommener sein, so dass sie auch diese Vorgänge wahrnehmen ; oder er kann derart sein, dass ihnen vielleicht der Theil der Wirklichkeit, den wir empfinden, ganz verschlossen ist, dass sie dagegen befähigt sind,
pur die Vorgänge zu erfassen, die wir nicht zu empfinden vermögen . Solche Wesen , welche vielleicht nichts von dem wissen, was unsere Gesammtsinne offenbaren , würden eine durchaus andere Welt vorstellen , die doch nur das Ergänzungsstück zu der unsrigen wäre. So gut als es Bewegungsarten des Aetbers geben mag, von welchen wir nichts
wissen , und die Anzahl derselben vielleicht von sehr grosser Mannig faltigkeit sein kann, so gut ist auch eine Anpassung an dieselben
denkbar, kann es also Wesen geben, welche dieselben wahrnehmen . Unendliche Möglichkeiten von Empfindungen können im Universum gegeben sein , die uns unbegreiflich erscheiden würden , als dem Bliudgebornen das Wesen des Lichts unbegreiflich sein muss, und die den damit begabten Wesen einen Zuwachs an Intelligenz gewähren,
der vielleicht grösser ist, als der Zuwachs , den unsere niederen Sinne durch die Fähigkeiten des Gesichts erhalten ; denn wir dürfen weder
die Menschheit als die höchste Stufe biologischer Entwickelung an seben, noch die Erde als jenen Planeten, auf welchem die günstigsten Bedingungen für den Lebensprocess vorhanden sind , noch haupt die Welt, der wir angepasst sind, als die ganze Welt. Wenn es Kräfte gibt , die auf uns nicht einwirken , so kann es auch Wesen geben, unempfindlich für das , was wir empfinden, welche vielleicht in Medien leben, in welchen irdische Organismen nicht existenzfähig wären und deren Leben sich beschränkt auf Regionen,
wo die uns unbekannten Schwingungen geschehen Hellenbach , Vorurtheile. III.
wodurch freilich 2
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Die Phänomenalität unserer Sinneswahrnehmungen ,
unsere Vorstellung von der Bewohnbarkeit der Welten eine nam
hafte Erweiterung erfahren würde. . ,,Unsere Natur gestattet uns sechs bis zehn Wahrnehmungen in einer Secunde zu erfassen. Dieses uns angeborene subjective Zeit mass, welches die Anzahl der Reactionen unserer Sione innerhalb einer
gegebenen Zeit regelt, bestimmt auch ganz und gar die subjective
Dauer unseres Lebens, welche auf der Menge unserer Empfiodungen beruht. Wie ganz anders würde sich aber die Welt solchen Wesen darstellen, welche, selbst wenn sie im Uebrigen unsere Sinne hätten, ein anderes subjectives Zeitmass in sich trügen, welche einer längeren oder kürzeren Zeit bedürften als wir, um sich eines Sinneseiadrucks
bewusst zu werden, oder bei welchen auch nur die Zeit, welcher ein Eindruck beharrt , cine verschiedene wäre. . Sternschnuppe , welche gegen die Erde fällt, sehen wir leuchtende Masse , was sie ist , sondern als Feuerlinie ,
während ... Eine nicht als weil der
Eindruck, den sie hervorruft, wenn sie beim Eintritt in die Atmo sphäre erglüht, noch anbält, wenn sie bereits das Endstück der von uns gesehenen Feuerbahn erreicht hat ; wir würden also eine ganz andere Welt auch dann sehen , wenn die Zeit , während welcher unsere Sinneseindrücke beharren , verlängert oder verkürzt würde.
. . . So würde aber auch, wie Bär bemerkt (Reden I. S. 259 ), die Sonne solchen Wesen erscheinen , deren subjectives Zeitmass statt / bis 1/10 Secunde , wie bei uns , etwa zwei Tage währen. Diese würden nicht ein leuchtendes Gestirn am Himmel sehen, sondern
einen leuchtenden Bogen, der sich nach den Jahreszeiten hebt und senkt und auch Nachts nicht verschwinden würde , weil der Ein druck des hellen Lichtes viel länger andauert als der Eindruck der
Dunkelheit. Höchstens würden diese Wesen eine regelmässig wieder kehrende momentane Abschwächung dieses Bogenlichtes bemerken , eine Art continuirlichen Wetterleuchtens mit zuckendem Lichte.
Würden nun diese Wesen zur Schule der Materialisten gehören, auf dem Standpunkte des naiven Realismus stehen und demgemäss
an die Objectivität dieses Feuerbogens glauben, so würden sie in der Erklärung dieser Erscheinung schliesslich auf unlösliche Antinomien stossen , und nur wenn sie diesen Standpunkt aufgeben , könnte es ihnen bei entsprechendem Scharfsinn gelingen, den trügerischen Schein zu erkennen, der sie umfångt, wie Kopernikus die Bewegung der Sonne als trügerischen Schein erkannte, weil unter der Voraus setzung derselben immer neue Verwickelungen dem menschlichen Denken sich boten.
Würde dagegen das Zeitmass verkürzt werden, das wir brauchen,
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um uns eines Eindrucks zu bewusst werden, so würde z B. ein Gehor organ , wie wir es besitzen, seinen Träger ganz anders orientiren : was
wir tiefe Töne nennen, wäre ihm unhörbar, unsere hohen Töne wären tiefe für ihn, ja bei sehr starker Verkürzung des Zeitmasses würde er hohe Tõne hören, wenn wir von einer Wärmeempfindung reden, die höchsten Tône , wenn wir behaupten , einen farbigen Gegenstand zu sehen.“ Es kann die Phänomenalität unserer Sinneswahrneh
mungen nicht klarer dargelegt werden ; und können wir uns in Bezug auf die anderen Sinne ganz kurz fassen . Der Geruch und der Geschmack . Diese beiden Sinne unterscheiden sich von den früheren
sehr wesentlich ; nicht etwa durch die Art der Construction , indem wir es immer mit Zellen und Nervenenden zu thun
haben , wohl aber dadurch , dass sie für die Einwirkung chemischer Reize eingerichtet sind. Wir wissen, dass Krank heiten der Epithelzellen auf der Zunge den Geschmack ver ändern , selbst ganz vernichten , und dass ein gewöhnlicher Schnupfen genügt, um unsere Geruchsvorstellungen zu modi ficiren. Die chemischen Einwirkungen sind immer dieselben ,
aber zum Riechen und Schmecken gehören Organe, und
unsere Geruchs- und Geschmacksvorstellungen sind also ebenfalls phänomenaler Natur. Man kann irgend etwas auf chemischem Wege zer
stören , entzünden , zersetzen, um aber Empfindungen und Vorstellungen dadurch hervorzurufen, bedarf man geeigneter Organe; je nach dem Zusatze derselben werden auch die Vorstellungen sein ; es sind daher alle anderen Geruchs- und Geschmacksempfindungen rein phänomenaler Natur. Der Tastsinn.
Der Tastsinn ist in zwei verschiedene Arten von Em
pfindungen zu zerlegen ,
ganz wie beim Gesichtssinne ;
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Bewegungs-Empfindungen, und Druck- und Wärme-Empfin dungen. Wenn wir die Hand ausstrecken, oder viele Schritte
machen müssen , so sind das Bewegungs - Empfindungen, welche uns zu unseren Raumvorstellungen verhelfen ; etwas Anderes ist es , wenn wir sagen , ein Körper sei hart oder weich , kalt oder warm .
Der Widerstand und die Ausdehnung durch Wärme beeinflussen alle Körper, zu Empfindungen und Vorstellungen werden sie aber nur für Organismen, wenigstens für Thiere
und Menschen. Die Abhängigkeit dieser Vorstellungen von der organischen Beschaffenheit ist klar.
Für Druck- und Wärme-Empfindungen haben wir keine eigentlichen speciellen Organe, und sind alle Körper der Welt für den Widerstand und die Wärme empfänglich; sie erleiden Veränderungen , bei sehr geringem Wechsel Empfindungen , falls sie dazu befähigt sind. Nichts desto weniger bat ein Versuch E. H. Weber's nachgewiesen, wie selbst diese phänomenaler Natur sind. Wenn man einen Zirkel nimmt, diesen öffnet, so dass die Spitzen einen Milli meter auseinander stehen , so ist die Zungenspitze der ein zige Ort, wo zwei Spitzen empfunden werden ; die Finger spitzen empfinden zwei Millimeter Entfernung, die Lippen fünf, die Wange 11 , der Handrücken 31 , der Fussrücken 54 und die Mitte des Rückens oder Oberarms sogar 98.
Also selbst unsere Tastempfindungen , so localer Natur sie auch sind , könnten unter Voraussetzung einer anderen Organisation ganz andere sein. Aus dieser Betrachtung unserer Sinneswerkzeuge geht
unwiderleglich hervor , dass die ganze Welt , wie sie in unserem Kopfe steht, und uns durch unsere Sinne vermittelt wurde , rein phänomenaler Natur ist , während ihr der gemeine Verstand eine objective , seiner Empfindung ent sprechende Realität gibt. Es ist das ein sehr begreifliches Vorurtheil, weil der Mensch im gewöhnlichen Leben nur
Die Phänomenalität unserer Sinne swahrnehmungen .
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mit dem Phänomenalen zu rechnen hat , was uns später
noch einleuchtender werden wird. Die ganze Naturwissen schaft beruht auf der gesetzmässigen Erklärung des Phäno menalen, aber es soll Jeder (und der Naturforscher müsste selbst) wissen , dass er es nur mit dem Phänomenalen zu thun habe, und dass der Philosoph ganz berechtigt ist, auf die Unterlage der phänomenalen Welt zu fahnden und sie
der Speculation zu unterziehen , wenn er auch die Ueber zeugung hat , dass er auf die letzten Realitäten nicht kommen wird.
Drittes Capitel. Phänomenalität der Materie.
Die Fernwirkung der Atome. – Die Aether-Hypothese. – Die letzten Realitäten.
Die Phänomenalität der Materie wird von allen tieferen Denkern anerkannt.
Die meisten Menschen und selbst ein grosser Theil
der Naturforscher pflegen zwischen Stoff und Materie keinen Unterschied zu machen, Stoff ist ein schon bestimmter Zu
stand der Materie , es kann darum mehrere Stoffe geben ; doch das, was diesen Stoffen zu Grunde liegt, ist im Sinne der Materialisten und des gewöhnlichen Sprachgebrauches die Materie , diese ist aber ein von den verschiedenen Eigenschaften der Stoffe abstrahirender , mehr allgemeiner Begriff, welcher alle Stoffe mit allen denkbaren Eigenschaften in sich schliesst.
Nachdem wir aber unsere Kenntniss des Stoffes und
also auch der Materie nur den Einwirkungen auf unsere Sinne verdanken , so ist die Materie eigentlich dasjenige, was auf uns einwirkt ; wir suchen nach der Ursache der
Einwirkung und glauben diese in einem mit Kräften begabten Stoffe zu finden, weshalb Schopenhauer die Materie als Cau salität auffasste. In Wirklichkeit sind es aber nur Kräfte ,
die auf uns einwirken, wie das schon Newton, Kant, Faraday,
Phänomer alität der Materie.
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Zöllner und Andere, man kann sagen , alle tieferen Denker, immer behaupteten ; der Begriff der Materie entsteht in uns durch unsere Sinnes-Vorstellungen und ist jene also – phänomenal. Einige Betrachtungen mögen dies verdeut lichen .
Das letzte, schon nicht mehr anschauliche Element
ist das Atom , und so sehr die Ansichten auch über die innere Natur des Atoms auseinander gehen mögen, so wird es doch allgemein von den Materialisten als ein wirklich räumlich Ausgedehntes angenommen, von den Vorsichtigeren aber nur als Hülfsbegriff oder Rechenpfennig. Für unsere Untersuchung ist es auch gleichgiltig, ob das Atom mit der Monade des Leibniz oder mit dem Realen Herbarts zu
sammenfällt, oder ob es eine Emanation des ,, Willens " oder
des „ Unbewussten “ ist, oder von einer Gottheit geschaffen wurde u. 8. W.
Das Gesetz der Multipeln in den chemischen Verbin dungen spricht allerdings für eine Art Unwandelbarkeit der sogenannten einfachen Stoffe, doch sind durch die
Spectralanalyse diesbezüglich bereits Zweifel entstanden, auch ist der Begriff der Untheilbarkeit , dem der Name Atom entlehnt ist , damit nicht sichergestellt , weil die Stablität der Stoffe doch nur immer eine relative sein könnte.
Wir
haben gar keine Garantien, ob die Metalle nicht Zusammen setzungen seien ; die Untheilbarkeit allein ist auch kein specifisches Merkmal eines Atoms , denn dieses könnte so
gross sein wie ein Ochs, sagt Schopenhauer , falls dessen Cohäsion jedem Eindrucke widerstehen würde.
Der gemeine Verstand sieht in einem Goldstücke schon einen festen und undurchdringlichen Klumpen von materiellen Atomen, von dem er nur weiss, dass er in Stücke zerschlagen oder zu Staub gefeilt, dass er durch Wärme flüssig , vielleicht gasförmig werden könne; in den ersten beiden Aggregationsformen hält aber der gemeine Verstand
Phänomenalität der Materie.
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den Klumpen Gold oder eine Stahlschiene für etwas Conti nuirliches , Zusammenhängendes. Die Naturwissenschaft tritt dieser Anschauung schon entgegen . Sie behauptet, dass alle Stoffe unter allen Um
ständen durch leere Räume getrennt und diese durch Aether atome gefüllt seien , sie bedarf dieser Annahme , um die
Wärme- und Lichterscheinungen , und so vieles andere, insbesonder die actio in distans erklären zu können.
Nicht
genug dessen treten Philosophen wieder gegen diese Be hauptung der Naturwissenschaft auf, indem sie sagen : wenn die Atome unter einander keine Verbindung haben, wie könnte man durch einen Strick ein Schiff gegen das Wasser ziehen ? Wenn die Atome räumlich von einander getrennt
wären , so muss doch ein anderes Band immaterieller Natur da sein , was den Zusammenhang und die Tragfähigkeit erklärt.
Gegen diese Ansicht wird wieder eingewendet , dass, wenn ein solches Band bestünde , es unbegreiflich wäre, wie das Schiff frei werde, wenn ich das Seil durchschneide ?
Wer die Schriften eines Schopenhauer, Ulrici , Dross bach und der Philosophen überhaupt kennt , weiss, dass die Beantwortung der Frage , was Atom oder Materie sei, nicht
80 einfach ist , als sich Mancher und selbst ein Chemiker vorstellt. Das frühere Capitel hätte uns eigentlich schon in Voraus vermuthen lassen können , dass , wenn alle unsere Sinneswabrnehmungen phänomenaler Natur sind, dem zu Folge auch das Gesammtresultat derselben phänomenaler
Natur sein müsse. Zum praktischen Gebrauche genügt die Annahme, dass die Materie, wie wir sie im Kopfe als Vor
stellung herumtragen und eigentlich erst construiren , volle Realität habe, vollkommen, doch dürfen wir nie den Ursprung des Begriffes der Materie ausser Acht lassen , wenn wir uns vom praktischen Gebiete entfernen und über die Welt nachden ken . Die phänomenale Gesetzmässigkeit auf phänomenalem
Phänomenalität der Materie.
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Gebiete gibt nur Bürgschaft, dass in der Natur Alles gesetz mässig verlaufe, aber keinen Aufschluss über das angebliche Wesen der Dinge .
Durch die Analyse des Stoffes, sei es mit der Retorte oder mit dem Verstande, können wir über das Atom , das unendlich Kleine und darum auch über die Materie keinen
genügenden Aufschluss bekommen ; versuchen wir es mit dem unendlich Grossen, vielleicht, dass wir da auf etwas Greif bares stossen.
Die Gesetzmässigkeit der Bewegungen am Firmamente haben der Lehre von der Anziehungskraft der Massen im umgekehrten Verhältnisse der Quadrate der Entfernungen eine Weihe gegeben , dass kaum ein Zweifel in die Wahr
heit und Richtigkeit dieses Gesetzes erhoben werden kann. Steht aber dieses Gesetz , SO muss eine Wirkung der Sonnenbestandtheile auf die Erdmasse mit Allem , was in
ihr ist und lebt , und vice versa angenommen werden , wir haben es dann jedenfalls mit einer Fernwirkung zu thun. Wenn wir aber eine Wirkung in die Ferne ausüben, so kann diese eine directe oder indirecte sein ; wir können
ein Glockensignal durch Schnur, Draht oder auf electrischem Wege geben, etwas muss aber da sein , was in die Entfer
nung wirkt. Ob wir nun die Einwirkung der anziehenden Kraft mittelbar durch einen Aether oder unmittelbar durch
die Atome selbst annehmen , bleibt für unseren Fall vor läufig gleich , da wir die nothwendigen Voraussetzungen statt an Massen-Atomen an Aether -Atomen machen müssten ;
wir können schon aus dem Grunde der Vereinfachung vom Aether absehen , der nur aus alter Gewohnheit als Hypo these in der Naturwissenschaft, und da nicht allgemein
figurirt. Ist die Anzieli ungskraft der Atome eine Wahrheit, so müssen von den durch Zahlen gar nicht mehr ausdrück
Phänomenalität der Materie.
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baren Mengen von Massenatomen (Kraftcentren ) der Sonne unsichtbare Fäden
oder Kraftlinien nach allen Raum
dimensionen mit constanter Wirksamkeit ausgehen ; würden die Atome nur bis zu einer gewissen Distanz wirken ,
so könnte die ganze Masse der Atome auch nur bis zu dieser Distanz reichen ; reichen hingegen die Massen atome der Sonne bis zu uns mit ihrer Wirkung , so muss nothwendig jedes Atom zu uns reichen. Ob die Entfernung
von 20 Millionen Meilen nur ein relativer Massstab, ist eine andere Frage , die nicht hierher gehört. Die Atome der Sonne reichen einmal her , und es ist gleichgiltig, was das jenige ist, was wir Entfernung nennen . Wir entlehnen alle unsere Massstäbe vom Organismus,
wir sagen Fuss , Klafter, Elle und so entsteht der Begriff Meile. Wir müssten daher statt 20 Millionen Meilen sagen 400 Monddistanzen oder so und so viele Erddurchmesser ;
weil aber die Sonnenentfernung den Massstab für die Astro nomie gibt, so wollen wir bei dieser Ziffer bleiben und von ihrer Relativität, selbst möglichen Idealität, absehen. Steht der Satz , dass die Entfernung der Sonne so viel beträgt, steht die Behauptung , dass die Sonne die Erde im Ver
hältnisse der Masse anzieht – und das bestätigen die gesetzmässigen Vorgänge am Firmamente in Bezug auf alle Störungen
so ist es eine nicht abzuweisende
Folgerung , das alle Atome der Sonne bis an uns hera nreichen und wirken.
Wenn eine Steinkugel um mich kreisen und nicht
wegfliegen soll, so muss ich einen Strick haben, an dem ich sie herumführe, wenn aber die Kraft der Anziehung bei den Himmelskörpern den Massen entspricht, so muss die ganze Masse mit ihren unsichtbaren Fäden wirken evident!
das ist
Newton , der Gründer der Attractionsgesetze, nimmt eine Wirkung sowohl der kleinsten Theile ohne unmittel
Phänomenalität der Materie.
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baren Contact als der grössten kosmischen Massen durch
einen absolut leeren Raum an und sagt in einem Briefe an Bentley , dass es unbegreiflich wäre, wie ein unbeseelter, roher Stoff ohne Vermittelung von etwas Immateriellem auf
einen andern Körper ohne wechselseitige Berührung wirken und ihn afficiren könne.“
Dass sich die kleinsten Stoff
theilchen nicht berühren , sondern Zwischenräume habe' , geht aus allen Erscheinungen des Druckes und der Kälte, der Hitze und Ausdehnung hervor , weil die Ersteren die Stoffe sonst nicht verkleinern , die Letzteren sie nicht aus. dehnen könnten , dass sie aber auf einander wirken im
Grossen und Kleinen , ist ebenfalls gewiss und wir können uns diese Einwirkungen im dreidimensionalen Raume wenig stens bildlich nicht anders vorstellen, als durch unsichtbare ideale Fäden oder Strahlen ; wir müssen annehmen , wie
Faraday , „ dass jedes Atom sich durch das ganze Sonnen system ausdehne, aber stets sein eigenes Kraftcentrum bewahre“ ; auch Kant hat der Materie so ein geistiges Band zuerkannt. Wollen wir diese Annahme bei den anderen Arten
von Bewegungen prüfen , denn es ist von Wichtigkeit, ob sich die Bewegungen widerspruchsfrei mit ihr erklären lassen oder doch neben ihr bestehen können.
Wir brauchen zur Erklärung der Licht- und Wärme strahlen Schwingungen , die unter Umständen gebogen (abgelenkt) und reflectirt werden können ; existiren solche Fäden, Strahlen, Kraftlinien oder wie wir diese Verbindung
immer nennen wollen , so hat das weiter keine Schwie rigkeit.
Die allgemein bekannte und normale Wirkung des
Menschen in die Ferne ist die Stimme : wir sind durch die
Construction des Kehlkopfes im Stande, Schwingungen her
vorzurufen, und je kräftiger die Stimme oder die künstliche Concentration durch Instrumente und Anhäufung der Töne,
desto grösser ist die Fernwirkung ; dasselbe gilt vom Lichte,
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Phänomenalität der Materie.
es kann uns daher nicht Wunder nehmen , wenn ein so
mächtiger brennender Körper , wie die Sonne , die Schwin gungen bisher zu verpflanzen vermag. Haben wir doch durch die verschiedene Wirkung eines Kerzenlichtes, eines brennenden Hauses und eines Vulkans den besten Massstab
für die zunehmende Fernwirkung bei grösseren Schwin gungsherden. Ton , Wärme und Licht sind Schwingungs- oder Be
wegungsresultate; wenn wir uns nun eine gespannte Saite oder einen hängenden Strick denken , welchem wir einen Stoss oder Riss geben , so entstehen Schwingungen , Wellen, also gerade das, was wir brauchen, um uns die Erscheinung der Wärme, des Tones und des Lichtes erklären zu können ;
für die Erscheinungen der Electricität und des Magnetismus liegt die Brauchbarkeit dieser Leistungsfäden auf der Hand ; wir kommen also durch die für die Attraction nothwendigen Annahmen, mit den Resultaten der Naturwissenschaft nicht
nur nicht in Widerspruch, sondern sie sind für unser Cau salitätsbedürfniss geradezu nothwendig. Wenn die Massen der Planeten der entscheidende Factor in der Anziehung
sind, so können wir uns durch unseren Verstand kein anderes Bild von der Fernwirkung der Atome machen , als das sie Strahlen aussendende Kraftcentren sind – eine Annabme,
die übrigens alle Erscheinungen unterstützen * ). Das folgende Capitel , welches die Pbänomenalität des Raumbegriffes behandelt, wird erweisen, dass die ganze Gesetz *) Die Substitution des Weber'schen Gesetzes für die Er
scheinungen der Gravitation machen diesbezüglich keinen Unterschied ;
es handelt sich bier um die Gesetzmässigkeit diesor Bewegungen, die auf Grundlage beider Annahmen sichergestellt werden kann. Uebrigens ist die Gravitations- Theorie Newton's dann als Folge electrischer Fern wirkung nur als ein untergeordneter Specialfall des allgemeineren
Weber'schen Gesetzes zu betrachten (vergleiche Zöllners wissenschaft liche Abhandlungen I. Band, Seite 417. 11. Band 1. Theil Seite 1.)
Phänomenalität der Materie.
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mässigkeit doch nur eine relative ist. Im vorigen Capitel waren wir in voller Uebereinstimmung mit Schopenhauer, im folgenden, welches den Raum zum Gegenstande hat, werden wir uns auf Kantischer Grundlage befinden ; in diesem Capitel werden wir einem Andern , der individuali stischen Richtung angehörigen Philosophen das Wort ein räumen, welchen meine Leser übrigens schon kennen. Maximilian Drossbach hat eine sehr interessante, 120 Seiten starke Broschüre unter dem Titel „Ueber Kraft
und Bewegung“ (im Hinblick auf Licht- und Wärmetheorie) veröffentlicht, auf welche ich den Leser verweise. Ich er laube mir nur folgende Stelle herauszunehmen : „ Kräfte sind es, welche die Sonne und die Erde, sowie die Mole cüle in ihrer gegenseitigen Lage festhalten und welche daber auch Widerstand leisten, wenn die Molecule aus ihrer Lage gebracht werden . Da dieselben in gerader Richtung von dem einen zu dem andern
Körper wirksam sind, so kann man sie nach dem Vorgang Faraday's „ Kraftlinien“ nennen, nicht aus discreten Theilen zusammengesetzt, wie ein Seil oder ein Faden , sondern continuirliche oder stetige Reihen
von Kraftpunkten. Das diese Kraftpunkte es sind, welche Widerstand leisten, ersieht man auch, wenn man bedenkt, dass bei einem Stoss nicht die Molecule, resp. die Mittelpunkte der Kraftsphären in Berührung mit einander kommen, sondern nur die Kraftsphären ; die Kraftpunkte der Sphären stossen auf einander , nicht die Mittelpunkte, und wenn
die Molecule in Folge des Stosses der Kraftsphären ihre Orte ver ändern, so geschieht dies nur, weil die Punkte der Kraftsphären ihre Orte verändert haben ; die Bewegung dieser hat erst die Bewegung der Mittelpunkte (oder der sogenannten Molecule) zur Folge. Hätten die Punkte der die Körper verbindenden Kraftlinien keine Widerstands kraft, so könnten sie nicht in Bewegung gebracht werden, die ganze Linie bliebe in Ruhe, es bewegte sich dann nur das gestossene Mole cül, resp. der Mittelpunkt und das nächste Molecül erfübre keine Ein wirkung, bliebe also auch in Ruhe. Wird cin Molecül in Bewegung
gesetzt, so kann das andere, da es immer in einer gewissen Entfernung von ihm sich befindet, nur dann in Bewegung kommen, wenn es durch Kraftlinien, ähnlich wie durch Fäden mit ihm verbunden ist ; ohne
eine solche Verbindung könnte die Bewegung des ersteren keinen Einfluss auf das zweite haben und soll das zweite durch die Kraftlinien
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Phänomenalität der Materie.
des ersten bewegt werden, so müssen diese selbst in Bewegung sein . Wird aber das eine Molecül durch Stösse in sehr rasche Schwingungen versetzt, so können die Punkte der Kraftlinien wegen des Widerstandes, den sie leisten , nicht augenblicklich folgen, ähnlich wie die Theile des Seiles, welches an einem Ende rasch hin und her bewegt wird ; daher pflanzen sich die Schwingungen in Wellenform in den Kraftlinien wie im Seile fort, und dies muss der Fall sein, mag die Entfernung gross
oder klein sein, also sowohl bei Molecular- als bei Weltkörperent fernung und wenn es einen Aether gäbe, so müsste es auch bei Aether atomentfernung der Fall sein .
Man kann nicht sagen, dass Fortpflanzung der Schwingungen stattfinde zwischen Dingen, die nicht mit einander in Verbindung stehen. Das Seil schwingt wohl, wenn auch kein Gewicht angebängt ist, aber das kommt daher, weil das Seil selbst schon ein Gewicht hat. Sollen Schwingungen in dem Raume zwischen dem Aufhängungspunkte und dem Gewichte am untern Ende des Seiles stattfinden , so müssen beide
mit einander verbunden sein . Beim Seil sind Molecule vorhanden, welche die Verbindung vermitteln ; nimmt man diese weg, so können keine Schwingungen mehr stattfinden, aber das Gewicht wird auch nicht mehr schwebend gehalten. Hiernach scheint es, dass zum Zusam menhalten und zur Fortpflanzung der Schwingungen Molecülc in dem Zwischenraum unumgänglich nothwendig sind. Dennoch sind die Mole cüle nicht die Ursache, dass das Gewicht schwebend gehalten wird, sondern die Kräfte in den Zwischenräumen derselben. Wäre ein Seil
zwischen Sonne und Erde, so hinge die Erde doch nicht an den Mole
cülen, sondern an den Kräften, die in den Zwischenräumen derselben thätig sind , und denken wir uns vollends das Seil so kurz, dass es
nur aus zwei Moleculen bestünde , so hinge die Last an der Kraft in dem Zwischenraum dieser beiden Molecule. Ein solcher Raum befindet sich zwischen Sonne und Erde, in ihm sind keine Molecule vorhanden , und die Erde wird von den in diesem Raume befindlichen Kräften ge halten . Es findet zwischen Sonne und Erde sowohl ein Zusammen halten als auch eine Fortpflanzung von Schwingungen statt, ohne dass Molecüle dazwischen sind – das Zusammenhalten und die Schwingun gen zwischen ihnen sind nicht bedingt durch das Vorhandensein von Moleculen. Wie beim Seil Fortpflanzung der Schwingungen stattfindet,
weil die Kraftpunkte in den Zwischenräumen der Molecule Widerstand leisten, so findet zwischen Sonne und Erde Fortpflanzung der
Schwingungen statt, weil die Kraftpunkte in dem Zwischenraum dieser Weltkörper Widerstand leisten. Die Kräfte, welche den Zusammenhang bewirken, widerstreben auch einer Aenderung dieses Zusammenhangs,
Phänomenalität der Materie.
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daher widerstrebt die Kraft, welche die Erde mit der Sonne verbindet, der plötzlichen Verrückung ihrer Richtung durch die in Schwingung befindlichen Molecule der Sonne, und die Folge dieses Widerstrebens ist die wellenförmige Fortpflanzung der Schwingungen von Punkt zu Punkt dieser Kraft.
Die Drossbach'sche Aufstellung führt zu nichts weniger als zur Beseitigung des von der Naturwissenschaft in Anspruch genommenen Aethers. So wie man in der ersten Zeit zur
Erklärung des Lichtes einen Lichtstoff, und zur Erklärung der Wärme einen Wärmestoff erfand , so wurde nach Ver fall der Emissionstheorie der Aether erfunden , um den
Träger für die Schwingungen zu haben. Es ist einmal die vorgefasste Meinung der Menschen, dass jede Kraftäuserung einen Träger haben müsse , die Materie , während es doch
umgekehrt die Kräfte sind , deren Wirkungen wir in die phänomenale Materie verwandeln. Man machte es sich mit dem Aether ausserordentlich
leicht ; man setzte seine Existenz nicht nur einfach voraus, sondern legte ihm genau die Eigenschaften bei, welche man brauchte.
Er musste ein vollkommen elastisches Fluidum .
sein , das sich nicht nur im ganzen Weltenraum , sondern anch zwischen allen Elementen durch den Durchmesser der
Erde durch verbreitet. Er musste im freien Raume gleich vertheilt und ausgebreitet und gleich dicht sein ; die Dichtig keit musste zunehmen in Luft, Wasser und festen Körpern ;
nicht genug dessen , sie musste in nicht krystallisirbaren Körpern constant, in krystallisirbaren festen aber veränder lich sein ! Auf diese Weise lässt sich wohl Alles erklären ;
man setzt einen unsichtbaren und unfindbaren Körper oder Stoff voraus , und gibt ihm alle möglichen Eigenschaften,
die man braucht, und diese dazu noch so veränderlich, als man sie braucht.
Die Emissionstheorie fiel durch die Schwierigkeiten der Brechung der Lichtstrahlen ; die Aether-Hypothese bat aber wahrlich keine geringeren. Es gehört ein starker Glaube
Phänomenalität der Materie.
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dazu , dass der Aether durch die 1720 Meilen dicke Erde
so mir nichts dir nichts durchdringen soll, und dass die Bewegung der Erde so ganz ohne Einfluss bliebe. Schleppt ein Fernrohr die Aethertheilchen mit , wenn es gerade gegen die Richtung der vibrirenden Aethertheilchen gerichtet wäre ?
Eine grosse Schwierigkeit bieten auch die Transversal schwingungen ; sollen die Aethertheilchen nach allen Richtungen zusammenhängen ? Dass der Widerstand eines Aethers die Bewegungen
der Himmelskörper merkbar beeinflusst hätte, ist in Bezug auf die Planeten noch nicht beobachtet worden, und könnte auch noch andere Ursachen haben . Wir wissen gar nicht, welchen Einfluss die Kreuzung aller Vibrationen in Bezug auf Licht und Bewegung üben kann ; wir wissen nicht, welche Massen in die Sonne täglich stürzen , und ihre An
ziehungskraft verinehren ; wir wissen nicht, welchen Verlust ein Himmelskörper erleidet – lauter Dinge, die auf Beschleuni gung und Aenderung der Bewegung Einfluss haben können. Was aber die Beschleunigung der Kometen anbelangt, die
beobachtet wurde, so ist der Verlust ihrer flüchtigen Masse allein schon hinreichend , das zu erklären ; übrigens hat Zöllner
in seinem Buche der Kometen eine Theorie ent
wickelt, die entscheidend hindert, aus der Beschleunigung der Kometen in ihrer Umlaufszeit zu Gunsten des Aethers
Kapital zu schlagen. Doch selbst innerhalb der Kreise, die sich mit Naturwissenschaft befassen , namentlich mit Mole
cular-Physik , regen sich die Zweifel in Bezug auf den Aether. C. W. Wittwer beginnt seine Schrift über die Molekular -Gesetze mit der Bemerkung :
„ Unter diejenigen
physikalischen Disciplinen , welche gegenwärtig nur sehr wenig cultivirt werden , Aether; ist es doch fast über diesen Gegenstand werden , ja dass es an
gehört sicherlich die Lebre voin so weit gekommen , dass Arbeiten mit mitleidigem Lächeln begrüsst Schriften nicht fehlt, welche die
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Phänomepalitāt der Materie.
Existenz des Aethers ganz und gar läugnen ! und eigentlich ist es nur noch die Optik , welche ihn festhält, ohne sie
wäre er längst über Bord geworfen worden.“ Die Herren Naturforscher werden sich schon bequemen
müssen , die Vibrationen für immaterielle Bewegungen zu nebmen , deren grössere Massenhaftigkeit erst bis zur Vor stellung auf uns zu wirken vermag, aus welcher Vorstellung
wir in unserem Kopfe die Materie bilden . Schon Rum ford hat die Materie für eine immaterielle Bewegung ge halten , wofür auch die Thatsache spricht, dass wir durch Reibung eine unerschöpfliche Quelle von Wärme hervorzu bringen im Stande sind , wie das aus den Bohrversuchen Rumford's, dem Vorgänger Robert Mayer's, klar hervorgeht. Eine sehr kräftige Stütze gewinnt obige Anschauung
durch die neuesten Experimente von William Crookes , welche er als Vortrag unter dem Titel : „ Strahlende Materie
oder der vierte Aggregatzustand“ veröffentlicht hat. Anknüpfend an Faraday weist Crookes nach , dass
mittlere freie Weglänge zwischen Molekeln (also der Zu stand der Ausdehnung , wenn diese sebr vergrössert wird
durch Evacuation eines geschlossenen mit Gas gefüllten Raumes) die Materie strahlend macht ; diesen Zustand bezeichnet er als einen (weil über die Gasform hinausgehen den) vierten Aggregatzustand , in welchem die Materie folgende Fähigkeiten zeigt.
Strahlende Materie übt eine kräftige phosphorogene Wirkung aus, wo sie auftrifft.
Strahlende Materie bewegt sich in geraden Linien. Strahlende Materie von einem festen Körper aufgefangen , wirft einen Schatten .
Strahlende Materie übt eine kräftige, mechanische Wirkung aus, wo sie auftrifft.
Strahlende Materie wird von einem Magnete abgelenkt . Hellenbach , Vorurtheile . III.
3
34
Phänomenalität der Materie .
Strahlende Materie erzeugt Wäme , wenn ihre Bewegung gehemmt wird . Strahlende Materie hat chemische Wirksamkeit .
Die physikalischen Eigenschaften , sagt Crookes , scheinen aller Materie von geringer Dichtigkeit gemein zu sein. Gleichviel ob das ursprüngliche Gas , mit dem man experimentirt, Wasserstoff, Kohlenstoff oder atmosphärische Luft ist, die Erscheinungen der Phosphorescenz, die Schat ten, die magnetische Ablenkung etc. sind ganz die gleichen , nur beginnen sie bei verschiedenem Drucke. Crookes schliesst seinen höchst interessanten Vor trag mit folgenden Worten : „ Beim Studium dieses vierten Zustandes der Materie scheinen wir endlich unter unseren Händen und im Bereich unserer Prüfung die kleinen untheilbaren Theilchen zu haben , von denen man mit gutem Grunde voraussetzt, dass sie die physikalische Grundlage des
Weltalls bilden. Wir haben gesehen , dass in einigen ihrer Eigen schaften die strahlende Materie ebenso materiell ist, als dieser Tisch, während sie in anderen Eigenschaften fast den Charakter strahlender Energie annimmt. Wir haben thatsächlich das Grenzgebiet berührt, wo Materie und Kraft in einander überzugehen scheinen, das Schatten . reich zwischen dem Bekannten und Unbekannten, welches für mich immer besondere Reize gehabt hat. Ich denke, dass die grössten wissenschaftlichen Probleme der Zukunft in diesen Grenzlande ihre
Lösung finden werden und selbst noch darüber hinaus ; so scheint mir's, liegen letzte Realitäten . "
Aus diesen Experimenten ist ersichtlich , dass so viele Erscheinungen in Bezug auf Licht, Wärme, Magnetismus, mechanische und chemische Wirksamkeit lediglich von dem Aggregatzustande der Materie, den Abständen der Molekeln
und der Verschiedenheit der Molekularbewegungen abhän gen , welche letztere durch Oscillation der Molekel selbst oder der sie bildenden Atome unter sich hervorgebracht werden können Auch die Schwingungen könnten verschieden artig sein, pendelartig schwankend, drehend u . s. w., wobei es keine überflüssigere Hypothese gibt als den Aether. Es
Phänomenalität der Materie.
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ist hier weder der Ort , noch bin ich der geeignete Fach mann, um die Consequenzen zu ziehen, welche sich aus der
Anwendung dieser Erfahrungen auf die Wirkungen der Sonnenstrahlen, das Vacuum der siderischen Zwischen räume u . 6. w . ergeben ; doch es dämmert da ein merk würdiges Licht herauf und freut es mich herzlich , dass
es von einem Crookes angezü ndet wird.
Es ist ein
merkwürdiger Zufall, dass es gerade einem Wilhelm Weber , Crookes und Zöllner zufällt und gelingt, so schöne physikalische Errungenschaften zu liefern ! Diejenigen Leser, welche meinen zweiten Band der Vorurtheile gelesen haben, werden das begreifen ; denn das sind die Männer , die von den wissenschaftlichen Vorurtheilen nicht angefressen sind und selbstständig denken.
Wir werden uns übrigens der Ausdrücke Stoff und Materie bedienen ; die auf phänomenalem Gebiete auch ganz brauchbar sind ; doch darf der Leser nie vergessen , dass diese Bezeichnungen sofort untauglich werden , wenn wir von der Phänomenalität absehen .
Aus dem Umstande, dass für die Erscheinungen der Anziehung, der Wärme und des Lichtes die Sonne mit dem Vollgewichte ihrer Masse eintritt, kann man mit Sicher heit annehmen , dass das Anziehungs- und Schwingungs vermögen eine allgemeine Eigenschaft der Materie oder der
Stoffe sei (wie dies durch die oben erwähnten Experimente Crookes bestätigt wird), während die Wirkung der einzelnen Stoffe specielle Eigenschaften zeigen ; wer weiss , welche Wirkungen wir auf der Erde empfinden würden , wenn die Sonnenmasse aus einem einzigen Stoffe bestünde , etwa
aus Quecksilber ? Denn die Allgegenwart der Wirkung jedes Atoms im Raume , wenn auch in einer , dem umgekehrten Verhältniss der Entfernung entsprechenden Wirkungsfähig . keit, ist nicht abzuweisen, so schwer wir uns auch das vor zustellen vermögen. Es ist nicht unwahrscheinlich , dass 3*
36
Phänomenalität der Materie.
die unläugbare Wirkung so geringer Mengen in der Homöo pathie und selbst einiger sogenannter sympathetischer Mittel auf dieser Allgegenwart beruhe; auch so manche Erscheinungen , die im zweiten Bande der Vorurtheile erwähnt wurden, finden dadurch eine physikalische Lösung. Wir müssen von der Ansicht ausgehen , dass Alles in's Unendliche wirke , wenn auch geschwächt durch die Entfernung ; es kommt also nur auf die Masse der ein wirkenden Kraftcentren auf der einen Seite, und den Grad
der Empfänglichkeit auf der anderen Seite an . Ich kann Jemand mit der Hand fassen , ich kann ibn aber auch aus der Entfernung anrufen , weil die Schwingungen , die ich durch meine Stimme hervorzubringen im Stande bin, ihn durch die Einrichtung seiner Gehörsorgane anregen . Es ist aber durchaus nicht zu widerlegen , dass, wenn ich
an Jemand lebhaft denke oder etwas thue , was für ihn von grossem Einflusse ist, die Schwingungen nicht eben so
dahingeleitet werden , wie Anziehung , Licht- und Wärme schwingungen auf Hunderte von Millionen Meilen ; nur dass er sie nicht empfindet – unter normalen organischen Verhältnissen und bei normalem Bewusstsein ! Die
Erfahrung aber zeigt uns, dass solche Anormalitäten wirk
lich vorkommen, dass Fernwirkungen durch die Richtigkeit und Wahrheit constatirt werden, die nur auf einem solchen
Wege erklärbar sind , und die im nächstfolgenden Capitel, das unsere Raum vorstellungen behandelt , abermals einen weiteren Theil der phänomenalen Unbegreiflichkeit verlieren werden .
Auf nicht zu grosse Entfernung können wir das ex perimentell verfolgen ; denn Hansen , der im zweiten Bande erwähnte Magnetiseur , kann auf die Entfernung wirken , aber doch immer nur unter der Voraussetzung einer Em pfänglichkeit des magnetisirten Individuums. Ich kenne einen
Landwirth, der im Kreise seiner Familie lebt, isst, trinkt,
Phänomenalität der Materie.
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sich unterhält und sehr wenig liest, also eine ganz gewöhn
liche materielle Lebensweise führt , und doch hat er die Gabe , wenn er ruhig in einem Zimmer liegt , sehr häufig die ausser dem Hause Gehenden gleichsam zu fühlen und ihre Persönlichkeit zu bezeichnen, ihre Annäherung zu ver künden .
In
einer
mir
sehr
befreundeten Familie
ist
im
Oktober 1879 ein fünfundsiebzigjähriger Greis gestorben . der fast ein Jahr auf dem Sterbebette lag und in den
letzten Monaten vor seinem Tode anfing Visionen zu haben , die Ereignissen in seiner Nähe ausserhalb des
Hauses , ja selbst in grösseren Entfernungen vollkommen und wahrheitsgetreu entsprachen . Mit dem Verluste der
Empfindlichkeit des Organismus tritt eine grössere Empfind lichkeit eines Metaorganismus zu Tage. Ich gebrauche diesen Ausdruck, den ich bereits in meinem „ Individualismus “ an gewendet, weil ich mich überzeugt, dass der in einer früheren Schrift gebrauchte - die Seele - in Folge der damit verknüpften und vorgefassten Begriffe leicht zu Miss
verständnissen führt. (Die Rechtfertigung des Ausdruckes später.)
Die Beziehungen und Wechselwirkungen alles Seien den bleiben sich immer gleich , nur ist das Signale mentim Gehirn nicht immer vorhanden, welches uns das dreidimensionale Bild liefert, weil nur ein geringer Bruch theil von diesen Beziehungen durch unsere Sinne empfunden werden kann.
Die Materie ist eine Vorstellung und nicht der rohe Stoff, wie das die moderne Naturforschung in naiver Weise
behauptet, weil sie sich von den Vorurtheilen des gemeinen Verstandes nicht zu emancipiren weiss. Zum Denken sind die meisten Naturforscher zu faul, und die Benutzung frem .
der Gedanken zur Anregung ist ihnen durch die Vernach lässigung der philosphischen Literatur versperrt. Die
Phänomenalität der Materie.
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modernen Naturforscher stehen , mit wenigen Ausnahmen, diessbezüglich noch auf dem Standpunkte eines Leukipp, Demokrit und Epikur, dass heisst, sie sind über die Hypo these der Atome als kleinster Theil von hochfeiner und
verschiedener Beschaffenheit nicht hinausgekommen. Les
extrêmes se touchent !
Der rohe Materialismus
führte zu einem eben 80 widersinnigen Idealismus und gingen diese beiden Richtungen eine ganze Zeit neben ein ander her. Wir können die idealistische Auffassung, wie sie
sich durch Malebranche , Berkeley , Spinoza , Hume ent wickelte , nicht weiter verfolgen ; Leibniz nahm eine Mittel stellung ein. Er erkannte die Richtigkeit der idealistischen Auffassung , dass unsere Vorstellung der Materie nur ein verworrener Begriff von Erscheinungen und Eigenschaften einwirkender Wesenheiten sei und stellte seine Monadologie
auf. Man findet allerdings fast bei allen späteren Natur torschern Sätze, die oft an die Auffassung, wie wir sie bier
entwickelt, anstreifen ; man sah ein, dass den Atomen eine Wirkung in die Ferne und Ausdehnung zugesprochen werden müsse. Aber immer scheiterte die richtige Anschauung an
dem Vorurtheile des gemeinen Verstandes, dass es eine Materie gebe, welche Kräfte besitzt, statt, dass umgekehrt, die Kräfte die Vorstellung der Materie in uns hervorrufen.
Kant war derjenige, der die Materie als eine Er scheinung auffasste, hinter welcher sich ein uns unbekanntes Ding an sich verberge, das uns unerkennbar sei. Kant war nicht nur der grösste Denker aller Zeiten, sondern hat mit
Hilfe seines ganz aussergewöhnlichen Verstandes auf dem Gebiete der Naturwissenschaft Resultate zu Tage gefördert, wie sie selbst unter den heutigen Umständen staunenerregend
wären, in Rücksicht des damaligen Fortschrittes der Natur wissenschaft aber ganz unglaublich sind. Zöllner hat im ersten Bande seiner wissenschaftlichen Abhandlung folgende
Phänomenalität der Materie .
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Zusammenstellung gemacht : „Kant, der vor 111 Jabren als Professor der Philosophie lebte , ist derselbe Mann , der 40 Jahre vor Laplace die moderne Kosmogenie unseres Planetensystems entwickelte, der 60 Jahre vor Hansen die excentrische Lage des Mondschwerpunktes vermuthete , der
94 Jahre vor Robert Mayer und 11 Jahre vor dem franzö
sischen Akademiker Delaunay die allmälige Rotations geschwindigkeit der Erde durch den Einfluss der Ebbe und
Fluth vorausgesagt und 40 Jahre vor Laplace die Umlaufs zeit des Saturnringes nach derselben Theorie , wie jener berühmte Mathematiker berechnete , und zugleich die Zusammensetzung dieses Ringes aus mehreren einzelnen Ringen über 40 Jabre früher folgerte, ehe dieselben durch die Teleskope William Herschels wirklich nachgewiesen werden konnten.“
Mit Recht sagt Zöllner , dass kein
Philosoph (und man könnte auch wohl sagen Naturforscher ) vor oder nach Kant solche Proben eines überlegenen Ver standes aufzuweisen hat.
Ob nun in Kant's Auffassung, dass zur Existenz der Materie zwei einander entgegenwirkende Kräfte, Dehn kraft und Ziehkraft, nothwendig seien , nicht eine Vor ahnung der Weberischen Lehre liege, das mögen Physiker vom Fach entscheiden .*) Jedenfalls hätte die Würdigung der Schriften eines solchen Denkers wie Kant verhüten müssen ,
dass die moderne Naturforschung dem Materialismuss ver *) Es ist eine Broschüre von Prof. Zöllner : „ Das Scalen -Photo . meter“ erscbienen , in welcher es heisst: „ Als Beweis für die bewunde
rungswürdige Divinationsgabe Kant's auf allen Gebieten der Natur wissenschaften mögen hier seine folgenden , vor 117 Jahren nieder geschriebenen Worte den obigen Wilhelm Weber's gegenübergestellt werden. “ Hierauf citirt Zöllner die Worte Kant's ( Rosenkranz, I. Bd.,
S. 140 ), durch welche dieser die Verwandtschaft der Elektricität, des Magnetismus und der Wärme constatirt und in der „ positiven und nega tiven Wirksamkeit der Materien“ die Quelle allgemeiner Gesetze sieht , welche „ eine glücklichere Nachkommenschaft erkennen wird."
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Phänomenalität der Materie.
falle und alle bedeutenden Denker und Nachfolger Kant's, wie sehr sie auch sonst in ihrer Ansicht auseinander gehen
(wie Fichte , Schelling , Hegel , Schopenhauer , Hartmann, Herbart , Drossbach und Andere) , haben die Materie nur als Vorstellung aufgefasst; darin stimmen sie überein . Schopenhauer, einer der bedeutendsten Denker dieses
Jahrhunderts, sagt, und zwar schon im Jahre 1816 , in seiner Schrift über das Sehen und die Farben und über die vierfache Wurzel des zureichenden Grundes : „ Das Gesetz der Causalität als abstracter Grundsatz ist freilich wie alle Grundsätze in abstracto , Reflexion , also Object der Ver
nunft, aber die eigentliche, lebendige, unvermittelte, nothwendige Cau salität geht aller Reflexion, wie aller Erfahrung vorher und liegt im
Verstande. Mittelst desselben werden die Empfindungen des Leibes der Ausgangspunkt für die Anschauung einer Welt, indem nämlich das a priori uns bewusste Gesetz der Causalität angewandt wird auf das Verhältniss des nomittelbaren Objectes (des Leibes) zu den anderen nur mittelbaren . “ (S. 8. Fb.) „ Er (der Verstand nämlich ) fasst vermöge seiner selbsteigenen Form , also a priori d. i. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin noch nicht möglich) die gegebene Empfindung des Leibes als eine
Wirkung auf (ein Wort, welches er allein versteht), die als solche nothwendig eine Ursache haben muss. ... Dennoch aber ist, was Ge tast und Gesicht liefern, noch keineswegs die Anschauung, sondern bloss der rohe Stoff dazu : denn in den Empfindungen dieser Sinne liegt so wenig die Anschauung, dass dieselben vielmehr noch gar keine Aehnlichkeit haben mit den Eigenschaften der Dinge , die mittelst
ihrer sich uns darstellen . . . , Drücke ich mit der Hand gegen den Tisch, so liegt in der Empfindung, die ich davon erhalte, durchaus
nicht die Vorstellung des festen Zusammenhanges der Theile dieser Masse, ja gar nichts dem Aehnliches ; sondern erst, indem mein Ver stand von Empfindung zur Ursache desselben übergeht, construirt
er sich einen Körper, der die Eigenschaft der Solidität, Undurchdring
lichkeit und Härte hat. “ (S. 52-54 z. G.)
Diese Anschauung ist ganz richtig ; wir glauben ein Pferd zu sehen , und doch ist der Körper des Pferdes nur
ein Product unseres Gehirns, wohingegen die Kraft oder Kräfte , welche auf uns wirken , und aus deren Wirkungen
Phänomenalität der Materie.
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wir die Vorstellung des Pferdes erhalten , dasjenige sind, was wir wahrnehmen. Eine Ansicht, die nicht nur die
Schopenhauerische Schule, sondern auch die Individualisten vertreten. Drossbach sagt: „ Wir nehmen wahr , was nicht Erscheinung ist, und wir nehmen nicht wahr, was Erscheinung ist ; wir nehmen nicht materielle Dinge, sondern die imma teriellen Kräfte wahr ; die bewegenden Kräfte sind nichts
Unsinnliches, nichts Metaphysisches Sinnliches, nichts Physikalisches.“
die Körper nichts
Wenn aber die Welt aus lauter solchen Kraftcentren
besteht, die eine Wirkung nach allen Räumen , wenn auch geschwächt , durch die Entfernung ausüben , so ist es klar, dass wir nur Kräfte vor uns haben , deren Einwirkungen auf unsere Sinne erfolgen , aus welchen unser Verstand die Materie zusammensetzt, die als solche nirgends anders
existirt, als in unserem Kopfe, eine Anschauung, die übrigens von den bedeutendsten Denkern und Forschern immer ver
treten wurde. Leider bilden diese nicht die Majorität, die Wenigsten sind sich klar bewusst , dass sie es nur mit Phänomenen zu thun haben , und dass ihnen überdies nur
phänomenale Mittel der Beurtheilung zu Gebote stehen , daher denn die ganze Gesetzmässigkeit auch nur eine phä nomenale ist (was uns später weit durchsichtiger werden wird). Daher ist es erklärlich, wie wenig „ exact“ die For schungsresultate sind, und hat Dr. von Schütz eine köst liche Zusammenstellung von Aussprüchen hervorragender Naturforscher unter dem Titel : „ Das exacte Wissen der Naturforscher“ veröffentlicht, in welchen er den Einen gegen den Andern ausspielt.
Ob jeder meiner Leser im Stande war , alle Einzel heiten in diesen Capitel zu Folge Zusammenziehung auf wenige Sätze richtig und voll zu verstehen, ist Nebensache :
Phänomenalität der Materie.
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aber Eines muss geblieben sein , die Ueberzeugung , dass
der gemeine Verstand mit Unrecht den Dingen eine Materialität zuspricht , die nur die Frucht seiner Organisation ist ; kein Ohr – kein Ton, kein menscb liches Gehirn - keine materielle Welt !
Es bleibt nichts
als Schwingungen unbekannter Kräfte , die uns anziehen , abstossen und allerlei Vorstellungen in uns erregen .
Die ganze Materie ist also etwas Phäno menales .
In weiterer Consequenz der physikalischen Gesetze haben aber Messungen ergeben , dass so wie 30 bis 30.000 Schwingungen ungefähr in der Secunde das Reich der Töne
bilden , für die rothe Farbe bereits gegen 300 , für die violette sogar 700 Billionen Schwingungen in der Secunde nothwendig sein sollen !! Wenn sich der denkende Mensch das veranschaulichen will, so muss er an der Theorie irre werden . Er wird unwillkürlich ausrufen : „ Meine Herren !
Allen Respect vor Euren Messungen , aber das ist ein zu starker Tabak ! Da muss irgendwo ein Fehler stecken, das kann nicht sein !“
Diese Ziffern haben in so weit ihre Richtigkeit , als
sie die Consequenz der phänomenalen Gesetzmässigkeit sind. Wenn die 20 Mill. Meilen Sonnnenentfernung und An ziehung im geraden Verhältnisse der Massen und umge kehrten der Quadrate der Entfernungen eine Wahrheit sind, so ist die Allgegenwart der Stoffe, also auch die actio in
distans eine unabweisliche Nothwendigkeit. Dann aber ist gegen
obige Ziffern
weiter nichts einzuwenden ;
wollte
Jemand die Wahrheit derselben bestreiten , so müsste der Fehler in den 20 Millionen Meilen Entfernung stecken . Entweder reichen die Atome der Sonne bis zu uns,
oder die Entfernung ist eine Fiction unseres Gehirns
das ist klar !
Wir könnten schon jetzt die
Phänomenalität der Materie,
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Antwort geben ; phänomenal reichen die Atome 20 Millionen weit : doch ist der gesetzmässige Zusammenhang der phänomenalen und wirklichen Vorgänge noch nicht die Identität derselben. Zwischen dem Schatten und dem Schatten werfenden
Objecte besteht auch ein gesetzmässiger Zusammenhang, und doch können die Objecte sehr verschiedene Eigen schaften haben , welche in deren Schatten ihren Ausdruck nicht finden .
Untersuchen wir also die 20 Millionen Meilen , was so viel heisst als : beschäftigen wir uns mit dem Raume.
Viertes Capitel. Phänomenalität unserer Raumvorstellung. Die Raumvorstellung wird durch die Bewegungs-Empfindungen gewonnen. - Die auf diese Weise gewonnene Raumvorstellung entspricht nicht Kant und die dem wirklichen Raume im metaphysischen Sinne. Fernseher.
Ein Blinder würde, wenn auch sehr mangelhafte, aber immerhin Raumvorstellungen haben, weil er beim Betasten der Gegenstände je nach ihrer Entfernung seine Finger und seinen Arm mehr oder weniger ausstrecken müsste,
welches Ausstrecken im Wege der Muskelbewegungen Em pfindungen erzeugt. Aus diesen Empfindungen gewinnt er einen Maszstab ; und aus diesem resultirt seine Raum vorstellung selbst für grössere Entfernungen , welche durch die Zahl der Schritte und der nothwendigen Zeit nur noch vervollständigt wird ; wir messen nämlich den Raum durch die Zeit (der Bewegung) , und die Zeit durch den Raum ( durch die Strecken, die ein Uhrzeiger zurücklegt ). Der Umstand , dass Kant den Unterschied einsah, der in den eigentlichen Empfindungen, die doch auch Vor stellungen sind, und unseren Raumvorstellungen liegt, führten ihn zu seiner idealen Ansicht über den Raum ; die Bewegungs
empfindungen scheinen ihm entgangen zu sein, aus welchen
Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
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die modernen Physiologen unsere Raumvorstellungen aus der Erfahrung ableiten wollen*). Die Beweisführung , dass beide Theile bis zu gewissen Grenzen recht haben , ist das
jenige, worauf es mir bei meinem Leser ankommt. Einerseits ist es unläugbar, dass unsere räumlichen Vorstellungen wirk lich die Frucht der Empfindungen , also der Erfabrung sind, und diese Empfindungen sind , weil sie von der Organisa tionsform abhängen , offenbar phänomenal. Wenn ich die Hand ausstrecke, so habe ich eine Empfindung, und Prof. Wundt nennt mit Recht die Empfindungen die einzigen
Signale , durch welche wir von den Veränderungen in uns und ausser uns eine Kenntniss erhalten. Der grössere oder kleinere Schritt wird empfunden , eben so die Bewegungen
unserer Hand, wenn wir greifen oder Clavier spielen. Dass die Vorstellungen, zu denen wir durch die Bewe gungs- Empfindungen unserer Hand und unseres Fusses ge langen, dem Blinden das Urtheil über die Raumverhältnisse verschaffen, ist Jedem einleuchtend ; ein Jeder begreift, dass wir darin einen Massstab gewinnen, um die räumlichen Be ziehungen der Objecte zu erkennen, und begreift Jeder, dass wir mit sehr grossen oder sehr kleinen Händen und Armen auch andere räumliche Verhältnisse haben würden . Was aber
nicht Jedem einleuchtet , ist , dass das, was für die durch die Gliedmassen verursachten Bewegungsempfindungen eines Blinden gilt, auch für die Bewegungsempfindungen eines Sehenden Geltung hat. Denn zur Bewegung unseres Aug
apfels sind ebenfalls Muskeln nothwendig. Der Augapfel muss sich nach allen Richtungen drehen, um die Lichteffecte *) Kant sagt Paragraph 5 (de mundi seng. et intellig. forma et principiis) : „ Ad sensualem itaque cognitionem pertinet tam materia,
quae est sensatio , et per quam cognitiones dicuntur sensuales , quam forma, per quam , etiamsireperiatur absque omnisensatione , repraesentationes vocantur sensitivae.“ Die Form ist ebenso Sache der .Empfindung, als es die Materie ist.
Phänomenalität unserer Raumvorstellung .
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auf der Netzhaut aufzufangen, und wenn diese über Licht stärke und Farbe entscheidet, so sind die Bewegungs empfindungen wieder für die räumlichen Verhältnisse der Objecte massgebend. Aus diesem Umstande würde man auf die volle Iden
tität der wirklichen und vorgestellten Raum verhältnisse zu schliessen geneigt sein , und fühlt sich dazu berechtigt, weil eine entsprechende Gesetzmässig keit allerdings wahrgenommen wird. Aus dieser Ueberein stimmung folgt aber noch lange nicht die Identität der
wirklichen und vorgestellten Raumverhältnisse , was durch praktische Versuche sehr leicht zu erweisen ist und deut licher wird.
Wenn ich durch ein Opernglas sehe , so scheinen mir die Gegenstände viel näher, wenn ich es umkehre , viel weiter , als mit dem blossen Auge ; dadurch wird aber nur die Elle , mit der wir den Raum messen , als eine ideelle,
von unserer Organisation abhängige erkannt , nicht die Identität des Verhältnisses berührt.
Wir haben schon oben
von dem Unterschiede gesprochen, den wir bei dem Anblick der Hand im Wasser wahrnehmen, wo deren verticale oder horizontale Lage zufolge des Mediums , durch welches die
Lichtschwingungen durch müssen, solche merkwürdige Ver änderungen hervorruft; noch deutlicher wird das durch folgende Versuche, die wohl Jeder schon gemacht hat, wenn er auch darüber hinweggegangen ist. Wenn wir in einen convexen oder concaven Spiegel schauen , so werden wir finden, dass, obschon eine gewisse Gesetzmässigkeit zwischen den Objecten und deren reflec tirten Bildern besteht, das Verhältniss doch ein ganz anderes ist. Wenn wir daher annehmen würden, dass unsere Augen
entweder eine sehr convexe oder sehr concave Retina hätten, der Art, dass sich die Gegenstände in unserer Vorstellung
eben so verzerrt abspiegelten, wie in den analogen Spiegeln ,
Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
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so müssten manche unserer geometrischen und stereometrischen Axiome einer Aenderung unterzogen werden. Schon Kant hatte behauptet, dass uns der Raum dreidimensional erscheine, weil die Kräfte im umgekehrten Verhältnisse der Quadrate der Weiten auf uns wirken, und es gedacht werden könnte, dass diese Wirkung im Verhältniss nicht zum Quadrate, sondern zur dritten oder vierten Potenz der Weiten auch bestehen könnte.
Es schimmert uns da die volle Abhän
gigkeit von unserer Organisation und mithin die Idealität unserer Raumanschauungen entgegen.
Man nimmt nicht mit Unrecht an , dass selbst das Pferd zufolge seiner gewölbten Augen anderer Raumvor
stellungen als der Mensch habe, die entfernteren Gegenstände weiter, die näheren grösser und näher sebe, als der Mensch, was intelligente Kutscher und Reiter wohl bestätigen werden ;
wenn seitlich irgend etwas plötzlich auftaucht, erschrickt ein Pferd sehr leicht. Es wird uns das verständlicher, wenn
wir eine gewölbte farbige Staubbrille nehmen und auf einem ebenen Wege gehen, blicken wir gerade vor uns hin , so wird der Unterschied nicht auffallen , wenn wir aber vor die Füsse schauen - aber noch durch das Glas, nicht unter
das Glas – so wird unserer Empfindung nach der Fuss den Boden immer wo anders finden, als ihn das Auge schaut, wir werden unseren Fuss immer etwas prellen , weil die
an in Uebereinstimmung gesetzte Raum anschauung unserer Gesichts- und Tastempfindungen plötz lich gestört ist. Aus allen diesen Experimenten und Betrachtungen geht mit einer unerschütterlichen Consequenz hervor, dass
von Kindheit
der Raum oder der Ort sich dort befindet , wo hin unser Verstand den Ausgang der Wirkung setzt ; unser Verstand ist aber diessbezüglich von den Empfindungen und ganz besonders Bewegungsempfin dungen , also von der Organisationsform abhängig. Zöllner
Phänomenalität unserer Raumvorstellung .
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sagt im ersten Bande seiner wissenschaftlichen Abhandlungen Seite 252 :
„ Wenn einmal zugegeben wird, dass wir auf die Fxistenz realer Objecte nur aus den Wirkungen schliessen, welche dieselben an der Oberfläche unseres beseelten Leibes hervorrufen, dann hängt die Loca
lisation dieser Wirkungen und hiermit die Vorstellung von der Realität der wahrgenommenen Objecte lediglich von den räumlichen Anschauungsformen ab, welche unser Verstand zur widerspruchsfreien Erklärung jener Wirkungen auf dieselben anwendet. Erweitert sich diese Anschauungsform , so verändert sich hiermit auch der
Ort , wohin unser Verstand jenes Object verlegt. Bei dem hoch
entwickelten Gesichtssinne suchen wir das reale Object, dem ein zweidimensionales Bild auf der Netzbaut entspricht, in einem Raume von drei Dimensionen , während bei dem weniger hoch entwickelten Tastsinn das Object dort hinversetzt wird, wo es die Tastkörperchen der Hautoberfläche afficirt. Und dennoch sind es in beiden Fällen
lediglich Veränderungen des Zustandes unserer Nerven , die für
den Verstand die Data liefern, aus denen er sich die Vorstellung jenes räumlich ausgedehnten Objectes bildet." Unsere Raum vorstellungen sind also etwas Phäno menales, nicht aber ist es der Raum selbst ; denn dieser muss eine Realität haben , weil nur unter seiner Voraus
setzung eine Bewegung und Einwirkung möglich ist. Den jenigen meiner Leser, dem dieser Gegenstand zu fremdartig ist, und der die Sache gründlicher fassen will, muss ich auf
dass dritte Capitel meiner Philosophie des g. V. verweisen, WO
er auch die einschlagenden Stellen bei Kant und
Wundt angegeben findet, und wofern ihm das nicht genügt
oder er sich besonders dafür interessirt, so kann ich ihm nicht genug das Capitel über „ Wirkungen in die Ferne “ der Zöllner'schen Abhandlungen, I. B., anempfehlen. Von diesem Standpunkte, den wir soeben gewonnen, sind die uns undenkbaren Ziffern von Billionen Schwingun
gen in der Secunde, sind die Billionen Meilen von Stern weiten, die Millionen Lichtjahre und Trillionen Molekeln in einem Cubikcentimeter ganz nebensächlich , denn es sind ideale Rechenpfennige , die es uns möglich machen , das
Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
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phänomenale Gebiet mit phänomenaler Gesetz mässigkeit zu erklären
was vollkommen genügt.
In Portugal rechnet man mit Reis , und 1000 Reis Papier haben einen Werth von 1 Mark 80 Pfennigen ; sie sind auch nur eine ideale Münze, mit der man aber rechnen kann. Dadurch , dass alle unsere Sinneswahrnehmungen, wie
wir oben gesehen haben, phänomenaler Natur sind, wird die Materie auch phänomenal ; ist es der Raum auch, nun so ist es unsere ganze Weltanschauung. Dadurch, dass wir wissen , warum unsere Weltvorstellung eine dreidimen sionale ist , wird es begreiflich, dass schon Kant die mög. liche Existenz einer vierten Raumdimension denken konnte, die nunmehr durch Zöllner's Untersuchungen über die Sta bilität der kosmischen Massen und seine sonstigen Experi mente noch mehr in den Vordergrund getreten ist, wie wir im zweiten Bande der Vorurtheile gesehen haben und gleich darauf zurückkommen werden.
Der Leser muss sich aber hüten, „ Raum “ und „ Raum vorstellung “ zu verwechseln , was selbst einem Schopen hauer geschehen oder doch durch Undeutlichkeit des Aus
druckes zugeschrieben werden kann. Nachdem Schopenhauer dem Raume eine besondere Gestalt des Satzes vom Grunde
zugeschrieben, den Seinsgrund, also dadurch die volle Rea lität zuerkannt, meint er (um wieder die Idealität des Raumes zu beweisen), dass : „ der einleuchtendste und zugleich einfachste Beweis der Idealität des Raumes darin liege, „das wir den Raum nicht, wie alles Andere, in Gedanken aufheben können. Bloss ausleeren können wir ihn. Aber ihn selbst können wir auf keine Weise los werden. Was wir
auch thun, wohin wir uns auch stellen mögen, er ist da und hat nirgends ein Ende ; denn er liegt allem unserem Vorstellen zu Grunde und ist die erste Bedingung desselben . Dies beweist ganz sicher, dass er unserem Intellect selbst angehört, ein integrirender Theil desselben
ist, und zwar der, welcher den ersten Grundfaden zur Gewebe des
selben, auf welches danach die bunte Objectenwelt aufgetragen wird, liefert. Ist aber der Raum offenbar eine Function, ja eine Grund Hellenbach , Vorurtheile. III,
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50
Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
function unseres Intellects selbst, so erstreckt sich die bjeraus fol gende Idealität auch auf alles Räumliche, sofern es räumlich ist, also,
sofern es Gestalt und Grösse und Bewegung hat. Auch die so gedauen und richtig zutreffenden astronomischen Berechnungen sind nur da durch möglich, dass der Raum in unserem Kopfe ist. Dass der Kopf im Raume sei, bält ihn nicht ab einzusehen, dass der Raum doch nur im Kopfe ist".
In diesem letzten Satze liegt der Widerspruch. Die
Vielheit (also auch der Kopf) wäre nicht möglich ohne etwas , was wir Raum nennen , doch die Vorstellung von dem Raume, wie wir sie haben und kraft unserer Or
ganisation haben können, ist nur im Kopfe. Schopenhauer ist der Ansicht , dass nur durch die Vereinigung von Zeit und Raum die Vorstellung der Materie möglich wird. Da nun eine solche Vorstellung existirt, so müssen auch alle Factoren , die zur Zustandebringung nothwendig sind, also auch Raum und Zeit vorhanden sein , wenn auch nicht so wie wir uns Raum und Zeit vorstellen.
Ich glaube , dass der Streit hauptsächlich durch eine mangelhafte Ausdrucksweise entstanden ist, indem sehr häufig die Raumvorstellung mit der Vorstellung von den räum
lichen Beziehungen der Objecte verwechselt wurde. Wir gewinnen zuerst die Vorstellungen von den räum lichen Beziehungen der Objecte, und wenn wir diese weg denken , so bleibt der Raum in abstracto. Ich kann die
Einrichtungsstücke eines Zimmers wegdenken , dann bleibt der Raum im Zimmer ; denke ich das Zimmer weg, so kann noch das Haus bleiben ; denke ich dies weg , so bleibt die
Stelle , wo es stehen könnte; denke ich die Planeten fort, so bleiben die andern Gestirne; denke ich auch diese weg ,
so bleibe nur ich selbst ; abstrahire ich von mir , so ist im menschlichen Sinne kein Raum. Es entsteht daher leicht
die Frage, ob der Raum etwas Anderes sei, als das von den räumlichen Beziehungen abstrahirte Resultat. Darin liegt der Grund, warum Viele den Raum als empirisch gewonnen
Pbänomenalität unserer Raumvorstellung.
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und nicht a priori in uns liegend betrachten. Die Fähigkeit, aus Wirkungen auf Ursachen zu schliessen , liegt aber a priori in uns ; dies und die Organisationsform bedingen dann unsere Raumanschauung.
Der Raumbegriff , den wir
aus unseren Anschauungen der Objecte abstrahiren, ist aber etwas Anderes als der Raum im metaphysischen Sinne.*) Die Beziehungen der Sternenwelt und der irdischen Objecte bleiben auch ohne uns , und diese sind es , welche in uns die Raumvorstellung veranlassen . Wie dem immer sei , 80 müssen wir von den „ räum
lichen“ Vorstellungen die „ Raum “-Vorstellung unterschei den , die eigentlich keine vielfache Zahl für ein Subject
hat ; ich werde daher im weiteren Verlaufe mich immer des Ausdruckes von räumlichen Vorstellungen be
dienen , wenn es sich um Entfernungen und Beziehungen, das Nebeneinander oder Uebereinander der Objecte handelt ,
und unter Raum vorstellung nicht die Be
ziehung der Objecte zu uns und untereinander , sondern den Raum in abstracto verstehen ; wie wir denn auch Mensch und menschlich , Haus und häuslich wohl unter scheiden . Wenn ich von der Entfernung und gegenseitigen
Lage zweier Objecte spreche , so ist das eine Vorstel lung räumlicher Beziehungen, nicht aber eine Raumvorstel lung. Die erstere Art haben alle Menschen , die letzteren sind Abstractionen , die nur die Gebildeteren fassen können, *) Kant sagt : Par. 6 : „ Necesse autem hic est, maximam ambigui
tatem vocis abstracti notare. ... Nempe proprie dicendum esset; ab aliquibus abstrahere, non aliquid abstrahere. . . . Hinc con ceptus intellectualis abstrahit ab omni sensitivo , non abstrahi. tur a sensitivis, et forsitan rectius diceretur abstrahens quam abstractus. “ Darum bleibt aber der Satz : Quidquid est, est alicubr et aliquando“ doch aufrecht. Die wirkliche Localisation der Objecte ( also der wirkenden Kräfte) braucht
trotz der scheinbaren Gesetz
mässigkeit der Uebereinstimmung mit der uns scheinbaren Localisation mit dieser nicht identisch zu sein.
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Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
und in die sich zu vertiefen nur ein philosophisch ange legter Kopf vermag . Kant hat im 1. Par. seiner Erörterungen eine An schauung ausgesprochen , die den Hauptanlass zu späteren Missverständnissen gegeben hat. Er sagt:
(8 1 :) „ In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung correspondirt, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, dass das Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen
geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung. Da das, worinnen sich die Empfindungen allein ordnen und in gewisse Form
gestellt werden können, nicht selbst wiederum Empfindung
sein kann (?), so ist uns zwar die Materie aller Erscheinungen nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber muss zu ihnen insge sammt im Gemüthe a priori bereit liegen und daher abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden.“
Ich habe in meiner Philosophie d. g. V. diesen Sätzen folgende Einwürfe folgen lassen : Der gemeine Verstand wird dazu bemerken : 1. Es ist wahr, die Materie aller Erscheinungen ist uns a poste riori gegeben und die Form - und hier hat Kant insbesondere die räumliche Form im Auge muss als subjective Fähigkeit, die Dinge im Raume ansehen zu können, in uns liegen . Aber ich muss ähnliche
Voraussetzungen auch bei nicht räumlichen Eindrücken machen, ich muss eine gewisse Disposition im Organismus in mir voraus setzen , für alle Eindrücke , ob Farbe u. s. w. Es giebt zum
Beispiel Verhältnisse in den Dingen , die wir theils in räumliche, theils in farbige Vorstellungen übersetzen, es giebt andere Verhält
nisse und Einwirkungen, die wir als Wärme, Kälte, Härte oder Flüssig
keit bezeichnen ; diese Fähigkeit, Empfindungen auf äussere Ein wirkungen zu beziehen , liegt allerdings a priori in uns (darum
identificirt Schopenhauer Materie und Causalität). 2. Es ist wahr, dass ich die Form der Erscheinung, nachdem ich sie einmal gewonnen , ganz abgesondert von aller Empfindung betrachten kann, aber das kann ich überhaupt mit allen Abstractionen, es ist dies kein Privilegium des Raumbegriffes allein.
3. Der gemeine Verstand wird hingegen die Frage aufwerfen : Ist es aber auch wahr und bin ich dessen gewiss, dass der Eindruck der Form der Erscheinung nicht auch eine Empfindung
sei , und zwar nicht nur in Bezug auf ihren Inhalt, sondern
Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
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gerade in Bezug auf ihre Form ? Räumliche Unterschiede können von uns durch Hände , Füsse , durch die ganze Oberfläche des Körpers, insbesondere durch das Auge, im Wege der Bewegungs empfindungen vermittelt werden. Wilhelm Weber und Fechner haben sich mit diesen
Problemen beschäftigt, insbesondere hat Wundt mit grosser Gründlichkeit die Empfindungsfähigkeiten unserer Sinne untersucht und gefunden, dass das Auge die Entfernungen der ruhenden Gegenstände im Raume genau mit derselben Schärfe auffasse , wie seine eignen Bewegungen , und dass die Grenze , die es im Erkennen räumlicher Distanzen erreichen kann , identisch mit der Grenze sei, die der Auf fassung seiner eigenen Bewegungsempfindungen gesetzt ist. In diesem Umstande, nämlich in der Uebereinstimmung zwischen der Auffassung der kleinsten Augenbewegungen und der Auffassung der kleinsten Raumelemente, sieht Wundt
den Hauptbeweis , dass der Raum ein Product eigener
physischer Thätigkeit sei und meint , wenn wir den Raum nicht sehen und fühlen könnten , so würden wir von ihm
Das hat allerdings seine Richtigkeit, würde aber darum der Raum nicht existiren , wenn wir davon nichts wüssten ? Unsere Rau manschauung würde aller dings nicht existiren, wohl aber der Raum, von dem Kant ausdrücklich sagt, dass er kein blosses „Gedankending “ ist. nichts wissen .
Diese Unklarheit mag vielleicht mehr im Ausdrucke
als in den Gedanken Wundt's existiren , aber es ist ein , falscher Satz , wenn Wundt sagt , der Raum ist Erfah rung“.
Unsere Raum vorstellung ist Erfahrung , der
Raum aber die Bedingung derselben . Wenn wir aus einem Fenster den weidenden Thieren zusehen und diese sich
hin und her bewegen , so muss sich in den Verhältnissen nothwendig etwas ändern , wenn es in uns veränderte Em
pfindungen machen soll ; ob unsere Vorstellungen mit der Realität congruiren , das ist etwas Anderes ; aber Aende
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Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
rung, Bewegung muss vor sich gegangen sein, die Verhält nisse müssen sich geändert haben ; ein Etwas , das unserer Raumanschauung entspricht , muss vorhanden sein , wenn es auch nicht der in unserem Kopf sitzende dreidimen sionale Raum ist.
Ich werde im Wege der Gleichnisse meinem Leser diese schwierige Frage deutlich zu machen suchen . Was es für Folgen hätte, wenn wir andere Augen besässen , haben wir schon erwähnt und uns auf das Bild berufen , das wir
bekommen, wenn wir auf convexe oder concave reflectirende Flächen blicken oder durch derartige Linsen schauen . Dieser Umstand würde sich auf den Satz Kant's beziehen , dass die Kräfte nicht immer im umgekehrten Verhältnisse des
Quadrates der Entfernung wirken müssen , dass sie sehr leicht ein anderes Verhältniss einhalten oder vielmehr von
uns so gesetzmässig befunden werden könnten. Wenn wir in einer Stadt des Nachts bei Strassen
beleuchtung gehen, so wird unser Schatten sich ganz gesetz mässig verhalten. Heben wir Fuss oder Hand, so wird das Bild des Schattens unseren Bewegungen genau folgen , und doch , wenn wir geben , so bemerken wir , dass unter Vor aussetzung verschiedener Laternen , sich unser Schattenbild
verlängert , verkürzt, von rechts nach links hinüberspringt; mit einem Worte bei aller Gesetzmässigkeit doch ein sehr verschiedenes Bild , mitunter auch doppelten Schatten gibt. Wenn wir nun voraussetzen, dass Jemand unseren Schatten,
nicht aber uns wahrnehmen könnte, so würde er trotz aller . Gesetzmässigkeit dennoch die verschiedensten Eindrücke
haben können , wenn gleich sich auch an uns selbst und den leuchtenden Laternen nichts ändert, sondern nur in der
gegens itigen Stellung die Veränderungen vor sich gehen. Was für Verschiedenheiten mag es wohl in der Anschauungs weise dieser Welt geben ! Dieses Gleichniss würde dem Satze Kants entsprechen , wo er sagt :
Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
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„ Der Raum ist nichts Anderes , als nur die Form aller Er
scheinungen äusserer Sinne, d. h, die subjective Bedingung der Sinn lichkeit, unter der allein uns äussere Anschauung möglich ist. Weil
nun die Receptivität des Subjectes , von Gegenständen afficirt zu werden, nothwendiger Weise vor allen Anschauungen dieser Objecte
vorhergeht, so lässt sich verstehen , wie die Form aller Erscheinungen vor allen wirklichen Wahrnehmungen, mithin a priori im Gemüthe
gegeben sein könne, und wie sie als eine reine Anschauung, in der alle Gegenstände bestimmt werden müssen, Principien der Verhält
nisse derselben vor aller Erfahrung enthalten könne.“ „Weil wir die besonderen Bedingungen der Sinnlichkeit nicht zu Bedingungen der Möglichkeit der Sachen, sondern nur ihrer Er scheinungen machen können , so können wir wohl sagen , dass der
Raum alle Dinge befasse, die uns äusserlich erscheinen mögen, aber nicht alle Dinge an sich selbst, sie mögen nun angeschaut werden oder nicht, oder auch von welchem Subject man wolle.
Denn wir
können von den Anschauungen anderer denkender Wesen gar nicht urtheilen , ob sie an die nämlichen Bedingungen gebunden seien,
welche unsere Anschauungen einschränken und für uns allgemein gültig sind.“
Doch die Idealität unserer Anschauung geht noch viel
weiter als in Bezug auf Farbe, Entfernung, äussere Form u. 8. w. Man kann mit Recht behaupten, dass selbst die drei Dimensionen des Raumes nur eine Frucht unserer
Anschauungsweise seien , die grossen Denker und Mathe matiker haben es auch behauptet. Wollen wir auch das durch ein Gleichniss deutlich machen. Wir wissen , dass ein Sonnenstrahl durch ein Prisma gehend in mehrere farbige Strahlen bricht, das heisst in uns die Farbenvorstellung
hervorruft. Wir können unseren Kopf ganz gut als ein Prisma ansehen , das die räumlichen Beziehungen in drei Dimen sionen auseinander zieht oder darauf beschränkt.
So wie
ein dreidimensionaler Körper als Schatten ein Flächenbild gibt , ebenso gut können vierdimensionale Körper oder Er eignisse in einer vierdimensionalen Welt durch die Empfin dungen und Vorstellungen in unserem Kopfe als ein drei dimensionales Bild erscheinen .
Der zweite Band hat eine
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Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
ganze Reihe Thatsachen und Erläuterungen gebracht , wie auf diese Weise eine Menge sonst unbegreiflicher Erscheinun gen eine natürliche Erklärung findet. Heinrich More bat
selbst 100 Jahre vor Kant die Zulässigkeit verschiedener Raumdimensionen erkannt, worauf wir am geeigneten Orte noch zurückkommen werden.
So wie in den früheren Capiteln über unsere Sinnes wahrnehmungen und die Phänomenalität der Materie nicht alles von meinem Leser verstanden werden musste , ohne
Gefährdung des Zweckes , so ist es auch bier ; die eine Ueberzeugung dürfte sich der Leser selbst in dem Falle
des unvollkommenen Verständnisses dieses Capitels dennoch geholt haben, dass der gemeine Verstand mit seinen räum lichen Anschauungen ebenfalls und durchaus auf phänome nalem Gebiete stehe , und wenn die Erklärungen , die ein Kant , Gauss , Zöllner und Andere gegeben , auch fehlerhaft sein würden, wir dennoch einen bekannten Wiener
Refrain anfügen könnten : „ Nichts Gewisses weiss man nicht!"
Mehr ist für unseren Zweck nicht nothwendig.
Wer tiefer eindringen will , der versuche es mit dem Capitel meiner Phil. des g. V. und Zöllner's Werken ; wer die Sache ganz gründlich packen will , kann Wundt und Kant nicht umgehen , da der Eine die physiologische, der Andere die philosophische Seite der Frage bebandelt. Doch giebt es noch einen praktischen Weg zur Er kenntniss der Idealität unserer räumlichen Vorstellungen,
und zwar den Weg der Thatsache, der Erfahrung. Die Gabe des Fernsehens oder Wahrträumens , wie es Schopenhauer getauft, ist eine zwar seltene , weil mehr oder weniger krankhafte Erscheinung, aber eine Thatsache , die nicht mehr zu läugnen ist. Mit einer einzigen solchen Thatsache wäre erwiesen, dass es noch ganz andere Anschauungen und Beziehungen im Raume geben könnte , als wie unser Ver
Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
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stand in normalen Verhältnissen solche kennt, eine Ansicht, welche schon Schopenhauer aussprach.
Wir werden in
einem folgenden Capitel eine Erklärungsweise für das Hell sehen und die Fernwirkung bringen , welche die hier vertretene Anschauung von Materie und Raum kräftig unter stützen wird. Von grossem Interesse ist, was solche Hell seher selbst von diesem Zustande des Fernsehens sagen, wenn gleich diese Aussagen selbstverständlich nicht als baare
Münze, sondern nur als eine Allegorie, als ein Bild genommen werden dürfen. Fechner erzählt von einem Somnambulen, Richard Görwitz , Folgendes : Der oben erwähnte Richard Górwitz sagte von einem neu gebornen Kinde, dessen Geburt er aus der Ferne angezeigt hatte,
im 23. Jahre werde sein Schicksal eine sehr ernste Wendung geben .
Frage: „Was nennst du denn eigentlich Schicksal, Richard ? " Antwort : „ Es ist die Folge des Vergangenen. Das Kleinste, auch wenn es schon vor unserer Geburt geschehen ist, hat eine Folge für und eine Beziehung auf uns ; eine Folge, die sich immer weiter ver breitet und endlich das Schicksal wird oder ist.
Ihr kennt wohl das
Schicksal, könnt aber nicht zurückschauen, wie ich es kann, und denkt Denn was ihr jetzt nun , es wäre Zufall! --- Das ist es aber nicht ! leidet und was euch jetzt freut, dazu war schon lange der Grund
gelegt. Wie eine Blume, wie ein Baum wächst aus dem kleinsten Samenkörnchen , das wir kaum erkennen, so wächst das Schicksal der Menschen aus tiefster Verborgenheit, aus dem Schoosse der
Nothwendigkeit. — Für alles Geschehene sind zureichende Ursachen vorhanden !
Kein Zufall.
Und wenn ich in meinem jetzigen
(magnetischen Zustande in die Zukunft sehe, so sehe ich die fort laufenden Ursachen auf einmal, und der Geist des Schicksals steht vor mir !
Nur ihr nennt es Voraussehen , es sieht sich aber
eigentlich gar nicht voraus , sondern es ist schon jetzt.“ S. 135 sagt Richard : „ Die Zukunft ist ein gar eignes Licht !
Frage : „ Wie meinst du dieses Letztere ?"
Antwort : „ Es ist hell und auch nicht hell ; dunkel und auch nicht dunkel. In Worten, wie Ihr sie habt, lässt
Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
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sich's nicht fassen .
Das menschliche Auge, ich meine sein
geistiges, kann dieses Licht nicht vertragen.“ Frage : ,,Wodurch weist du denn die Zukunft ? Antwort : „ Es strömt mir das Geschehene entgegen
wie ein Aether in hellem Wissen, wie ein Ton im geistigen Hören . “
Der Hellseher Davis schildert sein Hellsehen folgen dermassen :
„ Der Kreis meines Schauens begann sich jetzt zu erweitern .. Zunächst konnte ich die Mauern des Hauses deutlich wahrnehmen. Anfangs erschienen sie mir ganz dunkel und finster ; aber bald wurden
sie heller und dann durchscheinend; und jetzt konnte ich die Wände der angrenzenden Wohnung erblicken. Auch diese wurden alsbald
licht und verschwanden schmelzend gleich Wolken vor meinem heran wachsenden Schauen. Ich konnte jetzt die Gegenstände, das Haus geräth und die Personen in dem angrenzenden Hause ebenso leicht sehen, wie die in dem Zimmer, in welchem ich mich befand.
In
diesem Augenblicke hörte ich die Stimme des Magnetiseurs. Er fragte mich, ob ich ihn deutlich sprechen hören könne. Ich antwortete ihm bejahend. Er fragte dann nach meinen Empfindungen, und ob ich etwas unterscheiden könnte.
Auf meine bejahende Antwort
wünschte er , dass ich gewisse Personen , welche anwesend waren, durch das „ Lesen des Titels eines Buches mit geschlossenen Deckeln
hinter vier oder fünf anderen Büchern davon überzeugen sollte . Nachdem meine körperlichen Augen mit Tüchern fest verbunden waren , stellte er die Bücher in eine horizonale Linie mit meiner
Stirn, und ich sah und las den Titel ohne die geringste Stockung. Dieser Versuch und viele Experimente derselben Art wurden vor genommen und oft wiederholt ; und der Beweis des Sebens un abhängig von den physischen Sinnes - Organen war klar und un zweifelhaft.“ (S. 249.) „ Aber meine Wahrnehmungen flossen noch weiter ! Die weite Oberfläche der Erde wurde viele Hunderte von Meilen vor uneinen
umherschweifenden Blicken , · (die beinahe einen Halbkreis be durchsichtig wie Wasser ... und ich sah die Ge hirne , die Eingeweide und die vollständige Anatomie der Thiere, schrieben),
welche in den Wäldern der Östlichen Hemisphäre umherstreiften,
Hunderte und Tausende von Meilen von dem Zimmer entfernt, in dem ich diese Beobachtungen anstellte !"
-
Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
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Von einem nicht geringeren Interesse ist die Schilde
einer schlichten, nach langer Krankheit plötzlich unfrei willig und nur vorübergehend hellsehend gewordenen Frau. Eine Recension des Pester Lloyd über den zweiten rung
Band meiner „ Vorurtheile “ veranlasste einen Juwelier J. P.
in Semlin mir folgenden Brief zu schreiben , den ich im Auszuge und stylistisch verbessert , aber sonst so ziemlich wörtlich einschalte , (der Schreiber ist ein Serbe und der
deutschen Sprache nicht stylgemäss mächtig ): „ Im Jahre 1861 verfiel meine Schwester, verehelichte J. von N ... zu Vukovar in einen Typhus. Die Krankheit verschlimmerte sich , und das Consilium der Aertzte ergab die Entscheidung : Tod ohne Rettung innerhalb 24 Stunden . Schon nach 14 Stunden gegen 11 Uhr Nachts wurden wir von zwei alten Tanten mit der
Nachricht geweckt, dass die Kranke soeben gestorben sei. Ich, mein Vater, meine Frau und der Gemahl der Sterbenden gingen zum Sterbebette und fanden schon die Kufe bereit, um nach orientalisch -griechischer Weise die Todte zu waschen, was auch geschah ; wenige Minuten nachdem sie anf den
Tisch gelegt war , erwachte die Todtgeglaubte.*) Sie fing an zu reden , obschon sie in der letzten Zeit ihrer Krank heit nicht mehr zu reden vermochte.
Wir erschraken
über diesen Zufall, aber sie fing an, allen Anwesenden die Sünden und Fehler vorzuhalten und verschonte nicht ein
mal ihren Vater ...“
Nun folgt ein Detail ihrer Angaben,
die sich selbst auf gestohlene und genau bezeichnete (und an der bezeichneten Stelle auch wieder gefundene) Gegen
stände der Dienstleute bezogen u. s. w. Dieser Zustand dauerte bis 5 Uhr Nachmittags, und da schilderte sie im
Laufe dieser ihrer Kundgebungen ihr Erwachen auf folgende Weise : „ Gestern Abend gegen 10 Uhr weckte mich ein * ) Wahrscheinlich in Folge des Waschens , was bei Typhus. kranken oft Wunder wirkt.
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Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
ungewöhnliches Geräusch ; alle Zimmerwände schwinden , wie auch der Plafond , ich sah die bimmlischen
Räume , alles offen , alle Sterne stehen wie in der Pyramide u. s. w . “ Sie behauptet im weiteren Ver laufe , dass sie nur ihrer Kinder und nicht ihres Mannes
halber zurückkehre, dass sie gesund bleiben werde bis ihre Kinder aufgewachsen und zum Staunen der Aerzte und ihrer Umgebung waren ihre Angaben nicht nur richtig, sondern es geschah Alles, so wie sie es vorhersagte. Sowohl die objective . Bewahrheitung vieler solcher Behauptungen der Fernseher, als auch die Uebereinstimmung aller in Bezug auf die subjective Empfindung geben einen werthvollen praktischen Beweis , dass die Schranken unserer drei Dimensionen ein Product unserer Organisation, daher
unsere räumlichen Vorstellungen doch nur phänomenaler Natur seien .
Ist es nicht merkwürdig , dass wir es immer mit Ellypsen , Parabeln, Hyperbeln und Brennpunkten zu thun haben , gleichgiltig , ob es sich um optische Gläser, Hohl spiegel , Kugelspiegel , Brenngläser oder Brennspiegel , ob es sich um Schall, Licht, Wärme oder Bewegung und An ziehung der Himmelskörper handelt ?! Ist es nicht merk würdig , dass Anziehung , Licht , Wärme , elektrische und magnetische Kräfte im umgekehrten Verhältnisse der Qua drate der Entfernungen auf unseren Organismus wirken, und Kant diesem Umstande unsere dreidimensionale An
schauungsform zuschreibt ?
Ist das nicht gleichzeitig ein sprechender Beweis , wie nahe verwandt, ja identisch die Anziehung mit den Wärme und Lichtstrahlenschwingungen ist , so dass diese letzteren nur eine Modification der ersteren sind ? Es spricht das aber nicht nur für die Berechtigung, die Aether- Hypothese im Sinne Drossbachs zu beseitigen , und die unmittelbare Wirkung der Sonnen-Bestandtheile anzunehmen, sondern es
Phänomenalität unserar Raumvorstellung.
