Ereigniszeit und Eigenzeit: Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit 9783839433720

Time is necessarily paradoxical. This study illuminates the literary aestheticisation of this paradox for the first time

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German Pages 318 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Endogene Unruhe
Konturen
Zeitgegenläufige Zeit
Operative Theorie der Zeit
No event, no system: Ereignistemporalität
Stay – far away, so close / Das System ›selbst‹
Operatives Emplacement: Gegenwart ex post
Offene Zukunft – unruhige Zeiten, komplexe Zeiten
Sinnemissionen: Rekursion einfach zweifach
Zaudernder Sinn
Textuelle Polyeventualität
Textuelle Ereignisreferenzen
Textereignis und Ereignistextur
Ereignishafte Materialität/Medialität
Textsinn als Ereignis
Polymorphe Zeiten
Zeit als operativ-epistemische Kategorie
Zeit als Sinnstruktur
Ereigniszeiten und Eigenzeiten
Literatur als Unruhestifter
»Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« – Alexander Kluges Schlachtbeschreibung
Temporale Verflechtungen – Formenzeit
Literarische Logi(sti)k – Textbewegungen
Schlachtbeschreibung als Chronographie
Texturale Formensprache – polykontexturale Zeitbeobachtungen
Ereignisintensität und Zeitviskosität
Re/Cycling – Zyklische Erkundungen temporaler Zwischenräume
Time mapping – nichtende Ereignisse
Vom Ereignis zur Nachricht zum Ereignis – temporale Korrespondenzen
Nachrichtenerstattung – Ereignistransformationen
Strukturpräsenz und depräsentierte Ereignisse
Tiefenzeit – vertikale Zeithorizonte
Transkriptive Eigenzeiten
Chronolog(ist)ik – Phänomenologie der Textevolution
Ars moriendi der black box. Thomas Lehrs Frühling
Operative Mimesis
Stroboskopische Ereignishaftigkeit – Das Aufblitzen des temporalisierten Bewusstseins
Bullet time – kinetische Maßverhältnisse
Liquide Diskorporation – Die Ortlosigkeit des Zeitbewusstseins
Interpersonale Eigenzeit – Der soziale Index der Eigenzeit des Bewusstseins
Kopplungen – Die Eigenzeit des Bewusstseins und der Eigensinn der Sprache
Natura non facit saltus. Zeitnahmen und -gaben im Feld eines literarischen coup de temps: Thomas Lehrs Roman 42
Im Augenblick einer Neuen Physik – gleichzeitige Unzeit
Autarke Eigenzeiten
Präsentistische Ethik
Donner le temps – donner la mort: Exzesse und Gaben der Präsenz
Pornokinesis – Fremdzeit und Eigentum
How to do Time with Things: epistemische Ereignisse und technische Eigenzeiten
Schlussbetrachtung
Literatur
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Ereigniszeit und Eigenzeit: Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit
 9783839433720

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Metin Genç Ereigniszeit und Eigenzeit

Lettre

Metin Genç (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen literarische Zeit- und Raumkonzepte, Literatur und Wissen, Mediengeschichte der Literatur sowie die Theorie der Ästhetik.

Metin Genç

Ereigniszeit und Eigenzeit Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3372-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3372-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 9

Endogene Unruhe | 9 Konturen | 17 Zeitgegenläufige Zeit | 25

Operative Theorie der Zeit | 28 No event, no system: Ereignistemporalität | 31 Stay – far away, so close / Das System ›selbst‹ | 35 Operatives Emplacement: Gegenwart ex post | 37 Offene Zukunft – unruhige Zeiten, komplexe Zeiten | 42 Sinnemissionen: Rekursion einfach zweifach | 47 Zaudernder Sinn | 52 Textuelle Polyeventualität | 61

Textuelle Ereignisreferenzen | 61 Textereignis und Ereignistextur | 64 Ereignishafte Materialität/Medialität | 74 Textsinn als Ereignis | 78 Polymorphe Zeiten | 85

Zeit als operativ-epistemische Kategorie | 85 Zeit als Sinnstruktur | 92 Ereigniszeiten und Eigenzeiten | 97 Literatur als Unruhestifter | 105 »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« – Alexander Kluges Schlachtbeschreibung | 115

Temporale Verflechtungen – Formenzeit | 115 Literarische Logi(sti)k – Textbewegungen | 117 Schlachtbeschreibung als Chronographie | 119 Texturale Formensprache – polykontexturale Zeitbeobachtungen | 124 Ereignisintensität und Zeitviskosität | 129 Re/Cycling – Zyklische Erkundungen temporaler Zwischenräume | 130 Time mapping – nichtende Ereignisse | 139 Vom Ereignis zur Nachricht zum Ereignis – temporale Korrespondenzen | 150 Nachrichtenerstattung – Ereignistransformationen | 155

Strukturpräsenz und depräsentierte Ereignisse | 163 Tiefenzeit – vertikale Zeithorizonte | 165 Transkriptive Eigenzeiten | 180 Chronolog(ist)ik – Phänomenologie der Textevolution | 191 Ars moriendi der black box. Thomas Lehrs Frühling | 205

Operative Mimesis | 205 Stroboskopische Ereignishaftigkeit – Das Aufblitzen des temporalisierten Bewusstseins | 215 Bullet time – kinetische Maßverhältnisse | 219 Liquide Diskorporation – Die Ortlosigkeit des Zeitbewusstseins | 224 Interpersonale Eigenzeit – Der soziale Index der Eigenzeit des Bewusstseins | 230 Kopplungen – Die Eigenzeit des Bewusstseins und der Eigensinn der Sprache | 236 Natura non facit saltus. Zeitnahmen und -gaben im Feld eines literarischen coup de temps: Thomas Lehrs Roman 42 | 241

Im Augenblick einer Neuen Physik – gleichzeitige Unzeit | 241 Autarke Eigenzeiten | 252 Präsentistische Ethik | 257 Donner le temps – donner la mort: Exzesse und Gaben der Präsenz | 260 Pornokinesis – Fremdzeit und Eigentum | 264 How to do Time with Things: epistemische Ereignisse und technische Eigenzeiten | 272 Schlussbetrachtung | 283 Literatur | 287

D ANKSAGUNG Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2015 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Die Gutachten haben Prof. Dr. Christof Hamann und Prof. Dr. Nicolas Pethes erstellt. Beiden sei an dieser Stelle gedankt für zahlreiche Anregungen vor und während der Promotionsphase. Christof Hamann gebührt darüber hinaus Dank für sein unermüdliches Engagement bei der Betreuung sowie für wichtige kritische Hinweise und wertvolle Impulse – vor allem aber für sein Vertrauen und seine Förderung, die erst jenen Freiheitsraum eröffnet haben, in dem die Idee zu diesem Buch reifen und ihre Umsetzung stattfinden konnte. Dass ich dabei auch die Erfahrung gemacht habe, wie vital Freundschaft und Wissenschaft Hand in Hand gehen, ist mehr als nur ein Nebeneffekt. Dir, Erich Kleinschmidt (Prof. em.), gilt mein besonderer Dank. Deine Faszination für das Komplexe im scheinbar Einfachen und deine Ermutigung und Anleitung zur wissenschaftlichen Neugier haben ihren Niederschlag auch in dieser Arbeit gefunden und begleiten mich weiterhin. Susanne Catrein, Magdalena Kißling, Verena Hepperle und Kathrin Schuchmann sei gedankt für den ermutigenden und beruhigenden Zuspruch, der mich immer wieder gestärkt hat. David und Manuela Günter verdanke ich viele willkommene Ablenkungen in Zeiten versiegender Gedankenströme. Meinen Familien möchte ich danken für das ausdauernde Wohlwollen und den liebevollen Beistand während der Schreibphasen, die immer auch Phasen der Isolation waren. Ganz besonders und in jeder Hinsicht und fortwährend danke ich Nicole. Ihre liebevolle Bereitschaft, die Strapazen des Schreibens mit unermüdlicher Kraft aufzufangen, ihre motivierenden Anregungen, ihr achtsamer Blick auf die Manuskripte, ihr vorsichtiger und nachsichtiger Umgang mit den Unwegsamkeiten, die uns auf dem Weg von der Idee zum Buch begegnet sind, haben diese Studie erst möglich gemacht. M.G.

Einleitung

E NDOGENE U NRUHE Eine einschneidende und zugleich beharrliche Unruhe verfolgt den Menschen. Sie kennzeichnet die Ereignisse und Strukturen der Lebenswelt im Latenten; sie zeigt sich aber auch in überwältigenden Manifestationen wie auch in der ordinären Phänomenalität des Alltags. Als universale Kategorie durchzieht diese Unruhe die aisthetische Welt des Subjekts, die Komplexität der Sozialkontexte und ist Konstituens von Realität und Fiktion, von Macht- und Subjektverhältnissen. Sie versorgt die Sphären des Kosmologischen, Physikalischen, Chemischen, Physischen, Psychischen und Sozialen mit denjenigen Impulsen, ohne die die Phänomene der Sukzession, der Kontinuität, der Evolution, der Zäsur, der Zyklik und Linearität ohne Subsumtionsbegriff bleiben müssten. Diese angesprochene Unruhe ist die Zeit. Und die moderne Volte einer konstruktivistischen Perspektivierung und Theoretisierung der Zeit hat deren Unruhefaktor nicht gerade entschärft. Im Gegenteil: Das spezifische Verhältnis zu Zeit zirkuliert nach den in den Systemen und Diskursen unterschiedlich und unterschiedlich schnell realisierten epistemischen Umschriften der Kategorie Zeit als mannigfaltiges Set polykontexturaler Neuordnungen des Temporalen. Waren es zuvor die Dimensionen des Rhythmischen, Zyklischen, Linearen, Homogenen und Absoluten, die das Verständnis chronologischer Erfahrung bestimmten und die Zeitsemantik diskursiv dominierten, so ergeben sich mit bzw. nach den konstruktivistischen Interventionen in der Physik, der Philosophie und der Zeitsoziologie jene abweichenden Modellierungen und Semantisierungen von Zeit, denen gemeinsam ist, dass sie die Zeit selbst verzeitlichen.1 Wenn Zeit selbst der Zeitlichkeit unterworfen ist,

1

Jenseits der Phänomenalität der beobachteten Zeit in der Zeit geraten damit auch die sprachlogischen Implikate einer Verzeitlichung der Zeit ins Blickfeld. Unter anderem verschiebt sich das Für-Wahr-Halten einer universalen Zeitbeobachtung aufgrund des Wiedereintritts des beobachteten Phänomens in sich selbst (re-entry), wodurch Zeit als kulturell symbolisierte Ordnungsgröße mit einem Schlag einen wesentlich abweichen-

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dann muss die Vorstellung eines symmetrischen, transzendenten, homogenen Zeithorizonts fallen gelassen werden. Ebenso unhaltbar ist die Annahme eines prinzipiellen Fundierungszusammenhangs, der plurale Zeitigungsformen in ihrer operativen Realität hierarchisch ordnete. Die Pluralität der Zeitigungsformen korreliert dabei mit der Pluralität von Zeitkonstitutionen. Ein anschauliches Beispiel für eine solche Form der Pluralität der Zeitgenesen findet sich in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Hier trifft man auf Grundtendenz der modernen Literatur, von Einheit auf Differenz umzustellen, was sich in der Zeitsemantik in Form von Beobachtungen der Eigenzeiten manifestiert. Musil lässt seinen Erzähler berichten: »Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich herrollt, der Fluß der Zeit ist ein Fluß, der seine Ufer mitführt. Der Mitreisende bewegt sich zwischen festen Wänden und festem Boden, aber Boden und Wände werden von den Bewegungen der Reisenden unmerklich auf das Lebhafteste mitbewegt. Es war ein unschätzbares Glück, für Clarissens Seelenruhe, daß unter ihren Gedanken dieser noch nicht vorgekommen war.«2

Zeitbeobachtung ist, wie Musil hier im Rückgriff auf physikalische Wissensbestände seiner Zeit in populärer Bildlichkeit formuliert, nicht nur rein passive Registrierung einer quantitativ-kontinuierlichen Zeit. Musils Reisende bewegen sich in einer Zeit, die zur Vorstellung einer kontinuierlich, homogen und autark dahinfließenden Zeit quer steht. Die poetisch erläuterte paradoxe Konstellation einer Weltzeit, die mit den Mikrozeiten der Beobachter-in-der-Zeit interagiert und wechselwirkt, zeugt bereits von der Abkehr vom zeittheoretischen Universalismus, wie er sich – mit der Implementierung von relativistischen Wissensbeständen aus dem Phänomenbezirk der Physik seit Anfang des 20. Jahrhunderts in die Literatur – auch jenseits der gepflegten Semantik des Wissenschaftssystems symbolisch anbahnt und schließlich poetisch manifestiert.3 Das »unschätzbare Glück«, das Musil seiner Figur Clarissa

den »Realitätsakzent« erhält. Die Vorstellung einer Zeit in der Zeit muss sich gegen die etablierten »Sinngebiete« der Beobachtung von Zeit behaupten können, wenn sie Teil der alltagssemantisch und -praktisch konstruierten Lebenswirklichkeit werden soll. Vgl. zu den Begriffen ›Realitätsakzent‹ und ›Sinngebiet‹ Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, S. 51-56. 2

Musil: Mann ohne Eigenschaften, S. 445. Musil gehörte zu denjenigen Autoren, die früh auf die zögerliche bis verspätete »Anpassung [der Literatur; M.G.] an das naturwissenschaftliche Weltbild« aufmerksam machten, und die zeitgenössische »Gegenstandslosigkeit« der literarischer Kunstwerke auf diese Retardierungen des Wissenstransfers zurückführten (Musil: Zu Kerrs 60. Geburtstag, S. 1183).

3

Vgl. hierzu insbesondere die jüngst erschienene Monografie von Pause: Texturen der Zeit, S. 36-116. Den Transfer etwa quantenphysikalischer Wissensbestände in poetolo-

E INLEITUNG

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zugutekommen lässt, ist nichts anderes, als die noch fehlende Einsicht in jenen »neuen, schwer übersehbaren Realitätsbereich«4, der sich mit der systemzeitlichen Verabschiedung eines autarken Chronos eröffnet. Musils Roman entsteht zu einer Zeit, in der kausalistische und substantialistisch-objektivistische Zeitbegriffe zumindest in den Spezialdiskursen der Wissenschaften und der Philosophie nicht mehr als exklusiv rationalistischer Zugang zum Verständnis von Zeit firmieren können. Stattdessen macht eine andere Zeitsemantik Karriere, die sich von der Semantik der Einheit emanzipiert und als Entgegnung auf Differenz setzt. Die Konfrontation eines Beobachters mit Zeit – so die Kompaktform dieser Entgegnung – ist nicht ein genuines Ausgeliefertsein an eine Zeit, deren Ordnung sich mit der Formalisierung von transzendenter Kontinuität gegen die Eigenzeiten der Beobachter immunisieren ließe. Solche Formalisierungen können als spezifischer Typ von Einheitsunterstellung interpretiert werden, während differenztheoretische Zeitschemata dahingehend sich anbieten, die zeitkonstitutive Beobachtung von Zeit zu fokussieren.5 Die oben zitierte Passage aus Musils Roman ist in einer weiteren Hinsicht aussagekräftig. Die in ihr zur Sprache gebrachte Relativierung einer uniformen Zeit wird flankiert durch den Einfall von Kontingenz. Dass die Mitreisenden als Beobachter eben keine determinierten Systeme sind, sondern Zeit so oder anders bzw. auch mal so und dann wieder anders beobachten können, davon legt Clarissas Gedankenglück selbst Zeugnis ab. Dass ihr ein solcher Gedanke »noch nicht vorgekommen war«, ist Ausdruck der Möglichkeit einer zukünftigen Aktualisierung dieses Gedankens, insofern das Bewusstsein eine solche Beobachtung prozessiert. So hängt es von der Eigenzeit Clarissens ab, wie sie wann Zeit fremdreferentiell formt. Für die Mitreisenden formuliert Musil unmissverständlich, dass deren »Bewegungen« ja gerade das affizieren, durch das sie temporal affiziert werden. In den terminologischen Spezifizierungen der System/Umwelt-Unterscheidung – die für diese Arbeit als Beobachtungsschema herangezogen werden – lässt sich das so beschreigische Schriften deutschsprachiger Autoren zeichnet kenntnis- und materialreich die Studie von Elisabeth Emter nach (vgl. Emter: Literatur und Quantentheorie). 4

Bense: Technische Existenz, S. 195.

5

Philosophischen Niederschlag findet dieses Primat der Differenz unter anderem bei Martin Heidegger, der für den Philosophen die Aufgabe formuliert, »die Zeit aus der Zeit zu verstehen.« (Heidegger: Der Begriff der Zeit, S. 6). Allerdings laufen seine Bemühungen um eine Zeitpluralisierung wieder in normative Schleifen und letztlich in eine »ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur […] in der Zeitlichkeit« (Heidegger: Sein und Zeit, S. 327), die existentialphilosophisch die Kontingenz der Verzeitlichung zumindest daseinsmetaphysisch als Verlust- und Krisenphänomen zu überformen versucht. Siehe hierzu auch die kritischen Einwände Richard Rortys in Rorty: Essays on Heidegger, S. 34.

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ben, dass das kontingente Beobachten der psychischen Systeme (Mitreisende) paradoxerweise gleichzeitig anfällt mit dem Beobachtungsgegenstand. Gleiches gilt für die Beobachtungsoperationen sozialer Systeme bzw. Kommunikationen. Man kann an Zeit denken oder Zeit kommunikativ thematisieren, stets wird allein dadurch schon Zeit gedoppelt. Sie tritt auf der Fremdreferenzseite der Beobachtung auf in Form von Zeitschemata, mit denen das Beobachtete gerahmt wird. Sie fällt aber zugleich in Form der vom operativen Ereignis zum nächsten operativen Ereignis generischen Autopoiesis von Bewusstsein bzw. Kommunikation an. Die Realität der Zeit ist daher nicht unabhängig zu denken von der Zeitlichkeit der sie beobachtenden Systeme. So ist Zeitbeobachtung einer beobachtungsrelativen Wandelbarkeit einerseits und der Kontingenz der Beobachtungsreferenz andererseits ausgesetzt. Damit kommt kulturhermeneutisch in den Blick, dass die Versuche der ontologischen Fundierung von Zeit in den Rahmungen ihrer historischen Bedingtheit zu lesen sind. Das Wissen um eine objektive Zeit zeichnet dahingehend aus, dass dieses stets im Kontext von Semantiken und symbolischen Ordnungen als Distinktionsleistung einer Beobachtungssynthese verdichtet vorliegt. Für die Genese von Zeitwissen und die Etablierung dominanter diskursiver Konstruktionen von Zeitbewusstsein ist daher stets auch der vorgelagerte Bereich der Wechselwirkungen von sozialen Interaktionsroutinen und -praktiken entscheidend. Eine Möglichkeit, die Zeitlichkeit der Zeit epistemologisch zu fassen, besteht darin, bei der Beschreibung der Welt und der Zeit in der Welt bzw. der Welt in der Zeit ontologisch von Sein auf Werden umzustellen. Eine solche Umstellung findet sich im pantha rei des Heraklit ebenso wie im Schema aeternitas/tempus bei Augustinus, in der idealistischen Transzendentalphilosophie Immanuel Kants und der Transzendentalphänomenologie Edmund Husserls, wo sie in der Differenz von dynamischer intersubjektiver symbolischer Ordnung und identitärem transzendentalem Bewusstsein zum Ausdruck kommt.6 Die Zeitlichkeit der Zeit beobachtender Systeme lässt sich mit der für diese Arbeit grundlegenden operativen Theorie der Zeit aber auch fassen als Folge einer Eigenzeitlichkeit der Beobachtung von Zeit. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die »Beschreibung von Zeit stets temporale Züge trägt«7, interessiert sich ein operativer Zugang zum Phänomen Zeit nicht nur für die ›objektive‹ und ›subjektive‹ Konstruktion von Zeit.8 Von Interesse sind zu6

Noch bei Husserl ist die Rede vom »transzendentalen Einzel-Ich«, das sich behauptet gegen die Dynamik einer »Endlichkeit, in der sich die ›Unendlichkeit‹ verhüllt« (Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III, S. 388).

7 8

Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 80. Wenn hier und in der Folge von objektiver Zeit die Rede ist, dann wird damit regelmäßig auf die Dominanz eines spezifischen, auf Normalität und intersubjektive Viabilität verbrieften objektiven Zeitbegriffs rekurriert. Objektive Zeit ist in dieser Fügung dasjenige Zeitparadigma, das sich als diskursives Element als kompatibel mit der histori-

E INLEITUNG

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sätzlich die Konstellationen, die dann in den Blick geraten, wenn man auch für die Beobachter der Zeit die Umstellung von Substanz auf Zeit vollzieht und durchhält. Fokussiert man dementsprechend auf den beobachterspezifischen »Unterscheidungsgebrauch«9, mit dem Zeit notwendig operativ unterschieden wird, dann ist man zusätzlich mit der Paradoxie konfrontiert, dass die Beobachtung von Zeit und die Zeit, die diese Zeitbeobachtung operativ dafür generieren muss, interaktionell determiniert sind. D.h., dass für die Erfahrung und Wahrnehmung von bzw. die Kommunikation über Zeit gilt, dass diese stets nur nach den je eigenen Konstruktionsprinzipien des Beobachters ihre Form und ihren Wirklichkeitsstatus erhalten. Nur dadurch, dass dieser Wirklichkeitsstatus einen bestimmten Sinn von Zeit aktualisiert und andere Möglichkeiten der zeitthematischen Sinnkonstitution im Moment inaktuell belassen muss, ist Zeitbeobachtung überhaupt möglich. Dies bedeutet im Detail, dass jede Zeiterfahrung, jedes Zeitbewusstsein, jede Zeitsemantik, jeder Zeitdiskurs selbst im Ereignis ihrer/seiner psychischen oder kommunikativen Aktualisierung Zeit generieren muss, um die wesentlichen temporalen Komponenten zu erzeugen, mit denen dann diejenigen Kategorien behauptet werden, die die Paradoxie der Zeit in der Zeit entschärfen, wie z.B. Identität, Dauer oder sinnlineare Geschichtlichkeit. Dieser Paradoxie entgehen Musils Reisende wie auch Clarissa dadurch, dass ihnen schlicht »unmerklich« bleibt, inwiefern sie selbst ›die‹ Zeit »auf das Lebhafteste mitbeweg[en]«10. Dass die Zeit als ein die Gegenwart durchfahrender Zug gedacht wird, bedingt die »Seelenruhe« Clarissens, die für meine Explikationszwecke (und vermutlich auch bei Musil) als Repräsentantin eines analytisch unzulänglich-naiven, aber letztlich lebensweltlich höchst praktischen Zeitparadigmas fungiert. Anschauungsweisen der Zeit, die auf die Paradoxie der Zeit in der Zeit abheben, müssen solche »Seelenruhe« notwendig zerreiben. Die Metapher der »Seelenruhe« ist dabei nicht nur lesbar als Chiffre eines bürgerlichen stoischen Sanktuariums, sondern durchaus auch als statisch-stabiler Antipode derjenigen Unruhe, die ich zuvor als Unruhe der Zeit selbst bezeichnet habe, und die es im weiteren Verlauf als operative Ereignistemporalität zu beschreiben gilt. Wenn – so die systemtheoretische Optik – das Bewusstsein als psychisches System sich autopoietisch und sinnhaft von Ereignis zu Ereignis aktuell hält, dann ist die sprichwörtliche Seelenruhe schlicht die exemplifizierende Codierung einer transzendentalen Identität, die durch nichts aus der Ruhe gebracht werden kann, nicht einmal durch ihre eigene Eigenzeit. Das Bewusstsein, so die Identitätscodierung, existiert in der Zeit wie eine ewig mit sich identische Kamera, die Momentaufnahmen der Welt macht, die von einer modalen Zeitlinie durchzogen wird, auf der sich Vergangenheit, Geschen Episteme erweist und als gesicherter Wissensbestand zirkuliert (vgl. Hasenfratz: Wege zur Zeit, S. 20-24). 9

Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 101.

10

Musil: Mann ohne Eigenschaften, S. 445.

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genwart und Zukunft aufreihen lassen. Ein solches Zeitdenken im Beobachterschema von bewegt/unbewegt bzw. Sein/Werden entgeht durch Invisibilisierung der operativen Temporalität der Beobachtung von Zeit gerade der rastlosen Dramatik einer paradoxen Zeiterfahrung.11 Der operative Begriff des Ereignisses und das Konzept der Ereignistemporalität sind zentrale systemtheoretische Größen, die auf der Annahme diskreter Ereignishaftigkeit der differenziellen Konstitution von Sinn basieren. Das ist insofern entscheidend, weil dieser Ereignisbegriff in scharfem Kontrast steht zu einem Ereignisbegriff, der mit Semantiken der Epiphanie, der absoluten Irritation, der unbestreitbar markanten (historischen) Relevanz aufgeladen ist. Bezogen auf die Formselektionen künstlerischer Artefakte ist Ereignishaftigkeit zumeist verbunden mit der Vorstellung einer höchst irritierenden Überbietung bisheriger Formkompositionen. Auch die repräsentationslogische Zurückhaltung Derridas, nach der vom Ereignis zu sprechen nicht möglich sei, ohne die »Singularität des Ereignisses« im Moment seiner zeichenhaften Repräsentation »immer schon zu verfehl[en]«12, lässt sich unter einen solchen qualitativen Ereignisbegriff subsumieren. Literaturspezifisch läuft die Semantik des Ereignisses zumeist auf die Kategorie der Plötzlichkeit hinaus.13 Ereignisse stechen in dieser Wendung des Ereignisbegriffs aus der Geschichte förmlich heraus, sind gleichsam zeitenthobene Augenblicke. Sie sind so gesehen sinnmaximierte Ausfälle gegen eine sinnimmune quantitative Zeit. Ereignisse sind in diesem Sinne denn auch paradigmatisch qualitative Zeit. Daraus speist sich die diskursiv dominante Figuration des Ereignisses: Der Begriff kommt zumeist dann zur Anwendung, wenn eine Zäsurkategorie beschrieben werden soll. Der semantischen Konstellation dieser Kategorie ist aber ein Paradox eingeschrieben. Denn als Figur des Einschnitts entzieht sich das Ereignis kategorial. Nikolaus Müller-Scholl beschreibt diese Paradoxie im Vorwort eines Sammelbandes zum Ereignisbegriff als fundamentale Kategorie der Veränderung: So ist die Kategorie des Ereignisses eine »alle Begriffe, Traditionen und Kategorien sprengende Kategorie der Unterbrechung oder Eröffnung. […] Innerhalb der ruinierten Formen und Konventionen kann dieser Moment deshalb vermutlich immer nur ausgehend von der Unmöglichkeit, ihn begrifflich zu erfassen, begriffen werden.«14 11

Eine Form der Invisibilisierung besteht in der Postulierung zeitfester Substanzen bzw. Beobachter, sodass Temporalität nur als Sekundärphänomen veranschlagt werden muss. Zeitfestigkeit sollen je nach Beobachtungsschema etwa der unbewegte Beweger (Aristoteles), ein deistischer Gott (Augustinus), die absolute Zeit (Isaac Newton), das transzendentale Subjekt (Immanuel Kant), die existentialontologische Sorge (Martin Heidegger) oder die Selbstgegebenheit des Bewusstseins (Manfred Frank) garantieren.

12

Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 21.

13

Vgl. Bohrer: Plötzlichkeit.

14

Müller-Schöll: Vorwort, S. 9.

E INLEITUNG

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Anders dagegen der operative Ereignisbegriff. Abgeleitet aus dem Elementbegriff der Theorie autopoietischer Systeme, erlaubt er Zeitlichkeit und Ereignishaftigkeit insofern anders zu denken, als die epistemologische Heraufkunft des individuellen, kommunikativen, institutionellen und handlungspragmatischen Beobachters miteinbezogen werden kann.15 Auf der Ebene des Elementarereignisses läuft die Zeit von Ereignis zu Ereignis, wie auch die Beobachtung von Zeit von Ereignis zu Ereignis läuft. Insofern sind Ereignisse Produkte von Ereignissen und ist Zeit Produkt von Zeit: »Das Ereignis zieht es vor zu verschwinden. Andererseits vollzieht jedes Ereignis eine Gesamtveränderung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – allein schon dadurch, daß es die Gegenwartsqualität an das nächste Ereignis abgibt und für dieses (für seine Zukunft also) Vergangenheit wird.«16 Es geht bei dieser Art von Ereignishaftigkeit also primär um das Weiterschreiten von einem Ereignis zum nächsten Ereignis und sekundär um die Möglichkeit, die dadurch anfallende ereignisbasierte Differenz als Einheit von Differenz beobachten zu können. Nun sind aus der Perspektive einer operativen Theorie der Zeit Ereignisse nie per se gegeben, sondern stets das ex post-Ergebnis einer Beobachtung, die das Ereignis erst als ein Beobachtetes abwirft. Insofern ist das beobachtete Ereignis stets sekundärer Effekt einer sinnhaften Unterscheidung, die die Existenz eines Ereignisses als aktuelle Beobachtung konstituiert. Solche sinnhaften Beobachtungen sind Effekte der Operationen von sozialen und psychischen Systemen. Für diese aber gilt im Rahmen der systemtheoretischen Beschreibungspraxis, dass sie temporalisierte Systeme und daher nicht substantielle Gebilde sind, sondern nur in ihrem Ereignen beobachtbar sind. Was dabei durchgestrichen wird, ist der transzendentale Status des Ereignisses jenseits medialer, diskursiver und kultureller Codierungspraktiken und -routinen. Das hat zur Folge, dass der Beobachter – auch die Literatur als Beobachter von Beobachtern –, bis zu einem gewissen Grad in die Genese des Ereignisses und der Ereignishaftigkeit von Zeit involviert ist. In dieser Arbeit geht es darum – jenseits des Ereignisses als epiphanisches Phänomen – die Mikrologik der Ereignisanschlüsse zu beobachten, der sich literarische Texte mit differenz-differentiellen Formselektionen zuwenden. Die Arbeit interessiert sich daher für die Darstellungskompetenz literarischer Kunstwerke und die thematischen und formalen Dimensionen ihrer konstativen und performativen Ästhetik, mit der Zeit und Zeitlichkeit in ein Differenzverhältnis gesetzt werden. Die sich aus diesem differentiellen Arrangement ergebenden weiteren Leitfragen lauten dann: wie importieren, inkorporieren, reflektieren, historisieren und paradoxieren literarische Texte funktionssystemspezifische, diskursive und kulturelle Zeitparadigmen? Ein wesentliches Augenmerk der Einzeluntersuchungen wird also auf der Komplexität der textmedialen Phänomenalität der Modellierung von und Reflexio15

Vgl. Reich: Die Ordnung der Blicke I, S. 2 f.

16

Luhmann: Soziale Systeme, S. 390.

16 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

nen über Zeit als lebensweltlicher Erfahrungsprämisse und als Effekt von Semantisierungen und diskursiven Praktiken liegen. Das literarische Formenspiel bezieht seine faszinative Zeitkompetenz tendenziell aus der Überlagerung mit anderen Formen der Beobachtung von Zeit. So ist etwa Narrativität das Bindeglied zwischen literarisch-ästhetischer Formkomposition, biographischen Identitätskonstruktionen und der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, wie sie sich im Kollektivsingular ›Geschichte‹ symbolisch manifestiert. Zumindest hierüber ist Literatur als sozialer Konstruktionstyp mit der individuellalltäglichen Lebenswelt einerseits und wissenschaftlicher Formierung andererseits in Tuchfühlung. Für das literarische Formspiel öffnen sich hier Möglichkeiten – z.B. durch Dekonstruktion der Vorgängigkeit des Dargestellten vor der Darstellung bzw. der Apriorität des Unterschiedenen vor seinem Unterschieden-und-bezeichnetWerden –, nachzuspüren, »wie das erzeugt wird, was dem Beobachten als Identisches zu Grunde gelegt wird.«17 Ein Modus, dieses Erzeugen zu perspektivieren, besteht darin, »das Verdecken der Gegenwartsrelativität aller Operationen«18 vor das lesende Auge zu bringen, sodass die polychrone Gestalt der Zeit sichtbar gemacht wird, ohne dass ein harmonisierender Überbau oder eine koordinierende Überform in Anschlag gebracht werden. Dabei kommen mit steigender avantgardistischer Ausrichtung in literarischen Texten zunehmend komplexere Medialisierungen temporaler Dynamik zum Einsatz. Stellt man darüber hinaus die literaturwissenschaftliche Optik um von der Singularität epiphanischer peaks auf die Persistenz der Ereignistemporalität operativen Geschehens (die aber nicht als Dauer des Ereignisses missverstanden werden darf), dann eröffnet dies den Blick auf einen Typus literarischer Mikroästhetik der Zeit, der Zeitlichkeit als ontogenetischen Output von sinnhaft operierenden ›Zeitsystemen‹ ästhetisiert und dabei kunstförmig deren systemische, diskursive und kulturelle Mechaniken poetisch reflektierend zur Darstellung bringt. Dort, wo literarische Texte die »unabänderliche Flüchtigkeit der Zeit«19 nicht nur für epiphanische Momente reservieren, sondern auf einer Minimalebene temporaler Ereignishaftigkeit modellieren und damit exponieren, verliert das Ereignis weitgehend seine emphatische Struktur und wird eingebunden in die Aneinanderreihung von Zeitmomenten, deren operativer Ereignischarakter deshalb Ereignishaftigkeit abwirft, weil sich die Eigenzeit von Systemen als Beobachtungszeit eben nicht exklusiv aus solchen peak events zusammensetzt, sondern basal aus der je beobachtungsrelativen Aneinanderreihung von temporalen Kleinsteinheiten. Eigenzeiten, so meine These, sind literarisch dort besonders attraktive Generatoren literarisch-experimenteller Formkonstellationen, wo sie als Elemente einer Mikrologik der Zeit ins poetische Blickfeld 17

Luhmann: Identität – was oder wie?, S. 21.

18

Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 201.

19

Öhlschläger: Augenblick und lange Dauer, S. 97.

E INLEITUNG

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geraten. Die Mikrologik der Zeit bezeichnet genau diejenige operative Konstitution von Zeit, die sich aus der Autopoiesis von Kommunikation und Bewusstsein als denjenigen Systemen ergibt, die Zeit sinnhaft prozessieren können.20

K ONTUREN Die vorliegende Arbeit bewegt sich in ihrer thematischen Anlage im Kontext einer wiederbelebten und im letzten Jahrzehnt intensivierten Forschung zum Thema Zeit und Zeitlichkeit. In diesem Zusammenhang kann durchaus von einer »Wiederentdeckung der Zeit« gesprochen werden, wie der Titel des Sammelbandes von Antje Gimmler, Mike Sandbothe und Walter C. Zimmerli diagnostiziert.21 Das im Vorwort des Bandes beklagte Nebeneinander einer »Vielzahl heterogener Zeitkonzepte und Zeittheorien«, die sich »inter- als auch intradisziplinär unvermittelt gegenüber [stehen]«22 ist in gewissem Sinne hausgemacht, insofern der semantische Durchschlag einer Einsicht in die Pluralität von Eigenzeiten Ergebnis der Ausdifferenzierung von Gesellschaft ist und damit letztlich nur den fremdreferentiellen Output po-

20

Armin Nassehi schlägt als terminologisches Äquivalent für die Operationssukzession den Begriff »Ereignistemporalität« (Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 184) vor, auf den ich noch näher eingehen werde.

21

Vgl. Gimmler/Sandbothe/Zimmerli (Hg.): Die Wiederentdeckung der Zeit. Diese ›Renaissance‹ der Zeit in Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften lässt sich teilweise als Gegenbewegung zu jener Hinwendung zum Raum verstehen, wie sie neuerdings insbesondere in der Kulturforschung beobachtbar ist und die sich unter dem von Edward Soja eingebrachten Begriff des spatial turn prominent etablierten konnte (vgl. Soja: Postmodern Geographies, S. 11). Seit den 1990ern finden sich unter diesem Terminus Ansätze artikuliert, die sich gegen eine vermeintliche Dominanz des Interesses für Zeitperspektiven und deren beanstandete privilegierte philosophische, kultur- und sozialwissenschaftliche Relevanz wenden, um neue Konzepte theoretischen Raumverständnisses zu initiieren, die mittlerweile jenes breite Forschungsfeld ergeben, das unter dem Namen Space Studies geläufig ist. Eine äquivalente Begriffsbildung hat sich in der Zeitforschung bisher nicht durchsetzen können: weder von Temporal Studies noch von einem temporal turn ist ernsthaft die Rede. Umgekehrt finden sich viele konzeptuelle Transfers aus de/konstruktivistischen Zeittheorien in das sich akkumulierende Wissen um die diskursive und beobachterspezifische Bedingtheit des Raumes. Der Begriff bzw. die epistemologische Metapher der »Verräumlichung« – analog zu »Verzeitlichung« – ist nur ein Beispiel hierfür (vgl. Kajetzke/Schroer: »Verräumlichung«, S. 195 f.).

22

Gimmler/Sandbothe/Zimmerli: Einleitung, S. 1.

18 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

lykontexturaler Zeitbeobachtungen abbildet.23 Effekt dieser Ausdifferenzierung ist nicht nur ein multizentrischer Weltbegriff, sondern auch ein multizentrischer Umgang mit Temporalität. Die konzedierte Pluralität und systemspezifische Relativität von Zeitparadigmen hat kulturwissenschaftlich orientierte Forschungen angeregt, die sich dem Logos der Zeit widmen und die Strategien, Strukturen, Routinen und Techniken in Augenschein nehmen, mittels derer Zeit kommuniziert, gedacht, gedeutet, erlebt, beschrieben oder geregelt wird.24 Dabei geht ein wesentlicher heuristischer Impuls für die kulturwissenschaftliche Zeitforschung von der Dekonstruktion des selbstbezüglichen präsenzmetaphysischen Schemas der Zeit als einer selbstgegebenen Gegenwart bzw. als »Selbstgegenwart der Zeit«25 aus. Auf der Basis dieser Dekonstruktion schließlich konnte zuletzt auch ›hinter‹ bzw. ›vor‹ etwa fundamentalontologische Zeitkonzepte geblickt werden, sodass diese auch jenseits quantentheoretischer Einsichten diskursiv ent-substantialisiert werden konnten. Dass die Frage nach dem ›Wesen‹ der Zeit allerdings jenseits avancierter Zeitreflexionen und in Zeiten der dromologisch26 beschleunigten Mobilität, Informationsvermittlung und Kommunikationsinteraktion (Stichwort ›Neue Medien‹) wieder lauter gestellt wird, kann umgekehrt als Evidenz für die auch medienhistorischen und medientechnischen Aspekte soziokultureller Bedingungen und Facetten der Konstruktion von Zeit und der Sensibilität für die Eigenzeiten von Medien gedeutet werden.27 Literaturwissenschaftliche Forschungen zum Konnex von Zeit und Literatur haben in den letzten Jahren vermehrt Zeitlichkeit als ästhetische Kategorie untersucht. Aus den Publikationen zur sozusagen paradoxen Potenz der Kategorie Zeit für eine poetische Ästhetik sticht insbesondere die monumentale Dissertation Ralf Kühns heraus, die die Produktivität dieser paradoxen Potenz für literarische Vertextungen

23

Vgl. Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte, S. 111. Polykontexturalität bezeichnet in der Theorie sozialer Systeme die »formal gleiche und faktisch gleichzeitige Möglichkeit verschiedener Beobachtungen«, womit letztlich konzeptuell und analytisch notwendig »der Verzicht auf die Unterstellung einer Einheit für alle Beobachtungen bzw. einer Möglichkeit ihrer Letztabsicherung« (Krause: Luhmann-Lexikon, S. 185) einhergehen muss.

24

Solche divergierenden Logoi bezeichnen John Bender und David Wellbery als »Chronotypes« (vgl. Bender/Wellbery: Chronotypes, S. 1).

25

Tholen: Risse im Gefüge der Zeit, S. 76.

26

Vgl. Virilio: Das letzte Vehikel. Inbesondere bei Paul Virilio findet sich die Zeitdiagnose, dass die Moderne sich in ihrem Projekt der Raumtilgung durch Zeiteroberung verfangen habe (vgl. Virilio: Ereignislandschaft).

27

Vgl. z.B. Großklaus: Medien-Zeit; Prica/Wirz: Medialität und Zeitlichkeit; Volmar (Hg.): Zeitkritische Medien; Becker/Cuntz/Wetzel (Hg.): Just not in time.

E INLEITUNG

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an Texten der Gegenwartsliteratur materialreich aber nicht tiefenscharf aufweist.28 Eine narrationstheoretische Seitenperspektive auf die Darstellungskybernetik der Zeitlichkeit in literarischen Texte hat Kai van Eikels vorgelegt.29 Und Johannes Pause ist eine Monographie über das diachrone Spektrum der Paradoxieaffinität und der Entparadoxierungsstrategien literarischer Schreibweisen um 1900 wie auch gegenwärtiger Texte zu verdanken.30 Auch wenn durchaus der zeitspielerische und experimentelle Umgang poetischer Formen mit der kulturellen Kategorie Zeit Beachtung findet, ist doch eine Untersuchung der ästhetischen Formierungen einer operativen Logik der Zeit bisher ausgeblieben. Daher versteht sich die vorliegende Arbeit auch als initiale Anschlussofferte für breitere und tiefenschärfere Untersuchungen literarisch-ästhetischer Formierungen operativer Zeit. Diese Offerte greift zudem das aktuell vermehrte kulturwissenschaftliche Interesse an Ansätzen zur Bestimmung der ästhetischen Variable ›Eigenzeit‹ auf, und verortet sich im Kontext dieser neu belebten Aufmerksamkeit, wie sie sich forschungsinstitutionell etwa im DFG-Schwerpunktprogramm 1688 (Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in einer polychronen Moderne) organisiert findet.31 Bei der Zusammenstellung des Textkorpus ging es mir explizit darum, nicht ein breites Spektrum an Einzeltexten abzudecken, sondern im Gegenteil mithilfe einer hochselektiven Auswahl und einem strikten Set an Auswahlkriterien einen überschaubaren Phänomenbezirk abzugrenzen, um tiefendimensional beobachten zu können. Mir geht es in dieser Studie entschieden um eine Untersuchung der mannigfachen und mannigfaltigen Formierungskonstellationen in solchen Texten, deren konzeptuelle Ausrichtung die intensive Reflexion operativer Zeitlichkeit exponiert. Insofern scheint mir die Beschränkung auf drei literarische Texte legitim. Sicherlich gilt für die ausgewählten Texte, dass ihnen bezüglich Zeitthematik und Zeitmotivik, aber auch bezüglich der Paradoxierung von Zeitmustern, Affinitäten attestiert werden können. Entscheidend für die Auswahl war aber vielmehr, dass die hier beleuchteten Texte Alexander Kluges und Thomas Lehrs Ereignishaftigkeit als Verflechtungsgeschichte von Eigenzeiten und als operative Unruhe in transition zur Darstellung bringen und Zeit somit als Medium für experimentelle Formgewinne in Anspruch nehmen. Der Leitfrage, wie eine kunstspezifische Ästhetik operativer Zeit literarisch ausbuchstabiert wird, kann in den vorliegenden Texten Kluges und Lehrs intensiver nachgegangen werden, was es auch erlaubt, die Abweichungsästhetik, mit der die Texte operieren, gezielter und umfangreicher mitzubeobachten. Zudem kann eine Engführung der Beobachtung auf wenige Texte sicherstellen, dass 28

Vgl. Kühn: TempusRätsel.

29

Vgl. van Eikels: Zeitlektüren.

30

Vgl. Pause: Texturen der Zeit.

31

Vgl. die Darstellung des wissenschaftlichen Strukturprofils dieses Forschungsvorhabens in Gamper/Wegner: Ästhetische Eigenzeiten.

20 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

auch der poetischen und ästhetischen Mannigfaltigkeit der Ereignisprozeduren kontexturierter Zeit in den Texten angemessene analytische Zuwendung zuteilwerden kann. Dies lässt Raum für heuristische Annäherungen durch eine zeittheoretische Textarbeit aber auch für eine notwendige Pluralität der analytischen Perspektivierungen – immerhin geht es auch um Multitemporalität bzw. um die Polykontexturalität der Beobachtung von Zeit in der Zeit und qua Zeit. Der bisherige Wissensbestand zu den untersuchten literarischen Texten wird hier nicht gesondert aufgeführt und daher auch nicht kommentiert, sondern in den entsprechenden Kapiteln und dort nach Bedarf zu Rate gezogen, diskutiert und evaluiert, zumal für die beiden Texte Lehrs bis auf drei Ausnahmen (mit je überschaubarem Umfang) keine nennenswerten Forschungsdesiderate auszumachen sind.32 Zu Kluge dagegen sind durchaus Arbeiten zu temporalen Aspekten einschlägig, allerdings in starker Orientierung am von Kluge aus der Kritischen Theorie abgeleiteten und abgemilderten Geschichtsbegriff. Eine umfangreichere Studie, die sich dezidiert den Zeitkonzepten im Œuvre Kluges bzw. in einzelnen Texten widmet, liegt nicht vor.33 Zumeist werden temporale Strukturen im Rahmen einer Gesamtschau der Schreibweise Kluges nebenbei erwähnt und in einigen Absätzen abgehandelt.34 Die vorliegende Studie argumentiert und expliziert im intensiven Rückgriff auf systemtheoretische Konzepte, Terminologie und Prämissen – dies ist dem Erkenntnisinteresse geschuldet, das sich an der Leitfrage nach der poietischen und poetischen Funktionalisierung von operativer Zeit in literarischen Texten entzündet hat. Die literaturwissenschaftliche Beobachtung des Verhältnisses von literarischer Poiesis und der Polymorphie von Ereigniszeiten und Eigenzeiten in dieser Studie baut allerdings nicht auf der Annahme auf, es lasse sich eine überindividuelle Funktionalität des Literarischen aus seiner Systemhaftigkeit beobachten. Literatur wird daher nicht als Funktionssystem eingelesen (weshalb die Code-Debatte übergangen werden kann), sondern einzelne Texte werden als Medium der Beobachtung zweiter Ordnung von Zeit beobachtet. Ungeachtet dessen bleibt das systemtheoretische Instrumentarium für die Beobachtung literarischer Texte weitestgehend anwendbar. Gerade die operative Geschlossenheit von Wahrnehmung und Kommunikation, der Ausweis des Kontingenzcharakters jeder Beobachtung, die Fokussierung des differentiellen Status jeder identitätslogischen Operation, die Reflexion der Unbeobachtbarkeit einer übergeordneten Totalität als ›Welt‹ und die Konzeption einer 32

Die Ausnahmen sind Leiß: Inszenierungen des Widerstreits, S. 266-274; Herrmann: Vergangenwart, S. 227-236 und Pause: Texturen der Zeit, S. 295-324.

33

Jens Birkmeyer nimmt zwar in einem Artikel ausschließlich die Zeitparadigmen in Kluges Erzählsammlung Dezember in Augenschein, allerdings auf lediglich neun Seiten (vgl. Birkmeyer: Zeitzonen des Wirklichen).

34

So etwa bei Fischer: Geschichtsmontagen; Carp: Kriegsgeschichten; Müller: Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe oder Großklaus: Katastrophe und Fortschritt.

E INLEITUNG

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Zeittheorie, die für Kognition und Kommunikation annimmt, dass Zeit der paradoxen Konstitution von Zeit in der Zeit entspringt und als Ereignis mit jedem weiteren Ereignis zerfällt, sind viable systemtheoretische Theoreme. Sie bieten sich insbesondere für solche Untersuchungen an, die literarische Texte als sich exponierende Beobachtung der Produktion von temporalen Unterscheidungen und der dabei anfallenden Paradoxien und blinden Flecke beobachten. Die Applikation dieser Theoreme erfolgt nach variablen Abstraktions- bzw. Konkretisiationsgraden, was die theorietechnische Anlage systemtheoretischer Beobachtungsinstrumentarien schon von Haus aus nahelegt. Dies hat letztlich auch temporal signifikante autologische Folgen, denn in welches Abstraktions- bzw. Konkretisationsniveau man der Systemtheorie auch folgt, man hat sich auf einen retardierenden und entschleunigenden Transit einzustellen, der analytisches Zögern und Zaudern geradezu provoziert – womit, meines Erachtens – eine adäquate Rezeptionshaltung gegenüber literarischen Texten im Allgemeinen und den hier eingespannten Texten Kluges und Lehrs im Besonderen bezeichnet sein dürfte. In der vorgelegten Studie werden zunächst der operative Zeit- und Ereignisbegriff expliziert (Kap. »Zeitgegenläufige Zeit«), um den theoretischen Rahmen der Beobachtung von literarischer Ereignis- und Eigenzeitbeobachtung zu präparieren. Hier wird es darum gehen, die deontologisierende und entsubstantialisierende Zeitkonzeption der operativ-konstruktivistischen Fassung zu explizieren. Die Zeitkategorie der Gegenwart wird dabei als operative Paradoxie im Sinne eines temporalen emplacements ausgeleuchtet. Dabei soll auch deutlich werden, inwiefern Vergangenheit und Zukunft als Epiphänomene dieses emplacements und als temporale Verweisungshorizonte je ereignishafter Gegenwart anfallen. In diesem Zusammenhang wird der zeitsensitive systemtheoretische Sinnbegriff als unhintergehbare Differenz von Aktualität und Nicht-Aktualität und als elementare Einheit der Beobachtung von Zeit und Zeitlichkeit erläutert, allerdings auch in seiner differenzanalytischen Reichweite dekonstruktiv erweitert. Im anschließenden Kapitel »Textuelle Polyeventualität« wird die operative Fassung des Ereignisbegriffs an den Textbegriff herangeführt, die Konzeption der Ereignishaftigkeit des literarischen Textes als Einheit eruiert und durch das Konzept einer mikrostrukturellen Ereignishaftigkeit der Formselektionen im Text weitestgehend ersetzt. Die Konturierung des Textbegriffs sieht zudem eine operative Reformulierung der Materialität und Medialität des Textes als literarische Form vor. Das Kapitel »Polymorphe Zeiten« verschränkt zunächst den operativen Wissensbegriff mit dem bereits veranschaulichten Zeitbegriff, um zu verdeutlichen, inwiefern Zeit als operativ-epistemischer Effekt einerseits und Wissen als ereignishaft-epiphänomenaler Effekt andererseits konstitutiert werden und in sozialen Zeitparadigmen (der Funktionssysteme, der Alltagssemantik, der Diskurse und der kulturellen Schemata) kondensieren. Das Augenmerk wird dabei auch auf der operativen Genese und der beobachtenden Aktualisierung der Zirkulationsmechanik von Zeitbeobachtungen liegen, um Zeit als variable

22 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

symbolische Sinnstruktur und komplexes kulturhistorisches Konstrukt zu spezifizieren. Das Kapitel bildet insgesamt die Gelenkstelle zwischen den theoretischen Rahmungen und der Inblicknahme der literarischen Texte, insofern auch der operative Ereignisbegriff ästhetisch konturiert und in seiner kompositorischen Funktion für eine temporal fokussierte Form einer operativen Ästhetik heuristisch entfaltet wird (vgl. Unterkapitel »Literatur als Unruhestifter«). Die anschließenden literaturanalytischen Kapitel nehmen die ausgewählten literarischen Texte von Kluge und Lehr bezüglich ihrer Formen der Ästhetisierung von operativer Zeit in den Blick. Dabei kommen – je nach Textrelevanz – Aspekte wie (a)narrative Strukturiertheit, operative Mimesis, die Konstruktion identitärer Logik und die poetische Funktion paradoxer Zeitvorstellungen ins Blickfeld. So werden bei der Beobachtung der Ästhetik und Poetik der operativen Zeit in Kluges Schlachtbeschreibung die spezifischen Strategien der Darstellung von Ereignishaftigkeit in ihrer polykontexturalen Referenz auf Zeit sichtbar zu machen sein. Dabei spielen die variablen Intensitäten der kommunikativen Ereigniskorrespondenzen eine zentrale Rolle. Durch das Insistieren auf die transkriptive Konstitution des Ereignishaften eröffnet die Stilkonzeption der Schlachtbeschreibung den Durchblick auf die symbolsystemische, sozialsystemische und semantische Matrix der Versprachlichung und Vertextung des Ereignisses durch kommunikative Ereignishorizonte. Dabei kommt es durch die Praxis der Aktualisierung des Textes der Schlachtbeschreibung in verschiedenen, aufeinanderfolgenden Fassungen zudem zu einer selbstreferentiellen Evolution, die sich als literarischer Modus einer ästhetischen Chronologistik lesen ließe. An Thomas Lehrs Novelle Frühling soll beobachtet werden, wie die Autopoiesis des Bewusstseins in ihrer sinnhaften Ereignistemporalität als ›Dauerunruhe‹ Formgestalt gewinnt. Die Eigenzeit des sich selbst von Bewusstseinsakt zu Bewusstseinsakt aktualisierenden Ichs der Figur Rauch wird in der Novelle so inszeniert, dass der »Verlust an Gegenwart«35, der mit jeder Mitteilung dieser Akte einhergehen muss, paradox invisibilisiert und zugleich ästhetisch entfaltet wird. Der in Anschlag gebrachte Darstellungsmodus der operativen Mimesis, so zeigt sich, ist in diesem Zusammenhang nicht nur in der Lage, die Bewusstseinsakte als selbstreferentiell geschlossene Reihung von Sinnereignissen zu imaginieren. Er fungiert auch als poetische Transzendierung der Differenz von Bewusstsein und Kommunikation, und zwar, indem er die Eigenzeit des Sinnmediums Sprache herausstellt. So provoziert der Text den Ausweis der Eigenzeit des Individuums als multikausales Produkt sozialer Fremdzeiten. Die Textanalyse von Lehrs Roman 42 schließlich zeigt, wie durch radikale Metonymisierung objektiver Zeitkonstruktionen nicht nur eine Sensibilisierung für die Paradoxien substantialistischer Zeitparadigmen ermöglicht, sondern auf der Ebene der histoire auch fiktive Eigenzeit/Fremdzeit-Konstellation erzeugt werden, die im Kontext einer narrativen 35

Steiner: Die Zeit der Schrift, S. 26.

E INLEITUNG

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Ethik die hegemoniale Struktur personaler Eigenzeiten exponiert. Für alle behandelten Texte gilt es schließlich den je spezifischen experimentellen Charakter miteinzubeziehen, mit dem die paradoxen Zeit- und Ereignisordnungen literarisch Form gewinnen. Dabei zeigt sich, dass die Texte Kluges und Lehrs maßgeblich auch die eigenen Darstellungspräferenzen selbstreferentiell thematisieren und so besonders kreativ an der sozialen Konstruktion von Zeit partizipieren.36

36

Ganz im Sinne Ilya Prigogines: »Zeit ist Konstruktion, und Kreativität wird zu einem Mittel, an diesem Prozeß teilzuhaben.« (Prigogine: Zeit, Chaos und Naturgesetze, S. 93)

Zeitgegenläufige Zeit

Die Reichweite dieser Untersuchung ist auf einen spezifischen Zeitbegriff, und genauer: auf die Paradoxie der Zeit in der Zeit und durch Zeit geeicht. Entsprechend dicht erfolgt daher die Klärung begrifflicher und konzeptueller Rahmungen der Reflexion dieser Paradoxie. Da die operative Theorie der Zeit auf das Durchhalten dieser Paradoxie geeicht ist und zudem nicht auf zeitmodale, subjektkonstitutive, apriorisch-transzendentale, handlungstheoretische oder substantialistische Zeitkonzepte ausweicht, ist sie deutlich explikationsintensiver als ontologische, essentialistische oder idealistische Konzepte von Zeit. Diese können den Vorteil auf ihrer Seite verbuchen, dass ihre Evidenzroutinen nicht nur in den Spezial-, sondern auch den Interdiskursen bzw. der Alltagssemantik hinreichend und weitreichend installiert sind. Der ›Auftrag‹ einer operativen Theorie der Zeit ist ein zweifacher: Erstens geht es ihr um die Bestimmung der autologischen Konstitution von Zeit aus einer systemtheoretisch informierten differenzorientierten Perspektive, aus der heraus die zirkuläre Paradoxie der Zeit als Doppelstruktur von selbstreferentieller autopoietischer Zeit und Zeit als Beobachtungsschema in Augenschein genommen werden kann. Und zweitens erfolgt von diesem perspektivischen Standpunkt aus die funktionale Analyse der Wissensbestände zum Komplex Zeit, mit denen soziale und psychische Systeme die de-ontologisierenden und de-substantialisierenden Effekte einer Zirkularität der Zeit in der Zeit nur zeitweise und d.h. durch Eigenzeit verdecken oder aufschieben können. Eine operative Theorie der Zeit interessiert sich folglich auch für die Bedingungen jener beobachtbaren Formen des Paradoxiemanagements, die der Zeit eine primordiale bzw. nichtzirkuläre Realität zusprechen. Wo es um solche Anforderungen an eine Theorie geht, stößt man schnell auf die Schwierigkeit, bei ihrer Explikation einer vielstufigen Erklärungstiefe und einem zwar variablen aber eben notwendig reduktiven Abstraktionsniveau gleichermaßen gerecht werden zu müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass, wenn die Rede von operativer Zeit ist, ein Reflexionsmodell in Anschlag zu bringen ist, das paradoxiefreie Beschreibungen von Zeit als Formen der Invisibilisierung dekuvriert und dazu einen theoretischen Zugang suchen muss, mit dem intuitive und eingeschliffene ›re-

26 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

alistische‹ bzw. ›(inter-)subjektivistische‹ Zugänge verabschiedet werden können, ohne Argumentationsfiguren zu bemühen, die Zeit über die Hintertür wieder absolut setzen. Dazu wird es erforderlich sein, die epistemologischen Konsequenzen durchzuhalten, die sich aus der Beobachtung ergeben, dass Kategorien wie ›Zeitfestigkeit‹, ›substantielle Identität‹ oder ›präsentische Gegenwart‹ nur je auf Ereignislänge geschrumpfte Retentionen ereignistemporal konstituierter sozialer und psychischer Systeme sind. Mit anderen Worten: Es gilt sich zu verabschieden von zeitfesten Identitäten, die je nur die operativ ausgebildeten Zuschreibungen operativer Zeitkonstitution autopoietischer Systeme1 sein können. Eine solche analytische Konzentration auf die Operativität der Konstitution von Zeit in der Zeit kann systemtheoretisch für Bewusstseine und Kommunikationsserialität2 gleicherweise Er-

1

Wenn ein System so organisiert ist, dass die Produktion der Komponenten wiederum Komponenten hervorbringt, die selbst diese Produktion zu leisten vermögen, dann hat man es mit einem autopoietischen System zu tun. Das System ›ist‹ (im operativen Sinne) seine eigene Produktion und gewinnt seine ›Identität‹ aus der Stabilisierung seiner operationalen Aktivität. Luhmann greift mit dem Konzept der Autopoiesis Überlegungen aus der zellbiologischen System/Umwelt-Unterscheidung lebender Systeme auf (vgl. Maturana/Varela: Autopoietische Systeme, S. 178 f.).

2

Kommunikation fasst Luhmann als Operation im Medium Sinn. Als Einheit der Differenz von Möglichkeit und Aktualität bildet Sinn das Rückgrat der Trias aus Information, Mitteilung und Verstehen, die zu Kommunikation amalgamieren. Kommunikation tritt auf als Synthese dreier kontingenter Selektionen, die nur im Verbund erscheinen. Dank dieser Restriktionen kann Kommunikation der Status und die Funktion eines Letztelements sozialer Systeme zugesichert werden, denn sie ist empirisch nicht weiter dekomponierbar. Information, Mitteilung und Verstehen »setzen einander wechselseitig voraus« und sind »zirkulär verknüpft« (Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 72). Sie sind nicht ontologische, der Kommunikation vorgelagerte Entitäten, denn als solche käme ihnen Elementstatus zu. Gesteht man ihnen diesen Status zu, müsste man in der Folge den witzlosen Versuch unternehmen, eine der drei Komponenten als Letztelement sozialer Systeme zu rekonzipieren. Dies liefe entweder auf einen substantialistischen Informationsbegriff oder einen übertragungsmetaphorisch kontaminierten Medienbegriff hinaus. Kommunikation liegt hingegen dann vor, wenn eine kontingente Information (Fremdreferenz) von ihrer kontingenten Mitteilung (Selbstreferenz) unterschieden wird, wobei auch für das Verstehen Kontingenz veranschlagt wird. Erst dieser Anschluss, gleichsam retrospektiv und »gegenläufig zum Zeitablauf des Prozesses« (Luhmann: Soziale Systeme, S. 198) synthetisiert Information, Mitteilung und Verstehen und realisiert Kommunikation, nachdem zuvor der Akt des Verstehens die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung realisiert hat.

Z EITGEGENLÄUFIGE ZEIT

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kenntnisse abwerfen, wenn man die Annahme teilt, dass auch Bewusstseine systemhaft und autopoietisch operieren.3 Die folgenden Erläuterungen wesentlicher Weichenstellungen einer »Theorie der Zeit als Theorie zeitkonstituierender Operationen«4 werden davon absehen, das gesamte Analyseinstrumentarium einer operativen Zeittheorie vorzustellen bzw. zu erhellen. Stattdessen konzentriere ich mich in diesem Kapitel auf die Explikation derjenigen Theoreme, aus deren Vernetzung und Entfaltung dann im Laufe der Untersuchung weitere Theorie- und Argumentationsfiguren herauspräpariert werden sollen. An dieser Stelle werden daher der operative Ereignisbegriff, die Unhintergehbarkeit der Gleichzeitigkeit von System und Umwelt, die Nachträglichkeit der Gegenwart als Effekt einer Beobachtungszeit und der beobachtungsspezifische

3

Wenn im Bewusstsein quasi ein Gegensystem zur Gesellschaft Form annimmt, und damit das Außen der Kommunikation in den Fokus gerückt wird, dann muss eine zentrale Redeskription des Terminus ›Bewusstsein‹ unverzüglich mitartikuliert werden. Luhmann konzipiert Bewusstsein in frappanter Abweichung von subjektphilosophischen, bewusstseinsparadigmatischen und reflexionstheoretischen Modellen des Bewusstseins. Dabei ist das psychische System nicht eine perennierende Ummünzung transzendentaler Subjektivität bzw. transzendentaler Ich-Setzung – von Descartes über Kant bis Husserl und auch noch Habermas. Es ist definiert als »ein spezifischer Anwendungsfall einer allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme.« (Kneer/Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, S. 63). Bewusstseine, die an Kommunikation beteiligt sind, bleiben füreinander intransparent, nicht obwohl sie kommunizieren; sondern sie kommunizieren, weil sie füreinander intransparent sind. »Kommunikation fasziniert und okkupiert, wenn sie läuft und solange sie läuft, das Bewußtsein.« (Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 41). Und es lässt sich präzisieren: Sie kann in symmetrischem Vollzug das Bewusstsein irritieren, konterkarieren, unterlaufen. Gerade an dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass mit struktureller Kopplung nicht ein fakultativer Interaktionsmodus zwischen sozialen Systemen und psychischem System bezeichnet sein soll. Strukturell gekoppelte Systeme sind interdependent aufeinander angewiesen, die Kopplung ist für die Systeme daher konstitutiv. Der Brückenschlag zwischen beiden Systemtypen kann deshalb als irritierend-initiierende Kopplung gelingen, weil beide im Medium Sinn operieren und sich gegenseitig »mit hinreichend Unordnung versorgen« (Luhmann: Soziale Systeme, S. 291). Erst die Radikalität der Perspektivdifferenz, wie Luhmann sie denkt, und die operativ bedingte Intransparenz des psychischen Systems zwingen die Frage auf, welche Funktion der Kommunikation in einem solchen differenziellen Gefüge zukommt. Bei Peter Fuchs wird die strukturelle Kopplung weiter gedacht und geht in der Denkfigur der »konditionierten Koproduktion« auf (vgl. Fuchs: Der Eigen-Sinn des Bewußtseins, S. 61-64).

4

Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 231.

28 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

Sinnbegriff als Einheit der Differenz von Aktualität und Potentialität eingeführt und expliziert. Letzteren gilt es zudem semiotisch anzureichern.

O PERATIVE T HEORIE

DER

Z EIT

Es geht in diesem Kapitel um eine – zugegeben höchst technizistische – Explikation einer operativ-konstruktivistischen Theorie der Zeit. Ziel dieser Explikation ist es, zu zeigen, wie und wie grundlegend Zeit in die Operationen der Systeme wie auch in ihre Fremd- und Selbstbeobachtungen involviert ist. Hieraus soll erhellen, inwiefern Zeit konkret als grundlegendes constituens und constitutum in die differenz-, kommunikations- und medientheoretischen und letztlich auch literaturspezifischen Entfaltungen aktualisierbarer Beobachtungen von Temporalisierung verstrickt ist. Zeit wirkt, so wird auch zu zeigen sein, nicht nur konstitutiv, sie ist nicht nur ein jede Unterscheidung immanent durchdringender und zugleich aus dem Hintergrund ereignishaft initiierender Differenzmotor, sondern sie organisiert auch die Architektur der Erkenntnisinstrumente und -gewinne systemtheoretischer Beobachtung grundlegend, was letztlich zu ihrer ›Befragung‹ eine operative Theorie der Zeit erfordert.5 Ausdruck findet dies in der komplexen und an Paradoxien geschulten Beweisführung und Begrifflichkeit, die geeicht werden muss auf das, was ins Blickfeld gerät, wenn Zeit als Medium und zugleich als »Form eines Bereichs kombinatorischer Möglichkeiten« aufgefasst wird, »in den hinein Kausalitäten konzipiert werden und Eigenform gewinnen können.«6 Zu erwarten sind dann Paradoxien, und Aufgabe einer operativen Theorie der Zeit ist es, diese Paradoxien ins Blickfeld zu bekommen und ihr konstitutives Funktionsspektrum abzubilden. Dies ermöglicht zudem auch die Beobachtung von Strategien der Verschleierung von Paradoxien sowie der Bemühungen um deren Vermeidung. Freilich unterlässt es der systemtheoretisch informierte literaturwissenschaftliche Beobachter, einen Beitrag zur Steigerung der Effizienz dieser Strategien zu leisten, was ohnehin, dies stellt das Paradoxiemanagement der Systemtheorie unter Beweis, ein zirkuläres und allzu blind operierendes Unterfangen wäre. Denn man müsste ständig versuchen nicht zu sehen, was man sehen kann. Wenn also im konzeptuellen Vorfeld der Untersuchung beobachtet wird, wie eine operative Theorie beobachtet, wie Beobachter Zeit beobachten, dann soll dies zwei Erträge abwerfen. Zunächst wird expliziert, wie sich Zeit auf alle Unterscheidungen bezieht und wie sich Unterscheidungen auf Zeit beziehen. Daraus ergibt sich ein Überblick über das begriffliche Inventar und die Matrix der systemtheoretischen Semantik der Zeitlichkeit. Zum anderen bedingen die Ergebnisse dieser Hin5

Vgl. Nassehi: Tempus fugit?, S. 37.

6

Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 116.

Z EITGEGENLÄUFIGE ZEIT

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wendung die Beobachtungskoordinierung der Beobachtung von Ereignistemporalität im literaturanalytischen Teil, ob nun literarische Kommunikation, Literatur als Beobachtung zweiter Ordnung oder der einzelne Text als Symbolsystem adressiert wird. In allen Fällen wird es vornehmlich darum gehen, ein für die operative Komplexität der literarisch beobachteten Differenzstruktur von Zeit angemessen tiefenscharfes Analyseinstrumentarium vorzubereiten. Dieses gilt es, einerseits mit generalisierbar abstrakten und andererseits mit für unterschiedliche Konkretisationsstufen geeigneten Reflexionsfiguren der Zeitlichkeit von Zeit engzuführen. Vor allem das Vorkommen dieser Reflexionsfiguren und das Spektrum ihrer Funktionalisierung in literarischen Texten, mit dem Zeitorganisation, Zeitsemantik, Zeiterleben, Zeitkommunikation, Zeitlosigkeit, Dyschronie, Ereignisleere, Zeitrisse und die Denkfigur des Intervalls in ihrer ästhetischen wie auch aisthetischen Formierungspluralität thematisiert werden, wird in den literaturanalytischen Kapiteln den zentralen Phänomenbereich bilden. In der Soziologie besteht zumeist ein Interesse an der Beobachtung der Differenz von individueller und sozialer Zeit, wobei beide Seiten dieser Unterscheidung zuvor einer Bestimmung zugeführt werden müssen, die für beide jeweils Eigenzeiten reklamiert. Soziale Zeit wird dabei weitgehend als institutionalisierte Zeit, als Zeit der Institutionen objektiviert, die durch ihr Dauern ja nicht nur über das Einzelereignis hinaus ihren Bestand anzeigen, sondern auch als Größe für Relationsoperationen dienen.7 Sozialtheorien der Zeit lesen Zeit zumeist als von Institutionen organisierte Kompatibilität verschiedener Zeitläufe, deren Disparatheit sich aus der Pluralität der Individuen ergibt, die für Institutionen erst die Grundlage zur Koordinierung von Zeiten bilden, an denen sie sich abarbeiten. Erfolg und Misserfolg solcher Koordinierungen lassen sich dann entweder der Institution zuschreiben oder den Individuen. Sollten z.B. alle Anläufe, den Gleichlauf aller Zeiten zu gewährleisten, scheitern, oder alle Möglichkeiten der Integration der individuellen Zeiten in eine homogenisierte Zeitordnung ausgeschöpft sein, beginnt die Fehlersuche, die sich generell auf drei potentielle Ursachenbereiche konzentriert: a) das zur Synchronisation der Eigenzeiten zugrunde gelegte Zeitmodell ist falsch; b) die Institution setzt Homogenisierungsoptionen disparater Eigenzeiten falsch um; c) das Individuum widersetzt sich bzw. ist pathologisch oder realisiert schlicht nicht, dass es zu Synchronisierungsleistungen ermutigt bzw. aufgefordert worden ist. Alle Zeitprobleme, so die Diagnose, ergeben sich aus Synchronisierungsfehlleistungen.8 Dass dabei der Zeitbegriff reichlich diffus bleibt, wird in Kauf genommen, ja Zeit

7

Wie lange etwas dauert, kann nur gemessen werden vor dem Hintergrund einer Dauer erster Ordnung.

8

Vgl. zur Problemlage etwa Schlote: Widersprüche sozialer Zeit, S. 261-272.

30 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

wird zuweilen gar wieder als Substanz objektiviert, indem die Differenz von Zeit und Chronologie invisibilisiert wird.9 Dagegen lässt sich Zeit mit Niklas Luhmanns operativer Theorie als autopoietisches Phänomen beobachten, ohne den Einstieg hierzu im diffusen Begriff der ›Institution‹ oder chronometrischen Objektivationen (Uhrzeit) anzusetzen. Soziale Zeit wird daher im Folgenden nicht begriffen als ein Interdependenzverhältnis zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen. Dass eine Institutionen perspektivierende Analyse in der Lage ist, Strategien der Materialisierung und Naturalisierung von Zeit in sozialen Zusammenhängen aufzudecken, wird nicht bestritten.10 Allerdings kommen mit dem Zeitkonzept und den Beobachtungspräferenzen einer operativen Theorie der Zeit andere Unterscheidungen ins Spiel, mit denen auch andere Beobachtungen von Zeit sich anbieten. Diese empirisch-analytische Ausrichtung bedingt, dass Versuche einer asymptotischen Annäherung an Modi der Institutionalisierung von Zeit im Sinne einer »Koordination und Integration in der Form der Synchronisierung der Individuen«11 zurückgewiesen und aus dem eigenen theoretischen Arbeitsplan ausgeschlossen werden können. Denn aus systemtheoretischer Perspektive ergeben sich zwei Schranken: Erstens ist die Unterscheidung in Gesellschaft (aus Individuen) und Individuum operativ nicht zu handhaben, ohne dass man in die Paradoxie läuft, das Subjekt zugleich als Singuläres und als Element eines intersubjektiven Relationsgefüges ansteuern zu müssen.12 Und zweitens sind Individuen nicht synchronisierbar – denn diese müssen ja immer schon synchron vorhanden sein, will man sie denn zum Zwecke temporaler Koordination überhaupt adressieren können. Dagegen argumentiert ein operativ-konstruktivistischer Ansatz, dass »alles was geschieht, gleichzeitig geschieht«13, und dass Synchronisation im Besonderen und Organisation von Zeit im Allgemeinen nur stattfinden kann in Bezug auf Operationen eines Systems in Relation zu Umweltereignissen bzw. den Operationen der

9 10

Vgl. Luhmann: Die Zukunft kann nicht beginnen, S. 125. So z.B. schon bei Gehlen: Anthropologische Forschung, S. 69-77. Vgl. auch Gimmler: Zeit und Institution, S. 183-186.

11 12

Ebd., S. 180. Denn man müsste auf der Einwertigkeit des Subjekts und der Einwertigkeit des intersubjektiven Gefüges beharren, was nicht einmal die widerspruchsfreie Verschränkung zu einer zweiwertigen Logik ermöglicht. Der Begriff des Subjekts erfüllt in dieser Hinsicht nicht die Anforderungen an eine Analyse der Element/Relation-Kopplung oder der Identität/Differenz-Unterscheidung. Das Subjekt müsste Element und Relation, Identität und Differenz unisono und zugleich sein.

13

Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 98.

Z EITGEGENLÄUFIGE ZEIT

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Systeme-in-der-Umwelt oder Informationen als Ergebnis von Umweltirritationen.14 Insofern muss umgestellt werden auf die Zeitlichkeit durch Operationen, wie sie in autopoietischen Systemen durch fortschreitende Verkettung von Operationen anfällt. Und hieran kann dann die Beobachtung jenseits der Selbstbezüglichkeit der internen Operationen eines Systems augenfälliger Temporalisierungsereignisse anschließen, indem auf Operationserfolge, -hindernisse und -misserfolge scharfgestellt wird.

