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German Pages 416 [420] Year 2000
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER
BAND 93
FRANK SUPPANZ
Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten Zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2000
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Suppanz, Frank: Person und Staat in Schillers Dramenfragmenten: zur literarischen Rekonstruktion eines problematischen Verhältnisses / Frank Suppanz. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Hermaea; N.F., Bd. 93) ISBN 3-484-15093-9
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen und Zeichen
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I. Einleitung
i
II. Die Person als Verkörperung des Staates und die Auflösung der Tragödie
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A. >Die Malthesen: die ideale Autorität als Opfer des Gesetzes — die Demontage eines tragischen Protagonisten
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1. Die historische Belagerung Maltas 1565
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2. Schillers idealistische Interpretation der Malteserordensgeschichte 3. Der Malteserstoff als Drama 4. Die Ausarbeitung des Fragments
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a) Die Struktur der >MaltheserMalthesern< 7. >Die Maltheser< als Differenzierung von Schillers Staatstheorie B. >ThemistoklesUeber die Idee der Alten vom Schicksale der Zusammenhang von Schuldfähigkeit und Schicksal in der antiken Dichtung 4. Schillers Version der analytischen Nemesistragödie: das Gesetz als Schicksal
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96
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no no nj
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B. >Die Braut in Trauen: das analytische Nemesisdrama und die Auflösung der Schauerdramaturgie 1. Der Einfluß der Schauerliteratur auf die >Braut in Trauer< 2. >Die Braut in Trauen als Fortsetzung der >Räuber< 3. >Die Braut in Trauen als analytisches Drama: die Funktion der Geistererscheinungen im Aufklärungsvorgang 4. Die Leistung des Modells >Braut in Trauen: Individualisierung der Nemesis, Aufdeckung von Identität als Furchtmotiv
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C. Die >PolizeyPolizeyPolizeyPolizey< - die Lächerlichkeit der Polizei und die Idealisierung der Gesellschaft a) Die exemplarische Realisierung der Komödientheorie b) Der Komödienentwurf der >Polizey
PolizeyDie Kinder des HausesKindern des HausesAgrippina< und >ElfrideAgrippinaElfride< a) Die Entwürfe der >ElfridePrinzeßin von ZelleWarbeck< und >DemetriusWarbeckWarbeck< als Schauspiel Die Gliederung des Fragments Die erste Einheit: Entwicklung der im Stoff gegebenen Motive und ihrer empfindsamen Elemente der Identitätskrise u n d d e s Adoptionsverlangens . . . . . e) Die weitere Ausarbeitung des Fragments: Objektivierung der Darstellungsperspektive VIII
250 252 255 256 275
f) Das Problem des >WarbeckDemetriusDemetrius< . b) Übersicht über die vorliegenden Aufzeichnungen . . . c) Der historische Demetrius und der letzte Stand von Schillers Fabel d) Das >StudienheftSkizzenSzenarSamborszenenEntwürfe zur zweiten Fassung< und ihre >Redaktionen< (>ReichstagsfassungAkademie-AusgabeUeber die ästhetische Erziehung in einer Reihe von BriefenUeber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von BriefenÄsthetischen Erziehung< heißt es:" Der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie (bloß) moralisch nothwendig machen, indem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft; der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht. (NA 20, 410,22-27)
Schillers ästhetischer Staat ist als Staatsform eine Utopie. Was Schiller im letzten Absatz der >Ästhetischen Erziehung< als reale Vorform dieses Staates ansieht, sind kleine, elitäre gesellschaftliche Gruppen.' 6 In der IJ
Damit trifft die Kritik nicht ganz zu, die Wallraven an Schillers Gesetzesbegriff formuliert hat: »Schiller operiert mit einem Gesetzesbegriff verfassungsrechtlichen Niveaus, ohne zu bedenken und zu erwägen, daß dieser Gesetzesbegriff unter Umständen wenig hinreichend sein könnte, aktuelle menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, was also bedeutet, daß die Gesetze am Menschen vorbeiformuliert sein könnten« (Wallraven 1967, S. 60). 14 Zu den Widersprüchlichkeiten der >Ästhetischen Erziehung« und ihrem Grund in den zwei Fassungen des Texts siehe Wolfgang Düsing, Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Text, Materialien, Kommentar, München/Wien 1981, S. iG^f. '' Darauf weist hin Ewers 1978, S. 62, der im letzten Brief allerdings eine Rechtfertigung staatlicher Zwänge sieht. 16 Daß die ästhetische Praxis in Form von elitären ästhetischen Zirkeln gedacht ist, wird festgehalten bei Rolf Grimminger, Die ästhetische Versöhnung. Ideologiekritische Aspekte zum Autonomiebegriff am Beispiel Schillers, Acta Germanica 9/1976, S. 141159, hier S. 158: Grimminger kritisiert, daß diese elitäre Gruppe nur auf der Basis einer Arbeitsteilung entstehen kann, die Schiller in der >Ästhetischen Erziehung«
>Ästhetischen Erziehung< wird auf diese Weise die staatstheoretische Reflexion in die Beschreibung eines von der Staatsform unabhängigen gesellschaftlichen Ideals überfuhrt. 17 Diese Transformation des Themas offenbart eine begriffliche Schwäche in Schillers Text. Anders als Wilhelm v. Humboldt in seinen >Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirklichkeit des Staats zu bestimmen^8, der von einem Dualismus zwischen Gesellschaft und Staat ausgeht und politische Reformen nicht vom Individuum, sondern von einer Nationalversammlung erwartet, führt Schiller keine strikte begriffliche Trennung zwischen Gesellschaft und Staat in seine philosophischen Reflexionen ein.19 Diese begriffliche Ungenauigkeit ist in der >Ästhetischen Erziehung< möglich, weil Schillers Arbeitseinheit das Individuum ist.20 Aus einer solchen personenzentrierten Perspektive hat Schiller sein gesamtes Werk verfaßt/1 Ihre Bedeutung wächst in der klassischen Phase und bekommt hier philosophisch-systematischen Stellenwert. Durch die Kantrezeption erhält der Begriff der Person bei Schiller eine spezifische Bedeutung. Er enthält Ansprüche, die Schiller als Idealisten ausweisen und deren Problematik und Begrenztheit in den Dramenfragmenten unter anderem herausgearbeitet wird. >Person< heißt für Schiller nun das autonome, vernunftbestimmte Individuum." Darunter versteht er, in enger Anlehnung an Kant, ein Individuum, das seine Handlungen durch den Willen bestimmt.2' Bereits in der 1793 erschieselbst problematisiert. Daß diese ideale Gesellschaft nach der Wendung des letzten Briefs als konkrete gesellschaftliche Form unter den politischen Strukturen des Absolutismus gedacht ist, vermerkt Bernd Fischer, Realistischer Idealismus als Kulturpolitik: Schillers Briefe >Über die ästhetische Erziehung des MenschenWallenstein< die Unzufriedenheit mit der eigenen philosophischen Arbeit und deren mangelnde Eignung als Hilfsmittel bei der Dramenproduktion betont: »Es ist ja überhaupt noch die Frage, ob die Kunstphilosophie dem Künstler etwas zu sagen hat. Der Künstler braucht mehr empirische und specielle Formeln, die eben deßwegen für den Philosophen zu eng und zu unrein sind; dagegen dasjenige, was für diesen den gehörigen Gehalt hat und sich zum allgemeinen Gesetze qualifiziert, für den Künstler bei der Ausübung immer hohl und leer erscheinen wird.« (Schiller an Wilhelm v. Humboldt vom 27. 6. 1798, NA 29, 245,3-9)
sammenhang zwischen Vernunftautonomie und der möglichen Etablierung vernünftiger Verhältnisse in der Gesellschaft dar. Der Kunst wurde in Schillers ästhetischem Erziehungskonzept eine sehr abstrakte Funktion zugeschrieben. Sie besteht in dem formalen Akt, im Publikum die Fähigkeit zum Einsatz des autonomen Willens zu fördern. Kunst hat für Schiller eine psychagogische Funktion, die nur mittelbar, über die Ertüchtigung der Individuen, auf die politischen Verhältnisse wirkt. War also schon die >Ästhetische Erziehung< keine Schrift, mit der direkte tagespolitische Aussagen gemacht oder Stellungnahmen für eine bestimmte Staatsform formuliert werden sollten, so gilt der Verzicht auf einen unmittelbar politischen Anspruch in noch viel stärkerem Maße für die Dramen/6 In den Dramen dürfen die durch die Stoffe gegebenen politischen Konstellationen daher nicht als Stellungnahmen Schillers gedeutet werden, und auch das Schicksal von Schillers Protagonistinnen und Protagonisten stellt keine Zustimmung oder Ablehnung des Autors gegenüber deren politischen Ansprüchen dar. 26
Siehe dazu Wallraven 1967, S. 58. Dort wird nachdrücklich daraufhingewiesen, daß Schiller sich nicht als politischen Schriftsteller sah. Einschlägige Zeugnisse zu dieser Selbsteinschätzung sind zum einen Schillers Brief an Caroline von Beulwitz vom 27. ii. 1788: »Mir für meine kleine stille Person erscheint die große politische Gesellschaft aus der Haselnußschaale, woraus ich sie betrachte, ohngefähr so, wie einer Raupe der Mensch vorkommen mag, an dem sie hinaufkriecht. Ich habe einen unendlichen Respekt für diesen großen drängenden Menschenocean, aber es ist mir auch wohl in meiner Haselnußschaale. Mein Sinn, wenn ich einen dafür hätte, ist nicht geübt nicht entwickelt, und solange mir das Bächlein Freude in meinem engen Zirkel nicht versiegt, so werde ich von diesem großen Ocean ein neidloser und ruhiger Bewunderer bleiben« (NA 25, 146,25-33). Zum anderen zu beachten ist der Brief an Cotta vom 14. 6. 1794. Hier begründet Schiller seine Absage, eine politische Zeitschrift herauszugeben, mit seiner angeschlagenen Gesundheit, fehlender Begabung und Neigung sowie Unerfahrenheit im politischen Metier: »Mich würde ich exponieren, wenn ich mit einer hinfälligen Gesundheit in ein für mich ganz neues und eben darum höchst schwüriges Fach mich stürzte, wozu es mir sowohl an Talent als an Neigung fehlt (...)« (NA 27, 14,21-24). Schiller verweist im weiteren auf seine Unbeschlagenheit in politischen Dingen mit dem Hinweis, daß er sich »erst im politischen überhaupt umsehen« müßte (NA 27, i4,26£). Vgl. hierzu auch die Horenankündigung von 1794: »Zu einer Zeit, wo das nahe Geräusch des Kriegs das Vaterland ängstiget, wo der Kampf politischer Meinungen und Interessen diesen Krieg beinahe in jedem Zirkel erneuert und allzuoft Musen und Grazien daraus verscheucht, wo weder in den Gesprächen noch in den Schriften des Tages vor diesem allverfolgenden Dämon der Staatskritik Rettung ist, möchte es ebenso gewagt als verdienstlich sein, den so sehr zerstreuten Leser zu einer Unterhaltung von ganz entgegengesetzter Art einzuladen. (...) je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was r e i n m e n s c h l i c h und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen.« (NA 22, 106,4-22)
Dennoch ist das Verhältnis von Person und Staat ein wichtiges Thema der späten Dramatik, das auch hier stets aus der Perspektive der Person ausgearbeitet wird. 27 Wegen der dramaturgischen Problematik bei der Darstellung politischer Zusammenhänge verwendete Schiller große Mühe darauf, diese in individuellen Handlungen oder im individuellen Bewußtsein der Dramenfiguren zur Darstellung zu bringen. Dies wird möglich, weil sich gegenüber den frühen Dramen die Prinzipien verändert haben, nach denen Schiller seine Dramenfiguren gestaltet. Individuelle Charaktere, die Schiller in der Regel in seinen Stoffvorlagen fand oder aus ihnen ableitete, werden nach den anthropologischen Kategorien gedeutet, die Schiller in seiner philosophischen Phase entwickelt hat. Darauf hat Emil Staiger bereits 1955 hingewiesen/8 In der jüngeren Forschung wurde die Praxisbezogenheit und damit die anthropologische Zentrierung von Schillers Werk am nachdrücklichsten von Walter Hinderer herausgearbeitet.29 Mit den anthro27
Daß das abstrakte Phänomen des Staats in Schillers Augen nur aus der individuellen Figurenperspektive zur Darstellung kommen kann, ist, in Zusammenhang mit den >MalthesernWilhelm TellDiätedk< als Sorge um eine Vermittlung und Optimierung von Lebenskräften: Teresa Cadete, Schillers Ästhetik als Synchronisierung seiner anthropologischen und historischen Erkenntnisse, WB 37/1991, S. 839-852. - Im Rahmen dieser anthropologischen Gesamttendenz zeichnet sich Schillers Werk jedoch auch dadurch aus, daß anthropologische Werte in Konfliktfällen dargestellt werden. Einer dieser Fälle wird in der vorliegenden Arbeit untersucht. Die Sorge um das Gleichgewicht von Gemütskräften manifestiert sich hier weniger in der pädagogischen Funktion von Literatur, als vielmehr darin, daß in den Stoff, der das Primat der Vernunft betonen müßte, immer wieder das sinnliche Recht des Individuums eingezeichnet wird. - Eine grundlegende Studie, die das anthropologische Interesse des jungen Schiller nachweist und dessen Entfaltung in den frühen Schriften aufzeigt: Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller, Würzburg 1985. Die anthropologische Zentrierung von Schillers Geschichtsdarstellungen hat in jüngerer Zeit hervorgehoben Daniel Fulda, Wissenschaft als Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1769-1860, Berlin/New York 1996 (Zusammenfassung S. 261). 50 NA 2i, 288. Auf diese, durch Schillers spätere Streichung in den Kleineren prosaischen Schriften oft übersehene Textstelle hat hingewiesen Joachim Bernauer, »Schöne Welt, wo bist du?« Über das Verhältnis von Lyrik und Poetik bei Schiller, Berlin 1995, S. 245ff. ! ' Wilhelm Spengler, Das Drama Schillers. Seine Genesis, Leipzig 1932. Spengler legt dabei ein chronologisch systematisiertes Verfahren von Stoffindung und ideeller Aufladung zugrunde, das den heterogenen Charakter der Fragmenttexte stark schematisiert: »Fassen wir zusammen: Dieses Einbauen jedes Stoffes in eine geschlossene Ideenwelt hat Schillers Fabeln jenes D o p p e l g e s i c h t gegeben, das sie auf der einen Seite als so einfaches, individuell eigentümliches Geschehen - andererseits und zugleich aber als das jede Einmaligkeit sprengende Symbol und als wahrhaftes Sinnbild allgemeiner, weltfassender Ideen erscheinen läßt« (S. 109). IO
geblich wahren möchte. Das Stück zeigt am Schluß Teils Einbindung in den neuen Staat. Das Verhältnis von Person und Staat spielt auch im >Wallenstein< eine bedeutende Rolle, denn als zur Treue verpflichteter Untertan (Staatsbürger) kann Wallenstein seine politischen Friedensvisionen nicht realisieren; so macht ihn sein Ehrgeiz zum Hochverräter und führt zu dem Versuch, sein Heer als Staat im Staate (oder außerhalb des Staates) zu etablieren. In Schillers Dramenfragmenten, die fast ausschließlich aus der klassischen Phase stammen, ist das Thema von Person und Staat dominanter als im veröffentlichten Werk. In diesen Texten wird ein Spektrum der Behandlung des Themas eröffnet, das aus verschiedenen Gründen über das des veröffentlichten Werks hinausreicht und das in verschiedener Weise mit dem Status der Texte als nicht fertiggestellter Werkpläne zusammenhängt. Dieses Spektrum der literarischen Ausarbeitung des Verhältnisses von Person und Staat soll in der vorliegenden Arbeit erschlossen und dargestellt werden. Die Untersuchung der Textgattung Fragment in Schillers Oeuvre unter einer klar definierten inhaltlichen Fragestellung soll dabei nicht die potentielle Offenheit der Texte verstellen, sondern soll die häufig zunächst wirr, unstrukturiert, redundant, banal oder unverständlich erscheinenden Texte interpretierbar machen. Vor der Folie einer nachweislich für Schiller wichtigen Fragestellung beginnen sie lesbar zu werden als Projekte, in denen (auch) ein inhaltliches Problem dramatisch zu bewältigen versucht wird. Schillers Dramenfragmente liegen in den Bänden n und 12 der Schiller-Nationalausgabe in mustergültiger Edition von Herbert Kraft vor. 32 Der besondere Charakter dieser Texte hat anläßlich der Edition }2
Zum Verfahren und der Theorie dieser Editionen siehe Herbert Kraft, Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregorlin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff. Unter Mitarbeit von Michael Billmann, Darmstadt 1990. Zur räumlichen Anordnung der Texte siehe das Kapitel VIII (>Mehrfach besetzte Funktionspositionen als >Text< und die Räumlichkeit als ein Theorem der FragmenteditionÄsthetischer TheorieDas Prinzip Hofmung< und Friedrich Schlegels >Athenäums-Fragmenten Ebd., S. 24. Dies ist grundlegend dargestellt bei Eberhard Ostermann, Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee, München 1991, S. 50-65. 45 Die Differenz in der Bewertung fragmentarischen Schreibens zwischen Schiller und Friedrich Schlegel am Beispiel des Begriffs der intellektuellen Anschauung ist dargestellt bei Heinz Gockel, Friedrich Schlegels Theorie des Fragments, in: Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, hrsg. von Ernst Ribbat, Königstein/Ts. 1979, S. 22—37, hier S. 2.$f. Die programmatisch gesellschaftskridsche Funktion, die das Fragment als publizistische Form der Frühromantik (in der Tradition aufklärerischer Debatten) hat, wird herausgearbeitet bei Gerda Heinrich, Autonomie der Kunst und frühromantisches Literaturprogramm. Friedrich Schlegels frühe geschichtsphilosophisch-ästhetische Konzeption, in: Kunstperiode. Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, hrsg. von Peter Weber u. a., Berlin 1982, S. 104-143, hier S. 127; die offene Form des Fragments war für Friedrich Schlegel dialogisch angelegt und sollte als Freiraum für Autonomie Selbstdenken hervorrufen und somit Individualität gegen Systemzwänge verteidigen (S. 128—133). — In Schillers klassischem Literaturprogramm sollte Vernunftautonomie des Publikums gerade durch das Gegenteil, durch die klassizistische und damit geschlossene Form erzielt werden, die gezielte Affektsteuerung und damit Vernunftaktivierung ermöglicht. 46 Oehme 1985 b, S. 8f. 44
mationsprozeß unberücksichtigt, den die Inhalte der Stoffe durch ihre Vermittlung47 im Medium Literatur durchlaufen, und übersieht damit auch die Leistungen der Vermittlungsarbeit und des trans formatorischen Verfahrens. Aus Staatsaktionen werden anthropologische Probleme, deren politische Relevanz herauszuarbeiten Teil eines komplizierten Konstruktionsprozesses ist. Gesellschaftliche Probleme können in Schillers Dramen und Fragmenten nur thematisiert werden, wenn sie an das bewußte Handeln der Figuren gekoppelt sind und damit zum Bestandteil des Figurenbewußtseins werden. In diesem Verfahren müssen verschiedenste an ein Werk gestellte Ansprüche zum Ausgleich gebracht werden. In einer Mischung aus Intuition und Reflexion, mit der dieser Prozeß betrieben wird, werden dabei Möglichkeiten und Grenzen eines Stoffs und seines literarischen Aneignungsverfahrens ausgelotet. Die Form, die dieser Prozeß annimmt, und das vorläufige Ergebnis, das darin erzielt wird, machen Schillers Fragmente zu komplex strukturierten Dokumenten eines Konflikts zwischen affirmativen und kritischen Tendenzen, der in den meisten Fällen nicht eindeutig entschieden wird und daher eine flexible Interpretation erfordert. In der vorliegenden Arbeit wird daher von einem pragmatischen Fragmentbegriff ausgegangen. In Abwandlung einer Formel aus der Bedeutungstheorie Donald Davidsons48 heißt das: Ein Fragment ist 47
Den Vermittlungsgedanken hat Peter Szondi am Ende seiner Untersuchung über das bürgerliche Trauerspiel als Aufgabe der Literatursoziologie hervorgehoben: »Aufgabe der Literatursoziologie ist es weniger, diese Differenzen in der dargestellten Wirklichkeit der Stücke wiederzufinden, als daß sie die Vermittlungen - z. B. in der Dramentechnik oder der Wirkungsästhetik - evident machen müßte, durch die hindurch die Werke und ihre Theorien historisch - und das heißt auch: gesellschaftlich - bedingt sind.« (Peter Szondi, Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister, Studienausgabe der Vorlesungen, Bd . i, hrsg. von Gerd Mattenklott. Mit einem Anhang über Moliere von Wolfgang Fietkau, Frankfurt a. M. liBestimmtheit< Ausdruck von Autonomie«, S. 265). )0 Darauf hat unter Berücksichtigung der personenzentrierten Ausarbeitungsperspektive hingewiesen Roch 1960; eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse findet sich auf S. 362—367.