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beweist die Identität der mathematischen Hülfsmittel für
die Erscheinungen der Optik, Wärme und Gravitation, dass es sich nur um Bewegung und Kraftäusserungen handelt, während die Einwirkung im umgekehrten Verhältnisse des Quadrates der Entfernungen ein rein willkürliches Mass
ist, und eine diessbezügliche Aenderung unserer Organisation genügen würde, unsere ganze Raumanschauung zu verschieben . Es ist eigenthümlich , dass der Inhalt einer Kugel im kubischen Verhältnisse des Halbmessers zunimmt , und die
Anziehung, die doch nicht von der Oberfläche, sondern der
Masse abhängt, im quadratischen Verhältnisse der Entfer nung abnimmt.
Es wäre nicht uninteressant, wenn ein Mathematiker
oder Physiker über die Consequenzen speculiren würde, wenn statt dem Quadrate der Entfernung bei den verschie denen Wirkungen ein anderes Verhältniss gesetzt würde.
Vom phänomenalen Standpunkte haben daher die Ziffern der Astronomie (und der Physik überhaupt) ibre
volle Giltigkeit ; die Natur ist etwas Gesetzmässiges , und so wie mein Bild im Spiegel keine anderen Bewegungen machen kann , als ich selbst , so müssen die Vorgänge in der Welt von x Dimensionen immer ein gesetzmässig ent
sprechendes Bild in der uns sichtbaren dreidimensionalen Anschauungsform liefern – 80 weit wir sie mit dem dreidimensionalen Glas wahrzunehmen im Stande sind.
Was ist es nun , was mein Leser oder gar meine Leserin aus diesem schwierigsten, die grössten Anforderungen an das Denken stellenden Capitel mit hinüber bringen muss ? Wenn ich mittelst einer Laterna Magica Schattenbilder an die Wand werfe , so hängt es von mir ab , sie grösser
oder kleiner, je nach Stellung des Lichtes zu machen ; eine Gesetzmässigkeit der Vorgänge im Zimmer und an der Wand wird bestehen, aber nicht die volle Identität. Jeder meiner
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Phänomenalität unserer Raumvorstellung.
Leser kennt auch das Kaleidoskop , das uns ein ebenfalls gesetzmässig zusammenhängendes, aber nicht identisches Bild gibt. Nun denn , der Mensch ist auch so ein Instru ment, welches wir, da die Bilder dreidimensional sind, und
das Hauptwerkzeug der Kopf ist, ein dreidimensionales Kephaloskop nennen wollen. Mit Hilfe dieses Kephalo skops bekommen wir von den Beziehungen der Objecte in der Welt ein dreidimensionales Bild , welches gezetzmässig,
aber nicht mit dem Original identisch ist, d. b. es existiren Raum und räumliche Beziehungen und Aenderungen , nur
sind sie nicht derartig , als sie in unserem Kopfe stehen. Es ist darum ein ganz falscher Satz der Idealisten , die da lebren, der Raum bestehe gar nicht ausserhalb des Kopfes; es ist aber auch sehr naiv , zu glauben , die Welt stehe
draussen eben so da, wie in unserem Kopfe. Die Raumvor stellung , die von den Beziehungen der Objecte abstrahirt (also durch Ausleerung gewonnen) wird , ist etwas anderes als die Raumvorstellung , welche von diesen Beziehungen abstra hirt.
Der Leser muss begriffen haben , warum das Capitel nicht die übliche Aufschrift : „Idealität des Raumes“,
sondern : ,,Phänomenalität unserer Raumvorstel lung“ trägt. Begreift der Leser diesen Unterschied, so ge nügt das vollkommen ; begreift er ihn nicht, so muss er
das Capitel noch einmal lesen. Denn wer an die Idealität des Raumes in diesem Sinne glauben könnte , wird Wir kungen ohne Ursachen annehmen, da doch etwas vor gehen muss, wenn die Sonne mir Vormittag auf der einen Seite, und Nachmittag auf der anderen scheint; wer hin
gegen an die Identität der vorgestellten und wirklichen Welt glaubt , ist von den Vorurtheilen des gemeinen Ver standes befangen , die zu zerstören meine Aufgabe ist.
Fünftes Capitel . Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit. Das Bewusstsein unserer Persönlichkeit entwickelt sich spät. Das zweidimensionale Spiegelbild und das dreidimensionale Bild im mensch lichen Bewusstsein .
Unsere Sione nebmen nicht wahr, sondern ent
scheiden nur über die Art der Wabrnehmung.
Die früheren Capitel haben die Phänomenalität unserer Sinneswahrnehmungen, der Materie und der Raumvor stellungen nachgewiesen ; unwillkürlich werden wir fragen , wie steht es denn mit uns selbst ? Sind wir nicht aus Materie zu
sammengesetzt und ein Object unserer Sinneswahrnehmung ?
Bewegen wir uns nicht ebenfalls im Sinne der Gesetzmässig keit eines dreidimensionalen Raumes ?
Gewiss , und der Leser kann mit voller Beruhigung den Gedanken ausdenken : Also ist unsere Persönlich
keit phänomenaler Natur !
Allerdings füge ich gleich hinzu : Der phänomenalen Persönlichkeit, wie sie in unserem Kopfe sitzt , muss eben
80 ein Subject entsprechen , als wie den Bestandtheilen unseres Körpers und jeder Materie Realitäten entsprechen ; der Verstand entwirft mit Hülfe der Organisation der Sinne von diesen Realitäten nur verschiedene Bilder.
Die Vorstellung eines Hauses oder einer Blume findet sich nicht fertig im Kinde vor, sondern sie wird entwickelt; auf gleiche Weise entwickelt sich die Vorstellung unserer Persönlichkeit durch Reaction auf Einwirkungen,
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Die Phänomenalität unserer Personlichkeit .
Niemand hat die Phänomenalität unserer Persönlich
keit klarer erkannt und ausgedrückt, als Schopenhauer. Er sah ein , dass zwischen dem Unbekannten , (der eigent lichen Welt) und unserer Vorstellung , der Intellect des
Organismus steht, daher unsere ganze Weltvorstellung mit Einschluss unseres menschlichen „Ichs“ nur Vorstellung,
nur ein Phänomenales ist. In dieser richtigen Anschauung wurzelt das Treffende und Sichere, was einen grossen Theil seiner Werke auszeichnet. Der Irrthum Schopenhauers liegt nur in dem Versuche, das von Kant so vorsichtig genannte
,, Ding an sich“ erkennen zu wollen , oder vielmehr in dem Willen “ und zwar einem grossen metaphysischen Alleinen Willen, die unmittelbare Unterlage unserer Vorstellungswelt zu sehen. Diese Anschauung ist nicht zulässig , weil sie uner weislich und auch in ihren Consequenzen unhaltbar ist; vor Allem aber stehen ihr Thatsachen entgegen , die auf die Function eines Metaorganismus hindeuten und einem solchen metaphysischen Willen vernünftiger Weise nicht zugeschrieben werden können. (Wir kommen in einem späteren Capitel darauf zurück.) Wir haben uns vorläufig nicht mit dem zu beschäftigen ; worin dieser grosse Denker irrte , also auch nicht warum er irrte (der Leser kann die Veranlassung dazu in dem Capitel meiner Philosophie des g. Verst. finden ), sondern es handelt sich um die Phänomenalität unserer Persönlich
keit, welche anzuerkennen Schopenhauer ganz im Rechte ist.* ) *) Schopenhauer argumentirt ungefähr so : die Vielheit ist durch
Zeit und Raum bedingt und nur in diesen denkbar , also ist Zeit und Raum das Principium individuationis. Ausserhalb unserer Vorstellung gibt es weder Zeit noch Raum , daher existirt eine Vielheit nur in
unserer Vorstellung, und hinter dieser kann nur ein Allen gemein schaftlicher Wille stehen. Die Wiederlegung findet der Leser in meiner Philos. d. g. V. Seite 52—111, auch werden wir bei der „Freiheit des Willens" darauf zurückkommen.
Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit .
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Diese will ich nun meinem Leser auf eine gemeinfassliche Weise darlegen . Wie in vielen anderen Dingen ist das Unbewusste,
der Instinkt, auch in der Begriffsbestimmung oft glücklicher
als der Verstand der Verständigen, was sich in der Bildung der Wörter manchmal in auffallender Weise bestätigt.
Person a bezeichnete eigentlich die Maske eines Schau spielers, die Darstellung einer Rolle, und wahrlich ist unsere Persönlichkeit nichts anderes.
Wir sind Schauspieler in
verschiedenen Rollen, und die ganze menschliche Welt, in welcher sich so Manche mit einem lächerlichen Pathos be
wegen , ist nicht viel mehr als ein Bretterboden , auf dem im
geschlossenen Raume Tragödien , Dramen und Possen zur Aufführung kommen , an denen wir theils als Schauspieler, theils als Zuseher mitwirken, nur dass die Handlung sich statt in Stunden , in Jahrzehnten abwickelt ; es gibt eben nicht nur Stunden der Täuschung !
Von keinem Vornrtheile ist der gemeine Verstand am
sichersten befangen, als von der eingebildeten Realität seiner Persönlichkeit, was ganz begreiflich ist, denn er steht nicht
nur unter dem Eindrucke der Tradition seiner Vorgänger, sondern dem seiner eigenen Sinneseindrücke, die ihm eine Aussenwelt und das Gefühl der Unterscheidung von der selben liefern. Und doch ist nichts leichter und zuverlässiger nachzuweisen, als dass unsere Persönlichkeit zwar eine reale Unterlage habe, nichtsdestoweniger aber doch nur ein
Phantom sei , so wie jede wirkliche Wahrnehmung auch
eine objective Unterlage hat , obschon unsere Vorstellung davon eine phänomenale ist. Wir haben bei den Sinnesentwickelungen gesehen,
dass durch die Empfindungen Unterscheidungen, endlich Vorstellungen hervorgerufen werden , zu welchen Vorstellun gen der Leib auch gehört; das Bewusstsein unserer Per Hollenbach, Vorurtheilo. III.
5
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Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit.
sönlichkeit stellt sich erst spät ein . Kinder sprechen von sich , wie von einer dritten Person, durch Substitution des Namens für das „ Ich .“ Da, wie wir weiter gesehen, alle unsere Sinneswahrnehmungen nur phänomenaler Natur
sind, trotz ihrer reellen etwa vierdimensionalen Unterlage 80 ist es einleuchtend, dass auch das Gesammtproduct dieser Unterlagen nur phänomenal sein kann , was uns übrigens durch die Erfahrung ganz handgreiflich wird . Wenn wir schlafen , so erlischt das Phänomen des Bewusstseins und mit diesem auch unsere Persönlichkeit,
um vielleicht im Traume gefälscht aufzudämmern. Die Ver anlassungen zu unseren Träumen sind verschiedener Art, Gedanken , die uns lebhaft oder nur unmittelbar vor dem
Einschlafen beschäftigt haben , Störungen im Organismus, äussere Einwirkungen ; und gerade bei diesen beiden Letzteren zeigt es sich, dass der Einwirkung nur ein analoges, selten das wirkliche Bild entspricht. Bei Wahnsinnigen oder Fieber kranken zeigt es sich sehr oft , dass der Einbildung ent
weder keine oder doch eine ganz inadäquate Realität ent spricht. So wie der Träumende oder Narr von der Phäno menalität seines Bewusstseins im Traume oder Wahne nichts
weiss und nicht daran glaubt, so will es der gemeine Ver stand auch nicht, wenn er nicht im Wege des Denkens zur
gegentheiligen Anschauung gebracht wird . Jede Wahn vorstellung, selbst jeder Traum geben dem denkenden Menschen den klaren Beweis von der phänomenalen Natur der Persönlichkeit.
Die Frage ,
was hinter der Phänomenalität
unserer Persönlichkeit steckt, ob eine individuelle Monade ,
ein „ Unbewusstes “ etc. , ist Gegenstand der Philosophie, und gehört nicht hierher , weil wir hier nur den Nachweis
zu liefern haben, dass unser Bewusstsein rein phänomenaler Natur sei, also auch die Persönlichkeit, die nur langsam aus dem Kindesbewusstsein heraus dämmert. Ich
Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit.
67
werde diese Phänomenalität meinem Leser 80 deutlich
machen , dass er keinen Augenblick weiter daran zweifeln wird , muss aber zu diesem Zwecke zu einem Gleichnisse meine Zuflucht nehmen.
Denken wir uns ein Zimmer , in welchem verschiedene
Gegenstände und Personen sich befinden , welche letztere sich bewegen ; denken wir uns an die Wand dieses Zimmers
oder eines Nebenzimmers einen grösseren Spiegel , der auf seiner zweidimensionalen Fläche ein Flächenbild der
Gegenstände und Veränderungen geben wird , die sich in dem dreidimensionalen Raume des angenommenen Zimmers befinden und an dessen Inbalte zeigen werden. Es ist selbstverständlich , dass Alles sich darin nicht abspiegeln kann , sondern nur das, was unter einem be stimmten Winkel einfällt; auch wird jeder Gegenstand im Flächenbilde verschwinden , der sich hinter einen andern stellt.
Denken wir uns nun eine ausserhalb des Zimmers
befindliche Person , die durch eine Oeffnung wohl auf den Spiegel, nicht aber in das Zimmer blicken kann, etwa durch Reflex eines zweiten Spiegels im Nebenzimmer oder durch ein Loch in der Thüre.
Wenn wir annehmen , dass das dreidimensionale Zim mer und dessen Inhalt die Welt vorstelle , und dass der
Spiegel, durch welchen wir die Welt erblicken , den Orga nismus eines Menschen repräsentire , so wäre das zweidimensionale Flächenbild im Spiegel dem dreidimensionalen Bilde von der Welt in
unserem Bewu 8.8tsein zu vergleichen. Es würden sich dann alle Ereignisse der vier dimen sionalen Welt in unserem Bewusstsein unter einer drei .
dimensionalen Form abspiegeln, ebenso wie sich die Ereig
Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit.
68
nisse im dreidimensionalen Zimmer auf der zweidimen
sionalen Spiegelfläche nur als Flächenbild reproduciren . Das Subject in mir und alle Atome in meinem Kör
per und der Welt sind nicht dreidimensionale Gebilde, wie man in der Regel glaubt, sondern vier- oder x -dimensionale Wesenheiten, wohl aber sind sie dreidimensionale Gebilde unseres Vorstellungsapparates , sie sind gesehen und erzeugt durch den Organismus.
Machen wir
mit Hilfe der Durchführung des Gleichnisses die Sache noch deutlicher; doch möge der Leser den hier folgenden Parallelen
seine besondere Aufmerksamkeit zuwenden . Sollten diese Blätter von weiblichen Augen gelesen werden ,
80 möge meine schöne Leserin nur den Gedanken festhalten, dass der Spiegel an der Wand und das Gehirn im Kopfe dasselbe sind, welche beide ein Bild geben ; der erstere das Flächenbild dreidimensionaler Körper, das zweite ein körper liches Bild einer für den Menschen direct unwahrnehm
baren , daher nur intelligiblen (vierdimensionalen) Welt. Das zweidimensionale
Das dreidimensionale Bild im menschlichen Bewusstsein .
Bild im Spiegel. Es kann sich nichts im
Spiegelbilde zeigen, was nicht im Zimmer veranlasst wurde ... Es kann nichts in der
dreidimensionalen Vorstellung des menschlichen Bewusstseins sein , was nicht die Einwir
kung eines Objectes der intel ligiblen oder vierdimensionalen Welt wäre.
Wohl aber kann so Man ches im Zimmer sein, was im
Die Phänomenalität unserer Persönliohkeit.
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Spiegel nicht gesehen wird, weil es gedeckt oder nicht im geeigneten Einfallwinkel steht. . In der vierdimensionalen oder intelligiblen Welt wird
so Manches, selbst Vieles sein, was in der dreidimensionalen
Anschauungsform unseres Be wusstseins nicht reflectirt wird .
Ist kein Spiegel im Zim mer vorhanden , so kann auch kein zweidimensionales Spiegel.
bild der Geschebnisse enstehen . . Ist kein menschlicher Orga nismus vorhanden, so kann auch das dreidimensionale Spiegel bild der Welt in unserem Be wusstsein nicht entstehen .
Ist der Spiegel convex , concav, roth , gelb oder man. gelhaft, so wird das dreidimen sionale Zimmer und sein In
halt unter ganz anderen For.
men und Farben erscheinen . Ist der Organismus mangel haft oder verändert , so gibt es eine ganz andere Weltvor stellung. Wollen wir uns und das Zimmer als Flächenbild sehen ,
so müssen wir uns einen Spie gel anschaffen
Wollen wir als intelligible oder vierdimensionale Wesen uns und die Welt als dreidimen
sionale Gebilde sehen, so müs sen wir uns einen derartigen Organismus anschaffen .
Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit.
70
Wir können ein Flächen
bild von uns und dem Zim.
mer nur dann haben , wenn wir unsere Blicke von uns und dem Zimmer ab- und
dem
Spiegel zuwenden
Wir können ein dreidimen
sionales Bild von uns , das ist von dem in Frage stehenden
Subjecte nur haben, wenn wir uns von der intelligiblen oder vierdimensionalen wenden.
Welt
ab
Unser eigentliches Ant litz können wir nur durch den
Spiegel sehen
Unseren eigentlichen intelli giblen Charakter können wir nur durch dass dreidimensio
nale „ Ich “ erkennen. Der Spiegel geht früher oder später zu Grunde und mit ihm das zweidimensionale
Der Organismus geht früher oder später zu Grunde und
Flächen bild
mit ihm das dreidimensionale
Gebilde unserer Vorstellung . Zimmer und Inhalt blei
ben , wenn auch der Spiegel
zerschlagen wird .
Die intelligible oder vierdimen sionale Welt und ihr Inhalt
bleiben, wenn auch der Orga nismus zu Grunde geht.
Das anschauende „ Ich“ bleibt , wenn auch der Spie
Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit.
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gel zerschlagen und mit ihm das
Flächenbild vernichtet wird . Das anschauende ( intelligible) Subject bleibt , wenn das Ke phaloskop, diese wunderbare menschliche Laterna magica, und mit ihm das menschliche
„ Ich“ zu Grunde geht. Der
Mensch
sieht
im
Spiegel nicht wirkliche Dinge, sondern nur deren zweidimen sionales Bild . Der Mensch sieht durch sein Gehirn
nicht die wirklichen
Dinge, sondern nur deren drei dimensionales Bild .
Wir wissen , dass wir in dem Spiegel nur ein Bild sehen , dem irgend eine andere Realität entspricht, und nur ein Thier oder ein Sohn der Wüste würde den
Spiegel zerschlagen , wenn aus demselben eine Drohung oder Widerwärtigkeit entgegenleuchtet. Wir wissen, dass die Gefahr nicht aus dem Spiegel droht , der ja nur ein
Bild gibt. Ebenso will ich den Leser auf den philosophisch kritischen Standpunkt erheben , in dem dreidimensionalen Bilde der Welt und unsere Persönlichkeit nur ein phäno. menales Abbild eines andern Subjectes und einer andern
Welt zu erkennen. Der unvergessliche Kant hat ein „ Ding an sich“ als nothwendige Unterlage erkannt , und offen ausgesprochen , dass die Seele und das Ich wohl einerlei
Subject, nicht aber einerlei Person sein können. Gaus , ein Hauptbegründer der vierten Ranmdimen sion , hat dem Anscheine nach diesen Unterschied sich nicht deutlich machen können ; falls wir es nicht mit einem Schreibfehler von Sartorius von Waltershausen zu
thun haben ; denn Letzterer berichtet von ihm : „Gauss - nach seiner öfters ausgesprochenen innersten Ansicht
72
Die Pbänomonalität unserer Persönlichkeit.
betrachtet die drei Dimensionen des Raumes als eine spe
cifische Eigenthümlichkeit der Seele ( ?); Leute , welche dieses nicht einsehen können, bezeichnet er einmal in seiner bumoristischen Laune als Böotier.
Wir könnten uns, sagte
er , etwa in Wesen hineindenken , die sich zweier Dimen sionen bewusst sind, höher über uns Stehende würden viel leicht in ähnlicher Weise auf uns herabblicken , und er
habe, fuhr er scherzend fort, gewisse Probleme bier zur Seite gelegt, die er in einem höheren Zustande später geo metrisch zu behandeln gedächte.“ Die „ Seele “ ist nicht drei dimensional, sondern nur das menschliche Anschauungsver mögen , die Anschauungsform , ist es ; nur das Phantom unserer Persönlichkeit, unser menschliches Bewusstsein , hat
eine dreidimensionale Anschauung, die im Organismus, nicht aber in der Seele ihre Wurzel hat. Schon Heinr. More hat vor 200 Jahren die vierdimensionale Natur der Seele klar
ausgesprochen. Es mag das vielleicht in einer anderen De
finition der Seele liegen, die Gaus vorschwebte, wie denn auch Schopenhauer die Seele aus der Verbindung des Willens mit dem Intellect , vous , hervorgehen lässt, aus
welcher Verbindung aber nur das Bewusstsein hervorgehen könnte, während es die Seele (der Metaorganismus) ist, die sich im Organismus aus Zellen darstellt und das Phantom des Bewusstseins ermöglicht. Selbst Zöllner, dessen Ansichten mir doch am nächsten stehen , drückt sich mitunter in einer Weise aus , die zu Missverständnissen führen kann, wenn er z. B. sagt : „ Dass wir uns in einer dreidimensionalen Welt befinden.“ Nein,
wir haben nur eine dreidimensionale Anschauung der Welt im Kopfe * ). Ebenso kann der Ausdruck : „Die Welt sei *) Dass Zollner die dreidimensionale Anschauung nur für das Produkt des Gehirns hält, hat er mir gegenüber brieflich ausdrücklich
hervorgehoben , es kann also nur von einem Missverständnisse und nicht von einer Meinungsverschiedenheit die Rede sein.
Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit.
73
die Projection einer vierdimensionalen Welt“ nur in dem Sinne und mit dem Zusatze verstanden werden , für unser
Bewusstsein , im Spiegel unseres Bewusstseins. Die Welt ist nur eine , und zwar von x -Dimension , kann aber durch ein 2 , 3 , 4 oder n -dimensionales Glas gesehen oder verstanden werden.
Wir haben gar keine Garantien , dass
unser Neben., Nach-, Unter- und Uebereinander nicht recht eigentlich ein In – einander ist , das wir nach drei Di mensionen auseinanderziehen , was aber ganz gut auch an .
ders auseinandergezogen werden könnte. Hat sich der gemeine Verstand von dem Vorurtheile
der Realität seiner Sinneswahrnehmungen, der Materie, der räumlichen Beziehungen und seiner Persönlichkeit emanci pirt, indem er durchwegs deren Phänomenalität anerkennt und begreift, dann bekommt die Welt für ihn eine andere Beleuchtung. Er ist Demjenigen zu vergleichen , der zwar auch nur das zweidimensionale Spiegelbild vor Augen hat, aber weiss , dass das Flächenbild nur ein Re flex von dreidimensionalen Vorgängen und Ob jecten ist , und daher richtige Rückschlüsse auf die Geschehnisse zu ziehen vermag, die sich im Spiegel reflec tiren . Es wird ihn z. B. nicht überraschen , wenn ein Ge
genstand im Bilde verschwindet, sei es, dass er sich hinter einen Gegenstand stellt oder aus dem Raume tritt , der durch den Spiegel wiedergegeben wird , und dann wieder erscheint, weil er ja weiss, dass er nur ein zweidimensio nales Flächenbild von Dingen, die sich in einem dreidimen sionalen Raume befinden , vor sich hat; er wird Vieles ganz
natürlich finden , was ein Anderer, der das Flächenbild für eine Realität hält, und von der dritten Dimension nichts weiss, absolut nicht begreift. Ist er ein moderner flacher Naturforscher, so wird er vielleicht die unbequeme That sache läugnen. So wie man endlich durch einen Spiegel
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Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit
nicht wahrnehmen könnte, ob es in einem Zimmer warm oder kalt , gut oder übel riechend sei, ebenso bleiben zahl lose Gegenstände und Zustände der nicht phänomenalen Welt für unser Erkenntniss- Vermögen verborgen. Während unsere Haut mit Ausnahme der Wärme
empfindungen in der Regel nur bei unmittelbarer Berührung Empfindungen vermittelt , erstreckt sich der Geruch schon auf grössere Entfernungen ; noch weiter reicht das Em
pfindungsvermögen unseres Gehörs, und von der grössten Entfernung treffen die Lichtstrahlen unsere Sinneswerkzeuge. Wir sehen von Weitem ein brennendes Feuer, während die Empfindung der Wärme nur in dessen Nähe fühlbar wird. Die Sonne ist auch nichts Anderes als ein Feuerherd, doch
ist es die Massenhaftigkeit des Sonnenbrandes, welche alles andere Licht erblassen macht und die Wärmeempfindung auf diese Distanz ermöglicht. Wer durch ein grosses astro nomisches Instrument den Doppelstern Mizard im grossen
Bären betrachtet , von denen der Eine im blauen , der An dere im grünen Lichte erscheint , der wird sich des Ein druckes nicht erwehren können , dass er hier furchtbare unermessliche Gasbrände vor sich habe. Von einer Wärme
empfindung ist begreiflicherweise nichts zu fühlen , aber die Lichterscheinung wirkt aus diesen unermesslichen Räumen
bis auf uns. Wir wissen allerdings, dass die zwanzig Millionen und vier ein halb Billionen Meilen Sonnen- und Fixstern - Ent fernung nur Rechenpfennige sind , doch bleibt das für uns
gleich , denn das Eine ist gewiss, dass die Atome dieser Weltkörper überall hinwirken, wenn auch Entfernung oder die Wirkungen anderer Atome unsere Empfindungsfähigkeit abschwächen oder paralysiren . Wäre das nicht, so wäre es ganz und gar unbegreiflich , wie die Schwingungen bis zu uns dringen , und wollte man das auf Aetherschwingun gen abwälzen , wie die Anziehungskraft im Verhältnisse zur Masse wirken könnten.
Wir wissen, dass alle Kräfte
Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit.
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im umgekehrten Verhältnisse des Quadrates der Entfernung auf uns wirken , wodurch das drei dimensionale Bild der
Welt entsteht, das für uns ebenso phänomenal ist, als das Bild im Spiegel.
Dadurch, dass die Massen für die Anziehung entschei dend sind , ist die actio in distans ( nach unserer Vorstel
lung) für Alles, was wir Materie nennen, sichergestellt; dann hört das Wunderbare aber auf, dass z. B. Geschehnisse in
London bis nach Wien wirken können, weil das gar nicht anders sein kann ; das Wunderbare läge nur in der Fähig. keit, diese Wirkungen empfinden zu können , un sere Sinne vermögen es nicht, aber aussersinnlich ist Aehn worden.. liches wohl schon berichtet worden
Unsere Gedanken
und Willensanstrengungen sind auch wirkende Kräfte, und es gibt Menschen , die eine ganz aussergewöhnliche Kraft in dieser Richtung besitzen (siehe II. Bd. der Vor
urtheile ) und ebenso gibt es welche, die solche Ein wirkungen empfinden .
Es ist nicht wunderbar, dass die Schwingungen aller Geschehnisse im Weltall irgendwo zu finden sind, sie müssen sogar existiren , das Wunder läge nur darin , wenn man sie finden und empfinden könnte. Der Blick in die Zu kunft gehört nicht hierher, weil er weit mehr einem Ueber sehen der Kette von Ursache und Wirkung , Motiv und Handlung, als einer Fernwirkung oder Empfindung zu ver gleichen wäre , wenngleich unsere Zeitauffassung zweifels ohne nur phänomenaler Natur ist , da das Zeitmass eben falls mit der Organisation zusammenhängt. Diese Eigen schaften der Allgegenwart und Allwissenheit hat der mensch liche Geist in der Gottheit personificirt. Alle Erscheinungen und Behauptungen der Mystiker in Bezug auf Somnambu lismus, Hellsehen, richtige Hallucinationen brechen als über natürliches Wunder zusammen , und gewinnen eine natür
liche Unterlage, insoweit sie wirkliche Thatsachen sind.
76
Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit.
Das Wunderbare bleibt anch in allen diesen Fällen nur die
Empfindungsfähigkeit. Die Folge davon ist aber, dass nothwendig etwas da sein muss , was zu empfinden vermag , denn die Sinne sind es nicht , die empfinden, sondern sie vermitteln die Qualität der Empfindung; die Zellen als Bestandtheile unserer Organe können dieses einheitliche, für die ganze Lebensdauer identische Bewusst sein der Empfindungen nicht herstellen , was die ehrlichen
und intelligenten Naturforscher auch zugestehen . Wir kom men also auch bei Betrachtung des physikalischen Vorgan ges , wie unsere Sinneswahrnehmungen entstehen , und bei
der Analyse, was denn eigentlich die Materie und der Raum seien , immer wieder zu dem alten Satze Kant's, dass die
Seele und das „ Ich “ des Bewusstseins wohl einerlei Subject, nicht aber einerlei Person sein könnten .
Bevor wir zu der Aufgabe schreiten , den Hintergrund unserer phänomenalen Weltvorstellung zu suchen , müssen wir noch einen Blick auf die vermeintliche Freiheit des
Willens werfen ; nicht nur , weil auch darin ein Vorurtheil des gemeinen Verstandes zu finden ist , sondern auch weil
der „intelligible Charakter“ Kant's damit im innigen Zu rammenhange steht, in welchem deutliche Spuren unserer Doppelnatur zu finden sind. Wohl gemerkt : Nicht etwa im alten dualistischen Sinne von Körper und Geist !
Wir
werden nur die Spuren von der pbänomenalen , empirischen
Persönlichkeit einerseits, und von dem nicht phänomenalen, nicht empirischen, sondern nur intelligiblen Subject anderer seits finden .
Kant hat durch die Unterscheidung eines empirischen und intelligiblen Charakters, in welchen letzteren er die Freiheit verlegt, um der Verantwortlichkeit gerecht werden zu können , der dualistischen Anschauung in meinem Sirne
vorgebaut. Es ist von grossem Interesse, die Anerkennung
Die Phänomenalität unserer Persönlichkeit.
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und andererseits die Bekämpfung der Kant'schen An schauung durch Schopenhauer zu verfolgen ; man wird daraus sehen, dass Kant der Wahrheit weit näher stand, als
Schopenhauer. Nichtsdestoweniger sind beide in Bezug auf die Grundlage der Ethik irre gegangen .
Sechstes Capitel . Die scheinbare Freiheit des Willens. Die Erfah Kant und Schopen .
Die Freiheit des Thuns und die Upfreiheit des Willens.
rung ändert das Wollen , also den Charakter. bauer.
-
Die Nothwendigkeit unserer Handlungen und das Gefühl unserer Verantwortlichkeit.
Zu den Vorurtheilen des gemeinen Verstandes zählt
begreiflicherweise die vermeintliche Freiheit des Wil. lens. „Ich kann thun , was ich will“, ist ein ganz rich tiger Satz, doch beweist dieser nur die Freiheit des Thuns
(wofern keine physischen Hindernisse vorliegen ), nicht aber die Freiheit des Willens. Kann ich auch wirklich wollen , was ich will ? Diese Frage hat schon Schopenhauer ge stellt, und im verneinenden Sinne glänzend beantwortet. Es würde daher genügen , auf ihn zu weisen , wenn er nicht zu Gunsten seiner Ethik Aufstellungen gemacht hätte , die nicht stichhaltig sind und die uns zwingen , ihn bei seiner Argumentation zu begleiten. Darin aber können wir mit Schopenhauer ganz übereinstimmen, wenn er sagt: „ Du kannst thun was Du willst, aber Du kannst in jedem ge gebenen Augenblicke Deines Lebens nur ein Bestimmtes
wollen und schlechterdings nichts Anderes, als dieses Eine. “ Sowie die Ursache die Wirkung unabänderlich nach sich zieht, ebenso ziehen die Motive unseren Willen in
Die scheinbare Freiheit des Willens.
79
bestimmte Bahnen, und hängt unser Thun und Lassen nur
von der Entscheidung der sich etwa widersprechenden Mo tive (ven welchen eines das Stärkere wird ) und von der Be scha ffenheit unseres Charakters oder Willens
a b. So weit ist an der Argumentation nichts auszusetzen. Seite 48 seiner beiden Grundprobleme der Ethik (2. Ausg. 1860 ) nennt er aber den menschlichen Ckarakter con
stant und unabänderlich , obschon er Seite 50 aus drücklich sagt, dass zu den völlig gleichen Umständen auch „ die richtige Kenntniss dieser Umstände gehöre“, da aber diese durch Bildung und Erfahrung eine veränderliche
Grösse ist , so kann man schon aus diesem Grunde nicht behaupten , dass sich der Mensch nie ändere“ , welchen Einfluss Gesundheit, Lebensweise und selbst das Alter
haben , ist bekannt; eine Aenderung des Charakters ist daher nicht ausgeschlossen, wie das die Erfahrung auch in einzelnen Fällen bestätigt.
Aus der besseren Erkenntniss, der grösseren Befrie digung nach vernünftigen und edlen Handlungen erwachsen zuerst Motive, endlich entwickelt sich durch Erfahrung und
Uebung der unbewusste Instinkt, in welchem die natür liche Anlage des Charakters liegt.
Es wird auch Niemand
in Abrede stellen können , dass die gute oder schlechte Behandlung eines Kindes Dispositionen erzeugen kann, die im Laufe der Zeit wieder modificirt werden können. Damit
soll nun nicht gesagt sein , dass ein ursprünglicher mehr constanter Rest nicht erübrige , über dessen Ursprung und Beschaffenbeit wir später zu sprechen kommen. Sobald man zugiebt, dass wir durch Erfahrungen Motiven zugänglich ge macht werden können, denen wir früher unzugänglich waren
und Schopenhauer giebt dies zu (S. 52) — so kann von der Unveränderlichkeit des Charakters nicht mehr die Rede sein.
80
Die scheinbare Freiheit des Willens.
„ Es ist ihm zur zweiten Natur geworden“, ist ein sehr häufig gebrauchter Ausdruck, der nicht nur für Tabakrau
chen, Weintrinken und Morpbium -Einspritzungen gebraucht wird , sondern auch für das Streiten , Hassen und Lieben ; die Thätigkeiten capitalisiren sich zu Fähigkeiten , deren Gesammtresultat in ethischer Beziehung den Charakter eines Menschen ausmachen . So pflegt man auch zu sagen :
„ So wie ich ihn kenne, wird er so handeln“. Erfahrungen, von denen wir nichts wussten , können ihn aber leicht
anders handeln lassen, darum ist die bedingte Aeusserung, ,,80 wie ich ihn kenne“, ganz am Platze. Es ist eine ganz richtige Anschauung Schopen hauers , in letzter Analyse nur Wohlwollen und Uebel
wollen oder Aufopferung und Egoismus zu unterscheider , doch können beide auch die Frucht der phänomenalen em pirischen Geschicke sein ; und noch weniger wird man be zweifeln können , dass die angeborenen , im Zellmateriale
liegenden Verschiedenheiten von Temperament und Muth , welche sich selbst in Krankheiten plötzlich ändern, im Laufe der Zeit wesentlich modificirt werden können . Es ist nicht
möglich, von der Metaphysik her beim Ursprung des Cha rakters zu beginnen : im Gegentheile, wir müssen den um gekehrten Weg einschlagen , und von der Handlungsweise eines Erwachsenen ausgeben , wir werden den Lebenslauf nach rückwärts verfolgen müssen , soweit es eben geht, weil nur auf diese Weise festgestellt werden kann, ob ein uner klärter Rest es nothwendig macht an einen intelligiblen Charakter zu appelliren , was so viel heisst, als in eine intelligible Welt greifen.
Die momentane Stimmung und bisherige Erfahrung werden in erster Linie das Handeln eines Menschen be
stimmen ; dadurch werden wir also auf die Lebensstellung, das Erkenntnissvermögen , die Erziehung und die Summe der gemachten Erfahrungen gewiesen, und müssen wir diese
Die scheinbare Freiheit des Willens.
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Momente bis zu den ersten Lebenseindrücken , endlich in die Beschaffenheit des Zellenmaterials verfolgen , aus welchen der Organismus aufgebaut wurde. Jeder hat die Erfahrung gemacht, dass der Genuss des Weines auf die verschiedenen Personen verschieden
wirkt, und der blosse Genuss des Alkohols einen ganz an deren Charakter hervorbringen kann ; ich hatte in Croatien
Gelegenheit, diesbezüglich Studien zu machen, wo bei Gast malen sämmtliche Tischgenossen unter bestimmten Forma litäten so ziemlich gleiche Quantitäten zu sich nehmen und ein gewisser Grad von Anheiterung obligatorisch wird. Es werden aber nicht Alle heiter ; der Wein hat bei den
selben Individuen immer dieselbe Wirkung : diese
werden gesprächig, schweigsam , ausgelassen heiter, traurig, zänkisch , zärtlich. Bei einem Stuhlrichter machte ich die Bemerkung, dass nach einer bestimmten Menge genossenen Weines immer ein und dasselbe Lied von ihm intonirt
wurde. Diese Zustände treten bei den bestimmten Indivi duen mit Nothwendigkeit ein. Für die Abhängigkeit unserer Handlungsweise von der Organisation gibt ein interessanter
Fall Zeugniss, den Professor Maud sley in einem Vortrage am University College in London erzählte. Vor einigen Jahren wurde ein Bergmann in das Ayrshire District Asylum (Irrenhaus) gebracht, welcher vier Jahre früher durch eine fallende Kohlenmasse, die ihm den Schädel brach, bewusstlos hingestreckt worden war. Er lag vier Tage ohne Bewusstsein, kam langsam zu sich und war nach vier Wochen im Stande, die Arbeit im Schachte wie der aufzunehmen .
Allein sein Weib bemerkte eine zuneh
mende Veränderung zum Schlimmen in seinem Charakter. Während er früher heiter, gesellig und gutmüthig , stets
gütig und freundlich gegen seine Familie war , zeigte er sich jetzt reizbar, launisch , mürrisch , misstrauisch , mied die Gesellschaft seiner Arbeitsgenossen und war ungeduldig Hellon bach , Vorurtheile. III.
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Die scheinbare Freiheit des Willens.
gegen Frau und Kinder.
Dieser Zustand verschlimmerte
sich ; er war oft aufgeregt, drohte seinem Weibe und An deren mit Gewalt ; endlich wurde er ganz verrückt, hatte eine Reihe epileptischer Anfälle, und nach einem versuchten Morde an seinem Weibe war man genöthigt , ihn als einen gefährlichen Irren der Irrenanstalt zu übergeben . Hier war er ausserordentlich misstrauisch und verstockt und hatte
die fixe Idee, das Opfer einer Verschwörung seines Weibes und Anderer zu sein ; die vorherrschenden Gefühle waren Bitterkeit und Rachsucht . An der Stelle des Schädelbruches
war eine deutliche Depression des Knochens wahrnehmbar und man entfernte den deprimirten Knochentheil mittelst Trepans. Von diesem Augenblicke ab trat eine Besserung in seinem Gemüthszustande ein , indem sein früheres Selbst allmählich zurückkehrte; er wurde wieder heiter, thätig und
verbindlich , gewann die alte Zuneigung zu Weib und Kin dern wieder und wurde endlich als geheilt entlassen . Mit
der physichen Ursache verschwand die geistige Wirkung. Daraus folgt nun allerdings nicht, dass in diesen Fac toren überhaupt und allein die Entscheidung liege, und es tiefer greifende Unterschiede nicht gebe , d. h. es ist nicht anzunehmen, dass Jeder von uns, wenn er als Herzog von Reichstadt geboren worden wäre – also das Zellenmate
rial Napoleons und Maria Louisens zur Verfügung, und die ihm eigenthümliche Lebensstellung inne gebabt hätte genau den Charakter desselben aufgewiesen hätte, und dass nicht ein ursprüngliches Etwas massgebend gewesen wäre,
demzufolge ein anders gearteter Reichstadt zum Vorschein gekommen wäre. Wir sehen im Leben nur zu oft, dass aus den ungünstigsten Verhältnissen edle Naturen, und aus den
günstigsten Scheusale hervorgehen ; wir wissen und kennen den stupenden Unterschied , der sich zwischen Verwandten und Brüdern ergibt - wir werden später noch darauf zu rückkommen
aber das hindert nicht , dass wenn ein
Die scheinbare Freiheit des Willens.
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noch so tiefgreifender Unterschied zwischen zwei Indivi duen auch besteht (was keinem Zweifel schon zu Folge des Gefühles der Verantwortlichkeit unterliegt ), wir dennoch in den Lebensbedingungen genügende Factoren haben, um die Unwandelbarkeit eines Charakters nicht aussprechen zu können.
Wer
alle
diese
Factoren
auf einmal
überblicken
könnte , würde allerdings das Fatidike des menschlichen Lebens einsehen , und mit Recht auf die Nothwendig . keit unserer Handlungen schliessen , nicht aber auf die Unveränderlichkeit unseres Charakters , denn dessen Heranbildung unterliegt ebenfalls dem Gesetze der Nothwendigkeit. Schopenhauer hat ganz recht, wenn er sagt:
„ Durch das, was wir thun, erfahren wir blos, was wir sind “ . Da wir aber doch im Laufe der Zeit durch bessere Kennt
niss der Motive auch Anderes , thun “, so folgt nur daraus,
dass wir anders geworden sind ; es hilft nichts zu sagen , unsere Einsicht habe sich blos geändert, weil sich mit dieser eben der Charakter nach und nach auch ändert.
Schopenhauer führt Aeusserungen Priestley's zu seinen Gunsten an , in welchen sich aber geradezu meine
Ansicht abspiegelt. Dieser sagt: „ Wenn sich Jemand strenge prüft und alle Umstände in Anschlag bringt, so kann er sich überzeugen, dass bei derselben inneren Stimmung und genau derselben Ansicht der Dinge , die er damals hatte, mit Ausschluss aller seit dem durch Ueberlegung erlangten Ansichten , er nicht anders handeln konnte, als er gehandelt hat.“ Das kann man ohne weiters unter schreiben ; da aber zwischen einer und der andern Hand
lung Folgen und Erfahrungen aller Art liegen , so wird der Fall der „gleichen Ansicht“ nicht immer eintreffen , und je mehr Zeit und Erfahrung, also auch Erkenntniss dazwischen liegt, um soweniger liegt eine Nothwendigkeit vor, wieder so 6*
Die scheinbare Freiheit des Willens.
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zu handeln - es sei denn, dass die Erfahrung eine befrie digende und die Neigung zur gleichen Handlung eben eine
stärkere geworden ist. In dieser Erfahrung und Gewohnheit wächst eben der Charakter heran .
Selbst der metaphysische Rest oder ursprüngliche Typus ist auch nichts Anderes, als eine Frucht der Er fahrung , zu welcher Einsicht wir später kommen werden. Falckenberg spricht in der „ Zeitschrift für Philo sophie “ über den intelligiblen Charakter und meint : „ Der
intelligible Charakter fällt in die Sphäre der Ewigkeit. Em pirischer und intelligibler Charakter verhalten sich wie Zeit und Ewigkeit.“ Ich will ein solches Wort wie Ewigkeit
nicht gebrauchen, aber gewiss ist , dass die Entwickelung des „intelligiblen Charakters , nicht in die Spanne Zeit fällt, welche Menschenleben ausmacht, sondern von früher datirt; darum aber kann er doch ein Product der Er fahrung, Anpassung und Entwickelung sein. Gerade darum , weil er es ist , haben wir die Empfindung der Verantwortlichkeit , in welcher Empfindung einer der kräftigsten Beweise liegt , dass wir unser Sein nicht einzig und allein der chemischen Zusammensetzung verdanken, die
uns durch die Geburt geworden ; dass wir keine Dampf maschine sind, die ohne Verantwortung schafft oder wüstet,
eine Frage, die ihre Lösung später finden wird. Trotz alledem ist der Freiheit , also der Verantwort
lichkeit, selbst durch Schopenhauer kein Damm gezo gen ; er glaubt mit Kant die Freiheit mit der empirischen
Nothwendigkeit vereinbaren zu können ; er meint, der Mensch kann zwar nicht anders handeln , als er seine Natur nach ist , aber er könnte anders sein ; daher denn
die Verantwortlichkeit nicht die That, sondern immer den Charakter des Thäters trifft.
Schopenhauer sagt Seite 96 , Grundprincipien der Etbik :
Die scheinbare Freiheit des Willens.
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Jenes von Kant dargelegte Verhältniss des empirischen zum intelligiblen Charakter beruht ganz und gar auf dem, was den Grund zug seiner gesammten Philosophie ausmacht, auf der Unterscheidung
von Erscheinung und Ding an sich : und wie bei ibm die vollkommene empirische Realität (?) der Erfahrungswelt zusammen besteht mit ihrer transcendentalen Idealität (? ); ebenso die strenge empirische Nothwendigkeit des Handelns mit dessen transcendentaler Freiheit. Der empirische Charakter nämlich ist, wie der ganze Mensch, als Gegenstand der Erfahrung cine blosse Erscheinung , daher an die Formen aller Erscheinung, Zeit, Raum und Causalität gebunden und deren Gesetzen unterworfen . Hingegen ist die a's Ding an sich von
diesen Formen unabhängige und deshalb keinem Zeitunterschied unterworfene, mithin beharrende und unveränderliche Bedingung und
Grundlage dieser ganzen Erscheinung sein intelligibler Charakter, d. h. sein Wille als Ding an sich , welchem , in solcher Eigenschaft, allerdings auch absolute Freiheit, d. h. Unabhängigkeit vom Gesetze der Causalität als einer blossen Form der Erscheinungen ) zukommt. Diese Freiheit aber ist eine transcendentale, d. h. nicht in der Er
scheinung hervortretende, sondern nur insoferne vorhandene, als wir von der Erscheinung und allen ihren Formen abstrabiren , um zu dem zu gelangen, was ausser aller Zeit, als das innere Wesen des
Menschen an sich selbst zu denken ist. Vermöge dieser Freiheit sind alle Thaten des Menschen sein eignes Werk ; so nothwendig sie auch aus dem empirischen Charakter bei seinem Zusammen
treffen mit den Motiven hervorgehen ; weil dieser empirische Cha rakter blos die Erscheinung des intelligiblen , in unserem an Zeit, Raum und Causalität gebundenen Erkenntnissvermögen , d. h. die Art und Weise ist , wie diesem das Wesen an sich unseres eigenen Selbst sich darstellt.
Schopenhauer stellt hier einen Satz auf , der überhaupt nicht richtig ist, und überdies auf einem Miss verständnisse der Kant'schen Anschauung beruht. Bei der Wichtigkeit der Frage, nämlich der Frage der Grundlage der Moral , und wegen des Unterschiedes, der zwischen Kant und Schopenhauer , wie nicht minder zwischen diesem und der hier niedergelegten Anschauung besteht, wird es gut sein , den Gegenstand etwas gründlicher zu untersuchen ,
Die scheinbare Freiheit des Willens.
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Meine Leser werden ohnebin wissen , dass von einer
„ empirischen Realität“ und „ transcendentalen Idealität“ nicht die Rede sein kann , sondern gerade um
gekehrt haben wir die empirische Phänomenalität und transcendentale Realität, und zwar diese letztere als Un terlage der ersteren , erkannt.
Gerade unsere Erfahrungen
und wissenschaftlichen Errungenschaften sind phänomenaler Natur , und in der transcendentalen Unterlage liegt das Reale. Es ist daher von durchschlagender Wichtigkeit, einzusehen , wienach ein so gewaltiger Denker, wie Scho
penhauer , auf eine derartige Interpretation Kant's ge rathen konnte.
Während Kant nur die Idealität unserer Raum- und Zeitauffassung lehrte, und als Formen unserer An schauungsweise betrachtete , welche dem Dinge an sich nicht nothwendig ankleben , sondern von unserer physiolo gischen Beschaffenheit abhängen , legte Schopenhauer den Worten Kant's den Sinn bei , dass Zeit und Raum
überhaupt dem Dinge an sich nicht angehören und ausser
halb unserer Vorstellung gar nicht existirten , mithin eine Vielheit oder Individuation ausserhalb unserer Vorstellung
gar nicht möglich sei. Wir können es unterlassen, die Sätze Kant's hier zu reproduciren , weil erstens diese Frage in meiner Philosophie des gemeinen Verstandes bereits er örtert wurde und dort zu finden ist , und weil es zweitens
genügt , darauf hinzuweisen , dass Kant an vielen Stellen von
der der
möglichen verschiedenen Daseinsweise anderer
Wesen spricht, unseren dreidimensionalen Raum als Frucht des Gesetzes der Einwirkung im umgekehrten Verhältnisse des Quadrates der Entfernung bezeichnet, die Möglich
keit einer anderen Einwirkung ausdrücklich zu gibt, daher immer nur von der Phänomenalität un serer Raumanschauungen spricht, aber nirgends sich klar darüber äussert , dass es ausserhalb unserer Vorstellung
Die scheinbare Freiheit des Willens.
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einen Raum und eine Zeit nicht gebe, im Gegentheile er betont ausdrücklich , dass der Raum kein blosses Ge dankending sei.
Doch angenommen selbst , dass tief im Hintergrunde alles Seienden ein solcher an Raum und Zeit nicht gebun dener „ Wille” auch anzutreffen wäre, so ist durchaus nicht der Schluss zu ziehen, dass wir Menschen und Alles, was wir Erscheinung nennen, direct diesem All- Willen entsprossen, insbesondere könnten wir lebende Wesen nur Erscheinungs
formen anderer Wesen und unser Bewusstsein nur das ge brochene Licht eines anderen ursprünglichen Bewusstseins sein. Meine Leser wissen überdiess, dass die Existenz von Wesen uns unbekannter Raumanschauung und Thätigkeit
erfahrungsgemäss erwiesen ist.
Wenn Schopenhauer wirklich Recht hätte, so wäre es nicht abzusehen , wie die ursprüngliche von ihm behaup tete Verschiedenheit des Charakters aus dem Einen
Willen hervorgehen sollte , während andererseits der Ver. schiedenheit des intelligiblen Charakters ganz gut ihre Erklärung findet, wenn wir nur die Erscheinungsform eines Wesen sind.
Dann erst bekommt das „ operari sequitur
esse" einen klaren Sinn, weil die Verschiedenheit des „ esses erklärlich wird, wenngleich auch diese ganz gut ein noth
wendiges Entwicklungsproduct und die Freiheit auch hier ausgeschlossen sein kann ; überflüssig ist sie jedenfalls ohne
Schädigung unserer Verantwortlichkeit, da man sie nur weiter zurückzuführen braucht.
Schopenhauer dürfte
von einer Verschiedenheit und Verantwortlichkeit des in
telligiblen Charakters gar nicht sprechen , weil er die In
dividuation auf das irdische Dasein beschränkt, sondern müsste diessbezüglich die materialistische Anschauungsweise theilen .
Hat das irdische Gesetz den Zweck , durch Androhung
der Strafe oder noch mehr durch deren Erleidung ein Motiv
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Die scheinbare Freiheit des Willens.
zu werden , und ist es die Erfahrung , welche die Motiva tion beeinflusst, um bei gleicher äusserer Einwirkung doch anders zu handeln , so kann bei meiner Weltanschauung durch die das Menschenleben weit überdauernde Erfahrung
dass Esse des intelligiblen Charakters gerade so erklärt werden , wie die Beschaffenheit des empirischen durch die Lebenserfahrung auch beeinflusst und erklärt wird. Das ab streiten zu wollen , wäre geradezu ebenso kindisch , als wenn man behaupten wollte , dass ein verbranntes Kind
nicht vorsichtiger mit dem Feuer umgeben werde. Es wäre lächerlich , den ganzen Lebenslauf eines Menschen ohne irgend welche Resultate für den intelligiblen Charakter zu halten .
Man betrachte einmal die sterbenden oder auch
nur dem Grabe näher stehenden Menschen , wie sie mit ihrem moralischen Werthe und ihrem Lebenszwecke sich
beschäftigen , und gleichsam darüber Buch führen , ob ihr intelligibler Charakter mit Gewinn oder Verlust aus diesem Leben scheidet. Bittere Erfahrungen haben selbst im empi rischen Leben Verschwender und Wüstlinge denn doch vor sichtiger gemacht und anders handeln lassen . Wie weit richtiger meine Auffassung über die Frei heit des menschlichen Handelns ist , wird sich am besten
ergeben , wenn wir die Schopenhauer'sche Grundlage
der Moral prüfen werden. Vorläufig haben wir nur zu con statiren gehabt, dass der menschliche Wille unbedingt den Motiven , die auf ihn ein wirken, folgt, dass aber Erfahrung
und Erkenntniss ihn dahin bringen , unter sonst gleichen Verhältnissen anders zu entscheiden ; es liegt die Entschei
dung allerdings im Esse , aber dies ändert sich immer mehr und mehr, und erfäbrt die eigentliche und wesentliche Aenderung durch den Abschluss des tragischen Lebens romanes. Diesem Umstande ist es vor Allem zuzuschreiben, warum Menschen , die eine spiessbürgerliche Existenz füh
ren an Trauerspielen, Schauerromanen, Hinrichtungen u. s. w.
Die scheinbare Freiheit des Willens.
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Vergnügen finden , oder besser gesagt, das Bedürfniss
fühlen , die Aufregung zu suchen , welche ihnen das Leben nicht bietet. Obschon ich keine Romane lese , etwa mit Ausnahme solcher , die man aus gesellschaftlichen Rück sichten gelesen haben muss, so begreife ich doch vollkom men , dass die Lectüre eines guten Romanes oder irgend eine dramische Vorstellung einen gewissen Erfahrungs werth für das Gemüth eines Menschen haben könnte; dass solche Lectüre schlechte Wirkungen hervorgebracht, ist in vielen Fällen konstatirt worden, doch eben darum sind die
guten Wirkungen in anderen Fällen unzweifelhaft.
Die Nothwendigkeit unserer Handlungen scheint uns die Verantwortlichkeit zu nehmen, und doch fühlt fast Jeder,
wenn er nur etwas über das Thier herausragt, dass dem nicht so sei. Seine Befriedigung oder Nichtbefriedigung nach vollbrachter That sprechen laut dagegen ; es fühlt Jeder, dass er so oder so eigentlich handeln sollte. Auf
dieses „ Sollen “ hat man versucht, eine Ethik aufzubauen, und von einem Sittengesetze in uns gesprochen u . s. w . Wir wollen vorläufig nur die Thatsache constatiren , dass dieses „ Sollen" besteht und auf ein Subject in schliessen läst, welches von dem phänomenalen „ Ich“ sich unterscheidet.
Die Sache aufzuklären , warum es mich befriedigt, wenn ich die Probe in irgend einer Verwickelung meines Lebens gut bestehe, und warum mich das Gegentheil nicht befriedigt, ist keine so einfache Sache. „ Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer" ; die Richtigkeit dieses Schopenhauer'schen Spruches werden wir aus einer eigenen mangelhaften Begründung nachweisen. Die Schwierigkeit der Begründung liegt in dem Zusammenhange derselben mit der Metaphysik , in diesem speciellen Falle mit der Provenienz und Zukunft des inneren Wesens der menschlichen Erscheinung , wie das schon
Die scheinbare Freiheit des Willens
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Wolf und Kant anerkannten . Das metaphysische Gebäude
für die grosse Majorität der Menschheit besorgt die Reli gion ; die Minorität hat kein metaphysisches Bedürfniss und darum auch keine in Fleisch und Blut übergegangene Re
ligion ; nur ein kleiner Rest von Philosophen ist es, für den
die Welt nicht lediglich den Tummelplatz phänomenaler Genüsse abgibt. Sie haben auch eine Religion, wenn diese auch keine geoffenbarte, durch Feuer und Schwert, Gesetz und Polizei legitimirte ist. Daher sind sie es, welche die Grundlage der Moral suchen und sich darüber zanken . Ueber das in uns existirende „Du sollst“ ist kein Zweifel; selbst der Verbrecher fühlt unter Umständen , dass er etwas gethan , was er nicht hätte thun , sollen ". Aus diesem Sollen ist der Glaube von der Freiheit des Willens
entstanden ; wir haben gesehen , dass diese nur scheinbar ist , und doch fühlen wir die Verantwortlichkeit - nicht für unser Thun , sondern für unser „ Sein “. Der Aus
druck : „ ich schäme mich, so etwas gethan zu haben, ist .ein Vorurtheil des gemeinen Verstandes, und müsste lauten : „ich schäme mich meiner Beschaffenheit , so etwas thun zu können oder zu müssen ; ich hätte anders thun , d. h. sein sollen. Waum aber sollen wir ?
Bei vielen ist die Antwort leicht : ,,Weil es das Gebot
Gottes ist , und wir dafür belohnt oder bestraft werden . “ Nun meint Schopenhauer, dass „ eine gebildete Stimme, sie mag von Innen oder Aussen kommen , schlechterdings nur drohend oder versprechend gedacht werden könne, dann
aber wird der Gehorsam gegen sie zwar nach Umständen klug oder dumm , jedoch stets eigennützig , mithin ohne moralischen Werth sein .“
Das erste , was gegen diese Aufstellung eingewendet werden kann , ist , dass eine solche Handlung nicht nur „ dumm oder klug" gedacht werden könne , sondern ganz
Die scheinbare Freiheit des Willens.
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unabhängig von Strafe oder Belohnung , als angenehm oder unangenehm ; und zwar in gleicher Weise als ich das Verständniss oder Nichtverständniss der Wagner'schen Musik weder dumm noch klug nennen kann , sondern an
genehm oder unangenehm ; der Lohn kann in der Befriedi gung liegen. Schopenhauer thut Kant daher sehr unrecht, wenn er ihm insinuirt, dass „ er etwas an die lie ben Engelein“ gedacht hätte; ich brauche nicht immer an die Belohnung zu denken, um wohlwollend zu sein. Sobald man vom „ moralischen Werthe“ spricht, so muss man nothwendig an eine Art Belohnung denken ; Werth ist ein relativer Begriff, und nur das kann Werth Wenn Schopen . hauer der Kant'schen Ethik den Vorwurf des Egoismus macht, weil deren Grundsatz die bekannte Formel : „ Quod tibi fieri non vis, alteri non feceris" ist , so wird es sich bald herausstellen , dass der Vorwurf des Egoismus noch haben , was sich verwerthen lässt.
weit mehr der Schopenhauer'schen Ethik gemacht wer den kann, welche zweifelsohne die egoistische ist. Die Re gel: „ Neminem laede, imo omnes , quantum potes , juva “, ist schön und wahr , aber es muss das „ Warum “ doch an gegeben werden und so entscheidend sein, dass dem Egois
mus und der Bosheit daraus ein ebenbürtiger Gegner er wachse, was nach Schopenhauer selbst das „heic Rhodus heic salta“ jeder Ethik ist.
Das Gewissen sagt allerdings: „Es wäre gut , Du soll test“ , es liegt dieses Sollen gleich einer Ahnung in der Brust (allerdings nicht im Thiere und thierischen Menschen ), in der Aufstellung einer Ethik aber muss das Sollen er
klärt und gewusst , nicht aber nur gefühlt werden. So wie wir sagen, Du sollst nicht zu viel essen oder schlafen, wachen u. 8. W. , weil es Dir nicht zuträglich ist, so muss für das Sollen in moralischer Beziehung ebenfalls das Motiv gefunden werden , wenn es aus dem blossen Abnen heraus
92
Die scheinbare Freiheit des Willens.
troten , und die betreffende Lehre den Namen einer Ethik verdienen soll.
Wir müssen den Faden hier abbrechen , weil er uns in das Gebiet der Ethik führen würde, wohin wir erst dann gelangen können, wenn uns der intelligible Charakter deut licher geworden sein wird. Wir begnügen uns vorläufig damit, erkannt zu haben, dass die Freiheit des Willens in
der phänomenalen Welt nur phänomenaler Schein ist und zu den Vorurtheilen des gemeinen Verstandes zählt analog mit unserer Persönlichkeit und der ganzen Natur, deren reelle Unterlage und Factoren in einer intelligiblen Welt liegen. In diese intelligible Welt will ich den Leser nunmehr führen .
Die von den Vorurtheilen des gemeinen
Verstandes losgelöste oder philosophische Naturbetrachtung.
Siebentes Capitel. Das intelligible Subject. Welche Probleme sind zu 18sen ?
bala .
Schopenhauer und die alte Kab .
Barnard und das Räthsel des Lebens.
Kant und die
Doppelnatur des Menschen.
Der Leser , der mir bisher gefolgt, wird gewiss die Frage aufwerfen : „wenn unsere Sinneswahrnehmungen, die Materie , unsere Raumvorstellungen , ja sogar unsere Per sönlichkeit und Willensfreiheit phänomenaler Natur sind, was sind sie denn in Wirklichkeit ?
Wenn unsere ganze empirische Welt , uns selbst mit eingeschlossen , nur phänomenaler Natur ist , was für eine Welt dient ihr zur Unterlage ? Offenbar eine nicht empirische, nur durch Gedanken arbeit langsam und mühevoll erschliessbare, eine nur intel
ligible Welt. Wir wollen diesen Ausdruck gebraucher, weil Kant *) den in obige Welt hineinragenden Charakter *) Kant sagt in seiner Abhandlung : „ De mundi sensibilis et intelligibilis forma et principiis : $. 3 Sensualitas est receptivitas subjecti, per quam possibile est , ut status ipsius repraesentativus objecti
alicujus praesentia certo modo afficiatur. Intelligentia et facultas subjecti per quam , quae in sensus ipsius per qualilatem suam incurrere non possunt, sibi repraesentare valet. Objectum sensualitatis est sensi.
96
Das intelligible Subject.
den „ intelligiblen “ taufte, und weil die Ausdrücke „vier dimensionale“ oder „ transcendentale“ Welt doch in so mancher Beziehung anfechtbar sind. Im ersteren stört die Zahl vier, und in Bezug auf das , was transcendental und
empirisch ist, lässt sich eine so scharfe Grenze nicht ziehen. Durch den phänomenalen Schleier hindurch das Wesen der Dinge zu erkennen , ist und war seit jeher das Be
streben der Philosophen. Leibniz , Spinoza , Herbart , Schopenhauer u. A. baben es auf ihre Weise versucht, und wenngleich keiner ganz unrecht hatte , so wurde eine nur halbwegs befriedigende Lösung durch sie nicht gegeben. Kant
war vorsichtig ,
unterschied scharf zwischen Er
scheinung und Ding an sich , und beschränkte sich auf die A eusserung: Dass das Ding an sich Daseinsweisen haben mag , die uns ganz unfasslich sind. Die Anderen wollten
eben so viel erklären , was nur geeignet war , das Irrige ihrer Erklärung bald einzusehen. Qui nimium probat, nihil probat! Wir werden die Frage nach der intelligiblen Unter lage der als phänomenal erkannten Vorstellungen und Be griffe wesentlich einschränken müssen , und demgemäss „ Materie und Raum“ von unseren subjectiven „ Sinneswahr nehmungen“ und unserer „Persönlichkeit“ trennen, weil wir für die phänomenale Materie und den phänomenalen Raum bile; quod autem nihil continet, nisi per intelligentiam cognoscendum , est
intelligibile.“ Wie so manches früher nur Intelligible später sen sibel wurde oder werden kann , so ist auch hier die Gronze nicht so scharf zu ziehen. Ich halte mich daher mehr an den §. 4 der Disser
tation, wo es heisst : „ Sensitiva cogitata sunt rerum repraesentionis, uti apparent , intellectualia autem , siculi sunt.“ Also das den Erschei. nungen zu Grunde Liegende , nur durch Denken und nicht durch Sinnesempfindungen Erschlossene, ist das Intelligible , was allerdings nicht ausschliesst, dass ich etwas durch meinen Verstand erschliessen
und dann erst wahrnehmen kann , wie das in gewissem Sinne vom Planeten Neptun und von sehr vielen Speculationen Kant's gilt, die sich später bewahrheiteten und empirisch wurden.
Das intelligible Subject.
97
die intelligible Unterlage derzeit noch nicht kennen , hin gegen in Bezug auf die Sinneswabrnehmungen und unsere Persönlichkeit nicht ohne Anhaltspunkte sind. Dass die Materie nur das Product von Kräften und
Kraftäusserungen ist, das wissen wir, ob aber diese Kräfte
ewige Einzelheiten (Atome, Kraftcentren, Energien) oder nur Ausstrahlungen einer Kraft sind, das wissen wir schon nicht und brauchen wir auch nicht zu wissen ; uns präsentiren
sie sich vorläufig individuell, und müssen wir sie als solche behandeln . Für das praktische Leben und eine praktische Lebensanschauung ist das vollkommen genügend. Wir ver muthen , dass alle Gestirne um eine Centralsonne kreisen, doch kann das Gleichgewicht auch anders hergestellt werden, sowie wir von einzelnen Doppelsternen auch nur eine Um drehung um eine ideale Axe annehmen ; Endlichkeit und Unendlichkeit der Materie und des Weltenraumes waren
lange ungelöste Fragen , und werden selbst jetzt ganz ver
schieden beantwortet; nichtsdestoweniger besitzen wir schon lange eine sehr verlässliche astronomische Wissenschaft und begnügen uns mit dem , was wir sehen und untersuchen können . Nicht viel anders ist es mit dem Raume.
Jede Thätigkeit erfordert einen Schauplatz , es giebt also einen Raum ; aber wie sich die (für uns räumlichen) Beziehungen der auf uns ein wirkenden Kräfte verbalten unabhängig von unseren räumlichen Anschauungsver hältnissen – das wissen wir nicht. Es ist ganz gut denk bar – wie wir schon am Schlusse eines früheren Capitels
bemerkten — dass, so wie wir ein Nebeneinander, Ober- und Untereinander schauen , der wirkliche Raum nur ein In einander sein könnte, das durch unsere Organisationsform
in drei Dimensionen auseinandergezogen wird. Diese beiden Probleme sind philosophische Specula tionen , ohne praktischen Werth für unsere Aufgabe; es Hellenbach , Vorurtheile. JII, 7
Das intelligible Subject.
98
genügt, erkannt zu haben, dass Raumverhältniss und Materie
phänomenaler Natur seien . Was sie eigentlich sind , das bleibt ein Räthsel, wenn wir auch immer tiefer in die Natur
eindringen und mehr von ihr wissen werden . Die Räthsel, deren Lösung ich unternehme, beziehen sich einzig allein auf den Menschen , weil uns da die innere Erfahrung zu Hilfe kommt. Doch selbst da wird eine Ein
schränkung nothwendig , weil des Ungelösten nur zu viel übrig bleibt. Welche Räthsel sind also zu lösen ?
Wenn unsere Sinneswerkzeuge und selbst das Gebirn nur das Mittel sind, um eine phänomenale Anschauung der
Welt zu gewinnen und zu ermöglichen , so stehen wir dies bezüglich vor vier Fragen . 1. Wie kommen diese Organe zu Stande ? Darauf habe ich in meinem „ Individualismus" die Ant
wort diese nicht terne
gegeben : „ Nicht ohne ein formenbildendes Subject". In physiologische Erörterung wollen wir uns daher weiter einlassen . Es genügt übrigens der gewöhnliche Düch Verstand, um einzusehen , dass eine Hand durch
Zellen nicht hergestellt werden könnte , wenn sie nicht virtuell schon vorhanden gewesen wäre.
2) Wer nimmt denn eigentlich wahr ? Da die Zellen weder einzeln, noch zusammengenommen, ein einheitlich denkendes und selbstbewusstes Subject zu
Stande bringen können, so muss ein solches vorhanden sein. Mit dieser Frage habe ich mich auch in meinen früheren Schriften beschäftigt, kann sie daher übergehen. 3. Was liegt speciell unserer phänomenalen Persönlichkeit zu Grunde ?
4. Wo liegt die Quelle der Empfindung unserer Verantwortlichkeit , welche der Ethik
zur Unterlage dient und als Gewissen , innere Stimme u . s. w. bezeichnet wird ?
Das intelligible Subject.
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Mit diesen zwei letzten Fragen werden wir uns be fassen. Dass die Antwort auf jede dieser Fragen damit be ist klar, denn es muss ginnen würde: Irgend ein Subject etwas da sein , was diese aus Milliarden Zellen zusammen gesetzte Maschine in Formen giesst, einheitlich denkt und
empfindet, und trotz der Nothwendigkeit , mit welcher diese Zellenmaschine fungirt, ein Gefühl der Verantwort lichkeit hat.
Es ist weiters klar, dass dieses bildende, wahrnehmende , denkende und fühlende Subject immer ein und dasselbe ist, wenngleich in der Maschine, im Organismus, Alles veränder lich und flüchtig ist.
Doch wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um den in neren Kern des Subjectes, nicht darum , ob dieser eine Monade , der „ Wille“, das „ Unbewusste“ u . s. w. sei , son dern nur um die Unterlage der menschlichen Erscheinung. Selbst die Frage des Materialismus bleibt hier unberührt,
sowohl in dessen atomistischer als dynamischer Form ; denn wir fragen nicht um die Provenienz des Subjectes, son. dern constatiren nur seine Existenz. Ich will nur das Vor
urtheil des gemeinen Verstandes zerstören , welches unsere
Persönlichkeit für eine Realität hält , während die Realität nur dem Subjecte zukommt, dass ich in meiner „ Philosophie des gemeinen Verstandes“ „ Seele" taufte , in meinem „ Indi vidualismus “ ganz allgemein mit sy bezeichnete , und nun mehr (zufolge des Capitels über die Organprojection im zweiten Bande meiner „Vorurtheile“) als Meta -Organis mus oder als „ intelligibles Subject “ am besten zu be zeichnen glaube.
Diese Frage und deren etwaige Lösung sind von der weittragendsten Bedeutung für die Menschheit.
Bleiben wir auf dem Standpunkte des gemeinen Ver standes, und halten wir unsere Persönlichkeit für etwas
Reelles, so müssen wir der materialistischen und pessimi 7*
Das intelligible Subject.
100
stischen Weltanschauung verfallen ; glauben wir aber auch an die Phänomenalität unserer Persönlichkeit im Sinne
eines Schopenhauer, so müssen wir noch immer minde stens dem Pessimismus verfallen. Ist es also für das prak
tische Leben mehr oder weniger gleichgiltig , ob wir den Begriffen von Materie und Raum kritisch oder naiv gegen überstehen , weil wir keine anderen Hilfsmittel haben , als die phänomenale Gesetzmässigkeit, um sie zu verwerthen ; so ist dies bei Beantwortung der Frage , was unserer Per sönlichkeit zu Grunde liege , durchaus nicht der Fall. Die Ansicht über das Wesen unserer Persönlichkeit ist das
mächtigste Motiv für unser Handeln , also auch deren publi cistische Behandlung eine That von grosser Verantwort lichkeit. Die grössten Verbrecher , welche die Menschheit
hervorgebracht, sind Jene, welche, um als „ aufgeklärt starke Geister“ zu gelten , die Menschheit in das materialistische Fahrwasser trieben.
Das Blut und die Gräuel der französi.
schen Revolution im vorigen Jahrhundert haben nicht die politischen Factoren, sondern die leichtsinnigen Autoren zu verantworten .
Diese Verantwortlichkeit ist die Ursache,
dass wir den folgenden Capiteln einen grösseren Umfang geben müssen ; handelt es sich doch um die wichtigste Frage, welche der Mensch stellen kann : ,, Was bin ich denn eigent
lich , wenn das „Ich', als welches ich empfinde und leide, nur das Bild einer anderen Unterlage ist ?" Die Kritik unserer Sinneswahrnehmungen und einige anormale Anschauungsweisen geben uns für die Beantwor tung obiger Fragen ganz brauchbare Anhaltspunkte. Sind die Wirkungen der Kräfte überall vorhanden, und hängt es lediglich von der Fähigkeit ab, sie wahrzu nehmen ; ist es ferner erwiesen, dass das empfindende oder vorstellende ,, Ich" ein Phantom, ein Abbild von Vorgängen
ist ; ist es endlich erwiesen , dass Wahrnehmungen ohne unsere Sinnesorgane doch möglich sind , weil wir in
101
Das intelligible Subject.
unserem Vorstellungsapparate, in der Laterna magica unseres Intellects Bilder finden , die Realitäten entsprechen , und doch nicht im Wege unserer Sinne vermittelt werden konnten, so ist es klar , dass ein Subject vorhanden sein muss , welches des Zellenorganismus wohl be darf, um menschliche dreidimensionale Bilder
zu haben , nicht aber , um überhaupt wahrzuneh men , zu wirken und zu existiren. Es ist klar , dass dieses Subject ebensogut, wie alle anderen Atome und Atom
verbindungen, mit der ganzen Welt, mit allen Kraftcentren und Wesen oder dem Unbewussten - wie der Leser das
immer nennen will , denn diese Anschauung lässt sich mit jeder Philosophie vereinen – in ununterbrochener Wechselwirkung und Beziehung steht , von welchen gegenseitigen Einwirkungen sich mit Hilfe unseres Gehirn apparates Reflexe oder Bilder in unserem Bewusstsein theil.
weise abspiegeln, die aber begreiflicherweise nur selten jene Deutlichkeit haben, um unser wirkliches klares Bewusstsein zu werden .
Es ist daher nicht wunderbar , wenn ein sterbender
Vater an sein entferntes Kind denkt, und mit dem Hervor treten der fern wirkenden oder vierdimensionalen Fähigkeit
der Seele diese Wirkung eine so kräftige wird , dass sie auf Meilenweite empfunden wird ; wohl aber ist es wunder bar, dass das Kind in seinem Bewusstsein ein entsprechen des Bild sieht, welches die anderen gegenwärtigen Personen nicht haben (s. S. 118 , Phil. d. gem. Verst.). Der Leser glaube ja nicht, dass diese meine Weltanschauung eine ganz vereinsamt stehende paradoxe sei ; wenn sie sich von den andern auch unterscheidet , so ist sie doch
-
mutatis
mutandis – mit fast allen vereinbar. In Bezug auf die in dividualistische Richtung braucht man nur die Werke
Drossba ch's , als des bedeutendsten jetzt lebenden Indi vidualisten zu lesen. Dass die monistischen Anschauungen
102
Das intelligible Subject.
Schopenhauer's und Hartman n’s sich dazu ebenfalls eignen, ist klar, und von Schopenhauer selbst anerkannt, denn der raumlose Wille , das Unbewusste oder Absolute
eignen sich dazu vollkommen , umsomehr als sie sich für
Alles eignen. Es sind Götter ! Ich habe in meinem „ Indi vidualismus“ durch Vergleichung meines relativen Individua lismus mit dem der anderen Systeme gezeigt , wie leicht meine Anschauung in die anderen Systeme überführt werden kann ; ja selbst die alte Kabbala, soweit es uns möglich ist, sich davon Kenntniss zu verschaffen, ist in ihrer Grundlage kaum etwas anderes als die indisch -schopenhauer'sche Philo sophie. Ich werde nicht meine Auffassung von der alten Kabbala geben , sondern absichtlich nicht meinen , sondern einen Auszug aus dem objectiven Berichte des philosophisch geschichtlichen Lexikons von Novak geben, zu beweisen, dass so viele tiefe Denker eigentlich nur denselben Ge danken auf eine verschiedene Weise ausdrückten.
„Im Allgemeinen geht die Lehre der Kabbala darauf aus,
das Reich der Sinnenwelt aus dem „ Ensof“ (d. h. dem Unendlichen oder Gott) zu erklären die Vermittlung des Unendlichen mit dem Endlichen deutlich zu machen. Die Erscheinungswelt ist dem Kabbalisten nicht das Product eines willkürlichen Schöpfungs actes, sondern Offenbarung , und zwar Selbstoffenbarung des Un endlichen. Es ist in der Erscheinungswelt ausgeschlossen , was
in „ Ensof “ verhüllt ist. Wie aus diesem Alles hervorgegangen ist in verschiedenen Ausstrahlungen oder Ausströmuugen , als den Stufen der göttlichen Selbstoffenbarung, so muss auch wiederum alles im aufsteigenden Läuterungsprocesse in das „ Ensof zurück . zukehren , um als reines Licht wiederum mit dem Urlicht eins
zu werden. Vom „ Ensof“ wird ausgegangen und zur siunlichen Welt
fortgeschritten durch das Reich der Geister, welches eine frühere Stufe der sich offenbarenden Gottheit ist, als die Sinnenwelt, und alles Einzelne in der Erscheinungswelt muss , nach kabbalistischer Anschauung, auf einer früheren Stufe des Daseins in höherer, geistiger Form, d. h . als Engel existiren. Die zehn ,,Sephiroth " oder die Ausstrahlungen (Lichtstrome) des göttlichen Urbildes bilden , als Stufen der gởttlichen
Offenbarung, die vier Welten, nämlich Azildth (Açilûth) oder die vor
Das intelligible Subject.
103
bildliche vollkommenste Welt, in welcher keine Veränderlichkeit ist,
sodann Beriah oder die veränderliche Welt, darnach Jezîrah (Jeçîrah) oder die geformte Welt und endlich Asîah oder die lebende und empfindende Welt
Die Gottheit ist hier zunächst die abstracte Einheit, in welcher Nichts zu unterscheiden ist , welche dem Eins vorangeht und die
Zahlen als die Grundformen des Daseins erst offenbart; darum ist auch
die göttliche Unreinheit dem Gedanken wie dem Worte ganz entzogen, weshalb auch gefordert wird, sich nicht dabei aufzuhalten, sondern
nur blitzartig darüber hinfahren , weil sie ja selber dem Blitze gleiche, der sich nicht festhalten lässt
Das Unendliche wollte endliche Welten hervorrufen, damit seine Liebe nach Aussen gerichtet werde. Dies ist aber unmöglich, da aus der Einheit keine Vielheit, aus dem Unendlichen nichts Endliches
abgeleitet werden kann. Nur durch die Ausstrahlung ist dies möglich, denn wenn auch das Ausgestrahlte wiederum nur ein Einfaches und
Unendliches sein kann, so ist es doch schon um eine Stufe niedriger, als das Ausstrahlende und steht zu diesem im Verhältnisse des Kindes
zum Vater, ist demnach an sich zwar unendlich, im Vergleiche mit dem Ausstrahlenden aber endlich. Dadurch also, dass zunächst zehn allmähliche Ausstrahlungen stattfinden, von welchen die eine immer im Verhältnisse zur vorhergehenden eine ausgestrahlte, im Ver hältnisse zur nachfolgenden aber eine ausstrahlende war , zuletzt eine endliche Welt hervorgehen .
konnte
In jeder der vier Welten aber sind die Sephiroth dieselben, nur dass sie in jeder piederen Stufenwelt dichter und getrübter sind, und immer weniger im Stande sind , das Licht zu fassen . In dem
gänzlichen Baarsein des göttlichen Lichtes besteht das Böse, welches unter dem Bilde von Schalen bezeichnet wird. Wie freilich in diese
aus Gott geflossene Welt das Böse hineinkommt, bleibt unerklärlich.“
Man sieht, dass die alte Kabbala den Fehler der
Schopenhauer'schen Philosophie nicht beging, der darin besteht, dass man unser dreidimensionales Bewusstsein oder
,Ich“ als die directe Projection dieser unbekannten meta .physischen Grösse auffasste, wobei es offenbar darauf nicht a ukommt, ob man sie als Wille , Unbewusstes , Absolutes oder sonst wie bezeichnet .
Diese Schulen stimmen darin
mit meiner Auffassung überein, dass unser dreidimensionales
104
Das intelligible Subject.
Bewusstsein etwas Phänomenales sei, nur wird unmittelbar
hinter dieses phänomenale Wesen irgend eine unbegreif liche Gottheit direct gestellt. Gibt es tief im Hintergrunde alles Seienden eine solche , einen Schopenhauer'schen Willen, oder ein Hartmann'sches Unbewusstes, so wäre die intelligible vierdimensionale Welt eine (und wer weiss,
ob nicht ebenfalls indirecte) Projection des Alleinen, und das Bild unserer dreidimensionalen Existenz doch nur ein
Traum des intelligiblen Subjectes. Die alte Kabbala ist ganz im Rechte , wenn sie behauptet, dass das „ Ausstrah lende“ selbst wieder nur ein „ Ausgestrahltes“ sei, und so fort bis zu dem „ Unendlichen “, dem „ Ensof“. Es sind aber durch ein intelligibles Subject mit sei
nem Metaorganismus nicht nur die Bedingungen für die Möglichkeit des Wirkens und Empfindens auf ausser sinnlichem Wege gegeben , sondern wir haben bereits die vollgiltigen Beweise der Wirklichkeit dafür, wie meine Leser des zweiten Bandes der „ Vorurtheile" wissen werden, Das Vorhandensein eines Metaorganismus ist nicht nur ein nothwendiges Postulat zur Erklärung des mensch lichen Organismus, also des menschlichen Daseins und Wir. kens, sondern ist im Wege der Experimente unserer be
deutendsten Experimental-Physiker bereits eine sichergestellte Thatsache der Erfahrung.
Der Kampf, welchen die gläubige Menschheit mit den ungläubigen Materialisten in Bezug auf die Unsterblichkeit unseres Wissens führt, erweist sich für uns nunmehr als ein reines Missverständniss .
Die Naturwissenschaft hatte ganz recht , wenn sie, gestützt auf die Abhängigkeit unserer ganzen Persönlich keit vom Organismus, den Glauben an Fortdauer dieser unserer Persönlichkeit als einen frommen Wunsch,
als einen Wabn bezeichnete ; wenn ich die Laterna magica zerschlage , den Spiegel vernichte , so kann wahrlich das
, Das intelligible Subject.
105
Bild , das sie hervorgebracht , nicht mehr zu Stande kom men ; doch so wenig als das Zerschlagen des Spiegels die Existenz der Objecte bedroht, die sich in ihm abspiegelten,
so wenig kann die Vernichtung des Organismus die Kräfte bedrohen, welchen er das Dasein verdankte. Unsere ausser sinnlichen, intelligiblen oder vierdimensionalen Beziehungen werden durch das Leben nicht unterbrochen und etwa durch
den Tod wieder angeknüpft, sondern sie bestehen so wie vor der Geburt des Menschen , auch nach seinem Tode und während des ganzen Lebens ununterbrochen fort, sowie die Beziehungen aller im Weltall waltenden Kräfte; doch ge langt nur ein Bruchtheil davon als Bild in unser Bewusstsein.
Das Bewusstsein , das wir kennen , kann allerdings nur im Wege eines Organismus aufdämmern , wie wir ihn
kennen, doch ist mit dem Verschwinden desselben das Sub ject in uns ebensowenig zur Bewusstlosigkeit verurtheilt, als das Ende eines Traumes meine wachende Persönlichkeit vernichtet.
Schopenhauer lässt die Seele als nicht individuell mit dem grossen metapbysischen Princip verschmelzen und Drossbacb lässt der Seele wohl die individuelle Existenz,
aber als ein bewusstloses Kraftwesen, das erst in unendlich
langen Zeiträumen wieder zu einem Bewusstsein erweckt, wenn es der Zufall wieder in die Bedingung der Mensch werdung bringt. Man könnte allerdings nicht bestreiten ,
dass sowie irgend ein bestimmter Meerestropfen im Wege der Verdunstung, des Wolkenzuges und Regens von einem Regenwurme aufgenommen , und so etwa durch eine Wald schnepfe in meinen Organismus überzugehen vermöchte, auch alle Atome oder Monaden im unendlichen Laufe der
Zeit in mit früheren Zuständen gleiche Verhältnisse gebracht werden könnten. Doch habe ich in meinem „ Individualis
mus“ die Schwierigkeiten nachgewiesen , mit welchen eine solche Weltanschauung verknüpft ist. Es gibt einen Grad
Das intelligible Subject.
106 von
Unwahrscheinlichkeit, der der Unmöglichkeit kaum
nachsteht ; sowohl die Schopenhauer'sche alsDrossbach sche Auffassung stellen der Entwickelung gewaltige Hinder
nisse entgegen , ohne an Erklärlichkeit zu gewinnen , und stehen mit sehr vielen Erscheinungen in einem unlöslichen Widerspruche . Die kritischen Betrachtungen über unsere Sinneswahr nehmungen und unsere Persönlichkeit machen es daher
unabweislich , unserem Organismus eine Art Metaorganis mus zu unterschieben
ein Ausdruck , der mir geeigneter
erscheint, als der Ausdruck „ Seele", da mit diesem in den verschiedenen Köpfen bereits sehr verschiedene schwer aus rottbare Vorstellungen verknüpft sind. Die alte, von Vielen geliebte Unterscheidung und Dreitheilung von Geist , Seele und Leib , scheint nur eine unklare Vorahnung alles dessen zu sein ; unter Geist verstand man das „ intel
ligible Subject“ ; das, was die „ Seele“ sein sollte, war aller Wahrscheinlichkeit nach der „ Metaorganismus“. Den Leib betrachtete man als etwas Materielles, als ein Drittes ; und doch ist er nichts weiter als der in Zellen dargestellte Metaorganismus.
Schon der Umstand , dass einzelne Menschen ohne Augen sehen , ohne Ohren hören, ja selbst in die Entfer nung hie und da zu wirken vermögen , spricht dafür, dass unser Sehen, Hören und Empfinden nur Modificationen, und zwar beschränkte Modification einer und derselben Fähig
keit seien , nämlich empfundene Wirkungen auf
Ursachen zu beziehen. Die Art der Empfindung hängt aber vom Organismus ab , daher der Schluss auf die wir. kende Ursache ein sehr verschiedener sein kann .
Gewiss
ist aber , dass unserem Organismus aus Zellen ein Meta Organismus zu Grunde liegen müsse, eine Ansicht, die sich uns von allen Seiten aufdrängt.
Das intelligible Subject.
107
Der amerikanische Professor Barnard sagt in sei ner
neueren „ Fortschritten der Wissenschaft“ (übersetzt
von Klöden) : „In Betreff des Processes des organischen Wachsens und der Entwickelung, der Assimilirung der Nahrung, der Absorptionen , der Secretionen und anderer physiologischer Functionen, die im anima lischen oder vegetabilischen Leben unausgesetzt vor sich gehen, kann map ohne Zögern annehmen, dass die wirkende Kraft, welche
die entsprechenden Veränderungen hervorbringt, von aussen her.
stammt, und dass die Veränderungen selbst genaue Aequivalente der aufgewendeten Kraft seien. Betrachten wir die wachsende Pflanze Ihre Nahrung besteht in Kohlenstoff, welche aus der Kohlensäure des Wassers entnommen wird , das sie aus der Erde an sich zieht , oder in der Luft ringsum sich vorfindet. Die Kraft,
durch welche diese sehr stabile Verbindung zersetzt wird , so oft sie den Kohlenstoff frei lässt, sich mit der Pfanze zu vereinigen, wird durch die Sonnenstrahlen geliefert. Ueber die Gleichwerthigkeit beider Kräfte kann kein Zweifel bestehen ; und ebensowenig haben wir nöthig, irgend eine Specialkraft unter dem Namen der Lebens kraft zu Hilfe zu nehmen, damit dieselbe irgend welchen Theil der Veränderung bewirke. Und doch bedürfen wir sicherlich etwas mehr, als die blosse Aneinanderfügung der Stoffe unter dem Ein flusse der Sonne , um die Wirkung hervorzubringen. Wenn das
Lebenspriuzip nicht in der Pflanze vorhanden ist, so wird die
Operation nicht vor sich gehen. Die Kohlensäure kann da sein ; das vegetabilische Gewebe kann vorhanden sein und doch können die Sonnenstrahlen immer und immer um dasselbe spielen , ohne die geringste Wirkung zu erzielen. Das Lebensprinzip ist also
das Etwas, welches die Pfanzen wachsen macht. Ich will es nicht eine Kraft nennen
ich halte den Ausdruck Lebenskraft für
einen falschen, weil nichts geschieht, wofür wir nicht andere Kräfte in voller Gleichwerthigkeit haben ; aber ich sage, was es auch sein mag , seine Gegenwart ist eine Nothwendigkeit zur Ausführung der Arbeit und in seiner Abwesenheit wird die Arbeit nicht ausgeführt.
Mehr poch : Ich sage, dass nicht nur die Kräfte, welche während des Lebens der Pflanze ihr Wachsthum bewirken, nicht hinreichen werden, dasselbe zu bewirken , nachdein das Leben aufgehört hat : sondern, dass keine Vereinigung von Kräften oder Einflüssen oder Stoffen, welche die Geschicklichkeit des Menschen zusammenbringen mag, jetzt oder jemals auch nur ein Blatt der einfachsten Pflanze
108
Das intelligible Subject.
oder ein Halm des geringsten Grases erzeugen wird , deren die
Natur unter dem Einflusse des Lebensprincipes jeden Sommer Millionen über Millionen hervorbringt.“ Was übrigens schon Kant fast mit denselben Wor
ten und in ganz bestimmter Fassung aussprach : Die ganze kosmische Welt, aber kein Grashalm ohne Absicht ! „Nehmen wir an , dass alle Stoffe, aus denen die Erde besteht, in elementarer Gestalt zusammengeworfen wären, so ist es möglich, dass bei der ersten Wirkung der Affinität viele schwache Ver
bindungen hervorgehen ; aber zugleich ist sicher, dass diese nach einander den kräftigeren werden weichen müssen, bis alles sich zu Formen vereinigt hat , die das absolute Maximum der Stabilität haben , wenn nicht der Process durch ein Erstarren der Masse gehemmt wird, das eine fernere Bewegung unmöglich macht. Nun findet aber in den während des Wachsthums der Thiere und
Pflanzen entstehenden Verbindungen gerade das Gegentheil dieses
Processes statt, d. h. wir sehen ein Aufsteigen vom niederen zum höheren Niveau, ein Eintreten der schwächeren statt der stårkeren, der nicht stabilen statt der stabilen. Und animale Verbindungen, d. h . die dort sich bildenden , wo der Typus des Lebens am
höchsten ist , sind in der Regel weniger stabil, als die vege tabilischen .
Die Gegenwart des Lebensprincipes in organisirten
Körpern veranlasst somit die physikalischen Kräfte , welche in solchen Körpern die Veränderungen bewirken , in einer Weise thätig
zu sein, in welcher sie nicht wirken, sobald dieselbe fehlt. Licht und chemische Affinität z. B. werden in der Pflanze gegeneinander ausgetauscht.
Das Licht verschwindet und beim Verschwinden
erweckt es die Kraft der Affinität zur Thätigkeit, welche schlummerte,
weil ihr genügt war ; aber um dies zu thun, bedarf sie eines be stimmenden Einflusses, welchen sie in der gleichzeitigen Anwesen
heit des Lebensprincipes findet und niemals ohne denselben. “ Mit Recht behauptet Liebig : „Die chemische Elementaranalyse gibt nicht den mindesten Anhaltspunkt zur Beurtheilung oder Er klärung der Eigenschaften von organischen Verbindungen. Chemisch besteht ein Haus in seinen verschiedenen Baumaterialien aus Silicium, Sauerstoff, Aluminium, Calcium, etwas Eisen, Blei und Kupfer, Kohlen stoff und den Elementen des Wassers. Wollte aber Jemand behaupten,
das Haus sei von selbst entstanden, durch ein Spiel der Naturkräfte, welche zufällig sich begegnet, und die Elemente zum Haus zusammen .
Das intelligible Subject.
109
geordnet hätten, weil ja die Theile derselben aus diesen Elementen bestehen , die durch die chemische Affinität zusammengehalten werden
und durch die Cohäsionskraft Festigkeit erlangen, weil also chemische und physikalische Kräfte an dem Hause einen bestimmten Antheil haben, so würde man ihn auslachen . Nun treten aber in der nie drigsten, wie in der höchsten Pflanze, in ihrem Bau, wie in ihrer
Entwicklung , die Materalien zu Formen von einer Feinheit und Regelmässigkeit, und in einer Ordnung zusammen , welche Alles übertreffen , was wir in der Einrichtung eines Hauses wabrnehmen . Wir sehen zwar die Kraft nicht , welche das widerstrebende
Material bewältigt und es zwingt, sich in diese Formen und Ord nungen zu fügen ; aber unsere Vernunft erkennt, dass in dem
lebendigen Leibe eine Ursache bestehe, welche die chemischen und physikalischen Kräfte beherrscht und sie zu Formen zusammenfügt, die ausserhalb des Organismus niemals wahrgenommen werden . “
Zu Gunsten ähnlicher Anschauungen könnte man fast alle älteren ausgezeichneten Physiologen ins Feld führen, Johann Müller , Bischoff , Burmeister , C. Ludwig u. 3. f., nur die flachen , der Mode huldigenden Naturforscher à la Büchner und Vogt machen hiervon eine Ausnahme. Ich habe in meinem „ Individualismus“ die Nothwendig keit einer solchen bleibenden Unterlage der menschlichen
Erscheinung durch biologische und philosophische Betrach tungen nachgewiesen ; ich habe im zweiten Bande meiner
„ Vorurtheile “ die Existenz dieser Unterlage im Wege der Thatsachen und ihrer vorurtheilsfreien Beurtheilung eben falls nachgewiesen
meine Leser haben mich in diesem
Bande begleitet, und können selbst beurtheilen , ob die Un tersuchung , wie unsere Sinneswahrnehmungen und Vorstel lungen zu Stande kommen , nicht ebenfalls die Behauptung
rechtfertigen, dass unsere ganze Weltvorstellung inclusive des eigenen Ichs phänomenaler Natur seien , und ob diesem „ Ich “ mit seinem Organismus, nicht ein Subject mit einem Metaorganismus, und ob der Welt unserer Vorstellung - die wir als eine dreidimensionale Darstellung erkannt -
nicht nothwendig eine andere nicht phänomenale , nicht
Das intelligible Subject.