N O EVENT ,

NO SYSTEM :

E REIGNISTEMPORALITÄT

Die analytische Kartierung der operativen Theorie der Zeit scheint mir über den Ereignisbegriff besonders einleuchtend darstellbar. Ein solcher Einstieg in das Gefüge zeitkonzeptueller Reflexionsfiguren einer komplexen Theorie hat einen wesentlichen Vorteil, der auch explikationsökonomischen Zwecken dient. Die Explikation des Ereignisbegriffs, wie ihn Luhmann als Letztelement seiner operativen Theorie funktionalisiert, kann stattfinden unter Ausschluss von präsentischen Beschreibungen von Zeit, ob sie nun als Faktum, als Substanz, also primordiales Element, als lineare oder mystische Dauer oder transzendentales Substrat von (Inter-)Subjektivität veranschlagt wird.15 Luhmann verwendet bereits in seiner ersten gesellschaftstheoretischen Monographie Soziale Systeme den Begriff des Ereignisses synonym zum Begriff des Elements. Der Ereignisbegriff wird nicht von der Zeit her gedacht, sondern ist in die Konstitutionsprozesse der Autopoiesis von Systemen eingebunden. Deren Dauer ist solange unproblematisch, solange der Dauerzerfall der Elemente des Systems durch weitere Elemente kompensiert werden kann. Systeme können sich also nur auf Dauer stellen, wenn Elemente ›nachgeliefert‹ werden, die wiederum nur prozessiert werden können, wenn vorherige Elemente die operative Stelle nicht mehr besetzen. Und an diesem Punkt kommt Zeit ins Spiel. Indem die Elemente des Systems ereignishaft konzipiert werden, erfährt die Bestimmung von Systemen eine entscheidende temporale Scharfstellung: Systeme sind nur als tem-

14

Genau genommen sind Umweltirritationen Irritationen des Systems, das diese auf Ereignisse in der Umwelt zurückführt.

15

Die metaphysisch inspirierten Gegenpositionen werde ich nicht gesondert explizieren (eine umfangreiche Übersicht findet sich bei Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 39144). Ebenso halte ich mich mit Parallelen zum Ereignisdenken Derridas weitestgehend zurück und leiste Synopsen nur dort, wo fruchtbringende Integrationseffekte (in welche Richtung auch immer) aufblitzen. Detaillierte Vergleiche finden sich z.B. in Binczek: Im Medium der Schrift; Kombinationsoptionen der Ereigniskonzepte Luhmanns und Derridas werden durchgespielt in Khurana: Sinn und Gedächtnis, S. 23-94.

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poralisierte Systeme beobachtbar.16 Nimmt man im Anschluss mit Luhmann an, dass Ereignisse nicht in der Zeit gelagerte distinkte Jetztpunkte sind, sondern selbst das Ergebnis einer Operation, nämlich der differenziellen Autopoiesis eines Ereignisse produzierenden Systems, dann gewinnt Zeit den Status eines Epiphänomens systemischer Aktualisierungswechsel. Sie wird zum operativen Effekt, an den sich wiederum systemspezifische operative Effekte anschließen und damit Kontinuität beobachtbar machen. »Ereignisse brauchen keine Zeit, sie bringen sie hervor.«17 Oder anders formuliert: Systemoperationen sind Inanspruchnahmen von Möglichkeiten der eigenen Autopoiesis. Diesen Typ von Zeitkonstitution bezeichne ich im Folgenden – einem Vorschlag Armin Nassehis folgend – als Ereignistemporalität. 18 Der Begriff dient jenseits seiner denkfigürlichen Potentiale vor allem der Referenz auf die zeitheuristische Annahme, dass Systeme im Moment ihrer Operationen, im Moment des Ereignisses, nur als eben diese Operationen bzw. eben diese Ereignisse beobachtbar sind. Temporalisierte Systeme sind im Moment der Autopoiesis durch Elementsukzession, bzw. im Moment des Ereignisses genau das temporalisierte Element, das noch nicht zerfallen und durch ein weiteres ersetzt worden ist. Außerdem erlaubt der Begriff eine für die weitere Argumentationslogik notwendige Unterscheidung von Ereigniszeit und Beobachtungszeit19, in der der konzeptuell angebrachten Differenz von Zeit-als-Effekt-von-Operationen und Zeit-als-Thema-vonKommunikation/Aufmerksamkeit, Rechnung getragen wird.20 Für die Operationen sinnprozessierender Systeme bedeutet die Umstellung vom Element- auf den Ereignisbegriff zunächst eine paradoxe Konstellation, die sich als Nachfolgeproblem anvisieren lässt. Da Systeme im Modus der Beobachtung sinnkonstitutiv unterscheiden und bezeichnen, dadurch aber die markierte Seite immer nur anhand der Differenz zur unmarkierten Seite bezeichnen können, Indiziertes folglich zugleich mit einem Minimalverweis auf das Nichtindizierte aufscheint, bleibt das durch Bezeichnung Entborgene nie ohne das mangels Markierung im Moment Verborgene.21 Das bedeutet dann aber, dass mit jeder Operation des Sys16 17

Vgl. Luhmann: Temporalisierung von Komplexität, S. 241. Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 192 (im Original kursiv); vgl. auch Buskotte: Resonanzen für Geschichte, S. 109.

18

Vgl. Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 184.

19

Vgl. ebd., S. 189-194.

20

Zeit wird dann zum Thema, wenn das Prozessieren der Operationen eines Systems beobachtet wird, wenn also Zeit in der Sachdimension von sinnhaften Prozessen zirkuliert.

21

›Bergung‹ sollte hier strikt metaphorisch verstanden werden, denn genau genommen werden durch Indizierung und Bezeichnung ›Entborgenes‹ und ›Verborgenes‹ zugleich konstruiert. Nebenbei sollte deutlich geworden sein, dass über ein Ursache/WirkungsSchema dieses Zugleich beider Seiten nicht erfassbar ist, weil Kausalität immer eine temporale Ungleichzeitigkeit voraussetzt: vorher = Ursache = System / nachher = Wir-

Z EITGEGENLÄUFIGE ZEIT

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tems das Innen und das Außen der Unterscheidung konstituiert werden – und zwar mit demselben Ereignis. Theorietechnisch ist dies konsequent, denn dass Innen- und Außenseite der Unterscheidung gleichzeitig aufblitzen, ergibt sich bereits aus der basalen Selbstreferenz jeglicher Systemoperation, da auf dieser Ebene bereits immer auch die Unterscheidung von System und Umwelt reproduziert wird, d.h. zur gleichen Zeit System und Umwelt, Anwesendes und Abwesendes, marked und unmarked space simultan hervorgebracht werden. Wenn das System die Einheit der Differenz von System und Umwelt ist, dann sind stets beide und beide stets das Ergebnis desselben autopoietischen Akts. Diese Einsicht führt dann zur Annahme einer in jedem Fall, in jedem Ereignis gleichzeitigen Fixierung von System und Umwelt, oder anders: der Setzung eines marked space und eines unmarked space, wobei letzterer einen Horizont nicht realisierter Markierungen bildet. Somit steht man vor der »ebenso trivialen wie aufregenden These […]: daß alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht.«: »Von welchem Geschehen – und wir können auch sagen: von welchem System – auch immer man ausgeht: etwas anderes kann nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft des Referenzgeschehens geschehen, sondern nur gleichzeitig. Mit anderen Worten, nichts kann in der Weise schneller geschehen, daß anderes in seiner Vergangenheit zurückbleibt. Nichts kann in die Zukunft anderer Geschehnisse vorauseilen mit der Folge, daß das, was für es Gegenwart ist, für anderes noch Zukunft ist.«22

Jeder Gedanke, der ein ›Dieses‹ denkt und nicht ein ›Jenes‹, jede Wahrnehmung einer Irritation unter vielen anderen, jedes paradigmatische Optieren für einen bestimmten Satzanschluss im Gespräch, jede syntagmatische Selektion der sprachlichen Elemente für einen Vers, all dies markiert eine Differenz (die genau genommen diese Markierung ist) und kann dies nur dadurch, dass das Markierte als Form

kung = Umwelt. Gerade diese temporal unterschiedlich lokalisierende Unterscheidung von Ursache und Wirkung gilt es für die basale Ebene der Operationen eines Beobachters auszuhebeln. Damit fällt als erwünschte Nebenwirkung auch die Subjekt/ObjektDifferenz, was zunächst kybernetische Modelle und aktuell Akteur-Netzwerk-Theorien nutzen, um Handlungsereignisse als Kooperationsmechanismen zwischen sozialer Interaktion und instrumenteller Dinghaftigkeit in einem Netzwerk der Realisierungen dieser Mechanismen beobachten zu können. Anschaulich wird dies eindrücklich am Beispiel des Berliner Schlüssels, dessen Handhabung – wie Bruno Latour gezeigt hat – andere Beobachtungs- und Beschreibungskategorien erfordert als die Leitunterscheidung Subjekt = Mensch / Objekt = Ding (vgl. Latour: Der Berliner Schlüssel, S. 37-51). 22

Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 98.

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beide Seiten enthält.23 Da aber immer nur eine Seite zur selben Zeit angesteuert werden kann, benötigt die Bezeichnung der anderen unterschiedenen Seite Zeit, denn jedes crossing der Seite kann nur erfolgen mittels einer weiteren Beobachtung, die die Operationen pluralisiert und eine weitere Differenz in die Welt setzt. Ohne diese zeitliche Abweichung im crossing und ohne die sachdimensionale Gleichzeitigkeit des Innen und des Außen der Bezeichnung sind Ordnung (und ihre Komplexitätsgrade) sowie Information, Struktur, Sinn und Evolution nicht denkbar. Die Welt wäre voller Indifferenz und Rauschen, sie wäre ganz Welt ohne Unterscheidungen und wäre noch nicht einmal dies, denn um sie als Welt bezeichnen zu können, bedarf es eines Beobachters, der nur in Differenz zur Welt als Horizont sich abheben (lassen) könnte.24 Die Formenlogik Spencer Browns, wie auch Derridas zeichentheoretisch initiierte différance, bekräftigen die Paradoxie einer anwesenden Abwesenheit des Abwesenden im Anwesenden, indem sie unterstreichen, dass das Außen der Unterscheidung sich im Innen immer auch vernehmen lässt, ja vernehmbar sein muss, sei es als trace oder als Differenzhorizont allen Sinns. In beiden Fällen wird eine konstitutive Verdoppelung des Außen, des Abwesenden, des unmarked space fokussiert, für die sich ein Denken der Präsenz klassischerweise selbst blind stellen muss. Diese Präsenz identifizieren Systemtheorie und Dekonstruktion als Konstituens jeder Operation, jedes Verweises, jedes Versuchs unmittelbarer Kontaktaufnahme zu einer veranschlagten primordialen Welt, hinter deren Konstitutionszusammenhang über den Moment hinaus nicht zurückgegangen werden kann.25

23

Vgl. Spencer Brown: Laws of Form, S. 5 f. George Spencer Brown verfolgt in den Laws of Form einen Ansatz, der mathematische Grundlagenlogik und Zeichenlogik in einem Kalkül zusammenzudenken versucht. Wesentlich für diesen Ansatz ist die Umstellung von einer Aprioristik der Identität auf Initialereignisse, und genauer: auf Unterscheidungen. Darin sieht Luhmann in seiner Lektüre der Laws of Form die »am tiefsten eingreifende […] unentbehrliche Umstellung, daß nicht mehr von Objekten die Rede ist, sondern von Unterscheidungen« (Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 60).

24

Die Rede von einer vollends unbestimmten Welt lässt sich nur kommunizieren und diese Kommunikation nur wahrnehmen, wenn die physikalischen, organischen, kognitiven und sozialen Voraussetzungen für eine paradoxe Bestimmung der Welt als ›unbestimmt‹ erfüllt sind. Die Unterscheidung bestimmt/unbestimmt ihrerseits würde wieder einen Beobachter voraussetzen, der in der Welt von einer Umwelt unterschieden sein müsste. Das andere dieser Unterscheidung wäre dann wiederum Welt als Horizont.

25

Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 105, 37 f., 258 f. u. passim. Dekonstruktion bleibt mit einem Zeigen dieses Konstitutionszusammenhangs beschäftigt, während die Systemtheorie das Problem bereits in die nächste Operation verlagert: draw a distinction.

Z EITGEGENLÄUFIGE ZEIT

S TAY – FAR

AWAY , SO CLOSE

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/ D AS S YSTEM › SELBST ‹

Insbesondere dieser Konstitutionszusammenhang macht aufmerksam auf eine weitere Paradoxie: Wenn alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht, dann könnte zunächst angeschlossen werden, dass alles, was geschieht, immer in einer Gegenwart geschieht, also gegenwärtiges Geschehen ist. Zukünftige Ereignisse, so ließe sich diese Prämisse anreichern, treten nur in künftigen Gegenwarten ein. Und dass vergangene Ereignisse (trotz aller Retro- und Revival-Moden) nicht reversibel sind, weil sie für die eine singuläre Gegenwart reserviert bleiben, der sie in der Chronologie der Jetztzeiten zugeordnet sind, versichert uns das Zeiterleben anhand der Evidenz einer Diskontinuität von Gegenwarten. Wenn aber nicht mit dem Fingerzeig auf Chronologie gleich jegliche tiefenscharfe Bestimmung von Temporalität im Keim erstickt werden soll, dann muss die Frage beantwortet werden, wann denn diese Gegenwart ist, in der alles geschieht, wenn sie doch als Komponente von Zeiterleben behauptet wird als Differenzzeitraum zu Zukunft und Vergangenheit. Diese Frage stellt offensichtlich ab auf den Charakter der präsentischen Selbstpräsenz des Ereignisses und macht aufmerksam auf eine weitere Paradoxie: die Paradoxie der Selbstgegenwart des Systems. Um diese zu entfalten, muss zunächst die Relation von Ereignishaftigkeit und ›präsentischer Selbstpräsenz‹ des Ereignisses auf den Prüfstand gehoben und mittels der System/Umwelt-Unterscheidung evaluiert werden. Wenn das Ereignis sich selbst nicht einholen kann – da es ›für sich selbst‹ im blinden Fleck ›verweilt‹ –, sondern nur von einem weiteren Ereignis durch Beobachtung konstituiert werden kann (und diese Beobachtung kann dies empirisch, weil die vorausgesetzte Differenz von vorher/nachher als basale Leitunterscheidung jeder Systembeobachtung und jeder Zeitsemantik26 eingeschrieben ist), dann bleibt die Selbstgegenwart des Ereignisses rätselhaft. Da Systeme als temporalisierte Zustände im Moment des Ereignens ihrer autopoietischen Operation je das Ereignis sind, das sie initiieren, erübrigen sich ontologische, identitätsessentielle und transzendentale Lösungen dieses Rätsels von selbst.27 Selbstpräsenz ist das Ergebnis ei26

An diese basale Leitunterscheidung schließen weitere Unterscheidungen an, die z.B. auf kinetische (bewegt/unbewegt), ontologische (Sein/Werden), metaphysische (Transzendenz/Immanenz), theologisch-kosmologische (aeternitas/tempus), kulturevolutionäre (Tradition/Moderne) oder historiografische (z.B. v.Chr./n. Chr., ›Vormärz‹, ›postkolonial‹) Binarismen setzen. Sie sind allesamt sekundäre Differenzlogiken, die jeweils den Versuch darstellen, die Paradoxie der Einheit der Differenz beider Werte temporaler Unterscheidungen zu invisibilisieren und die Annahme einer Totalität der Zeit je systemspezifisch bzw. diskursabhängig zu (re)konstruieren (vgl. Fuchs/Luhmann: Geheimnis, Zeit, Ewigkeit, S. 108-111; Esposito: Soziales Vergessen, S. 273-281).

27

Vgl. Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 13-16.

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ner Beobachtung durch das System selbst, es bescheinigt sich gleichsam immer rekursiv und immer im Nachgang Identität. Dies geschieht durch Rekursion auf eine Vergangenheit, die mit der beobachteten Gegenwart (nicht mit der Beobachtungsgegenwart) synoptisch als Systemkontinuität gedeutet wird. Um aber sich selbst beobachten und sich Dauer bzw. Identität attestieren zu können, muss die Unterscheidung System/Umwelt als re-entry28 in das System eingeführt werden, um die Pluralität von Systemzuständen auf eine Singularität hin zu verkürzen. Das System beobachtet sich quasi singular plural29 und fasst zwei Ereignisse als unterschiedliche Zustände eines identischen Systems. Und mehr noch. Diese singular plurale Beobachtung ist selbst wiederum nur je aktuell, in Form eines Ereignisses möglich, folglich bedarf der vorhergehende Satz einer Erweiterung: Das System beobachtet sich immer singulär singular plural und begreift seine Identität stets neu, weil es (die) Kontinuität (der Operationen und der Beobachtung) unterscheidend und bezeichnend aktualisieren muss. Identität ist lediglich ein Urteil über eine Pluralität von Beobachtungen, die autologisch interpretiert werden muss, damit sich ein System als ›System‹, als ›Subjekt‹ oder als ›Kultur‹, kurz : als Identisches überhaupt konstruieren kann – allerdings nur über den Umweg und Vorweg der Differenz von Identität und Differenz.30 Dabei wird auch beobachtbar, dass die Beobachtung von Brüchen, Kontinuitäten, Wandel, Fluss, Evolution, Harren, Zögern oder Beschleunigung immer gebunden an Ereignissupplementierung ist: Systeme gibt es nur »post eventum per eventum«31. 28

Re-entry bezeichnet die Wiedereinführung einer Unterscheidung auf einer der unterschiedenen Seiten. Diese Wiedereinführung ist »der Form nach ebenfalls ein Paradox: das Hineincopieren einer Unterscheidung als dieselbe in eine andere.« (Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 796)

29

Jean-Luc Nancy entfaltet die Paradoxie der Zirkularität nicht dezidiert mithilfe einer Kybernetik zweiter Ordnung, sondern behält sie prinzipiell bei, indem er sie in den Beobachtungsmodus eines »first-person-plural« integriert. Zirkularität als temporale Denkfigur »goes in all directions, but it moves only insofar as it goes from one point to another […].« Die Immanenz, die Einfaltung der Schrittigkeit in der Zirkularität als sequenzielles und serielles unendliches Dazwischen, läuft laut Nancy »from moment to moment, without an progression or linear path, bit by bit and case by case, essentially accidental, it is singular and plural in its very principle.« (Nancy: Being Singular Plural, S. 4 f.)

30

Vgl. Luhmann: Identität – was oder wie?, S. 17-21.

31

Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 192. Dies gilt mit gleicher Konsequenz für Selbstreflexivität, also Selbstbeobachtung, in der BeobachterBeobachtung und BeobachtetesBeobachtung paradox verschränkt sind. Aus der Perspektive einer operativen Theorie findet sich diese paradoxe Situation durch Zeit selbst entschärft, die aufgrund der Autopoiesis immer mitkonstituiert wird und die Form einer Beobachtung zweier Zustände

Z EITGEGENLÄUFIGE ZEIT

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Das Selbst des Selbst ist in die Zukunft verschoben, muss von einem Ereignis erst nachgeholt werden; es ist nicht eine verborgene, einstimmige und selbststabile Substanz, die am Ende eines finiten Regresses aufscheint. Der Vorteil einer solchermaßen vorbereiteten Abkehr von substanzphilosophischen Fundierungsbestrebungen liegt darin, nicht mehr eine unter dem Schutt der Vergangenheit der Operationen verborgene Substanz des Selbst freilegen zu müssen. Man kann stattdessen anders vorgehen und Identität und Selbst als Attribuierungen von Folgeoperationen beobachten. Das System – so lässt sich dann formulieren – muss (und kann nicht anders, als) sich selbst als Umwelt eines von ihm beobachteten früheren Systemzustands (zu) beobachten. Der Beobachter ist auf operativer Ebene System, auf der Ebene der Beobachtung qua Bezeichnung ist er Umwelt. Nicht nur führt dies in einen Zirkel der Selbstbezüglichkeit; der Beobachter ist (nur im Moment) genau genommen der Zirkel, dessen Zirkularität sich aus der Temporalität der Operationen ergibt.32 Die Paradoxie, die dieser Zirkel für lineare Zeit- und Kausalitätsauffassungen bereithält, lässt sich wiederum durch Zeit und streng genommen in der Beobachtungszeit auflösen.33

O PERATIVES E MPLACEMENT : G EGENWART

EX POST

Jede gegenwärtige Operation, die Gegenwart beobachtet, ist für ihre eigene akute Gegenwart blind, denn operativ ist jede Gegenwart, derer ein System gewärtig ist, bereits um eine Stelle im Gefüge der ›aktuell/inaktuell-Skala‹ verschoben. Jede Operation ist in diesen Verschiebemechanismus involviert und treibt ihn weiter. Ganz exakt formuliert ist die Operativität des Systems dieser Mechanismus. Gegenwart ist Gegenwart ex post, ist ein »Beobachtungsartefakt«34. Diesen Sachverhalt nenne ich Operatives Emplacement und bezeichne damit die zweifache temporale Positionierung mittels operativem Vollzug. Erstens positioniert jede Operation eine vorangegangene zeitlich hinter sich. Zweitens positioniert jede Beobachtung einer vorangegangenen Operation diese in der Gegenwart, in der sie je aktualisiert wird. Diese zweifache Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kann insofern noch weiter verschärft werden, als Vergangenheit und Gegenwart nicht zueines durch Beobachtung in der Zeit rekursiv konstruierten Selbst ermöglicht (siehe auch ebd., S. 202). 32

Vgl. Luhmann: Identität – was oder wie?, S. 101.

33

Manfred Frank invisibilisiert diese Erkenntnis und optiert stattdessen für eine ontoidentitäre und primordiale Stabilisierung des Selbst qua präoperativem Ich, was wiederum zurückführt in ein Denken des Seins des Selbst als Präsenz (vgl. Frank: Zeitbewußtsein; siehe zur Kritik an Frank auch Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 188).

34

Fuchs: Moderne Kommunikation, S. 154.

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gleich vergegenwärtigt werden, sondern lediglich als zwei distinkte Vergangenheiten: VergangenheitVergangenheit und GegenwartVergangenheit. Keine Gegenwart ist somit in der Lage, sich über sich selbst zu instruieren; dies muss einer Gegenwart post festum überlassen bleiben. Gegenwart lässt sich in aktueller Operation nie präsentieren, sondern nur repräsentieren. Mit einer Denkfigur gesprochen, die Giorgio Agamben ausführlich in seinen Machtanalysen in Homo sacer durchspielt, ist Gegenwart das Resultat einer »einschließende[n] Ausschließung«35. Gegenwart ist nur dann in die Beobachtung eingeschlossen, wenn sie als Operation bereits ausgeschlossen, weil verschoben wurde. Und Agamben soll mir auch ein zweites Mal als donneur du concept dienen: Gegenwart ist ein parádeigma (παρὰ ›neben‹ und δείκνυμι ›zeigen‹): Sie ist Etwas, auf das etwas Anderes, Laterales zeigt, Etwas, das in einer Juxtaposition angrenzt.36 Zwischen den Singularitäten der Systemereignisse besteht mithin ein temporales Kontiguitätsverhältnis, nicht aber ein primordiales Kontinuitätsverhältnis. Kontinuität muss erst beobachtend behauptet werden.37 Das Zeigen auf eine Gegenwart ist, so gesehen, das Zeigen auf eine laterale Gegenwart, die ein Emplacement um eine Stelle erfahren musste, um überhaupt als für eine Markierung als Gegenwart verfügbar gesetzt werden zu können.38 Die Effekte dieser operativen Kontur von Gegenwart für die Realitätskonstruktion von Gegenwart in sozialen Systemen sind gravierend: Die Fixierung der Gegenwart in Kommunikationsverkettungen führt nicht nur immer wieder lediglich auf Spuren, die nicht zu einer

35

Agamben: Homo sacer, S. 31.

36

Die Abweichung von Agambens Rückgriff auf den parádeigma-Begriff lasse ich außen vor. Agamben bringt den Begriff ein an prominenter Stelle seiner Analyse zum paradoxen Verhältnis von Regel und Ausnahme, Beispiel und Zustand und ihres paradoxen Potentials für Souveränität (vgl. ebd., S. 25-40).

37

In leicht verschobenem Kontext formuliert Nancy: »From one singular to another, there is contiguity but not continuity.« (Nancy: Being Singular Plural, S. 5) Nancy bemüht wiederholt Räumlichkeit und Zeitlichkeit synonym. Auch in dieser Arbeit sind solche Kunstgriffe unvermeidlich. Allerdings soll die Trennung von Raum und Zeit prinzipiell durchgehalten werden, und Analogietransfers zwischen Raumsemantik und Zeitsemantik sind Hinweise auf Beobachtungsmodi, deren Unterscheidungen die Paradoxien der Gleichzeitigkeit zu domestizieren suchen, indem sie mit sekundären Unterscheidungen wie bewegt/unbewegt, nah (gegenwärtig, unmittelbar vergangen, unmittelbar zukünftig)/fern (ferne Vergangenheit, ferne Zukunft) oder anwesend/abwesend scheinbar weniger problematische Möglichkeiten der Bestimmung von Zeit präferieren (vgl. Luhmann: Identität – was oder wie?, S. 105; Luhmann: Temporalisierung von Komplexität).

38

Keine Operation, und folglich auch keine Beobachtung, kann sich selbst markieren.

Z EITGEGENLÄUFIGE ZEIT

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archi-trace, einer ersten Spur oder gar zur reinen Präsenz führen.39 Mehr noch: Erst durch drei Ereignisse kann es so etwas wie ein gegenwärtiges Ereignis ›geben‹. Nur durch ein drittes Kommunikationsereignis, das beobachtet, dass und wie ein zweites Kommunikationsereignis ein erstes Kommunikationsereignis als gegenwärtig beobachtet, zeitigt Gegenwart als Informationsselektion kommunikativ Konsequenzen. Am Beispiel der Selbstbeobachtung der Literaturwissenschaft sei dies hier verdeutlicht. Man kann, dem Theorem der evolutionär bedingten Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften folgend, Wissenschaft als Funktionssystem des Systems Gesellschaft unterscheiden und darin wiederum ein Teilsystem der Literaturwissenschaft, das die Leitunterscheidung des Wissenschaftssystems wahr/falsch prozessiert und zusätzlich etwa auf die Beantwortung der Frage nach literaturspezifischer Relevanz

39

Aus phänomenologischer Warte unterscheidet Paul Ricœur ebenfalls Gegenwart als operative Zeitdimension, allerdings mit dem Ergebnis, dass zwei distinguierte Konzepte von Gegenwart in unüberwindbarer Distanz zueinander nebeneinander herlaufen. Der Schwerpunkt auf die phänomenologische Zeit dient Ricœur dabei ex negativo zu einer Extrapolation naturwissenschaftlicher Zeit. Zwischen beiden sieht er einen »epistemologischen Bruch« (Ricœur: Die erzählte Zeit, S. 154), und der Relationsmodus der beiden wird als einer der »Kontamination« bestimmt. Ricœur bemüht eine Differenz, die mit Luhmann kaum noch zu halten ist. Die Differenz »zwischen einer Zeit ohne Gegenwart und einer Zeit mit Gegenwart« (ebd., S. 148) ist in dem Moment obsolet, wo Luhmann die prädikative Setzung ins Spiel bringt, dass alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht. Wo Ricœur noch ein unzugängliches »Mysterium« (ebd., S. 436) auszumachen glaubt, beobachtet Luhmann Paradoxien der Gleichzeitigkeit und Synchronisation sowie Paradoxien des Ereignens und Dauerns. Luhmanns Entwurf einer Theorie der Zeit bringt die System/Umwelt-Differenz ins Spiel, um die Erkenntnisgewinne, die sich aus der Kompatibilität der Beobachtung der Beobachtung von Zeit durch Systeme, die Systeme beobachten, ergeben, viabel zu halten. Dadurch erhält die phänomenologische Kontur des Zeitbegriffs eine empirische Erweiterung, die einerseits aus logischen Gründen hinzukommen muss, denn wenn Beobachtung der Zeit eine Systemoperation ist, dann gilt dies auch für eine Zeittheorie, die den Perspektivstatus einer Beobachtung zweiter Ordnung nicht transgredieren kann, denn Zeit ist auch in die Operationen eines solchen Beobachtens eingeschrieben (vgl. Nassehi: Tempus fugit?, S. 36 f.). Andererseits wird die Zeit, mittels derer Beobachtung zweiter Ordnung überhaupt erst aktualisierbar wird, selbst mittels des Beobachtungsschemas Zeitlichkeit (und aufgrund der selbstreferentiellen Sequenzierung in den Operationen des Beobachters zweiter Ordnung) beobachtbar, sei es für einen externen Beobachter (Metatheorie), sei es für das System selbst, wenn es reflexiv an seine vergangenen Operationen durch retentionale ›Vergegenwärtigung‹ anschließt.

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der codierten Kommunikation ausgerichtet ist.40 Wie nun kann man sich die Gegenwart des Systems Literaturwissenschaft vorstellen? Literaturwissenschaftliche Operationen sind spezifisch codierte Kommunikationsakte, von denen jede (qua Selbstreferenz auch immer) eine Information über den Zustand des Systems (im Moment der Operation) darstellt. Im Falle der Selbstbeschreibung über die einzelne Publikation hinaus sind im Wissenschaftssystem vor allem die Forschungsberichte der privilegierte Ort für Versuche, umfassend die Forschungsbereiche, Forschungsintensität und Forschungsergebnisse zu dokumentieren, also dezidiert festzuhalten, was zu welchem Thema in welcher Publikationsdichte wie anschlussfähig war. Nimmt man zudem für wissenschaftliche Kommunikation an, dass sie nicht aus Forschung besteht, sondern aus Publikationen, dann dienen Forschungsberichte genau genommen primär der Beschreibung der Intensität und sachdimensionalen Effektivität von Kommunikationen im System.41 Setzt nun ein solcher Forschungsbe40

Nimmt man für die Menge der wahr/falsch codierten Kommunikation das formale Symbol w/f, so ließe sich der Code des Systems Literaturwissenschaft bspw. wie folgt formulieren: Literarizität (w/f)/Nicht-Literarizität (w/f). Mit Literarizität meine ich hier eine zugeschriebene Eigenschaft von literarischen Texten, die sie für literaturwissenschaftliche Beobachtung privilegiert. Literaturtheorien wiederum dienen dann der systeminternen Ausrichtung, Einschränkung und Erweiterung der Beobachtungsmöglichkeiten und -präferenzen der Operationen des Systems, was unzutreffend mit Forschung gleichgesetzt wird.

41

Ich übernehme diese Distinktion von Armin Nassehi: »Man könnte die Form wissenschaftlicher Kommunikation als Zwei-Seiten-Form von Publikation/Forschung beschreiben, wobei die Unterscheidung stets asymmetrisch gebaut ist und die Forschung die dunkle andre Seite der Publikation ist, über die allein etwas über Forschung erfahrbar ist.« (Nassehi: Gesellschaft der Gegenwarten, S. 143) Unabhängig davon bleibt die abgedunkelte Seite höchst relevant für epistemologisch ausgerichtete Dekonstruktionsversuche, die auf die Erhellung eben dieses dunklen Backgrounds, der historiografischen, geografischen und biografischen Geworfenheit der an Kommunikation beteiligten Akteure sich spezialisieren. Hierunter fallen diskurskritische Selbstbeschreibungen, vornehmlich aber reflexive diskursanalytische, genderspezifische, postkoloniale Anwendungen des Beobachtungsinstrumentariums auf das beobachtende System selbst, was im Falle autologischer Theorien, also Theorien, die ihre Beobachtungsmöglichkeiten auf sich selbst anwenden können, besonders erkenntnisreich ausfällt (vgl. für die Erkenntnisgewinne durch postkoloniale Studien z.B. aktuell die Zusammenfassung in Grizelj/Kirschstein: Differenztheorien, S. 18-49). Die autologischen Potentiale lassen sich zusätzlich ausschöpfen, wenn Beobachtungsspielräume und Beobachtungsdimensionen durch integrative Transfers zwischen autologischen Beobachtungsperspektiven aufgespannt werden. Als Beispiel seien genannt die aus systemtheoretischer Perspektive interessanten und vielversprechenden Arbeiten Walter Mignolos, der postkoloniale und

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richt an, die Gegenwart der Publikationsaktivitäten darzustellen, dann kann dies nur erfolgen als Anschluss im System selbst, womit, rein operativ, schon keine Gegenwart mehr gegeben ist, sondern bereits vergangene Systemzustände beobachtet und als gegenwärtig ausgeflaggt werden. Dies alles ist vor dem Hintergrund, dass Publikationen im literaturwissenschaftlichen Betrieb in aller Regel das Ergebnis langgliedriger und langwieriger Publikationsmechanismen sind, zunächst witzlos, und gegen die eigene Trägheit sind besonders jene Systeme immun, denen von der Gesellschaft keine ›zeitnahen‹ Leistungen abverlangt werden. Die Pointe liegt in diesem Beispiel auf der operativen Ebene und ihrer Verschränkung mit der Beobachtungsebene. Die Beobachtung der Systemgegenwart (in Form von Kommunikationen) schafft eine vorher/nachher-Distanzierung durch eben diese Beobachtung, die das Distanzierte erst im Moment der Beobachtung als Gegenwart und als (operative Vergangenheit) hervorbringt und nur deshalb als Gegenwart beobachten kann, weil der Forschungsbericht seine eigene Gegenwart, seine operative Ereignisgegenwärtigkeit nicht selbst beobachten kann. Dies kann nur geschehen mittels eines weiteren Anschlusses, der den aktuellsten Forschungsbericht als Information über den gegenwärtigen Zustand des Systems beobachtet.42 Auf eine Formel gebracht hieße das: Wer Informationen über die Gegenwart gewinnen will, kann nicht anders, als diese erst aus dem ›Haus der Gegenwärtigkeit‹ zu verdrängen, um sie gleichzeitig in dieses hinein zu interpretieren. Nur so – hinter zwei Folgeereignissen – kann Gegenwart kommunikative Realität werden. Bleiben diese Folgeereignisse aus, ist der Bericht zwar immer noch ein schriftliches Dokument, das im Horizont möglicher Aktualisierungen von Kommunikation harrt, die einen Anschluss vornehmen könnten. Aber er wäre eben noch nicht Kommunikation, noch nicht soziale Realität. Dass der Anschluss und damit die Ontogenese von Kommunikation prinzipiell unwahrscheinlich ist, und Anschluss stets auch ausbleiben kann, ist das Risiko einer jeden Operation sozialer Systeme, die durch Sprache, Verbreitungs- und Erfolgsmedien diese Unwahrscheinlichkeit zu bearbeiten suchen. kybernetische Beobachtungsschemata koppelt, um die Operativität postkolonialer Beschreibungsmatrix (Hybridität, third space) neu zu justieren (vgl. Mignolo: Delinking; Mignolo: Epistemischer Ungehorsam; siehe hierzu auch den luziden Überblick in Grizelj/Kirschstein: Differenztheorien, S. 29-49). 42

Dies wiederum kann jederzeit erfolgen oder auch ausbleiben, aber wenn es stattfindet, verschiebt es die Gegenwart des Systems um eine operative Stelle. Dass diese Paradoxie Kommunikation nicht blockiert, wird erreicht durch Invisibilisierung der Möglichkeit einer vorher/nachher-Unterscheidung auf den Bericht selbst, bzw. dadurch, dass die Aktualität des Systems immer an der Aktualität weiterer Forschungsberichte in regelmäßigen Abständen beobachtet wird. Ob bzw. dass eine bestimmte Forschungsrichtung ›zur Mode‹ geworden ist, lässt sich dann anhand dieser Berichte behaupten.

42 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

O FFENE Z UKUNFT –

UNRUHIGE

Z EITEN ,

KOMPLEXE

Z EITEN

Auch Zukunft ist prinzipiell unzugänglich, aber ihre Unzugänglichkeit ist nicht – wie dies für die Gegenwart gezeigt wurde – auf die Autopoiesis der Gegenwart erlebenden oder kommunizierenden Systeme zurückzuführen. Ihre Unnahbarkeit ergibt sich aus ihrem Horizontcharakter. Luhmann beschreibt Vergangenheit und Zukunft im Rückgriff auf Husserls Theorie des inneren Zeitbewusstseins als Horizonte je aktueller Ereignistemporalität. Für Vergangenheit und Zukunft gilt demnach, dass sie je von einem Ereignis (aus) jeweils als Vergangenheit und Zukunft in ihrer Differentialität zum Ereignis selbst aufgefächert werden.43 Bewusstseine wie auch soziale Systeme bescheinigen sich mit jeder Operation eine Vergangenheit und eine Zukunft, aber nur jeweils im Moment des Aufrufs dieser NichtGegenwarten als Zeithorizonte, die sich mit jeder Operation, mit jedem Erinnern und jeder Erwartung immer auch verschieben.44 Vergangenheit und Zukunft wird, da sie Gegenstand modal differenzierender Beobachtungen sind, immer aus einer Gegenwart heraus Wirklichkeit zugeschrieben, z.B. in Form vergangenen oder künftigen sinnhaften Erlebens.45 Vergangenheit und Zukunft sind folglich je aktuelle Projektionen der Differenz von aktuell/potentiell, d.h. von Sinn. Erst eine Beobachtung zweiter Ordnung kann diese Paradoxie beobachten, die ihr zugrundeliegende[n] Unterscheidung[en] fixieren und das Paradoxiemanagement in Augenschein nehmen. Aber auch dies setzt eine Nachträglichkeit voraus, denn das Beobachtete muss als Datum prä-konstituiert werden.46 Die phänomenologisch inspirierte Konfiguration des Horizontbegriffs erlaubt nicht, Zukunft dann noch als etwas zu veranschlagen, das eintritt, zu dem Nahkontakt besteht oder das als Aktualisiertes präoperativen-objektiven Status annehmen 43 44

Vgl. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften, S. 59. Vgl. ebd.: »Zeit kann nicht mehr, gleichsam spätontologisch, als historischer Prozeß gedacht werden oder als Hineinkopieren des Maßes der Bewegung in das erkennende System, sondern Zeit ist jetzt eine bestimmte Form des Beobachtens, eine Weltkonstruktion mit Hilfe der Differenz der Endloshorizonte Vergangenheit und Zukunft«. Siehe hierzu auch Fuchs: Der Sinn der Beobachtung, S. 76.

45

Sinn emergiert dadurch, dass nicht alles zugleich aktualisiert werden kann, dass also Selektion notwendig ist. Sinnhafter Anschluss an Sinn wiederum setzt Zeit voraus. Genau genommen wird die Unterscheidung vorher/nachher vorausgesetzt, die auf operationaler, d.h. empirischer Ebene bereits vorliegt aufgrund der zeitdimensionalen Differenz zwischen Operation/Selektion1 und Operation/Selektion2 bzw. Sinnx und Anschlusssinn1.

46

Daher schlägt Luhmann auch vor, Zeit als »Interpretation der Realität im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft zu definieren.« (Luhmann: Die Zukunft kann nicht beginnen, S. 124)

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kann. Denn schon auf der basalen Ebene der Kommunikation mittels sprachlicher Formbildung ist jede Semantik immer auch eingebunden in eine nach Tempusformen differenzierende Grammatik, die erlaubt, Paradoxien zu formulieren (»the future is now«47). Dies führt aber nur zur rhetorischen Provokation und simulierten Entfaltung modaler Paradoxien und lässt die Paradoxie von gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart an sich unbeobachtet. Vergangenheit und Zukunft müssen beide – metaphorisch gesprochen – offen, d.h. bestimmbar bleiben, sonst wären Systeme determiniert und könnten sich weder durch Re-Rekonstruktion ihrer Vergangenheit noch durch Neuausrichtung im Hinblick auf die Erwartungen für die Zukunft verändern, evoluieren und Komplexität aufbauen wie auch reduzieren. So ist das, was unter dem Begriff der kollektiven Identität zirkuliert, auch abhängig davon, welche Informationen für die Konstruktion einer eigenen Vergangenheit in Anspruch genommen werden. Ein Blick auf die Stationen in der Geschichte der Etablierung eines Forschungsfeldes zu Exilliteratur und die (erfreulicherweise mittlerweile vor dem Hintergrund des Konzepts einer Weltliteratur entspannter geführten) Debatten um die Inklusion der Exilliteratur in ›Nationalliteraturen‹ mag dies schnell erhellen.48 Während Vergangenheit konsequenterweise das Label »aktuelle Legende« tragen müsste, ist Zukunft »eine momentane Extrapolation«49, da sie nur als horizonthafte Konstruktion aus einer Gegenwart heraus bzw. in sie hinein entworfen wird – mittels Erwartungen, die auf Interpretationen vergangener Beobachtungen basieren. Das führt in der Gesellschaft dann mit zunehmenden Aktionstempo zu Problemen im Umgang mit Zeit, worauf dann entweder mit Technologien der Beschleunigung von Aktionen und/oder mit Ausdifferenzierung des Systems reagiert werden muss. Je effektiver das derart gerüstete Zeitmanagement in Anschlag gebracht werden kann, desto eher ist die Zukunft als »defuturisiert«, als »Scheingegenwart«50 beobachtbar, für die absehbar scheint, ob die Erwartungen erfüllt werden oder ob Besorgnis angebracht und damit zu rechnen ist, dass die zukünftigen Gegenwarten nicht den Antizipationen entsprechen werden. In der Zeitsemantik lässt sich dies ablesen an einer Präferenz für Beschreibungen des Ausgeliefertseins an die unaufhaltsame Kontinuität der Zeit. Die Insistenz einer stets Unsicherheit, Zufall, Unberechenbarkeit oder Unbestimmtheit demonstrierenden Zukunft granuliert in der Folge 47

Gebraucht in so unterschiedlichen Kontexten wie z.B. als Songtitel der Band The Offspring und Albumtitel der Gruppe Nonphixions, als Telosbeschreibung des OmniKonzerns General Electric, als Motto einer Adventistenbewegung oder eines Lehrerfortbildungsprojekts in den USA.

48

Vgl. z.B. den Sammelband von Krohn/Winckler/Rotermund (Hg.): Exilforschungen im historischen Prozess.

49

Gehring: Gegenwart revisited, S. 422.

50

Luhmann: Die Zukunft kann nicht beginnen, S. 133.

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zu einer Rhetorik temporaler Denkfiguren, die auf einer neuzeitlichen Semantik der Ungewissheit fußt. Innerhalb dieser Semantik finden sich entsprechend die Zeitbestimmungskorrelate eines diskursiven Feldes, das vom Zukunftsoptimismus der Aufklärung und dem damit verbundenen Konzept der Perfektibilität bis zur Domestikation der Zukunft reicht. Letztere findet sich etwa in der Rede vom ›Ende der Geschichte‹ als Versuch artikuliert, jeglicher intensiver Irritation der Gegenwart durch künftige Ereignisse den nagenden Zahn der Umwälzung zu ziehen, wodurch nur noch marginales, kristallines Raffinement, nicht aber signifikante Veränderungen in Aussicht gestellt würden.51 Zukunft wird zur berechenbaren und gestaltbaren Größe, die durch Eigenhandeln günstig beeinflusst werden kann, damit sie selbst wiederum günstige Rückkopplungen initiiert. Von Zukunft wird mithin erwartet, »daß sie eingeleitete Entwicklungen auch herbeiführt. Das führt umgekehrt dazu, daß man die Entwicklungen rechtzeitig zu erfassen suchen muß, um mit dem eigenen Handeln in die Entwicklung der Dinge einsteigen zu können.«52 Für ein solches ›Einsteigen‹ müssen aber die Reproduktionsanstrengungen für die Vergegenwärtigung von vergangenen Gegenwarten hochselektiv ausfallen und zwar hinsichtlich der Unterscheidung, ob man aus ihnen für die Zukunft lernen kann oder nicht. Vergangenheit ist dann nicht bloße zeitlinienverschobene Gegenwart, sondern Konstruktion einer Geschichte der Systeme (bzw. auf übergeordneter sozialer Ebene: der Gesellschaft) im Hinblick auf die Konstruktion (mittels Prognose/Entwurf/ Utopie) künftiger Systemgegenwarten (bzw. künftiger Gesellschaftsgegenwarten). 51

Siehe z.B. Arnold Gehlens einschlägige Essays zur gesellschaftlichen Kristallisation und zur Hypothese vom Ende der Geschichte wie auch die weitaus abgemilderte Retrospektive dieser Essays durch Gehlen selbst in Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, S. 285-363. Die von Gehlen und Francis Fukuyama diagnostizierte Irritationsarmut der Zukunft trägt insgeheim Züge einer geschichtsphilosophischen Bevorzugung des Unbefristeten und lässt sich als Wiederbelebung vorneuzeitlicher bzw. idealisitischer Geschichtsauffassungen beanstanden, die an haltbaren Formen interessiert sind.

52

Dux: Die Zeit in der Geschichte, S. 338. Norbert Elias‘ Studien verzeichnen für die stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften des Mittelalters eine »Ausbreitung des Zwangs zur Langsicht« (Elias: Über den Prozeß der Zivilisation II, S. 336). In diesen Kontext gehört auch Heideggers Initiative, von Husserls bewusstseinskonstituierter Zeit auf die fundamentalontologisch fundierte Zeit der leiblichen Existenz, der Zeit des Geworfenseins in die Welt, der Sorge, umzustellen: »Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft. Das Schon-sein-in… bekundet in sich die Gewesenheit. Das Sein-bei… wird ermöglicht im Gegenwärtigen. Hierbei verbietet es sich nach dem Gesagten von selbst, das ›Vor‹ im ›Vorweg‹ und das ›Schon‹ aus dem vulgären Zeitverständnis zu fassen.« (Heidegger: Sein und Zeit, S. 327) Die für die Vulgärzeit vorbehaltene Temporalunterscheidung vorher/nachher dient lediglich der Rubrizierung des Seienden in einem Nacheinander sukzessiver Zeitmomente.

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Erst dadurch ergeben sich Präferenzen zur Nutzung des Kontingenzspielraums, den die immer nur je aktuell bezeichnete Zukunft bereithält. Kontingenz schließt Notwendigkeit aus und erzeugt dadurch wiederum erst die Freiheit, sich so oder anders entscheiden zu können. Sie hat aber auch eine beunruhigende Komponente, insofern sie den Zwang, Entscheidungen treffen zu müssen, überhaupt erst in die Welt trägt. Je mehr Möglichkeiten einer Aktualisierung durch das System harren, desto größer fällt die Komplexität der Beziehungen aus, die ein System mit seinen Elementen realisieren kann. Luhmann spezifiziert seinen Komplexitätsbegriff in Soziale Systeme wie folgt: »Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann.«53 Da durch die Operationen des Systems nie alle Verbindungsmöglichkeiten zwischen den Elementen gleichzeitig aktualisiert werden können, muss mittels Selektion unterschieden werden, was im Moment angebracht ist, und was gar nicht oder mit einer nachfolgenden Operation – also zu einer anderen Zeit – realisiert werden kann. So muss der an seinem finanziellen Auskommen interessierte Schriftsteller sich Gedanken machen und sich entscheiden, welche Gattung er bedient, welches Verhältnis von Fiktivität und Faktizität er wagt, wie avantgardistisch oder traditionell sein Stilgebrauch ausfallen soll, wie intensiv autoreflexive Schleifen eingearbeitet werden sollen, welchem Verlag er sein Manuskript anvertraut und die Publikation überlässt, welche Interventionen des Lektors er hinnehmen kann und ob man ein noch unfertiges Kapitel nicht besser ganz rausnimmt statt es fertigzustellen, damit das Buch noch zur Buchmesse und damit in marketingspezifisch vielversprechender Nähe zu den Aufmerksamkeits- und Distributionsverstärkern des Literaturmarkts erscheinen und zirkulieren kann.54 Offenheit und Freiheit implizieren daher immer auch ein Gefährdungspotential: »Komplexität […] heißt Selektionszwang, Selektionszwang heißt Kontingenz, und Kontingenz heißt Risiko«55, weil erst im Nachhinein abschätzbar ist, welche Folgen die Realisierung herbeiführt und ob andere Entscheidungen hätten präferiert werden 53

Luhmann: Soziale Systeme, S. 46.

54

Dieser Bereich der Distribution von Kunst bzw. Literatur subsumiere ich nicht unter das System Kunst bzw. Literatur. Aufgrund der spezifischen Codierung und Programmierung der Distributionsoperationen ist eine Verortung im System Wirtschaft analytisch fruchtbringender und entspricht auch der codespezifischen Geschlossenheit des Funktionssystems Wirtschaft in der ausdifferenzierten Gesellschaft (vgl. Luhmann: Sinn der Kunst und Sinn des Marktes, S. 393-398; Hermsen: Die Kunst der Wirtschaft). Eine Skizze des historischen Verlaufs des differentiellen Konnexes von Wirtschaft und Kunst findet sich in Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 260-271.

55

Luhmann: Soziale Systeme, S. 47.

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sollen. Literatur kann dieses Problem des Selektionszwangs aufgreifen, sie kann in gedankenexperimentellem Zuschnitt Selektionsoptionen durchspielen und variieren, wie Goethe dies in den Wahlverwandtschaften für Kombinationsmöglichkeiten von Intimbeziehungen programmatisch exemplifiziert.56 Literatur kann aber auch den Selektionszwang suspendieren und Komplexität steigern, wie dies James Joyces monumentaler Ulysses vorführt.57 Andere Suspendierungsstrategien finden sich in Form von Re-Strukturierungen der Textelemente durch Neu-Kombination, in Form von Erweiterungen des Textvolumens durch materielle (und intermediale) Anreicherung und Neuordnung bzw. Neugewichtung von fremdreferentiellen oder autoreflexiven Verweisungsforcierungen, wie sie für Alexander Kluges Werkverständnis und Textproduktion im Allgemeinen und die Schlachtbeschreibung im Besonderen auffällig und höchst signifikant sind. Nicht-realisierbare Selektionen paradigmatischer und syntagmatischer Art fallen in seiner Werkkonzeption nicht einfach dauerhaft unter den Tisch, sodass, mit Benjamin gesprochen, das publizierte Selektionsergebnis nur im Moment als »Totenmaske der Konzeption«58 fungiert. Allerdings wird, was nicht realisiert werden konnte, nachgeholt, was die Möglichkeit pluraler Textmaterialitäten entfaltet; und die Redundanz bereits verwendeter Textelemente wird aufgebrochen durch syntagmatische Re-Kontextualisierungen. Kluge erweitert mit den Fassungen der Schlachtbeschreibung die Materialität des Textes, arrangiert Kapitel um, ergänzt, streicht und demonstriert die Kontingenz der Kontiguität der Elemente wie auch die Kontingenz ihrer schieren Anwesenheit. Da literarische Beobachtung von Welt immer auch eine Reduktion von Komplexität bedeutet, da Beobachtung nie alles sehen, folglich nie alles Text werden kann, kann eine nächste Fassung ein crossing vornehmen und eine andere Selektion realisieren. Diesem literarischen Modus der Inszenierung von Komplexitätssteigerung, der erreicht wird (nicht nur) durch Fassungsvarianzen, werde ich mich in meiner Analyse der Schlachtbeschreibung gesondert zuwenden.59 Mit dem Ereignisbegriff und dem Gegenwartskonzept sowie dem differenziellen Horizontcharakter von Vergangenheit und Zukunft sind einige Grundpfeiler einer operativen Theorie der Zeit beleuchtet worden und die Erkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zeit ist immer Zeit im System, und daher nicht primordiales Sein, das, an eine Struktur der Präsenz gebunden, zugleich die Temporalität des Partikularen ermöglicht und das transzendentale Ganze abzüglich der Zeitlichkeit des Partikularen ist. Zeit kommt – operativ interpretiert – die Funktion 56

Vgl. Brandstetter: Poetik der Kontingenz.

57

Vgl. z.B. Mackey: Chaos Theory and James Joyce’s Everyman.

58

Benjamin: Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen, S. 115.

59

Eine Verteilung der literarischen Werke zwischen den Polen ›komplexitätsreduktiv‹ und ›komplexitätsaffin‹ hat Franco Moretti für das Feld literarischer Kommunikation vorgeschlagen. Den Hinweis auf diese Arbeit erhielt ich durch Stäheli: Komplexität, S. 223.

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eines Beobachtungsschemas zu.60 Sie ist Zeit eines Beobachters, und eingeschränkt auf sinnprozessierende Systeme lässt sich präzisieren: Sie ist immer Zeit eines psychischen bzw. Zeit eines sozialen Systems vor dem Horizont anderer Systeme und ihrer Zeiten wie auch der Zeiten, die den Verweisungshorizont des Systems selbst bilden, und mit denen Systeme den auf Ihnen lastenden Druck permanenter Aktualität abfangen können, indem sie die Paradoxie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen über Zeitmodalitäten entfalten und verarbeiten.

S INNEMISSIONEN : R EKURSION EINFACH

ZWEIFACH

Grundlegend für die Operativität und die basale Zeitkonstitution von Systemen ist das Medium Sinn. Jedes sinnkonstituierende System ist selbstkonstitutiver Effekt eines Ereignisstroms, der für die Dauer der Autopoiesis die Potentialität der Reproduktion in Aktualität überführt. Während die Verfügbarkeit dieser Potentialität als unerschöpfliches Reservoir die Offenheit von Bewusstsein und Kommunikation sicherstellt, erlaubt die je neue Aktualisierung von Elementen die operative Schließung sinnprozessierender Systeme. Diese Doppelauslage lässt sich auch fassen im Rückgriff auf die Medium/Form-Differenz.61 Sinn ist dann die Selektionsform, mit der Bewusstsein und Kommunikation Sinn einerseits als Form aktualisieren und andererseits Sinn als Medium mitführen, als Medium, das als Horizont für weitere Sinnverweisungen verfügbar bleibt. Das entbindet den Sinnbegriff von einer Materialitätssemantik und weist ihm zudem den Status einer universellen Differenz zu.62 Da Sinn als »Simultanrepräsentation von Aktualität und Potentialität«63 bestimmt wird, ist in diesem Modell jegliches soziale und psychische Ereignis sinnhaft, da sich Kommunikation und Bewusstsein nur im Medium Sinn reproduzieren können. 60

Vgl. Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 108.

61

Mit dem operativen Medienbegriff lassen sich Medien als Transformationskomponenten beobachten, ohne notwendig Transferkonzepte für die Beobachtung von Medienanordnungen mitzuführen. Medien sind weder ›dinglich‹ im ontologischen Sinne noch sind sie unabhängig von Konstruktionsoperationen eines Systems beobachtbar. Das Medium steht stets zur Disposition, ist für Zugriffe zugänglich und prinzipiell widerstandlos. Es ist formlos, im Gegensatz zur Form. Medium und Form unterscheiden sich nicht notwendig in ihren Elementen. Sichergestellt sein muss lediglich, dass trotz gleicher Elemente Differenzlosigkeit vermieden wird. Solche Optionen der Formbildung manifestieren sich im literarischen Text, der damit mindestens als Form des Mediums Literatur fungiert, mithin »die beobachtbare Erscheinungsform der Literatur« (Jahraus: Literaturtheorie, S. 109) darstellt; Vgl. auch Jahraus: Literatur als Medium, S. 496.

62

Vgl. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 46-50.

63

Baraldi/Corsi/Esposito: GLU, S. 170.

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Sinn ist also zweifach funktional in die Operativität der Systeme eingebunden: Zunächst ist er singulärer Effekt einer Selektion, die irreversibles Ergebnis eines Operationsprozesses ist. Sinn ist somit das Erzeugnis einer jeden Beobachtung, die etwas markiert und damit eine Unterscheidung von markierter und unmarkierter Seite initiiert. Und umgekehrt ist jede identitätskonstitutive Beobachtung wiederum auf Sinnerzeugnisse angewiesen. Das bisher Skizzierte lässt sich aber auch ereignistemporal ausdrücken: Ist die Autopoiesis von Systemen auf die Irreversibilität der Ereignissukzession angewiesen, so fängt Sinn diese Irreversibilität auf, indem das durch Markierung Ausgeschlossene auf standby gehalten wird und durch crossing angesteuert werden kann. Dies eröffnet den Systemen erst die notwendige Reversibilität jeder Selektion und damit auch ihre Offenheit. Hebt man die Singularität des Sinns als je aktuellen Vollzug hervor und betont den temporalen Status der Gegenwart als Differenz von Vergangenheit und Zukunft, vor deren Horizonten sie als Ort des Verweises auf diese Horizonte erst erscheint, so lässt sich aus der Engführung dieser Konzeptionen die Re-Aktualisierbarkeit von Sinn formulieren und sogar ein Moment von Identität in Sinn behaupten. Sinn ist zwar ereignishaftes Aufblitzen einer Selektion – um aber adressierbar zu sein, muss er Erreichbarkeit signalisieren. Erinnert man erneut daran, dass Ereignisse – mithin auch Sinnvollzüge – in Relation zu vorgängigen Ereignissen und in konstitutiver Abhängigkeit von Folgeereignissen als reguläre Ereignisse beobachtbar sind, dann öffnet sich diese Bestimmung sinnhafter Vollzüge für notwendige Aggregationen und Typenbildungen, die Wiederzugänglichkeit signalisieren. Dadurch wird Wiederholbarkeit als relativ situationsunabhängige Verwendung sinnhafter Vollzüge pragmatisiert. Alles sinnhafte Prozessieren bindet im Akt seines Ereignens nicht nur lose gekoppelte Elemente zu rigider Form, sondern stellt auch mit seinem Erscheinen ein Residuum des Ereignens aus, das in mindestens temporal differentem Gebrauch als differenter Verwendungsvollzug aufgegriffen und eingeführt werden kann: Sinn ist in dem Maße, wie seine temporale Singularität aufblitzt, auch mit den Horizonten vergangener und künftiger Sinnprozession verwoben. Sinn ist zudem das Zitieren von Sinn, weil die Konstitution der Verkettung von sinnhaften Vollzügen erst Sinnhaftigkeit dadurch annimmt, dass Sinnpraxis selbstreferentiell auf ihre Praxis, ihren praxeologischen Operationsmodus verweist. Schließlich ergibt sich Sinn daher aus dem je aktuellen und singulären Vollzug disponibler Differenzmöglichkeit. Sinn ist mit anderen Worten immer eine Differenznahme, und Differenznahme wiederum heißt hier relationale Bezugnahme auf und konstitutive Annahme einer Aktualisierungsmarkierung. Insbesondere Sprache bietet sich als Medium von Appräsentation von Sinn an, allerdings prinzipiell ohne eingebaute Einschränkungsregeln – sieht man einmal von grammatischen und morphologischen Programmierungen ab.64 64

So sind die Elemente im Fall von langue als Medium und parole als Selektion und Verdichtung von Elementen des Mediums zu einer Form jeweils sprachlicher Art. Aus ei-

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Sprache ist zudem das Medium struktureller Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation65, bildet also das Bindeglied zweier Systemtypen, die auf Sinn als Universalmedium der Verarbeitung von Selbst- und Fremdreferenz angewiesen sind und daher ihre ›Welt‹ nur als Einheit der Differenz von Aktualität und Potentialität unterstellen können. Die Behauptung einer »selbstreferentiellen Formbindung allen sinnhaften Prozessierens«66 sperrt sich nicht gegen die Annahme prinzipiell universeller Rezipierbarkeit und Adressierbarkeit dessen, was in den Blickpunkt von Beobachtung geraten kann. Vielmehr müssen sich Beobachtungen an Differenzen von Aktualität und Möglichkeit orientieren, indem sie diese in Form bringen und dadurch unterscheidbar machen. Selbst der Vorwurf der Sinnlosigkeit setzt sinnhaftes Prozessieren voraus, denn die Unterscheidung sinnlos/sinnvoll bzw. sinnlos/sinnhaft kann als Selektion nur dadurch als beobachtende Operation sich ereignen, weil sich auch die Negation von Sinn als Aktualisierung des Positivwerts eines sinnhaften Vollzugs herausstellt. Dieser löst aus dem unbestimmbaren Horizont der Möglichkeiten der Beobachtung eine Differenz heraus und asymmetrisiert dabei zugleich – aufgrund der Syn-Konstitution des marked space mittels distinction und indication – die Differenz durch Aktualisieren einer Seite des Unterscheidungsduals (sinnvoll bzw. sinnlos). Was immer psychische und soziale Systeme im Bewusstsein bzw. in Kommunikation prozessieren, es vollzieht sich sinnhaft. Das bedeutet dann aber, dass sinnhafte Vollzüge wiederum nur deshalb als selegierende Vollzüge beobachtbar sind, weil an sie sinnhaft angeschlossen werden kann. Es ist also nicht sinnlos, zu behaupten, dass sinnlose Beobachtung sinnhaft ist und nicht »vorgestellt werden kann ohne Rekurs auf Sinn.«67 Sinnlosigkeit kann durchaus attestiert werden und zu sozialer oder psychischer Realität avancieren, d.h. zum Thema von Kommunikation oder zum Gegenstand psychischer Aufmerksamkeit werden. Aber diese Realität verdankt sich der operativen Unumgänglichkeit von Sinn. Wie auch immer und wann auch immer soziale und psychische Systeme operativ Vollzug be-

nem Reservoir an sprachlichen Elementen muss, um aus Sprache disparate Sätze zu formen, aus einem unendlichen Möglichkeitsbereich des Mediums Sprache ein endliches Aktualisierungsergebnis erwirkt werden, indem ein lose gekoppelter, nichtendlicher Medienvorrat je neu/erneut in eine beobachtbare Form gebracht wird (vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 301). 65

Strukturelle Kopplung bezeichnet die Einheit der Differenz von psychischen und sozialen Systemen. Besonders betont und literaturtheoretisch aufgeschlüsselt findet sich das Paradigma der strukturellen Kopplung bei Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«, S. 96 f. u. passim.

66

Luhmann: Soziale Systeme, S. 97.

67

Fuchs: Der Sinn der Beobachtung, S. 63.

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treiben, sie emittieren dabei Sinn und können Sinn folglich auch nicht transzendieren.68 Folgt man diesem Argument, dann ist damit »[a]llem Sinn […] temporalisierte Komplexität und Zwang zur laufenden Aktualitätsverlagerung aufgenötigt«69. Luhmann sieht darin einen Sinnzwang, und genauer: einen Sinnwechselzwang.70 Für sinnhaft prozessierende Systeme kommt dabei ein »Moment der Unruhe«71 ins Spiel, das sich in der Indeterminiertheit der Anschlussselektionen manifestiert, die auf Selektionen des Systems reagieren können. Auch für diese gilt letztlich, dass sie kontingente Aktualisierungen sind, die die Selektion wiederholen oder durch crossing beliebigen Sinn umleiten können. Da aber Informationen sich nicht wiederholen lassen, weil die Systemzustände als Effekte von Information sich nicht identisch generieren lassen, treten Ereignis und Information bei der Re-Aktualisierung von Sinnselektionen auseinander. Ein Unterschied macht, wenn man ihn wiederholt, nicht mehr denselben Unterschied. Mag man auch auf dieselbe Selektion mehrmals stoßen – man hat es entgegen aller Intuition nicht mit derselben Information zu tun, wohl aber mit wiederholtem Sinn. Zwischen singulärer Information und redundantem Sinn zu unterscheiden, verhindert zunächst den Rückfall in eine essentialistische Konzeption von Identität, die sich aus einer ontologischen Bestimmung von Information ergäbe. Zudem kann vermieden werden, die Ereignistemporalität der Operationen sinnprozessierender Systeme ausblenden zu müssen, um Wiederholung und temporale Differenz engführen zu können. Denn Identität, das wurde gezeigt, ist nicht der ein Operation vorgelagertes Datum, sondern Produkt einer momenthaften Identitätsbildung, der das Label der Dauerhaftigkeit und Stabilität stets neu aufgedrückt werden muss. Dies setzt allerdings Autopoiesis und diese wiederum Zeit voraus, was das System temporal je um eine Stelle vorschiebt: »Sobald Zeit generiert ist, […] ist keine identische Wiederholung mehr möglich. Finden aber Beobachtungen statt, so wird notwendiger Weise Zeit und Sinn produziert.«72 Aus dem bisher hier Erläuterten dürfte auch erhellen, dass der operative Sinnbegriff quer steht zu Sinnkonzepten, die eine zu enthüllende, z.B. im Text inkorporierte aber verborgene stabile bzw. ›objektive‹ Bedeutung veranschlagen, die es durch Teil/Ganzes-Spiralen, die Synopse von Text/Kontext-Beziehungen oder divinatorische Lektüren offenzulegen gälte. Mit dem systemtheoretischen Sinnbegriff bleibt eine Distanz gewahrt zu Vorstellungen, Sinn sei eine autonome Entität, die dem Text eingeschrieben sei und nur kundig dechiffriert werden müsse. Aber auch unter Vertretern systemtheoretisch inspirierter Literaturwissenschaft finden sich 68

Luhmann: Soziale Systeme, S. 95.

69

Ebd., S. 97.

70

Vgl. ebd., S. 98.

71

Ebd.

72

Stäheli: Sinnzusammenbrüche, S. 168.

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Desiderate ontologischer Sinn- bzw. Bedeutungsbegrifflichkeiten. So stützt sich der Versuch der Vertreter des ›Leidener Modells‹ darauf, Sinn als objektive Konstituente von Texten identifizieren zu können, indem eine singuläre Text-KontextRelation von Texten postuliert wird, aus der sich ein zeitpunktfixierter, stabiler Text-Sinn ableiten lasse. Der Annahme »historisch-ursprünglicher Textbedeutung als objektivierbarer Textbedeutung«73 kommt demzufolge aus einer »eigene[n] realen Kontextualität«74 jedes Textes Evidenz zu. Diese Evidenz speise sich aus der Einmaligkeit und Einzigartigkeit des negativen Selektionsverhältnisses zum »je nicht Gemeinten«, zu den Möglichkeiten also, die als Horizont den »umwelthaften Kontext«75 eines Textes bilden. Ausblenden muss eine solche Text/Kontextdifferentielle Neuformulierung der Hermeneutik allerdings erstens, dass sie gegen besseres Wissen für die Abgeschlossenheit des Kontextes plädieren muss – Kontexte können Texte jedoch nicht fixieren, da sie selbst kein »absolute[s] Verankerungszentrum«76 haben und daher flottieren –, und zweitens fällt unter den Tisch, dass Luhmanns Rückgriff auf Husserls Begriff des Horizonts gerade deshalb erfolgt und durchgehalten wird, weil die Unmöglichkeit der Bestimmung des Horizonts, seine absolute Sättigung wie die Überschreitung seiner Grenze, nicht zu leisten sind.77 Die Stabilität einer Textbedeutung lässt sich im Rahmen einer systemtheoretischen Sinnkonzeption daher nicht ableiten aus der (vermeintlichen) Stabilität eines simultan mit dem Text gegebenen Kontextes. Klaus-Michael Bogdal hat zutreffend konstatiert, dass mit der Abkehr von der epistemologisch fruchtbaren Einsicht in die Polykontexturalität der Beobachtungen letztlich die Re-Privilegierung einer Beobachterposition und damit »die Besetzung und Ausstattung einer diskursiven Macht«78 reklamiert werden, die literaturwissenschaftliche Praxis mit essentialistischer Legitimation versorgen wolle. Sinn zu verstehen, heißt in sozialen Systemen entsprechend nicht, emphatisch zu verstehen, weshalb psychische Intentionen über den Status einer Unterstellung seitens eines Kommunikationssystems nicht hinausgehen. Da Wiederholbarkeit – wie sich empirisch problemlos nachweisen lässt – nicht zu reiner Reproduktionszufälligkeit und permanentem sprachlichem Anschlusschaos führt, muss in die logische Konzeption eine zusätzliche Weiche eingebaut werden, mit der die Temporalisierung von Formbildungen formal überwunden werden kann, sodass als Residuum 73

Prangel: Zwischen Dekonstruktionismus und Konstruktivismus, S. 14.

74

Prangel: Kontexte – aber welche?, S. 165.

75

Ebd., S. 166.

76

Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 339.

77

Luhmann: Soziale Systeme, S. 114.

78

Bogdal: Von der Methode zur Theorie, S. 27. Eine dezidierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Kontextbegriff des Leidener Modells findet sich in Kramaschki: Das einmalige Aufleuchten der Literatur, S. 285-289.

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des Ereignens des Momenthaften auch geregelte Zusammenhänge mit vergangenen und künftigen Vollzügen unterstellt werden können. Dies alles ist aber nur zu erreichen unter Hinnahme der Defizite, die mit einem solchen phänomenologisch informierten und vorsprachlichen Sinnbegriff einhergehen.79 Zwar gelingt Luhmanns Versuch der Konzeption einer operativen Sinngebungsmatrix durchaus schlüssig, aber er läuft auf einen »monologisch konzipierten Sinnbegriff«80 hinaus, der nur das Gelingen kennt und dem eine eigentümliche Immunität gegen Sinnverlust, Sinnexzess, Unentscheidbarkeit und die unkontrollierbare Dissemination des Sinngeschehens zugemutet wird. Durch diese präsemiotische Immunisierung des Sinnbegriffs werden Alterität und Heterogenität des Sinns ebenso wie die Dauerskepsis sinnhafter Vollzüge einem Paradoxiemanagement überlassen, von dem Luhmann schlicht annimmt, dass es auch solche Krisenfälle in optimistischer Manier als willkommene Irritationen zur Selbststabilisierung heranziehen und dadurch Komplexität aufbauen kann, solange die Entparadoxierung in der Lage ist, die Handhabung von Paradoxien zu gewährleisten und wiederholbare und somit routinierte Selektionsselektionen zu generieren.81

Z AUDERNDER S INN Voraussetzung dafür, dass etwas als Wiederholung attribuiert werden kann, ist eine Minimalidentität, die Wiedererkennbarkeit sicherstellt. Derridas zeichentheoretisch argumentierende Präsenzdekonstruktion identifiziert als eine solche ›Minimalontologie‹ die formale Identität des Zeichens und genauer die formale Identität des Signifikanten. Diese formale Identität erst erlaubt Vor-Stellung, Ver-Gegenwärtigung und Re-Präsentation einer der Wahrnehmung zugänglichen Wiederholungsoperation.82 Luhmanns Konstitutionsmodell der wiederholten Minimalidentität weist Parallelen zu Derridas Begriff der Iterabilität auf, weicht aber auch in einem entscheidenden Punkt von dieser ab. In den zaghaften Reflexionen zum Kulturbegriff in Die Gesellschaft der Gesellschaft erläutert Luhmann den Doppeleffekt der sinngenerierenden Wiederholung, der auf den beiden identitätsgenerischen Komponenten ›Konfirmation‹ und ›Kondensierung‹ fußt: »Kondensierung soll dabei heißen, daß der jeweils benutzte Sinn durch Wiederbenutzung in verschiedenen Situationen einerseits derselbe bleibt (denn sonst läge keine Wiederbenutzung 79

Vgl. Ellrich: Konstitution des Sozialen, S. 26. Siehe zu den Husserl-Anleihen des Sinnbegriffs bei Luhmann auch Arnoldi: Sense Making as Communication, S. 28-34.

80

Ellrich: Konstitution des Sozialen, S. 39.

81

Vgl. Luhmann: Sthenographie und Euryalistik, S. 60.

82

Vgl. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 69.

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vor), sich aber andererseits konfirmiert und dabei mit Bedeutungen anreichert, die nicht mehr auf eine Formel gebracht werden können. Das legt die Vermutung nahe, daß der Verweisungsüberschuß von Sinn selbst ein Resultat der Kondensierung und Konfirmierung von Sinn ist und daß Kommunikation diejenige Operation ist, die sich damit ihr eigenes Medium schafft.«83

Die Doppelbewegung Kondensieren/Konfirmieren führt zur Morphogenese einer Semantik, in der sich Konzeptionen von Selektionen als Bestand verfügbar halten und als Generalisierungsvorrat der Garant dafür sind, dass Systeme nicht in atomistischer Zerstreuung in lauter Einzelereignisse zerfallen und verglühen. Der Prozessualität stellt die Semantik einen Fundus an Serialitäts- bzw. Permanenzinstrumentarien zur Verfügung, mit denen sich sinnhafte Vollzüge typisieren lassen. Einen solchen »höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn«84 nennt Luhmann Semantik. Diese ermöglicht die Parzellierung und Hierarchisierung des Möglichkeitsraums, sodass an Erwartungen positiv angeschlossen werden kann. Sie ist die selektive Sedimentierung sozialer Produktion von Sinn, der sich auszeichnet durch herausragende Akzeptabilität und beobachtbare Evidenzund Plausibilitätsvorteile. Luhmann beschreibt mit Semantik die Schaffung eines »Raums der Erwartbarkeit, der zugleich einer der Überraschbarkeit ist. Es geht also zugleich um die Schaffung von höherer Nicht-Beliebigkeit […] wie um das Offenhalten anderer Möglichkeiten (Bewahrung eines reichhaltigen, wenn auch strukturierten Verweisungsraums). Die Erwartbarkeit ist damit Voraussetzung und Ermöglichung von Überraschbarkeit, das heißt von bemerkenswerter Abweichung […].«85

Zwar ist in der Tat bei Luhmann Abweichung immer als Option des crossing in die Sinnlogik und die Semantik eingelassen, aber – wie Thomas Khurana zutreffend herausstellt – stets nur als störungsminimierte Emergenz und nie als prekäre Devianz vollständiger Unerwartbarkeit oder als disruptive Folgeoperation gedacht.86 Eine solche disruptive Devianz wird von Luhmann zwar als Einfall aus dem Horizont unbestimmter Komplexität reflektiert und somit nicht eliminiert, sondern nur abgeschattet; zwar bleibt auch die paradoxe Konstellation, der sich das Eingeschlossene, der marked space, die Innenseite der Form und die Aktualität der Sinndifferenz verdanken, auch im systemtheoretischen Konstitutionsmodell immanent. Doch diese drohende Instabilität, die Effekt der Immanenz durch immanent projizierte Exteriorität ist, denkt Luhmann durchweg als Stabilisator. Was ausgeschlossen, was 83

Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 409.

84

Luhmann: Gesellschaftliche Struktur, S. 19.

85

Khurana: Sinn und Gedächtnis, S. 53.

86

Vgl. ebd.