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Plans nicht zuließen (sonst läge er als fertiggestelltes Stück vor). Daß Schiller aber über das Vorliegende hinaus weitreichende Konzeptionsänderungen hätte einführen können, die die festgestellten Probleme beheben, muß außer bei den Plänen, die Schiller selbst endgültig aufgegeben hat, grundsätzlich für möglich gehalten werden. Seit der Veröffentlichung von Krafts Edition ist als einzige Monographie zu Schillers Dramenfragmenten 1985 die bereits erwähnte Dissertation von Matthias Oehme vorgelegt worden. Unter dem Titel >Schillers dramatische Entwürfe - Zur historischen Orts- und Funktionsbestimmung der Dramaturgie und Dramatik Schillers nach dem »Wallensteim« wird in dieser Arbeit in Abgrenzung von Krafts Ansatz die historische Kontextualisierung der in Band 12 der Nationalausgabe erschienenen Fragmente (also unter Auslassung des >DemetriusDon CarlosDie Braut in Trauen, >Rosamund< oder die >Braut der HölleDie Gräfin von Flanderm, >Elfride< und die Seedramen >SeestückDie Flibustiers< und >Das Schifft. Die Pläne >Die Braut in Trauer< und >Elfride< werden, wie bereits erläutert, in dieser Arbeit als Formmodelle interpretiert. In den Entwürfen >Rosamund oder die Braut der Hölle< und >Die Gräfin von Flandern< werden Versuche unternommen, eine phantasieansprechende Dramatik zu entwikkeln, die keine Ansätze zur Darstellung gesellschaftlicher Themen erkennen lassen; sie beinhalten formal und motivisch keine über den hier interpretierten Bestand hinausweisenden Elemente, die im Rahmen dieser Arbeit fruchtbar interpretiert werden könnten.' 6 In den Seedramen dagegen sind Ansätze vorhanden, den exotischen Reisestoff mit Motiven der Zivilisationskritik und der geschichtsphilosophischen Kategorie des Notstaats zu interpretieren, doch diese Elemente beschränken sich auf wenige Sätze und lassen noch keine funktionale Einbettung in eine Handlungsstruktur erkennen.' 7 Schließlich wird auf die Interpretation des >Entwurfs eines Lustspiels im Geschmack von Goethes Bür14
Dennoch sind die Gründe, warum der >Menschenfeind< Fragment geblieben ist, von ähnlicher Art wie bei einem Teil der in dieser Arbeit besprochenen Fragmente, und gehen auf die unzureichende dramatische Bewältigung eines philosophischen Problems zurück. Dies ist dargestellt bei Kate Hamburger, Schillers Fragment >Der Menschenfeind< und die Idee der Kalokagathie, DVjs 30/1956, S. 367—400, hier S. 36yf., 377, 379f" Erich Schmidt, Aus Schillers Werkstatt, Deutsche Rundschau i23/April-Juni 1905, S. 167—179. '6 Zu diesen Fragmenten vgl. Benno von Wiese, Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 694ff. und Oehme 1985 b, S. 50—53. 17 Vgl. die Beschreibungen der Fragmente bei v. Wiese 1959, S. 6921". und Oehme 1985 b, S. 5 3ff21
gergeneral< verzichtet; das Fragment wurde ausdrücklich in der Absicht skizziert, Goethes >Bürgergeneral< zu entpolitisieren. Der Textkorpus der Dramenfragmente Schillers bietet damit im Hinblick auf die Untersuchung des Themas von Person und Staat zweierlei. Zunächst kann ein Spektrum der Behandlung des Themas erschlossen werden, das über das in den fertiggestellten Dramen vorliegende hinausgeht. Die veröffentlichten Dramen lassen sich vor diesem Hintergrund einerseits als Texte lesen, mit denen Schiller ebenfalls an dem hier vorgestellten Problemhorizont von Person und Staat arbeitet (>WallensteinWilhelm TellgenderMaria StuartDie Braut von MessinaDie Jungfrau von Orleans^ stärker zur Geltung. Das Nebeneinander und Ineinander-Übergehen staatstheoretischer, soziologischer und geschichtsphilosophischer Fragestellungen in Schillers Spätwerk wäre vor diesem Hintergrund ebenfalls einer eigenen Untersuchung wert. Darüber hinaus kann bei der Analyse der Fragmente der Prozeß beobachtet werden, in dem sich Schiller die Möglichkeit zur Darstellung einer staatstheoretischen Problematik erarbeitete. Da ist zum einen die Entwicklung dramaturgischer Theorien und das Ringen um ihre praktische Umsetzung. Aufgrund der Psychologisierungs- und Motivierungsansprüche werden dramaturgische Modelle in Aporien geführt und erzwingen neue Formen. Zum anderen bringt die dramaturgische Arbeit Motive hervor, die über ihren Affektgehalt hinaus anthropologische Inhalte illustrieren und deren gelungene Funktionalisierung Sinnzusammenhänge stiftet. Der sinnstiftende Einsatz solcher anthropologischer Deutungsschemata wiederum ermöglicht die Wiedergabe struktureller Zwänge in individuellen Handlungskontexten. Diese Prozesse sind in den Dramenfragmenten in verschränkten und komplexen Zusammenhängen zu beobachten. Durch ihre Darstellung können theoretisch-poetologische Aussagen über die Entstehungsvoraussetzungen von Schillers Spätwerk gemacht werden. Die Fragmente eröffnen einen historischen Kontext und führen ein literarisches Programm vor, aus dem die fertiggestellten Dramen einen 22
Ausschnitt darstellen. Deshalb kann in ihnen kein unideologischerer Schiller enthüllt werden, der im fertiggestellten Werk verborgen bliebe. Die Analyse der Fragmente schärft aber den Blick für die oft übersehenen, sympathisch unideologischen Tendenzen und das kritische Bewußtsein eines Klassikers. Zugleich kann mit der Analyse der Fragmente eine Formulierung von Unbehagen am Verhältnis von Person und Staat herausgearbeitet werden, das in vielfachen Transformationen bis heute präsent ist.
II. Die Person als Verkörperung des Staates und die Auflösung der Tragödie
In diesem Kapitel werden zwei Fragmente behandelt, in denen Schiller eine dramatische Umsetzung seiner idealistischen Staatstheorie unternimmt. Es handelt sich um das Fragment >Die MaltheserThemistoklesÄsthetischen Erziehung< entwickelt werden und die hier kurz dargestellt werden sollen. Im dritten und vierten Brief wird eine kulturphilosophische Skizze zum Verhältnis von Person und Staat vorgelegt, die den Rahmen für das ästhetische Erziehungsprogramm bildet. Dieses Verhältnis hat nach Schiller den Charakter einer vertraglichen Bindung. Das Vertragsmodell stellt seit Beginn der Neuzeit die gängige, auf individueller Entscheidung und naturrechtlicher Argumentation fußende Staatstheorie dar.1 Die in diesem Modell dominierende Voraussetzung, die Vernunftbestimmung des Subjekts, entspricht Schillers Intuitionen vom starken, selbstbestimmten Individuum. Die Absolutheit des zum Vetragsmodell gehörenden Vernunftbegriffs hat Peter Furth* bei seiner Analyse des Paradigmenwechsels vom Vertrags- zum Rollenmodell in der Gesellschaftstheorie hervorgehoben: Der zum Vertragsmodell gehörende Freiheitsbegriff war absolut. Man kann seine Absolutheit gar nicht radikal genug denken. In seiner Perspektive lag die Freiheit vor aller Gesellschaft und schloß die Möglichkeit ihrer Verneinung ein. (...) Diese Freiheit, als die Fähigkeit eines Subjekts gedacht, war die Fähigkeit der Abstraktion von aller sozialen Vermitteltheit. Erst das Individuum, das aus seiner Abstraktion hervorging, war ein wahres Subjekt, nämlich Subjekt im Sinne der Autarkie und Subjekt im Sinne des Gemein1
Siehe dazu Wolfgang Kersting, Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 901-946, hier bes. S. yoiL 1 Peter Furth, Soziale Rolle, Institution und Freiheit, in: Soziologie. Arbeitsfelder, Theorien, Ausbildung. Ein Grundkurs, hrsg. von Harald Kerber und Arnold Schmieder, Reinbek 1991, S. 213-251.
wesens. (...) Diese Freiheit, die Rousseau einem Robespierre, Kant, Fichte und Hegel hinterließ, war doppelsinnig: Sie sollte als individuelle Freiheit im selben Zuge auch die Ermöglichung von Gesellschaft sein; im Sinne der Individualität gedacht, sollte sie ebenso als Fähigkeit der Totalisierung ein gesellschaftliches Ganzes bewirken, das mehr war als die Summe seiner Teile.5
Neben dem Vernunftanspruch wird im Vertragsmodell eine weitere Anforderung an das Subjekt gestellt: Das Subjekt als Vernunftwesen ist zugleich Objekt seiner Entscheidung, das heißt es selbst als Vernunftwesen verpflichtet sich in seiner Eigenschaft als Sinnenwesen.4 Während Schiller in seinen theoretischen Schriften von >Ueber Anmuth und Würde< bis >Ueber naive und sentimentalische Dichtung< die Bedeutung der Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft betont, erhalten seine Reflexionen über gesellschaftliche Zusammenhänge und Verhaltensweisen eine Schlagseite zugunsten der Vernunft. Diese ergibt sich sich in der >Ästhetischen Erziehung< aus der im fünften Brief vorgelegten politischen Analyse der Französischen Revolution: Das Gebäude des Naturstaates wankt, seine mürben Fundamente weichen, und eine p h y s i s c h e Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren, und wahre Freyheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen. Vergebliche Hoffnung! Die m o r a l i s c h e Möglichkeit fehlt, und der freygebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht. In seinen Thaten mahlt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls, und beyde in e i n e m Zeitraum vereinigt. In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln, und mit unlenksamer Wut zu ihrer thierischen Befriedigung eilen. (...) Auf der ändern Seite geben uns die civilisirten Klassen den noch widrigem Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist. (NA 20, 319,13 -320,4)
Die Vernunftlastigkeit von Schillers politischer Argumentation wird in der folgenden Beschreibung seines Vertragsmodells, das er im dritten Brief der >Ästhetischen Erziehung< entwickelt, deutlich werden. Hier wird die Ausbildung von Staaten in der Menschheitsgeschichte als von
'Ebd., S. ii6f. Auf diese »anspruchvollste Fassung der Willenstheorie« weist hin Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, Darmstadt 1994, S. 28.
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physischen Bedürfnissen geleitete Konstruktion von Gemeinschaften interpretiert, in denen noch keine vernunftgeleitete gesellschaftliche Verkehrsform etabliert ist. Durch einen neuen Gesellschaftsvertrag wird diese Staatsform, der >NotstaatVernunftstaat< überführt. Die von Schiller vorgelegte Fassung der Vertragstheorie entspricht dem Stand, auf den Kant dieses staatstheoretische Modell gebracht hat. Hier wird nicht mehr davon ausgegangen, daß es einen historischen Vertragsschluß der Gesellschaftsmitglieder gab, der zur Staatsgründung führte, wie es in den älteren Vertragstheorien der Fall war. Der Vertragsschluß jedes Individuums mit dem Staat findet vielmehr rückblikkend als Bewußtseinsleistung statt. Der Anlaß zu diesem Verfahren ist nach Schiller das Erwachen der Vernunft, das ein Ungenügen an der aus physischen Bedürfnissen hervorgehenden Gesellschaftsstruktur hervorruft: Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an, als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freye Intelligenz noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bey dem nicht stille steht, was die bloße Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm anticipirte, durch Vernunft wieder rückwärts zu thun, das Werk der Noth in ein Werk seiner freyen Wahl umzuschaffen, und die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben. Er kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her und findet sich - in dem Staate. Der Zwang der Bedürfnisse warf ihn hinein, ehe er in seiner Freyheit diesen Stand wählen konnte; die Noth richtete denselben nach bloßen Naturgesetzen ein, ehe er es nach Vernunftgesetzen konnte. Aber mit diesem Nothstaat, der nur aus seiner Naturbestimmung hervorgegangen, und auch nur auf diese berechnet war, konnte und kann er als moralische Person nicht zufrieden seyn - und schlimm für ihn, wenn er es könnte! (NA 20,
In dieser Situation findet ein imaginärer Vertragsschluß des Individuums mit der Gesellschaft statt. Das Individuum konstituiert die gesellschaftliche Ordnung, indem es seinen Platz in der Gesellschaft als bewußte und freiwillige Einnahme einer sozialen Position definiert. Dadurch ist es vertraglich an die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft gebunden:' 5
Vgl. dazu Michael J. Böhler, Soziale Rolle und Ästhetische Vermittlung. Studien zur Literatursoziologie von A. G. Baumgarten bis F. Schiller, Bern/Frankfurt a. M. 1975. Böhler hat darauf hingewiesen, daß Schiller hier eine Denkfigur entwickelt, die bei entwicklungspsychologischer Interpretation eine Bewußtseinsleistung beschreiben würde, die als Konstitution von und Differenzierung zwischen Ichbewußtsein und Rollenbewußtsein verstanden werden kann (S. 2j4f.).
So holt er, auf eine künstliche Weise, in seiner Volljährigkeit seine Kindheit nach, bildet sich einen N a t u r s t a n d in der Idee, der ihm zwar durch keine Erfahrung gegeben, aber durch seine Vernunftbestimmung nothwendig gesetzt ist, leyht sich in diesem idealischen Stand einen Endzweck, den er in seinem wirklichen Naturstand nicht kannte, und eine Wahl, deren er damals nicht fähig war, und verfährt nun nicht anders, als ob er von vorn anfinge, und den Stand der Unabhängigkeit aus heller Einsicht und freyem Entschluß mit dem Stand der Verträge vertauschte. (NA 20,
Die hier vorgelegte Argumentation soll ein Verfahren bieten, mit dem die entfremdende Existenz eines Individuums in einer Gemeinschaft vermieden werden kann, und bereitet damit die Entfremdungskritik im sechsten Brief vor, von der aus die Kunst als Hort menschlicher Totalität entwickelt wird. Die Imagination eines Naturstandes dient als Korrektiworstellung zum Vergleich mit der realen Existenz in der Gesellschaft. Das aus diesen anthropologisch-präsoziologischen Erwägungen heraus beschriebene Verfahren hat neben der gesellschaftlichen aber auch eine staatstheoretische Relevanz. Durch den Akt der Selbstintegration in die Gemeinschaft werden Person und Staat erst im eigentlichen Sinn konstituiert. Der Vernunftakt betont die Personalität des Menschen, und durch den Vertragsschluß wird die Verfaßtheit der Gesellschaft formal etabliert. Die Legalität des Vernunftstaates wird auf diese Weise als gesellschaftliche Form vernünftiger Subjektivität gedacht, das heißt das Normsystem des Staates ist durch Vertragsabschluß besiegelt. Damit hat sich das Individuum seine Gesetze selbst gegeben, ist für die Vernünftigkeit der staatlichen Verfassung verantwortlich und repräsentiert im Idealfall die staatliche Verfassung, sofern sie vernünftig ist. Diese Konsequenz wird im vierten Brief ausdrücklich gezogen. Hier wird der ideale Mensch mit dem Staatswesen identifiziert. Damit wird ideales Menschsein als Aufgehen in der Existenz als >zoon politikon< gesehen oder, soziologisch ausgedrückt, die Erfüllung der öffentlichen Rolle als anthropologisches Ideal festgesetzt: Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseyns ist (...). Dieser reine Mensch, der sich mehr oder weniger deutlich in jedem Subjekt zu erkennen giebt, wird repräsentirt durch den S t a a t ; die objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannichfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen trachtet.