110
sensuale, sondern nur intelligible Welt zur Unterlage dienen müsse , wenn sie erklärbar und verständlich werden soll .
Der grosse Mathematiker Gauss, dein eipe experi mentelle Sicherstellung von Thatsachen nicht zu Gebote stand , um Daten für die Existenz anderer Welten als der
unseren benützen zu können, hat nichtsdestoweniger sich
zu der Anschauung gedrängt gefühlt, neben diese materielle Welt noch eine zweite geistigere zu setzen.
,,Materiell "
und „ geistig “ sind nicht glücklich gewählte Worte, aber wir können ohne weiteres von einer vorgestellten und wirk. lichen Welt reden , von einem dreidimensionalen Bilde der Welt und von einer vier- oder n-dimensionalen Unterlage. Zur ersteren gehört auch unsere Persönlichkeit, zur letzteren gehört das Subject. Mein Leser wird unschwer die volle Verwandtschaft mit
Schopenhauer in Bezug auf die eine Hälfte erkennen, nämlich der Auffassung, „ Die Welt ist meine Vorstellung “,
wohingegen ich zwischen diese Welt der Vorstellung und dass grosse Subject Schopenhauer's einen relativen In dividualismus schiebe , und auf Kant zurückgreife. Professor Robert Zimmermann hat in einer Bro
chure : „ Kant und der Spiritismus" (1879 ) eine Zusammen stellung gemacht, zufolge welcher Kant noch vor den be
kannten Swedenborg'schen Ereignissen bereits eine An schauung von der Welt und der Natur des Menschen hatte, welche der hier vertretenen Ansicht über den Metaorganis mus als Unterlage der menschlichen Erscheinung ganz ent spricht. Ich werde daher einige Stellen wörtlich aus den
Erläuterungen Zimmermann's folgen lassen , welcher durch diese Brochure nachweist, dass man Kant unrecht
verstehe , wenn man glaubt , die Erzählungen über Swe denborg seien die Veranlassung für dessen metaphy
sische Träume gewesen , im Gegentheile hat Kant schon
Das intelligible Subject.
in
111
seinen ersten Werken sich auf gleiche Weise aus
gesprochen .*) In den Berichten über Swedenborg sah Kant nur
eine praktische Bestätigung seiner früheren Meinung. Dass Kant später sehr abfällig über Swedenborg sprach , ist natürlich , denn er hatte seine Schriften gelesen, die , wie alle Producte des unbewussten Schreibens, voll Unsinn sind . Es ging ihm wie mir und Anderen nach Lecture der spiritistischen Offenbarungen ! Aber man glaube nicht, dass die nachfolgenden Anschauungen Kant's lediglich Capiteln entnommen seien , welche sich mit den ,,Träumen der Meta physik “ beschäftigen . Das Wichtigste bat Kant unmittelbar seiner Naturgeschichte des Himmels als Schluss folgen lassen .
Professor Zimmermann schreibt :
„ Nachdem Kant das Geständniss abgelegt hat , dass es uns nicht einmal bekannt sei , was der Mensch wirklich ist, ob uns gleich das Bewusstsein uod die Sinne hiervon belehren sollten, und dass wir daher noch viel weniger werden errathen können, was wir werden sollten , wirft er die Frage auf : ob die „ unsterbliche Seele wohl in der ganzen Unendlichkeit ihrer künftigen Dauer, die
das Grab selber nicht unterbricht, sondern nur verändert, an diesen Punkt des Weltraumes , an unsere Erde geheftet bleiben solle ? Wenn nicht, so stehen ihr mehrerlei Auswege offen. Sie kann ihren Wohnsitz entweder innerhalb dieses Weltalls auf einem anderen
Weltkörper derselben nehmen, oder sie kann mit einem Schwunge
sich über Alles , was endlich ist, emporschwingen , und so nicht * ) Ich werde um so lieber diese fremde Anschauung citiren, als
Prof. Zimmermann nicht im Geruche des Spiritismus stebt und
stehen kann. So wenig man ein Jude ist , weil man eine Synagoge besucht , sondern nur dann , wenn man dort einen Cultus übt, ebenso wenig ist man ein Spiritist, wenn man Experimente mitmacht, sondern pur dann , wenn man eine Religion daraus bildet , wie z. B. die An hänger Davis. Man kann aber selbst so weit gehen, den Besuch einer
Synagoge darum zu meiden , um nicht für einen Juden gehalten zu werden. Professor Zimmermann gehört nicht einmal in jene Kate gorie, die sich für derlei Experimente interessiren .
Das intelligible Subject.
112
nur diese, sondern jede räumliche Welt (gleichriel wie viel Dimen sionen ibr Raum habe) überhaupt verlassen ... Sind wir schon unfähig, einen Raum , der mehr als drei Dimen sionen hat, uns vorzustellen , weil unsere Seele „ ebenfalls nach dem Gesetze des umgekehrten doppelten Verhältnisses der Weiten, welches die Ursache derselben ist , ihre Eindrücke empfängt, so
müssen wir noch unfähiger sein, uns eine Welt vorzustellen, die über haupt keinen Raum besitzt. Wenn eine dreidimensionale Welt aber nur von einer selbst wieder dreidimensionalen , so kann eine un
räumliche nur von einer gleichfalls unräumlichen Intelligenz begriffen werden .
Die Geisterwelt, in deren Reihen der unsterbliche Geist
nach Abstreifung alles Endlichen eintritt, muss daher jedem (nicht blos unserem menschlichen) Erkenntnissvermögen so lange unzu gånglich bleiben, als dasselbe mit den Schranken und Bedingungen
irgend einer (nicht blos der uns bekannten dreidimensionalen ) Raumwelt unterworfen ist.
Daraus folgt, dass Versuche, in die verschlossene" Geisterwelt
mit einem menschlichen Erkennungsvermögen einzudringen, ebenso fruchtlos als überflüssig erscheinen müssen . Die erste Bedingung der selben, der Glaube an die mögliche nicht nur, sondern höchst wahr . scheinliche Existenz unräumlicher Geister ist zwar, wie man sieht, bei Kant vorhanden . Ebenso aber auch die Ueberzeugung, dass eine
Erkenntniss derselben in diesem, den Bedingungen eines (und zwar des dreidimensionalen) Raumes unterstehenden Dasein unmöglich sei. Den einen kaum für möglich haltenden Fall ausgenommen, dass bereits während des Daseins der Seele in der Räumlichkeit eine Ver bindung derselben mit der raumlosen Geisterwelt bestehe und
dieselbe mit dem ihm als rå u mlichen Wesen eigenth û m lichen gleichzeitig ein so , wie es unrdumlichen I n
telligenzen eignet , beschaffenes Erkenntnissver mogen besitze .
Jene Consequenz, die der Materialismus zieht, der die Existenz eines Nicht-Physischen leugnet, wollte Bant nicht ziehen. Wider
strebte ihm wie oben gezeigt, die Idee der Optimisten, dass diese (wirkliche) Welt die einzige , so widerstrebte ihm ebenso die der
Materialisten, dass die physische Welt die ganze Welt sei. Wenn diese dreidimensionale Welt die einzige Welt ist, dann war es mit der Hoff pung, auf Fortdauer des unsterblichen Geistes in einer Welt anderer Raumesart, war die physische Welt die ganze Welt, dann war es
mit der Hoffnung auf eine Fortexistenz desselben im Zustande ,,er
Das intelligible Subject.
113
höhter " (raum- und materialfreier) Natur vorbei. Diese Con sequenz , das Nicht - Physische existire, durfte Kant nur ziehen, wenn Erscheinungen als unbezweifelbare Thatsachen vorlagen , welche unter ausschliesslicher Annahme physischer Kräfte und Gesetze unerklärlich blieben. Die Existenz
eines Nicht-Physischen , die seiner Lieblingsneigung , sowie die Existenz einer Vielheit von Welten, die seiner Hoffnung auf Zukunft entsprang , musste so lange problematisch bleiben , bis un bezweifelbare Thats a chen den Schluss des Einen oder
des Andern zwingend gemacht haben würden. Da der Mensch als erkennendes Wesen dieser Welt selbst im
Raume existirt, so muss entweder auf die Erfahrung der Existenz eines nicht im Raume Existirenden (Pneumatischen ) seitens derselben verzichtet, oder es muss dargethan werden, dass derselbe während
er im Raume, zugleich ausser dem Raume existire. Dies aber wäre
dargethan, wenn sich erweisen liesse, dass es ,,Seher" , d. i. Menschen gäbe , die schon während ihrer (räumlichen) Existenz eine raum und stofffreie, d. i. solche Erkenntniss besässen, wie sie ,,Geistern " d. i. raum- und stofffreien Vernunftwesen cigen ist.
Die Existenz dem Begriff eines Geistes entsprechender Wesen kann also nur durch die Thatsache der Existenz eines „ Sehers “ er wiesen werden .
Ob ausser den im Universum als Lebensprincipien thätigen
immateriellen Wesen (Seclen) noch andere, die nicht diesem Weltall einverleibt sind , existiren mögen , ob die in demselben organisch,
d . i. durch körperliche Mittelursachen wirksamen immaterielleu Wesen auch noch auf andere, ohne körperliche Mittelursachen erfolgende,
rein „ pneumatische Weise auf diese materielle Welt und auf ein ander gegenseitig Einfluss auszuüben im Stande seien, bleibt eine offene Frage, die sich nicht, wie die über die Existenz organischer Lebensprincipien durch einen wahrscheinlichen Schluss aus der Thatsache der Lebenserscheinungen, sondern nur entweder durch eine hyperempirische Erfahrung oder durch einen Traum der „ reinen “ Vernunft beantworten lässt. “
Kant anerkennt also ausdrücklich , dass insolange nicht Data in der Erfahrung vorliegen , welche uns Mate rial zu weiteren Schlüssen liefern , wir in der menschlichen
Erscheinung die Verkörperung eines geistigen , in anderer Weise wahrnehmenden Wesens immerhin als einen be Hellenbach , Vorurtheile III.
8
.
114
Das intelligible Subject.
rechtigten, vernünftigen Traum betrachten dür fen. Er spricht sich darüber ganz deutlich aus : „ Es ist zwar einerlei Subject, was der sichtbaren und unsichtbaren Welt zugleich als ein Glied an
gehört , aber nicht eben dieselbe Person ; denn die Vor stellungen der einen sind, ihrer verschiedenen Beschaffenheit wegen, keine begleitenden Ideen der andern ; daher wird , was ich als Geist denke , von mir als Mensch nicht erinnert , und umgekehrt kommt mein Zustand als eines Menschen in die Vorstellung meiner selbst als eines Geistes gar nicht hinein . “
Professor Zimmermann bemerkt hierzu :
„ Kant selbst erläutert ( a. a. 0. S. 71) dieses Doppel . dasein desselben Wesens als menschliche ,,Seele und ,,Geist“
durch eine gewisse Art zweifacher Persönlichkeit, die der Seele selbst in Ansehung dieses Lebens zukomme.“
Die scharfe Grenze , die Kant zwischen Materie und Geist zieht , lag bei den dainaligen Kenntnissen von der
Materie ganz nahe ; nach meiner Auffassung würde man statt „ von den Schranken und Hemmungen der Materie “
von den Schranken und Hemmungen des Zellen-Organis mus sprechen müssen , der mitunter schlechte Bilder liefert
von dem , was sich in der Welt zuträgt. Eine Ansicht, die schon Sokrates ausgesprochen (Phädon). So verbreitet in seinem Geiste , bekam Kant die
Kunde von den aussergewöhnlichen Leistungen Sweden borg's, die ganz und gar verschwindend sind , gegenüber demjenigen , was die neuere Zeit an derartigem Materiale bietet. Hat Kant in einer ausserordentlichen Wahrneh mungsweise eines lebenden Individuums bereits Anhalts
punkte für die „pneumatische“ Natur der Seele erkennen wollen , so kann das Auftreten von menschlichen Formen, welche theils fühlbar, theils sichtbar , immer aber flüchtig
sind, wenn auch mit Zurücklassung bleibender Spuren, nur zu dem Schlusse führen, dass Geist , Seele , Lebensprincip mit dem Begriffe des intelligiblen Subjects und dessen
Das intelligible Subject.
115
Metaorganismus zusammenfallen , da an der Doppelnatur, d . h. an der Darstellung eines potentiell schon vorhandenen Organismus in Zellen zum Zwecke der menschlichen Be wusstseinsform nicht mehr gezweifelt werden kann, und von einem Kant wenigstens nie bezweifelt wurde , der ( siehe
Grundlage zur Metaphysik der Sitten) den Menschen als „Glied einer intelligiblen Welt“ und gleichzeitig als „ Glied der Sinnenwelt “ betrachtete, aus welcher Doppelstellung er das „ Sollen“ in uns ableitete. Er glaubte, dass wir als in telligible Wesen immer der Vernunft gsmäss handeln , als blosse Sinneswesen unverantwortlich der blinden Nothwen
digkeit gehorchen würden , und das „ Sollen “ in uns durch diese Doppelstellung veranlasst werde, was eben Gegenstand des nächsten Capitels sein wird. In diesem Capitel hatten wir nur die Existenz eines
intelligiblen Subjects in uns nachzuweisen , und hat
sich dieses als eine Nothwendigkeit herausgestellt. Ohne ein solches intelligibles Subject ist die Entstehung, Entwickelung und Funktion des Organismus unmöglich (siehe ,, Individua lismus“ ) ; ohne ein solches wäre die sinnliche Wahrnehmung aller und die aussersinnliche Wahrnehmung einzelner Indi
viduen undenkbar. Im zweiten Bande der ,, Vorurtheile“ wur den Thatsachen angeführt, welche für die Existenz intelli gibler Wesen und deren Identität mit uns sprechen. Unter Voraussetzung des intelligiblen Subjectes in uns verschwinden alle oben angeführten und noch viele andere Schwierigkeiten und Räthsel , auf welche wir im weiteren Verlaufe stossen werden.
Mit Ausnahme der An
hänger des gedankenlosen naiven Materialismus haben auch alle Denker ein solches anerkannt , wenn die Vorstellung davon von der Monade eines Leibniz bis zum „ Unbe wussten " Hartmann's - auch eine sehr verschiedene war .
Kant ist derjenige Philosoph , dessen Ansichten nach hundert Jahren diessbezüglich unangetastet und unüber 8*
116
Das intelligible Subject.
troffen , zumeist bestätigt , dastehen. Er beschränkte sich
auf die Unterscheidung des „ Dings an sich von der „ phäno menalen Erscheinung“, und stellte die Doppelnatur des Menschen in Folge der mangelnden sichergestellten Erfah rung an anormalen Organisationen Traum der Metaphysik bin.
blos als vernünftigen
Ob seine Ueberzeugung in diesen Fragen eine be stimmtere und festere war , als seine vorsichtige Sprache wer kann das wissen ?!
An dem leuchtenden Beispiele Kants festhaltend, werde ich mir gewiss über Natur und Ursache dieses intel
ligiblen Subjects kein Urtheil anmassen , wie das die obi gen Philosophen gethan ; ich werde mich begnügen , nur jene Eigenschaften festzustellen , auf deren Vorhandensein zu schliessen wir in irgend einer Weise berechtigt sind.
Das intelligible Subject hat reelle Existenz und unsere ganze Persönlichkeit , unser menschliches „ Ich “ ist nur das durch das Gehirn dargestellte Bild der Thätigkeit des in telligiblen Subjects. Durch Schlaf und Bewusstlosigkeit wird die phänomenale Maschinerie zum Stillstande gebracht, während das intelligible Subject doch thätig ist, wie es im neugeborenen Kinde ebenfalls thätig ist , in welchem sich vom empirischen „ Ich “ noch gar keine Spuren finden , das sich erst mit der Zeit entwickelt und in einzelnen Exem
plaren von Finanzmännern, Bureaukraten und insbesondere offiziellen Wissenschaftlern zu einer Karrikatur von Selbst überhebung und Grössenwahn aufbläht.
Achtes Capitel. Der intelligible Charakter. Die Ethik Kant's.
Ursprung und Motiv des „ Sollenga in uns.
Die Ethik Schopenhauer's.
Die volle und geringe phänomenale Das Fatum im empirischen Leben. Das Vorhandensein des intelligiblen Subjects und Charakters führt nothwendig zur Existenz einer intelligiblen Welt. -
Befangenheit der menschlichen Naturen.
Der Ausdruck : „ intelligibler Charakter “ ist von Kant
eingeführt worden. Die innere Stimme, das „ Sollen “, schien ihm aus einer anderen, intelligiblen Welt zu kom men : er sagt in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten : „ Das moralische Sollen ist eigenes nothwendiges Wollen als Glied einer intelligiblen Welt und wird nur insofern von ihm (dem Menschen) als Sollen gedacht, als er sich zugleich als ein Glied der Sinnenwelt betrachtet. “ Der intelligible Charakter ist also nach Kant jene Willens beschaffenheit, welche das intelligible Subject unabhängig von seinen phänomenalen Eigenschaften hat. Insofern nun Kant ausdrücklich hervorhebt, dass dieses Subject org a
nisirt , lässt sich eine gewisse Verantwortlichkeit selbst für die Erscheinungsform nicht ablehnen , wenngleich hier
Factoren auftreten , welche ganz unabhängig von der Qua lification des Subjectes wesentlichen Einfluss auf
phänomenale Beschaffenheit (empirischen Charakter) üben.
118
Der intelligible Charakter.
Weder gegen diese Auffassung, noch gegen die Ma xime Kant's : „ Handle so, als ob die Maxime Deiner Hand
lungen durch Deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollen , “ ist etwas einzuwenden . Doch darf diese
Maxime nur nicht als mehr gelten , denn als Prüfstein für unsere Handlungen.
Das Motiv für unser Handeln
fehlt darum noch immer, und ist dadurch die Entstehung des „ Du sollst nicht erklärt. Dass das „ Sollen “ seine Wurzel in der intelligiblen Welt hat, darüber hat sich Kant deutlich genug ausgesprochen, nicht aber über das Warum. (Die Ansicht Ka nt's, dass das intelligible Sub ject das , was es in der phänomenalen Welt soll , in der
intelligiblen Welt will, ist streitig und für alle Fälle und Willensacte gewiss nicht annehmbar.) Kant will unsere Moralität oder Sittlichkeit lediglich in der Erfüllung unserer Pflichten erkennen, und dem reinen
Wohlwollen nur Liebenswürdigkeit , aber nicht moralischen Werth zuerkennen.
Es soll nicht Neigung zum Guten,
sondern Pflichterfüllung verdienstlich sein. ( S. 240, Grundlage der Metaphysik der Sitten.) Es ist allerdings wahr, dass nur der Conflict zur Evi
denz bringen kann, wie weit die Opferfähigkeit meines Wohlwollens geht , doch ist mir ein Mensch, der aus Nei gung edel handelt, lieber, als der es aus Pflichtgefühl gegen ein , wenn auch von ihm selbst gegebenes, also autonomes Gesetz thut. Das letztere ist sehr correct, aber setzt eben einen gewissen Grad von Bildung oder Uebung voraus, der selten ist. Die edle Natur ist diejenige, die gar keine Maximen braucht, weil ihr das Gute zur zweiten Natur geworden ist. Kant gibt das an einer Stelle zu , was aber genügt ; er sagt : ,,Um das zu wollen , wozu die Vernunft allein dem
sinnlich afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl
Der intelligible Charakter.
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der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht eipzuflössen ."
Kant wendet seine Maxime auf vier Fälle an , aus denen hervorgeht, dass sie nicht so leicht auf alle Fälle angepasst werden kann . Der erste Fall ist der Selbstmord, der von Allen angewendet , allerdings durch seine Maxime nicht gebilligt werden könnte ; da aber nur die, welche sich und vielleicht Anderen zur Last sind, daran denken, mitunter der Selbst mord im Interesse Anderer auch vorkommen kann , so er weist sich die Kant'sche Maxime als Motiv schon nicht
praktisch, und zwar umsoweniger, als solche Reflexionen in
der Regel von den Selbstmördern nicht gemacht werden. Dazu bedarf es stärkerer Motive .
Der zweite Fall ist das Borgen ohne Aussicht auf
Zurückstellung , was als Rechtsverletzung nach allen Maxi men verwerflich ist.
Für den dritten Fall , die Ausbildung vorhandener Talente , werden wir ebenfalls ein stärkeres Motiv später
finden , als die Anschauung: wenn Alle so dächten , und sich blos ergötzten, ginge die Welt zurück. Der vierte Fall ist der interessanteste, weil da die Schwäche der Kant'schen Maxime als einzigen Motives zu Tage tritt. Kant sagt S. 271 :
„Ein Vierter, dem es wohl geht, indessen er sieht, dass Andere mit grossen Mühseligkeiten zu kämpfen haben (denen er auch wohl helfen könnte), denkt, was gehts mich an ? Mag doch ein Jeder so glücklich sein als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden, nur zu seinem Wohlbefinden oder zu seinem Beistande in der Noth habe
ich nicht Lust etwas beizutragen. Nun könnte allerdings, wenn eine solche Denkungsart ein allgemeines Naturgesetz würde, das mensch liche Geschlecht gar wohl bestehen und ohne Zweifel noch besser, als
wenn Jedermann von Theilnehmung und Wohlwollen schwatzt, auch sich beeifert, gelegentlich dergleichen auszuüben, dagegen aberauch ,wo er nur kann, betrügt, das Recht der Menschen verkauft oder ihm sonst
120
Der intelligible Charakter.
Abbruch thut. Aber obgleich es möglich ist, dass nach jener Maxime ein allgemeines Naturgesetz wohl besteben könnte , so ist es doch
unmöglich zu wollen, dass ein solches Princip als Naturgesetz allent halben gelte. Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst
widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen können, wo er Anderer Liebe und Theilnahme bedarf, und wo er durch ein solches
aus seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz sich selbst aller
Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, berauben würde. “ Kant ist also in diesem Falle gezwungen , den Egois mus, und zwar nicht den intelligiblen – wie später wir – sondern den phänomenalen Egoismus zu Hilfe zu rufen, weil seine Maxime nicht mehr zureicht. Man kann Kant darin
zustimmen , dass das Sittengesetz , dieses „ Sollen “ in uns, nicht „aus der menschlichen Natur fliesse “ und dass Alles Empirische „ als Zuthat zum Principe der Sittlichkeit“ nichts tauge, denn diese ist ganz gewiss transcendentaler Natur. Meine Leser werden ohnehin nicht mehr im Zweifel
sein und mit Leichtigkeit die Quelle bezeichnen, aus wel. cher die Befriedigung und Nichtbefriedigung hervorgeht, die wir nach vollbrachter That empfinden ; das Subject , wel ches den Organismus aus Zellen entwickelt , welches em pfindet, denkt, will, ist offenbar dasselbe, welches den Aus spruch in uns veranlasst : „ Du sollst" . Und warum soll es ? Weil es für das Subject
am besten ist, wenn es dieser inneren Stimme nachkommt.
Die Anhänger Schopenhauer's und Hartman n's werden sogleich einwenden, dass meine Moral auf Egoismus beruhe gewiss, aber was für ein Egoismus ist das ?! Es gibt Egoisten, welche Millionen Werthe und Tau sende von Menschenleben ihrem Ehrgeize opfern , welche die
Noth Anderer zu Gunsten ihrer eigenen materiellen Inter essen ausbeuten , welche aus Sinnlichkeit Schandthaten aller Art ausüben : es gibt Egoisten, welche für ihre Thaten eine
Entschädigung in der Anerkennung oder Belohnung in
Der intelligible Charakter. diesem oder einem andern Leben erwarten
121
einen sol
chen Egoismus gebe ich preis. Aber es gibt auch einen Egoismus, der das Streben hat, vollkommen zu sein, dass Gute überhaupt zu wollen, und der daran sein Vergnügen findet; ich vertheidige nur
jenen Egoismus , der nicht lernt , um damit zu glänzen, sondern um etwas zu wissen , der nicht Gutes schafft, um eine Entlohnung zu finden , sondern weil es ihm gefällt.
Ich habe weder eine Verantwortung, noch ein Verdienst um die wunderbare Einrichtung , dass ich für mich nicht
besser sorgen kann, als meinen Nächsten zu lieben. Das Gefühl der Verantwortlichkeit für unser Thun liegt aller dings im „esse“ dieses Subjectes, aber das ist nur möglich, wenn dieses Subject nicht aus der Gottheit heraustritt, sondern das Product einer Entwickelung ist, die ich zu be sorgen habe ; das Gefühl der Verantwortlichkeit wäre ganz unmöglich, wenn die Beschaffenheit des intelligiblen Sub jectes ein Werk des Zufalls, der Gottheit oder des „Unbe wussten " wäre.
Doch so wie wir in der Verwahrlosung eines Indivi duums und in seinen Verhältnissen Entschuldigungsgründe
finden, so kann alle Schuld auch nicht auf das Subject fallen, was wir später klarstellen werden ; wir müssen früher einen Blick in die Ethik Schopenhauer's werfen , der, obschon von Kant ausgehend, das Moralprincip nicht im PAichtgefühle sucht.
Wenn wir die Ethik Schopenhauer's zusammen fassen , so finden wir , dass die Grundlage seiner Moral im Mitleide bestehe, welches wir zu Folge der Wesens Identität mit unserem Nächsten haben. Diese Anschauung
Schopenhauer's ist nicht nur eine egoistische (was ich ihr übrigens durchaus nicht zum Vorwurfe mache), daher nach ihm selbst ohne moralischen Werth , sondern sie hat
noch andere , weit wesentlichere Schwierigkeiten , deren
122
Der intelligible Charakter.
grösste darin bestehen , dass wir die Brücke nicht kennen, die vom individuellen Wesen zu jener unfass
baren metaphysischen allgemeinen Wesenheit führt , und dass wir die Verschiedenheit der Charaktere dann nicht begreifen könnten.
Wir stehen davor zwei Räthseln, wir finden bei Schopenhauer eine Moral , die keine Moral, sondern reiner Egoismus ist, und haben doch kein genügendes Motiv, welches den Egoismus in Schranken zu weisen vermöchte ; denn gut wäre dann Derjenige, welcher die Wesens- Iden tität fühlt, und schlecht Derjenige, welcher sie nicht fühlt ; für das „ Sein “ wäre aber Niemand verantwortlich , als der
Gott Schopenhauer's. Die Erfahrung, das einzige Mittel, welches das ,, Sein " zu ändern vermöchte , ist ein Werk des Zufalls oder der Nothwendigkeit , das Leben kurz – es ist mir auch nicht bekannt , dass sich Jemand aus der
Schopenhau er’schen Philosophie besonders werthvolle Motive für sein Handeln geholt hätte. Sie ist ausgezeichnet, um die Phänomenalität unserer Vorstellungen, also auch unserer Persönlichkeit einzusehen , aber die durch sie ge
wonnene Unterlage ist ein unerklärtes, mystisches und un brauchbares Prinzip, ein unverstandener Gott, den ich nicht einmal mit dem Jehovah eintauschen wollte.
Die Aufgabe der Ethik ist, die Triebfeder unseres
moralischen Handelns zu finden, und dadurch für das Er kenntnissvermögen Motive zu schaffen. Schopenhauer stellt im § 16 seiner Ethik folgende Axiomata auf : 1. Keine Handlung kann ohne zureichendes Motiv geschehen so wenig, als ein Stein ohne zureichenden Stoss oder Zug sich bewegen kann.
2. Eben so wenig kann eine Handlung, zu welcher ein für den Charakter des Handelnden zureichendes Motiv vorhanden ist, unter bleiben , wenn nicht ein stärkeres Gegenmotiv ihre Unterlassung nothwendig macht.
Der intelligible Charakter.
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3. Was den Willen bewegt , ist allein Wohl und Wehe überhaupt und im weitesten Sinne des Wortes genommen , wie auch umgekehrt Wohl und Wehe bedeutet , einem Willen gemäss oder entgegen. Also muss jedes Motiv eine Beziehung auf Wohl und Wehe haben.
4. Folglich bezieht jede Handlung sich auf ein für Wohl und Wehe enpfängliches Wesen als ihren letzten Zweck.
5. Dieses Wesen ist entweder der Handelnde selbst, oder ein Anderer , welcher alsdann bei der Handlung passiv betheiligt ist ,
indem sie zu seinem Schaden oder Nutz und Frommen geschieht. 6. Jede Handlung, deren letzter Zweck das Wohl und Wehe des Handelnden selbst ist, ist eine egoistische. 7. Alles hier von Handlungen Gesagte gilt ebensowohl von
Unterlassung solcher Handlungen , zu welchem Motiv und Gegen motiv vorliegt.
8. In Folge der im vorhergehenden Paragraphen gegebenen Auseinandersetzung schliessen Egoismus und moralischer Werth einer Handlung einander schlechthin aus. Hat eine Handlung
einen egoistischen Zweck zum Motiv, so kann sie keinen moralischen Werth haben , soll eine Handlung moralischen Werth haben , so darf kein egoistischer Zweck unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv sein. 9. In Folge der in $ 5 vollzogenen Elimination der vorgeblichen PAichten gegen uns selbst kann die moralische Bedeutsamkeit einer
Handlung nur liegen in jhrer Beziehung auf Andere: nur in Hin sicht auf diese kann sie moralischen Werth oder Verwerflichkeit
haben und demnach eine Handlung der Gerechtigkeit oder Menschen liebe, wie auch das Gegentheil beider sein.
Wir haben es nur mit dem Punkte 8 zu thun , in welchem Schopenhauer jede egoistische Handlung als moralisch werthlos bezeichnet , was ich darum hervorheben
muss , weil die moralische Triebfeder Schopenhauer's eine durch und durch egoistische ist, abgesehen davon, dass es gar nicht wahr ist , dass Egoismus und moralischer
Werth sich ausschliessen. Wenn ich ein Vergnügen daran finde, wohlwollend zu sein ohne alle Rechnung auf Beloh nung oder Anerkennung , so ist das sehr egoistisch, denn
es macht mir ja ein Vergnügen , und doch ist es moralisch.
124
Der intelligible Charakter .
Nach Schopenhauer ist es das Mitleid , welches uns veranlasst , wohlwollend zu sein , und zwar aus dem Grunde, weil wir uns mit dem Nebenmenschen iden tificiren , und wir identificiren uns , weil wir ein und dasselbe Wesen sind.
Es wäre in diesem Falle
also mein Wohlwollen, mein etwaiger edler Charakter reiner Egoismus , daher nach Schopenhauer's Theorie ganz ohne moralischen Werth.
Darin hat Schopenhauer Recht , dass das Funda ment der Moral tief in unserem Innern sitzt und nicht in
den verschiedenen Regeln der Ethiker, wenn dieses Gefühl auch durchaus nicht das Identitätsgefühl sein muss . Er führt folgendes Beispiel an , mit welchem er die ver schiedenen Moralgesetze seiner Zeitgenossen und Vorgänger persiflirt (Seite 231) : „Man setze zwei junge Leute, Cajus und Titus, beide leiden schaftlich verliebt, doch jeder in ein anderes Mädchen, und jedem stehe ein wegen äusserer Umstände bevorzugter Nebenbuhler durch aus im Wege. Beide seien entschlossen , jeder den seinigen aus
der Welt zu schaffen, und beide seien vor aller Entdeckung, sogar vor jedem Verdachte vollkommen gesichert.
Als jedoch jeder
seinerseits an die näbere Veranstaltung des Mordes geht , stehen Beide, nach einem Kampfe mit sich selbst, davon ab . Ueber die Gründe dieses Aufgebens ihres Entschlusses sollen sie uns auf. richtige und deutliche Rechenschaft ablegen.
Nun soll die Rechen
schaft , welche Cajus gibt , ganz in die Wahl des Lesers gestellt sein. Er mag etwa durch religiöse Gründe, wie den Willen Gottes, die dereinstige Vergeltung, das künftige Gericht u. dgl. abgehalten
worden sein. Oder aber er sage : „ Ich bedachte, dass die Maxime meines Verfahrens in diesem Falle sich nicht geeignet haben würde, eine allgemein giltige Regel für alle möglichen vernünftigen Wesen abzugeben, indem ich ja meinen Nebenbuhler allein als Mittel und
nicht zugleich als Zweck behandelt haben würde.“ Oder er sage mit Fichte : „ Jedes Menschenleben ist Mittel zur Realisation
des Sittengesetzes : also kann ich nicht, ohne der Realisation des Sittengesetzes gleichgiltig zu sein , einen vernichten , der zu der selben beizutragen bestimmt ist.“ (Sittenlehre S. 373.) – Diesem
Der intelligible Charakter.
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Scrupel, beiläufig gesagt, könnte er dadurch begegnen, dass er, im Besitze seiner Geliebten, bald ein neues Instrument des Sittengesetzes
zu produciren hofft.
Oder er sage, nach Wollastone : „ Ich habe überlegt, dass jene Handlung der Ausdruck eines unwahren Satzes sein würde.“ – Oder er sage, nach Hutcheson: „ Der moralische Sinn, dessen Empfindungen, wie die jedes anderen Sinnes, nicht weiter er
klärlich sind, hat mich bestimmt, es sein zu lassen.“ - Oder er sage, nach Adam Smith : „ Ich sah voraus , dass meine Handlung gar keine Synı pathien mit mir in den Zuschauern derselben erregt haben würde . “
-Oder nach Christian Wolf : „ Ich erkannte , dass ich dadurch
meiner eigenen Vervollkommnung entgegenarbeiten und auch keine fremde befördern würde.“ Oder er sage, nach Spinoza : „ Homini nihil utilius homine : ergo hominem intrerimere nolui “. Kurz , er sage ,
was man will: — Aber Titus , dessen Rechenschaft ich mir vorbehalte,
der sage : „ Wie es zu den Anstalten kam , und ich deshalb für den Augenblick mich nicht mit meiner Leidenschaft, sondern mit jenem Nebenbuhler zu beschäftigen hatte, da zuerst wurde mir recht deutlich ,
was jetzt mit ihm eigentlich vorgehen sollte . Aber nun ergriff mich Mitleid und Erbarmen , es jammerte mich seiner , ich konnte es nicht übers Herz bringen : ich habe es nicht thun können .“
Jetzt frage
ich jeden redlichen und unbefangenen Leser : Welcher von Beiden ist der bessere Mensch ? Welchem von Beiden möchte er sein eigenes Schicksal lieber in die Hand geben ? Welcher von ihnen ist Wo liegt durch das reinere Motiv zurückgehalten worden ? demnach das Fundament der Moral ?66
Wenn es sich statt um einen Mord , nur um Verleum dung gehandelt hätte , so würde Titus vielleicht nicht vom Mitleide ergriffen worden und daher der schlechte Kerl ge blieben sein, der er schon früher war, als er den Entschluss zum Mord fasste , als er im Interesse seiner Sinnlichkeit und Liebe fremde Rechte , und zwar nichts weniger als ein Menschenleben opfern wollte. Titus ist zwischen diesen vorausgesetzt, beiden Schurken allerdings der bessere dass sie Beide gleich liebten und von gleicher Willensstärke waren .
Das wäre ein schönes Fundament der Moral !
In Bezug auf die Ethik Hartmann's habe ich das Nöthige schon im zweiten Bande der „ Vorurtheile“ ange führt. Hartmann hat vor Schopenhauer den Vorzug,
126
Der intelligible Charakter,
dass er die Hingabe an die Culturentwickelung lebrt und nicht das Mitleid allein als Leitstern unseres Thun und Lassens hinstellt; das Motiv aber , das uns zu dieser Hin
gabe begeistern soll, ist ohne praktischen Werth. Die Rück kehr ins Unbewusste ohne Garantie, dass der Jammer wie der beginne, kann nicht begeistern. Wie die Verschiedenheit des intelligiblen Charakters und das Gefühl der Verantwort
lichkeit erklärt werden sollen, ist eine Schwierigkeit, welche beide Philosophen , Schopenhauer und Hartmann , durch die Beschränkung der Individuation auf das phäno menale Gebiet der Vorstellung gemein haben. Dass Schopenhauer in dem Mitleide die Quelle des Wohlwollens zu finden glaubte, ist übrigens begreiflich, denn das Bewusstsein fremden Leidens muss in unserem Wohl
wollen eine gewaltige Steigerung hervorrufen , und kann der Anblick desselben unter Umständen uns bis zur Auf
opferung des eigenen Lebens treiben. (Die Wirkung des fremden Lachens und Weinens auf uns hat auch einen
physikalischen Grund, auf welchen wir später kommen .) Wir haben in einem früheren Capitel betont, dass die Einwirkung der Motive und deren Beurtheilung das Mass gebende sind, um einen bestimmten Charakter auf eine be stimmte Weise bandeln zu machen.
Wir haben also eigent
lich drei Factoren : die ursprüngliche Beschaffenheit des intelligiblen Subjects, die einwirkenden Motive und das In strument unseres Erkenntniss- und Empfindungsvermögens,
den Organismus. Wir werden die Thaten eines Wahnsinnigen und Trunkenen, die Noth einer hungernden Familie bei Be urtheilung eines Menschen immer berücksichtigen, aber auch sehr oft von Jemand sagen , er sei ein schlechtes Subject, wenn er auch gerade kein Verbrechen begeht. Es giebt aber noch eine Verschiedenheit unter den Menschen , welche meines Wissens noch von Niemand
Der intelligible Charakter.
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gewürdigt wurde , und die sich aus der Untersuchung der
phänomenalen Natur unserer Vorstellung ergibt. Es gibt Menschen von voller phänomenaler Befangen heit und solche von geringerer phänomenaler Be fangenheit - ganz unabhängig davon , wie es mit dem
moralischen Werthe des Subjectes, dem Temperamente und dem Erkenntnissvermögen steht. Doch muss hier scharf unterschieden werden, zwischen der geringen phänomenalen Befangenheit der Dichter, Träumer oder Seher , und der a posteriori im Wege des
Denkers erschlossenen Erkenntniss von der phänomenalen Beschaffenheit unserer Welt, wie solche im Wege des Stu diums der Philosophie erworben werden kann. So gehöre ich, meiner Organisation nach, unzweifelhaft
zu den Individuen von voller phänomenaler Befangenheit, und habe nie eine Hallucination, Ahuung oder einen bedeutungs vollen Traum gehabt, noch mich auf einem richtigen Instinct ertappen können. Ich glaube auch nicht, dass ich als
Künstler oder Dichter je etwas Gutes hätte schaffen können. Schon der gemeine Verstand ist gewohnt , bei Beur theilung eines Menschen „ Kopf und Herz“ zu unterscheiden, und von einem guten und schlechten Kopfe und gutem und schlechtem Herzen zu sprechen ; er drückt sich noch deut licher aus , er sagt auch , Dieser oder Jener ist ein prak tischer und positiver Mensch , oder er ist ein Träumer, Schwärmer oder Idealist. Der eigentlichen Ursache dieser
letzten Unterscheidung ist sich der gemeine Verstand nicht bewusst, und doch ist sie für das Verständniss der grossen Verschiedenheit der
menschlichen Naturen und Anschau
ungen von grösster Wichtigkeit. Schon der alte Heraklit , der „ Dunkle“, sagte , un
sere Sinne seien Lügenschmiede , und in diesem Um stand ist der Unterscheidungsgrund zu finden ; der Eine hat gute Schmiede , der Andere schlechte ; bei dem Einen
Der intelligible Charakter.
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ist die phänomenale Täuschung eine vollkommene, bei
dem Andern
ist sie eine unvollkommene
der
Metaorganismus leuchtet mehr oder weniger durch.
Ich werde zur grösseren Deutlichkeit ein Schema die: ser Eintheilung entwerfen, welche Eintheilung durcbaus nicht
als eine scharfe Trennung der einzelnen Gruppen zu be trachten ist
im Gegentheile, diese fliessen sowohl in der
verticalen als horizontalen Richtung der Colonnen durch un zählige Abstufungen ineinander. Unter voller phänomenaler Befangenheit verstehe ich
den rohen (unphilosophischen ) Zustand des gemeinen Ver standes, der die Sinnenwelt als eine volle Realität auffasst, und einzig und allein in ihr lebt – ein Standpunkt , den nicht nur thierische und materielle Menschen, sondern auch
gebildete, naturwissenschaftlich weit vorgeschrittene einneh men können , wo hingegen die geringere phänomenale Be fangenheit sich durch eine Schwärmerei , durch das meta physische und religiöse Bedürfniss und durch eine Traum oder Ideenwelt auszeichnet, daher an transcendente Unter
lagen begreiflicherweise leicht glaubt, aber darum auch dem Aberglauben sehr leicht verfällt. Es ist der Gegensatz, den der gewöhnliche Sprachgebrauch mit den Ausdrücken : „ po sitiver, materieller Mensch “, und „ Idealist, Poet, Phantast“ bezeichnet. Doch muss diese Anschauung rectificirt werden, weil die volle oder geringere phänomenale Befangenheit ganz unabhängig von dem Charakter und dem Grade der Intelligenz ist. Es ergeben sich die folgenden Versetzungen ;
doch bemerke ich noch einmal , dass es sich in dieser Ta belle nur um die in unserer Organisation liegende Beschaffenheit, und nicht um die a posteriori erworbene Erkenntniss handelt, wie eine solche z. B. auch durch die Lectüre dieses Bandes bei meinem Leser entstehen könnte.
Der intelligible Charakter.
129
Die beiden letzten Gruppen (3 und 4) der zweiten Reihe sind mehr des Systems halber hergesetzt, in der Wirklichkeit dürfte diese Zusammenstellung schwer zu
finden sein ; auch habe ich der Kürze wegen „ Intelligenz “ statt dem richtigen „ intellectuelle Fähigkeit “ gesetzt. Volle phänomenale Befangenheit: 1.
(Edle Natur
2.
(Edle Natur
3.
4.
Gemeine Natur (Gemeine Natur
Hohe Intelligenz Geringe Intellig. Hohe Intellig. Geringe Intellig. Geringe phänomenale Befangenheit: 1.
ſEdle Natur
2.
SEdle Natur
4.
3.
(Gemeine Natur (Gemeine Natur
Hohe Intelligenz (Geringe Intellig. (Hohe Intellig . Geringe Intellig. Betrachten wir zuerst den Uebergang von der vollen zur geringen phänomenalen Befangenheit der edlen und intelligenten Naturen, also die erste Colonne. Zu den edlen und intelligenten, sich aber der phäno . menalen Welt ganz hingebenden Menschen sind vor Allem einzelne Staatsmänner und auch Menschenfreunde zu zäh len , etwa ein Heinrich IV. von Frankreich , ein Colbert,
selbst der Regent Philipp von Orleans; den Uebergang bilden Philosophen und Poeten vom Schlage eines Sokrates und Göthe , um in einem Christus zu endigen , der sein ganzes Sinnen und Wirken in die nicht phänomenale Welt verlegt und allen Gütern der phänomenalen Welt den Werth abspricht. Die beiden Ersteren haben nicht so sehr durch ihre Ansichten und Dichtungen, als insbesondere durch ihr
aussersinnliches Schauen auf diese Bezeichnung Anspruch. Was nun die zweite Colonne anbelangt, so umfasst
sie die trefflich so genannten Gutmüthigen , um mit Mysti kern und religiösen Schwärmern zu endigen. Hellenbach , Vorurtheile III.
9
130
Der intelligible Charakter.
Zu den gemeinen Naturen mit genügender Intelli genz und voller phänomenaler Befangenheit ( Nr. 3) zählen in der Regel die sogenannten „Gebildeten in der Civi lisation , die Egoisten.
Als Musterbilder könnte man nen
nen : Die Napoleoniden und die Mitglieder des Hauses
Orleans von „ Egalité“ bis Louis Philipp und zum Theile auch darüber hinaus.
Selten wird man unter solchen
Individuen eine Natur von geringer phänomenaler Befan genheit finden , denn eine solche wäre geradezu das Princip
des Bösen ; auch ist nicht zu übersehen, dass der Zustand des sich Erhebens über die phänomenale Anschauung kein constanter ist (sonst wäre das Wabnsinn ); in solchen Augen. blicken von geringerer phänomenaler Befangenheit (die ge hobene beschauliche Stimmung) wird sich immer ein Licht punkt finden lassen , wie denn die grossen Peiniger der Menschheit im Genre eines Napoleon auch solche Regungen hatten .
Das praktische Leben und die Criminalgeschichte liefern viele Beispiele von ganz unvereinbaren Handlungen bei einem und demselben Individuum ; doch sowie der Wein rausch die Natur eines Menschen umzukehren im Stande
ist , so steht es auch mit der phänomenalen Befangenheit,
die ganz plötzlich durch die verschiedensten Einwirkungen in den Hintergrund oder Vordergrund treten kann. Was nun die vierte Colonne anbelangt , so ist der eigentliche Repräsentant der gemeinen Naturen mit geringer Intelligenz und voller phänomenaler Befangenheit das Thier,
also auch die lediglich den thierischen Trieben huldigenden Menschen ohne metaphysisches Bedürfniss, ohne Religion, ohne Schwung ; in diese Classe gehören die meisten Ver brecher, die den rücksichtslosen Kampf um's Dasein führen , um ausnahmsweise , wenn die phänomenale Befangenheit keine vollkommene ist, selbst zu wahrhaft bösen, an diesem
Lust empfindenden Bestien zu werden. Zwischen schlecht und
Der intelligible Charakter.
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böse ist ein Unterschied . Der schlechte Mensch gebraucht alle Mittel, um seine egoistischen Zwecke zu erreichen , der böse findet ein Vergnügen an den Leiden Anderer. Wir haben also auf der einen Seite, welche die Welt
der Erscheinung und Vorstellung für letzte und volle Realität hält und frei von jeder Ahnung des phä nomenalen Schwindels ist, alle sogenannten praktischen Leute und Egoisten, die sich in der Regel mit dem Erwerbe und Genusse , mit der Politik und der trockenen Naturwissen
schaft u. 8. w. beschäftigen und die grosse Majorität der Menschheit bilden ; auf der andern Seite eröffnet der Phi
losoph den Reigen, weil er die Phänomenalität der Erschei nungswelt mit dem Verstande erschliesst, wenn seine Natur
auch nicht darnach angelegt wäre. Der Künstler, Schwär mer und Mystiker bilden den äussersten Flügel . Während für die letztere Gruppe die Welt eine tiefe, poetische oder mystische Unterlage hat , sieht die andere Partei mit Ver achtung auf solche Dinge und Schwärmereien und wird ge radezu grob, wenn ihr Thatsachen oder Argumente zu nahe an den Leib gehen. Es ist das auch kein Spass ! Die Für stenkronen, die Millionen , die Minister- Portefeuilles, die Po pularität lauter Dinge , die Vielen sehr hoch zu stehen kommen „ das soll nichts als phänomenaler Quark sein,
und es soll andere Güter geben , um die wir uns nicht Der menschliche Ehrgeiz sollte wirklich nur
kümmern ?!
leeren Phantomen nachjagen ?"
Der Leser wird begreifen , dass sich die Menschen wehren , wenn man sie in ihren Illusionen stört.
Freilich
flüchteten sie sich oft selbst hinein, wenn sich das Blatt wen det ! Das Unglück hat so Manchem das innere Auge ge öffnet !
Es gibt allerdings Illusionen , welche ganz unschädlich sind. Wenn ich des Abends, die Strassen betretend, mir ein
bilde, die Gasflammen seien lediglich mir zu Liebe und Ehren 9*
Der intelligible Charakter.
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angezündet, so ist das eine ganz unschädliche Illusion ; doch leider sind nicht alle Illusionen so harmloser Natur , im
Gegentheile, Ehrgeiz und Habsucht sind die mächtigsten
Triebfedern unseres Handelns und gleichzeitig die ergiebigsten Quellen der menschlichen Leiden. Es thut daher sehr gut, wenn man der „ gebildeten “ Welt zeigt, dass sie sich durch den Schleier der Maja foppen lasse , und sie dadurch
nach und nach zur Besinnung bringt. Die Phänomenalität unserer menschlichen Welt muss darum keine Veranlassung sein , uns einem unnützen und beschaulichen Leben eines Klostergeistlichen hinzugeben , denn das ist im besten Falle doch ein unfruchtbarer Egoismus ; wir haben zu wirken und zu schaffen und uns im Sinne Hartmann's
der Culturentwickelung hinzugeben. Die Erkenntniss der Phänomenalität unserer Welt kann uns aber die dauern den Werthe von dem Flitter unterscheiden lebren , und daran thut es wahrlich noth ! Was
die Veranlassung dieser Verschiedenheit unter den Menschen anbelangt, so ist sie eine sehr pro nun
saische und materielle. So wie es einen mehr oder weniger
dichten und dickeren Schleier gibt, so ist es auch hier der Fall. Das Entscheidendste dürfte das Keimmaterial sein, wenngleich Krankheit und Lebensweise darin viel zu ändern vermögen . Die Eigenschaft richtiger Visionen ist oft ange boren, kommt und geht, kann selbst um den Preis der Ge
sundheit erworben werden. Es ist aber ganz begreiflich, dass oft ein einzelnes schwer wiegendes Ereigniss einen sich ausschliesslich den Freunden der phänomenalen Welt hinge benden Menschen zur Besinnung bringen kann . Dieser Unterschied und der des Temperamentes sind von grosser
Wichtigkeit bei charakterologischen Untersuchungen. Phänomenale Befangenheit und Temperament, Lebens
stellung und Erziehung sind die Factoren , die wir durch die Geburt ühernehmen , und welche unsere ganze Existenz
Der intelligible Charakter.
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zu einer fatidiken machen, ohne darum die Verantwortlich keit aufzuheben . Alle Erfahrungen , die uns das Leben bie
tet, capitalisiren sich im Metaorganismus, der allerdings in günstige oder ungünstige Verhältnisse treten kann. Die Prüfungen des Lebens sind keine so ganz zwecklosen Fol tern ; ein ruhiges , glückliches Leben ist eben nicht geeig net , uns von den materiellen , phänomenalen Genüssen zu emanicipiren und höheren Bestrebungen zuzuwenden, auch bietet es keine Gelegenheit, unseren Werth zu erpro ben. Christus hatte daher sehr Recht, als er sagte : „ Den ich
liebe , den züchtige ich . “ In dieser Bestimmung des Menschen liegt die Verurtheilung des Selbstmordes, wie er in unseren Tagen so häufig ist. Dass aber nicht jeder Selbstmord in diese Kategorie der Feigheit und Verwerflich keit einzureihen ist, und dass der Materialismus und das aller
höchste Aerar nicht berechtigt sind , einen Lebensmüden durch Hunger und physische Leiden zu Tode zu quälen, das habe ich im ersten Bande meiner „ Vorurtheile “ bereits besprochen.
Für eine höhere Intelligenz könnte es keine Schwie rigkeiten haben, in richtiger Beurtheilung des Keimmateriales (welches über Temperament und selbst Gehirnbeschaffenheit entscheidet), der Lebensstellung, Erziehung und der Natur
des darstellenden Subjectes einen richtigen Schluss auf die Geschicke eines Menschen zu ziehen , da wir , wenn auch
in beschränkterer Weise, im gewöhnlichen Leben dasselbe tbun . Es hat daher auch gar nichts 80 Wunderbares, dass der zu bestimmten Zwecken unternommene Lebenstraum zu einem Fatum wird, welches ab und zu durchleuchtet ;
dieser Glaube an eine specielle Vorsehung entspringt aller dings nicht unserer Erkenntniss , sondern sitzt tiefer, er sitzt im Unbewussten , im Metaorganismus ; es kann daher
fatidike Wahrsagungen und Träume dort geben , wo eine geringere phänomenale Befangenheit herrscht. Daher kommt
134
Der intelligible Charakter.
es auch, dass man die Nothwendigkeit der Geschehnisse nicht als eine blinde , sondern zweckmässige , planmässige
auffasst; Schopenhauer nennt diesen Fatalismus den transcendenten, und meint, „dass der Lebenslauf des Ein zelnen , so verworren er auch scheinen mag, ein in sich übereinstimmendes, bestimmte Tendenzen und belehrenden Sinn habendes Ganzes sei , so gut wie das durchdachteste
Egos“*). Er sagt weiter : „Von diesem Gesichtspunkte aus könnte man den sehr transcendentalen Gedanken fassen,
dass diesem mundus phenomenon, in welchem der Zufall herrscht, durchgängig und über all ein mundus in telligibilis zu Grunde läge, welcher den Zufall selbst
beherrscht“ ... „ Wir begreifen oft nicht , wie wir haben Dieses oder Jenes thun oder unterlassen können ; so dass
es aussieht , als hätte eine fremde Macht unsere Schritte
gelenkt". Dieser Gedanke wäre der richtige gewesen , der aber mit den sonstigen Lehren Schopenhauer's im Wi dersprache steht.
Schopenhauer vergisst ganz , dass er ja selbst die
Welt als eine „ Vorstellung “ hingestellt, dass aber ein phäno menales Bild , das Mehrere zu gleicher Zeit auf eine über
einstimmende Weise sehen, doch ohne eine reelle Unterlage gar nicht möglich ist. Der Mundus intelligibilis ist also durchaus nothwendig, wenn Wesen von gleicher Organi *) Wie Schopenhauer die Ansicht vertreten konnte , dass nur in dem Schicksale des Einzelnen, nicht aber in der Weltgeschichte
Plan und Ganzheit sei, ist geradezu unbegreiflich. Parerga I. S. 218 . Der Zustand der Menschheit ist ebenso ein Entwickelungsproduct, wie der des einzelnen Menschen , hat also Nothwendigkeit in sich.
Es ist offenbar die Furcht vor dem Gottesgedanken, die ihn lebren machte, dass die Gesetze, welche für die einzelnen Wässer Geltung haben , für den grossen Fluss keine hätten, der doch nur aus und durch die kleinen Wässer gebildet wird.
Der intelligible Charakter.
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sation dieselbe Vorstellung einer phänomalen Welt haben sollen. Wenn ich allein in den Spiegel schaue , und sich darin ein Gegenstand abspiegelt , so mag ich vielleicht in Zweifel gerathen, ob ich nicht ein Spiel der Phantasie vor mir habe; wenn aber Mehrere dasselbe Bild im Spiegel sehen , so wird doch Niemand daran zweifeln , dass diesem Bilde ein wirkliches Object entsprechen muss.
Das , was er S. 227 über die Teleologie der Natur sagt , indem sie das Zweckmässige, ohne Kenntniss des Zweckes eintretend, darbietet. hätte ihn doch stutzig machen müssen .
Noch interessanter ist die Aeusserung Schopen hauer's, wo er von den Leiden zu unserem Wohle spricht, „zumal wenn wir als unser wahres Wohl das metaphysisch moralische Denken betrachten.“ Auf das Wohl des intel .
ligiblen Wesens kommt es nun allerdings an. Dass die Unterlage eines intelligiblen Charakters für
uns, und einer intelligiblen Welt für die phänomenale viele Gegensätze und Räthsel löst, ist, wie der Leser sieht, schon in
Schriften Kant's und Schopenhauer's enthalten.
Letzterer schliesst seine Abhandlung über die anscheinende
Absichtslosigkeit im Schicksale des Einzelnen mit der Be trachtung, dass die Kant'sche Unterscheidung vom Ding an sich und Erscheinung es möglich mache , drei sonst unver
einbarliche Gegensätze zu begreifen : nämlich die Freiheit des Willens an sich, und die Nothwendigkeit der Handlungen, ferner die rein technisch - causale und teleologische Erklär
barkeit der Naturprodukte ; endlich die offenbare Zufällig. keit aller Begebenheiten im individuellen Lebenslaufe und ihre moralische Nothwendigkeit zur Gestaltung desselben, gemäss einer transcendenten Zweckmässigkeit für das Individuum . " Worauf diese geheimnis :volle Lenkung des individuellen Lebenslaufes es eigentlich abge sehen habe, lässt sich nur im Allgemeinen angeben . Bleiben
Der intelligible Charakter.
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wir bei den einzelnen Fällen stehen, so scheint es oft, dass sie nur unser zeitiges, einstweiliges Wohl im Auge haben, dieses jedoch kann wegen seiner Geringfügigkeit, Unvoll. kommenheit, Futilität und Vergänglichkeit nicht im Ernste ihr letztes Ziel sein ; also haben wir dieses in unse
rem ewigen , über das individuelle“ ( sollte heissen phänomenale) „Leben hinausgehende Dasein zu suchen . “
Dass eine Verwerthung unseres Lebenslaufes und der
in demselben gemachten Erfahrungen und gewonnenen Em pfindungsfähigkeiten im Falle der Auflösung in einem meta physischen Allwillen nicht möglich ist, wird Jeder zugeben, wie nicht minder , dass , wenn die phänomenale Welt der Vorstellung nur durch den Eintritt eines ursprünglichen
intelligiblen Charakters in die empirische Welt, und durch den empirischen Charakter möglich ist, offenbar nichts An deres übrig bleibt als der Rücktritt in die intelligible Welt. Es geht dies fast aus jeder Zeile hervor , die Schopen ha u er später geschrieben ; doch so wie in früheren Zeiten Alles ad majorem Dei gloriam verwerthet wurde, so glaubte die jüngste Epoche unbedingt für den Atheismus und Ma terialismus Capital schlagen zu müssen , wenn auch auf Kosten der gesunden Vernunft .
Es sieht beinahe so aus, als hätte sich Schopen hauer das Recht, auf den Materialismus loszudreschen, erst durch einen ostentativen Atheismus erkaufen wollen .
Wenn wir die menschliche Erscheinung einer objec tiven Prüfung unterziehen , in Bezug auf Entstehung , Ent
wickelung und Funktion, so gelangen wir zur Nothwendig keit einer intelligiblen Unterlage, zum intelligiblen Sub ject. Ein solches kann ohne Eigentbümlichkeiten gar nicht gedacht werden, wir stehen also gleichzeitig vor der Noth wendigkeit eines intelligiblen Charakters , dessen Existenz sich durch den Imperativ des „ Sollens“ auch prak
Der intelligible Charakter.
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tisch offenbart, und welcher wieder ohne intelligibles Sub ject nicht denkbar wäre.
Ein über das phänomenale „Ich“ hinausgehendes intel ligibles Subject mit einem über den empirischen Charakter hinausgehenden intelligiblen Charakter wären allein schon hinreichend , auf die Nothwendigkeit der Existenz einer
intelligiblen Welt zu schliessen . Wir werden in dem folgenden Capitel aber ganz unabhängig von dieser Noth
wendigkeit uns mit einer solchen beschäftigen , wodurch noch so Manches an Klarheit gewinnen wird , was meinem Leser vielleicht in Bezug auf das intelligible Subject und dessen Charakter dunkel scheint.
Neuntes Capitel. Die intelligible Welt. Die beiden zur intelligiblen Welt führenden Wege. Die Wieder sprüche mit der phänomenalen Gesetzmässigkeit. - Der phänomenale Schein der Naturgesetze.
Die Denker der früheren Jahrhunderte hatten sich in
ihren metaphischen Speculationen begreiflicherweise den tiefen Gedankengang eines Kant nicht angeeignet , um aus der Nothwendigkeit der Existenz eines intelligiblen Sub jectes und Charakters auf das Vorhandensein einer intelli giblen Welt schliessen zu können ; wenngleich sich Spuren
dieses Gedankenganges schon bei Sokrates finden. Nichts destoweniger hat die Menschheit im grossen Ganzen an der Existenz einer intelligiblen Welt nie gezweifelt. So rich tig dieser Gedanke oder vielmehr Glaube auch war, so hatte man dennoch von dieser intelligiblen Welt die sonderbarsten Vorstellungen . Zu allen Zeiten haben einzelne Menschen die Anmas
sung gehabt, mitunter selbst bona fide, von der intelligiblen Welt Etwas zu wissen ; es waren die Propheten, Religions stifter, Priester und Medien aller Völker und Zeiten .
Im
zweiten Bande der „Vorurtheile“ habe ich den Nachweis
geliefert , dass diese Offenbarungen keinen viel grösseren
Die intelligible Welt
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Werth haben, als Träume, unter welchen sich hie und da
auch bedeutungsvolle, die Wahrsprüche oft streifende Bilder befinden .
Die Widersprüche, in welchen diese Offenbarungen unter einander stehen , und welche sich auch in jeder einzelnen finden lassen , müssten allein schon genügen , diesen Weg
ein für allemal zu verwerfen. Der Vergleich der Schriften eines Swedenborg , Jakob Böhme und Davis sollte die modernen Spiritisten verhindern, Offenbarungen (nicht etwa ihre eigenen Eingebungen , wie die obigen, sondern sogar fremde) als Unterlage ihres Glaubens und ihrer Weltan schauung zu benützen.*) Von einer brauchbaren Speculation über die intelli
gible Welt im Wege der Offenbarung kann niemals die Rede sein, eine solche führt nothwendig zu Vorurtheilen, weil sie sich auf heteronome, noch dazu unbekannte Auto rität stützt.
Es gibt nur zwei Wege , welche eine sichere Grund
lage für eine derartige Excursion bieten. Ich habe in den „ Vorurtheilen “ (II. Bd.) angeführt, dass unter den spiriti stischen Bestrebungen der Weg Zöllner's und Crookes der einzige ist , der uns langsam Einiges zu entschleiern
vermag , wenn wir nämlich an der Hand empirischer For schung und unter Würdigung unseres Erkenntnissvermögens Schlüsse auf den möglichen Causal - Nexus von gegebenen Erscheinungen ziehen. Denn es ist klar, das gerade Das jenige, was zuverlässig thatsächlich ist, und sich unter die
phänomenale Gesetzmässigkeit nicht bringen lässt , uns am ehesten ermöglichen werde , Schlüsse auf die intelligible *) Der Chemiker Hare in Philadelphia hat durch seine viel jährigen Untersuchungen und die Erfindung der einschlägigen Prüfungs
Instrumente grosse Verdienste um die Sache, und doch sind seine er haltenen Offenbarungen nichts als Träumereien , auf die nicht gebaut werden kann.
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Welt zu ziehen ; Wunder kann es nicht geben, und Alles, was ist, muss natürlich und gesetzmässig sein. Dies ist der
eine Weg, den Zöllner schon in seiner Vorrede zur elektro -dynamischen Theorie in Bezug auf den Raum in Anwendung bringt. Der andere Weg besteht in den Rückschlüssen von der normalen, phänomenalen Gesetzmässig. keit auf die intelligiblen Unterlagen. Es kann sich widersprechende Naturgesetze nicht geben ; ein und dasselbe Naturgesetz kann aber durch die Verschiedenheit
der physikalischen Verhältnisse oder Anschauungsweisen anders scheinen.
Kant, der entschieden am glücklichsten speculirte, und der begierig die Erscheinungen an anormalen Organi sationen aufgriff, weil er in ihnen das einzige Mittel sah, etwas hinter die Coulissen zu schauen
wie denn auch
die Verletzungen und Abnormitäten unsere physiologischen
Kenntnisse vermehren – hatte jene Erfahrungen und Fort schritte der Wissenschaft nicht zu Gebote , wie die jetzt lebende Generation, daher wir denn auch auf diesem Wege weiter gelangen können , als er. Kant hat diesen Weg
durch sein „intelligibles Subject“ und den „ intelligiblen Charakter" in Angriff genommen (und eigentlich schon Sokrates in Plato's Phädon ) ; er hat also dadurch auf die Nothwendigkeit einer transcendentalen Unterlage zur Er klärung phänomenaler Vorkommnisse geschlossen . Mit der nur ihm eigenthümlichen Klarheit und Offenheit sagt Kant :
„ Ich erkenne in mir Veränderungen als in einem Subjecte, was lebt , nämlich Gedanken , Willkür etc., und weil diese Bestimmungen von anderer Art sind, als Alles, was zusam mengenommen meinen Begriff von Körper macht, so denke
ich mir billigermassen ein unkörperliches und beharrliches Wesen . “
Man kann nicht einfacher und klarer die Noth
wendigkeit eines von den phänomenalen Erscheinungen ver
Die intelligible Welt.
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schiedenen Subjectes nachweisen , auf welches ihn übrigens
auch der „intelligible Charakter getührt. aber Kant vorsichtig hinzu :
Nunmehr fügt
„Ob dieses beharrliche Wesen
auch ohne Verbindung mit dem Körper denken werde, kann vermittelst dieser aus Erfahrung erkannten Natur niemals geschlossen werden. Ich bin mit einer Art Wesen durch Vermittelung körperlicher Gesetze in Verknüpfung, ob ich aber sonst nach anderen Gesetzen, welche ich die pneu
watischen nennen will, ohne die Vermittelung der Materie in Verbindung stehe oder jemals stehen werde, kann ich auf keinerlei Weise aus demjenigen schlies sen, was mir gegeben ist. “ Kant will offenbar andere Daten , wenn er auf die weitere Natur und Beschaffenheit dieses Subjectes schliessen soll, da die Betrachtung unserer eigenen Natur nur auf die Existenz dieses beharrlichen
Wesens , nicht aber auf dessen Art , einen sicheren Schluss erlaubt. An einer anderen Stelle äussert sich Kant ,
dass es schön wäre , wenn eine „ systematische Verfassung“ dessen , was er die „ intelligible Welt“ nennt , „ nicht ledig lich aus den Begriffen von der geistigen Natur überhaupt, die gar zu hypothetisch ist, sondern aus irgend einer wirklichen und allgemein zugestandenen Beob achtung könnte geschlossen oder auch nur wahr. scheinlich gemacht werden.“ Solche Beobachtungen, die uns erlauben, einige Schlüsse zu ziehen, sind nun allerdings heute gegeben, wenn sie auch nicht genügen , eine „ systematische Verfassung“ zu liefern . Die obigen zwei Fragen Kant's können zufällig mit Sicherheit beantwortet werden .
Es ist gewiss, dass das intelligible Subject dem Schick. sale nicht verfällt, welches ihm Schopenhauer und Drossbach zusprechen. Weder verschwindet es im Meere des , Willens“ , noch hat es als bewusstlose Monade Millionen
142
Die intelligible Welt.
Jahre auf Reaktivirung eines Bewusstseins zu warten. Das Subject hört nicht auf zu denken. Es wäre aber selbst ohne diese Thatsachen die Be
hauptung gegründet, dass das Subject zu denken vermögen muss , wenn der Mensch zu denken vermag, weil letzteres nur eine Modification der ersteren Denkweise sein kann ;
die Zellen können es gewiss nicht. Unser ganzes Leben ist ja nicht die eigentliche Function , sondern nur der phäno menale, dreidimensionale Abklatsch des eigentlichen Lebens ; sowie wir auch nicht zu träumen vermöchten, wenn wir bei Tage nicht ebenfalls und weit wirklicher fungirten. Kaut sagt ausdrücklich, dass „ hinter den Erscheinungen doch die Sachen an sich selbst , obzwar verborgen , zum Grunde lie
gen müssen “ . Daher auch ibre Beziehungen das Wirkliche sind, die von uns nur phänomenal aufgefasst werden. So wie das Denken der intelligiblen Wesen , so ist
a' ch die Möglichkeit ihres Eingriffes in die uns wahr nehmbare Materie zur unzweifelhaften Thatsache geworden ;
unsere blosse Existenz schon müsste als Beweis dafür dienen, doch wissen wir es aus unzweifelhaften Erfahrungen . Die Thatsachen , auf welche sich diese Behauptung stützt, habe ich im zweiten Bande der „ Vorurtheile " (auch an anderen Orten ) näher bezeichnet. Es ist daher nicht
nothwendig darauf zurückzukommen. Leider aber hat sich bei Beurtheilung solcher aussergewöbnlicher Fälle gezeigt, dass nicht nur ein lächerliches wissenschaftliches Vorurtheil,
sondern auch spiritistische Voreingenommenheit ihre Ver werthung hindert. Es ist daher auch in der zweiten Rich tung eine Richtigstellung nothwendig , denn nur eine sehr
vorsichtige Beobachtung und kritische Beurtheilung kann uns verlässliches Material liefern, um Schlüsse auf die Natur der intelligiblen Welt zu ziehen. So wie das Fernrohr, das Mikroskop und die Spectral-Analyse unseren Gesichtskreis auf eine für unsere Vorfahren gewiss undenkbare Weise
Die intelligible Welt.
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erweiterten , so kann das oft durch eine einzige richtige Beobachtung auf diesem Gebiete auch geschehen. Aber man darf sich nicht übereilen , weil ein übereilter Schluss leicht für längere Zeit auf Abwege führt. Man denke an
die Folgen der ersten unrichtigen und zweiten richtigen
Beobachtung des Venusdurchganges zu Zeiten Newtons ! Ich habe den Naturforschern immer den Vorwurf ge macht , dass sie für jede unbekannte Kraftäusserung einen
unbekannten Stoff voraussetzten , wodurch sich begreiflicher Weise Alles erklären lässt, so der Wärme- und Lichtstoff, der Aether , das Od , die verschiedenen Fluide u. s. w. Sowie es nun die Naturforscher mit den Stoffen , so machen es die Spiritisten mit den Geistern . Einen un verstandenen Vorgang einfach einem unbekannten Wesen mit unbekannten Eigenschaften zuzuschreiben , ist immer die bequemste Lösung .
Sowie uns die Kritik der Behauptungen des gemeinen Verstandes in den Stand versetzen wird , so manches Vor
urtheil der abergläubischen und der aufgeklärten Welt nach beiden Seiten hin richtig zu stellen , so wird es uns nun möglich, durch die Erkenntniss, dass unsere Persönlichkeit
nur ein Phantom, ein Bild ist, auch Licht in die spiritisti schen Phänomene zu bringen, was um so nothwendiger ist, als selbst Wallace , Crookes und Zöllner in Bezug auf die
Erklärungsweise , je nach ihrem Standpunkte, vielleicht nicht kritisch genug vorgehen . Der Leser verstehe mich wohl : Es wird mir nie ein
fallen, so bedeutende Physiker, als die beiden Letzteren, in Bezug auf die Thatsachen und deren exacte Prüfung be mängeln zu wollen. Ich traue den Augen eines Zöllner
und Crookes , wo es sich um physikalische Experimente handelt , mehr als meinen eigenen , und finde es lächerlich, wenn Jemand sich dahin äussert, bis er mit seinen eigenen
Die intelligible Welt.
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Augen nicht sieht, glaube er nicht an die Thatsächlichkeit der spiritistischen Phänomene.
Nur jener meiner Leser, der sich für einen bedeu tenden Experimental -Physiker hält, als Crookes
und Varley , Wilhelm Weber und Zöllner – also die ersten Kräfte Englands und Deutschlands
es sind , der
hat das Recht, an seine eigenen Augen lieber zu appel liren , statt die Schriften dieser Männer zu lesen. Diejeni
gen meiner Leser aber , welche die Unmöglichkeit dieser Dinge a priori behaupten – ein sehr häufiger Fall , Dank den wissenschaftlichen Vorurtheilen - die müssen sich noth wendig für bedeutendere Denker halten , als es
Sokrates , Plato und Kant waren, in der Regel glaubt allerdings Jeder, genug Verstand zu haben, und damit auch Andere reichlich versorgen zu können , aber für einen Physiker wird sich doch nicht leicht Derjenige halten können, der es nicht ist.
Die Phrase , „bis ich es nicht selbst gesehen “ , hat überhaupt keinen Sinn, denn wer von uns hat den Cometen von Anno 1744, das Erdbeben von Lissabon, Ludwig XIV ., das Franz- Josephs -Land gesehen ? Und wer glaubt nicht daran ?
Wer hat denn die Fundorte und Schichtenlagen der ver schiedenen archäologischen Ausgrabungen gesehen, und wer acceptirt nicht die gezogenen Folgerungen, welche auf dem Zeugniss mitunter eines einzigen Menschen beruhen ? Es handelt sich also nur um ein besseres Seben
und Urtheilen ; welcher meiner Leser kann sich aber an massen , die grössten Physiker der Gegenwart darin über treffen zu wollen ?
Sehr richtig sagt Wallace , dass allerdings Niemand glauben wird , dass irgend Jemand auf dem Telegraphen drahte aus Amerika und Europa reiten werde – aber es
wird es auch Niemand behaupten ; daher denn die übliche Phrase „ 80 wenig als ich das glaube, wenn mir es Jemand
Die intelligible Welt.
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erzählt, so wenig werde ich die spiritistischen Facta glau ben “, keinen Sinn hat.
Wenn ich also von Berichtigung spreche , so handelt
es sich nur um die Erklärungen und Consequenzen , welche diese ausgezeichneten Forscher an diese Phänomene knüpften und auch nicht knüpften . So erklärt Wallace so Manches mit Hilfe der Intervention anderer Wesen, wo es
gar nicht nothwendig ist, und Zöllner vielleicht so Manches mit Hilfe der vierten Raumdimension, wo sie ebenfalls noch nicht zwingend am Platze ist. Dadurch wird nun allerdings die Existenz weder anderer Wesensreihen, noch der vierten Raumdimension in Zweifel gezogen. Der kritische und vorurtheilsfreie Verstand darf sich durch keine Lieblings
gedanken beeinflussen lassen und muss jede objective Kritik willhommen heissen .
Wir werden aber bei unserem Versuche, einen Blick in die Verhältnisse der intelligiblen Welt zu werfen , nicht nur aus den der phänomenalen Gesetzmässigkeit scheinbar widersprechenden Thatsachen Schlüsse ziehen, sondern auch
aus der phänomenalen Gesetzmässigkeit selbst ; ein Weg, auf welchem ich keine Vorgänger zu haben glaube. Dieser Weg bietet ein ungeheures Feld und gewährt der Phantasie einen grossen Spielraum , daher er denn nur mit der grössten Vorsicht betreten werden darf.
Der erste Weg ist dagegen
sehr begrenzt, bietet aber weit mehr Sicherheit. Auf diesem wollen wir unsere Wanderung beginnen und uns sogleich in medias res versetzen.
Beobachtete sichergestellte Thatsachen erlauben uns folgende Schlüsse zu ziehen :
1. Die intelligible Welt existirt. 2. Die intelligible Welt hat Erinnerung ihrer phäno menalen Bilder . Bellenbach , Vorurtheile. III.
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Die intelligible Welt.
3. Die intelligible Welt kann unter gegebenen Bedin gungen die Formen der phänomenalen Organe bis zur Sicht barkeit und Fühlbarkeit für uns darstellen und dann unter
aussergewöhnlich günstigen Verhältnissen in die phänome nale Welt auf eine uns wahrnehmbare Weise eingreifen.
4. Die intelligible Welt erfreut sich seiner Bewegung und Wahrnehmung im Raume, wie sie der phänomenalen Welt unverständlich ist. Die einzelnen Thatsachen kann der Leser sowohl in
meinen, als Zöllner's, Crookes' und Wallace's Schriften fin den. Wir haben uns umsoweniger dabei länger aufzuhalten, als wir bei der gleich folgenden Kritik ohnehin auf ähn
liche Fälle zurückkommen und bei den Betrachtungen über die phänomenale Gesetzmäsigkeit den Beweis erbringen werden , dass das gar nicht anders gedacht werden könne, und dass diese aussergewöhnlichen Facta nur eine Bestäti gung an sich nothwendiger Voraussetzungen sind. Es ist schwer zu entscheiden, ob diese Thatsache jetzt oder in früheren Zeiten häufiger waren ; denn es ist be greiflich, dass die Folter und der Flammentod der Beob achtung Schwierigkeiten boten, wahrscheinlich ist es aber, dass sie jetzt immer häufiger auftreten werden , weil man
die nothwendigen Vorbedingungen besser kennen lernt und leichter findet, zu denen namentlich eine besondere Organi sation einzelner Individuen gehört. Gerade darum , weil diese Vorfälle in immer weitere
Kreise dringen werden, wird es gut sein, die bedeutendsten Forscher in dieser Richtung in ihrer Argumentation zu be gleiten , da jeder Erfinder oder Entdecker begreiflicherweise leicht des Guten zu viel thut.
Wir haben es also hier weniger mit den Thatsachen selbst zu thun, als mit deren Beurtheilung. Bevor wir diese Kritik beginnen, sei nur kurz bemerkt,
dass Zöllner , als er Dinge erlebte, welche mit der phä
Die intelligible Welt.
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nomenalen Gesetzmässigkeit im Widerspruche standen, den Versuch machte , sie durch eine nicht phänomenale, son dern transcendentale Gesetzmässigkeit zu erklären.
Meinen Lesern ist es bekannt, auf welche Weise Zöllner zur Voraussetzung der vierten Baumdimension gelangte , wie er unter dieser Voraussetzung experimentirte , und welch' schlagende Beweise er für die Richtigkeit seines Specula tion erhielt.
Dieses ist also der Weg, aus den Wider
sprüchen mit der phänomenalen Gesetzmässigkeit Schlüsse auf die intelligible Welt zu ziehen ; später werden wir dann versuchen , aus der phänomenalen Gesetzmässigkeit selbst Schlüsse zu ziehen .
So zweifellos als es ist , dass man nicht gleichzeitig den Anblick der phänomenalen und intelligiblen Welt haben kann , so lässt sich doch nicht behaupten , dass uns eine Kenntniss ganz unmöglich sei. Fechner hat in seiner Einleitung zur „ Psychophysik“ zwei treffliche Gleichnisse angeführt, die er auf Leib und Seele anwendet, welche aber noch besser auf die phänomenale und intelligible Welt an gewendet werden können. Er sagt : „ Wenn Jemand innerhalb eines Kreises steht, so liegt dessen convexe Seite für ihn ganz verborgen unter einer concaven Decke ; wenn er ausserhalb steht, umgekehrt die concave Seite unter der convexen Decke. Beiden Seiten gehören ebenso untrennbar zusammen, als die geistig und leibliche Seite des Menschen, und diese lassen sich ver gleichsweise auch als innere und äussere Seite fassen ; es ist aber auch
ebenso unmöglich , von einem Standpunkte in der Ebene des Kreises beide Seiten des Kreises zugleich zu erblicken, als von einem Stand punkte im Gebiete der menschlichen Existenz diese beiden Seiten
des Menschen. Erst wie wir den Standpunkt wechseln, wechselt sich die Seite des Kreises , die wir erblicken und die sich hinter der erblickten versteckt.“
Es ist schon Etwas , wenn wir aus dem Umstande dass die eine Seite concav ist , schliessen können , dass die andere convex sein müsse. Sowie ein Zusammenhang der 10*
148
Die intelligible Welt.
Vorgänge auf beiden Seiten besteht , oder der Kreis kein ganz undurchsichtiger wird, so beginnt die Möglichkeit einer Erkenntniss.
Noch besser ist der andere Vergleich : „Das Sonnensystem bietet von der Sonne aus einen ganz anderen Anblick dar, als von der Erde aus. Dort ist es die Copernikanische, hier die Ptolemäische Welt. Es wird in aller Zeit für denselben Be
obachter unmöglich bleiben, beide Weltsysteme zusammen zu be obachten, ungeachtet beide ganz untrennbar zusammengehören, und ebenso die concave und convexe Seite des Kreises im Grunde nur zwei verschiedene Erscheinungsweisen derselben Sache von verschiedenem
Standpunkte sind.
Wieder aber reicht es bin, den Standpunkt zu
wechseln , so tritt für die Welt die andere Welt in die Erscheinung."
Mit der vermehrten Erfahrung, mit der Verbesserung unserer Instrumente und dem Fortschritte der Wissenschaften
sind wir heute noch Einiges zu sagen in der Lage, wie der Anblick des Planetensystems auf einem anderen Weltkörper sich gestalten möge. Beide Systeme , das Copernikanische und Ptolemäische , sind ein und dasselbe , haben aber je
nach dem Standpunkte eine verschiedene phänomenale Gül. tigkeit. Nicht anders ist es mit der Welt, sie ist nur Eine, wird aber verschieden geschaut.
So ist es auch uns unmöglich, gleichzeitig den Anblick beider Welten zu haben , da die phänomenale Anschauung die intelligible ausschliesst. Wir können den Anblick des Planetensystems von der Sonne oder von irgend einem an deren Planeten aus nicht haben ; nichtsdestoweniger erlauben
wir uns doch Schlüsse; wie die Erde vom Monde oder der Venus aus aussehen mag , ob Bewohner auf den verschie denen Planeten gedacht werden können , aus was sie be
stehen, welches Gewicht, welche Beleuchtung sie haben u. s. W. Unsere Vorfahren hätten ein solches Unternehmen gewiss ebenso belächelt, wie so mancher meiner Leser und Nicht leser die Bestrebungen eines Zöllner vielleicht belächelt, und doch wäre das „ Ignorabimus“ unserer Vorfahren ganz
Schlüsse a . d. Widersprüchen m. d. phänom . Gesetzmässigkeit. 149 falsch gewesen .
Ein Anfang aber muss gemacht werden, und ist es höchste Zeit, dass die Speculation über die trans cendentale Welt der Geistlichkeit und den Offenbarungs
Spiritisten aus der Hand genommen und einer nüchternen Beurtheilung überantwortet werde.
I.
Die
aus den Widersprüchen mit der phänomenalen Gesetzmässigkeit.
Schlüsse
Der Naturforscher Alfred Russel Wallace und das intelligible Sub ject. – Der Chemiker William Crookes und der Metaorganismus, - Professor Friedrich Zöllner und die vierte Raumdimension. Prof. Wundt und die protestantische Kirchenzeitung. — ProfZöckler. 1. Alfred Russel Wallace.
Betrachten wir uns die Beweisgründe, welche Wallace für genügend hält, um die Existenz aussermenschlicher oder Geisterwesen “ ausser Zweifel zu stellen. Sowohl Zöllner als
die Vossische Zeitung (im Herbste 1874) haben das Beispiel
abgedruckt, das von Wallace „ der 14. November“ getauft wurde.
Es heisst da :
„ In der Nacht zwischen dem 14. und 15. November träumte der Gattin des Kapitains G. Wheatkroft, welche in Cambrigde wohnte, dass sie ihren (zur Zeit in Indien befindlichen Gemahl erblickte. Sie erwachte sofort, und als sie aufblickte, sah sie dieselbe Gestalt neben ihrem Bette stehen . Er erschien in seiner Uniform, die Hände gegen seine Brust gepresst, init verworrenem Ilaar und ganz bleichem Antlitz .
Seine grossen dunklen Augen waren voll aufsie geheftet; ihr Ausdruck war der grosser Aufregung, und sein Mund war eigenthümlich zusam mengezogen, wie er bei Gemüthsbewegungen zu sein pflegte. Sie sah ihn sogar bis auf jede kleinste Besondernheit seiner Kleidung ebenso
deutlich, wie jemals in ihrem Leben. Die Gestalt schien sich vorzu beugen, wie im Schmerz, und eine Anstrengung zum Reden zu machen , aber es kam kein Laut hervor. Sie blieb etwa eine Minute sichtbar
150 Schlüsse 2. d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit.
und verschwand dann. Die Gattin schlief nicht wieder ein in jener Nacht. Am nächsten Morgen erzählte sie alles dieses ihrer Mutter und
sprach ihren Glauben dahin aus, dass Capitän W. entweder getödtet oder verwundet sein müsse. Ein darauf eintreffendes Telegramm mel dete, dass Capitän W. vor Lucknow am 15. November 1857 getödtet wurde, die Witwe benachrichtigte den Sachwalter des Capitäns, Mr. Wilkinson, dass sie auf die verhängnissvolle Nachricht schon ganz vorbereitet gewesen sei, dass sie aber sich versichert halte, dass ein falsches Datum seines Todes angegeben worden sei . Mr. Wilkinson erhielt bierauf eine Bescheinigung vom Kriegsministerium , dass Capitan G. Wheatkroft im Kampfe am 15. November 1857 getödiet worden sei.
Nun ereignete sich aber folgender merkwürdige Vorfall. Mr. Wilkinson
besuchte einen Freund in London, dessen Gattin ihr ganzes Leben lang Visionen gehabt, während ihr Gatte ein Medium ist. Er erzäblte ihnen die Vision der Capitäns-Witwe und beschrieb die ihr erschienene Ge
stalt, worauf Mrs. N. augenblicklich sagte : „ Das muss dieselbe Person gewesen sein, die ich am Abend sah, wo wir von Indien sprachen .“ Sie erzählte dann, dass sie eine Mittheilung von dem Erscheinen durch ihren Gatten erhalten hätte, und dass er gesagt habe, er wäre an jenem Nachmittage in Indien durch eine Verwundung in die Brust getödtet worden. Es war ungefähr 9 Uhr Abends ; sie erinnert sich nicht mehr des Datums. Auf weiteres Befragen erinnerte sie sich, dass sie durch einen Geschäftsmann unterbrochen worden sei, dem sie anjenem Abende eine Rechnung bezablt bätte, und als sie selbige dem Mr. Wilkinson zur Einsicht verlegte, trug die Quittung das Datum des vierzehnten November. Im März 1858 erhielt die Familie des Capitäns Wheatkroft
ein Schreiben von einem Capitän aus Lucknow, worin er berichtet, dass er ganz in der Nähe des Capitäns Wheatkroft gewesen, als der
selbe fiel, und dass dieses den vierzehnten November Nachmittags ge schab und nicht am fünfzehnten. Er wurde von einem Bon bensplitter in die Brust getroffen. Er ward zu Dilhorsha begraben, und auf einem
hölzernen Kreuz zu Häupten seines Grabes sind die Anfangsbuchstaben G. W. und das Datum seines Todes, der vierzehnte November einge schnitzt. Das Kriegsministerium berichtigte seinen Irrthum in Betreff des Datums. Mr. Wilkinson erhielt eine andere Ausfertigung des Todes scheines, worin an Stelle des 15. der 14. November gesetzt war. “
Hier haben wir“ ( bemerkt pun Wallace) „ die nämliche Er scheinung, welche zwei einander unbekannten und von einander ent fernten Damen in einer und derselben Nacht vorkommt, wobei die
Mittheilung durch eine dritte Person erhalten wird, welche die Zeit und die Art des Todes erklärt ; und alle stimmen genau mit den Er
Schlüsso a . d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 151
eignissen aberein, welche sich viele Tausend Meilen entfernt zuge tragen. Wir setzen voraus, dass auf solche Weise beglaubigte That sachen nicht bestritten werden können ; und dass Ganze dem blossen
„Zufall in die Schuhe zu schieben, würde sicher, selbst für die Un gläubigsten , ein zu grosses Ansinnen von Leichtgläubigkeit erfordern . Mit Recht führt die Vossische Zeitung gegen diese Auf
fassung die Schopenhauerische Anschauung ins Feld und bemerkt :
Gewiss wird kein Denkender solche Thatsachen, deren in den Schriften über Somnambulismus und Hellsehen übrigens noch mehrere berichtet werden, dem Zufall in die Scbuhe schieben ; aber daraus folgt noch nicht, dass sie nothwendig als ,,Beweise der Realität von Geister erscheinungen" angesehen werden müssen, wofür Wallace sie ansieht. Arthur Schopenbauer, der in Bezug auf die Phänomene des Hellsehens sehr gläubig war, und die Thatsachen des Tischrückens, der Klopflaute , der Erscheinung Sterbender oder Verstorbener u, s. w . keineswegs bestritt, sah sich darum doch nicht genöthigt,
zur Geistertheorie des modernen Spiritualismus seine Zuflucht zu pehmen, um jene Phänomene zu erklären. In seiner höchst beachtens
werthen Abhandlung „ Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt“ im ersten Bande der „ Parerga und Paralipomena “ führt er mehrere Beispiele von Visionen an, in denen das vom Seber geschaute, wenngleich es im Raume oder in der Zeit ent fernte Ereignisse betraf, objective Realität hatte. Schopenhauer neunt diese Visionen „bedeutungsvolle und unterscheidet sie von den blossen Hallucinationen . Aber die Geister der Abgeschiedenen zu ibrer Erklärung herbeizuziehen, dies hielt er nicht für nöthig. Er sagt vielmehr : „ Der Ursprung dieser bedeutungsvollen Visionen ist darin zu suchen, dass jenes räthselhafte, in unserem Inneren
verborgene , durch die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse nicht beschränkte und insofern allwissende, dagegen aber gar nicht in's gewöhnliche Bewusstsein fallende, sondern für uns verschleierte Erkenntnissvermögen – welches jedoch im magnetischen Hell sehen seinen Schleier abwirft
einmal etwas dem Individuo sehr In
teressantes erspäht hat, von welchem nun der Wille, der ja der Kern
des ganzen Menschen ist, deni cerebralen Erkennen gerne Kunde geben möchte . .. So kann z. B. der eben jetzt erfolgende Tod meines entfernten Freundes mir dadurch kund werden, dass dessen Gestalt sich mir plötzlich so leibhaftig wie die eines Lebenden
darstellt, ohne dass etwa hierbei der Sterbende selbst durch seinen
152 Schlosse a . d . Widersprüchen m. d . phänom. Gesetzmässigkeit. lebhaften Gedanken an mich mitgewirkt zu haben bedurft , wie dieses hingegen in Fällen einer anderen Gattung wirklich statt hat“ .
Unrichtig oder doch ganz ungenügend ist das Aus kunftsmittel des „ magischen Willens“, weil dadurch gar
nichts gesagt, sondern unsere Rathlosigkeit nur augenschein lich wird. Sobald man die Empfindungsfähigkeit eines Or ganismus voraussetzt , was man doch Angesichts der That sache muss, so ist weiter nichts nothwendig, als die Unend lichkeit der Wirkung , die actio in distans, welche aber durch Anziehung, Licht und Wärme, insbesondere durch die Spectralanalyse der von Sternen ausgehenden Strahlen ein bekanntes und nicht weiter zu bezweifelndes Phänomen ist.*)
Professor Huber bespricht in der Lindau'schen Monats schrift denselben Gegenstand und sagt : *) Die Widerlegungen der Vossischen Zeitung sind ganz merk
würdig. Sie sagt: „ Wenn der Natur überhaupt am Individuum und an der continuellen Entwickelung des Individuums so viel gelegen
wäre , als der Spiritualismus annimmt , so dürfte sie das Individuum gar nicht sterben lassen, denn der Tod unterbricht ja die continuirliche
Entwickelung des Individuums auf die grausamste Weise. Er rafft Kinder hinweg in dem Alter, wo ihre Entwickelung durch Erziehung und Unterricht bereits die erfreulichsten Fortschritte gemacht hat, er
rafft Gelehrte, Künstler, Staatsmänner hinweg mitten in ihren besten Forschungen, Productionen und Entwürfen. Wäre es da nicht conse quenter, sie am Leben zu lassen, bis sie ihr Werk und ihre auf Erden
erreichbare Entwickelung vollbracht , als sie , wie der Spiritualismus tingirt, drüben in einem ätherischen Leib fortfahren zu lassen, was
sie hier im irdischen Leib abgebrochen haben ? Kann denn überbaupt das abgebrochene Werk des irdischen Leibes durch einen ganz
anderartigen und in einer ganz anderen Umgebung lebenden Leib fort gesetzt werden ? Kann der Knabe, der hier sein Latein begonnen und
plötzlich vom Tode binweggerafft wird , drüben sein Latein fortsetzen und die Klassiker lesen ? Gibt es denn drüben auch Klassiker und liest
Dauert auch drüben der Gegensatz der Geschlechter fört ? Gibt es männliche und weibliche Geister ?
man sie mit oder ohne Augen ? -
Haben die Geister Geschlechtsorgane oder nicht ? Heirathen sie ? " Das Individuum stirbt nicht , sondern nur das Bild dieser Indi
vidualität , weil der Apparat , der es herstellte , zu Grunde geht. Die
Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d . phänom. Gesetzmässigkeit. 153 „ Die Erfahrungen, welche Wallace mit dem Spiritismus ge macht haben will , werden noch überboten durch das Zeugniss von
Professor Varley , einem der grössten Ingenieure der Jetztzeit, welcher bekanntlich das transatlantische Kabel legte. Dieser er zählt in einem Briefe an Tyndall (vom Mai 1868 ) aus den Sitz ungen mit Home, dass blos im Gedanken gewünschte Berübrungen augenblicklich an ihm stattgefunden haben , dass ein Tisch plötz lich 14-15 Zoll hoch vom Fussboden emporgehoben worden sei, in der Luft sich bewegt und erst allmählich wieder herabgesenkt
habe , wie er es heimlich für sich verlangt, dass auf Wunsch Klopflaute in den Wänden , im Getafel , an den Stühlen u. s. w. sich vernehmen liessen , welche sich nach anderthalb Stunden später, als er und seine Frau in ihre 5—6 Meilen entfernte Wohnung zurückgekehrt gewesen , in den Wänden derselben wiederholten, und endlich dass leichte wie schwere Möbel sich ohne jede sicht
bare Einwirkung bewegt haben . Varley wies auf Grund seiner Er fahrungen gleich von vorneherein die Annahme zurück , dass hier Elektricität im Spiele sei. Alles , was er mit Home und ebenso vor wie nach der Begegnung mit ihm erlebt hatte , schien ihm auf das Eingreifen unsichtbarer geistiger Wesen hinzudeuten. Vor dem Comité der Dialectischen Gesellschaft in London erklärte er wörtlich :
„ Meine Autoritäten für die Behauptung, dass die Geister ver wandter Wesen uns wirklich besuchen, sind : 1. Ich habe bei mehreren Gelegenheiten sie deutlich gesehen . 2. In mehreren Fällen sind nur mir selbst und der angeblich sich
mir mittheilenden hingeschiedenen Personen bekannte Dinge aufgeworfenen Fragen sind geradezu komisch . Wir brauchen die Sprache und die Constructionen des Kehlkopfes, weil wir Schwingungen erzeugen müssen, die ein Ohr treffen sollen ; wo kein Ohr und kein Kehlkopf , dort ist auch keine Sprache in unserem Sinne und kein Klassiker. Nachdem der Geschlechtstrieb nur die Bedingungen her. stellt, welche für einen Zellenleib nothwendig sind , 80 haben diese
Fragen dort, wo es keine Zellenleiber, Geschlechtsorgane und fleisch liche Triebe gibt, gar keinen Sinn. Es ist allerdings möglich, dass es in einem gewissen Sinne Geschlechter gebe, weil wir eben Darstellungen solcher Wesen in Zellen sind. Ist diese Darstellung eine unbewusste, 80 müsste es Geschlechter geben, wenn auch keinen Geschlechtstrieb und keine Heirath. Andererseits sind die Hermaphroditen eine Er.
scheinung, welche wieder eine andere Auffassung erlaubt.