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unmarkiert, was die Außenseite ist, kann in einem nächsten Ereignis wiederum adressierbar sein und angesteuert werden, weil es in einem Horizont bestimmter Komplexität verortet wird. Alles, was es dann für diese Stabilisierung braucht, ist Zeit, die das System durch eine nächste Operation, also letztlich durch sein autopoietisch induziertes Fortbestehen, erzeugt und für ein crossing nutzen kann.87 Die stetige Unruhe wird somit temporalisiert, (scheinbar) entschärft und einer weiteren Operation überlassen, die sich entweder darum kümmern kann oder – wenn Indifferenz angebracht scheint – eben nicht.88 Die dezisionistische Kontur eines solchen Sinnfilters ist offensichtlich. Jedes Sinnereignis repräsentiert die Präferenz für eine Seite einer Unterscheidung. Die abgeschattete Seite läuft als Horizont mit, bleibt aber außen vor. Gleiches gilt aber auch für die Entscheidung selbst – die sich ja nicht beobachten kann – für ihre Unmöglichkeit, ihre Vagheit, ihre Widersprüchlichkeit. Auch das Zögern und Zaudern, d.h. die Zeit bis zum beobachtbaren Optieren für eine Seite ist theorietechnisch nicht auf der Seite der verworfenen Möglichkeit situiert, sondern bildet ein Protostadium, dass im Alternativmodell Position/Negation nicht berücksichtigt werden kann. Für die Entfaltung der Paradoxie des Ausgeschlossenen (Negation) als Konstitutum der Position – und damit als deren differentieller Charakter – ist systemtheoretisch eine Funktionsstelle vorgesehen, nicht aber für die ebenfalls latent mitgeführte Option, die Sinn-Entscheidung in der Schwebe zu halten und ein noch nicht zu signalisieren. Luhmann geht auf diesen Fall nur einmal dezidiert ein und spricht dabei von einem »kommunikationstechnischen Taktieren«89, das sich der zeitdimensionalen Differenz bedient, um Reflexion zu ermöglichen oder schlicht auszuflaggen. Luhmann wäre kein Systemtheoretiker, würde er das Taktieren nicht 87

Exakter müsste man formulieren, dass das crossing eben diese Operation als Ereignis ›ist‹ und nicht auf ihr als apriorischem Fundament aufsattelt.

88

Dieses Problem lasse sich – so Luhmanns Vorschlag – auf eine »Mehrheit von vernetzten Beobachtern verteilen« (Luhmann: Sthenographie, S. 132), die ihre Beobachtungsdefizite mutuell kompensieren und die konstitutiven Latenzen vorhergehender Beobachtungen dann in Augenschein nehmen und ggf. ansteuern können. Was hier als praxeologische Denkfigur im Einsatz ist – Vernetzung – muss allerdings als Metapher für ein Auffangnetz übersetzt werden, denn die Vernetzung sichert die phasenweise Abstimmung von Beobachtungen, die ereignistemporalisierte Differenzen darstellen. Zusätzlich ist in diesem Netz auch sichergestellt, dass die Polykontexturalität jeglicher Beobachtungspluralität nicht auf Zerstreuung hinausläuft, sondern sich Beobachtungsdifferenzen gegenseitig stabilisieren. D.h. dann aber, dass jede Beobachtung Unruhe triggert und zugleich die Unruhe einer vorherigen Beobachtung kuriert. Jede Paradoxie ist das Vademekum einer vorherigen. Und um eine abschließende Metapher anzufügen: Keine Beobachtung kann die Unruhe, die sie miterzeugt, an sich selbst erleben.

89

Fuchs/Luhmann: Geheimnis, Zeit, Ewigkeit, S. 102.

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wieder in einem Code abbilden. Luhmann und Fuchs schreiben hierzu: »Betrachtet man Reden und Schweigen als Letztcode der Kommunikation, so bildet das Reden den positiven, das Schweigen den negativen Wert dieses Codes. Das Reden vermittelt Anschlußfähigkeit, das Schweigen Reflexion.«90 Von der Warte der Kommunikation ist die Zurückhaltung eine Bestandsgefährdung, da die als Elementsukzession konditionierte Kommunikation damit einer drohenden Diskontinuität ausgesetzt wird. Soll Kommunikation kontinuieren, muss Zeit ins Spiel gebracht werden – ohne operative Ereignisse aber wird Zeit auf der operativen Ebene gar nicht erzeugt, weshalb der paradoxe Mechanismus der Ereignistemporalität für das soziale System ins Stocken gerät. Paradox ist dieser Mechanismus insofern, als für die Kontinuität von Kommunikation Diskontinuität der Operationen notwendig ist. Dadurch, dass die Operationen nur ereignishaft stattfinden, eröffnen sie erst die Möglichkeit für andere Operationen, anzuschließen und jeweils selbst für den Moment des Ereignisses das System in situ zu konstituieren. Dass aber die Negation des Anschlusses diesen erst positiv mitkonstituiert (als dessen unmarked space, der in der Form seine Einheit mit der Position erwirbt), muss in Kommunikation zur Vermeidung eines crossing der Seiten dissimuliert werden: »Das Positive hat alle Vorteile des Systems, und die Zeit bringt es an den Tag«91. Luhmann selbst nähert sich diesem Paradox über den Begriff und das Konzept des Geheimnisses, also eines Wissens, das gerade nicht auf der sachdimensionalen Seite eines kommunikativen Sinnprozesses aufscheint. Das Wissen verharrt im ›vorher‹ der Kommunikation und entzieht sich seinem Ereignen, das zugleich sein Auslöschen ist. Durch diesen Entzug erhöht das kommunikative Proto-Ereignis die Komplexität des Gleichzeitigen, so dass neben die zwei Seiten der Form eine seltsame Vorstufe tritt, die mit dem Einsatz von Schrift und der damit verbundenen Entkopplung von Mitteilung und Verstehen bedrohliche Maße annimmt. Und genau an dieser Stelle werden symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien in Anschlag gebracht, deren Funktion es ist, die Wahrscheinlichkeit des Zögerns und Zauderns in die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation zu transformieren.92 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind Korruptionsagenten, die zu Selektionen motivieren sollen. Als generalisierte Unterscheidungen schränken sie den Bereich des Möglichen auf das Erwartbare ein. Bei ihnen handelt es sich – wenn man bei Tropen bleiben will – um Entschärfungsspezialisten, die das Risiko einer subvertierenden Selektion bearbeiten. Dies erweckt den Anschein, es gebe nur wahrscheinliches und unwahrscheinliches Gelingen von Anschlüssen; und 90

Ebd., S. 105.

91

Ebd., S. 111.

92

Eine historische Analyse des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums ›Liebe‹ liefert Luhmann mit seiner Monografie Liebe als Passion.

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in der Tat dienen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien dem Anschub und der Regulierung des sequenziellen Fortschreitens von Kommunikation. Innerhalb einer konstativen Logik der Operativität ist der funktionale Platz symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien plausibel, solange daran festgehalten wird, dass allein die konstativen Effekte von Kondensierung und Konfirmation zu berücksichtigen sind. Anders sieht es aus, wenn die Möglichkeit performativer Gegengewichte ins Spiel gebracht wird. Denn Konfirmation sichert nicht nur die Verwendung von Selektionen zu einer anderen Zeit, in einem anderen Verweisungskontext. Wollte man sie exklusiv als Erweiterung der Möglichkeiten der Strukturierung von Welt verstehen, ergäbe sich eine Verengung der Einsichten aus der Explikation der Temporalisierungseffekte der operativen Differenzverzahnung. Denn Konfirmation verhandelt durch diese Einengung auf Stabilität lediglich die Kontrolle künftiger Ereignisse. Dass die Gegenrichtung, die Konfirmation einschlagen kann, immer mitgeführt bleibt und latent oder manifest wirkt, gerät dadurch leicht aus dem Blickfeld. Wird nur auf den disziplinierenden Effekt generalisierter Wiederverwendung abgehoben, dann erfährt die Seite der Redundanz eine prekäre Immunität. Konfirmation wäre in diesem Sinne nur eine Erweiterung durch Kondensierung routinierter Spielregeln auf bisher unbespieltes Terrain, aber sie wäre kein Bruch mit den Regeln und niemals auch ein Veto gegen die scheinbare Unumgänglichkeit der Regelhaftigkeit, der sie ihre identitätsstabilisierende Funktion verdankt. Es gibt gute Gründe, gegen eine solche Präferenz der reduktiven Effekte der Konfirmation Einwände zu formulieren. Ich belasse es bei der Formulierung nur eines einzigen aber hinreichenden Einwands: Wie ist analytisch und theoriebautechnisch die Kumulation von Sinn durch Konfirmation zu bewerten? Und wie kann der Konfirmation die Überführung des ›Selben‹ (kondensierter Sinn) in eine Verschiedenheit (Differenz der Sach- und Sozialdimension) gelingen, wo doch diese Überführung selbst bereits eine Operation ist, dadurch Zeit erzeugt und somit eine zeitdimensionale Sinndifferenz einbringt? Nur wenn man die ereignistemporale Differenz, die jede Operation gibt, nicht berücksichtigt, lässt sich Konfirmation exklusiv als Wahrscheinlichkeitsverstärker konzipieren. Ein derartiges Konzept fällt allerdings zurück in die Modelle prästabilisierten Sinns und mit ihm von Wiederholung. Dass sich dadurch operative Theorie der Zeit und prästabilisierter Sinnbegriff gegenseitig blockieren und zerbeulen, dürfte deutlich geworden sein. Der hier kritisch hinterfragte Begriff der Konfirmation erfindet eine temporaltranszendente Identität, die kondensierte Strukturen voraussetzen muss und dabei übergeht, dass die zeitmodal begründete Reversibilität von Identitätszuschreibungen und Strukturen immer auch eine Tür offen hält zur Blockade sinnhafter Anschlüsse. Sinndynamik ist nicht – wie Luhmanns Sinnbegriff nahelegt – eine Aneinanderreihung von historisch variablen aber je gegenwärtig stabilen schließenden Markierungen. Im Gegenteil: In Sinn sind Offenheit, Supplementarität und die Spur der Spur der Aktualisierung von Sinn bereits am Werk. Die Prästabilität, von der aus

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Konfirmation den Sprung in die Abweichung von kondensiertem Sinn wagen können soll, wird durch diese konfirmierende Operation selbst bereits temporal und räumlich verschoben und de-stabilisiert. Auf diese dekonstruktive Verschiebung wird Luhmann durch seine intensive Auseinandersetzung mit Derridas Un-Begriff différance aufmerksam, negiert aber – bei aller Affinität für die Theoriepotentiale der Dekonstruktion – die Unumgänglichkeit der différance. So denkt Luhmann Dekonstruktion in Organisation und Entscheidung etwa als Tendenz der Gesellschaft, Semantik zu dekonstruieren, was zumindest suggeriert, die Effekte der Temporalisation und Verräumlichung jeder Operation ließen sich abstellen, indem man »Sicherheitsnetze«93 zur Verhinderung oder Entmutigung der »Deblockierung«94 von Sinn durch ›drohende‹ Dekonstruktion aufspannte.95 Diese Blockadegarantie gilt es zu dekonstruieren. Als unterstellte Option wiederum, mit der ein Beobachter Stabilität als transzendenten Zustand behauptet, ist sie indes beobachtbar. Die durch Konfirmation ermöglichte Reversibilität erzeugt nur eine dynamische Stabilität auf Ereignislänge, mit der sinnprozessierende Systeme die stetige Differenz und die Differenzen-von-Differenz erzeugende Ereignissukzession qua eigener Autopoiesis so handhaben, dass prozessuale Selbstreferenz und Reflexion sich an Routinen und Erwartungen bzw. Erwartungserwartungen orientieren können, ohne dass für diese die Temporalisierungseffekte ihrer Konstitution exkludierbar wären. Oder mit einem Bild: Temporaltranszendente Identität und Stabilität sind Interpretationen eines Beobachters, der die Existenzsiegel, die ihm als Evidenz für ontologische Fest-Stellungen dienen sollen, je neu kondensieren und damit unweigerlich auch konfirmieren muss. Das gilt ebenso für die Entscheidung, welche Kondensierung geboten ist bzw. welche Kondensierung eine Präferenzetikettierung erfährt. Und das gilt erst recht für vage, widersprüchliche oder schlicht ausbleibende Entscheidungen, die das Zögern der Markierung nicht überwinden können. Für Kommunikation ist das Ungesagte, das sich nicht über die Schwelle des Zögerns winden kann, schlicht das Unsichtbare. Zu diesem Unsichtbaren gehört aber aufgrund der operativen Nachträglichkeit der Konstitution jeder Operation – da 93

Luhmann: Organisation und Entscheidung, S. 145.

94

Ebd., S. 20.

95

Derrida geht dem Phantasma einer Suspendierung der Iterabilität nach und kann zeigen, dass bereits in der Markierung durch Unterscheidung selbst unvermeidbar transformierende Kräfte zutage treten, die die Möglichkeit der Wiederholung negieren: »The break intervenes from the moment that there is a mark, at once [aussi sec]. And it is not negative, but rather the positive condition of the emergence of the mark. It is iterability itself, that which is remarkable in the mark, passing between the re- of the repeated and the re- of the repeating, traversing and transforming repetition.” (Derrida: Limited Inc., S. 53)

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Gegenwart immer das Beobachtungsergebnis der Beobachtung einer vergangenen Gegenwart ist – auch die Operation der Entscheidung. Diese entzieht sich der Beobachtung und muss erst von einer weiteren Operation markiert werden, soll sie denn für Beobachtung verfügbar gemacht werden. Daher ist die Entscheidung selbst das ausgeschlossene tertium, das auf der Ebene des Entscheidens nicht mitverhandelt werden kann, ohne Paradoxien zu entfalten, die das System durch Blockade des relativ einfachen, auf Zweiwertigkeit basierenden Entscheidungsmechanismus dem fade out aussetzen würde.96 Die Entscheidung ist das Dritte jeder Beobachtung, das ebenso wie der unmarked space unbestimmt bleibt und nur durch Beobachtung dieser Beobachtung Bestimmung erfährt. Was auf der Ebene der Anwendung des Codes auf sich selbst als »Oszillieren und als Unentscheidbarkeit der beiden CodeSeiten«97 beschreibbar ist, ist prinzipiell für jede Unentschiedenheit dann relevant, wenn diese nicht durch Invisibilisierung oder durch Umgehungsroutinen abgefangen oder zumindest gemildert wird. Unentschiedenheit ist also das zentrale Problem einer auf Anschlussoperationen angewiesenen Systematizität. Es ist unverkennbar, dass in die operative Theorie der Zeit auf der Ebene der sinnprozessierenden Selektivität Züge einer kurierenden Struktur-Onto-Logik eingelassen sind, die verblüffend nahe an präsenzmetaphysischen Kategorien argumentieren. Damit fällt Luhmann hinter die dekonstruktiven Potentiale der operativen Theorie der Zeit zurück, weil er Konfirmation vornehmlich als stabilisierende Dynamik denkt, die sich immer auch für Wiederholungen bewähren kann. Wie aber bereits gezeigt wurde, kommen Bewusstsein und Kommunikation nicht ohne operationsrelative Zeit aus, mehr noch: sie sind diese Zeit. Und da »die operative Gegenwart eines Systems […] stets in Form zeitloser, d.h. verschwindender Ereignisse auf[tritt]«98, ist die Wiederholung nur zu haben als Wiederholung einer drift, die sich aus der Aktualität des Wechsels der temporalisierten Elemente ergibt, mit denen Ereignisse als Ereignen anderer Ereignisse emergieren. Dass soziale Systeme und psychische Systeme sich selbst identitäre Wiederholung bescheinigen können, ist daher der Paradoxie der Selbstbeobachtung geschuldet, die Realität interpretativ konstruiert und von der blinden Differentialität operativer Zeit unbeeindruckt Identität und Differenz, Redundanz und Varietät, Wechsel und Konstanz, Dynamik und Stabilität im je neuen Ereignis beobachten kann. Mit anderen Worten: Systeme sind ereignisrelativ, wie auch Zeit systemrelativ ist. Nur dadurch, dass der Beobachter im Ereignis der Beobachtung unbeobachtet bleibt, kann er sich als außerhalb des differentiellen Spiels imaginieren. Die Insistenz, mit der die operative Differenz in 96

Zweiwertige Leitstrukturen haben zudem den Vorteil, dass sie »die schnellste Möglichkeit zum Aufbau von Komplexität und zugleich die einfachste Form der Ordnung von Gedächtnisleistungen« (Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 563) bieten.

97

Stäheli: Sinnzusammenbrüche, S. 50.

98

Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 192.

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ihrer Differentialität wiederkehrt, sucht die Konfirmations- und Konformitätsbeglaubigungen mit jedem Ereignis in einer Weise heim, die die Ereignishaftigkeit von Identität herausstellt und damit Verankerung von Identität in der Vergangenheit wie auch ihre Verlängerung in eine Zukunft unterminiert. Nichts ist an sich Identität und nichts gewinnt durch die Summierung der Differenzen zu einem ›Ganzen‹ an sich Identität – auch nicht durch Kondensierung und Konfirmation. Konfirmation – so die Zusammenfassung – funktioniert operativ als Fraktal, als iterative Variation, die nur deshalb Form werden kann, weil sie operativ Differenz konzediert und diese Differenz sich um einen Attraktor herum organisieren lässt, ohne dass dies auf die Komplettierung einer Einheit hinausliefe. Es ist daher notwendig, dort, wo von der operativen Ebene auf die Beobachterebene herabgestiegen wird, den ereignissensitiven Sinnbegriff mit einem dekonstruktiv informierten Sinnbegriff zu supplementieren. Erst dadurch gewinnt man einen zeittheoretischen Werkzeugkasten, mit dem zusätzlich zu Strategien der Stabilisierung von Sinn qua Ereignissequenzialisierung auch das durch den Sinnstrom der Beobachtungsanschlüsse verdeckte Insistieren der Intervalle, der Zwischenzeiten und Zwischenräume, der Proto-Ereignisse, der vertikalen und horizontalen Nischen und Lücken, in denen das residiert, was nicht von der Präsenz her gedacht werden kann, das der »Autorität der Anwesenheit«99 spottet und das sich einer dialektischen Auflösung entzieht: der Nicht-Sinn. Ohne die Möglichkeit eines Nicht-Sinns hüpfen Systeme von Sinn zu Sinn, jenseits der Gefahr ins Nichts zu fallen. Eine Analysepräferenz für diese Sequenzialität schärft zwar den Blick für stabile Unterscheidungen, suspendiert aber zugleich die Potentialität instabilen, unscharfen, nicht adressierbaren, zögerlichen Sinns, dem aus dieser Negativität, die nicht schlicht die andere Seite der Positivität ist, Souveränität zukommt, weil sie über die Symmetrie von Aktualität und Potentialität hinausgeht und das Rauschen bezeichnet, das von den Rändern her und aus dem Hintergrund das Prozessieren von Sinn bedroht. Eine solche dekonstruktive Korrektur ermöglicht, das Oszillieren zwischen der »Beobachtung der Irritation« und der »Irritation der Beobachtung«100 in Augenschein zu nehmen – und die Unterscheidung Aktualität/Potentialität bleibt davor bewahrt, vom systemtheoretischen Sinnbegriff zur differenzlosen Differenz (v)erklärt zu werden.

99

Derrida: Die différance, S. 38.

100 Stäheli: Sinnzusammenbrüche, S. 61 f.

Textuelle Polyeventualität

T EXTUELLE E REIGNISREFERENZEN Um die im vorigen Kapitel dekonstruktiv angereicherte operative Theorie der Zeit für eine partiell systemtheoretisch informierte Literaturwissenschaft zuzurichten, ist eine texttheoretische Weichenstellung unabdingbar. In diesem Kapitel wird es daher darum gehen, zu klären, ob Texte unter den Begriff und das Theorem der Kommunikation subsumierbar oder als vorgelagerte bzw. unterfütternde ›Objekte‹ zu denken sind. Kann Texten Ereignishaftigkeit nur im Zuge ihres verbreitungsmedialen Einschlusses in Kommunikation bzw. als Informationsereignis zugesprochen werden oder insistieren im Sinne einer operativen Charakteristik des Textes textintern bereits Strukturmomente (im systemtheoretisch-temporalen Sinne) ereignishaft? Und wie korreliert die operative Zeitlichkeit des Textes mit dem Theorem der Textualität? Die Beantwortung dieser Fragen wird in diesem Kontext jenseits der Möglichkeiten ansetzen, Texte als Sedimentierungen von Kommunikationsereignissen, als manifestierte Thematisierung von Zeit und Ereignis als histoire oder als rezeptionsroutinierte fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung zu beobachten. Den Ausgangspunkt für die folgenden Erörterungen bildet die beinahe triviale Annahme, dass Texte als Formierungen im Medium Schrift die Voraussetzung für schriftbasierte Kommunikation darstellen. Die Realisierung von Kommunikation beobachtet in solchen Kommunikationsformen auf der Mitteilungsseite Elemente, deren Verdichtung zu einer graphemischen Konstellation zur Konkretisation der Unterscheidung von Information und Mitteilung dienlich ist. Mit anderen Worten: Texten wird auf der Ebene der synthetischen Trias von Information, Mitteilung und rekursivem Anschlussverstehen der Platz auf der Position der Mitteilung zugewiesen. Texte sind daher nicht per se Kommunikation, weil ihr Vorliegen als Artefakt an sich erst einer anschließenden Geste bedarf, um Kommunikation als selbstreferentiellen und operativ geschlossenen ereignishaften Zusammenhang von Informa-

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tion, Mitteilung und Verstehen zu initiieren. Mithin sind Texte solitär nicht in der Lage, den selbstreferentiellen Prozess der Kommunikation zu vervollständigen.1 Kommunikation stellt in diesem Modell eine auf Ereignisfolgen verpflichtete autopoietische Drift dar, die empirisch als Sukzessionszusammenhang je ereignistemporalisierter Operationen stattfindet. Für Kommunikation gilt dann, dass sie sich in basaler Selbstreferenz aus ihren eigenen Elementen in retentionaler Anschlussaktualisierung und protentionaler Anschlussoptionalität reproduziert. Demgegenüber werden Texte in der Regel konzipiert als Granulate sprachlicher Formen im Medium Schrift, die graphemische bzw. graphische Elemente zur Aktualisierung von Formoptionen in ein Gefüge setzen. Pointiert formuliert lässt sich sagen, dass der Unterscheidung Kommunikation/Text die Unterscheidung kommunikative Drift/fixiertes Kommunikat vorgeschaltet ist. Als schriftbasiertes Verbreitungsmedium erlauben Texte zwar Kommunikation über die zeitlichen und räumlichen Einschränkungen unmittelbarer Interaktion hinweg – insofern sind sie ›Zeitmaschinen‹. Da Texte aber aus der personalen Interaktion herausgelöste Vollzüge sind, sind sie zugleich dem erhöhten Risiko des Nicht-Verstehens und der Ablehnung ausgeliefert. Für die Bearbeitung dieses Risikos rastet funktional das Theorem der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ein, während bei Luhmann die operativ-temporale Kluft zwischen Text und Kommunikation bemerkenswert marginalisiert bleibt. Diese Kluft gilt es zunächst zu erkunden und zu kartieren. Bedenkt man, dass die Drift der Kommunikation von Ereigniszerfall zu Ereigniszerfall sicherstellt, dass Kommunikation flottiert, so erscheinen Texte als ›Objektivierungen‹, die die Sukzessivität von Kommunikation zu blockieren drohen. Auch wenn Texte ersichtlich Kommunikation durch ihr verbreitungsmediales Potential ubiquitär und zeitpunkt-unabhängig ermöglichen, so sind sie bei Luhmann doch auch gedacht als Veto gegen die maschinenhafte Autopoiesis kommunikativer Anschlüsse.2 Der Text – so Luhmann – »hält Kommunikation relativ zeitbeständig fest, ent-ereignet sie […].«3 Texte, so ließe sich paraphrasieren, sind kommunikative Irregularitäten der phasischen Kommunikationstrias und somit Ereignisanomalien, die sich auch als Ereigniszerdehnung beschreiben ließen. Was in der Trias amalgamiert vorliegt, wird gedacht als Parzellierung des Ereignisses selbst. Je nach Perspektive kommen damit Zwischenräume in den Blick, die sich auftun zwischen 1 2

Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 198. So plausibel Luhmann auch die medialen Aspekte der Dominanzverschiebung von mündlicher zu schriftlicher Kommunikation historisch nachzeichnet und mit der Evolution komplexer Gesellschaftsstrukturen korreliert, so sehr verwundert doch die Tendenz, mündliche Kommunikation als Idealfall einer gelingenden Kommunikation zu romantisieren – ein weiteres Einfallstor für eine dekonstruktive, grammatologische Kritik.

3

Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 152.

T EXTUELLE P OLYEVENTUALITÄT

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Information und Mitteilung bzw. Mitteilung und Verstehen. Der unitäre Raum der Kommunikation muss im Fall schriftlicher Kommunikation parzelliert werden durch Zwischenphasen. Einerseits rückt dies allerdings die Kommunikationstrias wieder nah heran an die Sender-Empfänger-Metaphorik und weg von der beobachtungstheoretischen Amalgamierung der Trias in einem Ereignis. Andererseits erstaunt doch, dass Luhmann textbasierte Kommunikation als ›ent-ereignenden‹ Sonderfall von Kommunikation etikettiert – ganz zu schweigen vom terminologischen Provisorium »Ent-ereignen«, das wenig aufschlussreich scheint.4 Denn eine solche Modellierung der Differenz von Kommunikation und Text separiert die ›Dinglichkeit‹ des Textes von der Ereignishaftigkeit der Kommunikation. Daraus ergibt sich eine Überbewertung der Informationsseite der Kommunikationstrias, sodass Texte als neutrale Quasi-Träger von ›Inhalten‹ angesehen werden. Und auch die Vorstellung von einer in die Kommunikation eingelagerten ›Botschaft‹ wird mit dieser Überbewertung aufgerufen.5 Dass Text und Ereignis dichotomisch gegenübergestellt werden, sichert Kommunikation zwar ihren Ereignisstatus, redet aber einer ›Verdinglichung‹ des Textes das Wort. D.h.: Als Opponent der ereignishaften Reihung von Kommunikationen läuft der Textbegriff Gefahr, auf einen Objektstatus reduziert zu werden und quasi ontologische Gestalt anzunehmen. Die basale Konzeptualisierung dieser Arbeit macht allerdings einen anders zugeschnittenen Text/Ereignis-Konnex notwendig und in der Folge auch stark, der sukzessive zweigleisig angesteuert werden soll. Zunächst werde ich die Kategorie Text als kommunikative Kategorie beibehalten und im Raster der operativen Ereignistheorie verorten. Ziel ist dabei die Skizzierung der Parameter, mit denen eine konstruktivistische Beobachtung von literarischen Texten möglich wird, die diese als ephemere Ereignisse versteht. In einem 4

Im Zusammenhang mit Kunstwerken ist auch von ›Kompaktkommunikation‹ die Rede. Kompaktkommunikation ist eine solche, die vielfältige Anschlüsse provoziert. Auf diese terminologische ›Krücke‹ werde ich nicht weiter eingehen. Es ist bezeichnend, dass dieser Begriff selbst in der großen Auseinandersetzung mit dem System Kunst in der Kunst der Gesellschaft sämtlich konturlos bleibt (vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 63). Auch die Äquivalenz »Kompaktsinn« gehört in diesen Distinktionskontext (vgl. Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 232, wo man gar auf die irritierende »Fast-Gleichzeitigkeit von Mitteilung und Verstehen« stößt).

5

Naheliegend ist vielmehr, wie Stanitzek und Fuchs gezeigt haben, Schriftkommunikation als paradigmatischen Fall von Kommunikation zu betrachten – oder mit weniger Emphase: als deren »Normalfall«; so auch die Quintessenz der Argumentation bei Stanitzek: Was ist Kommunikation?, S. 36-49 (das Zitat auf Seite 36); Fuchs: Moderne Kommunikation, S. 97; ähnlich auch Jahraus: Literatur als Medium, S. 443-451, mit der Ergänzung, Literatur als paradigmatischen Fall schriftlicher Kommunikation zu denken (ebd., S. 459-462).

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zweiten Schritt versuche ich dann eine operative Entdinglichung des Textbegriffs mittels der Medium/Form-Unterscheidung, und zwar gekoppelt an das Theorem der ereignisdifferentiellen Nachträglichkeit des Gegenwärtigen und das Theorem der Gleichzeitigkeit von marked und unmarked space.

T EXTEREIGNIS

UND

E REIGNISTEXTUR

Eine erste Annäherung an die Möglichkeit einer »Ereignishaftigkeit des Textes« findet sich in Ansätzen der ›Leidener Schule‹, unter anderem in Henk de Bergs Entwurf einer Hermeneutik des Kontextes, der – in Opposition zum Text – einen Differenzwert abwerfen soll, der metrisierbar sei und das Sinnkapital eines literarischen Textes historisch bezifferbar mache.6 Die Gründe für die Inkompatibilität eines solchen ›Textverstehens‹ mit der Operativität von Sinn habe ich bereits in den Kapiteln zum Sinnbegriff skizziert. Anders als de Berg argumentiert Oliver Sill, wenn er für den literarischen Text annimmt, er sei »als Ganzes ein von Ereignisgegenwart gekennzeichneter kommunikativer Akt, der seine Einheit dadurch gewinnt, daß er die in einem zeitlichen Nacheinander von Sätzen organisierten bedeutungstragenden Elemente in eine Simultanpräsenz, in eine virtuelle Gleichzeitigkeit versetzt.«7 Anstatt den kontextuellen Horizont eines Textes identifizieren zu wollen, konzentriert sich Sill auf die Simultaneität der Formgestaltung, die als literarischer Text beobachtbar ist. Hier kommt offensichtlich ein strukturalistisch ausgerichteter Textbegriff zum Tragen, der auf die Formel rekurriert: »Textualität ist Simultaneität«8, und somit alle Unterschiede, die bei der Beobachtung von literarischen Texten einen Unterschied machen, im Text als ›Ganzem‹ situiert sieht. Dass sich damit der Sinnhorizont literarischer Texte intern und explizit erfassen lasse – wenn auch nur momentan –, begründet Sill vor allem mit Wolfgang Isers Figur der ›Offenheit der Textorganisation‹ in Verbindung mit textintentionalen Aspekten und einem DreiEbenen-Modell der Zuschreibungsinstanzen im literarischen Text. Sill unterscheidet darin zwischen den Figuren, der Erzählinstanz und dem impliziten Autor als »hierarchiehöchste[r] Beobachtungsinstanz«9. Aus der Pluralität der Beobachtungsebenen schließt Sill auf eine Multiperspektivität, die er als Polykontexturalität ausweist, weil es ihm primär um die Rezeptionsdimension literarischer Kommunikation geht.10 6

Vgl. de Berg: Die Ereignishaftigkeit des Textes sowie de Berg/Prangel: Noch einmal: Systemtheoretisches Textverstehen.

7

Sill: Literatur als Beobachtung zweiter Ordnung, S. 82 f.

8

Baßler: Kontext, S. 356.

9

Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 172.

10

Vgl. ebd., S. 173 f.

T EXTUELLE P OLYEVENTUALITÄT

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An Sill anschließend wendet sich Nassehi in seiner Synopse der temporalen Struktur literarischer Texte und soziologischer Protokolltexte ebenfalls gegen die »Annahme einer in einer Ereignisgegenwart schon bestehenden Identität des Textes«11. Den Einstieg in die Erörterung der temporalen Differentialität literarischer Texte wählt Nassehi dann aber über die Normativität einer idealen Rezeptionshaltung, die determiniert, dass die »Linearität der Schrift« – als Abbild des »Nacheinanders kommunikativer Akte« – die Beobachtung von Texten an das »Nacheinander der jeweiligen Textteile (Worte, Sätze, Abschnitte, Kapitel etc.)« binde.12 Damit fällt Nassehi allerdings auf die in Lessings Laokoon behauptete exklusive Sukzessivität der Wahrnehmungsakte im Falle der Rezeption literarischer Texte zurück. Denn der (Nach-)Vollzug der Serialität der Elemente im Text soll durch Akte ›nachempfunden‹ werden, die der primordialen ›Textordnung‹ gerecht werden. Das Lesen der Strukturelemente des Textes soll so die Zusammensetzung des Ganzen dadurch gewährleisten, dass sie sich an der Folge der Elemente wie an einer Navigationsanleitung orientiert, um am Text beobachtendes Verstehen sicherzustellen. Anders formuliert: Dem Text wird in husserlscher Manier ein ›Gedankenstrom‹ unterstellt und mit einem textinternen Zeichenstrom verschränkt, der nur über Wiederholung dieser strömenden Linearität reaktiviert werden könne. Dagegen sind Einwände angebracht: Die Linearität der Lektüre ist kein spezifisch für die Rezeption literarischer Texte exklusives Vollzugsverhalten, sondern das Substrat einer kulturellen Fiktion, die sich auf die Autorität der Linearität, der Konsistenz, der lückenlosen Verkettung der operativen Akte beruft.13 In diesem Zusammenhang erstaunt zudem, dass gerade Literatur, die mit der Linearität und Konformität von Lektüre ihr Spiel treibt, und deren Vertextungstrategien und –programme oftmals gegen linearisierte »schriftliche Verkehrsformen«14 laufen, auf eine solche Gleichförmigkeit der Graphem-, Satz- oder Kapitelrezeption geeicht werden soll. Es ist ersichtlich, dass damit der literarische Text der basalen Logik eines notwendigen Laufs der Dinge unterworfen wird. Die Behauptung, literarische Texte seien lineare Medien, übersieht gerade die Evolution und Ausdifferenzierung literarischer Formbildungen, die ihr Innovationspotential in der Moderne intensiv aus der devianten Referenz auf die lineare Schriftkultur und den korrelierenden diskursiven Topos der Linearität bezogen haben.15 Die Sprünge, Brüche, Rückwendungen, Wiederholungen und Verzögerungen der Lektüre sind kein marginalisierbarer Son11 12

Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 59. Ebd., S. 54. Wo wäre die atomistische Grenze hinsichtlich der Bestimmung der »Textteile« zu ziehen? Auf der Morphemebene? Darunter?

13

Vgl. Schön: Lineares und nicht-Lineares Lesen, S. 80 f. mit Referenz auf McLuhan.

14

Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 172.

15

Vgl. z.B. Neymeyr: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«, S. 209; davor auch schon Japp: Literatur und Modernität, S. 322 f.

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derfall. Vielmehr ist es angemessen, Literaturrezeption als »eine räumliche Durchquerung« zu denken, »die nicht linear verläuft, sondern zurückspringt, Schleifen macht oder vom Weg abkommt«16 bzw. Umwege wagt. Auch die Unterscheidung multipler Funktionen der Schrift – etwa ornamentale Schrift-Kunst, die sekundäre Bezeichnungsfunktion des Textarrangements in Figurengedichten, wo »Schrift in nichtsprachliche Bedeutungssysteme desertier[t]«17 – wird bei Nassehi ignoriert. Zum Ereignisstatus des literarischen Textes schreibt Nassehi: »Da aber die einzelnen Elemente autopoietischer Systeme als temporalisierte Elemente, also Ereignisse erscheinen, […] werden (literarische) Texte […] als ganze als kommunikative Akte verstanden, denen keine eigene Zeitlichkeit, sondern lediglich eine Ereignisgegenwart eignet.«18 Der literarische Text erhält das Label ›Ereignisgegenwart‹, allerdings schrumpft er damit auf ein digitales Phänomen zusammen, das sein Dasein als »letztlich temporal ausdehnungslose[s] Ereignis«19 fristet. Eine solche Digitalisierung des literarischen Textes mag dem Ereignisbegriff der Kommunikationstheorie Genüge leisten, er ist aber nicht geeignet, die spezifische ereignistemporale Differentialität von literarischen Texten hinreichend zu beschreiben. Was also mit einer solchen Digitalisierung des Textbegriffs nicht auszumachen ist, ist die operative Eigenkomplexität und die Möglichkeit, diskontinuierliche Differentialität am literarischen Text selbst zu beobachten.20 Einen operativ kompatiblen Ereignis-Text-Konnex formuliert hingegen Oliver Jahraus. Sein Entwurf, soviel sei vorweggeschickt, nimmt für Texte zwischen Ereignisverkettungen oszillierende Temporalisierungsebenen an und appliziert diese operative Oszillation auf einen systemischen Literaturbegriff. Dieser Entwurf soll hier abschließend als Vorlage für die in dieser Arbeit maßgebliche Ereigniskonzeption literarischer Texte vorgestellt und an entscheidender Stelle konzeptuell erweitert bzw. zugeschnitten werden. Ziel ist dabei nicht, einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit des offerierten Konzeptes nachzukommen oder normative Setzungen zu annoncieren. Das Anliegen des hier skizzierten Konzepts ist wesentlich bescheidener: Es geht mir nicht darum, das Verhältnis von Textbegriff und Ereignisbegriff in letzter Instanz zu klären, sondern darum, ein Referenzraster zu präparieren, mit dem die literarischen Formierungen der Kontingenzeffekte, der Beobachtungskomplexität und der Paradoxien operativer Zeit einer spezifischen Lektüre zugeführt 16

Frost: Whiteout, S. 109.

17

Glück: Sekundäre Funktionen der Schrift, S. 102.

18

Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 52.

19

Ebd., S. 58.

20

Nassehi sieht diese Differentialität letztlich wieder in der Sphäre der Textintention am Werk, weshalb sein Ansatz zu kurz greift: »Für den fiktionalen Text gilt dann die Frage, wie aus dem Zusammenspiel früher und später angeordneter Textteile eine Textintention zu erschließen bzw. zu beobachten ist.« (Ebd., S. 64 f.)

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werden können. Und dies soll geleistet werden nicht nur für die fremdreferentiell aktualisierte Beobachtung zweiter Ordnung, mit der Literatur die Zeitmodelle und Strategien der Entparadoxierung von Zeit transformierend in den Blick nimmt, die in ihrer (sozialen) Umwelt routiniert, konventionalisiert vorliegen oder als störungsanfällig, überlagernd oder überkommen semantisiert sind. Sondern auch die symbolsysteminterne Operativität und Ereignisstruktur(ation)21 soll scharf gestellt und markiert werden können. Entsprechend bedarf es einer Modellierung der Verschränkung von Text und Ereignis, die für Literatur nicht erst auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung ansetzt. Eine solche Verschränkung muss zwei Aspekte beachten: Zum einen geht es um die Ausarbeitung von Beobachtungsgrößen, mit denen Ereignisse auf der Ebene der von Literatur beobachteten Umweltkommunikationen adressierbar werden. Zu denken ist dabei etwa an die Re-Markierung kommunikativer Ereignisautomatismen und -störungen oder daran, dass mittels literarisch geführtem Kontingenznachweis die Herausstellung des Ereignisses als Effekt eines Zum-Ereignis-Werdens erfahrbar wird. Zum anderen muss darauf geachtet werden, dass die dekonstruktive Operativität der Ereignishaftigkeit des Textes stets mitbedacht wird, um den differentiellen Konnex von Text und Kommunikation disponibel zu halten. Doch zurück zu Jahraus: Im Raum steht zunächst die Feststellung, dass Systeme temporalisiert sind, insofern sie Ereignissukzession im Moment ihres Ereignens sind. Während in mündlicher Kommunikation Mitteilung und Verstehen phasenidentisch ablaufen, entschränkt Schriftkommunikation diese Phase und terminiert damit den Verstehenskontext in eine zukünftige Zeit, die von den Interaktionspartnern nicht unmittelbar überschaut werden kann und dadurch Texte mit gesonderten Rezeptionskoordinationen aufgeladen sind. Diese Aufladung ist allerdings kein optionales Moment, sondern ist die Folge der Diskontinuität der kontinuierlichen Ereignissukzession, wie sie für die Unmittelbarkeit mündlicher Kommunikationsinteraktion wesentlich ist. Jahraus schlägt daher vor, von einer Internalisierung der Differentialität von Kommunikation im Fall von Texten auszugehen, da deren kommunikationskonstitutive Erfolgschancen davon abhängen, welche Kompensationsmechanismen für die Dehnung bzw. Entkopplung der Ereignissequenzialität im Text mitgeführt werden.22 Dazu muss, so Jahraus, »die Ereigniskette, in der auch ein schriftlicher Text qua Kommunikation steht, in den Text – diesmal qua Schriftlichkeit – selbst hineinkopiert« sein, und »so wie der Text diese phasische Zeitge21

Mit Strukturationen sind in Anlehnung an Roland Barthes die unabschließbaren Bewegungen der Signifikationseffekte im Gewebe des Textes gemeint. Auf die Ereignishaftigkeit des Textes bezogen, ergibt sich die Vorstellung eines gegenseitigen Kreuzens, Unterwanderns und Auflösens der Ereignisrelationen des Textes durch die Abdrift der Ereignisse.

22

Vgl. Jahraus: Literatur als Medium, S. 445 f.

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bundenheit überwinden kann, so kann er Ereignisketten in sich selbst enthalten, mithin selbst als Kommunikation […] firmieren«23; der Textcharakter ergibt sich daher aus der Doppelkonstellation, in der Texte Mitteilungsdesiderat sich ereignender Kommunikation und Inkorporationen bzw. ›interner Vollzug‹ von Kommunikation sind.24 Mit andern Worten: Texte oszillieren zwischen interner Kommunikation, die sie selbst prozessieren, und externer Kommunikation, für die sie als mediales Substrat dienen. Die Aufladung mit Kommunikation – mithin die Internalisierung von Ereignisketten – drückt sich darin aus, dass Texte eine Eigenkomplexität mit sich führen, um die Diskontinuität des differentiellen Kommunikationsverlaufs, die sie bewirken, und damit verbundene Folgerisiken, zu minimieren. Eine solche Doppelung der Ereignisketten trägt dann auch dem Umstand Rechnung, dass ein Text per se nicht ›externe‹ Kommunikation ist, sondern erst solche anstößt, wenn er zum Anlass eines operativen Anschlusses genutzt wird.25 Bezüglich der Eigenkomplexität textspezifischer Temporalität schlägt Jahraus vor, in heuristischer Geste eine Ereignisdifferentialität anzunehmen, die sich daraus ergibt, dass textintern »so etwas wie Ereignisse aufblitzen, weil andere Ereignisse zwischen Information und Mitteilung unterscheiden und wiederum andere Ereignisse die Unterscheidung als bestimmten Anschluß dieser Ereignisse an die ersten ausweisen.«26 Das Argument lässt sich auch anders entfalten: Wird für den einzelnen Kommunikationsvollzug veranschlagt, dass er niemals isoliertes Ereignis in einem Hier und Jetzt, sondern Ereignis in einer Sukzessionsreihe ist, die ihren eigenen Anfang, ihr eigenes Ende und ihr operatives Ereignen nicht selbst beobachten kann, und werden zudem Texte als intern kommunizierende, weil zwischen Information und Mitteilung oszillierende Vollzüge verstanden, dann gilt, dass auch Texte keine digitalen Isolate sind. Somit lassen sich für Texte ebenfalls kommunikative Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit veranschlagen. Konzipiert man Texte zudem als irreduzible Ereignisfülle, als Sphäre kleinstteiliger Kontaktflächen für das Ansetzen 23

Ebd., S. 447.

24

Ebd.

25

In diesem Fall sind beiderlei Anschlüsse gemeint: Anschlüsse durch weitere literarische Texte und kommunikative Anschlüsse über Literatur außerhalb literarischer Kommunikation. Dominik Schreibers Hinweis, das Lesen eines Textes sei bereits eine Operation im literarischen System, ist daher ungenau (vgl. Schreiber: Literarische Kommunikation). Zwar bedarf interne Ereignissukzession einer Aktualisierung durch einen Beobachter; die Autopoiesis des literarischen Systems qua Anschlussoperation setzt allerdings einen weiteren literarischen Text voraus – sonst würde schon die bloße Lektüre eines Textes das System kontinuieren und der unmögliche Fall eintreten, dass das Bewusstsein auf Kommunikation durchgreift bzw. in Kommunikation mittels der eigenen Operationen agiert.

26

Jahraus: Literatur als Medium, S. 449.

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von Anschlüssen, so wird ersichtlich, dass auch weit unterhalb der morphologischen Ebene und auch jenseits der Vorstellungen linearer Lektürenormierungen bereits Ereignishaftigkeit beobachtet werden kann. Das hier favorisierte Modell ist folglich in der Lage, prinzipiell Beobachtungen literarischer Textdynamik auf der Mikro- und Makroebene engzuführen, und zwar auf der Basis eines differentiellen Merkmals. Ereignisdynamik ist Ereignisfülle insofern, als dass eine Differenz, eine Unterscheidung bereits die Fülle aktivieren kann, hinunter bis auf die Ebene der Linie auf dem Papiergrund oder gar die Schwärze der Schrift. Aber auch für einen Roman ist Ereignisfülle charakteristisch. Gemeint ist damit nicht der schiere Umfang der histoire. Gemeint ist vielmehr, dass mit jeder weiteren Unterscheidung, die am literarischen Text markiert wird – entgegen aller nachträglichen Rationalisierung und Serialisierung der Verstehensvollzüge unter eine Logik – die Möglichkeit einer Einheit dieser Unterscheidungen immer deutlicher verfällt. Jede Unterscheidung ist ein Hammerschlag gegen die Projektion einer Einheit des Textes auf Dauer, denn jeder beobachtende Anschluss an den Text kann ihn immer nur kontingent selektiv beobachten und die notwendig partikularisierenden Beobachtungen lassen sich nicht so akkumulieren, dass ein ›Ganzes‹ der Ereignishaftigkeit des Textes in den Blick kommt.27 Vielmehr potenziert jede rezeptive Stillstellung dieses Ganze als Horizont unendlicher Anschlussoptionen, und die Generalisierbarkeit dieser Anschlüsse über den Moment des Anschlusses hinaus ist nicht determiniert. Jahraus Korrelation von Text- und Ereignisbegriff besteht in der Duplizierung der Ereignisketten, wobei eine ›externe Ereigniskette‹ schriftlicher Kommunikationsvollzüge und eine ›interne Ereigniskette‹ sich überlagern und korrelieren.28 Daraus leitet Jahraus im nächsten Schritt eine Klassifikation textueller Formbildungen ab, die mir handhabbar erscheint, weil sie zudem Kriterien zur (standpunktabhängigen) Bestimmung literarischer Texte an die Hand gibt. Jahraus denkt dabei an eine zwischen zwei »typologischen Extremformen« gelagerte Verbindlichkeitsmetrik: »Auf der einen Seite ließen sich Texte situieren, bei denen eine hohe Motivation vorliegt, so anzuschließen, wie es intern durch die kommunikative Eigenkomplexität präfiguriert ist, auf der anderen Seite solche, die eben die eigene Anschlußoption nicht über sich selbst hinaus privilegieren oder prämieren. Die schriftlichen Texte, die wir Literatur nennen, würden eindeutig zum zweiten Extremtypus hin tendieren. Als Literatur könnte man jene schriftlichen Texte auffassen, in denen so zwischen Informationen und Mitteilungen differenziert wird, daß die Anschlußoptionen ein Höchstmaß an verbindlicher Unverbindlichkeit garantieren. Literatur sind solche schriftlichen Texte, die das operative Displacement, das Kommunikation an sich bietet, systematisch durch die medienbedingte Diskontinuität im differentiellen kommu27

Vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 76: der literarische Text als Kunstwerk ist »weder eine Summe noch ein Aggregat seiner Einzelmerkmale«.

28

Vgl. Jahraus: Literatur als Medium, S. 449-451.

70 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT nikativen Prozeß nutzen. […] Radikalisiert man hingegen diese Vorstellung, wird deutlich, daß die Frage, ob man an eine textuelle Anschlußoption verbindlich oder unverbindlich anschließt, erst durch den Anschluß selbst entschieden wird.«29

Literarische Texte sind demzufolge in einem skalaren Feld unterschiedlicher Verbindlichkeitserwartungen und -entscheidungen situierte Ereignisfüllen. Da sie intern Kommunikation vollziehen, potenzieren sie das operative Displacement von Kommunikation, indem sie die Anschlussoszillation zwischen Information und Mitteilung duplizieren. Ich gehe allerdings mit Jahraus nicht so weit, für literarische Texte ein »Höchstmaß« an verbindlicher Unverbindlichkeit anzunehmen, das zudem etwas »garantieren« könnte, und halte auch die Rede von (zwei) »Seiten«, auf die sich Texte schlagen (lassen), für eine digitalisierende Verkürzung der komplexen Möglichkeiten, an (literarische) Texte anzuschließen. Zudem bleiben Skalenzonen für die unverbindliche Verbindlichkeit und unverbindliche Unverbindlichkeit ausgeklammert. Stattdessen möchte ich das Modell der graduellen Situierbarkeit literarischer Texte in einem Feld unterschiedlich stabilisierter Beobachtungen stark machen. Die Zuschreibung von Literarizität wäre somit immer Effekt einer Beobachtung, die einen Text auf dieser (Un-)Verbindlichkeitsskala verschiebend einzeichnet und dadurch auf dieser Skala zum Gleiten bringt. Dass sich trotz dieses Gleitens stabilisierende Beobachtungen behaupten lassen, kann dann zurückgeführt werden auf identitätsaffine ›Verähnlichungen‹30, die literarische Texte lediglich als ein auf Dauer gestelltes und damit identisches Ereignis vorstellen, das durch paraphrasierende, zitierende und (de- und re-)kontextualisierende Rückgriffe auf die syntaktischen, semantischen und Gestaltaspekte exponiert werden muss. In diesem Sinne greifen solche Beobachtungen – und wie sollte man sich davon gänzlich befreien? – auf die rhetorischen Signaturen vom ›Wiederaufgreifen‹, ›Fortführen‹ oder ›Ergänzen‹ früherer Beobachtungen ›desselben‹ Textereignisses zurück. Die Auseinandersetzung mit dem Text ist dabei immer auch die Auseinandersetzung mit vorherigen Auseinandersetzungen mit dem Text, und im Falle literarischer Texte lässt sich ergänzen: mit der Verbindlichkeitsoszillation bzw. der Entgrenzung und Entdifferenzierung identitärer Verbindlichkeiten. Das Paradigma oszillierender Verbindlichkeit soll hier im Vorgriff auf die Analyse der Schlachtbeschreibung Alexander Kluges und in gleitender Beobachtungsverschiebung exemplifiziert werden – und zwar durch eine Re-Markierung der Aufführung der Schlachtbeschreibung unter der Kategorie »Quellen« in der Bibliographie zum Nationalsozialismus.31 Das historiografische Standardwerk markiert die 29

Ebd., S. 451 f.

30

Vgl. Fuchs: Moderne Kommunikation, S. 158.

31

Vgl. Ruck: Bibliographie zum Nationalsozialismus, S. 1079.

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Schlachtbeschreibung gleich doppelt: als Faktenreservoir (Quellen) und als »Ein Roman«. Es ist in diesem Fall nicht unbedeutend, dass die Bibliographie zum Nationalsozialismus diese paratextuelle Selbstbeschreibung des Textes (»Ein Roman«) bei der ersten Aufnahme fingiert, denn sie ist so erst in einer späteren Ausgabe der Schlachtbeschreibung hinzugekommen, allerdings nur als »Roman« und ohne den unbestimmten Artikel.32 Beobachtet wird der Text somit schon in seiner Oszillation, mithin als nicht-literarischer Text und als Element eines Systems Literatur. Primär indexiert ihn die Bibliographie allerdings als Quellensammlung mit dokumentarischem Stellenwert. Die Schlachtbeschreibung wird nicht ausschließlich im Kontext literarischer Kommunikation verortet und erfährt dadurch eine paradoxe DeFiktionalisierung. Die Bibliographie ist gewissermaßen blind dafür, dass die im Text beobachtbaren narratologischen oder (de-)konstruktivistischen Anschlussoptionen die von ihr in Anspruch genommenen und privilegierten realistisch-faktualistischen Anschlüsse unterlaufen. Und indem eine solche Beobachtung die Schlachtbeschreibung als wissenschaftliche Publikation und somit als kommunikatives Letztelement im System der Wissenschaft kennzeichnet, ist sie auch blind für die potentielle Beobachtung abweichender Erscheinungsformen von ›Geschichtsdarstellung‹ in literarischer Kommunikation, und auch gerade dann, wenn diese irritierende Beobachtungen von Geschichtskonstruktionen leistet. Geht man nun im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung an diese Beobachtungen heran, so lässt sich vorsichtig und vielleicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit vermuten, dass das Fehlen einer narrativen Instanz, die Implementierung faktualer Dokumente bzw. nicht-literaturspezifischer Sprachverwendung sowie die Tatsache, dass die frühen Fassungen noch ohne instruktives Vorwort daher kamen, motiviert haben mögen, eine literarische Prosamontage auch als Text mit geschichtswissenschaftlichem Publikationsstatus, als Form von Forschung zu unterscheiden und zu bezeichnen. Das Fehlen einer (monoperspektivischen) Erzählinstanz mag ebenso dazu motiviert haben, die Schlachtbeschreibung, trotz ihrer sekundären Markierung (»Ein Roman«), als Medium historiografischer Erkenntnis (und in diesem Sinne nicht selbst als historisches literarisches Dokument) mit dem Dual wahr/unwahr zu codieren. In diesem Sinne könnten auch die intensiv exponierte nationalsozialistisch-politische und militärisch-professionelle Semantik wie auch der ideologiedurchdrungene Jargon der ebenfalls repräsentierten massenmedialen und Alltagssemantik im ›Dritten Reich‹ faktualistische Anschlüsse auf der Seite der (historisch als wahr codierten) Fremdreferenz ›Stalingrad als historisches Ereignis‹ ermutigt haben. ›Ermutigen‹ darf hier, darauf muss bestanden werden, nicht als intentionaler Akt eines Autors oder als Textintention verstanden werden, sondern als Epiphänomen eines anschließenden Vollzugs, der die Selektionsentschei32

Vgl. den Hinweis auf dieses Supplement in Siebers: Was zwei Augen nicht sehen können, S. 171.

72 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

dungen eines vorgängigen Vollzugs re-präsentiert. Diese Re-Präsentation leistet indes keine Wiederholung eines vorherigen Vollzugs, sondern sucht diesen beobachtend zu unterstreichen und damit zu intensivieren, während er diesen zugleich operativ durchstreicht und ent-stellt, um sich supplementär an seine Stelle zu setzen.33 Während von Seiten der Geschichtswissenschaft – durch Markierung der oszillierenden Unverbindlichkeit – der Schlachtbeschreibung Geschichtsklitterung vorgeworfen wird, bemängelt die Literaturwissenschaft – durch Markierung der oszillierenden Verbindlichkeit – die geringe Entfaltung der Potentiale der Autonomie des Systems Literatur.34 Beobachtungstheoretisch bestätigt sich darin die Grundannahme, dass die Frage, wo auf der Verbindlichkeitsskala ein Text situiert ist, erst durch einen skalierenden Anschluss für die Länge eines Beobachtungsereignisses beantwortet wird und diese Antwort mit jedem weiteren Ereignis selbst in Oszillation gerät. Versuchen Anschlüsse Homogenität zu generieren, so schieben sie stets die Heterogenität des Anschließens weiter (mit). Die auch schon in der Bibliographie markierte Beobachtungspluralität lässt sich zwar teilweise dadurch bearbeiten, dass z.B. literaturwissenschaftliche Beobachtungen die geschichtswissenschaftlichen Beobachter darauf aufmerksam machen, dass diese schlicht verbindliche Unverbindlichkeitssignale übersehen haben. Aber man wird diese ›korrekturbedürftigen‹ Beobachtungen mitführen müssen (sonst könnte man sie gar nicht bezeichnen), und damit beim Versuch, scharf eine strikt digitale Unterscheidung verbindlich/unverbindlich zu etablieren, die Unschärfe dieser Unterscheidungsmatrix und die Kontingenz (das Auch-anders-möglich-sein) der unterscheidenden Markierung mitartikulieren. Jeder Anschluss ist (operativ) und bleibt (beobachtungsperspektivisch) prekär. Und das ist besonders auffällig dann, wenn es nahe liegt, am (literarischen) Text selbst ein distinktes Oszillieren zwischen ›Fakt‹ und Fiktion, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz oder zwischen Stabilität und Dynamik zu beobachten.35 Eine wesentliche Konturierung ist aber noch zu leisten, und zwar im Hinblick auf die von Jahraus starkgemachte Denkfigur der ›Ereigniskette‹. Festzuhalten ist im Hinblick auf den Terminus der Kette, dass die Ereignisketten nicht als serielle 33

Vgl. zur Denkfigur der intensivierenden Re-Präsentation Nancy: Am Grund der Bilder, S. 65.

34 35

Siehe hierzu die Nachweise bei Fischer: Geschichtsmontagen, S. 147-155. So ließen sich auch die Extremformen einer den literarischen Status nivellierenden maximalen Fremdreferenz und Kommunikationskonformität wie auch die maximale EntAutomatisierung von Kommunikation durch Verschachtelung von Ereignissen über dasselbe Theorem beschreiben. Mit letzterer gerät auch die Kontingenz der Relationierungsprogramme der Textereignisse in den Blick, wie sie z.B. die textuelle Strukturästhetik der optischen Poesie in Raymond Federmans Alles oder Nichts eindrücklich erfahrbar macht.

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oder lineare Sukzessionen zu denken sind, sondern als Verkettungen in alle Richtungen. Bemüht man die Netz-Metapher, dann ließen sich Texte auch als Netze relationierter, aber auch sich ausschließender, sinngenerierender und sinnaufhebender Unterscheidungen beschreiben. Der Text kann, wie auch immer er beobachtet wird, keinen der Anschlüsse instruieren oder gar determinieren, wie auch keine Beobachtung Folgebeobachtungen determinieren kann. In dieser Hinsicht ist der Text nicht nur diskontinuierte externe Kommunikation, sondern zugleich intern gebrochener Kommunikationsvollzug. Weitet man den Blick zudem auf die Remarkierungseffekte einer literarischen Beobachtung zweiter Ordnung aus, dann wird deutlich, dass durch den Transfer von Umweltsemantiken und Unterscheidungen der Umwelt in den literarischen Textraum bereits die transferierten semantischen Logiken und Unterscheidungslogiken mit den textinternen Ereignisoszillationen überlagert und bruchhaft, porös werden.36 Die Verschachtelung von Beobachtungen hat dabei höchstens Effekte auf die Wahrscheinlichkeit der relativen Stabilisierungen von Beobachtungsroutinen, ohne jedoch die Dynamik der Ereignisfülle still stellen zu können. Dies entwickelt wiederum dort eine besonders auffällige Beobachtungsdynamik, wo literarische Texte ausschließlich als auf Dauer gestellte Ereignisse beobachtet werden, denen man eine ›Botschaft‹ entlocken zu können glaubt. Es liegt auf der Hand, dass Versuche, den Überschuss an Ereignisdynamik durch Anschlussunterscheidungen zu reduzieren – sei es durch Lektüre, Kommentierung, Interpretation, historische Kontextualisierung, dekonstruktives Spiel im Zeichenspiel – wiederum Ereignischarakter haben. Und als Anschlussereignis nutzt jede Beobachtung literarischer Texte einerseits den literarischen Text als Medium der eigenen Ereignisgenese. Andererseits aber blendet jedes Anschlussereignis zugleich die Irreduzibilität der Ereignisdynamik des Textes auf. Was hierbei stattfindet, so ließe sich formlulieren, ist das »Doppelspiel von Entblößung und Verbergung«37 der Ereignisfülle.38 Deshalb kann 36

Ähnlich, aber aus einem hier nicht verfolgten Funktionsrigorismus der Kunst für das Politische heraus, argumentiert auch Rancière: »Kunst stellt Fiktionen oder Dissens her, indem sie jene Formen für sich beansprucht, die den gemeinsamen sinnlichen Raum aufteilen und die die Bezüge zwischen dem Aktiven und Passiven, dem Einzelnen und Gemeinsamen, Schein und Wirklichkeit, also die Zeit-Räume […] der gelesenen Seite, neu anordnen.« (Rancière: Die Politik der Kunst, S. 89 f.)

37 38

Ellrich: Hat das Verstehen einen Haken?, S. 96. Die Arbitrarität der Lektüre wird erst durch Beobachtungsserien zumindest zeitweise ausblendbar. Durch sie kommt es zu einer zeitrelativen Begrenzung der Ereignisdynamik durch eine dynamische Gegenwart des Verstehens. Der Kampf um Deutungshoheiten wäre das Insistieren auf der Identität des Textes und der Stabilität der Sinnidentifikation, während die zeitlose Insistenz der textinternen Dynamik mit jeder Inanspruchnahme des Textes aufs Neue emergiert.

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es auch zu keiner störungsfreien Reziprozität der Überlagerung beider Ereignisketten durch einen angestrebten identischen Sinn über das einzelne Ereignis der Textbeobachtung hinaus kommen. Denn dieses Beobachten des Textes müsste versuchen, sich dauerhaft blind zu stellen für das, was für jede Beobachtung als sinnhaftes Ereignis konstitutiv ist: das Ausblenden der Ereignisfülle durch Stillstellen der Ereignisdynamik, die nie gleichzeitig mit dem differentiellen Sinn beobachtet werden kann: »Der entbundene Sinn bleibt unvollständig.«39 Diese Unvollständigkeit ist die unausweichliche Rückseite allen Anschließens an den Text. Insofern korreliert die Ereignisfülle mit der paradoxen Vorstellung eines sinnfreien Raums, der im unmarked space der Leerseite verbleibt, aber eben durch einen re-entry als Nichtmarkiertes »die Rolle einer bezeichneten Leerstelle«40 annehmen kann.

E REIGNISHAFTE M ATERIALITÄT /M EDIALITÄT Der vorangegangene Abschnitt diente der Explikation der operativen Ereignishaftigkeit literarischer Texte jenseits ihrer medialen Einbindung in Kommunikation. Dabei habe ich entlang der Unterscheidung Text als Medium der Kommunikation/Text als kommunikative Ereignisfülle argumentiert. Literarische Texte – so die Konklusion – sind belastbar als Medium für literarische Kommunikation und als intern zwischen Information und Mitteilung oszillierendes Reservoir irreduzibler Eventualität. Diese Doppelung des Textbegriffs auf operativer Ebene steht quer zu Vorstellungen vom Text als eindimensionales, kompaktes Ereignis. Erst die Internalisierung einer oszillierenden Ereignissukzession im Text erlaubt es, diesen operativ als Einfaltung von Ereignisfülle zu beobachten. Nach der Darlegung der operativen Ereignishaftigkeit von Texten bleibt noch zu klären, inwiefern die konstatierte Ereignisfülle kompatibel ist mit zwei wesentlichen Komponenten des Textbegriffs: der Ebene der Textmaterialität und der Ebene der Textsignifikanz bzw. -semantizität. Eine solche Evaluation ist notwendig, um den bisher methodisch induzierten, relativ hohen Abstraktionsgrad herabzusetzen und die Beobachtung der Materialität und Signifikanz von Texten – ihre syntaktischen, semantischen und diskursiven Verweis(spiel)bedingungen – zu implementieren. Diese Komponenten interessieren an diesem Punkt insofern, als beobachtet werden muss, ob die materielle Dimension und die Zeichenstruktur von Texten Gegengewichte zur oszillierenden Ereignisfülle des Textes bilden oder ob beide Komponenten in das vorgestellte operative Modell überführt werden können, und welche Umschreibungen dazu erforderlich sind. Zentral geht es dabei um die Frage, wie sich theorietechnisch vermeiden lässt, dass über Textmaterialität und Zeichen39

Ebd., S. 97.

40

Ebd., S. 104.

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dimensionalität der ereignissensitive Textbegriff wieder in Richtung einer DingOntologie und in die Konzeptsphären identischen Sinns zurückgebogen wird. Den Einstieg zu einer möglichen Antwort wähle ich dazu über (post-)strukturalistische und dekonstruktive Textmodelle. Sie liefern bereits etablierte Dekuvrierungen der idealisierten Dinghaftigkeit des Textes und des Telos einer Homogenität der semiotischen Textdimension. Gegen das Konzept des Textes als geschlossene, selbstgenügsame Einheit zirkuliert seit den (post-)strukturalistischen Einwänden von Julia Kristeva und Roland Barthes das Gegenkonzept des Textes als »vieldimensionale[r] Raum« und »Gewebe von Zitaten«, in denen sich »Schreibweisen […] vereinigen und bekämpfen«41 und den Text dadurch in Oszillation versetzen. Den Text denkt Barthes als vielschichtiges Ensemble von interagierenden Spuren vorgängiger Texte, als Komposition aus reaktualisierten Zitaten kultureller Textproduktion. Das Ziel dieser Abwendung vom selbstsuffizienten Text und die Hinwendung zur textuellen Textur als Gewebe liegt in der semiotischen Entgrenzung des einzelnen Textes und seiner Öffnung hin zu den historischen Bedingungen seiner Möglichkeit, die selbst wiederum textueller Natur sind und texturierte semiotische Kompositionen von Zitaten exponieren. Dem Exponat Text wird eine alle Texte übergreifende Textualität gegenübergestellt, die allerdings keine disparate Größe repräsentiert, sondern sich paradoxerweise aus dem Inneren des Einzeltextes selbst, aus seiner Textilität entfalten lässt. Problematisch ist an diesem Konzept nicht das Überstrapazieren der Textilitätsmetaphorik, mit der die Behauptung der Multidimensionalität des textuellen Gefüges unterfüttert wird. Dieser Metaphorik kann man ihre tropische Raffinesse und ihre denkfiguralen Effekte nicht absprechen. Kritisch beleuchtet werden soll hier stattdessen die Raummetaphorik, mit der Barthes das Konkurrenzmodell zum Text als werkstrukturelle Ganzheit entwirft. Relevant ist hierbei, dass dieser Raum von Stabilisierungsroutinen durchzogen gedacht wird, die in erster Linie dazu dienen, die Temporalität der Textkonstitution auszublenden. Barthes’ Räumlichkeitsmodell nimmt für den Text eine homogene Sphäre an, in der die diachrone Differenz der einzelnen Vorgängertexte in die Gleichzeitigkeit ihrer räumlichen Lateralität überführt wird. Bezeichnend ist, dass dieser Raum zunächst als homogener »Container« einer »isotropen Ordnung«42 gedacht wird, die die temporale Differenz zwischen Textgewebe und historischem Zitat im Text unterkomplex berücksichtigt, denn sie gibt sich zufrieden mit der Vorstellung einer räumlichen Sammelstelle für alle Texte – für Barthes selbst ist diese Sammelstelle das kulturelle Archiv. Dieses Bild vom Archiv als Ordnungsfigur orientiert sich überwiegend am anvisierten Modell der intertextuellen Verschränkung aller Texte im Rahmen einer Kritik am Topos des 41

Barthes: Der Tod des Autors, S. 190.

42

Engelke: Die Räumlichkeit von Texten, S. 124.

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sinndeterminierenden Autorsubjekts und gewichtet zugunsten der räumlichen Dimension und zu Ungunsten der zeitlichen Dimension. Das Schreiben und das Lesen von Texten als spielerische Vollzüge werden primär räumlich situiert, insofern Räumlichkeit die Verfügbarkeit der ›Spielsphäre‹ des Textes und die Inanspruchnahme der archivierten vergangenen ›Spielzüge‹ erlauben soll, die (sich) in Texten sedimentieren. Das Narrativ vom textuellen Überbau muss lediglich berücksichtigen, dass die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Simultanpräsenz der historischen intertextuellen Spuren das Mit- und Weiterschreiben am Archiv gewährleistet. Barthes geht es um die intertextuelle Verschachtelung bzw. Anreicherung des einzelnen Textes, um diesem das polysemantische Potential zu attestieren, das er durch seine Aufladung mit Zitaten erfahren muss. Der Text ist somit ein mehrdimensionales Zeichengefüge, das seine Semantizität aus dem spezifischen Neuarrangement vorgängiger Zeichengefüge generiert. Soviel zu Barthes Öffnung des Textbegriffs und zu dessen Status als Versinnbildlichung der Autonomie der Semiose gegenüber den Restriktionen des traditionellen Werkbegriffs. Entscheidend ist, dass diese Absetzung vom klassischen Textund Werkbegriff die Simultanpräsenz aller Textelemente im Gerüst eines fixierten Strukturgebildes postuliert. Zwar wird die Materialität des Textes nicht zur Determinante der Semantizität des Textes, aber die Materialität erfüllt die Funktion eines geschlossenen Trägers dieser Semantizität. Die ontologischen Probleme, die sich ein solcher materieller Textbegriff einhandelt, der Texte als semantische Verweisungszusammenhänge versteht, liegen – wie Roland Reuß gezeigt hat – in der Etablierung eines Textverständnisses, das zwar für die Textsemiose »kein Zentrum und keine Abschließung« proklamieren will, dagegen aber den Text als gegebenes, d.h. beobachtungstranszendentes »strukturiertes Objekt« begreift.43 Dieser ontologische Sprengsatz im Textverständnis Barthes’ tritt offen zutage z.B. in Moritz Baßlers Text/Kontext-Theorie, die ansetzt, die Semiose en général wieder zu domestizieren über die Synopse der Text/Kontext-Differenzen auf einer paradigmatischen Achse. Aufbauend auf einem ›starken‹ Textbegriff entwickelt Baßler einen Leistungskatalog, der für alle methodischen und analytischen Operationen »Textualität als konsistenten Objektstatus zu bestimmen«44 sucht, dem sogar historische Stabilität zugesprochen werden könne. Gegen die semantische Performativität des Textes wird von Baßler die materielle Konstativität des Textes ins Feld geführt und mithilfe eines rigiden Historismus untermauert. Eine solche Verdinglichung der Text-Kontext-Relation kann dann in den Grenzen der Logik dieses Ansatzes sogar für Gedichte annehmen, sie seien als Text in einem Buch ein »Ob-

43

Reuß: Text, Entwurf, Werk, S. 2.

44

Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 117.

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jekt«, das »unabhängig von konkreten Bewusstseinen und Kommunikationen analysierbar«45 sei. Hier zeigt sich deutlich die Inkompatibilität eines ontologische Züge aufweisenden materiell verbrieften Textbegriffs mit der de-ontologisierenden Annahme der beobachtungsrelativen Konstitution von Texten. Barthes’ Textmodell nicht als Kontrastfolie, sondern als fruchtbaren Verweis auf die Möglichkeiten der Öffnung des Textbegriffs nutzend, möchte ich im Folgenden die Semantizität, Materialität und Medialität von Texten unter den Vorzeichen einer beobachtungsrelativen, temporal argumentierenden Konstitutionstheorie beleuchten. In einem zweiten Schritt werde ich die Medium/Form-Differenz als Verhältnis von Text und Textualität so bestimmen, dass sie im beobachtungsdifferenziellen Theorem untergebracht werden kann. Die materielle, zeitresistente ›Stabilität‹ der graphemischen Textgestalt darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Stabilität ebenfalls das Ergebnis temporaler Beobachtung ist. Auch die ›Autorität der Materialität‹ des Textes als stoffliche Form ist ein inszenatorisches Epiphänomen einer Unterscheidungspraxis, die bestimmen muss, welche Informationen als zur Materialität des Textes gehörend codiert werden und welche ignoriert werden können. Gehören z.B. Kaffee- oder Rotweinflecken zur Materialität eines (typographischen) Manuskripts? Und wie ediert man in diesem Fall?46 Es wird bereits deutlich, dass die an der Stofflichkeit des Textes orientierte Behauptung von Materialität nicht nur auf der Ebene der graphemischen Spuren im Text vor Entscheidungen steht und die Konsistenz dieser Entscheidungen als vermeintlich nicht-kontingent ausweisen muss. Die Zeitfestigkeit der Materialität entpuppt sich als beobachtungsgenerierte Einschreibung in das Medium ›Materialität‹, dessen Dinghaftigkeit erzeugt werden muss. Diese Medialität der Materialität ist der epistemologische Ausgangspunkt für die Invisibilisierungsstrategien, mit denen übergangen wird, dass auch die Textmaterialität zu allererst in Erscheinung treten muss, und das tut sie eben nicht durch eine sich selbst autorisierende Eigenaktivität. Die ›stoffliche Gestalt‹ wird zum regenerativen Medium, das zur beobachtenden Realisierung von Dauer, Identität und Autorität des Textes und zur Kontrastierung mit den Größen ›Wandel‹, ›Reversibilität‹ und ›Semantizität‹ dient, die auf einer Negativfolie positioniert werden. Entsprechend ist die Materialität des Textes nicht unabhängig von ihrer horizontverschobenen und horizontverschiebenden Medialität zu haben.47 Auch die Ma45

Ebd., S. 134.

46

Roland Reuß subsumiert etwa Getränkeflecken unter die Materialität des Textes (vgl. Reuß: »Lieder […], die nicht seyn sind«, S. 21 f.).

47

Nach Adorno sperrt sich der Text durch seine Materialität gegen die Zuschreibung einer »blanke[n] Identität« (Adorno: Ästhetische Theorie, S. 227). Der Begriff der Materialität hat in gewissem Sinne die essentialistischen Implikate des Autorbegriffs und des

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terialität des Textes ist Effekt einer Beobachtungsleistung und kein vorreflexives Faktum, das sich gegen Historisierungen immunisieren könnte und eine auratische Singularität und Echtheit in sich und mit sich trägt. 48 Die Materialität des Textes ist wie seine Medialität an die Zeitverhältnisse seiner psychischen oder sozialen Realisierung gebunden bzw. an die Ereignisgegenwart seines Beobachtetwerdens, welches wiederum ein textexterner Vollzug ist.49 Texte sind folglich weder materiell noch medial mit sich selbst identische Ereignisse, weshalb ihnen keine selbststabilisierende Funktion zukommt, die ablesbar wäre, könnte nur der Text sich selbst beschreiben. Die Materialität ist daher ein sinnkonstituierter Selektionsspielraum, in den hinein Markierungen gezeichnet werden, die wiederum als Offerten dienen können, an die Beobachtung eines »materiell-medialen Objektstatus«50 des Textes anzuschließen. Textmaterialität ist folglich nur in der Aktualität ihrer Konstitution in Unterscheidungsprozessen zu haben, daher sind Texte keine »für sich stehende[n] Artefakte.«51 Dass es neben diesen beobachtungsrelativen Realisierungen des Textes noch »verborgene Text[e]«52 im Sinne von unbeobachteten Schriftstücken gibt, soll damit nicht bestritten werden – nur als Prozessierung von Sinn und als Thema der Prozessierung von Sinn sind solche ›verborgenen‹ Texte noch nicht in die Beobachtungsrealität entfaltet, solange sie nicht mehr sind als nur mit Schrift versehene Dinge.53

T EXTSINN

ALS

E REIGNIS

Konstative Textbegriffe orientieren sich an der graphemischen Schriftgestalt, deren ›Festigkeit‹ die prinzipielle Simultaneität aller wahrnehmbaren Elemente im Text gewährleisten soll. Dabei dient die Schriftgestalt der Etablierung einer Differenz Werkbegriffs beerbt und diese teilweise substituiert. Vgl. zu einem engen und einem weiten Materialitätsbegriff, die mit einem engen und weiten Textbegriff korrelieren und ferner zu den Aporien, in die ein ontologischer Materialitätsbegriff notwendig führt Ries: »Materialität«?, S. 161-166. 48

Vgl. ebd., S. 166 mit Referenz auf Benjamins Kunstwerk-Aufsatz.