(NA 20, ) 16,12-20)
Nach dem imaginären Integrationsakt des Individuums muß auch geklärt werden, wie diese staatsrepräsentierende Haltung des Individuums 28
in der Realität gewährleistet werden kann. Hierbei soll der politische Totalitarismus, der in der skizzierten Vorstellung liegt, dadurch abgewendet werden, daß der Staat die >ideale< Haltung nicht erzwingt, sondern das Individuum sich aus eigenem Antrieb zur öffentlichen Person macht. Damit kann für Schiller die Integrität des Individuums gewährleistet werden:6 Nun lassen sich aber zwey verschiedene Arten denken, wie der Mensch in der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentreffen, mithin eben so viele, wie der Staat in den Individuen sich behaupten kann: entweder dadurch, daß der reine Mensch den empirischen unterdrückt, daß der Staat die Individuen aufhebt; oder dadurch, daß das Individuum Staat wird, daß der Mensch in der Zeit zum Menschen in der Idee sich v e r e d e l t . (NA 20, 316,20-27)
Die Anforderungen, die sich aus diesem Gedankengang für das Individuum ergeben, sind in einem der Briefe an den Augustenburger in noch schärferer Form zusammengefaßt: Nur der Karakter der Bürger erschaft und erhält den Staat, und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich. (Schiller an Friedrich Christian von Augustenburgvom i$ . 7. 1795, NA 26, 26
Für die in der >Ästhetischen Erziehung< genannte zweite Möglichkeit, die Selbstveredelung des Menschen, wird nicht auf negative Weise, mit der Problematik des im anderen Verfahren gegebenen politischen Totalitarismus, argumentiert, sondern positiv mit einem anthropologischen Argument. Die Selbsterziehung des Menschen zum staatstragenden Subjekt hat nach Schiller den Vorteil, daß das Individuum auf diesem Weg neben der Entwicklung öffentlicher Tugenden für eine Ausbildung und Bewahrung seiner Individualität Sorge tragen kann. Damit wird stillschweigend davon ausgegangen, daß das in der Naturstandsimagination formulierte Ideal für eine gesellschaftliche Beziehung auch in das Verhältnis von Person und Staat hinübergerettet werden kann: Zwar in der einseitigen moralischen Schätzung fällt dieser Unterschied hinweg; denn die Vernunft ist befriedigt, wenn ihr Gesetz nur ohne Bedingung gilt: aber in der vollständigen anthropologischen Schätzung, wo mit der Form auch der Inhalt zählt, und die lebendige Empfindung zugleich eine Stimme hat, wird derselbe desto mehr in Betrachtung kommen. Einheit fodert zwar die Vernunft, die Natur aber Mannichfaltigkeit, und von beyden 'Anders Wallraven 1967, S. 110. Er interpretiert Schillers Zugeständnis in der ästhetischen Erziehung< als Einsicht, daß dem reinen legalistischen Vernunftstaat ein Mangel an gesellschaftlichem Kontext anhafte.
Legislationen wird der Mensch in Anspruch genommen. Das Gesetz der erstem ist ihm durch ein unbestechliches Bewußtseyn, das Gesetz der ändern durch ein unvertilgbares Gefühl eingeprägt. (NA 20, 316,28 -
Mit dem anthropologischen Argument des Rechts der Empfindung plädiert Schiller selbst unter der später verworfenen Voraussetzung, daß der Staat moralisch weit genug fortgeschritten wäre, um das vernünftige Individuum zu erzwingen,7 gegen die Funktion des Staats als Erzieher zur Gesellschaftsfähigkeit: Daher wird es jederzeit von einer noch mangelhaften Bildung zeugen, wenn der sittliche Charakter nur mit Aufopferung des natürlichen sich behaupten kann; und eine Staatsverfassung wird noch sehr unvollendet seyn, die nur durch Aufhebung der Mannichfaltigkeit Einheit zu bewirken im Stand ist. Der Staat soll nicht blos den objektiven und generischen, er soll auch den subjektiven und specifischen Charakter in den Individuen ehren, und indem er das unsichtbare Reich der Sitten ausbreitet, das Reich der Erscheinung nicht entvölkern. (NA 20, 517,4-12)
Nach der Verabschiedung des Staates als Urheber der Staatwerdung des Individuums muß nach Schiller die Kunst diese Aufgabe übernehmen. Dies wird später, im neunten Brief, entwickelt: Alle Verbesserung im politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen — aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müßte also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergiebt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bey aller politischen Verderbniß rein und lauter erhalten. Jetzt bin ich an dem Punkt angelangt, zu welchem alle meine bisherigen Betrachtungen hingestrebt haben. Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen eröffnen sich in ihren unsterblichen Mustern. (NA 20, 332,29 - 333,4)
In Schillers Modell des Verhältnisses von Person und Staat wird formal die Unantastbarkeit des Individuums gewährleistet, dafür im Gegenzug dem Individuum die Verantwortung für die Entstehung eines vernünftigen Staatswesens zugeschrieben.8 Diese Synthese anthropologischer und politischer Ansprüche ließ sich für Schiller in dem Moment nicht mehr durchführen, als er versuchte, seine idealistische Staatstheorie in 7
Im siebten Brief heißt es: »Sollte diese Wirkung vielleicht von dem Staat zu erwarten seyn? Das ist nicht möglich, denn der Staat, wie er jetzt beschaffen ist, hat das Uebel veranlaßt, und der Staat, wie ihn die Vernunft in der Idee sich aufgiebt, anstatt diese bessere Menschheit begründen zu können, müßte selbst erst darauf gegründet werden.« (NA 20, 328,21-26) s Vgl. Ewers 1978, S. 42. Dort wird daraufhingewiesen, daß Schillers staatstheoretische Konzeption zu Lasten des Individuums geht.
den Dramenfragmenten >Die Malthesen und >Themistokles< dramatisch zu exemplifizieren. Dort kann es nicht die Kunst (oder der Künstler) sein, die die Individuen zu staatstragenden Wesen heranbildet. Sobald die Transformation des physischen Menschen in den idealen Staatsbürger konkret dargestellt werden muß, taucht das in der >Ästhetischen Erziehung< überspielte Zwangsproblem wieder auf, denn die Notwendigkeit einer Transformation ergibt sich ja nur, wenn die Individuen nicht schon von selbst vernünftig sind. Schiller hält auch in den Dramenfragmenten daran fest, die Staatwerdung des Individuums als zwangsfreien Prozeß darzustellen. An die Stelle der in der Theorie eingesetzten Kunst tritt in den >Malthesern< die Überzeugung der von der Vernunft abgefallenen Individuen durch leuchtende Vorbilder, im >Themistokles< wirkt der Patriotismus als sich durchsetzende Gewissensstimme. Wo individuelle dramatische Figuren als Verkörperungen von staatstragender Vernunft und Patriotismus inszeniert werden sollen, wird nun aber die Abstraktheit und Unpersönlichkeit dieses Staatsmodells wieder deutlich. In den >Malthesern< werden aus interessanten Dramenfiguren, das heißt aus Individuen, Denkmäler einer erfüllten staatstheoretischen Forderung, im >Themistokles< bringt die Haltung des Protagonisten das Dramengeschehen zur Erstarrung. Diese Konsequenzen widersprechen den dramaturgischen Anforderungen und den Gattungsgesetzen von Schillers Dramatik, die hier als Korrektiv fungieren und in den Plänen eine Aporie erkennen lassen. Das Festhalten sowohl an inhaltlichen wie auch an dramaturgischen Kriterien führt zu einem Widerspruch, der nicht erkennen läßt, wie die Pläne hätten weiterentwickelt werden können. Dies heißt nicht, daß sie nicht hätten weiterentwickelt werden können, doch die in den Fragmenten überlieferte Stagnation dokumentiert ein im Medium der Literaturproduktion ausgearbeitetes inhaltliches Problem.
A. >Die MaltheserDie Maltheser< sind unumstritten 9 einer der ausgeprägtesten Versuche Schillers, eine idealistisch-erhabene Tragödie10 zu schaffen. Das Projekt hatte für Schiller in der Zeit zwischen 1793 und 1801 programmatischen Charakter für die Ausarbeitung einer klassizistischen und idealistischen Literaturform. 11 Schiller hatte den >MaltheserMaltheser< als ein Drama, das im griechischen Stil ausgearbeitet werden soll. Dieses Vorhaben blieb über die philosophische Phase Schillers hinaus aktuell. In dem Plan spielt ein Ritterchor eine wesentliche Rolle, und in Anlehnung an die griechische Tragödie erwog Schiller nach der AristotelesLektüre im Jahr 1797 einen Verzicht auf die Akteinteilung - ein Formexperiment, das er er in der >Braut von Messina< schließlich realisierte.14 Das antikisierende Projekt paßte inhaltlich so gut zum später entwickelten staatstheoretisch-ästhetischen Programm, daß es als dessen mögliche literarische Umsetzung angesehen werden konnte. Dies hat sich bei der Ausarbeitung des Fragments massiv niedergeschlagen. Darüber hinaus kann der Heroismus des Stoffs zwar als Entsprechung zu einem Stilmerkmal der griechischen Literatur (besonders der Homerischen Epen) aufgefaßt werden, doch die im Fragment dominierende 9
Ein Kurzreferat der >MaltheserDokumente zur Entstehungsgeschichte< und >Entstehungsgeschichte< in NA 12, 374-39'· 11 Siehe >Dokumente zur Entstehungsgeschichte^ Nr. 1—3, in NA 12, 374,14 — 375,30 und Krafts Ausführungen in NA 12, 386,19 — 387,30. ''Vgl. Melitta Gerhard, Schiller und die griechische Tragödie, Weimar 1919, S. 5-13. Dort wird die erste Phase von Schillers Auseinandersetzung mit griechischer Literatur ausführlich dargestellt. Die Begegnungen mit Humboldt und Goethe ab 1794 führten erneut zu intensiver Auseinadersetzung mit griechischer Literatur, die auch neue Anstöße zur Arbeit an den >Malthesern< gab (S. i2ff.). Zum Zusammenhang des Projekts mit der Homerlektüre Schillers siehe auch Oehme 1985 b, S. 56. 14 Siehe Schillers Brief an Goethe vom 8. 12. 1797. Vgl. dazu v. Wiese 1959, S. 421, sowie Gerhard 1919, S. 57. 10
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Auffassung des Konflikts als Opposition von >Sinnlichkeit< und Vernunft ist spezifisch kantianisch.1' >Die Maltheser< wurden also vom ursprünglich antikisierenden zum idealistischen Projekt, das die Arbeit an den theoretischen Hauptwerken begleitete. Intensive Auseinandersetzungen mit dem Plan sind für Ende 1794 belegt, als Schiller an der >Ästhetischen Erziehung< zu arbeiten begann, und für Ende 1795 bzw. Anfang 1796, als die >Ästhetische Erziehung< beendet war und Schiller an der Abhandlung >Über naive und sentimentalische Dichtung< schrieb. Damit sind die >Maltheser< dasjenige Projekt, das in engstem Zusammenhang mit den Schriften der theoretischen Phase steht. Erst am 2i. 4. 1796 ist in einem Brief an Körner Schillers endgültige Entscheidung für die Ausarbeitung des >Wallenstein< dokumentiert.' 6 Weil >Die Maltheser< den Idealismus Schillers in Reinform präsentieren sollten, hat Herbert Kraft sie als »Leitfaden« und »Maßstab« des idealistischen Programms bezeichnet.17 Mehr als nur allgemein idealistisch, ist der Plan das Leitprojekt des Versuchs, im Medium der Literatur den von Schiller theoretisch konstruierten Zusammenhang von individueller und staatlicher Vernünftigkeit darzustellen und in die Form eines Appells zu bringen. Bevor dies im einzelnen dargestellt wird, soll auf einige Voraussetzungen zum Verständnis des Texts eingegangen werden. i.
Die historische Belagerung Maltas
Die von Schiller in den >Malthesern< gestaltete Episode dreht sich um die Belagerung des Johanniterforts St. Elmo auf Malta im Jahr 1565. St. Elmo lag an der nördlichen Spitze der sich von Südwesten nach Nordosten erstreckenden Halbinsel Sciberras.'8 Diese Landzunge wurde an ihrer nordwestlichen Längsseite von der Bucht Marsamuscetto begrenzt, an ihrer Südostseite vom sogenannten Großen Hafen. Gegenüber der Südostseite von Sciberras, im Großen Hafen, lagen auf zwei '' Vgl. Gerhard 1919, S. 68f., 75. Dort wird auf das ungriechische Moment der Konfliktgestaltung am Beispiel der Ritter und des Großmeisters hingewiesen. 16 Siehe dazu die >Dokumente zur Entstehungsgeschichte< Nr. 11—15 u. 16—25 in NA 12, 377,14 - 380,31 sowie Krafts Ausführungen in NA 12, 388,18 - 389,30. 17 Kraft 1978, S. 91. - Auf den programmatischen Charakter der >Maltheser< und den engen Zusammhang »mit der Entwicklung von Schillers ästhetischem, sittlichem und historischem Denken« weist ebenfalls hin Batley 1987, S. 258. 18 Siehe dazu die Karte, die die Geographie zur Zeit der Belagerung Maltas wiedergibt und deren Schreibungen der geographischen Namen hier verwendet werden, in: H. J. A. Sire, The Knights of Malta, New Haven/London 1994, S. 62. 33
kleineren Landzungen die Befestigungen Senglea und II Borgo. Bei der nördlicheren von beiden, II Borgo, handelt es sich um das Stammfort der Johanniter auf Malta. Die historische Belagerung von 1565 ging folgendermaßen vonstatten: Die Türken griffen St. Elmo von Land aus an, also vom Südwesten der Landzunge Sciberras her. Dadurch konnte vom Stammfort II Borgo aus über den Wasserweg eine Verbindung zu St. Elmo aufrechterhalten werden. Die von Schiller für das Stammfort z. T. gewählte Bezeichnung >Valetta< ist zum einen ein Anachronismus, zum anderen geographisch falsch. Valletta (so die heutige Schreibung) wurde erst im Jahr nach dem Abzug der Türken, 1566, gegründet, und zwar auf der Halbinsel Sciberras, südwestlich von St. Elmo, also dort, wo die Türken ihren Belagerungswall errichtet hatten.19 2.
Schillers idealistische Interpretation der Malteserordensgeschichte
1795 entwickelte Schiller in der >Ästhetischen Erziehung< eine Theorie des Übergangs in den Vernunftstaat. Dieses Modell hatte er bereits drei Jahre zuvor in der >Vorrede zu Niethammers Bearbeitung der Geschichte des Malteserordens von VertotVorrede< legt Schiller auf die Struktur der freiwilligen Unterwerfung wert: Vorbildlich bei aller inhaltlichen Fragwürdigkeit des Kreuzzugsfanatismus ist das Prin19
Siehe dazu Sire 1994, S. 7${., und Yehuda Karmon, Die Johanniter und Malteser: Ritter und Samariter. Die Wandlungen des Ordens vom Heiligen Johannes, München 1987, S. isSff. "SA 13, 277,1 - 283,18. " Siehe SA 13, 283,18. 22 Siehe Karl-Heinz Hahn, Die Begriffe Bürgerfreiheit und nationale Unabhängigkeit in Schillers historischen Schriften, WB Sonderheft 1959, S. 180-195, hier S. iSif. - In der >Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung< geht Schiller davon aus, daß die erstaunlichen politischen Veränderungen nicht durch den heroischen Charakter der Individuen zustande kamen, sondern durch die Umstände, die die Individuen zu Heroen machten: »Es ist also gerade der Mangel an heroischer Größe, was diese Begebenheit eigenthümlich und unterrichtend macht, und wenn sich andre zum Zweck setzen, die Ueberlegeneheit des Genies über den Zufall zu zeigen, so stelle ich hier ein Gemähide auf, wo die Noth das Genie erschuf, und die Zufalle Helden machten.« (NA 17, 11,17—22; vgl dazu Oehme 1985 b, S. j8f.)