154 Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. richtig berichtet worden , während das Medium die Um stände gar nicht kannte .
3. Bei mehreren Gelegenheiten sind nur Beiden bekannte Dinge, die ich ganz vergessen hatte, durch den sich mittheilenden Geist in meine Erinnerung zurückgerufen worden , wes halb dies kein Fall von blossem Gedankenlesen sein konnte.
4. Bei manchen Gelegenheiten , in denen mir diese Mit theilungen gemacht wurden , habe ich meine Frage geistig gestellt, während das Medium die Antworten niederschrieb,
dabei aber die Bedeutung der Mittheilungen durchaus picht kannte.
5. Die Zeit und Natur kommender Ereignisse, die sowohl
mir , als dem Medium unerwartet und unbekannt waren, sind mir in mehr als einem Falle mehrere Tage vorher genau mitgetheilt worden. Da meine unsichtbaren Nach
richtgeber mir die Wahrheit in Betreff der kommenden Ereignisse sagten und ebenso behaupteten, dass sie Geister wären , und da die im Zimmer anwesenden Sterblichen keinerlei Kenntniss der von ihnen mitgetheilten Thatsachen
hatten, so sehe ich keinen Grund ab, ibnen nicht zu glauben“. Der Leser wird einsehen , dass diese Thatsachen über
die Zulässigkeit der Schopenbauerischen Erklärungsweise
ebenfalls nicht hinausgehen, und dass durchaus keine zwin gende Nothwendigkeit vorliegt, zu ihrer Erklärung an intel ligible Wesen zu appelliren.
Die „Psychischen Studien“ in Leipzig bringen einen Aus zug aus dem Leipziger Tagblatt , welches unter dem Titel „Aus der Welt des Unei kärlichen“ Folgendes berichtet : „ Die Kammerfrau einer russischen fürstlichen Familie, welche in Paris in dem gewohnten Hôtel wegen Ueberfüllung nur ein nothdürftiges Unterkommen für die erste Nacht findet, wird in einem schönen Zimmer des ersten Stockes untergebracht, welches angeblich erst spät Abends frei geworden sei. Sie bat die Thüre verschlossen und sieht, nachdem sie sich ermüdet zu Bette ge
legt, einen jungen Marine- Officier ins Zimmer treten , unruhig in demselben bin und hergehen, sich auf einen Stuhl setzen und kann es nicht hindern, dass er eine Pistole sich auf's Herz setzt und und sich vor ihren Augen erschiesst. Ein Zustand starrer Be täubung , in den die Kammerfrau nach diesem erschütternden
Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d phänom. Gesetzmässigkeit. 155
Schauspiel gefallen ist, wird dadurch unterbrochen, dass sie Stimmen vor ihrer Stubenthür hört, hört wie die Thüre gewaltsam erbrochen
und ihr Name gerufen wird. Sie erwacht, sieht die Fürstin vor sich, verlangt zuerst die Fortschaffung der in ihrem Zimmer liegenden Leiche. Man hält ihre Reden für Zeichen von Irrsinn, sie beschreibt aber mit
Genauigkeit und Klarheit die äussere Erscheinung des Marineofficiers
und den ganzen Hergang. Der herbeigeholte Hôtelwirth gesteht dann Folgendes. In der Nacht zuvor bat ein junger Mann der Marine sich in demselben Zimmer erschossen, in welchem die Kammerfrau geschlafen hatte ; man hatte den Schuss gehört und hatte sich beeilt,
um jedes Aufsehen zu vermeiden, dieselbe Nacht noch die Leiche auf die Morgue zu schaffen.
Nachforschungen auf der Morgue lieferten
den Beweis , dass das Bild , welches die Kammerfrau von dem Selbstmorder bekommen, mit der Wirklichkeit übereinstimmte. “
Die,, Psychischen Studien “ fügen tolgende Bemerkung bei : „In diesem Falle kann von einer erregten Phantasie der Kammerfrau keine Rede sein , und die einzige verständige Er klärung für das wunderbare Erlebniss liegt in der Annahme, dass der Selbstmorder in seiner Leiblichkeit noch 24 Stunden nach
seinem Tode als reale Erscheinung in dem Raume sich befunden habe, in welchem die That vollbracht worden.“ Warum soll die Quelle dieser Vision nicht in der Phan tasie der Kammerfrau liegen ? Es gibt nicht leicht eine mehr sichergestellte Thatsache, als dass einzelne Menschen über Zeit und Raum hinaus richtige Visionen ab und zu haben, und ist ein retrospectives Schauen , veranlasst durch Oert
lichkeiten, nichts Neues. Die Annahme, dass der Selbstmörder sich noch volle 24 Stunden umbringe, wird man doch nicht
voraussetzen wollen ; aber wenn auch, so würde das Gesicht doch nur für einen Menschen von geringer phänomenaler Befangenheit existiren , die allein ohne ,, Leiblichkeit“ des
Dabingeschiedenen zur Erklärung genügt. Ich hätte die Vision gewiss nicht gehabt. Ich bin nun weit entfernt, zu behaupten, dass Wallace unter den vielen von ihm beobachteten Thatsachen nicht
einige habe, die ihm das Recht geben, die Existenz anderer Wesensreihen zu behaupten ; was aber die obigen Beispiele
156 Schlüsse a . d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit.
anbelangt, so sind sie nicht zureichend. Das liesse sich mit der Philosophie Schopenhauer's oder dem intelligiblen Subject in uns und der Allgegenwart aller Atome beziehungsweise
Kraftlinien ausser uns ganz gut erklären. Durch solche That sachen würde die Existenz und der Einfluss fremder Wesen
noch nicht nothwendig. 2. William Crookes.
Ganz anders verhält es sich mit den physikalischen Erscheinungen , die nur im Wege eines Meta -Organismus denkbar sind ; aber auch da liegt die Sache nicht so ein fach, als es sich Crookes vorstellt , der die meisten der artigen Erfahrungen gemacht, und als Experimentalphysiker wohl Niemand nachsteht.
Die Frage , ob wir den Meta
Organismus des Mediums oder einen fremden zu Hilfe rufen sollen , um unser Causalitätsbedürfniss zu befriedigen , ist aus den blossen Thatsachen allein nicht zu beantworten.
Begleiten wir Crookes vorerst in seinen Argumen tationen. Er entwirft folgende Classen von Erscheinungen. 1. Die Bewegung schwerer Körper mit Berührung, aber ohne mechanische Kraftanstrengung .
2. Die Erscheinung klopfender und anderer damit ver wandter Töne. Er knüpft schon daran die Frage, ob diese Be wegungen und Töne von einer Intelligenz gelenkt werden ? Er
muss diese Frage bejahen , doch ist die Wirksamkeit des Me diums , als des intelligenten Factors, nicht ausgeschlossen. 3. Veränderungen des Gewichts der Körper. 4. Bewegungen schwerer Substanzen , wenn sie sich in einiger Entfernung vom Medium befinden. 5. Das sich Erheben von Tischen und Stühlen vom
Fussboden ohne Berührung mit einer Person. 6. Das sich Erheben menschlicher Wesen.
7. Bewegung verschiedener kleiner Gegenstände ohne Berührung mit einer Person.
Schlüsse a . d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 157
8. Leuchtende Erscheinung . 9. Das Erscheinen von entweder selbstleuchtenden ,
oder bei gewöhnlichem Licht sichtbaren Händen. 10. Directe Schrift.
11. Phantomgestalten.
Der grössere Theil dieser Erscheinungen lässt sich nun allerdings nicht ohne Dazwischenkunft eines Organismus denken ; wenn ich Hände sehe , füble, und sie nicht nur schreiben sondern auch Abdrücke hinterlassen , so sind sie eben vorhandev. Wir stehen auf unzweideutige Weise gegen über einem unsichtbaren Organismus – aber welchem ? Dem des Mediums oder einem andern ?
Bevor wir nun auf die 12. Classe übergeben , welche Crookes die „ besondern Fälle tauft , die auf die Wirk samkeit einer ausser uns befindlichen Intelligenz deuten “, wollen wir früher die bis jetzt angewendeten Theorien der Erklärung anführen , in Uebereinstimmung mit Crookes. 1. Theorie : Die Phänomene sind alle die Resultate von
Kunstgriffen , gescheidten mechanischen Anordnungen, oder
Taschenspielerei ; die Medien sind Betrüger, und die Uebrigen von der Gesellschaft sind Narren. Sehr richtig bemerkt Crookes dazu , dass diese Theorie nur eine verhältniss mässig sehr kleine Anzahl der Thatsachen erklären könne.
2. Theorie : Die bei einer Sitzung versammelten Per sonen sind die Opfer einer Art von Manie oder Täuschung
und sie bilden sich blos ein, dass Erscheinungen von Statten gehen , welche keine wirkliche objective Existenz haben, 3. Theorie : Das Ganze ist das Resultat bewusster oder
unbewusster Gehirnthätigkeit. Von diesen beiden Erklärungs weisen gilt dasselbe , was schon oben bemerkt wurde , sie erklären nur einen Bruchtheil der Erscheinungen.
4. Theorie : Das Resultat des Meta -Organismus des Mediums , vielleicht in Gesellung mit den Geistern einiger oder aller anwesenden Personen .
158 Schlüsse a. d. Widersprücken m . d. phänom. Gesetzmässigkeit.
5. Theorie : Die Wirkung böser Geister. 6. Theorie : Die Verrichtung einer besonderen Classe
von Wesen , welche auf dieser Erde " leben , für uns aber unsichtbar sind.
7. Theorie : Die Wirkung abgeschiedener Wesen
die spirituelle Theorie par excellence. Nachdem nun diese
Theorie diejenige ist, welcher Crookes und die Spiritisten huldigen , so werden wir diese ins Auge fassen . Für diese Theorie tritt Crookes folgendermassen ins Feld : Es ist bereits gezeigt worden, dass die Phänomene von einer Intelligenz geleitet werden . Die Quelle dieser Intelligenz wird nun zu einer Frage von Wichtigkeit. Ist es die Intelligenz des Mediums, irgend einer der anderen Personen im Zimmer, oder ist es eine ausser ihnen befindliche Intelligenz ? Ohne dass ich mich schon jetzt bestimmt
über diesen Punkt auszusprechen wünsche, kann ich sagen, dass, wäb rend ich viele Umstände beobachtet habe, welche zu zeigen scheinen, dass der Wille und die Intelligenz des Mediums viel mit den Phäno
menen zu thun haben, ich auch einige Umstände beobachtet habe, welche zwingend auf die Wirksamkeit einer ausserhalb stehenden In telligenz, die keinem menschlichen Wesen im Zimmer angehört, hinzu . deuten scheinen. Der Rauin gestattet mir nicht, hier alle Gründe anzu .
geben, welche angeführt werden können, diese Punkte zu beweisen, aber ich will nur kurz einen oder zwei Umstände aus vielen erwähnen . Ich bin zugegen gewesen , als verschiedene Phänomene zur
selben Zeit vor sich gingen, deren einige dem Medium unbekannt Ich bin bei Miss Fox gewesen , als sie autoinatisch einer anwesenden Person eine Botschaft schrieb , während einer andern Person über einen andern Gegenstand alphabetisch durch „ Klopf laute“ ebenfalls eine Botschaft gegeben wurde , und sie selbst die ganze Zeit sich mit einer dritten Person ungezwungen über einen von beiden total verschiedenen Gegenstand unterhielt. Vielleicht ist ein noch schlagenderer Fall der folgende: Während einer Sitzung mit Mr. Home bewegte sich ein kleines Lineal, dessen ich schon zuvor erwähnt habe, quer über den Tisch bis zu mir , bei Licht , und überlieferte mir eine Botschaft durch
waren .
leichte Schläge auf meine Hand , indem ich das A!phabet wieder holt hersagte und das Lineal mich bei den richtigen Buchstaben
klopfte. Das andere Ende des Lineals ruhte auf dem Tische auf, in einiger Entfernung von Mr. Ilome's Händen.
Schlüsse a . d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 159 Die Schläge waren so scharf und klar, und das Lineal befand sich offenbar so gut unter der Controle der unsichtbaren Kraft, welche
seine Bewegungen lenkte, dass ich sagte : Kann die Intelligenz, welche die Bewegung dieses Lineals lenkt, den Charakter der Bewegungen verändern, und mir eine telegraphische Botschaft durch das Morse'sche Druckalphabet vermittelst Schlägen auf meine Hand geben ?
( Ich
habe allen Grund zu glauben , dass das Morse'sche Alphabet allen übrigen anwesenden Personen gänzlich unbekannt und mir selbst
nur unvollkommen bekannt war.) Sogleich, wie ich dies sagte, ver änderte sich der Charakter der Klopflaute und die Botschaft wurde auf die Art fortgesetzt , um welche ich gebeten hatte. Die Buch staben wurden für mich zu schnell gegeben , als dass ich hätte mehr thun können, als hie und da ein Wort aufzufangen , und in Folge
dessen verlor ich diese Botschaft; aber ich hörte hinreichend , um mich zu überzeugen , dass ein guter Morse'scher Telegraphist am anderen Ende der Linie war, wo immer dieses auch sein mochte.
Noch ein Beispiel. Eine Dame schrieb automatisch vermittelst der Planchette.
Ich suchte pun ein Beweismittel dafür zu ersinnen,
dass das, was sie schrieb, nicht der „ unbewussten Cerebration oder Gehirnthätigkeit“ entsprungen war.
Die Planchette bestand darauf,
wie sie immer thut, dass, obgleich sie von der Hand und dem Arme
der Dame bewegt wurde, die sich manifestirende Intelligenz eines un sichtbaren Wesens war, welches auf ihrem Gehirn wie auf einem
musikalischen Instrumente spiele und so ihre Muskeln bewege. Ich sagte zu dieser Intelligenz : „ Kannst Du den Inbalt dieses Zimmers sehen ? - „Ja“, schrieb die Planchette. „ Kannst Du diese Zeitung sehen und lesen ? fragte ich und legte meinen Finger dabei auf ein
Exemplar der Times, welches auf einem Tische hinter mir lag, aber ohne selbst darauf zu blicken. „ Ja“, lautete die Antwort der Plan chette . „ Gut“, sagte ich, „wenn Du dieses sehen kannst, so schreibe das Wort, welches jetzt von meinem Finger bedeckt wird, und ich
will Dir glauben.“ Die Planchette begann sich zu bewegen. Lang sam und mit grosser Schwierigkeit wurde das Wort , however“ ge schrieben. Ich drehte mich um und sah, dass das Wort „ however“ von meiner Fingerspitze bedeckt war.
Ich hatte es absichtlich vermieden , auf die Zeitung zu blicken, als ich dieses Experiment versuchte, und es war unmöglich für die
Dame, selbst wenn sie es auch versucht hätte, auch nur eines der gedruckten Worte zu sehen , denn sie sass an dem einen Tische und die Zeitung lag auf einem anderen Tische, der hinter meinem
Körper verborgen stand.
160. Schlüsse a . d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit.
Auf diese Weise ist ein dringender Beweis für die Intervention einer fremden Intelligenz nicht herzustellen ; man wird sich immer hinter das Hellsehen und den soge
nannten magischen Willen verstecken, wenn der letztere auch ein sehr schlechtes Ankunftsmittel ist.
Die Sache muss
ganz anders gepackt werden. Die unzweifelhaft constatirte fremde Hand muss einem
Organismus (reell oder virtuell) angehören , und haben wir also nur zwei denkbare Fälle ; entweder ist es der Meta
Organismus des intelligiblen Subjects oder wie man das sonst auch nennen will – des Mediums, oder der Organis mus eines anderen Wesens.
Wollte man einen anwesenden
Menschen zu Hilfe nehmen, nun so wäre es der Meta-Orga
nismus dieses Anwesenden ; an der Sache würde das nichts ändern . Man müsste daher sagen, entweder ist es die Hand eines Menschen oder eines anderen Wesens , und wenn es
die physische Hand eines Menschen nicht wäre, so kann es nur der Meta- Organismus eines anwesenden Lebenden oder
eines einer anderen Wesenreihe Zugehörigen sein , welche thätig auftritt. Nehmen wir den scheinbar einfacheren Fall
an , dass diese Hand durch den Meta- Organismus des Me diums dargestellt werde.
Welche Voraussetzungen müssen
wir machen ? Und welche Consequenzen würden sich daraus ergeben ? Bevor ich zur Beantwortung dieser zwei hochwichtigen Fragen schreite, will ich den P. T. Herren Spiritisten zeigen,
dass sie sich die Sache sehr leicht machen, wenn sie frisch weg die Annahme einer fremden Existenz als selbstverständ
lich und unzweifelhaft halten ; ich werde also die Einwürfe selbst stellen , die man der Intervention fremder Wesen machen kann, und werde dies um so leichter thun können,
als ich über diesen Gegenstand eine längere briefliche Po lemik mit einem der bedeutendsten Denker der Gegenwart geführt, die ich sachlich wenigstens dazu benützen werde.
Schlüsse a . d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 161 An der Thatsächlichkeit der Phänomene kann ein ernster Mensch nicht mehr zweifeln discutabel.
die Erklärung aber ist
Der Kern der Einwürfe ist folgender: Das die Organe projicirende Subject kann in das Me dium selbst verlegt werden , und zwar um so mehr , als es
sich als solches sinnlich manifestirt, ohne welches die Phä nomene gar nicht stattfinden. Nachdem weiters aus den Be
obachtungen hervorgeht, dass organische Substanz des Me diums nothwendig ist, so scheint es einfacher dem Medium
die ganze Leistung des Meta -Organismus in die Schuhe zu schieben.
Dem Meta -Organismus des Mediums steht die
organische Substanz weit mehr zu Gebote und ebenso die menschlichen Formen . Es scheint weit einfacher bei bekann
ten Ursachen stehen zu bleiben , als zu unbekannten hypo thetischen Wesen seine Zuflucht zu nehmen.
Fassen wir
also die Gründe zusammen , die da vorgebracht werden können . In einem der Briefe heisst es wörtlich :
„ 1. Ist die Psyche des Mediums eine anerkannte gegebene und bis auf einen gewissen Grad bekannte Grösse, während andere Seelen bis jetzt nicht gegeben, nicht bekannt, nicht anerkannt sind ; bekannte und gegebene Ursachen verdienen aber stets den Vorzug vor unbe kannten und bloss supponirten . 2. Ist die Wirkung einer Seele auf den ihr zugehörigen Orga
nismus eine bekannte Erscheinung, die Wirkung auf einen ihr nicht zugehörigen Organismus ohne Vermittelung des ihr zugehörigen Orga
nismus (Zellenleibes) eine unbekannte Erscheinung ; wollte man die Seele des Mediums als Vermittelung der Wirkung von dem anderen
Wesen auf den Leib des Mediums in Anspruch nehmen, so kime das auf meine (des Schreibers ) Erklärung heraus, nur dass das andere Wesen als Träger der unbewussten physischen Actionen des Mediums wirkt, – eine ebenso überflüssige wie zwecklose Complication . 3. Ist in vielen Fällen die Seele des Mediums als alleinige Ur
sache von Ihnen (mir selbst) zugestanden ; wollen Sie also für andere Fälle noch andere Wesen herbeiziehen, so stellen Sie für eine gleich Hellenbach , Vorurtheile III.
11
162 Schlösse a. d. Widersprüchen m. d. phänom . Gesetzmässigkeit. artige Reiben von Erscheinungen zwei Erklärungsarten statt einer einzigen auf. Letzteres ist jedenfalls einfacher.“ Es entsteht also die Alternative : Entweder besitzen die
Medien alle jene Eigenschaften , um die Phänomene hervor zurufen, dann braucht man keine anderen Wesen , oder sie besitzen die erforderlichen Eigenschaften nicht, und dann muss man zu anderen Erklärungen schreiten. Es ist klar , dass man vor Allem untersuchen muss,
welche Eigenschaften ein solches Medium haben müsste, um diese Verichtungen allein zu besorgen . Wenn es Menschen gibt, oder geben soll , die ohne Augen sehen und ohne Ohren hören, so müssen sie im Be sitze eines Meta- Organismus sein , der die Schwingungen
direct zu empfinden vermag. Soll aber über das hinaus dieser Meta Organismus im Stande sein , nicht nur ohne
Augen sehen und ohne Ohren hören zu können , sondern auch ohne Verwendung seiner aus Zellen erbauten Hände zu greifen , zu schreiben und überhaupt zu fungiren auf Entferrungen , die mitunter eine förmliche Loslösung vom Zellenkörper zur Voraussetzung hätten, so müsste der Meta Organismus eines Menschen alle Bedingungen haben , um
eine selbstständige, vom Zellenleib unabhängige Existenz zu führen,
Da sich ferner dieser Meta- Organismus nicht während der Lebensdauer eines Menschen neben dem Zellenleibe
entwickeln kann, sondern vielmehr umgekehrt, dieser Leib ohne jenen sich morphologisch nie hätte ent wickeln können (vergleiche meinen „ Individualismus“), so muss der Meta- Organismus schon da gewesen sein ; wird nun im Wege der sichergestellten Thatsache nachgewiesen,
dass er selbstständig zu fungiren vermag , so hört jede principielle Schwierigkeit auf, einen Theil der spiri tistischen Phänomene einem fremden Meta- Organismus zuzu
schreiben, da ja der Meta -Organismus des Mediums ohnebin
Schlüsse a . d. Widersprüchen m. d phänom . Gesetzmässigkeit. 163
alle Eigenschaften haben müsste, selbstständig zu existiren, falls er das vollbringen soll.
Daraus folgt, dass nur die Erfahrung und Beboachtung die Frage zur Entscheidung zu bringen vermag, welche der beiden Anschauungen und in welchen Fällen die annehmbarere sei. Hindert mich mein Leib nicht, alles das
zu vollbringen, was berichtet wird , so kann er mich noch weniger hindern, ohne Leib zu existiren, zu wirken und zu denken. Doch umkehren kann ich den Satz nicht , ich kann nicht sagen : weil ich ohne Zellenleib existiren kann , so kann er mich auch nicht hindern, die spiritistischen Phäno mene auf eigene Faust zu vollbringen. Daher kommt es denn, dass es thatsächlich in vielen Fällen grössere Schwie rigkeit hat, die Function des menschlichen Meta -Organismus
in Anspruch zu nehmen , als einen solchen leibfrei zu denken. Doch wollen wir an der Hand der Erfahrung die Frage untersuchen . Die Erfahrung lehrt uns, dass alle Erscheinungen des
Hellsehens immer mit der Bewusstlosigkeit Hand in Hand gehen, dass also mit dem Auftreten der zellenfreien Function des Meta - Organismus die Function des Zellen - Organismus mehr oder weniger aufhört. Die Erfahrung sagt uns ferner, dass diese sonderbaren Erscheinungen , in früheren Zeiten namentlich , mit Krämpfen ( Starrkrampf), tiefem Schlaf, Agonie im Zusammenhange stehen. Wie sollen wir uns das denken können , dass ein solches Medium nicht nur bei
vollem Bewusstsein , sondern in voller Thätigkeit aller seiner physischen Functionen sich befinden soll, während der innere lebende Kern seiner Gliedmassen auswärts fungirt?! – Ich habe selbst eine solche zweite Hand einmal empfunden , aber
die Zellenband war fest eingeschlafen und empfindungslos, so dass ich sie suchen musste. In dem Augenblicke, als das Blut wieder circulirte, war die Sinnestäuschung vorüber. (Siehe Seite 157 der ,,Vorurtheile " II.) Würden die Medien 11 *
164 Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d . phänom. Gesetzmässigkeit .
bewusstlos daliegen ( - was bei ganz aussergewöhnlichen Erscheinungen der Fall sein soll und in dem Verbrauche
von Projectionsmateriale oder Schwingungsenergie seinen Grund hat -) nicht sprechen, nicht alle Sinne und Muskel
gebrauchen , so wäre das das allerdings Näherliegende ; aber wer diese Erscheinungen öfter Gelegenheit hatte zu beobachten, der wird die Annahme eines fremden Organis
mus in vielen Fällen für viel einfacher halten, als die meta physische oder magische Kraft des Mediums , das in so
vielen Fällen ein ganz harmloses , unthätiges Geschöpf ist. Die Gegner einer mehr individualistischen Auffassung
kämpfen für eine Erklärung durch den Meta - Organismus des Mediums , vergessen aber , dass sie durch eine solche Qualification des Mediums dem Individualismus erst recht in die Hände arbeiten.
Ein Freund , auch ein Gegner einer individualistischen
Anschauung , schrieb mir einmal: „ Wenn das Medium als Ding an sich ein vierdimensionales Wesen wäre, so könnte
es unbewusst auch vierdimensionale Wirkungen hervorbringen “. Aus diesem Satze geht der ganze circulus vitiosus hervor. Um vierdimensionale Wirkungen hervorzubringen , müsste
das Medium also ein vierdimensionales Wesen an sich sein, und der Leib der dreidimensionalen Anschauung wäre nur vor.
übergehende Erscheinungsform, oder um leibfrei zu wirken , muss man eine lebfreie Existenz haben.
Hat man aber
eine leibfreie Existenz , warum soll man da nicht wirken können ?
Der Leser sieht von selbst, dass es Berichte von Er scheinungen geben wird , wo es kindisch ist , einen fremden „ Souffleur oder Coulissenschieber", wie mein Freund sagt, anzunehmen , anderseits aber gibt es Fälle , wo es kindisch wäre, aus Principienreiterei eine fremde Einwirkung abzu
lehnen und in eine Erklärungsweise zu verfallen, die gerade dahin führt, wohin man nicht gelangen will
zu einer
Schlüsse a. d. Widersprochen in . d. phänom. Gesetzmässigkeit. 165
Post- und Präexistenz des Subjects, das weder das Absolute noch eine Monade ist.
(Ueber die denkbaren Prädicabilia
dieser unbekannten Grösse habe ich schon in meiner Philos.
d. ges. V. Einiges gesagt , auf was ich eventuell verweise.) Dr. Janisch , Director der Realschule zu Landshut,
spricht sich in den Psychischen Studien II. Heft, 1880, gegen die Annahme aus , dass die vorkommende Materialisation durch fremde Wesen hervorgebracht werde , und plaidirt
ebenso wie mein Freund für die Thätigkeit des Meta-Orga nismus des Mediums, welche er mit dem Namen der „ Seelen versetzung“ bezeichnet und wofür er Beispiele aus Perty's „Mystischen Erscheinungen" anführt. Darunter befinden sich nun welche , die eine Versetzung durchaus nicht noth
wendig machen , insofern es sich um Wahrnehmungen ande rer handelt, weil die blosse Fernwirkung auch ausreicht,
und die effective Lostrennung ohne erfolgenden oder vorher gehenden Tod denn doch eine verteufelt schwere Annahme ist . Ein einziges der angeführten Beispiele ist der Art (wofern es unzweifelhafte Thatsache sein sollte, und wofür ich natürlich keine Eviction übernehme), um eine wirkliche Bilocation anzunehmen , welche aber selbst da nicht unum
gänglich nothwendig wäre. Der Fall ist folgender: Der Schottländer Robert Bruce diente als Unterschiffer auf eicem
Handelsschiffe, welches zwischen Liverpool und St. John in Neubraun schweig ſubr. Der Unterschiffer in seiner Cajüte, die an jene des Capitäns stiess, Mittags einst an der Küste von Neufundland in Be rechnung der Länge vertieft und mit dem Resultat nicht zufrieden,
rief nach der Cajüte des Capitäns, den er daselbst anwesend glaubte : Wie haben Sie es gefunden ? Ueber die Achsel blickend, glaubte er den Capitän in seiner Cajüte schreibend zu sehen, und ging endlich, da keine Antwort erfolgte, hinüber. Hier erblickte er, als der Schreibende
den Kopf hob, ein völlig fremdes Gesicht, welches ihn starr betrachtete. Bruce stürzte auf das Verdeck und theilte dem Capitän dies mit. Als Beide hinabgingen, war Niemand zu sehen, aber auf der Tafel des Capitäns stand mit einer ganz unbekannten Handschrift geschrieben : „ Steuert nach Nordwest ! Man verglich die Handschriften Aller, die auf
166 Schlüsse a . d. Widersprüchen m . d. phänom . Gesetzmässigkeit.
dem Schiffe schreiben konnten, es passte keine ; man durchsuchte das ganze Schiff, es warde kein Versteckter gefunden. Der Capitän, der im schlimmsten Falle einige Stunden verlieren konnte, liess das Schiff in der That nach NW. steuern.
Nach einigen Stunden begegnete man
einem in einem Eisberge steckenden Wrack mit Menschen ; es war ein verunglücktes, nach Quebec bestimmtes Schiff, Mannschaft und Reisende
in grösster Noth. Als die Boote von Bruce's Schiff die Verunglückten an Bord brachten , fuhr dieser beim Anblick eines Mannes zurück, der an Gesicht und Anzug ganz dem glich, den er in der Cajüte schreiben
gesehen. Der Capitän ersuchte ihn, dieselben Worte : „Steuert nach Nordwest !“ auf die andere Seite der Tafel zu schreiben, und sieb, es
war die gleiche Schrift. Der Capitän berichtete, dass der Schreiber um Mittag in einen tiefen Schlaf verfallen und nach einer halben Stunde
erwacht, gesagt habe : „ Heute werden wir gerettet !“ Er hatte geträumt, er sei an Bord eines Schiffes, welches zur Rettung heransegele ; er be schrieb das Schiff und als es wirklich in Sicht kam, erkannten es die Verunglückten aus seiner Beschreibung. Der Schreiber erklärte
noch, auf dem Schiffe, das sie gerettet, komme ihm alles bekannt vor, als hätte er es bereits gesehen. ( Perty.) Für die Thatsächlichkeit der Bilocation oder des Aus
trittes oder der Fernwirkung des Meta -Organismus spricht nicht die Schrift (denn die könnte ja auch vermittelt wor den sein durch ein drittes Wesen ), sondern nur das Gesicht des Matrosen , der in dem Fremden die Aehnlichkeit mit
seinem Gespenst wahrnimmt , vielleicht auch die gleiche Sind diese Schlüsse aber auch nothwendig , liesse
Schrift.
sich das nicht anders erklären ?
Wir müssen jedenfalls voraussetzen , dass sowohl der fernwirkende Reisende , als der Matrose, Menschen von ge ringer phänomenaler Befangenheit waren ; der erstere zumal, den Tod vor Augen, konnte im Schlafe mit seinem geistigen Auge die Nähe eines Schiffes wahrgenommen haben ; von da bis zur Einwirkung auf den Matrosen, den Einwirkenden zu sehen und die Worte hinzuschreiben u . S. w. ist kein
grosser Schritt. Ich habe einige Male Schriftzüge durch ein schreibendes Medium von lebenden und nicht lebenden Per
sonen erhalten , die eine auffallende Aehnlichkeit hatten, dem
Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d. phänom . Gesetzmässigkeit. 167
Medium ganz unbekannt waren , und doch war von einer Bilocation gewiss keine Rede. Doch lassen wir das, nehmen wir an , dass eine Bilocation wirklich vor sich ging, was ja als ganz unmöglich nicht bezeichnet werden kann ; so sagt der Capitän , „ dass der Schreibér um Mittag in einen tiefen Schlaf verfallená.
Kann Dr. Janisch
auch nur ein Beispiel anführen , das wohl beglaubigt ist,
und wo eine Bilocation während der gewöhnlichen, bewussten Thätigkeit eines Menschen erfolgt wäre ? Gewiss nicht !
Dr. Janisch knüpft an seine Beispiele den Schluss : „ 1. Die Seele besitzt die Fähigkeit , bei Leibesleben an einem fernen Orte unter sichtbarer und selbst fühlbarer
Gestalt zu erscheinen, was nur möglich ist durch ein theil weises Heraustreten aus dem Sinnenleibe. 2. Die Sache kann
bei Leibesleben an einem fernen Orte Handlungen vorneh men gleich denjenigen , die mit den sinnlichen Organen verrichtet werden , einschliesslich der Gedankenmittheilung durch hörbare Worte " .
Gegen diese Argumentation ist nun Folgendes einzu wenden :
1. Die Seele einzelner dazu befähigter Individuen kann ohne Heraustreten aus dem Zellenorganismus Vorstellungen aller Art bei einzelnen dazu befähigten Individuen hervor rufen , welche von jenen als Realitäten genommen werden könnten.
2. Wenn die Verrichtungen durch bleibende Spuren aus der Reihe der wenn auch richtigen Hallucinationen
gestrichen werden wüssten, so kann das noch immer mög. licherweise im Vermittelungswege geschehen. 3. Wenn der Austritt wirklich erfolgt, so wird das nur
unter gleichzeitigem tiefen Schlafe des Betreffenden ge schehen können .
168 Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 4.
Wenn dies überhaupt geschehen kann , so hat die
leibfreie Thätigkeit eines durch den Tod vom Zellenorganis mus getrennten , ohnehin keine weitere Schwierigkeit mehr. Ich wiederhole daher noch einmal : Es wird Fälle geben,
wo die eine, und Fälle, wo die andere Erklärungsweise die
näherliegende ist. Jede der beiden Annahmen schliesst aber
– und das ist das besonders Hervorzuhebende – die Mög lichkeit der anderen Annahme schon in sich. Kann ich bei
Lebzeiten mit meinem Meta -Organismus, getrennt vom Leibe wirken, so kann ich es nach dem Tode auch . Kann ich es nach dem Tode , nun so steckt er auch zu Lebzeiten in meinem Zellenleibe.
Was nun die anderen Einwürfe anbelangt, die Dr.Janisch macht so will ich sie beantworten , denn es ist leicht mög lich, dass irgend einer meiner Leser sie auch machen würde . Der erste Einwurf gilt dem Umstande , dass sich dieselben
angeblichen Geister bei verschiedenen Medien meldeten und materialisirten , und dass es nicht mehrere verschiedene Geister thun. Dieser Einwurf hat nun keine Bedeutung ;
denn es muss die Sichtbarwendung für unsere Sinne eine sehr schwierige sein ; Perlen und Schwämme werden von geeigneten Tauchern wiederholt dem Meeresgrunde entrissen , während die grosse Majorität der Menschen auch nicht einen Schwamm und nicht eine Perle hervorholt. Es geht aus den verschiedenen Erfahrungen weiteres hervor, dass jedes Me dium überhaupt nur einen bestimmten Kreis von intelligiblen
Wesen anzuziehen vermag ; so wenigstens stellt sich die Sache dar. Endlich ist es nicht richtig, dass ein jedes Medium nur immer eine und dieselbe , oder gar nur dem Medium
ähnliche Gestalt zur Darstellung bringe. Der zweite Einwurf lautet :
„ Dass die Geister der Abgeschiedenen die Fähigkeit besitzen, unter sichtbarer uud selbst fühlbarer Gestalt zu erscheinen, darüber kann zwar ein vernünftiger Zweifel nicht bestelen. Perty, Daumer und
Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d. phänom . Gesetzmässigkeit. 169 Andere theilen eine Menge sehr gut beglaubigter Fälle mit, durch welche die Fähigkeit der Geister, sich zu materialisiren, in die Reihe
der gewissesten Thatsachen erhoben wird. Nun aber nehme ich zwischen den früheren Materialisationen und den mediumistischen
Unterschiede wahr, die mich bedenklich machen. Früher gehörten Geistererscheinungen zu den seltenen Ereignissen, jetzt kommen sie massenhaft vor ; früher erschienen die Geister unmittelbar, jetzt durch Vermittlung eines Mediums ; früher kamen die Geister wann sie wollten, jetzt wann sie gerufen werden. Das Erste scheint darauf zu deuten, dass die Kraft der Geister, zu erscheinen , in unseren Tagen zugenommen bat ; das Zweite darauf, dass diese Kraft abgenommen
hat; und das Dritte darauf, dass die Grundsätze, nach welchen dieGeister erscheinen , sich geändert haben. Wer räumt die Schwierigkeiten weg , die sich hier aufthürmen ? Sollte man nicht versucht werden, für die mediumistischen „ Geistererscheinungen “, deren Thatsächlichkeit fest steht, die eine andere Erklärung aufzusuchen“ .
Die „ geringere Seltenheit“ von Berichten über Spukgeschichten ist sehr anfechtbar ; eine Statistik wird
darüber nicht geführt, auch ist es ganz gleichgiltig , ob — die Geschichten wahr oder nicht wahr einst und jetzt sind , auf die eine oder die andere Weise erklärt werden können . Ich weiss z. B. zwei sehr bekannte und durch län
gere Zeit dauernde derartige Manifestationen
auf zwei
Schlössern zweier mir sehr befreundeter Eigenthümer , und nehme keinen Anstand , die in Oesterreich sehr bekannten Namen zu nennen . Das eine Schloss war Eigenthum des Markgrafen Pallavicini und heisst Kerestinec , das andere Schloss ist Eigenthum des Baron Prandau und heisst Valpo. Es leben sehr viele Augenzeugen , die an der Wahrheit der Thatsachen zwar keinen Zweifel übrig lassen , in wie weit. aber ein geschickt ausgeführter Betrug die Sache zu Stande
bracht oder zu Stande hätte bringen können , das weiss. ich nicht ; ich war damals leider noch von den wissenschaft
lichen Vorurtheilen befangen und hatte mich darum nicht
interessirt. Nicht nur die spiritistischen Journale, sondern auch die anderen, und zwar aller Zeiten, bringen sehr häufig
170 Schlüsse a. d. Widersprüchen m .d. phänom. Gesetzmässigkeit.
solche ungewöhnliche Erscheinungen , über welche sie sich lustig machen , aber keine Erklärungen bringen , wie diese Thatsachen , oder aber die Täuschung mitunter sehr zahl reicher Personen zu Stande gebracht werden soll. So hat man mir unlängst erzählt , dass vor drei Jahren durch
einige Wochen in Wien in einem Hause auf der Wieden *) der von so vielen Augenzeugen seit jeher behauptete unbe greifliche Steinregen alle Fensterscheiben einschlug , und dass der Hauseigenthümer einige Hundert Gulden an Fen sterscheiben und einige Hundert Gulden an Sicherheits Massregeln und Organen verausgabte, ohne der Sache auf den Grund kommen zu können ; ein einziges Individuum wurde als verdächtig festgesetzt, und in der ersten Nacht seiner Festsetzung erfolgte der Steinregen erst recht. Einer meiner Freunde , der oft in England weilt , berichtet mir, übereinstimmend mit einander, dass er und auch die anderen Gäste in dem alten Schlosse eines bekannten englischen Aristokraten immer Sonderbarkeiten erlebt , der Art , dass
einige selbst die Jagd in Stich liessen und abreisten. Man sage mir daher, was man wolle , über diese vermeintlichen Spukgeschichten, nur nicht dass sie selten seien.
Was das häufigere Wirken der intelligiblen Welt durch Medien anbelangt, so kann das wohl nicht Wunder nehmen ; es wird Derjenige, der Gäste einladet , deren gewiss mehr haben , als Derjenige, der sie nicht einladet ; auch wird Derjenige mehr Gäste haben , welcher ihrem Kommen Er leichterung gewährt. Von einer Aenderung der Verhältnisse ist nicht mehr und nicht weniger die Rede , als von der Aenderung, welche die Uebung und Erfahrung bei dem
Fortschritte jeder Industrie oder Leibesfunction verursacht. Was die andern Einwürfe anbelangt , in Bezug auf
Schwerfälligkeit und Zweck der Erscheinungen, so beweisen * ) Ziegelofengasse Nr. 25. Eigenthümer Raphael Masini.
Schlüsse a. d. Wiedersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 171
sie nur eine ganz falsche Anschauung von der intelligiblen Welt und werden diese Einwürfe ihre Erledigung später
finden. Die Ansichten über Beschäftigung, Glück und Zweck gehen selbst auf dieser Welt ganz auseinander. In meiner Jugendzeit frug ein türkischer Botschafter auf dem ersten Hofballe , was denn der Kaiser wohl den Tanzenden für
diese Arbeit zahlen müsse ; und während das Wettrennen der höchste Lebenszweck einer ganzen Reihe sonst wohl
erzogener Menschen ist, die mitunter ihr Vermögen diesem Sport zum Opfer bringen , beantwortete der Schah von Persien eine Einladung zum Wettrennen mit den Worten :
Das ein Pferd besser laufe, als ein anderes, wisse er ohnehin“ . Es mag Manifestationen geben, die wirklich den Zweck
haben, Jemanden zu überzeugen, diese Anforderung aber an Alle zu stellen, wäre kindisch. Die sich uns manifestirenden Wesen können dazu die verschiedensten Motive haben, und dürfen eben so wenig als der eigentliche Typus der intelli giblen Wesen aufgefasst werden, als die tauchenden Knaben
der griechischen Inseln der Normaltypus der Menschen sind. Wir kommen hiemit zu folgendem Schlusse: Der Mensch
ist eine in Zellen dargestellte Erscheinungsform eines solchen intelligiblen Wesens ; es werden daher sehr viele ausser gewöhnliche Erscheinungen auf Rechnung des intelligiblen
Subjectes im Menschen gesetzt werden können ; allerdings giebt es deren , die weit leichter auf Rechnung eines zellen leibfreien, fremden, intelligiblen Wesens zu setzen sind. Die erste Annahme involvirt bereits die Zulässigkeit der zweiten und umgekehrt.
Wir stehen bei Beurtheilung dieser Phänomene vor zwei lehrreichen Annahmen, welche ein und dieselbe Quelle
haben : das intelligible Subject des Menschen. Die eine Ausnahme bilden jene Menschen , welche durch ihre Orga nisation eine so geringe phänomenale Befangenheit haben , dass sich manchmal Spuren der Thätigkeit des intelligiblen
172 Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d . phānom. Gesetzmässigkeit.
Subjects und des Meta -Organismus finden , die andere Aus nahme bildet das zellenfreie intelligible Wesen, welches aus verschiedenen Ursachen und Motiven ausnahmungsweise dem menschlichen Leben näher steht, und uns direct oder in
direct phänomenal wird. Beides sind seltene Ausnahmsfälle, die manchmal gleichzeitig zusammentreffen und aus welchen man viel lernen kann .
3. Friedrich Zöllner. Wir kommen nunmehr zu jenem Manne, welcher meines Wissens der erste , der die Widersprüche der fraglichen
Thatsachen mit der phänomenalen Gesetzmässigkeit auf jene Weise ausnützte, wie sie auszunutzen sind , und mit Recht als der Begründer der von vielen so lebhaft ange
griffenen Transscendentalphysik betrachtet werden muss. Die Priorität des Gedankens, dass diese Phänomene einer trans scendentalen Gesetzmässigkeit entspringen und unterliegen , gebührt eigentlich schon Jean Paul, der die .,Wunder auf
Erden “ als „ Naturgesetze im Himmel“ bezeichnete. Meinen Lesern ist bekannt, dass Kant und nach ihm Gauss die Möglichkeit der vierten Raumdimension aner kannten , und eigentlich vor ihnen schon Heinrich More -
auf eine bis jetzt nicht aufgeklärte Weise - diese als den „ Spiritibus und Menschenseelen“ zukommende behauptete. Meine Leser wissen auch, dass Zöllner durch Speculatio nen über die Kometen und Professor Mach in Prag durch Unerklärlichkeiten in der Spectralanalyse u. s. w. auf die vierte Raumdimension geführt wurden. Professor Zöllner hat nun im dritten Bande seiner Wissenschaftl. Abhandl.
abermals ein Phänomen constatirt , welches auf die vierte Raumdimension hinweist, und damit gleichzeitig ein muster
giltiges Beispiel allen Gelehrten gegeben, wie man aus den
Widersprüchen der phänomenalen Gesetzmässigkeit Schlüsse
Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 173
auf die Natur der nicht phänomenalen , also intelligiblen Welt zu ziehen habe.
Was das Factum selbst anbelangt , so sei nur kurz folgendes erwähnt. Zöllner sass mit Herrn von Hoffmann, dessen Frau und Slade beim Thee. Ohne an Experimente
zu denken, erblickte zuerst Frau von Hoffmann , dann später auch Zöllner eine Lichterscheinung an einem Vorhange, welche sich als der Reflex eines unter dem Tische befind lichen Lichtes darstellte und die Schatten der Tischfüsse
auf den Vorhang warf. Unter dem Tische war nichts zu sehen , was den Grund der Lichterscheinung hätte veran
lassen können, auch wäre an diesem Ereignisse in Gegen wart Slade's gar nichts Ungewöhnliches. Was aber höchst merkwürdig war, ist der Umstand, dass die Tischfüsse sich sehr scharfprojicirten und einen mit der Grösse der schattenwerfenden Objecte gleich grossen Schatten warfen. Zöllner knüpft nun an diese Thatsache folgende Combination : „Befindet sich der Ursprung dieser Strahlen in dem Raume unterhalb des Tisches in Gestalt eines leuchtenden Punktes, so müssen Dach den Gesetzen des Schattenwurfes die Schatten der Tischfüsse auf
der Wand beträchtlich grösser als die Tischfüsse selber sein, wie sich Jeder hiervon leicht überzeugen kann, wenn er eine brennende Kerze unter einen mit mehreren Füssen versehenen Tisch stellt. Die Grösse
und Gestalt der Schattenprojection eines Gegenstandes nähert sich bekanntlich um so mehr der Grösse des schattenwerfenden Objectes, je weiter die Lichtquelle von dem letzteren entfernt ist, oder mit an
deren Worten , je mehr sich die Strahlen dem Parallelismus nähern. Die Schärfe in den Contouren der Schatten gestattet auserdem einen
Schluss auf die scheinbare Grösse der Lichtquelle; wäre z. B. der schein bare Durchmesser der Sonnenscheibe zwanzigmal grösser, als dies gegen wärtig der Fall ist, so würden die Schatten, welche undurchsichtige Körper im Sonnenlichte werfen, an den Rändern in weit höherem
Grade verwaschen sein, als dies gegeuwärtig der Fall ist. Sieht man von den Beugungserscheinungen ab , so würde ein Körper absolut scharfe Schatten von absolut gleicher Grösse mit den schattenwerfenden Objecten werfen, wenn die Strahlen von einem unendlich weit entfernten
174 Schlüsse a. d. Widersprochen m. d. pbānom. Gesetzmässigkeit.
Punkte ausgehen. Da nun in dem oben erwähnten Falle überraschend scharfe Schatter der Tischfüsse von merklich gleicher Grösse mit den
selben beobachtet wurden, so folgt hieraus, dass die Strahlen, welche
jenen Schattenwurf erzeugten, von einer Lichtquelle ausgehen mussten, welche erstens eine sehr kleine scheinbare Grösse besass, und sich zweitens in grosser Entfernung befinden musste. Kein Ort unterhalb
des Tisches hätte dieser zweiten Bedingung genügen können, und da der übrige Raum des Zimmers beobachtet wurde, und selbst die Ent fernung bis zur nächsten Wand in Slade's Rücken nicht ausreichend
gewesen wäre, der erwähnten Bedingung zu genügen, so würde die besagte Erscheinung auf einen andern Ort als Ausgangspunkt deuten, der gar nicht in unserem dreidimensionalen Raum liegenkann. Dieser
Widerspruch löst sich auf, sobald man die Realität eines vierdimen sionalen Raumgebietes voraussetzt und annimmt, dass es jenen unsicht baren intelligenten Wesen, welche uns so viel von ihren Fähigkeiten gezeigt haben, auch unter geeigneten Bedingungen möglich sei. Licht strahlen, welche sich in Richtung der vierten Dimension ausbreiten ,
derartig abzulenken, dass sie in unser -dreidimensionales Raumgebiet fallen . Wir sind ja mit Hilfe der Reflexion und Berechnung des Lichtes gleichfalls im Stande, Lichtstrahlen derartig abzulenken, dass wir den
Ausgangspunkt derselben an einen anderen als den wirklichen Ort versetzen. Auf dieser Ablenkung der Lichtstrahlen beruht der grösste
Theil der physikalisch -optischen Täuschungen . Da das Auftreten der artiger Lichterscheinungen eine sehr häufig beobachtete Thatsache bei
spiritistischen Sitzungen ist und u. A. auch Professor Crookes (vergl. oben Seite 157) ausführlich darüber berichtet hat, so möchte ich mir erlauben, die Aufmerksamkeit anderer Beobachter auf den erwähnten Umstand zu lenken. Zur näherungsweisen Bestimmung des Divergenz punktes der Lichtstrahlen solcher leuchtenden Erscheinungen dürfte sich folgendes Verfahren als einfachstes empfehlen. Man beobachte die Lichterscheinungen mit Hilfe eines Opernguckers, der eine mög lichst grosse Verschiebung bei seiner Einstellung gestattet. Für Gegen stände, welche sich in so geringer Entfernung wie die in einem Zim mer vorhandenen Objekte vom Beobachter befinden, bedarf der Opern gucker für jedes Objekt, welches scharf erscheinen soll, einer beson
deren Einstellung, und diese Einstellung, d. i. die bestimmte Entfernung des Oculars vom Objecte, gestattet nach einfachen optischen Gesetzen eine Bestimmung der Entfernung des Objectes, d. i. derjenigen leuch tenden Punkte, von denen aus die Lichtstrahlen sich im Raume ver breiten. Sollte es sich nun wirklich zeigen, dass bei derartigen spiri
tistischen Lichterscheinungen die Entfernung des Divergenzpunktes der
Schlüsse a . d. Widersprücben m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 175 Jeuchtenden Strahlen nicht mit der Entfernung der leuchtenden
Objecte übereinstimmt , so würde der Unterschied dieser beiden
Entfernungen die Länge einer in die vierte Dimension fallenden Strecke bestimmen und bierdurch der erste Schritt zu quantitativen
Messungen sein. Es wäre eine solche Beobachtung in der Geschichte der Transscendentalphysik vergleichbar mit der ersten Parallaxen bestimmung in der Geschichte der Astronomie , wodurch wir die erste angenäherte Vorstellung von der Entfernung des uns nächsten Himmelskörpers, unseres Mondes, erhielten .“
Der Leser hat hier ein klares Bild, wie ein denkender Kopf aus den Widersprüchen, die sich aus Thatsachen mit der phänomenalen Gesetzmässigkeit ergeben , Folgerungen auf die Zustände der intelligiblen Welt zieht. So wie nun die vierte Raumdimension sehr Vieles zu
erklären im Stande ist, so darf mit ihr doch kein Missbrauch getrieben werden , und selbe einfach zur Erklärung aller unverstandenen Ereignisse herbeigezogen werden , etwa so
wie man zu sagen pflegt: Gott hat es gewollt oder ge macht, und sich dann jeder weiteren Mühe des Nachdenkens überhoben glaubte .
So wie mit dem Meta-Organismus, so geht es auch mit der vierten Raumdimension : von der Einen wird sie als
das allgemeine Arcanum für Erklärung des Unbegreiflichen benützt, von den Anderen wird sie als etwas Undenkbares
verworfen, und werden lieber die haarsträubendsten Erklä rungsweisen angenommen , als die Annahme anderer Raum verhältnisse. Und doch liegt die Wahrheit auch hier in der Mitte ; für die Annahme der vierten Raumdimension liegt nicht
immer eine zwingende Nothwendigkeit vor , und anderseits ist sie in vielen Fällen die einfachste und beste Lösung.
Beim Knotenexperimente, welches zuerst als ein Beweis der vierdimensionalen Thätigkeit hingestellt wurde , beruht
der Schluss auf der Ausschliessung der Durchdringlichkeit der Materie ; ist diese durchdringlich , so kann ich den
176 Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. Knoten im endlosen Faden auch ohne die vierte Raum
dimension bewerkstelligen lassen . Die vierte Raumdimension
bei Erscheinungen des Hellsehens zu Hilfe zu rufen, ist mit unter ein Umweg, und keineswegs die einfachere Erklärung. Zöllner meint (Seite 96 , III. Bd. der Wissenschaftl. Abhandl.), dass sich das oben geschilderte Hellsehen ( clairvoyance) sehr einfach nach Analogien der erweiterten Raumanschauung durch die vierte Dimension erklären lässt.
Aehnlich wie , wenn unser leib
liches Auge durch Erhebung nach der Richtung der dritten Dimension
mit wachsender Erhebung in die Höhe mehr Erscheinungen an der Erdoberfläche (zweidimensionales Raumgebiet) übersieht , so dass ein im Luftballon befindlicher Beobachter einem unten stehenden Menschen die Ankunft eines Eisenbahnzuges zu einer bestimmten
Zeit an einer bestimmten Stelle weit eher verkündigen kann , als der unten Stehende es wahrnimmt, ähnlich erweitert sich für das
geistige Auge der Seele, wenn sie sich nach der vierten Dimension erhebt, das dreidimensionale Raumgebiet unserer gegenwärtigen Raumanschauung. Mit wachsender Erhebung der Seele müssen die
körperlichen Dinge für sie in immer grösserem Abstande durch sichtig werden , und man könnte sogar ein Mass für die Grösse der Erhebung in die vierte Dimension ermitteln , falls messbare Beobachtungen über die radial nach allen drei Dimensionen wachsende Fernsicht einer allmälig in den magnetischen Schlaf versetzten,
hellsebenden Somnambule angestellt werden könnten . “ Nach meiner Anschauung wäre der Ausdruck des ,.Sich erhebens in die vierte Raumdimension " mit dem Ausdrucke des Versschwindens der künstlichen dreidimensionalen An
schauung zu verwechseln ; jedenfalls ist aber die Thatsache der anziehenden, strahlenden Materie und elektrischen Fern
wirkung allein schon genügend , das Hellsehen auch ohne vierte Raumdimension zu erklären .
Ganz anders wird die Sache , wenn es sich um die
obige Schattenwerfung oder um das Verschwinden von Ge genständen handelt, weil es im letzteren Falle weit schwerer
ist, anzunehmen, dass ein Gegenstand in seine Bestandtheile so weit aufgelöst werde , um unseren Organen unsichtbar
Schlosse a . d. Widersprlicben m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 177
zu werden , oder dass er unbemerkt und spurlos durch die Zimmerdecke oder den Fussboden entschwinde, und dann eben so wieder hereingelange und zusammengesetzt werde. Die drei Dimensionen sind eine Anschauungsform des
Zellen -Organismus, der wieder richts Anderes ist, als die Er scheinungsform eines Meta-Organismus, der schematisch oder
potentiell existiren muss, und unter günstigen Verhältnissen auch ausser dem Zellenleibe zu einer plastischen, sei es fühl baren , sei es sichtbaren Darstellung gelangt , und dann allerdings auch materiell, d. b. uns wahrnehmbar, zu wirken vermag. Was nun diese „ günstigen Verhältnisse“ anbelangt, 80 liegt darüber noch ein Schleier, welcher erst durch zahl reiche Experimente hiezu berufener Männer gelüftet werden wird. Das Wenige, was sich bis jetzt darüber sagen lässt, werde ich später berühren , nachdem wir die nähere Be kanntschaft mit der intelligiblen Welt gemacht haben werden. Seit den neuen Veröffentlichungen Zöllners ist es so ziemlich stille geworden mit dem lärmenden Anathema der Wissenschaftler; das von Crookes und Zöllner gelieferte Ma terial war zu reichhaltig , die Bedeutung dieser Männer ist gerade auf dem wissenschaftlichen und Experimental-Gebiete zu durchschlagend ; Wundt ist der einzige, der ab und zu einen schüchternen Versuch macht, das Publikum in der
vorgefassten Meinung unseres „aufgeklärten Zeitalters“ zu bestärken. In dem ersten diesjährigen Hefte „ Unsere Zeit“ ( 1880) ist von ihm ein Aufsatz erschienen unter dem Titel „Der Aberglaube in der Wissenschaft". Wundt legt sich
erst den „Aberglauben“ zurecht und beginnt : „Zwischen Glauben und Wissen liegt das schwankende Gebiet des Aberglaubens. Während die Gegenstände des Wissens durch
aus nur der vorstellbaren Wirklichkeit angehören, und während der Glaube sich auf das Uebernatürliche, Uebersinnliche be
zieht, das von uns als ein Gegenstand sittlicher Forderung Hollenbach , Vorurtheile . IN .
12
178 Schlüsse a . d . Widersprüchen m. d. phänom . Gesetzmässigkeit.
gedacht wird , besteht das Wesen des Aberglaubens darin, dass er dem Uebersinnlichen sinnliche Gestalt gibt , indem er in die natürliche Weltordnung übernatürliche Kräfte in sinnlich wahrnehmbarer Form eingreifen lässt“ .
Es ist vor Allem zu bemerken, dass zwischen dem Glauben und Wissen das Forschen liegt, das noch kein Wissen und kein Glauben ist, darum aber doch auch kein
Aberglaube sein muss. Da dieser Aufsatz an die Adresse Zöllners geschrieben ist, wenn er auch nur die Form eines Vortrages einhält, SO erscheint es ganz unbegreiflich,, wie Wundt , der doch Leipzig bewohnt, Zöllner kennt, Professor der Philosophie ist , und soeben ein Buch über Logik veröffentlicht hat , solche Sätze aufstellen konnte. Wenn Jemand den Aberglauben hat, dass er an einem Freitag nichts unternehmen soll, so hat er doch dem „ Ueber sinnlichen “ eben so wenig eine „ sinnliche Gestalt“ gegeben, als wenn Zöllner Erscheinungen aller Art im Wege der vierten Raumdimension zu erklären strebt. Die ganze Defini tion des Aberglaubens taugt nichts, daher auch alle weitere Argumentation ein Gewäsch ist.
Der wissenschaftliche Aberglaube*) hat nach Wundt das mit dem Volksaberglauben gemein , dass er das un mittelbare Eingreifen übersinnlicher Kräfte in die sinnliche
Erfahrung voraussetzt.“ Nach dieser Aufstellung müsste die Gravitation und das Atom auch ein Gegenstand des Aber glaubens sein , denn beide sind „ übersinnlich “, und greifen doch sehr wesentlich in die „ sinnliche Erfahrung.“ Wundt sagt weiter, dass der Mysticismus mit dem Aberglauben die Voraussetzung gemein habe, „ dass sich das Uebersinnliche in der sinnlichen Erscheinung verwirkliche. Das ist nun
wirklich der Fall ; aber alle sinnliche Erscheinung ist nur * ) Eine genauere Definition des Begriffes ..Aberglaube“ bringt das nächste Capitel.
Schlässe a . d. Widersprüchen m. d. phänom . Gesetzmässigkeit. 179
eine Verwirklichung von etwas Uebersinnlichem - eine An sicht , die nicht nur Kant und Schopenhauer , sondern alle Philosophen vertreten . Denn was heisst sinnlich ? Das, was ich mit den Sinnen wahrnehme ; alles aber , was ich wahr nehme , ist Wirkung von etwas Unsinnlichem , nur durch Denken annähernd Erschliessbarem . Man muss daher wohl den Schluss ziehen , dass entweder Wundt kein Philosoph oder der einzige der Menschheit sei. Der Mystiker hat ganz recht, wenn er an der Erkenn
barkeit des Uebersinnlichen“ festhält , und lediglich die Schranken unseres Erkenntnissvermögens beschuldigt, welche sich aber immer erweitern. Wundt gesteht dies selbst zu indem er auf der vierten Seite seines Aufsatzes sagt : dass die Welt „ einen übersinnlichen Zweck und Grund als ihre
Ergänzung fordert“, was weit mehr behaupten heisst , als z. B. Zöllner behauptet. Dieser lässt den Grund und Zweck der Welt fein liegen, und bemüht sich nur, die Ursachen zu
den Wirkungen zu suchen. Dass es wirklich Mystiker gibt, welche auf Unterlage einer inneren Erfahrung etwas erkennen wollen, steht ausser Zweifel, und diese überlasse ich Wundt sehr gern zur Amtshandlung , denn das ist die bekannte
Geschichte der Propheten und Spiritisten , doch darf man diesen Wahn nicht mit den Bestrebungen eines Crookes und Zöllner verwechseln und von einem wissenschaftlichen
Aberglauben fuseln. Geradezu unerlaubt ist der Gemeinplatz der Wissenschaftler, dass dieser vermeintliche Aberglaube der Wissenschaft die „ Gesetzmässigkeit der Weltordnung
in Frage stelle;“ im Gegentheile, diese Männer, die Wundt für den wissenschaftlichen Aberglauben verantwortlich machen
will, gehen geradezu aufdie „ gesetzmässige Erklärung “ los , weil eine solche existiren muss. Man kann ein sehr kräftiger und muthiger Mann sein und doch zufolge Schwindels ein Hochgebirge nicht besteigen können, während es schwächliche Naturen gibt, die es treffen ; 12
180 Schlosse a . d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. so ist es mit dem Schwimmen , Reiten und anderen Dingen -
und auch mit der Philosophie. Es gibt sehr viele Zweige
des menschlichen Wissens, und sehr tüchtige intellectuelle
Kräfte, die aber manchmal versagen , sobald es sich um eine Vertiefung in das transscendentale Gebiet handelt, eine Bemerkung, die schon Kant seinerzeit machte, als er seine Kritik der reinen Vernunft vertheidigte. Man kann vor den
Leistungen Wundt's auf so vielen Gebieten nur Hoch achtung haben, in gewissen Dingen scheint er aber nicht zu Capacitiren zu sein.
Die Ausnahmsfälle der phänomenalen Gesetzmässigkeit, wie sie von competenten Fachmännern beobachtet wurden, liefern trotz der Scrupeln eines Wundt oder x- beliebiger Fakultäten, den sichergestellten Beweis der Existenz anderer Wesensreihen und Raumverhältnisse ; sie liefern den Beweis, dass es andere Wesen gibt, welche menschliche Organe zu projiciren und menschliche Begriffe zu fassen und zu denken vermögen .
Die Menschheit hat diesbezüglich Zöllner sehr viel zu verdanken. Dank seinem Wissen , seiner klaren Denkweise
und vor Allem seinem moralischen Muthe, hat er die Bahn ei öffnet, auf welcher er aller Wahrscheinlichkeit nach noch sehr viel leisten wird. Wenn man bedenkt, dass die wissen
schaftliche Verblendung – das liebe Vorurtheil – so weit ging, nach Erscheinung des ersten Bandes der Wissenschaft lichen Abhandlungen von Geistesstörungen zu reden , weil diesen Universitäts -Jesuiten eben keine anderen Waffen zu Gebote standen , so kann man sich nur freuen, dass das Leben dieses Mannes nicht durch irgend einen bösen Zufall
vernichtet wurde. Denn wäre dies geschehen, und der erste Band der Wissenschaftlichen Abhandlungen das letzte geistige Product Zöllners geblieben, so hätte diese schamlose Bande, die selbst solche Mittel nicht scheute, die gründliche Forschung auf diesem Gebiete um Jahrzehnte vielleicht aufgehalten.
Schlüsse a . d. Widersprüchen m. d. phänom Gesetzmässigkeit. 181 .
Nun aber , wovon Zöllner ein zweiter, dritter Band er schienen ist, und der mit ungebrochener Kraft fortarbeitet, hat sich die Taktik dieser Herrn als eine sehr schlechte erwiesen. Der Succurs kommt von allen Seiten , und die Schlacht kann als zu unseren Gunsten entschieden betrachtet werden ; wenn der wissenschaftliche Janhagel auch davon nichts merkt oder vielleicht merken will. Wir sehen oft, dass
Menschen bis zum letzten Augenblicke Schein und Aufwand
aufrechthalten , die längst die Berechtigung dazu verloren haben .
Von welchen praktischen Folgen dieser Sieg über
das Vorurtheil begleitet sein wird, das werde ich den Leser später vorführen.
Die Kampfweise gegen Zöllner ist aber eine sehr verschiedene.
Der eine Theil bestreitet die thatsächliche
Einwirkung fremder intelligenter Kräfte, der andere die Er klärungsweise ; beide Theile bleiben aber die Lösung des Räthsels schuldig. Die protestantische Kirchenzeitung bringt (in Nummer 9, 1880) einen von Albrecht Krause gefertigten
Aufsatz, der „Religion,Spiritismus und Mathematik“ überschrieben ist, und folgende Zugeständnisse macht : ,, Zöllner sei sich bewusst, eine Reihe der interessantesten oder
seltensten Beobachtungen gemacht zu haben. Er glaubt Alles gethan zu haben, um Irrtbum zu verhüten. Er hat diese spiritistischen Ex perimente mit aller wissenschaftlichen Controlle unter Zuziehung von wissenschaftlichen Capacitäten vorgenommen. Er hat alle Welt eingeladen, die Thatsachen mit ihm zu prüfen, und für dies a'les bekommt er nur Spott und Hohn oder lahme Erwiderungen, welche seine Zurechnungsfähigkeit , Glaubwürdigkeit und Wissenschaftliche keit in Zweifel ziehen .“
Weiter heisst es : „ Fragt Zöllner, ob wir die Experimente erklären können, so antworte ich : Nein . Daraus folgt aber noch nicht, dass es irgend
einem gestattet ist, sie durch Lehren zu erklären, welche der Trans scendentalphilosophie widersprechen .“
Worin liegt nun die Sünde , die Zöllner gegen die Krause’sche Transscendentalphilosophie begeht ? — Sie besteht
182 Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d. phänom . Gesetzmässigkeit. darin , dass sich Zöllner gestattet den Widerspruch der Erscheinungen im dreidimensionalen Raume durch die Vor
aussetzung einer vierten Raumdimension zu erklären , deren Erfinder übrigens er nicht ist. Das ist es, was Herrn Krause gegen den Strich geht, und dem er Folgendes entgegenstellt:
„ Das Wort „ Raum “ bedeutet den Begriff von einem Gegenstande menschlicher Anschauung, welcher ganz genau bestimmt ist, als z. B. drei Dimensionen besitzend. Alle Anschauung, welche mehr oder weniger als drei Dimensionen hätte, wäre eben nicht der Gegenstand, welchen nian Raum nennt. Man kann z . B. die Zeit nicht einen Raum
von einer Dimension nennen, obgleich sich ihre Verhältnisse sogar an der Linie abbilden lassen . Ebensowenig könnte man eine Anschauung von vier Dimensionen , welche Wesen sie auch besitzen, einen Raum nevnen, denn das Wort Raum stammt vom Menschen und bedeutet
„ Nichts“ als menschliche Anschauung. Diejenige Vorstellung, welche auf Empfänglichkeit beruhte und vier Dimensionen hätte , würde allerdings eine Anschauung sein ; aber so wenig die Zeit, welche nur
eine Dimension hat, eine Rau manschauung ist, so wenig wäre jene Vorstellung, welche vier Dimensionen hätte, eine Rau manschauung. Man kann aber nicht etwa flüchten in die Behauptung, dass die Linie auch ein Raum sei , und nur von einer Dimension, weil die Linie eine Anschauung eines Räumlichen im Raum ist,während eine Anschauung von vier Dimensionen (wenigstens betreffs ihrer vierten) ausser dem dreidimensionalen Etwas wäre, welches im Deutschen „Raum“ heisst. Ausser dem Raum sein bedeutet aber etwas logisch Wider
sprechendes oder es heisst „ Nicht-Raum “ sein ." Man könnte vor Allem den Einwurf erheben , woher
es denn komme, dass man den Ausdruck dreidimensio naler Raum “ gebrauche, wenn nur das Raum ist, was drei Dimensionen hat? Die Bezeichnung „dreidimensional“ wäre ja in diesem Falle ganz überflüssig. Wie entsteht denn unser Raumbegriff von drei Dimensionen, Herr Krause? Wenn ich mich in meinem Zimmer bewege , oder Fremde eintreten, oder aber ich den gestirnten Himmel zu verschiedenen Zeiten beobachte, so werde ich finden , dass die äusseren Objecte sowohl mir gegenüber, als auch unter
einander ihre Beziehungen wechseln. Diese Beziehungen
Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 183
pflegen wir räumliche Beziehungen zu nennen.
Wir
haben keine andere geeignete Bezeichnung ; die Verände
rungen dieser Kategorie in unserer Vorstellung sind eben räumlich und nicht chemisch , pathologisch, nicht kalt oder warm u. s. w. Die Beziehungen der Planeten unter einander,
wie sie durch die Bewegung hervorgebracht werden , nicht mehr räumliche zu nennen, falls sie durch keinen mensch
lichen Verstand angeschaut werden , sondern „ jocolo gische" - das dürfte doch nichts zur Deutlichkeit beitragen und ist Geschmacksache.
Herr Krause , der auf das Verständniss Kant's ein
ausschliessendes Privilegium zu besitzen glaubt, müsste nun wissen , dass Kant den Raum ausdrücklich nicht als
blosses Gedankending bezeichnet und in dem Umstande, dass die Kräfte im umgekehrten Verhältnisse des Quadrates der Entfernung auf uns wirken, die Ursache der dreidimen sionalen Anschauungsweise sagen wir — vermuthete ;
wie dem immer sei , wir sind Schuld , unsere Organisa tion zwingt uns , von der Welt und den Beziehungen der auf uns einwirkenden Objecte ein dreidimensionales Bild zu haben , und ich bin ebenso berechtigt, einem Steine eine dreidimensionale Anschauung abzusprechen , als ich anzu
nehmen im Stande bin, dass andere Wesen möglicherweise eine Anschauung von den räumlichen Beziehungen der Objecte haben, die - sagen wir — x -dimensional ist. Diese Berechtigung nimmt in dem Masse zu, als ich Thätigkeiten entdecke, welche in einem Raume oder vielmehr im Sinne
einer phänomalen Gesetzmässigkeit von drei Dimensionen Antinomien bieten, welche durch die Annahme eines Raumes
von mehr als drei Dimensionen gelöst werden. Wenn Jemand sagt , ich kann diese Thatsachen zwar nicht erklären , verwerfe aber die mir gebotene Erklärung durch Annahme einer vierten Raumdimension, weil ich nur drei Dimensionen kenne , und wenn es eine vierte gebe,
184 Schlüsse a. d. Widerspruchen m. d. phänom . Gesetzmässigkeit.
diese kein Raum wäre, so ist das eine subjective Anschau .
ung und willkürliche Einschränkung des Begriffes Raum, und lohnt es wahrlich nicht der Mühe , näher darauf ein
zugehen.
Herr Krause sagt am Schlusse seines Aufsatzes: Würde Herr Zollner die Mühe auf sich nehmen, diese Arbeiten
(nämlich Krause's) durchzudenken, so würde er wissen , dass eine vierte Dimension eine neue Erkenntnissfunktion erfordern würde, d. b. einen Verstand, welcher nicht mehr logisch geartet wäre , welches
bekanntermassen bei uns als Zustand des Irrseins bezeichnet wird . “
Wie wenig berechtigt Krause ist , einen solchen Rath
und eine solche Verwarnung zu ertheilen , ergibt sich aus diesem Satze selbst. Dass eine vierte Dimension eine neue
Erkenntnissfunktion erfordern würde , ist klar und meinem Freunde Zöllner sehr gut bekannt. Der menschliche Verstand hat die Aufgabe, aus den Wirkungen auf die Ursachen zu
schliessen ; er thut dies einzig und allein mit Hilfe seines Organismus.
Dieser gibt ihm ein dreidimensionales Bild,
und kein vierdimensionales ; aber zu behaupten , dass ein solcher Verstand nicht mehr „ logisch “ fungiren würde,
ist etwas stark ; denn die Gesetze der Logik beziehen sich nicht auf Ursache und Wirkung , sondern auf Grund und Folge, welche Funktionen durch alle denkbaren Raumdimen
sionen sich gleich bleiben , wie sie sich denn auch nicht ändern , ob ich die Welt dauernd durch ein Mikroskop, durch ein Fernrohr oder durch einen Spiegel u. 8. w. an sehen würde. Die Wirkungen werden verschiedene sein, und werde ich auch andere Ursachen finden , wenn mein
geändertes Auge andere Eindrücke bekommt, die logischen Gesetze aber werden dadurch nicht alterirt.
Die Theologen befinden sich den spiritistischen Phä nomenen gegenüber in einer eigenthümlichen Lage. Einer seits ist es ihnen sehr angenehm , wenn diese Thatsachen den Materialismus erschüttern , andererseits ist es ihnen
Schlüsse a . d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 185 sehr fatal, wenn die Creditbriefe des Wunders und der
Offenbarung ihren Werth verlieren. Dass das letztere aber der Fall sei , das wittern die intelligenteren unter ihnen heraus. Die Spiritisten sind ihnen eine „ Geissel des Christen
thums, geschwungen durch gefährlichere Feinde der Kirche, als Renan und Strauss .“ Das Letztere hat in einem ge wissen Sinne seine Richtigkeit, nicht aber das Erstere ; das Christenthum hat nichts zu fürchten , sondern nur die
Kirche. Das dem so sei , geht aus dem Schlussatze , mit welchem der gelehrte Theologe Zöckler (dem ich auch obige Worte entnommen) , seinen Abschnitt über Materia
lismus und Spiritismus schliesst. (Siehe „ Theologie und Naturwissenschaft “ II. Th., Seite 415–416.) Er sagt: ,, Für
den durch Schrift und Kirchenlehre gebundenen (!) Theo logen wird obendrein das Nekromantische des Verfahrens sein nie zu beseitigender Widerstreit mit Moses (5. 18. 11.) (!) und sein Vorbeigehn an der Engel- und Geisterlehre der
h. Schrift, immer und in jedem Falle einen schweren Stein des Anstosses bilden. Warum mit aller Gewalt den Weg zur Bestätigung des Glaubens an ein Jenseits eröffnen
wollen, denn die Gleichnisserzählung des Herrn (Luc. 16. 331 ) ein für allemal für einen unnützen, der von Gott gesetzten Ordnung widersprechenden bezeichnet ? Warum mit den Mitteln natürlicher Kunst und Weisheit das Wort des
Apostels von unserem Wandel im Glauben und nicht im Schauen (2. Cor. 5. 7.) Lügen strafen , es als veraltet erweisen wollen ?
Das ist dieselbe Logik , welche einst eine unersetzliche Schriftensammlung den Flammen überlieferte: „ Steht es im Koran , so ist es überflüssig ; steht es nicht im Koran , so ist es schädlich !" Ob nun die Spuren des Korans, oder die Bücher der Propheten die massgebende Autorität für Jemand sind, das hängt doch nur von der Geburtsstätte ab.
186 Schlüsse a. d. Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit.
Ich begreife , dass den kirchlichen Hierarchien jene
am liebsten sind , welche nicht „ schauen “ , sondern „ glau ben “ ; die gar nicht das Verlangen haben , als Gewissheit inne zu werden, was die P. T. Seelsorger lehren und inter pretiren. Schade nur für die Hierarchien, dass die Zahl der Gläubigen sich immer vermindert, der Art, dass in den Reihen der Gebildeten kaum welche zu finden sind. Es ist daher die Stelle in Lucas nicht glücklich angezogen , denn
es haben Viele durch das „ Schauen“ eine Ueberzeugung sich aneignet, welche auf „ Mosen und die Propheten nicht gehört.“
Was ich hingegen nicht begreife , ist, dass man die Thatsachen nicht für hinlänglich beglaubigt hält und doch zugesteht , dass die Zeugen und Anhänger sich quantitativ
und qualitativ stets mehren. Ich weis nicht, was die Theo logen abhält , sich die Ueberzeugung der Thatsächlichkeit zu holen ; sollte es eben die Furcht sein, sie zu finden und dann doch das Geheimniss bewahren zu müssen ? Doch mit
einem „ gebundenen “ Theologen soll man nicht streiten !
Wenn wir das Ergebniss der Kritik der verschiedenen
Erklärungsweisen zusammenfassen, so ergibt sich, dass man mit Uurecht allein einzelnen Menschen hervorgerufene
aussergewöhnliche Sinneswahrnehmungen so leichthin der Einwirkung fremder Wesenreihen zuschiebt, und zu wenig
Rücksicht auf das intelligible Subject in uns nimmt. Ande rerseits aber würde das Zuschreiben des ganzen gegebenen Erfahrungsmateriales auf Rechnung des intelligiblen Sub jectes in uns ohnehin zu Voraussetzungen führen, welche alle Schwierigkeiten beheben , die sich der Wirkungsweise der intelligiblen Wesen entgegenstellen ; auch gibt es Fälle, wo die Annahme einer fremden intelligenten Einwirkung die weitaus einfachere ist.
Schlüsse a . d . Widersprüchen m. d. phänom. Gesetzmässigkeit. 187
Was nun die vierte Raumdimension anbelangt, so sind die Unsichtbarkeit dieser Wesen, wie nicht minder einzelne
Thatsachen , die im Wege der Durchdringung der Materie ihre Erklärung auch finden könnten , nicht genügend , die vierte Raumdimension als eine unabweisbare Nothwendigkeit
hinzustellen ; wohl aber giebt es einzelne , meinem Leser bekannte Fälle, wo wieder diese Annahme die weitaus ein fachere ist.
Ein Gymnasialschüler wird begreifen , dass die Wider sprüche mit dem gewöhnlichen Verlaufe der Dinge , im
Wege der häufigen Beobachtung uns nach und nach auf die Spuren der anch diesen Erscheinungen zweifelsohne inne wohnenden Gesetzmässigkeit bringen werden und müssen ; das Vorurtheil unserer officiösen Wissenschaftler ist aber so
stark, die Furcht vor der Lächerlichkeit so gross , dass sie alle das Fersengeld geben , wenn es sich um Untersuchung
solcher Dinge handelt. Haben sie sich in irgend einer Weise als Gegner compromittirt, und den Gegenstand a priori ver worfen , so bleiben sie sich consequent , vertheidigen die wenn auch aufgegebene Festung bis zum letzten Athemzuge,
ohne aber darum für die gute Sache auf dem Felde der Ehre sterben zu können , weil sie die „ gute Sache gar nicht vertheidigen, worüber im XI. Capitel.
188
Echlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
II
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten . Einige nothwendige Attribute der intelligiblen Welt. Die denkbare Einwirkung det intelligiblen Welt auf uns. Die denkbare Einwirkung auf die Materie. William Eglinton in Wien. Der denkbare Zweck der Phänomene.
Die Identität beider Welten.
Unsere dinkbare Einwirkung auf die intelligible Welt.
1. Einige nothwendige Attribute der intelli giblen Welt. Es gibt noch einen Weg , durch dessen Betretung wir einen Blick in diese so räthselhafte und hoch interessante
Gebiet zu werfen vermögen. Den Schlüssel dazu liefert die Identität beider Welten , die sich nur dadurch von ein
ander unterscbeiden, dass die eine das modificirte Bild der an deren ist. Zöllner hat diesen Gedanken vor vier Jahren ges
streift, denn er sagt in der Vorrede zu den Principien einer
elekt.-dynam. Theorie : „ Wenn die Erscheinungen (Körper) im Raume von drei Dimensionen Projectionen von Objecten eines Raumes von vier Dimensionen wären, so müsste einer
jeden Erscheinung im Raume von drei Dimensionen eine complementäre zweite Erscheinung entsprechen, deren Eintritt nicht gleichzeitig mit der ersten stattfinden kann , obschon sie im Raume von vier Dimensionen gleichzeitig mit der ersten existirt " . Es projicirt nun allerdings nicht die vier dimensionale Welt (wenigstens nicht unmittelbar) die drei dimensionale , wohl aber ist es der Mensch, der mit Hilfe
seines organischen Leibes , seines Gehirnes, ein dreidimen sionales Bild der vierdimensionalen intelligiblen ) Welt in der Vorstellung projicirt. Es gebärt die eine Welt die andere
Schlosse aus der Identität an sich beider Welten.
189
nur in dem Sinne , als die uns bekannte, das auf drei Dimensionen reducirte oder in selbe
a usein
andergezogene Gemälde der anderen ist. Erläutern wir das durch ein Gleichniss.
Ein Haus ist ein Object für mich , für ein Insect und auch für ein vierdimensionales Wesen ; ein Haus, d. h.
ein nach drei Dimensionen geschlossener Raum , bestimmt mir Obdach zu geben u. s. w., ist es nur für mich, den Menschen. Hingegen ist es ganz consequent, dass Alles,
Object und Vorgang , in dem uns bekannten Gemälde ein Correlat in der intelligiblen Welt haben müsse, aber es muss nicht alles , was in der intelligiblen Welt vorgeht, in dem dreidimensionalen Gemälde zur Darstellung gelangen. Wenn wir an dem Gedanken festhalten, dass wir eigent
lich nicht ausserhalb der intelligiblen Welt stehen, da ja die phänomenale nur das dreidimensionale Bild der intelli
giblen vierdimensionalen ist (welches wir in unserem Kopfe tragen ), so liegt es nahe, die Frage umzukehren; statt zu fragen „wie sieht die intelligible Welt aus , wie kann sie gedacht werden ?“ hätte man zu untersuchen, „ wie kommt die phänomenale Welt zu Stande ? was muss denn eigent lich in der intelligiblen Welt als vorhanden gedacht werden, um die phänomenale in uns zu erzeugen ?"
Die Antwort ist sehr einfach : „ Ein solcher Organis mus , wie wir ihn kennen , denn nur dieser macht es
möglich, dass wir die Einwirkungen auf jene Weise empfinden, welche die Welt unserer Vorstellung zu Stande bringt“. Dadurch aber wird es möglich, die Frage: „ Was muss aus der phänomenalen Welt nothwendig hinwegfallen, weil es nur durch den Organismus möglich und in der intelligiblen Welt undenkbar ist ? " theilweise zu beantworten .
Es ist klar, dass ich – unter Voraussetzung der Iden. tität
an
sich
beider Welten
dem Bilde der intelli
190
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
giblen Welt um so näher kommen muss, als ich in der Lage sein werde, mehr aus der phänomenalen als dort undenkbar
wegzustreichen ; denn die intelligible und phänomenale Welt sind an sich dieselbe und die letztere nur das mensch
liche Bild der ersteren . Die phänomenale Welt ist in der intelligiblen ebenso enthalten , wie die zweite Raumdimension in der dritten, und diese in der vierten u. 8. f. Der Leser
erinnere sich des Gleichnisses mit dem Spiegel; ich kann eben auf den Anblick des Zimmers verzichten und mich
auf das Bild im Spiegel beschränken, welches mir nur einen Theil des Zimmers wiedergibt : nichtsdestoweniger sind ich und der Spiegel im Zimmer. Die phänomenalen Naturgesetze sind nur Bilder der transscendentalen : die transscendentalen Gesetze können, aber müssen nicht für uns phänomenal werden , d. h. es kann im Zimmer etwas vorgehen, was nicht in den Spiegel einfällt. Wir können aus der phänomenalen Gesetzmässigkeit daher immerhin Schlüsse auf die transscendentale ziehen,
wobei wir aussergewöhnliche Erfahrungen , Analogien und auch blosse Vernünftigkeit zu Hilfe rufen können. Der ganze
Vorgang hat viel Aehnlichkeit mit der Spectralanalyse, wo wir aus dem gebrochenen Lichte auf die Natur der Gestirne
Folgerungen ziehen. Denn die phänomenale Anschauung ist auch nichts anderes als ein durch das Gehirn gebrochenes Bild der realen oder intelligiblen Welt.
Wollen wir uns dieser Speculation hingeben , welche
in der Beantwortung der Fragen gipfelt: „ Was kann von unseren Verhältnissen in der intelligiblen Welt nicht gefunden werden, was kann davon bleiben, was muss bleiben ?
Kommt die phänomenale Welt nur mit Hilfe eines Zellenorganismus zu Stande, so ist mit dem Wegfalle des
Zellenorganismus der Wegfall der Zellen unzweifelhaft ge geben ; denn welcher Art das intelligible Subject immer wäre
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
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eine Organismus aus Zellen hat es nicht — darüber kann weiter kein Streit bestehen, weil das Gegentheil wohl Niemand behaupten wird ; ganz abgesehen davon, dass wir aus Erfahrung wissen, dass die Organ - Projection dieser Wesen spontan erfolgt und verflüchtigt, formell zwar dieselbe, dem Inhalte nach aber eine von den Organen aus Zellen ganz verschiedene ist . Mit dem Wegfalle der Zellen entfällt aber die Noth
wendigkeit ihrer Ernährung, mithin alle Sorge, welche in der phänomenalen Welt so reichlich durch den Hunger ge geben ist. Es entfällt aller physische Schmerz , aber auch physische Lust ; von einem Geschlechtstriebe kann selbstverständlich nicht mehr die Rede sein. Allerdings können andere durch Sympathie hervorgerufene angenehme Ueberein stimmungen und Annäherungen gedacht werden, auch ist es möglich , selbst wahrscheinlich , dass so wie der Walfisch das ihn umgebende Element einfach einathmet und auswirft und dabei seine Nahrung findet, eine Art Stoffwechsel ebenso
stattfindet, wie wenn wir in's Hochgebirge ziehen , um bessere Luft zu athmen , was uns aber keine weitere Arbeit kostet.
Da unser Zellenorganismus doch nur die Darstellung eines Meta -Organismus in lebenden Zellen sein kann , und ich überhaupt nicht annehmen darf, dass unser Zellenleib aufge baut würde , wie ein Automat , so unterliegt es für mich keinem Zweifel, dass alle unsere Functionen Correlata in
der intelligiblen Welt haben . Das Empfinden , Sehen , Denken, Lieben nehmen in der phänomenalen Welt nur die durch
den Zellenorganismus bedingte Form an ; wie sich dies ausserhalb desselben gestaltet, ist für unseren, der phänome nalen Anschauung gewidmeten Verstand begreiflicher Weise unvorstellbar. Doch eben so wie der blose Bedarf der Luft oder des
Meerwassers unsere Eigenthumsverhältnisse nie hervorgerufen hätte , so kann in einer intelligiblen zellenfreien Welt an
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
ein Eigenthum kaum gedacht werden, weil dessen Werth nicht einzusehen ist ; es bliebe nichts als der Raum , den
gewiss die Redeutenderen zu behaupten wissen werden – falls er existirt !? Es ist zwar kein blosses Gedankending,
wie Kant sagt, aber unsere Begriffe von Oben, Unten und Neben könnten leicht ganz unpassend sein. Sobald aber der Hunger, die sinnliche Liebe und das Eigenthum in der intelligiblen Welt ihre Bedeutung verlieren, weil sie diese nur für einen Zellenleib haben , so
entschwindet auch die Unterlage und die vis motrix für unsere gesellschaftlichen Unter schiede ; die Begriffe von vornehm und reich, ja selbst von alt und jung haben keinen Sinn, denn sie sind phänomenaler Natur, sie sind Phantome. Unterschiede werden wohl sein, aber anderer Art, weil der
Eintheilungsgrund ein anderer ist. Es entschwindet also so ziemlich Alles , was die Menschen für des Lebens höchste Güter halten;
darum es ganz richtig, dass die Welt Christi ganz anderer Art sei ; darin stimmen auch fast alle Religionsstifter überein. Das wären so Dinge , die mit den Zellen in Wegfall kommen und nicht bleiben können ; nun entsteht die Frage : Was aber soll denn bleiben ?
Auch darauf haben wir eine Antwort : Dasjenige , für was sich das „ Sollen " in unserem Innern regt, mit einem Worte ausgedrückt : das Evolutionscapital. Es ist das eine Behauptung, welche nicht nur durch Analogie, sondern auch durch das richtige Erkennen des Charakters und moralischen Werthes in vielen praktischen, wenn auch aussergewöhnlichen Fällen gerechtfertigt ist. Wo immer ein solches intelligibles Schauen beobachtet wurde , zeigte sich die Empfindlichkeit dafür. Wir fühlen den Werth der erfüllten Pflicht, der guten That, des zum Nutzen Anderer oder auch
Schlüsse aus der Identität an sich beider Weltco.
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seiner selbst vollbrachten Werkes, wenn es ein Beitrag zur Culturentwickelung ist.
Selbstverständlich bleibt aber auch das Gegenstück ! Ich habe schon im zweiten Bande das Capitalisiren unserer
Thätigkeiten in Fähigkeiten und Anlagen als das einfachste und gerechteste Moralprincip hervorgehoben , und eben so wenig , als ich als ehrlicher Mensch munter werden kann, wenn ich als Schurke mich niedergelegt , ebenso wenig kann aus mir etwas anderes werden, als ich aus mir in der phänomenalen und intelligiblen Form mache. Kein Papst und kein Gott kann meine Fehler wegwaschen , sondern nur meine eigene Arbeit !
Nunmehr begreifen wir das „ Sollen“ in unserer Brust klar und deutlich ; es ist der Kampf zwischen den intelli
giblen (unbewussten ) und phänomenalen (bewussten) Mo tiven.
Aus der Haltung , der Kleidung , der Beschäftigung schliesse ich auf die Person und werde mich über gewisse
Grenzen hinaus in Bezug auf Lebensstellung nicht leicht irren ; doch wird es mir schwer fallen , über den Charakter
ein Urtheil abzugeben ; nur das Gesicht und dessen Aus druck werden es mir vielleicht möglich machen , auch da
Anhaltspunkte zu finden. In der intelligiblen Welt kann es offenbar nicht anders gedacht werden, als dass die ersteren Unterschiede ganz wegfallen, bingegen der intelligible Cha rakter klar und deutlich hervortritt. In der intelligiblen Welt ist dem Heuchler die Larve heruntergerissen, und
wäre er auch der populärste Volksmann , der raffinirteste Betrüger oder die glänzendste Erscheinung seines Zeitalters gewesen . So wie wir mit einem Blicke die Stärke oder
Schwäche des Lichtes, selbst die Art seiner Wirkung – ob es ein elektrisches oder anderes , rothes oder blaues richtig schätzen, eben so werden wir als intelligible Wesen
genau als das erkannt , was wir sind , und unser ganzes Hellenbach , Vorurtheile III.
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
Thun und Lassen in der ganzen Vergangenheit wird durch sichtig für jeden, der nur lesen will. Entsprechend unserem Charakter und unseren Fähigkeiten wird auch die Thätig keit und Machtsphäre angenommen werden müssen ; denn eine blos beschauliche Unthätigkeit kann man einer Welt,
die nichts sein kann, als eine gesteigerte Entwickelung der unseren, nicht zumuthen. Es gilt dies auch für die phäno. menale Welt , nur ist der Eintheilungsgrund und das Thä tigkeitsfeld ein anderes.
Wenn man die Offenbarungen der Religionsstifter liest, 80 stimmen sie in Bezug auf das Bleibende und Werthvolle der moralischen Errungenschaften und die Vergänglichkeit der irdischen Güter , insbesondere des von den Juden so angebeteten goldenen Kalbes überein; da aber diese Offenbarun
gen den Credit längst verloren haben, so sehen wir gerade den intelligenteren Theil der Menschen diesen Gütern nach jagen , nicht etwa als Mittel zum Zwecke, was ganz erlaubt wäre , sondern als letzter Zweck selbst. Diese „ positiven Menschen gehen den üblichen Weg des ,, Fleisches“ , in der
intelligiblen Welt gibt es aber kein Fleisch ! Es ist begreiflich , dass ein Individuum wie ich , das sich anmasst , diese Illusionen zu stören , von allen so genannten Glücklichen nach besten Kräften angefeindet werden müsste , wenn sie die Zeit und Lust hätten , ein
solches Buch zu lesen. Nachdem man aber die missliebigen Autoren nicht mehr verbrennen und einsperren , sondern nur todtschweigen oder nur mitleidig belächeln kann , so wäre ein solches Los leicht zu tragen , wenngleich nicht
vorauszusetzen ist , dass ein in der phänomenalen Welt ganz Befadgener Kenntniss von meinen Wühlereien in seinen Idealen haben werde .
Doch wäre es ein falscher Schluss, dass die intelligible Welt einen demokratischen Charakter habe und der Nivel
lirung anheim falle.