49

So auch Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 57 f.

50

Kammer/Lüdeke: Einleitung, S. 15 (im Original kursiv gesetzt).

51

Luhmann: Literatur als Kommunikation, S. 378.

52

Butor: Die Stadt als Text, S. 12. Butor figuriert in seinem Essay Text als ›schlafendes‹ Geschriebenes, das harrt, »durch das Lesen wiederbelebt« zu werden – eine Reminiszenz an die Revitalisierung der durch die Schrift konservierten Stimme (vox viva), deren Pathos hier unkommentiert bleiben kann. Siehe zur philologischen Denkfigur der Wiederbelebung Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 542 f.

53

Vgl. Martens: Was ist ein Text?, S. 4. Insofern ›existieren‹ Texte nicht exterior.

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von Textmaterialität und Textsinn. Erst in Opposition zur Vorstellung einer stofflichen, visuell wahrnehmbaren Textgestalt gewinnt die Seite des Sinns Merkmale einer ideellen, kognitiv erfassbaren und dechiffrierbaren Komponente des Textes. Die Korrelation dieser Differenz mit den Unterscheidungen Präsenz/Transzendenz und Signifikant/Signifikat liegt auf der Hand. Irritiert wird diese in die Signifikanten eingelagerte Präsenzgarantie des Sinns durch die Iterabilität der Beobachtung der Signifikanten selbst, was diese nicht mehr paradoxiefrei profilierbar macht. Sie taugen nicht zur Repräsentation der Möglichkeit einer »Positivierung der Wiederholbarkeit im schriftlichen Text«54. Daher ist der semantische Text nicht ein beobachtertranszendentes Fundament, an das sinnprozessierende Beobachtungen andocken könnten. Vielmehr emergiert mit dem Text und am Text erst Sinn, weshalb die Emergenz von Sinn und seine Spaltung zusammen fallen.55 Texte sind sozusagen Kontaktimaginationen für Sinnbrüche, die die Paradoxie zu überwinden suchen, stets nur mit Brüchen (imaginäre) Konsistenzen ›im‹ Text und ›am‹ Text sichtbar machen zu können. Die sinngenerische Monstrosität des Textes als unablässig arbeitende Signifikanzmaschine56 unterminiert aber die Potentialität ›reiner‹ und ›rein‹ wiederholbarer Markierungen, die frei von Kontaminationsspuren früherer Markierungskontexte gedacht sind. Texte sind in diesem Verständnis nicht mehr beschreibbar als materiell organisierte Kontaktpräsenz für kondensierende und konfirmierende Sinnkontrollen, die sich an einer idealen Sinnstruktur im Text orientieren. Ausgehend von einer ereignisdifferentiellen Profilierung des Textbegriffs sind Texte folglich auch nicht Repräsentationen einer proto-operativen idealen Sinnstruktur (im strukturalistischen Sinne). Statt also Sinnkontrolle zu ermöglichen, wirkt die beobachtete Infrastruktur des Textes auf seine sinngenerische Organisationsweise ein. Diese Organisationsweise ist sinnvollerweise als dynamisches Feld ereignishafter Übergänge von Sinnmoment zu Sinnmoment zu beschreiben. Obsolet wird hingegen das Modell des Textes als durch kontrollierte Beruhigung des Sinnspiels entdynamisierter, navigierbarer, parzellierter Raum.57 In dieser texttheoretischen Konstellation gibt es keinen Text vor jeglicher Beobachtung und keine Wiederholung von Beobachtung vor jeglicher Iterabilität. Und 54

Stäheli: Sinnzusammenbrüche, S. 181. Vgl. zum Text als Stütze der Behauptung eines identischen Sinns auch Knobloch: Text/Textualität, S. 24 f.

55

Vgl. Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«, S. 118. Dort findet sich auch eine detaillierte Beschreibung dekonstruktiver Textkritik.

56

Vgl. Barthes: Texte, S. 1015: »c’est le texte, qui, en verité, travaille inlassablement«. Die Maschinenmetapher entlehne ich Kristeva: Semeiotikè, S. 210.

57

Darüber hinweg führt auch nicht die Annahme, diese Parzellen und die Kontaktzonen zwischen ihnen seien homogenisierbar und kraft Analyse bzw. Interpretation stets von neuem identisch ansteuerbar.

80 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

für den beobachteten Text gilt, dass Sinn nur sich aussetzen kann, »wenn er sich in einem offenen Raum verteil[t], anstatt einen geschlossenen Raum aufzuteilen.«58 Der Clou dieser Textkonzeption lässt sich auch beobachten, wenn der Blick gelenkt wird auf die Ebene der konkreten Lektürepraxis; dann lässt sich die Formierung des Textes im Akt der Beobachtungsverkettungen auch (zugegeben: sehr figural) beschreiben als den Text ›metamorphotisch‹ konstruierender »flüchtiger Tanz« eines Lesers, der im Text »wildert«59. Oder präziser: Texte bringen Sinn nicht zum Ausdruck, sie sind die Bedingung der Möglichkeit seiner differentiellen Formierung.60 Oder in zirkulärer Wendung: Sie sind stets offen für den Empfang von Sinn, den sie selbst erst ermöglichen. Was mit einer solchen Umstellung auf einen offenen Textbegriff gewonnen ist, wird deutlicher, wenn die Text/Beobachtung-Konstellation formtheoretisch in die Unterscheidung Medium/Form transferiert und operativ reformuliert wird. Die uneinholbare Potenzialität der Textsignifikanz und die aktualisierende sinngenerische Formierung ereignisbasierter Textbeobachtung korrelieren mit dem Umstand, dass das Medium nicht gesondert, nicht disparat, nicht einmal direkt beobachtet werden kann. Im hier präferierten Modell ist das Medium stets nur als ausgeblendete Außenseite von raum-zeitlich situierten Formereignissen konstitutiv. Deshalb ist es zutreffend, wenn Fuchs konstatiert, »daß jeder Beobachter sich auf der Innenseite der Form bewegt, in ihr ›gleitet‹ oder ›verrutscht‹ (auch dann, wenn er die Form Medium/Form bezeichnet)«61. Die Totalität des Mediums bleibt als operationstranszendenter Horizont unverfügbar, weil sie als Fülle von Potentialität mitgeführt wird, die immer erst durch den und nur im Moment jener kontingenten Sinnselektion anfällt, die jede Beobachtung des Textes als Form stets für die ›Dauer‹ eines Ereignisses ›ist‹. In einer Verschränkung von Dekonstruktion mit der Medium/FormDifferenz lässt sich dies wie folgt ausdrücken: Der Text als Form markiert zugleich den Text als Medium als sein Außen, weil die gleichzeitige operative Konstitution von Text als Form und Text als Medium zeitigt, dass der »Text [hier als Form; M.G.] nicht mehr das abgedichtete Drinnen einer Innerlichkeit oder einer Identität mit sich«62 sein kann und daher immer auf den Text als Medium angewiesen bleibt. Die Sinn-Offenheit des Textes als Medium ist die unhintergehbare und nur von der formierenden Sinnzuschreibung her konzeptualisierbare Bedingung von semantischen Ereignissen. Als Medium ist der Text aber nicht zu denken als externes, bestimmbares Substrat, das schlicht in die Sinnkonstruktionen involviert ist; er wird 58

Deleuze: Logik des Sinns, S. 102.

59

Certeau: Kunst des Handelns, S. 27.

60

Hier bieten sich auch Anschlussmöglichkeiten an Kristeva: Semeiotikè, S. 184: Der Text ist dasjenige, »qui fait plutôt qu’il n’exprime un sens«.

61

Fuchs: Der Sinn der Beobachtung, S. 29.

62

Derrida: Dissemination, S. 44.

T EXTUELLE P OLYEVENTUALITÄT

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von diesen her, d.h. im Rahmen einer differentiellen Form aus dem Rahmen gesetzt. Reichert man die Konsequenzen der Medium/Form-Unterscheidung weiter an mit den Bedingungen der Operativität der Formierung, dann erschließt sich auch, dass auch für die Form nicht von einer selbstidentischen Rahmung der Markierung selbst gesprochen werden kann. Als Beobachtungseffekt ist Formierung für den Moment stabil, weil für die Dauer eines Ereignisses konstant, was Mario Grizelj dazu verleitet, anzunehmen, der Text als Form sei in der Lage, »die Sinnproduktion gegenüber der Semiosis bzw. Potentialität [des Textes als Medium; M.G.] zu immunisieren.«63 Argumentiert man allerdings von der Operativität her, so ergibt sich, dass auch dieses ›stillgestellte‹ Sinnereignis erst ex post durch eine weitere Operation als Sinnereignis aufschiebend beobachtet werden kann, ohne die es schlicht latent verglühen würde. An diesem Punkt lässt sich auch die Unterscheidung Information/Rauschen in die Medium/Form Unterscheidung einhaken. So formuliert z.B. Stefan Hesper im Rekurs auf Michel Serres: »Texte sind nicht die sinnvolle Kehrseite des Rauschens, sie sind selbst zuallererst indifferentes Material«.64 Mit anderen Worten: Nur vor dem Hintergrund eines Rauschens (Text als Medium) ist die Informationsgenese (Text als Form) möglich und beobachtbar. Nur gegen das zeitfeste Medium kann sich die flüchtige Form profilieren. Allerdings ist dieses Rauschen nun nicht zu verstehen als der Formierung vorausgehend, als chaotischer Vorhof, in dem dann im Nachtrag Formen auf die Bühne treten. Wenn z.B. Serres die Differenz von Lärm (Sprache als Medium) und Bedeutung (Sprache als Form) über das Erkennen von Ähnlichkeiten, Rhythmen, Wiederkehrendem beschreibt, so werden bei ihm noch die beiden Seiten der Unterscheidung Rauschen/Information bzw. Lärm/Bedeutung bzw. Medium/Form als zwei Phasen eines Referenzgeschehens gedacht: »Bevor die Sprache Bedeutung besitzt, macht sie Lärm; der Lärm kommt ohne die Bedeutung aus, aber die Bedeutung nicht ohne den Lärm. Es kommt vor, daß sich vom Lärm aus mit der Zeit eine Art Rhythmus herausbildet […].«65 Dagegen kann sich eine operativ informierte Medium/Form-Differenz daran orientieren, dass die Genese beider unterschiedener Seiten simultan erfolgt. Denn nur gleichzeitig mit der Form ist das Medium zugegen. Beide Seiten, die markierte und die unmarkierte, werden im selben Markierungsereignis konstituiert, können aber nicht zugleich angesteuert 63

Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«, S. 150. Grizelj unterzieht den Werkbegriff einer partiellen dekonstruktiven Redeskription, um anhand der Medium/Form-Unterscheidung ›Text als Form‹ dediziert rezeptionsästhetisch zu entfalten. Aus dieser Perspektive ist eine solche Prämisse schlüssig, zumal Grizelj nicht am Werkbegriff, sondern an der lektürespezifischen Differenz von Text und Werk orientiert argumentiert (vgl. ebd., S. 151-170).

64

Hesper: Schreiben ohne Text, S. 36.

65

Serres: Die fünf Sinne, S. 158.

82 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

werden. Man schreibt diesen Satz und nicht einen anderen, und beides, das Aktualisierte und das in der Potentialität (als Anders-möglich-sein) Verbliebene, werden zugleich konstituiert. Das Gesagte besetzt die Seite der Markierung, ohne damit die Möglichkeit zu eliminieren, den vermiedenen Satz (als eine Intensivierung, Negation, Subversion, Parodie des ersten) in einem nächsten Moment zu schreiben, mit dem nächsten Ereignis zu aktualisieren. Auf Serres Beispiel übertragen heißt das, dass Lärm (Medium) nur als Effekt einer Markierung zu haben ist, die Bedeutung (Form) bezeichnet. Und wenn umgekehrt Lärm bezeichnet wird, so führt diese Unterscheidung das Ausgeschlossene – die Bedeutung (Form) – im paradoxen re-entry als Außenseite mit sich.66 Textsinn ist daher nur zu haben qua Textrauschen, denn der »Sinnprozeß läßt sich von Rauschen tragen«67, ohne dieses Rauschen operativ eliminieren zu können. Wohl aber kann durch Beobachtung die Präferenz auf die Seite der Bedeutung fallen, was zumeist mit der Invisibilisierung des operativen Rauschens korreliert. Insofern stehen Bedeutung und Form in einem »explorative[n] Verhältnis zum ›Rauschen‹.«68 Diese rauschhafte textuelle Eigenbewegung korreliert mit der Unruhe der Ereignisfülle im Text. Ein solcher Textbegriff ist jenseits der Achse »réel – auteur – œuvre – public«69 situiert. Um in der Terminologie Kristevas zu bleiben: Der Text bleibt »objet dynamisé«70 und sinnhaft produktiv. Er ist kein stabilisierter Raum identitären, einheitlichen und selbstpräsentischen Sinns, sondern das Korrelat der Sinnbeobachtungseffekte eines Beobachters. In ein Beobachtungsgefüge eingespannt – und nur so kommt dem Text eine soziale oder psychische Realität zu – ist er mit einer irreduziblen Potentialität ausgestattet. Das Anders-Möglich-Sein seiner Beobachtung (bzw. seiner Beobachtbarkeit) sabotiert jede Schließung, jede Singularität, die behauptet wird. Organizität und monolithische Festigkeit des Textes sind das Resultat einer selektiven Zuschreibung. Als Substrate von Beobachtungen sind Texte stets einer systemrelativen und damit ereignisdependenten Funktionalisierung unterworfen. Ob in der Rede vom Text nun Formgestalt (Selektionsset), Materialität (Artefakt), Medialität (Träger), Textualität (Medium) oder Werkcharakter (organisches Ganzes) adressiert werden – nie ist der Text beobachtungsexterne Größe, »er ist Text und/oder Kommunikation immer im System qua System«71. Was immer auch das entitätsbeglaubigende Korrelat des Signifikanten ›Text‹ ist, was immer ›Text‹ für die ›Semiosphäre‹ und 66

Allerdings nur als Bezeichnung im Rahmen einer Form, denn das Medium ist als Medium nicht aktualisierbar.

67

Luhmann: Soziale Systeme, S. 123.

68

Schmitz-Emans: Rauschen, S. 338.

69

Kristeva: Semeiotikè, S. 208.

70

Ebd., S. 378. Eine detaillierte Analyse der Parallelen und Differenzen der Form- und Sinnbegriffe bei Kristeva und Luhmann steht noch aus.

71

Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«, S. 55 (Fn. 39).

T EXTUELLE P OLYEVENTUALITÄT

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›Technosphäre‹72, in denen sich Texte bewegen und die sie mit aufspannen, bedeutet: immer emergiert diese Bedeutung in einer aufgeschobenen Beobachtungsgegenwart.73 Eine beobachtungstranszendente und substantiierende Textgegenwart ist, wie gezeigt wurde, mit den Zeittheoremen der operativen Theorie inkompatibel. Unter den Vorzeichen einer operativen Zeittheorie ist der Text eine Beobachtungsgröße, die rekursiv konstituiert und nachträglich (mit)erzeugt wird. Diese paradoxe Verschränkung kann nicht durch objektivierende Proklamierungen einer Tiefenstruktur des Sinns oder durch den Rückzug auf die vermeintlich »ruhige Einheit des verbalen Zeichens«74 aufgelöst, sondern nur verschoben werden von einer unhintergehbaren Differenz zur nächsten und wieder zur nächsten usf. Und für diese Differenz gilt auf operativer Ebene durchweg, dass die Sinnprozesse, die Text formen, von der intrinsischen Unruhe der Temporalisierung durch Ereigniszerfall getragen werden. Jede Beobachtung von Text ist daher eine gegen den Text (Medium, Außen) verschobene Position ( Form, Innen), ob diese nun für den Text die Möglichkeit erfolgreicher Sinnschließungsprozesse postuliert oder das Unerschöpfliche eines differentiellen Textraums hervorhebt, in den sich Sinn einschreibt, der selbst wiederum nur als Spur vorheriger Differenzen und somit als »bereits konstituierte Differenz«75 aufblitzen kann. Aus den bisher explizierten Konturierungen des Textbegriffs ergibt sich für mein Vorhaben der Beobachtung literarischer Kommunikation und elementdistinkter Formgestaltungen literarischer Texte folgende Rahmung: Zu reflektieren wird sein, dass die getroffenen Unterscheidungen, beleuchteten Kohärenzen und unterstellten Referenzen nicht auf etwas aufsatteln, a) das ist, was es ist, b) das vollständig ist, was es ist und c) das sich t(r)aktierenden Wiederholungen als invariante Substanz entgegenstellte. Vielmehr werden die Vollzüge ›an Literatur‹ entlang eines Sets von Unterscheidungen solche Sinnselektionen einsetzen, mit denen der analytische Umgang mit literarischen Explorationen der Paradoxie der Zeit in der Zeit zu fruchtbaren Erkenntnissen führt. Die literaturwissenschaftlichen Beobachtungsverkettungen, die diese Arbeit leisten wird, arrangieren daher die Trias Ereignis – Text – Kommunikation nicht in Anlehnung an invariante Strukturen und transzendente Präsenzgaranten. Das hier präferierte Modell sieht stattdessen vor, die Trias als in einem strange loop verschränkt zu denken. Dieser wird aus wechselnden Perspektiven beleuchtet werden, je nachdem, welche temporalen Konstitutionsprozesse von Zeit durch den eigenlo72 73

Vgl. Debray: Die Geschichte der vier »M«, S. 21 f. Diese Prämisse bewahrt auch davor, wieder auf einen strukturalistischen Textbegriff zurückzufallen, der die wuchernde Semiosis bereits als textintern gezähmt betrachtet.

74

Derrida: Choreographien, S. 105.

75

Derrida: Grammatologie, S. 128.

84 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

gischen Dauerzerfall von Ereignissen fokussiert werden sollen (ob als selbstreferentielle blinde Operativität von Systemen, als Modalisierung von Zeit als Beobachtungseffekt oder als zeitsinnspezifische Differenz von Aktualität/Potentialität). Texte, so lässt sich resümieren, sind als Sedimentierungen von Kommunikation die Chronographen der Kommunikation und selbst implementiert in das Timing kommunikativer Ereignisdynamik. Und weiter: Texte sind ›zeitkritisch‹ in dem Sinne, dass sie »einerseits auf zeitliche Ordnungen angewiesen sind« und andererseits Operationalisierbares generieren, dessen »Realisierung sich als Funktion[ ] der Zeit selbst darstell[t].«76 Sie sind nicht Texte im Jetzt, in einem Nullpunkt der Zeit, der von Zeitpunkten aus tangierbar ist, sondern sie sind Texte von jetzt auf/zu jetzt, sind in die »Chronologistik der Kommunikation«77 eingebettet und zirkulieren mit deren Performanz der Operativität. Sie sind aber auch Generatoren einer MedienZeit, die die temporale Log(ist)ik der Kommunikation durchkreuzt und deren nichteliminierbare Paradoxien exponiert.

76

Gießmann: Netzwerk-Zeit, S. 243.

77

Volmar: Zeitkritische Medien, S. 12.

Polymorphe Zeiten

Z EIT

ALS OPERATIV - EPISTEMISCHE

K ATEGORIE

Mein Optieren für eine operative Theorie der Zeit soll als ein Versuch wahrgenommen werden, den ästhetischen, kommunikationsspezifischen, semantischen und diskursiven Applizierungen und Darstellungen derjenigen Paradoxien nachzuspüren, die die Thematisierung einer a-substantialistischen und a-primordialen Ereigniszeit in Literatur entbirgt. Vordergründig geht es dabei auch um die Fiktionen, mit denen diese Paradoxien ästhetisch entfaltet werden, und um die aus diesen Fiktionen resultierenden Friktionen etwa mit kulturellen Zeitmodellen, mit dominant zirkulierenden Ereignisbegriffen, mit Vorstellungen vom erwartbaren Lauf der Dinge oder mit der Annahme, die Gegenwart sei die Repräsentation einer abgeschlossenen Vergangenheit, deren temporale Irreversibilität sie zum Garanten ihrer objektiven Beobachtbarkeit mache. Auch Aspekte einer Signatur der Beschleunigung kommen dabei ins Spiel, denn Beschleunigung ist zweifelsohne für die Moderne ein zentrales gesellschaftsstrukturelles Theorem der Selbstbeschreibung, das pejorativ oder affirmativ polarisierend in Diskursen ausbuchstabiert wird.1 Eine operative Theorie der Zeit setzt auch anders an, wenn es um die Beobachtung der semantischen Konstruktion von Ereignishaftigkeit geht. Nicht nur sind Ereignis und Zeit als sozial vermittelte sinnhafte Interpretationen von Zeitpunkt und Zeitstrom paradox ineinander überführbar. Ein Zurückgehen auf die operative Ebene erlaubt zusätzlich die Ereignistemporalitäten von Beobachtern miteinzubinden und dadurch die Effekte dieser Ereignistemporalität für die Koordinierung multipler Eigenzeiten und differenzieller Beobachterzeiten als Praktiken der Zeithandhabung zu beschreiben. Dabei wird es in diesem Zusammenhang auch um die Analyse der literarischen Referenz auf die Wissensbestände zu Zeit gehen, die sich in hochdifferenzierten und komplexen Bestimmungen ihres Wesens ebenso niederschlagen wie in vielfältigen kulturellen Mustern, und die dadurch stabile wie auch dynamische Attributionen der Zeit als Kategorie ermöglichen. Die besondere Qualität dieser Kategorie re-

1

Vgl. stellvertretend Borscheid: Das Tempo-Virus; Bidlo: Rastlose Zeiten.

86 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

sultiert aus einem irritierenden Dual. Die eine Seite dieses Duals besetzt die fraglos intuitive Vorstellung einer unmittelbar erfahrbaren, psychisch und körperlich grob metrisierbaren Zeit, die als Dynamik des Moments unterschiedlicher Längen wahrgenommen wird. An diesem Punkt gibt es für einen Beobachter noch keinen Grund an Zeitlichkeit zu zweifeln, wiewohl die Frage nach dem temporalen Hintergrund, in den diese subjektive Zeitlichkeit eingebettet ist, ausgeblendet bleiben muss. Auf der anderen Seite des Duals spannt sich das ganze Spektrum von der Eigenzeit des Beobachters abweichender, zumeist kontraintuitiver und hochkomplexer Modellierungen, Metrisierungen, Semantisierungen und Positivierungen von Zeit auf. Das Dilemma dieses Duals ergibt sich aus den Realitätsansprüchen, die auf dieser Seite reklamiert werden. Sie treten insbesondere dann auf den Plan, wenn es um diejenigen Zeitkonzepte geht, die in Form immer komplexerer Outputs von Funktionssystemen anfallen. Noch komplizierter wird die Sachlage, wenn man bedenkt, dass auch innerhalb der Funktionssysteme (vor allem im System Wissenschaft) nicht etwa einheitliche Zeitvorstellungen zirkulieren, sondern je nach aktualisiertem Programm (im System Wissenschaft sind das Theorien) heterogene Beschreibungen und Konzeptualisierungen von Zeit zu finden sind.2 Zwar gibt es Institutionen, die sich der Reduzierung der Kompliziertheit von Zeitwissen auf kulturell anschlussfähige Maße spezialisiert haben – z.B. die Massenmedien; und auch die Funktionssysteme selbst liefern zugängliche und verständliche Beschreibungen avancierter Zeitmodelle.3 Aber ihnen kann stets nur die Leistung einer Begegnung der divergierenden Eigenzeiten gelingen. Ermöglicht die standardisierte Uhrzeit einerseits eine Art Syntemporalität der Eigenzeiten der Individuen und Systeme, so ist die Notwendigkeit ihres Einsatzes selbst der Hinweis darauf, dass die an ihr gemessenen und koordinierten Eigenzeiten letztlich nicht »ineinander übersetzbar« und aufgrund der »Differenz der systemischen Eigenzeiten«4 auch nicht auf eine Einheit zurückführbar sind. Die Kontaktnahmen unterschiedlicher Zeitmodelle kommen nicht ohne eine parametrisierende Skalierung der Uhrzeit und der auf ihr aufbauenden größeren Zeiteinheiten aus, liefern sie doch erst das kommunizierbare bzw. registrierbare Maß der Differenz der Zeiten. Solche Kontaktnahmen geschehen meist durch subtile Visualisierungen und routinierte Darstellungsmodi je aktueller kultureller Prägung. Die dabei zugrunde gelegten Zeitdefinitionen unterscheiden sich nicht nur in der Enge bzw. Weite ihrer Denotationen. Hinzu kommen noch Unterscheidungen wie 2

Umfassend nachzuvollziehen ist dies etwa bei Kühn: TempusRätsel, S. 39-198. Siehe auch Hasenfratz: Wege zur Zeit.

3

Das gilt insbesondere für die großen Zeitskalen der Kosmologie und die Explikation chronobiologischer Rhythmik, Zyklik und Periodik z.B. physiologischer Prozesse im Körperinneren (vgl. zu letzterem Verdicchio: Vom Außen ins Innere, S. 62-70).

4

Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 317.

P OLYMORPHE Z EITEN

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subjektive und objektive Zeit, leere und ereignisreiche Zeiten, kairologische oder pathologische Zeitverhältnisse, eine innere und eine Weltzeit, eine Zeit des Textes und des Films und ihrer Rezeptionsmöglichkeiten – die Reihe ließe sich lange fortführen. Dass andere Zeiten herrschen5, dass Zeitdifferenzen kompensiert werden müssen und dazu Koordinationsleistungen erforderlich sind, kann nur behaupten, wer beobachtet und besser noch, wer andere dabei beobachtet.6 Koordinationsanstrengungen wie etwa Synchronisation haben wenig Sinn, wenn sie nicht das Andere einer Eigenzeit bzw. die Eigenzeit des Anderen7 in ihrer Umwelt voraussetzen können, um daran das ›zu schnell‹ oder ›zu langsam‹ der eigenen oder fremden Eigenzeit abzulesen. Auf solchen Abgleichungen und Synchronisationen können dann nicht nur Konsolidierungen der Zeiterfahrung von individuellen Beobachtern aufbauen. Sie sind in komplexerer Form und im Modus sozialer Realität darüber hinaus die Basis für die Semantisierung von Beobachterverhältnissen umfassender Art, was z.B. an den Kollektivsingularen ›Geschichte‹ und ›Fortschritt‹ oder liminaler Terminologie wie ›Zeitenwende‹ oder ›Epocheneinschnitt‹ rekonstruierbar ist. Diese Semantisierungen bleiben solange unreflektiert, solange ihre operative Genese und beobachterrelative Zirkulationsmechanik nicht thematisiert werden. Sofern Zeit routiniert und gewohnheitsmäßig mit den routinierten und gewohnheitsmäßigen Beobachtungsschemata vollkompatibel ist, bleibt sie – ob sie sprichwörtlich zu schnell, zu langsam oder gar nicht vergeht – scheinbar gestaltkonstant.8 Erst wenn der erklärungsbedürftige Fall einer Paradoxie der Zeit den Normallauf der Beobachtungsverkettungen stört, kann dem reflektierenden Beobachter auffällig werden, dass die Beobachtung von Zeit selbst nur temporalisiert anfällt. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wo in den Blick kommt, »daß jede Handhabung einer zeitlichen Unterscheidung, d.h. jede zeitliche Beobachtung auf jene Zeit angewiesen ist, die durch die Operation des Systems konstituiert wird.«9 Die operative Genese und die Aktualisierungen der Zirkulationsmechanik der Zeitbeobachtung sind selbst wiederum eingebettet in »ein Geflecht von Ereignissen, die aneinander anschließen und die nicht in einer außerhalb der empirischen An-

5

Vgl. Heidbrink: Das Leiden an der Herrschaft der Zeit.

6

In diesen Zusammenhang fällt auch Zeit als Herrschaftsfaktor, d.h. als politisch und machtspezifisch funktionalisierte Konstruktion.

7

Vgl. zur ›Zeit des Anderen‹ als diachronische Reflexionsfigur, wie sie etwa Emmanuel Lévinas in seine Sinnlichkeitsethik des Antlitzes und des Sagens einbaut, Wenzler: Zeit als Nähe des Abwesenden, S. 85 f.

8

Eine diskursive Praxis, die dies leistet, besteht darin, die Homogenität von Zeit aus der Vorstellung einer Homogenität des Raums abzuleiten. Siehe hierzu den Überblick in Srubar: Kultur und Semantik, S. 118 f.

9

Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 193.

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schlüsse vorgeordneten Harmonie prästabilisiert sind.«10 Das bedeutet folglich nicht nur, dass Zeit in operativer Hinsicht ein nachdrücklich systemrelativer Begriff ist, sondern auch, dass die Aufmerksamkeit auf den operativen Status von Zeiterleben, Zeithandeln und Zeitkommunikation gelenkt werden muss, insofern diese durch Zeitwissen gerahmt werden, das in seinen medialen, textförmigen und ikonischen Verweisungsartefakten erschlossen werden kann. Da es dieser Arbeit wesentlich auch um die literarische Beobachtung der »Konstitution von Zeit als Form sozialer Sinngebung«11 unter operativen Vorzeichen geht, soll hier im Folgenden der operative Wissensbegriff erläutert werden. Er sieht – in konstruktivistischer Konzeption – ab von Vorstellungen eines primordialen oder gar transzendenten Wissens, das nur entdeckt zu werden braucht durch eine geeignete Methode oder ein geeignetes Instrumentarium. Während der klassische Wissensbegriff Wissen als Steigerungsverhältnis gegenüber einem Objekt, Zustand oder Begriff beschreiben konnte, setzt eine operative Theorie des Wissens anders an. Theorietechnisch muss sie Wissen handhaben als »Kondensierung von Beobachtungen«12. Die Engführung auf kondensierte Beobachtung führt dazu, dass Wissen einer Wiederholung von Selektionen entspringt bzw. auf diese angewiesen ist. Eine solche Umstellung auf Beobachtungssukzessionen konturiert den Begriff neu: Wissen ist, was als solches beobachtet wird. Dies ergibt sich schon allein aus operativer Notwendigkeit. Dass Wissen gegeben ist bzw. gewusst wird, muss erst ex post markiert werden, wodurch neben die Was-Frage nach dem Gewussten die Wie-Frage nach der Beobachtung dieses Wissens tritt.13 Für das Wissen von Zeit ist diese epistemologische Ausrichtung besonders prekär. Denn auf der sachdimensionalen Ebene, an der eine Beobachtung erster Ordnung anzusetzen hätte, die das ›Wesen‹ der Zeit beobachtete, muss mit dem Sachverhalt umgegangen werden, dass Zeit nicht per se beobachtbar ist. Sie ist das Epiphänomen von Zuschreibungen, die mit präferierten Unterscheidungen operieren, etwa mit Hilfe von Zeitschemata wie dem kinetischen (bewegt/unbewegt), relationalen (vorher/nachher), modalen (Gegenwart/Vergangenheit & Zukunft) oder entropischen/negentropischen (irreversibel/reversibel). Nicht die Dinghaftigkeit von Zeit – so ist nach Einstein mehr oder weniger der Stand der Dinge in der Physik – ist beobachtbar und metrisierbar, also auch nicht das Verhältnis der Dingwelt zur Zeit, sondern lediglich die komplizierten und komplexen Verhältnisse von Objekten untereinander.14 An diese Verhältnisse wird Zeit als konventionalisierter abstrakter

10

Ebd., S. 346.

11

Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten, S. 23.

12

Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 123.

13

Vgl. ebd., S. 125.

14

Vgl. Bojowald: Zurück vor den Urknall, S. 293.

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Parameter herangetragen, um diese Verhältnisse metrisierend zu beobachten.15 Und dazu bedarf es wiederum operativer Zeit, was wieder auf die Paradoxie der Zeit in der Zeit aufmerksam macht. Eine Möglichkeit, diese Paradoxie zu negieren, ist die Objektivierung bzw. Substantialisierung von Zeit, um die Trennung von Konstruktionsakt und Konstruktionsgegenstand herbeizuführen und im nächsten Schritt der Zeit ihren Konstruktcharakter abzusprechen. Dies beseitigt für die meisten zumeist alltagsspezifischen Wahrnehmungen von und Kommunikationen über Zeit Blockaderisiken im Umgang mit Zeitphänomenalität. Aber es wird dadurch die Frage nach der Differenz des ›Was der Zeit‹ und des ›Wie der Zeit‹ nicht eliminiert. Auch nicht durch wiederholten versichernden Abgleich der empirischen Zeitwahrnehmung mit vorherigen Wahrnehmungen der Zeit, denn auch das muss erst beobachtet werden – und dazu sind Ereigniszerfall und somit Zeit und temporale Verschiebung nötig. Angenommen werden muss dann, dass es eine sich von Ereignis zu Ereignis verändernde Zeit gibt und eine nicht-ereignishafte Hintergrundzeit. Die Philosophiegeschichte der Zeit verbucht diese Paradoxie unter anderem unter der Unterscheidung Ewigkeit/(Ereignis-)Zeit.16 Verschiebt man die Frage nach der Zeit und nach dem epistemologischen Status von Wissen (über sie) in die Zeitdimension, dann heißt das nicht, dass sachdimensionale und sozialdimensionale Aspekte herausfallen müssen. Man legt lediglich den Fokus anders, und zwar auf die Ereignishaftigkeit des Wissens über Zeit. Zeit, und d.h. das Wissen über Zeit, ist stets nur als aktualisierte Operation und folglich immer nur als Ereignis zu haben, das – sei es zur Negierung, Korrektur, Erweiterung oder Bestätigung – weiterer (eben die ›Präsenz‹ und Zeitfestigkeit dieses Wissens beobachtender und beglaubigender) Ereignisse bedarf. Zeit-Wissen ist Zeitwissen, es ist mit seinem ›Gegenstand‹ zirkulär verwoben: ohne Zeit kein Wissen, ohne Wissen keine Zeit.17 Und auch für ›Wissensbestände‹ mit langer Tradition gilt, dass sie Epiphänomen einer je aktuellen Konsistenzevaluation sind und nichts, auf das man sich zurückziehen kann. Man entwirft je neu den Schemel der Erkenntnis, auf dem man bereits glaubt, zu stehen. Das Wissen über Zeit ist, so lässt sich resümieren, je momenthafte und auf (paradoxe) Unterscheidungsschemata angewiesene Formstruktur. Ein solcher Wissensbegriff verträgt sich auch mit der analytischen Unterscheidung von »Artefakten einerseits als materiell objektivierten Praxisfolgen, 15

Vgl. ebd., S. 262. Siehe zu physikalischen Zeitkonzepten auch den informativen Überblick in Kühn: TempusRätsel, S. 43-66.

16

Ein Blick in die Philosophiegeschichte der Zeit verdeutlicht auch, in welche (Selbst-)Blockierungen Zeitkonzepte laufen, die Zeit entweder als objektivistische oder als kognitiv-subjektivistische bzw. transzendentale Größe behandeln.

17

Vgl. Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 129: »Es gibt keine zeitfreie Erkenntnis.«

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in denen sich ›gepflegte Semantik‹ als Voraussetzung für Anschlusspraxis dauerhaft sedimentiert, und Prozessen des Handelns und Verhaltens andererseits, die solche Artefakte hervorbringen und kognitiv und kommunikativ an sie anschließen.«18 Einen Sonderfall – aber keinen Ausfall – bildet das ›Wissen‹ aus erlebter Zeit. Ihm wird kulturell die Genese aus einer Unmittelbarkeit des Zeitkontakts zugesprochen – was sich z.B. niederschlägt in der intensiven literarischen Semantisierung des Topos des Zeiterlebens in literarischen Texten.19 Für erlebte Zeit gilt nicht per se der Status eines anonymisierten Wissens. Um soziale Realität und intersubjektiv anschlussfähig zu werden, ist idiosynkratisches Zeiterleben darauf angewiesen, aus der Umwelt der Kommunikation in diese hinein zu irritieren, was zu Generalisierungen (Sprache, Metaphern, Begriffe, Narrative) nötigt. Die Kehrseite dieser Generalisierung ist die Erosion der Sonderrolle des subjektiven, singulären und individuellen Zeiterlebnisses. Im literarischen Diskurs begegnen entsprechend Semantiken der Aufladung des Erlebens, mit denen Literatur die Erosion des Erlebnisses zu verhindern und – so paradox das klingt – gegen die erlebnistötende Kommunikation zu immunisieren aufbricht, und zwar mithilfe von: Kommunikation! Goethes Die Leiden des jungen Werthers im Allgemeinen und Werthers Briefabbrüche im Besonderen sowie auch der sich ins Erleben und aus der Kommunikation zurückziehende Lord Chandos in Hugo v. Hofmannsthals Ein Brief sind Chiffren dieser Paradoxie.20 Es bildet sich aber auch eine aus dem Diskurs der Zeitpathologie angereicherte Semantik der das (moderne) Zeiterleben pejorativ markierenden Entfremdungssemantik. In deren Inventar finden sich ›Zeitregler‹, ›Taktgeber‹, die Beschreibungen der sequenziellen, den Menschen vielfältig limitierenden, ›entmenschlichenden‹, ihn aus seiner ›natürlichen‹ Rhythmik reißenden Zwänge durch normierende und normative Serialisierungen – vor allem solchen des Handelns. Man braucht nur zum Medium Film zu wechseln und denkt sofort an die Anschaulichkeit der grotesksatirischen Figur des Tramps in Charles Chalins Modern Times, der unter der Herrschaft der Geschwindigkeit des Fabriklaufbands und der Arbeitsuhr (und damit der kapitalistischen Zeitplanung) aus-tickt. Eine weitere wesentliche Ergänzung zum Wissensbegriff betrifft das Verhältnis von Alltagswissen und demjenigen Wissen, das im Funktionssystem Wissenschaft prozessiert wird. Zwar lässt sich prinzipiell keine scharfe Trennlinie zwischen beiden Sphären ziehen, und der diffuse Grenzbereich kann als relativ groß unterstellt werden. Aber es wird graduelle Unterschiede geben müssen, aus denen sich wissenschaftliche Kommunikation auch ihre kommunikationsspezifische Sonderstellung 18 19

Ort: Das Wissen der Literatur, S. 173. Vgl. etwa Lohr: Die Erlebnisgeschichte der »Zeit«; Vellusig: Zeitgestalten; Schönfels: »Das Erlebte ist immer das Selbsterlebte«; Schmidt: Schrift und Zeitlichkeit.

20

Vgl. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, S. 144; Hofmannsthal: Ein Brief, S. 52.

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ableiten und dies mitteilen und veranschaulichen können muss. Erst dadurch wird die Legitimation des wissenschaftlichen Wissens zu Zeit behauptet und die Delegitimation des Alltagswissens zu Zeit wahrscheinlicher – denn wie sonst sollte sich szientifisches Wissen behaupten können gegen die triviale Evidenz der Regelmäßigkeit und Transzendenz einer jenseits ihrer Beobachtung ›existierenden‹ Zeit? Solche Legitimations- und Delegitimationskämpfe finden statt in Diskursen, und für diese gilt, dass die Semantik der Funktionssysteme auch dann noch und/oder gerade deswegen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten kann, weil sie sich der unmittelbaren exoterischen Anschaulichkeit primär entzieht.21 Diese Legitimationskraft qua Abstraktion und Distanz zu alltäglicher Zeiterfahrung und Kommunikation über Zeit wiederum ist nicht geschützt vor Transfers in die soziale Umwelt der Funktionssysteme. In dieser sozialen Umwelt zirkulieren auch Elemente der ›gepflegten‹ Semantik, wo sie ebenfalls als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien in Anschlag gebracht werden, um die Schilderungen von Zeiterleben, Zeitwahrnehmung, Zeitzwängen und -freiheiten auch außerhalb der Funktionssysteme annahmemotivierend zu gestalten.22 Wissenschaftliche Zeitsemantik findet sich daher auch in den Zeitauffassungen der temporalen Alltagssemantik wieder und wird dort gesondert rubriziert.23 Zur Inventarisierung dieser Zeitsemantiken kommen Medien zum Einsatz, unter anderem Literatur.24 Dort aber, wo Literatur sich durch De- und Rekomposition dieser Semantiken als ›Unruhestifter‹ aufführt, weist sie sich aus als mit spezifischem Auflösungs- und Rekonstruktionsvermögen und Fiktionalitätskompetenzen ausgestattetes Instrumentarium der Beobachtung zweiter Ordnung. Einer solchen Literatur wäre dann eigen, dass durch ihre Beobachtung (genitivus subjectivus und genitivus objectivus) die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass – wie Luhmann dies für Wissenschaftswissen in Abgrenzung zu Alltagswissen attestiert – »nicht Sicherheit, sondern gerade Unsicherheit gesteigert«25 21

Vgl. zu den Veranschaulichungsstufen der Transformation von esoterischem Fachwissen zu exoterischem, intrakollektivem Populärwissen Pörksen: Blickprägung und Tatsache, S. 325 ff.

22

So dient die Codierung von Normalkommunikation als ›wahr‹ dazu, das Gewusste als intersubjektiv beständiges Wissen zu etikettieren. Vgl. hierzu die historische und systematische Erhellung möglicher Differenzierungen von Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen bei Hahn/Eirmbter/Jacob: Expertenwissen und Laienwissen, S. 7276.

23

Wissenssoziologisch arbeitet Norbert Elias die Verflechtungsprozesse zwischen Alltags-, habituellem und esoterischem Wissen von Zeit heraus (vgl. Elias: Über die Zeit).

24

Die Romane Frank Schätzings sind hier ein kurrentes Beispiel. Siehe zur medialen Dimension der Alltagssemantik zur Zeit auch die Beiträge in Bukow/Fromme/Jörissen (Hg.): Raum, Zeit, Medienbildung.

25

Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 325.

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wird. Begreift man Literatur des Weiteren als Kulturphänomen und als symbolische Handlung, so lassen sich für literarische Texte graduelle Positionierungen gegenüber Wissensbeständen des Alltags wie auch des Funktionssystems Wissenschaft dort behaupten, wo der literarisch-kunstförmige Umgang mit den symbolischen Formen der kommunikativ-konstruierenden Repräsentationen von Realität das ›Wie‹ dieser Repräsentationen ins Auge fasst. Wohl gemerkt: hier geht es nicht um die Rehabilitierung eines emphatischen Literaturbegriffs, der nur solche Texte mit dem Label ›Literatur‹ auszuzeichnen sucht, die einen irgendwie nachweisbaren, dem institutionellen epistemologischen Output adäquaten Erkenntnismehrwert bieten. Vielmehr wird es mir darum gehen, solche literarischen Texte zu beobachten, die dazu tendieren, ästhetische Imaginationen derart im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung zu gestalten, dass sie in ihrer Relation zu kulturellem Wissen als hochirritative Paradoxieentfaltungen erscheinen bzw. lesbar sind.26

Z EIT

ALS

S INNSTRUKTUR

Wie der Wissensbegriff, so ist auch der Konnex von Literatur und Wissenschaft Gegenstand umfangreicher und intensiver Debatten.27 Ich möchte auf die Debatten nicht weiter eingehen, sondern hier nur kurz verdeutlichen, warum in dieser Arbeit ein breiter, aber kein vollständig offener Wissensbegriff bemüht wird. Zum einen geht es darum, Wissen nicht als gegensatzlosen »Allbegriff«28 zu verstehen. Dagegen spricht bereits der zwar variable, aber nicht nivellierbare epistemische Status dessen, was als Wissen unterschieden wird und im Kontext welcher Kommunikationssysteme sich (dominante) Sonderformen ausbilden. Entsprechendes gilt für die epistemologisch divergierende Verortung von Literatur einerseits und Wissenschaften andererseits. Eine Lesart, die über den Nachweis diskursiver Wechselwirkungen 26

Ralf Klausnitzers Vorschlag, literarische Texte als »sekundäre[ ] Symbolsysteme« zu bestimmen, die auf die Prozessierung von »prozedurale[m] Erfahrungswissen« geeicht seien, situiert diese Texte jenseits jeglicher Modi von Beobachtung erster oder zweiter Ordnung. Meines Erachtens überbewertet Klausnitzer den Potentialitätscharakter literarischer Konstruktionen, weshalb er die starken Optionen der Literatur, fremdreferentiell auf empirisch Nachprüfbares zu referieren, eher unterbelichtet lässt (vgl. Klausnitzer: Literatur und Wissen, S. 43-46, Zitate auf Seite 44)

27

Einen umfangreichen Überblick über die historischen Stationen der Debatte seit dem 19. Jahrhundert und ihre Ausdifferenzierung im Laufe des 20. Jahrhunderts liefert Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Siehe zu aktuellen Positionen wie auch systematischen Kontrastierungen die Beiträge im Sammelband von Köppe (Hg.): Literatur und Wissen.

28

Fulda: Poetologie des Wissens, Abschnitt III.

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hinausgehend, über einen oppositionsfreien Begriff ›Wissen‹ die systemischen Differenzen der Adressierung von literarischer und wissenschaftlicher Kommunikation wegwischte, müsste einen wesentlichen Unterschied ausblenden, der die unterschiedlichen Semantiken dieser Kommunikationsformen kennzeichnet: den Umgang mit Paradoxien, unwahrem Wissen und Nicht-Wissen. Denn ein Blick auf die divergierenden Strategien zeigt: man steht vor einer gepflegten Semantik der »offiziellen Agenda der Wissenschaft«29 einerseits und der für literarische Kommunikation konzidierbaren Offenheit und »Pluralisierung der Relation von Form und Medium«30 andererseits. Und dabei gilt, dass für literarische Kommunikation eine weniger strikte Kopplung der medial verfügbaren Elemente (Wissen als Medium) beobachtbar ist, die, so die Vermutung, zusammenhängt mit dem Fehlen einer rigiden Privilegierung bestimmter Formen. Dass sich literarische Formierungen auf wissenschaftliche beziehen können, setzt zudem voraus, dass diese als solche markiert werden können bzw. bereits markiert wurden und ergo überhaupt beobachtet werden kann, dass es »unterschiedliche Weisen der Realisierung (Materialisierung, Imaginierung) von Formen«31 des Wissens, der Paradoxie, des Nicht-Wissens gibt. Die Aktualisierung von Wissen in literarischen Texten, das dadurch in einen nicht unproblematischen Bereich des Fiktionalen transferiert wird, und dessen thematische oder semantische Implementierung in den literarischen Text, werfen die Frage nach der diskursiven Spezifik dieses Wissens und des Wissens über dieses Wissen auf.32 Dabei ist bereits »der Vorgang des Herstellens und Rezipierens von Literatur von Wissen durchsetzt: Sprachwissen, Sachwissen, Schemawissen (frames, scripts, scenarios), Kenntnis von Konversationsnormen, logisches Wissen als Wissen über (deduktionslogische oder nichtdeduktionslogische) Weisen des Schließens (Inferierens) usw.«33 Ich möchte an dieser Stelle nicht in die Frage einsteigen, ob literarische Kommunikation propositionalen Charakter hat und kann entsprechend darauf verweisen, dass dies nur als Proposition einer Beobachtung anfallen kann, die z.B. mit der Unterscheidung epistemologische Rezeption vs. ästhetische Rezeption operiert.34 Mir geht es hingegen darum, nachzuzeichnen, wie literarische Texte den Umgang mit stabilisierten und stabilisierenden wie auch destabilisierenden Semantiken, Theorien und Heterochronien von Zeit – man könnte mit Achim

29

Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte, S. 228.

30

Leschke: Medien und Formen, S. 17.

31

Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 719 (Fn. 14).

32

Vgl. Danneberg/Spoerhase: Wissen in Literatur, S. 46-52.

33

Ebd., S. 30.

34

Vgl. die wissenssoziologische Perspektive auf literarische Semantik bei Ort: Das Wissen der Literatur, S. 165-170.

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Landwehr auch von »Pluritemporalität«35 sprechen – gestalten, und zwar als sujet wie auch als auf die Formselektionen im Text ausstrahlende Darstellungsstrategien. Die Kultur der Moderne lässt sich mit einigem Recht als »wissenschaftlich reflektierte Kultur«36 bezeichnen. Für die Konstitution und Evolution kulturellen Zeitwissens bedeutet dies, dass Zeitwissen sich mit höherer Wahrscheinlichkeit behaupten kann, wenn wissens(chafts)spezifische Repräsentationsformen der Zeit in Anschlag gebracht werden, mit deren Hilfe Wissen in Form gesellschaftlicher Leistungen in die kulturelle Semantik Eingang findet und dort konsistente Kondensierungen und Konfirmationen produziert. Wissenschaftliches Wissen ist auch im nicht-wissenschaftlichen Diskurs über Zeit ein wesentlicher Faktor, wenn es um die Plausibilisierung von Gewissheiten und Ungewissheiten, Zurechenbarkeiten und Deutungen, Modi des Denkens und der Kommunikation in Bezug auf temporale Phänomene geht. Der Einschlag wissenschaftlichen Wissens in kulturelle und individuelle Wirklichkeitsauffassungen von Zeit lässt sich ablesen an den je dominanten Praktiken der Koordinierung von multiplen Eigenzeiten und den mit diesen Koordinierungen korrelierenden gesellschaftlichen Sinnangeboten, die auch der Beobachtung der Historizität und Kontingenz der Koordinierungspraktiken wie auch der Sinnangebote selbst Rechnung tragen müssen. Der Einsicht in die geschichtlich-kontextuelle Bedingtheit der Bestimmung von Zeit tritt die Einsicht in die synchrone Polykontexturalität ihrer Realität gegenüber. Zeit ist vor diesem Hintergrund nicht mehr unproblematische Totalkomponente von Realität, sondern findet sich dupliziert als Objekt in der Zeit, als Gegenstand von konstruierender Kognition und Kommunikation wieder. Was hier im Wesentlichen einer Desorientierung zugeführt wird, ist die Annahme einer Konformität der Zeit, die sich schlicht aus ihrer Quantifizierbarkeit und ihrer Modalität ableiten ließe. Denn Zeit soll einerseits die »Mehrfach-Instantiierung von Objekten«37 gewährleisten und ist gleichzeitig selbst Objekt von Tempus-und Zeitkonventionen, die stets symbolisch aufgeladen, interpretativ bestimmt und abhängig von technologischem Wandel, wissenschaftlichen Modellen und Theorien, Lebensbedingungen wie auch kommunikativen und medialen Rahmungen sind. Das Verständnis von Zeit, wie immer es ausfällt, steht vor der Aufgabe, die Alltagswahrnehmung von Zeit mit substantialistischen Schemata (Gleichförmigkeit der 35

Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten, S. 25 f. Landwehr hebt mit diesem Konzept dezidiert auf den »kumulativen Charakter« der Genese und Etablierung von Zeitwissen ab (ebd., S. 28): »Wenn alte Zeitmodelle verschwinden, dann nicht weil sie durch jüngere, bessere ersetzt worden wären, sondern weil sie ihre soziale Funktion verloren haben. Häufig werden sie aber neben anderen Formen des Umgangs mit Zeit weiterbestehen oder sich auch mit jüngeren Zeitmodellen vermischen.«

36

Brandstetter: Poetik der Kontingenz, S. 145.

37

Friebe: Zeit – Wirklichkeit – Persistenz, S. 135.

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Zeit), prozessualen Schemata (Zeit fließt) und nihilistischen Schemata (Zeitverlust) integrativ unter ›eine Realität‹ der Zeit zu subsumieren. Dieses Verständnis muss umso kompliziertere Strategien heranziehen, je mehr Beschleunigungsprozesse, telematische Kommunikation in Echtzeit und die damit erhöhte Beobachtbarkeit von Eigenzeiten die Einsicht potenzieren, dass »wir der Zeit nicht mehr gewiß sind.«38 Multiple Eigenzeiten bedeuten in einer polykontextural beobachtenden Gesellschaft auch multiple Regulative. Ihnen kommt zu, gleitende und überlappende Positionen in einem Diskurs zu besetzen, der sich erstreckt im Spannungsfeld zwischen den Polen ›Zeit als verfügbare Ressource‹ bzw. als Spielraum39 und Zeit als chronokratische, erhabene Taktmaschine, die das menschliche Leben normiert und die bei Normabweichungen Unfälle und Chronopathologien abwirft.40 An der Seite standardisierter Chronometrie laufen »Nebenuhren«41: individuelle, kommunikative, soziale und kulturelle Oszillatoren, die sich in biographischen Entwürfen, Geschichtsbewusstsein, Serialitätsdenken, Phasenanalogien, Fortschritts- und Entwicklungsdiskursen und umfassend in der ganzen Terminologie zeitlogischer Narrative manifestieren. Die Verdichtung dieser Nebenuhren zu Zeitparadigmen erfolgt aus dem Bedürfnis, die Schwingungen der Eigenzeiten und ihrer Phasen zu harmonisieren, was wiederum beobachtbar macht, wie sich auf der Ebene der Diskurse und der Semantik Oszillation ereignet. Auch die Eigenzeit der Diskurse und Semantiken tritt in das polyphone Ticken der Nebenuhren ein und erhöht und reduziert zugleich die Komplexität der temporalen Abgleichungsoptionen und -prozeduren. Mit der Vielzahl an Eigenzeiten zerfällt das Zeitlose der Zeit, ihre Universalität, in distinkte Zeitpräferenzen und Zeitbewertungen. Wissenschaftliche Zeitparadigmen entwerfen nicht nur mikrotemporale (Quantenzeit) und makrotemporale Skalen (kosmische Zeit), die die ›Normalzeit‹ beträchtlich expandieren oder empfindlich schrumpfen lassen können. Sie werfen auch die Medienartefakte ab, mit denen die Wahrnehmung dieser Zeitzonen virtuell ermöglicht wird (Zeitlupe, Zeitraffer, Computersimulationen, Umkehr der Bildzeitrichtung und Tonzeitrichtung). Die »medieninduzierte[ ] Transformation unserer Zeitwahrnehmung«42 wiederum wird – jenseits subjektiver Zeiterfahrungen und der Eindrücklichkeit der medialisierten Wahrnehmung von Zeit – im Funktionssystem 38

Tholen/Scholl/Heller: Bilder/Maschinen/Strategien/Rätsel, S. 12.

39

Vgl. Sichtermann: Zeitspielräume und Lebenskunst, S. 324.

40

Vgl. zur Subjektivierung der Machtposition ›Zeit‹ Brock: Zeitkrankheit, S. 326.

41

Schneider: Gott würfelt und schlägt den Takt, S. 140.

42

Sandbothe/Zimmerli: Zeit – Medien – Wahrnehmung, S. XII. Wolfgang Hagen formuliert in einer Paraphrase Bergsons: »Die Zeitkontraktion der von der Aktualität der Massenmedien erzeugten Gegenwart unterläuft gleichermaßen jeden anzunehmenden Augenblickspunkt, von dem aus man die Chance hätte, einen vergangenen Augenblick zu identifizieren, so wie er ›gewesen‹ war.« (Hagen: Gegenwartsvergessenheit, S. 8)

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Wissenschaft prozessiert. Dieses verfügt über die apparativen, simulativen, experimentellen und programmatischen Ressourcen, mit denen in alltägliche Zeitskalen hinein immer kleinere Intervalle und Wirkungsräume geschnitten werden. Dieses Prozessieren wirft zudem die Technologien ab, mit denen z.B. die kommunikativen Anschlüsse in immer kleineren Zeiträumen stattfinden und Ereignisse produzieren können. In diesen Zusammenhang fallen dann auch die Diagnosen einer ›Ästhetik des Verschwindens‹ durch die implodierende Sukzession ›intensiver Echtzeiten‹.43 Stimmt man dieser Diagnose, ohne ihren kulturkritischen Impetus zu übernehmen, zu, dann tritt neben die Frage nach dem Ereignischarakter der Erfahrung von intensivierter Zeit auch die nach der Differenzqualität der einzelnen Ereigniserfahrungen, die sich psychisch und sozial kondensieren und deren Anschlussfähigkeit wiederum sozial verhandelt wird – z.B. hinsichtlich der Frage, ob das beobachtete Ereignis als Evidenz für Kontinuität oder Diskontinuität zu markieren ist.44 Wenn, wie hier angenommen, soziale Zeit eine konstruierte symbolische Sinnstruktur – und somit reversibel und d.h. ein kulturhistorisches Konstrukt – ist, dann müssen auch machtheoretische Elemente dieser Strukturen ernst genommen werden, mit denen z.B. durch Institutionalisierung von Zeitmaßgaben eigenzeitliche Zeitroutinen und Zeitpraxis habitualisiert und objektiviert werden. Da sind zum einen die Epochenkonstruktionen, mit denen der (Welt-)Geschichte ein Sinngepräge aufgedrückt wird, da sind aber auch die Zeitlimitierungen und Fristenperturbationen des Ökonomischen45 und die Macht der Zeitverhältnisse des Politischen.46 Diese und andere Zeitmaßgaben organisieren und strukturieren in hohem Maße die praktischen Selbstverhältnisse des Einzelnen und von Kollektiven, wodurch sie auch ein wesentlicher Faktor bei der Konventionalisierung von Auffassungen von chaotischer oder geordneter Einbindung partikularer Eigenzeiten sind. Dadurch haben institutionalisierte Zeitparadigmen zentrale Konfigurationseffekte auf die Pragmatik der Beobachtung von Zeit. Sie sind, im Gegensatz zur diskreten Uhrzeit, der Taktung der Köperzeit und den Rhythmen und Zyklen der ›Naturzeit‹, wesentlich komplexere strukturelle Normierungen von Eigenzeiten.47 Es sind insbesondere die Zeitparadigmen der Funktionssysteme, an denen die Machtdurchsetztheit von Zeit43

Vgl. Virilio: Ästhetik des Verschwindens und Virilio: Rasender Stillstand.

44

Vgl. Spangenberg: Ereignisse und ihr Medium, S. 91.

45

Vgl. zum ästhetischen Spiel mit der Ökonomie knapper Fristen Weinrich: Knappe Zeit, S. 191-229.

46

»Zeitpolitik ist die Bedingung aller Politik. Politik kann nur stattfinden, wenn sie sich die ›Macht der Verhältnisse‹ nutzbar macht, wenn sie eine ›Zeit in der Zeit‹ einrichten kann, die als ›Macht der Verhältnisse‹ Bestand hat.« (Bußhoff: Die Zeitlichkeit der Politik, S. 9)

47

In diesen Zusammenhang gehört letztlich auch die funktionale Einteilung der persönlichen Lebenszeit in Schulzeit, Arbeitszeit, Freizeit etc.

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ordnungen ablesbar ist, und die mitinduzieren, welche Zeichen der Zeit überhaupt lesbar sind, wie die Deutungshoheiten über diese verteilt sind, welche Maße an Zeit angelegt und welche Qualitäten ihr zugesprochen werden.48 Ein prominentes Beispiel der Exhumierung solcher machtspezifischer Requalifizierungen von Zeit sind sicherlich Foucaults Arbeiten zur Disziplinierung des Subjekts durch Sequenzialisierung der Lebenszeit, durch Zeitdisziplinierung und Zeitentmachtung.49 Insbesondere am Beispiel der Zeitregime der Haftanstalten weist Foucault nach, wie die Lebenszeit der Delinquenten einer totalisierenden und keine anderen (Eigen-)Zeiten neben sich duldenden »Zweck-Zeit«50 subordiniert wird.51 Im Ereignisraster des disziplinierenden Zeitregimes folgt regelmäßig regelhafte Fortsetzung auf regelhafte Fortsetzung, hat »jede Fortsetzung den Charakter eines Ereignisses.«52

E REIGNISZEITEN

UND

E IGENZEITEN

Auf der Immanenzebene der Synchronisation von Eigenzeiten hat man es mit Beobachtungen von Zeithandhabungen zu tun, mit denen eine Homogenisierung der Zeit jenseits ihrer parametrisierten Form als Welt-/Uhrenzeit stattzufinden pflegt, die Organisations- und Koordinierungsfunktionen erfüllt, aber gerade dadurch sichtbar macht, dass Eigenzeiten synchronisiert werden müssen, weil die Einheit der differenten Zeiten in einer polykontexturalen Gesellschaft nicht mehr repräsentiert werden kann. So treten an die Stelle der großen Erzählungen die kleinen Geschichten, wird auch Geschichte mehr und mehr bottom up erzählt und differenziert sich in verschiedene narrative Stränge und Beobachtungsselektionen. Das Auseinanderfallen der Einheit der Zeit in Eigenzeiten wirft zwei Effekte ab, die – wenn nicht erstmalig in der Moderne, so doch hier besonders intensiviert – den Synchronisierungsbedarf der Gesellschaft kennzeichnen. Erstens ist die Frage der Synchronisation immer auch eine Frage der Richtung, in der temporale Koordination stattfindet. Orientierungsgrößen müssen auf ihre Sinnhaftigkeit geprüft, müssen vereinbart bzw. festgelegt werden. Dabei kommt unweigerlich der Faktor diskursiver Macht ins Spiel. Und zweitens manifestiert sich in der diskursiven, kulturellen und 48

Danach bemisst sich der Grad an Abweichung und Stigmatisierung devianter Eigenzeitlichkeit.

49

Vgl. z.B. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 192-200.

50

Ebd., S. 313.

51

Gegenfigur zu den Subjekten des monolinearen Zeitregimes ist der Typus des »Simultanten«, der seine Handlungsrealität auf die gleichzeitige Handhabung hybrider Zeitordnungen (Stichwort ›Multitasking‹) ausgerichtet hat (vgl. Geißler: Der Simultant, S. 31 f.).

52

Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 248.

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gesellschaftlichen Hierarchisierung der Zeitkonstruktionen ihr kontingenter Charakter, was auch zusätzliche Legitimationserfordernisse virulent macht, weil Zeit in der polykontexturalen Gesellschaft weder als Konzept, noch als Begriffsname oder als Erfahrungswert nur einer spezifischen Disziplin, nur einer exklusiven Formation, nur einem beobachtenden System zugeschrieben werden kann. Dass für die Moderne bescheinigt werden kann, dass die Möglichkeiten der Koordinierung und Planung immer exaktere Handhabungen der Differenzen der Eigenzeiten erlauben, wirft zugleich die Möglichkeit ab, die Parzellierung der Zeit nicht nur auf der Ebene ihrer immer kleinteiliger möglichen Taktungen zu beobachten, sondern auch hinsichtlich der Probleme, die sich ergeben aus den Versuchen, einem Zeitdenken den Vorzug zu geben, dass zu nah an die Vorstellung einer Einheit der Zeit heranführt. Eine Option, diesen Problemen zu begegnen lautet, Zeit als Ergebnis eines Zeitschemas zu denken, dass mit anderen Schemata interagieren, in ihnen aufgehen oder sie aufnehmen bzw. in exkludierender Konkurrenz oder variabler Kooperation stehen kann. Erst so kommt in den Blick, dass das beobachtete ›Gefüge der Zeit‹ zutreffender als Netz von Ereignissen zu beschreiben ist, das durch die diskursive Handhabung und narrative Funktionalisierung von Artefakten, Praktiken und Kommunikation kulturell geformt wird. Solche Formungen sind selbst wiederum diachron variabel und entfalten sich auch synchron facettenreich. Daher unterliegen die kumulierenden Zeitschemata Rekonfigurationen der sie behauptenden Legitimationsstrategien, narrativen Techniken und Verfahren. Wenn sich aber die Organisation von Zeit ändert, also auch objektivistische Zeitauffassungen in ihrer historischen Dynamik, in ihrer ›Eigenzeitlichkeit‹ auffällig werden, dann kommen Fragen nach der Erzählbarkeit und dem Erzählen von Zeit als Einheit oder als Pluritemporalität auf. Eine absolute Funktionsstelle von Zeit kann daher – weil Zeit eine beobachterabhängige Größe ist – nur mit komplizierten und angreifbaren Mechanismen der Invisibilisierung behauptet werden. Solche Mechanismen sind z.B. die Konstruktion dauerhafter kultureller, nationaler, gruppenspezifischer oder personaler Identitäten, die dem Wandel der Zeit in der Umwelt die Konstanz eines Systems entgegenhält. Was damit behauptet wird, ist, dass neben die quantitative Zeit der Natur-/Uhren-/Weltzeit eine qualitative Konstanz (als Zeitdauer) tritt.53 Aber auch hier ist nicht alles unproblematisch – im Gegenteil. Denn jede Identitätsbekundung, jede Konstanzbehauptung, jede Versicherung der Dauer ist operativ eine Differenz und ein Ereignis. Dieser Sachverhalt zieht die Notwendigkeit nach sich, gerade aufgrund der ständigen Selbstbehauptung das Selbst neu beobachten und es aufgrund der ständigen Selbstdynamisierung neu behaupten zu müssen. Ein Beobachter, der auf Identität beharrt, muss dann ausblenden, dass seine Identität nur Kolonisationskonstrukt von ereignishaften Differenzen und keine ausgedehnte Gegenwart ist. Dagegen spricht schon allein die Verortung des Beobachters in der heterarchischen 53

Vgl. Tholen: Risse im Gefüge der Zeit, S. 78 f.

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Kolonne anderer Beobachter und ihrer Eigenzeiten. Insofern lässt sich die Narration von Identität auch als heuristische Methode des Tastens nach stabilisierenden UnZeiten beschreiben, gleichsam als moderne Variante der heilsgeschichtlichen Unterscheidung Ewigkeit/Zeit. Mit ihrer Hilfe wird ausgeblendet, dass Konstrukte wie Identität, Kultur, Subjekt und Zeit nicht einfach eine ›Geschichte‹ haben, sondern ebenso zeitliche Konstrukte wie Konstrukte ihrer Zeit sind. Und hier wird dann auch deutlich, dass aus dem Dual von Zeit konstituierender Ereigniszeit und Zeitlichkeit beobachtender Eigenzeit der Impuls ausgeht für eine dialektische Zirkulationsordnung von Flüchtigkeit und Konstitution. Es gibt für sinnhaft prozessierende Beobachter keine »zeitvergessene Selbsterfülltheit«54, sondern lediglich die bedrohliche Konstanz des eigenen Verlöschens im Moment des Aufschubs durch das nächste phönixhafte Ereignis. Dieser Aufschubverkettung begegnen Beobachter mit selektiv organisierenden temporalen Referenzschemata, etwa solchen, die Prozessualität, Zyklik oder kausale Relationalität präferieren. Zeit ist in diesem Sinne ein bestimmter Modus von Verweisungsverhältnissen, die sich in Interpretations- bzw. Beobachtungsschemata auf Dauer stellen. Daher ist die Varietät der Zeiten letztlich das Ergebnis einer Varietät beobachterrelativer Syntheseleistungen, die gemäß ihrer Eigenzeit je partikulares In-Beziehung-Setzen von Ereignissen aktualisieren. Jeder Beobachter, so lässt sich sagen, führt seine »in time existence« und seine je eigenen dynamisch stabilisierten »histories and futures«55 mit sich. So kommt es dazu, dass sich die Vergangenheitsdeutungen und Zukunftsprojektionen von Ereignis zu Ereignis beharrlich gegeneinander abgrenzen, weil sie nicht anders konstituiert werden können denn als gegenwärtige Horizonte je singulärer und horizontverschiebender Gegenwarten. Die Stabilisierungs- und Orientierungsfunktionen selbst aber sind es, die als Indikator für die »Pluralität gleichzeitiger Zeiten« auffallen und die bewussten oder unbewussten Verflechtungen einer »Multitemporalität«56 beobachten bzw. erahnen lassen. Dass diese Multitemporalität mit jedem Ereignis anders ausfällt, ja logischerweise ausfallen muss, und in der differenziellen Kontinuität einer »unschlichtbare[n] Rivalität«57 zwischen den Eigenzeiten ereignishaft insistiert, durchdringt die Strukturalität der Zeit als generischen Impuls wie auch als Beobachtungsschema aufgrund der impliziten Alterität. Diesen impliziten Aspekt der Alterierung hat Günter Dux im Bild vom »ungeheuren Bewegungsgeflecht der Ereignisse«58 veranschaulicht, deren Output als en54

Urbich: Operative Zeit, S. 29.

55

Adams: Social versus natural time, S. 216.

56

Vorderstraße: Zeit, S. 123.

57

Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, S. 27. Blumenberg stellt für den Dualismus Lebenszeit/Weltzeit eine solche beharrliche Rivalität fest.

58

Dux: Die Zeit in der Geschichte, S. 339.

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dogene Unruhe konstitutiv ist für die Zeit. Dort wo diese Unruhe waltet, kann von Invarianz strenggenommen weder als Zustand, noch als Endpunkt die Rede sein, denn diese Invarianz muss erst beobachtend hergestellt werden und versieht jede Reklamation von Konsistenz und Kohärenz mit dem Index der Varianz. Diese Unruhe ist sinnbildend und sinnstiftend, indem sie Aktualität markiert und gleichzeitig einen Horizont an nicht Aktualisiertem mitkonstituiert, der gleichzeitig anfällt, aber nur ungleichzeitig aktualisiert werden kann. Operativ gesehen fallen im Sinnbegriff als differenzlosem Begriff marked space und unmarked space simultanpräsent an. Als Verweisungsdual, der eine Verweisungs- und eine Blindseite zugleich abwirft, trägt die Aktualisierung im Ereignis ihrer Konstitution das Nichtaktualisierte mit sich: »Die Verweisung aktualisiert sich als Standpunkt der Wirklichkeit, aber sie bezieht nicht nur Wirkliches (präsumtiv Wirkliches) ein, sondern auch Mögliches (konditional Wirkliches) und Negatives (Unwirkliches, Unmögliches)«59. Aber sie kann nicht beides zugleich markieren, kann daher auch nicht aktualisierend agieren und zugleich zum unmarkierten, aber stets mitkonstituierten Horizont hindurchstoßen. Daraus ergeben sich zwei zeitstrukturelle Konsequenzen. Zunächst lässt sich die Realität nicht mehr als ein über den Zeitpunkt des Gegenwärtigen hinaus Identisches erfassen, weil spätestens bzw. frühestens auf der Ebene der Konstitution von Realität der temporal-differentielle Charakter dieser Realität anfällt. Die Einheitlichkeit der Realität (auch der von Zeit) kann dann aber nicht mehr primordial veranschlagt werden, sondern ist mühsam als Amalgam unterschiedlicher Realitäten und unterschiedlicher Eigenzeiten herzustellen. Und dieses Amalgam selbst ist wiederum immer nur in der Gegenwart beobachtbar und damit selbst temporalisiert. So müssen moderne Beobachtungen der Zeit letztlich ihre »eigene Position in die Zeitlichkeit der Welt«60 einbauen, was aufgrund der drastischen Temporalisierung von Gegenwart und der drastischen Heterogenität von Eigenzeiten, die nicht per se kommensurabel sind, hinausläuft auf den Verzicht auf die Idee einer Einheit, die sich als moderne Verheißung apostrophieren lässt. Nassehi folgert hieraus: »Es ist dies die alte, immer wieder neue Verheißung, daß Differenzierung eben doch auf Einheit verweist, daß sie nur ein Durchgangsstadium zur Integration ist und daß sich die Entzweiungen der Moderne am Ende so auflösen lassen, wie es die frühe Moderne versprochen hatte: in der Integration der Teile für eine bessere Zukunft.«61

59

Luhmann: Soziale Systeme, S. 93.

60

Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 199.

61

Ebd., S. 14.

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In diesem Fahrwasser der frühen Moderne bewegt sich noch Hartmut Rosa, wenn er »Subjekten […] zeitstabile[ ] Perspektiven«62 zuschreibt. Rosas breit rezipierte63 und zitierte »Entfremdungskritik«64 verliert dabei zwei wesentliche Formierungsaspekte aus dem Blickfeld: Erstens inauguriert sie wieder ein Subjekt, dass jenseits von sozialer Adressierung und diskursiver Formierung »als apriori-Instanz der Autonomie, der Moralität, der Selbsterkenntnis oder des zielgerichteten Handelns«65 angerufen wird. Es ist dabei zu betonen, dass gerade die von Foucault als assujettissement bezeichnete, im Deutschen mit dem Begriff der »Subjektivation«66 wiedergegebene Hervorbringung des Subjekts durch diskursive Machtmechanismen wie auch seine Unterwerfung unter dieselben gleichzeitig anfallen und somit temporal paradox verschränkt sind.67 Zweitens erliegt Rosa den »Identitätsverlockungen«68 einer Subjektsemantik, die, um eine Zeitstabilität subjektiver Perspektiven überhaupt behaupten zu können, ausblenden muss, dass ›Subjekte‹ operativ stets neu zu aktualisierende Adressen kommunikativer Zurechnungen zwischen Akteuren sind und nicht etwa beobachter- und zeitstabile Standpunkte, die am trockenen Ufer des Zeitflusses weilen. Aus operativ-konstruktivistischer Perspektive sind auch Subjekte (nur) zeitlich verfasste Aktualisierungen einer zeitlich verfassten Beobachtung von Wirklichkeit.69 Blickt man nun mit einer operativen Optik nicht mehr auf Subjekte, als würde man eine absolute Präsenz jenseits temporaler Ereignishaftigkeit in Augenschein nehmen können, sondern macht sich sensibel für die temporale Mikrologik der empirischen differenziellen Ereignisse, mit denen ›Subjekt‹ und ›Präsenz‹ als Einheiten erst unterscheidbar werden und mit immer neuen Ereignissen und ergo Differenzen unterscheidbar gehalten werden müssen, dann erhellt, dass Einheiten nicht präreflexiv vorkommen. Hier mag es hilfreich sein, von der tradierten Zentralperspektive auf das Subjekt hinüber in den abstrakten Perspektivismus

62

Rosa: Soziale Beschleunigung, S. 483.

63

Aus literaturwissenschaftlicher Position heraus jüngst etwa Pause: Texturen der Zeit, S. 122-134.

64

Rosa: Soziale Beschleunigung, S. 483.

65

Reckwitz: Subjekt, S. 24.

66

Butler: Psyche der Macht, S. 82.

67

»Der Ausdruck ›Subjektivation‹ birgt bereits das Paradox in sich: assujetissement bezeichnet sowohl das Werden des Subjekts wie den Prozeß der Unterwerfung« (ebd., S. 81).