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zip der Gesinnung, nämlich die Bereitschaft, die ganze Existenz für ein Ideal einzusetzen: Mitten unter allen Greueln, welche ein verfinsterter Glaubenseifer begünstigt und heiligt, unter den abgeschmackten Verirrungen der Superstition, entzückt ihn (den Moralphilosophen, F. Su.) das erhabene Schauspiel einer über alle Sinnenreize siegenden Überzeugung, einer feurig beherzigten Vern u n f t i d e e , welche über jedes noch so mächtige Gefühl ihre Herrschaft behauptet. (SA 15, 278,26-32)
Der von Schiller verwendete Begriff der >Vernunftidee< besagt nicht, daß im beschriebenen Fall der Inhalt des Ideals vernünftig ist. Der Begriff der Vernunft ist hier im Anschluß an Kants Begriff der praktischen Vernunft gebraucht, die gegen alle >sinnlichem menschlichen Triebe und Bedürfnisse aus moralischen Prinzipien heraus Handlungen realisieren kann. Dies führt Schiller in der Vorrede selbst aus: (...) so war die Menschheit doch offenbar ihrer höchsten Würde nie vorher so nahe gewesen, als sie es damals war — wenn es anders entschieden ist, daß nur die H e r r s c h a f t s e i n e r I d e e n ü b e r s e i n e G e f ü h l e dem Menschen Würde verleiht. (SA 13, 278,}) - 279,1)
In der Geschichte des Malteserordens äußert sich das Befolgen der >Vernunftidee< historisch bedingt als Befolgung der Ordensgesetze, denn der Inhalt der Ordensgesetze besteht darin, um eines höheren Gutes willen alle anderen Bedürfnisse zurückzustellen. In den >Augustenburger Briefen< erkannte Schiller der Religion den Wert zu, unabhängig von ihrer inneren Wirkung zumindest die Einhaltung von Legalität zu sichern.23 Ihre Funktion am Beispiel der Geschichte des Malteserordens geht noch weiter: Aus der historischen Distanz betrachtet, ist die die Befolgung der Ordensgesetze die kontingente äußere Form eines Idealismus: Unter dem Panier des Kreuzes sehen wir sie (die Malteserritter, F. Su.) der Menschheit schwerste und heiligste Pflichten üben und, indem sie nur einem K i r c h e n g e s e t z e zu dienen glauben, unwissend die höhern Gebote der S i t t l i c h k e i t befolgen. Suchte doch der Mensch schon seit Jahrtausenden den Gesetzgeber über den Sternen, der in seinem eigenen Busen wohnt — warum diesen Helden es verargen, daß sie die Sanktion einer Menschen-
' »Ich habe hier nicht ohne Absicht Religion und Geschmack in Eine Klasse gesetzt, weil beide das Verdienst gemein haben, zu einem Surrogat der wahren Tugend zu dienen und die Gesetzmäßigkeit der Handlungen da zu sichern, wo die Pflichtmäßigkeit der Gesinnungen nicht zu hoffen ist.« (Schiller an Friedrich Christian von Augustenburg vom 3. 12. 1793, NA 26, 331,1-5)
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pflicht von einem Apostel entlehnen und die allgemeine Verbindlichkeit zur Tugend sowie den Anspruch auf ihre Würde an ein Ordenskleid heften? (SA 13, 279,21-51) Wie drei Jahre später in der >Ästhetischen Erziehung< interessiert sich Schiller für die politischen Konsequenzen dieser individuellen Tugenden. Das Schicksal des Ordens kann als staatspolitische Lektion dienen, weil der Orden wie ein Mikrostaat funktioniert: Dieser Orden nämlich ist zugleich ein politischer Körper, gegründet zu einem eigentümlichen Zweck, durch besondre Gesetze unterstützt, durch eigentümliche Bande zusammengehalten. (SA 13, 281,8-11)
Unter dieser Voraussetzung ist die Darstellung der Ordensgeschichte für Schiller von kulturphilosophischem Interesse. Die Entwicklung verschiedener Staatsformen und Gesellschaften im Lauf der Geschichte dient nach Schiller dazu, durch Erfahrung diejenige herauszufinden, die dem menschlichen Glück am zweckmäßigsten ist/4 Diese ideologische Argumentationsstruktur geht auf Kants bereits erwähnte >Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht< zurück. Unter teleologischem Gesichtspunkt kann nach Schiller auch die Geschichte des Malteser-/Johanniterordens betrachtet werden; dieser ist für Schiller eine unter den Bedingungen des religiösen Fanatismus der Kreuzzugszeit gegründete gesellschaftliche Organisations form mit klar definierter Zielsetzung. Ihr exemplarischer Wert liegt nach Schiller darin, daß die Verbindung von Bereitschaft zu energischem Handeln und zur Unterordnung unter die Werte der Gemeinschaft in dieser Form nie zuvor zustande gebracht worden war: Aus einem ähnlichen Gesichtspunkt lassen sich nun auch die souveränen geistlichen Ritterorden betrachten, denen der Religionsfanatismus in den Zeiten der Kreuzzüge die Entstehung gegeben hat. Antriebe, welche sich nie zuvor in d i e s e r Verknüpfung und zu diesem Zwecke wirksam gezeigt, werden hier zum erstenmal zur Grundlage eines politischen Körpers genommen (...). Ein feuriger Rittergeist verbindet sich mit zwangvollen Ordensregeln, Kriegszucht mit Mönchsdisziplin, die strenge Selbstverleugnung, welche das Christentum fordert, mit kühnem Soldatentrotz (...). (SA i}, 282,1-12)
Der Untergang des Ordens folgt für Schiller letztlich aus den Beweggründen der Ordenskonstitution, dem religiösen Fanatismus. Damit wird die Ordensgeschichte zum historischen Lehrstück über die Notwendigkeit, eine Gesellschaft auf einer rationalen Basis aufzubauen: ' SA 13, 281,17-23. 36
Rührende erhabne Einfalt bezeichnet die Kindheit des Ordens, Glanz und Ehre krönt seine Jugend, aber bald unterliegt auch er dem gemeinen Schicksal der Menschheit. Wohlstand und Macht, natürliche Gefährten der Tapferkeit und Enthaltsamkeit, führen ihn mit beschleunigten Schritten der Verderbnis entgegen. Nicht ohne Wehmut sieht der Weltbürger die herrlichen Hoffnungen getäuscht, zu denen ein so schöner Anfang berechtigte — aber dieses Beispiel bekräftigt ihm (dem Weltbürger, F. Su.) nur die unumstößliche Wahrheit, daß nichts Bestand hat, was Wahn und Leidenschaft gründete, daß nur die Vernunft für die Ewigkeit baut. (SA i}, 282,17-28)
Im Mittelteil des Vorworts erwähnt Schiller als Beispiel für geeignete Objekte erhebender Betrachtungen aus der Ordensgeschichte zum einen die Person La Valettes, zum anderen die Episode der Verteidigung St. Elmos: (Wer sieht ohne Staunen, F. Su.) die unerschütterliche Festigkeit seiner beiden Großmeister Isle Adam und La Valette, die gleich bewundernswürdige Willigkeit der Ritter selbst, sich dem Tode zu opfern? Wer liest ohne Erhebung des Gemüts den freiwilligen Untergang jener vierzig Helden im Fort St. Elmo, ein Beispiel des Gehorsams, das von der gepriesenen Selbstaufopferung der Spartaner bei Thermopylä nur durch die größere Wichtigkeit des Zwecks übertroffen wird! (SA i), 280,21-29)
Die beiden hier hervorgehobenen Motive, die Unerschütterlichkeit La Valettes und die Opferbereitschaft der Ritter, sind Grundelemente der Episode um die Verteidigung St. Elmos, die Schiller in den >Malthesern< darstellen wollte. Schillers Quelle beinhaltet jedoch noch ein weiteres Motiv, das die Ausarbeitung des >MaltheserDie Maltheser< sind, ganz im Sinn von Schillers historischer Interpretation des Stoffs, der Versuch einer Werbung für gelebte staatsbürgerliche Vernunft. Dieses Projekt setzt aber nicht auf einer politischen, sondern auf einer fundamental anthropologischen Ebene an. Was damit gemeint ist, soll im Vergleich mit der >MaltheserMalthesern< ein Staatsmodell im Sinn von Rousseaus Idee der republikanischen Tugend und der Herrschaftskonzeption eines Volkserziehers anvisiert, der sich auf die >volonte generale< eines mündigen Volkes stützt; das Problem von Rousseaus Theorie sei, daß ein solcher Herrscher durch die Mündigkeit des Volkes überflüssig ist; in Schillers Entwurf zeige sich das Problem einer solchen Herrscherfigur daran, daß ein solcher Held die Herzen des Publikums nicht erreiche.26 Bauer verweist mit dieser Argumentation auf die auch in dieser Interpretation als Problem verstandene Darstellung des Protagonisten. Sie geht jedoch davon aus, daß mit dem Drama eine konkrete Staatsform illustriert werden sollte und sieht den Protagonisten ausschließlich als deren Repräsentanten. Unter dieser staatstheoretischen Perspektive verortet Bauer das Problem des Entwurfs in der Überhöhung des Protagonisten. In der vorliegenden Interpretation wird davon ausgegangen, daß es Schiller um eine personenzentrierte Perspektive ging, mit der geprüft wird, was dem Individuum abverlangt werden kann, damit ein vernünftiger Staat entsteht. Als Ergebnis zeigt sich, gegenläufig zu Bauer, die Reduktion der Protagonistenrolle La Valettes. Der hier vorgelegte personenzentrierte Interpretationsansatz soll im folgenden kurz begründet werden. Dazu muß zunächst der individualethische Anspruch erläutert werden, der in der für die >Maltheser< verbindlichen Dramaturgie, der Dramaturgie des Erhabenen, enthalten ist. Schiller übernahm die Theorie der Erhabenheit, die Kant in der >Kritik der Urteilskraft als Wahrnehmungsmodell entwickelte, und baute sie zu einer anthropologischen Kategorie aus, die auch seine Dramentheorie*7 bestimmt.28 Der Grundgedanke der Erhabenheitstheorie Schillers ist, daß der Mensch seine Würde als Vernunftwesen gegenüber physischen Widerständen dadurch bewahren kann, daß er auf physischen Druck nicht physisch, also als Sinnenwesen, reagiert, sondern 26 17
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Ebd., S. i 34 f. Diese ist zusammengefaßt bei Klaus L. Berghahn, »Das Pathetischerhabene«. Schillers Dramentheorie, in: Deutsche Dramentheorien, hrsg. von Reinhold Grimm, Bd. i, Frankfurt a. M. 1971, S. 214-244. Über das Bedeutungsspektrum dieses Begriffs in Schillers ästhetischer Terminologie informiert der Probeartikel »erhaben« für das geplante Wörterbuch zu Schillers philosophischen Schriften bei Thorsten Roelcke, Wörterbuch zu den philosophischen Schriften Friedrich Schillers. Konzeption und Probeartikel, Lexicographica 10/1994, S. 43-60, hier S. 53-60. 38
seine Freiheit als Vernunftwesen bewahrt, indem er seine Reaktion durch den eigenen Willen bestimmt und nicht von äußeren Zwängen diktieren läßt. Im Extremfall bedeutet dies, das eigene Leben bewußt aufzugeben und so moralische Überlegenheit über die Umstände zu beweisen, anstatt gegen den eigenen Willen physische Gewalt zu erleiden. Der Erweis der Erhabenheit in einem Konfliktfall ist daher meist mit einem physischen Opfer verbunden. Diese Grundsätze der Erhabenheitstheorie sind in folgender Passage aus >Ueber das Erhabene< prägnant zusammengefaßt, in der die zufällige Harmonie sinnlicher und moralischer Bedürfnisse gegen den Konfliktfall abgegrenzt wird, der den Erweis der Überlegenheit der Vernunft herausfordert/ 9 Das ist das Erhabene: Das höchste Ideal, wornach wir ringen, ist, mit der physischen Welt, als der Bewahrerinn unserer Glückseligkeit, in gutem Vernehmen zu bleiben, ohne darum genöthigt zu seyn, mit der moralischen zu brechen, die unsre Würde bestimmt. Nun geht es aber bekanntermaßen nicht immer an, beyden Herren zu dienen, und wenn auch (ein fast unmöglicher Fall) die Pflicht mit dem Bedürfnisse nie in Streit gerathen sollte; so geht doch die Naturnotwendigkeit keinen Vertrag mit dem Menschen ein, und weder seine Kraft noch seine Geschicklichkeit kann ihn gegen die Tücke der Verhängnisse sicher stellen. Wohl ihm also, wenn er gelernt hat zu ertragen, was er nicht ändern kann und Preiß zu geben mit Würde, was er nicht retten kann! Fälle können eintreten, wo das Schicksal alle Aussenwerke ersteigt, auf die er seine Sicherheit gründete, und ihm nichts weiter übrig bleibt, als sich in die heilige Freyheit der Geister zu flüchten - wo es kein andres Mittel gibt, den Lebenstrieb zu beruhigen, als es zu wollen - und kein andres Mittel, der Macht der Natur zu widerstehen, als ihr zuvorzukommen und durch eine freye Aufhebung alles sinnlichen Interesse ehe noch eine physische Macht es thut, sich moralisch zu entleiben. (NA 21, jo,$i - ^1,12)
Die Kategorie des Erhabenen wird in den >Malthesern< aus zweierlei Gründen relevant. Zum einen erfordert eine Tragödie ein Konstruktionsprinzip, das eine dramatische Handlung ermöglicht. Das Erhabene als Widerstand gegen physische Widrigkeiten setzt als Handlungsmo29
Auf den in Schillers Ästhetik vorliegenden doppelten Freiheitsbegriff von harmonischer Schönheit und vernunftgesteuerter Erhabenheit und den aufgrund der kritischen Zeitdiagnose latent dominanten Begriff des Erhabenen weist hin Garsten Zelle, Die Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat. Anthropologische Aporien in Schillers philosophischen Schriften, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, hrsg. von Hans-Jürgen Schings, Stuttgart/Weimar 1994, S. 440—468, hier bes. S. 467^; Schillers in diesem Zusammenhang bedeutende doppelte Ästhetik ist ausführlicher dargestellt bei Garsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart/Weimar 1995, S. 147-219.
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dell einen Konflikt mit Aktion und Reaktion voraus und ermöglicht einen tragischen (weil auf physischer Ebene scheiternden), aber doch erhebenden (weil moralisch triumphierenden) Dramenausgang. Zum anderen drängt sich das Erhabene als Vernunftkategorie bei der Darstellung öffentlicher Handlungen auf. Wie oben dargestellt, tritt in Schillers Denkweise bei der Begründung öffentlich-politischer Verhaltensweisen die Priorität der Vernunft gegenüber dem zweiten Leitmodell einer Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft in den Vordergrund. Beide Elemente qualifizieren das Modell des Erhabenen als Struktur für den Malteserstoff, der von fast archaischem Heroismus beseelt ist. Der vom Plan zu einer antikisierenden Tragödie herrührende heroische Gestus läßt sich mit Hilfe des Erhabenen in die idealistische Dramentheorie überführen. Er wird in einem Brief Schillers an Wilhelm v. Humboldt aus dem Jahr 1795 als stilistische Umsetzung eines erhabenen Dramenmodells bezeichnet: Es (das Trauerspiel, F. Su.) enthält eine einfache heroische Handlung, eben solche Charaktere, die zugleich lauter männliche sind, und ist dabey Darstellung einer erhabenen Idee, wie ich sie liebe. (Schiller an W. v. Humboldt vom /. 10. rj^j, NA 28, 72,5
Diese Darstellung des Erhabenen soll als Staatwerdung des Individuums inszeniert werden. Im Medium des erhabenen Dramas geht es dabei nicht nur um die konkrete und anschauliche Darstellung einer Theorie; vielmehr soll die affektive Wirkung des Erhabenen genutzt werden, um Begeisterung für die dargestellte ideale Haltung zu wecken. Die Umsetzung dieses Modells am Beispiel der Belagerung St. Elmos durch die Türken im Jahr 1565 führt dazu, daß das Ringen um die Verbindung von Erhabenheit und Staatsrepräsentation als Autoritätskonflikt ausgetragen wird. In den >Malthesern< sollen zwei >Gruppen< von idealen Gesellschaftsmitgliedern eingeführt werden. Zum einen handelt es sich um die Person des Ordensmeisters La Valette. Er muß einen Teil seiner Ritter zur aussichtslosen, aber strategisch wichtigen Verteidigung des Forts St. Elmo abstellen. Diese Aufgabe soll als Forderung nach einer erhabenen Haltung La Valettes dargestellt werden, der durch die Abordnung von Rittern, unter denen sein Sohn ist, ein persönliches Opfer bringt und seine Autorität uneigennützig wahrnimmt. Die zweite Gruppe sind die Malteserritter, die das Einverständnis zu ihrer Aufopferung aufbringen müssen. Ihr erhabenes Handeln als Ordensmitglieder besteht in der vernunftgeleiteten Erfüllung des Gehorsamsgebots. Bei beiden >Gruppen< bedeutet die erhabene Pflicht40
erfüllung einen Sieg der öffentlichen Sache über private Interessen und illustriert damit die Staatwerdung des Individuums. Eine dritte Perspektive wird dadurch eingeführt, daß die Haltung der Ritter durch eine Intervention des Ordensmeisters ausgelöst werden soll. Es handelt sich dabei um eine Idealisierung der institutionellen Befehlsgewalt des Ordensmeisters: La Valette zwingt die Ritter nicht, sondern überzeugt sie. Damit ist ein Element eingeführt, das in Schillers staatstheoretischen Reflexionen nicht berücksichtigt worden war. Dort war nur die Durchsetzung von Gesetzeskonformität durch die abstrakt formulierte Institution Staat oder die Selbstidealisierung der Individuen vorgesehen. Die zweite Möglichkeit, die auch in den >Malthesern< durchgespielt werden soll, kommt in der dargestellten Situation aber ohne eine Autoritätsperson nicht aus. Schillers Intention bei der Abfassung der >Maltheser< wird in der Umakzentuierung der Motive deutlich, die er in Vertots >Histoire des Chevaliers Hospitaliers de S. Jean de Jerusalem, appellez depuis Chevaliers de Rhodes, et aujord'hui Chevaliers de Malthe< gefunden hatte.30 Der Kern des >MaltheserMalthesern< anhand des konkreten Stoffes hochgeschraubte staatstheoretische Idealität offenbart auf diese Weise ihre Abstraktheit und auch den Widerspruch zu Schillers Individualitätsidealen, denn konsequent zu Ende gedacht, müßte in Schillers Staatstheorie das Indidviduum den Staat nicht nur so repräsentieren, wie die Ritter es tun, sondern so wie La Valette es tut, das heißt von sich selbst und von anderen Idealität fordernd. Damit ist der Erkenntnisstand konkretisiert, den Schiller am Ende der ästhetischen Erziehung< erreicht hat, als er den Mangel des ethischen Staates darin sah, daß er das Individuum dem Willen der Allgemeinheit unterwirft. In den > Mal theser n< ist dieses Moment auf ein Individuum übertragen und somit auf die Realität projiziert. Dadurch, so soll im folgenden gezeigt werden, wird deutlich, daß das Individuum seine Individualität verliert, wenn es sich auf diese ideale Weise zum Repräsentanten des Staates macht. Unter diesen Voraussetzungen ist die weniger ideale, autoritäre Gestalt La Valettes in Schillers Quellen die realistischere Alternative. Wer diese Form von Autorität nicht schätzt, muß ein liberaleres und damit weniger idealistisches Staatskonzept entwikkeln. Der Malteserorden kann dafür dann nicht mehr als Modell herhalten. Das Medium Literatur mit der für Schiller bestimmenden Forderung nach psychologischer Glaubwürdigkeit verleiht dem Projekt damit einen Realismus, der als Problemanzeige für Schillers idealistisches Staatskonzept fungiert.