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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Die Naturwissenschaft gibt uns die Differenzirung aller Gebilde als Bedingung jeder Entwickelung an die Hand, welche Differenzirung um so grossartiger ist, auf je höherer Stufe der Entwickelung die Wesenreihe steht. Wir wissen auch aus Erfahrung , dass je differenzirter die Gesellschaft, desto grösser die Cultur sei ; man braucht nur einen euro
päischen Staat mit einem Indianerstamme zu vergleichen . Es ist daher ein erlaubter Analogieschluss , dass die Ver schiedenheit in der intelligiblen Welt noch reichhaltiger sein werde, als in der phänomenalen.
Ich stelle nicht ohne
Grund die Behauptung auf , dass die Verschiedenheit so gross sein wird, als die des menschlichen Antlitzes. Ein Gesetz werden beide Welten zweifelsohne gemein
haben, und das ist das Recht des Stärkeren. Es gilt
dies nicht nur für die Himmelskörper, sondern auch für die organische Natur. Worin das Uebergewicht der Kraft be steht, darin liegt der ganze Unterschied . Die physische Kraft vergangener Zeiten wurde in der phänomenalen Welt durch die Intelligenz, das Geld, die Geburt und zahlreiche andere Factoren abgelöst. Vor 2000 Jahren hätte eine
Adelina Patti nicht Millionen gewinnen und Triumpfe feiern können ; eine schöne Stimme hat grösseren Werth in der
Gegenwart, als ein Landgut. Dass in der intelligiblen Welt die moralischen Werthe , für welche sich das Gefühl des
Sollens und der Begeisterung in unserem Inneren regt, das Entscheidende sein werden, liegt auf der Hand. Ein beiden Welten gemeinschaftliches Gesetz mugs
auch das der Erhaltung der Kraft sein. Die mensch liche Phantasie kann sich leicht vorstellen , dass überstan
dene Prüfungen und Leiden sich in dauernde Werthe um
setzen können , und dass dadurch das volle Gleichgewicht, die volle Entschädigung zum Ausdrucke komme. Unsere moralische und geistige Arbeit mag sich in Fähigkeit um setzen und werden unsere physischen Leiden zu unserer Reife 13 *
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
beitragen, wie denn eine sehr schmerzhafte Operation lang wierige körperliche Leiden auch ersparen kann . Es gibt eine Aristokratie auch dort, aber das Fidei
commiss , das ihr zu Grunde liegt, muss erworben werden und kann nicht verloren gehen. Erbe und Aquisitor sind
ein und dasselbe Subject. Das Bestreben , sich über seinen Nebenmenschen zu erheben , wird und muss in beiden Welten zu finden sein , nur das man in der intelligiblen Welt ein
edles Ziel verfolgt, schöne Motive hat und sich loyaler Mittel bedient, während in der phänomenalen Daseinsform in der Welt des Fleisches , das Ziel zumeist eine Lappalie, das Motiv ein rücksichtsloser Egoismus ist, zu dessen Be
friedigung man sich der brutalsten Mittel bedient. Es liegt auf der Hand , dass es in der phänomenalen Welt kein Naturgesetz geben könne , welches seine Wurzel nicht in der intelligiblen hätte ; aber umgekehrt kann es sehr leicht in der intelligiblen Welt Gesetze geben, die uns nicht phä nomenal werden .
Ich überlasse es der Phantasie des Lesers, sich in der
Ueberhebung über andere, die von den Dichtern besungenen Sphären, oder die modernen Raumdimensionen vorzustellen . Je tiefer wir in die letzten Realitäten der phänomenalen
Gesetzmässigkeit eindringen werden , je mehr wir uns Re chenschaft zu geben vermögen , wie durch den Organismus das phänomenale Bild entsteht , desto deutlicher wird die intelligible Unterlage werden. So wie man aus einem zwei dimensionalen Schatten auf das dreidimensionale Object zu schliessen vermag, so muss ein Schluss von der dreidimen sionalen Erscheinung auf die vierdimensionale Unterlage
auch möglich sein ; allerdings werden nur einige und nicht alle Eigenthümlichkeiten zu erkennen sein . Ich werde es vielleicht noch einmal versuchen , diese Blätter zu vervoll
ständigen und in ein System zu bringen , vorläufig genügt es, den Gegenstand angeregt zu haben, der, wie alles Neue
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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und Ungewohnte, auf vielfachen Widerspruch stossen wird, namentlich bei Allen, die von der phänomenalen Welt ganz befangen sind.
2. Die Einwirkung der intelligiblen Welt auf uns. Die Einflussnahme der intelligiblen Wesen auf uns ist einer der allgemeinsten und ältesten Glaubensartikel, kein Volk und keine Zeit haben sich davon zu emancipiren ver
mocht. Das allein müsste genügen , eine Ursache dieses allgemeinen Glaubens zu vermuthen und aufzusuchen . Wir
haben in der phänomenalen Welt erkannt, dass sie in ihren wichtigsten Einwirkungen auf uns durch Schwingungen uns unwahrnehmbarer Kraftlinien zu Stande kommt; es handelt
sich also nur um die Frage , ob die intelligiblen Wesen Schwingungen hervorzurufen im Stande sind. Die Einwirkung kann verschieden gedacht werden , auf unseren Gedanken
gang , auf unsere Sinne , auf Muskel und Nerven , und da durch selbst auf unser Geschick.
Dass eine Einwirkung überhaupt möglich ist, werden meine Leser nicht bezweifeln , da sie , wenn auch nur in
relativ seltenen Fällen , thatsächlich ist ; selten muss sie aber sein, weil , abgesehen von den subjectiven und ob jectiven Vorbedingungen , der Anblick der menschlichen
Verirrungen vom Standpunkte der intelligiblen Welt ein ganz besonders ekelhafter sein muss , wenigstens für nur
einigermassen gutgeartete Wesen. Nur Sympathie und Liebe zu Individuen oder höhere Zwecke können einem intelli giblen Wesen besserer Art die Kraft geben , diesen Ekel
zu überwinden. Nichtsdestoweniger mag die Einwirkung eine weit häufigere sein, als wir vielleicht ahnen . Dass sie keine so entschiedene ist , um auf irgend eine Weise in unser Bewusstsein deutlich hineinzuragen , wird durch die
Construction unseres Organismus bedingt; dass sie eine so
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Sohlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
seltene ist , mag zum Theile seine Erklärung auch darin finden, dass sie uns in der Regel nicht zuträglich ist. Das phänomenale Leben liegt im Interesse unserer Entwickelung, darf also nicht leicht gestört werden ; auch wären die
Folgen der Einwirkung in der Vergangenheit keine ange nehmen - man denke an die Hexenprocesse.
Das physikalische Hineinragen der intelligiblen Welt im Wege des gesuchten und hervorgerufenen Experimentes mit Hilfe anormaler Organisationen , gehört nicht hierher, doch selbst da sind die Nerven, welche eine solche Einfluss nahme als eine Erscheinung wie irgend eine andere , ganz rubig hinnehmen, eben nicht häufig. Mir haben unerklärte Bewegungen und insbesondere der empfundene Contact nur eine angenehme Ueberraschung und Empfindung verursacht. Von dieser Art Einwirkung ist aber vorläufig nicht die Rede , sondern von der spontanen , directen , durch die äusseren Sinne, oder den inneren Sinn wahrgenommenen ; soll
sie im Wege des inneren Sinnes, durch Vermittlung des intelligiblen Subjects erfolgen , so setzt eine solche Wahr
nehmung durch uns einen mangelhaften Schleier der Maja
(geringe phänomenale Befangenheit) voraus, wie nicht minder die Absicht des intelligiblen Wesen in die phänomenale Welt einzugreifen, was, wie gesagt, nur durch höhere Zwecke oder aussergewöhnliche Neigung denkbar wird. Nur Wo einer dieser beiden Umstände mit den oben angeführten
phänomenalen Vorbedingungen zusammentrifft, können die seltenen Spuren solcher Thätigkeit gefunden werden, welche auf drastische Weise den innigen Zusammenhang beider Welten beweisen würden . Wir Menschen verhalten uns der
Thierwelt gegenüber auf gleiche Weise ; die ungeheuere Majorität der Thierwelt ist für uns gar nicht vorhanden, und nur ein kleiner Bruchtheil wird ein Gegenstand unserer Aufmerksamkeit und Intervention aus höheren Rücksichten
oder Sympathie.
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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Was den Einfluss auf das Geschick des Einzelnen
anbelangt, so darf man nie vergessen , dass die Menschen autonom sind , und wie Alles in der lebenden Natur, den Kampf ums Dasein im Interesse ihrer Entwickelung kämpfen, Unsere Geschicke werden daher vom Standpunkte der intel
ligiblen Welt ganz anders aussehen, als sie uns erscheinen ; wenn dem nicht so wäre, so hätte ja der biologische Process gar keinen denkbaren Zweck . Die Verwechselung dieses
Standpunktes hat wahrscheinlich Schopenhauer veranlasst zu behaupten , dass unsere Leiden reell , unsere Freuden Illusionen seien ; im ersten Falle steht er auf phänomenalem , im zweiten Falle steht er auf intelligiblem Boden, von wel
chem aus freilich die materiellen Genüsse ( aber auch Leiden) Illusionen sind .
Kant hat sich für den Zusammenhang der phänome nalen und intelligiblen Welt ausgesprochen. Es dürfte hier der Ort sein , die Quellen zu berück sichtigen , welche Kant zu seiner Anschauung geführt
haben mögen. Es ist allerdings richtig, dass die Unterschei dung zwischen Erscheinungen und Ding an sich , wie nicht minder die Natur des intelligiblen Charakters, Kant zu
jenen Anschauungen verhelfen konnten , welche er als „Träume der Metaphysik“ bezeichnete ; nichtsdestoweniger glaube ich, dass ihm , so wie fast jedem, im langen Lebens
laufe Dinge erzählt wurden, die er ,,als einzelne Geschichten “ nicht glaubte, aber „ allen zusammen doch einigen Glauben beimass. Seine Anschauung ist eine so richtige, diese sel tenen Erscheinungen so schön erklärende, dass man unwill kürlich annehmen muss , er habe seine Anschauung , wenn
auch nicht an jene Fälle angepasst, so doch durch deren Anregung gewonnen , wenn auch mit dem Vorbehalte, dass es eben falsche oder ungenau geschilderte Vorgänge wohl
auch sein könnten. Die Reserve, mit welcher Kant schrieb, ist aus doppelten Gründen begreiflich. Die hohe Regierung,
200
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
die hohe Geistlichkeit und das lächerliche Prestige der
Facultäten, mit einem Worte die Standesehre und das täg liche Brod , die Furcht vor Lächerlichkeit
das sind
Klippen, denen die Menschen in der Regel so weit als thunlich ausweichen , oft im Interesse der guten Sache aus weichen müssen . Ich habe diesbezüglich Erfahrungen ge macht , die unglaublich scheinen ! Ich habe es bereits so
weit gebracht, das gerade Dasjenige, was den Menschen
imponirt : „ der Professor, der Doctor, die Zeitung sagt etc.inir geradezu Misstrauen einflösst; weil ich die Erfahrung gemacht, dass die Menschen vor allem Scheinen wollen
und in der Regel fremde Gedanken denken*) *) Soeben hat die medicinische Facultät, aus Anlass der Pro ductionen Hansen's , ein Gutachten abgogeben , welches dahin lautet : „ Wenn Hansen einen starken Druck auf Nerven und Gefässe etc. aus.
übt , weon Hansen auf künstliche Art „ Starrkrämpfe “ erzeugt , wenn man fortgesetzt Hypnose an einer Person erzeugt , so kann dies ge sundheitsschädlich, ja lebonsgefährlich werden !“ Diesem Gutachten zu Folge wurden von Seite der Behörde die Productionen eingestellt. Auf Grundlage dieser Logik müssten alle Kaffeehäuser, Schänken, Cigarren- und Tabak -Trafiken, Eis- und Rennbahnen gesperrt werden , denn es ist nicht zu leugnen , dass wenn man zu viel Wein , Thee und Kaffee trinkt, zu viel raucht und so weiter, man etwas Gesundheits schädliches thut. Das Komische an der Sache ist nur , dass Hansen durch viele Jahre ohne Schaden experimentirt hat, und er in den Augen
der Facultät doch eine Laie ist , während jene Herren, welche einein solchen Experimente aus dem Wege geben , es mitunter selbst für Schwindel erklären, also gar keine Erklärung haben, die competenten Fachmänner sind ! Risum tenealis amici ! Es würde doch vernünftiger
gewesen sein , wenn die officielle Facultät sich die Mühe genommen hätte , die Experimente anzusehen , denn sie hätte da gefunden , dass die Art und Weise des Munterwerdens einen ganz zuverlässigen Finger zeige abgibt, weil es sich da zeigt, dass der Eine wie aus einem Traume leicht erwacht , der Andere schwer und unter Zuckungen , der Dritte unter Schweissausbrüchen u. s. f. Kaiser Josef der II. hob ein ähn
liches Verbot auf, dass gegen Cagliostro erlassen wurde. Die medici. nische Facultät steckt aber 100 Jahre später noch immer in der alten
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
201
Weit leichter ist der Einfluss auf unseren Gedanken gang verständlich.
Wenn wir uns eine Vorstellung von der Art der mög lichen diesbezüglichen Einwirkung der intelligiblen Wesen auf uns machen wollen , so brauchen wir gerade nicht so weit in die Ferne zu schweifen und in das metaphysische Arsenal zu greifen. Die Experimente mit Hansen geben uns einen Fingerzeig. Der Mensch soll an der Möglichkeit eines Erfolges
nie verzweifeln, und wenn er frei von wissenschaftlichen und religiösen Vorurtheilen ist, daher nicht von Wundern und
Unmöglichkeiten faselt , wenn er noch dazu frei von den Vorurtheilen des gemeinen Verstandes sich fühlt, so kann er an jedes Problem ruhig herantreten , er wird darüber
gewiss den Verstand nicht verlieren, aber es wird ihm auch keine Gelegenheit entschlüpfen , Anhaltspunkt für vernünf
tige Speculationen zu finden. Meine Leser wissen , dass Materie auf Materie wirkt,
und zwar durch Kraftlinien , welche nicht nur die Träger der Anziehung, sondern aller Art Schwingungen sind ; meine Leser wissen auch, dass wenn zwei Menschen sich in einem
Zimmer begegnen, schwingende Kraftlinien theilweise wahr genommen werden , wofern es nicht Blinde sind. Es liegt also lediglich in der Organisation oder Empfindungsfähigkeit, um von diesen Kraftlinien noch mehr beeinflusst zu werden, als dies mit Hilfe der Augen geschieht; denn eine Bewegung machen , heisst soviel als
zwei Menschen in einem Zim
mer voraussgesetzt – die Retina des anderen angreifen, und Zunftweisheit und hat keine anderen Mittel und Waffen, als ein allge
meines Schütteln des Kopfes und die Polizei ! Allerdings wird der medicinische Schwindel our vom theologischen übertroffen, daher denn
alle Fälle , welche das Vertrauen in die officielle Allwissenheit zu er. schüttern drohen, von diesen beiden immer sehr missliebig aufgenommen werden.
202
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
ist es nur der Verstand , der diesen Griff weiter hinaus localisirt, d, h. die Ursache weiter hinaus und nicht in die getroffene Retina setzt. Es hängt aber nicht nur von der
Empfindungsfähigkeit ab , sondern auch von der ein wir
kenden Kraft ; denn meine Ohren z. B. hören nichts, wenn der Andere mit Hilfe seines Kehlkopfes nicht die Luftschichten in genügende Schwingungen versetzt. Alexander v. Humboldt und nach ihm auch andere
Naturforscher haben den Satz aufgestellt, dass jeder Willens act einer elektrischen Entladung zu vergleichen sei.
diesem Satze wollen wir festhalten . Meine Leser wissen, dass Wärme, Elektricität und Magnetismus nahe verwandt sind ; es kann daher nichts Befremdendes haben, dass der
Wille auf diesen Kraftlinien oder Schwingungsfäden auch Schwingungen erzeuge, und dass die Molekularschwingungen
meines eigenen Körper sich den Molekularschwingungen des andern mittheilen .
Wenn wir in ein Zimmer eintreten , wo die ganze
Gesellschaft lacht, so werden wir, ohne noch den Grund zu wissen , eine lächelnde Miene annehmen ; auf gleiche Weise ist das Weinen , die Furcht und was sehr bezeichnend ist , der Veitstanz ansteckend.
Lassen sich auch das Mit
lachen und Mitweinen auf die Anticipation des zu Hörenden schieben , so geht dies füglich nicht mit dem Veitstanz.
Dass die aussergewöhnlichen Erscheinungen in Schulen, Klöstern , Dörfern epidemisch werden , dafür gibt es zahl reiche Beispiele. (Siehe Schindler's Magisches Geisterleben .) Liegt da der Gedanke nicht sehr nahe, dass die Mittheilung
der Molekularschwingungen nicht auch ihren Antheil habe? Allerdings wird diesen der eine mehr , der andere weniger widerstehen .*)
*) Während der Drucklegung dieses Bandes erkrankte Hansen in Leipzig, wie man sagt, lebensgefährlich und zwar an Bildung von Nervenknoten. Dieser traurige Fall beweist, dass Hansen durch seinen
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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Wir haben nicht nothwendig, uns tiefer in die Physio logie und Molekularphysik einzulassen, namentlich ich fühle mich nicht berufen , diese Aufgabe Anderen vom Halse zu nehmen, die ihr mehr gewachsen sind. Ob nun der Magne tiseur Hansen einen stärkeren Willen überhaupt, ob er
bessere Leitungsdrähte, oder nur grössere Gewalt über seine
Molekularbewegungen hat – das hat uns weiter nicht zu kümmern, genug, dass er mit seinem Willen auf die Bewe gung der Muskeln des Körpers und des Gehirns Einfluss zu üben und Wahnvorstellungen zu erwecken vermag. Vermag er das in Wirklichkeit ? Ich habe nicht obne Grund den Wunsch einer Ver
sammlung unterstützt, welche die Experimente Hansens aus nächster Nähe sehen wollte , weil diese Versammlung die Garantie bot , die Thatsächlichkeit der Erscheinungen für alle Welt zu verbürgen, und zwar in einem höheren Grade, als es irgendwo meines Wissens der Fall war. Um sowohl der folgenden Argumentation , als künftigen Forschungen Anderer ein gutes Material zu liefern, werde ich etwas näher darauf eingehen .
In Wien befindet sich ein Reitlehrer - Institut, in wel ches jedes Cavallerie - Regiment alle zwei Jahre ungefähr den besten Reiter sendet, der zum Reitlehrer ausgebildet wird. Daraus folgt, dass die Mitglieder dieses Institutes,
etwa 60 an der Zahl , aus lauter kräftigen , gesunden Men schen bestehen müssen , weil sie ein tägliches Reiten von acht bis neun Pferden , zum Theil rohen Pferden , ansonst nicht vertragen würden. Dass die österreichischen Cavallerie Offiziere in der Regel den besten Häusern der Monarchie Willen und seine Nerven wirkte, dass er kein Schwindler war, und
dass die Hypothese von Erregung und Fortpflanzung von Molekular schwinguagen keine unbegründete ist. Nach meiner Ansicht dürften die Materialisations. Medien bei Uebertreibung Lähmungen ausgesetzt
sein , zum Unterschiede von Magnetiseuren.
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
angehören, und dass ein sehr guter Ton in diesen Kreisen herrscht, ist bekannt. Derjenige, der daher glauben könnte, dass diese Herren überhaupt, und insbesondere in Gegenwart ihrer Vorgesetzten und der hohen Generalität, im Einver ständnisse mit Hansen einen Schwindel auszuführen fähig
wären und einen solchen selbst dem obersten Kriegsherrn gegenüber aufrecht halten würden, ist einfach ein Narr !
Von etwa zwanzig sich zur Verfügung Stellenden er wiesen sich sechs als tauglich. Von den vorgefallenen Expe rimenten will ich nur in Kürze und zusammenfassend er
wähnen, dass es Hansen gelang, Wahnvorstellungen hervorzurufen , die Sprache zu nehmen, bei vollem Be wusstsein die Finger an die Wand zu heften und die so Gehefteten auf Entfernung zu zwingen, mit dem Finger an der Wand ihm nachzugleiten u. s. w. Er zwang einen der Herren , von rückwärts im zu folgen, trotz allen Wider standes , der ihm sowohl bei diesen , als anderen Experi menten geleistet wurde. Wir haben aus diesen Erfahrungen nur zwei heraus zuheben :
1. Dass ein Mensch ausnahmsweise durch seinen
blossen Willen auf die Muskeln , sowohl des Leibes , als Gehirns Einfluss üben kann, und 2. Dass ein Mensch unter
Umständen Vorstellungen hervorzurufen vermag. Wir Men schen sind also geeignet - wenn auch nicht alle auf gleiche
Weise - beeinflusst zu werden, es stels nur in Frage, ob intelligiblen Wesen in der Lage sind ,
die
Schwingungen hervorzurufen , und dadurch auf uns diesen Einfluss zu üben.
Nach den vorliegenden Erfahrungen unterliegt es kei nem Zweifel, dass , wenn auch nur ausnahmsweise , ein uns wahrnehmbares Wirken durch den blossen Willen hervor.
gebracht werden kann ; es ist daher um so leichter, anzu nehmen, dass die intelligible Welt, wenigstens was die An
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
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regung von Vorstellungen anbelangt, Einfluss zu nehmen vermag.
Weit weniger wahrscheinlich ist der Einfluss auf den Körper, wenn er über das Hervorrufen von Vorstellungen und Sinneswahrnehmungen im eigentlichen Sinne hinaus.
gehen soll. Denn das unbewusste Schreiben setzt nicht nothwendig eine directe Einwirkung auf die Muskeln voraus. Da es aber Hansen ohne Intervention seines physischen Leibes vermag, warum sollte es ein intelligibles Wesen nicht vermögen ? Die Geschichte liefert uns allerdings in den sogenannten Besessenen einen scheinbaren Anhaltspunkt , doch stehen
dieser Annahme gewaltige Gründe entgegen . Es wird vor Allem schwer sein, die Zustände des Starrkrampfes und der Epilepsie in ihren verschiedenen Formen , von jenem der angeblich Besessenen zu unterscheiden ; es ist auch nicht abzusehen , welche Motive ein intelligibles Wesen zu einer solchen Unterhaltung veranlassen sollten. Auch ist es nicht
annehmbar, dass in einer gewiss besser organisirten Gesell schaft, als die Civilisation der Menschen, so etwas auf die Dauer durchführbar wäre. Wir können allerdings den Wahn und Mord in unserer gesellschaftlichen Organisation nicht hindern , doch fehlen dort auch die zahlreichen Ursachen
und Motive dazu , welche in unserem Zellenorganismus liegen. Es mag sein , und ist selbst wahrscheinlich, dass verkommene und sinnliche Menschen ihre Dispositionen in eine andere Welt mit hinübernehmen ; die Möglichkeit mag immerhin nicht ausgeschlossen sein, doch darum handelt es
sich nicht. Ich für meinen Theil bin darüber beruhigt, dass sich meiner Niemand bemächtigen wird. Doch muss man constatiren, dass die Orte, wo sogenannte Schreckensthaten verübt wurden , den Meisten immer anrüchig waren , und dass in diesem Punkte alle Spiritisten übereinstimmen, dass materielle Menschen die Erde nicht meiden wollen oder
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
können. Plato und Sokrates hatten ähnliche Ansichten ; möglich, dass etwas daran ist.
Ein Anderes ist es mit der Anregung von Vor
stellungen ; das kann nicht nur leichter gedacht werden, sondern es gibt zahlreiche Berichte von Fällen , wo ein
spontanes Auftreten von Vorstellungen bei drohenden Ge fabren und besonderen Ereignissen bebauptet wird , für deren gewöhnliches Zustandekommen jeder denkbare Zusammen hang fehlt.
Zwei Umstände sind es aber, die nie ausser Acht ge
lassen werden dürfen; diese sind, erstens, dass man immer Rücksicht auf die Einwirkung des eigenen intelligiblen Sub jectes nehmen muss, und nicht per Bausch und Bogen Alles der intelligiblen Welt in die Schuhe schieben darf ; zweitens, dass eine Einwirkung durch die intelligible Welt nur unter Voraussetzung eines Bandes der Sympathie oder Liebe und unter Voraussetzung geringerer phänomenaler Befangenheit angenommen werden darf. Endlich darf man nie vergessen, dass die Uebel und Freuden dieser phänomenalen Welt vom intelligiblen Standpunkte sich ganz anders gestalten , weil da alles nur vom Standpunkte der individuellen und allge meinen Evolution in Betracht kommt.
Es gibt unter uns Menschen , die ihrem Schicksale überlassen sind , und über gar kein Liebescapital verfügen können, weil sie sich Liebe zu erwerben nicht vermochten, und durch ihr nur den phänomenalen Genüssen gewidmetes Leben auch keine Sympathie erwecken können. Wir erleben
Aehnliches in der phänomenalen Welt. Es gibt Menschen , deren G schicke höheren Zwecken zum Opfer fallen und vergeblich dem Fatum zu entrinnen suchen ; wir haben an Monarchen und Feldherren auch hier solche Fatalenker, die Städte und Schiffe in die Luft spren
gen und Bataillone opfern – es kann eben höhere Zwecke geben. Es gibt aber auch Menschen , und zwar gibt es
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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deren viele , welche den Kampf ums Dasein im Interesse ihrer eigenen Entwickelung kämpfen. Man hat ebenso Un recht, auf die Hilfe von dort zu bauen, in wie weit es sich
um unsere phänomenalen Leiden handelt, als man Unrecht hat, eine Einflussnahme von dort als ganz undenkbar abzu weisen. Beten heisst eigentlich nichts anderes , als unter irgend einer Form die intelligible Welt anrufen.
3. Die Einwirkungen auf die Materie. Eine Einwirkung der intelligiblen Wesen auf die uns wahrnehmbare dichte Materie ist von drei Gesichtspunkten
aus zu betrachten.
Das Erste und Wichtigste ist deren
Thatsächlichkeit, welche schon im zweiten Bande besprochen wurde und auch hier , gelegentlich der Beurtheilung neuer
durch mich gemachter Erfahrungen, zur Evidenz gebracht werden soll. Diese Thatsächlichkeit vorläufig vorausgesetzt,
hat die Frage eine physikalische und ethische Seite. Wie soll das geschehen , wenn diese Thätigkeit anderen intelli giblen Wesen zugeschrieben werden müsste, und was würde
daraus folgen ? Was soll es für einen Zweck haben ? Ich glaube am besten zu thun, wenn ich die physikalische Seite
zuerst im Allgemeinen behandle , dann die bestätigenden Erfahrungen einschiebe und zuletzt den praktischen und ethischen Werth der Sache dem Leser klar zu machen suche.
Ist die Einwirkung auf unsere Gedanken durch die
intelligible Welt eine eben nicht unbegreifliche , so muss dagegen die Einwirkung auf unseren Körper im Sinne einer Sindesvorstellung oder Empfindung schon sehr schwer zu bewerkstelligen sein , und werden dazu aussergewöhnliche Verhältnisse auf beiden Seiten gewiss angenommen werden müssen. Noch weit schwieriger muss es für ein intelligibles
Wesen sein, todte materielle Körper zu bewegen ; Schopen
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Schlüsse aus die Identität an sich beider Welten .
hauer hat in seiner Erstlingspublication „ Ueber die vier fache Wurzel des zureichenden Grundes
hervorgehoben ,
dass in der phänomenalen Welt Ursache und Wirkung immer proportional seien , wohingegen dies in Bezug auf Reize bei Organismen und gar Motive für unser Handeln nicht der Fall sei. Es kann ein schwaches Motiv den Anlass
zu sehr grossen Folgen geben . Dem entsprechend ist es begreiflich, dass die intelligiblen Wesen leicht auf Vorstel lungen , schwerer auf unsere Muskeln und am schwersten auf die todte Materie wirken. Dennoch bildet gerade diese
Art der Einwirkung den Hauptinhalt der spiritistischen
Literatur und ist deren Thatsächlichkeit über jeden Zweifel erhaben. Der Grund dieser Erscheinung liegt in dem Umstande, dass in den beiden ersten Fällen der fremde Einfluss nicht
sicherzustellen ist, während im letzten Falle uns genügende Hilfsmittel zu Gebote stehen , in einzelnen Fällen jeden
Betrug und jede Sinnestäuschung auszuschliessen. Die Bedenken , welche der intelligente Theil der Men schen gegen die Existenz einer intelligiblen Welt hat, sind allerdings unbegründet, weil ein fleissigeres Nachdenken über die phänomenale Welt auf die Beseitigung dieser Bedenken hätte führen müssen ; sehr begreiflich hingegen finde ich die Bedenken gegen diese A eusserungen der
intelligiblen Welt und insbesondere gegen jene Personen, welche die ausschliesslichen Mittelpersonen bilden , die so genannten Medien , wofern es sich um physikalische Er scheinungen handelt. Diese Bedenken steigern sich noch um ein Beträchtliches, wenn man sie kennen gelernt.
Wo soll der Grund gesucht werden, dass nur einzelne Menschen , die sich von den anderen in gar nichts unter scheiden, dieses Privilegium haben sollen, zumal, da Männer und Frauen, Gesunde und Kranke, Gebildete und Ungebildete zu solchen Naturen zählen , deren Ausnahmestellung etwa durch besondere moralische Eigenschaften auch nicht legi
Schlässe aus der Identität an sich beider Welten.
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timirt wird ? Sind Medien nicht schon auf absichtlichen
Täuschungen ertappt worden ?
Gewiss, aber das hindert
doch nicht, dass Einzelne von ihnen in einzelnen Fällen
die Veranlassung von Ereignissen waren, welche ausserhalb jeder Erklärung durch die uns bekannte phänomenale Ge setzmässigkeit stehen . Ebensowenig als eine nicht betrü gerische Handlung eines Menschen nicht für immer schützt, von ihm ein anderesmal dennoch betrogen zu werden, eben
sowenig ist die Entlarvung eines Betrügers in einem Falle eine Erklärung für alle anderen unbegreiflichen Fälle. Professionelle Medien verlieren oft, mit der Zeit fast immer ,
ihre Eigenthümlichkeit, und wenn sie dann zu solchen Mitteln greifen , so wird dadurch nur die Absicht blossgelegt, die Thatsächlichkeit der anderen Erfahrungen aber nicht erschüttert.
Da diese Kundgebungen nicht regelmässig erfolgen, von sehr vielen Umständen beeinflusst werden , mitunter
sehr kindisch sind und gewöhnlichen Taschenspielerstücken gleichen, vor Allem aber weil sie sehr selten, sind, wird es schwer , den Causal nexus zu ergründen, und wird noch eine geraume Zeit verstreichen, bis man den Bedingungen näher kommen wird. Das, was sich bis jetzt darüber sagen liesse, ist ungefähr Folgendes : Wenn ich irgend einen Gegenstand nicht wahrnehme, so kann das zwei Ursachen haben ; er kann für meine Sinne zu zart sein , oder sich an einem Orte befinden,
der meinen Sinnen unerreichbar ist. Die intelligible Welt müsste also dem entsprechend sich im ersten Falle ver dichten , um uns wahrnehmbar zu werden, im zweiten Falle
in jenen Raum treten, der meiner Organisation zugänglich ist. Ich schicke das voraus, weil wir beide Eventualitäten immer im Auge behalten müssen.
Wir können uns in der Erde nicht bewegen , etwas besser geht es uns im Wasser , und unser eigentliches Hollenbach , Vorurtheile. III.
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210
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
Element ist die Luft, wenngleich wir in dem einen Falle von den Fischen, im anderen von den Vögeln übertroffen werden.
Ganz abgesehen von dem Bedürfnisse der Luft zum Athmen übt die Dichtigkeit und Verschiebbarkeit des Mediums, in welchem wir uns befinden, einen grossen Einfluss auf unsere Bewegungsfähigkeit. Wenn wir uns in die Luft erheben, oder in die Tiefen des Wassers oder Erdinnern dringen wollen , so bedarf das besonderer Vorbedingungen . Noch
weit beschränkter aber ist der Umfang unserer Wirksamkeit und Thätigkeit in den verschiedenen Medien ; daher denn die Seltenheit der Einwirkung einer intelligiblen Welt bis zur Wahrnehmung gerade nichts Auffallendes hätte. Sie be
findet sich in anderen physikalischen Verhältnissen und allem Anscheine nach an uns unwahrnehmbaren Orten im Raume.
Da wir wissen, dass die Atome, welche die feste Erde bilden, überall hinragen, die Summe der Kraftlinien in der Welt überhaupt eine constante ist, so entscheidet für die Dichtigkeit nicht die Menge dieser Kraftlinien, sondern
die stärkere oder schwächere Wirkung der Kraftcentren , welche bekanntlich mit der Entfernung abnimmt. Die Erde ist nur darum dichter als die Luft, weil die Kraftcentren
in der Erde mehr concentrirt und sich gegenseitig näher gebracht sind. Die Dichtigkeit wird nicht durch die Menge der imaginären Fäden oder Kraftlinien , die sich ja immer
gleich bleibt , sondern nur durch den Widerstand , den dickeren oder dünneren Faden entschieden ; mächtiger, oder graphisch dargestellt dicker, ist er dort, wo er dem Kraft centrum näher steht.
Aber auch vom Standpunkte der Zöllner'schen Raum theorie wird die Seltenheit der Schwierigkeit begreiflich ; wenn wir ein zweidimensionales Schaitenbild an die Wand
werfen wollen , so brauchen wir ein Licht, eine mehr oder
weniger weisse Wand und einen förmlichen Apparat, nicht
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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minder eine genaue Berechnung, wenn die Schatten auf einen bestimmten begrenzten Ort geworfen werden sollen. Und ebenso braucht es verschiedener Bedingungen , wenn etwas für unsere dreidimensionalen Sinne wahrnehmbar werden soll.
Ein anderes Gleichniss mag das dem Leser noch mehr veranschaulichen. Die Sterne senden ihre Schwingungen zu uns , wir können diese selbst zerlegen , brechen , und doch nehmen wir sie nicht wahr , wenn die Sonne scheint, ge
schweige denn , wenn wir unter dem Wasser sind u. 8. w. Die Dichtigkeit des Gewebes der Kraftlinien oder Kraft sphären , die Ausstrahlungen aller in einem menschlichen
Körper concentrirten Atome und Kraftenergien müssen nothwendig und ebenfalls ein ganzes Netz von unzähligen Schwingungslinien bilden , welches Netz durch Hinzutritt anderer Menschen noch complicirter wird. Die Verschieden heit dieses Netzes wird nicht nur für Sympathie und Anti pathie im gewöhnlichen Leben, sondern kann auch bei den aussergewöhnlichen Fällen das Entscheidende sein , um die Darstellbarkeit der sogenannten spiritistischen Phänomene zu ermöglichen. Wenigstens sprechen dafür sehr viele Umstände.
Es ist bekannt, dass jede Kraft die Richtung des
geringsten Widerstandes nimmt ; wenn nun ein intelligibles Wesen den Willen hat, in unsere dichtere und concentrirtere Welt einzugreifen , sei es, um durch Schwingungen auf un sere Vorstellungen zu wirken , sei es , um auf materielle
Körperbewegungen Einfluss zu nehmen , so wird das Netz des Einzelnen oder der Gesammtheit, wollen wir es, wenn
auch vielleicht nicht ganz richtig, den ,, Dunstkreis“ nennen , hindernd entgegentreten oder den Einfluss erleichtern ; es
wird auch manchmal der Eine Wahrnehmungen machen , wo ein Anderer noch gar nichts empfindet. Wie empfindlich diese Darstellungen sind , beweisen in einzelnen Fällen die 14 *
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten,
störenden Wirkungen des Lichtes, des Blickes und der An oder Abwesenheit von Individuen. Gegen die Strahlen der Sonne können wir uns durch einen Sonnenschirm schützen , gegen den Wind genügt eine Bretterwand, das Wasser er fordert bereits einen Damm , und dem Druck der Erde
müssen wir schon Steinmauern entgegenstellen. Analog dieser Stufenleiter muss es am leichtesten sein, in uns Vor stellungen hervorzurufen , schwieriger wird es sein , auf unsere Augen, oder noch mehr auf unser Gehör zu wirken ; noch mehr Kraftanstrengung von Seite der intelligiblen Wesen wird erfordert werden, um fühlbare Organe zu pro
jiciren oder zu verdichten und mit solchen allerlei Wirkung hervorzubringen .
Die Erfahrungen, die ich persönlich oder durch Andere an solchen anormalen Organisationen gemacht, sprechen dafür, dass die eine Organisation mehr für eine Art, die andere
für eine andere Art von Erscheinungen geeignet ist ; liegt dies in der besonderen Qualification des Mediums , oder kann dieses nur eine besondere Art von Gesellschaft herbei.
führen ? Ich weiss es nicht ! Der Umstand, dass diese Per sonen durch solche Experimente sich ermüden und erschöpfen,
wären durch Schwingungsenergien ebenso zu erklären , als durch Stoffabgabe, was eigentlich nur bei Materialisationen von fühlbaren und sichtbaren Organen beobachtet wurde. Dass die Möglichkeit , einem Organismus auf solche Weise Stoff zu entnehmen, keine erfundene Phantasterei sein muss, habe ich an mir , der ich doch kein Medium bin , und in Gegenwart eines Zeugen , die mir die Garantie gibt , keine Hallucination gehabt zu haben , selbst erfahren . In der Brochure „ Slade's Aufenthalt in Wien “ befindet sich S. 9 der Fall , wo mir durch fremde Hände aus dem Daumen, bei vollem Lampenlichte, eine sichtbare Flüssigkeit schmerz los herausgepresst wurde. So war wenigstens meine Empfin
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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dung , und fühlte ich eine Ermattung des Daumens noch nahezu zwei Stunden später.
Es ist auch begreiflich , dass einzelne Organisationen für sich allein ausreichende Fähigkeit haben , andere sich durch Contakt mit anderen Personen unterstützen müssen ;
wie nicht minder, dass die Natur dieser unbewusst mitwir
kenden d, h. die Art des Schwingungsnetzes beeinflussenden Personen von beförderndem und störendem Einflusse sein
kann und zwar nach zwei Richtungen : 1. in Bezug auf die physikalische Beschaffenheit des Netzes oder Dunst kreises, und 2. durch die Sympathie oder Antipathie, welche die Anwesenden der intelligiblen Welt einflössen. Für diese Umstände spricht vorläufig die Erfahrung, und lässt sich über den Zusammenhang nichts Bestimmtes sagen. Ich habe Gründe , je nach Art der Phänomene , Schwingungen und Ausstrahlungen anzunehmen, wofür ich die praktischen Be lege später bringen werde ; doch auch Sympathie und Anti pathie sind von entscheidendem Einflusse.
Das in die menschliche Anschauungsform eingetretene Subject kann von seinen primitiven Eigenschaften nichst ver loren haben, sondern es werden diese nur modificirt, je nach
Material und Lebensbedingungen ; so wie auch der Bildhauer oder Maler von seinen Fähigkeiten nichts verliert, wenn er ver schiedene Stoffe bearbeitet ; das Material aber, was zu Ver fügung steht, übt einen entscheidenden Einfluss. Für die phä nomenale Welt sind diese Eigenschaften mehr oder weniger verschleiert, wenugleich in ihnen die magische Gewalt und der Zauber zu suchen sein wird , den einzelne Menschen aus
üben ; nicht so ist es für die intelligible Welt, die genau weiss, mit wem sie es zu thun hat. Es liegt daher durchaus nichts
Unglaubliches in der Behauptung, dass so mancher Mensch eine weit höhere Stufe der Entwickelung und Vollkommen heit einnehmen mag, als so manches intelligible Wesen. Die Spiritisten in Amerika sind wenigstens der Meinung , dass
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
physikalischen Phänomene nur durch Wesen tieferer Entwickelungsstufen ausführbar sind; sie begründen diese die
Anschauung allerdings auf dem Wege der Offenbarung, der gar keine Sicherheit bietet, doch ist ein anderer Umstand, der für die Richtigkeit dieser Ansicht spricht. Alle mir be kannten und sichergestellten Erzählungen und Einwirkungen ohne Vermittelung von dazu besonders geeigneten Persön lichkeiten
also Medien
erfolgten immer nur kurz nach
Ableben irgend einer Persönlichkeit ; ich weiss keinen ein zigen Fall, der durch unzweifelhafte Aussagungen und Ueber einstimmung der Umstände sichergestellt wäre , und nicht im Zusammenhange mit einem Sterbenden oder kürzlich
Verstorbenen stünde , was darauf hinweist , dass Lust und Fähigkeit sich mit unsererer phänomenalen Welt zu befassen, durch den Aufenthalt in der intelligiblen Welt immer mehr schwindet . Sokrates und Plato hatten ähnliche Anschauungen . Ja selbst angenommen, dass an den Spukgeschichten , d. h .
den an bestimmten Orten hervorgerufenen Visionen einzelner hierzu geeigneter Personen etwas Wahres sei (die ebenfalls und fast immer mit Mördern und Gräuelthaten in Zusam
menhang gebracht werden) , so wäre dies ebenso eine Aus nahme, als die Handlungen Wahnsinniger auf dieser phäno menalen Welt. Man könnte vielleicht den Ausdruck gebrau
chen, dass ein grösseres specifisches Gewicht dazu nothwendig sei , was so viel heisst , als eine grössere Verdichtung oder geringere Vergeistigung.
Von welcher Bedeutung die physikalische Beschaffen heit der Individuen für den möglichen Zusammenhang mit der intelligiblen Welt ist, gibt es praktische Beispiele. Ich kenne ein junges Ehepaar , welches sich für Spiritismus lebhaft interessirt, und habe beide oft versucht, es zum unbewussten Schreiben zu bringen , was sie begreiflicherweise
sehr gern erreicht hätten ; doch vergebens ! Wenn der Ge mahl aber die Hand auf den Arm seiner Frau legt, so
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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geht es ; ein Beweis, dass, was der eine Theil nicht
vermag,
beide zusammen zuwege bringen. Solcher Fälle sind viele verzeichnet. Ich habe mit solchen Naturen versucht, Klopf
laute hervorzubringen, indem ich sie auf starke umgestürzte Trinkgläser stellte , daher sie die Töne im Tische , Boden
oder Clavier nicht hervorbringen konnten. Je nach dem Wechsel der mit dem Medium eine Kette bildenden Perso
nen , sind die Laute stark , schwach oder auch gar nicht hörbar, was offenbar auf Schwingungsverhältnisse hinweist. Bei Materialisationen von Gestalten hingegen ist jede Ver bindung mit anderen Personen , nach meinen Erfahrungen ausgeschlossen, was wieder auf Ausstrahlung hinweist, welche durch die zu grosse Nähe dritter Personen oder gar Verbindung mit solchen erschwert wird .
Ich muss bei dieser Gelegenheit den Leser an den radikalen Unterschied der vollen und geringen phänome
nalen Befangenheit erinnern ; denn es wäre ein Fehlschluss zu glauben , dass diese mediumistische Befähigung nur den bedeutenderen Wesen unter uns zukomme. Sie ist Organi sationssache.
Ja noch mehr ! Es wird nach der normalen
Lebensbestimmung in Zellen sehr oft die volle phäno menale Befangenheit vorzuziehen sein , wo es sich um För
derung auf phänomenalem Gebiete handelt , welchem in erster Linie alle Naturwissenschaften zugehören. Das ganze Gebiet dieser Erscheinungen ist ein kaum aufgeschlossenes, und geht seiner vollgiltigen Beurtheilung erst entgegen ; das Wenige, was darauf geleistet wurde, hat
hauptsächlich darum einen geringen Werth , weil das Vor urtheil der Aufgeklärten die Ausbeutung zumeist unberufenen Händen überliess, und erst in unserer Zeit sich die Situation
etwas gebessert hat. Wir werden auf dem Festlande Europas vielleicht noch zwanzig Jahre brauchen , bis wir zur Ent deckung solcher Naturen in ausgiebiger Weise gelangen , ohne welche nichts geleistet werden kann.
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
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Der menschliche Geist hat es nach zahlreichen Rich
tungen dahin gebracht, Instrumente zu coustruiren , welche unsere Sinne weit übertreffen ; namentlich ist dies in unse rem Jahrhunderte der Fall. Magnetische, elektrische und
Lichtwirkungen können mit einer Genauigkeit gemessen werden, die geradezu staunlich ist, der Spectralanalyse gar nicht zu denken. Ich glaube daher , dass die Instrumente erst erdacht werden müssen , durch welche wir Licht über
die Vorgänge dieser Art und deren Bedingungen erlangen werden. Allerdings kann und wird das erst dann der Fall
sein können , wenn der öffentlichen Meinung mehr Objecti vität oder den Professoren mehr Muth beigebracht sein wird. Da diese beiden Bedingungen sich gegenseitig unter
stützen, indem das Vorurtheil des Publikums und die Feig heit der Professoren Hand in Hand gehen , so kann ein Umschwung sehr schnell erfolgen.
Das Publikum und die
Facultäten sind den beiden alten Weibern zu vergleichen , die in der Dunkelheit sich gegenseitig imponirten , beim Morgengrauen sich aber als das erkannten , was sie sind, und dann brummend auseinander gingen. Dieses Schauspiel
wird der jüngere Theil der gegenwärtigen Generation noch erleben .
Die Eigenschaft einzelner Menschen , solche physika lische Manifestationen hervorzurufen , beweist, dass die Zöll ner'sche Hypothese über die vierte nicht ausreicht; denn es ist nicht Medium die Veranlassung und die intelligibles Wesen zum einfachen
Raumdimension allein abzusehen , wie so ein Mittel bieten soll, ein Eintritt in die dritte
Raumdimension zu vermögen, das uns dadurch allein schon sichtbar werden würde ; wohl aber liesse es sich denken, dass einzelne Menschen die Bedingungen für die nothwen
dige Verdichtung erfüllen. Die Einwirkung von Objecten etwa im Wege der Ablen kung von Schwingungen - mag ausreichend für das Her der vierten Raumdimension
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
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vorrufen von Vorstellungen , vielleicht auch von einzelven
Lichterscheinungen sein ; für die Einwirkung auf die Materie aber reicht die vierte Raumdimension nach den Beobach
tungen mit und an den Medien allein nicht aus. Wohl aber kann sie auch bei materiellen Phänomenen zur Nothwendig
keit werden , wie dies meine Leser des zweiten Bandes wissen werden.
Was die Einwirkung anf uns im Wege der beabsichtigten spiritistischen Zirkel anbelangt, so will ich zur Ergänzung
und Verdeutlichung noch zwei Bilder geben, da uns etwas anderes als Analogie in diesen Dingen nicht zu Gebote steht, wenn es sich um menschliche Ausdrucksweise übersinnlicher Dinge handelt.
Jeder meiner Leser weiss , dass wenn die Saite eines Claviers erklingt , alle verwandten Saiten mitklingen , und dass auf diesem Umstande das bekannte Orgelregister der „ Mixtur" beruht. Es kann sehr leicht eine solche Verwandt scbaft gedacht werden , welche zwischen zwei Wesen von
verschiedenen Erscheinungsformen besteht. Es ist daher
gerade nichts so Unbegreifliches, dass bestimmte Wesen mit bestimmten anderen in einem - sagen wir — Schwingungs
verbältnisse stehen, und dass dadurch die Annäherung und der Einfluss eines intelligiblen Wesens auf den einen mög lich ist , auf den andern nicht. Noch begreiflicher wird dadurch , dass, wenn mehrere Menschen beisammen sitzen, dies einen Accord geben soll ; und dass daher der Misston des einen oder des andern , der falschen Saite in einer Harfe gleichkäme - die Kette ist nicht harmonisch, und es
mögen ganze Reihen von Experimenten dadurch in Wegfall kommen . Aber auch über diese Schwierigkeit hinaus ist, xelbst bei vollkommen guter Harmonie und Eignung einer Anzahl Menschen, bei Beseitigung aller störenden Einflüsse, sei es Licht , sei es Stimmung oder was immer für physi
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
kalische Experimente noch eine andere grosse Schwierigkeit vorhanden ,
Wenn ich einen Gegenstand zerschlagen will, so wird mir das mit der Faust besser gelingen, als mit der flachen
Hand ; doch wenn es sich nur um einen Hut Zucker handelt, 80 werde ich meinen Arm durch einen Hammer verlängern und verstärken ; ist es ein Holz, so wird schon eine Hacke
nothwendig werden. Ich muss mich also den physikalischen Verhältnissen gemäss bewaffnen, wenn ich Erfolge erzielen will. Auch ist es eine unbestreitbare Sache, dass ein Holz
hacker
schlecht Clavier spielen , und eine weibliche
aristokratische Hand schlecht Holz hacken wird. Die mensch
liche Erscheinung ist als eine solche massige, concentrirte
Darstellung eines intelligiblen Wesens zu betrachten, die in viel derberen physikalischen Verhältnissen zu leben verurtheilt ist ; (man erinnere sich der ungeheuren Dichtigkeit der uns unwahrnehmbaren Luft, siehe Seite 2) ; es ist daher be greiflich, dass ein intelligibles Wesen auch dadurch grosse
Schwierigkeiten zu überwinden hat, wenn es in unserer Welt eingreifen soll, was auch durch die Entwickelungsleiter der bisherigen Leistungen bestätigt wird.
Zuerst treten Töne, dann Lichterscheinungen auf, welche nur Schwingungssache und offenbar leichter darstellbar sind. Dann kommt die Organprojection, um feste Gegen stände zu bewegen ; endlich die plastisch wirkende Organ projection, die sich bei einzelnen Fällen sogar bis zur voil endeten sichtbaren Gestalt entwickelt.
Dadurch löst sich
das Räthsel der Verschiedenheit der Experimente bei ver
schiedenen Medien oder Zirkelzusammensetzungen, sowie das der scheinbar kindischen Manifestationen. So manches, was wir in der Luft mit Leichtigkeit vollbringen , wird oder
kann zum seltenen Kunststück im Wasser werden.
Nunmehr kommt die wichtigste Betrachtung, nämlich welcher vernünftige Zweck bei diesen scheinbar
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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kindischen A eusserungen erreicht werden soll. Bevor wir zur Beantwortung dieser Frage schreiten , will ich eine Serie neuer Erfahrungen einschieben , welche uns Licht darüber schaffen werden.
Dieser Band war schon unter der Presse , als Mr. William Eglinton am 2. April in Wien eintraf; da ich
Gelegenheit hatte mehrere Sitzungen mit diesem , in spiri tistischen Kreisen zeit Jahren wohlbekannten Medium mit
zumachen so ist hier der passende Ort, Einiges darüber zu berichten .
Eglinton kam nach Wien über meine Aufforderung, die ich an ihn, nicht in meinem Interesse, sondern lediglich auf Wunsch einiger Mitgleider der Wiener Gesellschaft richtete, deren Neugierde durch den zweiten Band der Vorurtheile“ rege wurde. Ich selbst bedarf weiter keiner Experimente, um mich von der Existenz anderer Wesens reihen zu überzeugen ; was aber die Verwerthung der Er
fahrungen in Bezug auf Transscendentalphysik anbelangt, so ist das Sache eines Zöllner , da meine praktischen physi.
kalischen Kenntnisse über den philosophischen Hausbedarf nicht hinausgehen ; ich werde mich daher um so kürzer fassen können , als Eglinton auf seiner Herreise in Leipzig einige Zeit zubrachte , mit dortigen Professoren Sitzungen
hielt und Zöllner zweifelsohne sein competentes Urtheil ab geben wird. Ich werde keinen Bericht über Alles und Jedes bringen, sondern nur dasjenige herausheben, was zum Ver ständnisse unserer Beziehungen zur intelligiblen Welt bei tragen könnte. Merkwürdig ist es , dass die Fehlsitzungen diesbezüglich mehr Material lieferten, als die günstigen. Bei objectiver Beurtheilung der Erfahrungen kann es nur zwei Standpunkte geben ; entweder sind die Phänomene hervorgebracht mit und innerhalb der uns bekannten phäno menalen Gesetzmässigkeit, und die Angabe Eglinton's, dabei
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
ganz passiv zu sein, ist eine Lüge, oder sie werden hervor
gebracht auf der Grundlage einer transscendentalen Kraft und Gesetzmässigkeit, und Eglintou ist das, für was er sich ausgibt, ein Medium . Es gibt allerdings noch einen dritten Standpunkt, dass nämlich ein Theil auf die eine, der andere auf die andere Weise zu Stande gebracht werde ; das aber wäre nur eine Frage über den Charak ' r Eglinton's , und hätte mit unserer Aufgabe keinen Zusammenhang, weil da eine einzige Thatsache , die nicht innerhalb der phänome nalen Gesetzmässigkeit liegt , schon Beweismaterial bietet. Dieser dritte Standpunkt ist aber immerhin nicht nur ein möglicher, sondern im Allgemeinen in so weit berechtigter, als wir bei den wilden Stämmen und allen asiatischen Völ.
kern die Beobachtung machen können , dass das Medium,
der Taschenspieler, Priester und Arzt gewöhnlich eine und dieselbe Personen sind , und die gewöhnlichen Gaukeleien mit unläugbaren, aussergewöhnlichen Erscheinungen Hand in
Hand gehen. Ich habe mir von Augenzeugen genaue Schil derungen darüber geben lassen , und ganz plumpe , nur für ein asiatisches Publikum mögliche Kunststücke neben un zweifelhaften Phänomenen dieser Art (das Fliegen der Gegen stände, das Sicherheben, das Ferusehen u. s . w.) gefunden.
Wenn eine schöne Sängerin oder Schauspielerin den Effect ihrer Erscheinung durch den falschen Zopf, durch einen falschen Zahn oder Schminke zu erhöhen sucht , so
ist das auch eine Illoyalität , wenn man will, aber sie ist sehr üblich. Diese Illoyalität begehen nicht nur Schauspie
lerinnen, welche es im Interesse der Darstellung thun dürfen , sondern auch heiratsfähige Mädchen, die dadurch die Männer betrügen , welche nicht immer einen Schutzgeist in der Ge stalt eines Käthchens von Heilbronn an der Seite haben, wie
der Graf von Strabl. Nichtsdestdoweniger wäre der Schluss doch falsch , dass eine solche Dame deshalb nicht eigene Haare haben und sehr hübsch sein könnte . Ebenso wäre es
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
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ganz unrichtig, wenn man aus dem Umstande, dass Eglinton den einen oder den anderen Effect , wo ihm die Gesell. schaft darnach angethan scheint, auf nicht mediumistische Weise erzielen würde , den Schluss ziehen wollte , er sei
kein Medium. Er könnte ganz gut ein Medium , und doch kein Cato sein ; ich sage das nicht, weil ich diese Anschau ung habe , sondern nur , weil dies bei jedem Medium , oder doch so manchem vorkommen könnte , und ein objecti . ver Beobachter und gewissenhafter Berichterstatter auf seine subjectiven Anschauungen verzichten muss. Wie viele ehrliche Medien wurden nicht verbrannt, und wie vele wirkliche Medien nicht als Betrüger entlarvt,
weil Eitelkeit, Verlust der Kraft, Broderwerb, sie verleitete, durch Kunst nachzuhelfen !
Es ist ein ebenso falscher
Schluss der Spiritisten, dass alle Leisiungen eines Mediums voll und echt sein müssen, weil eine Thatsache unangreif bar darsteht, als es ein falscher Schluss der Skeptiker quand
même ist , dass alles Schwindel sein müsse , weil sie irgend ein Medium auf irgend einer Illoyalität ertappt. Wo sind denn die Menschen , die sich nicht über die Gebühr zur
Geltung bringen wollen ? Sind sie etwa in den Reihen der Wissenschaftler oder Parlamentsmitglieder ? Steht die Mora lität der Medien , oder aber stehen Thatsachen in Frage ? Massen sich die Politiker nicht sehr oft eiven Einfluss an, den sie nicht haben ? Stehlen die Autoren nicht fremde Gedanken ? Färben sich die Männer nicht Haar und Bart, um jünger zu scheinen ? Man wende nicht ein , dass sich die Medien nur selbst
schaden , wenn sie ertappt und entlarvt werden , denn sie vermehren erstens doch in vielen Fällen den Effect, was ihrem Nimbus und Broderwerb zu Gute kommt, und zwei.
tens gilt dies ja von allen anderen, sich mit fremden Federn schmückenden Sterblichen auch . Ein Mann, der z . B. über
50 Jahre alt ist, hat auf die Erwerbung von Liebe keinen
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
Anspruch; und wenn es auch Mädchen oder kinderlose oder eitle Frauen geben mag , die für einen wirklich bedeutenden oder dafür geltenden Mann eine Neigung em pfinden, sei es aus Eitelkeit, sei es instinctiv (im Interesse der nächsten Generation), so würde das mit den ungefärbten Haaren auch gehen ; im Gegentheile, ein altes Gesicht mit nicht grauen Haaren ist viel älter und widerlicher.
Wir
ziehen bei der Aufzucht von Pferden edle, ältere, erprobte Vaterpferde den jüngeren, unbekannten oder gemeinen vor, darum kann ein bedeutender Mann immerhin ausnahms
weise auf ein Mädchenherz wirken , ohne solche Hilfs
mittel ; diese sind also entweder überflüssig oder verwerflich und wenn damit ein Bündniss auf Lebenszeit erschwindelt, wird, verbrecherisch - es geschieht aber doch !
Nun kenne ich so manche , mitunter sehr bedeutende Männer, welche zum Schaden ihrer Gesundheit und ihrer Würde sich doch die Haare färben, um zu scheinen , ohne den Zweck eigentlich zu erreichen , weil dies sogleich zu erkennen ist — und sie thun es doch ! Können diese Männer
aber in anderer Beziehung darum nicht bedeutend sein ?
Wäre das nicht ein ganz falscher Schluss, sie wegen dieser fast allgemeinen Schwäche zu unterschätzen ? Warum sollen nun die Medien , welche ja auch an Grössenwahn leiden
können , und überdies den Kampf ums Dasein kämpfen, nicht auch ein wenig schwindeln ? Zu künstlichen Mitteln greifen, wo die natürlichen nicht zureichen , ist eine ganz allgemeine Erscheinung. Ob sich unter den Medien ein Cato
befindet oder nicht , das gilt mir gleich , ich habe es nur mit Thatsachen zu thun , welche vom Vertrauen unab
hängig und objectiv giltig sind. Ja, die objective Beurtheilung! Wo ist sie zu finden ? Der gläubige , aus dem Spiritismus eine Religion
machende Spiritist sieht in jedem zufälligen Ereignisse eine ausserordentliche Kundgebung und in einem Medium ein
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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überirdisches Wesen, so eine Art Gottheit, weil er es so sehen will. Der Skeptiker à tout prix sieht in ihm einen Betrüger , und geht in seinem Feuereifer so weit, dass er das Medium Dinge machen sieht, die gar nicht gesehen werden können, weil sie unmöglich sind. Die Beurtheilung
solcher zweifelhafter Fälle ist selbst für den objectiven Beurtheiler nicht so leicht.
Das Knotenlösen und Knoten
schürzen ist z. B. eine der häufigsten und leichtesten Mani festationen binlänglich verdichteter Wesen. Woran soll ich
erkennen , wenn ein verlässlich gebundenes Medium frei und wieder gebunden wird , ob es das selbst oder wer anderer
gemacht ? Wir werden später uns die Ueberzeugung holen, dass die intelligible Welt nur mit Auswahl die Beweise ihres Daseins gibt und geben kann ; es wird daher immer nur ein Theil der Beobachtungen jene Bedingungen er .
füllen, die als zwingend und verlässlich angenommen werden können. Ich werde mich überhaupt weit mehr wundern, wenn ein Medium ganz tadellos, ohne jede Effecthascherei, ohne jede List, mit voller Objectivität und Hingebung durch das ganze Leben experimentirt, als wenn ich höre, man habe es auf dieser oder jener Uebertreibung oder Taschen
spielerei ertappt, weil Erwerb und Eitelkeit die meisten Menschen selbst dort verleiten, wo es nicht nothwendig ist. Es ist aber auch der Fall denkbar, dass ein Medium bona fide handelt, die Zuseber ihn bona fide für einen Schwindler
halten, und ihm doch Unrecht thun – worüber später. Für den Skeptiker sind im Durchschnitte die Sitzungen mit Miss Fowler und Mr. Slade entschieden überzeugen der , weil in dem ersten Falle das Medium auf jede belie bige Weise gebunden werden konnte, und im zweiten Falle volles Tages- oder Lampenlicht herrscht (was die wissen schaftliche Ausbeute im Sinne der Zöllner'schen Raum
theorie betrifft, so sind die Sitzungen mit Slade die dank
barsten ); doch habe ich einige Sitzungen mit Eglinton gehabt
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
wo wir bei Licht und gleichzeitig im gebundenen Znstande - also doppelte Garantien habend - experimentirten . worüber weiter unten. Was hingegen den vernünftigen Zu
sammenhang und die Zwecke dieser Phänomene anbelangt, so habe ich durch Eglinton entschieden mehr gelernt , na mentlich durch die Misserfolge. Wir werden jedenfalls beide Standpunkte einnehmen,
den der Erklärung durch die phänomenale Gesetzmässigkeit und den der Erklärung durch ein transscendentale, also mystische Theorie; zuerst den einen , dann den andern , und wird es sich zeigen, inwieweit wir mit jedem ausreichen , welche Consequenzen und welche Voraussetzungen wir in beiden Fällen machen müssen ; wir wollen also zuerst an
nehmen, Eglinton sei ein ganz ungewöhnlicher Schauspieler, Akrobat, seinen Zeitgenossen überlegener Physiker und Taschenspieler. Der technische Apparat ist folgender. Ein Zimmer wird in der Regel zur vollen Dunkelheit gebracht, die An wesenden setzen sich um einen nicht zu grossen Tisch, auf welchem sich Guitarren, Zithern, Glocken , Quecksilberröhren, Papier und Bleistift u. 8. w. befinden . Sämmtliche Theil. nehmer legen die Hände auf den Tisch, um eine Kette zu
bilden , wo dann , je nach Eignung der Theilnehmer, die Manifestationen in kürzerer oder längerer Zeit beginnen.
Die vorgefallenen Phänomene lassen sich am besten in sechs Classen eintheilen ; die gewöhnlichste Erscheinung ist das Herumfliegen von Guitarren , mitunter sehr schweren Spieluhren, mit Quecksilber gefüllten luftleeren Glascylindern , welche bekanntlich bei Bewegung und Friction des Queck
silbers leuchten, das Zutragen entfernterer Gegenstände auf den Tisch, wie Bücher, Bilder, selbst von Sesseln und Fauteuils. Was nun die Erklärungsweise anbelangt, so will ich mich auf jene geistreichen Einwürfe nicht einlassen, die ich zu
hören bekam , wie z. B. dass Eglinton mittelst einer
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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Kautschukschnur das Herumfliegen der Instrumente bewerk stellige , weil das voraussetzen würde , dass er oder ein Anderer sich auf dem Plafond befänden , denn die noch
dazu klingenden Instrumente fliegen herum, wie die Nacht schwalben , zwischen die Köpfe durch , die sie oft, wie ab sichtlich berühren u. s . w. und sind bei günstigen Ver hältnissen frei fliegend gesehen worden. Der vernünftigste Einwurf ist noch der , dass er sich die eine oder beide Hände befreie, was von Einigen auf folgende Weise er klärt wird .
Eglinton bekommt gewöhnlich eine Art Krampf und benimmt sich wie eine Frau in Wehen , wobei er sich zu meist (nicht immer) erhebt , derart , dass die neben ihm Sitzenden aufstehen müssen , um ihn nicht auszulassen ; er sinkt dann zurück , und bei dieser Gelegenheit – glauben Einige - dass er die Hände seiner beiden Nachbarn mit einer Hand fasse, und dadurch die andere befreie, oder
gleich direct die beiden Nachbarhände vereinige und ganz frei werde. Was nun die Vereinigung der Nachbarhände auf nur einer Hand betrifft, so ist es nicht denkbar , dass ein auf diesen Umstand aufmerksam Gemachter nicht be merken sollte , dass er statt einer linken eine rechte Hand unter oder über sich habe. Den meisten Menschen kommen
die guten Gedanken immer erst zu spät , welchen Geistes zustand der Franzose sehr geistreich l'esprit d'escalier nennt ; doch kann das nur für die erste Sitzung eine Geltung haben ; ich zumal habe ihn einmal mit einem Herrn gehalten,
der eine ausnehmend grosse und fleischige Hand hatte und habe ihn sehr oft mit Frauen gehalten, welche wieder sehr zarte Hände hatten , auch waren Fälle , wo er sich nicht erhob , für die Auswechslung also keine Gelegenheit sich bot. Mit einer Hand wäre aber alles gar nicht ausführbar, was geschehen, es müssen nothwendig nicht nur seine beiden
Hände , sondern der ganze Körper frei sein , um dann mit Uellenbach , Vorurtheile.
III.
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
einer fabelhaften Geschwindigkeit um den Tisch und die Anwesenden herum laufen zu können , ohne mitunter ganz nahe stehende Möbel umzustossen, ohne überhaupt bemerkt zu werden und ohne die verschiedenen, mitunter sehr grossen
und schweren Gegenstände (Spieluhren bis zu einigen Pfunden ) den Anwesenden ins Gesicht zu schlagen .
Nehmen wir nun an , es gelänge ihm wirklich durch zahllose Sitzungen seines Lebens (in Wien und Leipzig je über zwanzig) , auf welche Weise soll er unbemerkt die beiden Hände wieder auseinanderfügen und seine substituiren ? Aber angenommen, es gelänge ihm das selbst bei Mitgliedern , die diese Eventualität scharf ins Auge fassen , so kommen wir damit noch immer nicht aus.
Es waren Fälle , wo er
sprach, während die Gegenstände an ganz entfernten Orten sich befanden, es waren Fälle , wo gleichzeitig Glocken, Guitarren, Spieluhren herumgetragen wurden und ausserdem Berührungen stattfanden , auf die wir später zu sprechen kommen ; aber noch mehr : ich habe in einigen Sitzungen, und zwar in Gesellschaft mit Anderen, die freie Bewegung
der Gegenstände gesehen.
Zur besseren Orientirung des
Lesers in dem weiteren Verlauf der Berichterstattung gebe
ich eine von zwei Seiten photographisch aufgenommene Ab bildung des Schauplatzes.
Eine am 4. April abgehaltene Dunkel-Sitzung fand im mittleren Zimmer zwischen dem Ofen und dem Harmonium
statt, mit nur fünf Personen. Diese Sitzung unterschied sich von den früheren dadurch , dass erstens einer der Fenster läden sich nicht vollkommen schliessen liess , wodurch eine
Lichtspalte, veranlasst durch die Strassenbeleuchtung, entstand, die allerdings zu schwach war, um das Zimmer zu erleuchten , aber den der Spalte Gegenübersitzenden gestattete, wenigstens einen Theil und zwar den über dem Tische gelegenen Theil des Zimmers mässig beleuchtet zu haben, welche Beleuchtung
mir und meinem Nachbar möglich machte, die schwebende
Schliisse aus der Identität an sich beider Welten.
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
Scbltisse aus der Identität an sich beider Welten.
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und herumfliegende Guitarre nicht nur zu hören , sondern
selbst zu sehen. Auch eine Spieluhr wurde aufgezogen und mit wechselnder Schnelligkeit
was wir nur mit dem
Schlüssel und zwei Händen bewerkstelligen könnten – im Zimmer herumgetragen .
Es geht daraus hervor , dass Eglinton nicht nur ganz frei sein, sondern die Lichtspalte einigemale hätte passiren müssen, was denn doch noch deutlicher als die schwebende Guitarre bemerkt worden wäre. Auch kommen wir später,
wie gesagt, auf Sitzungen bei ganz genügender Beleuchtung Die zweite Art der Erscheinungen bildeten die nach
der Sitzung vorgefundenen Störungen im Zimmer selbst, wie umgeworfene und übereinandergelegte Sophas und Sessel u . S. W. Wer auf der Voraussetzung steht, dass Eglinton frei ist, wird darin allerdings nichts Unbegreifliches finden,
doch giebt es Menschen, die in ihrer vorgefassten Meinung so weit gehen , dass sie behaupten , gesehen zu haben , wie Eglinton, obschon an beiden Händen festgehalten, mit dem Fu -se einen sieben Schuh entfernten Fauteuil herbeigezogen und über unsere Köpfe weg auf den Tisch gestellt , wenn gleich es nicht nur ganz finster war , sondern ich über
dies die Fühlung mit seinem Knie hatte - denn dass ich seinen Fuss oder sein Knie immer zu erreichen suchte,
wenn ich neben ihm sass , war in den ersten Sitzungen selbstverständlich.
Um dem Leser ein anschauliches Bild
der Ereignisse geben zu können , liefere ich ihm die Zeichnung.
230
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
Vor einer der Sitzungen war die Situation folgende.
4 5 76 8 9 10
10 32
+ Eglinton sass ( und stand später) bei dem Stuhle a, und wurde durch mich und Markgraf P. , einem sehr kräf tigen Manne , festgehalten ; nichtsdestoweniger fanden wir
76 9 3 4 5 102
1
+
. m 2
nach der Sitzung die folgende Sitzung vor , wobei zu be merken ist, dass auf dem Tische auch ein Stuhl stand . Einer derselben wurde dem M. P. mit Kraft weggezogen .
十 十 十
Ich muss bemerken , dass ich die Sitzungen in der
Regel nicht auf demselben Flecke hielt, und den Tisch ab
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
231
sichtlich in die Nähe des Claviers stellte und dieses öffnete, weil ich eben statt der gewöhnlichen Saiteninstrumente Töne
des Claviers haben wollte. Da ich nun weiss , dass die Wirkungen über eine bei den verschiedenen Medien ver schieden bestimmte und begrenzte Linie nicht hinausgehen, so rückte ich den Tisch in seine Nähe. Eglinton kam uns nicht von der Seite, und doch bedarf es zweier Hände, um das zu vollbringen ; den Deckel an der unteren Seite zu heben, ist ganz unausführbar , weil das obere Gewicht nach ange
stellten Versuchen eher zur Trennung der Bänder führt. Das Clavier ist ein colossales Instrument , wie es nur in Concertsälen und nicht in den Salons vorkommt.
Die dritte Kategorie der Erscheinungen bilden die Berührungen. Wer diese Berührungen kennt , weil er sie oft und mit den verschiedenen Medien erfabren, weiss, dass
sie bei einer gewissen Intensität auf der blossen Haut oder
über gespannten Kleidungsstücken , wie in der Regel am Knie , eine ganz eigenthümliche , durch Hände und Füsse
nicht hervorzubringende Empfindung verursachen ; auch hat es Fälle gegeben , wo die Empfindungen gleichzeitig an Gegenübersitzenden stattfanden und er sprechend sie signa
lisirte , weil er behauptete, eine Gestalt u. s. w. zu sehen. Die vierte Kategorie der Erscheinungen bildet das angebliche Fliegen Eglintons, das als scine Specialität in den spiritistischen Blättern bezeichnet wird. Da es nun Thatsache ist, dass in den vorigen Jahrhunderten die Menschen wegen der Fähigkeit des Sicherhebens vom Boden verbrannt wurden, indem das als eine Art von Hexenprobe galt ; da es ferner That sache ist, dass einzelne Indianerstämme nur den für einen
guten Doktor halten , der fliegen , d. h. sich frei erheben kann, dass Hume sich bei Licht hob, so hätte es mich gerade nicht so überrascht, dies bestätigt zu sehen . Ich habe mich doch selbst und Andere auf einem Stuhle sitzend mit diesem
emporgehoben gefühlt und gesehen . Nichtsdestoweniger ist
232
Scblüsse aus der Identität an sich beider Welten .
in meiner Gegenwart nichts geschehen, was als ein eigent liches Fliegen bezeichnet werden könnte, wie dies z. B. von dem bekannten Mystiker des Kaisers Franz, dem Gemahl der Kaiserin Maria-Theresia , auch berichtet wird . Dieser
Mystiker hiess Schindler (denn Franz von Lothringen hatte deren mehrere) und soll die Eigenschaft gehabt haben, sich ebenfalls vom Boden und zwar auf zwei bis drei Klafter zu erheben . In einer Brochure von Gustav Brabée ,,Sub Rosa"
(einer Mittheilung aus dem maurerischen Vorleben unserer
Grosseltern) findet sich folgende Beschreibung, welche für mich wegen der merkwürdigen Uebereinstimmung mit allen derlei Berichten in Bezug auf Krämpfe und Zuckungen als Vor läufer derartiger Phänomene von besonderem Interesse ist. (Seite 141.) „ Es war zu diesem Endzweck auf Geheiss des Monarchen in
einem der hohen und geräumigen Säle der kaiserlichen Burg in Wien ein Glaslustre entfernt und an den hierdurch frei gewordenen Haken eine Börse mit hundert neuen Kremnitzer Dukaten aufge
bängt worden. Schindler, dem diese Summe als Honorar zufallen sollte, wenn er im Stande wäre, sie ohne Leiter oder sonstige Be helfe herabzuholen, machte sich sofort ans Werk und schlug etwa eine Minute lang wie ein wahnsinniger oder von epileptischen Krämpfen befallener Mensch mit Händen und Füssen um sich, bis er endlich , geifenden Schaum auf den Lippen , in Schweiss gebadet und an allen Gliedern wie im Schüttelfroste zitternd, sich als von unsichtbaren Flügeln getragen , langsam immer höher und höher in die Luft erhob, bis sein Kopf fast an die Decke des Saales stiess, uud seine Hand nach dem die Börse tragenden Haken greifen konnte.
Diese Erscheinung des Sichhebens, Leichterfühlens u. s. w. scheint mehr auf die Funktion des Meta-Organismus hinzudeuten ; ich habe das wenigstens bei Individuen aller dings in viel geringerem Grade beobachtet, die nicht zu den ausgesprochenen Medien zählen. Ob unsere Träume des
Fliegens nicht damit näher verwandt sind, muss ich dahin gestellt sein lassen.
Schlässe aus der Identität an sich beider Welten .
233
In meiner Gegenwart hat sich nichts Derartiges er eignet, was ganz zwingend wäre. Es befinden sich allerdings
an meinem 13 Fuss hohen Plafond zwei Kreuze, welche er auf mein Verlangen hinaufschrieb , da er mich fragte, was er hinauf schreiben solle , falls er es zum Fliegen brächte: doch die Situation war eine solche, dass damit ein zwingender Beweis nicht herzustellen ist. Die Sitzung fand in dem Bibliothekszimmer statt. Ich kann auf den Ofen steigen, indem ich von einem Sessel in die Nische trete , und mit
beiden Händen das Gesimse ergreifend mich hinaufschwinge; die Kreuze sind für mich, der ich grösser als Eglinton bin, zwar nicht zu erreichen , aber eine Verlängerung des Blei
stiftes ist doch denkbar ; allerdings hat das Herunter springen wegen der Erschütterung seine Schwierigkeiten, wie nicht minder das Heruntersteigen , denn es muss be merkt werden, dass wir bei dem Versuche mit vom Ofen
Staube stark geschwärzten Fingern und Kleidern herab kamen , die erst mit Wasser gereinigt werden mussten, während an ihm nichts bemerkbar war.
Thatsache ist nur,
dass er beim Sicherheben , oder vielmehr Hinaufsteigen, in
solange er mit meiner Hand verbunden war, mir specifisch sehr leicht vorkam , was aber darum ohne alle zwingende Beweiskraft ist, da er möglicher Weise auch auf dem Tische stehen und mich ziehen könnte u. s. w.
Beim Herunter
sinken ist die Sache nicht so einfach, denn das erfolgt mit grösserer oder geringerer Schnelligkeit , und kann das bei
Unterbrechung der Kette in diesem Augenblicke verhängniss voll werden , doch ist nie etwas Derartiges geschehen, so weit meine Erfahrung reicht. Es ist überhaupt eine der
räthselhaftesten Erscheinungen, dass z. B. die immer auf dem Tische liegende Quecksilberröhre, von welchen eine in Wien gefertigte längere mit einer sehr zarten Glasspitze endigte, trotz aller Revolutionen mit den Instrumenten , Sesseln, Fauteuils , den Fiissen Eglintons u. s. w . nie abbrach.
234
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
Was endlich die Lichterscheinungen anbelangt , so
waren allerdings solche Funken und Lichtpunkte in uner reichbarer Entfernung von ihm zu beobachten, auch zeigte sich ein blaues Kreuz , doch stand er im letzteren Falle
ausserhalb der Kette und wäre ein solches phosphorescirendes Licht immerhin herzustellen, doch bliebe die Nichtbe leuchtung des Zimmers dabei ein Räthsel. Die Sulphide des Calciums, Bariums und Strontiums leuchten sehr stark,
und hat Professor Balmain auf Grundlage dieser phosphores
cirenden Eigenschaften eine Sicherheitslampe für den Gruben bau construirt, die allerdings schwächer als die gewöhnliche, aber dennoch genügend leuchtet. Das ist es aber, was bei dieser Lichterscheinung durchaus nicht der Fall war; sie selbst war viel greller und hatte ein viel tieferes Blau, als
ein im luftleeren Raum leuchtendes Quecksilber, was allein manchmal genügt, die Contouren einer Hand zu beleuchten, und nichtsdestoweniger beleuchtete das blaue Kreuz gar nichts ; das Zimmer blieb dunkel wie zuvor . Durch Sonnen
strahlen (und auch anderes Licht) erzeugtes Leuchten ein zelner Stoffe war schon der Zeit halber nicht möglich ; die Sitzung war etwa um 8 Uhr Abends , und ich war mit
Eglinton seit 4 Uhr immer beisammen. Die werthvollen Folgerungen aus den ganz oder theil weise misslungenen Sitzungen bestimmten mich, eine Sitzung für mich allein nur unter Zuziehung eines jungen nahen
Verwandten zu halten , der mir gleichsam als Controle meiner Sinne nothwendig war , und durch die genaue Kenntniss meiner Erlebnisse auf diesem Gebiete und durch
seine Anwesenheit in einigen Sitzungen mit Miss Fowler und Eglinton als ein gutes Glied der Kette schien, wenn gleich er sehr misstrauisch gegen die Medien im Allge meinen ist. Die Sitzung fand im Bibliothekszimmer statt, an
dem Tische , der auf der Abbildung wiedergegeben ist ;
Eglinton sass mit dem Rücken gegen den Bücherschrank,
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
235
ich ihm gegenüber und mir zur Rechten mein jugendlicher Freund.
Wir fühlten die ganze Handfläche auf dem Rücken unserer Hände , und merkwürdiger Weise begann vielleicht zwei Minuten nach Erlöschen des Lichtes bereits die Spiel
ubr zu spielen. Auf dem Tische rührten sich zwar die Gegenstände, doch flog nichts herum und er sprach mit leiser Stimme, dass er das Vorgefühl babe , dass wir Lichterscheinungen
und Materialisationen haben werden und überhaupt das Beste geleistet werde. Er verlangte einen bequemen Stubl, erhielt von uns einen Fauteuil . Es ist klar, das er, da er frei war, wenn wir auch sein Aechzen hörten, alles zu thun
im Stande war , und nur die Art der Erscheinungen ent scheiden konnten, ob sie von einem seiner freien Bewegung
mächtigen Menschen physikalisch darstellbar seien oder nicht ; man muss sich auf den Standpunkt stellen , dass wir es mit einem auf der Höhe der Physik und Geschicklichkeit stehenden Künstler ersten Ranges zu thun haben , wenn gleich seine Jugend , Kenntnisse und Persönlichkeit dafür nicht sprechen. Ich sah zuerst ein bläuliches Licht, durch welches ein
menschlicher Kopf, aber undeutlich und verschwommen, beleuchtet wurde , gleich darauf wiederholt sich die Er
scheinung , nur war dies Mal das Licht so stark, dass mit grosser Deutlichkeit der Kopf eines Orientalen mit weissem Turban und Gewand sichtbar wurde, mit einem schütteren dünnen Vollbart etwa auf anderthalb Schuhe von mir und
Diese Erscheinung schwand, und nach einiger Zeit zeigte sich derselbe Kopf noch deut dem
anderen
Beobachter.
licher und zuerst auf einen Schuh Nähe, sich mir immer
nähernd bis auf 4 oder 5 Zoll. Die ganze Gestalt stand gleichsam im Tische , als ob der untere Theil der Gestalt durch die Tischfläche abgeschnitten wäre.
Diese Erschei
236
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
nung sah ich 20 Secunden , und ich kann sowohl , was die
Aehnlichkeit als die ganze Natur der Erscheinung anbelangt, null und nimmer annehmen , dass es der Kopf Eglintons hätte sein können. Neugierig blickte ich auf das von unten kommende Licht , welches das Gesicht und die reichen Falten des weissen Gewandes schön beleuchtete, ohne auch nur einen Lichtstrahl in das Zimmer zu werfen und er blickte das blaue Kreuz. Das Kreuz wurde dann gleichsam
unter das Gewand gesteckt, die Gestalt verschwand , oder richtiger erlosch , weil sie langsain erblasste, und das blaue Kreuz erschien dann wieder schwebend kurze Zeit , womit die Sitzung zu Ende war.
Mein Theilnehmer war Anfangs frappirt, sah dasselbe, nur will er das blaue Kreuz schon bei der zweiten Er.
scheinung erkannt haben und will Bewegungen der Augen gesehen haben , welche ihn starr ansahen , so wie mich das zweite Mal.
Wollen wir vorerst alle Umstände erwägen , die für die Darstellung einer solchen Erscheinung durch gewöhnlich physikalische Hilfsmittel sprechen , als dem gewöhnlichen Sprachgebrauche gemäss als verdächtige Umstände bezeichnet werden könnten .
Das Medium war frei und konnte ungehindert sehr Vieles thun, was uns unsichtbar war , das Medium verlangte das Sprechen und die, wenn auch sehr kleine Spieluhr spielte öfter , auch war manchmal durch das Geräusch seiner
Kleider eine Bewegung seinerseits hörbar. Die Entscheidung liegt also lediglich in der Darstellbarkeit oder Nichtdarstell
barkeit einer derartigen Beleuchtung und der Herstellung eines solchen Kopfes. Bevor wir zu dieser schwierigen Auf gabe schreiten, wollen wir auch die den Betrug erschweren den Umstände erwägen.
Die Sitzung wurde in meinem Bibliothekzimmer ab
gehalten; Vorbereitungen für optische Apparate waren
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
237
unmöglich ; es war an seiner Toilette weder vor noch nach der Sitzung etwas zu bemerken. Apparate die über den
Umfang einer grossen Cigarrentasche hinausgehen , waren unzulässig ; die Zeit, um diese Mummerei durchzuführen, sehr kurz.
Er hätte etwa fünf Minuten vor der ersten Erschei
nung Zeit gehabt , und höchstens zwei Minuten nach der letzten Erscheinung , um wieder Alles zu beseitigen. Aber alles das ist nicht entscheidend . Die Herstellung des Kopfes,
des Kleides ohne alle Vorbereitung, das spurlose Verschwin den alles dessen, so unglaublich es auch scheint, namentlich
für einen 23 jährigen Menschen , der ausser den Sitzungen wenig Zeit für physikalische Praxis und Studien verwendet, ist dennoch nicht als absolut undenkbar zu bezeichnen. Der
Brennpunkt der Entscheidung für dieses Phänomen liegt in der Beleuchtung auf den Kopf selbst. Ich habe daher die Frage mit einem praktischen Physiker durchgesprochen , welcher einer Niederlage für physikalische Instrumente vorsteht und in diesen optischen Vorrichtungen geradezu Specialist ist. Die Herstellung irgend eines Kopfes oder einer Gestalt ist ohne einen anderen Ort , wo sich das Original befindet, und einen grossen Spiegel, der sie an die entsprechende Stelle reflectirt, ganz unmöglich. Davon konnte nun gar nicht die Rede sein, wie jeder Physiker bestätigen wird ; in einem verschlossenen Zimmer, wo es kein Podium, keine Coulissen, überhaupt gar keine Oeffnung gibt, wo jede Vorbereitung ausgeschlossen ist, können Luftbilder nicht auf diesem Wege hervorgebracht werden. Die Beleuchtung eines Bildes mittelst einer Geissler'schen Röhre u. s. w. erfordert Apparate, die
ebenfalls nicht in einer Rocktasche getragen werden können, ganz abgesehen , dass die Erscheinung auch ganz anderer Art war.*) * ) Für Physiker füge ich Folgendes hinzu : Mein Theilnehmer behauptet, dass mein Kopf sichtbar wurde, als die Gestalt in meiner nächsten Nähe stand , woraus man fulgern
238
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
Die Voraussetzung, dass Eglinton eine solche Larve in Bereitschaft habe, und im Wege ausgezeichneter Apparate
zu beleuchten vermöge , stimmt wieder nicht , denn eine solche kann ein lebendes Auge und solche Bewegungen nicht haben ; es bliebe absolut nichts Anderes, als die An
nahme, die ganze Erscheinung sei er selbst. Ich will nun ganz davon absehen , wienach Eglinton sich derart zu beleuchten vermöchte, dass das Licht genau nur die weder runden noch in scharfen geraden Linien
gefassten Contouren traf, und alles Andere im Zimmer im Dunkeln blieb ; wieso er ein zwar hell erleuchtendes, aber nur die Gestalt beleuchtendes Licht zu Stande bringen soll ich will alle diese Schwierigkeiten bei Seite lassen und -
dem Leser nur folgende Fragen stellen :
Kann der Leser glauben , dass ich ein zweimal mit Deutlichkeit erscheinendes, durch mehrere Secunden vor mir stehendes, sich bis auf 4 Zoll näherndes Gesicht nicht erkennen soll ?
Kann der Leser glauben , dass ein Bart , dessen einzelne Haare ich deutlich bis an die Wurzel verfolgte, in
der Finsterniss so natürlich angeklebt und in zwei Minuten ohne irgend welche Spuren mit der ganzen anderen Mummerei beseitigt werden könnte?
Glaubt der Leser , dass Eglinton ungestraft durch Jahre diese optischen Wunder gerade in Gegenwart von Personen , wie Zöllner , ausführen und in Gegenwart un
wissender Neugieriger aber nicht ausführen würde ? könnte , dass zwar nicht das blaue Kreuz , wohl aber das reflectirte Licht der Gestalt mich beleuchtete. Doch ist dies nicht gewiss, denn die Gestalt war mir so nahe , dass ein Theil der Umbüllung tür den dritten nothwendig durch den Schatten meines Kopfes verschwinden musste, wodurch die Contouren meines Gesichtes wahrnebmbar wurden
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
239
Zwingend sind diese Argumente allerdings noch immer nicht, denn Eglinton war frei, und nichts berechtigt mich, eine Unmöglichkeit dort zu behaupten , wo nur eine Unbe greiflichkeit für mich vorliegt ; ich würde dadurch in den Fehler der Naturwissenschaft verfallen. Doch halte ich den
gesebenen Kopf für eine fremdartige Erscheinung aus fol genden Gründen :
Dass ich fremdartige Hände mit drei Medien unter ganz zwingenden Bedingungen gesehen und gefühlt habe, ist eben so gewiss , als dass es Kometen und Meteorsteine
gibt; dass Zöllner unter ganz zwingenden Bedingungen Fussabdrücke erhalten, ist ebenfalls sichergestellt. Ich frage nun , gibt es Projectionen von Händen und Füssen, warum soll es nicht Projectionen von Köpfen geben ? Sind solche von einem Wallace und Crookes nicht unter ganz zwingen
den Bedingungen erhalten worden ? Sind sie nicht noth wendig, wenn sie in Zellen dargestellt werden sollen ? Auf
welcher Seite habe ich also mehr Schwierigkeiten, da Eglin ton doch zu den Medien zählt, und Hände unter zwingenden Bedingungen projicirt wurden ?*) Es gibt ein Skepticismus , der an Blödsinn den Köhlerglauben eines Gebirgsbauers noch übertreffen kann. Ich kann dem Leser nicht sagen , welchen Eindruck dieser schöne Kopf, der mein Erachtens nicht aus Fleisch und Blut war, auf mich machte. (Ob er nun wirklich vor mir stand , oder in anderen Regionen sich befindend nur als Bild reflectirt wurde , darüber später.) Dieser Kopf
brachte mir die Bestätigung meiner im „ Individualismus “ durchgeführten Behauptung, dass der Mensch wirklich schon existiren muss , wenn er sich in Zellen darstellen soll, und dass zwischen diesem und meinem Kopfe nur der Unter * ) Dass die von Eckartshausen ausgeführten Mystificationen in seiner „Magie“ (Seite 5, 83 und 115, I. Band) darauf nicht anwendbar sind , ist selbstverständlich.
240
Schlässe aus der Identität an sich beider Welten .
schied bestehe, dass der erstere aus anderem Materiale
besteht , und spontan dargestellt wird; dieser Kopf recht fertigt die Lehre der alten Kabbala, welche der lebenden und empfindenden Welt eine geformte als Unter lage stellte , oder in naturwissenschaftlichem Jargon aus gedrückt , dass die morphologische Entwickelung und An passung jenseits der vorübergehenden menschlichen Er scheinungsforn liegt, weil dieser nur die physiologische Ent
wickelung, die Zellenbeschaffenheit zukommt; der Kopf war also , wenn echt, der praktische Beleg meiner Anschauung. Wir kommen nunniehr zu der sechsten Art der
Phänomene , nämlich zu solchen , die bei Beleuchtung be obachtet werden konnten .
Wir hatten uns, eine Dame und drei Herren, zu einer
Dunkelsitzung bei einem Freunde versammelt; Eglinton äusserte, nachdem wir schon einige Zeit beisammen waren,
dass er eine Aenderung in der Reihenfolge wünsche. Es wurde daher Licht gemacht, wir standen auf , um uns anders zu setzen, und da klirrten plötzlich die verschiedenen Glasprismen eines alten Lusters so heftig, als wenn man einige
Tücher durchgezogen hätte. Wir blickten alle hinauf und fanden alle Prismen in voller Bewegung. Dass in dem ge schlossenen Zimmer überhaupt kein Luftzug möglich war, und dass gar kein Luftzug eine solche vehemente Erschütterung hätte hervorbringen können, ist einleuchtend. Eglinton stand aber nicht nur vom Luster einige Schritte entfernt, sondern
es befand sich zwischen ihm und dem Luster die mächtige Gestalt eines meiner Freunde. Ich erwähne diesen Fall nur weil es für ihn keine andere Erklärung vom Standpunkte
der phänomenalen Gesetzmässigkeit gibt, als dass Eglinton so heftig und doch unhörbar zu blasen vermöge , als ein Wirbelwind, und falls man das nicht zugibt, so haben wir ein an sich unbedeutendes Factum , was aber für unsere
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
241
physikalischen Kenntnisse ein unerklärtes Räthsel bleibt. Eine zufällige Erschütterung des Hauses oder des Plafonds muss zufolge der Ruhe des Lusters und der eigenthümlichen Bewegung der Glasbestandtheile ausgeschlossen werden. Ich hatte zufällig Gelegenheit, eine noch weit merkwürdigere Erscheinung zu beobachten. Ein junger begabter, für eine entscheidende Ueber zeugung sich lebhaft interessirender Freund wünschte eine
Sitzung mit mir und meinem ebenfalls jugendlichen Ver wandten allein zu haben ; Eglinton schlug selbst eine Licht sitzung vor, wie er sie , wenn ich nicht irre, mit Wallace hatte. Es wurden zu diesem Zwecke zwei Tücher als Portieren
über die offene Thüre gehängt , (zwischen dem mittleren und dem Bibliothekszimmer) in welcher Eglinton auf einem
Sessel Platz nahm , derart dass seine Knie und Füsse in dem einen Zimmer waren , während der Rest seines Körpers hinter dem Vorhange, also in der Bibliothek oder eigentlich unter dem Thürstocke sich befand. Das Zimmer, wo Eglinton war, wurde finster gehalten , und das andere in matte Be leuchtung gesetzt, doch genügend , um jeden Gegenstand auszunehmen. Auf Eglintons ausdrücklichen Wunsch wurden ihm
die beiden Hände auf den Rücken zusammengenäht ,
derart, dass mit einer aussergewöhnlichen Geschicklichkeit man wohl das Ausziehen , nie aber das Wiederanziehen
annehmen könnte. Eglinton ermächtigte übrigens meinen Freund , nach der ersten Kundgebung ohne weiters in das Zimmer zu treten, um sich von seinem gebundenen Zustand zu überzeugen. Vor dem Vorhange, etwa auf einem halben Meter , später noch näher , wurde der Tisch mit Guitarre, Spieluhr u. s. w. gestellt , und auf seine Knie wurde ein
starker Band (ein halber Jahrgang der Zeitschrift „ Unsere Zeit ) gelegt, der Vorhang zurückgeschoben, der Art, dass das Buch ganz sichtbar war. Obschon diese Sitzung fast eine Stunde dauerte, so geschah nichts, als dass der Deckel Hellen bach, Vorurtheile, III.