68 69

Ebd., S. 122. An diesem Punkt treffen sich die machttheoretischen Subjektivationsanalysen Foucaults, die zeichenimmanente De-Ontologisierung des Subjekts bei Derrida und die Ableitung der Genese des Subjekts aus komplexen Kommunikationsprozessen bei Luhmann. Siehe hierzu auch Nassehi/Nollmann: Einleitung, S. 12.

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temporalisierter Beobachter zu wechseln, denen von einem Beobachter Eigenzeiten attestiert werden.70 Als Eigenzeit aber wird Zeit selbstreferentiell und instabil, weil sie sich als pluralisiert herausstellt. Das macht in der Folge Semantiken notwendig, die mit dem Umstand umzugehen erlauben, dass Eigenzeiten aufgrund der »Differenz der systemischen Eigenzeiten« nicht »ineinander übersetzbar«71, folglich auch nicht auf eine wie auch immer gedachte Einheit zurückführbar sind. Der moderne Versuch, die Differenz der Eigenzeiten zu entdifferenzieren, sieht sich mit der »Unmöglichkeit 70

Die Literatur hat diese Wende bereits vollzogen. Äußerst raffiniert ist dies veranschaulicht in Christoph Ransmayrs Die letzte Welt. So erfährt der Protagonist Cotta die Verwirrung der Einheiten ›Subjekt‹ und ›Präsenz‹, wenn er, aus seinen die Antike und das 20. Jahrhundert amalgamierenden Beobachtungen der Welt heraus, an die Sinnförmigkeit derselben zurückgebunden bleibt und mit jeder neuen Unterscheidung, mit jeder weiteren Beobachtung in den fluktuierenden Verweisungshorizont seiner Eigenzeit hineingezogen wird. Cottas Versuch, den antiken Dichter Publius Ovidius Naso in einem industriellen Kaff des 20. Jahrhunderts aufzuspüren, ist lesbar als der Versuch der Homogenisierung zweier disparater Zeiträume durch die Instandsetzung einer fantastischen Kontinuität zwischen Antike und Moderne innerhalb einer Lebensspanne. Der Roman belässt es dabei aber nicht bei logischen Anachronismen, die sich unweigerlich aus diesem Zeitphantasma ergeben. Vielmehr zelebriert er in künstlerischer Form, wie mit jedem Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Handlungsereignis das ›Subjekt‹ Cotta zugleich als (kommunikative) Einheit beobachtbar und dennoch durch den Andrang von Unterschieden temporal geklammert bleiben muss. Der Versuch der Homogenisierung der Makrowelt ist nur zu haben auf Kosten der Heterogenisierung der Mikrowelt des Beobachters. Dass auch diese Mikrowelt keine zeitlose Größe darstellt, sondern eine operative Variable, erfährt Cotta letztlich durch sein Verschwinden im Zeichenspiel des Textes, in das er als Signifikant einfließt. Ransmayr lässt diese Auflösung mit kommunikativ paradoxer Geste die Geschichte abschließen, indem er in der letzten Szene Cotta im Isolationsraum des Gebirges seinem Selbst überlässt: »Wenn er innehielt und Atem schöpfte und dann winzig vor den Felsüberhängen stand, schleuderte Cotta diese Silben manchmal gegen den Stein und antwortete hier!, wenn ihn der Widerhall des Schreies erreichte; denn was so gebrochen und so vertraut von den Wänden zurückschlug, war sein eigener Name.« (Ransmayr: Die letzte Welt, S. 288) Die Paradoxie wird in dieser letzten Szene unmittelbar deutlich: Der Versuch, das Vertraute zu kommunizieren, weist dieses schlicht als in seiner Einheit inkommunikabel (»gebrochen«) aus, was in der Isolationsszenerie noch dadurch steigert wird, dass sie Cotta ohne Kommunikationspartner belässt, denn das Echo, auf das er antwortet, muss er als Teilung ›seines‹ ›Ich‹ beobachten, um überhaupt Kommunikation simulieren zu können.

71

Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 317.

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des Ganzseinkönnens«72 der Zeit konfrontiert. Solche Semantikbedürfnisse sind jeweils auf aktuelle gesellschaftsstrukturelle Konstellationen geeicht, bergen aber das Risiko, von künftigen Beobachtungen selbst als historisch beschrieben zu werden. So ist es paradoxerweise gerade die Konstitution sozialer Realität von Zeit durch Kommunikation und deren Kondensationsartefakte, durch die Zeit auch kommunikativ nicht ohne Widersprüche mit dem Index des Identitären ausgestattet werden kann. Die erfolgreichste Invisibilisierung des Konstitutionscharakters von Zeit leistet sicherlich die abstrakte und standardisierte Uhr-/Weltzeit. Und die Möglichkeiten der ›Neuen Medien‹, Kommunikationsinhalte mit minimaler Zeitverzögerung über den ganzen Globus verfügbar zu machen, spielt der Vorstellung einer durch Uhren bloß gemessenen, aber ihnen primordial vorgelagerten substantiellen Zeit in die Karten.73 Dass Albert Einstein vor rund hundert Jahren die Uhr selbst in Inertialsysteme verbannte und die rationale Beschreibung von Zeit durch die postrationale Beschreibung von Seiten eines Beobachters ersetzte74, bleibt für die praktische Behauptung eines natürlichen Wesens der Zeit im Alltag (aus pragmatischen Gründen) meist folgenlos. Ausgeblendet bleibt aber auch, dass die standardisierte Weltzeit das Ergebnis eines ›historischen Aprioris‹75 ist, das den Status einer Chronologik nur erfahren konnte durch die Chronologistik der Kommunikation von Zeitzonen, Datumsgrenzen und Zeitkoordinaten, wie sie mit der Meridiankonferenz von 1884 festgelegt wurden.76 Zusammen mit der telematischen Quasi-Instantanität über große Räume hinweg kommt es offenbar zu einer »Privilegierung von Zeit gegenüber dem Raum« in einer ›Welt‹, »die nicht mehr durch fundamentale räumliche Differenzen geschieden ist«77. Die ästhetische Konzeption und aisthetische Dimension der Literatur kann mit der telematischen Quasi-Simultaneität von Ereignis und Darstellung in den elektronischen Medien kaum konkurrieren. Wohl aber kann sie sich aufgrund ihrer intelli-

72 73

Heidegger: Sein und Zeit, S. 236 f. Götz Großklaus sieht in der Ereignisverdichtung durch telematische Medien eine »Verwischung der alten Zeitgrenzen« (Großklaus: Medien-Zeit, S. 38), die einhergeht mit einer »Einebnung symbolischer Differenz und symbolischen Abstands« (Großklaus: Medien-Bilder, S. 180). Man könnte in solchen Diagnosen durchaus noch eine für modernes Denken typische »Privilegierung der Tiefe« (Esposito: Soziales Vergessen, S. 347) wittern.

74

Vgl. Einstein: Grundzüge der Relativitätstheorie, S. 30 ff.

75

Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 198.

76

Vgl. Nowotny: Eigenzeit, S. 25 f.

77

Stichweh: Weltgesellschaft, zit. n. Reinfandt: Raum und Zeit, S. 331. Vgl. zu den historischen Stationen der Etablierung einer raumerodierenden Tele-Kultur insbesondere Nowzad: Zeit der Medien, S. 102-138.

104 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

giblen Rezeptionsanforderungen weitgehend gegen die »Intervall-Löschung«78 immunisieren, mit der technisch-audiovisuelle Medienformen die adäquate Korrespondenz von Ereignis und Darstellung – und somit letztlich Authentizität – reklamieren. Den tumulthaften Verschaltungsvorgängen in telekommunikativen Netzen steht die Literatur entgegen mit spezifisch evoluierten Aufmerksamkeitsstrukturen und fiktional-epistemischen Reflexionsofferten, die auch spezifische Reflexionen der Weltbeobachtung zur Disposition stellen. Was Jochen Hörisch nicht ohne Emphase für das Buch als verbreitungsmediale Plattform literarischer Texte feststellt, mag in dieser Hinsicht auch für Literatur als Medium von Zeitbeobachtung und Zeitreflexion (im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung) durchaus Geltung beanspruchen. Das literarische Werk in seiner Buchform, so Hörisch, erweise sich immer mehr als exaltierte Gegenbewegung zu Konkurrenzmedien und den die Mediengrenzen transgredierenden Formen elektronischer Verbundmedien, indem es »darauf häufig genug in exzentrischer Weise [reagiert] (d.h. Literatur wird schwierig, abseitig, a-normal). Aber lässt sich von der Peripherie her nicht besser beobachten, was im tumultösen Zentrum vor sich geht?«79 Die Peripherie/ZentrumDifferenz, die Hörisch bemüht, weist der Literatur einen rebellischen Status zu, mit dem sie sich in Form eines Gegenparts zum ›Medienimperialismus‹ der ›Neuen Medien‹ positionieren könne. Ob eine solche streng dichotomische Mediendifferenz vor dem Hintergrund der mutuellen Transferrelation zwischen den unterschiedlichen Medientypen haltbar ist, dürfte zu bezweifeln sein, zumal nicht von der Hand zu weisen ist, dass das Oppositionsverhältnis von Literatur und Medien oftmals kulturkritisch gefärbt ist.80 Unzweifelhaft dürfte allerdings sein, dass literarische Texte – als Form im Medium schriftbasierter Formselektionen – den temporalen Szenarien audiovisueller Instantanität »die Mittelbarkeit der textuellen Darstellung«81 entgegenhalten können und damit nicht nur die Temporalstrukturen von Medien, sondern auch die Medialität der Zeit konkretisierbar werden. Literatur hat es aufgrund dieser Mittelbarkeit augenscheinlich sichtlich schwerer, die Suggestion von Präsenz aufrechtzuerhalten, als audiovisuelle Medientypen. Darin kann aber auch ein rezeptionskontemplativer82 Vorteil liegen, wenn dadurch die Wahrscheinlichkeit einer »psychischen Dekonditionierung des Beobachtens«83 erhöht werden kann. 78

Großklaus: Medien-Zeit, S. 44.

79

Hörisch: Ende der Vorstellung, S. 130.

80

Vgl. Stanitzek: Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses über Medien, S. 54. Mit ähnlicher Einschätzung auch Jahraus: Literatur als Medium, S. 578 f.

81 82

Pause: Texturen der Zeit, S. 183. Kontemplation hier verstanden im Sinne einer kritischen Zerstreuung eingeschliffener Beobachtungsroutinen und eindimensionaler, und d.h. dann auch monokontexturaler Perspektiven.

83

Luhmann: Weltkunst, S. 218.

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Dadurch, dass literarische Zeitbeobachtung stets durch Hinweis auf die »Unwahrscheinlichkeit ihrer Zeichenwelt«84 auch die Artifizialität und Kontingenz ihrer zeitthematischen Gewissheitskonstrukte exponiert, ist der literarisch-fiktionalen Konfiguration von Zeitbeobachtung eine besondere Funktion immanent. Gilt nämlich für sie ein exaltiertes Exponieren der Unmöglichkeit latenzloser Beobachtung, weil sie die zeichenformalen Konstitutions- und Konstruktionsgrundlagen der Beobachtung der Realität von Welt und Zeit nicht an sich invisibilisieren kann, dann sind die Möglichkeiten der Literatur, Zeit multiperspektivisch und multikonstitutiv zu organisieren, medienspezifisch zu kontextualisieren. Denn dort wo man es mit der Inszenierung unwahrscheinlicher Formselektionen zu tun bekommt, gerät auch Zeit in den Verdacht, letztlich als Epiphänomen eines kontingenten Beobachtungschemas zu entstehen. In diesem Sinne bietet der literarische Text mithilfe seiner schriftmedialen Markierung der Distanz von Ereignis und seiner Mitteilung die Kulisse für die Reformulierung des operativen Emplacements, das konstitutiv ist für jede Form der Beobachtung von Gegenwart im Besonderen und Zeit im Allgemeinen.

L ITERATUR

ALS

U NRUHESTIFTER

An diesem Punkt, der als Gelenkstelle zwischen den Implikaten einer Theorie operativer Zeit und literaturwissenschaftlicher Interesselage fungiert, scheint es sinnvoll, noch einmal in sehr knapper Form die Differenz von operativer Zeit und Beobachtungszeit hervorzuheben, um anschließend die Rahmenfigurationen einer literarischen Ästhetik operativer Zeit zu markieren. Es wurde festgehalten, dass operative Zeit die elementare Ereignistemporalität sinnprozessierender Systeme ist, ohne die diese sich nicht auf Dauer stellen können: »Operativ wird Zeit immer schon dadurch aktualisiert, daß die Autopoiesis des Systems von Moment zu Moment [bzw. von Anschlussereignis zu Anschlussereignis; M.G.] fortschreitet«85. Für diese Zeit gilt, dass sie nicht primordiales Fundament für Ereignisse ist, sondern selbst erst als Epiphänomen von operativen Ereignissen anfällt. Beobachtungszeit hingegen ist das Ergebnis der Anwendung eines temporalen Schemas auf die diskursive Thematisierung oder kognitive Prozessierung von Zeit. Die Paradoxie der Zeit kommt nun dort zum Vorschein, wo die Unterscheidung von operativer Zeit und Beobachtungszeit selbst zugleich als genetisches Ergebnis einer Operation und als Beobachtungsresultat abfällt. Damit ist Zeit zweifach aktiv: Zum einen als unhintergehbare Notwendigkeit der Aktualisierung von Systemereignissen. Zum anderen gewinnt sie die »Form eines Mediums, nämlich die Form eines Bereichs kombina84

Ebd., S. 256.

85

Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 108.

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torischer Möglichkeiten, in den hinein Kausalitäten konzipiert werden und Eigenform gewinnen können.«86 Mit anderen Worten: Zeit wird nicht nur beobachterrelativ konstituiert, sondern auch beobachterrelativ bezeichnet, gehandhabt und semantisiert. Dieser Dual lässt sich auch analog abbilden über das Schema Mikrologik der Zeit/Mikropolitik der Zeit. Während die Mikrologik in der ereignistemporalen Sukzessivität von Sinnanschlüssen besteht, umfasst die Mikropolitik die diskursiven Kontexte, semantischen Rahmungen und kulturellen Schemata, die die Wahrnehmung, Erfahrung von wie auch die Kommunikation über Zeit präfigurieren. Schärft man nun den literaturanalytischen Blick auf die Ebene der operativen Zeit, so erhellen andere Figuren des Temporalen, die durchaus auch auf die Perturbation außerliterarischer Zeit im Binnenraum des Textes abzielen. Es werden aber zudem auch die Elemente einer Mikrologik der Zeit relevant, weil Zeit auf elementarer Ebene als Produkt von Zeitbeobachtung mitgeneriert wird. Damit fällt zugleich Licht auf die Frage, mit welchen Mitteln eine operativ sensitive Literatur diese Mikrologik und Mikropolitik der Zeit ästhetisch reflektiert. Es stellt sich also die Frage nach einer – wenn man so will – Mikroästhetik der Zeit. Eine solche Mikroästhetik ließe sich festmachen an der poetischen Formierung, Ornamentierung und Reflexion der »kleinsten innerweltlichen Züge« durch einen »mikrologischen Blick«87 auf die Zeit – mit den Mitteln einer sensiblen literarischen Optik für das Kleinste, Elementarste der Beobachtung von Zeit. Abseits der Annahme, das Kunstwerk selbst sei ein ästhetisches Ereignis im emphatischen Sinne, kann dann für ausgewiesene literarische Texte veranschlagt werden, dass ihre Spielart der Zeitbeobachtung darauf hinaus läuft, dem Flüchtigen der Mikrologik der Zeit »Dauer zu verleihen«88. Damit ist letztlich nicht nur das überwältigende Ereignis als diskurstranszendentes Phänomen gemeint, dessen Sagbarkeit Derrida als paradoxe und »gewisse Unmöglichkeit der Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen«89 ausweist, das stets »am Rande der Phänomenalität angesiedelt ist«90 und das dennoch zu seiner Lesbarkeit einer repräsentativen Form bedarf, um referenziell adressiert werden zu können.91 Andernfalls, so ließe sich metaphorisch hinzufügen, blieben Ereignisse geräuschlos. Das Paradigma des Singulären, des je einzigartigen Risses, der den Diskurs irritiert, bliebe ohne Nachhall, gäbe es nicht Epigrammatiken seiner 86

Ebd., S. 116.

87

Adorno: Negative Dialektik, S. 400.

88

Gadamer: Die Aktualität des Schönen, S. 62. Den Spielaspekt der Kunst und ihre exzeptionelle Entzeitlichungsfunktion, die sie von anderen Formen des Spiels unterscheidet, erhebt Gadamer zum Wesen der Kunst. So weit gehe ich nicht. Siehe zum Motiv der Zeitbindung durch Kunstwerke auch Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 84.

89

Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen.

90

Hamacher: Über einige Unterschiede, S. 11.

91

Vgl. Richter: Ästhetik des Ereignisses, S. 11.

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Bestimmung und Symbolisierungen als gleichsam zeitenthobene Zeit. Und diese Epigrammatiken wirken nicht nur in der Zeit, sondern sie bringen als Operationen auch Zeit hervor und sind daher Elemente des fortwährenden Andrangs von Ereignishaftigkeit. Dieser Andrang lässt sich als Ereignisfülle beschreiben, und er erzeugt basal erst die Zeit, mit der beobachtete Ereignisse (seien diese nun banale Geschehnisse oder epiphanisch aufgeladene Vorfälle) zu Sinneinheiten strukturiert werden. Eine Mikroästhetik der Zeit wäre dann eine temporal fokussierende Form einer operativen Ästhetik92, die sich mit ihrer Formgebung der Exploration von Zeiterzeugung durch Zeiterfahrung bzw. Zeitbeobachtung widmet und damit die operative wie auch die beobachtete Zeit gegeneinander führt und in ihren Verstrickungen ästhetisch wahrnehmbar macht. Das operative Ereignis muss lediglich dem Minimalschema vorher/nachher genügen und eine Alternanz durch Differenz markieren, während sich für den emphatischen Ereignisbegriff zusätzlich qualitative Merkmalskataloge formuliert finden: »Jedes Ereignis impliziert eine Zustandsveränderung, aber nicht jede Zustandsveränderung bildet ein Ereignis.«93 Dieses von Wolfgang Schmid formulierte und an Juri Lotmans Unterscheidung von Sujet und Ereignis anknüpfende Qualifikationserfordernis bezüglich des emphatischen Ereignisses hebt aber sichtlich auf das Ereignis als Epiphänomen einer Beobachtung ab. Zieht man dann noch die gattungsspezifischen und kulturellen Sets zur Bestimmung von Ereignishaftigkeit heran, so hat man ein aussagekräftiges Bündel diskursiver Erwartungsstrukturen, an denen das Eintreten des Unerwarteten hinsichtlich seines Impacts gemessen – und das heißt: beobachtet – werden kann.94 Das operative Ereignis ist gleichsam der »Quellpunkt diverser Möglichkeiten«95, und der Text selbst ist ein Feld solcher Möglichkeiten, in das hinein sich eine binnenreferentielle Ordnungs- und Organisationsform von Sprache aktualisierend einschreibt. Kein Aktualisierungsereignis im Text ist dabei – da im Medium der Sprache realisiert – autark und frei von Spuren vormaliger Aktualisierungsverkettungen und der Hegemoniekontaminationen des jeweiligen Diskurstyps, in dem es vormals zirkulierte. Jedes Wort, jeder Satz ist – wenn man nur kleinteilig genug beobachtet – in eine Fortsetzungslogik eingelassen, die sich von Aktualisierung zu Aktualisierung von Möglichkeiten hangelt, und in der auch die Absenz von Aktualisierung eine Aktualisierung darstellt und Sinn erzeugen kann. In dieser Logik besteht nicht nur die »Möglichkeit des Widerstreits bei der geringfügigsten Verket92

Abweichend von dem hier unterbreiteten Vorschlag verwendet Klaus L. Berghahn den Terminus der operativen Ästhetik zur Bezeichnung ästhetischer Formgebung in der dokumentarischen Literatur.

93

Schmid: Elemente der Narratologie, S. 14.

94

Vgl. ebd., S. 21 f.

95

Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 247.

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tung«96, sondern die Notwendigkeit des Widerstreits ergibt sich temporal aus der ereignistemporalen Anschlussfolge und der Kontingenz der Ereignishaftigkeit der Anschlüsse selbst – mit Auswirkungen auf die Spezifik des Ereignisbegriffs: »Die Zeit verwandelt sich von der Unilinearität zur Komplexion möglicher Ursprünge. Die verschiedenen Ketten und Dimensionen, die den Augenblick durchlaufen, werden ausdrücklich, und man erfährt, daß, was faktisch eintritt, in einem sehr elementaren Sinn keineswegs vorausbestimmt ist. Es bestehen je mehrere, darunter sehr verschiedenartige Möglichkeiten. […] In dieser Erfahrungslage gewinnt Geschehen den Charakter von Ereignis zurück.«97

Folglich geht es bei der empirischen Erdung des Ereignisbegriffs nicht um eine simple Umkehrung, also um die Subversion von Ereignishaftigkeit an sich, auch nicht um die Formierung einer Poetik des ›Nicht-Ereignisses‹.98 Die Veranschaulichung von Ereignishaftigkeit kann literarisch in einem doppelten performativen Vollzug erfolgen. Zum einen kann Literatur ausgeprägte Ereignishaftigkeit und Ereignisvernetzungen generieren, indem sie Ereignisse, Prozesse, Strukturen und Geschichten im innerliterarischen Zeituniversum des fiktionalen Textgebildes markiert. Zum anderen sind diese Derivationen des Ereignishaften in Literatur immer schon überformt durch die spezifisch-poetischen ereignishaften Konstruktionsleistungen, die das Ergebnis einer Evolution von ästhetischen Gegenzeiten sind. Das Potential literarischer Ereignishaftigkeit kommt insbesondere dann zur Geltung, wenn der performative Vollzug der Konstruktion von Ereignishaftigkeit im Text selbstreferentiell ausgestellt wird. Texte, die ihr performatives Verhältnis zur prozessualen Formierung von Zeit zur Schau stellen, ermöglichen eine stärkere Aufmerksamkeit für die Reflexionsleistung von Literatur. Eine solche Literatur wäre dann nicht auf die Funktion der poetisch-skripturalen Vorführung von Begebnissen reduzierbar, die sich einem lesenden Erleben exponieren. Sofern Texte ihre Zeitformierungskompetenzen ausweisen und herausstreichen, markieren sie diese als ästhetisch relevante Felder. Das sagt freilich noch nichts darüber aus, ob die tatsächliche Wahrnehmung im Akt des Lesens diese selbstreferentielle Offerte bemerkt. Aber es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass nicht nur die textinterne temporale Dynamik erfahren wird, sondern zusätzlich auch die ästhetische Begegnung mit dem Text als Begegnung mit einem autonomen Zeitkomplex. Insofern sind innerliterarische Zeitkomplemente in solchen Texten, die ihre Formselektionen als Information neben die thematische Komponente stellen, Aufmerksamkeitsbojen für die Rezeption der textuellen Temporalisierungsstrategien. Dass diese Zeitkomplemente weit über die Möglichkeiten der narrativen Zeitmodulationen oder der Dar96

Lyotard: Der Widerstreit, S. 231.

97

Welsch: Unsere postmoderne Moderne, S. 248.

98

Auf diese Aspekte ausgerichtet ist die Studie von Gruber: Ereignisse in aller Kürze.

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stellung der fiktiven Zeiterfahrung literarischer Figuren hinausgehen, will diese Arbeit an exemplarischen Lektüren zeigen. Von besonderem Interesse für diese Untersuchung ist demzufolge auch, in welcher Gestalt die Verflechtung, Verdichtung und Auflösung temporaler Strukturen durch den Text im Text zur wesentlichen Information wird und diesen zu einer metatheoretischen Figuration des literarisch Zeitlichen macht. Denn dadurch gewinnt das literarische Artefakt – im Falle der Thematisierung der gesellschaftlichen Konstruktionsformen des Temporalen – eine reflexive Tiefe, die sich aus der ästhetischen Rückwendung auf die Bedingungen der Möglichkeit auch der je eigenen Zeitbeobachtung ergibt. Dabei ergeben sich für literarische Zeit-Texte Meta-Metapositionen, von denen aus textintern amalgamierende, kollabierende, divergierende und konfligierende Zeit-Metapositionen durchgespielt werden können, die die Texte auch selbstreferentiell spiegeln und an ihre eigenen temporalen Bedingungen der Möglichkeit koppeln. Das betrifft durchaus das konstruktive und perspektivische Moment einer Vielzahl von literarischen Reflexionen des Zeit-Themas, ob es sich nun um die literarische Transcodierung von komplexen (natur-)wissenschaftlichen Modellen der Zeit handelt, oder um das experimentelle und subversive Spiel mit narratologischen Zeitmustern. Gerade postmoderne Literatur schlägt hier zu Buche, sofern an ihr eine »emphasis on the simultaneity of different perspectives and moments in time as an organizational device, and the diminished importance of temporal succession as a medium of narrative meaning«99 Form gewinnt. Eine Konsequenz aus der metatemporal zeitmanipulativen Orientierung literarischer Narrationsmuster ist die Konzeption narratologischer Schemata, mit denen auch solche narrativen Zeitformen beobachtbar sind, die Brian Richardson unter den Begriff »antichronies«100 subsumiert. Allerdings blieben solche ästhetischen Strukturen hinter den Destruktionen der Substantialität der Zeit, wie sie Philosophie, Naturwissenschaft und Soziologie bereits betreiben, in einem wesentlichen Punkt zurück. Man hätte es nämlich vornehmlich zu tun mit einer poetischen Inblicknahme des diskursiven ›Materials‹ Zeit und seiner textuellen Verarbeitungsformen. So lässt sich zwar mit solchen Inblicknahmen nachweisen, dass Literatur sich als spezifisches Medium der verbalisierten Derealisierung von Zeit anbietet, indem sie mit ihren Beiträgen die Phänomenologie der Zeiterfahrungen gezielt um Anachronismen, Anomalien und Paradoxien erweitert und als prinzipiell offen denken lässt. In diesem Sinne wäre die Gegenständlichkeit der Kunst das Medium zur Veranschaulichung der Inkompatibilität 99

Heise: Chronoschisms, S. 51.

100 Richardson: Narrative Poetics and Postmodern Transgression, S. 30. Richardson geht es um die narrativen Zeitformen, »that nevertheless cannot be contained within a Genettean framework«; Richardson denkt dabei an zirkuläre, kontradiktorische, antinomische, differenzielle, amalgamierende und multiple Erzählstrategien (vgl. ebd., S. 57 f., das Zitat auf S. 24).

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linearer Zeitkonzepte oder gar der Ungegenständlichkeit der Zeit. Dies setzt sich etwa der Erzähler in Botho Strauß‹ Roman Der junge Mann expositorisch zum Ziel: Er werde »bis zuletzt dem Zeitpfeil trotzen und den Schild der Poesie gegen ihn erheben«101. Auch ist ein wesentliches Merkmal solcher und anderer zeitthematischer Texte durchaus die Semantisierung der Gleichzeitigkeit divergenter Zeiten, die im Medium ästhetischer Zeitreflexion konfligieren. Eine wichtige Dimension des Temporalen bliebe bei einer solchen engen Fokussierung tatsächlich ausgespart: das ständige gegenseitige Durchkreuzen von Ereigniszeiten und Eigenzeiten, von endogener Unruhe und des auf diese angewiesenen Aufbaus von komplexen Identitäten, Stabilitäten, Dauern. Der perspektivische Vorgriff auf die ereignistemporalen Konstitutionsverkettungen von Ereigniszeiten und Eigenzeiten öffnet erst den Phänomenbereich rekursiver Alterität, aus dem heraus die Anschaulichkeit nicht-homogener Zeitlichkeit ›gegeben‹ wird. Die Pluralität kategorialer Zeitbegriffe und semantischer Zeitbestimmungen wiederum kann beschrieben werden als das Ergebnis gleichzeitig prozessierender Ereigniszeiten und daraus resultierender Eigenzeiten. Von Interesse aus der Perspektive einer Ästhetik operativer Zeit(schemata) ist vielmehr die Frage, welche Performanzen der Selbst/Fremdlektüre bzw. Selbst-/Fremdtranskription102 von Ereignistemporalitäten, von endogener Unruhe, von permanenter retentionaler Modifikation durch Aktualisierung dort zur Geltung gebracht werden, wo literarische Texte – mittels operativer und expeditiver Prozeduren – Zeitbeobachtungen als sozial konstituierte symbolische Sinnstrukturen gegeneinander antreten lassen. Die wissenschaftliche Beobachtung der literarischen Auseinandersetzung mit Zeit hat diesen Aspekt der operativen und expeditiven Ästhetisierung des Konnexes von Ereigniszeit und Eigenzeit bisher wenig Beachtung geschenkt103 und somit die poetogenen Strukturen endogener Unruhe durch Dauerzerfall und Dauerandrang von Ereignissen kaum ausgeleuchtet.104 Um der spezifischen Exponierung dieser Wechselwirkung in literarischen Texten nachzuspüren, gilt es, solche textuell-ästhetischen Zersplitterungen der Zeit ins 101 Strauß: Der junge Mann, S. 15. 102 Vgl. Jäger: Strukturelle Parasitierung, S. 23. Hinter diesen Begriffen schimmert als Residuum auch das strukturalistische Konzept der ›Selbstregulierung‹ durch (vgl. Piaget: Der Strukturalismus, S. 8). 103 Die materialreiche Arbeit von Pause etwa subsumiert die Diversität der Zeitreflexionen schlicht unter dem Singular »Zeitkultur der Postmoderne« (Pause: Texturen der Zeit, S. 327). 104 Beispielhaft dafür ist Ansgar Nünnings rasanter Flug über die neuere und neueste englischsprachige Literatur, der materialreich eine Vielzahl literarischer Modellierungen von Zeit und Zeitparadoxien schlaglichtartig beleuchtet, jedoch auf die ästhetischen Aspekte der Zeitkonstitution durch bloße Ereignissukzession nicht weiter eingeht (vgl. Nünning: ›Moving back and forward in time‹, S. 395 ff.).

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Auge zu fassen, die mittels operativer Kompositionsideen soziale Zeitparadigmen ebenso mit der sie ereignishaft behauptenden Ereignissukzession konfrontieren wie subjektive Zeitwahrnehmung bzw. individuelle Zeiterfahrung. D.h. dann für die herangezogenen literarischen Texte, dass gezeigt werden soll, wie deren Umgang mit den Problemkonstellationen operativer Zeitparadoxien bis auf die eigene Operationalität durchschlägt und dadurch mehr als nur motivisch realisiert wird. Es ist also nicht hinreichend, dass der jeweils analytisch adressierte Text hinsichtlich divergenter Zeitmodelle und -paradigmen »etwa im Gespräch auftretender Personen intellektuelle Themen behandeln läßt oder Reflexionen des Autors einstreut, auf diese oder ähnliche Weise also wissenschaftliche oder philosophische Gegenstände berührt.«105 Es wird letztlich darum gehen, solche Formen der Fiktionalisierung zu beleuchten, die ihre nicht-fiktionale Umwelt nicht paradox potenzieren, sondern das ohnehin Paradoxe der Beobachtung von Zeit durch Zeit dadurch der Wahrnehmung zugänglich machen, indem sie die »temporale Zersetzung der Erfahrungswelt«106 um eine Drehung weiter treiben, und zwar mit experimentell zu erprobenden ästhetischen Möglichkeiten. Für die Notwendigkeit solcher experimenteller Formen sprechen zumindest die Kontingenz, die Dynamik und die endogene Unruhe, mit der sich Zeit stets qua Beobachtung neu und nur in der Gegenwart errechnet. Und für diese Gegenwart gilt, dass sie semantisch »verspricht, was sie nicht halten kann, ein Bei-sich-Sein in der Zeit«107. Von zentraler Bedeutung ist dabei insbesondere die Frage, welche Strategien der Darstellung die in dieser Arbeit beobachteten Texte dort zum Zuge bringen, wo Differenz operativ mit Zeitlichkeit verknüpft ist, und es so gesehen nicht schlicht um die poetische Inszenierung multipler Zeitidentitäten geht, sondern genau genommen um von Ereignis zu Ereignis anders sich ereignende »multiple Kaskaden von Differenzen«108 der Zeitlichkeit. Insofern soll in dieser Arbeit beobachtet werden, wie Zeitbeobachtung medialisiert wird und im Autonomiebereich literarischer Elementkoordination disparat Form gewinnt. Entsprechend wird es darum gehen, Literatur als Formenspiel mit 105 Bense: Aesthetica, S. 175. Solchen Texten, die Max Benses quanten- und informationstheoretisch unterfütterter »Mikroästhetik« ein Dorn im Auge sind, eignet zumeist ein gewisser didaktischer Impetus, der es notwendig macht, die Irritation der temporalen Rahmenbedingungen der fiktiven Welt nicht überzustrapazieren. Wenn aber Relationen und Kausalitäten wie gewohnt in die fiktive Welt hineinprojiziert werden können sollen, ohne mit dem Kahn des Vertrauten in das Minenfeld temporaler Verfremdungen zu schiffen, dann muss die operative Unruhe der Zeit invisibilisiert werden. Eine materialreiche Gradierung der Strapazierung von Temporalstrukturen findet sich in Grabes: Schreiben in der Zeit gegen die Zeit, S. 315 ff. 106 Pause: Texturen der Zeit, S. 240. 107 Oesterle: Innovation und Selbstüberbietung, S. 157. 108 Teubner: Wie empirisch ist die Autopoiesis?, S. 144.

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Formen der Unterscheidung von Temporalität zu erforschen. Die ausgewählten Texte eignen sich hierzu in besonderem Maße, da sie dezidiert die Beobachtung erster und intensiv auch die Beobachtung zweiter Ordnung von Zeitauffassungen thematisieren und dabei auch Eigenbeobachtung leisten. Entscheidend für die konkrete Auswahl war, dass diese Texte die Paradoxien, die dabei in Blick kommen, nicht umschiffen, sondern mit ästhetischem Instrumentarium ansteuern und dabei auch ihre eigene Ereignishaftigkeit durch re-entry metaleptisch entfalten. Dabei soll auch untersucht werden, in welchen ästhetischen Figurationen das poetische Arsenal der Literatur auch erlaubt, Extremformen der Kommunikation und der Textgestaltung, der Beobachterperspektiven und der Wirklichkeitsmodellierungen zu realisieren.109 Die vielfältigen Möglichkeiten der Selektion und Kombination »von Motiven und Gegenständen der Darstellung, Figurenkonzeptionen, Erzähltechniken, Erklärungs- und Argumentationsweisen«110 geben literarischen Texten Pluralisierungsstrategien an die Hand, mit denen diese die Bemühungen beobachten können, die zur Invisibilisierung des Konstruktionscharakters von Zeitparadigmen und zur Postulierung der Essentialität dieser Konstrukte semantisch und codiert zirkulieren. Im Rückgriff auf solche Strategien erweisen sich die herangezogenen literarischen Texte als textimmanente Entfaltung einer Reflexionsthematik von Temporalität, die narrativ prozessiert wird und symbolische Reflexionsüberschüsse produziert. Im Rahmen der vorliegenden Studie wird Literatur daher eingelesen werden als »›Demaskierung der ontologischen Welt‹ im Zusammenspiel mit dem Einbezug der Wahrnehmung in den Kommunikationszusammenhang«111. Dabei geht es mir dezidiert nicht um ein weiteres Plädoyer für einen »Wahrheitsvorsprung der Poesie«112, sondern um den exemplarischen Nachweis der Komplexität literarischer Spielarten, die im fiktionalen Resonanzraum als Fraktale von Zeitbeobachtungen modelliert werden und die Effekte ästhetisch inkorporieren, die sich aus der Kumulation von Zeithorizonten und der temporalen Komplexität systemischer Eigenzeiten ergeben. Die hier beobachteten literarischen Texte sind Manifestationen eines differenzierteren Widerstreits gegen Einheitspostulate, Homogenitätssignaturen und Erfahrungsformeln, mit denen die Imaginationsräume der Zeit und des Zeitlichen qua sozialer und diskursiver Überformungen kultiviert werden. Und hier setzt die vorliegende Arbeit an, indem sie der Frage nachgeht, mit welchen Mitteln, in welchen Formen und anhand welcher fremd- und selbstreferentiellen Thematisierungen literarische Texte im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung und im »ernsten Spiel 109 Stefan Scherer konstatiert für die neuere Literatur ästhetische Zeitmuster, die darauf hinauslaufen, Zeitpluralitäten und -anomalien »selbstinvolutiv ineinander zu verschlingen.« (Scherer: Linearität – Verräumlichung, S. 353) 110 Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation, S. 89. 111 Hofer: Die Ökologie der Literatur, S. 219. 112 Plumpe: Die Literatur der Philosophie, S. 165.

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der Kunst«113 die endogene Unruhe der Ereigniszeiten und Eigenzeiten poietisch herstellen, poetisch darstellen und ästhetisch entfalten. Dreh- und Angelpunkt dieser Frage ist die Zerstreuung des Einheitssinns der Zeit. Pluralisierung und Dezentrierung, Komplexion und dispositionelle Depravation: An ihnen manifestieren sich Konstruktion, Medialität und Funktionalismus der Zeit. Und deren operative Desintegration und Heterogenität avancieren zum produktiven Prinzip, mit dem auch spezifische formale Entscheidungen korrelieren, ob in den temporalisierten und von Fassung zu Fassung evoluierenden (Gegen-)Bricolagen der Schlachtbeschreibung Kluges, ob in den Veranschaulichungskonstellationen im Rahmen der fantastischen Entgrenzungen der Zeitpluralität in Lehrs 42 oder in den experimentellen Stilkomponenten in Lehrs novellistischer Introspektionsstudie Frühling. Indem die Arbeit sich an diesem produktiven Prinzip orientiert, richtet sie ihre Heuristik dezidiert auf solche literarische Anschauungsformen der Zeit, die sich nicht in der Behauptung alternativer Zeitebenen neben solchen, die als eingeschliffen und routiniert zirkulieren, erschöpfen. Die Spannweite der dabei in den Blick genommenen Medialität der Zeit transgrediert dabei notwendig den Phänomenbereich einer Zeitstruktur des Literarischen. Transgrediert wird auch die Perspektive auf literarische Verbalisierungen des Dualismus von Zeiterleben und Zeitbegriff.114 Die Arbeit orientiert sich daher nicht nur an der Frage, mit welchen Figuren, Bildern, Konzepten und Semantiken Literatur temporale Strukturen motivisch referiert, diskursiviert und reflektiert. Sie zielt vordergründig darauf ab, Zeit als Systemzeit, d.h. als Eigenzeit, dort in den Blick zu nehmen, wo sich Zeitwahrnehmung und Zeitkommunikation auf Zeitkonstitution zurückbiegen und in ihrer paradoxen Verschränkung sichtbar werden. Dass der Begriff einer aus Ereignisserien zusammengesetzten Zeit selbst in psychische oder soziale Ereignisserien eingebettet ist und als bewusstseinsmäßiges oder kommunikatives Element sich selbst hervorbringt (und diesen je neuen Zeugungsakt verdecken muss), kennzeichnet die paradoxe operative Struktur der Zeit in der Zeit. Dass diese Struktur zudem systembzw. beobachterrelativ und selbst nur ereignistemporal anfällt (Artefakte, Symbolsysteme mögen als dauerhafte Referenzpunkte dienen), zeitigt die Erfahrung genuin temporaler Relativität genau dort, wo Zeit-Reflexionen auf sich selbst und ihre polykontexturalen Rahmungen auflaufen. Eine solche Ästhetik geht weit über die kunstspezifische Veranschaulichung temporaler Kategorien wie Chronologie und

113 Schneider/Brüggemann: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, S. 10. 114 Man könnte auch formulieren, dass dieser Dualismus um die Komponente der Zeitpraktiken erweitert wird (vgl. Hörning/Ahrens/Gerhard: Zeitpraktiken, S. 12 f.). Damit wäre allerdings nur das In-Form-Bringen von Zeit, nicht aber schon das operative Zur-WeltBringen von Zeit bzw. die autopoietische und autopoiesis-isomorphe Konstitution von Zeit durch Ereignistemporalität erfasst.

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Kontinuität hinaus, die in das Raster einer jeden analytischen Optik fallen, die literarische Texte als ›Zeiten-Labor‹ beobachtet.115 ›Zeitliteratur‹ ist – so viel lässt sich an dieser Stelle bereits sagen – als Medium »der Erfahrung des Im-Weg-stehens«116 und als Signal zur »Vorsicht vor zu raschem Verstehen«117 stets Gabe exzeptioneller Erfahrung. Und dort, wo Literatur die endogene Unruhe der Sinnsysteme als ästhetisches Material in Anspruch nimmt – und sich selbst dabei auch als ein solches Material zweiter Ordnung begreift –, da geht sie nicht auf in der ihr zugeschriebenen Funktion eines Auffangmediums oder Vademekums dieser Unruhe.118

115 Dass literarische Zeitstrategien nicht umhin können, aufzuzeigen, dass es »verschiedene Arten von Zeiten geben muss«, wie der Erzähler in Peter Høegs Roman Der Plan von der Abschaffungs des Dunkels zu berichten weiß (Høeg: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels, S. 265), ist seit den frühen Verzeitlichungsorientierungen der Literatur im 18. Jahrhundert bereits zum ästhetischen Topos avanciert (vgl. Fulda: Rex ex historia, S. 187-192). 116 Oberthür: Seinsentzug und Zeiterfahrung, S. 17. Und weiter: »Das Gelesene steht im Weg. Deshalb zieht es uns an.[ …] Wo aber will der Weg hin?« 117 Kluge/Luhmann: Vorsicht vor zu raschem Verstehen. 118 Baecker sieht in Kunst eine ebensolche Absorptionsfunktion (vgl. Baecker: Die Adresse der Kunst, S. 105). Diesem Votum schließen sich auch Paß: Bewußtsein und Ästhetik, S. 461 f. und Hofer: Die Ökologie der Literatur, S. 207 f. an. Die in dieser Arbeit exemplarisch eingespannten Texte werden hingegen nicht als Absorptionsmedien eingelesen, sondern – wie der Titel des Kapitels bereits angedeutet hat – als selbst ereignistemporal durchsetzte Unruhestifter.

»Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit«1 – Alexander Kluges Schlachtbeschreibung

T EMPORALE V ERFLECHTUNGEN – F ORMENZEIT In das vorliegende Projekt einer Untersuchung literarischer Beobachtung von Ereignistemporalität und Eigenzeiten lässt sich Alexander Kluges Text Schlachtbeschreibung dreifach einschreiben. Diese Einschreibungsmodi werden hier vorab kompakt und thesenhaft formuliert: Zum einen vollzieht der Text eine komplexe literarische Fragmentierung eines historischen Ereigniszusammenhangs, der sich diskursiv unter den Signifikanten »Stalingrad« subsumiert findet. Diese Fragmentierung erfolgt durch eine Partikularisierung der Wahrnehmungen und Beschreibungen der Vorfälle um den ›Untergang‹ der 6. Armee in der Schlacht um Stalingrad 1942/43, die den thematischen Kern der Schlachtbeschreibung ausmachen. Zudem inszeniert sich der Text über weite Strecken als vergegenwärtigende Sammlung ›faktualer‹ Zeitdokumente und exponiert sich derart als Beobachtung zweiter Ordnung, die die Polymorphie abstrakter Zeitparadigmen, -diskurse und -praktiken lesbar macht. Da die Beobachtung zweiter Ordnung die historische Ereigniskette als negative Folie, als Hintergrund funktionalisiert, treten die diskursstrukturellen Konstruktionen dieser ›Ereignisse‹ und die Präformierungen dieser Konstruktionen in den Vordergrund, wie z.B. mimetische Treue, chronologische Sukzession und narrative Spiegelung einer kausalistischen Ordnung des erzählten bzw. berichteten Geschehens. Durch diesen Beobachtungswechsel stellt der Text um von der Ereignishaftigkeit der ›Real-Geschichte‹ auf die Ereignisprozeduren und Strukturen der Einspeisung memorierender, explizierender und deutender Rückgriffe auf Stalingrad in Kommunikationszusammenhänge. Und drittens kommen durch diese Umstellungen auch die Normierungen und verpflichtenden Bestimmungen kontexturierter Zeit ins Blickfeld. Die Polykontexturalität und operative Differentialität relational konstituierter Zeiten stellt der Text aus als Entfaltung mannigfacher und 1

Das Zitat ist der Titel eines Films Alexander Kluges (Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, BRD 1985).

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mannigfaltiger Zeiterfahrungen und somit auch als Eigenzeiten, deren Auseinanderund Aufeinanderzulaufen, deren Überlappungen, Amalgamieren und Konfligieren, deren Koordinations- und Dissoziationsfriktionen transparent gemacht werden. Der Darstellungsmodus der Schlachtbeschreibung verzichtet hierzu nicht nur auf der Ebene der histoire auf die Synthese heterogener Eigenzeiten, sondern hält diese Zurückhaltung auch durch auf der Ebene seiner Formensprache, mit der sich der Text gegen harmonisierende, lineare, kontinuitätsaffine Lektüren und Zeitmuster immunisiert. In diesem Sinne betreibt die Schlachtbeschreibung eine literarisch instrumentierte Form der ›Zeitsabotage‹2, indem sie die kontextural isolierten Eigenzeiten in ihren Spannungsverhältnissen belässt und die Kontexturalität der Zeit auch in ihrem Darstellungsmodus wiederspiegelt und sich aus der Entflechtung der Eigenzeiten selbst nicht ausnimmt. Diese Thesen werden mit einer dreifachen Optik entfaltet, mit der unterschiedliche analytische Auflösungsgrade realisiert werden können. Zunächst wird eine makroskopische Perspektive auf die Formenwelt der Schlachtbeschreibung deren Strukturmerkmale herausarbeiten, die das zeitspezifische dekonstruktive Setting des Textes konstituieren. Um die Potenzierung dieses Settings auch als Effekt der Eigenzeit der Schlachtbeschreibung als Wandlungskontinuum beobachten zu können, wird eine zweite Makrooptik die verschiedenen Fassungen3 des Textes in Augenschein nehmen und die Evolution des Textensembles als Verzeitlichung der Struktur und als poietische Chronologistik zu beschreiben versuchen. Zwischen diese makrooptischen Perspektiven ist eine mikroskopische Beobachtung der thematischen und ästhetischen Formierung von Eigenzeiten und Ereigniszeiten in der Schlachtbeschreibung eingelagert. Die für die Fassungen herausgearbeiteten Strukturmerkmale bilden dabei erste Anknüpfungspunkte. Die Textgrundlage für diesen spezifischen mikrostrukturellen Lektürezugang bildet durchgängig die vierte Fassung der Schlachtbeschreibung aus dem Jahr 2000. Erstens ist diese Fassung plurimedial angelegt, weil durch umfangreiches Bildmaterial ergänzt. Sie erlaubt somit auch die Einbindung einer Untersuchung visuell arrangierter und konstituierter Formenwelten der Zeit und ihrer Korrelation mit dem Medientypen Schrift und Text. Zweitens ist der Publikationskontext dieser Fassung relevant. Sie liegt nicht als eigenständige Veröffentlichung vor, sondern findet sich in den Ko-Text der Werksammlung Chronik der Gefühle eingelassen. Mit dem Chronik-Begriff rückt dann auch die Frage nach der Korrelation von Chronik und Chronologie und nach der Akzentuierung der in Geschichte[n] eingewebten Sukzession von Ereignissen in den Fokus. 2 3

Vgl. Ricardou: Problèmes du nouveau roman, S. 179. Es liegen bisher sechs Publikationen vor, von denen allerdings nur vier signifikante syntagmatische und paradigmatische Abweichungen aufweisen, die die Behandlung als eigenständige Fassung legitimieren.

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L ITERARISCHE L OGI ( STI ) K – T EXTBEWEGUNGEN Eine Beschreibung der Schlachtbeschreibung kann hier nur einen groben Merkmalskatalog formulieren, der als poetischer bzw. literarischer Fingerabdruck des Textes dient. Darstellungsspezifisch zeichnet sich der Text der Schlachtbeschreibung besonders durch seine experimentelle Formensprache aus, die in erheblichem Kontrast zu anderen literarischen Bearbeitungen des Topos Stalingrad steht. Dazu gehört sicherlich auch, dass trotz mikrostruktureller Erzählgerüste kein makrostrukturelles narratives Schema auszumachen ist. Dieser Verzicht auf eine die mikrostrukturellen Textelemente bzw. Module koordinierende erzählerische Metaposition wird auch nicht durch eine übergeordnete kommunikative Geste, etwa eine chronologische Kommensurabilität, kompensiert, so dass die Elemente stets einer Synthese vorenthalten werden.4 Sie bleiben über den Textraum verteilte und nicht nach einem ersichtlichen Ordnungsprinzip kombinierte kommunikative Vollzüge, deren Referenzsphäre sich um den Signifikanten ›Stalingrad‹ herum anlagert. In diesem Sinne ist Stalingrad die Chiffre in einem projizierten Zentrum, von dem aus und auf das hin der Text und die sich in ihm ereignende Kommunikation laufen. Mit den Begriffen Textelement/Modul, Mikrostruktur, kommunikative Vollzüge, Referenzsphäre sind bereits terminologische Entscheidungen gefallen, die erst einer Klärung bedürfen. Ich werde dies im Folgenden im Rahmen einer Explikation der Bearbeitung des Stalingrad-Topos durch den Text der Schlachtbeschreibung nachholen. Bei allen Unterschieden, die sich für die verschiedenen Fassungen identifizieren lassen, überwiegen doch die fassungsübergreifenden Gemeinsamkeiten. Zu diesen gehört zentral der Umstand, dass die Textelemente aller Fassungen – bei allen graduellen Nuancen – fremdreferenziell Bezug nehmen auf die militärischen Geschehnisse im Raum Stalingrad im Zeitraum November 1942 bis Februar 1943. Allerdings ist hier schon eine Einschränkung angebracht, denn von Textelementen kann hier genau genommen nur bedingt die Rede sein, weil die Bestandteile der Textgestalt nicht in ein grand récit eingelagert sind. Sie sind eher zu erfassen als distinkte und autonome Sequenzen, nimmt man denn eine lineare Lektürehaltung ein. Geht man allerdings in Abstand zu linear-sequenziellen Lektüremodi, so bietet es sich an, die Elemente als Module zu beschreiben, deren Anordnung im Textraum keinem kongruenzaffinen Masterplan unterliegt.5 Für diese Module lassen sich Unterscheidungsraster formulieren, die zumindest grobe Klassifikationen ermöglichen. Unternimmt man eine temporal-modale Einteilung, so können die Module verteilt werden auf drei Gruppen: solche, die das Vorfeld der Ereignisse um die Kampfhandlungen in Stalingrad thematisieren, solche, 4

Diese Inkonsistenz ist sicherlich eine Konstante, die sich durch alle Texte Kluges zieht; Siehe hierzu Adelson: The future of futurity, S. 174 f.

5

Vgl. Roberts: Die Formenwelt des Zusammenhangs, S. 109.

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die sich unmittelbar auf die Vorfälle dort zwischen November 1942 und Februar 1943 beziehen und deren Zeitpunkt der fiktionsinternen Abfassung auf diesen Zeitraum beschränkt ist; und eine dritte Gruppe, die im Wesentlichen in unterschiedlicher, jedoch immer mittelbarer Distanz zu diesen Ereignissen dieselben zu rekonstruieren, zu kommentieren oder zu evaluieren suchen. Eine solche modaltemporale Dreiteilung setzt entsprechend die Kampfhandlungen in Stalingrad als Gegenwartsphase an, von der aus sich die Horizonte Vergangenheit und Zukunft aufspannen lassen. Dies verstehe ich zunächst als Option, ein temporales Relief zu postulieren, ohne damit schon die tempusspezifischen Dimensionen der Prolepse und der Analepse übermäßig stark machen zu wollen. Denn dafür müsste eine subdimensionale Textzeit veranschlagt werden, d.h. es müsste ein Kommunikationsverlauf im Textgefüge angenommen werden, der mit der Unterscheidung vorher/nachher zu beobachten wäre.6 Eine solche Unterscheidung müsste auf der makrostrukturellen Ebene des Textes allerdings ausblenden, dass die Module überwiegend Kommunikationsformen und Darstellungsmuster verwenden, die von der Situation des Erzählens grundverschieden sind. Wie zu zeigen sein wird, ist gerade das Fehlen einer im Hintergrund ständig mitlaufenden bzw. die Ereignisse im Textraum verkettenden Zeitform des Erzählens ein Spezifikum der Schlachtbeschreibung. Die angesprochene, orientierungsfunktionale Dreiteilung in die provisorischen Dimensionen Gegenwart – Vorgeschichte – Nachwirkungen kann durch eine weitere – ebenfalls grobe – Unterteilung der Module, gleichsam in Form einer Binnendifferenz, ergänzt werden. Es scheint sinnvoll, eine zumindest heuristisch legitime Unterscheidung der modulinternen zeitspezifischen Darstellungsmodi zu bestimmen. Wendet man ein binäres chronologisches Darstellungsraster an, so können auf der einen Seite des Rasters Ereignisrekonstruktionen verortet werden, die einem präformierten Zeitschema folgend die Ereignisse in kalendarischer Serialität sukzessive als Stationen des Scheiterns der 6. Armee, als tageweises Fortschreiten in das »organisatorisch aufgebaute Unglück« erfasst werden, als das die Schlachtbeschreibung im Untertitel bereits das katastrophale militärische und existenzielle Szenario peritextuell ankündigt. Hierunter fallen die umfangreichen Module »Unglückstage«, »Pressemäßige Behandlung« und »Rechenschaftsbericht«, die für den Zeitraum zwischen dem 10. November 1942 und dem Tag der Kapitulation der 6. Armee repetitiv, aber in unterschiedlicher Ereignisdichte, Vorkommnisse verzeichnen. Eine Ausnahme bildet hier die »Pressemäßige Behandlung«, die Kluge erst mit dem Datum der Einkesselung der 6. Armee einsetzen lässt, und deren Tagesparolen er über den Tag der Kapitulation hinaus bis zu dem Moment inszeniert, an dem das Oberkommando der Wehrmacht die Verlautbarung eines bedeutungsstabilisieren-

6

Vgl. Weinrich: Tempus, S. 74.

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den Narrativs ankündigt, mit dem dem »deutschen Volk der Sinn und der Ablauf dieses Geschehens näher erläutert werden.«7 Auf der anderen Seite stehen im Kontrast dazu Module (»Die Praktiker«, »Die Ärzte«, »Verhedderung«, »Wie eine Großstadt in 50 Jahren aussehen wird…«), die die in ihnen beschriebenen Geschehnisse nicht in der Abfolge ihrer chronologischen Verflechtung, ihres zeitstrahlgeleiteten Ineinandergreifens präsentieren. Sie verhalten sich quasi autonom zum Kontinuum der Abfolge der geschichtlichen Ereignisse, sodass sie Fundierungszusammenhängen und Ordnungsdimensionen entgegenwirken statt solche zu erhellen. Diese Unterteilungen sind meines Erachtens deshalb von Bedeutung, weil für die Module selbst keine zeitliche Abfolge bestimmbar ist, die sich aus chronologischen oder kausallogischen Notwendigkeiten ableiten ließen. Als Gegenstand von Lektürearbeit führen sie nicht hinein in eine sukzessive und kumulative Akkumulation von Bedeutung zu einem Ganzen, das sich mit einer ›Gesamtschau‹ überblicken ließe.8

S CHLACHTBESCHREIBUNG

ALS

C HRONOGRAPHIE

Liest man die Schlachtbeschreibung als chronographisches Projekt und beharrt auf der fremdreferenziellen Dominanz des Topos Stalingrad im Textgefüge, dann gewinnt eine spezifische Verschränkung von Zeit und Krieg eine herausragende Kontur. In dieser Verschränkung realisiert der Text Zeit in Momenten existenzieller lebensweltlicher Erfahrung und dies in einem Setting, in dem Synchronisationsprob-

7

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 776. Der Abbruch des Moduls »Pressemäßige Behandlung« wird dann wiederum durch den Hinweis auf die fehlende »weitere Erwähnung von Stalingrad in den Vertraulichen Informationen« des Reichspresseamts legitimiert, wobei der Hinweis durch Einklammerung in eckige Parenthese als herausgeberspezifischer Paratext markiert wird.

8

Hieraus ergeben sich auch erste gattungsspezifische Zuordnungsschwierigkeiten. Zuschreibungen wie Montageroman, historischer Roman oder schlicht Roman stehen im Raum. Die Gattungsdebatte soll hier allerdings nicht weitergeführt werden. Mir scheint, es reicht der Hinweis darauf, dass weder Handlungs- noch Figurenschemata sinnvolle Analysekategorien ergeben und daher auch gattungstypologische Gestaltbeschreibungen, die auf diesen Schemata aufbauen, kaum ergiebige Beschreibungskategorien abwerfen. Gerade für die Schlachtbeschreibung lässt sich zeigen, dass Kluge die Kapazitätsgrenzen des Mediums Literatur auslotet. So bezeichnet z.B. Georg Stanitzek Kluges Werk als operative Vorwegnahme der »Elaboration hypertextueller Lektüre- und Schreibverfahren« und räumt der Medienarbeit Kluges die Funktion eines medienevolutiven preadaptive advance ein (Stanitzek: Autorität im Hypertext, S. 9).

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leme, Zeitmangel und Zeitirrungen dramatische und fatale Folgen zeitigen können.9 Kriege sind historische Phasen höchst intensiver und umfangreicher Zurichtung von Eigenzeiten. Der besondere Stellenwert der Schlacht um Stalingrad ergibt sich in dieser Hinsicht daraus, dass sich nach ihrem Ende vermehrt propagandistisch artikuliert findet, was bereits ab 1941 Realität war: die umfangreiche Synchronisation einer ganzen Gesellschaftsstruktur im Rahmen eines ›Totalen Krieges‹, der alle Eigenzeiten dem temporalen Regime der faktoriellen Zeit des Krieges unterwirft. So wie Joseph Goebbels nach der Niederlage in Stalingrad in einer Denkschrift die »Optik des Krieges«10 auf dessen Totalität gelenkt wissen will, so erodiert auch die Differenz zwischen ziviler und militärischer Individualität. Mit dieser verschwimmt auch die Unterscheidung zwischen individueller Eigenzeit und den organisatorisch institutionalisierten Eigenzeiten und Zeitsemantiken militärischen Handelns und militärischer Kommunikation.11 Das Kriegsszenario, dem sich die Schlachtbeschreibung zuwendet, wird in ihrem Untertitel und zwei Seiten später im Text ausführlich in der mit »Nachricht« überschriebenen Passage näher bestimmt als »organisatorischer Aufbau eines Unglücks«12. In dieser Passage findet sich eine Merkmalsbestimmung der 6. Armee, die für die Fragmentierung der historischen Phase in eine Ereignisfülle wie auch für die Isolation der Eigenzeiten im Text wesentliche Weichenstellungen vornimmt. Zum einen wird die Figur der »Maschine« als untaugliche allegorische Bestimmung der Armee dementiert – stattdessen firmiert die Armee als Chiffre für den »Willen« der 300.000 Soldaten, in »Gesellschaft zu verharren«13. Dieser Wunsch nach Gesellschaft ist zu erkaufen um dem Preis der Verfremdung der Eigenzeit des Einzelnen, der sich der Zeit der Organisation als organisierter Zeit unterwerfen muss. Zum anderen kreist das Projekt der Schlachtbeschreibung um den Topos der prinzipiellen Partikularität von Eigenzeiten. Denn aus der Unterwerfung der individuellen Eigenzeiten der Menschen unter die autopoietische Mechanik der Organisation, deren treibende Kraft Kluge in »Arbeitskraft, Hoffnungen, Vertrauen« und

9

Hierin liegt – mit aller Vorsicht – wohl der dramatische Impuls der Schlachtbeschreibung.

10 11

Goebbels: Die Optik des Krieges, S. 1. Die Technik- und Beschleunigungsemphase der Futuristen hatte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Krieg als ästhetische Maschine zur Amalgamierung von organischen und militärisch-technizistischen Zeiten verklärt und einen künstlerischen Opferkult als Avantgarde ausgerufen, der die Dynamik und Ereignisdichte kriegerischer Interaktionen als Lebensmodell verstanden wissen wollte. Vgl. hierzu umfassend Hinz: Die Zukunft der Katastrophe, S. 89-111.

12

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 516.

13

Ebd., S. 514.

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dem »unabweisbaren Wille[n], in der Nähe des Realitätssinns zu bleiben«14 sieht, folgt nicht ein monolithisches Amalgam aller Eigenzeiten. Es bleiben Bestände übrig. So wie die »menschlichen Reaktionen« auf die Organisation und die organisierte Katastrophe »privat« bleiben und »sich nicht fabrikmäßig [addieren]«15, so lassen sich auch die unterschiedlichen eigenzeitlichen Zeitwahrnehmungen nicht aggregieren, und daher gehen nicht alle Eigenzeiten restlos in die organisierte Zeit ein. Gerade durch die Absonderung der psychischen Eigenzeiten aus der Innenwelt der Organisation, »die nicht im Kopf eines Individuums stattfindet«16 und die sich – wie die »unbarmherzige Kälte« nicht »auf menschliche Maße«17 einstellt – erfährt das Individuum erst die Möglichkeit des ›Eigentums‹ an seiner Eigenzeit.18 Hierin kommt besonders zur Geltung, was die Schlachtbeschreibung in ihrer Historiographiekritik als Impuls antreibt: dass sich für keinen der Tage, die das Zeitgeschehen um Stalingrad einnimmt, die individuellen Zeiterfahrungen so addieren lassen, dass sich ein »Gesamtheute«19 ergäbe. Zu Beginn dieses Abschnitts war der Begriff der Chrono-Graphie gefallen. Dieses Kompositum, das Zeitlichkeit und Schriftlichkeit, dynamische und konstative Momente zusammenbringt und als Denkfigur auch verschränkt, bezeichnet ursprünglich einen historiografischen Deskriptionsmodus. Ergebnis chronographischer Tätigkeit war dabei primär eine series temporum, die herausragende res gestae (Ereignisse und Handlungen) ihrer zeitlichen Abfolge gemäß linear abzubilden hatte.20 Quasi auf der Linie der litterae, der Reihung der Buchstaben, Sätze, Zeilen und Buchseiten musste das chronographische Projekt im kulturtechnischen Modus der Aufzeichnung überwiegend Datensicherung betreiben.21 Kluges präferierter Chronik-Begriff ist ein von chronologischen Strukturrastern in Zeitstrahlrichtung weitgehend bereinigter. Veranschaulichen lässt sich das umstandslos an der Positionierung der einzelnen in der Chronik der Gefühle versammelten Texte. So sind diese in rücklaufender Serie angeordnet, also »in umgekehrter Reihenfolge, in der die Geschichten entstanden sind«, da dies der operativen Peilung der Erinnerung 14

Ebd.

15

Ebd.

16

Luhmann: Organisation und Entscheidung, S. 142.

17

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 514.

18

Vgl. Kluge: Der Eigentümer und seine Zeit, S. 5.

19

Luhmann: Organisation und Entscheidung, S. 152.

20

Vgl. Johanek: Geschichtsschreibung, S. 370 f.

21

Dabei hatte der Chronograph darauf zu achten, dass Wissensbestände durch mimetische Treue bewahrt wurden. Dass chronographisches Schreiben selbst, wie jede schriftliche Repräsentationsgeste »an der Entfaltung von Gegenständen des Wissens teilha[t]« (Hoffmann: Festhalten, Bereitstellen, Verfahren der Aufzeichnung, S. 7), wurde übersehen oder musste invisibilisiert werden.

122 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

von der »Gegenwart rückwärts« entspreche.22 Es geht Kluge um eine »subjektive Orientierung«, für die die historische Zeit nur das Medium für Formierungen von Eigenzeiten zur Verfügung stellt. Das Zeitgefühl des Einzelnen und die Historizität der Struktur dieses Gefühls bilden für Kluge »die wahre Chronik«, welche »sich durch Zeitablauf allein nicht ändert«23. Was hier anklingt, ist die Figur der deux vitesse, der zwei Geschwindigkeiten, der Geschwindigkeit der subjektiven Empfindung und Wahrnehmung von Ereignisfolgen und der Geschwindigkeit mit der eine Gruppe, eine Nation, eine Kultur, ein Zeitalter ihre Eigenzeit entfaltet. Man findet in dieser Polarisierung nicht zuletzt den Kern jener Debatten um die Konfliktlinien aparter Zeitmaße wie auch den locus classicus der Retardierungs- und Beschleunigungsdiskurse und der in ihnen verhandelten Zeitwahrnehmungssemantiken. Beide Geschwindigkeiten messen sich nicht nur aneinander, sondern auch an der Uhrzeit, deren Taktung letztnormierend wirkt, weil sie »die Inkarnation der Idee einer linearen Zeit [bildet]«24. So ist die Uhr als Artefakt die hardware, an der die soft clocks des Gefühls, der Wahrnehmung, der Kommunikation ihre ereignishafte Laufzeit ablesen und chronologisch ordnen können. Die Chronologie der Ereignisse, wie sie die Historie in ihren Ereignischroniken als hardwarekonforme »objektive Chronik« abwirft, bleibt bei Kluge suspektes kommunikatives Desiderat, das es im Rekurs auf Walter Benjamin »gegen den Strich zu lesen«25 gilt. Wenn im Folgenden die Schlachtbeschreibung als chronographischer Text eingelesen wird, dann muss eine wesentliche Bedeutungsverschiebung dieses Kompositums angezeigt und erläutert werden. Hierzu muss eine Zeitreise in das als ›Sattelzeit‹26 ausgewiesene späte 18. Jh. unternommen werden. In Johann Christoph Adelungs vierbändigem Grammatisch-Kritischem Wörterbuch (1774-1786) findet sich neben den Lemmata »Chronik« und »Zeitregister«, die als Synonyme ausgewiesen werden und die chronikal geordnete Sukzession von Ereignissen bezeichnen, auch das Lemma »Zeitbeschreibung«27. Der Eintrag verzeichnet unter dem Begriffsnamen zwei semantische Extensionen. Einerseits bezeichnet Zeitbeschreibung die »Beschreibung der verschiedenen Zeitmaße oder Eintheilungen der Zeit« im Sinne eines Zeitforschens, andererseits die »Beschreibung der Begebenheiten nach der Zeit wie sie aufeinander gefolget sind«; das grammatikalische Agens für beide Extensionen gibt Adelung ebenfalls homonym an: »Zeitbeschreiber«28. In diesem kleinen Lexikoneintrag vibriert in nuce, was die Zeitsemantik um 22

Kluge: Vorwort (Chronik der Gefühle, Bd. I), S. 7.

23

Ebd.

24

Gendolla: Verdichtungen, S. 380.

25

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 511.

26

Koselleck: Einleitung, S. XV.

27

Adelung: »Zeitbeschreibung« (GKW, Bd. 4), S. 1676.

28

Ebd.

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1800 erschüttern und Überleitungssemantiken notwendig machen sollte. Denn die Ergebnisse der Zeitforschung waren zentral daran beteiligt, dass die starre und unilineare chronikalische Zeitordnung als Paradigma in den Hintergrund rückte und das Ereignen von Ereignissen nunmehr als plurale, nebeneinander laufende Kausalitäten beschrieben werden konnten. Die Zeitsemantik wurde in diesem Zuge erweitert um den Kollektivsingular ›Geschichte‹, der an die Stelle der univoken ›Historia‹ treten konnte, allerdings nicht ohne signifikante Folgen: »Mit diesem neuen Zeit-Paradigma der ›Geschichte‹ entstand aber das Problem, dass die ›Zeit‹, nachdem sie ihre chronikalische Objektivität verloren hatte, außerhalb des im engeren Sinne historiographischen Schrifttums gleichsam heimaltlos wurde. Der Zeitbegriff, aus der Chronik entlassen, musste neue Verbindungen eingehen.«29

Für jede neue Verbindung aber galt und gilt, dass sie eine kontingente Option bildet und somit Zeit als Relatum an Komplexität gewinnt. Das Anwachsen kontingenter Verbindungsarsenale führt wiederum zur immer weiter getriebenen Öffnung des Zeitbegriffs wie auch der Zeitlichkeit geschichtlicher Entwürfe vergangener Gegenwarten, was in der Folge geschichtsphilosophische und historiografische Diskurse affiziert und irritiert hat.30 Insbesondere hieraus gewinnen wiederum vor allem revisionistische historische Romane und metahistoriografische literarische Fiktionen ihr poetologisches Potential, indem sie konträre Geschichtsbilder bzw. Gegengeschichte(n) entwerfen und kulturelle Sinnstiftungsmuster unterminieren.31 Adelungs doppelter Semantik des ›Zeitschreibers‹ entnehme ich eine für meine Analyse anregende Verschränkung zweier Wissensbereiche – Zeitforschung und chronologische Ereignissicherung. Was bei Adelung homonymisch zusammen, praktisch aber auseinanderläuft, organisiert das poetische Programm der Schlachtbeschreibung sympraktisch. Anders gesagt: Die Schlachtbeschreibung lese ich als Zeitbeschreibung in doppeltem Sinne. Sie inszeniert und thematisiert die Erscheinungsformen der Zeit (perzeptive, apperzeptive, kognitive, kommunikative etc.) und bettet diese in ihrer Pluralität in die Szenarien der Dauer und des Zerfalls von Ereignissen ein. In erheblicher aber nicht umfassender Abweichung von chronolo-

29 30

Simon: West-östliche Eigenzeiten, S. 272. Ein prominenter Initialtext ist in diesem Kontext White: Metahistory, S. 15-62. Vgl. auch Müller: Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe, S. 18.

31

Vgl. Nünning: Von der fiktionalisierten Historie zur metahistoriographischen Fiktion, S. 557-561.

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gischen Darstellungsmustern veranschaulicht die Schlachtbeschreibung die Verschränkungen von Eigenzeiten und Zeitparadigmen.32 Wenn also die Schlachtbeschreibung um das Geschehen in Stalingrad kreist, dann vollzieht sie auch eine beobachtende Bewegung um die heterogenen Eigenzeiten, indem sie sie in ihren Texturen, Kopplungen, Transformationen und ihrem Zerfall aufscheinen lässt. Ihr Blick auf Vorfälle, Ereignisse, Geschehnisse und Geschichte ist kein monokontexturaler »Basiliskenblick«33. Den Rekurs auf den versteinernden und tötenden Blick des Mythenwesens Basilisk legt Kluge als Allegorie auf einen starren und stillstellenden, monoperspektivischen Beobachtungsmodus dem Autor Heiner Müller in der Geschichte Heidegger auf der Krim in den Mund. Und es ist bezeichnend, dass die Anekdote, in deren Kontext Müller fingiert zitiert wird, nicht nur den Abschluss dieser Geschichte bildet. Denn an sie schließt im Textgefüge der Chronik der Gefühle unmittelbar die Schlachtbeschreibung an, deren Beobachtungsmodus nicht entfernter von einem solchen Basiliskenblick agieren könnte. Der Gang der Schlachtbeschreibung in die historischen Zeiträume um das Geschehen in Stalingrad im Winter 1942/43 vollzieht sich als unruhiger, heterogener und konvolutiver Beobachtungsvollzug aus unterschiedlichen Fernen und Nähen. Er ist mehr eine Fülle von Sprüngen in Gegenrichtung zum Text der Geschichte – gleichsam ein literarisch arrangierter, vielfacher »›Tigersprung ins Vergangene«34 – und daher nichts für »verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens«35.

T EXTURALE F ORMENSPRACHE – POLYKONTEXTURALE Z EITBEOBACHTUNGEN Seit dem Erscheinen der ersten Fassung der Schlachtbeschreibung und trotz aller Veränderungen, die den darauffolgenden Fassungen die Charakteristik eigenständiger literarischer Artefakte verleihen, ist doch das Erscheinungsbild der Schlachtbeschreibung im Wesentlichen unverändert geblieben. Am treffendsten lassen sich die Fassungen beschreiben als Vernetzung von Schriftstücken (und später auch Bildern). Die Frage nach deren faktual-dokumentarischem oder fiktional-fiktivem Status ist in der Forschung immer wieder aufgeworfen worden. Von der Beantwortung dieser Frage hing dann zumeist auch ab, welche Bedeutung dem Arrangement die-

32

Aus diesem Ansatz ließe sich auch das autorpoetische »Beharren« auf Stalingrad umformulieren in ein Beharren auf der Partikularität der Eigenzeiten und ihrer operativen Zeitlichkeit.

33

Kluge: Heidegger auf Krim, S. 507.

34

Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 321.

35

Nietzsche: Über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 245.

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ser Texte attestiert wurde.36 Kluge selbst relativiert die Relevanz der Unterscheidung dokumentarisch/fiktional in der Nachbemerkung zur Schlachtbeschreibung, wie sie seit der Fassung 1987 Bestandteil des Textes ist. Zwar könnten »die im Text beschriebenen Szenen dokumentarisch belegt werden«, allerdings würden diese »dadurch nicht dokumentarischer.«37 Ich kann die Unterscheidung Dokument/Fiktion an dieser Stelle zunächst übergehen und nähere mich den in der Schlachtbeschreibung vernetzten Modulen stattdessen über ein textsortenspezifisches Unterscheidungsraster. Unter Formensprache verstehe ich die syntagmatische und paradigmatische Kontextualisierung von Textsorten, Medien und Kommunikationsmitteln, aber auch von Lexematik und Semantik in der Schlachtbeschreibung. Die funktionsspezifische Pluralität und Relationalität dieses Formenkonvoluts generiert erst das ›Wissen‹ um die historischen Geschehnisse 1942/1943, was die Formensprache der Schlachtbeschreibung überdies auch für wissenssoziologische Fragekomplexe interessant macht.38 Wie aber setzt sich dieses Formenkonvolut zusammen? Da sind zum einen die tagesgetakteten summarischen Berichte »Unglückstage« und »Rechenschaftsbericht«, die in ruhig-erhabenem Zeitrhythmus von 24 Stunden die Ereignisse in Stalingrad in überwiegend militärisch lakonischer Sprache aufführen. Ein Bild der Funktionszurichtung und menschenverachtenden Depersonalisierung dieser Sprache (»Die Truppe wie einen Gaul zu Tode reiten«39) vermittelt der Abschnitt »Sprache der höheren Führung«, während das Modul »Militärgeistliche Entwürfe« von Sendungsbewusstsein durchtränkte kirchliche Kriegs- und Propagandakommunikation exponiert (»Im Sturm der Völker – Gott ist Wehr und Waffe«40 und in heilsgeschichtlicher Transposition des vom Führer befohlenen Verbleibens der 6. Armee im Kessel zur Bildung einer ›Festung Stalingrad‹: »Ein‹ feste Burg ist unser Gott.«41). Die »Pressemäßige Behandlung« gibt zusammen mit dem Modul »Nachrichtensperre 1943« Einblick in die Vorgaben an die Verbreitung und insbesondere Narrativierung der Informationen zur Lage der 6. Armee durch mas-

36

Vgl. dazu Visch: Zur Funktion von Dokumenten in historischen Romanen; Carp: Kriegsgeschichten, S. 108-110; Siebers: Was zwei Augen nicht sehen können, S. 70 f.; Fischer: Geschichtsmontagen, S. 210 f. Siehe zur poetologischen Funktion der Unterscheidung Dokument/Fiktion bei Kluge jenseits der Schlachtbeschreibung etwa die Ausführungen in Reichmann: Der Chronist Alexander Kluge, S. 90-121.