43
4·
Die Ausarbeitung des Fragments
a)
Die Struktur der >MaltheserMaltheser< nicht einer äußeren Chronologie zugeordnet werden können.32 Doch auch die Abgrenzung verschiedener Arbeitsphasen im Rahmen einer inneren Chronologie erweist sich als schwierig. So zeigen sich schon zu Beginn des Fragments (NA 12, 15,1 - 19,37) innerhalb eines äußerlich zusammengehörigen Textes Schichten von konkurrierenden Festlegungen.ä} Die Konsequenz aus diesem Befund für eine Strukturierung des Fragments liegt darin, die Aufzeichnungen nach Funktions- und Sinneinheiten zu gliedern, wenn sich solche eindeutig abgrenzen lassen. Wenn sich keine klare Grenze ziehen läßt, wird keine Unterteilung vorgenommen, auch wenn dann innerhalb einer Sinn- bzw. Funktionseinheit widersprüchliche Konzeptionen vorliegen. In wichtigen Fällen wird die Entscheidung für eine bestimmte Gliederung an der entsprechenden Stelle begründet. Nach diesen Vorgaben lassen sich in den >Malthesern< 28 Sinn- bzw. Funktionseinheiten unterscheiden: Seite in NA 12
Sinn-/Funktionseinheiten
15,1 - 17,14
Exposition und Handlungsabriß, am Ende Personenliste Personenverzeichnis Charaktere und Motive Entwurf für ein Chorlied des i. Akts Einzeiliges Fragment (Einordnung unsicher) Motive und Motivationen für den i. Akt Motive der Umstimmung der Ritter und Aufteilung der Handlung auf fünf Akte Nachgetragenes Personenverzeichnis Durchnumerierte Szenenfolge Motive und Maßgaben für die Exposition »Einzelne Handlungsstücke« (Motive und Personen, durchnumeriert)
17,15 - 18,2 18,3 - 19,37 20,1-22 20.23 20.24 - 24,14 24,15 - 26,25 26,26—34 27,1 - 29,27 29,28 - 31,16 31,17 - 32,19
i! }i
NA 12, 386,21-24. Siehe dazu: Krafts Beschreibung NA 12, 392,39-45; Adolf Beyer, Schillers Malteser, Diss. Tübingen 1912, S. 9-15. 44
Seite in NA 12
Sinn-/Funktionseinheiten
32,20 - 37,37
»Die Maltheser. Ein Trauerspiel«: Beginn eines durchnumerierten Szenars mit Akteinteilung (bis III,i, dann Motive und Darstellungsmaximen) Prosadisposition (möglicherweise Fassung für Herzog Carl August) Elemente der Charakterisierung La Valettes »Momente der Handlung« Abriß der Geschichte des Tempelordens Überlegungen zur Handlungsstruktur Problemreflexion Aufgabenstellung für die Weiterarbeit »Die Maltheser. Eine Tragödie«: Personenverzeichnis und unvollständiges durchnumeriertes Szenar Auftrittsliste Szenarbruchstück Einzig vollständiges Szenar Problemreflexion Liste mit Elementen des ersten Auftritts Blankversfassung des ersten Auftritts Entwurf des ersten Chorliedes Neufassung i. Szene u. Chor
38,1 - 42,27 42,28 - 50,8 50.9 - 51,12 51,13 - 52,5 52.6 - 53,27 53,28 - 56,3 56.4 - 59,9 59.10 - 70,24
70,25 - 71,10 71,11-33 72,1 - 74,26 74,27 - 79,4 79.5 - 80,6 80.7 - 81,4 81,5 - 84,6 84,7 - 87,38
In jeder dieser Einheiten wird der vorausgegangene Entwurf zumindest in einzelnen Elementen weiterentwickelt. Eine Darstellung der geplanten dramatischen Handlung muß dabei zum einen berücksichtigen, was an konstanten Handlungselementen bei jeder betrachteten Einheit vorausgesetzt werden muß; zum anderen müssen die in verschiedensten Formen gekleideten Modifikationen der Handlung berücksichtigt werden. Daher genügt es nicht, nur die vollständigen Handlungsabrisse zu analysieren und gegebenenfalls zu synthetisieren. 34 ' 4 Junji Yamamoto, F. Schiller: >Die Malthesen. Ein dramatisches Fragment auf dem Weg des Dichters zur klassischen Reife, Doitsubungaku-Ronko (Forschungsberichte zur Germanistik) 30/1988, S. 1-21 verwendet die überholte Anordnung und Zählung der Fragmente, wie sie Gustav Kettner in seiner Fragmentedition vorgelegt hat (Schillers dramatischer Nachlaß, nach den Handschriften hrsg. von Gustav Kettner, Bd. 2: Schillers Kleinere dramatische Fragmente; Weimar 1895, S. 1-63). Er rekonstruiert die geplante Handlung aus einer Synthese der Aktübersicht Fr. 5 (= NA 12, 2 5 , 2 0 - 2 6 , 2 5 ) und den Szenarien Fr. 18 (= NA 12, 59,10 - 70,24), Fr. i3+6b (= NA 12, 27,1 - 31,16; Verbindung der beiden Frr. bei Yamamoto nach Beyer 1912, S. 28ff.) und Fr. 20 (=
45
b)
Sohnesopfer oder Selbstopfer: das Grundproblem des Entwurfs
Im Verlauf der >MaltheserIJ-2})
Die Strategie, die im folgenden Text zur Überzeugung der Ritter in St. Elmo entwickelt wird, zeigt die Problematik des Sohnesopfers, wenn es wie bei der Überzeugung der Ritter in Borgo als Privatmotiv eingesetzt wird. Diese Problematik wird am Ende der vorliegenden Einheit ausdrücklich reflektiert. In der vorausgegangenen Einheit war, von der Exposition ausgehend, die Nebenhandlung des Verrats durch das Privatopfer La Valettes zur Überzeugung der Ritter im Stammfort genutzt worden. In den Mittelpunkt rückt jetzt eine bewußte Demonstrationsleistung La Valettes in seiner öffentlichen Funktion als Ordensmeister, die die idealistische Umkehr der Ritter in Elmo bewirken soll. Die zentralen Vokabeln, mit denen bis NA 12, 25,19 der Inhalt von La Valettes Handlungen beschrieben wird und die sowohl dem Ordensmeister als auch dem Chor in den Mund gelegt werden, sind »Gehorsam« (NA 12, 24,16.24), »Gesetz« (NA 12, 24,i9f. u. 25,7), »Pflicht« (NA 12, 24,24) und »Moral« (NA i2, 24,25). Mit diesen Begriffen ist für die Vermittlung des Idealismus die angemessene öffentliche Ebene gewählt. Dementsprechend pocht La Valette auf die Respektierung seiner öffentlichen Funktion. Dies bedeutet, staatstheoretisch gesprochen, daß die Ritter aufgrund der Legalität von La Valettes Anweisungen gehorchen müssen und es ihnen nicht gestattet ist, die Legitimität aufgrund subjektiver Integrität der Person und objektiver, in den Umständen begründeter Notwendigkeiten zu beurteilen:
Er findet nicht für gut, den jungen Rittern die Gründe s.(einesy Handelns zu (...) detaillieren. Als er einige derselben zufällig ans Licht bringt, und die überzeugten Ritter sich merken lassen, daß sie gewiß nie widersprochen hätten, wenn er ihnen dieses hätte früher sagen wollen, so äusert er, daß sie blind zu gehorchen haben. Er demonstriert ihnen an einem Beispiel, daß die Gründe nicht immer zu offenbaren sind, und daß es also schlechterdings nöthig ist, blind zu folgen. (NA 12, 24,)) - 2j,})
La Valette wird durch diese radikal idealistische Interpretation seiner Funktion als Ordensmeister zur Verkörperung des Gesetzes. Um seinen Status als Identifikationsfigur nicht zu gefährden, muß er als Person zugleich vom Charakter eines Übermenschen befreit werden. Zu diesem Zweck soll zum einen die Selbstüberwindung gezeigt werden, die hinter dieser Haltung steckt. Dadurch wird der Heroismus La Valettes nicht als Selbstverständlichkeit gezeichnet und somit nicht völlig unrealistisch. Dies wird zuerst in einer Privatszene unternommen, die La Valette zumindest die Sympathien der Zuschauer sichern kann: la Valette steht unter den Rittern wie das personifizierte Gesetz. Zugleich muß aber jede Gelegenheit benutzt werden, ihn als M e n s c h e n darzustellen. In einem Tete a tete mit Ripperda spricht er sogar bitter von dem Eigennutz und der selbstsüchtigen Politik der christlichen Mächte, und beklagt schmerzlich die harte Nothwendigkeit, zu der er verurtheilt wäre.
(NA 12, 21,6-14) Darüber hinaus wird in der vorliegenden Einheit ein Motiv eingeführt, das La Valette auch in den Augen der gesamten Ritterschaft die Sympathien und Überzeugungskraft für seine Anweisungen sichern kann und das damit als öffentliches Umstimmungsmotiv geeignet ist. Es tritt dem Motiv zur Seite, nach dem La Valette die Ritter auf St. Elmo beschämt, indem er Freiwillige zur Verteidigung Elmos findet. Das hinzukommende Motiv macht die Anforderungen des Ordensmeisters zwar nicht weniger anspruchsvoll, doch es zeigt La Valette als solidarische Figur und verleiht ihm auf diese Weise Menschlichkeit: La Valette erklärt sich selbst bereit, den hoffnungslosen Verteidigungskampf aufzunehmen. Das Motiv erscheint im Rahmen einer Übersicht über die Verteilung des Stoffs auf die fünf Akte des geplanten Dramas (NA 1 2, 25,20 — 26,25), die auf die Aufzeichnungen zum Gehorsamsanspruch folgt. In dieser Übersicht wird versucht, die Handlungen der Ritter und die La Valettes nach dem Modell von Bewegung und Gegenbewegung zu organisieren (der Begriff der »Bewegung« erscheint dreimal: NA 1 2, 25,25.27.34). Jeder Ritterhandlung wird eine angemessene Reaktion des Ordensmeisters zugeordnet. Auch nach der Klärung der Autoritäts59
frage und der sichergestellten Verteidigung Elmos wird so eine Handlung La Valettes vorgesehen, die Anlaß für den idealistischen Gesinnungsumschwung der Ritter ist. Das Motiv wird für den vierten Akt eingeplant: la Valetta erscheint selbst in Rüstung und ist (...) ernstlich entschloßen, mit zu gehen. Seine Vorkehrungen auf den Fall, daß er nicht mehr zurükkäme. (NA i2, 26,8-11)
Schiller greift hier erstmals das bei Vertot gegebene Motiv'1 auf, das La Valettes Strategie 2ur Beschämung der Ritter demonstriert. Wie Vertot sieht er als Reaktion der Ritter vor, daß sie sich bei ihrer Ehre gepackt fühlen. Daß diese Einsicht dennoch eine freiwillige ist, rührt daher, daß La Valette ihnen nicht, wie bei Vertot, Feigheit vorwirft. Bei Schiller erkennen die Ritter ihren Fehler selbst: Vorstellungen des ganzen Ordens, ihn davon zurückzuhalten. - Demüthigung und Fuß fall der Ritter von S. Elmo. Er willigt endlich ein (...). (NA 12, 26,11-14)
Mit dem Motiv des Selbstopfers liegt nun ein öffentliches Motiv zur idealistischen Umstimmung der Ritter vor. Das Motiv des Sohnesopfers und seine Offenbarung gegenüber Crequi bleiben als Privatmotive Garanten für den dramaturgischen Effekt, am Ende des Stücks erhabene Rührung zu erzielen (»La Valette entdeckt sich dem Crequi«, NA 12, 26,19). Die Früchte seiner Opferbereitschaft erntet La Valette durch das Erscheinen der Hilfe aus Sizilien, die als letztes Motiv in der Übersicht festgehalten wird (»Ankunft der spanischen Flotte«, NA 12, 26,25). Das Privatmotiv des Sohnesopfers verbürgt zugleich den tragischen Charakter des Stücks. In der zugehörigen, bereits erwähnten Randbemerkung' 2 wird das tragische Element im verallgemeinernden Schema von Realismus und Idealismus als realistisches Moment im idealistischen Schlußtableau bezeichnet: In den ersten Acten sind die Tendenzen und Gesinnungen der Ritter alle weltlich und realistisch; erst die Handlung treibt sie zum idealistischen — Wenn dieß aber geschehen, so ist der Großmeister allein noch realistisch. (NA 12, 26,16-21 a. R.)
Der Begriff des Realismus La Valettes bezieht sich, wie Kraft ausgeführt hat," auf den im Haupttext vermerkten »Schmerz des Großmei>' Vertot 1732, Bd. III, S. 223. 12 Zur Funktionsbestimmung der Randbemerkung als Kommentierung siehe Krafts Erläuterung in NA 12, 407,1-16 (Kommentar zu NA 12, 26,16-25 a. R.). » Ebd. 60
sters« (NA 12, 26,23) über die vom Meer angespülte Leiche seines Sohnes. In der Randbemerkung wird der private Charakter des Sohnesopfers betont. Durch ihn hebt sich La Valettes Stimmung von der Gehorsamseuphorie der Ritter ab und bewahrt der Figur den tragischen Charakter. Aus der Reflexion auf diesen privaten Charakter des Motivs erklärt sich die anschließende Grundsatzüberlegung darüber, welche Art von Motiv für die Umstimmung benötigt wird. Es soll von La Valette ausgehen und den Umschwung notwendig herbeiführen. Um diese beiden Bedingungen zu erfüllen, kann das gesuchte Motiv für den idealistischen Gesinnungsumschwung nur ein öffentliches sein: Was treibt sie nun aber ins idealistische und macht, daß sie sich mit Freiheit und Neigung unterwerfen? Es muß nothwendig hervorgehen und zugleich ein Werk La Valettes seyn. (NA 12, 26,22 - nach 2j a. R.)
Die doppelte Begründung des Gesinnungsumschwungs durch eine ideelle Wandlung auf Seiten der Ritter und ihrer pädagogischen Vorbereitung durch La Valette wird an späterer Stelle noch einmal klar formuliert:
La Valette lenkt es so, daß die Ritter sich selbst, ihren wahren Ordensgeist finden, und in diesen wie in ihre lezte Zuflucht getrieben werden, a) Ihre Reinigung und Wiederherstellung muß durchaus ihr Werk seyn b) Aber La Valettes Klugheit und hoher Sinn muß diese Nothwendigkeit herbeiführen.l (NA 12, }7,*9- 7)
Zwar ist mit dem Motiv der Selbstopferungsbereitschaft bereits ein Umstimmungsmotiv vorhanden, das die geforderten Kriterien erfüllt. Daß die Reflexion auf diese Kriterien anläßlich des Motivs des Sohnesopfers erfolgt, zeigt, daß dieses Motiv als das stärkste und eindrücklichste des Plans empfunden wurde. Gerade dieses Motiv erfüllt die Kriterien aber nicht. Die Konsequenz aus diesem Zwiespalt wird in der folgenden Einheit gezogen: Hier wird versucht, das Motiv des Selbstopfers dramaturgisch aufzuwerten und zum neuen Hauptmotiv zu machen. g)
La Valettes Selbstopfer als neues Hauptmotiv
Im nächsten zusammenhängenden Entwurf, einem Szenar (NA 12, 27,1 - 29,27), wird das Selbstopfer La Valettes dramaturgisch aufgewertet. Das Szenar ist eine unvollständige Handlungsskizze, in der die Entwicklung der Meuterei als Protest auf La Valettes harte Haltung in 61
einzelnen Stufen geschildert wird. Dabei wird besonderer Wert auf die Ausuferung des Nationalitätenstreits anläßlich der gefangenen Griechin zu einer gemeinsamen Verschwörung gegen den Ordensmeister gelegt. Herbert Kraft hat darauf hingewiesen, daß in dieser Einheit das Freundschafts- und Vater-Sohn-Motiv fehlt.54 Wenn die Buchstaben »C« und »D.« (NA 12, 28,28 u. 29,12), wie Kraft vermutet," die Einteilungen des dritten und vierten Aktes darstellen, dann fehlt der fünfte Akt, in dem die Offenbarung der Vaterschaft La Valettes stattgefunden hätte.'6 Für den vierten Akt ist eine dramaturgisch effektvolle Aufwertung der Selbstopferungsbereitschaft La Valettes geplant. In der Einheit davor waren die Aufdeckung und Unterdrückung des Verrats für den dritten Akt vorgesehen;'7 der vierte Akt sollte dort mit der Reue der Ritter beginnen, auf den dann La Valettes Entschluß, nach St. Elmo zu gehen, folgte.'8 Jetzt wird die Reihenfolge der Motive umgekehrt. Das Motiv der Selbstopferungsbereitschaft wird zum Paukenschlag, der die Rückgewinnung von La Valettes Autorität ankündigt. La Valettes Integrität wird dann erst durch die Aufdeckung des Verrats auf für die Ritter beschämende Weise bestätigt: 16. La Valetta kommt mit den alten Rittern, erklärt sich daß er sich selbst mit diesen in das Fort S. Elmo werfen wolle. Erstaunen der übrigen. Er macht sein Testament, und giebt dem Ademar seine Stimme zum Großmeisterthum. !?·
Es kommt Nachricht von der Flucht und Verrätherey des Montalto. Schrecken und Schaam der Ritter welche abgehen. (NA 12, 29,12-2;)
Das fehlende Freundschaftsmotiv zwischen St. Priest und Crequi wird, ebenso wie das Vater-Sohn-Motiv, in den folgenden Einheiten weiter ausgearbeitet.
i4
N A 12, 407,41 f. " NA i2, 407,37f. 56 Auch Kraft bezeichnet das Szenar als unvollständig (NA 12, 407,56f.). 57 NA 12, 2 5 ,37f. 58 NA i2, 26,5-10. 62
h)
Die idealisierte Freundesliebe als Parallelmotiv zu La Valettes idealer Autorität
In der Einheit, die auf die Einführung und Aufwertung des Selbstopfers folgt (NA 12, 29,28 - 31,16), erfährt das Freundschaftsmotiv eine Neubestimmung. Die Einheit beginnt als Revision des vorausgegangenen Szenars. In der zweiten Szene wird das in der vorigen Einheit fehlende Freundschaftsmotiv thematisiert (NA 12, 29,31-34). Nach der Aufzeichnung der fünften Szene folgt eine Reflexion, in der das Freundschaftsmotiv neu konzipiert wird: Es wird auf die idealistische Seite geschlagen, indem es in Anlehnung an das antike Motiv von Orest und Pylades, des klassischen Freundespaares, gestaltet wird. Damit wird den Opfermotiven auf selten La Valettes ein entsprechendes Motiv auf der Seite der Ritter zugeordnet, so daß durch den Tod St. Priests auf beiden Seiten die Idealisierung der Privatsphäre dargestellt werden kann. Auf der Seite der Ritter zeigt sich diese Idealisierung nun als Transformation der Freundschaft: Crequis Liebe als vollkommene Liebe59 führt zwar vorübergehend zur Vereinnahmung durch die Umtriebe des Verräters Montalto; sie erweist schließlich aber ihre reine, idealistische Seite, indem sie am Ende zur freiwilligen Selbstopferung Crequis führt, der mit seinem Freund sterben will: Die Freundschaft der zwey jungen Ritter muß gar nicht oder als ein höchstes in ihrer Art vorkommen. Sie muß vollkommen schön, dabey aber wirkliche Leidenschaft mit allen ihren Symptomen seyn. Der Eine von beyden welchen es trift in Borgo zurück zu bleiben, wenn er alles gethan um sich gegen seinen Freund auszutauschen, muß ihm freiwillig in den Tod nachfolgen. Schöner Wettstreit. Crequi fragt ängstlich nach seinem jungen Geliebten ob er nicht verwundet sey. ( 12, 30,8—22)
Die Neufunktionalisierung des Freundschaftsmotivs ist möglich, weil es seit der Einführung des Verratsmotivs nicht mehr als Anlaß für das Aufbegehren der Ritter gegen den Großmeister benötigt wird. Mit dem neu definierten Freundschaftsmotiv wird zugleich eine Verbindung zwischen Rittersphäre und Protagonist geschaffen, indem eine Handlung eingeführt wird, die am Ende auf La Valettes Linie einschwenkt und die Wandlung der übrigen Ritter antizipiert.60 Die Bedeutung dieser Funk" Zur Motivtradition der Darstellung männlicher Jugend im Sinn der Kalokagathie siehe Melitta Gerhard, Das Zielbild »hoher Jugend« - ein Leitgedanke von Winckelmann bis George, in: Gerhard, Auf dem Wege zu neuer Weltsicht. Aufsätze zum deutschen Schrifttum vom 18. bis 20. Jahrhundert, Bern/München 1976, S. 109—114, hier S. . u. 113f. 60 Vgl. Paul Derks, Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlich63
tion für das geplante Stück wird an späterer Stelle bestätigt, wo das Freundschaftsmotiv mit dem Rivalitäts- und Verratsmotiv als selbständiger Handlungsstrang neben der Elmo-Handlung verzeichnet wird: Es sind zwey verschiedne Handlungen i) die Liebe und Rivalität zweyer Ritter und ihrer Zungen (Sittenverderben) und 2) die Angelegenheiten von Elmo. (NA i2, 43,21-24)
Die Aufzeichnungen gehen schließlich in eine Beschreibung des Gesinnungswandels der Ritter (NA 12, 30,28-39) und des Schlußtableaus über (NA 21, 31,1-16). Wie schon in der Beschreibung der Freundschaft mit dem Begriff des »schönen Wettstreits« wird hier der Begriff der Schönheit für die Wiederherstellung der Ordenseintracht verwendet: Schöne Stunde des Ordens, die an seinen Ursprung erinnert. (NA 12, ji,if.)