16
242
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
und die ersten Blätter des Buches sich einige Male hoben, ohne von irgend Jemand berührt zu werden, und dass das
Buch nach einigen Bewegungen hinter Eglintons Stuhl ge worfen wurde. Auch waren einige Bewegungen des Vorhanges an dem Thürstocke bemerkbar , als ob eine Hand den Vorhang öffnen wollte. Die Sitzung wurde aufgehoben , mein Freund empfahl sich bald und blieben wir zu Dreien noch einige Zeit Thee trinkend sitzen. Plötzlich zuckte Eglinton zusammen und verlangte Papier und Bleistift, auf welches er nach einigen Strichen von rechts nach links englisch zu schreiben
anfing. Wir mussten die Schrift durch den Spiegel lesen, und da stand, „ dass man uns einige Manifestationen noch heute gewähren werde , nur müsse das Medium etwas ausruhen". Wir waren überrascht und erfreut, und benützten die Zeit zu folgendem Experimente. Eglinton stellte sich auf vier starke Trinkgläser , auf das geschlossene Clavier,
und forderte uns auf, Klopftöne in bestimmter Zahl zu ver langen, was auch zu wiederholten Malen geschah. Der Ton
entsprach unserer Vorstellung, als ob es von unten an den Clavierdeckel schlagen würde. Eglinton ging vom Clavier herab und meinte, wir sollen beginnen , was auch geschah, nur dass die Klopftöne auf dem Boden, unter unseren Füssen
und unter dem dicken Symraer Teppich sich fort wieder holten. Eglinton wurden die Hände wieder hinter dem
Rücken zusammengenäht, und Alles wieder so geordnet wie früher.
Der Tisch stand diesmal einen Fuss von seinen
Knieen und wir befanden uus fünf bis sechs Fuss , der eine rechts, der andere links vom Tische. Ich sass auf dem Fauteuil beim Fenster, mein Verwandter stand beim Clavier, so dass von unten und oben Alles beobachtet werden konnte.
Wir hatten unsere Plätze kaum eingenommen, als das Buch auf den Tisch geworfen wurde, oder vielmehr sprang, dort
sich ebenso öffnete, wie früher auf dem Knie, die Guitarre
Schlässe aus der Identität an sich beider Welten.
243
von unsichtbarer Hand vom Tische genommen wurde, durch den Vorhang hindurch in das andere Zimmer drang, mit
klingenden Saiten im Zimmer (wenigstens nach den Tönen zu urtheilen) herumflog; eine Violine, die ich absichtlich
in das ganz dunkle Zimmer hinter Eglinton legte , flog durch den Vorhang vor meine Füsse; die Guitarre kehrte, nachdem sie im dunklen Zimmer überall hörbar, theils klin
gend, theils herumschlagend ihr Unwesen getrieben, wieder auf den Tisch zurück , und eine grosse lange Hand holte die Spieluhr vom Tisch und führte sie ins andere Zimmer, wo sie spielte. Alles das geschah in höchstens fünf Minuten, innerhalb welcher Zeit ich einmal in das Zimmer trat, um
mich von der Festigkeit der Naht zu überzeugen. Aber abgesehen davon , dass es ganz unmöglich ist , einen Rock mit rückwärts zusammengenähten Aermeln noch dazu zwei mal in so kurzer Zeit, anzuziehen, so sind das Verschwinden
der Guitarre obne Hände , die Bewegungen des auf dem Tische liegenden sichtbaren Buches, endlich die lange Form
der Hand und des Armes , hinreichende Beweise für jeden normal construirten Verstand , dass es da mit der phäno menalen Gesetzmässigkeit und der Taschenspielerei zu Ende gehe .
Die zweite Sitzung dieser Art fand statt in Gegenwart einer Dame und zweier Herren , ausser mir und Eglinton.
Es wiederholten sich ungefähr dieselben Dinge , wenn auch ruhiger; neu war nur, dass nicht nur die Hände Eglintons auf dem Rücken , sondern der Rock selbst vorne zu sammengenäht wurde, wodurch schon das Anziehen
zur Unmöglichkeit wird ; ferner, dass Eglinton dem einen Theilnehmer gestattete , dass er die Hand auf seinen Kopf legen und den sich hebenden Buchdeckel in der nächsten
Nähe beobachten könne. Auch muss bemerkt werden, dass die Knie Eglinton's sichtbar, überdies das einemal an den
Sessel geschnallt , das andere Mal durch eine Schnur von 16 "
244
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
meinem skeptischen Freunde gehalten wurden. In dieser Sitzung waren die Plätze auf der Chaise -longue, dem Lehn stuhl, dem Divan und dem Clavier vertheilt. Die dritte und letzte Sitzung mit Eglinton war eben falls bei mir und an einem Vormittage in Anwesenheit noch
eines Herrn und einer Dame, worin als Variante bezeichnet werden kann , dass erstens eine kleinere graue Hand oben durch den Vorhang sichtbar wurde, jedoch ohne etwas anzu . greifen , und dass der kleine Tisch neben der Thüre, auf welchem sich die Albums befinden, plötzlich zur Thüre ge zogen wurde. Ich vermuthete, dass die beiden Albums so
wie das Buch ins Zimmer hineingelegt werden dürften und beobachtete, auf dem Fauteuile sitzend, scharf die Albums. Und in der That hob sich das eine Album langsam und denn es war schwebte scheinbar hinter den Vorhang durchaus nicht einmal ein Schatten einer Hand oder eines
Organs zu beobachten
und ich fand es mit sammt dem
Buche auf dem Schreibtische in der Bibliothek. Die beiden
Thürflügel waren hinter Eglinton zugelelint, zu welchen er oline aufzustehen nicht gelangen konnte .
Ich glaube , dass jeder Leser , der mich und die sehr elrenwerthe Gesellscha ! t, die daran theilnahm , nicht für
Narren hält , die gleichzeitig die ganz gleichen Hallucina tionen haben , an den wirklichen Mediumität Eglinton's nicht zweifeln wird ; denn man kann annehmen , dass
Jemand Fesseln zu lösen vermag , wenn er dazu Zeit hat; man mag selbst die bereits schwierigere Annahme machen , dass er die Bande wieder herzustellen vermöge; wie aber Jemand eine Naht öffnen und selbe am Rücken wieder her stellen soll - durch das Zusammennähen vorne ist das
Ausziehen ausgeschlossen – wie er in dem Zimmer Bewe
gungen vollziehen soll , wenn man seine Füsse sieht ; wie sich ein Buch wiederholt öffnen soll, unter unseren Augen,
wenn Jemand in dessen unmittelbaren Nähe steht und ihm den
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
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Kopf hält – das im Wege der phänomenalen Gesetzmässigkeit zu lösen überlasse ich Anderen. Es mag Eglinton von wem
immer irgendwo und irgend wann auf einer Manipulation ertappt werden
so sind dennoch Dinge geschehen , die
im Wege der phänomenalen Gesetzmässigkeit nicht zu Stande gebracht werden können ; das ist sichergestellt und genügt. Ich empfand eine besondere Satisfaction darin , dass gerade jene Dame und mein jugendlicher Verwandte Gele
genheit hatten , eine Lichtsitzung mitzumachen, weil beide nach früheren Dunkelsitzungen die Ansicht aussprachen, dass sie die Hand Eglinton's am Tische gesehen hätten , was Personen von minder strammer Erziehung gewiss Anlass zu einem Entlarvungsskandal gegeben hätte. Ich beruhigte Beide insoweit , als das Sehen einer Hand auf dem Tische
noch nicht die Gewissheit gebe, dass dies die Hand Eglinton's sei. Es ist gewiss eine Hand, die das vollbringt, nur nicht immer und vielleicht auch nicht für Jeden sichtbar ; nicht
nur dass ein besseres phänomenales Auge dazu befähigen kann, in der Dunkelheit besser zu sehen, es kann auch eine gerin gere phänomenale Befangenheit die Ursache sein, etwas zu sehen , was Andere nicht sehen . Ich konnte das mit Bestimmtheit sagen , weil ich bei Slade in voller Be
leuchtung Hände sah und fühlte, welche die Hände Slade's darum nicht sein konnten , weil sie zu entfernt und mir
Diese beiden Skeptiker mussten nach den Lichtsitzungen zugeben , dass es ein ganz falscher Schluss
sichtbar waren .
gewesen wäre, die sichtbaren Hände unbedingt und noth wendig Eglinton zuzuschreiben . Doch wiederhole ich noch
einmal , dass es sich da nicht um meine subjective An schauung über Eglinton's Charakter und Sittenreinheit han
delt , sondern lediglich um die Thatsache, dass von den vielen Phänomenen einige zwingender Natur sind , der Art, dass sie auch unter Voraussetzung der geistigen und wissen schaftlichen Ueberlegenheit Eglinton's über seine Zeitgenossen
246
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
und unter Voraussetzung der betrügerischen Absicht dessel ben nichts zu Stande kommen könnten. Nun zu den Störungen .
Dieselbe Gesellschaft, welche in einer früheren Sitzung versammelt war, beschloss die Wiederholung derselben. Da aber noch ein Ehepaar an der Sitzung theilnehmen wollte, so hatten der Herr des Hauses und ich unsere Plätze cedirt; dadurch war die Zahl von acht Personen nicht überschritten . Doch der Mensch denkt und Gott lenkt! Eine Persönlichkeit
hatte sich auch angesagt, die nicht ausgeschlossen werden konnte. Zwei Schwestern brachten eine dritte, zwei Brüder
einen eben ankommenden dritten, ein guter Freund schlich sogar durch das Schlafzimmer hinein
statt acht waren
zwölf und obschon zwei Herren zurücktraten , so blieben noch immer zu viel. Hier habe ich nun zu bemerken, dass ich , als eine der unerwarteten Dame eintrat , gleich den
beiden anwesenden Herrn die Mittheilung machte, sie werde Alles verderben. Genug, die Sitzung begann, und es wollte
durchaus nicht gehen ; da erklärte Eglinton, ohne von meiner Ansicht und Aeusserung etwas zu wissen , dass die be treffende Dame austreten müsse, was geschah, worauf dann
die Sitzung mit Erfolg ablief. Es entsteht nun die Frage, wie konnte ich , der ich kein Medium bin und mein ganzes Leben frei von jeder
Ahnung war , in Uebereinstimmung mit Eglinton's unbe wusstem Gefühl und der Thatsächlichkeit der Erfahrung immer das Richtige auch in den weiteren Fällen treffen ? Das ist es nun, was ich dem Leser später klar zu machen babe , und was beweist , dass die Anschauung, die ich von der Sache und den Bedingungen des Eingriffes der intelli giblen Welt habe, keine unbegründete sei.
Was nun den Verlauf der Sitzung selbst anbelangt, so kann ich darüber nicht berichten , da ich nicht gegen
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
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wärtig war, aber sie verlief ähnlich , wie die früheren Dunkelsitzungen . Der erste gänzliche Misserfolg geschah, als ich mit Eglinton zu einem befreundeten Herrn kam , der als Theil nehmer an der Sitzung einen Astronomen und einen als Naturfreund bekannten schwungvollen Schriftsteller bezeich nete, was mir sehr recht war, denn die Astronomen und
Naturfreunde sind ein fruchtbarer Boden , weil sie in der Regel nicht engherzig sind. Doch statt diesen fand ich einen Seemann, mit dem ich einmal ein längeres Gespräch über diese Dinge führte, wobei ich mich überzeugte, dass
er über alle Dinge, die nicht in sein specielles Fach hinein schlagen, sehr geringe Kenntnisse habe und namentlich in
Bezug auf philosophische Literatur von einer ungewöhnlichen Unwissenheit ist ; der andere, ein Künstler, empfing mich und Eglinton mit der Miene der vornehmen Verachtung und geistigen Ueberlegenheit, deren Berechtigung allerdings erst irgendwie zu Tage treten müsste. Ich hatte bereits
eine schlechte Vorahnung ; ich glaubte zwar nicht, dass die Sitzung ganz ohne Erfolg sein werde, doch erwartete ich keinen besonderen .
Das Resultat entschied für den ersten
Fall, der dritte Misserfolg ist mir nicht recht klar. Wir waren mit Eglinton 7 Personen , zwei neue Theilnehmer mit etwas vorgefasster Meinung, zwei allerdings von religiösen Vorurtheilen nicht ganz emancipirte Theilnehmer, die aber eine gute Sitzung schon mitgemacht. Die vierte Fehlsitzung geschah in einem der Salons
einer sehr liebenswürdigen Hausfrau, die begreiflicherweise den anwesenden Gästen , die sich aus blosser Neugierde meldeten , nicht entgegentreten konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Es waren drei Damen und vier Herren,
jung , schön, reich, glänzende Namen – was sollen solche in der phänomenalen Welt ganz befangene, deren Freuden
sich ganz hingebende Menschen mit der intelligiblen Welt
248
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
für einen Zusammenhang haben, was für einen Nutzen sollen
sie aus den etwaigen Erfahrungen ziehen ?! Es ist das gewiss, kein Vorwurf , zu welchem ich in keiner Weise be rechtigt bin ; im Gegentheile, ich bin ehrlich genug, einzu gestehen, dass ich vielleicht selbst keine Zeit und keinen Anlass gefunden hätte, über die Phänomenalität der Welt
nachzudenken , wenn ich der Gemahl einer der zwei anwe senden schönen Damen gewesen wäre, von denen eine viel
leicht die einzige in der ganzen Gruppe war , in der sich ein mässiges Verlangen nach Licht regte * ) ! Wir kehrten aus diesem Salon nach Hause zurück,
und da Eglinton bei mir wohnte, so wurde in mir das In teresse rege , die Gegenprobe zu machen, um zu sehen, ob physikalische Verbältnisse oder persönliche Disposition die Ursache des Misserfolges waren ; ich proponirte ihm den Versuch , wir setzten uns an einen Tisch, ich fasste seine beiden Hände voll. Nachdem die Gasflammen schon früher
abgedreht wurden, so hatten wir nur das Licht auszulöschen und unmittelbar darauf spielte die knapp vor mir liegende Spieluhr, die Gegenstände, die am Tische lagen, wurden im Zimmer zerstreut, und brachen wir nach wenigen Sekunden die Sitzung ab , da es sich nur darum handelte, wo der Grund des Misserfolges zu suchen ist. *) Es kann in einer garstigen Hülle manchmal eine schöne Seele wobpen , aber umgekebrt ist das nicht annehmbar. In einer wirklichen Schönheit muss etwas stecken, was sich eben zur Darstel lung gebracht hat. Doch muss man hier die edle Form vom gesunden Zelleumaterial unterscheiden ; letzteres wird geerbt und kann cultivirt
werden u. s. w. Es kann eine junge dralle Person mit schönen Farben
sehr anmuthig und begehrenswerth sein und doch weit entfernt einen edlen Kern verraten, und umgekehrt leuchtet dieser oft aus ganz verkommenen und kranken Erscheinungen heraus. Andererseits ist ein garstiges Gesicht, wenn es einen intelligiblen Ausdruck hat, das un trügliche Zeichen einer wirklichen Intelligenz , was meines Erinnerns schon Schopenhauer ausgesprochen.
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
249
Es ist nicht nothwendig, weiter in der Beschreibung der beobachteten Phänomene zu gehen ; das Material ist vollkommen genügend, jedem von Vorurtheilen nicht Befan genen die Ueberzeugung zu gewähren , dass es mit der phänomenalen Gesetzmässigkeit nicht angeht, Licht in diese Erscheinungen bringen. Wer immer mit Ausdauer diese Erscheinungen verfolgt hat , ist auf das gleiche Resultat gekommen. Wenn in einigen Sitzungen gewisse Vorgänge auch im Wege phänomenaler Gesetzmässigkeit ihre mitunter sehr geschraubte Erklärung finden können , so wird jede der Erscheinungen in einer oder anderen Sitzung unter Umständen beobachtet , welche diese oft sinnlosen Er klärungen zu nichte machen.
Die sich oft verbreitenden Nachrichten von Entlarvungen der Medien üben einen sehr wohlthätigen Einfluss aus ; sie ernüchtern die Medien in ihren etwaigen ganz über flüssigen Unterstützungen ; sie ernüchtern aber auch die
Enthusiasten. Doch fühle ich mich verpflichtet, meine Leser
darauf aufmerksam zu machen, dass die Entlarvung sehr verschiedene Ursachen haben kann , ja haben muss . Ich
will von den gewöhnlichen vollen Betrügern ebenso absehen, als von den gefärbten Berichten der entrüsteten Aufklärung,
und mich lediglich an solche Medien halten, in deren Gegen wart Thatsachen von unangreifbarer Bedeutung vorgefallen sind. Bei solchen kann zwar durch Eitelkeit oder Eigennutz
möglicherweise auch etwas entdeckt werden, wie wir oben schon bemerkten.
Doch ist immerhin auch der Fall denk
bar, dass ein Medium ganz unschuldig durch den Augen schein verurtheilt werden könnte.
Wenn Schiller die Jungfrau von Orléans aus Liebe fehlen lässt, und diese die Führung und den Schutz der
intelligiblen Welt verliert, weil sie es verschuldet, so hat er dies zu verantworten ; hier liegt die Sache viel einfacher.
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
250
Wenn eine Gesellschaft beisammen ist , welche mit vorge
fasster Meinung und hinterlistiger Absicht an die Arbeit geht, so ist das Schweigen der intelligiblen Welt allein durchaus nicht die einzige nothwendige Revanche. Es giebt ein Miss trauen, was selbst in unserem Leben verletzt und zu allen
möglichen Resultaten führen kann. Doch haben wir noch
viel näher liegende Veranlassungen und Möglichkeiten vor uns .
Wir wissen manchmal selbst nicht , ob sich etwas
wirklich ereignet habe , oder ob wir geträumt; der Meta Organismus des Mediums spielt zuverlässig eine Rolle bei diesen Phänomenen, und so wie bei einem Nachtwandler
der Zellenorganismus den Meta-Oragnismus gleichsam be gleitet, veil es der letztere ist , der fungirt, während der erstere davon nichts weiss, so kann ein Medium ganz un
gerechter Weise in seiner Ehre gekränkt werden, genau so wie Hexen ganz unschuldiger Weise verbrannt wurden. Dass die intelligiblen Wesen sehr oft Knoten schürzten und lösten, ist jedem, der historische Kenntnisse besitzt, bekannt; wer kann nun die Gebrüder Davenport mit Sicherheit verurtheilen , wenn sie gebunden werden und ungebunden gefunden werden? Miss Florence Cook hat durch Jabre unzweifelhafte Beweise ihrer wirklich anormalen Organisation gegeben ; im Laufe dieser Zeit wurde einmal ein solches Phantom
von einigen illoyalen Theilnehmern gewaltthätig ergriffen, es zerrann, aber die entfernt liegende Miss Cook erlitt dadurch ein mehrmonatliches Sichthum . Neuester Zeit sollen aber
mals zwei superkluge Experimentatoren sich diesen Eingriff erlaubt haben , statt ruhig zu beobachten ; diesmal wurde die früher gebundene Miss Cook wirklich im Hemd ergriffen (so berichten wenigstens die Journale), welche darüber sehr
bestürzt war und ihre Unschuld betheuerte. ( Die Knoten des Verbandes waren nicht gelöst , sondern ganz unbegreif
Schlässe aus der Identität an sich beider Welten.
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lich abgestreift.) Wer kann nun mit Gewissheit die Behaup tung aufstellen , dass bei Miss Cook oder vielmehr jetzigen Mrs. Corner ein absichtlicher Betrug vorliege ? Ist es für ihre Gesundheit nicht besser , zwei illoyal vorgehende
Skeptiker in ihrer Ueberzeugung zu belassen , als abermals Schaden zu leiden ? Würden selbst im Falle eines Betruges
die früheren so zahlreichen , vor so competenten Männern
vorgefallenen Thatsachen rückgängig ? Wir sind in diesen Dingen noch viel zu unerfahren, um mit unserer Verdammung 80 schnell zur Hand zu sein.
Analog den Fehlsitzungen könnten die Entlarvungen viel brauchbares Material liefern , um Licht in die Natur dieser Erscheinungen zu bringen , wenn man sich nur auf die Berichtstatter verlassen könnte , und vorgefasste Mei nung , Enthusiasmus, Täuschung u. 8. w . nicht alles ent
stellen und färben würde. So heisst es in Bezug auf den Vorfall in München mit Eglinton in einem Briefe, dass man ihm phosphorescirende Blumen angehängt, das Zimmer da durch beleuchtet und Eglinton auf diese Weise beobachtet habe. Wer soll glauben , dass Eglinton die grössere Heilig keit allein nicht bemerkt, der doch weit bessere Augen als die andern zu diesem Zwecke haben müsste ? Auf diesen
meinen Einwurf sagte man mir , er wäre vom Weine ange trunken gewesen .
Nach den Zeitungen will man die Spieluhr geschwärzt haben , und soll nach der Sitzung an seiner Hand schwarze Flecken bemerkt worden sein.
Kann das nicht vor und
nach der Sitzung , ja selbst während der Sitzung auch ge schehen ?
Die Gegenstände werden herumgestossen , und
berühren sehr oft die Hände der Theilnehmer. Können das
Theilnehmer, welche Apostel der „ Aufklärung “ sind, nicht absichtlich thun ? Dass mir diese kein Vertrauen einflössen , ist begreiflich ; denn nach einem anderen Briefe wurde Eglinton nicht etwa nach der Sitzung oder in flagranti
252
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
ertappt, sondern es wurde ihm vor der Sitzung, zu welcher er ganz harmlos gekommen , erklärt , dass man ihn für einen Betrüger halte , und ihm die Alternative stelle, sich statt der bedungenen 1200 Mark mit 500 Mark zu be
gnügen , oder einer Anzeige bei der Polizei gewärtig zu sein. Eglinton , mehr Gentleman als diese Herren , schlug alles aus und ging , was ihm natürlich gleich als erschwe render Umstand zugeschrieben wurde.
Man vergisst , dass
Hansen , um Scandal zu meiden , einem Pressions -Versuche ebenfalls schon nachgegeben , als ihn seine Freunde davon abhielten , was nachträglich sogar zur Verurtheilung der beiden Strolche führte.
Was soll aber Eglinton allein ,
ohne Stütze in München anfangen ? Zweifelt denn Jemand, dass die heutigen Richter Anstand nehmen werden , ein Medium zu verurtheilen , da doch die Männer der Wissen schaft, die ja Experte sind und alles ex offo wissen es
für Schwindel a priori erklären ? Das Benehmen der Münchner ist darum nicht correct, weil ich Jemand , der durch volle sieben Jahre vor sehr
competenten Männern die Prüfung bestanden , der noch nie als Betrüger entlarvt oder bezeichnet wurde, von Allem die
Zeit zu seiner Rechtfertigung geben muss. Dass Eglinton die Hände austausche , war der erste und allgemeine Ein wurf, den sich auch die Wiener Gesellschaft machte, denn er liegt sehr nahe, und doch hat es sich gezeigt, dass auch
in Fällen , wo von einem Austausche der Hände die Rede nicht sein konnte , und dieser auch nichts nützen würde, die Ungewöhnlichkeit der Vorgänge nur noch zugenommen. Ja noch mehr! Mein eigener Verwandte und die junge Dame,
wie schon oben erwähnt, behaupteten , dass sie die Hand am Tische herumarbeiten gesehen. Ich machte ihnen be greiflich, dass allerdings ein Mensch bessere Augen als der andere haben könne , dass er gerade im Finstern besser
sehen könne, ja selbst, dass er bei geringerer phänomenaler
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
253
Befangenheit, Hände eines Metaorganismus zu sehen glauben könne, dass aber dadurch ebenso leichthin nicht zu entscheiden sei, ob das die Hände Eglinton's seien , und wenn selbst, ob sie wissentlich und absichtlich von ihm verwendet wür
den. Gerade diesen Beiden war es vergönnt, Lichtsitzungen
mitzumachen, in welchen Eglinton nicht nur durch Nahten gefesselt war , sondern die Gegenstände sich ohne Hände bewegten , ja selbst fremdartige Hände sichtbar wurden.
Diese Beiden hätten nun , statt ruhig zu prüfen, ebenfalls Skandal machen und Geld ersparen können ; sie hätten aber durch diese Voreiligkeit einen Menschen in seiner Ehre ge kränkt, ohne ihrer Sache sicher zu sein. Komisch und bezeichnend ist es , dass Zeitungen ,
welche die mehrjährige Thätigkeit solcher Medien, die Zeug nisse eines Zöllner, Weber, Wallace, Crookes die täglichen
Berichte einer zahlreichen spiritistischen Tagesliteratur u . s. w . gänzlich ignoriren , eine Notiz von unbekannten Bericht erstattern , wenn verdammend lautend , als unangreifbaren Beweis und Wahrheitssatz in der möglichst hämischen Form reproduciren. Man muss gestehen , die „Aufgeklärten“ kämpfen mit loyalen Waffen ! Ja die Vorurtheile der Mensch heit !
Wer für die Wahrheit und Thatsächlichkeit einsteht,
ist lächerlich , wer sie leugnet , ist ein „ Aufgeklärter“ , ein grosser Mann . Der illoyale Vorgang, die überstürzende Hast sind aber die sichersten Anzeichen der Schwäche .
Es mag für die Medien allerdings nicht gleichgiltig sein, wenn man sie für Betrüger hält, und thut es mir ge wiss leid , wenn wer immer schuldlos verletzt wird , aber
vom Standpunkte der Forschung ist es mir ganz gleichgiltig, ob eine Msr. Corner, ein Eglinton oder Davenport Betrüger sind oder nicht , weil mich ihr Charakter nichts angeht, sondern nur die Thatsachen.
Dass solche lehrreiche That
sachen in Gegenwart Eglinton's stattfanden , dass er also eine anormale Organisation , ein Medium ist - dafür stehe
254
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten ,
ich ein ; auf die Frage , . ob er eines Betruges fähig sei ? habe ich folgende Antwort.
Es waren in Wien einige Fehlsitzungen, welche Eglin ton einen Schaden von einigen hundert Gulden brachten ; bei diesen Sitzungen waren mit einer einzigen Ausnahme,
zumeist junge , dem high life Wiens angehörige Menschen
versammelt, welche bei aller Liebenswürdigkeit und allge meiner, vielseitiger, aristokratischer Bildung, von der Expe rimentalphysik nahezu gar keine Kenntniss haben. Als ich Eglinton , der durch die sich wiederholenden Misserfolge schon eingeschüchtert war , tröstete und nach einer Fehl sitzung spontan den Versuch à nous deux proponirte , so nahm er dies gleich an. Ich fasste seine beiden Hände und unmittelbar darauf wurden von unsichtbaren Händen
Spieluhr und Guitarre in Bewegung gesetzt und hörbar geschrieben. Auf dem Papiere stand : „ Joey is here “ . Alles das war das Werk weniger Sekunden , und eine Sitzung, für mich von schlagender Beweiskraft, dass die Schuld des
Misserfolges ausserhalb seiner Person zu suchen war. Ich
frage nun, ist das die Handlungsweise eines Taschenspielers ? Dort, wo es sich um Geld und Renommée handelt, wo die Gefahr der Durchschauung null ist, dort geht es nicht, wo er aber mit mir unter vier Augen ist, wo ich seine beiden
Hände halte, da beginnen unmittelbar die Phänomene ! Solche Stürme sind sehr gut; sie trennen die Spreu von dem Weizen, sie waren die Autonomie unseres Lebens und Denkens , und kann sie nur Derjenige bestehen , der frei von Furcht und Vorurtheil die Dinge objectiv unter
sucht und prüft, und welcher durch zweifelhafte Fälle weder nach rechts noch nach links zu biegen ist, wie ein schwaches Rohr. Die Unbescholtenbeit oder Verwerflichkeit eines Men
schen ist ein viel zu schwacher Untergrund, um daraufhin etwas anzunehmen oder zu verwerfen ; es handelt sich einzig allein um die Thatsache , welche unabhängig von der Aufs .
Schlosse aus der Identität an sich beider Welten .
255
richtigkeit des Mediums beweiskräftig sein muss , wenn sie Werth haben soll. Solche Thatsachen gibt es aber. Uebergehen wir nunmehr zu dem andern Standpunkt und versuchen wir die Erscheinungen unter der Voraus
setzung der Existenz einer intelligiblen Welt , und unter Voraussetzung von deren Interven
tion zu erklären. Der Leser mag dann nach Belieben entscheiden , welche der Erklärungen die richtige ist. Was heisst denn eigentlich eine Sitzung zur Beobach tung solcher Phänomene halten ?
Da denn doch Taschenspieler allerdings mit Hilfe von Vorbereitungen viel Glänzenderes leisten , so können es
unmöglich die Phänomene sein, welche uns dazu veranlassen ; es muss das einen besonderen anderen Grund haben. Dieser Grund kann kein anderer sein , als dass durch eine solche
Sitzung Beweismaterial gesammelt, und dadurch erwiesen werden soll, es gebe noch andere intelligente, von uns unab hängige Kräfte oder Wesenheiten . Ob nun eine solche Manifestation kindlich ist oder nicht, wird ganz zur Neben sache ; sie hört von dem Augenblicke auf, kindisch zu sein, und wird sehr ernst, wenn sie geeignet ist, die nothwendige Existenz anderer intelligenter Kräfte zu erweisen . Da es Wirkungen ohne Ursachen nicht geben kann , da ferner intelligente Aeusserungen nur von intelligenten Wesen her rühren können, so würde ein Widerspruch mit der phäno menalen Gesetzmässigkeit, der seine Lösung nur durch die Annahme solcher Wesen finden würde, eben dasjenige sein, was den Beweis herstellt.
Es steht nicht in Frage, ob das gleichzeitige Herum schwirren
von
verschiedenen
Instrumenten ,
Spieluhren,
Glocken und Glascylindern in Begleitung von Berührungen und vom Untereinanderwerfen der Möbelstücke u. 8. w.
ästhetisch oder vernünftig, einer intelligenten Wesensreihe
256
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
würdig oder unwürdig sei , sondern es handelt sich nur darum, ob ein Mensch, dessen Hände von anderen überdies
gehalten werden , mit seinen physischen Organen das zu leisten vermag. Kann er das in einem jeder möglichen Vor bereitung entbehrenden Zimmer nicht, so muss die Ursache nothwendig anderwärts gesucht werden, und wird diese ver anlassende Ursache von Tausenden und Tausenden, mitunter auf der ganzen Höhe des Wissens unseres Zeitalters stehen
den Männern in eine intelligible Welt verlegt. Wenn sich einige Menschen an einen Tisch zu dem
Zwecke setzen , derartige Phänomene hervorzurufen, so muss man doch annehmen , dass einige zum mindesten das Medium – an die Existenz oder doch mögliche Existenz der intelligiblen Welt glauben ; wollen wir das voraussetzen. Dieser Theil ist es nun , der ein Telegramm an die intelligible Welt sendet , mit dem Wunsche, dass sie sich
manifestiren möge. Je kräftiger der Wunsch , desto deut licher wird das Telegramm anlangen ; dass die Leitungs
drähte immer vorhanden sind , das wissen meine Leser, denn das ist durch die Anziehung der Massen und die Spectral - Analyse bewiesen. Zur Absendung dieses Tele gramms ist die Uebereinstimmung sämmtlicher Theilnehmer
der Gesellschaft begreiflicher Weise nicht nothwendig, daher
selbst in Fällen der Fehlsitzungen die bekannte kühle Luft an der Hand und an dem Gesichte bemerkbar wird, welche nicht die Hallucination des Einzelnen ist, sondern oft von
zwei aneinanderliegenden Händen zugleich empfunden wird und als verlässliches Zeichen der Annäherung genommen werden kann .
Ich habe Grund anzunehmen , dass sowohl Schwin guigen als Ausstrahlung eine Rolle spielen. Wenn in einer Kette ein Individuum sitzt, das durch seine vorgefasste Meinung
und üblen Willen die Schwingungen hindert , so gelangt
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
257
das Medium nicht in den geeigneten Zustand, daher denn auch der Wechsel der Plätze manchmal nothwendig wird.*) Das Medium scheint diese Kette zur Unterstützung zu ver langen , wo hingegen es bei Materialisation von Gestalten zumeist ausserhalb der Kette sein muss, weil es sich um Ausstrahlungen und materielle Verdichtung handelt, was durch den näheren Verband mit Anderen offenbar erschwert werden muss. Wenn nun die Gesellschaft die Kette bildet und das Licht auslöscht
was übrigens nicht bei allen Medien
und Sitzungen stricte nothwendig ist, aber doch die Sache erleichtert – so dient dies und vor allem die organische Beschaffenheit des Mediums dazu, den intelligiblen Wesen
die physikalischen Vorbedingungen zu liefern, mögen diese nun in was immer für einem Verdichtungs- oder Schwin gungsmaterial bestehen. Ist diese Voraussetzung erfüllt, so stehen wir vor zwei neuen nothwendigen Bedingungen. Hat es sich früher darum gehandelt, dass Menschen den Willen haben, Manifes
tationen zu erreichen , und dass die physikalischen Bedin gungen günstig liegen , so muss zur Erreichung obigen Zweckes noch der Wille zur für uns wahrnehmbaren Mani
festation auch bei der intelligiblen Welt vorhanden sein. Es ist ganz gut denkbar , dass einzelne Personen ein physikalisches Hinderniss oder doch erschwerendes
Hemmniss bilden ; nicht nur dass die verschiedenen Medien einen verschiedenen Umkreis der Wirkungsfähigkeit haben (Fowler 3 Schuh, daher sie auch im Interesse der Ueber *) Ein einigen Sitzungen beiwobnender englischer Officier, dem diese Dinge aus London geläufig sind, frug immer bei Beginn der
Sitzung, ob wir gut gegliedert seien und erhielt durch Klopftöne immer die Antwort. Ein Verfahren , was weit vernünftiger ist, als aut die Empfindungen des Mediums zu warten, was oft erst nach lingerer
Zeit zu dieser Ueberzeugung gelangt. Hellenbach , Vorurtheile. III.
17
258
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
zeugung gebunden werden musste , Slade etwa 6 Schuh, Eglinton noch mehr ), so habe ich mit Eglinton die Be obachtung gemacht, dass die fliegenden Instrumente und anderen Gegenstände nach meinem Urtheile bei günstigen Kreisen weiter gehen, auch dass in der Art der Bewegungen
ein sanfteres und heftigeres Spiel der Saiten, ein schnelleres und langsameres Fliegen , ein schwächeres und stärkeres Klopfen zu unterscheiden ist.
Das würde nun allerdings
mehr auf Schwingungen hinweisen ; auf mich machte die Sache oft den Eindruck eines Springbrunnens, der eine Kugel trägt, wie sie in den alten Gärten oft angebracht wurde, welche Kugel je nach dem Drucke höher, tiefer, schneller und langsamer sich hebt und sinkt. Was nun den guten Willen anbelangt, so ist es eben
nothwendig, dass die Menschen eine Ueberzeugung von der Realität der intelligiblen Welt mindestens nicht perhorres ciren und ins Klare zu kommen wünschen ; es ist nicht nothwendig, dass sie den Glauben an eine solche bereits
haben , mitunter ist vielleicht das Gegentheil gerade gut, wohl aber müssen sie geeignet sein , ihn zu fassen und eventuell zu acceptiren. Wenn mich jemand zu Tische ladet, lediglich um mich vor die Thüre zu setzen, so werde ich der Einladung kaum Folge leisten. Mit solchen Hausherren sind diejenigen zu vergleichen, welche diesen Manifestationen nur beiwohnen wollen , um unter Angabe der blödesten Er klärungsweisen als grosse starke Geister, die man nicht betrügen kann“, der staunenden Menschheit sich zeigen zu können. Man kann und soll sehr skeptisch gegen das Medium sein, welches nebenbei noch immer ein Betrüger auch sein könnte , um grössere Effecte zu erzielen , die sowohl der Eitelkeit als dem materiellen Gewinne zu Guten kommen
könnten . Aber man darf die Thatsachen nicht aus Faulheit
ablehnen, weil man seine Anschauungen reconstruiren, oder noch etwas lernen, etwa den alten Kant in die Hand nehmen
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
259
müsste. Wer den Schein der Lächerlichkeit nicht vertragen kann , der bleibt am besten fern , und überlässt die Sache Muthigeren. Es ist ferner nothwendig, dass die den Manifestationen beiwohnenden Menschen derartig seien, um deren Ueber zeugung lohnend zu finden ; wo das nicht der Fall
ist , dort wird die Willensenergie beider Welten beein trächtigt, mitunter gänzlich gelähmt , wie das die obigen Beispiele erhärten. Ist jemand so beschränkt in der Beurtheilung von Ursache und Wirkung , dass er den Unterschied zwischen einem nicht begriffenen Kunststück und einem für mensch liche Geschicklichkeit unmöglichen Factum , also zwischen einer nicht begriffenen und einer unmöglichen Ur sache nicht einsieht ; ist jemand so materiell , dass er gar keine Gedanken daran knüpfen würde ; ist jemand so orthodox in wissenschaftlicher oder religiöser Beziehung, dass ihn nichts aus dem gewohnten Gedankenschlendrian
herauszubringen vermag , so hat er allerdings keinen ver
nünftigen Anspruch auf Berücksichtigung; denn nur wer Trost, Motive oder Forschungs-Material sucht, findet leicht Unterstützung.
Die intelligible Welt hat also keine anderen weiteren Zwecke, wenn sie sich zu diesen scheinbaren Spielereien herbeilässt, als ihre Existenz zu manifestiren . Weiter nichts !
Ob das auf diese oder jene Weise geschieht , ist in erster Linie gleichgiltig für alle, mit Ausnahme für jene , die wie Zöllner und ich aus der Art der Manifestation über die blosse Existenz hinaus etwa Schlüsse zu ziehen bemüht
sind, und sowohl meine Erfahrungen als die Zöllners be weisen mir zur Genüge , dass der Charakter der Manifes tationen ein anderer ist , als er gewöhnlich vorkommt ; bei
Zöllner ist es die Raumtheorie und Transscendentalphysik, bei mir ist es die Organprojection und der vernünftige ethische 17*
260
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
Zusammenhang, was unser besonderes Interesse in Anspruch
nimmt, welchem Interesse entsprechend die Manifestationen auch erfolgen.
Wenn bei genügendem Lichte eine Guitarre klingend frei durch die Luft schwebt, wenn bei vollem Lichte eine
Schiefertafel unter meinen Augen den Fuss hinaufkriecht, meine Tafel in meinem Zimmer , fast in Beantwortung meiner Wünsche , wenn bei vollem Lichte ein Schieferstift
frei in der Luft in verschiedenen Sprachen schreibt u. S. W., so brauche ich keine weiteren Documente und fühle mich
gegen die Einwürfe der Universitäten der ganzen Welt und aller Zeiten sicher in Bezug auf die Existenz anderer Wesenreihen. Für mich existirt die scheinbare Unbegreif lichkeit der Leistungen anderer Taschenspieler nicht als Argument, weil ich den Unterschied kenne, der darin liegt, ob Jemand etwas auf eine Weise macht, die mir noch nicht
klar ist, oder ob etwas geschieht, was durch einen Menschen überhaupt nicht gemacht werden kann . Zwischen nicht wissen und nicht denken können besteht eben auch in
diesem Falle ein grosser Unterschied , den allerdings nur der begreift, der denken kann. Wenn ein Taschenspieler irgend eine Leistung machen
würde , die ich mir nicht erklären kann , so schliesst das nicht aus , dass ich mit Bestimmtheit gewisse Erklärungen ausschliessen und als unmöglich bezeichnen könnte. Die grosse Verschiedenheit der möglichen Lösungen erzeugt in allen das Verlangen so recht auffallender und unzweideutiger Manifestationen , weil diese zu erhalten aber selten und schwer sind, so schmiedet man daraus ein Argument gegen deren Echtheit.
Von diesem , Telegramme ,
oder was dasselbe ist,
von der Zusammensetzung des Zirkels hängt mehr oder weniger Alles ab , was hervorzuheben ich mich verpflichtet fühle. C. Schaarschmidt hat nämlich in seinen philoso
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
261
phischen Monatsheften (4–5 , 1880 ) Fechner's Brochure „ Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht “ besprochen und dem Spiritismus gegenüber Stellung genommen , sich aber einer dreifachen Täuschung hingegeben. Er sagt: „ Wenn man einerseits den theils nichtsnutzigen, theils selbst nicht unbedenklichen Inbalt der spiritistischen Manifestationen, an dererseits die höchst wunderliche, den Verdacht herausfordernde
· Art und Weise, wie dieselben vollbracht werden, erwägt, so kommt man bei aller Achtung vor den, wie Fechner, daran gläubigen Natur forschern zu dem Resultat , dass Niemandem zugemuthet werden darf , die spiritistischen Erscheinungen für das zu nehmen , wofür sie sich ausgeben , bis durch eine regelrechte, wissenschaftliche
" Untersuchung dargetban sein wird, dass jene Erscheinungen auf die bekannten Natur- und die psychischen Ge setze zurückzuführen eine Unmöglichkeit ist.
Eine
solche Untersuchung müsste durch eine Commission unbefangener Männer geschehen , welche als Sachverständige , d. h. als der
Psychologie, Physiologie, Physik, Mechanik , auch der einschlägigen spiritistischen Literatur älteren und neueren Datums kundig, sowie durch öffentliche Reputation vor dem Verdacht leichtsinnigen Urtheils cder der Bestechung geschützt , dazu wie sich versteht
im völligen Besitz ihrer Sinne und Geisteskräfte, auf Grund ein gehender Beobachtungen ihr Verdikt abzugeben haben würden. Solch' eine Untersuchung ist noch nirgends angestellt worden ; bis dahin aber hat die sittliche Empörung der Anhänger des Spiritualismus über die
Nichtbeachtung der von ihnen behaupteten Wunder keinen Sinn ; es kann vielmehr Niemandem verdacht werden, den Spiritismus bis auf Weiteres als eine religiöse Verirrung anzusehen, die man sich aus den allgemeinen Zuständen unserer gegenwärtigen Culturwelt einerseits, andererseits ( sofern nicht Betrug im Spiel ist) aus ungewöhnlichen
Seelen- und Körperzuständen der sog. Medien wohl erklären kann, ohne dafür zur Geisterwelt oder gar zum lieben Gotte als angeblichen Veranstalter eines solchen höchst bedenklichen, widerwärtigen Hocus pocus seine Zuflucht zu nehmen . “
Die erste Täuschung liegt in seiner Ansicht , dass eine regelrechte , wissenschaftliche Untersuchung noch nicht gepflogen wurde ; Crookes, die dialectische Gesellschaft und
die Leipziger Professoren lassen an Ehrenhaftigkeit, Sach
262
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
kenntniss und Erfahrung nichts zu wünschen übrig , und
glaube ich nicht, dass Schaarschmidt eine competentere Ge sellschaft zusammenbringen wird." Die zweite Täuschung liegt darin , dass die Appro bation einer von Schaarschmidt zusammengestellten Gruppe
nicht auf den gleichen Widerspruch stossen würde. Aus welchem Grunde soll ich Zöllner, Weber , Thiersch und Fechner nicht glauben, Schaarschmidt aber glauben ? Letz
terer hat nicht einmal mehr das Recht , ein solches Ver trauen zu beanspruchen, weil er selbst kein Vertrauen hat. Unter den selbst von mir berichteten Thatsachen mit Fowler, Slade und Eglinton sind einige derartige , dass von Täu schung oder Sachkenntniss nicht mehr die Rede sein kann, sondern einfach von Wahrheit oder Unwahrheit ; der so etwas zu denken oder nicht einzusehen vermöchte, der ver dient doch kein Vertrauen und hat keines zu erwarten . Die dritte und wichtigste Täuschung aber besteht
darin , dass Schaarschmidt diese Experimente auf gleiche Weise untersuchen zu können glaubt, wie eine Krystall bildung. Ich will von den Medien ganz absehen, für welche der deutsche Boden gerade nicht einladend geworden , weil
man nur Insulte , Polizei und Ausweisung für sie hat; die Frage gipfelt darin , ob die zusammengesetzte wissenschaft liche Commission ein solches Telegramm abzusenden vermag, und ob die intelligible Welt geneigt sein wird, ge nügende Beweise ihrer Existenz zu geben. Das hängt ganz und gar von der Beschaffenheit des Zirkels ab. Weit sicherer wäre es , wenn die Männer der Wissenschaft mit sich ins
Reine kommen wollen , nach England zu reisen und einen mehrwöchentlichen Aufenthalt ad hoc zu nehmen ! Wenn
sie das thun , so werden sie zur Ueberzeugung gelangen, dass wir , die wir für die Thatsächlichkeit einstehen , ganz
mit Unrecht verunglimpft werden , doch mögen sich diese bekehrten Herren dann nicht der Illusion hingeben , dass
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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auf ihr Zeugniss hin Niemand mehr an der Wahrheit der Phänomene zweifeln werde. Nicht die Zeugnisse Einzelner oder Vieler , nur der ganze Aufbau und vernünftige
Zusammenhang werden – die nächste Generation gewinnen. Die lebende ist zur Umarbeitung ihrer Anschau ung zu faul und vom wissenschaftlichen Grössenwahn ganz inficirt.
Nachdem gewiss Niemand bestreiten wird, dass die Ueber
zeugung eigentlich nie allein zu sein , nichts verbergen zu können, die Folgen seiner Handlungen immer tragen zu müssen, die Früchte seiner Vervollkommnung nie verlieren zu können, einen grossen Einfluss der wohlthätigsten Art auf die ganze Menschheit üben müsste, so wird man sagen : Warum geschehen die Manifestationen nicht so, dass sie für die ganze Welt sichtbar und greifbar werden ? Warum kommen
die intelligiblen Wesen nicht vielleicht auf eine Schale Thee in unsere Salons, und bringen uns im Wege anderer Raum dimensionen von der Venus irgend eine geniessbare Frucht
oder ein sonstiges schlagendes Merkmal ?
Warum ent.
schleiern sie uns nicht die Räthsel und Schätze der Welt,
die richtigen Loose und Börsencourse ?" Solche Fragen sind
nicht etwa meine Erfindung, das sind praktisch vorge kommene Fragen scheinbar intelligenter Leute ! Ich werde mir vor Beantwortung dieser Fragen er
lauben , selbst eine zu stellen. Wer hat denn einen Anspruch auf klaren Wein ? Doch wohl nicht diejenigen , die aus
Neugierde oder langer Weile fragen und die klare Antwort nicht zu verwerthen wissen , sondern nur diejenigen , die
Stahl genug im Leibe haben, um den Werth einer solchen Thatsache einzusehen , sie zu verwerthen und der ganzen
Welt gegenüber zu vertheidigen ! Daher kommt es denn, dass Zöllner, ich und andere mitunter sehr klare Antworten erhielten . Doch abgesehen davon, verrathen diese Fragen
nur eine ganz unrichtige Ansicht von der Welt.
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Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
Die Menschen sehen nicht ein , dass es eine Grenze geben müsse , über welche hinaus die Illusion unseres Da seins nicht gestört werden darf, weil der ganze biologische Process seinen gewiss nothwendigen und vernünftigen Zweck dadurch verlieren würde ; andererseits ist es wieder ganz
begreiflich, dass die naturwissenschaftliche Verblendung die Menschheit in einen solchen Materialismus hineinjagen und
darin erhalten könnte, dass die Culturentwickelung und damit ebenfalls der Zweck des biologischen Processes frag lich oder doch gefährdet werden könnte. Ich will es daher durchaus nicht in Abrede stellen, dass die aus dem ganzen
spiritistischen Lager aller Welttheile übereinstimmend lau tende Behauptung, „die intelligible Welt wolle durch Mani
festation der Verwilderung der Menschheit Einhalt thun “, und uns den Glauben an die Unsterblichkeit und Wieder
vergeltung beibringen , etwas für sich haben könnte, wenn die Geschichte nur nicht die gleichen Fälle seit jeher be richtete. Man lese Agrippa, Schindler, Eckartshausen, Enne
moser, Kieser, Perty oder über die Mystiker Franz des Ersten, von welchen uns B rabbée einige Namen nennt : Seefels (auch Sehfeld ), Schindler und Meuchelbeck ; man kann in dem Grafen Kuefstein und Josef Grafen Thun, welche Ende des vorigen Jahrhunderts lebten , Männer finden, die sich mit Medien beschäftigten ; dass diese nebstbei Freimaurer oder Rosenkreuzer u. s. w. waren, hat nichts zur Sache. Wie in allen Dingen , so mag auch für die Zellen existenz aller Weltkörper leicht ein zu Viel oder zu Wenig von phänomenaler Illusion schädlich sein. Hatten die frühe
ren Jahrhunderte vor lauter transscendentaler Hoffnung das Wissen und Schaffen vernachlässigt, so hat die letztver flossene Zeit vor lauter Wissen und Schaffen das goldene Kaib zur Gottheit erhoben .
Dadurch wird aber begreiflich, dass sich die intelligible Welt das Publikum gut anschaut, vor welchem sie debutiren
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
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soll, und wenn sie sich herbeilässt, einem Menschen eine Ueberzeugung , Warnung, Anregung oder einen Trost zu geben, so wird sie es gewiss unterlassen, wenn das Alles nicht gesucht wird , oder nicht erreicht werden kann, oder die ganze Unterhaltung auf gleiche Linie mit einer Affen
.comödie oder einem Circus gestellt wird. Doch nicht nur Beschränktheit , oder religiöses und wissenschaftliches Vorurtheil geben den Anlass, dass die
intelligible Welt refüsirt. Es gibt sehr intelligente und muthige Menschen , welche mir ihre Erlebnisse mit dem
bekannten Medium Hume erzählten (bei voller Beleuchtung sichtbare und fühlbare Hände , fliegende brennende Lampen, in den eigenen Händen von selbst spielende eigene Harmo nika etc.), und doch ging das an ihnen fruchtlos vorüber; sie wussten daran keine Gedanken zu knüpfen, sie begnügten sich damit , es nicht zu verstehen was für ein Motiv
soll ein intelligibles Wesen haben, so jemand zu überzeugen ? Es kann Jemand mit der phänomenalen Welt so vollauf zu thun haben , dass er trotz hervorragender Intelligenz gar keine Zeit hat, über das Trügerische derselben nachzu denken ! Das war der Fall bei der betreffenden Persönlich
keit und mehr oder weniger auch bei den meisten, die mit
mir und Eglinton in Wien experimentirten*). Wurden die *) Zu jener Epoche, als Hume in Paris war , hatte dieser mit Louis Napoleon auch Sitzungen. Ein mit diesem in intimeren Bezieh
ungen gestandener höchst achtbarer Mann bat theils mit Napoleon selbst die Dinge gesehen, theils selbe aus Napoleons Mund vernommen, und mir Einiges darüber berichtet, wovon ich nur zwei Fälle berühren will, weil sie für spätere Experimentatoren nicht verloren gehen dürfen . Erstens, dass bei Hume Gegenstände aus dem fünften und sechsten Salon zugebracht wurden ; so kam nach Napoleons Zeugniss ein Clavier dahergerollt. Zweitens dass eio Girandol mit brennenden Kerzen aus der verticalen Lage in die horizontale frei schwebend versetzt wurde, wobei die Flammen horizontal weiter brannten . Dieser Um.
stand lässt auf eine Ablenkung der Lichtschwingungen und dadurch
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Schlüsse ausder Identität an sich beider Welten.
Beweismittel mitunter zu stark , so erzeugte es bei ihnen
höchstens ein unheimliches Gefühl, weil das Gebäude ihrer
Weltanschauung und persönlichen Bedeutung dadurch ins Wanken kam ; sie flohen es , wie die Menschen das Erd
beben ! Ich habe so Manches gelernt aus den Eindrücken! Nur Derjenige, dem die phänomenale Welt nicht gefällt, geht herzhaft auf die Entschleierung der intelligiblen los Bei durch den Zufall gemischten Zirkeln kommen schliesslich minder vollkommene Manifestationen unter grosser Anstrengung zu Stande , und werden mit Recht als die unharmonischen Zirkel von den Medien bezeichnet. Es gibt eben schlechte, harte, unharmonische und auch diesen
Eigenschaften entgegengesetzte Zirkel , da nicht nur physi kalische Bedingungen , sondern auch andere Gründe und Motive ins Spiel kommen, in welchen diese Verschiedenheit ihre Ursache hat.
Die intelligiblen Wesen werden mit den Manifestationen auch nicht weiter gehen , als die Nerven der Anwesenden, oder auch nur eines einzigen es zulassen ; so sprechen dafür
sehr viele Beobachtungen . Die Harmonie eines Zirkels kann auch durch die Furcht gestört werden .
Endlich ist auch denkbar , dass die intelligible Welt uns nur darum fernblieb , weil wir noch nicht auf jener Stufe der Entwickelung standen , um ohne Gefahr mit ihr zu verkehren.
Ich habe schon im zweiten Bande gesagt,
dass die Folgen der Annäherung für uns nicht vortheilhaft waren ; wir können aber eben darum nicht wissen , ob sich
das Verhältniss nicht bessern werde , wenn wir objectiver werden. Bis jetzt wenigstens haben wir nur eine Steiger ung zu constatiren , sowohl was die Zahl der Medien und
optische Täuschung möglicher Weise schliessen, analog dem von Zoll ner erwähnten Fall (II. Band, wissenschaftliche Abhandlungen, S. 342) mit den Nikol'schen gekreuzten Prismen, durch welche Slade anstandslos lesen konnte.
Sohltisse aus der Identität an sich beider Welten .
267
Anhänger, als die experimentellen Leistungen anbelangt. Wo das seine Grenzen finden wird ? Ich weiss es nicht. Nach
dem aber jede Entwickelung wellenförmig geht , so dürfte dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier der Fall sein .
Es wird sich nur die Form ändern . So wie sich aus der
aus der Astrologie die Astronomie entwickelte, so werden sich aus der sogenannten Psychographie, Nekromantie, Magie u. 8. W. eine Art transscendentaler Ethik und Physik entwickeln. Die Geheimthuerei und egoistische Selbstüberhebung der Rosenkreuzer hatte jeden praktischen Erfolg unmöglich gemacht ; gegenwärtig spielt die Sache
Alchemie die Chemie
im vollen Licht der Oeffentlichkeit und wird zum Theile
wenigstens mit genügender Objectivität und in bester Ab sicht ausgenützt . Eines muss ich besonders als das Resultat meiner
Erfabrungen überhaupt hervorheben. Die intelligible Welt respectirt unsere Autonomie in auffallender Weise; die ge bratenen Kastanien wachsen für Niemand auf dem Baume.
Es muss ein Jeder durch eigenes Wirken und Denken sich dieses Gebiet erobern ; daher mag es auch kommen , dass im Anfange stets allerlei Bedenken und Zweifel Nahrung finden . Dass das von den Mystikern geforderte Glauben
keine unbedingte Vorbedingung sei, dessen bin ich gewiss, denn auf diesem Wege wäre ich nie zu einer Ueberzeugung gekommen . Wer in ehrlicher Absicht ohne vorgefasste Mei nung untersucht , wer aus zureichenden Ursachen Schlüsse
zieht und nicht immer neue nutzlose Beweise verlaugt ; wer die Resultate, sei es für sich oder andere , verwerthet, der
braucht nichts weiter als einen glücklichen Zufall, der ihn auf diese Bahnen führt.
Was nun den von den Spiritisten geglaubten, von den
Gegnern geforderten Unterricht im Wege der Schrift oder Inspiration durch die intelligible Welt anbelangt , so sind wir ganz im Unklaren , ob sie das nicht thatsächlich thue,
268
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
wenn auch nicht im Wege solcher Sitzungen, die gewöhnlich
dem Unsinne immer näher kommen, je öfter, je länger und je regelmässiger deren Theilnehmer sich unterrichten lassen
und in Dingen an die Offenbarung appelliren , bei welchen nur die eigene Arbeit helfen kann . Dass ein Einfluss auf unsere Gedanken, durch Veranlassung von Vorstellungen in
welcher Weise immer , weit leichter gedacht werden kann, haben wir bereits erörtert ; darüber aber können wir nicht in Zweifel sein , dass man mit dem Tode keine Kenntnisse
erwirbt , die man sich nicht durch Arbeit verschafft, daher denn unsere , die Stühle in der besten Absicht herumwer fenden Brüder mitunter von ganz geringer Intelligenz sein könnten , welchen ein dreidimensionales Problem vielleicht nicht viel geringere Schwierigkeiten machen wird , als uns ein vierdimensionales.
Ich appellire nunmehr an das Urtheil des Lesers! Ich habe ihm Thatsachen vorgeführt, welche im Wege
unserer phänomenalen Gesetzmässigkeit theils schlecht, theils gar nicht zu erklären sind. Wir wissen , dass die uns be kannte Welt und der sie bewohnende Mensch ohne eine
intelligible Welt und ohne intelligible Wesen nie zur Dar stellung gelangen könnten ; ist es da nicht einfacher , an eine Erklärung sich zu halten , die diese Räthsel löst und unter allen Umständen ein trostreiches, poetisches Bild gibt ?
4. Unsere mögliche Einwirkung auf die intelli gible Welt.
Es könnte nunmehr die Frage aufgeworfen werden : „Ist es aber uns , als Bürgern der phänomenalen Welt, möglich, in die intelligible auf irgend eine Weise zu wirken ?" Wollen wir versuchen , den einzig denkbaren Fall und die einzig denkbare Weise anzudeuten.
Scblüsse aus der Ideptität an sich beider Welten ,
269
Wenn wir ein Telegramm nach Amerika expediren, so hat es drei Bedingungen: 1. Einen geeigneten Apparat in Europa ; 2. einen geeigneten Leitungsdraht, und 3. einen
geeigneten Apparat in Amerika, der auf die Einwirkung in geeigneter Weise reagirt. Die Entfernung fällt nicht ins Gewicht, weil wir wissen , dass für elektrische Fernwirkung keine Distanz zu gross ist , und weil die Distanz in der intelligiblen Welt von dem Begriffe derselben in der phäno menalen Welt weit abweicht.
Schon Alexander Humboldt hat jeden Willensact
mit einer elektrischen Entladung verglichen ; dass von Mensch zu Mensch , von Himmelskörper zu Himmelskörper solche Kraftlinien als Leitungsdrähte gehen , das wissen wir ; wir wissen aber noch weiter mehr. Die Erfahrung bestätigt was meinen Lesern ohnehin nicht unbekannt sein wird
dass solcbe Fernwirkungen durch lebhafte Gedanken und unter Voraussetzung von empfindlichen Naturen nicht etwas so gar Seltenes sind. Zöllner berichtet im Anhange zu seinem Scalenphotometer folgendes: „Herr Hansen hat sich nach Beendigung seiner Vorstellungen in der hiesigen Centralhalle auf kurze Zeit nach London begeben, um
seine Frau von dort abzuholen . Er nahm von den ihm persönlich näher getretenen Personen besonders freundlichen Abschied, und be merkte hierbei Herrn Köhler, er absichtige mit ihm ein Experiment aus der Ferne zu machen ; er solle in den nächsten Tagen auf sich achten, denn Hansen beabsichtige lebhaft zu einer bestimmten Zeit an ihn zu denken. Herr Köhler versicherte uns pun, dass er diese Auf
forderung wenig beachtet habe, indessen sei er am nächsten Tage gegen Abend um 6 Uhr, ohne irgend an Hansen zu denken, plötzlich während seiner Arbeit erstarrt und umgefallen und sei erst nach län gerer Zeit mit Unterstützung anderer Personen wieder in seinen nor
malen Zustand versetzt worden. Erst jetzt habe er sich des ihm von Hansen versprochenen Experiments erinnert, und als ich Herrn Hansen bei seiner Rückkehr nach Leipzig über diesen Vorfall berichtete, be stätigte er mir, dass er sich um dieselbe Zeit in Berlin befand, und dort den versprochenen Versuch durch lebhafte Concentirung seiner
270
Schlosse aus der Identität an sich beider Welten .
Vorstellungen auf die Person des Herrn Max Köhler angestellt habe. Am 20. November wurde ich unerwartet durch einen mehrstündigen Besuch Hansen's erfreut. Ich benützte diese Gelegenheit, ihm die Be
schreibung des soeben erwähnten Experimentes vorzulesen, die er als vollkommen wahrheitsgetreu bestätigte. Gleichzeitig theilte er
mir in Uebereinstimmung mit Herrn Trott mit, dass auch Herr
Ehrenwerth inzwischen meinen Bericht gelesen, denselben für voll kommen correct halte und mir dies in den nächsten Tagen mit
Angabe der Zeugen schriftlich bestätigen wolle. Jeder Unbefangene sieht ein, dass zur „ Erklärung “ dieses Ex. perimentes die „hypnotische Theorie des Herrn Dr. med. Opitz und seiner Anhänger vollkommen unzureichend ist.“
Perty berichtet von einem Fräulein Swoboda , deren persönliche Bekanntschaft ich gemacht, dass sie solche Fern. wirkungen auszuüben vermochte. (Siehe Psychische Studien.) In Sterbefällen oder Unglücksfällen kommen solche richtige Visionen und Ahnungen oft vor. Es liegt also gerade nichts
Verwegenes in dem Gedanken, dass wir unter Voraussetzung eines kräftigen und tiefen Willens ein solches Telegramm, wenn auch ohne Empfangsbestätigung und ohne Rückant wort , abzusenden fähig seien . Allerdings kann ein solches,
hinreichend kräftiges Wollen nur bei dem Gläubigen oder einem momentan unter dem Eindrucke ganz besonderer Ereignisse Stehenden gedacht werden ; daher denn Christus ausrief: „Owenn ihr glauben könntet!" Was aber den Leitungsdraht und den Apparat in der intelligiblen Welt anbelangt, so sind beide zwar vorhanden , das unterliegt keinem Zweifel mehr, ob sie aber ausreichend sind ? ! –
Ich glaube , dass nur die Liebe dieses Band so zu isoliren und empfindungsfähig zu machen vermag , dass das Tele gramm verständlich anlange ! Ich glaube weiters, dass, da
diese Thätigkeit doch mehr dem intelligiblen Subject, als unserer Persönlichkeit zukommt , sie nur von einem
tiefer enpfindenden Menschen mit der nothwendigen Macht ausgeübt werden kann , der von geringerer phänomenaler Befangenheit ist.
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten .
271
Doch vergesse der Leser ja nicht , dass der Inhalt der Depesche nicht so sehr den Gegenständen phänome naler als intelligibler Werthe zugewendet werden muss ! Denn Vieles scheint uns ein grosses Uebel, was vom intel ligiblen Standpunkt eine nothwendige Procedur für das Evo
lutionscapital ist. Die von so Vielen behauptete Gebeterhö rung in besonderen Fällen könnte vielleicht hier ihre Wurzel haben .
Ich bin in meinem Leben über dieses Thema sehr oft
interpellirt worden, konnte aber nur schwer ein Lachen unterdrücken, wenn ich die Wünsche und Prätensionen der Menschen vernahm, welche sie gesprächsweise an diese An
schauung und die intelligible Welt knüpfen. Es gelang mir zwar immer, den Fragenden begreiflich zu machen, dass
es für die intelligible Welt zu Folge der verschiedenen pysikalischen Verhältnisse nicht so leicht ist , Einfluss zu nehmen, so wie es nur einigen Vögeln aus physikalischen Gründen möglich ist , im Wasser zu leben. Es gelang mir auch ihnen begreiflich zu machen , dass es noch schwieriger für den Menschen ist, in die intelligible Welt hineinzuragen, sowie es auch nur wenige fliegende Fische gibt. Woran ich aber fast immer scheiterte, war der Versuch, die Discrepanz der phänomenalen und intelligiblen Werthe klar zu machen . Dass die Leiden des Menschen auch Lichtseiten haben -
das wollen die Menschen nicht einsehen !! Insolange man
aber das nicht einsieht, ist die ganze phänomenale Welt, die Existenz in Fleisch und Blut , ein unlösbares Räthsel, an dessen Lösung die indische, Schopenhauer -Hartmann'sche Philosophie nur streift, wenn sie das Loswerden des Lebens als Lebenszweck hinstellt, was allerdings insoweit richtig ist, als ein hoher Grad der Entwickelung das ani malische Bad überflüssig macht. Die Geschichte berichtet uns einen interessanten Fall,
den Schutzgeist des Sokrates, und doch schützte er ihn
272
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
nicht vor der Verurtheilung, gleichgiltig ob diese eine Noth wendigkeit oder ( vielleicht selbst wahrscheinlich ) eine Erlösung
war. Ich hätte wenigstens gegen einen Todeskampf in Form eines stark und schnell wirkenden Giftes wahrlich nichts
einzuwenden. Weit weniger gemüthlich war das Schicksal der Jungfrau von Orléans; was waren die Ursachen der Einwirkung, was die Folgen ihres Leidens ?! Wir wissen es nicht, aber ohne Entwickelungscapital ist diese Episode an ihr gewiss nicht vorüber gegangen ! So wie der Weizen, um zu reifen, eine entsprechende Menge Wärme braucht, gleich giltig, ob sie ihm in etwas längerer oder kürzerer Zeit verabreicht wird , so scheinen auch wir ohne Leiden die nothy ige Läuterung und Reife nicht erreichen zu können, Wenn man über den eigenen Lebenslauf objectiv nach
denkt, so gelangt man bald zur Ueberzeugung, dass die hausbackene Existenz an Evolutionscapital nichts oder doch sehr wenig liefert. Hätte sich bei mir der gewöhnliche,
natürliche Verlauf der Dinge eingestellt, so wäre mein Leben mit Jagd, Wirthschaft, Musik , Politik und Geselligkeit aus gefüllt worden, wie bei meinen Freunden ; durch den häu figen Wechsel meiner Lebensverhältnisse, durch die vielen unangenehmen Erfahrungen, auf politischem und wirthschaft lichem Gebiete und im Familienleben , durch die zahlreichen Prüfungen , die ich theils siegreich, theils schlecht bestanden ,
habe ich zwar viel gelitten, bin aber doch ein ganz anderer Mensch geworden als ich im vermeintlich glücklichen Lebens lauf geworden wäre.. Hätte ich nicht Rücksicht auf lebende Menschen zu nehmen , so würde die Geschichte meines Lebens einen merkwürdigen Beleg für das Fatidike im Lebenslaufe geben ! Könnte ich zu einer Eiche reden, so könnte ich der
jungen Pflanze sehr gut sagen , wie gross, wie alt sie wer den , wo sie ihre Krone ausbilden, und wie sie sterben
werde ; ich könnte das , weil ich den Boden, ihre Stellung
Schlüsse aus der Identität an sich beider Welten.
273
zu anderen Bäumen , die Culturverhältnisse der Gegend u. s. w. zu erblicken im Stande bin ; so ist es auch mit dem Menschen . Jedes organische Wesen hat einen Selbst
zweck, wenn es auch nebenbei und scheinbar nur der Dünger einer höheren Entwickelung ist.
In der freudigen Aufopferung der Märtyrer, der reli giösen und politischen , weht ein eigenthümlicher Geist ; es
ist das intelligible Subject in ihnen und die geringere phä nomenale Befangenheit, die sie über sie hausbackenen Men schen erhebt ; auch fühlt jeder bessere Mensch in sich, dass er dem Zusammenstosse auf einer Eisenbahn das nicht ent
gegenbringt , was er für die Aufopferung eines grossen Zweckes zur Verfügung hat ; denn das eine ist eine phäno menale Misère, der andere Fall spielt ins intelligible Gebiet, in die eigentliche Heimath des Menschen ! Mein Leser weiss, dass ich auf die Offenbarungsquellen der Spiritisten nichts gebe, ihnen aber manchmal doch sehr interessante Antworten zuerkenne. In einer solchen Conver
sation mit einer, unserem Bewusstsein fernstehenden Intelli
genz äusserte ich einmal, dass ich mein Schicksal gern zum Opfer bringen , das heisst den Rest meines Lebens in fort
gesetzten Kämpfen und Widerwärtigkeiten zubringen wolle, hingegen einige wenige Menschen , die mehr oder weniger an mich gewiesen sind , vor Katastrophen gern geschützt wüsste, da erhielt ich die Antwort, dass mein Verlangen sehr eingeschränkt werden müsse, weil diese Menschen einen von dem meinen ganz unabhängigen Lebenslauf hätten . Bei einiger Ueberlegung sieht man gleich , dass diese Anwort gar nicht anders hätte ausfallen können. Das Leben ist ein Entwickelungsprocess, und zwar eine kurzwährende Episode einer langwährenden Entwickelung - darin lässt sich wenig ändern .
Gesetzt, ich hätte eine Pflanze im Garten , die ich liebte; ich kann ihr allerdings bei grosser Hitze Wasser Hellenbach, Vorurtheile III .
18
Zusammenfassung .
274
bringen, wenn mich wichtige Angelegenheiten nicht fesseln ; ich kann eine Raupe, einen Engerling oder Maulwurf hie und da abwehren , - vor den grossen Katastrophen in der Natur und dem natürlichen Verlaufe der Dinge kann ich sie nicht schützen ! Sie keimt, entwickelt sich, blüht, treibt
Frucht und vergeht ; nur das individuelle und allgemeine Evolution scapital spielt eine Rolle. Der Appell an die intelligible Welt wird daher grössten Theils an der Incongruenz der Begriffe von dem , was gut und zweckmässig ist, scheitern, selbst dort, wo alle Bedin gungen desselben günstig liegen. Auch dürfen wir nie ausser Augen lassen , dass wir dem mit aller Kraft Arbeitenden weit lieber helfen, als dem Faullenzer, der auf fremde Hilfe
vertrauend, die Hände in den Schooss legt ! III .
Zusammenfassung . Die Werthlosigkeit der spiritistischen Offenbarungen - Die verneintliche Absurdität der Palingenesis.
Die Uebergänge vom Leben und Tode.
Wir haben gesehen , dass man auf dem Wege der Beobachtung und auch des Denkens immerhin ein Nebelbild
der intelligiblen Welt sich verschaffen kann, und was noch weit wichtiger, dass wir uns der begründeten Hoffnung hin geben können, durch vermehrte Erfahrung diese Nebel immer
mehr zu lüften . Eines aber ist gewiss , je deutlicher und wahrnehmbarer das Bild werden wird , desto weiter und
räthselhafter werden sich die Pforten der Unendlichkeit und Unerforschlichkeit öffnen, die unsere Entwickelung zu durch laufen hat ; aber es werden auch die Schranken unseres
phänomenalen Erkenntnissvermögens um so klarer hervor treten.
Auf diese uns gezogenen Schranken scheinen alle
jene zu vergessen , welche ein Bild der intelligiblen Welt
Zusammenfassung.
auf dem Wege der Offenbarung erhoffen.
275 Das ist die
Schattenseite der spiritistischen Bewegung. Wir wissen, dass die Himmel eines Buddha, Abraham , Christus , Mahomed verschieden sind ; noch deutlicher geht die Verschiedenheit der Ansichten über die intelligible Welt
aus den Schriften hervor, welche Einzelne durch ihre guten Freunde aus dem Jenseits erhalten wollen .
Ich habe im
zweiten Bande das Trügliche dieser Kundgebungen bespro chen ; Zöllner , der in der Vorrede seines dritten Bandes
der wissenschaftlichen Abhandlungen diesen Offenbarungsweg ebenfalls verwirft, macht den trefflichen Vergleich, dass bei Empfang eines Telegramms wir doch nur durch Prüfung des Inhaltes auf die Richtigkeit der Person schliessen
können und unser ganzes Verhalten davon abhängig machen werden. Bei diesem unbewussten Schreiben sind aber nicht
nur der Schreiber, sondern auch der Apparat incomensurable Grössen. Nichtsdestoweniger wurde dies · Literatur abermals durch Dr. Fries e* ) bereichert. Würde der Herr Doctor den Inhalt auf seine Gesammteindrücke mit einigen wenigen,
besonders bemerkenswerthen Antworten beschränkt haben, so wäre das Buch anzweifelhaft von guter Wirkung ; dass aber das Resultat „ sehr ruhiger Unterredungen “ mit einer andern Welt von ebenso zweifelhaftem Werthe sein kann , als das unserer irdischen Unterredungen , darüber kann sich der Leser schon aus einer einzigen Stelle unter den vielen an deren die Ueberzeugung holen . Der Autoritätsglaube und der
Offenbarungsweg taugen zu nichts anderem , als die Menschen irre zu führen , was sich ja in der Geschichte auf eine traurig glänzende Weise erwiesen hat. Diese Stelle steht auf Seite 338 und lautet :
Eine
Frage, die ich absichtlich in diesem Buche gar nicht berührt *) Friese, Stimmen aus dem Reich der Geister. Mit einer Tafel 2. Auf, Brosch. 4 M. Friese, Das Leben jenseits des
in Lichtdruck .
Grabes.
Brosch . 3 M.
( Leipzig, Oswald Mutze. ) 19 *
Zusammenfassung .
276
habe, weil ich sie für absurd halte, ist die nach der Re incarnation , oder Wiedereinverleibung eines Geistes in einen menschlichen Organismus ; aber sie wird in Frankreich mit
allem Ernste behandelt , und man mag sie immerhin auf stellen. Sie ist von unseren Geisterfreunden verneint und mit Entrüstung zurückgewiesen worden.“
Es giebt sehr viele Dinge, die von verschiedenen Wesen verschieden aufgefasst und angeschaut werden , auch ist die Welt so gross, die Anschauungsformen so verschieden, dass Widersprüche noch immer bloss relativ und scheinbar sein könnten, daher der Vorwurf der Unwahrheit noch nicht die
unabweisliche Nothwendigkeit sein müsste. Aber es gibt Dinge, wo eine Verschiedenheit der Ansicht nie und nimmer
stattfinden kann , weil der Irrthum ausgeschlossen , der Widerspruch ein contradictorischer und nicht bloss con trärer ist.
Wenn ich die verschiedenen Bewohner der Erde über
ihr Land und ihre Verhältnisse frage, so werde ich gewiss widersprechende Antworten über ein und dasselbe Land erhalten , wenn ihnen allen auch Aufrichtigkeit zukommen sollte.
We Wenn ich aber Jemand frage, ob in seinem Lande die Menschen sterben , und ob er je ein Kind gewesen sei,
80 werde ich darüber keine verschiedenen Antworten bekom
men ; es gibt entweder Tod und Geburt , oder es gibt sie nicht. Welcher Art immer die verschiedenen Daseinsweisen
der intelligiblen Welt auch sein mögen , darüber kann eine
verschiedene Anschauung nicht bestehen, ob die intelligiblen Wesen sich erst als Menschen entwickelten , oder ob sie früher schon irgendwie existirten, bevor sie Menschen waren.
Auch darüber müssten sie im Klaren sein, ob irgend welche unter ihnen zur Erde , dass heisst zu ihrer Darstellung in Zellen schritten .
Wenn nun eingestandenermassen die Antworten über diesen Gegenstand verschieden lauten , und zwar gleich
Zusammenfassung .
277
gruppen- und länderweise, so ist es klar, dass die Antworten nicht über den Horizont der anwesenden Fragesteller hinaus. gehen; ob das nun seinen Grund darin habe , dass die
Antworten überhaupt gar nicht der intelligiblen Welt ent stammen, oder ob die intelligiblen Wesen den Horizont der
jeweiligen Fragesteller nicht überschreiten können , wollen oder dürfen , bleibt sich gleich. Denn das Eine geht aus der Verschiedenheit der Antworten hervor, dass sie gar nichts meritorisch unterscheiden .
Ein höheres Forum oder
ein Kriterium gibt es auch nicht , und sind wir daher so klug, als wir früher waren. Die Ausflucht der Spiritisten von den Lügengeistern beweist eben gegen sie ; denn ich frage mit Recht, welche sind die Lügengeister, diejenigen, welche die Incarnation oder Menschwerdung behaupten, oder die sie verneinen ?
Wie soll dass entschieden werden ?!
Wenn wir von allen älteren Offenbarungen absehen und uns nur an die neueste Zeit halten , so haben wir die Offenbarungen von Hare , Davis , dem Mormonen - Pro pheten in Amerika , Cahagnet , Allan Kardec , Vay und Friese in Europa (und es gibt deren noch viel mehr ; an welche sollen wir uns denn halten ? Wir haben keinen anderen Wegweiser, als den Werth des Inhaltes, wenn wir
diesen prüfen und die Offenbarungen vergleichen, so werden wir bald gewahr, dass sie keinen anderen Werth haben als den einer Meinung.
Was nun die „ Absurdität “ anbelangt , so trifft dieses Urtheil des Dr. Friese nicht nur alle irdischen Weisen,
sondern auch Pythagoras, Sokrates, Plato und eigent lich auch Leibnitz , Schopenhauer und Drossbach, ja selbst Hartmann , da dieser ausdrücklich sagt, dass jeder Individualismus consequent in die Seelenwanderung führen müsse, worin er auch ganz recht hat. In dieser Ge sellschaft nehme ich den indirecten Vorwurf der Absurdität
Zusammenfassung.
278
durch Dr. Friese sehr gern und wahrlich auch sehr leicht auf mich .
Die . Materialisten sind ganz consequent und durchaus nicht absurd , wenn sie das Weiterleben und daher auch die
Praeexistenz läugnen. Sie haben vom phänomenalen Stand punkte auch ganz Recht. Von Schopenhauer und Dross bach ist es ganz consequent und nicht absurd , wenn sie dem Leben das folgen lassen, was ihm vorhergeht – einen unbewussten Zustand , sei dieser nun der eines Allwillens oder einer Monade.
Nur eine einzige Anschauung kann man als absurd mit ausreichender Begründung bezeichnen, urd diese ist die des Dr. Friese, der auf ein zeitliches Entstehen ein ewiges
Leben folgen lassen will. Eine solche Ansicht steht im
Widerspruche mit unserer Vorstellung von der Erhaltung der Energie, dem Gleichgewichte der Kräfte, daher denn
die Vertreter einer solchen Anschauung auch zu einem über alle Causalität stehenden Gott greifen mussten , der im Wege der Neuschöpfung diesem Loche in der Causalität abhelfen muss .
Wäre es wahr , dass der Zeugungsact allein neue
Wesen gleich in der bervorragenden Stellung eines Menschen in das Leben rufen , also Eiweissstoff in denkende und empfindende Materie umsetzen könnte, welche neuen Geschöpfe
nach einem kurzen Erdendasein und eigentlich aus dem Nichts zu einem ewigen Leben berufen würden, so könnten wir Menschen uns wahrlich keiner böheren Aufgabe unter ziehen, als uns mit aller Kraft zu vermehren, denn welcher Art das Dasein in diesem Leben auch wäre , gegen die Ewigkeit ist es verschwindend.
Wäre es wahr , dass mit diesem Leben unser Dasein abgeschlossen würde , so könnte es gar kein grösseres Ver brechen geben , als Menschen ins Dasein zu rufen , die für geringe Freuden grossen Leiden und einem sicheren Tode
Zusammenfassung .
entgegengeführt werden.
279
Ist das Leben ein mehr oder
weniger glückliches, so würde das fruchtlose Verlangen nach Fortsetzung die Qual sein ; wünscht man keine Fortsetzung, so müssten die irdischen Qualen uns den ewigen Tod wünschenswerth machen .
Man sieht , dass nur folgende Auffassung haltbar ist : „ In uns Menschen ist der Trieb der Fortpflanzung oder vielmehr der Geschlechtstrieb so mächtig, dass wir die Bedingungen für den Eintritt in den biologischen Process immer bieten, und zwar ist dieser Trieb dann am stärksten, wenn die gelieferten Bedingungen die günstigsten, d. h. wenn wir jung , gesund und kräftig sind. Diese Wesen sind ein uns anvertrautes Gut , welches wir auch thatsächlich am meisten dann lieben, wenn unsere Hilfe am nothwendigsten ist . Wir haben für deren bestmögliche Entwickelung zu sorgen , wir entledigen uns der unseren Aeltern gegenüber contrahirten Schuld, und erwerben in der Erfüllung dieser Pflicht am leichtesten das Liebescapital , dessen jeder Mensch bedarf ; auch fühlt das Kind, dass es als Eindringling
und Last seinen Eltern etwas schuldet.“ Welche Anschauung ist von diesen dreien die absurde ?
Es lohnt nicht der Mühe , mit Jemandem zu streiten, der auf dem Standpunkte von Offenbarungen steht, weil es vergeblich ist, ich würde auf die Nothwendigkeit der Prae existenz im Wege der morphologischen Entwickelung auch hinweisen können, denn diese liegt jenseits und nicht dies seits (siehe Individualismus) , aber es genügt folgende Be trachtung :
Ist die über den Tod elle Existenz gesichert, eine Nothwendigkeit . Ist die Pra e existenz ein Falsum , so kann es
hinausgehende individu so ist die Prae existenz vor der Menschwerdung eine fort dauernde in di
viduelle Existenz nicht geben.
Zusammenfassung.
280
Was vorgeht, muss auch nachkommen ; sei es nun eine Monade , ein Wille , ein Unbewusstes oder nur die
chemische Auflösung.
Darüber sind sich alle, die nicht
lediglich auf Basis irgend einer Offenbarung stehen, sondern selbstständig zu denken fähig und gewöhnt sind, einig. Dass der Mangel der Erinnerung in dem phänomenalen Spiegel bilde nichts dagegen beweist , habe ich im 2. Bande der
Vorurtheile bereits nachgewiesen. Wie oft haben wir einen Traum , wo wir in unbekannten Räumen , mit ganz unmöglichen Verhältnissen , sagen wir, mit verstorbenen Freunden zu thun haben, ohne dass unsere Erinnerung diese Widersprüche bekämpft; wir haben einen grossen Theil unseres Lebens vergessen, und die Illusion ist eine vollkommene. Ebenso kann eine Erinnerung aus jenem
Zustande, der dem Leben vorausgegangen , in unserem
menschlichem Bewusstsein nicht vorkommen, weil in diesem nur das fixirt sein kann , was durch den Zellenorganismus als menschliche Vorstellung erworben wurde. Allerdings kommen bei aussergewöhnlichen Organisationen , Anlässen und Krankheiten Vorstellungen oder vielmehr Aeusserungen
vor, die diesen Weg durch die Sinne nicht gegangen, aber dieselben sind es gerade , die auf das Vorhandensein eines Subjectes schliessen lassen, das eine von den Sinnen unab hängige Function hat , mit welcher Annahme die Prae existenz aber schon gegeben ist. Die phänomenale Welt oder
die Natur ist nur Darstellung oder Umbüllung eines Gei stigen , Realen ; daher kommt es , dass in dem ewigen Wechsel der Formen und Individuen immer eine constante Grösse bleibt.
Zwischen einem Traume und dem unbewussten Schrei
ben ist eigentlich kein Unterschied ; bei dem einen und dem anderen hört die patürliche Function unseres Urtheiles
und unserer Erinnerung auf, die Maschine wird ohne Com pass und Steuer den Winden und Wellen überlassen. In
Zusammenfassung.
281
dem einen und anderen Falle spielen physiologische Ur sachen, Beschäftigung, Erinnerung eine Rolle, in dem einen und dem anderen Falle können Einwirkungen des intelli giblen Subjectes oder auch der intelligiblen Welt diese Bilder bedeutungsvoll machen ; aber es ist und bleibt Sym bolik , selbst im besten Falle, daher denn ein altes Weib, welches die Träume nicht als Realität, sondern als Symbolik
auffasst, entschieden klüger denkt und selbst handelt, wenn es in die Lotterie setzt , als ein Offenbarungs -Spiritist, der Realitäten gegenüber zu stehen glaubt. Diesem Missgriffe ist auch Swedenborg unterlegen ; seine 50 jährige wissen schaftliche Beschäftigung hat ihn nicht retten können, sowie er seine Visionen für Wahrheit und Realität nahm.
Weil einige Visionen sich als richtig erwiesen, so hielt er alles Geoffenbarte für Realität und Wahrheit. — Doch mit diesen Mächten ist kein Bund zu flechten . Ich bin fest
überzeugt, dass das Buch Friese's in 100 Jahren auf dessen
Leser denselben Eindruck machen wird , als die Offen barungen Swedenborgs über die verschiedenen Höllen- und Sternbewohner heute auf Dr. Friese machen oder machen würden .
Solche Kundgebungen können sehr interessant sein, wie es die Dichtung oder Meinung einzelner Menschen auch ist, sie können anregende und ethisch verwerthbare Gedanken erzeugen
.
aber von einer Autorität darf man da weit
weniger sprechen , als im gewöhnlichen Verkehre mit be kannten Persönlichkeiten .
Nach meinen Erfahrungen nimmt die Sache solcher spiritistischer Kreise gewöhnlich folgenden Verlauf: Man gibt sich mit vollem Vertrauen diesen Offenbarungen hin, macht eine Religion en miniature, enthebt sich des eigenen Denkens, vernachlässigt das practische Gebiet ohne einen anderen er beblichen Ersatz. Werden die Widersprüche zu toll , die
gewöhnlich gegebenen Versprechungen zu Wasser, so erkaltet
Zusammenfassung.
282
das Interesse , entsteht das Misstrauen , und es wird dann das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Ich kann nur den
Rath ertheilen, dass sich jeder von der Thatsache überzeuge, auf diesem Wege mitunter schlechten Gedanken zu begegnen, sonst aber höchstens eine Anregung unter strenger Wahrung der Autonomie des Denkens suche.
Es gibt eine intelligible Welt , schon darum , weil eine phänomenale ohne sie nicht existiren könnte ; bemerkbar und fühlbar wird sie manchmal früher, wenn die phänome nale Machinerie (der Leib) aus was immer für einem Grunde
versagt ; grosse Aufregung, Krankheit, Todeskampf sind die gewöhnlicheren Anlässe dazu, doch kann ich es nur als seltene Ausnahme denken, wenn ein intelligibles Wesen phänomenal für uns wird, d. h. auf irgend eine Weise sich in der phä nomenalen Welt bemerkbar machen kann und will! Es mag
für dieses dieselbe Schwierigkeit haben, welche wir überwin den müssen, wenn wir auf den Meeresgrund gelangen wollen, weil es entweder einen Wechsel der physikalischen Verhält nisse involvirt , oder – analog dem Schattenspiele an der Wand
die Strahlen aus der vierten in die dritte Raum
dimension so angelegt werden müssen, dass unser Kephalos kop etwas wahrzunehmen vermöge. Ist der Mensch in Wirk lichkeit nur eine in Zellen oder lebendem Eiweiss dar
gestellte Empfindungs-Maschine eines anderen Wesens, eines Meta-Organismus, so ist es klar, dass der Berührungspunkt beider Wesensreihen die beiderseitige Unvollkommenheit der Art sein muss.
Ein Mensch , dessen Sinne zu den phä
nomenalen Zwecken nicht vollkommen gelungen oder durch Krankheit erschüttert sind, also ein Mensch von geringerer
phänomenaler Befangenheit oder von dem transcendentalen Gebiete zugewandter Geistesrichtung, wird mit jenen Be wohnern der intelligiblen Welt am leichtesten in Berührung oder Wechselwirkung kommen , die wieder durch mehr
Zusammenfassung.
283
materielle Beschaffenheit oder Geisterrichtung der phäno
menalen Welt zugekehrt sind ; der englische spiritistische Ausdruck wäre : „ Medium und Earth - Bound spirit.“ Ein Kant oder Christus wird nach dem Tode zu den Letzteren
ebensowenig gerechnet werden können, als ein in Gesundheit und Reichthum strotzender Aristokrat oder ein begabter
Forscher auf streng phänomenalen Gebiete der Naturwissen schaft vorausgesetzt , dass sie beide gelungen organisirt sind für die Herstellung des phänomenalen Schwindels sich mediumistischer Ausbildung und Beschäftigung hingeben wird. Die phänomenale Welt genügt ihnen, und der blosse
Gedanke, dass sie sich mit Schwindel befassen, wo sie Reali täten vor sich zu haben wähnen, und die Spuren der Reali tät gerade dort liegen , wo sie den Schwindel vermuthen,
erregt ihren Unwillen und ihr Missbehagen. Man darf nicht vergessen , dass es zwar gar nichts in der phänomenalen Welt gibt, nichts geben kann, was nicht in der intelligiblen wurzeln würde, umgekehrt aber es sehr viel in der intelli
giblen Welt gibt, was für uns nicht phänomenal wird . Wir haben nunmehr drei Arten der Einwirkung der intelligiblen Welt auf uns kennen gelernt. 1. Auf unsere Vorstellungen durch Anregung im Traume und im wachen Zustande ; diese Einwirkung dürfte zwar die leichteste sein , aber sie ist uncontrollirbar. Wenn die Anfmerksamkeit eines
Menschen durch irgend etwas angeregt wird, so ist es für denselben schwer zu unterscheiden , ob dies durch einen
Zufall oder eine absichtliche Fügung geschehen ist. Es wird um so schwerer, als wir ja in uns selbst an dem intelli
giblen Subject einen Schutzgeist oder auch Dämon, je nach dem, besitzen. 2. Durch Einflussnahme auf unseren Körper, auf unsere äusseren Sinne oder Muskeln, was schon schwie riger sein muss ; noch eine schwierigere Aufgabe mag die dritte Form für die intelligible Welt sein, auf materielle todte Körper zu wirken , was nur unter ganz besonderen,
Zusammenfassung.
284
noch nicht hinlänglich sichergestellten Bedingungen mög. lich ist.
Ebenso muss man das phänomenale und intelligible Erkenntniss - Vermögen scharf auseinander halten. So wie wir aus der Haltung, den Kleidern , den Gesichtszügen uns ein Urtheil über die phänomenale Bedeutung eines Menschen
bilden, ebenso ist es begreiflich, dass ein intelligibles Wesen gleichsam mit einem Blicke den Werth oder Unwerth des intelligiblen Charakters eines lebenden Menschen übersieht. So wie wir leicht einen Schluss auf die Bestimmung und Beschäftigung eines Menschen machen und einen Aristokraten,
Arbeiter, Kaufmann u. s. w. unterscheiden , und auf den muthmasslichen Verlauf ihres Lebens Schlüsse ziehen werden,
zumal wenn wir sie beschäftigt sehen, eben so durchblickt
ein intelligibles Wesen und mitunter selbst der lebende Mensch den phänomenalen Lebenslauf und Zweck des phäno
menalen Daseins ; daher denn die Vorahnungen des Geschickes! Zahllos sind
die Beispiele
dieser Wechselwirkung
zwischen unserer phänomenalen und intelligiblen Natur und Schillers Worte ( Wallenstein) : ,,Es gibt im Menschen
leben Augenblicke, wo er dem Weltgeist näher steht als sonst und eine Frage frei hat an das Schicksal“, und eine andere Stelle : „ Recht stets behält das Schicksal, denn das Herz in uns ist sein gebieterischer Vollzieher“ haben einen tiefen Sinn. Setzen wir statt des Weltgeistes geringe phäno
menale Befangenheit, Begeisterung, und statt Herz intelli gibles Subject, so entkleiden wir den Gedanken Schillers der poetischen und gemeinverständlichen Sprache, aber er wird durchsichtiger. Der wahre Dichter schöpft seine Ge danken überhaupt mehr aus der intelligiblen Wirklichkeit als aus dem phänomenalen Scheine ; aber man spricht auch von seiner Disposition , Begeisterung, Stimmung und er ist um so weniger geeignet , tiefe Dichtungen zu machen, als er sich mehr der phänomenalen Welt zukehrt. Die behäbige
Zusammenfassung.
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phänomenale Existenz lässt auch keinen brauchbaren Boden satz für das intelligible Subject, sondern nur die mensch lichen Leiden und Arbeiten geben intelligiblen Gewinn und machen transscendentales Capital. Jeder meiner Leser, welcher durch meine Anführungen
zu der Ueberzeugung des Daseins einer intelligiblen Welt und unserer Wesensidentität mit deren Bewohner gelangt ist , wird begreiflicherweise die Frage aufwerfen , wie sich denn der Uebergang vom Tode zum Leben und umgekehrt vollziehe ? Diesem und nur diesem willich eine Antwort, so weit
ich das vermag, geben, doch muss ich etwas weiter ausholen. Die intelligiblen Wesen müssen von einer uns ganz unbegreiflichen Zartheit sein .
Wenn die von Johnston
aufgestellten , von Crookes nicht bezweifelten Rechnungen richtig sind, so hat ein Cubikcentimeter Luft 1000 Trillionen Molekel, welche alle noch überdies aus Atomen bestehen, die die bekannten Schwingungsfäden aussenden ; um wie viel mehr muss nicht ein Mensch , der so viel dichter als die
Luft ist , als ein sehr derber Körper betrachtet werden. Macht nun die Zahl der anwesenden Personen für die Kraft
der phänomenalen Wirkungen bei solchen Sitzungen einen grossen Unterschied , erweist sich das Licht, also die Schwin gung aller dieser Fäden als ein erschwerender Umstand für
die Einwirkung der intelligiblen Welt, habe ich Gegenstände oft von mir unsichtbaren Händen bewegen und ihren Ort verändern gesehen , so kann man daraus nur den Schluss ziehen, dass die intelligiblen Wesen sehr zart und für unsere
physikalischen Verhältnisse nicht organisirt sein müssen. Anderseits ist nicht zu leugnen , dass die intelligiblen
Wesen den unseren ganz identische Organe zu liefern und zu projiciren vermögen ; wir können daher um so sicherer
die Behauptung aufstellen, dass unser bekannter Zellenorga nismus nichts sei , als eine dichtere, und weil aus Zellen
Zusammenfassung.