37

Kluge: Nachweise zu Band I (Chronik der Gefühle), S. 989.

38

Genauere Untersuchungen hierzu liegen für die Schlachtbeschreibung bisher noch nicht vor.

39

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 681.

40

Ebd., S. 674.

41

Ebd., S. 675.

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senmediale Kommunikation im »Teutschton«42. Während die Module »Die Praktiker« und »Die Ärzte« in Form von Interviews Augenzeugen der Handlungskontexte der Ereignisse im historischen Zeitfeld in Befragungssituationen zu Wort kommen lassen, lenken die Abschnitte »Richtlinien für den Winterkrieg« und »Planspiele« den Blick auf militärische Vorbereitungsszenarien. Zwischen diesen umfangreicheren Modulen finden sich kürzere Abschnitte, teils bis hin zu Ein-Satz-Miniaturen, die sich zwischen die längeren Passagen mischen und auch modulintern hinsichtlich möglicher Zeitgliederungen Diskontinuitäten erzeugen. Diese Passagen haben mehr kommentierenden und analytischen Charakter, wobei viele von ihnen im Anekdotischen verharren. So finden sich Personenporträts (z.B. Hitlers oder der Generäle Paulus und v. Manstein), Fachgespräche unter Laien- und professionellen Historikern (im Modul »Der Bau von Begriffshütten«) wie auch zahlreiche Abbildungen, darunter Fotografien, Skizzen und Landkarten, Zeichnungen und Comics. Für diese Materialfülle ist nicht in erster Linie der Objektivitätsstatus ihrer Informationsseite entscheidend, sondern, so meine These, ihre Mitteilungsseite. Statt für jedes ›Dokument‹ eine Realitätsevaluation anzustrengen, scheint es mir sinnvoller, den Fokus auf die Strategien der Re/Konstruktion von Kommunikationstypen in der Schlachtbeschreibung zu verlagern. Dadurch kommt eine spezifische mimetische Achse ins Blickfeld: Das mimetische Band ist dann nicht mehr zwischen historisch verbrieftem Material und literarischer Fiktion zu spannen, sondern zwischen an der Exploration und Explikation von Tatsachenwissen orientierten Typen nichtliterarischer, pragmatischer und funktionsspezifischer Kommunikationsroutinen und ihrer literarischen Entpragmatisierung und Repragmatisierung.43 Den effet de réel erzeugt gerade das Bewahren der mitteilungsspezifischen Eigenschaften des virtuellen Materials, die bis zur Unkenntlichkeit der Simulation simuliert werden.44 Diese Strategie lässt sich an den Fassungen vor 1978 durchgängig aufzeigen. Hier begegnet man fast ausschließlich einem institutionell geprägten und kanalisierten Sprach- und Kommunikationsstil, dessen Charakterisierung die Schlachtbeschreibung in den späteren Fassungen selbst zu liefern scheint. So findet sich in ihr seit der Fassung von 1978 der Abschnitt »Nachrichtensperre 1943«, in dem ein Akteur für Öffentlichkeitsarbeit, »um genauestes Studium« der Niederlage bemüht ist und ihm hierzu »Sammlungen von Nachrichten und Erfahrungsberichten […] in Büroform«45 vorliegen. Der Großteil der Materialien präsentiert sich dementsprechend als Recycling von Verarbeitungsformen des Ereignisses Stalingrad, von starr eingehaltenen pragmatisch-funktionalen Selektionsstrukturen, authentisch bis in die 42

Klemperer: LTI, S. 163.

43

So auch Carp: Kriegsgeschichten, S. 109.

44

In diesem Sinne lässt sich hier von einer Rhetorik der Rhetorik sprechen, die sich durch »Verdoppelung zum Verschwinden« bringt (Haverkamp: Figura cryptica, S. 14).

45

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 759.

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Nüchternheit historiografischer Objektivierungen und in den Kanzleistil militärischen Jargons hinein.46 Dadurch ist das Material nicht über den Darstellungsduktus als fiktional transformiert markiert und weckt den Anschein realistischer Rekonstruktion von Kommunikation, aus der sich ein Bild der Beschreibungen des ›Unglücks‹ Stalingrad ergibt, das auf seine Beobachterrelativität und in seiner historischen Variabilität beleuchtet wird. Hiermit geraten nicht nur die sozialdimensionalen Perspektivierungen der historischen Ereignisse, sondern auch deren zeitdimensionale Verschiebungen in den Wahrnehmungsfokus der Rezeption. Zusammenfassend lässt sich formulieren: Nicht das Ereignis Stalingrad wird in der Schlachtbeschreibung dokumentiert, sondern dokumentiert werden die Wahrnehmungs-, Denk-, Sprech-, Schreib- und Handlungsweisen, die von unterschiedlichen Zeiterfahrungen und Zeithandhabungen gerahmt werden wie auch diese wiederum durch jene ereignishaft Wirkung entfalten. Die Schlachtbeschreibung ist weit davon entfernt, tatsächlich eine Beschreibung der Schlacht an die Hand zu geben. Sie ist im Gegensatz dazu eine Beschreibung der Schlachtbeschreibungen, eine Beschreibung zweiter Ordnung, die durch ihr Arrangement zugleich die Dekonstruktion der Illusion einer umfassenden Beschreibbarkeit leistet. Zu dieser Leistung gehört auch, dass die Beschreibungen, die die Schlachtbeschreibung beobachtet, als von Zeitlichkeit durchzogene Signaturen und »anschauliche historische Chiffre«47 lesbar werden. Die Schlachtbeschreibung ist daher entgegen ihres rhematischen Titels nicht der Versuch eines rekonstruierenden Durchgriffs auf die historischen Ereignisse selbst, und er wäre auch poetologisch fragwürdig, denn ein solcher »DirektZugriff verzerrt […] das Unterscheidungsvermögen innerhalb der Realität, die Aufmerksamkeitsraster«48, wie es bei Kluge an anderer Stelle heißt. Ein solches Aufmerksamkeitsraster wird gerade dadurch regeneriert, dass kein Direkt-Zugriff auf das historische Ereignis Stalingrad versucht wird, sondern der mittelbare Zugang über die kommunikativ sedimentierten individuellen und institutionellen Nachrichten vom Ereignis. Diese Umstellung erschöpft sich aber nicht in einer die Nachträglichkeit der Ereigniskonstitution miteinbeziehenden Rückübersetzung der Nachrichten in eine vorgelagerte, »ursprüngliche Realbeziehung«49 als Erfahrungsrealität. Die Rückübersetzung ist zu verstehen als Transfer der »menschliche[n] Verarbeitungsweise dieser Realität, gleich, ob sie innerhalb der Realzusammenhänge sich abarbeitet, oder ob sie sich über die Sache stellt«50. Damit ist eine Funktion (als Potentialis) der Schlachtbeschreibung benennbar: Literatur bietet andere »Maßstäbe 46

Man könnte hier auch von einer Präzisionsästhetik sprechen.

47

Großklaus: Katastrophe und Fortschritt, S. 175.

48

Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 217.

49

Ebd.

50

Ebd. Die zitierte Passage ist im Original durch Fettdruck hervorgehoben.

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für Authentizität«51, was ihr erlaubt, »Gegengeschichte zu erzählen«52. Dies gilt allerdings so auch für jede individuelle, subjektive Gegengeschichte, die sich gegen die »gesellschaftliche Geschichte« und ihren den einzelnen Menschen in ihre Umwelt aussondernden »Real-Roman« schreibt; aber Literatur erst erlaubt den Angriff der Gegengeschichten »in den Komplexitätsgraden der Realität«53. Einen solchen Modus der Konstruktion von Gegengeschichten bzw. Gegenkonstruktionen realisiert die Schlachtbeschreibung, indem sie Komplexitätsgrade sichtbar macht, ohne auf eine Totalität, ein Ganzes, eine beobachtende Superposition zu vertrauen. Auch für die Schlachtbeschreibung gilt, dass sie Schnitte vollzieht, dass sie keine erschöpfende Wiedergabe eines sog. Realitätsgehalts eines zu beschreibenden Gegenstands, einer zu beschreibenden historischen Phase ist; und dass sie in ihren Beobachtungsvollzügen stets in einen marked und einen unmarked space trennen und das Unmarkierte abblenden muss. Aber sie kann der ästhetischen Erfahrung die Komplexität der Schnitte wahrnehmbar halten, indem sie – ohne chronologischen Duktus, ohne Fürsprache für lineare Lektüren, ohne temporal-sukzessive Ereignisverkettung der ephemeren Ereignisse im Text – die Eigenzeiten und die Ereignisfülle disseminiert und Orientierung oder Zerstreuung suchenden Lektüreereignissen aussetzt. In diesem Sinne bietet die Schlachtbeschreibung »Unmengen von Unterscheidungsvermögen«54 und Unmengen von Ereignissen und Eigenzeiten. Bei Kluge treten in der Konsequenz zwei Programme nebeneinander: hier die Beobachtung der Beobachtung des Auslöseereignisses Stalingrad in einem literarischen Resonanztableau, das mögliche, wahrscheinliche und historisch-faktische Resonanzen dieses Ereignisses in ihrer sozialen Ver- und Bearbeitung imaginiert. Dort Stalingrad als »Wende der Wahrnehmung des Krieges durch die Deutschen«55, als Schlüsselereignis, das die Darstellungsroutinen grundsätzlich in Frage stellt und verschiebt, und neue Darstellungsmuster erforderlich macht, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Verstöße gegen gesellschaftliche Umwelterwartungen bzw. Erwartungshaltungen bedeuten.56 51

Ebd., S. 219.

52

Ebd., S. 222.

53

Ebd. alle Zitate.

54

Kluge: Der lange Marsch des Urvertrauens, S. 942. Kluge markiert dieses Zitat selbst als Diktum Luhmanns, dass ich so allerdings in dessen Schriften nicht auffinden konnte.

55 56

Frei: 1945 und wir, S. 97. Als Auslöseereignisse werden solche Vorfälle bezeichnet, die über einen längeren Zeitraum intensive Kommunikationen in den Massenmedien auslösen, wie z.B. die Anschläge auf die Twin Towers 2001. Schlüsselereignisse hingegen sind qualifizierte Auslöseereignisse, die zusätzlich den Einsatz neuer Techniken oder Narrative der Darstellung initiieren (vgl. Kepplinger: Realitätskonstruktionen, S. 73 f.). In diesem Sinne ist z.B. der zweite Golfkrieg mit dem embedded journalism und der Durchführung von mi-

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In der Schlachtbeschreibung bilden Zeit, Kommunikation, Gedächtnis und Erinnerung die Elemente zentraler, temporal mehrdimensionaler und komplexer Problemkonfigurationen. Die je andersartigen Horizonte und Abläufe der Zeit und die Spannungen, die sich zwischen diesen aufbauen, sollen nun beleuchtet werden. Als Einstieg eignet sich die Korrelation der verschiedenen in chronologischer Serie informierenden Berichtsformen »Rechenschaftsbericht«57 und »Die Unglückstage«58. Beide sind getaktet nach dem linearen Zeitverlauf; der sukzessive Zusammenhang ihrer Elemente verdankt sich der temporalen Reihung von Tag an Tag. Dies suggeriert zunächst das Vorliegen einer rein abstrakten Organisation der berichteten Ereignisse, sind sie doch nicht mehr als schlicht aufeinanderfolgende Vorfälle, deren Kausal- und Sinnrelationen der Bestimmungsleistung eines weiteren Beobachtungsakts überlassen bleiben. Diese Taktungen motivieren – zumal sie beide Berichtformen in identischer Weise organisieren – die Beobachtung der Zeit als Verabsolutierung eines im selben Rhythmus Fließenden, in dessen Fließdauer sich die Ereignisse als Binnenreliefs einätzen. In kalendarischer Serie ereignet sich die Übergänglichkeit der Zeit als Verkettung irreversibel fixierter Zeitstellen. Ein signifikanter Unterschied zwischen beiden Verkettungen besteht in der divergierenden Dichte und Extension der Ereignisse, die im Textraum der Berichte Form finden. Dies zeigt sich schon bei einem Blick auf den unterschiedlichen Umfang der Berichte. Während der »Rechenschaftsbericht« für den Zeitraum der 86 Tage, über den er Rechenschaft ablegt, 15 Seiten Textraum okkupiert, erstreckt sich derselbe Zeitraum in den »Unglückstagen« auf 74 Seiten. Während also die temporale Rahmung identisch bleibt, fällt die deutliche Diskrepanz der graphemischen Phänomenalität der identischen Zeitbezüge auf. Diese Diskrepanz erschöpft sich allerdings nicht in einer rein quantitativen Eigenzeitlichkeit der Berichte, die ohne weiteres an der je spezifischen Konfiguration von Erzählzeit und erzählter Zeit ablesbar wäre. Die Diskrepanz bildet das Fundament einer wesentlich komplexeren, ausgetüftelten Verweisstruktur zwischen den Berichten selbst. Durch die Wiederholung der temporalen Rubrizierung der Ereignisse in beiden Berichten erhält diese Wiederholung selbst die Insignien einer »leeren Formalkategorie«59. Beide Serien

litärischen Operationen zur Hauptsendezeit in den USA ein Schlüsselereignis – hinzu kommt, dass die mit Kameras ausgestatteten Waffensysteme live ihre Effektivität in die Berichterstattung einspeisen konnten – dank Nachtsichtgeräten auch unabhängig von den Lichtverhältnissen in anderen geografischen und Zeitzonen. 57

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 777-791.

58

Ebd., S. 562-636.

59

Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 8.

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stecken kalendarisch denselben Anfang und dasselbe Ende ab.60 Die Tagestaktung regelt die Rhythmik der Ereigniskommunikation wie auch der Kommunikationsereignisse. Auf den ersten Blick erscheinen die Berichte zunächst vorwiegend als Ausschnitt aus der endlosen Reihe von Zeitpunkten auf der Sukzessionslinie der Zeit. Mit jedem Tag wird ein Punkt auf dieser Linie und mit jedem Ereignis innerhalb der Dauer eines Tages ein Punkt auf der 24stündigen Kreisbahn dieses Tages eingetragen. Die sukzessive Reihung der Tage und Ereignisse erscheint wie eine abstrakte Bewegung, der Sinnpotentiale abgehen. Diese werden erst dann ereignishaft sinnhaft, sobald das Bezugsschema dieser Zeitlinie reflektiert wird. Dadurch, dass die Berichte nach dem 3. Februar abreißen, d.h. auf dieses Datum als einen Nullpunkt hinlaufen, verliert aber die kalendarisch strikt gerahmte Zeitlinie ihren Status als leeres Bewegungs- und Bezugsschema. In das vorher/nachher der datierten Ereignisse und Ereignisdatierungen ist daher als historischer Zielpunkt das Ende der 6. Armee mit eingespannt. Durch die Doppelung der Zeitlinie und ihre Verteilung auf zwei Kommunikationsketten im Text, initiiert die Schlachtbeschreibung Repetition und Iteration. Vom Recycling von Kommunikationsformen war schon die Rede gewesen. Hier erhält das Recycling eine entscheidende weitere Bedeutungsnuance. Es gerät – mit anderen Worten – zum Zweitakt: Re/Cycling vollzieht der Text nicht nur durch die Wiederverwendung von bereits medial manifestierten und formierten Artikulationen (d.h. durch den Import in die Ereigniszyklik literarischer Selektionsformen und ihrer kommunikativen Operativität), sondern auch als erneute Einspeisung temporaler Verkettungen in die beiden unterschiedlichen Vertextungs- und Symbolmaschinen »Rechenschaftsbericht« und »Die Unglückstage«.

R E /C YCLING – Z YKLISCHE E RKUNDUNGEN TEMPORALER Z WISCHENRÄUME Die Tagesmeldungen des »Rechenschaftsberichts« zeichnet eine hohe informative Redundanz, sprachlich-propagandistische Regulation und die Konzentration auf Bestimmbarkeit der Situation aufgrund numerischer Angaben und Erfolgsmeldungen aus: »Dienstag, 10. November I942: In St. Stoßtrupptätigkeit. Mittwoch, 11. November 1942: In St. lebhafte Stoßtrupptätigkeit. 60

Genau genommen spart der Rechenschaftsbericht den 3. Februar aus. Die Signifikanz dieser Aussparung soll für die vorliegende Analyse jedoch außen vor bleiben.

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[…] Donnerstag, 19. November 1942: In St. Stoßtruppkämpfe. […] Donnerstag, 17. Dezember 1942: Deutsche und rumänische Truppen, unterstützt von Kampffliegerverbänden, warfen zwischen Wolga und Don den Feind im Angriff weiter zurück und wiesen im großen Donbogen wiederholte Angriffe stärkerer Kräfte z. T. im Gegenangriff ab. 30 Sowjetpanzer wurden vernichtet. […] Sonnabend, 19. Dezember 1942: Deutsche und rumänische Truppen warfen den Feind zwischen Wolga und Don trotz seines zähen Widerstandes weiter nach Nordosten zurück. Bei Gegenangriffen verloren die Sowjets 22 Panzer. In St. und im großen Donbogen wurden feindliche Angriffe abgewehrt. […] Freitag 25. Dezember 1942: Im Laufe des gestrigen Tages gingen unsere heldenhaft kämpfenden Truppen, unterstützt durch den Einsatz neu zugeführter Verbände, im Dongebiet an mehreren Stellen zum Gegenangriff über […].«61

Die »reduzierende und homogenisierende Abgeschlossenheit«62, wie Stefanie Carp diese (Formen-)Sprache nennt, wird hier authentisch in ihrer Pragmatik zitiert; daher kommt ihr in der Tat hoher dokumentarischer Wert zu. Aber auch an ihr geht der Verlauf der Kampfhandlungen nicht spurlos vorbei. Ablesbar wird an ihr nicht nur die zunehmend desparate Situation im Kessel, sondern auch, was Victor Klemperer in seinem philologischen Notizbuch zur Sprache des ›Dritten Reichs‹ als »Sprachzäsur« des Winterkriegs im Osten bezeichnet hat: den Tempuswechsel vom Präsens zum Futurum63: »Mittwoch 3. Februar 1943: […] Eines kann aber schon heute gesagt werden: Das Opfer der Armee war nicht umsonst. […] Generäle, Offiziere und Mannschaften fochten Schulter an Schulter bis zur letzten Patrone. Sie starben, damit Deutschland lebe. Ihr Vorbild wird sich auswirken bis in die fernsten Zeiten […]«64

61

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 777 u. 783 f.

62

Carp: Kriegsgeschichten, S. 123.

63

Klemperer: LTI, S. 302.

64

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 791.

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Von zentralem Stellenwert ist für mich aber ein anderes Datum, ein anderer Eintrag. Für den 13. Januar 1943 meldet der »Rechenschaftsbericht« Folgendes: »Mittwoch, 13. Januar 1943: Nichts«65

Der Rest der für die Meldung vorgesehenen Textfläche ist weißer Raum, graphemisch nicht-okkupiertes Weiß ohne weitere Markierungsrealisierungen. Für diese Meldung gilt zuerst, was für alle Eintragungen gilt: Ihr räumliches Fortsetzen in schriftlinearer Normalrichtung erfolgt nach den Ordnungsrastern, die den kanonisierten Kulturtechniken des chronologischen zeitlückenlosen Berichts entsprechen. Sie ist primär ein tagesgeleiteter Verschriftlichungsakt, da sie als kommunikatives Anschlussereignis Gestalt gewinnt: Die Meldungen sind Ereignisse, die zur Schrift kommen. Dieses Zur-Schrift-kommen führt eine Spaltung des Ereignens aus in das ›Einst‹ des Ereignisses in der ›Welt‹ und das ›Danach‹ des kommunikativen Ereignisses, das eine Doppelbewegung als paradoxe Einheit formiert: Sie generiert, was sie voraussetzt, denn den Punkt, an den sie vermeintlich anschließt, bringt sie selbst erst hervor; erst dadurch kommt das Ereignis (als Ereignetes) in die Welt – nie als Präsenz, immer als Präsentation, die auf die zeichenhafte Re-Präsentation66 ange65 66

Ebd., S. 787. Die Bindestrichschreibung soll hier die Differenz zum Begriff der ›Repräsentation‹ sichtbar halten. Re-Präsentation bezeichnet nicht die Funktion der Stellvertretung einer als ›Original‹ greifbaren Ereignispräsenz, sondern die Intensivierung der Präsenzmachung durch performative Wiederholung. Re-Präsentation ermöglcht die temporale Ausdehnung des Re-Präsentierten über das einzelne Präsentationsereignis hinaus und legitmiert und stabilisiert dadurch erst dskursiv die Vergegenwärtigungsleistung der Repräsentation einer als vorgängig gesetzten Präsenz. Die Präsenzproduktion ist daher vielmehr um die Reproduktion von Repräsentationen von Präsenz bemüht. Diese Denkfigur der Präsenzproduktion deckt sich weitgehend mit der von Hans-Ulrich Gumbrecht eingeführten Formel von der »Produktion von Präsenz«: »Was uns ›präsent‹ ist, befindet sich (ganz im Sinne der lateinischen Form prae-esse) vor uns, in Reichweite unseres Körpers und für diesen greifbar. […] Wenn producere buchstäblich soviel wie ›vorführen‹ oder ›nach vorn rücken‹ heißt, würde die Formulierung ›Produktion von Präsenz‹ herausstreichen, daß der von der Materialität der Kommunikation herrührende Effekt der Greifbarkeit auch ein in ständiger Bewegung befindlicher Effekt ist.« (Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 33) Allerdings ist Gumbrechts an Heidegger orientierte metaphysische Drift nicht mit dem hier präferierten Zugang kompatibel: Indem Gumbrecht postuliert, »offenbartes oder entborgenes ›Wissen‹ könne Substanz sein, die in Erscheinung tritt und sich uns (sogar mit ihrem inhärenten Sinn) präsentiert, ohne der Interpretation zu bedürfen, um in Sinn verwandelt zu werden« (ebd., S. 101), hebt er

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wiesen ist, um ihr Vergehen aufzuschieben. Den Tagesberichten bzw. den Tagesmeldungen kommt dadurch ein eigentümlicher »testamentarischer Charakter«67 zu, denn die Re-Präsentation benennt die Absenz des Repräsentierten zuallererst und macht diese als Präsenz simulierbar.68 Das, was die Meldung re-präsentiert, ist also »Nichts«. Die Meldung ist ein inversives Ereignis mit dem Informationswert ›Nicht-Ereignis‹. Sie ist ein Akt der Positivierung von Negativität. Zieht man nun zum Abgleich die parallele Zeitlinie der »Unglückstage« heran, so findet man für den 13. Januar 1943 eine höchst abweichende Berichterstattung und Informationskonstellation:69 »Mittwoch, 13. Januar 1943:

Görings Geburtstag

4. Tag des russischen Angriffs. Begeistert wurde im Kessel die Landung einer viermotorigen Ju 290 begrüßt. 75 deutsche und 75 rumänische Verwundete wurden im glatten Rumpf des großen Flugzeugs deponiert. Beim Start rutschten die verbündeten Soldaten auf dem Metallboden in das Heck des Flugzeuges. Der heckbelastete Riese stürzte und vernichtete die Verwundeten. Tags zuvor hatte sich erwiesen, dass Verwundete mit Lungen- und Hirnschüssen in Höhen über 1000 m starben. Vier Flugzeugladungen Tote wurden in N. ausgeladen. Vorwärts des Dorfes Nowoalex., Steilhang 1 des Talgrundes [stark überhöhtes Feindufer] lagerten seit dem Vorabend Restteile der 29. Div. [mot.], mit Teilen am Nordeingang des Dorfes. Spähtrupps werden gelaufen; eine 10-cm-Langrohrkanone schießt auf russische Panzer, die [trotz Tarnanstrich sichtbar] insektenartig am gegenüberliegenden Hang manövrieren. Den Tag über und in den Nachtstunden stehen die Soldaten, so wie sie am Vorabend aufgestellt worden sind. Teilweise schlafen sie; feiner Schnee hat sie zugeweht. Offiziere und Unteroffiziere halten sich wach. Die Russen zögern vor der neuen Linie; sie greifen den ganzen Tag über in verschiedenen Heftigkeitsgraden an. […] General Hube vom XIV. Panzerkorps befindet sich mit den Resten seines Stabes bei Dub., bereits 6 km hinter Nowoalex. Der Vormarsch der Russen im Süden entzieht seiner Verteidigungslinie den Sinn. Da alles verzweifelt ist, gräbt sich der General ein und will sich hier totschlagen lassen […].«

wieder die präsenzfundierte Vorstellung einer primordialen Sinnstruktur vor aller Kommunikation, Medialität, Diskursivität und Zeichenhaftigkeit aufs Podest. 67 68

Derrida: Grammatologie, S. 31. Wobei die Re-Präsentation zugleich die Dokumentation des ›tötenden‹ Impetus leistet, der Sprache als Zeichentechnik je innewohnt (vgl. Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod, S. 78).

69

Alle folgenden Zitate in Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 612 f.

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Der Bericht praktiziert die Wiederaufnahme einer pragmatisch-funktionalen Mitteilungsform, amplifiziert aber die Entmenschlichungstendenzen solcher Formen noch durch die Anreicherung der Formenwahl mit figuralen Splittern. Nicht als literarische Form präsentiert sich hier der Text, sondern als literarisches Experiment, das sein (Quellen-)Material formal und inhaltlich anreichert, ohne dass dies im Ergebnis eine offensichtlich deviante Darstellungsform ergäbe. Kluges Suche nach einer angemessenen Form, so ließe sich auch an diesem Textausschnitt zeigen, resultiert aus einem dokumentarischen Gestus, der aber auf die stärker metaphorisierenden und narrativ komplexeren Sprachformen literarischer Kommunikationsformen zurückgreift, um das interdiskursive Potential der Literatur freisetzen zu können. Die Metaphorisierungen bewirken jedoch keine Übersetzungen des Materials in eine genuin poetische Form im Sinne eines meta phorein. In erster Linie sind es die weite Raumdistanzen in kurzer Zeit überbrückenden Elemente einer Kriegsmaschinerie, die auf Bildfelder verteilt werden. So erscheinen die Repräsentanten moderner (Kriegs-)Technik als »Riesen« oder werden aufgrund ihrer Tarnung und ihrer Bewegungsagilität mit Insekten verglichen. Durch den Einbezug der mythologischen Sphäre der Riesen (oberhalb des Menschen) und der bio-mimetischen Sphäre sich tarnender Insekten (›unterhalb‹ des Menschen) wird die Perspektive auf die Geschehnisse um Makro- und Mikroskalen der agency70 erweitert. Aber die Bildfelder des Mythologischen und Zoologischen sind hier multifunktional semantisierbar. Denn sie sind in einem Ausdrucksschema verortet, das über die Raum- und Zeitvorteile der Maschinen die natürlichen Koordinationen menschlicher Perspektivierungen topologischer und temporaler Art in ihrer Inferiorität sichtbar macht. Während die Maschinen zumindest in diesem Szenario Bewegung und Dynamik verkörpern, verharren die Körper der Soldaten »wie sie am Vorabend aufgestellt worden sind«, so wie sich auch General Hube stationär einrichtet und in Antizipation der Geschehnisse eingräbt bzw. sein eigenes Grab schaufelt. Die Similarität dieser Bildfelder ruft die Abhängigkeit von den artifiziellen Beeinflussungen der Eigenzeit, die der menschliche Organismus durch technischen Fortschritt erfahren hat, auf – ganz im Sinne des Prologs, den Christoph Ransmayr seinem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis vorwegstellt: »Vergessen wir nicht, daß ei-

70

Agency meint in diesem Kontext, dass der (hier allerdings personifizierten) Dingwelt als solcher Handlungsmacht, Intentionalität und Handlungspotentialität unterstellt werden (vgl. Miller: Home Possessions, S. 119; grundlegend Latour: Eine neue Soziologie). Aus systemtheoretischer Perspektive ist auf den Zuschreibungscharakter dieser Unterstellungen hinzuweisen, denn Voraussetzung für Handlung sind Intention, Motiviertheit und sinngenerische Selektionen, die dann auch bei materiellen Objekten, die keine Beobachter sind, vorauszusetzen wären.

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ne Luftlinie eben nur eine Linie und kein Weg ist und: daß wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind.«71 Im Leseprozess begegnen Schilderungen der Stationen des Tagesgeschehens, die jedoch nicht in chronologischer Linie abgelaufen werden. Der narrative Diskurs schildert für den genannten Tag den Abtransport von Verwundeten aus dem Kessel über den Luftweg, beschreibt das Verharren der Soldaten »den Tag über und in den Nachstunden«, wie sie am »Vorabend aufgestellt worden sind«, erwähnt, dass die »Russen zögern vor der neuen Linie« und liefert analeptisch nach, dass sie »ziemlich früh« und »den ganzen Tag über in verschiedenen Heftigkeitsgraden« angreifen. Die Meldung beschreibt auch die relationale Inferiorität der Eigenzeit des Einzelnen in der Fülle der Ereignisse: »Da alles verzweifelt ist, gräbt sich der General ein und will sich hier totschlagen lassen«. Bezeichnend ist, dass diese Meldungen präsentisch formuliert sind und die Aktualität der Ereignisse noch den Moment ihres Stattfindens über ihr Mitgeteiltsein hinaus festzuhalten suchen. Gegenstand der Meldungen sind daher nicht so sehr die Ereignisse als Vorkommnisse, über die zu berichten die Funktion einer Meldung wäre, sondern die Ereignishaftigkeit des Berichts besteht in der Re/Präsentation der Ereignisse in ihrem Ereignen. Derart lässt sich das präsenzgesteigerte Krisenszenario, das Kluge hier zeichnet, als durch den Modus der Präsenz erzwungene Homogenisierung von unterschiedlichsten Eigenzeiten und ihren Diskontinuitäten begreifen. Diese Homogenisierung aber ist zusammen mit dem kontinuierlichen Gleiten der Schrift nur die monotone Hintergrundfolie, vor der sich das Zögern, das Verharren, die unterschiedlichen Raumund Zeitkorrelationen der Figuren und Dinge abzeichnen, denen diskurstrukturell kein längerer Erzählstrang reserviert bleiben kann. Erst durch die Überlagerung mit den partikularen Zeitschichten und Eigenzeiten erfährt das präsentische Erzählen die entscheidende Wendung, mit der es hinsichtlich seiner rezeptionslenkenden Effekte mit der Zerstreuung der Homogenisierung der Zeit korrespondiert. Die Mitteilung der Ereignisse in szenisch-präsentischer Darstellung ist demnach der deutlichste Hinweis auf die Vermitteltheit der Wirklichkeit, von der Zeugnis abgelegt wird. Etwa die Hälfte der Meldungen über den 13. Januar 1943 nimmt der diesmal im Präteritum verfasste Bericht über den Auftrag des Hauptmanns i.G. Behr ein, der – die Kriegstagebücher Paulus‹ im Gepäck – die Anweisung erhält, »von Manstein und Hitler […] klarzumachen, daß die 6. Armee verloren geht, wenn nicht innerhalb von 48 Stunden etwas Entscheidendes geschieht.« Was sich als kontinuitätsproduzierende Historiographie aufbaut, erfährt nach wenigen Sätzen bereits eine interaktionistische Brechung, die den diskursstrukturellen Strom auflaufen lässt. Kluge nutzt nämlich hier, wie auch an anderen Stellen der »Unglückstage« zur Retardierung der Kommunikation das Mittel der Zwischenfrage, die weder als polemische noch als Anprangerungsfrage semantisiert wird. Sie leitet kurzzeitig die unidi71

Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis, S. 9.

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rektionale und lineare Kommunikationsverkettung um in den Zick-Zack interaktionistischer Diskontinuität zwischen Berichtendem und Fragendem, die aber als Instanzen ohne personale Adressierung bleiben. So platzt nach der Wiedergabe des Auftrags Behrs eine Nachfrage in den Erzählstrom: »Warum sandte Paulus Behr?«, die für einen Moment, für die Dauer eines Kommunikationsereignisses (Frage) das Fließen der Rekonstruktion unterdrückt, indem sie den stream of communication über eine Zwischenstation leitet. Der Kontrast zum szenisch-präsentischen Kamerablick auf die Geschehnisse im ersten Teil der Meldung könnte größer nicht sein.72 Auf die Frage reagiert die Instanz der Meldung im Modus einer interaktionsdyadischen Replik: »Paulus [wollte] einen letzten Augenzeugen außerhalb des Kessels wissen. Paulus rechnete mit dem Tod aller in den nächsten Tagen. Vielleicht war schon in 2 Tagen Kesselende. Behr wäre dann noch nicht zurückgewesen.«

Damit öffnet die Meldung den Mantel der Geschichte um 48 Stunden, und Kluge entfaltet aus dem Kern der Zeitsituierung der Meldung auf einen einzigen Tag heraus eine diegetische Partikularzeit des Auftrags Behrs, in der in chronologischer Strenge eine episodische Geschichte herauspräpariert wird. Denn unter dem typographisch nicht abgehobenen Zwischentitel »Mission des Hauptmanns i.G. Behr«73 wird dessen Auftragsreise hiernach zu einer Minimalgeschichte in der Geschichte und gewinnt dadurch einen die Geschichte des Debakels in Stalingrad selbst modifizierenden Status. Denn der horizontale Abstieg von Tag zu Tag auf die Basisgeschichte des ›Unglücks‹ bzw. Niedergangs der 6. Armee wird retardiert durch vertikale Einschübe, die Kluge als sympraktische Erlebnisform der Rezeption von Sukzession modelliert. Innerhalb der Schilderungen der verzweifelten Lage (»will sich hier totschlagen lassen«) bewirkt die Mission Behrs den Aufbau einer Spannung um dessen rechtzeitige Ankunft, die berichtende Erfüllung seiner Mission und eine eventuelle Rettung der eingeschlossenen Armee durch eine Anweisung Hitlers. Diese Übermittlung der Botschaft Paulus’ schließt die Ereigniszeit der »Unglückstage« als durchmessbare Zeit auf, indem die Minimalodyssee Behrs (»Die hohen Offiziere hinderten Behr, noch am gleichen Tage nach Wolfsschanze weiterzufliegen«) tatsächlich in den Meldungen der nächsten beiden Tage wiederaufgenommen und weitererzählt wird. In distanzierter Sprache rekonstruieren die Meldungen vom 14. und 15. Januar 1943 Behrs erfolglose Mission, wobei Kommunikationsstrom und Zeitstrom zu72

Vgl. zum intermedialen Bezug des präsentischen Erzählens zum Film Rajewsky: Intermediales Erzählen, S. 175 f.

73

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 614, als Zwischenüberschrift, aber ohne typografische Absetzung.

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mindest in diesen Episoden der Meldungen annähernd parallel laufen. Ihren Endpunkt findet diese Episode in der Kulmination zweier Hoffnungslosigkeiten. Hitler reagiert auf die von Behr vorgetragene Anfrage Paulus’ mit seinem historisch belegten abstrusen Festhalten an der Luftbrücke, die der Leser bereits als träumerisches/utopisches Phantasma bewerten kann. Gleichzeitig schließt sich der episodische Kreis der Mission Behrs, indem Luftbrückenphantasma und die Begeisterung über die Landung eines Flugzeugs im Kessel, mit der die Meldung am 13. Januar, dem Tag des Aufbruchs Behrs, eingesetzt hatte, sympraktisch zusammenlaufen. So wie die Hoffnung auf Rettung der Verwundeten im Leib des »viermotorigen […] Riesen« am Boden zerschellt, so zerschellt die Aussicht auf eine realistische Einschätzung der Lage in Stalingrad an den Denkstrukturen Hitlers, der, wie es an anderer Stelle heißt, »flexibel [war] in Fragen der Gegenwart, unerschütterlich in Fragen der Zukunft. […] Was er nicht hatte, das war er nicht bereit aufzugeben, was er hatte, wollte er gern opfern.«74 Die Möglichkeit einer Evasion geht unter in der dramatischen Zirkularität eines Nicht-Heraustreten-könnens aus der Geschichte. An diesem Punkt im Text klappt der Wirklichkeitsentzug, den die Schlachtbeschreibung in ihrem fiktionalen Gestus an der Historizität der Ereignisse 1942/43 vollzieht, desavouierend auf den Wirklichkeitsentzug der höheren Führung, die noch in der Endphase Luftschlösser und »Begriffshütten«75 bemüht, die von einer Symbolik der verzerrten Realität durchsetzt sind: »Noch in Gegenwart Behrs gab Hitler dem Feldmarschall Milch die versprochene Sondervollmacht […], daß nun ›in Zukunft täglich 300 t in die Festung transportiert werden‹«76, eine Zukunft die als offener Zeithorizont potentieller Aktualität konträr steht zur irreversiblen Aktualität der logistischen Unmöglichkeiten der Versorgung der Truppe im Tableau der historischen Ereignisse. Dieses Verhältnis gewinnt eine fast zynische Seite aus der Gleichzeitigkeit pluraler Gegenwarten: der Beschreibung und Einschätzung der Situation in Stalingrad durch den phantasmagorierenden Hitler; der Situation der Beschreibung der Beschreibung der Situation in Stalingrad durch diesen; der aus der erinnernden Retention der logistischen Leistung des Entladens von Toten in diese Gegenwarten hineingreifende Auftakt der Meldung vom 13. Januar; der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der die Zeitlinien zusammenführenden narrativen Struktur. Das synthetische Zusammenziehen verschiedener Gegenwarten inszeniert eine komplexe Überlagerung von Eigenzeiten, die der Text hier nicht in linear-temporaler Organisation synthetisiert. Liest man diese Syntheseleistung darüber hinaus als Referenz auf die Syntheseleis-

74

Ebd., S. 712.

75

Ebd., S. 734.

76

Ebd., S. 617.

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tung der Zeichen synthetisierenden Lektürepraxis, dann ist der Text die »Allegorie seiner Lektüren und damit Selbstallegorie.«77 Von dieser Gegenwartsfülle lassen sich – durch die achronologische Organisation des gesamten Textraums begünstigt – assoziative horizontale und vertikale Lektürelinien ziehen, die im Falle des hier besprochenen Textabschnitts zu den Elementen des organisatorischen Aufbaus des ›Unglücks‹ Stalingrad laufen.78 So lassen sich z. B. die denkstrukturellen Fatalitäten der Zukunftsentwürfe, die die »300.000 Mann auf die Märsche in die Steppen Südrußlands führt« in ihrer Pluralität auf einen absurden Potentialis zurückführen. Diesen markiert Kluge nicht als Explikation oder Kommentar, sondern als zitierende Transmission der Worte eben dieses von Hitler mit einer Sondervollmacht ausgestatteten und genauer: mit einer am Möglichkeitssinn krass vorbeischießenden »Forderung des Idealen […] in allen Äußerungen«79 konfrontierten Feldmarschalls Milch: Es geht um die Zentralisierung aller Motive unter der organisatorischen Prämisse, dass die Energien der Akteure sich im Rahmen dessen bewegten, was für sie »absolut noch im Rahmen dessen [war], was wir nicht für absolut unmöglich hielten…«80. Die Zitatform lässt sich funktionalisieren als Sinn-Entzug, der die Argumentationsmuster einer ideologischen Semantik bloßlegt.81 Denn im Zitat schwingt eine doppelte Selbstdistanzierung mit, indem einerseits der Gedanke des absoluten Potentialis explizit als Symptom einer die Geschichte durchziehenden Akkumulation von »Irrealisierung«82, als »kollektive und individuelle Nichtanerkennung des Realitätsprinzips«83 ausgewiesen wird. In Geschichte und Eigensinn beschreiben Kluge und Oskar Negt84 diese

77 78

Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 72. Diese Assoziationsdichte im Text führt zu einer Verflüssigungsdynamik bei den mitlaufenden starren Zeitmarkern (Tages- und Jahresangaben).

79

Musil: Mann ohne Eigenschaften, S. 54. So beschreibt der Erzähler im Mann ohne Eigenschaften die brisante und latent explosive Phase der Jahrhundertwende.

80 81

Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 734. Als Sinnprogramm waren diese Muster dominante Regulatoren faschistischer Denkund Handlungsstrukturen.

82

Kluge/Negt: Geschichte und Eigensinn, S. 682.

83

Ebd., S. 683.

84

Auf die Koproduktion Kluges mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt gehen theoretische, vor allem geschichtsphilosophische und gesellschaftskritische Publikationen zurück, unter anderem die monumentale Monografie Geschichte und Eigensinn, in der Kluge/Negt auf das Mittel der Montage zurückgreifend Literatur, Philosophie und Theorie oszillierend ansteuern und amalgamieren. Das Projekt steht dabei in der Verlängerungslinie der romantischen Symphilosophie und ihres Wissensbegriffs (vgl. Hahn: »Gemeinsame Philosophie«, S. 104 f.).

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Irrealisierung als prozessualen Verdrängungsmechanismus.85 Die aus dieser Verdrängung resultierende Unvollkommenheit des »Realitätssinns« des ideologischen Programms bewohnt den Gedanken des absoluten Potentialis und wird sichtbar in seiner strukturellen Kopplung mit der Signifikantenkette im Zitat. Die Transmission dieses Gedankens als Zitat bringt die Unvollkommenheit des in Zitatform Kommunizierten ins Spiel. Denn zitatmarkierende Anführungszeichen »spielen mit dem Rand eines Diskurses, d.h. sie kennzeichnen die Begegnung mit einem anderen Diskurs. Gleichsam wie Bojen markieren sie diesen Grenzbereich, über den ein Diskurs durch eine Arbeit an seinen Rändern sich konstituiert in Bezug auf sein Äußeres.«86 Als Zitat markiert, verweist der absolute Potentialis gegen seinen Sinnkern auf den Horizont der Möglichkeiten, die historisch nicht aktualisiert wurden, deren Aktualisierung aber möglich war. In diesem Sinne laufen die Entdifferenzierung der Gesellschaftsstruktur im Nationalsozialismus durch Gleichschaltung der Funktionssysteme, das Sendungsbewusstsein als historisch-völkisch-rassische Determinante und die physische und semantische Negation der Kontingenz, des Auch-andersMöglichseins parallel. Andererseits insistieren nicht nur die Zitatmarkierungen auf diese Unvollkommenheit, diese Hypothek des radikalen Ausschlusses. Auch die Auslassungszeichen im Zitat verraten diese Unvollkommenheit, indem sie die Kommunikabilie abschneiden. Milchs Diktum – ein faschistisch kontaminierter Aktualitäts-, Sinn- und Ereignisgenerator – endet nicht mit einem definiten, konstatierenden Punkt, sondern läuft als Fragment aus in eine Serie von durch Auslassungspunkte angezeigte Leerstellen. Der Text inszeniert hier visuell die Lücke, in die sich Kluges Anschlusskommunikation als »rebellische Substanz«87 einnistet und die historische Irreversibilität mit kommunikativer Reversibilität bearbeitet.

T IME

MAPPING



NICHTENDE

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Betreibt man die Synopse der beiden Ereignisberichte »Rechenschaftsbericht« und »Unglückstage« noch tiefenschärfer, dann kommen weitere eigenzeitspezifische Aspekte des Textes in den Fokus. Es war gezeigt worden, dass die Parallelität der Zeittaktung bei beiden Berichtformen ein time mapping motiviert. Die kalendarischen Daten verweisen auf dieselben Zeitstellen; sichtbar wird dadurch die kontingente und daher unterschiedliche Produktivität bei der Diskursivierung dieser Zeit85

Dies geschieht unter Rückgriff auf eine abgewandelte Theorie des Lustprinzips bei Freud und die kollektiven und individuellen Erhaltungsmechanismen der Irrealisierung, die Klaus Theweleit vor allem in Band II seiner Männerphantasien beleuchtet.

86

Authier: »In Gänsefüßchen reden«, S. 67.

87

Carp: Kriegsgeschichten, S. 133.

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stellen. Als »Signifikanten der Geschichte«88 können die Datumsangaben aber erst dann eingesetzt werden, wenn ihnen eine Funktionsstelle als Wiederholungsereignis zugewiesen wird, mit dem historische Zeiten als an gegenwärtige Zeiten gekoppelt imaginiert werden. Man könnte auch sagen, dass Datumsangaben Akronyme für das Echo vergangener Ereignisse darstellen – ansonsten wäre jedes Datum schlicht eine abstrakte Fixierung auf einem Zeitstrahl und diskursiv blind. Mit der Signifikanzkonstitution mittels diskursiver Funktionalisierung geht eine Substantialisierung der Daten und der mit ihnen gekoppelten Erinnerungsoperationen einher, mit denen die Angaben der Tagesdaten zeitfixierende Relevanz entfalten, dadurch aber Fixpunkte installieren, deren unterschiedlich intensive Attribuierung in den Berichten im Folgenden von Interesse sein wird. Konzipiert man den Text als Raum, der Zeitausschnitte visualisiert, dann lässt sich beobachten, dass beide Berichte den gleichen Zeitausschnitt durch eigentümliche Attribuierung zu einer singulären Bezeichnungssphäre hypostasieren, in der Welt- und Zeitzustände als Signifikantenketten gegenwärtig werden. Insofern korrelieren die Signifikanten Zeit- und Textraum. Die Verräumlichung von Zeit erfolgt dann über die Signifikantendichte, die zugleich auch Aussagen zulässt über die Ereignisdichte, denn die Textfülle ist das Metrisierungsinstrument zur Ereignisvermessung. Insofern gestaltet sich Zeit als im Schreiben entworfenes räumliches Tableau.89 Hier lässt sich noch einmal anders anschließen an das »Nichts«, das der »Rechenschaftsbericht« für den 13. Januar bezeugt. Liest man die Fülle der Ereignisse am 13. Januar, wie sie die »Unglückstage« vertexten, zurück auf die negative Ereignisdichte des »Rechenschaftsberichts« für denselben Tag, so bedarf das in diesem markierte »Nichts« einer genaueren Beobachtung. Aus der Sicht dieses »Nichts« ist die Fülle der Ereignisse in den Unglückstagen ein Ausgeschlossenes als überkomplexes Außen eines einzigen Signifikanten. Systemtheoretisch gesprochen führt das markierte »Nichts« den Index des Abwesenden mit sich. Das »Nichts« ist in zeittheoretischem Sinne der Hinweis auf eine paradoxe Diskontinuität: Zeit vergeht, obwohl nichts geschieht; weshalb aus der Perspektive des Rechenschaftsberichts Stalingrad aus der temporalen Kontinuität der Geschichte für diesen Tag ausgenommen bleibt. Es gibt keine Ereignisse in Stalingrad, weil Stalingrad nicht als Kommunikationsereignis firmiert. »Nichts« wäre somit eigentlich eine Form, das Abwesende wäre alles andere. In dieses Andere als Möglichkeitshorizont setzen die »Unglückstage« ihre Markierungen. In diesem Sinne sind diese Markierungen auch nicht literarische Kontrafakturen, sondern faktische Gedächtnisvollzü-

88

Uhlig: Poetologien des Ereignisses, S. 80.

89

Vgl. Pethes: Mnemographie, S. 106-108.

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ge im Medium der Literatur.90 Mit diesen Vollzügen konkretisiert sich eine Doppelbewegung, die sich allerdings nur einer intensiven Lektürearbeit offenbart. Durch das Ansteuern von Kommunikationen unterschiedlicher Ereignisdichte über den gleichen Zeitraum und die Option ihres Abgleichs aufgrund identischer Zeitraster, scheint auf, dass Zeit »sowohl eine Dimension der Unsichtbarkeit und des Verschwindens wie auch eine Dimension der Synthese und der Konstruktion«91 mitführt – was Eckart Lobsien auf den Begriff des »antithetische[n] Doppelcharakter[s]« der Zeit bringt. Der Zeit kommt in diesem Sinne im »Rechenschaftsbericht« eine Wiederholungsstruktur zu, die sich gegen die Dimension der linearen Folge singulärer, irreversibler Zeitprozessualität stellt und gleichzeitig als einziges Ereignis die Ereignislosigkeit als Dauer ausstellen kann. Mit anderen Worten: Die Aktualitätsfülle eines ganzen Tages schrumpft auf die atomare Einheit eines nichtenden Moments, der Kommunikation von »Nichts«. Dieser Doppelcharakter der Wiederholung lässt sich auch beschreiben als doppelte Buchführung über die täglichen Ereignisse. Jeder Bericht führt nach seinen Inventarregeln Buch. Die Buchführung des »Rechenschaftsberichts« wird dabei entlarvt als rein mechanische Operation, denn die Wiederholung ihres Einteilungsrasters der täglichen Berichte in den »Unglückstagen« öffnet erst den Raum für die Einschreibung von Ereignissen in Form von Text. Damit einher geht die Einschreibung eines symbolischen Subtextes als symbolische Differenz, die die Wiederholung des Zeitrasters mit sich führt.92 Zwar erzeugen beide Berichtformen für Ereignisse Ordnungs- und Verteilungsmuster, die als topologisch-textuelle und chronologisch-temporale Selektionen stets auch Zurückgehaltenes generieren. Diese Latenzkonstitution aber erschließen die »Unglückstage« als generischen blinden Fleck, der jede Beobachtung erst konstituiert. Sie imaginieren dasjenige, das der sozialen Realität der »Rechenschaftsberichte« abgeht. Sie lassen das faktual Verdrängte fiktional wiederkehren und erlauben dadurch erst, »das Verschwiegene in seinem Zeitsinn zu erfassen.«93 Dadurch imaginieren sie aber nicht schon einen latenzfreien Diskurs, sondern exponieren sich – wie der gesamte Text der Schlachtbeschreibung – durch Verfahren der Literarisie-

90

Im Herausstreichen der auf das Vergessen hin organisierten Architektur der Tagesberichte leisten die »Unglückstage« nicht nur die Erinnerung an das durch Erinnerung je eingeschlossene Ausgeschlossene. Sie nutzen die Möglichkeit der Ereignisfülle im Text, die assoziativ anschlusshaften Ereignisverkettungen zwischen den Modulen als Textereignissen, auf operative Weise.

91 92

Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 34. Deleuze spricht mit Blick auf die graphemische Ebene von einer Wiederholung, die »in ihrem Wesen symbolisch« ist.

93

Khurana: Latenzzeit, S. 143.

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rung auf einer möglichst »offene[n] Diskursbühne«94. Das Andere, Latente miteinzuspannen heißt dann, es in Kontingenz zu verwandeln95. Es heißt auch, Anderes und anders zu erzählen und somit auch andere mögliche Ausblicke auf das Thematisierte zu isolieren.96 Komplementär dazu verhält sich der unterschiedliche Rezeptionsrhythmus, den beide Berichtformen mit narrativer List konfigurieren. Sie sind daher auch lesbar als Offerten der Beobachtung der »latenten Wirkung von textuellen Medien, welche die Wahrnehmung strukturieren«97. Dabei kommt insbesondere der Ebene der Erzählzeit ein strukturierender Effekt für die Wahrnehmung von Texten als Medien zu. Beide Berichte divergieren erzählzeittechnisch erheblich und lenken so den Blick auf die Extension und Frequenz der Ereignishaftigkeit, die sie mitteilen, indem sie sie artikulieren. In der atomistischen Raffung eines Tagesgeschehens auf ein »Nichts«, scheint der Tag nicht mit Ereignissen durchsetzt, die 24 Stunden ereignisfrei, die Zeit leer. Dadurch bleibt für einen ganzen Tag die Dimension des Zeiterlebens ausgespart, denn aufgrund seiner negativen Ereignisdichte hat der »Rechenschaftsbericht« an diesem Tag kein Sensorium für zeitextensionale Zeiterfahrung und für die Zeitwahrnehmung jenseits der kalendarischen Taktungsgeschwindigkeit im Übergang zu einem neuen Tag. Mit einer optischen Figur gesprochen: Das Zeitauflösevermögen des »Rechenschaftsberichts« erfasst eine minimale Ereignisqualität und -quantität. In diesem Sinne fungieren die »Unglückstage« als 94

Ellrich: Latenzschutz, S. 264. Latenz fällt überall dort an, wo beobachtet wird. Sie verharrt in der Warteschleife des Bedrohlichen. Für soziale Systeme nimmt Luhmann einen Latenzschutz an, ähnlich dem Diskurs-Tabu. Die Funktion dieses Schutzmechanismus ist die Blockierung als strukturbedrohlich empfundener Operationen (Kommunikationen, Gedanken). So ist insbesondere die Kommunikation in Deutschland nach 1945 durchsetzt mit Latenzschutzmechanismen und -strategien. Traumatische Kriegserfahrungen und die Schuldfrage im Kontext von Krieg und Shoah waren bis weit in die 60er Jahre kaum Thema der sozialen Realitätskonstruktionen. Mitunter haben literarische Texte an diesen Latenzschutzbemühungen mitgewirkt, so sie denn nicht sogar revisionistische Tendenzen förderten oder bedienten. Kluges gesamtes literarisches und filmisches Œuvre lässt sich als Opponieren gegen solchen Latenzschutz lesen. Sein kunstförmiger Umgang mit sozialer Realität positioniert sich hierzu auf Grenzen – den Grenzen zwischen Manifestation und Latenz, zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wissen und Nicht-Wissen und zwischen Ereignis und Geschichte. Die Werke Kluges inszenieren sich, so lässt sich vorschlagen, als systematische Orte des Übergangs, als Schwellenphänomene.

95 96

Vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 147. Eine konzise Schau der Aneignung von historischen Ereignissen durch beobachtende Reproduktion gibt Pompe: Keine bloße Alliteration, S. 60 f.

97

Müllerwille: Black Box und Geheimniszustand, S. 211.

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Variationen dieses Auflösevermögens im selben Zeitraster. Was der Optik eines auf Einheitlichkeit der Ereignissynthese geeichten Sensoriums der »Rechenschaftsberichte« entgeht, wird durch die doppelte Buchführung eingeholt und aisthetisch verfügbar gemacht. Die Rolle der literarischen Formbildung wäre in diesem Sinne, die »unberücksichtigten zersplitterten Zeitmaße des Geschehenen«98 in Anspruch zu nehmen und damit auch Lektürezeit zu beanspruchen. Gegenüber den Berichten im »Rechenschaftsbericht« erweisen sich die mit Zwischenfragen und narrativen Episoden angereicherten Berichte in den »Unglückstagen« als Zeitfragmentierungen affirmierende Ereignisfüllen, -dichten und zusammenhänge, für die die Verlaufsberichte des »Rechenschaftsberichts« nur den Modus der »Ungegenwärtigkeit«99 kennen. Im Kontrast dieser gedoppelten Perspektive auf Ereigniszeiten und der eigenzeitlichen Erfahrungen von Zeit wird der temporale Latenzraum markierbar, den die Exklusion und Beseitigung von Ereignissen im »Rechenschaftsbericht« aufspannt. Ihn intensiv zu sondieren, ist den »Unglückstagen« zugedacht. Das setzt allerdings voraus, dass der Informationswert des Kommunikationsereignisses ›Bericht‹ moduliert, d.h. von Dominanzattributen befreit wird.100 Dem Text gelingt dies, indem aus der Ereignisarmut der Information bzw. der Informationsarmut des Kommunikationsereignisses im »Rechenschaftsbericht« ein Motiv gestrickt wird, und zwar das Motiv der Welthaltigkeit der Fremdreferenz der negativen kommunikativen Ereignisfülle des »Nichts«. Erzielt diese Negation aufgrund ihrer maximalen Raffung der Zeit eines Tages beschleunigende Lektüreweisen, die von Tag zu Tag springen, so steht demgegenüber die extensive Erzählzeit in den »Unglückstagen«, denen es offensichtlich um Ereignisfülle geht. Sie füllen die vermeintliche Dauer der Ereignislosigkeit mit Ereignissen, Vorfällen, Mitteilungen, kleinen und großen Geschichten und parzellieren die vermeintliche Leere der Zeit mit Intervallen. Gegen den fremdreferentiellen ›Klartext‹ der institutionellen, depersonalisierten Registraturkommunikation in den »Rechenschaftsberichten« wird aber nicht etwa das Ereignis als prädiskursive Größe stark gemacht. Stattdessen spiegelt der Text selbstreferentiell das Vermögen der Kommunikation, durch Manifestation der Zeit und der Ereignisfülle mittels graphischer und graphemischer Formen im materiellen Träger des Textes, Ereignishaftigkeit zu unterhalten. In herausragendem Maße wird dies ermöglicht durch die metonymische Verkettung der Raumdimension des Textes mit der Zeitdimension eines durch Spiegelung in Einzelereignisse und Eigenzeiten zerfallenden »Nichts«.

98

Birkmeyer: Zeitzonen des Wirklichen, S. 69.

99

Khurana: Latenzzeit, S. 143.

100 »Modulieren heißt […], keine dominierende Stellung zu haben« formuliert Baecker anlässlich eines Interviews über Kluges Interesse an einer Synthese von Kritischer Theorie und Systemtheorie (Baecker/Stollmann: Wozu Theorie?, S. 79).

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Von der Qualität dieses »Nichts« kann nunmehr nicht mehr gesagt werden, es sei ein Nichts-in-sich, denn der ostentative Charakter der Signierung der Ereignisqualität eines Tages mit dem Label ›Nichtgeschehen‹ löst sich auf, wenn gefragt wird, was denn dieses Label, was denn das »Nichts« faktisch repräsentiert. Wie gibt es dieses Nichts? Und was gibt es (verstanden als genitivus subjectivus wie auch als genitivus objectivus)? An diesen Fragen blitzt noch einmal das kompensatorische Profil der »Unglückstage« auf. Sie liefern nicht nur Ereignisse im Sinne von Vorfällen und kommunikativen Verkettungen nach, sie erlauben auch einen geschärften Blick auf das in der Negation von Begebenheit und Gegebenheit ausgeschlosseneingeschlossene Andere des Nichts, vor dessen Horizonthaftigkeit sich erst das Nichts als »Da-in-Differenz«101 abzeichnet und einzeichnet. Von der Illusion bzw. dem Ideal des Nichts als »volle[m] Signifikat«102 bleibt nichts übrig. Insofern protestieren die umfangreichen Erzählungen der »Unglückstage« mit ihrer kommunikativen Ereignisfülle gegen die Mikrologie der Ruhe, für die das »Nichts« bzw. der Index Nichts/Ereignis steht. Ihre utterances sind lesbar als Rückfragen an den »Rechenschaftsbericht«, Rückfragen an die utterance eines »Nichts«, das nicht nichts ist. In Anlehnung an eine Unterscheidung Paul de Mans könnte man das Nichts als Leerform bezeichnen, dem die Funktion des Allegorischen opponiert, das de Man »als Neigung der Sprache zum Narrativen, als Tendenz, sich entlang der Achse einer imaginären Zeit auszubreiten« begreift.103 Die Rückfragen geraten in diesem Sinne zur mnemonisch transformierenden Entfaltung einer geschlossenen Einheit des Nichts in das Mannigfaltige und Mannigfache polyvalenter Ereignisse.104 Für das rezipierende Bewusstsein werden dadurch Anschlüsse gedoppelt. Die Lakonie und Flüssigkeit der Anschlusskommunikation unter den Tagesberichten des »Rechenschaftsberichts« wird blockiert durch die Tagesberichte in den »Unglückstagen«. Der Leser erfährt so durch intratextuelle kommunikative Ereignisanschlüsse die Beobachterdependenz der Viskosität von Ereignis- und Nichtereignisfolgen. Die Verschränkung der poetischen und kommunikationstheoretischen Figuration der Beziehung unterschiedlicher Ereignisfüllen wird temporal aber auch auf eine weitere Art realisiert. Liest man etwa die Schlachtbeschreibung auf einer linearen Achse sequenziell quasi in Normalrichtung, dann nimmt man die Interaktionsrelation von »Rechenschaftsbericht« und »Unglückstage« umgekehrt zur Normalrichtung des stream of communication wahr. Denn einer solchen linearen Lektüre begegnen zuerst die Reaktionen (»Unglückstage«) und dann erst das, worauf die Reaktionen reagieren (»Rechenschaftsberichte«). Entscheidend ist, dass auch eine sol101 Schmidt: Nichts und Zeit, S. 62. 102 Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 231. 103 De Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit, S. 124. 104 Insofern korrelieren diese Rückfragen funktional mit den Zwischenfragen in den Berichten der »Unglückstage«.

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che, temporal-lineare Rezeptionsweise im Resultat auf eine Delinearisierung der Textgeschichte hinausläuft, weil es auf der »Prozeßebene der Kommunikation keine singulären Ereignisse gibt«105 und das operative Displacement in der Schlachtbeschreibung ergänzt wird durch ein temporales Displacement von Ausgangspunkt und Anschlusspunkt. Mit anderen Worten: Als Textmaschine setzt die Schlachtbeschreibung Temporalität arbiträr, indem sie eine fiktionale Kopie möglicher und wirklicher Kommunikationen achronologisch und akausal zu einander in Beziehung setzt, um die kommunikative Erzeugung von sozialer Realität zu beobachten und diese Beobachtung als textuelles Phänomen bzw. als Effekt der Oszillation der Anschlüsse zwischen Information und Mitteilung im Text ästhetisch fruchtbar zu machen. Was dabei ineinander kippt, sind die Ebenen der Fremd- und der Selbstreferenz. Und so verdeutlicht der Text, dass weder das historische Geschehen noch das intratextuelle Geschehen im (literarischen) Text nur auf die Positivität des ›Dass‹ des Geschehens verweisen, sondern auch auf das ›Wie‹ der Appräsentationsform, in der sich das Geschehen zeigt und zeitigt. Der ästhetische Clou der Schlachtbeschreibung liegt entsprechend mitunter darin, kommunikatives und fraktales Echo von Kommunikation zu sein, dass sich gezielt der Topik »zeitverordnete[n) Erzählens«106 zu entziehen sucht, um in einer Art poetischer Tiefenzeit die Abkehr von starren Zeitformen als felix culpa textbasierter Kommunikation zu feiern. Ich komme in einer letzten Schleife auf den Tagesbericht über den 13. Januar 1943 zurück, wie ihn die »Unglückstage« präsentieren, um das Wechselverhältnis von Ereignis und Datum ins Auge zu fassen. Dabei erweist sich eine Ausnahmekomponente dieses Berichts als hilfreich, die so nur einmal in den »Unglückstagen« vorkommt. Der Bericht setzt zwischen die Angabe des Datums und die Mitteilung der Ereignisse ein Zwischenereignis, eine auf den Rand hin verschobene Zwischenmeldung: »Görings Geburtstag«. Dieser Hinweis ist positional ein Intervall, funktional aber ein Scharnier zwischen der Irreversibilität des Datums als Zeitphase und der Reversibilität der Zurschaustellung der diese Zeitphase bevölkernden Ereignisse. Zunächst wird dem Mitteilungsakt, der von der Aktualität der Tagesereignisse zehrt, ein memorialer Akt eingeschrieben. Die abstrakte Zeit des Datums aus Tag und Jahreszahl wird semantisch aufgeladen durch einen Erinnerungsakt, der operativ in erster Linie das Vergessen erinnert.107 Diese Form der Aufladung kann als Symptom einer modernen Kulturtechnik108 der Korrelation von Zahlenkombinationen und Ereignissen gelesen werden:

105 Fuchs: Moderne Kommunikation, S. 25. 106 Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire, S. 59. 107 Macho: Der 9. November, S. 233. 108 Vgl. zur Kulturtechnik der Kalender- und Zeitrechnung den historischen Abriss in Macho: Zeit und Zahl.

146 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT »Wir sind so sehr daran gewöhnt, die Idee des Datums aus der Idee des Ereignisses abzuleiten, daß leicht aus dem Blickfeld geraten könnte, wie modern diese Assoziation eigentlich ist. Die Mehrzahl der Hochkulturen hat die Ereignishaftigkeit der Kalenderdaten geradezu zwanghaft geleugnet, um die – notorisch zum kairos aufgewerteten – Zeitpunkte eines höheren Sinns verdächtigen zu können.«109

Diese sprechende Ereignishaftigkeit der Kalenderdaten, von denen Thomas Macho berichtet, ergibt sich zunächst einmal aus deren Position innerhalb einer Zeitschichtung, in der sie singuläre Zeitphasen bezeichnen. So ist der 13. Januar 1943 schlicht die Differenz zu anderen singulären Zeitphasen, die in einem vorher/nachherSchema begegnen. Was mit diesen Zeitphasen verknüpft wird, ergibt sich aus der kontingenten Koppelung mit einem Ereignis. So sind mit dem 13. Januar so unterschiedliche Ereignisse wie die Krönung Richard von Cornwalls zum römischdeutschen König (1257), die Erstaufführung von Schillers Die Räuber am Nationaltheater Mannheim (1782) oder die Veröffentlichung von Émile Zolas Brief zur Dreyfus-Affäre (J’accuse…!, 1898) memorierbar. Durch die kommunikative Imprägnierung des Kalenderdatums mit Ereignissen wird jenes »immer mehr oder weniger als das, was es ist.«110 Es ist mehr, weil es durch einen ereignismemorierenden Zugriff codiert und damit zum epistemischen Objekt wird; es ist weniger, weil es seine Einzigartigkeit abgeben muss, um kommunikativ iterierbar zu sein, sonst könnte man dem Datum auch nicht erinnernd ›begegnen‹. Oder anders formuliert: »Das Datum ist, sobald es eingesponnen ist, entstellt.«111 Das Datum liefert nicht nur den Anlass zum Memorieren, es gibt nicht nur Sinn und datiert ihn; es empfängt auch Sinn und erst in dieser Sinncodierung ist das Datum dem Ereignis verpflichtet, das es temporal markiert und chiffriert. »Ein Datum ist verrückt«112 schreibt Derrida, der das Datum als zeitpunktfixierende Zahlenkombination wie auch das Datum (Gegebensein) des Ereignisses in das Spiel der différance zieht und ebenfalls der autodestruktiven Signifikationsmechanik zeichenbasierter Kommunikation ausgeliefert sieht. Mit jeder Kondensierung oder Konfirmierung des Datums wird dieses differentiell verschoben, um eine Sinnstelle ver-rückt, mit einer weiteren Sinnspur versehen. Das Datum wird so gelesen nicht zum Zeugen der Zeit, sondern zum Zeugen kontingenter Ereignishaftigkeit bzw. pluralistisch gewendet: Zum Zeugen der Kontingenz der Koinzidenz von Ereignishaftigkeiten. Von sich selbst kann das Datum daher nicht zeugen, denn es ist für sich ein leerer shifter – aber ein Beobachter zweiter Ordnung wäre zumin-

109 Macho: Der 9. November, S. 231. 110 Derrida: Schibboleth, S. 82. 111 Hainz: Entgöttertes Leid, S. 255. 112 Derrida: Schibboleth, S. 81.

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dest in der Lage, das ›Wie‹ seines Bezeugens, seine Indienstnahme als Zeugnis zu beobachten. Mit einem solchen Befund lässt sich hernach fragen, was durch die Koinzidenz von Ereignissen in Stalingrad und der Erinnerung an das Ereignis der Jährung des Geburtstags Görings entstellt wird. Zunächst einmal generiert die Synthese beider Informationen die Möglichkeit der Beobachtung einer Koinzidenz der umfangreich geschilderten Ereignisse mit der atomistischen Struktur eines kurzen Hinweises auf die kalendarisch unterteilte Zyklik einer biographischen Eigenzeit. Diese Koinzidenz in Form der Begegnung zweier Verweise auf Ereignisse findet statt vor dem Hintergrund einer zweifachen Codierung des Datums: Das Datum wird als Doppelverweis codiert. Es verweist mit dem Tod der Soldaten auf die Gegenwärtigkeit der Endzeit von Lebenslinien, so wie es auch auf die Vergegenwärtigung des Anfangspunkts einer Lebenslinie referiert. Der Tag codiert die Gegenwart des Todes wie auch die Vergegenwärtigung vergangener Geburt. Die Schilderung des massenhaften Sterbens, dass (auch) am 13. Januar 1943 stattfindet, erfolgt erst nach der Signierung dieses Datums mit dem Lebenslauf einer der zentralen Figuren der politischen Elite des Nationalsozialismus. Enggeführt werden in dieser Doppelung nicht nur Grenzerfahrung (Tod) und Größenwahn (Göring). Die Doppelung der Codierung bewirkt auch die Ent-Ontologisierung des Codes, und die Ent-Ontologisierung des je angesetzten Ereignisbegriffs. Die propagandistische und datumspolitische Aneignung des 13. Januar, wie sie sich im Hinweis auf Görings Geburtstag ankündigt, behält der Bericht allerdings bei und verortet ihn im Vorhof dessen, was er umfangreich über die existenzielle Notlage des Einzelnen im Krieg mitzuteilen hat. Diese Mitteilung setzt zunächst ein mit einem emphatischen Auftakt und beschreibt ein Szenario der Hoffnung, einen Moment der Zuversicht: »Begeistert wurde im Kessel die Landung einer viermotorigen Ju 290 begrüßt. 75 deutsche und 75 rumänische Verwundete wurde im glatten Rumpf des großen Flugzeugs deponiert.«113 Dies wird mitgeteilt ganz im Stil einer propagandaaffinen Beschreibungssprache, allerdings nicht ohne vorwegzuschicken, dass dieses Ereignis am 4. Tag des russischen Angriffs stattfindet. Damit wird signalisiert, dass das Ereignis der Einkesselung der 6. Armee in Stalingrad weiterhin auf Dauer gestellt und in den ordo naturalis der historischen Ereignisse eingebettet bleibt. Aber sogleich nachdem die Konzentration auf diesen exzeptionellen Augenblick inmitten aussichtsloser Zeiten bzw. einer Permanenz der Ausweglosigkeit im Kessel gelenkt wurde, sogleich also kippt und kollabiert dieser Moment wortwörtlich: »Beim Start rutschten die verbündeten Soldaten auf dem Metallboden in das Heck des Flugzeuges. Der heckbelastete Riese stürzte und vernichtete die Verwundeten.«114 Anschließend 113 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 612. Alle folgenden Zitate ohne Nachweis beziehen sich auf ebd. S. 612 f. 114 Ebd.

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weist der Text sich selbst als Gedächtnis aus und memoriert eine Vorgeschichte: »Tags zuvor hatte sich erwiesen, daß Verwundete mit Lungen- und Hirnschüssen in Höhen über 1000 m starben. Viele Flugzeugladungen Tote wurden in N. ausgeladen.« Hier initiiert die Nachrichtengabe eine Wissensproduktion, die ausgehend von den Fluchtlinien eines Inspirations- und Enthusiasmusauftakts (»Begeistert«) energisch sichtbar macht, dass die Möglichkeit der Rettung durchkreuzbar, aber nicht eliminierbar ist. Die Realität der Möglichkeit bleibt unangetastet, auch wenn sie – und der Leser mit – an den Ereignissen dieses Tages und der analeptisch eingeholten Ereignisse des Vortags in überwältigender und aufwühlender Weise ihre andere Seite, ihre Absenz erfährt, wenn die Begeisterung in die physische Wirklichkeit des Todes umschlägt. Die Manifestation dieses Umschlags gestaltet Kluge jedoch nicht im Modus eines unverzerrten Pathos. Vielmehr lässt die Darstellung dieses tragischen Szenarios die Option einer Insistenz auf das movere der Vorfälle unausgereizt. Sie schlägt wieder in den Berichtduktus um, der ferner von Erregungspotentialen wohl kaum formuliert werden kann. Die Information »Viele Flugzeugladungen Tote wurden in N. ausgeladen« leistet hier, was Siegfried Kracauer für das Kino veranschlagte: »den innerlich aufgewühlten Zeugen in einen bewußten Beobachter umzuwandeln«.115 Die harte Schnittfolge von Begeisterung schlägt innerhalb weniger Signifikanten dialektisch um in eine Katastrophe. Als Verquickung von Werden und Vergehen einer Hoffnung ist die Mitteilung emotional aufgeladen, aber sie wählt einen nüchtern-kalten, protokollarischen Stil, um die Vertextung dessen, was so nicht in den faktualen Berichten zu lesen gewesen wäre, zu betreiben. Was hier aufeinanderprallt sind die formelle Sprache einer distanzierten Perspektive und eine intensive Ereignishaftigkeit, die unterhalb der Ereignisschwelle der offiziellen Verlautbarungen der faktualen Berichte bleiben musste.116 Diese Differenz zwischen kommunikativer Aktivität und emotionaler Resonanz, zwischen reflexhafter Herzlosigkeit kühler Kommunikation und hochemotionalisiertem Szenario des Ausgeliefertseins des Menschen an unmenschliche Maße rahmt die Schilderung dieses Vorfalls. Ihr groteskes Irritationspotential erfährt diese Meldung nicht erst durch einen nachträglichen Kommentar, eine entlarvende erzählende Geste. Sie schöpft dieses Potential aus sich selbst heraus, aus der Gleichzeitigkeit ihres kontrastiven unmittelbaren Kontextes. Wird die Landung der Ju 290 zu Beginn der Meldung noch als massendynamische Begeisterung und Begrüßung des Flugkörpers, als Mensch-Maschine-Interaktion auf dem Interaktionsfeld eines Flugfeldes präsentiert, also als exzeptionelles, vitalisierendes Ereignis, so endet der kurze Be115 Kracauer: Theorie des Films, S. 92. 116 Indem die Schlachtbeschreibung historische Ereignishaftigkeit szenisch aufführt und diese über mehrere Eingänge ansteuert, kann sie Perspektiven zitieren wie auch imaginieren, im Sinne eines parasitären Schreibens »mit mehreren Eingängen« (Serres: Der Parasit, S. 15).