In Schillers ästhetischer Terminologie ist Schönheit entweder die natürliche, von selbst zustande gekommene Harmonie oder, wenn sie das Moment der Erhabenheit enthält, die Idealschönheit, die allerdings eine regulative Idee und somit ein utopischer Begriff ist. Die Darstellung des erhabenen Schlußszenarios der >Maltheser< im Modus der Schönheit zeigt den Idealisierungsgrad an, der in dem Entwurf angestrebt wird. Anders als in der ästhetischen Systematik läßt sich dieser Idealisierungsgrad nicht in einer begrifflichen Definition der hier gemeinten Schönheit festmachen, denn eine solche ließe sich dramatisch nicht darstellen. Ideale Schönheit heißt hier, daß nach der Aufopferung der Ritter eine Perspektive eingenommen wird, die die Härten des Opfers vergessen läßt und die wiedergewonnene Harmonie in den Vordergrund stellt. Diese Überhöhung wird später durch die Darstellung des Schmerzes La Valettes korrigiert.
keit in der deutschen Literatur 1750 - 1850, Berlin 1990: im Kapitel -iRitter, die sich lieben. Schillers Plan eines >Malteserschöner< Ereignisse zu inszenieren. Die Unentschiedenheit, wie beide Elemente verbunden werden sollen oder in welche Richtung der Widerspruch aufgelöst werden soll, entspricht einer Unentschlossenheit, die in Schillers ästhetischen Schriften bezüglich der Frage auftritt, ob dem Leitbild der Erhabenheit oder dem der Schönheit Vorrang zu geben sei. In der Theorie wird dieses Problem so >gelöstMalthesern< würde zwei sich widersprechende Maximen hervorbringen: Soll so gehandelt werden, daß das allgemeine Interesse des Ordens als Institution (die Erhaltung des Ordens) berücksichtigt wird, oder so, daß das Interesse aller betroffenen Ritter als Individuen (der Wunsch, nicht in einem aussichtslosen Verteidigungskampf zu sterben) wahrgenommen wird? Dieser Konflikt tritt in der weiteren Ausarbeitung des Fragments deutlicher hervor, weil aus dramaturgischen Gründen die Perspektive der Elmo-Ritter noch stärker einbezogen wird und somit deren Interesse in den Vordergrund der Darstellung tritt. j)
Der Ordensvater als schöne Seele und das Fortbestehen des Autoritätsproblems
In dem vermutlichen Entwurf eines Exposes für Herzog Carl August (NA 12, 38,1 - 42,2y) 6 ' werden, dem Genre des Texts entsprechend, vor allem Elemente der Exposition zusammengefaßt und darüber hinaus detaillierter als in den vorigen Aufzeichnungen ausgeführt. Dies betrifft das Interesse der Türken an der Eroberung Maltas, die schwierige militärische Lage der Verteidiger und die spanische Politik der an Bedingungen geknüpften Unterstützung des Ordens bei der Verteidigung Maltas. Darüber hinaus wird die Tendenz der vorigen Einheit fortgesetzt, das religiöse System des Ordens und das Moment des Gehorsams als Forderung nach radikalem Idealismus darzustellen.62 Zugleich wird der Versuch beibehalten, eine Identifikation mit der auf übermenschliche Überwindung zielenden Handlung zu ermöglichen. Die Konsequenz dieser Maximen für die Darstellung des Konflikts zwischen La Valette und den Rittern wird in diesem Zusammenhang prägnant zusammengefaßt: Die im Orden geforderte Bereitschaft zur Aufopferung kann nicht per Autorität eingefordert werden; der Gehorsam gegen61 62
Vgl. NA 12, 414,14-26 (Komm, zu NA 12, 38,iff.). NA 12, 4i,}6f.; 42,5-8 a. R.
68
über dem Ordensmeister ist nur äußeres Merkmal einer Entscheidung zu idealistischem Leben im Gewand einer Ordensexistenz: Der Großmeister hat also überwiegende Gründe, einen Theil seiner Ritter, die Vertheidiger des Fort S. Elmo der Wohlfarth des Ganzen a u f z u o p f e r n . So grausam dieses Verfahren ist, so würde es doch nicht mit den Gesetzen des Ordens streiten, (...) da jeder Ritter sich bei der Aufnahme anheischig gemacht, sein Leben mit blindem Gehorsam für die Religion hinzugeben. Aber zu einer blinden Unterwerfung unter ein so grausames Gesetz gehört der [reine] G e i s t des O r d e n s , weil die Unterwerfung von i n n e n heraus geschehen [muß! und nicht durch äußre Gewalt kann erzwungen werden. Es gehört dazu i) eine blinde Ergebung in den Schluß des Großmeisters, also die Ueberzeugung von seiner Gerechtigkeit und Weißheit 2) eine fromme, religiöse, von allen ändern menschlichen Interessen abgezogene Denkart, verbunden mit einem hohen Heroismus. (NA i2, 41,10-29)
Am Autoritätsproblem wird im weiteren Text des Fragments durch die Ausgestaltung der Vaterrolle gearbeitet. Auf den Exposeentwurf folgen eine Reihe von Aufzeichnungen, in denen die Rolle des Protagonisten La Valette thematisiert wird (NA 12, 42,28 - 50,8). Dabei wird die Rolle als Ordensvater breit ausgeführt. Das Problem bleibt die autoritäre Funktion des Ordensmeisters. Zwar ist diese durch das Sohnesopfer und die Selbstopferungsbereitschaft beglaubigt, doch stellt sich angesichts des Darstellungsziels eines inneren Idealismus möglicherweise der Forderungscharakter im Verhalten La Valettes als Problem dar. Auf ein solches Problembewußtsein scheinen die Aufzeichnungen in der vorliegenden Einheit zu reagieren. Die Härte der Forderungen wird von der Person La Valettes auf den Zwang der Umstände verschoben und La Valette selbst als Opfer dieser Umstände gezeigt. Ein anthropologisches Modell, das Schiller für einen solchen Darstellungsmodus zur Verfügung stand, war der Übergang einer schönen Seele zur erhabenen Handlung. Dieses Modell sollte auch auf La Valette angewendet werden. Der Gedanke, La Valette als schöne Seele zu zeichnen, erscheint im Keim schon gegen Ende des Exposes für Carl August und hat dort motivationstechnische Gründe. Erklärt werden muß, wie der Sittenverfall im Orden Einzug halten konnte. Dies geschieht dadurch, daß La Valette als liberaler Mensch dargestellt wird, der eingedenk seiner eigenen Fehlerhaftigkeit eine gewisse Großzügigkeit bei der Überwachung der Ordenstugend hat walten lassen: Viele Ritter überlaßen sich offenbar den Ausschweifungen, denn la Valette der eine liberale Denkart besizt und selbst von gewißen Menschlichkeiten sich nicht frei weiß hat durch die Finger gesehen. (NA 12, 42,8-12)^ 65
Im Text der Nationalausgabe wird in diesem Zitat der Seitenwechsel in der Hand69
Liberalität ist für Schiller alltagspraktischer Bestandteil einer schönen Seele. In den Aufzeichnungen zur Person La Valettes wird das Moment der Schönheit programmatisch thematisiert und bekommt über seine Funktion als Erklärung des Ist-Zustandes im Orden den Charakter eines umfassenden Darstellungskonzepts für die Ordensmeisterfigur. Die entsprechenden Texteinheiten setzen mit der Festlegung La Valettes als eines schönen Charakters ein, der mit einer unmenschlichen Forderung konfrontiert ist: La Valetta ist ein schöner menschlicher Charackter und ist in den Fall gesetzt das unerträgliche zu thun. (NA 12, ^z
Als schöne Seele ist La Valette Sympathieträger und sichert das Mindestmaß an Identifikation mit seinem idealistischen Anspruch. Zugleich ist er der Motor der Handlung und der Umstimmung der Ritter. Die Umstimmung wird zunächst ebenfalls mit der Kategorie der Schönheit beschrieben: La Valette ist die Seele der Handlung, er muß immer handelnd erscheinen, auch da wo er nicht handelt, nicht mit Absicht wirckt, wirckt sein Charackter; besonders aber muß das Resultat des Ganzen die Rückkehr der Ritter zu ihrer Pflicht und zwar zum höchsten und schönsten Geiste derselben, sein Verdienst, das Werck seiner hohen Tugend und Weißheit seyn. (NA 12, 42,)!-} 8)
Trotz der Tendenz, die Handlung im Licht der Schönheit erscheinen zu lassen, kann die Härte von La Valettes Haltung in dem Moment, in dem sie zur Sprache kommt, nicht verschleiert werden. Hier wird der Begriff des Erhabenen eingeführt, der aber zugleich wieder durch das Moment der Liebenswürdigkeit, die hier Schillers Idealschönheit entspricht, verschönt wird: Der Innhalt dieser Tragödie ist, (...) das Gesetz und die Pflicht [im Conflict] mit, an sich edeln Gefühlen, so daß der Widerstand verzeihlich, ja liebenswürdig, die Aufgabe hart und unerträglich erscheint. Diese Härte kann nur ins Erhabene aufgelößt werden, welches, freiwillig und mit Neigung ausgeübt, das höchste Liebenswürdige ausmacht (...) (NA 12, 44,59 - 45,6)
Um diese Konstruktion glaubwürdig zu machen, wird die Verantwortung für die Härte von La Valettes Aufgabe auf den historischen Stoff geschoben, das Dramenprojekt selbst stellt die Interpretation dieser Härte (der Opferforderung) im Licht des Idealismus dar, das heißt es schrift, der hier aus Gründen der Lesbarkeit nicht dargestellt ist, folgendermaßen wiedergegeben: »Mensch/lichkeiten«.
zeigt das Zustandekommen einer idealistischen Haltung in einer konkreten historischen Situation: Die Tugend, welche in dem Stücke gelehrt wird ist nicht die allgemein menschliche oder das Reine Moralische, sondern die zum Moralischen hinauf geläuterte specifische Ordenstugend. (NA 12, 4),9-15)
Aus diesem Idealisierungsprogramm, das die eigentliche Leistung des Stücks sein soll, folgt die Forderung nach Überführung des geforderten Erhabenen in den Modus der Schönheit, der hier mit Freiwilligkeit gleichgesetzt wird: Die Aufgabe wäre also die Verwandlung einer strengen pflichtmäßigen Aufopferung in eine freiwillige, mit Liebe und Begeisterung vollführte. Es wäre also eine Stimmung hervorzubringen, welche dieser Empfindungsart Raum giebt, der Großmeister muß der Urheber davon seyn und zwar durch seinen Charakter und dadurch, daß er selbst ein solcher ist. (NA 12, 4;,14-21)
Die Forderung nach Freiwilligkeit des Erhabenen muß aufgrund des im historischen Stoff gegebenen Gehorsamszwangs erhoben werden. Dieser Zwang verführt dazu, die Einzeichnung von Freiwilligkeit in die Handlung als Behebung der stofflichen Probleme anzusehen. Tatsächlich aber ist mit dieser Leistung erst der Stand erreicht, den der Begriff des Erhabenen in Schillers Theorie sowieso schon hat. In Schillers Aufsätzen zum Erhabenen gehört es zum Wesensmerkmal einer erhabenen Handlung, daß sie freiwillig, allein aus dem Willen des Subjekts heraus, gegen äußere Widerstände geleistet wird. In Schillers Fragment dagegen scheint mit dem Freiwilligkeitselement ein Idealzustand erreicht zu sein. Dies wird an der Person La Valettes deutlich: Hier soll das Fortbestehen der >schönen< Wesenszüge die alternativlose Richtigkeit seiner Forderungen beglaubigen und verleiht seinem Charakter durch die Verbindung von Schönheit und Erhabenheit zugleich eine ideale Vollkommenheit, die mit dem Begriff der Totalität bezeichnet wird und darin ihren utopischen Charakter verrät: Eine moralische Festigkeit bei aller F ü h l b a r k e i t , und bei allen Anläßen dieser (...) die Oberhand zu verschaffen und jene zu erschüttern ist der Innhalt. Die Existenz des Moralischen kann nur durch die Totalität bewiesen werden (...), und ist nur durch diese schön und das Höchste. In Begleitung jener Festigkeit sind also Zartheit, [lebhafte Beweglichkeit,! Wohlwollen, Mäßigung, Weichheit, Milde, kurz alle schöne menschliche Tugenden. Ihre Verbindung macht den Großmeister (...) zu einem liebenswürdigen und wahrhaft großen Menschen. (NA 12, 4^,22-3} )
Die idealistische Interpretation des Freiwilligkeitstopos funktioniert allerdings nur bei der Figur La Valettes, denn Totalität als Wesensmerkmal der Idealschönheit >veredelt< die rigoristische Härte des Opfergehorsams nur, wenn die Person des Ordensmeisters im Blickpunkt steht, kann über dessen konkret individuelle Unmenschlichkeit aber nicht hinwegtäuschen, sobald die Perspektive der Opfer eingenommen wird. Dies geschieht aber im folgenden nach einem Neuansatz zur Beschreibung von La Valettes Rolle (ab NA 12, 46,13), in dem, im Anschluß an eine ausführliche Beschreibung seiner Ordensvaterrolle (NA 12, 47,415), die Perspektive der Ritter deshalb in den Blick gerät, weil sich die väterliche Güte an ihnen erweisen und bewähren muß. Im Anschluß an diese Passage wird die Frage gestellt, ob die Opferung anderer nicht La Valettes scheinbar so selbstlose Haltung desavouiert: Weil la Valette nicht sich selbst sondern andre (...) aufopfert, so könnte sein Heroismus (...) zweifelhaft werden. Es ist also nöthig zu zeigen, wieviel schwerer es ihm wird, andre als sich selbst aufzuopfern. (NA 12, 47,16-20)
La Valettes Bereitschaft zum Selbstopfer, das in der Einheit NA 27,1 29,27 als Hauptmotiv zur Überzeugung der Ritter eingeführt worden war, wird mit dieser Reflexion als zu diesem Zweck hinreichendes Motiv in Frage gestellt. Daß La Valette bereit ist, sich selbst für sein Ideal zu opfern, könnte an seinem Eigeninteresse liegen. Außerdem bleibt es in seinem Fall bei der Opferbereitschaft. Auf Bitten der Ritter geht er nicht nach St. Elmo und überlebt den Angriff der Türken. Nachträglich könnte ihm bei der Ankündigung, nach Elmo zu gehen, taktisches Kalkül unterstellt werden, das nach der Quelle auch tatsächlich vorlag. Eine echte Selbstlosigkeit seiner Haltung kann nur vorausgesetzt werden, wenn glaubhaft ist, daß es ihm eine noch höhere Überwindung abverlangt, das Opfer von den Rittern zu fordern, als sich selbst zu opfern. Ein Schritt in diese Richtung wird in der Ausgestaltung der Szene zwischen La Valette und dem Kommandeur Ademar unternommen. Die Überzeugung Ademars, der sich der Meuterei gegen den Ordensmeister angeschlossen hatte, erfolgt dadurch, daß es La Valette gelingt, ihn die Perspektive des übergeordneten Interesses einnehmen zu lassen: In einer entscheidenden Szene zwischen Ademar und den Großmeister führt dieser letztere den ersten an dem Abgrund hin, worinn Ademar das Ganze zu stürzen im Begriff war. Er erschüttert ihn durch den Augenschein, er greift ihm gewaltig ans Herz. Ademar wird in den Standpunkt eines Fürsten gestellt, wo er fähig ist zu stehen, und wovon nur die Leidenschaft ihn entfernt hatte. (...) l2·
Hier sieht er nun sein eignes Benehmen in seiner wahren Gestalt, die Privatrücksicht weicht dem Intereße des Ganzen, er muß als Fürst, sein Betragen als Ritter verwerflich und verdammungswerth finden. (NA 12, 48,}6 - 49,17)
Die in dieser Szene entstehende Überzeugungskraft wirkt aber ausschließlich auf Ademar und nicht auf den Rest der Ritter. Für das Publikum dient es zur Beglaubigung von La Valettes Perspektive. Für die zu überzeugenden Ritter liegt weiterhin kein Motiv vor, das die Einnahme einer übergeordneten Perspektive veranlaßt. Es bleibt bei einem Motivationsgemisch, das im folgenden in einer Liste zusammengestellt wird. Die Gründe zielen auf die Beglaubigung La Valettes, die Beschämung der Ritter und die Darstellung ihres objektiven Unrechts. An der Spitze steht die Selbstopferungsbereitschaft des Ordensmeisters, gefolgt von der Aufdeckung des Verrats, La Valettes testamentarische Verfügung und die Bereitschaft zum Sohnesopfer, die Opferbereitschaft des spanischen Botschafters Miranda und der Bericht des Ingenieurs Castriot, daß das Fort noch gehalten werden kann: Die Ritter werden zur Erkenntniß gebracht. 1. Durch La Valettes Entschluß, sich selbst mit den Schwachen ins Fort zu werfen. 2. Durch die entdeckte Verrätherey des Montalto. 3. Durch La Valettes letzten Willen. 4. Durch die Aufopferung seines Sohns. 5. Durch Mirandas Entschluß. 6. Durch Castriots Bericht. (NA 12, 49,40 - 10,8)
Die aufgeführte Vielzahl der Umstimmungsmotive macht klar, daß die im Fragment bisher mehrfach formulierte Maxime, die Umkehr mit einer einzigen Handlung des Großmeisters zu begründen, nicht realisierbar ist, wenn die Handlung aus der Perspektive der Ritter dargestellt wird und zugleich das Stück eine ideale Autorität als Protagonisten haben soll. Der Versuch einer Konzentration der Handlung führt, konsequent idealistisch gedacht, zur Verstärkung der Ritterperspektive und in der Folge zu einer Neukonstruktion ihres Gesinnungsumschwungs.