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dargestellt , empfindungsverschiedene Darstellung des den intelligiblen Wesen eigenthümlichen Metaorganismus. Was heisst also leben ? in unserem irdischen Sinne
Leben
heisst im
Wege von Ausbildung des Organismus in Zellen zu einer
Daseinsweise gelangen , wie wir sie kennen ; es heisst , die das intelligible Subject Welt und sich in einem drei. dimensionalen Kephaloskop betrachten . Hat das seine Richtigkeit, so ist es klar , dass wir
uns nicht plötzlich in die phänomenale Welt hinein. leben , und auch nicht plötzlich aus ihr heraus
treten können ; wir werden eine auf- und absteigende Phase durchzumachen haben. Betrachten wir uns einmal die auf
steigende Phase.
Wir sehen dass das Kind mit einer theilnahmlosen, nur auf die Nahrung und Beseitigung des physischen Schmerzes gerichteten Existenz beginnt ; die Lebenslust nimmt zu, und besondere aussergewöhnliche Leiden abgerechnet , die den Menschen früh reifen , steht der ausgewachsene Mann und die Jungfrau im Zenith der phänomenalen Pefangenheit und Thatkraft. Von dort ab beginnt der Tod. Wenn die Gestalt die jugendlichen Formen verliert, die grauen Haare auftreten ; so beginnt die Lösung des
Metaorganismus von seinem Zellengewande , er vergeistigt sich wieder , und haben unsere physischen Leiden zweifels ohne den Vortheil, diese Operation zu beschleunigen. Aber nicht nur die physischen Leiden , sondern auch die mora lischen und die ganze Lebensweise eines Menschen haben einen entschiedenen Einfluss.
Ich habe als Landbewohner
durch viele Jahre Gelegenheit gehabt, sterbende Bauern
zu sehen, und ist es mir aufgefallen, wie weit leichter diese Menschen das Zeitliche segnen , als die Glücklichen , die ihren Körper und überhaupt ihr ganzes Dasein den phäno menalen Genüssen gewidmet , und die in der Regel an der
Zusammenfassung.
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Zersetzung jener Organe zu Grunde gehen, die sie besonders
in Mitleidenschaft gezogen . Das üppige Leben wird ge wöhnlich theuer bezahlt , während das bescheidene thätige Leben weit mehr an allgemeiner Entkräftung zu Grunde geht. Die natürliche Todesart ist – das Einschlafen ! Es macht sich hier wie überall ein Ausgleich fühlbar. Wir können überhaupt nicht wissen, ob das grössere Maass der Leiden auf der einen Seite nicht eine Ersparniss auf der anderen sei ; wenn man denjenigen glücklich nennt, gesund ist, so ist derjenige noch weit glücklicher , gesund wird ! Licht und Schatten scheinen so gerecht theilt zu sein , dass die ganze Sache nur eine Frage
der der ver der
man kann eine Arbeit schnell oder langsam vollbringen. Der Tod hat demnach nichts Erschreckendes , weil er
Zeit ist
gewiss nichts anderes ist , als das Erwachen zu einem schöneren Leben ; die Schrecken, welche er einflösst, liegen weit mehr in den physischen Leiden und dem dummen Vorurtheile, was deren Prolongation erfordert. Die Traube
am Stocke wird bei guter Qualität und Behandlung trocknen, im entgegengesetzten Falle faulen. Das erstere ist der Tod
der Zukunft, das zweite fast immer der Tod in der Civili sation. Wenn die Menschheit die wirthschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Vorurtheile überwunden haben wird , so werden die Bewohner der Erde jene Beschaffenheit und Lebensweise haben, welche den natürlichen Tod oder Ueber gang nach sich ziehen !
Ich kann meinem Leser nur wünschen , dass er mit
hinlänglichem Gewinn an Evolutionscapital aus der phäno menalen Weltanschauung ausziehe, um einer Wiederholung entbehren zu können ; sollten die Bilder, die an ihm hier vorübergezogen sind , dazu etwas beigetragen haben , so wäre das der schönste Lohn für meine Arbeit.
Zehntes Capitel. Die Vorurtheile der „ Aufgeklärten “ über die Vor urtheile der „Abergläubischen". Der Dreizehnte , Der Aberglaube . Die öffentliche Meinung. Die Alchemisten . Der Kibitz, Tag und Nacht. Der Freitag. Die Astrologen. Die Magier. -
Zufolge des Principes der Theilung der Arbeit müssen wir für die Beschaffung sehr vieler Dinge andere Leute arbeiten lassen. Es kann nicht jeder sich selbst einen Rock machen, sich eine Medicin verschreiben und eine Uhr ver fertigen ; es gibt keinen Menschen , der einen gewöhnlichen Kalender astronomisch zusammen zu stellen , das Papier
zu erzeugen, und den Satz und Druck selbst zu besorgen vermöchte .
Es darf uns daher nicht Wunder pehmen , wenn wir
sehr oft die anderen für uns denken lassen, sobald wir zu faul sind, für uns selbst zu denken oder selbst zu lernen.
Statt Bücher zu lesen, liest man Zeitschriften, das ist weit leichter und bequemer, man lernt die Theorien eines Newton und Darwin aus den Feuilletons der Tagesblätter, etwa aus
dem Conversationslexicon, und statt sich eigene Gedanken zu bilden, liest man die Ansichten anderer. Daher kommt
Vorurtheile der Aufgeklärten aber die der Abergläubischen . 289
es denn, dass selbst unter den Freunden der Philosophie in
der Regel jene Anschauung angenommen wird , welche mit der Universitätsmilch eingezogen wurde ; man denkt die Gedanken eines Hegel , Herbart , Spencer u. 8. W. , und geht mit der „ öffentlichen Meinung“ ; das ist allerdings be quemer als verschiedene Autoren zu lesen und selbst zu denken.
Was ist und wie entsteht die öffentliche Meinung ? Die Macht der öffentlichen Meinung beruht nicht etwa in einer allgemeinen Ueberzeugung über etwas, sondern nur in der Voraussetzung, dass letztere eine allgemeine sei. Denken wir uns die öffentliche Meinung durch die
Buchstaben des Alphabetes dargestellt, wenn auch in jedem Buchstaben schon Millionen zu denken sein würden , der Leser kann sich ja leicht eine unendliche Zahl von Buch staben vorstellen.
A weiss oder glaubt zu wissen , dass B , C , D , E , F bis Z eine bestimmte Ansicht haben ; B glaubt dasselbe von A und den anderen, und so geht es fort bis z, der wieder
die Ueberzeugung hat , dass von A bis Y alle derselben Meinung seien. Die öffentliche Meinung ist daher gar keine wirkliche Uebereinstimmung der Ansichten, son dern nur eine geglaubte, eine voriusgesetzte. Nehmen wir nun an , durch irgend welchen Zufall
werde A veranlasst, selbst zu denken , und er würde dadurch in Gegensatz zu der öffentlichen Meinung gebracht, so müsste er vor Allem so viel Selbstvertrauen haben , der alten und sehr bequemen Gewohnheit entsagen zu können ;
das mag nun vorkommen , aber selten wird A den Muth baben , sich zu seiner gesonderten Ueberzeugung zu be
kennen , und daher wird er zur Fälschung des Gewichtes der öffentlichen Meinung beitragen. Erst langsam verständigt er sich mit B , endlich mit C , und erst dann , wenn die Zahl mächtig genug ist , um ohne Lächerlichkeit als ein Hellenbach, Vorurteile III.
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290 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen.
Abtrünniger erscheinen zu dürfen, verschafft sich eine neue Lehre eine Minoritätsexistenz , bis die lebende Generation abstirbt, und sie dann vielleicht zur herrschenden Ansicht wird, um allerdings wieder einer anderen Platz zu machen. Die Politik hat ihre Schlagworte und Popularitäten, die Wissenschaft hat sie nicht minder ; die Vertreter der
Politik haben sich sehr oft blamirt , die Wissenschaft nicht
minder ; der „ öffentlichen Meinung “ ist es daher vorbehalten , am meisten und häufigsten dupirt zu werden , was auch ganz in der Ordnung ist , weil sie eigentlich keine allge meine oder öffentliche Meinung ist, sondern nur der Glaube,
dass eine solche über einen Gegenstand oder eine Frage bestehe.
Dadurch wird es erklärlich , dass die Halbgebildeten, weil sie in der Regel gewohnt sind , fremde Gedanken zu denken , weit leichter zu Gunsten einer modernen An
sicht compromittirt werden , als ganz Ungebildete , die oft mit einer merkwürdigen Zähigkeit an ihren Ansichten fest
halten. Demzufolge wird die Welt in geistiger Beziehung gewöhnlich in eine „ aufgeklärte“ und eine „ abergläubische“, „ ungebildete“ getheilt. Nebenbei sei bemerkt, dass dem „es kann nicht sein " der Aufgeklärten in der Regel das „ es ist“
der Ungebildeten entgegengestellt wird. Nork und Proudhon haben den Satz ausgesprochen, dass der Aberglaube des Volkes gewöhnlich knapp an ein Naturgesetz streife. Dieser Satz enthält eine grosse Wahr heit, denn der Aberglaube des Volkes ist gewöhnlich durch unverstandene oder missdeutete Erscheinungen , die sich
aber oft wiederholen, veranlasst. Jeder abergläubische Bauer weiss für seine Behauptungen Beispiele , aber sonst auch nichts vorzubringen. So wie die wirklich gebildete Welt aus einer Reihe gleicher Erfahrungen sich Gesetze erschliesst, so bildet sich der Bauer aus einer Anzahl wirklicher oder
erlogener Thatsachen seinen Aberglauben.
Vorurtheile der Aufgeklärten aber die der Abergläubischen. 291
Dieser ist nun allerdings zunächst immer eine Frucht der Tradition, deren Wurzel aber auf zwei ganz verschiedene Erkenntnissquellen zurückgeführt werden kann : 1. die äus sere Erfahrung und 2. das unbewusste Leben, der Instinct,
die Wahrnehmung des Meta -Organismus; denn dass unsere meisten Arzneimittel dieser letzteren Quelle ihren Ursprung verdanken, ist ausser Zweifel. Dioskorides hatte als Militärarzt zu Neros Zeiten Ge legenheit, bei den verschiedenen Völkern die gebräuchlichen
Heilmittel zu sammeln, auch Hypokrates machte eine ähn liche Sammlung , und selbst die Idee der Impfung durch Kuhpocken wurde dem Dr. Jenner, dem vermeintlichen Er
finder, durch die Aeusserung eines jungen Mädchens gegeben . (Siehe Dr. Baron Life of Dr. Jenner 1828.) In Mecklenburg herrschte übrigens schon lange die Volkssage , dass Kuh pocken vor Menschenpocken schützen ( schleswig -holsteinscher Provincialbericht 1815). Der Instinkt führt einzelne Natur menschen , und die wiederholte Erfahrung macht ein Mittel dann zu einem Gemeingute. Spät erst (und mitunter gar nicht) hinkt die Wissenschaft mit ihrer Erklärung nach. Aus was die Chinarinde bestehe ( aus den gewöhnlichen vier Gasarten ), weiss man , warum diese in dieser Zusammen setzung so wirken sollen, weiss man nicht ; wir haben aller
dings die Erfahrung, die aber doch ihren Anfang genommen haben musste.
Da der Abergläubische sich zu einem Tische von 13 Per sonen nicht setzt, so kann er keine Erfahrungen darüber machen , dass von 13 Personen durchaus nicht eine sterben müsse,
und nachdem der Nichtabergläubische das nicht beachtet, so merkt er gar nicht, wenn zufällig einer aus einer Tisch
gesellschaft stirbt. Doch gibt es auch andere herrschende Anschauungen im Volke und es ist schon vorgekommen,
dass die Erfahrung im Rechte gegen das Vorurtheil der „ aufgeklärten “ Welt blieb. Die früheren Capitel setzen uns 19*
292 Vorurtheile der Aufgeklärten aber die der Abergläubischen.
in die Lage, einige abergläubische Ansichten der Massen als ich will nicht sagen im Rechte gegenüber der „ aufge klärten Welt“ zu constatiren , aber doch nicht ohne alle Begründung dastehend zu erkennen .
Die sogenannte gebildete Welt macht in der Regel folgenden falschen Schluss. Man verwirft mit Recht jeden behaupteten Zusammen
hang von Erscheinungen , wo ein causal nexus unmöglich ist. Die „gebildete " Welt nimmt aber sehr oft die Unmög. lichkeit eines causal nexus dort an , wo lediglich eine Un kenntniss desselben besteht. Weil ich den Zusammenhang nicht begreife, darf ich den Schluss noch nicht machen,
dass er überhaupt nicht bestehe ; die Schranken meines Naturerkennens sind noch lange nicht die Schranken der Natur. Es gibt da 4 verschiedene denkbare Standpunkte : 1. Ich kann den Causal-Zusammenhang von Erscheinungen
einsehen ; 2. ich kann ihn zwar nicht bestimmt einsehen, aber ich kann einen denken ; 3. ich kann diesen nicht ein mal mehr denken und doch ist da noch ein weiter Schritt
zu der Behauptung ; 4. er ist unmöglich. In Beispielen aus gedrückt : Die Leistung einer Dampfmühle ist mir durch sichtig, das Verhalten der Magnetnadel ist es nicht mehr ; aber ich habe verschiedene Erklärungsweisen zur Hand ;
die Leistung einer Somnambule mit ihren Fernwirkungen wird in Bezug auf den Causal-Zusammenhang schon schwie riger.
Wenn man aber behauptet , ein Feld gegen Hagel
durch irgend welchen Hocus pocus schützen zu können, so weiss ich, dass da kein Zusammenhang bestehen kann.
Den Zusammenhang von Erscheinungen mit Bestimmt heit erkennen , heisst „ wissen “ ; einen unrichtigen Zusammen hang behaupten heisst „ irren " ; Aberglaube ist nur dort, wo ein unmöglicher Zusammenhang angenommen wird .
In Bezug auf die Zahl 13 ist es klar , dass , wenn 13 alte Leute beisammen sind , die Wahrscheinlichkeit für das
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. 293
Absterben eines Gliedes der Gesellschaft spricht, und dass es ziffermässig bestimmbar ist, bei welchem Alter die Wahr
scheinlichkeit beginnt. Die Zahl 13 kann aber niemals einen Einfluss üben , was nicht hindert , dass Fälle vorgekommen sind, wo aufgeklärte Leute aus der besten Gesellschaft einen
Freund mit dem Wagen schleunigst holen mussten, weil der 14. abgesagt und 13 bei Tisch geblieben wären. Allerdings , wenn sich Jeniand fürchtet , so mag das einen Einfluss auf sein Thun und Lassen üben , und was Einbildung vermag , davon hat wohl jeder meiner Leser schon Proben erlebt.
Die Entstehung dieser Vorurtheile kann ich mir nicht anders erklären, als durch den Umstand, dass die Zahl 12 als etwas Completes gilt, daher der Ausdruck Dutzend fast in allen Sprachen zu finden ist. Die Tonleiter hat 12 Töne in der Octave, sie bricht sich in die Zahlen 7 und 5, was
nahezu dem goldenen Schnitte entspricht. Jesus sammelte 12 Apostel um sich u. s. w., der 13. scheint daher als über füssig. Schade, dass man diese Vorliebe für die Zahl 12
nicht lieber zur Einführung des Duodecimal-Systems benützte, welches alle Vorzüge des Decimal- Systems und noch einige dazu hat , weil die Zahl 12 durch 1 , 2, 3, 4 und 6 theil bar ist.*)
Was nun den Freitag als Unglückstag anbelangt,
so ist dieser Aberglaube eine schreckliche Gedankenlosigkeit. Es ist klar, dass im menschlichen Leben von 7 Tagen nicht einer, sondern mehrere sogenannte Pechtage sein müssten ; auch haben die Kalender . Aenderungen und Schaltjahre *) Nach dem Duodecimal - System müssten für 10 und 11 Zeichen
gemacht werden , und würden dann 10, 20, 30, ... 100 die Bedeutung von 12, 24, 36. ... 144 Einheiten haben , und würde man statt
achtzig , neunzig , hundert etwa zehnzig , eltzig, hundert zählen. Sehr viele unserer mathematischen Formeln müssten allerdings überarbeitet werden, aber es würden sich deren mehr und neue einbürgern.
294 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen.
immer eine Verschiebung der Jahrestage zur Folge. Ein Causal - Zusammenhang ist trotz vieler etwa eintreffender Fälle ganz und gar undenkbar.
Alle diese Vorbedeutungen – sofern sie nicht subjec tive Ahnungen sind – haben keinen Werth. Ein mir sehr
nahestehender verwandter Officier brachte die Sylvesternacht mit seinen Kameraden zu ; um die zwölfte Stunde erhoben
sich alle mit dem Glase in der Hand zu dem Toaste, dass sie das nächste Jahr alle ebenso versammelt sein mögen.
Meinem Verwandten sprang das Glas in der Hand – und er lebt frisch und munter wie zuvor. Angenommen nun , er
wäre verunglückt, angenommen selbst, der Zufall wäre aus geschlossen, so genügt eine geringere phänomenale Befangen heit, um im Augenblicke der Aufregung durch ein intelli gibles Schauen des Subjectes , was als unbewusste Ahnung bei so manchen sich kundgibt, das Glas zu zerdrücken oder fallen zu lassen. Es ist aber allerdings nicht als undenkbar ausgeschlossen , dass irgend cin intelligibler Freund es für gut findet, ein Memento mori zuzurufen . Nur hat in keinem Falle der 31. December etwas damit zu
schaffen , sondern höchstens die Stimmung , in die sich die Abergläubischen versetzen,
Der Zufall spielt oft auf sonderbare Weise mit , um abergläubische Vorurtheile zu nähren. Im Neutraer Comitate stand noch vor einigen Jahren ein altes Schloss , das durch Jahrhunderte der Sitz meiner Familie war. Das Schloss hatte zwei Stockwerke und ver
schiedene Thürme, viele unterirdische Gänge , was allein schon genügte, das Schloss anrüchig zu machen. An dieses alte Gebäude war ein abscheulicher einen Stock hoher gerader
Flügel angebaut, den ich in meiner Jugend als ganz unbe greiflich und überflüssig bezeichnete. Man antwortete mir , dass dieser Flügel vor langer Zeit darum angebaut wurde,
um den Wöchnerinnen als Lagerstätte zu dienen, weil man
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. 295
den Aberglauben hegte , dass die im Schlosse geborenen Kinder männlichen Geschlechtes frühzeitig stürben. Der Leser wird leicht begreifen, dass derartige Miasmen, welche die Kinder in den Windeln tödten , nicht derart localisirt
sein konnten , dass sie in einigen Zimmern sich befinden, in den anstossenden aber nicht ; auch kann man nicht an
nehmen, dass es intelligible Kindesmörder gerade in diesen Räumen geben wird. Mein Vater , wie nicht minder meine Mutter setzten sich über dieses Geschwätz begreiflicherweise hinaus , trotz
des gemauerten Zeugen, der jener Sage sein unerquickliches Dasein verdankte, und meine Mutter bewohnte das Schloss selbst und nicht den Flügel. Nichtsdestoweniger starben meine zwei älteren Brüder in den Windeln ; mein Vater hatte wirthschaftliche Differenzen mit seiner Mutter, die als Witwe das Schloss ebenfalls bewohnte, und zog auf einen
zur Herrschaft gehörigen Meierhof , wo ich geboren wurde. Nach meiner Geburt starb meine Grossmutter, mein Vater
zog wieder auf das Schloss und meine beiden jüngeren Brüder starben
in den Windeln !
Ich bemerke , dass
ich durchaus keiner hinfälligen Race angehöre, und meine beiden Brüder, namentlich die beiden älteren, sehr kräftige
Kinder gewesen sein sollen. Derjenige also , der über den Causal nexus sich keine Rechenschaft zu geben pflegt, dem können sonderbare Zustände leicht einen Aberglauben bei bringen ; wer hingegen vorurtheilsfrei über solche Fälle nach
denkt, wird leicht das Unmögliche von dem Denkbaren unterscheiden und auch beurtheilen können , ob ein Zu
sammenhang der Erscheinungen mit der intelligiblen Natur des Menschen oder mit der intelligiblen Welt – der weit
aus seltenere Fall – denkbar wird. Aber auch ein geringer Grad von physikalischen Kenntnissen führt oft zu Vor urtheilen .
296 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen.
Das Vertrauen zu den diplomisirten Gelehrten macht wieder, dass reelle Thatsachen über Bord geworfen werden, weil die Impotenz der gelehrten Welt an ihrer Erklärung scheitert, und so wandern denn die Vorurtheile der aber
gläubischen Unwissenheit , wie nicht minder die der „ auf geklärten " Gelehrsamkeit gemüthlich nebeneinander. Der Aberglaube hat z. B. die Nacht immer als etwas unheimliches bezeichnet und die vermeintlichen Aeusse
rungen einer vermeintlichen anderen Welt wurden gewöhnlich der Nacht zugeschrieben ; es entsteht nun die Frage , ob zwischen Tag und Nacht ein über die Einbildung hinaus gehender Unterschied bestehe. Eine unbefangene Betrach tung ergibt, dass wirklich aus objektiven Ursachen und auch aus subjectiven Gründen ein Unterschied bestehe.
Was die objectiven Ursachen anbelangt, so hahen wir zu constatiren, dass abgesehen von der grösseren Ruhe, die
zur Nachtzeit herrscht , wir der Wärme und Lichtstrahlen der Sonne, also einer Anzahl ven Schwingungen entbehren, welche anderen denkbaren Schwingungen den Platz räumen.
Nachdem aber alle Erscheinungen in letzter Analyse auf Schwingungen zurückgeführt werden, so kann uns das nicht
Wunder nehmen . Demjenigen , dem das etwa zu mystisch vorkommt, den muss ich ersuchen zwei Raketen zu kaufen und selbe , die eine bei Tag , die andere bei Nacht abzu
brennen , und er wird sich die Ueberzeugung holen , dass man bei der Nacht auch noch andere Dinge als die Ge stirne schauen kann , die bekanntlich bei Tag auch ver schwinden .
Diejenigen meiner Leser, welche meinen zweiten Band
der Vorurtheile kennen, werden wissen , wer Crookes ist, nämlich der erste Experimental-Physiker Englands, der im Gegensatze zur öffentlichen Meinung sich mit den physi kalischen Phänomenen der Spiritisten beschäftigt; dieser sagt
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. 297
nun , dass die Dunkelheit nicht wes ntlich zum Gelingen der Experimente sei, fügt jedoch hinzu : „Es ist eine wohl ermittelte Thatsache, dass, wenn die Kraft schwach ist , ein glänzendes Licht eine störende Einwirkung auf einige der Erscheinungen ausübt. Die im Besitze des Mr. Home be findliche Kraft ist hinreichend stark, um diesem antagonistischen Ein
flusse zu widerstehen ; in Folge dessen widersetzt er sich stets der Dunkelheit bei seinen Sitzungen In der That hat bei ihm, ausgenom
men bei zwei Gelegenheiten, wo wegen einiger besonderer Experimente von mir das Licht ausgeschlossen wurde, Alles, was ich von ihm ge
sehen habe, bei Licht stattgefunden . Ich habe viele Gelegenheiten gehabt, die Wirkung des von verschiedenen Quellen und Farben aus gehenden Lichtes, wie z. B. des Sonnenlichtes, des zerstreuten Tages lichtes, des Mondeslichtes,des Gaslichtes, des Lampenlichtes, des Kerzen
lichtes, des elektrischen Lichtes aus einem luftleeren Cylinder, des homogenen gelben Lichtes u. s w. zu prüfen. Die störenden Strahlen scheinen die am äussersten Rande des Spectrums zu sein . “ Wenn ein Mann und Physiker wie Crookes überhaupt
noch einer Unterstützung in physikalischen Ex, erimenten bedürfte, so würde ich hinzufügen , dass ich mit anderen Medien genau dieselben Erfahrungen gemacht ; es gibt welche , die nur im Finstern , solche , die nur bei Licht
(Slade), und solche, die bei Licht und im Dunkeln sich dazu eignen . Die Erfahrungen mit Eglinton beweisen dasselbe. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen , dass objec tive Ursachen immerhin existiren können und selbst wirk
lich existiren , die einen Unterschied zwischen Tag und Nacht für Wahrnehmungen machen ; doch liegt die
weitaus grössere Hälfte der Gründe auf den subjectiven Einflüssen, die darum durchaus nicht der Einbildungskraft allein zugeschrieben werden dürfen .
Wir haben in den früheren Capiteln gesehen , dass unsere Wahrnehmungen nicht nur von der Art der Ein wirkung , sondern ganz besonders von dem Grade unserer Empfindlichkeit abhängen. Wer wollte nun läugnen , dass bei der Ruhe und Finsterniss der Nacht , also der Ruhe
298 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. zweier Sinne, und zwar der wichtigsten, das innere Seelen
leben oder Wahrnehmungsvermögen nicht gesteigert sei? Es hat ein Baron Reichenbach Versuche mit einer Dunkel
kammer und verschiedenen Personen gemacht, unter welchen sich etliche befanden, die in der Dunkelkammer nach einiger
Zeit Gegenstände leuchten sahen. Diese Behauptung wurde viel bekrittelt und belacht , von vielen aber auch bestätigt. Weil z. B. ich nach zwei Stunden in einer Dunkelkammer
noch immer nichts sah , sondern mich trotz eines zeitweise benützten Harmoniums masslos langweilte, folgt noch immer nicht, dass dies bei anderen Personen ebenso sei. Der Fehler Reichenbachs bestand nur darin , dass er in echter Natur
forscherweise gleich einen Stoff erfand , ihn Od taufte, und mit allen jenen Eigenschaften ausstattete , die er gerade brauchte, Wer noch auf der Newton'schen
Basis eines Licht
äthers steht , und glaubt , dass ein Tisch oder eine Statue einen Stoff ausstrahlen muss , damit ich selbe im Dunkeln wahrnehme, der wird allerdings ein Od erdenken ; wer aber
weiss , dass in Folge der Anziehung der Massen Tisch und Statue unter allen Umständen auf einander wirken und
Vibrationen verursachen oder imaginäre Fäden ausstrecken, und dass es nur von dem Vermögen abhängt , welches ein Schauender hat, um diese in irgend einer Weise wahrzu
nehmen, der wird falls wird er das das ungewöhnlich uns doch mit den
sich weiter darüber nicht wundern, jeden Wunder nicht in den Tisch , sondern in schauende Individuum verlegen. Geht es gewöhnlichen Lichtwirkungen auch nicht
anders. Ein roth scheinendes Tuch ist nur dann ein solches, wenn es vor meinen Augen liegt, mit der Ferse werde ich
die Farbe nicht wahrnehmen, und doch hat sich im Tuche nichts geändert.
Die „ aufgeklärte“ Welt ist daher ganz im Irrthume, wenn sie Tag und Nacht in Bezug auf Wahrnehmungs
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen
299
vermögen gleichstellt oder behauptet , dass man bei Tag mehr wahrnehme, als bei Nacht , und nicht mitunter um
gekehrt; in Bezug auf die Funktionen des Auges sieht man allerdings mehr bei Tag, die anderen bekannten und unbe kannten Wahrnehmungsarten steigern ihre Fähigkeiten bei Nacht. Selbst für das Auge ist das nur relativ ; denn die Rakete macht dieselben Schwingungen bei Tag wie bei Nacht, wofern sie nicht bei Tag durch Schwingungen der Sonne ge hindert wird ; das Auge sieht also bei Nacht auch mitunter,
was bei Tag nicht sichtbar wird. Allerdings gibt das keine Veranlassung, sich etwa zur Nachtzeit zu fürchten , wie das oft vorkommt ; doch kann
Niemand ermessen , welche Empfindungen und Eindrücke zu den angenehmen und unangenehmen bei verschiedenen Personen gehören. Ich kenne einen jungen sehr muthigen Mann , der nur bei Licht einzuschlafen vermag , weil er
im Dunkeln allerlei Wahrnehmungen der verschiedensten Art macht ; es kann eben Niemand aus der eigenen Haut heraus.
Eine nicht minder lächerliche Anmassung der soge
nannten „ aufgeklärten “ Welt ist die summarische Verur theilung der sympathischen Mittel. Wenn die Sonne auf uns wirken soll , als Masse, so
muss auch jeder Bestandtheil derselben auf uns wirken – das haben wir bereits früher erkannt.
Demzufolge wirkt
auch jeder Stein der Erde auf den Mond , also auch der Stein der Erde auf mich ; und er wird um so kräftiger wirken, je grösser er ist und je näher er ist. Die Wirkung, d. h. die wirkende Kraft ist jedenfalls da , nur wird sie z. B. von mir nicht empfunden. Daraus folgt aber keines wegs, dass krankhafte oder sehr fein fühlende Naturen diese Wirkung nicht empfinden sollen. Man kann sich darüber um so weniger wundern , als es thatsächlich Naturen gibt,
bei denen diese Wirkung sich bis zur bewussten Empfindung
300 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen .
steigert. Es kann Niemand behaupten, dass es keinen Unter schied machen würde , ob wir in steinernen, eisernen, glä sernen, hölzernen oder Platin - Häusern wohnen würden : das
wäre jedenfalls erst zu constatiren, und wenn es, wie wahr scheinlich , auf mich auch gar keinen fühlbaren Eindruck machen würde , so folgt durchaus nicht daraus, dass dies für Alle Giltigkeit habe. Es ist selbstverständlich, dass der Einfluss von Pflan
zen, Thieren und Menschen ein noch grösserer sein wird ; ja selbst die Behauptung , dass man den Rothlauf durch einen im Zimmer befindlichen Gimpel zu heilen vermag, der aber dies mit dem Tode bezahle , ist , falls die That sachen es bestätigen sollten , keine unbegreifliche Sache; denn das kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Mensch auf ein im Zimmer befindliches Thier et vice versa wirke.
Ich werde allerdings als Kranker den Gimpel nicht als Arzt oder Arznei nehmen, weil diese Legende — wenigstens für mich – kein Erfahrungssatz ist. Aber es wird mir nicht einfallen , a priori die Unmöglichkeit zu behaupten. Ich bin kein Verfechter der Jäger'schen Theorie in Bezug auf die gerochene oder Riech-Seele , aber etwas Wahres ist denn doch an der Sache. Ein junges Mädchen riecht anders als ein ältere Frau , eine blonde anders als
eine schwarze oder gar rothe ; selbst die Frauen , wenn sie in der Hoffnung sind , und zwar gleich in der ersten Zeit, nehmen manchmal eine andere Ausdünstung an, nainentlich
jene, die in diesem Zustande merklich üppig werden. Dass die Neger anders riechen als die Weissen , ist die Ansicht der Reisenden und auch der Haifische. Dass die Kühe eine
medicinische Wirkung haben, und dass die Kutscher stinken, ist bekannt. Wer kenut nicht den durchdringenden Geruch des Bockes oft auf zwanzig Schritte ? Ich wurde bei dem Tragen eines Dach innen gekehrten Pelzes aus Fellen des weissen sibirischen Wolfes in der ersten Zeit von den
Vorurtheile der Aufgeklärten liber die der Abergläubischen. 301
Hunden aufgenommen , und musste mich gegen grosse Fleischerhunde vertheidigen. Es wäre aber lächerlich , zu glauben, dass die Wirkung erst dort beginne, wo das Rie chen anfängt, und ist es darum lächerlich, die Einwirkung eines Gimpels läugnen zu wollen ; ob diese sich bis zur Heilung einer Krankheit steigere , ist freilich eine andere Frage , die nur durch die Erfahrung gelöst werden kann. Doch muss man sich selbstverständlich hüten, einige Erfolge oder Misserfolge für entscheidend zu halten . Die Naturen sind von einer unglaublich verschiedenen Empfind samkeit.
Bei einem meiner Nachbarn erkrankte ein Ochs
und ein Knecht. Ich erinnere mich nicht mehr , ob die
Unkenntniss der Schrift oder eine Verwechslung in der Apotheke die Veranlassung wurde , dass der Knecht eine grosse Flasche Ochsenmedicin und der Ochs eine kleine Flasche menschlicher Arznei zu sich nahmen – das Resultat
war, dass der Ochs umstand und der Knecht genas ! Eine eigenthümliche Illustration des alten Satzes : Quod lices Jovi non licet bovi!
Der Abergläubige fürchtet den bösen Blick einzelner Menschen , ist aber nicht jede Annäherung eine vermehrte Einwirkung ? Ist der Wille nicht etwa auch eine der Ver
mehrung fähige Kraft ? Alexander Humbold sagt, dass jeder Willensact einer elektrischen Entladung gleich zu setzen sei; gleichviel auf welche Weise eine grosse er kann
oder geringe Energie entwickeln. Haben selbst die soge nannten Aufgeklärten nicht ihre Sympathie und Antipathie ? Wie denn , wenn sich diese auf eine unbewusste Wirkung, Ahnung oder Erfahrung gründen würden ? Ich erlaube mir, einen Aufgeklärten zu fragen , ob er, wenn er in der Gasse von einem fallenden Stück eines Dach
ziegels mehrere Male an derselben Stelle getroffen würde, trotz aller Begründung durch den „ sonderbaren Zufall“ nicht der Stelle ausweichen würde ? Nun genügt schon die
302 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen.
Vermuthung, der Glaube an eine üble oder gute Vorbedeu tung, um die ganze Haltung eines Menschen zu beeinflussen. Das Uebelwollen oder Wohlwollen der Menschen für etwas
ganz Gleichgiltiges besonders in grösserer Nähe zu halten, kann einem denkenden Physiker nicht einfallen. Wohl aber ist der Einfluss in der Regel ein zu geringer , als dass er fühlbar würde. Im zweiten Bande der ,,Vorurtheile “ und noch weit mehr im dritten Bande der Wissenschaftlichen
Abhandlungen Zöllners sind die Leistungen Hansens näher besprochen , die wohl für den Nachweis genügen , dass die Macht des Willens mitunter stärker sein kann, als die „auf
geklärte Welt" glaubt , wenn auch nicht so gross , als es ein dummer Bauer annimmt. Dass Somnambulen bei Annähe .
rung verschiedener Personen verschiedene Empfindungen haben , ist bekannt , wie nicht minder , dass diese Empfin dung sich bis zu furchtbaren Krämpfen zu steigern vermag. Eines der allgemeinsten Vorurtheile , allen wirklichen Spielern wohlbekannt , ist der sogenannte Kibitz , welcher Glück oder Unglück bringen soll. Nun bedarf es wohl keiner weiteren Erläuterung, dass der Kartenfall, zumal wenn Andere die Karten zum Spiel bereiten , ganz unab hängig von den Zusehern ist, Falschspieler ausgeschlossen ; und doch ist und kann wenigstens etwas an der Sache sein.
Ich will das näher besprechen , nicht etwa wegen der Wich tigkeit des Gegenstandes , die er nicht hat , sondern wegen der Art und Weise , wie man solchen Ansichten entgegen zutreten hat .
Die Chancen des Spiels setzen sich aus drei Factoren zusammen : der Werth der Karten, die richtige und schnelle Beurtheilung des Spieles und der richtige Instinct in jenen Fällen , wo die Wahrscheinlichkeit die gleiche ist , daher durch Combination nichts entschieden werden kann.
Der
letzte Factor gewinnt bei solchen Spielen an Bedeutung, wo es etwas anzusagen gibt , wie bei L'hombre und Tarok
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. 303
oder wo vor dem Kaufe Karten beseitigt werden, wie beim Piquet , ganz besonders aber bei Hazardspielen , wo alles auf den sogenannten „ Spurius ", die Inspiration , ankommt. Nehmen wir nun den Fall an , dass durch Zufall ein Spieler in Gegenwart einer bestimmten Person öfter ge wonnen oder verloren hat, und dass er das bemerkt ; wird das keinen Einfluss auf ihn haben ?
Kann man leugnen,
dass die Stimmung auf unser Thun und Lassen keinen
Einfluss habe ? Der Redner im Parlamente, der Schütze im Walde , der Schüler in der Schule , die meisten Menschen können durch die verschiedensten , oft nur zufälligen Um stände befangen werden, ganz gewiss auch der Spieler. Ja noch mehr ! Ein Mensch wirkt auf den andern , er erzeugt
Schwingungen in seinem Nachbar, es muss daher nicht nur
zufällige Erfahrung oder vorgefasste Meinung eine Ein bil dung hervorrufen , sie könnte sogar durch physikalische Gründe motivirt gedacht werden. Dass die Laune in einem innigen Zusammenbange mit dem Gelingen unserer Absichten stehe, ist nicht zu leugnen ; der Redner , der Musiker, der Maler , der Feldherr sind gut oder schlecht disponirt , und es kann diese Disposition von einem verdorbenen Magen ebenso wie von der Gegenwart einer Person herrühren , als
andererseits Gesundheit und sympathische Personen eine gute Stimmung hervorzurufen im Stande sind.
Wenn der Jäger das Begegnen eines alten Weibes als ein übles Zeichen und das Begegnen eines jungen Mädchens als ein gutes Zeichen ansieht, so hat das seine Richtigkeit, wenn ihm der eine Anblick , wie begreiflich , lieber ist als der andere, und ihn in die bessere Stimmung versetzt. Auf der Jagd kommt es eben so sehr auf den richtigen Instinct, als die richtige Intuition an. Nur wer diese Eigenschaften in einem gegebenen Momente besitzt , wird eine gute Jagd
haben. Der gute Muth ist halber Gewinn , und alles, was diesen stört. ist schon ein Hinderniss mebr.
304 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen.
Die aufgeklärte Welt thät wohl , etwas vorsichtiger mit ihrer ,,Aufklärung “ zn sein, und das umsomehr, als sie sich ja so oft blamirt ! Wenn ein unwissender Bauer in
einem Zufalle ein Naturgesetz sieht , oder vielmehr einen nothwendigen Zusammenhang findet, der nicht besteht, so folgt daraus nicht , dass ein nothwendiger Zusammenhang
dort nicht bestehe , wo ihn ein „ Aufgeklärter“ nicht sieht. Was ist Zufall? Ein unverstandener Zusammenhang von Ursache und Wirkung , denn es ist ja Alles nothwendig.
Die Aufgeklärten sind im entschiedenen Rechte, wenn sie Uebernatürliches verwerfen , weil es das nicht gibt, aber es
ist nicht Alles übernatürlich, was die „Aufgeklärten“ nicht verstehen .
Der berüchtigte Paracelsus von Hohenheim sagt : „ Ehe die Welt untergeht , müssen noch viele Künste , die man sonst der Wirkung des Teufels zuschrieb , offenbar werden, und man wird alsdann einsehen , dass die meisten dieser
Wirkungen von natürlichen Kräften abhängen.“ Er huldigte zwar sympathetischen Heilmitteln und Talismanen , doch
that er dies, wie Lessing bemerkt, weil die Erfahrung, nicht weil seine Ueberzeuguug dafür Bürgschaft leistete. Die Transmutation unedler Metalle in edle war das
Streben und die Beschäftigung der Mystiker aller Jahr hunderte, mit Ausnahme des jetzigen, in welchem wenigstens in Europa nichts von alchemistischen Versuchen bekannt
ist. Die Alchemisten gingen von der Voraussetzung aus, dass die Metalle nicht einfache, sondern aus drei Elementen zusammengesetzte Stoffe seien, und glaubten dem einen den Glanz und die Schmelzbarkeit zuschreiben zu müssen (Mer
curius), dem anderen die Härte und dem dritten die Färbung
Was nun die Voraussetzung der Zerlegbarkeit der Metalle anbelangt , so kaun man diesen Gedanken der Alchemisten gerade nicht unberechtigt finden. Erstens ist es
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. 305
auffallend , dass neun Zehntel der Elemente ungefähr den Metallen zukommen , welche Letztere eine auffallende A ehn lichkeit der Eigenschaften haben, wo doch chemische Ein
heiten sehr ungleichartig sein müssten, und bei den nicht metallischen Elementen auch sind ; die Familienähnlichkeit der Metalle ist unverkennbar , sagt Prof. Schmieder , man kann ihnen also etwas gemeinsames zuerkennen . Zweitens
zeichnen sich die mit mehr Berechtigung als Elemente be zeichneten Stoffe durch ihre Flüchtigkeit aus ; das Einfache ist überhaupt schwer darzustellen und zu erhalten, es sucht mit aller Energie die Verbindung die Metalle aber sind
die allerdichtesten Körper, die wir besitzen , aller Wahr scheinlichkeit nach daher nicht einfach. Drittens hat die elektro- chemische Theorie Chemiker bereits veranlasst, die
schweren Metalle für Hydrate zu erklären. Viertens hat die
Spectral-Analyse in einigen Paaren von Metallen ebenfalls eine besondere Verwandtschaft gefunden .
Man sieht, dass die Wissenschaft wie gewöhnlich durch ihre Selbstüberhebung und Denkfaulheit sich eines groben Irrthums schuldig gemacht hat , die Alchemisten zu ver
lachen und die Metalle für einfache, in einander unüber führbare Elemente zu erklären . Statt zu sagen : „ Bis jetzt ist es uns nicht gelungen , die Metalle zu zerlegen ", sagt
sie : „ Ich kann diese Metalle nicht zerlegen , folglich sind sie unzerlegbar.“
Dass wir aus Thonerde Aluminium , aus Zinnober Quecksilber erzeugen können, rechtfertigt die Annahme der Alchemisten , dass es Pulver gebe , aus denen Metalle zu bilden seien.
Geben 16 Theile Schwefel und 100 Theile
Quecksilber ein rothes Pulver, den Zinnober, aus welchem ich das Quecksilber wieder herstellen kann , so kann man es gerade nicht als einen unberechtigen Glauben betrachten ,
wenn die Alchemisten an die Möglichkeit solcher Pulver oder Tincturen dachten, und dem Sulphur eine die Metalle Hellenbach , Vorurtheile. III.
20
306 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen .
färbende Eigenschaft zuschrieben . Können wir thatsächlich Mischungen erzeugen, welche gelb , goldähnlich oder weiss, silberähnlich sind , so ist es offenbar nur eine Frage der Erfahrung, ob und wann sich die eigentlichen wenigen Elemente der Metalle finden lassen werden.
Jeder Gold
arbeiter und Chemiker wird zugestehen , dass das Gold selbst bei gleichem Gehalte und ohne findbare Legirung verschiedene Farbe und Cohäsion hat, was abermals gegen die Einfachbeit spricht.
Die ganze Frage beruht also auf der Entscheidung, ob solche Transmutationen wirklich geschehen sind , ob es solche sogenannte Adepten wirklich gegeben hat.
Verständigen wir uns vorerst über die vermeintlichen
Adepten. Wie in allen Zweigen des Wissens und Erwerbens, hat es begreiflicherweise auf diesem Gebiete Schwindler und Betrüger gegeben , welche den Aberglauben und die Hab
sucht ihrer Zeitgenossen ausbeuteten; von diesen ist nicht die Rede. Von dem Reste jedoch müssen die Vergolder und die Erzeuger gold- und silberähnlicher Mischung von den eigentlichen Transmutatoren unterschieden werden ; selbst diese zerfallen in zwei wesentlich verschiedene Classen,
solche , von denen behauptet wird, dass sie im Besitze der Tinctur waren , und solche , welche sie zu erzeugen ver
mochten, also die wirklichen Adepten, deren nach Professor Schmieders*) Ansicht nur fünf gewesen sein sollen : Setonius, Philaletha, Wagnereck, Laskaris und Sehfeld. So ein gründ licher Kenner der Geschichte der Alchemie Schmieder auch
ist, so geht das aus seinen Schriften nicht hervor ; denn ange nommen, dass sie grössere Massen der Tinctur gehabt oder besser gewirthschaftet hätten , so liesse sich der Umstand ganz gut erklären, dass sie Zeitleibens sich das Renommée Geschichte der Alchemie.
Halle 1832.
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. 307 eines wirklichen Adepten sichern konnten. Die Thatsachen ,
die er anführt, beschränken sich lediglich auf die Projection der Metalle mittelst eines Pulvers , aber nirgends auf die
Fabrication des letzteren*). Doch das ist Nebensache. Es genügte für uns die Sicherstellung, dass aus Blei oder
Quecksilber wirklich Gold erzeugt wurde ; unmöglich ist es gewiss nicht, aber ist es thatsächlich ?
*) Durch irgend Jemand muss nun allerdings ein solches Pulvor oder Verfabren erfunden worden sein, aber es müssen die bezeichneten fünf Adepten darum keine solchen sein. Zöllner wollte bekanntlich mit Hilfe Slades und der vierten Raumdimension die das polarisirte Licht rechtsdrehende Weinsäure in linksdrehende Traubensäure verwandeln :
gesetzt nun , es wäre gelungen , würde das eine immer darzustellende
Manipulation sein ? Wer weiss , ob die molekulare Revolution in den Metallen eine einfache , bewusste , von dein Experimentator voll be. herrschte Aufgabe ist ? Wer in die Natur dieser Individuen , in ihr
Schicksal und in ihre Handlungsweise einen Blick gethan , so weit es das Material zulässt , wird sehr geneigt sein , es zu bezweifeln , und wird sie zu den anormalen Organisationen zählen. Es mag immerhin der Zufall gewollt haben , dass Besitzer oder Erzeuger der Tinctur
jahrelang fruchtlos an deren Wiedererzeugung gearbeitet, aber dieser Act, die Produktion, ist nirgends in der Geschichte der Alchemie als ein sichergestelltes mit Nothwendigkeit eingetretenes Ereigniss zu finden. Dass Hellseher ein in ihrem bewusstlosen Schlafe gegebenes
Versprechen unwidersteblich im bewussten Zustande halten , ohne von dem Versprechen Erinnerung zu haben, dafür babe ich zwei eclatante Fälle ; dass hellsehende Personen mit einer Sicherheit und Sach kenntniss manchmal handeln, die sie im wachen Zustande nicht haben, ist bekannt. Sollten die Unwissenheit und Standhaftigkeit der vermeint lichen Adepten hier ihre Wurzeln haben ? Ich kann diese Frage nicht beantworten.
Ich habe eine Brochure vom Jahre 1707 Joh . El.
Müller über den Stein der Weisen, welcher die Transmutation als eine ganz ausser Zweifel stehende Thatsache zugibt, aber den Nachweis liefert, dass es niemals in der Macht der vermeintlichen Adepten ge
legen, die Tinctur mit Sicherheit zu erzwingen. Entsprechend seinem Zeitalter schreibt er das ausuahmsweise Gelingen der besonderen Gunst Gottes zu und eifert gegen die Misshandlung der Adepten. 20*
308 Vorurtheile der Aufgeklärten aber die der Abergläubischen .
Man kann auf diese Frage nur die Antwort geben : „ Wenn die historischen Data genügen , um die Ermordung Wallensteins in Eger als zweifellos gelten zu lassen , so isi das Factum der Goldprojicirung noch weit besser als historisch richtig erwiesen.“ Der Leser urtheile selbst, wenn
gleich ich nur einen kleinen Bruchtheil, und diesen nur im Auszuge bringe , hinzufügend, dass eine grosse Zahl sehr achtungswerther Männer der Wissenschaft dasselbe aus
sprechen. Ich schicke noch voraus , dass fast alle , welche in den Besitz der Mittel gelangt waren , oder ihren Zeit
genossen diese Meinung beizubringen vermochten, die Eitel keit hatten , sich für Adepten auszugeben , was sie gewöhn lich mit der Folter und manchmal auch mit dem Tode bezahlten .
Von Alexander Setonius , einem Schotten , wird be
richtet, dass er in Holland bei einem gewissen Hansen den 13. März 1602, Nachmittags 4 Uhr, ein Stück Blei in Gold tingirte. Ein Jahr darauf erhielt Johann Wolfgang Dienheim zu Freiburg von demselben Setonius ein Pulver, mittelst welchem er selbst Blei in Gold tingirte , was er selbst um ständlich berichtet. Die nächsten Spuren finden sich in
Strassburg, wo auf ähnliche Weise ein gewisser Güstenhöfer von Setonius beschenkt wurde , der sich aber schon für einen Adepten ausgab , was die Veranlassung wurde , dass Kaiser Rudolph 11. davon Kunde erhielt, und Untersuchung und dessen Festnahme anbefahl. Der Rath von Strassburg
schickte drei seiner Mitglieder, deren Namen ich auch her. schreiben könnte , welche die Sache untersuchten und vor
welchen Güstenhöfer dreimal tingirte, und zwar, indem jeder von ihnen eine Bleikugel mitbrachte , das Pulver erhielt, und den Schmelzprocess selbst besorgte. Auf nochmaligen Befehl des Kaisers wurde er festgenommen , gestand, dass er der Adept nicht sei, kein Pulver mehr habe, doch das half ihm nicht, er wurde festgesetzt.
Vorurtheile der Aufgeklärten aber die der Abergläubischen. 309
Darauf tingirte Setonius in Frankfurt am Main, dann in Köln bei Apothekern und Goldarbeitern, dann in Helm
städt, dann in München, dann in Crossen in Gegenwart des Churfürsten , endlich in Dresden , wo ihn der Churfürst Christian aus Dankbarkeit foltern liess , welche Procedur
er wiederholte, bis ihm die Aerzte erklärten, dass er weitere Foltern nicht mehr zu überstehen vermöchte. Man versuchte
es dann in Güte, doch war aus ihm nichts herauszubringen .
Er bestach seinen Wärter, Sendivogius, mit Hoffnungen, der ihn auch nach Krakau entführte, doch erlag Setonius auf der Fahrt seinen Schmerzen , hinterliess das, was er noch verborgen hatte, diesem , der auch damit tingirte , so
weit es reichte. Alles das findet sich genau detaillirt und mit den Quellen belegt bei Schmieder und vielen Anderen, mit der übereinstimmenden Proportion der tingirten Metalle. Sendivog, der Erbe Setons, tingirte dann vor Kaiser Rudolph, ward eingesperrt , freigelassen, kam zum Herzog Friedrich
von Württemberg, der ihn auch einsperrte und aller Kleider beraubte .
Er wurde endlich freigelassen, und der geistige
Urheber dieses Verfahrens, Müllenfels, im Jahre 1607 ge hängt. Als Sendivog keine Tinctur mehr hatte, wurde er ein Schwindler.
Doch gehen wir weiter. Es liegen Zeugnisse, worunter
Richelieu's, über einen gewissen Dubois vor , welcher vor
jenem tingirte, und als er angab, dass er die Tinctur nicht machen könne, aufgeknüpft wurde. Sollte das der Cardinal gethan haben , wenn er nicht früher überzeugt worden wäre ? In England unter Jacob wurde ein gewisser Buttler
verhaftet, weil man das von ihm erzeugte und verwerthete Gold für falsch hielt und es erwies sich als echt; er entfloh. Wir wollen nunmehr eine ganze Reihe überspringen , weil das Beweismaterial der folgenden Geschichten schlagend ist. Kaiser Ferdinand dem III. wurde von einem gewissen Richthausen ein Gran rothes Pulver im Jahre 1648 über
310 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen .
geben , mit welchem der hierzu berufene Oberbergmeister Graf Russ in Gegenwart des Kaisers tingirte , und zwar
drei Pfund Quecksilber in dritthalb Pfund Gold , welches Verhältniss dem
der Tinctur Helmonts und Philalethas
entsprach. Der Kaiser war so hoch erfreut, dass er den Richthausen zum Freiherren Chaos machte und in Chemnitz anstellte. Er liess eine Goldmünze aus diesem Golde schla
gen , welche die Aufschrift trug : Divina metamorphosis an. MDCXLVIII in praesentia sac. Caes. Majes. Ferdinandi Tertii. Auf der Rückseite steht : Raris haec ut hominibus est ars, ita raro in lucem prodit. Laudetur Deus in aeternum , qui partem suae infinitae potentiae nobis suis abjectissimis
creaturis communicat. Diese Riesen-Medaille hat unter Leopold dem Ersten noch existirt. Im Jahre 1650 wurde in des Kaisers
Gegenwart eine zweite Transmutation durch einen Anderen auf Blei gemacht, und abermals eine Denkmünze geschlagen mit der Aufschrift: Aurea progenies plumbo prognata parente . Der obige Chaos besass noch Tinctur , mit welcher er vor dem Churfürsten von Mainz Johann Philipp projicirte. Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts zeigten sich die
Spuren des Laskaris , welcher eine grosse Zahl Menschen mit Tinctur beschenkte , worunter wahrscheinlich einen ge wissen Caetano , der an vielen Höfen und namentlich in
Berlin oft tingirte ; als er das nicht oft genug machen konnte oder wollte, wurde ihm der Process gemacht und er wurde
gehängt. Was endlich den berühmten Sehfeld anbelangt, so sind dessen Tincturen in und um Wien so sichergestellt gewesen , dass selbst eine Maria Theresia nicht Anstand nahm , dem armen Teufel peinlich sein Geheimniss zu ent reissen, und da er standhaft blieb, ihn nach Temesvar abzu führen. Kaiser Franz erfuhr durch den Festungs-Comman
danten von der Sache , liess in Wien Erhebungen machen, die so schlagend waren , dass er bei seiner Gemahlin durch setzte , Sehfeld in Freiheit zu setzen. Er wurde zwei ganz
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen . 311
verlässlichen Officieren anvertraut, mit denen er durchbrannte. Der Chemiker Heinrich Gottlob Justi hat den Vorgang genau untersucht, und in seinen chemischen Schriften II. Band darüber berichtet. Spuren von Sehfeld sind später
in Amsterdam und ein ganz besonders sichergestellter Fall in Halle zu finden.
Sehfeld beschenkt einen gewissen
Reussing, einen Apotheker, flieht, gewitzigt durch die Wiener Erfahrungen , und die Transmutationen wurden nachträglich auf eine Weise gemacht , dass Schmieder diesen für den
wichtigsten Beweis der Wahrheit der Alchemie erklärt. Alles das ist nur ein kleiner Bruchtheil der histo
rischen Beweise für die geschehene Umwandlung. Ich kann daher die Frage stellen, ob für eine Thatsache, die an sich
nichts Unmögliches hat , sondern vielmehr höchst wahr scheinlich ist (nämlich die Nichteinfachheit der Metalle ), die also einzig allein durch die Erfahrung bestätiget
werden kann , der historische Beweis erbracht sei , oder nicht ? Ich frage, ob er berechtigt ist, sowohl vom wissen schaftlichen als historischen Standpunkte die Transmutation der Metalle für einen Aberglauben zu erklären ? Wären die Machthaber nicht so habsüchtig und ge
wissenlos gewesen , würde die Wissenschaft eine geringere Selbstüberhebung haben , wer weiss, ob die Alchemie wenig stens in diesem Punkte nicht schon gerechtfertigt wäre ? Für die Gesellschaft in ihrer jetzigen Organisation wäre
das allerdings eine grosse Verlegenheit und ist es fast besser, dass die Kenntniss, wie es scheint, verloren gegangen. Wäre es eine ausgemachte Sache, dass die Metalle ein fache Stoffe, wirkliche Elemente seien , dann könnte man
allerdings die Transmutation für eine Unmöglichkeit er klären , sobald dies aber nicht sichergestellt, ja nicht einmal
wahrscheinlich ist , so ist die Kenntniss der Transmutation nur eine Frage der Zeit und des Zufalls. Man müsste
freilich darüber denken und experimentiren, doch das erlaubt
312 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. der wissenschaftliche Nimbus nicht ! Dieser wissenschaftliche
Nimbus geht so weit, dass ein Leibarzt der Maria Theresia einen grossen Theil ähnlicher alter , vielleicht sehr werth voller Schriften verbrennen liess, nicht etwa aus religiösem
Fanatismus wie Omar, sondern nach dem Satze : „ Was ich nicht weiss und begreife, das ist gar nicht ! "
Es ist allerdings jedem gestattet , die Zeugnisse von Tausenden zu verwerfen , wenn sich auch darunter ernste und durch Stellung und Wissen ausgezeichnete Persönlich keiten befinden ; es steht jedem frei, alle gerichtlichen Acte zu verwerfen – ein solcher muss aber dann auf
jeden historischen Beweis und die Giltigkeit der Geschichte überhaupt verzichten .
Man hat sich viel über die Astrologie lustig gemacht und mit Recht; denn es ist wahrlich komisch , welche Zusam menhänge die Astrologen für möglich hielten ; Eines ist aber eine ganz zuverlässige Wahrheit, nämlich der Einfluss der Gestirne. Nur ein Ignorant , der weder den Einfluss des Mondes auf Mondsüchtige (die schon zur Zeit der Griechen
σεληνιακοι oder σεληνιαζομενοι hiessen), noch auf die Ebbe und Fluth , der weder die Entdeckung des Neptuns aus Störungen auf die Bahn des Uranus, noch die Spectralana lyse kennt , kann den Einfluss der Gestirne bis auf uns läugnen. Nur weil die Planeten aus so vielerlei Stoffen be stehen und so weit sind , wissen unsere einfachen Sinne
nichts von den Wirkungen. Bewaffnet mit Instrumenten, die empfindlicher sind als unsere Sinne , können wir sie aber
nachweisen. Wer kann mit Gewissheit sagen, ob feinfühlende, kranke Menschen nicht beeinflusst werden könnten ? Man lese die Geschichte von der Seherin von Prevorst, die
Schriften Perty's, Fichte's, Fechner's und Reichenbach's und man wird genug Beispiele finden , die von einer unglaub lichen Sensibilität zeugen. Und wenn einzelne Fälle auch anfechtbar sind , so ist ihnen allen doch eine Beweiskraft
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. 313 zuzuschreiben , nach der Ansicht selbst des vorsichtigen Kant .
Fourier und Fechner haben den Gestirnen Ein
flüsse zugeschrieben und sie selbst beseelt, was allerdings einer genügenden Begründung entbehrt.
Mein Leser muss nur Eines vor Augen behalten : wenn die Erfahrung wirklich das eine oder andere der sympathe tischen Mittel als richtig bezeichnen würde, so liegt das Aussergewöhnliche nicht auf Seite des Mittels, sondern auf Seite der Empfindlichkeit der Per Son . Denn Alles wirkt, nach allen Richtungen und auf Alles ; aber empfunden wird davon nur ein unendlich kleiner Bruchtheil !
Zu dieser Ueberzeugung muss mein Leser durch den Nachweis der phänomenalen Natur unserer Sinneswahrneh mungen gekommen sein .
Bekannt ist der Brief Göthe's an Schiller , der sich wegen seiner Anwendung der Astrologie in seinem Wallen
stein an ersteren wendete. „ Der astrologische Aberglaube beruht auf dem dunklen Gefühle eines ungeheuren Welt ganzen. Die Erfahrung spricht dafür , dass die nächsten Gestirne einen entschiedenen Einfluss auf Witterung, Vege tationen u. s. w. haben ; man darf nur stufenweise aufwärts steigen und es lässt sich nicht sagen , wo diese Wirkung
aufhöre “ . Ist die Gegenseitigkeit der Gravitation eine Wahrheit, so ist die Fernwirkung eine bewiesene Sache und das ganze Resultat hängt von der Fähigkeit ab , die wir
haben, auf Einwirkungen im Wege der Vorstellung zu rea giren , um etwas davon zu wissen ; dass aber ein weit grösserer Theil der Einwirkungen für uns von Folgen ist,
als derjenige, der in unseren Vorstellungsapparat hinein kann, ist klar.
Es würde gewiss die Mühe lohnen , die verschiedenen im Volke herrschenden Sagen und Maximen zu sammeln, und sie vom objectiven Standpunkt zu analysiren ; ist es
314 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen .
nicht auffallend , dass man die Schattenlosigkeit als ein sicheres Sympton eines übermenschlichen Wesens bezeichnet ?
Natürlich ! Weil es nur in meinem Kopfe, in meiner sub jectiven Vorstellung existirt, und keine objective Realität hat. Auf welche Weise diese Vorstellung hervorgebracht wird, ist allerdings eine andere Frage; denn die Veranlas
sung dazu kann allerdings in die intelligible Welt oder doch Anschauungsweise hineinragen.
Die veranlassende Ursache
kann auch in der vierten Raumdimension ihren Sitz haben,
und dann allerdings in die dreidimensionale einen Schatten werfen, oder für diese ganz unwahrnehmbar sein. Drei Dinge sind es , auf welche der Leser bei Beur theilung derartiger Geschichten immer Rücksicht nehmen
muss : 1. die durch die Gravitation nothwendige Allgegen wart der Atome , 2. die Existenz des Metaorganismus in unseren Zellen, 3. die Phänomenalität unserer Raumanschau ungen und Zeitverhältnisse. Unter Berücksichtigung dieser drei Factoren wird es meinem Leser leicht werden , das
Denkbare von dem Undenkbaren zu unterscheiden ; dass nun dasjenige, was denkbar ist, darum noch nicht wirklich sein muss, ist selbstverständlich .
Wer sich von den Vorurtheilen des gemeinen Ver
standes emancipirt hat, der wird nicht nur richtiger erken nen, sondern auch besser und moralischer handeln, weil er neue und kräftige Motive zur Hingabe an die Culturent wickelung findet. Wenn die Aufgeklärten sich über den dummen Aber
glauben lustig machen , so ist das in so weit erlaubt und zulässig , als die Menschen wirklich für Wirkungen ganz blöde Ursachen annahmen , aber das ganze Material so per
Bausch und Bogen zu verwerfen , geht doch nicht. Das Schauen in den magischen Spiegel oder dunkle glänzende Gegenstände und Flüssigkeiten heisst z. B. heutzutage „Hypnose“ , ohne Anlass war der Aberglaube also nicht;
Vorur theile der Aufgeklärten aber die der Abergläubischen.
315
wenn die alten Geisterbeschwörer Zirkel machten, räucherten
und per turbam veneris Geister beschworen , so sind diese verschiedenen , mitunter hoch komischen Hilfsmittel doch sehr
leicht die Veranlassung gewesen , die phänomenale Befangen heit im Wege der Einbildung, der Dämpfe etc. abzuschwächen, die Einbildungskraft oder die mediumistischen Eigenschaften
zu heben , und dadurch zu den gleichen Resultaten zu kommen , wie man heutzutage ohne diesen Firlefanz auch gelangt. Die englischen Journale veröffentlichen seit Wochen Sitzungsberichte mit einer Miss Esperance , wo an einem Abende 4 bis 5 Erscheinungen mitunter bekannter Persön lichkeiten vor 12 Theilnehmern stattfinden . Die Mystiker lehrten, dass man mit der Leber irgend einer Kröte in der Hand aus Frauen Orakelsprüche herausbringe; nun , wenn ein Hansen mit oder ohne eine solche Leber an ein geeig netes Individuum herantritt , so wird es auch gehen. Ob
diese Orakel etwas werth sind , ist freilich eine andere Frage ! Es wird von den Aufgeklärten als dumm und lächerlich
bezeichnet , die Wirkungen solchen Ursachen zuzuschreiben, wie das zum Theile unsere Väter thaten ; doch ist dann
die Argumentation der „ Aufgeklärten“ : weil wir den Causal - Zusammenhang nicht begreifen , die Ur
sachen nicht kennen , so dürfen die Wirkungen keine Thatsachen sein, noch weit dümmer und lächer
licher. Die guten Herrn haben den Satz des alten Kant vergessen : „man muss nicht Alles glauben , was die Leute sagen , aber auch nicht , dass sie es ohne Grund sagen !" Wie Unrecht die moderne Wissenschaft hat, über die
alten Mystiker vornehm hinwegzugehen, dafür will ich aus Mangel an Raum nur ein einziges Beispiel anführen, und dieses lautet „ Cornelius Agrippa von Nettesheim “ . Es ist nun allerdings richtig, dass man sich des Lachens mitunter kaum erwehren kann , wenn man den damaligen Zustand
316 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen ,
unseres Naturwissens zu Gesicht bekommt , aber wer ist Bürge, dass in abermals 400 Jahren unsere Nachkommen nicht ebenfalls ein Lächeln überkommen wird , wenn sie Schriften der jetzt gefeierten Naturforscher zur Hand nehmen
werden ? Dass aber Agrippa in Bezug auf Objectivität und Gedankentiefe den modernen Naturforschern weit überlegen
war , das mag der Leser selbst prüfen , obgleich ich ihm nur wenige Stellen aus einem einzigen seiner Werke vor: führen kann .
Agrippa hat keine Kenntnisse von dem ,
was wir
Kraftlinien genannt haben , und konnte sie nicht haben : denn die anziehende Kraft der Materie, die Natur der Licht
und Wärmeschwingungen, waren ihm unbekannt. Nichtsdesto weniger kannte er analoge Wirkungen und schob sie einfach auf die Luft als eines der Elemente , von welcher er sagt, „ dass sie die Gestalten aller sowohl natürlicher als künst
licher Gegenstände, sowohl die Laute jeglicher Rede, wie ein göttlicher Spiegel aufnehme, dieselben festhalte und mit sich führe. Indem sie in die Körper der Menschen und Thiere durch die Poren eindringt, drückt sie diese Bilder im schlafenden und wachenden Zustande ein, und gibt Anlass zu verschiedenen wunderbaren Träumen , Ahnungen und
Weissagungen. Daraus lässt sich erklären, warum Manche
beim Vorübergehen an Stellen, wo Menschen getödtet oder beerdigt wurden ,, von einer plötzlichen Angst und Beklem mung befallen werden “. Er constatirt, dass „je nach Fähig keit des Aufnehmenden“ „ der Eindruck “ zu den Sinnen des Einen klarer als zu den des Anderen " gelange.
Dass
ferner ohne die „Vermittelung eines Geistigen “ ein Mensch auf den Anderen in der Entfernung nicht wirken könne ; dass er aber dies – wie auch Tritheim
öfter mit Er
folg gethan. „ Et ego id facere novi et saepius feci. pag. 20 . Der Hypnotismus war Agrippa längst bekannt, indem er verschiedene glänzende Gegenstände zu diesem Zwecke
Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. 317
als geeignet anführt (6. Cap.) , auch ein Glas Wasser , was schon die Perser wussten. An der Existenz der Meteorsteine
zweifelte er nicht, wie noch im Anfange dieses Jahrhunderts die französische Akademie der Wissenschaften , er glaubte
auch nicht , dass sie die Keime transportiren , sondern er meint , dass der „ lapis fulminis“ ein Product des Feuers sei.
Dass die „ Formen “ das Product geheimnissvoller
Kräfte seien, spricht er im 10. Capitel aus ; er ist bescheiden genug , um einzugestehen , von ihnen nichts zu wissen ; ja selbst die Umwandlung der Speisen im Magen betrachtet er als einen unaufgeklärten Vorgang, da die blosse Wärme nicht ausreicht, „ es müssten sich ja sonst die Speisen am Herde“ auch in Säfte u. s. w. verwandeln.
Wie nüchtern klingt
diese Sprache im Vergleich zur vermeintlichen Allwissenheit unserer Naturforscher, die gar nicht bemerken, dass sie von dem Allen auch nichts wissen .
Der im dritten Bande der Vorurtheile durchgeführte
Gedanke, dass wir nur phänomenale Erscheinungen anderer Wesenheiten seien , war Agrippa ganz geläufig ; er sagt im 11. Capitel, dass die Platoniker alle Gegenstände omnia inferiora der Welt für Abbilder höherer Ideen - ideata a superioribus ideis - gehalten “, und schliesst sich dieser Ansicht
man möchte fast sagen im Sinne der vierten
an , indem er hervorhebt, dass „jede Art der Naturgegenstände die ihr entsprechende himmlische Figur hat“ , er sagt (pag. 52) , dass die Akademiker in Uebereinstimmung mit Hermes Trismegistus, dem Brah minen Jarchas und den hebräischen Kabalisten bebaupten, dass Alles, was in der „ sublunaren " Welt der Erzeugung Raumdimension
und Verwesung unterworfen sei , sich auch in der himm lischen Welt befinde , nur auf eine andere Weise „modo quodam coelesti“ . Ich frage nun, wer dachte richtiger, die
318 Vorurtheile der Aufgeklärten über die der Abergläubischen. alten Mystiker, oder die „ aufgeklärten “ Anhänger des Gottes ,,Kraft und Stoff“ ?
Das 64. Capitel ist allen Magnetiseuren anzuempfehlen, und zeigen sich deutlich die Spuren des Meta - Organismus in den Gedanken Agrippas ; wie sich der Mensch durch die Willenskraft mit seiner Phantasie an andere Orte versetzen
könne, und wie ein Priester nach Celsus sich wann immer in einen bewusstlosen Zustand versetzen konnte, in welchem
er keinen Schmerz empfand , und doch Stimmen , wie aus weiter Ferne, hörte u. s. w.
Was hingegen den gräulichen Unsinn über die Wirkung
so verschiedener Mittel, die Agrippa anführt, anbelangt, so muss man erwägen , dass er sich in der Regel darauf be schränkt, gehörte oder gelesene Thatsachen anzuführen , nicht
aber etwa gewöhnliches Gewäsche der Leute , sondern Aeusserungen eines Pythagoras , Ovid , Virgil , Homer und Cicero ; dass er an mehreren Stellen ausdrücklich hervorhebt, dass da nicht die Vernunft, sondern nur die Erfahrung entscheiden könne, und dass er im 67. Capitel ausdrücklich
hervorhebt , dass der Wille und die Aufmerksamkeit der
Seele auf einen gewissen Gegenstand gerichtet sein müsse, wenn sie ibre magische Kraft äussern soll ; er sagt wörtlich :
,,Darin liegt der Grund der Wirkung der Charaktere , der Bilder, Zauberformeln , magischen Worte u. s. w ." Der Leser kann aus diesen ganz kurzen Andeutungen
aus der „ Philosophia oculta “ entnehmen, dass, so überlegen die Herren Naturforscher der Gegenwart den Mystikern des Mittelalters an Wissen begreiflicher Weise auch sind, sie in Bezug auf Objectivität und Tiefe der Gedanken einem Agrippa weit nachstehen. Die Geschichte wird das 19. Jahr hundert das des industriellen und technischen Aufschwunges,
aber auch das der naturwissenschaftlichen Ueberhebung und Gedankenlosigkeit nennen.
Elftes Capitel.
Der praktische Werth der vorurtheilsfreien Welt anschauung. Die Männer der Wissenschaft.
Der Verfall Die Blauen.
der Civilisation.
1. Der wissenschaftliche Club in Wien.
Hellenbach wünscht Bundesgenossen für seine Ideen zu finden . Für viele derselben wird es ihm gelingen , obwobl er sich immer mit dem multum , anstatt mit den multis wird zufrieden geben
müssen. Für den ersten Theil verspreche ich ihm solche auch aus unserem Kreise ; für den zweiten Theil hingegen kaum einen.
Warum in die Ferne schweifen, sieh, so Vieles liegt noch nahe, was erst unvollständig gekannt ist, einer gründlicheren Erforschung
bedarf und aus dessen besserem Verständniss grösserer materieller wie intellectueller wie ethischer Nutzen erwachsen muss ! Es ist einmal eine Zeitverkennung , ausserdem aber geradezu eine Zeit verschwendung, sich in das Gebiet metaphysischer, transcendentaler
Speculation zu erheben , eine vierte Raumdimension auszuklügeln , die Identität der projicirenden Kräfte innerhalb und ausserhalb des Zellenorganismus nachweisen zu wollen, eine Palingenesis als unvermeidliches Postultat der Entwickelungstheorie hinzustellen u. dergl. m . Für die moderne Wissenschaft gibt es nur eine sicht
bare Welt ; wo Träume von einem Jenseits, von einer immateriellen Existenz , von höheren Wesensreihen sich für Ergebnisse wissen schaftlicher Forschung ausgeben, da wendet sie ihnen den Rücken,
auf die Gefahr hin, sich den Vorwurf der Beschränktheit und Eng
320 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. herzigkeit zuzuziehen. Hellenbach scheint zu fühlen, dass er besser
gethan hätte , den Leser nicht , wie er ihm versprochen, aus der hungernden Arbeiterfamilie in schwingende Regionen zu führen . Ihm selbst wurde da schwindlig zu Muthe und er fordert darum auf , den Gedanken wieder zurück auf das dringende Bedürfniss der socialen Abhilfe zu lenken .“
So zu lesen in den Monatsblättern des wissenschaft lichen Clubs in Wien vom 15. Februar. Natürlich , was
sollen solche „ spiritistische Phantastereien “ eines Menschen , der sich „ von dem Vorurtheile , an ein angeblich in jedes Menschen Brust ruhendes Religionsbedürfniss zu glauben, das er für ein Privilegium der Menschheit hält, frei zu machen " nicht vermag !
Dieses Gutachten des wissenschaftlichen Clubs , oder vielmehr seines Organes, kam gerade zur rechten Zeit, um
daran einen praktischen Beleg für die Nothwendigkeit des Beweises zu haben , wie wenig „ Phantastisches“ und wie viel „ Ethisches und Praktisches “ in diesen metaphysischen Grübeleien liegt, und wie nothwendig sie sind. Ich entschloss mich daher, diese ansonst ganz wohlwollende Recension aus
zugsweise à tête dieses Capitels zu setzen, hinzufügend, dass ich es hier nicht mit dem Recensenten, sondern dem wissen schaftlichen Club zu thun habe. Amicus personae, inimicus causae !
Was das Religionsbedürfniss anbelangt , so ist damit gewiss keine der herrschenden Religionen von mir je ge meint worden, ich konnte unmöglich darunter etwas Anderes verstehen, als das metaphysische Bedürfniss, der Welt irgend welche Unterlage zu geben. Wenn man sagt, die Menschheit habe Ohren um zu hören, und Augen um zu sehen, so wird das Niemand deshalb beanstanden und etwa wörtlich neh
men, weil es Blinde und Taube gibt ; es ist mir daher nicht beigefallen, dass ausnahmslos Alle ein metaphysisches Be dürfniss haben ; im Gegentheile, ich hätte zweifelsohne ge wettet, dass im wissenschaftlichen Club nur eine Minorität
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 321
dazu zählt. Ein „ Privilegium der Menschheit" aber ist es doch , denn das intelligenteste Thier, der Elephant, hat zuverlässig kein metaphysisches Bedürfniss und lebt
nur in der phänomenalen Welt. Das Thier gibt sich dieser ganz hin, und darum ist es eben ein Privilegium der Mensch heit, sich über Essen , Trinken und etwaige Kunstgenüsse hinaus noch um etwas zu kümmern. Wenn die Beschaffung unserer Bedürfnisse auch durch die complicirtesten Maschi nen auf die höchste Stufe der Vollkommenheit gebracht würde, so geht die Arbeit der Naturwissenschaft doch nur
auf die Befriedigung unserer materiellen Bedürfnisse aus, falls sie die Brücken zerstört, welche unsere Gedanken ins
transscendentale Gebiet führen . Die Mitglieder des wissen schaftlichen Clubs beschäftigen sich insbesondere mit der phänomenalen Welt und deren Gesetzmässigkeit, was um so nothwendiger ist, als wir der gründlichen Erkenntniss dieser Gesetzmässigkeit nicht nur unser materielles Wohl, sondern auch die Unterlagen zu weiteren Speculationen verdanken.
Es hat daher nichts Ueberraschendes, dass dort die phäno menale Welt leichter genügt, als anderswo. Ich werde es mir nun angelegen sein lassen , den Be
weis zu erbringen , dass die im ersten Bande der Vorur theile enthaltenen Ideen, welche, wie es scheint, die Appro bation des wissenschaftlichen Clubs mehr oder weniger haben, gar nie zu einem praktischen Resultat ohne das Ver ständniss des zweiten und dritten führen werden und können ; und so sehr es mich als Menschenfreund freut und als Autor
befriedigt, wenn intelligente Männer mit einigen Vorschlägen sich einverstanden erklären, so bleibt die Anerkennung doch
nur eine platonische und unfruchtbare, wenn der phänome nale Egoismus nicht ausgerodet wird. Der wichtigste und weittragendste Vorschlag , den ich im ersten Bande gemacht habe, ist zweifelsohne die Bildung
des Collectivvermögens durch Heranziehung der Kinderlosen ; Hellenbach , Vorurtheile III.
21
322 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. denn es ist klar , dass das Verhältniss des Collectivvermö gens zum individuellen auch der Ausdruck des Wohles und
der Cultur eines Staates ist. Ohne eine Aenderung in den Eigenthumsverhältnissen sind alle anderen Massregeln nur Linderungsmittel, aber keine Heilmittel ; während umgekehrt die Erhöhung der Lebenshaltung und die garantirte Auf zucht der nächsten Generation alle anderen Uebel mit
Leichtigkeit beseitigt. Ich stehe mit einigen sehr bedeuten den Männern in einem brieflichen Verkehre, wie mehr oder
weniger jeder Schriftsteller, und deren Urtheil wiegt für mich schwerer als das der Fachblätter oder gar Tages blätter. Alle haben dieser Massregel die Bedeutung zuge sprochen, die ich ihr gegeben, nämlich, dass sie das einzige und zuverlässige Mittel sei', einer socialen Umwälzung und periodischen Rückbildung zu entgehen. So lange die communistisch - nihilistische Bewegung einzig in den Händen des Proletariates liegt, ist sie nicht zu fürchten ; sobald sie aber in den gebildeten Kreisen An klang und Uaterstützung findet, so wird sie gefährlich. Das muss sie aber finden , wenn die Staaten bei dem alten Schlendrian verbleiben und die Hände in den Schooss legen.
Eine solche Massregel wie ich sie vorgeschlagen, würde alle besseren Elemente der socialistischen Partei nach und nach
entreissen, also noch vor greifbaren Resultaten schon einen
beruhigenden Eindruck machen. Die nähere Motivirung findet der Leser im ersten Bande. Daraus geht hervor,
dass diese Idee des Collectiveigenthums neben dem indivi duellen , eine eminent conservative Massregel wäre, indem sie thatsächlich jeden Proletarier zum Eigenthümer macht und ihn für Ruhe und materielle Entwickelung ge winnt.
Es hat dieser Gedanke auch thatsächlich einige dem Freimaurer-Orden angehörige Männer, welche ihr Herz noch zu etwas Anderem verwenden können, als zum Blut pumpen ,
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Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 323
veranlasst, einen derartigen Vorschlag in einer Versamm lung zu machen – sie blieben in der Minorität, weil der phänomenale Egoismus auch im Freimaurer-Orden die Ma jorität hat! Man hat mir in einem Freimaurer- Blatt den Vorwurf
gemacht, die Freimaurerei für eine Spielerei zu halten; nun ich behaupte nicht, dass sie es immer war , oder sein wird, aber gegenwärtig glaube ich im Rechte zu sein. Eine Gelegenheit zu einer grossen That hat der Orden versäumt; denn es handelt sich um nichts Anderes, als den Gedanken modern zu machen, ein Kinderloser habe Pflichten gegen die Menschheit , dass die Schaffung eines Collec tivvermögens ein Sicherheitsventil sei , das mit der Zeit
eine ganz andere Generation und ganz andere Zustände hervorrufen müsse, ist unschwer einzusehen .
Noch ein Beispiel. Es haben sich Männer gefunden , welche in einem
europäischen Staate eine Eingabe zur Stiftung eines Ver eines oder Ordens ad hoc machten. Der Entwurf war kein
glücklicher; da aber in der Eingabe ausdrücklich betont wurde , dass man zu jeder Aenderung in der Form bereit sei, so war das ganz gleichgiltig. Was that der Staat oder vielmehr dessen Organ ? Er wies die Eingabe als staats gefährlich zurück! Wenn ich also keine Kinder babe , und einen Theil meines Vermögens irgend einem humanitären Zwecke opfere
und ein bleibendes Eigenthum den Armen zuwende , so ist dies staatsgefährlich
Das Organ des wissenschaftlichen Clubs wird mir also zugeben müssen , dass die nach der Ansicht sehr compe tenter Köpfe wichtigste und folgenschwerste Idee des ersten Bandes eine praktische zu werden nicht vermag , und zwar
darum nicht, weil der phänomenale Egoismus der 21 *
324 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
zeit noch zu gross ist. Ich werde das durch weitere
Beispiele erhärten . Es kann die Mitglieder des wissenschaftlichen Clubs Niemand hindern , sich selbst und untereinander das Ver sprechen zu geben , im Falle ihres kinderlosen Ablebens
einen Theil ihres Vermögens zu gemeinnützigen Zwecken bleibend zu verwenden. Um aus dem Rahmen der Statuten nicht hinaus zu gehen, wollen wir Stipendien für arme Stu dirende der technischen Abtheilung voraussetzen ; denn meiner
Anschauung nach sollen Mittellose sich keinen Studien hin
geben, die für unproductive Zwecke ausbilden, weil die Gesell schaft Gefahr läuft sie erhalten zu müssen. Diese Art Prole
tariat ist seit jeher die gefährlichste gewesen. Wenn nun diese moralische Verpflichtung zu einer still schweigenden Bedingung der Aufnahme oder Theilnahme
gemacht würde, so bin ich im Voraus überzeugt, dass jeder dahin gehende Vorschlag in der Minorität bliebe ; und zwar fast mit grösserem Rechte , als in einer Freimaurerloge, denn diese will ja humanitäre , der Club nur wissenschaft liche Zwecke verfolgen.
Es existirt in Wien kein Spiritistenclub oder Verein, wenigstens meines Wissens ; auch stehe ich bei den Spiri tisten nicht in Gnaden , da ich den Werth der Offenba rungen bestreite und die Gottheit jenseits jedes menschlichen Denkens und Gebahrens versetze; wenn aber ein solcher Verein existiren würde , und Jemand einen gut motivirten
derartigen Antrag stellte , ich wäre bereit zu wetten , dass
die Majorität den Vorschlag mit Acclamation annehmen würde. Warum ?
Weil der phänomenale Egoismus zurückgedrängt ist, und ein transscendentaler sich bereits eingeschlichen hat. Das Herz hat sich erweitert und den engen Gesichtskreis der phänomenalen Welt, wenigstens in solchen Versammlungen , stante sessione, verloren.
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 325
Das Organ des wissenschaftlichen Clubs kann überzeugt sein , dass gerade der erste Band insolange eine „ Phan tasterei“ bleibt, bis der zweite und dritte nicht begriffen
ist, aber nicht umgekehrt. So lange ich den phänomenalen Egoismus nicht auszutreiben im Stande bin, hilft es nichts,
von durchgreifenden humanitären Massregeln zu reden. Wäre ich von dieser Wahrheit nicht überzeugt, so wäre es mir wahrlich nie eingefallen, die Feder diesbezüglich zu er greifen. Denn mit philosophischen oder spiritistischen Schriften ist weder Geld zu verdienen , noch ein Triumph zu feiern ;
es muss einen höheren Zweck haben, wenn man sich, seine Zeit und Mittel dieser Richtung opfert.
Das Organ des wissenschaftlichen Clubs wird , ich be zweifle es nicht, für die Culturentwicklung immer eintreten, nur dass er nichts helfen wird, so lange die Sache akademisch bleibt: praktisch kann die Hingabe an die Culturentwicke lung nur werden, wenn ich ein ausgibiges Motiv zur Ver fügung habe, um dem Moloch des Egoismus im Parlamente, in der Presse, im Geschäftsleben und im Privatverkehre zu
steuern. Dieses kann ich aber nur erreichen, wenn ich der Welt den Beweis liefere, dass es noch andere Entwickelungs
werthe giebt, als grosse Gewinne und Gehalte. Bei mir ist die „ Phantasterei“ nicht zu Hause , wohl aber im wissen schaftlichen Club, wenn er glaubt, dass unser ganzes Wohl und Wehe in der phänomenalen Welt liege , die doch nur ein Phantom ist , das die Wissenschaftler für Realität halten .
Es ist das allerdings nicht Sache der wissenschaftlichen Kreise, sondern der Philosophen , über die Phänomenalität
der Welt hinaus nachzudenken, aber sie sollten fein beschei den den Philosophen ihre Arbeit ebenso lassen , als die Philosophen der Wissenschaft die Construction der Brücken und Sternwarten ruhig anvertrauen , und sich dazu für in competent erklären .
326 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
Ihr Männer des Wissens habt das Verdienst , die reli giösen Vorurtheile gebrochen und eine bessere materielle Existenz durch Benützung der Naturkräfte angebahnt zu haben ; ich bin gewiss der Letzte , der dieses grosse Verdienst nicht anerkennen würde. Was aber das
Denken anbelangt, so habt ihr die Vorurtheile des gemei nen Verstandes noch nicht überwunden und steht noch heute
nicht - mit wenigen Ausnahmen - auf dem Standpunkte
eines Plato und Heraklit, die schon vor 2000 Jahren unsere
Sinne als Lügenschmiede und den Schwindel der phänome nalen Welt erkannten , die ja gar nicht vorhanden sein könnte, wenn ihr eine intelligible nicht zu Grunde läge. Alles das, wofür Wilhelm Weber , Friedrich Zöllner und meine Wenigkeit einstehen , ist also nur eine Bestätigung einer an sich ohnehin nothwendigen Sache und längst er
kannten Wahrheit, und es steht Euch sehr schlecht, nichts anderes erwidern zu können , als Weber sei ein alters
schwacher Greis , Zöllner verrückt und ich ein Phantast. Zeigt die Fehler in der Beobachtung und in den Schlüssen, kämpft mit Waffen des Wissens oder Denkens , aber hütet Euch vor der vornehmen Ablehnung ! Die Anwesenheit Hansens in Wien hat mit Aus nahme eines Artikels in der „ Heimat“ und des Vortrages
Professor Benedikt's eben kein glänzendes Licht auf die Selbstständigkeit des Denkens der wissenschaftlichen Kreise Wiens geworfen. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass die Männer der Wissenschaft nachträglich das im Wege der Be
obachtung bestätigen , was das philosophische Denken viel früher producirte ; in wie hohem Grade das bei Kant der Fall war , ist meinen Lesern bekannt , weniger dürfte dies mit Descartes und Leibniz der Fall sein , welche
200 Jahre vor Mayer das Gesetz der Erhaltung der Kraft klar und deutlich ausgesprochen .
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 327 Das Organ des wissenschaftlichen Clubs hat mir mit
Unrecht zugeschrieben , dass ich die „ Träume von einem Jenseits und von höheren Wesensreihen “ für „ Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung" ausgegeben. Ich verwahre mich feierlichst dagegen , ein wissensı haftlicher Forscher zu sein ; das bin ich nicht. Wer es dahin bringen will, weder von einem Zoologen, noch Chemiker, noch Astronomen sich ein X für ein U setzen zu lassen ; wer vor dem Ausspruche eines Mannes der Wissenschaft nicht einfach in ein „ pro sternimur credentes ausbrechen, sondern die Grenzen seines Wisseps kennen will, hat keine Zeit, wissenschaftlichen For
schungen nachzugehen. Ich suche mir einfach Ursachen und Gründe zu erklären, wenn ich Folgen und Wirkungen sehe und bemühe mich , einen vernünftigen Zusammenhang des Weltgetriebes zu finden, aber ich beschäftige mich durchaus nicht mit dem Detail der phänomenalen Gesetzmässigkeit, bin also , wenn ich schon durchaus etwas sein muss , eher
Philosoph als wissenschaftlicher Naturforscher. Es sind die im zweiten Bande behandelten Fragen kein Product wissen schaftlicher Forschung, sondern der gewöhnlichen Erfahrung und Speculation , welche nur mit den Resultaten wissen schaftlicher Forschung in Einklang gebracht werden. Solche Dinge wurden allerdings von den Philosophen
längst geträumt und von der Erfahrung bestätigt ; die Wissenschaft kann , wenn sie will , deren Verwerthung be
sorgen . Zöllner hat die transscendente Unterlage weder allein erdacht, noch die diesbezüglichen Erfahrungen allein
oder als Erster gemacht. Er ist nur der Erste, welcher sie wissenschaftlich zu verwerthen sucht, während ich sie phi losophisch zu verwerthen suche. Die Männer der Wissenschaft scheinen das „ Wissen "
und „ Denken “ nicht recht auseinander halten zu können. Dass die phänomenale Welt nicht ohne eine intelligible, die menschliche Erscheinung nicht ohne ein intelligibles Subject
328 Der praktische Werth d . vorurtheilsfreien Weltanschauung.
existiren können , sind z. B. von Kant erdachte Sätze, für deren Richtigkeit das wissenschaftliche Exequatur ganz
überflüssig ist. Es würde uns zu weit führen, den Beweis zu liefern , dass alles wahrhaft Grosse nicht durch den Fleiss des Wissens , sondern durch die Macht und Schärfe des
Denkens geschaffen wurde ; ich begnüge mich mit dem einen Beispiele Newton's. Es sind viele Aepfel vom Baume ge fallen , und doch hat nur Newton daran seine grossen Ge
danken geknüpft. Sein Wissen führte ihn nur zur Unter suchung , ob sein Gedanke richtig war , und war sein ganzes Wissen überflüssig für die Frage : „ Warum fällt der Apfel immer so und nicht anders auf der Erde genannten Kugel? "
Der Ton aller aus wissenschaftlichen Kreisen stammen den Recensionen ist gleich allen anderen in so vornehmem
Tone gehalten, dass ich meinen zukünftigen Herren Recen senten ein aufrichtiges Geständniss in loyaler Weise machen will.
So wie einst die kirchliche Hierarchie durch Nimbus
den Verstand des Menschen zu narkotisiren vermochte , so
thut es heute die Wissenschaft und öffentliche Meinung. -Doch gab es damals und gibt es jetzt Naturen, welche sich durch den Nimbus nicht narkotisiren und durch das Ana .
thema auch nicht schrecken lassen. Argumente sind hingegen
die Tinctur, welche eine Transmutation meiner Anschauun gen sehr leicht bewirken ; um diese werde ich bitten.
Die Situation ist für die Zunftgelehrten allerdings sehr fatal. Jeder Unbefangene dürfte die Ansicht haben und würde den Rath geben , dass das Einfachste die Prüfung dieser Thatsachen wäre .
Das ist aber nicht so einfach.
Die Erfahrung hat gezeigt , dass Alle , die eine solche Prüfung vornahmen, d. h. mehrere Proben machten, gefan gen wurden.
So Hare, Wallace, Crookes , die dialektische
Gesellschaft, so Zöllner, Weber, Fechner. Würden sie sich
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 329
überzeugen , wie die obigen , und würden sie es bestätigen, nun so würden sie auch das Loos derselben theilen, nämlich den wissenschaftlichen Nimbus bei ihren Fachcollegen ver lieren. Dieses Loos vertragen aber nur Menschen, die eige nes Licht haben, und nicht vom fremden, erborgten leben. Die meisten Männer der Wissenschaft haben ja diesen ihren
ganzen Nimbus lediglich dadurch , dass sie irgend ein Mit glied irgend eines wissenschaftlichen Vereines sind, und im günstigsten Falle irgend einen zusammengestoppelten Vor trag herunter lesen.
Solche Kempen können der wissen
schaftlichen Beleuchtung und Zunftberechtigung nicht ent behren, weil sie sonst zu Folge ihrer Concurrenz - Unfähig keit verschwinden .
Der Schein übt eine grosse Macht auf die Menschen. Es gibt in jeder Grossstadt Individuen , die so gern in die sogenannte gute Gesellschaft kommen möchten , und weil
ihnen eigentlich die Bedingungen dazu fehlen, ausserordent lich viel auf das Aeussere legen, den Umgang mit der vor nehmen Welt suchen und ihre besten Freunde dann kaum
kennen ; das sind die Menschen , die kein eigenes Licht haben.
Die Geldmächte arbeiten weit lieber mit fremdem
als eigenem Gelde, daher sind sie ausserordentlich empfind lich für den Klang der Firma , mit welcher sie sich in
einem Geschäfte alliiren ; sie fragen weit mehr , wer ein Geschäft bringt , als was es werth ist ; in dem gegebenen Falle hat das einen Sinn , denn es handelt sich um eine
Credit operation.
Diejenigen Männer der Wissenschaft,
die ein eigenes Wissen haben, brauchen diese Vorsicht nicht einzuhalten. Schon das blose Untersuchen hat darum seine Schwie rigkeiten; es discreditirt. Ich will meinen Leser einen Plick
in diese Kreise werfen lassen, wenn auch sehr discret, ohne
Nennung eines Namens. Er wird sich überzeugen, dass die Herren Professoren und Doctoren von der öffentlichen oder
330 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
vielmehr akademischen Meinung ebenso abhängig sind , als die Hofleute von der Etiquette und die Damen von der Mode.