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richt mit einer Massenstasis der menschlichen Aktanten zu leblosen Objekten. Die Verabsolutierung der institutionalisierten Sprachform auch angesichts solcher Ereignisse erzeugt eine Konstellation, die die Dialektik von transpersonaler Perspektive einerseits und der lähmenden Verzweiflung der personalen Situationen, die in dieser Perspektive versachlicht werden, andererseits, zuspitzt. Aber der Bericht erweitert diese Dialektik um eine weitere, in temporaler Hinsicht bedeutsame, semantische Dialektik, denn es geht in besagter Textstelle auch um den Umschlag von Lebenszeit in die Zeitraster einer zweckrationalen Zeit der Logistik.117 In diesem Sinne vollzieht das Ende der Mitteilung genau dieses Vorfalls gerade durch die Lakonie und die funktionstypische Depersonalisierungsstruktur des logistischen Berichts ein Foregrounding der Schockdynamik massenhaften Todes, die sich reibt an der statischen Organisation ihrer Nachrichtengabe. Die entfernte Perspektive, die nicht Menschen, sondern nur eine Ladung sieht (nicht mal mehr von Menschenmaterial ist die Rede), weiß letztlich nur von einem administrativ-logistischen Vorfall zu berichten. Hier bricht wieder die organisierte Zeit durch, auf deren Eigenzeitlichkeit, auf deren Unfähigkeit zur Aufnahme der privaten Zeiten, das Vorwort der Schlachtbeschreibung gezielt hingewiesen hatte. Diese privaten Zeiten lassen sich nicht fabrikmäßig addieren, hieß es. Der Ausgang des Menschen aus der industriell organisierten Kriegsführung erfolgt im logistischen Zeitraster industrieller Zyklik. Der Mensch wird zur Ladung, zur logistischen Transportmasse ohne Eigenzeiten. Die Dringlichkeit der Rettung von Lebenszeiten schlägt um in die Arbeitsleistung der Lieferung von Toten; die Lebendigkeit der Interaktion zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Maschine schlägt um in die absolute Synchronisation aller Eigenzeiten durch die Ausschaltung der Eigenzeiten im Korpus der Kriegsmaschine – nur so (und nur so letal) gelingt am 13.01.1943 das seltene Ereignis ›vollkommener‹ Zeithomogenisierung. Der Text stellt das Traumatische dieser Situation und ihre formellsprachliche Rationalisierung kritisch dar, indem er diese Vorfälle erzählt als Episode innerhalb der Geschichte menschlicher Arbeit. Der moderne industrialisierte Krieg generiert Arbeitszeiten, und er fordert die Verausgabung der privaten Zeit. Er strukturiert nicht nur die Lebenszeiten des Einzelnen, er braucht sie auch auf. Das Militär als verlängerter Arm des politischen Systems, als »Spezialform von Öffentlichkeit«118, alle-

117 Das Flugzeug ist funktional ein Dreifaches: Medium in Sinne eines Transportvehikels, Signatur einer Prozessallegorie (als Formelement eines figuralen Übergangsszenarios) und paradoxe konsolidierende Symbolik (als Einheit der Differenz von Medium und Formelement). 118 Kluge/Negt: Geschichte und Eigensinn, S. 860.

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gorisiert Kluge hier zu einer Verwaltungsorganisation, die das knappe Gut Lebenszeit verwaltet.119 Davon gibt die Meldung über den 13. Januar 1943 Nachricht.

V OM E REIGNIS ZUR N ACHRICHT ZUM E REIGNIS – TEMPORALE K ORRESPONDENZEN Der Begriff der Nachricht bildet in der Schlachtbeschreibung eine zentrale diskurstrukturelle Kategorie. Nicht nur wird ihre kommunikative Figuralität scherenschnittartig am Anfang des Textgefüges skizziert. Aus ihr erwächst auch die leitmotivische Problematisierung der Bifurkation von Ereignis und Kommunikation, die den gesamten Text durchzieht. Diese Problematisierung geht über die Frage nach der Korrespondenz, der Adäquation, der Kommensurabilität von prädiskursivem Ereignis und diskursiver Ereignisrekonstruktion hinaus – ob es nun um poetischnarrative Genres oder funktional-pragmatische Textsorten bzw. um fiktionale oder faktuale Erzählungen geht.120 Abseits der testamentarischen Funktion des Schreibens121 als speziellem Modus der Nachrichtenproduktion schreitet der Text der Schlachtbeschreibung auch das Ineinanderklappen von Nachricht und Ereignis ab und ist in dieser Hinsicht eine Nachricht vom Anderen der Differenz von Ereignis und Nachricht. In dieser Hinsicht bewegt sich der Text in beobachtender und offen und verdeckt irritierender Opposition zu den Programmen und zur gepflegten Semantik des historiografischen Diskurses – ganz im Sinne Michel de Certeaus, der Geschichte beschreibt als Effekt eines Diskurses, der verifizierbare Rekonstruktionserkenntnisse zu kommunizieren sucht und dies »in Form einer Narration«122 realisiert. 119 Eine Passage aus Kluges und Negts semitheoretischen Analysen in Geschichte und Eigensinn heranziehend, lässt sich der Bericht auch als literarische Manifestation einer theoretischen Beschreibung des modernen Kriegs als industrialisierte Vernichtungsproduktion lesen. In diesem Sinne werden die individuellen Eigenzeiten der Soldaten von der Möglichkeit aktiver Beteiligung am historischen Projekt eines ›Tausendjährigen Reichs‹ durch die kriegsmaschinelle Konsumption ihrer Lebenszeit entkoppelt und »ihre Arbeitsvermögen« tragen nicht mehr zur »Geschichtsproduktion selber« bei (ebd., S. 855). Diese Entkopplungsmechanik stellen die Schlachtbeschreibung wie auch das semi-theoretische Werk Geschichte und Eigensinn als Bestandteil einer Vernichtungsproduktion aus, die die Texte im Dienste einer devianten, die Eigenzeiten bestätigenden Geschichtsproduktion thematisch ansteuern. 120 Vgl. Genette: Fiktion und Diktion, S. 66. 121 Vgl. zur poetologischen Figur des testamentarischen Schreibens Certeau: Das Schreiben der Geschichte, S. 252. 122 Ebd., S. 121.

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Die Schlachtbeschreibung kann darüber hinaus als Versuch gelesen werden, die Differenz von Ereignis und Nachricht zu dekonstruieren, sie gleichsam zu durchschießen, indem sie sich auf die Grenze zwischen Ereignis und Nachricht setzt, die Nachricht als Ereignis in den Blick nimmt und dadurch das beobachtet, was durch und in seiner Konstitution erst das hervorbringt, was dann ein Ereignis gewesen sein wird. In die kommunikative Ereignisverkettung der operativen Autopoiesis von Kommunikation eingespannt, wird das historische Ereignis auf Dauer gestellt, gewinnt den Status der »Daueraktualität«123. Indem die Formensprache der Schlachtbeschreibung sich der Montagetechnik bedienend sich der funktionalen Kommunikation der historischen Diskurse angleicht bzw. diese integriert oder simuliert, parasitiert sie am symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium ›Geschichte‹. Kai Lars Fischer beschreibt dessen Funktion folgendermaßen: es ermöglicht einer Gesellschaft, »sich darüber zu verständigen, welche historischen Ereignisse und Prozesse als erinnerungswürdig und damit als bewahrenswert eingestuft werden bzw. werden sollen. Als solches stellt die ›Geschichte‹ eine dem Verstehen von vergangenen Geschehnissen vorgängige Struktur dar, die es zugleich ermöglicht, diese Geschehnisse kommunikativ anschlussfähig zu machen.«124

Geschichte ist in dieser systemtheoretischen Lesart eine Form der Selbstthematisierung von sozialen Systemen. In retentionalen Akten gewinnen diese aus der Beobachtung der Differenzen, die (konstruierte) Identitäten erfahren, nicht nur die Zeitlichkeit dieser Identitäten, sondern auch die Elemente, von denen her diese Zeitlichkeit mit Sinn angereichert werden kann. Das beobachtbare Ergebnis dieser Sinngabe sind die vielfältigen Versuche, die Zustände der Welt (in ihren Ereignisfolgen) oder die Zustände eines sozialen Systems bzw. eines psychischen Systems mit einer Entwicklungslogik zu dechiffrieren, die kausale, chronologische oder teleologische Identitäten und Kontinuitäten an die Stelle rückt, an der operativ nur Diskontinuitäten und Differenzen zirkulieren. Nun gibt es für diese Konstruktionen einer identitären Eigenzeit der Geschichte als historischen Prozess (wie auch für die Konstruktion kommunikativer und bewusstseinsspezifischer Eigenzeiten) Strategien der Verdeckung ihres Konstruktcharakters. Im Ergebnis müssen diese Strategien, wollen sie an der Behauptung beobachtungsunabhängiger, prädiskursiver, prämedialer und zeitinsensitiver Identitäten festhalten, mit einer resistenten Paradoxie umgehen können, die sich aus der Paradoxie der Zeit nährt. Die Rede ist von der operativen Ereignishaftigkeit jeder Beobachtung von Geschichte, von Eigenzeiten und von Kontinuitäten. Fallen diese nämlich als Epiphänomene von Beobachtungs123 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1010. 124 Fischer: Geschichtsmontagen, S. 34.

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vollzügen sozialer oder psychischer Systeme an (und wie sonst sollten sie anfallen), dann sind sie stets nur für die Dauer ihres Ereignens im Dauerzerfall der kommunikativen bzw. bewusstseinsmäßigen Autopoiesis zu haben. Mit anderen Worten: sie sind als Effekte von sinnprozessierenden Systemen immer schon temporalisiert.125 Um trotz dieses Wissens von der Zeitlichkeit der Beobachtung von (vergangener) Zeit Geschichte weiterhin diskursiv als essentialistische Größe denken zu können, müssen Umgangsformen entwickelt werden, mit denen sich für geschichtsspezifische Erkenntnisbehauptungen Wahrheitswerte angeben lassen können. Zu deren Regulierung dienen der wissenschaftlichen funktionssystemischen Rekonstruktion von Vergangenheiten primär Theorien, Methoden und Programme. Diese erst erlauben den Transfer von Konsistenzprüfungen, mit denen Gesellschaft die Differenz von Konsistenz und Inkonsistenz beobachten kann.126 Die Annahme, es mit einer prämedialen, präkommunikativen geschichtlichen Realität zu tun zu haben, erleichtert die Umgehung der Paradoxie der Historizität der Beobachtung dieser Differenz durch kulturelle Gedächtnisleistungen.127 Während die Einsicht in die Operativität dieses Gedächtnisses prinzipiell Diskontinuität bemerkbar macht und die Objektivität vergangener Ereignisgegenwarten als Ergebnis von Beobachtung versteht,128 muss durch Konsistenzimagination die Kontinuität dessen festgehalten werden, »was dem System nach Bearbeitung des inneren, selbstorganisierten Widerstands als Realität erscheint.«129 Geht es im ersten Fall um die »Kontinuität des Werdens«, so geht es im zweiten Fall um »das Werden von Kontinuität«130. Das beschriebene Szenario ist nicht nur für das Wissen der Geschichtswissenschaft bzw. für die Sedimentierungen dieses Wissens in Symbolsystemen mit ausschlaggebend.131 Es findet seinen Niederschlag ebenso in massenmedialen Kommunikationsvollzügen und der Alltagssemantik. Beide generieren konsolidierende Strukturen, die bestimmte kombinatorische Möglichkeiten, Geschichte, Vergangenheit, Ereignisse und Eigenzeiten zu beobachten und Identitäten auszubilden, wahrscheinlicher machen.132 Dass nicht nur Identität ein Epiphänomen von Beobachtung ist, sondern auch die Unterscheidung Identität/Differenz selbst nur eines unter vie125 Vgl. Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 198. 126 Vgl. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 886. 127 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 48. 128 Vgl. Nassehi: Tempus fugit?, S. 42. 129 Buskotte: Der Stellenwert von Zeit, S. 87. 130 Ebd., S. 82. 131 Siehe Willke: Symbolische Systeme, S. 119 f.: »Das Wissen eines Systems als Summe seiner Erfahrung sedimentiert in den Strukturen, Prozessen und Regeln dieses Systems. Diese Komponenten bewirken insgesamt eine bestimmte Ordnung und Organisierung der Operationsweise des Systems und legen in diesem Sinne seine innere Form fest.« 132 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 55.

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len möglichen Beobachtungsschemata bildet, muss weitestgehend verdeckt bleiben. So bringt die Frage, ob die Unterscheidung Identität/Differenz überhaupt eine universale sein kann, wieder die Paradoxie der Zeitlichkeit dieser zeitkonzeptuellen Unterscheidung ins Spiel, wie Richard Handler aus der Perspektive eines crosscultural approach am Beispiel der Reifizierungsfunktion dieses Schemas nachweisen kann.133 Nachrichten von Ereignissen dienen der Stabilisierung von Identitäten, sofern man jene als Anschlussofferten begreift, die nahelegen, ein Ereignis trotz Beobachterpluralität und temporaler Differenz mit identischen Realitätswerten und Sinnwerten zu versehen, obwohl die temporale, thematische und soziale Instabilität der Sinnform mit jedem Sinnereignis (jedem Ereignen von Sinn) operativ ständig Verschiebungen produziert. Bei alledem sind, wie gezeigt wurde, zeitgenerische und zeitbedingte Paradoxien im Spiel.134 Begreift man nun Nachrichten primär als Kommunikation über relevanzmarkierte Ereignisse, dann sind sie der Vollzug in dem, und ihre Sedimentierung der Ort, an dem interagierende Individuen und soziale Systeme vergangene und gegenwärtige Ereignishaftigkeit aushandeln und sich ›partizipative Identitäten‹135 in ihren alltäglichen Inszenierungen und Präsentationen herausbilden. Als partizipative Identitäten bezeichnet Alois Hahn einen spezifischen Typ von Formen der Selbstbeschreibung. Mit ihnen versuchen Individuen die pluralen Selbste, die das Ergebnis ihrer ständigen performativen Konstruktion des Eigenen sind, von Inkonsistenzen zu bereinigen, »indem sie auf Beschreibungen von Gesellschaft zurückgreifen«136. Geht man davon aus, dass die partikularen Sinnwelten der Einzelnen sich in hohem Maße nach plausiblen und anschlussfähigen Etikettierungen von Ereignishaftigkeit richten, quasi als Prüfstein für die Ereignisse, aus denen sie ihre Eigenzeit konstruieren, dann rückt die Frage nach der Funktion institutionalisierter Ereignishaftigkeit ins Licht und mit ihr die Frage nach den Möglichkeiten der Literatur, diese zu beobachten und performativ zu unterminieren.137

133 Vgl. Handler: Is »Identity« a useful Cross-Cultural Concept?, S. 27-32. Gleiches gilt auch für die Unterscheidungen, mit denen die Systemtheorie arbeitet; als autologische Theorie aber ist sie weitgehend gefeit vor der Ontologisierung und Reifizierung ihrer Beobachtungsschemata, die sie als eine Option unter vielen polykontextural möglichen versteht. 134 Genaugenommen handelt es sich um Paradoxien, die zeitgenerisch und zugleich zeitbedingt sind. 135 Vgl. Hahn: Konstruktionen des Selbst, S. 13-83. 136 Ebd., S. 14. 137 Literatur ist in diesem Sinne ein Kandidat für mögliche performative Gegendiskursdynamiken.

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Auch in dieser Hinsicht bietet sich Kluges Schlachtbeschreibung als exemplarische Textgrundlage an. Eine ihrer wesentlichen thematischen Komponenten ist offensichtlich das Diskurs-Tabu hinsichtlich Kriegsgrauen, Genozid und Schuldfrage, das Kluge nicht nur für die Zeit des Nationalsozialismus und auch nicht nur in seinen Formen im Kontext politischer Kommunikation literarisch ansteuert sowie in seinen Mechanismen beobachtet und aufzulösen sucht.138 Von Interesse für Kluge sind anscheinend nicht nur die Konstruktionen von Eigenzeit und Geschichte, wie sie in einer totalitären, dem Primat des Ideologisch-Politischen unterworfenen Gesellschaftsstruktur sich ereignen. Von Interesse sind für ihn auch die Kommunikationsformen, mit denen tabuinduzierte Nicht-Kommunikation nach 1945 als Modus »identitätsstiftende[r] Ausgrenzungsmechanismen«139 zu einer relativ stabilen Diskurspraxis gerinnen konnten. Sind die Fassungen vor 1978 noch stark geprägt von einer strikt den – mit Homi Bhabha140 gesprochen – pädagogischen Objektdiskurs und den performativen Subjektdiskurs rekonstruierenden und imitierend ausstellenden Formensprache, so ist mit der Fassung 1978 und erst recht mit der aktuellsten Fassung eine stark analytische und kommentierende Supplementierung des Textgefüges durch neues Material auszumachen. Mit diesem neuen, auch intermedial selegierten Material gewinnt die Schlachtbeschreibung endgültig den Status »einer Menge verstreuter Ereignisse«141, aus der heraus die Fülle der Ereignishaftigkeit im Diskurs, den sie abbildet und in Perturbationen versetzt, erst erfahrbar wird. Dabei kommen mehr und mehr Aspekte einer Kritik der »Bewusstseinsindustrie«142, der Massenloyalität und Aspekte desjenigen in den Blick, das sich mit einer Wendung Luhmanns als »Traditionsüberhänge[ ]«143 bezeichnen ließe: die Fluchtlinien des faschistischen Erbes in die Gegenwart hinein.

138 Betrachtet man das gesamte Œuvre Kluges, dann lässt sich behaupten, Kluges Texte und Filme kreisten jeweils um die »Annahme des Verdrängten« (Freud: Die Verneinung, S. 373), Tabuisierten, Irrealisierten, denen Kluge seine Form der Gegenstimme entgegen setzt (vgl. Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 217; siehe auch Stiegler: Die Realität ist nicht genug, S. 54 f.). 139 Zifonun: Gedenken und Identität, S. 123. 140 Vgl. Bhabha: DissemiNation, S. 159. 141 Foucault: Über die Archäologie der Wissenschaften, S. 894. 142 Kluge: Die Macht der Bewusstseinsindustrie. Die bewusstseinsindustrielle Komponente des Nationalsozialismus erörtert aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Schoenbaum: Die braune Revolution, S. 102. 143 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 891.

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N ACHRICHTENERSTATTUNG – E REIGNISTRANSFORMATIONEN Seit der Fassung von 1978 führt die Schlachtbeschreibung zusätzlich zu den Sequenzen »Pressemäßige Behandlung« und »Sprache der höheren Führung«, die militärisch und ideologisch semantisierte Sprachregelungen für die Kommunikation über das Kriegsgeschehen veranschaulichen, eine weitere Sequenz unter dem Titel »Nachrichtensperre 1943«. Als Ergänzung zur Zurschaustellung der linguistischen Facetten der formation professionelle, mit denen die Ereignisse in geeignete Sprachmodellierungen überführt werden, reflektiert diese Sequenz das Aufeinanderklappen von Ereignis und Nachricht im öffentlichen Kommunikationsereignis. Gleich zu Beginn der Sequenz wird das Dilemma, um das die Anekdoten in der Sequenz kreisen, benannt: »Die Nachrichtensperre, die ab Februar I943 über alle Einzelvorgänge, Stalingrad betreffend, angesetzt wurde, kam nicht als ›generelle Linie‹, zurückführbar auf die Entscheidung eines einzelnen, zustande. Hitler z. B. befaßt sich in ›Wolfsschanze‹ vielleicht insgesamt fünfviertel Stunden mit dieser Frage der Öffentlichkeitsarbeit; hiervon redete er, innerhalb der engen Grenzen seines Zeitbudgets, die meiste Zeit, und es kann gesagt werden, daß er vielleicht anderthalb Minuten schwieg oder dachte (oder erschöpft innehielt), von diesem kurzen Überlegen hat er nicht alles mitgeteilt, so daß von einer Entscheidung, die auf einem Entschluß beruht, eigentlich aus Zeitgründen keine Rede sein konnte.«144

Dieses Zögern und Zaudern, diese Nicht-Entscheidung, dieses Fehlen einer präzisen Anweisung zur Kopplung von Stalingrad als irreversiblem Ereignis und der Mitteilung dieses Ereignisses als reversibles Kommunikationsereignis setzt Bemühungen in Gang, die im Umgang mit schleierhaftem Schweigen zunächst auf theoretische Evaluationen zurückgreifen können. Im Folgenden präsentiert die Sequenz mehrere abstrakte Optiken auf Möglichkeiten der Einspeisung von Geschehnissen um Stalingrad in propagandakonforme Kommunikationszusammenhänge, die einerseits aufgrund der Euphorie durch die schnelle Einnahme der Stadt, die den Namen Stalins trägt, noch mit den frischen Spuren einer hoch aufgeladenen Signifikanz zirkulieren. Andererseits wird Stalingrad mehr und mehr mit der zunehmenden Verschärfung der Lage der 6. Armee zu einem Tabuthema. Das wiederum erfordert komplizierte Maßnahmen zur Kalkulation und Steuerung potentieller kurz-, mittelund langfristiger Folgen der Kommunikation über die Geschehnisse, denn es müssen die durch Kommunikation mitangestoßenen Ereigniswahrnehmungen und diskursiven Ereigniszirkulationen mitbedacht werden. Kluge führt dieses Dilemma am Beispiel der »Nachrichtentheorie« des Hauptmanns der Reserve Däneke vor: 144 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 757.

156 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT »Däneke ging davon aus, daß nicht die Nachrichten selber, z. B. Berichte, Meldungen, Zeugen oder gar Boten, die Nachrichten verbreiten, sondern umgekehrt: das Interesse der Empfänger, der Nachrichtenhunger verbreitet die Nachricht. Ich kann beliebige Nachrichten an jemand heranbringen, der sie nicht wissen will, und es bildet sich nicht einmal ein Gerücht. Deshalb kann ich auch keine Nachrichtensperre verordnen. Sie wäre ja die höchste Form einer Nachricht: jeder Nachrichtenhungrige wüßte, daß etwas im Busch ist.«145

Die Einschränkung von Kommunikation ist symbolisch derart aufgeladen, dass die Nachrichtensperre selbst – gegen ihre intendierte Wirkung – die Leistung eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums übernehmen und zum Motor für nicht mehr steuerbare Kommunikationsauswüchse werden kann. Da »Nachrichtenbremsung« Ereignisleere suggeriert, die den »Nachrichtenhunger« erst intensiviert bzw. diesen erst wahrnehmbar macht, laufen die strategischen Überlegungen Dänekes auf andere Kommunikationsauswege hinaus, mit denen ungewollte Verästelungen der Nachrichtenweitergabe beherrschbar bleiben sollen: »Es gab folgende Wege: 1. Volles Ausschwappen von Nachrichten, damit sie rasch, einer Überschwemmung gleich, ihren Kulminationspunkt erreichen. Danach unterdrückt sich die Nachricht von selber, wird rückläufig. 2. Ersetzung einer Nachricht, nach der Nachrichtenhunger besteht, durch einen starken Ersatz, nach dem ebenfalls die Empfänger Nachrichtenhunger verspüren. 3. Vertrauen auf die eigenen Abwehrkräfte der Empfänger gegenüber Nachrichten, die elend sind. Der Mensch will nicht leiden. Zum Beispiel Hoffnungslosigkeit liebt er nicht. 4. Ausnutzen der natürlichen Nachrichtenbarrieren. So kann sich z. B. ein überbeschäftigter Schreibtischmensch, das Büro ist durch Öfchen geheizt, einen Punkt 10 km westlich Karpowka in der Schneesteppe, nur eine Kuhle von 1,20 m steht zum Liegen zur Verfügung, gar nicht vorstellen.«146

Es lässt sich beobachten, dass der Blick der Schlachtbeschreibung hier nicht nur interessiert an der ideologischen Zurichtung des Nachrichtenwesens zu propagandistischen Zwecken ist. Ins Blickfeld gezogen werden auch die Strukturen von Komplexität auf einer Ebene höherer Ordnung. Indem Däneke Gegenmaßnahmen in Betracht zieht, deren Vollzug sich etwa gegen den ›Selbsterhaltungsmechanismus‹ von Kommunikation richtet, werden erst die Möglichkeiten des Scheiterns eines präferierten Gelingens von Kommunikation sichtbar und die Erfolgsaussichten des Gelingens als ereignishaft variable Größe ausgewiesen. Entscheidend ist hier, dass Dänekes ›Nachrichtentheorie‹ bereits die Erfolgsmedien ›Macht‹ und ›Wahrheit‹ hinter sich lässt und nicht in die Menge möglicher Lösungen des Problems mit ein-

145 Ebd., S. 763. 146 Ebd.

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bezieht. Denn weder die Androhung von Sanktionen durch Macht147 noch die aufmerksamkeitssteigernde Verschleierung der Codierung der Nachricht anhand des Codes wahr/unwahr (»Gerücht«) sind – an diesem Punkt drohenden Umschlagens von Informationsdefiziten in höchsten Informationswert – geeignet, das autopoietische Fortschreiten von Kommunikation zu kanalisieren. Ursache hierfür ist der Selbsterhaltungsautomatismus von Kommunikationsprozessen, der jegliche Determination des künftigen Verlaufs von Kommunikation verhindert: »Was man in sie [die Kommunikation; M.G.] eingibt, […] wird von ihr nach eigenen, nicht vorsteuerbaren Kriterien aufgenommen und weiterverarbeitet, sie operiert selbstreferenziell […] in der Art eines sich selbst verstärkenden Prozesses. […] Keine Mitteilung, keine Information, kein Verstehen bleibt hiervon unbetroffen, keine bleibt ›als solche‹ erhalten, jede ist dem fortlaufend-weiterspinnenden Prozess überantwortet.«148

Die Nachrichten produzieren als Kommuninikationsofferten vielfältige Kontaktstellen, deren Unbesetztbleiben jener temporalen Grammatik ständigen Anschlussereignens in Kommunikation zuwiderläuft. Was eine Nachricht zu einer Nachricht macht, ist der nachgelagerte und zugleich konstitutive Anschluss. Was in Zeiten intensivierter Folge kommunikativer Ereignisse durch eine Nachrichtensperre sichtbar wird, ist die selektive Konstruktion von Ereignishaftigkeit durch das Ausblenden derselben. Denn das Nichtkommunizierte verweist nicht auf das Nichtgeschehene, sondern auf die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Nicht-Nachricht. Dem stellt Dänekes Entwurf nun Modi entgegen, die das »Regime des Faktischen« gegen »die Macht der Phantasie«149 abschotten sollen, getreu dem Motto: Eher eine ›falsche‹ Nachricht bzw. eine Nachricht, deren Ereignistarnung, deren signierter Nachrichtenwert und damit Ersatzfunktion aufrechterhalten werden können, als gar keine Nachricht. Dänekes »Nachrichtentheorie« in nuce reagiert auf die ereigniserregende Wirkung einer Ereignisarmut, die, wenn sie erst in aller Munde ist, sich der Bewältigung entzieht. Einer Epistemologie des Gerüchts hält Däneke daher das thematische Reservoir trivialer Informationen sowie optionale Narrationsgesten und Kolportagepraktiken entgegen, die die Nachrichteninhalte nicht prinzipiell negieren oder zumindest zweifelhaft erscheinen lassen, wohl aber ihren Informationsgrad minimieren sollen. Will man – so Dänekes Kommunikationslogik – den Informationsgrad und Überraschungswert der Nachrichten reduzieren, so darf der Realitätsgehalt keineswegs negiert werden. Denn für Däneke bewirkt der Realitätsgehalt der 147 Kommunikationstheoretisch ist Macht die »Neutralisierung des Willens«, Kommunikation entgegen den Erwartungen der Kommunikationsofferte und der damit verbundenen Selektionsangebote zu realisieren (vgl. Luhmann: Macht, S. 8-11, das Zitat auf S. 11). 148 Stanitzek: Fama/Musenkette, S. 137. 149 Birkmeyer: Zeitzonen des Wirklichen, S. 69.

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Nachrichten erst die Kontingenzräume, in denen die Schilderungen von Ereignissen jenseits bekannter Außmaße zu jenen herbeigesehnten Imaginationsdissonanzen führen, durch die die weitere Einspeisung von Irritation in die Kommunikation vermieden werden soll. Um diese Logik zu unterfüttern, muss Däneke entsprechend einen Wechsel von der Kommunikation in das operative Register des psychischen Systems bzw. der an Kommunikation beteiligten und von ihr irritierten Bewusstseine vornehmen, um von der Seite der »Empfänger« her zu argumentieren. Seine Annahme einer für alle Bewusstseine gültigen Abscheu gegen Nachrichten von fatalen und katastrophalen Ereignissen baut ebenso auf »natürlichen Nachrichtenbarrieren« auf, wie die Behauptung einer bankrotten Einbildungskraft aufgrund der enormen Diskrepanz zwischen der mitgeteilten Realität in Stalingrad und der vertrauten Lebenswelt der Adressaten dieser Mitteilungen. Die imaginative Ausgestaltung der mitgeteilten Ereignisse kann unter solchen Umständen nicht stattfinden: »Das Ereignis wird nicht zum Bild.«150 Der Text spielt diese Logik der Ereignisnachricht, die im Moment ihres imapcts zur Nicht-Nachricht wird, szenisch aus und erweitert diese Szene durch den Einbezug von Formen der Kommunikationskontrolle qua Nullinformation, etwa, wenn der »Leiter der Presseabteilung des Auswärtigen Amts Dr. Schmidt […] vor Auslands-Journalisten, »[d]a Nachrichtensperre, faktisch über nichts [spricht]«151. Durch die Markierung von Stalingrad als Nicht-Nachricht bzw. durch die Nicht-Markierung als Nachricht, erodiert nicht nur der Ereignisstatus der Geschehnisse; Stalingrad wird darüber hinaus auch zum où-topos, zum Nicht-Ort, weil der Ort, seiner relationalen und historischen Ereignishaftigkeit beraubt, zum Raum degradiert wird, der nur diffus adressierbar ist.152 So wird der Name Stalingrad erst recht zu einem leeren Signifikanten, der zwar umso empfänglicher für mythische Aufladungen ist, aber auch zusätzlich dem Eigensinn kommunikativer Anschlüsse unterliegt. Es ist daher bezeichnend, dass für Däneke als ultima ratio dann doch die Öffnung der Arkankommunikation über die Ereignisse in Stalingrad als Option denk150 Bachtin: Chronotopos, S. 188. Es ist die wechselseitige Beziehung zwischen Informationsdefiziten und Gerüchtebedürfnis, die Däneke bedenken muss. Während das »volle Ausschwappen von Nachrichten« auf einen information overflow – ein Übermaß an Information – abzielt, um rezipierende Sinnsysteme (Kommunikation, Bewusstseine) mit zu vielen gleichzeitig möglichen Anschlussoptionen (Komplexität) schlicht zu überfordern, muss das Streuen von Gerüchten kontraproduktiv ausfallen. Denn als Äquivalent zu Informationen mit sicherem Gewissheitsstatus fungieren Gerüchte als jene »Medien der Imagination« (vgl. Altenhöner: Kommunikation und Kontrolle, S. 10), die Däneke durch die (paradoxe) Idee von der Überforderung der Imaginationskraft ja gerade zu blockieren sucht. 151 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 759. 152 Vgl. Augé: Orte und Nicht-Orte, S. 92 f.

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bar bleibt, die allerdings nach Dänekes Verständnis durch die Annahme von »natürlichen Nachrichtenbarrieren« gedeckt scheinen. Die für diese Barrieren relevanten Kriterien für den Aktionsradius und die Aktionsgeschwindigkeit der »Bewegung unter Ausnutzung der natürlichen Schwierigkeiten im Nachrichtengelände« haben »Dänekes Mitarbeiter nachts zu pauken, während sie tags im Büroeinsatz sind.«153 Die Nachrichteneinschränkung und zugleich -inflationierung wirft Zeitquantitäten ab, die die personalen Zeiten einer Nachrichtenproduktion unterwerfen muss und die nicht umhin kommt, der historischen Ereignisfolge eine paradigmatisch ausweichende Parallelfolge überzustülpen, damit die ›Katastrophe‹ und ihre Effekte handhabbar gemacht werden können. Insofern sind die Tag und Nacht beschäftigten Mitarbeiter Dänekes Teil einer Nachrichtenapparatur, die die Elemente auswirft, aus denen sich individuelle und kollektive Zeiterfahrungen kondensierend verfestigen und so als dominante Gegenwärtigkeits- und Geschichtsbilder bzw. als kommunizierte authentische Momentaufnahmen der Ereignisgeschichte wie auch als Eigenzeit des Kriegsgeschehens den zeitgenössischen Diskurs um Stalingrad mitbestimmen. Dänekes Nachrichtentheorie ist ein konzeptuelles Zentrum, von dem aus der Text in konzentrischen Fluchtlinien die Unterscheidung von Ereignisnachricht und Nachrichtenereignis strapaziert und mit Überlappungseffekten traktiert wird. Er liefert nicht nur die publizistischen Sprachregelungen, die sich – als »GeheimSache«154 ausgewiesen – in der Sequenz »Pressemäßige Behandlung« zum Abgleich befinden, sondern inszeniert auch das Spiel mit den rhetorischen Figurationen des ›Unglücks‹ als ausgeschlossenem Eingeschlossenem. Gegen das Filtern und die Installierung von Schwundstufen des Faktischen behauptet etwa der Gauamtsleiter Plüschke im Reichspropagandaministerium die Offensivkraft einer Nachricht, die die »möglichst genaue Wahrnehmung des Unglücks« ermögliche, weil das »Phänomen Stalingrad 60 bis 80 Ufa-Filme« ersetze – zumindest »›[w]as die Erschütterung betrifft.‹«155 Was in diesem Abschnitt von erzählbarer Qualität, aber ohne Praxis bleibt, veranschaulichen die Tagesparolen des Reichspressechefs in der »Pressemäßigen Behandlung«. Mit zunehmender Ausweglosigkeit der militärischen Situation stellen die Sprachregelungen der Tagesparolen um auf die Einbindung der ›Episode‹ Stalingrad in größere, übergreifende Zeitzusammenhänge. Die Schlachtbeschreibung entfaltet an dieser Stelle die Inkorporation des Schlüsselereignisses der »Sondermeldung über das Ende des Heldenkampfes um Stalingrad«156 in die Sphäre des Zeitlosen, Ewigen, gegen die Operationen des Vergessens Immunisierten. An diesem Punkt wird nochmals deutlich, dass die Beschreibung der Beschrei153 Alle Zitate in Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 763. 154 Ebd., S. 765. 155 Ebd., S. 758. 156 Ebd., S. 774.

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bungen des ›Untergangs‹ der 6. Armee in Kluges Text nicht in die Mär von Stalingrad als Wendepunkt des Krieges einschert, sondern eben als Beobachtung zweiter Ordnung einen anderen Wendepunkt ausmacht: die Wende in der Wahrnehmung des Kriegsgeschehens als Ereignisgefüge.157 So offenbaren denn auch die Tagesparolen die Historisierungsmechanismen gegen die Traumatisierungsfolgen dessen, »was ja schon eine Nachricht ist«158: Die Vorgabe an die Presse lautet entsprechend, »den Griffel an die Weltgeschichte zu führen und Stalingrad zum Mythos zu machen«, der »alle Zeiten überdauern wird«. Sind zuerst die Zeitmaße des ›Unglücks‹ zerdehnt, bedarf es einer narrativen Form, die den Zusammenbruch von Sinnzusammenhängen abfängt. Es ist von besonderer Signifikanz, dass die Tagesparolen hier die Form des Epos, genauer: des »Heldenepos«159, als Deutungsschema hervorheben, das in krassem Kontrast steht zur Mannigfaltigkeit der Formenwelt der Schlachtbeschreibung. Als Epos narrativiert, werden die Geschehnisse in Stalingrad in offiziösem Ton dezidiert zu einem mythisch aufgeladenen Ereigniszusammenhang verdichtet, der administrativ verfügt wird und mit dem die katastrophalen Vorfälle in eine transzendente und in sich geschlossene Sinn-Ordnung implementiert werden sollen, die traditionell auf ›volkstümliche‹ Topoi und Erzählweisen baut und einheitsstiftend fungiert. In den Worten der Tagesparole vom 3. Februar, an dem »der Heldenkampf und Stalingrad sein Ende gefunden hat«, klingt das wie folgt: Die Nachricht »vom ergreifenden Ereignis, das die größten heroischen Waffentaten der Weltgeschichte überstrahlt« müsse pressemäßig »dieses erhabene Beispiel höchster heldischer Haltung […] als heiliges Fanal vor Augen führen.«160 Entscheidend ist, dass die Semantik des Fanals bereits desavouiert ist, weil der Signifikant zuvor in einer Fußnote als Leerstelle apostrophiert wird: »Was ein Fanal ist, weiß ich nicht.«161 In direktem Anschluss springt die Fußnote in die Perspektive einer fingierten Monographie, aus der im Zitat die Aspekte mythopoetischer Symbolfunktion erschlossen und rückgelesen werden auf einen allen Mythen, Märchen, Epen eingebetteten historischen Kern.162 Die Schlachtbeschreibung selbst bildet das Kontrapunktische zum Epos: d.h. sie verstößt gegen die Gleichförmigkeit der Zeitmaße, gegen den balanciert linearen narrativen Gestus, gegen die mythologische Überhöhung und gegen die Konstanz

157 Vgl. hierzu aus der Perspektive geschichtswissenschaftlicher Diskursforschung Frei: 1945 und wir, S. 97. 158 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 758. 159 Ebd., S. 771. 160 Ebd., S. 774. 161 Ebd., S. 753. 162 Darin bestärkt auch das vorgeschobene Michelet-Zitat, wonach »Märchen […] einen historischen Teil [haben] und […] an große Unglücksfälle [erinnern]« (ebd.).

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des mit ihr verknüpften Darstellungsduktus des genus grande im Epos.163 Und sie wendet sich dezidiert gegen die Verflüssigung und das Hinauslaufen der Eigenzeit und Eigenerfahrung des einzelnen Menschen in die sukzessive und glatte Struktur eines »Zeitmeers«164, das für abstrakte Zeitsemantiken zugänglich ist, aber für Zeitbestimmungen und Zeitprobleme auf der Ebene der einzelnen Eigenzeit und der Beobachterpluralitäten blind bleiben muss. Zu Wort kommen in der Schlachtbeschreibung daher auch die »praktische[n], der Lebenserfahrung entsprechende[n] Unterscheidungen der Zeit, so wie auf einer Seekarte zumindest einige Qualitäten der Gewässer unterschieden werden und nicht gesagt wird: Es ist alles Wasser. In dieser Hinsicht könnten wir zwar sagen, daß wir in einem Zeitmeer leben, erreichbare Zeit ist aber nur das, was wir durchschwimmen, worin wir uns tarnen, wogegen wir beißen und wie weit wir flüchten können«.165

Diese der Lebenserfahrung entsprechenden Unterscheidungen der Zeit werden in Kluges Text nun gerade nicht romantisierend überhöht, sondern zum Material, werden dekomponiert und in eine »Textmaschine«166 gefüttert, deren Output aus einer Vielfalt sich überlagernder, komplementärer aber auch sich in ihren Authentizitätsansprüchen bekämpfender Perspektiven auf Ereignisse und Zeiten besteht. Die Subsumierung der partikularen Zeiten unter eine formelhaft suggerierte ›tausendjährige‹ Geschichte des ›Reichs‹ und eine tausendjährige Zukunft des ›Dritten Reichs‹ wird als »Formalsache, eine Einbildung«167 entsubstantialisiert und destabilisiert. Was damit insgesamt als Option für Darstellungsmodi in der Schlachtbeschreibung durchgestrichen wird, ist das unkritische Anlagern an die »kulturellen Fiktionen, die die Abstraktion des Menschen mythisieren oder leugnen«168. Kluge setzt auf einen kontrafaktischen Modus der Chrono-Graphie, der das Nebeneinander der Sphäre der Zeiterfahrung und der Sphäre der Erfahrungsdiskursivierung bzw. -konstruktion inszenatorisch zwischen den Polen des Faktischen und historisch Belegbaren einer-

163 Die Radikalität der experimentellen Form bei Kluge ist aber nicht zu erfassen, wenn man die Schlachtbeschreibung gegen die Form des Epos hält, sondern erst in der Synopse mit den linear erzählenden, zum Teil romantisierenden oder gar revanchistischen Verarbeitungen des Stalingrad-Topos vor allem in den Romanen der späteren Nachkriegsjahre. Siehe zu diesen und zu ihrer Kontrastierung mit der Schlachtbeschreibung auch das Kapitel Stalingrad-Fiktionen in Carp: Kriegsgeschichten, S. 97-104. 164 Kluge: Die Macht der Bewusstseinsindustrie, S. 203. 165 Ebd. 166 Carp: Kriegsgeschichten, S. 113. 167 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 756. 168 Carp: Kriegsgeschichten, S. 110.

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seits und dem »Ausfabulieren von sogenannten Fakten«169 andererseits oszillieren und ineinander übergehen lässt. Das Kollabieren dieser Sphären geschieht durch zweifachen Stoß: Zum einen beschreibt die Schlachtbeschreibung die historische Schlacht über den Umweg nachgelagerter Beschreibungen, ist also Beschreibung aus zweiter Hand und kehrt gewissermaßen die chronologische Serie Ereignis Bericht um. Zum anderen wird im Beobachten der Zeitparadigmen, die dabei in den Blick kommen und exponiert werden, deutlich, dass diese nicht imstande sind, die nicht-triviale Eigenzeit der psychischen und sozialen Systeme durch Determinationen zu trivialisieren. Was für die Nachrichten als Kommunikationsereignisse gilt, gilt erst recht für die Eigenzeiten der Zeiterlebnisse der Figuren, die das Figurenarsenal der Schlachtbeschreibung ausmachen: ihre Eigenzeitlichkeit bleibt als Bestand kleiner Geschichten sowie subjektiven Erlebens und Imaginierens gegen die Ereigniskoordinationen einer auf Einheit und prästabilierte Harmonie der Zeit geeichten instrumentellen Vernunft erhalten. Die Verdichtung der Eigenzeiten wie auch die Verdichtung der Nachrichten wird hier aber gerade nicht in ein gravitätisches Maximum getrieben, aus dem das Kollabieren in ein Ganzes, eine temporale Einheit resultierte. Kluge steuert die nebeneinanderlaufenden Eigenzeiten (seien es die Eigenzeiten psychischer oder sozialer Systeme) nicht in einen gemeinsamen Brennpunkt. Vielmehr beharrt die Struktur der Schlachtbeschreibung darauf, die Eigenzeiten und Beobachtungszeiten polykontextural auf intuitive, perzeptive, apperzeptive, kommunikative und diskursive Zeitstandpunkte verteilt zu belassen, von denen aus sich in paradoxer Verschränkung die Ereignisse um Stalingrad ausschreiben und zugleich in die Beobachter einschreiben. Es ist die (potentielle) Gleichzeitigkeit dieser Eigenzeiten und Zeitbeobachtungen, die die Schlachtbeschreibung als das belässt, was für die Ereignishaftigkeit der Schlacht multi-konstitutiv ist: dass sie »auf vielfältige Weise gleichzeitig abläuft und jeder Teilnehmer sie auf einer unterschiedlichen Verwirklichungsebene in ihrer wandelbaren Gegenwart erfassen kann«.170 Die Beleuchtung dieser Gleichzeitigkeit bleibt auf eine nachgelagerte Beobachtungsoperation angewiesen. Die Formselektionen der Schlachtbeschreibung nehmen eine solche laterale Position der Beobachtung zweiter Ordnung ein und speisen als Nachricht in die gesellschaftliche Kommunikationsrealität ein, wie Beobachter ihre Eigenzeit mit all ihren Paradoxien nachrichtenhaft organisieren (als Schicksal, als Fortschritt, als Entwicklung, als teleologischer oder organischer Prozess).

169 Ebd., S. 109. 170 Deleuze: Logik des Sinns, S. 132.

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Die Schlachtbeschreibung eignet sich in besonderem Maße auch zur Veranschaulichung ästhetischer Darstellungsformen der Verzeitlichung von Ereigniszeiten und Eigenzeiten dort, wo es um die Eigenzeit von Ereignissen geht. Das in ihr zirkulierende Zeitwissen figuriert als kritische Beobachtung von Zeitparadigmen, generiert in seiner Poetisierung aber auch »Spiel- und Erfahrungsräume für einen spezifischen, intensivierten Vollzug der Zeit«171, den es darstellungsanalytisch zu untersuchen gilt. Mit der angesprochenen Eigenzeit des Ereignisses ist in diesem Kontext die (zeit-)relative Bedingung der Beobachtung von Ereignissen, d.h. auch ihre Extension und die Systematisierungen der Zugangsweisen zum Ereignis, gemeint. Auch die Eigenzeit von Ereignissen ist hegemonialen Zeitparadigmen und ihren Normalisierungstendenzen ausgesetzt. Diese sind nicht nur in den telematisch globalisierten sozialen Zeitmustern von Kommunikationsmöglichkeiten strukturbildend, wie die mittlerweile klassische Studie von Richard Harvey zur Figur der instantanen Real-Zeit aufzeigt.172 Denn Zeitparadigmen und Zeitschemata wie Zeitpunkt/Dauer, Struktur/Prozess, bewegt/unbewegt sowie für die Semantik ästhetischer Zeit prominente Topoi wie Plötzlichkeit, Augenblick und Prägnanz haben grundsätzlich Effekte auf die individuelle und kulturelle Wahrnehmung und Erfahrung von Eigenzeiten.173 Auf diese Effekte und ihre Medien hin lässt die Schlachtbeschreibung sich ebenfalls beobachten. Mit den Fassungen von 1978 und 2000 erfährt die Schlachtbeschreibung neben Umstellungen der bereits aus anderen Fassungen bekannten Elemente auch zwei wesentliche supplementäre Änderungen. Zum einen vollzieht sie einen pictorial turn und wird erweitert um zahlreiche Abbildungen (Fotografien, Zeichnungen, Stiche, Radierungen, Comics), die intermedial stets in enger Kopplung an Textmaterial positioniert sind. Zum anderen expandieren Vorgeschichte und Nachhall des Ereignisses ›Stalingrad‹ beträchtlich, was einhergeht mit der Erweiterung der Zeitskalen, die abgedeckt, abgebildet und narrativiert werden. So liegen nunmehr die Ursachen des historischen Ereignisses »800 Jahre zurück«174, während »alle zu seiner Verursachung zur Verfügung stehenden Merkmale der Gesellschaft andauern«175 bzw. sich »alle Details des Kessels und der Jetztzeit verknüpfen ließen«176. Die bildmedialen und zeitskalaren Supplementierungen ändern nicht nur das Erschei171 Gamper/Hühn: Zeit der Darstellung (Einleitung), S. 13. 172 Vgl. Harvey: The Condition of Postmodernity. Siehe auch Hassan: Empires of Speed, S. 17-40. 173 Vgl. z.B. Bohrer: Das absolute Präsens, S. 143-183; Bohrer: Plötzlichkeit. 174 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 529. 175 Ebd., S. 735. 176 Ebd., S. 739.

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nungsbild des Textgefüges beträchtlich. Sie erhöhen auch dessen Komplexität und beziehungsreiche Semantizität, indem sie das textuell-topographische und assoziativ-rezeptive Zusammenspiel der Module, Episoden, Anekdoten, Abbildungen und paratextuellen Elemente weiter treiben. Was sich dabei auch abzeichnet, ist, wie sehr die Poetik Kluges sich orientiert an einem Exponieren, das Benjamin in seiner Rede über das Sammeln beschrieben hat als »Einblick in das Verhältnis eines Sammlers zu seinen Beständen, einen Einblick ins Sammeln«177. In diesem Sinne ist die Schlachtbeschreibung lesbar als Medium einer solchen Einblick gewährenden Geste. Diese macht aus, dass sie vor hierarchischen Klassifikationen des Gesammelten zurückscheut.178 Die räumlichen und zeitlichen Unordnungen, die Kluge durch Montage heterogener Elemente generiert, opponieren so gesehen gegen das, was Benjamin als »leise Langeweile der Ordnung«179 bezeichnet. Gegen diese Langeweile der Ordnung fährt der Text Kompensationsstrategien auf, die ineinander verschränkt sind und sich als rezeptionsästhetische Konsequenz des Textverfahrens ableiten lassen. So sperrt sich der Text bereits diskursstrukturell gegen eine gewöhnliche, lineare und das Textgefüge als Ganzes durchmessende Lektüre. Das Vorwort der Chronik der Gefühle, die den Text in der letzten Fassung rahmt, untermauert dies, insofern sie den Leser auffordert, durch die Textmenge individuell kursorisch zu navigieren: »Niemand wird so viele Seiten auf einen Schlag lesen. Es genügt, wenn er, wie bei einem Kalender oder eben einer CHRONIK, nachprüft, was ihn betrifft.«180 Den Kontexturen der Eigenzeiten im Text entsprechen mithin die Kontexturen individueller und eigenzeitlicher Erfahrung von Rezeptionszeit(en). 177 Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 388. 178 Durch seinen Umgang mit heterogenem fiktionalem und faktualem Diskursmaterial zeichnet Kluge sich aus als historiografischer Technologe. Seine diskursive Position changiert kaum und beruft sich zumal in den längeren Texten stets auf die Technik der Montage, die nicht nur als Prinzip ästhetischer Formierung, sondern prinzipiell als geschichtsphilosophisches wie auch übergreifend wirklichkeitsgenerisches Verfahren bloßgestellt wird (vgl. Stiegler: Die Realität ist nicht genug, S. 54 f.) Die ästhetische Montagepraxis wehrt sich gegen die »antirealistische Eingleisigkeit« (Lukács: Es geht um den Realismus, S. 356) einer primordialen ›Realität‹. So gesehen ist der Realitätsstatus der in diesem Verfahren montierten Elemente gegen eine ontologisch sauber differenzierende Abqualifizierung weitgehend gefeit. Wer aber bei Kluge von der monolithischen Imagination namens ›Realität‹ abspringt, landet nicht in einem Raum oder einer Zeit vor jeder diskursiven Ordnung, sondern in einem Konglomerat von Kontexturen und künstlerischer Aneignung von Realfragmenten. 179 Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, S. 388. Für Benjamin stellt sich diese langweilige Ordnung schon als Effekt des Sortierens seiner Bücher in Regale ein. 180 Kluge: Vorwort (Chronik der Gefühle, Bd. I), S. 7.

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Wie sehr sich die Kontexturen der Zeit auch in der ästhetischen Eigenzeitlichkeit der Ereignismitteilung widerspiegeln, zeigt sich in den geschichtlichen Verästelungen, mit denen Kluge den historischen und sozialen Kontext der Ereignisse in Stalingrad anreichert. Die räumlich und zeitlich relationalen Verflechtungen, die den Text seit der Fassung von 1978 kennzeichnen und die der Text nicht als instantane Information durch ein Texttotum organisiert, verhalten sich wie Signaturen unterschiedlicher Latenz- und Inkubationszeiten von Ereignissen und Erfahrungen. Sie stellen sich vehement gegen die konventionellen und institutionellen »Ungetüme der Erfahrung«181, gegen deren Strategie der Abwehr oder zumindest Vereinfachung der komplexen Verflechtungen jedes Zeitpunkts mit einem anderen und der Ignoranz gegenüber der Gleichzeitigkeit disparater Eigenzeiten. Als solche ›Ungetüme‹ der Erfahrung verstehen Kluge und Oskar Negt die machsubjektiv unterfütterte Politik des Zeigens und Entzugs von Erfahrung, die erst das als Form bildet, was als Geschichte, Ereignis und Erfahrung sich verselbständigt und kondensiert. Nach Kluge/Negt lautet eine Möglichkeit der Auflehnung gegen diese Ungetüme: »Indizien für die Möglichkeit eines emanzipatorischen Produktionsprozesses zu sammeln«, mit dem die diskursiven »Krisenpanzer«182 aufgebrochen werden können. Was dadurch zum Vorschein kommen kann, sind die Inkubationszeiträume der Geschichte wie auch deren Latenz- und Unruhezeiten, die es dann mit den Zeitreserven ästhetischer Kommunikation zu versorgen gilt.

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VERTIKALE

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Die Entstehungszeit der ersten Fassung der Schlachtbeschreibung fällt in die Phase der Etablierung einer neuen epistemologischen Betrachtungsweise in den Geschichtswissenschaften. Deren systemischer Programmvorrat erweiterte sich seit den 1950ern sukzessive um strukturgeschichtliche Thesen und Methoden, mit denen man einen anderen Umgang mit den Erkenntnissen und Narrativierungen der ereignisgeschichtlichen Forschungen anstrebte.183 Jürgen Kocka konstatiert resümierend, dass »die traditionelle und herrschende Geschichtswissenschaft die Aufgabe der Synthese in schlechtem Historismus und Positivismus zu kurz hatte kommen lassen«184. Mit dem Programm einer strukturgeschichtlichen Geschichtswissenschaft sollten hingegen nun all jene Aspekte des Ereignishaften im Historischen 181 Kluge/Negt: Geschichte und Eigensinn, S. 1011. 182 Ebd. 183 Strukturgeschichtliche Positionen sind seit 1900 im Schlepptau anthropologischer und sozialpsychologischer Modelle in die Programme der Geschichtswissenschaften und Soziologie eingesickert (vgl. Hoock: Ereignis und Konstruktion, S. 42-46). 184 Kocka: Sozialgeschichte, S. 72.

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Berücksichtigung finden, die sich aus der »Geschichtsmächtigkeit überindividueller Kollektivphänomene«185 ableiten ließen. Als solche Kollektivphänomene wurden so heterogene Phänomene wie Schulsysteme, Verfassungen, Rituale, Produktionsverhältnisse, Genealogien, Moralprogramme und unbewusste Korrelationskomplexe identifiziert. Sie bildeten den Phänomenbezirk eines geschichtswissenschaftlichen Ansatzes, der sich nicht mehr nur auf die Beschreibung der Geschichte als Zeitreihe genuin (staats-)politisch relevanter Ereignisse beschränken wollte. Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung hatten sich vom Primat des politischen Ereignisses abzuwenden und – so die Forderung – die größeren Zusammenhängen sichtbar zu machen, für die es dann Partikulargeschichten zu rekonstruieren und zu beschreiben galt, z.B. in Form von Mentalitäts-, Institutionen- oder Kulturgeschichte(n). Diese geschichtswissenschaftliche Entwicklung entfaltete ihr provokatives Potential vor allem damit, die Vergangenheit wie auch ihre Verbindungslinien in die Gegenwart anders ›zum Sprechen zu bringen‹, indem vom Zeitpunkt des Eintretens eines zäsuraffinen Ereignisses abstrahiert und dieses in eine longue durée struktureller Kausalitätszusammenhänge eingebettet wurde. Erkauft wurde eine solche Präferenz langer Skalen der Signifikanz daher durch eine Abwertung der Primärrelevanz einschneidender Vorfälle. Das Ereignis galt es mithin zu erfassen als blitzhaft kurze Episode innerhalb einer seriellen Entwicklung übergeordneter Verhältnisse, Sinnfüllen und Chrono- wie auch Kausallogiken.186 Und dies sollte primär durch den Zugriff auf unterschiedliche Zeitskalen (Mikrozeit des Ereignisses vs. Makrozeit der Struktur) und die Annahme einer Tiefenstruktur historischer Entwicklungen ermöglicht werden, aus deren Perspektive Ereignisse ›sichtbarere‹ Ausstülpungen bzw. krisenbedingt eruptive Oberflächenphänomene darstellten.187 Beide temporalen Dimensionen – die des Ereignisses und die der Struktur – konstituieren gleichermaßen das Textszenario der Schlachtbeschreibung. Mit der strukturgeschichtlichen Komponente erfährt die Textgestalt auch diskursstrukturelle Anreicherungen, mit denen eine poetische Implementierung narrativer Darstellungsmodi einhergeht. Der Text als Gewebe einzelner Szenen der ›Weltgeschichte‹ erweist dadurch aber keineswegs (zum Unwillen oder aber zur Freude des Lesers) als »primitiv Epische[s]«, sondern er behält seine ästhetische Eigendisktinktheit, die sich – mit einem weiteren Bild Musils – »in einer unendlich verwobenen Fläche

185 Ebd., S. 73. 186 Vgl. zur Blitzmetaphorik in Bezug auf das Konzept des Ereignishaften den konzisen aber teils kryptischen historischen Schnelldurchlauf in Kittler: Blitz und Serie. 187 Demandt: Was ist ein historisches Ereignis?, S. 73.

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ausbreitet.«188 Verwoben sind dabei aber nicht nur kurze narrative Stränge mit anarrativen Abschnitten; verwoben sind auch poetische Szenen und theoretische Reflexionen sowie weite Textteile übergreifende Analogien, die sich in der ›mentalen Karte‹ des Lesers für den Moment niederschreiben, einer Karte, die erst durch die Synthesis von Abfolgen in einer lesend flanierenden Bewegung ein topographisches Leben erhält. Im Folgenden liegt die Aufmerksamkeit ganz auf der Dramatik der Temporalität des Ereignishaften, das sich aufspannt und entwickelt durch chronikalische Verkettungen über Jahrhunderte hinweg, wodurch bereits ein strukturgeschichtliches Gegengewicht zur Zeitordnung des Plötzlichen und Ephemeren ins Spiel geführt wird. Textimmanent findet die Reflexion über die mögliche Organisation von Kausalitäten über große Zeitspannen hinweg ihren Niederschlag in der komplexen Szenographie dessen, was sich nicht mehr mit dem zeitüblichen Beobachtungsschema eines eng umgrenzten ›Zeitgeistes‹ der NS-Zeit umschreiben lässt. Kluges Rekonstruktion der Vorgeschichte der Nemesis der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs reicht 800 Jahre zurück und wendet sich dadurch ab von der ereignislogischen Priorisierung historisch kurzer Eigenzeiten: »Die Ursachen liegen 72 Tage oder 800 Jahre zurück«189 Das Ereignis Stalingrad verliert hierdurch seinen monadischen Zeitstatus und seine ad-hoc-Logik. Kluge nimmt die Auffächerung der Ereignisverkettungen über lange Zeiträume vor allem aus sozialgeschichtlicher Perspektive in den Blick, die mehr und mehr erzählerisch nicht nur die militaristischen Gesellschaftsstrukturen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt, sondern bis zu den feudalen Auswüchsen stratifikatorischer Gesellschaftsform um 1200 zurückschaut und Entwicklungen nachspürt.190 So findet sich unter dem Abschnitt »Die Wünsche … sind um 1200 etwas sehr Einfaches«191 eine Überlappung von disparaten Zeitzonen. Neben die Erfahrungszeiten des historischen Subjekts treten damit Erfahrungszeiten, die nur auf gesellschaftlicher Skala eingezeichnet werden können. Dieser Abschnitt wirkt, zwischen die Module »Stalingrad als Nachricht« und »Nachrichtensperre 1943« positioniert, wie ein chronologischer Fremdkörper, zumal durch die Abbildung mittelalterlicher Druckartefakte auch trägermedial Anachronismen zum Tragen kommen. Kluge durchsetzt den Abschnitt mit Fotografien, 188 Musil: Mann ohne Eigenschaften, S. 650. Die Einsicht in die Fadenscheinigkeit der Annahme, das Leben folge einem Faden, bildet eine der wesentlichen Erkenntnisse, die Ulrich im Mann ohne Eigenschaften gewinnt. 189 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 529. 190 Ähnlich argumentiert auch Ralf Dahrendorf, für den die Ursache für die Entwicklung nach 1919 in Deutschland in den Traditionsüberhängen des feudalen Systems lag, die pluralistische, liberale und demokratische Gegenwarts- und Zukunftsentwürfe blockiert haben (vgl. Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie, S. 10-26). 191 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 741-756.

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Zeichnungen, kurzen narrativen Passagen und solchen, die als Zitat markiert sind. Zunächst überlagert die historische Differenz des Materials und der akzentuierten Informationen die semantische Kontiguität derselben noch beträchtlich. Es ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich, in welchem Zusammenhang das von Kluge angeeignete mittelalterliche Bildmaterial mit der katastrophischen Dynamik der Ereignisse im Jahr 1942/43 steht. So setzt der erwähnte Abschnitt mit der Abbildung ruraler Produktionsformen (Abb. 1) und eines Klosters ein, das mittels einer Bildunterschrift »als Idee der Scholle« chiffriert wird (Abb. 2).

Abbildungen 1 und 2192

192 Ebd., S. 741.

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Das Bildmaterial wird schrittweise erweitert und erzähltechnisch raffiniert unterfüttert, sodass sich immer feinere Kontinuitätseffekte zwischen den herangezogenen Fremdmaterialien ergeben. So zeigt ein weiteres mittelalterliches Bildartefakt (Abb. 3) ein an einem arbeitenden Bauern vorbeiziehendes Feudalheer, wodurch visuell die Asymmetrie in Bezug auf Mobilität und die ethische Asymmetrie hinsichtlich des jeweiligen Produktionsguts (dort Getreide, hier Destruktion) Symbolform gewinnen.

Abbildung 3: »Man betrachte diesen Mann; wie ist er düster gestimmt, während er in seiner Furche fortschreitet…«193

Aus der Montage der Fotografie eines in einer Erdgrube liegenden gefrorenen deutschen Soldaten in Stalingrad wiederum führen Linien zurück zum chtonischen Symbol der Scholle, so dass in einem nächsten Schritt assoziativ die Bifurkation von mittelalterlicher Feudalpolitik und der ›Blut-und-Boden‹-Ideologie des Nationalsozialismus als ein Impuls für die Mobilisierung der Massen aufgehoben wird.

193 Ebd., S. 744.

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Abbildung 4: »Gefallener deutscher Offizier, 2. Februar 1943.« 194

Das historische Zeitfeld muss, sollen Zusammenhänge beobachtet werden, kollabieren. Die große temporale Distanz zwischen den historischen Zeitstellen der Abbildungen schrumpft dabei auf den Augenblick der assoziativen Aktualisierung von Sinn zusammen. Dass der Erinnerungsentwurf hier an den Anfang des 13. Jahrhunderts anschließt, erweitert die Lesbarkeit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs durch das Hinzufügen ferner Zeitkoordinaten. Lesbar werden so die unterschiedlichen Eigenzeiten gesellschaftlichen, (militär-)technischen und kulturellen ›Fortschritts‹. Was mit der Minimalform der Naturbeherrschung beginnt (der Bauer, der Pflug, die Scholle), endet in dieser Lesart mit der hochkomplexen Bündelung von Zerstörungsmaschinerien und Beherrschungsphantasien, die den organisatorischen Aufbau der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ermöglichen. Aus zunächst höchst disparaten Elementen entwickelt sich so in vernetzender Montagepraxis ein quasi leitmotivisches Ereignen von Zusammenhängen. Solche Ereigniszusammenhänge generieren Ereignishaftigkeit (Prozess) und Geschichtlichkeit (Struktur) als temporale Größen erst im Textraum. Aber auch der kulturtechnische und paradigmatische Stellenwert von Zeit wird zum Gegenstand querverweisenden Betrachtens, denn die ›minimalinvasive‹ Diffusion des Fortschrittstopos betrifft auch die Kulturtechnik der Zeitnahme: Die Auftaktabbildung (Abb. 1) referiert kulturgeschichtlich auf die nicht-linear gedachte Zeit agrarkultureller Ord-

194 Ebd., S. 743.

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nungsrahmen, die sich an Rhythmen und Zyklen orientieren.195 Die im Titel des Abschnitts genannte vage Zeitzone »um 1200« markiert nicht nur eine Koordinate einer gesellschaftsstrukturellen Phase, mit dieser Koordinate rückt auch die Rationalisierungsgeschichte der Zeit als Kulturprodukt in den Fokus. So verweist in Abb. 2 das Kloster auf die Zentralisation der Zeit durch die Disziplinierungsraster kirchlicher Ordnungen mit ihren streng rhythmisierten Tagesabläufen und verbindlichen zeitstrukturellen Sequenzierungen, die die monastische Lebensform noch immer prägen. Für Günter Dux sind diese Raster daher progressive Organisatoren sozialer Zeit, die mitbeitrugen zu »einer Ausweitung der Organisationskompetenz über die Welt«196. Die Abbildung des Klosters verweist zudem auf die Vorphase der Etablierung der ersten Räderuhren in den mittelalterlichen Klöstern und Städten in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.197 Mit ihnen ergab sich für den Stadtmensch eine neue Regelmäßigkeit, Zeitkoordiniertheit und Zeitausgedehntheit, mit der komplexere Interaktions- und Produktionsprozesse und -verkettungen möglich wurden, da Zeit mehr und mehr als lineare Uhrzeit formalisiert und von der Zeit der natürlichen Zyklen und Rhythmen abgekoppelt werden konnte.198 Dass die Uhr im Laufe der sozialgeschichtlichen Evolution der Kulturtechnik der Zeitmessung – wie Lewis Mumford mit Marx’scher Perspektivierung beschrieben hat – vom tool zur machine aufsteigt199, macht sie integrierbar in die Metaphorik der Maschinerie und damit auch in die der Maschinerie des Krieges, den Kluges materialistische Optik als fabrikmäßige – d.h. auch hochsynchronisierte – Produktion von Tod und Zerstörung begreift.200 Erst dadurch, dass Uhren immer kleinteiligere Berechnungen der für eine Aktion notwendigen Zeit und die Strukturierung immer komplexerer Ar195 So leitet sich z.B. das Flächenmaß ›Morgen‹ von einem solchen temporalen Ordnungsrahmen ab. Ein Morgen als Maßeinheit war die Fläche, die man bei Tageslicht bearbeiten konnte: »soviel Land, wie ein Gespann an einem Arbeitstag pflügt«, gibt das Etymologische Wörterbuch von Friedrich Kluge in seinem Digitalisat an. 196 Vgl. Dux: Die Zeit in der Geschichte, S. 321 f., das Zitat auf S. 322. 197 Vgl. Wendorff: Zeit und Kultur, S. 135. 198 Dies ermöglicht erst die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaft, die die Autonomisierung ihrer Funktionssysteme aushalten und weitertreiben kann, weil mittels der Uhrentechnik synchronisierbare temporale Rahmungen verhandelbar werden. 199 Vgl. Mumford: Technics and Civilization, S. 14 f. Siehe auch Dant: Materiality and Society, S. 33 f. Karl Marx widmet sich der Differenz von Werkzeug und Maschine im umfangreichen 13. Kapitel im Kapital (vgl. Marx: Das Kapital, S. 391-529). Es ist bezeichnend, dass dieses Kapitel bei Marx mit der Gegenüberstellung agrikultureller und großstädtisch-industrieller Zeitordnungen abschließt. 200 Vgl. Kluge/Negt: Geschichte und Eigensinn, S. 797-860. Siehe auch das Heft 4 in Unheimlichkeit der Zeit, das den Titel »Verschrottung durch Arbeit« trägt (Kluge: Unheimlichkeit der Zeit, S. 101-127).

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beitsabläufe oder des Ablaufs einer Vielzahl miteinander zu koordinierender Aufgaben erlauben, ermöglichen sie auch organisatorischen Aufbau. Und hier ist man dann versucht, auch eine zeitstrukturanalytische Lesart zu bemühen, nach der Kluge den Leser auch mit der Schattenseite der immer feineren Quantifizierung der Zeitleisten konfrontiert. Denn die linearen Synchronisierungsvollzüge an der Ressource Zeit bilden das technokratisch-abstrakte Medium der Vorbereitung der Arbeitsleistung ›Krieg‹. An den Enden der Parabel, die der Text zieht, werden in diesem Sinne zwei Zeitmuster identifizierbar, die als Gefälle arrangiert sind. Und zwar als Gefälle zwischen einem peripheren und ruralen, primär an ›natürlichen‹ Rhythmen, Zyklen und Dauern ausgerichteten temporalen framing einerseits, und der vielfältigen Diffusionsschüben ausgesetzten, auf hochkomplexe Koordinierung hin programmierten Multiplikation der Zeiten im makrosozialen Lebensraum Stadt andererseits. Das gesamte Geschehen, das die Schlachtbeschreibung – faktisch und fingiert – aus zweiter Hand vor Augen führt, wäre nicht möglich gewesen nur unter Rückgriff auf die Zyklen und Rhythmen eines Zeitframings der Natur: »In solche Not kann die Natur nicht bringen«201, heißt es in geradezu apodiktischem Tonfall gleich zu Beginn der Schlachtbeschreibung. Kluge nutzt den literarischen Retardierungsraum, um mitten im Zeitdruck der desparaten Situation in Stalingrad, wie ihn die unmittelbar den Kessel betreffenden Schilderungen erfahrbar machen, Entschleunigung zu realisieren, die Zeitskalen zu erweitern und kontemplative Zwischenphasen dort einzusetzen, wo sonst das Stakkato der Ereignisse aus den Berichten über das Kriegsgeschehen die Taktung vorgibt. Diese Retardierung erfolgt zwar im besprochenen Abschnitt durch eine Zeitraffung von fast 800 Jahren, aber sie erfolgt auch durch den textintern-kommunikativen Einbau wechselseitig aufeinander verweisender und sich wechselseitig verzerrender Informations- und Mitteilungsereignisse, die historisch und semantisch in den übrigen Textraum und seine Ereignisfülle ausstrahlen. Dadurch umgeht Kluge den Nachteil des geringen Irritationspotentials, durch den die long dureé gegenüber dem Ereignis ins Hintertreffen gerät, weil das Ereignis zumeist die Attribute des Plötzlichen, Emergenten, Einschneidenden und Herausragenden, des Unbeschreiblichen und daher auch des Aufmerksamkeitsaffinen und Interpretationsbedürftigen mit sich führt. Kluge entscheidet sich für einen Darstellungsmodus, der Ereignishaftigkeit auch strukturgeschichtlich poetisch formbar macht, indem er durch Verknappung, durch Isolation des Materials und durch semantische Distanzen zwischen den Abbildungen, Kommentaren, Zitaten und Anekdoten das Textgefüge nicht nur graphisch, sondern auch sinnspezifisch atomisiert und auf Kleinstgröße bringt. Denn so lassen sich die zeitstrukturellen Vorteile einer Kurzprosa – semiologische Kontingenz, temporale Dysfunktionalität, unüberschaubare Sinnhaftigkeit bei überschaubarem

201 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 514.

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Signifikantenumfang – voll ausschöpfen.202 Aus dieser Kurzförmigkeit wiederum entfaltet sich die Ereignishaftigkeit jedes einzelnen montierten Elements als Information. Kluges Strategie der Ereignissaturierung lässt sich in solcher Perspektivierung als das Ausstoßen von Ereignissen beschreiben – und die Schlachtbeschreibung lässt sich etikettieren als Spiegelung des absolut Ereignishaften eines Diskurswucherns. Sie ist in diesem Sinne »eine Menge verstreuter Ereignisse«203, die in ihrer Streuung im Textraum und in ihrer Rezeption interagieren zu »Zusammenhängen, Zusammentreffen, Unterstützungen, Blockaden, Kraftspielen, Strategien«204. Die operativen Vollzüge einer Archäologie dieser Zusammenhänge, Zusammentreffen usf. bezeichnet Foucault als »[d]as Zum-Ereignis-Machen«205, und dieses Zum-Ereignis-Machen ist die aufständische, kritische Geste, die den ganzen Text der Schlachtbeschreibung durchzieht. Sie findet sich mehrfach metaleptisch in den Text eingelassen: »Zöberlein, Strukturforscher, insbesondere Märchen und Mythen, hätte die nötigen Langzeitperspektiven gewußt, die großzügige geschichtliche Operationen ermöglichen: ein Schädeldach, dreckverkrustet, in der Nähe des ostafrikanischen Grabens gefunden, etwa 60 000 v. Chr., von diesem Objekt eine gerade oder gezackte Linie bis Familienforschung in Ostgalizien um 1820, wieder zurück eine Erzählung, die bei Mailand siedelt um 806, Ruinen keltischer oppida in Donaunähe und wieder vorwärts und zurück wie ›Kraut und Rüben‹. Er stand in keiner Verbindung mit dem Zeitgeschichtler A. Fischer und den Historikern Berthold Semmler und Fritz Drescher, die die Faktensammlungen besaßen (im wörtlichen Sinne saßen sie nicht auf ihnen, sondern neben den Karteikarten, wußten die Zugänge, Katalogbenutzung zu Militärhistorischem Archiv Freiburg, Institut für Zeitgeschichte, Staatsbibliotheken, Bundesarchiv usf.). Sie hätten für Zöberlein die Groß- und Zacklinien gewissermaßen mit Backsteinen oder Lehmstroh ausfüllen können; obwohl sie in ein und demselben Vorlesungsverzeichnis mit ihm firmierten, standen sie in keiner Verbindung, ja hatten niemals miteinander telefoniert. Wie Panzer riechen, was einer im engen Vieleck um den Sitz des Fahrers oder Richtkanoniers bei beweglicher Kampfführung am kalten und später, mit zunehmender Fahrstrecke, zitternden und erwärmten Metall fühlt, das konnte Generalmajor von Westermann von der 2. Jägerdivision in Kassel benennen. Gabi Teichert wiederum hätte Interesse gehabt, alles dieses Wissen zusammenzufügen, traf aber nie auf einen, der sich ebenfalls dafür interessierte.«206

202 Vgl. Michel: Inszenierte Kontingenz, S. 332-335. 203 Foucault: Über die Archäologie der Wissenschaften, S. 894. 204 Foucault: Diskussion vom 20. Mai 1978, S. 30. 205 Ebd. 206 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 734 f.