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k)
Die Perspektivenvielzahl als Problem
In der Einheit NA 12, 5 2 , 6 - 5 3,27 wird das Problem der verschiedenen Handlungsstränge formuliert: Es sind mehrere sehr verschiedne Handlungen und Verhältniße zu Einer Hauptwirkung zu verbinden; wie ist es einzurichten dass sie nicht nur mit und nebeneinander bestehen können, und wie müssen sie in einander verflochten seyn, um den Zweck des Ganzen zu befördern? (NA 12, j 2,6-11)
In der folgenden dreiteiligen Reflexion (NA 12, 52,23 - 53,27) wird versucht, die verschiedenen Perspektiven durch die Person La Valettes zu verbinden. Im ersten Teil dieser Reflexion wird zuvor das Eigengewicht der Ritterhandlung formuliert und dann ein einheitsstiftendes Motiv in der Figur La Valettes gesucht (NA 12, 52,13-21). Der gemeinsame Nenner besteht in seiner Charakterisierung als eines Antipoden gegenüber den Autonomiebestrebungen der Ritter: NB. [Der! Zusammenhang dieser Sittenrefbrme mit der [Elmoischen Angelegenheit, als der! besondern Handlung des Stücks ist zu zeigen. Er besteht darinn, daß der Großmeister durch beide den Orden gegen sich aufbringt, und als ein Tyrann erscheint, indem er nur das Gesetz des Ordens gegen weltliche Rücksicht behauptet. (...) Ohne jene Sittenrefbrme hätte er nur eine Parthey, nicht den ganzen Orden wider sich gereizt, und diese Parthei hätte sich nicht soviel gegen ihn herausgenommen, wenn sie nicht an denen mächtigen Rittern, welche durch die Sittenreform beleidigt worden, Stützen gefunden hätte. (NA 12, 52,22-}])
Die Strategie der Einheitsstiftung über die Figur La Valettes wird in der folgenden Einheit unvermittelt problematisiert und mit weitreichenden Konsequenzen reflektiert. Dies führt in den weiteren Aufzeichnungen zu einer kontinuierlichen Reduktion der Protagonistenhandlung. 1)
Die neue Perspektive: die eigentlichen Opfer als Prüfinstanz der Protagonistenhandlung
In NA i2, 53,28 - 56,3 folgt eine große Problemreflexion, in der der bisher erreichte Stand der Handlungsmotivation aus der Perspektive der zu überzeugenden Ritter radikal problematisiert wird und der zu einer Revision der Handlungskonstruktion in den letzten Fragmenteinheiten führt. Die Thematisierung der Ritter auf Elmo bringt das Autoritätsproblem zu voller Geltung. Wenn die Ritter, die ihr Leben opfern sollen, als eigentliche Prüfinstanzen der Autorität La Valettes ein74
geführt werden, dann beruht die Überzeugungskraft der Handlungen La Valettes darauf, daß sie frei von jeder Eigennützigkeit erscheinen. Dies ist nur möglich, wenn das Sohnesopfer keine Entscheidung La Valettes, sondern eine Entscheidung des Sohns selbst ist. Diese Erkenntnis wird in den letzten Fragmenteinheiten ausgearbeitet. Ausgangspunkt dieses Reflexionsprozesses ist die dramaturgische Überlegung, daß eine noch so glaubwürdige Motivation der Umkehr der Ritter im Stammfort noch nicht die freiwillige Selbstaufopferung der Ritter in St. Elmo begründet. Diese Überlegung wird zu Beginn einer ausführlichen Reflexion unter dem Gesichtspunkt von dramaturgischer Präsenz angestellt: Ein Hauptbedenken ist, daß die eigentliche Handlung der Tragödie etwas abwesendes betrift, daß gerade diejenigen Ritter, welche nicht in Function sind, den Innhalt derselben ausmachen. (NA 12, j^,2^-^)
Solange das Problem in dramaturgischen Kategorien reflektiert wird, bietet sich als Lösung an, die Ritter im Stammfort als Stellvertreter der Ritter auf Elmo auftreten zu lassen: Es würde also erfodert, die Ritter auf Borgo in handelnde Personen zu verwandeln, ihre Identität mit denen auf S. Elmo darzuthun, und was in diesem Fort geschieht, mittelbar, also mit dem was gesehen wird zu verflechten, daß es damit eines und daßselbe ist. (NA 12, j),)4 - J4,j)
Diese Lösung wird in unmittelbarem Anschluß als dramaturgisch unbefriedigend verworfen, weil eine Stellvertreterfunktion nicht genügend Darstellungsmaterial bietet (NA 12, 54,6-11). Aus dieser Einsicht heraus wird die Alternative entwickelt, entweder die Ritter im Stammfort oder die Ritter auf Elmo in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen (NA 12, 54,12-25). Für den Fall, daß die Elmohandlung den Schwerpunkt des geplanten Stücks bildet, hat die Handlung im Hauptfort keine tragende Funktion, obwohl sie die Szenerie des Stücks abgibt: Kurz: ist die Handlung eine solche, an welcher der ganze Orden Theil hat, so verliert die Elmoische, welche partikular ist, an der tragischen Wichtigkeit; ist diese aber das tragische Thema, so haben die Ritter auf Borgo nicht das Hauptinteresse, und die Handlung verliert von ihrer Einheit, dadurch, daß eine partikulare und eine allgemeine zusammen verbunden werden.
(NA 12, 54,26-^6)
Im folgenden Argument wird das Perspektivierungsproblem erstmals als inhaltliches Vermittlungsproblem thematisiert. Das Selbstopfer La Valettes als Überzeugungsmittel der Borgoritter ist dysfunktional, weil diese Ritter nicht das eigentliche Opfer zu bringen haben: 75
Ferner, sind die Ritter auf Borgo nur die Verfechter derer von Elmo, so paßt (...) das Mittel nicht recht, wodurch La Valette die leztern beschämt, es paßt wohl auf diese abwesende, aber nicht auf die zu Borgo, und diesen steht es nicht an, auf fremde Unkosten heroisch zu handeln. (NA 12, 54,}? - }}>7)
In der Randbemerkung wird die Tauglichkeit dieses Motivs und die zentrale Funktion von La Valettes Selbstopferungsbereitschaft dann wieder bestätigt. Sie führt allerdings nicht mehr zu einer idealistischen Überzeugung, sondern zu einer autoritären Beschämung der Ritter. Damit wird das Motiv in der Weise funktionalisiert, wie es bei Vertot gegeben ist: Indem La Valette sich selbst mit den alten Rittern zum Opfer hingiebt werden die Deputierten aus Elmo und alle übrigen, welche sich widersetzt mit Recht beschämt und alle drängen sich nun zu dem Opfer. (NA 12, //,/-/ a. R.)
Die Rückkehr zu Vertots Fassung des Selbstopfermotivs macht die Suche nach einem neuen Motiv für die idealistische Umkehr notwendig. Die Frage nach dem idealistischen Gehalt wird als Totalitätsfrage nach der >ganzen< Umkehr formuliert, die wiederum vollständig vom Verhalten des Großmeisters abhängig gemacht wird: Das große Desiderat ist ein entscheidender Act des Großmeisters, wodurch er die Ritter ganz herumbringt - Dieß ist ein Act der höchsten Unparteilichkeit, Güte, und Aufopferung für das Wohl des Ordens. (NA 12, a,2
In der Randbemerkung zu dieser Stelle wird der idealistische Gehalt dann ausdrücklich als Moment der Überzeugung benannt: Sie werden überzeugt, daß la Valette gut ist und nur das gute will, daß sie durch ihren Widerstand viel Böses anzurichten im Begriff waren, (sie) (NA 12, jj,2j-28 a. R.)
Das gesuchte Motiv wird gefunden im umgewerteten Motiv des Sohnesopfers. Dieses soll nun nicht mehr die Funktion einer im privaten Rahmen erfolgenden nachträglichen Beglaubigung der Autorität La Valettes erfüllen, sondern stellt von vornherein einen öffentlichen Akt dar. Dazu muß das Sohnesopfer vom Verdacht des Kalküls befreit werden, das heißt es darf nicht als Mittel erscheinen, um die Ritter umzustimmen, sondern muß aus reinem Idealismus hervorgehen. Die Umkehr der Ritter aufgrund dieses Motivs wäre dann eine stringente, wenn auch keine von vornherein von La Valette beabsichtigte Folge des Sohnesopfers. Eine erste Realisation dieser Anforderung wird in der Umplazierung des Motivs gesucht. Es kann als reiner Idealismus erschei76
nen, wenn es vor Eintritt der Schwierigkeiten beschlossen wurde, die La Valette mit den Rittern im Stammfort hat: Ist es vielleicht gut, daß er seinen Sohn hingiebt mit Freiheit und vor der Meiterey - daß diese Handlung von ihm die Ritter besiegt? (NA 12,
J},)2-)J)
Diesem Duktus der Ausarbeitung des Sohnesopfers als einer öffentlichen und auf Überzeugung zielenden Handlung entspricht die Konzeption eines weiteren Umstimmungsmotivs, das in der Übertragung der Ademarszene auf alle Ritter besteht. Wie zuvor für Ademar konzipiert, versetzt La Valette nun die gesamte Ritterschaft in die Fürstenperspektive, demonstriert ihnen die destruktiven Folgen ihres Widerstands für das Schicksal des Ordens und appelliert an ihre Einsicht: Oder besteht jener Act darin, daß er ihnen die schreckliche Gefahr zu fühlen giebt, in welche sie den Orden gesezt haben? (NA 12, 55,3
Beide Motive zusammen würden den gesuchten Idealismus herbeiführen können, weil das erste auf die Ritter in Elmo zielen und die Selbstlosigkeit von La Valettes Forderung beglaubigen würde und das zweite die Ritter im Stammfort von der Richtigkeit von La Valettes Verhalten und der Verwerflichkeit ihrer Meuterei überzeugen würde. Deshalb ist es sinnvoll, beide Motive als Umstimmungsgründe vorzusehen, obwohl zuvor ein einziges Motiv gesucht worden war. Schiller notiert: Beides wirkt zusammen.
(NA iz, jj,4o)
Mit dieser Überlegung ist eine neue zentrale Funktion des Sohnesopfers für den Rest des Entwurfs festgeschrieben. Während der Ausgangspunkt hier die Beglaubigung der Autorität La Valettes ist, wird das Motiv in den folgenden Einheiten so eingesetzt werden, daß die Unmöglichkeit deutlich wird, Autorität durch Opfer zu beglaubigen. Die Voraussetzung für das Hervortreten dieser Unverträglichkeit ist, daß das Sohnesopfer noch einmal zum Hauptmotiv der Umstimmung aufgewertet wird. Dies geschieht durch die Wiederholung der Forderung nach einem einzigen Umstimmungsmotiv, die zu Beginn der folgenden Einheit erfolgt. m) Die Aufwertung des Sohnesopfers zum zentralen Umstimmungsmotiv Über den Einsatz des Sohnesopfers als Umstimmungsmotiv wird in der Einheit NA 12, 56,4 - 59,9 auf der dramaturgischen Ebene noch einmal 77
ausführlich reflektiert. Gemeinsam mit der Forderung nach angemessener Verwendung des Freundschaftsmotivs (NA 12, 5 6,5 ff.) wird die Suche nach einer geeigneten dramatischen Handlung, mit der La Valette die Meuterei beendet, erneut als unerledigtes Problem bezeichnet. Ungelöst sind nach der Neufunktionalisierung des Sohnesopfers in der vorausgegangenen Einheit zum einen der Widerspruch zwischen der Suche nach einer einzigen Handlung und der dort festgelegten Doppelhandlung. Zum anderen wird erneut die Frage thematisiert, wie das Sohnesopfer nun als nicht aus Berechnung hervorgehender Beitrag zur Handlungsentwicklung eingesetzt werden kann: Zwei Aufgaben sind noch zu lösen. (...) 2) ein handelndes Motiv, wodurch La Valette die Empörung dämpft und unter den Rittern rein, groß und gerechtfertigt da steht. (NA 12, 56,4-10)
Die Konzeption des gesuchten Motivs geht aus der Beschreibung seiner Wirkung auf die Ritter, in der Einsicht, Schuld- und Schamgefühl zusammenkommen (NA 12, 56,18-26), hervor. Diese Beschreibung führt zur Neuformulierung des jetzt als zentrale Handlung bezeichneten Sohnesopfers. Die Bedeutung wird mit dem Begriff des >Pivotsschöne< Persönlichkeit in privaten Begegnungen gezeigt werden kann (NA i2, 66,10—18; 67,11-20). Der Opfercharakter, den die Entscheidung, in St. Elmo zu kämpfen, für La Valette hat, ist vorerst nur für das Publikum ersichtlich (NA 12, 65,35 - 66,15 a- R·)· Zugleich wird der entscheidende öffentliche Auftritt St. Priests ans Ende der Reihe von Umstimmungsmotiven gesetzt. Das Sohnesopfer erscheint in seiner endgültigen Funktion als öffentliches Umstimmungsmotiv also erst nach der Meuterei. Das Szenar bricht, wie Kraft vermerkt hat, an der Stelle ab, die die endgültige Umkehr der Ritter zum Inhalt gehabt hätte.6' Dies wäre zugleich diejenige Stelle gewesen, in der das SohNA 12, 422,34-40 (Komm, zu NA 12, 6 , - 70,24). 80
nesopfer öffentlich hätte verkündet werden müssen. Die unmittelbar davor verzeichneten, bereits in den vorigen Einheiten konzipierten Umstimmungsmotive, die nach den Aufzeichnungen in NA 12, 55,2540 zugunsten eines bzw. zweier Hauptmotive hatten abgelöst werden sollen, werden mit veränderter Funktion beibehalten. Sie dienen jetzt dem begrenzten Zweck, die Umstimmung der Ritter im Stammfort vorzubereiten: in Szene XVII (NA 12, 68,14-35) die Entdeckung von Montaltos Verrat; in der darauffolgenden Szene XVII66 (NA 12, 68,36 69,14) die Bereitschaft des spanischen Botschafters Miranda und der alten Ordensritter, das Fort zu verteidigen; in Szene XVIII (NA 12, 69,15-33) La Valettes Bereitschaft zur Verteidigung des Forts und die Erklärung des Ingenieurs Castriot, daß das Fort noch gewisse Zeit zu halten sei; in Szene XIX (NA 12, 69,34 - 70,14) die Benennung Romegas' zum Nachfolger La Valettes als Ordensmeister und dessen Einsicht in seine Verfehlung. Damit ist die bisherige Konstellation für den Sinneswandel vollständig erhalten. In Szene XX (NA 12, 70,15—24) war die endgültige Prüfung dieses Sinneswandels vorgesehen: Die aufrührerischen Ritter kommen in flehendem Aufzug, La Valette um Verzeihung ihres Fehlers und um die Vertheidigung von Elmo zu bitten. Er läßt sich nicht gleich erweichen, bis er ganz entschiedene Proben ihrer wahren Reue hat und fbis] ihre Sinnesänderung vollkommen ist.
(NA 12, 70,16-24)
In einer Randbemerkung zu dieser Stelle ist der in der Einheit zuvor abstrakt als zentral konzipierte Auftritt des Sohns hinzugefügt: Die Elmoischen Abgesandten kommen von ihren Committenten zurück Sie bringen La Valettes Sohn mit. (NA 12, /o,!fff. a. R.)
Die Endposition des Sohnesopfers verleiht dem Motiv seine zentrale Bedeutung nach dem Prinzip der Steigerung. Das Sohnesopfer stellt den spektakulären Schluß der Umstimmungshandlungen dar. Die Reihung der Umstimmungsmotive läßt zugleich die Umkehr der Ritter im Stammfort bzw. in Elmo als getrennte Handlungen bestehen und stellt die Umkehr der durch ihre Gesandtschaft repräsentierten Elmo-Ritter ihrer Bedeutung entsprechend heraus, die durch den Auftritt St. Priests am Ende der Klimax zur Haupthandlung geworden wäre. Das wenig später folgende, einzig vollständige Szenar des >MaltheserMalteser< Fragment and Kaiser's >Die Bürger von CalaisDie Bürger von CalaisMaltheserThemistoklesMaltheser< auf einer fundamentaleren Ebene. Das Projekt zeigt, daß die Repräsentation des Gesetzes durch ein Individuum auch bei Aussparung der Autoritätsebene mindestens ebenso ideale Bedingungen auf Seiten der gesellschaftlichen Verfassung voraussetzt wie auf Seiten des Individuums, und offenbart damit den utopischen Charakter von Schillers Staatstheorie.
B. >Themistoklesbeerbt< dieses Motiv die Protagonistenhandlung durch eine zweifache Funktionsübernahme: Zum einen stellt es aus Sicht der Griechen den Erfolg von Themistokles' Opfer dar und überhöht, wie bereits erwähnt, dieses Opfer, zum anderen tritt es als tragisch-affektives Mittel an die Stelle des Opfers: Die wahre Enttäuschung und tragische Ironie findet hier statt. Der >ThemistoklesMaltheser< zur Auflösung der Protagonistentragödie, jedoch in fundamentalerer Form: Wie in den >Malthesern< Autorität und erhabenes Opfer dramatisch nicht ineinander überführt werden können, so kann im >Themistokles< gelebter Patriotismus nicht als Tragik inszeniert werden. i.