Als der erste Band der Wissenschaftlichen Abhand
lungen Zöllner's erschien , da sagte mir eine Grösse , die Sache sei für Deutschland entschieden , zwei andere Grössen frugen sich an , ob sie mich besuchen dürften, was natürlich mit Vergnügen zugesagt wurde.
Die öffentliche Meinung
widerstrebte - und die drei Grössen veränderten die Fronte.
Als Slade nach Wien kam , liess ich durch dritte Hand
(durch eine Buchhandlung) , den wissenschaftlichen Kreisen notificiren , dass ich ihnen Gelegenheit biete , die Sache zu untersuchen. Anfangs war man geneigt, als aber ein Artikel, ich glaube in der „ Neuen freien Presse“, erschien , so nah men die Herren Anstand .
Als Hansen nach Wien kam , so notificirte ich das Zweien , mit demselben Anerbieten einer wissenschaftlichen
Untersuchung. Der Eine hatte ihn zufällig gesehen und erklärte
ein Mann und renommirter Arzt
die Sache
für reell ; der Andere antwortete , dass nach dem , was er von Hansen gehört , er auf die Sache nicht eingehen könne. Was für eine Moral lässt sich daraus ziehen ?
Offen
bar nur die eine, dass diese Herren, mit sehr wenigen Aus nahmen, nicht die Kraft haben, die Lächerlichkeit auf sich zu nehmen .
Ja die Lächerlichkeit ! Es liesse sich darüber ein Buch
schreiben , welche Rolle die Furcht vor derselben im ehe lichen Verkehre, im Salon, im Parlamente, auf wissenschaft
lichem und literarischem Gebiete spielt, und welche Opfer sie fordert !
Für einen patentirten Mann der Wissenschaft gilt weder der Wunsch , noch das eventuelle Geständniss der
Wahrheit ; es bleibt also nichts , als die Sache im Wege
Der praktische Werth d, vorurtheilsfreien Weltanschauung. 331
der wissenschaftlichen Entrüstung todt zu schweigen ; doch auch das ist ein schlechtes Mittel. Das that man, als Wal
lace anfing die Trommel zu rühren , man legte ihn in den Bann , was aber nicht hinderte , dass Crookes noch weit kräftiger die Pauke schlug. Der Spectakel in einem anderen Welttheile, den konnte man ignoriren; auf einer Insel liess sich die Seuche auch noch localisiren und vertragen.
Nun
aber, wo mitten in Deutschland Zöllner einen Tam - Tam
angeschlagen, dessen Schwingungen weit hinreichen und den wissenschaftlichen Nimbus zersetzen , ist guter Rath theuer ! Die Männer der Wissenschaft haben eine feine Nase ;
sie merken , dass sie grosse Denkfehler begangen , als sie eine Anpassung ohne ein anpassendes dauerndes Subject, Fähigkeitsablagerungen in Samenthierchen, ja sogar in Me teorsteinen eingekapselte Lebenskeimvermittlung lehrten ; diese Denkfehler kommen nunmehr unter ein scharfes Ver
grösserungsglas , und es bleibt wahrlich nichts übrig , als sich in die Toga zu hüllen und von dem ererbten Nimbus reste so lange zu zehren , als es geht . Das von Schopen hauer prophezeite homerische Gelächter der Nachkommen
ist im lebhaften Anrücken ; diese Nachkommen sind , wenn auch noch jung, meiner Ansicht schon am Leben. Wir verdanken der Theilung der Arbeit die Blüthe unserer Industrie, in einem unläugbaren Zusammenhange damit steht aber die Verkümmerung des Arbeiters, der mitunter verurtheilt ist , sein ganzes Leben einige wenige
Handbewegungen zu machen. Dieselben Vor- und Nachtheile sind durch Spezialisirung der Zweige der Wissenschaften
auch in diesen Kreisen entstanden. Die Bezeichnung eines Mannes der Wissenschaft ist eine so weite, dass ein Liebig und irgend ein Fex, der eine Sammlung anlegt, auf gleiche Weise als Männer der Wissenschaft bezeichnet werden ; dass aber das Recht , ein Urtheil über den Werth oder Unwerth einer
Naturphilosophie abzugeben , etwa durch die einseitigen
332 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. Arbeiten in einem chemischen Laboratorium allein nicht er .
kauft werden kann , das mag ein Gleichniss deutlicher machen .
Ein sehr geschickter Spezialist in Tischlerarbeiten, ein Parquettentischler, machte sich ein hübsches Vermögen und erweiterte sein Geschäft der Art, dass er es mit grossem Ge winne an eine Actien -Gesellschaft verkaufte. Unglücklicher Weise behielt er sich eine grosse Partie fertiger pracht
voller Parquetten zurück und baute sich für seine Parquetten eine so grosse und prächtige Villa , dass er weder Käufer
noch Miether fand und zu Grunde ging. Nun ist es aller dings nothwendig, wenn man ein Haus baut, auch alle hie
zu nothwendigen Bestandtheile zu haben , denn wenn einer fehlt, so ist das Haus unbrauchbar; aber es ist nicht noth wendig , jeden nöthigen Bestandtheil selbst erzeugen zu müssen , bingegen ist es sehr gefehlt, ein Haus zu bauen, weil man über einen Bestandtheil in Fülle und vorzüglicher Qualität verfügt. Genau so ist es in unserem Falle. So wie nur derjenige geeignet ist, ein Haus zu bauen, der sich die nothwendigen Bestandtheile zu verschaffen weiss, ihren Werth abzuschätzen vermag u. s. w.; ebenso darf eine
philosophische Naturbetrachtung keinen einzigen Zweig des Wissens gänzlich ignoriren ; aber die gründliche Kenntniss eines oder des anderen Zweiges befähigt noch lange nicht ein Urtheil über eine solche Naturanschauung abzugeben
oder gar eine solche mit Ignorirung der philosophischen Vorarbeiten und Literatur aufzustellen .
Man kann aber ein Urtheil über eine Anschauung ab
geben , wenn man auch kein Mann der Wissenschaft ist, indem man die Unrichtigkeit der Argumentation nachweist;
dazu ist jeder berechtigt , dann aber auch verpflichtet, die Widersprüche nachzuweisen . Mit dem blossen wissen schaftlichen Anathema kann man Kinder, aber nicht Männer
schrecken , das ist eine stumpfe Waffe. Ich gestehe offen ,
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 333
dass mir das Urtheil eines Mannes von vielseitiger allge meiner Bildung, der kein Mann der Wissenschaft ist, weit mehr imponirt, als das der einseitigen Gelehrten. Nun kann man aber zu diesen Männern von vielseitiger allgemeiner
Bildung nur einen geringen Theil derjenigen zählen, welche sich das wissenschaftliche Prestige zuschreiben (der Grössen wahn dieser und aller Kreise steht immer im geraden Ver hältnisse zur Unwissenheit und zum Unverstand) , mein Mangel an Respect in Bezug auf ihr Urtheil ist daher sehr
begreiflich. Hingegen anerkenne ich unumwunden die grossen Opfer, welche die Männer der Wissenschaft der Menschheit durch
ihren Fleiss bringen , um mit Gründlichkeit auf allen Ge bieten die letzten phänomenalen Ursachen zu ergründen ; ich führe unter den tausend und abermals tausend Zweigen
nur die Forschungen in Bezug auf Cestoden , Taenien , Both riocephalen u.
. w. an , durch welche der menschliche Or
ganismus leidet. Diese Männer opfern leicht durch Specia lität und Fleiss das Höchste, was ein Mensch opfern kann, den Verstand, der in der Einseitigkeit verkümmert. Doch kehren wir zur eigentlichen Aufgabe zurück , die
darin besteht, dass ohne eine richtige Weltanschauung das Motiv fehlt, um die praktischen Ideen in der phänomenalen Welt zu realisiren , weil man ohne gute Motive des Egois mus nicht Herr wird .
Der phänomenale Egoismus ist in vielfacher Beziehung ein Gegensatz zum intelligiblen oder transscendentalen, weil Vieles , was Werth vom phänomenalen Standpunkte
hat , ihn vom intelligiblen verliert , und umgekehrt; es ist daher einleuchtend , dass mit Aenderung der Anschauung und durch Ueberführung des herrschenden Motives in den Gegensatz auch eine ganz gesellschaftliche Ordnung einer Umkehrung entgegen geht. Ich will es versuchen , ein Bild
334 Der praktische Werth d. vorurtheilstreien Weltanschauung.
dieser Ordnung zu geben , das nichts anderes bedeutet, als den
2. Verfall der Civilisation.
Cultur und Civilisation werden oft für gleichbe bedeutend gehalten , was aber durchaus nicht der Fall ist wenn sie auch leicht Hand in Hand gehen, Cultur ist seiner inneren Bedeutung nach Pflege, Civilisation ist eine Ge sellschaftsform.
Wenn man nun fragen würde, was diese Gesellschafts
form charakterisirt, so würde man meistens nur die Antwort erhalten : die Cultur. Die Civilisation ist das Gegenstück der Barbarei . Was aber ist die Barbarei ?
Der unbewusste Process der Sprach- und Begriffsbil dung der Völker trifft sehr oft den Nagel auf den Kopf, was hier ganz besonders der Fall ist. Civis heisst bekannt
lich der Bürger , und ist die Civilisation jener gesell schaftliche und staatliche Zustand, wo alle (also auch die Frauen) gleiche bürgerliche Rechte ge niessen und es daher keine Sclaven gibt. Das ist das ent
scheidende Merkmal der Civilisation, wodurch dann die Cul tur allerdings befördert wird. Dies mag die Veranlassung zur Behauptung sein, dass man im Interesse der Cultur bestrebt sein müsse, die Civi lisation aufrecht zu erhalten; doch ist dies nur richtig, wenn
man bei Aufhebung der Civilisation an eine Rückbildung, an den Verfall in die Barbarei, denkt. Die Civilisation kann sich aber in eine höhere gesellschaftliche Ordnung um
wandeln ; ich brauche ja nicht die Gleichheit der bürger lichen Rechte aufzuheben , ich kann im Gegentheile durch neue gesellschaftliche Schöpfungen die Civilisation einer
höheren Entwickelung zuführen. Auf die Frage, ob denn das
Der praktische Werth der vorurtheilsfreien Weltanschauung. 335 durchführbar sei , kann ich in erster Linie die Antwort
geben , dass die Sklavenhalter unsere heutigen Zustände auch nicht für möglich gehalten hätten . Ich gehe aber noch viel weiter und behaupte , dass sich die Civilisation dermassen überlebt hat , dass die Cultur nur durch Auf
lösung derselben gerettet werden kann ; weil ein zwangs weises Zusammenhalten zu einer Explosion führen muss,
welche die Cultur mit begraben würde. Ich habe am Schlusse des zweiten Bandes der Vor
urtheile behauptet, dass die Civilisation das umgekehrte Bild der Zukunft sei, und dass die Umkehrung des Moralprincips zur Umkehrung aller Verhältnisse führen werde. Allerdings kann man einen Sack leichter umwenden ,
als einen Handschuh mit fünf Fingern , was nur successive geht ; noch schwieriger muss das mit der so viel verzweigten Civilisation sein ; aber es ist gut zu wissen , dass das ge schehen müsse , denn ein starres gedankenloses Festhalten wird die Operation nicht verhindern, sondern nur bösartiger machen. Ich werde es unterlassen , dieses Umschlagen in das Gegentheil als ein nothwendiges Merkmal der Entwicke lung nachzuweisen, ich werde auch nicht vier dicke Bände Socialwissenschaft schreiben, wie Lilienfeld, um die Ana
logie der organischen und socialen Entwickelung nachzu weisen , die selbstverständlich ist ; denn wenn man gewisse Zustände und Betrachtungen auch ganz richtig als „psycho physische Pathologie“ des socialen Körpers hinstellt , so ist dadurch noch nichts gewonnen , wenn man nicht prak tische Folgerungen daraus zieht. Ich werde den Stier bei den Hörnern packen, die wichtigsten concreten Fälle heraus nehmen, und durch Betrachtungen an praktischen Beispielen dem Leser ein Bild der gesellschaftlichen Zustände der Zukunft zu geben versuchen. Die Thatsachen werden ohne.
hin schneller kommen , als derartige Theorien Gemeingut
336 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
werden könnten, daher deren Erörterung nie schaden, leicht aber nützen könnte.
Der Leser könnte daraus den Schluss ziehen , dass,
wenn die Thatsachen mit Nothwendigkeit eintreten werden, mein Schreiben überflüssig sei ; doch wäre dieser Schluss
nur richtig, wenn die rohen Massen die Leitung hätten , in der Regel führt die Intelligenz, und nur wenn diese schlecht führt, kommen ab und zu die rohen Massen zur Geltung, was bekanntlich dem Fortschritt nicht förderlich und den
Zeitgenossen nicht wohlthuend ist. Es kann darum durchaus nicht schaden , wenn die Intelligenz auf diese Dinge auf merksam gemacht wird , denn möglicherweise könnte es doch nützen.
Es wird unsere Aufgabe sein , jene Zustände hervor zuheben , die als ein charakteristisches Merkmal
der Civilisation aufgefasst werden können , wodurch sich der gesellschaftliche Zustand , den wir Civilisation zu nennen gewohnt sind, von den barbarischen Staaten unter scheidet.
Wir werden uns dann bemühen , den geraden
Gegensatz dieser Zustände festzustellen, und untersuchen, ob ein solcher Zustand überhaupt denkbar und für die Ent wickelung nothwendig wäre. Sollte das der Fall sein , so würde meine Behauptung gerechtfertigt werden , dass die Civilisation das umgekehrte Bild der Zustände ist, die wir
anzustreben haben , oder dass die Aufrechthaltung der Civi lisation als unseres heutigen socialen Zustandes für ewige Zeiten einfach ein Vorurtheil ist, in welchem wir aufge wachsen sind .
Das Moralprincip der Civilisation ist der Egoismus der Person und der Familie; wenn mein Moralprincip, welches gerade das Gegenstück des obigen ist , platzgreift, so muss consequenter Weise auch der ganze sociale Zustand
in das Gegentheil umschlagen ; wenn der Purpur fällt, muss auch der Herzog nach !
Es wird also der Personal- und
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 337
Familien -Egoismus dem allgemeinen Wohle Platz machen müssen , aber nicht wie jetzt, einseitig, im Wege der Steuern
und Kriegspflicht, aber auch nicht im Wege des modernen Socialismus, der nur zu einer Rückbildung führen könnte. Suchen wir die charakteristischen Merkmale der Civilisation.
Wir wissen mit Bestimmtheit , dass weder Attila noch Tamerlan eine Subscription auf ein Staatsanlehen eröff
neten oder solche Papiere auf irgend einer Börse emittirten ; wenn sie auch je einen solchen , einer höheren gesellschaft lichen Ordnung angehörigen Gedanken gefasst hätten , so wäre er damals einfach unausführbar gewesen , andererseits wissen wir aus Erfahrung, dass alle civilisirten Staaten Staatsschulden haben .
Wir sind also immerhin berechtigt,
die Staatsschulden als ein charakteristisches Merkmal der Civilisation aufzufassen ; ja noch mehr , je
civilisirter ein Staat ist, eine desto grössere Staatsschuld hat er in der Regel. Ich habe schon im ersten Bande auf den Unterschied aufmerksam gemacht, der zwischen Schul. den , die zu Gunsten von productiven Anlagen gemacht werden, und Schulden besteht, die nur die Folge unproduc
tiver, ja in der Regel destructiver Thätigkeiten sind. Diese Frage geht uns hier nichts an, sondern nur die Thatsache, dass die Schulden des Staates eine Eigenthümlichkeit der Civilisation seien , und was das Gegentheil dieses Zu standes wäre.
Ich glaube , dass jeder die Antwort haben wird : das Gegentheil von Schuld ist das Capital. Diese Begriffe stehen einander gegenüber wie positiv und negativ. Ich glaube auch nicht nothwendig zu haben , meinen Leser auf die Folgen dieser Umkehrung aufmerksam zu machen ; auch nicht auf die Art und Weise , wie selbe vollzogen werden
denn damit haben wir uns ja schon unterhalten . Eines muss ich aber doch betonen , dass ich nämlich sehr gut weiss, dass diese Umwälzung keine plötzliche sein kann, könnte
Hollenbach, Vorurtheile III.
22
338 Der praktische Werth d. vorurtheilstreien Weltanschauung. sondern wenn einmal angebahnt, erst in Jahrhunderten das Ziel zu erreichen ist , welches als eine nennenswerthe Um
wälzung der gesellschaftlichen Ordnung bezeichnet werden könnte. Ich glaube auch nicht , dass ein gewissenhafter Leser etwas anderes aus dem ersten Bande hat herauslesen können ; die Herren Recensenten sind aber nicht immer
gewissenhafte Leser, und neigen leicht dazu, alles als Utopie zu bezeichnen, was über den Horizont ihres Verständnisses
oder ihrer Empfindung geht ; doch sollten sie dem Autor keine Utopien zuschreiben , die nur die Frucht ihrer Un aufmerksamkeit sind .
( Ich beziehe das nicht auf das
Organ des wissenschaftlichen Clubs , sondern auf andere Recensenten .) Die Staatsschulden sind einmal ein charak
teristisches Merkmal der Civilisation , das Ge gentheil davon wäre ein Staat mit Collectiv . Eigenthum . Dieser Zustand ist 1. denkbar ; 2. zweifelsohne vortheilhaft. Diesbezüglich glaube ich auf keinen Widerspruch bei meinem Leser zu stossen. Suchen wir noch andere solche Kriterien der Civilisation. In der alten Zeit war die Geburt für den Beruf mass
gebend, das Kastenwesen in Indien , Egypten , Persien und Japan ist ebenso bekannt, als die Sclaverei, Leibeigenschaft das Unterthanen . , Feudal- und Zunft - Wesen in Europa. Es war der Civilisation vorbehalten , durch volle Freiheit des Berufes der Entwickelung Bahn zu brechen . Man wird
also nicht irre gehen , wenn man die freie Concur renz als ein charakteristisches Merkmal der Civilisation hinstellt.
Die wenn auch nicht nothwendige Folge davon ist die gänzliche Sorglosigkeit und Planlosigkeit in Bezug auf die Erziehung der nächsten Generation . Es giebt allerdings Schulen und in der neuesten Zeit eine Art Schulzwang,
ob aber ein Kind die hinlängliche Nahrung, Pflege und
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 339
moralische Erziehung erhält, und welchen Beruf es ver
nünftiger Weise wählen soll, das ist in der Civilisation kein Gegenstand, für den sich Vertreter und Minister erwärmen. Ist es nicht komisch , dass wir unsere Ernten , unsere
Märkte, Absatzgebiete, Vollblutpferde und Witterungs- Ver hältnisse in Evidenz halten , dass wir unsere Production
darnach reguliren, auf die producirenden Kräfte hin gegen keine Rücksicht nehmen ? Wir cultiviren Statistik in allen Fächern, aber das wichtigste Fach wird vernachlässigt.
Wenn ein Staat von dreissig Millionen Einwohnern fünf Millionen Regenschirm -Erzeuger und nur zwei Schneider
bätte , so wäre dies gewiss fatal; die Nachfrage und das Angebot würde das allerdings regeln , aber mit welchen
Opfern ! Man wird einwenden , dass gerade deshalb , weil die Freiheit des Berufes existirt, sich das von selbst regulire;
es gebe eben darum nicht fünf Millionen Regenschirm Fabrikanten und nur zwei Schneider , sondern so viele, als
nothwendig sind. Ist dass so gewiss, dass eine Ueberproduction n einzelnen Zweigen des Erwerbes und der Beschäftigung
nicht vorkommt ? Aber abgesehen davon , auf welche grau same Weise regulirt sich das ? Da war selbst die alte Zeit mit ihren Zünften besser ; denn wenn ein Knabe ein Unterkommen bei einem Meister
suchte, so hatte er nur Aussicht , dort unterzukommen , wo kein Ueberfluss an Arbeitern war ; er bestand den Kampf ums Dasein zu einer Epoche , wo noch Umkehr möglich
war. In der Gegenwart ist das ganz anders, der Staat sieht. gleichgiltig zu , wenn die ganze Bevölkerung in die latei nischen Schulen ginge, welche dann zu Folge ihrer Bildung das Recht zu haben glaubt , sich von der Gesellschaft er halten zu lassen.
Der Staat darf die Freiheit der
Be
wegung allerdings nicht hindern , aber nichtsdestoweniger hat er zwei Obliegenheiten , welche unbeschadet der Frei 22*
340 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
heit ein System in diese so wichtige Angelegenheit bringen würden .
So wie der Staat seine Truppen , Beamten , Vorräthe und Bedürfnisse in der Gegenwart und nächsten Zukunft
in Evidenz halten muss, so müsste er es wahrlich auch mit den socialen Bestandtheilen der Gesellschaft, und so wie wir tägliche , wöchentliche und jährliche Berichte der ver schiedensten Art erhalten , so müsste
insolange die
Erziehung Sache der Bürger und nicht des Staates ist — die Bevölkerung von dem Stande und der Bewegung der verschiedenen Erwerbszweige unterrichtet werden. Da ferner der Staat Opfer für die Unterrichts-Anstalten bringt, so hat
er auch wahrlich das Recht , ihre Frequenz zu erschweren oder zu erleichtern . In der Höhe oder Befreiung von Zah lung eines Schulgeldes besitzt der Staat beispielsweise ein ganz zureichendes und legitimes Mittel , wenigstens die un productiven Stände einzuschränken . Es kann für die Gesellschaft, also auch für den Staat, nicht gleichgiltig sein , wenn ein Dritttheil der Bevölkerung
vom Staatsdienste leben will , und sich auf andere Weise nichts erwerben, nichts produciren kann ; so ein Proletariat von Literaten ist ein Seuchengift, das Revolutionen und Umstürze fördert und veranlasst , und vor lauter Politik
einen Staat nicht zur Ruhe kommen lässt , um sich wirth schaftlich zu entwickeln – siehe Ungarn ! Wem der Ge-.
danke ungewohnt ist, im Staate einen Organismus zu sehen , der durch die fehlerhafte Zusammensetzung der Bevölke
rungsschichten leidet, der mag sich mit Lilienfelds Schriften befreunden.
Uns geht dies aber vorläufig nichts an ; wir haben nicht Massregeln des Ueberganges und der Entwickelung
zum Gegenstande, sondern die Merkmale unserer Civilisation und deren Gegensätze.
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 341
Die gänzliche Freiheit und Sorglosigkeit in Bezug auf die Erziehung der nächsten Generation ist ein solches Merkmal, und die Vorsorge für dieselbe ist
das Gegentheil davon. Wir haben hier nur zu untersuchen , ob das Letztere denkbar und für den Fortschritt erspriess
lich wäre ; doch ist eine solche Untersuchung ganz und gar überflüssig, denn es kann keinem Zweifel unterliegen, dass dies denkbar ist - die Mittel vorausgesetzt – depn wir haben Waisenhäuser und Erziehungs - Anstalten ; auch ist gar nicht gesagt, dass die Eltern zu den Auslagen nicht
herangezogen werden sollten; im Gegentheile , man könnte selbst an eine Steigerung der Beiträge mit der Zahl der Kinder denken , um dem übergrossen Leichtsinn entgegen zu wirken , den vielleicht Einzelne aus dieser Massregel be fürchten sollten. Man mag die Eltern strafen, aber gegen
wärtig straft man das Kind und die Gesellschaft, welche durch kränkliche und verwahrloste Individuen
vermehrt
wird, woraus folgt, dass ein anderer Zustand für den Fort schritt im hohen Grade fördernd wäre.
Die menschliche
Phantasie kann sich kaum ein Bild von den gesellschaftlichen Zuständen machen, welche durch die Evidenz des Materiales, aus welchem die nächste Generation zusammengesetzt wird, entstehen würden. Was müssten die folgenden Generationen
moralisch , intellectuell und selbst physisch nicht werden ! Bei den ungeheuren Fortschritten, die wir in Erkenntniss der Zellen und Pilze machen, wird man selbst das Material der Zellen immer mehr verbessern und veredeln, was aber nur bei einer anderen Erziehungs -Methode als der heutigen durchführbar ist. Die Aufzucht und Heranbildung der nächsten Generation unter dem Schutze der Gesammtheit und der
Garantie, ist eine denkbare und wohlthätige Einrichtung, von welcher sich die Spuren in der europäischen Gesetzgebung übrigens bereits finden.
342 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
Dass eine solche Gestaltung der Verhältnisse nicht ohne grossen Einfluss auf unsere geschlechtlichen Beziehun
gen sein kann, wird Jedem in die Augen springen. Betrach ten wir uns also das Charakteristische der Civilisation in
Bezug auf diese letzteren . Es wurde bereits oben erwähnt , dass die Gleichheit der bürgerlichen Rechte ein entscheidendes Merkmal der
Civilisation sei, an welcher die Frauen theilnehmen, während ihnen die politische und sociale Gleichberechtigung dermalen
noch abgeht. Nachdem aber die grössere Gleichberechtigung der Frauen immer ein Kennzeichen des Fortschrittes ist, so wäre schon a priori zu vermuthen, dass auf dieser Bahn
fortgeschritten werden sollte. Doch das geht uns nichts an ; wir haben hier nur zu constatiren , dass der Mann um die
Frau wirbt, mit ihr eine schwer lösliche Ehe eingeht, dass er der Chef der Familie und die Frau von seinem Willen
mehr oder weniger abhängig ist. Dass der letztere Umstand manchmal umgekehrt liegt , ist nur ein Beweis , dass es Männer gibt , die von ihren Rechten keinen Gebrauch machen wollen oder zu machen wissen ; dieser Zustand der Dinge hat auch seine volle Berechtigung bei den bestehen den Verhältnissen in Bezug auf Erziehung der Kinder und Frauen .
In der Gesellschaft der Zukunft müsste sich das Ver
hältniss also umkehren ; die Gleichberechtigung müsste nicht nur eine volle werden , sondern das Weib müsste auch
werben können, es müsste der eigentliche Chef der Familie
sein und an den Mann und dessen Willen nicht gebunden sein ; die Phrase der sogenannten „ ehelichen Pflichten“
müsste aus dem Gebrauche verschwinden , und die volle Freiheit des Willens in geschlechtlicher Beziehung anerkannt werden, was auch ganz begründet ist , weil ein Zwang nir gends so entwürdigend ist, als in dieser Beziehung.
Der praktische Werth d. verurtheilsfreien Weltanschauung. 343
In der Civilisation muss der Mann werben , weil er für den Unterhalt der Familie aufzukommen hat, daher die
Verhältnisse erwägen muss ; weder der Mann noch das Weib können dem Zuge ihres Herzens folgen , sie müssen in ge eignete Verhältnisse treten , oder sich der Enthaltsamkeit oder Prostitution ergeben,
In der Gesellschaft der Zukunft liegt das ganz anders ; wenn ein Mädchen von einem Manne nur Liebe und nicht
Ehe verlangt, so wird es ihr an Auswahl nicht fehlen ; die Selections- Theorie tritt dann auch für den Menschen in ihre
Rechte. Von einer Degeneration könnte weiter nicht die Rede sein . Wir sorgen für die Veredlung der Thiere durch Zuchtwahl, während das Weib in der Civilisation nicht wählt,
sondern gegen Versorgung sich verkauft. Das Weib wird nach Massgabe ihrer Erfahrungen , ihrer Verhältnisse und Persönlichkeit ihre Liebesintrigue fortsetzen, aber Eines ist gewiss , die Fruchtbarkeit wird sich vermindern und die Race verbessern. In solchen socialen Zuständen werden die
Aufrichtigkeit , die Liebe und das Interesse an der allge meinen Wohlfahrt blühen , in der Civilisation blühen dafür
der Betrug , die schmutzigen Interessen und der Egoismus. Ein englischer Oekonom, ich glaube Buckle, hat auf tausend Ehen sieben gute angenommen .
Solche Zustände haben aber die solidarische Erziehung zur Voraussetzung ; diese ist ohne ein bedeutendes Collec tiv - Vermögen nicht möglich , dieses kann nicht vor Jahr hunderten eine massgebende Grösse erreichen , also ist ein
solcher Zustand ebenfalls vor Jahrhunderten nicht möglich. Darum ist es lächerlich , wenn socialistische Schwärmer glauben, dass man sociale Verhältnisse von oben oder unten
durchsetzen kann , aber sie wachsen von selbst mit uner schütterlicher Triebkraft ; wir können nur beschleunigen und die Geburtswehen lindern.
344 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
Solche gesellschaftliche Zustände der Zukunft sind : 1. denkbar, 2. der Entwickelung und unserem Dasein förderlich , 3. sie sind der Gegensatz zu
unseren
heutigen Zuständen - quod erat demonstrandum ! Gehen wir weiter!
Der Kampf ums Dasein ist so alt als die Menschheit, und ein Kampf wird immer bleiben, aber welcher Art ? Es gibt jetzt schon einen scheinbar unblutigen Kampf, den der vernichtenden Concurrenz, und doch ist er oft qualvoller, als eine entscheidende Schlacht. Sollte nach beiden Richtun
gen nicht etwa das Gegenstück der destructiven Thätigkeit das Richtige, das Zukünftige sein ? Was heisst im modernen Staate „ Wehrverfassung" ?
Antwort : Die ganze männliche Bevölkerung auf einige Jahre einer productiven Thätigkeit entziehen , ein Dritttheil der Staatseinnahmen dazu verwenden, im Falle der praktischen
Verwendung der Kriegsmacht die Werke der Cultur zer stören und für den Aufwand zwei Dritttheile der Staatsein
nahmen durch die Staatsschuld verpfänden. Wir haben hier nicht die Aufgabe , die Frage zu entscheiden , ob und wie der Krieg zu vermeiden sei – ein Gegenstand , mit dem
wir uns im ersten Bande beschäftigten - sondern zu unter
suchen, was das Charakteristische der Civilisation sei , und ob das Gegentheil in einer anderen Gesellschaftsform denk bar und für den Fortschritt vortheilhaft wäre.
Das Conscribiren und Heranziehen der Jugend - nach meiner Ansicht selbst beiderlei Geschlechts – zur Verrich
tung gemeinnütziger Arbeiten , die nur durch Massen bewältigt werden können , wäre das gerade Gegentheil von dem , was heutzutage zur Vollbringung gemeinschäd .
licher Arbeit thatsächlich geschieht; die Berechtigung des Staates kann durch die veränderte Tendenz doch keine ge ringere sein . Hat der Staat das Recht, von mir zu verlangen ,
dass ich die Drangsale des Krieges , den Verlust meiner
Der praktische Werth d. vorurtheilstreien Weltanschauung. 345
Gesundheit und selbst des Lebens erdulde, so kann ibm das Recht nicht bestritten werden , für wohlthätige Zwecke , die mir sogar direct oder indirect zum Vortheile sind, meine Arbeitskraft in Anspruch zu nehmen. Dass die Auslagen dieser solidarischen Arbeit die Staatseinnahmen nicht belasten , weil sie nur productiven
Zwecken zugeführt wird, kann doch nicht als ein Nachtheil angesehen werden. Wir haben also jedenfalls das gerade Gegenstück der Gegenwart vor uns ; die Jugend wird nicht zu unproduktiven , sondern zu produktiven Zwecken von der Gesammtheit in Anspruch genommen , das Staats
einkommen und Vermögen wird nicht vermindert, sondern vermehrt , es werden fremden Nationen keine Wunden
geschlagen, sondern der internationale Verkehr und Reich thum gefördert. Es wird doch Niemand bezweifeln können, dass z. B. Russland mit einem Bruchtheile der verausgabten
Summen und disponiblen Arbeitskraft für das Heer in den letzten zwei Decennien eine Bahn bis an die Mündung des Amur , nach Indien und Peking , wenigstens so weit das russische Gebiet reicht , leicht hätte zu Stande bringen
können, und dass dies zur Hebung seiner Macht und seines Reichthums weit mehr beigetragen hätte, als dessen geführte Kriege ; und ebenso England, China u. 8. w. Von Moskau bis Ochotsk sind keine tausend geographischen Meilen ;
nehmen wir diese Länge an. In Rücksicht der vielen Ebe nen, der Billigkeit des Bodens, so mancher Materialien und der Arbeit, ferner in Rücksicht der wenigen Stationen kann man den Bau per Meile nicht über 300,000 Gulden oder
600 000 Mark rechnen , was mit Tausend multiplizirt den beiläufigen Jahresetat des Kriegsbudgets gibt!
Der Leser wird sagen, dass sei Utopie ; gewiss, für die lebende Generation und die gegenwärtigen Verhältnisse und wohlgemerkt für die gegenwärtige Methode der Arbeit !
346 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Vroltanschauung. Wenn man den der Arbeiterklasse nicht angehörigen
intelligenten Jünglingen und Jungfrauen die Proposition machen würde, zur Zeit der Ernte oder zum Dammbau den ganzen Tag mit der Schaufel oder Sense und Sichel zu
arbeiten , so würde man allerdings auf Schwierigkeiten stossen, wenngleich das Kriegshandwerk ebenfalls in seinen Forderungen gerade nicht subtil ist. Wenn aber eine Dammarbeit durch 100 Arbeiter in
einem Tage fertig gebracht wird , so werden 200 Arbeiter in zwei Tagen nur drei Stunden zu arbeiten haben. Man proponire der intelligenten Jugend einer Grossstadt , dass sie mit klingendem Spiele hinaus ziehe und ohne Ueber
anstrengung zur Vermehrung ihres Appetites und Kräftigung ihres Körpers nützlich sei , und man wird sehen , dass die Theilnehmer nicht fehlen werden ; es werden sich mehr melden , als man verwenden kann. Das ist ein Punkt , wo ich durch und durch Fourierist bin ; die Civilisation hat das Verdienst , beinahe jeder Arbeit die Anziehung genommen und sie in eine Marter umgewandelt zu haben . Mein Mitleid mit der arbeitenden Classe ist kein krank
haft platonisches ; ich bedauere den Grubenarbeiter beispiels weise nicht, dass er ein so mühe- und gefahrvolles Gewerbe hat , sondern nur das ist das Empörende , dass er alle Stunden des Tages (mitunter auch der Nacht), fast alle Tage des Jahres und alle Jahre seines Lebens dazu ver
dammt ist, dass er mit einem Worte nichts ist als Maschine. Eine billigere Vertheilung der Arbeit thut da noth ! Sind etwa die Zustände
unserer Presse die rich
tigen ?
Aus den Tagesblättern schöpft die grosse Mehrzahl ihre Motive für ihr Denken und Handeln ; man sollte daher glauben, dass nur die uneigennützige Wahrheit und die tiefste Ueberzeugung die Feder führen . Wie sieht es da aus
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 347 Als einzelne grosse Blätter sich an Actiengesellschaften
verkauften , da mussten sie Berichte über ihre Einnahmen ablegen ; es stellte sich da heraus, dass die verschiedenen Bestechungen , sei es nun in Form von Subvention oder
Betheiligung , den grössten Antheil an den Einnahmen hatten. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass man Tag und Summe kennt, die das eine oder andere Blatt für diese
oder jene Haltung selbst von fremden Regierungen erhält. Was die Emissionsbanken von diesen Blutsaugern zu leiden hatten , ist allbekannt ; dass die Witzblätter die Menschen förmlich ranzionirten, wie die Räuber in Italien und Grie chenland die Reisenden , ist allbekannt. Nun vollends die
armen Künstler oder gar Künstlerinnen ! Endlich tragen die Rivalitäten der Correspondenten und Redacteure untereinander noch das Ihrige bei, um die
öffentliche Meinung irre zu führen. Dass die europäischen Ministerien sich solche Bestechungsgelder votiren lassen, ist bekannt ; auch wird die Opposition eines Blattes gewöhnlich auf solche Motive zurückgeführt.
Wie oft verweigert ein
Blatt eine Notiz, weil sie der Regierung unangenehm wäre, wie oft wird eine Sängerin verurtheilt , weil sie bei einem
Rivalen zuerst gesungen, oder die Liebesanträge eines Refe renten zurückgewiesen ! Das sind die Presszustände der Civilisation und des
rücksichtslosen Egoismus, von welchen einige wenige besser gestellte Eigenthümer und vielleicht einige echtfarbige Par teiblätter eine leidliche Ausnahme machen , doch was hilft das ? Kann ein Eigenthümer oder Chefredacteur für die
catonische Natur seines ganzen Personales einstehen ? Alle Zeitungen nehmen einen mehr oder weniger anständigen
geschäftlichen Standpunkt ein , daher sich denn auch das Judenthum besonders diesem Erwerbszweige mit der
gewohnten Rücksichtslosigkeit zuwendet. Ich kann aber zwischen dem Amerikaner , der die Menschen auf den
348 Der praktische Werth d . vorurtheilsfreien Weltanschauung.
Schiffen seinen Prämien zu Liebe in die Luft sprengt, und den Redacteuren, welche gegen bares Geld schlechte Politik und schlechte Geschäfte anpreisen, einen Unterschied nicht finden , höchstens dass der Amerikaner mehr Muth haben muss.
Wenn sich ein Soldat aus der Kaserne auf eine halbe
Stunde entfernt, so wird er nicht so strenge bestraft, als er es als aufgestellte Schildwache thut; wenn ein Schlosser sich besauft, so ist das etwas ganz anderes, als
wenn es ein Maschinist thut, dem ein Eisenbahnzug anver traut ist. Wenn ein Zeitungsliterat auch sonst kein Cato ist , so müsste er es doch sein , wenn er Tausenden seiner Mitmenschen Motive liefert. Wie aber soll dieses Verhältniss
umgekehrt werden , wenn der phänomenale Egoismus das einzige Motiv seines Handelns ist ?
Nur derjenige, der da weiss , dass der phänomenale Egoismus dort seine Grenzen baben muss , wo die Schädi gung des Transscendentalen beginnt , der wird das Mass halten !
Die Gesellschaftsformen sind Producte der Entwicke
lung , die keine scharfen Grenzen haben können, sondern in einander hineinwachsen . Eine absterbende Gesellschaftsform , wie es die Civilisation bereits ist , bat immer Bruchtheile
und Merkmale der folgenden in sich. Die der Civilisation folgende gesellschaftliche Form kann man ganz gut mit Fourier als den Garantismus bezeichnen , auf welchen
erst jene Form kommen kann, die das umgekehrte Bild der Civilisation vollständig bietet. An garantischen Institutionen haben wir schon seit Jahrhunderten die Post und den
Frachtenverkehr (welche durch die Eiseubabnen wesentlich
ausgebildet wurden), Banknoten und Versicherungsanstalten, welche allerlei Garantien bieten und mitden bürgerlichen Rechten – diesem Typus der Civilisation – nichts ge mein haben .
Diese Garantien werden sich vermehren und
Der praktische Werth d. vorurtheilstreien Weltanschauung. 349 auf die Erziehung und endlich auf die Existenz sich ausdehnen . Durch die Erziehung und ein richtiges Moral
princip werden dann jene schöneren Zustände möglich wer den, weil sich in den absterbenden Garanti smus wieder der Socialismus bineinwachsen wird. Es ist ein sehr richtiges Bild, das Fourier geschaut, als er in den Beginn der Civi lisation die chevaleresken Illusionen setzte, die sich später in die freiheitlichen , dann wirthschaftlichen , endlich socia listischen Illusionen verwandeln werden . Wir können nicht
läugnen, dass wir uns in dieser Epoche der Civilisation be finden. Um so unbegreiflicher ist es, dass er glauben konnte, eine ganze Entwickelungsstufe überspringen und den Socia
lismus praktisch einführen zu können. Das charakteristische und wichtigste Merkmal der der Civilisation folgenden Gesellschaftsform wird die solida rische Erziehung sein , durch welche die Garantie der
Existenz schon gegeben ist. Das Collectivvermögen ohne Aufhebung der inividuellen ! – und die Armen der Cultur sind schon socialistische Gebilde , die in den Garantismus hineinwachsen , während die freie Liebe als allgemeine In stitution das Moment einer schon sehr vorgeschrittenen socia listischen Gesellschaftsform ist. Nun kommen wir zu des Pudels Kern .
Die Nothwendigkeit der Aufrechthaltung der Civilisa tion im Interesse der Cultur ist ein Vorurtheil, in dem die
lebende Generation aufgewachsen ist ; diese thäte wahrlich besser , wenn auch unter Aufrechthaltung der bestehenden Rechte , auf jenen langsam , aber sicher führenden Wegen dem Fortschritte zu huldigen ; das wird sie aber insolange nicht thun , als das Moralprincip kein anderes ge worden sein wird. Das Moralprincip auf Grundlage von Offenbarung heisst Religion ; die Lebensanschauung und dem zu Folge auch das Moralprincip auf Grundlage von Erfah rung und Betrachtung heisst praktische Philosophie. Doch
350 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
80 wie es verschiedene Offenbarungen und dem zu Folge auch verschiedene Religionen gibt , so gibt es auch ver schiedene Philosophien. Diese ist also als Verwerthung des
Ergebnisses der gesammten geistigen Arbeit der Menschheit das Wichtigste und Entscheidenste !
Nur ein mittelmässiger Kopf konnte in den Natur wissenschaften etwas anderes sehen, als Hilfswisseuschaften, nur ein Egoist konnte sich mit der Bereicherung der Erfah rungen in der phänomenalen Welt allein begnügen und unserem
Dasein keine höheren Zwecke anterlegen. Ich glaube durch dieses Capitel das Streben gerecht fertigt zu haben , eine objective, vorurtheilsfreie Weltanschau ung zu suchen und aufzustellen, die ein gutes Motiv liefert, aber sich auch eignet , ein Gemeingut zu werden ; denn soll die Philosophie die Mutter der Religion der Zukunft werden , 80 muss sie einen solchen Grad der Gemeinfasslichkeit haben
dass sie jede Frau zu fassen vermag. Nachdem aber dasjenige, was die Männer der Wissen schaft so leichthin „ Phantasterei“ nennen , in hohem Grade
geeignet ist , sichere Anhaltspunkte für philosophische Spe culation zu liefern, wie das alle grossen Denker anerkann ten , so ist dadurch erwiesen , was zu erweisen war , dass die Ideen des ersten Bandes der Vorurtheile
trotz aller Approbationinsolange Phantastereien bleiben , als die Ansichten des dritten Bandes
nicht Gemeingut der Intelligenz werden. Es liegt darin auch nichts Ueberraschendes.
Ob die Bilder der Zukunft richtig sind , können nur die Bürger der späteren Generationen entscheiden ; dass aber das Bild unserer gegenwärtigen Zustände nicht übertrieben ist, wird wohl Niemand läugnen. Mit welchem Rechte
kann man nun behaupten , dass eine Anschauung, wie die meine , welche alle unsere Handlungen von schweren
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 351
ewigen Folgen begleitet darstellt , nicht etwas sehr prak tisches sei ?
Wer das läugnen würde , müsste consequent
behaupten , dass mit Aufhebung der Strafen, Gerichte und Staatsorgane sich der Betrug, der Diebstahl, der Raub und Mord vermindern werden. Ich behaupte mit Recht, dass
Derjenige, welcher seinen Zeitgenossen zuruft, und ihnen
auf verschiedene Weise beweist , dass sie mit ihrem phä nomenalen Egoismus die Rechnung ohne Wirth machen , für Aufbesserung unserer socialen Uebel mehr leistet, alsirgend ein Anderer. Schon der blosse Zweifel, dass unser Handeln
doch möglicherweise Folgen haben könnte , wird gute Früchte bringen ; sehen wir doch , dass Verbrechen durch die Ungewissheit, ob die That und der Thäter an das Ta geslicht gezogen werden , oft unterbleiben. Dort wo ein Verbrecher die Gewissheit hat, dass ihn der Arm der Ge rechtigkeit erreicht, wird er die That kaum verüben. 3. Was können wir leisten.
Hat die von mir vertretene Anschauung Gegner , so hat sie auch Freunde , deren jüngerer Theil am liebsten
gleich Hand ans Werk legen möchte, und dieses Ziel durch ein solidarisches Vorgehen zu erreichen glaubt. Ich halte es daher für angezeigt, etwas zu ihrer Ernüchterung beizu tragen.
Pas trop de zèle !
Die Vereinigung mehrerer Menschen zu irgend einem bestimmten Zweck verdanken wir allerdings fast alle Errun genschaften der Cultur ; es liegt darin eine grosse Gewalt, und wenn die Ziele oder Mittel auch nicht immer die besten
und geeignetsten waren, so hat das Vereinsleben doch mehr genützt als geschadet, wogegen die Beschränkung in Bezug
auf Genossenschaften immer mehr geschadet als genützt hat. Die Religionsfreiheit hat durch viel Blut erkämpft werden müssen , und die Krankheit des Nihilismus in Russland
352 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
wäre nie entstanden, wenn die Freiheit menschlicher Be strebungen nicht auf so barbarische Weise unterdrückt worden wäre. Der Auswuchs auf der einen Seite ist immer
dem Drucke auf der anderen proportional; England, Italien
und Russland liefern das praktische Beispiel. England kennt seit
Jahrhunderten keinen
revolutionären
Terrorismus;
Italien hatte zur Zeit des Druckes seine Carbonari, und Russland, wo der grösste Druck herrschte, hat seinen Nihi lismus - Ursache und Wirkung sind immer proportional. Es kann daher nicht überraschen , dass in einer Zeit, wo es Thierschutz-, Alpen-, Trabrenn-, Eislauf- und andere Vereine gibt, Menschen, welche an dem Gedanken eines zu
bildenden Collectivvermögens zu Gunsten Eigenthumsloser Gefallen finden, an die Bildung eines Vereines ad hoc denken.
Es gehört aber zu den Verkehrtheiten der Civilisation, dass dort, wo ein Thierschutzverein gestattet wird, ein Menschen schutzverein auf Hindernisse stösst. Von langer Dauer kann
und wird die Opposition nicht sein , doch kann sie gegen wärtig noch nicht schaden ; denn die Nothwendigkeit eines solchen Vereines wäre erst dann unabweislich, wenn es sich um die Verwaltung des Vermögens und die Ver . wendung der Zinsen handeln würde. Da wir aber bereits ein, wenn auch sehr bescheidenes, Collectiveigenthum haben , nämlich die verschiedenen bestehenden Stiftungen für humanitäre Zwecke , welche in der Regel und relativ noch am besten durch die Gemeinden verwaltet werden, so ist es weit weniger wesentlich , einen Verein zu bilden, der
erst mit der Zeit ein Vermögen zu verwalten haben würde, als die Menschen, und insbesondere die Kinderlosen zu ver anlassen, dass sie durch ihre letzt willigen Bestim mungen die bestehenden Stiftungen vermehrten. Das wäre Etwas , zu was man weder einen Verein noch einen behördlichen Consens braucht.
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 353
Man darf sich keinen Illusionen hingeben , ein solcher Verein hat viele Gegner ; es gibt überall Neffen und Erb schleicher , die sich durch solch eine herrschende Meinung beeinträchtigt fühlen ; die hohe Geistlichkeit kann leicht in einem solchen Vereine eine Erwerbsstörung erblicken ; end lich existirt die bekannte ökonomische Kurzsichtigkeit der Regierungsorgane, die in dem Wörtchen „ collectiv den leibhaften Socialismus wittert , nicht ahnend , dass gerade durch dieses Wörtchen der wirkliche und gefährliche früh zeitige Socialismus am besten bekämpft werden kann. Was ist weiter nothwendig ?
Die Menschen aus ihrem phänomenalen Rausch zu erwecken
und zu ernüchtern ; dazu bedarf es aber ebenfalls keines Vereines, weil es sich ja immer um jene handelt, die ausserhalb des Vereines stehen. Diese Ernüchterung kann im Wege der zufälligen und durchaus nicht gesuchten Discussion , durch ein gutes Buch, durch das gute Beispiel, oft auch nur durch ein Wort zu rechter Zeit erfolgen. Das kann auch keine Polizei hindern; es kann keine Behörde der Welt mich zur Rechenschaft dafür ziehen, dass ich das „ fruges consummere
natus“ nicht als einzigen Lebenszweck auffasse und eine
idealere Weltanschauung habe , denn sonst müsste man ja alle gläubigen Christen , Mohamedaner und Buddhisten ein sperren , und nur die Materialisten und Juden frei lassen,
Die Ueberzeugung, dass das menschliche Dasein nur eine vorübergehende Erscheinungsform darstelle , wäre aber nur das Mittel zum eigentlichen Zwecke , der da ist , den rücksichtslosen phänomenalen Egoismus zu zerstören. Der eigentliche näherliegende Zweck , den diese derzeit imaginäre Verbrüderung zu verfolgen hätte , wäre , der menschlichen Daseinsform jene Bedingungen der Existenz zu bieten , welche eine gedeihliche Entwickelung ermöglichen , während sich gegenwärtig nur eine kleine Minorität in dieser Lage befindet, nämlich die Mittelclassen . Hellonbach, Vorurtheile III.
23
354 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
Die Armen und Reichen sind diesbezüglich gleich schlecht
daran ; die einen werden gar nicht erzogen , die anderen verzogen ,
Der einzige und sicherste Weg, unsere gesellschaftlichen Zustände in diesem Sinne zu verbessern, ist die menschen
würdige Erziehung der nächsten Generation, was aber ohne ein entsprechendes Collectiveigenthum nicht möglich ist, daher denn ein solches zu bilden die uns zunächst liegende
Aufgabe sein müsste. Wir bätten , wenn wir als Verein bereits existiren würden , um concret zu sprechen , durch Wort und Beispiel die Kinderlosen zu veranlassen , einen Theil ihres Vermögens als Collectivcapital der Menschheit zu retten , in Form einer Stiftung , wodurch sie sich der Schuld entledigen , die jeder von uns den vorangegangenen Generationen schuldet .
Dieser Zweck ist etwas , was auch obne Verein die
Behörde abermals und ebensowenig zu hindern in der Lage ist , als sie die Motivirung (nämlich eine idealere Weltan
schauung) zu hindern vermag. Sie kann mir nicht verwehren, einen Theil meines Vermögens den Waiseninstituten zu vermachen , und es kann mich Niemand der strafgericht lichen Untersuchung überliefern , wenn ich das dritten Per sonen gegenüber als meine und jedes Menschen Pflicht hin
stelle und dazu einrathe. Ich weiss allerdings , dass die Leistungsfähigkeit in unglaublichen Missgriffen bei den Staatsorganen sehr gross ist , aber das geht denn doch nicht !
Wir brauchen also eigentlich keinen Verein. Die Freunde dieser Anschauung werden vielleicht ein wenden , dass der Ideenaustausch, das Gefühl der Zusammen
gehörigkeit ohne ein Vereinsleben in Wegfall käme , und dadurch die Thatkraft leiden würde ; doch hätte das dort
seine Richtigkeit, wo es etwas zu beschliessen oder zu thun gibt, was eben hier noch nicht der Fall ist . Derjenige, der
Der praktische Werth der vorurtheilsfreien Weltanschauung. 355
dem geistigen Bande , der menschenfreundlichen Verbrüde rung bereits angehört, hat schon beschlossen. Was endlich
das Gefühl der Zusammengehörigkeit anbelangt, so ist dem leicht abzuhelfen ; es kann sich ja auch nur um eine kurze Dauer handeln , denn einmal wird sich der heilige Geist doch auch über die Ministerialräthe der verschiedenen Re
gierungen ergiessen ! Die Minister haben in parlamentarischen Regierungen bekanntlich keine Zeit ; sie sind beständig auf der Jagd ; sie müssen die Minoritäten abschiessen, die Ma joritäten züchten und das Revier – das Portefeuille ge nannt - erhalten ; die Interessen der ihrer Leitung anver trauten Menschheit treten begreiflicherweise in den Hinter grund .
In unserem gegebenen Fallo handelt es sich weit mehr
um einen concreten passenden Namen , als um den Ver einsapparat , der früher oder später doch seine Existenz
berechtigung erkämpfen wird. Jetzt hat das noch seine Schwierigkeiten. Du sublime au ridicule il n'y a q’un pas ! Die Inscenirung eines solchen Vereins wäre auch nicht so leicht. Was würde die Gesellschaft“ sagen , ruft der Aristokrat; was die hohe Regierung, der Hofrath ; was würde die Presse schreiben denkt der Abgeordnete , und was der wissen schaftliche Club, meint der Professor — im Stillen. Die Idee ist noch jung , nicht acclimatisirt, und nur selbständige Männer können sie cultiviren.
Es gibt Wagnerianer , welche Freunde der Wagner schen Musik sind , sich als solche bezeichnen und von An deren bezeichnet werden ; es gibt Vegetarianer, Spiritisten, Kantianer, Freunde des Renaissance-Styles und der Jagd auch ohne Verein ! Es würde sich also nur um einen con
creten Ausdruck handeln, der die Sache gut oder gar nicht definirt. Ein solcher Ausdruck wäre der Kosmopolit, denn es handelt sich um eine kosmopolitische Idee ; doch wäre das nur für Oesterreich passend, wo es Dualisten, Födera 23*
356 Der praktische Werth der vorurtheilsfreien Weltanschauung.
listen, Centralisten, Nationale, Klerikale, aber keine Kosmo politen gibt , wenngleich Oesterreich mehr als irgend ein Staat darauf angewiesen wäre , und durch den Kosmopoli tismus sogar eine Ueberlegenheit sich verschaffen könnte. Im Auslande jedoch würde der Ausdruck nicht passen, denn es kann Kosmopoliten geben , und es gibt auch deren, die keine Verwandtschaft zu diesen Ideen haben.
Es scheint viel besser , zu einer anderen Bezeichnung zu greifen , welche eben gar nichts definirt und eine inter nationale Bedeutung haben kann. Jeder weiss , was das heisst, ein Rother , auch was ein Schwarzer bedeutet ; die Revolution und die Geistlichkeit haben diese beiden
Farben bereits occupirt, und es gibt Rothe und Schwarze in allen Staaten Europa's ; die blaue Farbe wäre aber noch frei; sie ist nicht nur die Farbe des Himmels, sondern
nach der phantastischen Kosmogonie Fouriers, des grössten Menschenfreundes dieses Jahrhunderts, die Farbe der Liebe. Gelb war ihm die Farbe des Familiensinnes ; mischt man diese beiden Farben , so wird daraus Grün, das war ihm die Farbe der Arbeit. Insofern ist das Bild zutreffend, denn Familiensinn und Liebe führen wirklich zur Arbeit. Bleiben
wir also bei Blau ! Wenn dadurch auch nichts anderes ge
sagt wäre, als dass Blau im Gegensatze zu Roth und Schwarz, also zu Jakobinern und Finsterlingen , stehe , so ist das schon etwas.
Ein Freund der blauen Farbe zu sein , ein Blauer ,
das kann mir Niemand wehren. Niemand kann mich hindern, blaue Steine oder Blumen mehr zu lieben als andere, oder die Farbe des Himmels schön zu finden u. s. w. Das gibt
Anknüpfungspunkte genug und keine Behörde der Welt kann eine Gesellschaft, die keine Statuten, keine Versamm lungen, keine Präsidenten oder Verwaltungsräthe, ja nicht einmal andere Zusammenkünfte hat , als sie etwa Wagne
rianer oder Vegetarianer haben, wo auch nichts beschlossen
Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung. 357
wird, beanstanden. Sie kann das umsoweniger, als die Blauen die Freunde der Menschheit, principiell Fanatiker der Ruhe
sind, welche den zwar langsamen, aber doch sicheren Fort schritt der schlechtesten Regierung, dem materiellen Rück schritt der siegreichsten Revolution vorziehen . Geheim ist die Gesellschaft auch nicht , und der leuchtende und erwärmende Lichtstrahl, welcher die ,, Blauen " beseelt, kommt aus der vierten Raumdimension, wohin eine schon über die dritte Dimension nur schwer verfügende Polizei nicht hinreicht ! Nichts auf der Welt kann die Blauen
verhindern, der nächsten Generation schon heute vorzuarbeiten, welche zuverlässig mit allen diesen , durch die Vorurtheile bereiteten Hindernissen nicht mehr zu kämpfen haben wird. Die Verbreitung eines Gedankens geht über alle Erwartung schnell , wenn der Gedanke gemeinfasslich und
der richtige ist. Habe ich mit meiner Anschauung recht, findet sie den Beifall wenigstens jener Menschen, die in der phänomenalen Welt und deren Freuden nicht ganz und gar untergegangen sind , so braucht man an einer baldigen Lösung nicht zu verzweifeln . Nehmen wir an , dass ich jedes Jahr einen Menschen überzeuge und gewinne , und noch 10 Jahre lebe ; nehmen wir an , dass ein Jeder von diesen alljährlich einen gewinne und ebenfalls zehn Jahre lebe , Ziffern, die im Durchschuitte gewiss nicht zu hoch gegriffen sind , nehmen wir deren Richtigkeit an , so hätten wir in 10 Jahren ungefähr 1000, in 20 Jahren 1,000,000
und in 30 Jahren mehr Menschen , als es intelligente Wesen auf der Welt gibt, die alle geschworene Feinde jeder Revolution , Freunde der friedlichen wirthschaftlichen Ent wicklung der Menschheit und direct oder indirect Gründer
eines Collectiv-Eigenthums wären. Auf Wunsch des Buch händlers wurde von den zwei Bänden eine starke Auflage (je 1500) gemacht ; es unterliegt auch keinem Zweifel, dass
jedes verkaufte Exemplar mehrere Leser hat.
Befindet
358 Der praktische Werth d. vorurtheilsfreien Weltanschauung.
sich vun in den drei Bänden genügendes Material, um nur einen Bruchtheil bescheidenster Art zu gewinnen, — zu welcher Hoffnung mich übrigens zahlreiche Zuschriften berechtigen so können noch einige Jahre gewonnen werden , und könnte die lebende jüngere Generation schon greifbare Resultate erzielen .
Das ist der freundschaftliche Rath , den ich Jenen zu ertheilen mir erlaube, welche meinen Ideen nicht nur sym
pathisch entgegengekommen sind, sondern dem Gedanken die schnelle That folgen lassen wollten. Man darf eine Frucht nicht unreif vom Baume nehmen , man sollte nichts forciren , aber man kann allerdings dazu beitragen , dass sie früher reife. Die Menschen lebten zweifelsohne einst wie die wilden
Thiere im Walde , bis sich nach und nach das Familien leben , und durch dessen Erweiterung auf Stamm , Kirche
und Nation (Sprache) die Cultur entwickelte ; doch hielt der phänomenale Egoismus damit gleichen Schritt, denn es gibt nicht nur einen persönlichen, sondern auch einen nationalen und kirchlichen Egoismus, letzteren sogar mit transscendentalem Aushängeschild. Diese, jede kosmopolitische Idee hemmenden Schranken im Interesse der Menschheit zu beseitigen
denn einmal geschieht es doch – kann nur im Wege der Substitution des transscendentalen Egoismus langsam und
gefahrlos geschehen. Den Schwarzen die Macht über die Massen, den Rothen das Cultur zersetzende Gift zu nehmen ,
vermögen nur durch männliche Ruhe und Objectivität die Blauen !
Zwölftes Capitel .
Gibt es Vorurtheile im Gebiete der Philosophie ? Definition, Umfang und Aufgabe der Philosophie.
Um obige Frage beantworten zu können , müssten wir uns früher über den Begriff der Philosophie einigen. Ich habe immer die Ansicht vertreten, dass die Philo sophie die Aufgabe habe, aus der Erfahrung auf die tiefer
liegenden Ursachen, aus der gegebenen phänomenalen Welt auf die transscendentale Weltunterlage zu schliessen , und kann mich den gewöhnlichen Definitionen als der , Wissen schaft von den Begriffen , Principien“ u. s. w. nicht an schliessen . Aus diesem Unterschiede der Anschauung ergibt
sich mit Nothwendigkeit, dass der Umfang, den ich der Philosophie bestimmen würde , ein weit geringerer ist , als den sie in der Gegenwart auf allen Lehranstalten und in allen Büchern hat. Ich muss daher vor Allem diesen Unter
schied rechtfertigen .
Schon die Zusammensetzung des Wortes ,,Philosophie beweist, dass so sich mehr ums Denken als Wissen handelt,
sonst würde sie nicht von goyla sondern yvools abgeleitet werden müssen , oder vielmehr mit Letzterem zusammen gesetzt worden sein. Klar geht dies aber aus der Betrach tung der philosophischen Systeme hervor.
360
Gibt es Vorurtheile im Gebiete der Philosophie ?
In der alten Zeit suchte man die Weltunterlage bald im Wasser , bald in der Luft, dann in den Zahlen, im
Werden, den Atomen. Sokrates war der erste, der sich dem Erkenntnissvermögen zuwendete ; Plato hatte die Ideen als Weltunterlage, endlich begann der Zweifel an der Realität unserer Vorstellungen einerseits und - durch Baco von Verulam – die Nothwendigkeit der Erfahrung als Unterlage unserer Forschung andererseits den Boden
der Philosophie richtig zu stellen . Descartes machte die Thatsache des Denkens zum Ausgangspunkte der Philo
sophie, Leibniz die Monaden zur Weltunterlage. Locke und noch mehr Kant lieferten den Beweis , dass unsere Weltvorstellung eine Frucht unserer Organisation sei , und
der Welt ein unbekanntes „ Ding an sich “ zu Grunde liege, welches Schopenhauer als den Willen, Hartmann als ein Unbewusstes erkennen wollten.
Aus dieser kurzen Betrachtung geht hevor, dass es sich immer um die Erklärung der Welt, um die transscen
dentalen Ursachen in der Philosophie handelte, was meinem Leser um so klarer werden wird, wenn wir die Philosophie mit Religion und Naturwissenschaft vergleichen. Die tradi tionellen Religionen geben ebenfalls Aufschluss über die
transscendentale Weltunterlage, aber immer auf dem Wege einer Offenbarung , die von der Philosophie verworfen werden muss , weil diese sich auf die Erfahrung zu stützen
hat ; beide haben dasselbe Ziel, aber ganz andere Mittel. Die Naturwissenschaft hingegen hat mit der Philosophie dieselbe Unterlage , nämlich die Erfahrung; aber die Wissenschaft beschränkt sich auf das Phänomenale und lässt das Transcendente liegen , was ganz richtig ist.
Die Naturwissenschaft zeichnet sich durch die Solidität aus, mit der sie ihre Kenntniss vermehrt , während die weit
tragenden Entdeckungen doch nur durch das Suchen nach der tieferen Unterlage gemacht wurden, es gibt eben unter
Gibt es Vorurtheile im Gebiete der Philosophie ?
361
den Naturforschern auch Philosophen, und unter den Philo sophen auch Naturforscher. Wenn ich ein Gewicht an einen Strick aufhänge , so wird der Mann der Wissenschaft die Spannung der An
ziehungskraft der Erde zuschreiben , die Anziehungskraft und die nothwendige Widerstandskraft bemessen u. s. f.
Der Philosoph wird aber z. B. die Frage aufwerfen , was die Anziehungskraft ist , oder wie das Gewicht durch den Strick gehalten werden könne , da die Moleküle doch durch den Aether getrennt sein sollen, also ein eigentlicher Zusam menhang im Stricke gar nicht besteht ?
Das tiefer Liegende , das Allgemeine ist immer das
jenige, was der Philosoph an das Tageslicht zu ziehen be müht ist ; er muss den Schein vernichten , und das Reelle suchen ; er muss durch den phänomenalen Schein hindurch das
Intelligible mit Hilfe seines Verstandes und der Vernunft zu erschliessen trachten. Auch der Sprachgebrauch entscheidet zu Gunsten dieser Auffassung, da man Jemanden leicht als Philosophen bezeichnet , der die phänomenalen Freuden ignorirt und tiefer speculirt ; wo hingegen noch Niemand der Intriguen wegen Titel und Würden , oder Börsen
Geschäfte und Gelderwerb philosophische Speculationen genannt hat.
Nachdem ich bezeichnet habe , was ich unter Philo sophie verstehe, kann ich zur Beantwortung der Frage schreiten , ob in deren Gebiete Vorurtheile zu finden sind. Vorurtheile sollten in der Philosophie eigentlich
nie vorkommen, weil diese nur aus dem eigenen Denken her vorgehen soll , daher keine fremde Autorität anerkennen
darf; doch ist es erstens die Wissenschaft, die ihr falsche Prämissen liefern kann, die sich dann forterben ; vor allem Anderen aber ist der Umstand verhängnissvoll , dass auf den Universiiäten nicht – wie es sein sollte – Philosophie
überhaupt, sondern eine bestimmte Philosophie , z. B. die
362
Gibt es Vorurtheile im Gebiete der Philosophie ?
Herbart's, Hegel's oder Fichte's u. 8. w. gelehrt wird. So wie ich nun ein Kind im jüdischen, katholischen oder bud dhistischen Glauben erziehen und ihm alle diessbezüglichen Vorurtheile einimpfen kann , so ist es auch mit der Philo sophie. Ein junger Mensch kann durch einen bedeutenden Kopf ganz gut unterjocht werden; er tritt ins praktische Leben , und hat dann eine vorgefasste Meinung über die Welt und deren Unterlage, gestützt auf fremde Autorität er hat mit einem Worte Vorurtheile !
Nicht Herbart oder Schopenhauer hatten Vorurtheile,
insoweit sie nicht durch die Naturwissenschaft geliefert wurden, wohl aber gibt es Vorurtheile der Herbart'schen
und Schopenhauer’schen Schule. Ich habe bereits früher bemerkt , dass Philosophie und Religion das gleiche Ziel aber andere Mittel haben ; man könnte daher auch sagen,
Religion sei eine auf Offenbarungen gegründete Philosophie, oder Philosophie sei eine im Wege der Erkenntniss erworbene Religion. Sobald ich aber mein Beweismaterial auf die Autorität allein stütze und mich auf Pagina so und so viel von Kant oder Hegel berufe, so kann ich es den Theologen nicht verübeln , wenn sie sich auf Hiob 24, 25 oder auf Johannes 10 , 9 berufen , und jede Autonomie zurückweisen.
Man muss zwischen Philosophie als Weltanschauung und Philosophie als Lehrgegenstand einen Unterschied machen. Der selbstständige Philosoph erkennt die Phänome nalität der Welt und sucht sich eine denkbare Unterlage ;
die sich daraus ergebende Moral kann er nun allerdings selbst ziehen , doch kann das eben so gut durch Andere geschehen. Auf den Schulen müsste der Unterschied zwischen
Philosophie überhaupt und einer bestimmten Philosophie scharf eingehalten werden. Betrachten wir uns einmal den Umfang der reinen Philosophie.
Gibt es Vorurtheile im Gebiete der Philosophie ?
363
Das erste Fach , das der Philosophie zugewiesen wird, ist in der Regel die Logik. Die Logik als Vorbedingung eines richtigen Denkens , gehört
so wie die Mathematik
– zu den Disciplinen des Verstandes, und ist für Jedermann eine Nothwendigkeit ; sie gehört in die Schulen überhaupt und nicht erst in die Philosophie. Die Psychologie ge hört seit der Genauigkeit unserer Instrumente und Mikro skope den Physiologen , Anatomen , Aerzten, Biologen weit mehr als der Philosophie. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass ein Philosoph sich nicht damit befassen darf, im Gegen theile , er kann aus ihr für seine Weltanschauung Daten holen oder aus dieser etwas in jene hinübertragen , aber sie gehört nicht in die Philosophie. Die Moral oder das
Moralprincip sind eine Consequenz einer schon bestimm ten Philosophie , nicht der Philosphie überhaupt, weil mit der veränderten Weltanschauung sich auch das Moralprincip
ändert. Insoweit als die Moralprincipien der verschiedenen Systeme übereinstimmen , besteht eben auch eine Ueberein stimmung der Philosophien. Eine Metaphysik im eigent lichen Sinne des Wortes hat es bis auf Zöllner nicht ge geben , insoweit wir aber einen Blick in die Physik einer
vierdimensionalen Welt werfen wollen, so gehört das gewiss den Physikern zu. Der Leser wird nun ausrufen : Was soll also der Philosophie als Wissenschaft bleiben ? Die Philosophie kann als Lehrgegenstand nur zwei Aufgaben haben. Die erste ist die Kritik unseres Erkennt
nissvermögens , um den Menschen die Ueberzeugung beizu bringen, dass die von uns angeschaute Welt rein phänome naler Natur sei, und dass ihr eine andere Welt nothwendig
zu Grunde liegen müsse (es wäre also Kant's Kritik der reinen Vernunft und so manches Andere aus seinen und
Schopenhauer's Schriften zu lehren ). Die zweite Aufgabe einer Philosophie wäre , die Grundzüge der verschiedenen
Gibt es Vorurtheile im Gebiete der Philosophie ?
364
philosophischem Systeme , nicht aber eine bestimmte Philo sophie zu lehren, was zu Vorurtheilen führen muss.
Die erste Aufgabe würde den Zweck haben, dass Jeder die Ergebnisse der Naturwissenschaft mit Vorbehalt auf nehmen und das Phänomenale von der möglichen tieferen Ursache abtrennen würde ; die zweite Aufgabe bätte den noch wichtigeren Zweck, dass Jeder sich jener Weltanschau ung hingeben könnte, die seiner Ueberzeugung am meisten entspricht. Es gäbe dann keine Moral philosophie , sondern Consequenzen der Weltanschauungen, also mehrere Moralphilosophien. Man kämpft für die Freiheit des Glaubens , es muss aber eine Freiheit des Denkens auch geben. Beide sind illusorisch, so lange nur ein bestimmter Glaube dem Kinde,
nur eine bestimmte Philosophie dem Knaben beigebracht wird.*) *) Das, was wir in der Literatur an Geschichten der Philosophie haben , ist dazu nicht geeignet ; sie sind viel zu umfangreich und in der Regel voll kritischer Gedanken des Autors , der sich selbst zur Geltung bringen will. Ich habe mich daher mit dem Gedanken herum
getragen , einen Preis auszuschreiben , oder vielmehr sechs Preise für sechs je etwa fünf Druckbogen enthaltende Abhandlungen über be stimmte Gruppen von Philosophen ; z. B. Leibniz und die Individualisten
als eine Gruppe , Spinoza , Schopenhauer und Hartmann als zweite Gruppe u. 8. f. In diesen Abhandlungen dürfte nichts enthalten sein,
als die metaphysische Unterlage des Menschen und der Welt der be ohne Kritik treffenden Philosophen mit der sich ergebenden Moral und Aufputz ! Das erste ist von einem Deutschen , das zweite von
einem Franzosen kaum zu erreichen ; nur die Engländer machen gute Auszüge. Das Richteramt müsste drei in ihren Anschauungen ver
schiedenen , über die Preiszuerkennung aber in voller Uebereinstimmung urtheilenden Philosophen überlassen werden, und jene Schriften, welche den Preis erhielten , würden dann zusammengedruckt und als eine Art Hexameron herausgegeben. Ich halte das für einen geeigneten Weg,
kurze fassliche und objective Auszüge zu erhalten und werde diesen Gedanken vielleicht noch ausführen, wenn ich genügende ermuthigende
Gibt es Vorurtheile im Gebiete der Philosophie ?
365
Die zwei Aufgaben der Philosophie als Lehrgegenstan des wären also :
1. Die Beseitigung der Vorurtheile des gemeinen Ver standes im Wege der Kritik unseres Erkenntnissvermögens.
2. Die Geschichte der Philosophie. So behandelt würde es wohl Irrthümer , aber keine Vorurtheile auf dem Gebiete der Philosophie und an den Universitäten geben können.
Aus dieser Unterscheidung geht weiters hervor , dass zwischen einem Philosophen und einem Professor der Phi
losophie ein gewaltiger Unterschied hesteht ; ein Philosoph kann nicht ein Jeder sein , ein Professor der Philosophie mit etwas Fleiss Jeder. Die sogenannte Intelligenz sieht die
Sache freilich anders, und glaubt , dass der Professor das verstehen müsse; von dem Philosophen weiss sie nichts. So sind Hartmann, Drossbach , Mainländer, Bahnsen Philosophen,
wenn sie sich auch an Schopenhauer oder Herbart anlehnen, aber keine Philosophie-Professoren , und gibt es sehr viele Philosophie - Professoren, die keine Philosophen sind , deren es immer viel weniger gibt , als Professoren . Mir ist die A version Schopenhauers ganz begreiflich. Unterstützung finde. Der Glaube auf Grundlage von Autorität muss nicht nur auf religiösem , sondern auch auf philosophischem Gebiete
gebrochen werden ; man kann aber von einem jungen Menschen nicht verlangen, dass er die gesammte philosophische Literatur durcharbeite ; ein gutes , objectives, bloss nach diesen Richtungen belehrendes und 400 Seiten nicht überschreitendes Buch existirt nicht und wäre für
das autonome Denken von grosser Wichtigkeit. Auch die Religionen
haben den Glauben an eine Vorsehung, Verantwortlichkeit und geistige Erhebung gemeinschaftlich ; die Formen sind verschieden ,nebensächlich, und gehören der Geschichte an .
In den Schulen wird die entgegenge
setzte Methode angewendet ; auf das Letztere, die Form und den Un terschied, wird das Gewicht gelegt, und das Wesen der Sache kommt hübsch in den Hintergrund. Diese brüderliche Eintracht sind sich die
Herren Pfarrer, Pastoren und Rabbiner gegenseitig schuldig !
366
Gibt es Vorurtheile im Gebiete der Philosophie ?
Die gestellte Frage: Kann es in der Philosophie Vor urtheile geben ? können wir nunmehr dahin beantworten : Es können in der Philosophie Irrthümer vorkom men, zu Folge schlechter, von der Wissenschaft gelieferter Daten, zu Folge schlechter Schlüsse, zu Folge mangelnder Erfahrung ; Vorurth eile kann es aber bei einem Phi losophen nicht geben , denn er wäre dann kein selbst ständig denkender Kopf; wohl aber kann es Vorurtheile bei Philosophie -Professoren geben , weil sie oder wenn sie lediglich auf der Grundlage fremder Gedanken stehen,
daher vorgefasste Meinungen haben !
Schlusswort.
Ich wurde bei der Verfassung des dritten Bandes von
dem Streben geleitet , meinem Leser eine Philosophie in gemeinfasslicher Form zu geben , die bei einigem guten Willen und wiederholtem Lesen mit sehr geringen Vorkennt pissen verstanden werden kann. Die erste Abtheilung dieses
Bandes hatte die Bestimmung, den Leser zum Philosophen zu machen , d. h. durch Vernichtung der Vorurtheile des gemeinen Verstandes den phänomenalen Schein als solchen erkennen zu lassen .
Die zweite Abtheilung ist meine Philosophie , d. h. sie gibt dem Leser den Aufschluss, was ich von der Unter lage der phänomenalen Welt weiss und denke. Ob ihm das genügt , um meine Ueberzeugung zu theilen , das weiss ich nicht, aber ich würde sie ihm wünschen ; sie macht den Menschen nicht schlechter.
Was endlich die von anderen Philosophen wie Leibniz, Herbart, Drossbach oder Schopenhauer, Hartmann, Bahnsen
und Mainländer aufgestellten Unterlagen anbelangt, so verwerfe ich sie nicht , unterstütze sie nicht , sondern schiebe sie einfach zu rück. Wer iminer von ihnen Recht haben sollte in Bezug auf die letzten Unterlagen,
in Bezug auf die directe Unterlage der menschlichen Er
scheinung und phänomenalen Welt ist er im Unrecht ; hinter
Schlusswort.
368
dieser steht vorläufig eine andere Welt und nicht eine Kraft oder Kräfte, am allerwenigsten der „Stoff. Das Letztere
haben Philosophen nie behauptetet, sondern die Männer der Wissenschaft!
Ist es mir gelungen, meinen Leser zu überzeugen oder auch nur seine Ueberzeugung in Bezug auf den modernen heilbringenden und allein seligmachenden phänomenalen
Egoismus zu erschüttern, so wird der Leser in den gegebenen Motiven Kraft genug finden, um herzhaft für die phänome nalen Interessen der Menschheit einzutreten . Darin liegt das Hauptmotiv meiner transscendentalen Speculationen. Der einzelne Mensch, nehmen wir an, mein Leser, lebt vielleicht im Durchschnitte noch 20 Jahre, und erlangt durch
den Tod genügenden, wenn auch nicht vollen Aufschluss; die Belehrung hätte kaum einen Zweck ! Die Menschheit aber lebt noch Tausende von Jahren in Tausend Millionen Indi
viduen, da ist keine Zeit zu verlieren ; die Culturentwickelung ist nur durch Vernichtung des herrschenden Egoismus zu retten. So erklärt es sich, dass ich für das transcenden
tale Interesse des Einzelnen und das phänomenale Interesse der Gesammtheit eintrete ; denn das phänomenale Schicksal des Einzelnen ist eine sehr kurze Episode , das phänomenale Schicksal der Menschheit von langer Dauer.
Und so wie ein gewisser Grad von phänomenaler Entwicke lung nothwendig war , um aus dem Thiere den Menschen, aus dem Wilden den gebildeten Europäer zu machen , so kann nur eine höher organisirte Gesellschaft noch edlere Blüthen hervorbringen !
Darum fort mit allen Vorurtheilen ! Gehen wir objectiv und wohlwollend an die Arbeit , und zwar an die ruhige und friedliche Arbeit ! Wir haben nirgends Feinde zu be siegen, sondern nur Freunde zu gewinnen !
Wenngleich die drei Bände der „ Vorurtheile der Menschheit“ als selbstständige abgerundete Theile bestehen,
Schlusswort.
369
so bilden sie doch ein zusammenhängendes Ganzes, welches ein bestimmtes und klar gestecktes Ziel ebenso verfolgt, wie jeder einzelne Band.
Der erste Band hatte insbesondere nachzuweisen,
dass der Staat oder die Gesellschaft, welche als moralische Persönlichkeit mit Schulden belastet dasteht, für ihre
Mitglieder nichts zu leisten vermag , und dass die nur successive, keines Menschen Rechteschädigende Einschränkung des individuellen Vermögens nur durch die Bildung seines
Collectiv - Vermögens auf die dort geschilderte Art und Weise erfolgen kann .
Es wurde weiters nachgewisen, dass die Ewigkeit und Nothwendigkeit der Kriege, die Quelle unserer Passivität, ein Vorurtheil seien , weil Gleichgewicht und Abrundung der Staaten, im Interesse der Entwickelung und selbst der Nationalität (so lange diese noch Geltung bat ), auch auf friedliche Weise erreicht werden können. Allerdings müsste man alle Diplomaten früher wegjagen , denn es gibt nicht leicht ein treffenderes Wort, als den Satz, dass das Schwert immer gut machen müsse , was die Diplomatie verdorben oder geschürzt hat.*)
Es wurde weiters nachgewiesen , dass wir uns weit weniger um die Liebesverhältnisse , und weit mehr um das Schicksal der Kinder zu kümmern hätten , und dass eine grössere Freiheit in der Schliessung der Eheverträge nur das Material verbessern, die Geburten vermindern und die Prostitution einschränken würde. Das sind die wesentlicheren
Bestrebungen des ersten Bandes. Dabei konnte ich offenbar nicht stehen bleiben , denn abgesehen davon , dass die ehelichen Verhältnisse und die Das jüngste Product ; der Berliner Vertrag , ist auch so eine Missgeburt und Brutstätte von Verwickelungen und unhaltbaren Zuständen. Hellenbach , Vorortheile III.
24
370
Schlusswort.
fideicommissarische Beerbung der Kinderlosen in der Regel die Domaine der Priester sind, welchen es an frommen Stiftun gen nicht fehlt, muss man die Religionsverschiedenheit als eine Quelle von Verwickelungen und Streitigkeiten aller Art
anerkennen , z. B. gegenwärtig in Russland , Deutschland, Frankreich , der Türkei und in Asien überhaupt. Die nationalen Reibungen sind ein Jammer, sie haben aber wenigstens in der gemeinschaftlichen Sprache und der
Gleichberechtigung einen begreiflichen Anlass ; die kirch lichen Reibungen haben hingegen gar keinen Sinn, sondern sind vielmehr und in der Regel das Mittel für ganz andere Zwecke. Es gibt eigentlich nur Menschen , welche an der
Religion, in der sie aufgewachsen , sei sie welche sie wolle, festhalten , oder sich von ihr emancipiren ; die Ersteren werden leicht missbraucht , die Anderen verfallen zumeist dem phänomenalen Egoismus. Es ist also nothwendig, durch Zerstörung der religiösen und wissenschaftlichen Vorurtheile die Einen aus der Vormundschaft zu erlösen, und den phänomenalen Egoismus der Andern zu erschüttern . Das war und ist der Zweck des zweiten Bandes.
Die Erschütterung des Offenbarungsnimbus, komme er nun von der Kanzel oder dem Katheder, ist aber doch
nur eine Negation. Wenn ich den Einen sage, eure ver schiedenen Offenbarungen sind Lehren edler und begeisterter Menschen, aber nicht Gesetze eines göttlichen Willens ; wenn ich den Anderen sage , die Wissenschaft hat sich verrannt, der Materialismus hat sich blamirt, deren Lehren
stehen mit der Erfahrung im flagranten Widerspruche, so ist damit so wenig gedient, als wenn ich Jemand auf die Gefährlichkeit seiner Lage aufmerksam machen würde, ohne ihm die Mittel zu zeigen , wie er sich befreien kann. Es musste der Widerspruch gelöst werden , dass Religion und Wissenschaft gleichzeitig Wabres und Falsches beherbergen können ; diese Aufgabe zu lösen ist nur möglich , wenn
Schlusswort.
371
man auf die Doppelnatur des Menschen und der Welt, die Kant durch die Unterscheidung des Dinges an sich von der Erscheinung angebabnt, zurückgeht. Der dritte Band hat darum klargestellt, dass es keine
empirische Realität, sondern nur Phänomenalität gebe, und dass die Realität in das transscendente Gebiet zu setzen ist ; dass die Wissenschaft daher in ihrem vollen Rechte ist, falls
und wenn sie sich auf das phänomenale Gebiet beschränkt, dass sie aber im Unrecht ist, wenn sie die intelligible Unterlage leugnet. Der dritte Band bat nachgewiesen , dass jede der bestehenden Religionen zwar die göttliche Autorität mit Unrecht für sich in Anspruch nimmt , dass aber in jeder Wahrheiten und Spuren der intelligiblen Welt zu finden sind. Indem ich ferner nachgewiesen , dass der verderbliche, vergängliche Egoismus nur durch einen Egoismus höherer Art, der unvergänglich ist , ausgetrieben werden kann , so wird dadurch auch das Motiv geschaffen, die Ideale zu ver wirklichen, wie wir es im vorigen Capitel gesehen. Ich begreife aber vollkommen , dass der Inhalt des zweiten und dritten Bandes für Alle überraschend sein mag, die von religiösen und wissenschaftlichen Vorurtheilen durch drungen sind ; doch was hat denn im Laufe der Zeiten
nicht überrascht , was uns gegenwärtig ganz natürlich und selbstverständlich erscheint ?
Die Existenz der intelligiblen Welt und unsere Be ziehungen zu ihr vergleicht man am besten mit unserem Verhältnisse zur neuen Welt ; hätte man über die uns
zugeschwemmten Hölzer besser nachgedacht, hätte man bei Norwegen , Isländern und Grönländern besser nachgefragt, so würde man die Kenntniss einer anderen existirenden Welt erlangt haben. Dem analog ist in den Büchern der
Alten genug zu finden , was die gelehrten Herren hätte stutzig machen müssen. Man hätte bei genauerer Kenntniss der Längen- und Breitengrade des alten Continents immer 24*
Schlusswort.
372
hin vermuthen müssen, dass in der grossen übrigbleibenden Wasserfläche noch verschiedene Erhebungen zu finden sein
dürften , und man hätte sich nicht getäuscht. Genau so hätte ein reifliches Nachdenken oder die fleissige Lecture Kants unsere Wissenschaftler auch auf die Vermuthung
bringen können , dass dem mundus phänomenon ein mundus intelligibilis zu Grunde liegen müsse. Das wäre sogar eine nothwendige Schlussfolgerung gewesen , und nicht blos eine Wahrscheinlichkeits - Annahme. Nunmehr aber kommt der wichtigste Vergleich. Wer hätte nach der Rückkehr des Columbus geglaubt,
dass wir in so nahe Berührung und in solcher Wechsel wirkung mit der neuen Welt treten werden ? Wer kann heute sagen, was für Folgen es haben wird , wenn wir im Laufe der Zeit uns dieses , vielen so fremde Gebiet, die intelligible Welt, geistig erobert haben werden ?
Wenn eine Maske einmal erkannt ist, so pflegt sie das Incognito aufzugeben. Wird das geschehen ? Ich glaube ja. Hat die Menschheit den Planeten einmal unterjocht, hat sie das materielle und sociale Problem ge löst , so kann sie ungestraft mit ihren Gedanken in jene Regionen entweichen, und die Worte des grossen Sehers werden sich bestätigen : ,, Wer sucht, der findet, wer klopft,
dem wird aufgethan " . Aber auch dazu müssen wir uns erst organisiren ; kann man das ?
Jedes Wesen muss für die Sphäre organisirt sein , in welcher es leben soll oder will , so der Fisch , der Vogel,
der Mensch. Diese Organisation besorgen wir selbst , und ist die Grundidee Darwin's in Bezug auf Anpassung und den
Kampf um's Dasein gewiss die richtige, der Fehler steckt nur in den drei unbegreiflichen Irrthümern, das ssich Alles in Keimzellen ablagern lasse , und dass von diesen Keim zellen der morphologische Bau und die Einheitlichkeit des
Schlusswort,
373
Bewusstseins hergestellt werde. Unsere Leiden und Arbeiten sind als die Mittel der Entwickelung unseres Charakters,
selbst der Verfeinerung unserer Sinne zu betrachten , aber nicht etwa nur im phänomenalen Sinne , sondern darüber hinaus ; die phänomenale Existenz scheint nur das Mittel zu sein, Eigenschaften zu erwerben. Dem entsprechend wird unsere Beschaffenheit gewiss entscheidend sein für unsere Existenz in und ausserhalb der phänomenalen Welt ;
wir werden in jener Sphäre existiren und wirken , für die wir uns organisirt haben. Da liegt auch der Lohn und die Strafe ; die Ewigkeit ist nur eine relative; wer ewig nichts lernt, bleibt ewig ein Esel, doch liegt diese Argumentation
nicht nur in der Natur der Sache ; sie wird durch die Erfahrung unterstützt. Wenn man die Mystik der Ver gangenheit und Gegenwart durch ein Bad vorurtheilsfreier
Beurtheilung von ihren Schlacken befreit , so bleibt als Residuum : „ Grösstmögliche Beseitigung der phänomenalen Befangenheit, Hervortreten des intelligiblen Subjectes und Function
des Metaorganismus“. Das wird zweifelsohne
immer mehr zunehmen ; ich glaube, dass die schöne Maske immer mittheilsamer und erkennbarer werden wird.
Die
jenigen , die da glauben , dass die unendlichen Zeiträume und der ewige Kampf ums Dasein ein und dieselbe Daseins form in Bandwürmer und Elephanten spalten konnte, haben gewiss kein Recht, an dieser Möglichkeit zu zweifeln ! Ich verabschiede mich nunmehr von meinem Leser
auf längere Zeit, vielleicht auf immer !
Ich weiss , dass
meine ihm dargelegte Anschauung einen verschiedenen Eindruck hervorbringen wird ; Denjenigen nun, die sich ein Bild unserer möglichen zukünftigen Zustände zu machen und dafür sich zu begeistern vermögen, lege ich die Ziffern an's Herz , die sich auf Seite 357 befinden , 1, 10, 1000, 1,000,000 ! Ich gebe nunmehr das Wort einem Dichter :
374
Schlusswort.
Vom Pythagoreischen Lehrsatz. Gedicht von Chamisso.
Die Wahrheit, sie besteht in Ewigkeit, Wenn erst die blöde Welt ihr Licht erkannt;
Der Lehrsatz, nach Pythagoras benannt, Gilt heute, wie er galt zu seiner Zeit. Ein Opfer hat Pythagoras geweiht Den Göttern, die den Lichtstrahl ihm gesandt : Es thaten kund, geschlachtet und verbrannt, Ein Hundert Ochsen seine Dankbarkeit.
Die Ochsen seit dem Tage, wenn sie wittern, Dass eine neue Wahrheit sich enthülle, Erheben ein unmenschliches Gebrülle ;
Pythagoras erfüllt sie mit Entsetzen ; Und machtlos, sich dem Licht zu widersetzen, Verschliessen sie die Augen und erzittern.
Namens - Verzeichniss der im dritten Bande genannten Schriftsteller.
Agrippa. Seite 264, 315—318.
Falkenberg. 84.
Baco . 360. Bahnsen. 367. Balmain. 234 .
Faraday.
Bär.
18.
22, 29, 33 .
Fechner. 8, 53, 57, 147, 312, 313, 328 .
Fichte. 40, 124, 312, 362.
Barnard. 107. Benedikt. 326.
Friese.
Bentley. 27.
Gauss. 56, 71, 72, 110, 172.
Berkeley. 38 . Bischoff. 108 .
Göthe.
Böhm.
Hare.
139.
Brabbée. 232, 264. Brandes. 12. Büchner. 108. Burmeister. 108.
Cabagnet. 277. Caignard de la Tour. 15. Cassini.
13.
Chladni. 9, 10. Copernikus. 18. Crookes. 33, 34, 35, 139, 143-146,
156-158 , 174 , 177 , 179 , 296, 297, 328, 331. 288, 372.
Darwin. Daumer.
168.
Fourier. 313, 356.
Hansen .
275-281 .
13, 313. 39.
139, 277, 328.
Hartmann . ' 4, 40, 102, 104, 105, 115, 120, 125, 126, 132, 271 , 277, 360, 364, 365, 367. Hegel. 40, 289, : 62. Heraklit. 127, 326. Herbart. 23 , 40 , 96 , 289 , 317, 362, 365. Herschel . 39 . Huber. 153.
Humboldt , A. 202, 269, 300. Hume .
38.
Hutscheson
125.
Huygens . 12.
Hypokrates. 291.
Davis. 58, 139, 277. Descartes. 13, 326 , 360.
Jäger.
Dioskorides. 291.
Jenner .
Drossbach . 5, 24, 29, 31 , 40,41,
Johnstone . 122, 285 .
300 .
Janisch. 165, 167, 168. 291 .
60, 101, 105, 106, 141, 277, 365,
Justi.
367.
Kant. 4 , 5 , 22 , 27, 29, 38, 39,
Dulong. 9. Du Prel.
16.
Eckartshausen . 264. Ennemoser. 264 .
Euler.
9, 12.
311 .
44–56, 60, 64, 71, 76, 71, 84-86, 90, 91, 95 , 96 , 108—121, 135,
138, 140-144, 172, 179, 192, 199, 283, 326, 328, 360, 362, 363. Kloben .
107.
376
Namens- Verzeichniss.
Krause .
181–184.
Laplace. 12, 39. Leibniz . 9, 23, 38 , 96, 115, 277, 326, 360, 364, 367.
Liebig. 108.
Schmieder. 305 , 306 .
Schopenhauer. 4 , 5, 13, 15, 22-24 , 29, 40, 49–52, 56, 64, 72, 77–91, 96, 100-106, 110, 120— 126 , 134 bis 136 , 141, 151, 154, 155, 179,
Lilienfeld . 335 . Locke. 360. Mach. 172.
207, 271, 277, 360–367. Schütz. 41 .
Mainländer. 365, 367.
Smith .
Malebranche .
38.
Maudsley. 81. Mayer. 33, 326. More. 56, 72, 172. Müller.
108.
Müller, Joh . 307. Newton . 10–13, 26, 28, 288. Novack .
102.
Opitz. 270. Paracelsus. 304. Parrots . 13.
Perty. 165–168, 264, 270 , 312.
Plato. 140 , 144 , 206 , 214, 277,
13.
Swedenborg . 110, 111, 114, 138. Thiersch . 262. Trittheim . 316. Ulrici . 24.
Varley. 144, 153. Vay. 277. Vogt. 108. 143–155 .
Wallace.
Weber. 9, 20, 28, 35, 39, 53, 144 , Wittwer. 32. Wolf. 125. Wollastone. 125.
Wundt. 7, 8, 45, 48, 53, 56, 177
Zimmermann, Rob. 110, 111, 114 . Zöckler.
9.
Schaarschmidt.
Spinoza. 38, 97, 125, 364.
bis 180.
Rumford . 33. Sartorius . 71 . Sauveur. 9 . Savart.
240, 277, 360. Spencer. 289.
266, 326, 328.
326 , 360.
Priestley . 83. Pythagoras. 277. Reichenbach. 298, 312. Römer.
125.
Sokrates. 114, 138, 140, 144, 206 ,
260 - 262.
185 .
Zöllner. 5, 23, 28, 32, 35, 38, 39, 47–49 , 56, 72, 139–149 , 172,
Schelling. 40 .
176—184, 188 , 210 , 219 , 239,
Schiller. 284, 313 , 332.
259, 262, 266, 269 , 275, 302, 307 ,
Schindler. 202, 264 .
326-331.