Themistokles' Verbannung und Freitod als idealistisches Märtyrerdrama
Das Fragment zerfällt in zwei große Sinn- bzw. Funktionseinheiten. In NA i2, 299,1 - 300,36 wird die Gesamtkonzeption unter verschiedenen Aspekten (Intention, Charakterisierung des Protagonisten, Handlung, dramatisch-inhaltlicher Effekt) skizziert; in NA 12, 300,37 - 302,14 werden einzelne Personen, Motive und Handlungselemente aufgelistet. In beiden Teilen läßt sich, unter verschiedenen Vorzeichen, die Auflösung des tragischen Gehalts des >ThemistoklesÄsthetischen Erziehung< beschreibt Schiller vor allem die grie-
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Hier gilt es also die möglichst innige Schilderung des B ü r g e r g e f ü h l s (...) vis a vis eines ruhmvollen wachsenden Staats und im Contrast mit dem sklavischen Zustand eines barbarischen erniedrigten Volks; die Begeisterung muß für das öffentliche Leben für den Bürgerruhm etc erweckt werden, und allem muß eine hohe edle energische Menschheit zum Grund liegen. (NA 12, 299,15-2}) Die Betonung des Gefühlsaspekts führt in den >Themistokles< ein Element ein, dessen Fehlen Schiller an Goethes >Iphigenie< kritisiert hatte. Schillers zur >Iphigenie< gegenläufige Ausarbeitungstendenz könnte eine Reaktion und kritischer Kommentar zu Goethes Stück sein, wenn die Aufzeichnungen zum >Themistokles< nach dem Januar 1802 verfaßt worden sind. Dies ist, wie Herbert Kraft ausführt, aufgrund von Buchbestellungen Schillers im April und August 1803 möglich, wenn auch nicht beweisbar.90 - Am 21.1. 1802 formuliert Schiller in einem Brief an Körner erstmals das Fehlen von > Sinnlichkeit als Einwand gegen die >IphigenieThemistokles< das Schema des Märtyrerdramas konsequenter umgesetzt worden ist als in Metastasios / v. Funkens >ThemistoklesThemistokles< aus inhaltlichen und dramaturgischen Gründen notwendig. Zum einen ist er die Voraussetzung dafür, daß Themistokles eine berechtigte Hoffnung auf Nachruhm fassen kann, auf der wiederum der Gefühl-Vernunft-Idealismus basiert. Zum anderen übernimmt das Scheitern der Expedition einen Teil des durch die affirmative Todesszene geschwächten tragischen Gehalts. Ein positiver Ausgang dagegen würde ein Stück im Stil von Metastasios / v. Funkens >Themistokles< produzieren, in dem die affirmative Tendenz des Heldentods zu einem Schauspielschluß ausgebaut wird. Während diese positive Version für Schiller also nicht in Frage kam, war andererseits ein rein negativer Schluß für Schiller aus Gründen der Interessenlenkung nicht denkbar. Im >Warbeck< -Fragment wird ebenfalls darauf reflektiert, daß das Scheitern einer Handlung durch das positive Interesse an einer anderen Handlung kompensiert werden muß:
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Nun ist eigentlich der Versuch auf England die angefangene Handlung und diese muß zu nichts werden, aber bloß insofern eine ungleich näher liegende und intereßantere beginnt. (NA 12, 199,1-;)
Zwischen beiden Alternativen stellt der von Schiller gefundene Kompromiß die Konsequenz aus der idealistischen Umformung eines tragischen Motivs dar. Diese Idealisierungstendenz des Entwurfs wird auch im zweiten Teil deutlich. In einer vom Buchstaben »a« bis »t« reichenden Liste werden Motive für das geplante Stück gesammelt. Auffällig ist dabei die in zahlreichen Varianten darzustellende Überlegenheit der griechischen Kultur. Ihre Darstellung ist notwendig, weil sie den Patriotismus des Themistokles begründet. An erster Stelle der Liste steht die Figur des Themistokles, deren Griechentum mit dem Prädikat der Hochgesinntheit charakterisiert wird und damit die edelenergische Seite der Figur zum Ausdruck bringt: Es wird dargestellt a) der Athenienser Themistocles, der hochgesinnte Grieche unter den Barbaren. Griechische und persische Sitten im Contrast. (NA 12, 300,37-40)
Themistokles' edel-energische Persönlichkeit wird des weiteren in Rückblicken auf seine Heldentaten (NA 12, 301,i8f.) und in einer Charakterisierung des Todgeweihten dargestellt. Im letzten Fall ersetzt die eindrucksvolle Charaktertotalität die schon zum Stillstand gekommene Handlung: t. Ungeachtet er außer Handlung (...) ist und sich dem Tode [schon! geweiht hat, so sieht man in ihm doch ganz den herrlichen Griechen, den klugen anschlägigen Staatsmann u. Feldherrn, die hohe trefliche unzerstörliche Natur, kurz den ganz unsterblichen Helden. Geist fließt von seinen Lippen, Leben glüht in seinen Augen, Feuer und Thätigkeit ist in seinem ganzen Thun. (NA 12, 302,6-14)
Entsprechend seiner Persönlichkeit genießt Themistokles unter den barbarischen Persern hohes Ansehen oder wird beneidet (NA 12, 301,16.i6f.). Die Aufwertung griechischer Kultur zeigt sich in zahlreichen weiteren Motiven. Wie Themistokles werden auch andere Griechen als eindrucksvolle Persönlichkeiten beschrieben; so wird eine ionische Sklavin des Themistokles als »hochgesinnt« bezeichnet (NA 12, 301,33f.). Das hohe Selbstbewußtsein der Griechen für ihre Kultur drückt sich in Verachtung gegenüber dem abtrünnigen Themistokles aus (NA 12, 301,29f.). Auf der anderen Seite ist die Anwesenheit weiterer Griechen geeignet, bei Themistokles Sehnsucht nach seinem Vaterland hervorzurufen 104
( 12, 3° , °- 3)· Die Begeisterung für griechische Kultur findet Themistokles auch bereits bei seinem Kind oder Enkelkind (NA 12, 301,3if.). Das heroische Element der griechischen Kultur soll in Erinnerungen an die Schlacht von Salamis und die Olympischen Spiele dargestellt werden (NA 12, 3oi,24f£), ihre Schönheit und Leistungsfähigkeit im Auftritt eines griechischen Philosophen (NA 12, 301,40) und in einer Aufführung von Szenen aus einer verlorenen Aischylos-Tragödie durch griechische Schauspieler (NA 12, 302,1-5). Der zweite Teil des Fragments führt somit fast ausschließlich Genrebilder einer Hochkultur und ihrer Mitglieder und den Kontrast zu einer weniger zivilisierten und unfreien Gesellschaftsordnung vor. Dies entspricht der Tendenz des ersten Teils, den Patriotismus als innere Gefühls- und Gewissensstimme zu inszenieren. Die Bilder sind, der idealistischen Tendenz gemäß, idyllische Szenen einer glücklichen Kultur. 2.
Die Voraussetzung der idealen Staatsgesinnung: der ideale Staat
Die Darstellung des Patriotismus als idealer Staatsgesinnung, die gleichermaßen aus Vernunft und Gefühl hervorgeht, unterlegt dem >ThemistoklesThemistokles< zum Entwurf eines säkularen Märtyrerdramas der idealen Staatsgesinnung. Wie in den >Malthesern< wird der Opfercharakter der idealen Staatsgesinnung illustriert. Anders als in den >MalthesernThemistokles< die Voraussetzung zu einer solchen Opferbereitschaft thematisiert: Im Gegensatz zum barocken Märtyrerdrama steht der heroischen Gesinnung der Protagonisten keine Darstellung der Welt als Ort der Greuel gegenüber, sondern die Schilderung der Kultur, die eine ideale Bindung an die Heimat ermöglicht. Während Goethes Iphigenie in einem Konflikt zwischen emotionaler Bindung an ihren Bruder Orest und moralischer Verpflichtung gegenüber ihrem Gastgeber Thoas steht, sich gegen heimliche Flucht und 105
Lüge entscheidet und durch persönlichen Mut und Offenheit gegenüber Thoas mit dessen Segen Tauris verlassen darf, überwiegt bei Schillers Themistokles die emotionale Bindung an Athen so sehr, daß er sich kompromißlos gegen die Loyalitätspflicht gegenüber den Persern entscheidet. Iphigenie versucht, Gefühl und Moral zu verbinden, Themistokles' Gefühl gibt den Ausschlag, für welche der sich widersprechenden moralischen Forderungen er sich entscheidet. Unter der Voraussetzung einer emotionalen Bindung an die Heimat wird Patriotismus als eine sich zwanglos einstellende ideale Staatsgesinnung darstellbar. Damit ist eine Seite des Verhältnisses von Person und Staat beleuchtet, die in der idealistischen Staatstheorie der ästhetischen Erziehung< einer nachträglichen ästhetischen Sublimation unterzogen wurde.96 Direkt thematisiert wird dort, wie gezeigt, die Pflicht der Person, durch eigene Vernunftbestimmtheit Verantwortung für den Vernunftstaat zu übernehmen. Daß das Individuum erst in den Stand versetzt werden muß, diese Vernunftbestimmtheit zu erbringen, wird zur Aufgabe der ästhetischen Erziehung erklärt. Diese schafft den Übergang vom sinnenbestimmten zum vernunftbestimmten Individuum. Im >ThemistoklesÄsthetischen Erziehung< hat die Beschreibung des >ThemistoklesDie Maltheser< und >ThemistoklesMalthesern< und im >Themistokles< wird die Identifikation von Person und Staat in konkreten Konfliktfällen durchgespielt und führt zu differenzierten poetischen Konstellationen, in denen das Individuum den Staat repräsentieren kann. 96
Vgl. Wallraven 1967, S. i n . Dort wird auf das Verfahren der ästhetischen Sublimierung einer Vernunftforderung hingewiesen.
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In den >Malthesern< gelingt es nicht, die Durchsetzung des Gesetzes durch ein Individuum als Opfer zugunsten des Allgemeinwohls darzustellen. Indem Schiller im Lauf der Ausarbeitung daran festhält, idealistische Staatsgesinnung als Opferbereitschaft zu inszenieren, wird die Autoritätsfigur zusehends marginalisiert. Handlungsträger werden die Figuren, die sich opfern. Die Repräsentation des Gesetzes wird zunehmend der künstlichen Figur des Chors übertragen. Mit dieser Entwicklung wird das anfängliche dramaturgische Konzept des geplanten Stücks unterlaufen, das am Stoff der Belagerung Maltas und an der zentralen Rolle des Ordensmeisters orientiert war. Das Motiv der Opferbereitschaft der eigentlichen Opfer, das in den >Malthesern< sukzessiv dominant wird, wird im >Themistokles< einer weiteren poetischen Analyse unterzogen. Die geforderte martyrologische Opferbereitschaft der idealen Staatsgesinnung wird durch das glückliche Leben der Bürger im Staat hervorgebracht, so daß der Patriotismus als gefühlte Gewissensnorm dargestellt werden kann, die nicht von außen an das Individuum herangetragen werden muß. Das Fragment offenbart den idyllisch-utopischen Charakter dieser Vorstellung in der Aufhebung der Tragik und der Schwerpunktsetzung auf die Darstellung glücklichen Lebens in der athenischen Polis. >Die Maltheser< und >Themistokles< verweisen damit einerseits auf das Problem der Autorität, das in Schillers vertragsrechtlich gedachtem Konzept des Vernunftstaats nicht gelöst ist, und andererseits auf die hohen Anforderungen an die Beschaffenheit einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern eine ideale Staatsgesinnung ermöglicht. Bei beiden Entwürfen führt die affirmative Darstellung des Verhältnisses von Person und Staat zur Auflösung der Protagonistentragödie. Dies bedeutet nicht, daß die Stücke damit unrealisierbar geworden wären. Für Schiller könnte der mit dem Tragikverlust eingetretene Mangel an Dramatik jedoch ein Signal für einen Mangel an dargestellter Individualität gewesen sein. In >Ueber das Erhabene< hat er gegenüber einer Idylle, in der das Subjekt zu kurz kommt, das Interessante der Darstellung einer moralisch widersprüchlichen Behauptung von Freiheit hervorgehoben: Die Freyheit in allen ihren moralischen Widersprüchen und physischen Uebeln ist für edle Gemüther ein unendlich interessanteres Schauspiel als Wohlstand und Ordnung ohne Freyheit, wo die Schaafe geduldig dem Hirten folgen, und der selbstherrschende Wille sich zum dienstbaren Glied eines Uhrwerks herabsetzt. (NA 21, 49,11-16) 107
Der Universalbegriff der Freiheit umfaßt bei Schiller auch den Begriff der Individualität. Dies wird in den >Malthesern< und dem >Themistokles< deutlich. Die erhabene Protagonistentragödie lebt nicht nur von der Entscheidung für die Vernunft, sondern fordert auch die Bewahrung der Individualität der Protagonisten. Damit setzt sich eine Tendenz fort, die mit den >Räubern< begonnen hat, wo der Bruch des Kraftgenies Karl Moor mit der Gesellschaft die Durchsetzung seiner Individualität auf Kosten des Familienzusammenhalts bedeutete. Die Entwürfe der >Maltheser< und des >Themistokles< beleuchten durch ihren tragischen Ansatz das Moment der Behauptung von Individualität im Rahmen idealer Staatsbürgerexistenz. In den >Malthesern< ist es die Vaterschaft La Valettes, die die Individualität der Person betont und sich als gegenläufiges Motiv zu dem der Autorität letztendlich durchsetzt. Als sich in dem Plan die Unmöglichkeit erweist, La Valette als ideale Autorität zu inszenieren, wird seine Bedeutung in der Figur des Vaters, der seinen Sohn zu opfern bereit ist, gesucht. Dieses Moment stellt zwar immer noch den Opfercharakter der reinen Staatsgesinnung dar, läuft aber der ursprünglichen Intention einer Idealisierung von Autorität zuwider. Gemessen an der Ausgangskonstellation setzt sich also die Individualität als Gestaltungsprinzip durch. Dasselbe gilt für den >ThemistoklesDie Braut in Trauen, >Die Polizey< und >Die Kinder des Hauses< eine Gruppe von dramatischen Entwürfen vorgestellt, die mit dem Thema Person und Staat durch die zentrale Rolle des Gesetzes bei der Handlungsgestaltung verbunden sind. Nachdem bei der Interpretation der >Maltheser< deutlich geworden war, daß die individualisierte Darstellung des Gesetzes in der Person La Valettes ein dramaturgisches Problem darstellt, wird im vorliegenden Kapitel die umgekehrte Perspektive untersucht. In den hier vorgestellten Projekten geht es um die Inszenierung von Rechtsherstellung. Hier stellt das Gesetz eine Bedrohung für die Protagonisten dar. Seine dominante dramatische Funktion muß mit dem Anspruch auf Wahrung der Autonomie der Person abgeglichen werden. So wird auf negative Weise das Problem der >Maltheser< erneut aufgegriffen. Die von Schiller vorgelegten Versuche einer Gesetzesdramatik und das am Ende dieser Versuchsreihe stehende Formmodell erbringen wichtige Einsichten in die Möglichkeiten dramatischer Darstellung des Verhältnisses von Gesetz und Autonomie und somit für die Möglichkeit einer Inszenierung des Gesetzes als Vermittlungsinstanz zwischen Person und Staat. Die Stoffe, die in verschiedenster Weise die Sühnung von Verbrechen thematisieren, werden als rezeptionsästhetische Formexperimente ausgeführt. Sie sind der Versuch einer Affektdramatik nach antikem Vorbild. Gesucht wird ein Dramentyp, der durch seine Form Vernunftautonomie und Gemütsfreiheit beim Publikum bewirkt. Schiller unternimmt den Versuch, den >König Ödipus< des Sophokles als Modell für eine zeitgenössische Form der Katharsistragödie zu aktualisieren, wobei die durch Katharsis zu erlangende Furchtfreiheit als Autonomie im Sinn der kantischen Vernunft verstanden wird.1 Die Bedeutung dieses 1
Eine Gegenposition vertritt in jüngerer Zeit Albert Meier, Die Schaubühne als eine moralische Arznei betrachtet. Schillers erfahrungsseelenkundliche Umdeutung der Katharsis-Theorie Lessings, Lessing-Jahrbuch 2/1992, S. 151—162; Meier vertritt die Auffassung, daß Schiller die Katharsis als Harmoniebegriff verstanden habe, das heißt als seelisches Gleichgewicht von Gemütskräften (S. 156, 159). 109
Dramenmodells für das Thema von Person und Staat ergibt sich aus der öffentlichen Wirkung des Verbrechens im >König ÖdipusDie Rauben, >Der Verbrecher aus verlorener Ehre< und die >Vorrede zu dem ersten Teile der merkwürdigsten Rechtsfälle nach Pitaval< zeigen.4 In der klassischen Phase wird diese Thematik 2
Auf diesen Umstand als wichtigen Unterschied zur modernen Detektivliteratur weist hin Claus Reinert, Detektivliteratur bei Sophokles, Schiller und Kleist oder Das Rätsel der Wahrheit und die Abenteuer des Erkennens, Kronberg/Ts. 1975, S. I4f. u. 26. 3 Siehe den Eintrag in Goethes Tagebuch vom 26. 3. 1799 (NA 42, 265,4). 4 Vgl. v. Wiese 1959, S. 686£; Oehme 1987 b, S. 47.
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mit einem hohen poetologischen Anspruch verbunden. Es handelt sich um ein wirkungsästhetisches Dramenkonzept, dessen Radikalform auf der Überlegung basiert, daß die reine Darstellung physischer Zwänge ohne positives Dramenende und die damit verbundene Erzeugung von Furcht beim Publikum eine vernunftbestimmte und nicht auf Identifikation beruhende Rezeption des Dramas zur Folge haben kann. Als Ergebnis wäre beim Publikum dann die Vernunftaktivierung und Mobilisierung intelligibler Freiheit zu erwarten. Den Modellfall einer solchen reinen Wirkungsästhetik hat Schiller im >Agrippina Oedipus Rex