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Die »Langzeitperspektiven« des strukturalistisch geschulten Mythen- und Märchenforschers Zöberlein favorisieren »großzügige geschichtliche Operationen« und leisten so die Zerdehnung der historischen Kausalitäten. So kann ein mittelpaläolithischer Schädelrest über Kontinentaldistanzen hinweg in narrativer Konstruktion als Ausgangspunkt für eine zeitraffende Kausalkette in Anschlag gebracht werden: »eine gerade oder gezackte Linie bis Familienforschung in Ostgalizien um 1820, wieder zurück eine Erzählung, die bei Mailand siedelt um 806, Ruinen keltischer oppida in Donaunähe und wieder vorwärts und zurück«. Vom 60 000 Jahre alten Schädel, der den Verfallshunger der Zeit in Teilen überdauert hat, spinnt sich Leben und die Kette der Lebenszeiten bis in die Gegenwart. Die Assoziation mit Benjamins Notiz über die Latenz des Vitalen in der Ruine des Körpers liegt hier sehr nah: »so wahr, wie nie ein Skelett gelebt hat, sondern nur ein Mensch.«207 Aus dem Verborgenen geborgen, nach einer Latenzzeit, tritt der Schädel als Zeitlichkeit strukturierende Allegorie der fortwährenden Verstrickung des Menschen in Geschichten wieder auf.208 Er ist dabei weniger in die Symbolik des caput mortuum oder die des memento mori eingebunden. Seine Funktion ergibt sich vielmehr aus dem, was gerade nicht sichtbar ist, verborgen bleibt und durch Analogie, Assoziation, Kontextualisierung und das Erzählen von Zusammenhängen erst in die Tradierungsdiskurse eingebracht werden muss. Der manifesten Körperruine steht die latente Eigenzeit vergangener Erfahrungen gegenüber, die erst durch das Konstruieren von Geschichte(n), aus dem Verborgenen, der Abwesenheit gezogen wird. So wird das Fossil vergangener Lebenszeit zum Ausganspunkt und zum Medium der Formierung von Über-Setzungs- und Über-Lebens-Linien, die sich vom stummen Knochen zur lebendigen und lebendig erinnernden Stimme Zöberleins ziehen.209 Die Linie geht aber über die Erinnerungsarbeit Zöberleins hinaus, läuft über den Geruch von Panzern, den sinnierenden Zöberlein und seine positivistisch geschulten und obstinatskeptischen Kollegen (»Historiker«, »Zeitgeschichtler«), über die aufklärende Erinnerungsarbeit versuchende Geschichtslehrerin Gabi Teichert, die das Verbleiben der 6. Armee im Kessel zu begreifen sich bemüht, bis hin zum beharrlich Fassungen produzierenden Autor Kluge und den Leser seines Textes, der vorsorglich im Peritext der Schlachtbeschreibung vorgewarnt wurde, dass »Erinnerungslosigkeit irreal«210 sei. Der Text bezieht das theoretische bzw. poetologische Modell der Ereigniszerdehnung durch Ereignisstreuung, das bisher herausgearbeitet wurde, an einer weiteren Stelle metaleptisch mit ein und präsentiert hier noch konziser sein performatives 207 Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 1000. 208 Vgl. Schapp: In Geschichten verstrickt, S. 1 f. 209 Vgl. zur Korrelation von Übersetzung und Überleben als Tradierungsdialektik Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 10 f. 210 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 511.

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Potential. In der nüchternen Erzählung unter der Überschrift »Voßkamps MittelKurzgriff und Pratschkes Langzeitgriff« findet sich ein Gespräch zwischen den Repräsentanten zweier unterschiedlicher ›Zeitgriffe‹ bzw. ›Zeit-Zugriffe‹: »So können Sie Stalingrad aber nicht ableiten, sagt Voßkamp. Es genügt nicht, Fehlhaltungen aufzuzählen und diese 150 Jahre nach rückwärts auf Valmy oder das 19. Jahrhundert zurückzuführen. […] Sie können das nicht aus preußischer Altgeschichte rekonstruieren, sondern müssen sich die Mühe machen, die Jahre von 1918 bis 1933 und dann die Herrschaft des Nationalsozialismus gründlich zu analysieren. […] Fred Pratschke aber wollte da nicht heran. Er wollte ja vorstoßen über die Barriere jener sog. ›Jahre‹ hinweg, die wegen ihrer ›Wichtigkeit‹ die vorangegangenen Ursachenketten abschnitten. Voßkamp: Wollen Sie sagen, daß 1918 bis 1942 keine Geschichte darstellt? In gewissem Sinne wollte Pratschke das behaupten. Es kommt ja nicht darauf an, daß ich etwas Richtiges sage, sondern daß ich meinem ›entschiedensten Interesse‹ nachgehe, Kraftquelle im Wissenschaftskrieg. Da werden Sie aber einen Irrweg bahnen, sagte Voßkamp. Das war Pratschke egal. Er wollte zur ›eigentlichen Geschichte‹ dadurch vorstoßen, daß er die früheste Wurzel suchte, mindestens tausend Jahre zurück. Wenn ich mich vertue, sagt er, macht das nicht viel. Es hat kaum Folgen. Ich habe aber als Hochschullehrer, erwiderte Voßkamp, einen Terminkalender, der mich hindert, beliebige Irrfahrten, nur weil Sie sie wünschen, mitzuvollziehen. Sie sehen ja, antwortete Pratschke, daß es egal ist, was ich sage. Nicht einmal Sie hören mir zu, und Sie sind vom Fach. Die beiden hatten aber noch sieben Minuten zur Verfügung, die sie, weil die Auseinandersetzung sich wegen der geringen Zeit, die die beiderseitigen Terminkalender ließen, nicht weitertreiben ließ, mit gemeinsamem Warten […] verbrachten.«211

Wie im Fall des Schädelfundes, so wird auch hier die Rückverfolgung von historischen Quellen und Quellenspuren jenseits konventioneller »Ursachenketten« verhandelt. War im Falle Zöberleins die nicht-diskursive Quelle ›Schädel‹ der Ausgangspunkt für die Produktion von historisch-biographischen Ereignisverkettungen und Sinnzusammenhängen, so sind es im Disput zwischen Pratschke und Voßkamp die Relevanzkriterien der historiografischen Diskursproduktion selbst, die einer Beobachtung zweiter Ordnung zugeführt werden. Dass die Behauptungsszenarien akademischer Wissensproduktion dabei als »Wissenschaftskrieg« ins Bild gesetzt werden, motiviert zunächst einen assoziativen Parallelismus, in dem historiografische Konstruktionen der Vergangenheit vorgestellt werden als strategische und taktische Auseinandersetzungen über die angemessene Ausdehnung von Kausalzusammenhängen. Der ›historische Verlauf‹ wird so zum diskursiven Effekt der Ordnungskämpfe im Spannungsfeld von dezisionistischer Hermeneutik (»›entschiedenstes Interesse‹«) und strukturalistisch-rekonstruktiver Metanarrative (»›eigentliche Geschichte‹«). Was beide Textstellen implizit und explizit entfalten, ist 211 Ebd., S. 736.

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der funktionssystemische Kampf um die präferierte Form des Prozessierens von Unterscheidungen. Beide Geschichten inszenieren historiografische Operationen als Praktiken, mit denen die Pluralität der Perspektiven auf und der Erzählformen für vergangene Gegenwarten und deren Vergangenheiten je auf andere Weise aktualisiert werden. An die Stelle einer stabilen, vordiskursiven und beobachterunabhängig gegebenen vergangenen Wirklichkeit bzw. Wirklichkeit der Vergangenheit, die es mithilfe der Unterscheidung Kontinuität/Diskontinuität nur plausibel zu periodisieren gälte, tritt hier die Beobachtung einer »Verzeitlichung der Vergangenheit«212. Dadurch, dass die geschichtswissenschaftlichen Gegenwartsbezüge der Vergangenheitskonstruktionen selbst als kontingentes Resultat eines bestimmten Geschichtsbewusstseins bzw. konkurrierender Geschichtsbegriffe und historisch variabler Kausalitätsschwellen ausgewiesen werden, eröffnen sich im Medium der Literatur nicht nur Perspektiven auf die polykontexturale Bedingtheit der Beobachtung von Ereignissen und Ereignisverkettungen, sondern auch Inblicknahmen der kontingenten Schemata, mit denen dennoch die Einheit von Beobachtungen unter Zuhilfenahme der symbolisch generalisierten Kommunikationsmittel ›Wissenschaftlichkeit‹, ›Wahrheit‹ und ›Authentizität‹ behauptet wird.213 Und dort, wo funktionssystemische »Irrweg[e]« untersagt sind, kann sich die Literatur einbringen, odysseisch irrfahren, semantische Stationen ansteuern und sich den Emergenzeffekten eines assoziativen Flanierens überlassen, um eine komplexitäts- und möglichkeitssteigernde Geschichts- und Geschichtenpraxis an den Tag zu legen. Ihr Effekt – so die poetologische Quintessenz – wäre das Herauspräparieren der im historiografischen Diskurs stets mitkommunizierten Finalisierungstendenz der Interpretation von Ereignissen und Geschichte.214 Die im Interaktionssystem zwischen Repräsentanten historiografischer Wissensordnungen anlaufende Kommunikation läuft letztlich ins Leere und endet im stummen Warten. Pratschkes Bemühen um die wissenschaftliche Autorisierung seines »Langzeit-Zugriffs« scheitert an den historiografischen Wissen(schaft)s212 Buskotte: Der Stellenwert von Zeit, S. 83. 213 Vgl. Reichlin: Kontingenzkonzeptionen, S. 24. 214 Gegenüber diesen Finalisierungstendenzen wäre die Schlachtbeschreibung beobachtbar als Horizont anderer Möglichkeiten der Differenz von Bestimmtheit/Unbestimmtheit der kausalen Vernetzung von Ereignissen zu Geschehen und schließlich zu einem unter dem Kollektivsingular Geschichte subsumierten Gesamtgefüge aller Geschehnisse. Die poetische Konzeption arbeitet dabei durch das Ansteuern der Seite der Potentialität von Sinn auf zwei Ebenen gegen die Reduktion von Kontingenz: Die Kontingenzform des literarischen Textes entspräche dann analog dem »konstitutive[n] Changieren zwischen zwei Perspektiven […]: zwischen dem Blick auf ein Ereignis als kontingente Selektion in einem gegebenen Rahmen und der Perspektive auf dieses Ereignis als Zeugnis für die kontingenten Bedingungen dieses Rahmens.« (Ebd.)

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programmen und dem geschichtswissenschaftlichen Konsens über die Form und den Umfang richtiger Reduktionen des Zugriffs auf vergangene Gegenwarten. So verortet der Historiker Voßkamp den in Pratschkes »entschiedenste[m] Interesse« mitartikulierten und in seine »Betrachtungsweise eines anderen Ganzen«215 eingelassenen Individualismus des Wissens (»nur weil Sie wünschen«) im Register der Wünsche. Die vom Nicht-Historiker Pratschke angemahnte kontextualistische Verschiebung des Vergangenheitshorizonts und das damit ins Blickfeld gesetzte Abspulen vergangener Gegenwarten in Schritten von tausend Jahren werden so auf die Filmspule der Phantasie abgedrängt. In der anekdotischen Szene treffen nicht nur die Figur des Laien und die Figur des Experten aufeinander, in ihr vermeidet Kluges es auch, die Kommunikation unter den Anwesenden (als Repräsentanten von Zeit- und Ereignisstrukturen) nicht als Serie von Entscheidungen aufzulösen. Indem die szenische Anekdote auf die Pointe »der geringen Zeit, die die beiderseitigen Terminkalender ließen« hinausläuft, durch die das konsensuelle Aushandeln eines Zeitzugriffs im ›Dazwischen‹ von »Langzeitgriff« und »Mittel-Kurzgriff« erstickt wird, öffnet sich assoziativ der Verweis auf das Changieren der Schlachtbeschreibung zwischen Geschichtsschreibung und Literatur, zwischen Dokument und Fiktion. Wo auf der Mikroebene der histoire der Dialog zwischen Pratschke und Voßkamp zum Opfer einer Diskursökonomie wird, die den Regulierungen einer Zeitökonomie gehorcht und das Warten als kontraproduktives Verhaltensprogramm initiiert, besorgt Kluge auf der Makroebene des Textgefüges der Schlachtbeschreibung die eigensinne Realisierung eines ›Dazwischen‹. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird so auf die Möglichkeiten abweichender Ereignisverkettungen gelenkt, und die damit verbundene Lektüreofferte manifestiert sich in den hybriden Vernetzungen zwischen den Textereignissen im Text selbst – so, wenn vier Seiten nach dem geschilderten Disput ein eigener Abschnitt sich den »Wünschen um 1200«216 widmet und in der dabei realisierten Ausdehnung der Ursachenketten vom Mittelalter bis nach Stalingrad die Ebenen von Ereignisdarbietung und Darbietungsereignis zusammenfallen. Diese manifeste Vernetztheit, der etwa auch die Figur Zöberlein nachspürt und die sich auch programmatisch für die Assoziationspraxis der Schlachtbeschreibung nachweisen ließe, trägt Züge einer doppelten romantischen Symbolfigur. Da ist zunächst der dem Mythos (neben Märchen ein disziplinäres Fachgebiet Zöberleins) inhärente Topos der Unfassbarkeit, der hier allerdings seine Funktion entfaltet als Unfassbarkeit der Kontingenz, Insistenz und Emergenz der manifesten und latenten Zusammenhänge. Da ist zudem das Erbe der ›Vorgeschichte‹, das die fiktive Wirklichkeitsstruktur des Textes als Determination ausweist, die auf Menschen und Geschehnisse wirkt und mit der die utopische Verbundenheit Alles mit Allem als kau215 Zelger: Wider die Macht des autorisierten Blicks, S. 42. 216 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 741-756.

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salistisches Faktum ausgeflaggt zu sein scheint. Allem Ereignen und Geschehen ist – so der Eindruck – irgendwie ein Gesamtgefüge, eine ewige Struktur unterlegt. Dies mag nahelegen, dass unter der heterogenen Oberfläche des Textkonvoluts bei entsprechender Hervorhebung eine teleologische Geschichtsauffassung zum Tragen komme. Die Aufwertung mythischer Weltauslegung dort, wo »[m]angels Zusammenwirken« des Mythenforschers Zöberlein mit positivistischen Historikern und Zeitforschern keine ereignis- und strukturadäquaten »Begriffs-Gebäude […] produziert werden«217, könnte in eine solche Richtung weisen. Entsprechend wäre die Vermutung naheliegend, das Graben in der Geschichte führe in der Schlachtbeschreibung primär dazu, strukturgeschichtliche Determinationen aus der Fülle des geförderten Materials und der damit möglichen Querverbindungen und spekulativen Interdependenzen abzuleiten. Von diesem Standunkt aus müssen die strukturgeschichtlich überdehnten Kausalketten vom Mittelalter bis über den Winter 1942/43 hinaus, wirken wie Totalisierungstendenzen des historischen Zusammenhangs oder wie Symptome archetypischer, urtümlich-zeitloser Permanenz. Solchen Vermutungen sind vielfach bereits zutreffende Entgegnungen gegenübergestellt worden, die sich auf das poetologische Programm Kluges berufen und in ihren Argumentationen auf die konzeptuelle Ausrichtung der Begriffe ›Geschichte‹ und ›Realität‹ in Kluges Film- und Literaturpoetik hinweisen.218 Davon perspektivisch abweichend möchte ich hier – dem Erkenntnisinteresse meiner Untersuchung entsprechend – ein Argumentationsmuster einbringen, das primär die Rele217 Ebd., S. 734. 218 Dass Kluges philosophisch-theoretisches und ästhetisch-poetisches Oszillieren zwischen Ereignis- und Strukturgeschichte für summarische Lektüren ungeeignet scheint, hat etwa Urs Meyer klargestellt: Kluges Prosa-Konvolute zeichne aus, dass sie »in einer kalkulierten Schwebe bleibt zwischen der Kontingenz ihrer hundertfachen Anekdoten im Einzelnen und dem Eindruck einer irgendwie doch noch hinter den Geschichten liegenden Gesamtgeschichte mit teleologischem Projektcharakter im Ganzen. Entscheidend ist, dass die einzelnen Projekte, von denen Kluge erzählt, immer wieder durchkreuzt werden […]. So gesehen ist es nur konsequent, wenn die Durchkreuzung von Kausalität und Teleologie im Einzelnen nicht ihrerseits einer heimlichen Teleologie in der Gesamtstruktur des Buches folgt. Man wird bei Kluge sozusagen immer wieder auf den Einzelfall zurückgeworfen, und die Frage nach einem Sinn des Ganzen wird dabei zugleich provoziert und suspendiert.« (Michel: Inszenierte Kontingenz, S. 333) Insbesondere Ulrike Bosse und jüngst wieder Fischer haben diesbezüglich eingehende und tiefenscharfe Analysen vorgelegt (vgl. Bosse: Alexander Kluge, S. 95 ff.; Fischer: Geschichtsmontagen, S. 169 ff.) Beide gewichten sehr stark (aus ihrer Perspektive nichtsdestotrotz treffend) die historiographisch-kritischen Effekte dieser Oszillation, gehen aber nicht ein auf die spezifisch operative Ebene des Umgangs mit dem Ereignishaften und der Suspendierung des Teleologischen.

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vanz der Dimension der Zeit für die Textformierung beobachtet. Dadurch sollen Textmedialität und Temporalität in ihrer Sinnproduktivität erörtert werden: Dabei geht es in meiner Argumentation in erster Linie um die Beobachtung der zeitspezifischen Formierung der Schlachtbeschreibung, in der – wie ich darlegen möchte – Struktur- wie auch Ereignisgeschichte, Mythos und historische Rationalität, wahrscheinliche und utopische Zusammenhänge über kurze oder große Dauern von der konkreten Zeitlichkeit des Textes, d.h. von seiner ästhetischen Eigenzeit selbst als wahrscheinliche Anschlussoptionen generiert und zugleich suspendiert werden. Kluges assoziatives Flanieren durch die Geschichte zeugt von seiner Faszination für die Tiefenzeit, für das Archäologische, für das Graben in Zeitschichten – hierfür steht die Anekdote vom Schädelfund exemplarisch.219 Sein literarisches Grübeln vollzieht scheinbar beliebig und unverbindlich Zeitsprünge, und die Schlachtbeschreibung wie auch die sie umfassende Chronik der Gefühle sind Kartographien eines Grübelns über eine (ganz) andere Geschichte und lassen sich wie ein archäologischer Atlas literarischer Sujets lesen. Im Fall der Schlachtbeschreibung aber beharrt Kluge auf dem Ereignis Stalingrad. Was aber kennzeichnet dieses Beharren? Zunächst einmal ist es eine weitere Abwendung von den Modi linearer Zeitfolge. War die Synopse der »Tagesberichte« mit ihren unterschiedlichen Ereignisschwellen – wie gezeigt wurde – eine Form der Abwendung von linearer Zeit durch die Hervorhebung der Koexistenz und Koinzidenz von Ereignissen und Eigenzeiten, so verweist das Beharren zeitparadigmatisch auf die Permanenz des Verweilens, auf die Insistenz auf das Fokussierte, auf die Suspendierung des Fortgangs (der Erzählung) durch Wiederholung. Beide Distanznahmen von linearer Sukzessivität werden zwar durch die strukturgeschichtliche Komponente und die Rückkehr des Erzählens in den kommentierenden und stärker narrativ verfahrenden Teilen der neueren Fassungen zurückgenommen, allerdings nur verhalten und in begrenzter Breite. Die programmatische Strenge, die das dokumentarischmusterhafte Erscheinungsbild des Textes seit der ersten Fassung prägt, wird nicht aufgegeben. Wirksamer gegen substantialisierende Struktursedimentierungen ist eine andere poetologische Selbstblockierung, die der Text durch das Beharren auf seiner operativen Medialität aufrechterhält. Diese operative Medialität durchzieht als Transkriptivität alle im Text zirkulierenden und beobachteten Eigenzeiten wie 219 Archäologisch arbeitet Kluge gleich zweifach: Er eignet sich die diskursiven Strategien der Rekonstruktion der Eigenzeit materieller Relikte an. Mit einer archäologischen Optik lassen sich so naturhistorische und kulturgeschichtliche Tiefenzeiten zusammenbringen (vgl. Korte: Archäologie in der viktorianischen Literatur, S. 111-114). Er verfährt aber auch archäologisch im Sinne der Semantik der Archäologie bei Foucault. Dessen methodische Konzeption fußt auf einer epistemologischen Archäologie, die es erlauben soll, »ganz andere Geschichte« zu schreiben (vgl. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 197).

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auch die Eigenzeit des Textes selbst, in den jene verwoben sind.220 Diese reflexive Charakteristik der Textmedialität und Temporalität der textinternen Operationen soll im Folgenden ausführlicher untersucht werden.

T RANSKRIPTIVE E IGENZEITEN Das Modell der Transkriptivität geht auf Ludwig Jäger zurück. Unter Transkriptivität versteht Jäger eine übergreifende »mediale Operationslogik«221, auf der die Zirkulation kultureller Semantik wie auch die Prozessualität von Kommunikation basieren. Das Modell dient der Identifikation einer Verfahrenslogik, die die Kopplungslogik von Symbolsystemen beschreiben soll, und zwar unabhängig von deren »Struktur, Reichweite und Komplexität […] und Vernetzungsdichte«222. Mit Blick auf Rortys Diktum, es gebe keinen archimedischen Transzendenzpunkt jenseits »unserer gegenwärtigen Darstellungssysteme«223, entfaltet Jäger von dieser Suspendierung transmedialer Exteriorität aus eine medienimmanente Sinnlogik, die Sinnerschließung und Sinnkonstitution paradox zusammendenkt. Von heuristisch zentraler Relevanz ist in diesem Kontext die Frage, wie Symbolsysteme in das »komplexe[ ] Netzwerk kultureller Texturen eingewoben«224 sind. Ausgehend von zeichen- und kommunikationstheoretischen Prämissen und im Anschluss an seine Arbeiten zur rekursiven Parasitierung des Originären steckt Jäger die operativen Koordinaten dessen ab, was er Transkription nennt, und das er als primären Vollzug »semantische[r] Ratifizierung von Symbolsystemen«225 versteht. Transkriptionen sind paradoxe Operationen, die im Rahmen kultureller Semiose die Lesbarkeit von 220 Damit gehe ich über die zutreffende, aber an der Kategorie des Dokumentarischen und nicht an symbolsystemischer Transkription orientierte, nicht-normativ-funktional interpretierende »operative Ästhetik« hinaus, wie sie Klaus L. Berghahn auch für die Texte Kluges festgestellt hat. Diese operative Ästhetik manifestiert sich laut Berghahn in der Dokumentarliteratur dadurch, dass diese »sprachlich schon verarbeitete Wirklichkeit [zitiert] und […] antiillusionistisch [montiert], indem sie die Kontinuität der vorgefundenen heterogenen Dokumente zerstückelt, wesentliche Teile neu zusammenfügt, ohne die Nahtstellen und Brüche zu kaschieren; denn es soll keine Ganzheit, Kontinuität oder Synthese vorgetäuscht werden, wo durch Diskontinuität und Brüche die widersprüchliche Wirklichkeit bis in den Sprachgestus kritisiert wird.« (Berghahn: Operative Ästhetik, S. 272) 221 Jäger: Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität, S. 305. 222 Jäger: Transkriptivität, S. 9. 223 Rorty: Der Spiegel der Natur, S. 321. 224 Jäger: Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität, S. 307. 225 Jäger: Transkriptivität, S. 9.

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Symbolsystemen erst sicherstellen. Jäger schlägt folgende terminologische Spezifizierungen für die Elemente dieser Operationen vor: »Die symbolischen Mittel, die das jeweils transkribierende System für eine Transkription verwendet, nenne ich Transkripte und die durch das Verfahren lesbar gemachten, d.h. transkribierten Ausschnitte des zugrundeliegenden transkribierten Systems Skripte, während das zugrundeliegende symbolische System selbst (in seinem transkribierten Status), das fokussiert und in ein Skript verwandelt wird, als […] Präskript bezeichnet werden soll.«226

In dieser Bestimmung der Verfahrenskomponenten klingt bereits eine Logik der Prozessualität an. Kulturell lesbar werden Symbolsysteme erst dadurch, dass sie durch transkriptive Verfahren einen je spezifischen Skriptstatus erfahren. Dabei sind intermediale und intramediale Verfahren zu unterscheiden. Intermediale Transkriptionen erschließen transkribierend die Lesbarkeit von Symbolsystemen über Symbolsystemgrenzen hinweg, während im Fall intramedialer Transkriptionen symbolsysteminterne Semantisierungen des konkreten transkribierten Symbolsystems stattfinden. Das Konzept der Transkriptivität ist daher nicht auf skripturale Symbolsysteme (Texte) beschränkt, sondern sucht eine medienübergreifende Interrelations- und Interaktionsmatrix zu formulieren, mit der Texte, Bilder, Filme und digitale Mediensysteme gleichermaßen und in ihren Wechselwirkungen, Transformations- und Übersetzungsverfahren beschrieben werden können. Die entscheidende epistemologische Spezifik dieses Modells liegt im Konzept einer temporalen Verwobenheit und Verschränkung von Präskript, Transkript und Skript: »Obgleich das Präskript der Transkription vorausgeht, ist es als Skript doch erst das Ergebnis der Transkription. Insofern darf man […] nicht davon ausgehen, dass zwischen Präskript/Skript und Transkript ein einfaches Verhältnis der Abbildung besteht […].«227 Das Verhältnis zwischen den beiden Symbolsystemen Präskript und Skript ist gebunden an eine »eigentümliche Beziehungslogik«228, die Skript, Präskript und Transkript auf ein Ereignis zusammenzieht. Vom Standpunkt aktualisierter Sinnhaftigkeit des Skripts fallen Skript und Präskript operativ zugleich, wiewohl erst mit dem Transkriptionsakt das Skript seinen Status und seine aktualisierte Lesbarkeit erfährt. Mit andern Worten: Skripte sind daher eventualistische Effekte semiologischer Lesbarkeitserschließung, aber aus ihrem paradoxen temporalen Status ergibt sich auch eine ontogenetische Konstitutionsparadoxie. Denn die Transkription ist ein einfach-zweifachgenerativer Konstitutionsprozess. Ihr transkriptiver Output ist ein Artefakt, das in einer Operation zweifachen Output generiert. Wenn es zutrifft, dass jede Transkription ein In-Form-bringen präskriptiver Symbolsysteme prozes226 Ebd. 227 Ebd., S. 10. 228 Ebd., S. 9.

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siert, dann liegen das Skript und das lesbare Präskript stets gleichzeitig vor. Denn die operative Ereignisstruktur der Transkription zeitigt im In-Form-bringen von Skripten auch die Gleichzeitigkeit von Präskript, Transkription und Skript. Was auf den ersten Blick als sukzessive Reihe erscheint – erst der Prätext, dann die ›Bearbeitung‹ und der Transmissionsvollzug durch Transkription und schließlich als dessen Effekt das Skript – ist ein einziger Konstitutionsprozess, der auf ein Transkriptionsereignis zurückgeht. So wie jede Kommunikation erst durch eine Anschlusskommunikation, jede Bewusstseinsoperation durch eine folgende nur als gegenwärtige vergegenwärtigt werden kann, so erhalten Symbolsysteme ihren Skript-Status erst ex post durch eine intramediale oder intermediale Einspeisung und Ratifizierung im Rahmen medialer und kultureller Semantiken. Was hierbei zum Vorschein kommt, ist die operative Struktur dieses Modells, das es für eine weitere Konturierung der ästhetischen Eigenzeit der Schlachtbeschreibung fruchtbar erscheinen lässt. Denn einerseits erweist sich ihr Text als Konvolut einer Vielzahl von Symbolsystemen, deren Lesbarkeit sich aus ihrer Darstellung und Verortung im Textfeld ergibt. Und andererseits kann nun auch das operative Verfahren der Transkription und das spezifische Lesbarmachen der Eigenzeiten dieser Symbolsysteme als Skripte wie auch des Transkripts Schlachtbeschreibung selbst ins Blickfeld einer Analyse von heterogenen Zeittexturen gerückt werden. Blickt man also mit einem transkriptionssensitiven Beobachtungsraster auf die Textgestalt, dann lässt sich dem Darstellungsverfahren eine weitere Seite abgewinnen, die unmittelbar auf die Eigenzeitlichkeit der Textelemente wie auf die ästhetische Eigenzeit des Textes auf der Makroebene bezogen ist. Indem sich Kluge für eine heterogene und relational locker bis chaotisch arrangierte Skript-Vielfalt entscheidet, erzeugt er ein semantisches Spannungsfeld, das im Hinblick auf Assoziationen und Ordnungsmöglichkeiten einem irritativen Modell der Wissensgenese und -vermittlung verschrieben ist und damit eine historiographische Sonderrolle annimmt. Allerdings ist dieses irritative Modell kein radikal oppositioneller Entwurf, der sich frei macht von Zeit-, Ereignis- und Geschichtsparadigmen und -semantiken, wie sie diskursiv dominant zirkulieren. Vielmehr sind diese eingearbeitet, stehen nebeneinander und bilden relationale Verweisungsstrukturen, die gleichsam als Dialog der Semantiken gelesen werden können. Das Mehrwissen, das der Text hier vermittelt, besteht in diesem Sinne in der ästhetischen Formierung konkurrierender Transkriptionen von Ereignissen, Quellen, Zusammenhängen, Retrospektiven und Prognosen. Was in den Geschichten, Anekdoten, Berichten, Interviews, Kommentaren, Abbildungen, Erzählungen und Beschreibungen, die referentiell mehr oder weniger auf Stalingrad zu oder davon weg laufen, zur Geltung kommt, ist, mit welchen symbolischen Mitteln, rhetorischen Strategien, diskursiven Praktiken und chronotypologischen Weichenstellungen die Kommunizierbarkeit und Lesbarkeit von Ereignissen und Geschichte ihre funktionale Bestimmung erfahren. Die Darstellung der Ereignisse in Stalingrad wie auch die Relevanz der historischen

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Vorgeschichte und Tiefenzeit (»die Ursachen liegen 72 Tage oder 800 Jahre zurück«) verteilt Kluge auf divergierende diskursive Positionen: auf die Planer des Winterkriegs in den »Richtlinien zum Winterkrieg«, die Initiatoren der Kampfhandlungen auf der Führungsebene (»Sprache der höheren Führung«), die befehlsempfangenden Soldaten (»Die Praktiker«), das mit den Folgen der Befehlsausübung ex post konfrontierte medizinische Personal (»Die Ärzte«), den ideologisch zugeschnittenen »Rechenschaftsbericht«, die kommentierenden »Unglückstage« und auf die propagandistisch Ereigniskommunikation determinierende »Pressemäßige[ ] Behandlung«. Gleiches gilt für die Geschichtsauffassungen des Mythenforschers Zöberlein ebenso wie für die Geschichtsauffassung der positivistischen Historiker und Zeitforscher sowie der Geschichtslehrerin Teichert. Alle diese Perspektiven und Wahrnehmungen laufen nicht zusammen als Einzelfäden zu einer großen Fabel ›Stalingrad‹, die es zu erzählen gälte, und in der die Ereignisse ihren historisch fixen Ort und die Zusammenhänge ihre chronologische Evidenz erhielten. Ihre Transkriptionsvollzüge ergeben kein Mosaik, in dem alles an seinem richtigen Ort sitzt und so ein Tableau der Ereignisse offenbart. Teils stützen sie einander, meist jedoch stehen sie in Konkurrenz zueinander, stellen sich gegenseitig in Frage oder markieren Lücken und Verfehlungen der anderen. Die Ereignislandschaft der Geschichte bleibt unter diesen Vorzeichen ein unübersichtliches Gelände, denn der zwischen panoramatischer und detailfokussierender Optik hin und her wechselnde Blick der Schlachtbeschreibung liefert kein Gesamtbild verwobener Ereignisse und Erzählfäden, sondern die wechselseitigen Interventionen heterogener Zeiterfahrungen, die auf ein kaum überschaubares Figurenarsenal verteilt sind und nebeneinander herlaufen. Das gilt für die Transkripte der Zeitzeugen in gleichem Maße wie für die Postskripte der Historiker und der Lehrerin Teichert. So suchen etwa Teicherts Transkriptionsvollzüge die historischen Ereignisse neu zu bestimmen, um deren Deutung gekämpft wird. Diese werden dazu in eine andere semantische Ordnung eingesetzt, in der die zu bewertenden Ereignisse erst an einer diskursiven »Grundlinie«229 ihre Ausrichtung erfahren. Teicherts Grundlinie sieht vor, dass die Transkription der Quellen mündlich erfolgen muss, im Modus der Anwesenheit eines Erzählenden, dessen Stimme für die historische Authentizität der geschilderten Ereignisse zu bürgen hat. Ihr epistemologisches Dilemma lautet daher, »daß sie Geschichte hören muß, irgendwer muss dasitzen, oder vor ihr stehen, und ihr etwas erzählen. Sie kann aus Kleingedrucktem in dicken Büchern keine Geschichte entnehmen. Vielmehr müssen Tonfall, Sitzhaltung, Beziehung einer Person zu dem Gesagten und zu ihr hinzutreten. Hieraus zieht sie Rückschlüsse auf die Historie. Sozusagen muß sie in Gesellschaft sein, wenn sie mit Geschichte umgeht.«230 229 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 735. 230 Ebd.

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Teicherts ›Grundlinie‹ orientiert sich an den oralen Strukturen eines Interaktionssystems, das die vox viva phänomenologisch koppelt an den ontologischen und diskursiven Status der Kommunikabilien. Erst in der raum-zeitlichen Koexistenz von Wissendem und Unwissendem bzw. der Kommunikationspartner kann es aus ihrer Sicht zu sättigender Explikation der historischen Sachverhalte der Geschichte wie auch der mentalen Sachverhalte der Interagierenden kommen. Es ist die Geschwindigkeit der gegenseitigen Irritation der Bewusstseine, die diese Explikation ermöglichen soll, und die der Schrift abgeht. Gerade weil »aber kaum jemand in Gabi Teicherts näherer Umgebung über Stalingrad mehr als nötig redete«, also aus der Tabuisierung des Themas in Alltagskommunikation heraus, erhält Teicherts historische Haltung den Brennstoff, mit dem sie »opponiert gegen alle Darstellungen, […] in denen irgend etwas, was in Stalingrad geschah, als ›notwendige Folge‹ von etwas bezeichnet wird.«231 Aus dieser Grundhaltung heraus formuliert ihre Lektüre der Ereignisse eine konträre Navigations-Option durch die Geschichte. Die Vorteile einer oralen Transkriptivität, die für Teichert näher am Körper, der Stimme, dem Bewusstsein sitzt, muss, um sie als Trumpf gegen die Fülle an textuellen Symbolsystemen zu Stalingrad ausspielen zu können, zunächst die Verweisungsstruktur der Sprache als Zeichensystem ausblenden. Sie initiiert aber einen weiteren Kurzschluss, den Kluge im Modus der Replik spiegelt, ohne dass klar würde, ob in diesem Fall denn Teicherts Grundlinie einer notwendig raum-zeitlichen Interaktionssphäre Genüge geleistet wird. Teicherts These von der Möglichkeit eines Ausbruchs aus dem Kessel von Staöingrad lässt Kluge nicht unkommentiert: »Darin ist sie unvorsichtig, sagt der Kursleiter Dörrlamm, der einerseits Lehrerweiterbildung betreibt, andererseits Kontakte zum Fachbereich 9 der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität unterhält (Historiker). Sie verweigert die Problemstellung. Zu einem geschlossenen Ausrücken war ja eine Vorverständigung notwendig. Feldgendarmerie (im Hintergrund die Kriegsgerichte), eingeschliffene Befehlsordnung, Gewohnheiten, Weihnachtsfest, Vertrauen in frühere Taten der verschiedenen Vorgesetzten hätten, so Dörrlamm, einem solchen Massenausbruch entgegengestanden. Um so schlimmer, wenn man daran glaubt, antwortete Frau Teichert. Sie war der Ansicht, ohne das näher ausführen zu können (sie hatte nicht genug darüber gehört), daß ›in der Not solche allgemeinen Verständigungen und Verabredungen geradezu blitzartig, entgegen aller Medienarbeit oder sonstigen Ordnung, stattzufinden pflegen‹«.232

Indem Teichert die Blitzartigkeit psychischen Verstehens hypostasiert zu einer universellen Kausalmatrix der Verkettung von Ereignissen, erscheint sie als eventualistische Opponentin eines Regelwissens, das von der Eigendynamik einzelner Ereig231 Ebd. 232 Ebd., S. 736.

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nisse abstrahiert und die katastrophalen Folgen der Vorkommnisse in Stalingrad in eine symbolische Ordnung bringt, die sich mit den Regelvorstellungen temporaler Ordnungen deckt. Teicherts Analogismus von Wissenstransfer und Katastrophenvermeidung läuft dabei entlang zweier utopischer Präsenzfiguren: Die erste ergibt sich aus Teicherts kategorialer Unterscheidung zwischen mündlichen Interaktionsereignissen und Schriftkommunikation, aus der sich ihr eigentümliches Vertrauen in Wissen und scheinbar unmittelbare Vermittelbarkeit speist. Erst dadurch, dass semiologische Aushandlungen nur der schriftlichen Transkription zugeschrieben werden, kann Teichert den symbolischen Mitteln der Prosodie, der Gestik und Mimik und der Präsenz des Erzählers bzw. Vermittlers von Wissen attestieren, mit ihnen sei ein Zugriff auf die Vergangenheit, auf die Ereignisse, auf den Kern der Geschichte und vor allem auf deren anders mögliche Verläufe zu bewerkstelligen. Ihr entgeht gleichsam aber die Erkenntnis, dass ihr Sinnprozessieren operativ nicht »zwischen [den] Bedingungen der Existenz von Realobjekten und Bedingungen ihrer Erkenntnis zu unterscheiden«233 vermag. Von hier aus gewinnt die zweite utopische Präsenzfigur Kontur. Denn an dieser Stelle im Text artikuliert sich eine merkwürdige metaleptische Schleife, weil Teicherts Widerwillen gegenüber der organisatorischen Blockade gegen das Unerwartete – das plötzliche Ereignis der Verweigerung – sich an einem wichtigen Punkt auch gegen das Projekt der Schlachtbeschreibung selbst zu richten scheint. Während Teichert von einer blitzartigen Verschaltung der Akteure ohne den Einsatz »aller Medienarbeit und sonstiger Ordnungen« ausgeht, baut die Schlachtbeschreibung strukturell gewissermaßen ein argumentatives Gegenregister auf. Denn sie leistet durch die Transmission der faktualen und fingierten Dokumente gerade den Aufbau jener Komplexität und jener Organisation, die Blitzartigkeit und Plötzlichkeit als Subkategorien des Wunderbaren desavouieren. Denn eine solche Blitzartigkeit (die zudem die Assoziation zum ›Blitzkrieg‹ aufruft), folgt derselben Geltungslogik, mit der die Hierarchisierung und Mythisierung des Ereignisses Stalingrad im zeitgenössischen ideologischen Propagandadiskurs wie auch im Traumadiskurs der Nachkriegszeit betrieben wurde.234 Hervorgehoben wird die diskursive Distanz, die der Text mal vorsichtig implizit, mal offensichtlich explizit gegen solche Geltungslogiken einnimmt, nicht nur durch den Erzählereinschub (»sie hatte nicht genug darüber gehört«), der auf den quasiintuitiven Charakter der Position Teicherts hinweist. Entscheidend ist eher, dass Teicherts Interpretation der Optionen in Stalingrad auf einer transkribierten Information beruht, die der Text hier erneut transkribiert, als Zitatausschnitt selektiv präsentiert und damit Legitimationsrisiken aussetzt. Was hier zur Geltung kommt und was sich in der Figur der Lehrerin Teichert gespiegelt findet, ist die Denkfigur homogenisierter Eigenzeiten, die erst denkbar macht, dass sich 233 Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 17. 234 Vgl. Zelger: Wider die Macht des autorisierten Blicks, S. 57.

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Gedanken, Gefühle, Erwartungen, Kommunikationen, Handlungen, »entgegen aller Medienarbeit oder sonstigen Ordnungen« wundersam synchronisieren ließen. Was dabei an den Rand gedrängt wird, ist die jähe Tiefe der Zeit der Ereignisse in Stalingrad, wie sie der Text polyperspektivisch freilegt.235 Abgedrängt wird auch die Eigenzeit der Wünsche, Hoffnungen, Ängste, Leiden des Einzelnen, dessen Selbstsein nicht unwesentlich von dieser Eigenzeit bestimmt ist, wie die Passage »ArschZeit« – als »Episode vom Juni 1941« untertitelt – eindrücklich schildert: »Der große Tag erwischte den begabten Offizier [Gert P.; M.G.] ›auf dem falschen Fuß‹. Solche Wortspiele sind undeutlich. […] Er hatte kaum Schwierigkeiten mit seiner Truppe, […] keine Schwierigkeiten mit dem Gegner oder dem Wetter […]. Überrascht worden war Gert P. nur durch zwei Vorgesetzte, die auf der Hinterbank des Kübelwagens die Frontfahrt begleiteten, und so schämte sich der Offizier, anzuhalten und sein morgendliches großes Geschäft zu verrichten. Das dauerte, mit Aufstreichen der Salbe auf die Hämorrhoide, 10 - 15 Minuten und hätte in der Eile nicht funktioniert. Nicht die Eile des jugendlichen motorisierten Verbands, der Stolz der Truppe, sondern das hohe Tempo der Schamgefühle erschütterte die körperliche und im Gefolge davon die geistige Stabilität des Offiziers, so daß er spätnachmittags wie besinnungslos auf seinem ›tief schmerzenden‹ Arsch saß in der Hoffnung, das Ende dieses Tages zu erreichen.[…] Diesen Arsch konnte P. nicht wie gewohnt nach vorne werfen. […] Der Regimentsarzt […] verstand ihn nicht ganz. Hatten Sie keinen Mut, das Fahrzeug anzuhalten, sich in die Büsche zu schlagen? […] Sie müßten sagen: Ich muss scheißen, einen Augenblick bitte, meine Herren. Das, meinte der Offizier, habe er nicht wagen können. Es sei nicht üblich in dieser Form, und wenn es geäußert würde (gegenüber Generalstäblern), ergänzte P., bezöge es sich auf etwa 1 Minute. In einer Minute aber kommt bei mir nichts. Zehn Minuten, ohne das Gefühl der Eile, sind das mindeste, sonst helfen auch 20 oder 30 Minuten in den Büschen nichts. […] P. war eingesperrt in den Kübelwagen, dieser gefesselt an den Vormarsch. Alles zusammen aber eingesperrt in den Kodex dessen, was für üblich galt. Es ist üblich, zu sterben oder sich durch einen Granatsplitter den Bauch zerreißen zu lassen, nicht aber, die Afteröffnung zu karessieren oder die Zeit für ein vertrauenswürdiges Geschäft abzuzweigen. […] Der Regimentsarzt hatte Mitgefühl mit dem jungen Kameraden, der wenige Tage später fiel. Er hätte zum rechten Zeitpunkt scheißen müssen, rechtzeitig.«236

235 Walter Benjamin spricht im Hinblick auf sein Kompendium Einbahnstraße von der Darstellungsform der ›jähen Tiefe‹: »Es ist eine merkwürdige Organisation oder Konstruktion aus meinen ›Aphorismen‹ geworden, eine Straße, die einen Prospekt von so jäher Tiefe – das Wort nicht metaphorisch zu verstehen – erschließen soll« (Benjamin: Briefe I, S. 433). Das Organisationsprinzip der Schlachtbeschreibung liest sich über weite Strecken wie die Realisation der Benjaminschen Blaupause. 236 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 717-719.

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In der transkriptiven Lesbarmachung dieses biographistisch konturierten Symbolsystems »Episode« im Transkriptionskontext der Schlachtbeschreibung wird die Demontage der Epiphanie des kairologischen Zeitpunkts vorgeführt. Die Handlung zur rechten Zeit – und sei es nur die der ordinären Notdurft – kann sich nicht als herausgehobene Eigenzeit realisieren, da sie der normierenden Zeitökonomie des Massenkrieges unterworfen ist, und der Text sie zudem auf der Ebene der histoire als Kreuzungspunkt organisierter und chaotischer Eigenzeiten und Zeitverläufe zu einem Erzählereignis stilisiert. Dieses Ereignis ist erzähltes Ereignis und Textereignis zugleich. Dadurch kommen zwei Ereigniskomplexe zusammen: Einerseits der dem factum brutum des Krieges notwendig eingeschriebene organisatorische ›Kodex‹ der kollektiven Synchronisation und völligen Zusammenlegung der Eigenzeiten; andererseits die Mitteilung über den Tod des seiner physischen Eigenzeit gleich zweifach beraubten Offiziers, die als punktuelles Ereignis erscheint. Ereignishaftigkeit kommt der Episode damit zweifach zu: als erzähltes Ereignis und als transkriptives Darstellungsereignis, dass die Ereignishaftigkeit des erzählten Ereignisses erst im Spannungsfeld der anderen Transkripte in der Schlachtbeschreibung zutage treten lässt. Der Text treibt die Ereignishaftigkeit der Transkriptionsereignisse als relevante Rezeptionsgröße aber noch weiter und verkompliziert diese zusätzlich. Was hierbei zur Geltung kommt, ist der Umstand, dass die Semantisierung von Skripten durch Transkription weitere Semantisierungen nur wahrscheinlicher machen, nicht aber determinieren kann. Da Transkriptionen sinnhafte Ereignisse sind, die kontingente Aktualisierungen vollziehen, führen sie stets auch die Möglichkeit des crossing mit sich, dass einem Folgeereignis, einem Postskript überlassen bleiben muss. Zwar sind Realisierung (Form) und Möglichkeiten (Medium) gleichzeitig gegeben und koinzidieren konstitutiv notwendig, aber nur durch Zeit, die durch eine weitere Operation erst erzeugt werden muss, kann die Angemessenheit der Transkription bewertet werden. Hierdurch perpetuiert ein Verkettungsszenario, in dem »konkurrierende Transkriptionen […] ihrerseits als Skript-Behauptungen das iterativendlose Spiel der Lektüren in Gang halten.«237 Solche Postskripte können affirmierend-bestätigende oder pejorativ-intervenierende Bewertungen vorheriger Skripte darstellen. Das gilt in besonderem Maß für die Materialität der Konstruktion von Ereigniszusammenhängen. Diese sind in diesem Sinne lesbar als Epiphänomene transkriptiver Selektions- und Verknüpfungsprogramme und -semantiken, mit denen erst die Ordnungen symbolisiert werden, die als stringent und kohärent wie auch als chronologisch bzw. kausallogisch angemessen diskursiviert werden. Gegen die diskursiven Wahrnehmungs- und Transkriptionsformen wie auch gegen die Alltagssemantik und die Semantik des Subsystems Geschichtswissenschaft beharrt Kluge auf der Fähigkeit des »geduldigen komplexen Wahrnehmens, das 237 Jäger: Transkriptivität, S. 11.

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dem Leser als Vermögen innewohnt, und für dessen horizontale Assoziationsweise es eines spezifischen ästhetischen »Klettergeräts[s]«238 bedarf. Die horizontale Assoziationsweise nun realisiert die Schlachtbeschreibung durch die Aufsplitterung der homogenen und hermetisch gedachten linearen Zeit in aus dem Diskurs verbannte gleichzeitige oder sich überlappende Gegenwarten und Vergangenheiten. Der ästhetische und poetologische Kontrast, der einem im Vergleich mit ›konventionellen‹ Narrationen ins Auge springt, entspringt der provozierenden Textorganisation, die einer »vertikalen Assoziationsweise« abschwört, um ein temporal komplex(er)es postkriptives Korrektiv zu artikulieren. Diese temporale Komplexität schlägt auf die Symbolebene des Textes durch. Deutlich wird dies insbesondere dort, wo der Text die iterative Transkriptionspraxis als mise en abyme an sich selbst vollzieht und sich somit in den Strudel semantisierender Zeitlichkeit zieht, den er präsentiert. So werden ganze Signifikantenketten identisch wiederholt, erleiden Kontextverlust und begegnen an anderer Stelle und in anderem Kontext wieder. Diese Wiederholungen finden statt zwischen den Abschnitten, unabhängig von der Textsortenspezifik oder den medialen Eigenheiten der Symbolsysteme, in denen sich die Wiederholungen ereignen. Besonders auffällig ist dies dort, wo die erneute Einspeisung von Signifikantenketten über die Grenzen kategorial getrennter Textebenen hinaus stattfinden. So findet sich im Abschnitt »Nachricht«, der als Einleitung fungiert, ein als Zitat markierter Bericht: »Natur, Sonne. Über die Augen eines vereisten Toten auf einer Anhöhe haben sich Krähen hergemacht. In der Steppe sind Vögel ungewöhnlich. Die kleine weiße Sonne, die durch eine weißliche Dunstschicht zu sehen ist, hat die vertraute Tünche abgelegt, hilft nicht. Ein tags offener Himmel bringt unbarmherzige Kälte, Luftmassen von Astrachan, die nicht bereit sind, sich auf menschliche Maße einzustellen.«239

Nicht nur wird das mitgeteilte Szenario im Bericht schon als ungewöhnlich ausgestellt, auch der Sprachduktus ist außerordentlich. Er weicht durch seine Metaphernsprache und Poetizität erheblich ab vom ästhetischen Muster der anderen Abschnitte im Text. Insofern ist der Bericht durchaus ein Darbietungsereignis, auch oder gerade weil deiktische Hinweise knapp ausfallen und Ort und Zeit der geschilderten Szene unterdeterminiert bleiben. In dieser Hinsicht – aber vor allem aufgrund seiner graduell höheren Poetizität - sticht dieser Bericht aus den vorgängigen und nachfolgenden Sinnstrukturen heraus.240 Dieser Bericht entpuppt sich als Transmission aus 238 Kluge: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin, S. 195. 239 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 514. 240 Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die anderen Abschnitte in einem frame untergebracht wären, der sie homogenisiert. Vgl. zum Begriff des frame als Schemakonzept das Kompendium von Busse: Frame-Semantik.

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dem Tagesbericht vom 21. Januar 1943, wie ihn die »Unglückstage« präsentieren und wo er wortwörtlich im ko-textuellen Umfeld institutionalisiert reduzierter Sprache auftritt. Insofern bedient sich das Organisationsverfahren im Text einer reduktiven Iterationspraxis, die durch wiederholte Transkription erst zeitliche und semantische Differenz erzeugt und dem Darbietungsereignis mehrere Positionen und damit auch mehrere Ereigniszeiten zuweist. Durch die mehrfachen Transkriptionen werden aisthetische Wiederholungen vollzogen, die ästhetische und semantische Differenzen prägen, die ähnlich figuriert scheinen wie die rezeptionsnormative Differenz von Original und Kopie. Und mit der semantischen Differenz geht auch eine Erzählwertverschiebung einher, die sich aus der reduktiven Pointierung, auf die der Zitatausschnitt abzielt, ergibt. Primär als Teil eines dokumentarischen Berichts und somit als Quellenmaterial ausgewiesen, gewinnen die fünf Sätze durch ihre De- und Rekontextualisierung dynamischen semantischen Eigenwert. Sie sind dadurch nicht redundante Wiederholungen, sondern interferieren als akzentuierte und akzentuierende Transponierungen von Ereignishaftigkeit mit ihrer Text- und Zeichenumwelt, weil sie unterschiedlichen symbolischen Kontexten unterworfen werden. Was als fiktionales Konstrukt vom Autor in den Text eingespeist wird und sich durch seine poetische Sprachform als Fremdkörper im Sprachduktus der historischen Quellen etikettiert, ruft der Text an anderer Stelle bereits als Quellenfaktum ab, das als fremde Kommunikabilie durch Zitatmarkierungen einen historisch-positivistischen Zeitindex erhält. Exponiert wird dadurch, wie unterschiedliche Transkriptionen divergierende semantische Ordnungen produzieren können. Der Literatur kommt hier zugute, dass sie nicht an die »Ordnungsmachenschaften«241 kontingenzreduzierender Semantiken und Narrative gebunden ist. Die wiederholte Transmission von Text im Wortlaut arbeitet gegen die mechanistische Kausalität, die das Erzählen von Geschichte zu rekonstruieren sucht, indem sie den kontingenten historischen Verlauf mit kontingenten historisierenden Kausalitätsketten versorgt. So werden die Ereignisse stets neu auf kurze Erzählfäden gereiht, die nur für den aktualisierenden Moment zur Trasse einer historischen Notwendigkeit erstarren. Die Ereignisse, von denen die Schlachtbeschreibung polyphon berichtet, tragen in diesem Sinne multiple Zeitsignaturen und deformieren somit jedes Bemühen, sie mit einem singulären Zeitindex zu versehen und ihnen so einen Punkt in der Kette der Ereignissukzessionen fest zuzuweisen. Was damit gegeneinander läuft sind erzählte Gegenwart und Erzählgegenwart bzw. dokumentierte Zeit und Zeitdokumentation. Und dabei zeichnet die Poetik der Schlachteschreibung aus, dass sie die von ihr geleisteten retrospektiven Versuche der Sinnkonstitution per eventum post eventum nicht leugnet. Durch diese produktionsästhetische Entscheidung motiviert sie nicht nur Anschlüsse an die Mitteilungsseite, sie macht sie durch den autoreflexiven re-entry der Unterscheidung von Information (Skript) 241 Zelger: Wider die Macht des autorisierten Blicks, S. 45.

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und Mitteilung (Transkription) sogar annähernd unausweichlich, weil die Sinnereignisse im Text zwischen der Seite der Information und der Seite der Mitteilung oszillieren. Das Beharren auf Stalingrad wird letztlich zur literarischen Entgrenzung des Sinns, indem Sinn nicht auf Ruhe gestellt wird. Dafür sorgen die iterativen Dementierungsbewegungen der Wiederholung, die Sinn stiften und ihn in einem nächsten Mitteilungsereignis aufheben. Das Beharren – so ließe sich mit Blick auf die Ereignisfülle, die der Text präsentiert, sagen – bündelt Sinn, um mit dem nächsten Ereignis seine neuerliche Zerstreuung anzustoßen. Der fiktionale Zugriff auf Stalingrad als prädiskursives, prämediales historisches Ereignis bringt im Textraum in Form reidentifizierender Ausgrabungen historischer Zeiten stets nur Verschiebungen vorheriger Identifizierungen, vorheriger Interpretationen dieser Zeiten hervor. Indem sich der Text dabei wiederholt selbst zitiert, leistet er auch selbstreferentielle Re-Lektüren und wird sich selbst zum anschlussfähigen Ereignis, das sich in sich selbst vervielfältigt. In das Netzwerk der historischen und poetischen Elemente nisten sich somit Wiederholungen ein, die die selbstreferentielle Selbstpräsenz des Textes immer wieder an die Phänomenalität des Bezeichnens binden, der sie sich konstitutiv verdankt. Der Text kommt gewissermaßen sich selbst auf die Spur. Das gilt erst recht auf mikrostruktureller Ebene für die Transkriptionsereignisse. Ihre Selbstpräsenz verdanken sie der fremdreferentiellen Gabe einer Transkription, die sie als Präskript erst entwirft. So sind die Skripte Sich-selbst-Fremde242, da sich ihre Raumkoordinaten und die Zeitstellen, die sie ereignishaft besetzten, vervielfachen. Dabei sind diese Koordinaten und Zeitstellen auf der Ebene der vernetzten Textwelt präziser ansteuerbar als z.B. die Ort- und Zeitangaben in den Legenden der Abbildungen, die zumeist vage bleiben oder gar mehrdeutig ausfallen. Diese Vervielfachungen folgen keinem Muster, entspringen keiner das Ganze ordnenden Matrix und setzen damit auf die komplexe Wahrnehmung, die Kluge in seiner Poetologie für die ästhetische Haltung des Kunstbetrachters einfordert. Wenn die Schlachtbeschreibung die Polyphonie der Stimmen, die Polychronie der Eigenzeiten und die Polykontexturalität der Semantisierung von historischen Ereignissen und Ereigniszusammenhängen rezipierbar macht, indem sie Ereignisfüllen kaleidoskopartig ausbreitet und miteinander interagieren lässt, um die Echos dieser Interaktionen abzufangen, dann hat das auch Auswirkungen auf das Zeitwissen, das der Text aufruft. Denn die intra- und intermediale Praxis der Ereignisdarbietung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Eigenzeit der Elemente als Komponenten der Textmaterialität und weg von den historischen Zeitstellen, die sie zu repräsentieren vorgeben. Diese Praxis der Bezugnahme vollzieht sich in Operationen sekundärer Originalität, so dass sich die Dokumentar- und Originalitätsmerkmale als nachträgliche Attribuierungen verstehen lassen. Ausschlaggebend ist daher nicht, wie die originäre Identität und damit die Eigenzeit242 Ich denke dabei an Kristeva: Étrangers à nous-mêmes.

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lichkeit dieses Materials rekonstruiert werden kann. Vielmehr tritt in den Vordergrund, welche semantischen und semiotischen Verschiebungen sich ereignen, wenn man die Schlachtbeschreibung nicht nur als Beobachtung zweiter Ordnung, sondern diese Beobachtung auch als transkriptive Operation begreift. So verstanden rekonstruiert der Text in seinem generischen transkriptiven Spiel erst Lesbarkeiten und Unlesbarkeiten von Zeitlichkeit, die zusätzliche sinnstiftende Rezeptionsakte provozieren, weil die sinnlich wahrnehmbare transkriptive Prozesshaftigkeit des Textes wiederum wiederholt sinngenerische rezeptive Handlungen herausfordert. Die historischen Eigenzeiten sind in diesem Zugriff nur noch Funktionsgrößen, ohne privilegierten Anfang oder privilegiertes Ende, ohne privilegierte Vorgeschichte oder privilegierte Folge. Was hier nachgeahmt wird, sind nicht historische Ereigniszeiten, die Irreversibilität des Nacheinanders geschichtlicher Vorkommnisse oder kleine oder umspannende Kausalitäten und Chronologien erzählbarer vergangener ›Realstoffe‹. Es geht hier vielmehr um die »poetische Nachahmung respektive Erzeugung jener Kontingenz, mit der geschehende Geschichte jeden der Erzählfäden, aus denen sie gewebt ist, immer wieder durchkreuzt, verknotet oder einfach fallen lässt.«243 Wenn dies zutrifft, dann hat das Auswirkungen auf den erkenntnistheoretischen Stellenwert der Textwelt, denn die scheinbare Weltbezugnahme weist sich in dieser Kontextur aus als zweifache Selbstbezugnahme: zum einen als Referenz auf die transkriptive Medialität des Mediums Text und zum anderen als Referenz auf die Wiederverarbeitungen von Sinngenese, Symbolsystemen und kommunikativen Anschlüssen, die im Text der Schlachtbeschreibung gerade durch unerwartete Remediatisierungen einen eigenwertigen Diskursort erzeugen. Diese Eigenwertigkeit speist sich aus der rekursiven Selbstthematisierung dessen, was der Text im Modus seiner ästhetischen Eigenzeit auch an sich selbst als Verweissystem vollzieht.

C HRONOLOG ( IST ) IK – P HÄNOMENOLOGIE DER T EXTEVOLUTION »Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück […].«244

Ich habe im vorigen Kapitel den Text der Schlachtbeschreibung lesbar gemacht als eine nicht an statischen oder chronologischen Ordnungsparametern organisierte Fülle von Transktiptionsereignissen. Dem literarischen ›Programm‹ der Schlachtbe243 Honold: Die Stadt und der Krieg, S. 315. 244 Kafka: Briefe I, S. 36.

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schreibung geht es dabei weniger um die Frage nach anderen Möglichkeiten homogener und kohärenter Lesbarmachung historischer Vorfälle und Zustände, als vielmehr darum, die Lesbarmachung selbst zum Gegenstand zu machen und zum Ereignis zu erheben. Die Schlachtbeschreibung exponiert eine Vielzahl an Textsorten, Ausdrucksformen, Materialien, Perspektiven, Versprachlichungs-, Vertextungs- und Transmissionsmodi, ohne dadurch dem Schlüsselereignis Stalingrad näher zu kommen, als dies diskursiv je möglich ist. Auch wenn man sich vornimmt, den Text als Erinnerungsprozess zu lesen, der sich mit literarischen Montagetechniken Stalingrad als transsemiotisches Ereignis für ästhetische Erfahrung verfügbar und adressierbar zu machen sucht – man wird nicht weit kommen. Die Dementis einer solchen Möglichkeit wieder-holender Erinnerung liefert der Text selbst, indem er sich als AntiModell präsentistischer Memorialkulturen inszeniert. Nicht nur werden die vergangenen Zeiten gemischt, auch wird signalisiert, dass dies immer nur aus einer Sinn erst wieder stiftenden Gegenwart heraus stattfindet. Das Erinnerte ist durch diese Sinnstiftung gleich zweifach verzerrt. Zum einen wird Erinnerung als Effekt von Intentionen und kulturell und diskursiv gerahmten Entscheidungen und Handlungen vorgeführt245 – schließlich beschreibt die Schlachtbeschreibung nicht die Schlacht an sich, sondern Beschreibungen der Schlacht und Erinnerungen an sie. Zum anderen tritt neben diese Verzerrung die Infiltration der Unmittelbarkeit der Ereigniserfahrung durch die Medialität der semiotischen Weltkonstitution.246 D. h.: statt mit jeder weiteren Erinnerungsoperation dem Referenzgegenstand der Erinnerung Gegenwärtigkeit zu verleihen, treten immer mehr soziale Kontexte und taxierte Narrative und somit auch Bedeutungszuschreibungen zwischen das zeitlich irreversibel Vergangene und die Zeitstellen, an denen die erinnernden Operationen jeweils vollzogen werden. Die Schlachtbeschreibung bringt diese zweifache mnestische Verzerrung in einem einzigen Satz unter, der in Fettdruck und als Titel gesetzt einen ganzen Abschnitt und eine ansonsten fast komplett leere Seite dominiert: »›Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück‹«247

Dieser wie ein Motto in Szene gesetzte Aphorismus Karl Kraus’248 ließe sich auch dem Text insgesamt voranstellen, weist er doch im Bildfeld einer Entrückung bei gleichzeitiger visueller Präsenz eines Signifikanten darauf hin, wie aisthetische Intensität in Distanz umschlägt. Das Beharren auf dem Detail, das aus der Nähe erst 245 Vgl. zur Erinnerung als konkreter historisierender Denkfigur z.B. Schläppi: Geschichte als Gemeinplatz, S. 260 f. 246 Vgl. Jäger: Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität, S. 307. 247 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 740. 248 Kraus: Pro domo et mundo, S. 291.

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betrachtet das Signifikat entbergen soll, schlägt um in die Einsicht, dass der nahe Blick erst die extensionale, räumliche Kluft zwischen Beobachter und Beobachtetem aufreißt. So wird umgekehrt greifbar, wie durch das Beharren auf jenem Basiliskenblick, der sein Erblicktes stillzustellen sucht, erst die handlungstopographische Paradoxie einer struktursuchenden Aufmerksamkeit zutage tritt. Es geht Kluge nicht um ein Beharren auf einer greifbaren monolithischen Identität der Phänomene, weil dieses Beharren stets nur Distanz statt Nähe, Vermitteltheit statt Unmittelbarkeit erreichen kann. Eine solche isolatorische Wahrnehmungshaltung liegt ihm fern. Wenn also die Annäherung paradoxerweise in Distanz umschlägt, dann bietet es sich an, das Motto aus der Sphäre des Spatialen in die Sphäre des Temporalen zu übersetzen und operativ zu akzentuieren. Dann ließe sich formulieren, dass die Erinnerung – mit jedem operativen Vollzug des Erinnerns – das zu Erinnernde weiter wegschiebt, den Horizont der Vergangenheit weiter weg rückt. Mit jeder Repräsentation dessen, was sich der Präsenz des Gegenwärtigen entzieht, schieben sich weitere Ereignisse zwischen die historischen Zeitstellen und die Zeitstelle, an der der Beobachter erinnert und zu vergegenwärtigen sucht. Die Rekonstruktion einer vergangenen Gegenwart im Sinne von einst gegenwärtiger Wirklichkeit ist in einem solchen Denkgerüst von Temporalität stets aktive De-Präsentation, die die adressierte Präsenz immer weiter verschiebt.249 Damit kollabiert auch die letzte Möglichkeit, das Ereignis Stalingrad als identische phänomenale Präsenz freilegen zu können. Die Rekonstruktion des ›einen‹ Ereignisses Stalingrad kollabiert somit dreifach. Da sind zum einen die Pluralität der Beobachter und deren kontexturale Realitätserfahrungen und -konstruktionen: »›Ein Unglück wie Stalingrad hat den Vorteil, daß es unmöglich mit zwei Augen zu sehen war.‹«250 Kluge führt auch dieses als Zitat markiertes Diktum erneuter Transkription zu, diesmal in den Nachweisen zur Schlachtbeschreibung, und erweitert die Polykontexturalität auf die Ebene der Symbolsysteme: »Wer in Stalingrad etwas sah, Aktenvermerke schrieb, Nachrichten durchgab, Quellen schuf, stütze sich auf das, was zwei Augen sehen können.«251 Damit geht auch eine Enthierarchisierung der Ereignis- und Zeitwahrnehmungen bzw. -erfahrungen einher, zumal die unterschiedlichen kommunikativen und transkriptiven Realisationen des Erlebten, Erfahrenen, Erinnerten und Berichteten »von der Trübung der Wahrnehmungskräfte durch das Unglück selbst«252 betroffen ist. Da ist zudem der Kollaps der Korrespondenz von existenzieller Bedeutsamkeit der Erfahrung des Einzelnen einerseits und universeller, repräsentativer Bedeutung der 249 Vgl. zur dekonstruktiven Denkfigur der De-Präsentation Derrida: Grammatologie, S. 348. 250 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 513. 251 Ebd., S. 987 f. 252 Ebd., S. 988.

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Geschehnisse für die historisch Unbetroffenen und deren Repräsentationsformeln andererseits. Es ist dabei gerade die bedeutungszuweisende Praxis der Übersetzung fremden Erlebens in eigene Erfahrung, an der sich der Text reibt:

Abbildung 5: »Diese Kinder kennen Stalingrad aus Comics«; »Es gibt keinen einzigen Menschen in Deutschland, der so fühlt, sieht oder denkt wie irgendeiner der Beteiligten 1942.«253

Jeder Versuch, das erschütternde Erlebnis Stalingrad durch Modi der Einfühlung zu höchster Intensität anwachsen zu lassen, greift auf Eigenarten der Erlebnisformierung durch kulturelle Semantiken und diskursive Praktiken zurück, die historisch variabel sind, Eigenzeiten besitzen. So lässt sich das faktische Erlebnis, wie Husserl schreibt, nie »mit stets gleichem Gehalt wiederholen und seiner Diesheit und seines Soseins gewiß werden«254. Es lässt sich daher auch nicht »in festen Aussagen beschreiben und […] sozusagen dokumentieren«255. Die Rekonstruktion des ›einen‹ Ereignisses Stalingrad kollabiert letztlich zusammen mit dem Kollabieren der Präsenz durch De-Präsentation: »Das Ereignis als ›ursprüngliches‹ Geschehen-Sein ist dieser ›Ursprung‹ erst im Nachhinein«256, ein

253 Ebd., S. 739. 254 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 181. 255 Ebd. Husserl setzt als Garant für die Faktizität des Erlebnisses noch auf das transzendentale Ich als Fundament eines selbstidentischen Bewusstseins. Luhmann löst die Paradoxie der Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins zeitorientiert auf, indem er Bewusstsein als psychisches System definiert, das erst durch Selbstbeobachtung stets neu und dabei stets differentielle Ereignisse erzeugend Identität behaupten kann. 256 Grizelj: »Ich habe Angst vor dem Erzählen«, S. 92.

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Ursprung, der ex post kontingent semantisiert und medialisiert wird und dadurch die Form einer zeitlosen Faktizität gewinnt. Dass es der Schlachtbeschreibung nicht um Faktizität oder Kohärenz der Quellen gehen kann, wurde bereits deutlich. Ihr Konzept lässt sich am treffendsten beschreiben als ›Alteritätsintervention‹. Der Text interveniert gegen die Starre historischen Sinns ebenso wie gegen die eingelaufenen Zeittrampelpfade der Transkription des Ereignishaften und der damit verbundenen kulturellen Semantik. Das Mittel der Wahl ist für Kluge dabei die Bannung der chronologischen Linearität der Darbietung und der kausalistisch-reduktiven Isolation von im Diskurs präferierten Zusammenhangskonstellationen. Es geht schließlich auch um die sinnliche Wahrnehmung der Bedingungen der Möglichkeit der Erinnerung als sinnstiftendem Prozess. Aber die notwendige materielle Konstitution der Textform als Verbreitungsmedium, ohne die breitere sinnliche Rezeption kaum möglich wäre, birgt ein Gegengewicht zu den Bannungsbemühungen, durch die sich im semantischen Textraum Sinnzwang und Befreiung von Sinnzwang ständig ablösen. Dem Sinnzwang enthoben sind die Skripte, weil sie im Modus ihrer Darbietung bereits einen postskripturalen Sinn erhalten. Die kulturelle Lesbarkeit der dokumentarisch formierten Materialien verteilt sich so auf mindestens zwei Zeitordnungen: die der imaginierten Zeitordnung, in der sie als historische Ereignisse adressiert werden und die der Zeitordnung der Gedächtnis- und Erinnerungsoperationen, die keinen Hehl daraus machen, dass ihr Output nicht aus selbstidentischen Wirklichkeitspartikeln besteht, sondern historische Wirklichkeit als erinnerungspoetisches Phänomen erst konstituiert und abwirft. Entscheidend ist, dass Kluges Textumgang stets auf der Relationalität des Textes (und somit auch des Textes der Geschichte) zu vorherigen ›Schreibungen‹ beharrt. Dieses Beharren auf der Operativität der Textkonstitution, das sich auch als Beharren auf der Unterscheidung Text als Medium/Text als Form übersetzen lässt, findet sich in einem Text Kluges, der zugleich mit dem klassischen WerkParadigma und mit dem Paradigma beobachterunabhängiger Historizität bricht: »Es gibt vor allem Übereinanderschreibungen, so als sei eine Schreibmaschinen-Seite viertausendmal verschieden übertippt. Solche Übereinanderschreibung entspricht genau der Arbeit geschichtlicher Verhältnisse, der Arbeit der Generationen und ihrer Sprachregelungen. Es kommt hinzu, daß jedes dieser Elemente […] sich in einer lebendigen Bewegung befindet und nicht nur als übereinandergeschrieben sich erweist, sondern als Überschriebenes sich lebendig verändert.«257

Durch die Temporalisierung des Textes als Form vollzieht die Poetik Kluges eine Volte: Texte sind hier nicht mehr gedacht als Medien der Faktizitäts(be)schreibung, sondern gewinnen Form erst als Symptom der Beobachtung der Differenz von Text 257 Kluge: Das Lesen des Textes wirklicher Verhältnisse, S. 202 f.

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als Medium und Text als Form. Die Akkumulation von Texten erweist sich in diesem emblematischen Bild von der mehrfach beschriebenen Seite nicht als Prozess der Herstellung von passenden Ordnungen durch schriftliche Dokumentation faktischer Ereignisse. Statt dessen wird die lateral-sukzessive Folge von Textereignissen – d.h. das zeitliche Nebeneinander der Aufeinanderfolge von Texten – in ein Schichtenmodell umgewandelt, indem das zeitliche Nacheinander in einem räumlich eindimensionalen Übereinander kulminiert, das graphemisch Unlesbarkeit und semantisch Deutungsnotlagen nach sich zieht. Die Arbeit der Literatur an dieser Akkumulation der Texte zu einem Quasi-Rauschen bestünde nun im Verfügbarmachen dieser Akkumulation bzw. dieses Quasi-Rauschens für eine Wahrnehmung, die das Mannigfaltige im ›Text als Form‹ ästhetisch erfahren kann, und zwar als Vielstimmigkeit und Vielgestaltigkeit von Ereigniskonstellationen und ihren kommunikativen Repräsentanzen – ergo als Ereignisfülle. Kluge und Negt wählen in Geschichte und Eigensinn für diesen Modus des ästhetischen Verfügbarmachens das Oxymoron von der »Zuspitzung« durch »Entzerrung«258. Während an plausiblen und kausalistischen Strukturzusammenhängen orientierte Transkriptionen von Ereignissen und Ereignisreihen an »Hauptlinien« ausgerichtet sind, denen das Attribut der qualitativen Wesentlichkeit attestiert wurde, zielt Kluges Poetik auf mögliche diskursive Operationen, mit denen jene »Neben- und Restvalenzen« lesbar gemacht werden können, die – innerhalb diskursiver Wissensgefüge, institutioneller Rahmen und funktionssystemischer Programmierung – von »kollektiv vereinbarten Vorverständigungen«259 überlagert werden. Es wird dadurch ein anderes Unterscheidungsvermögen in Stellung gebracht, das den irritierten Leser motiviert, mit den Fassungstexten der Schlachtbeschreibung und an ihnen diese Vorverständigungen – Kluge und Negt sprechen auch von »abgestumpften Unterschied[en]«260 – in negatio zu registrieren und je neu zu durchkreuzen. Aus der Formierung der Elemente im Text der Schlachtbeschreibung ergeben sich zwischen diesen Elementen aufgrund der semantischen und chronologischen Diskrepanzen Time-out-Phasen, die den Rezeptionsfluss irritieren und die Produktivkraft des Lesers intensiver beanspruchen.261 Insbesondere in und mit diesen Phasen »entstehen die Freiräume für Assoziationen, in denen sich die Phantasie selbst-

258 Kluge/Negt: Geschichte und Eigensinn, S. 1127. 259 Alle Zitate in ebd. 260 Ebd., S. 1126. 261 Vgl. zur Unterbrechung als Transkriptionsofferte z.B. Jäger: Strukturelle Parasitierung, S. 22 und zur Unterbrechung als Funktion des Fragens in Alexander Kluges Interviewformaten Vogl: Kluges Fragen, S. 121.

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reguliert bewegen kann.«262 Die Bewegungsfreiheit wäre damit erkauft durch die Polyphonie und Polychronie der Formenwelt, die der Text zur Sedimentation bringt, indem er materielle Zeichen stillstellt. Gegen die Intensivierung einer mäandrierenden Lektüre und – im kybernetischen Rückschluss – gegen die Variabilität der assoziativen Verkettung von Erfahrungen und vor allem deren Einspeisung in den stream of communication, steht die objektiv-reale Faktizität der materiellen Zeichenstruktur. Wenn – wie Benjamin in der abschließenden These Nr. 13 in Die Technik der Schriftstellers in dreizehn Thesen formuliert, dass »[d]as Werk […] die Totenmaske der Konzeption [ist]«263, dann droht die distributorische Form des Textes in seiner Erstarrung generierenden Medialität zur Allegorie der »Normativität des Faktischen« zu werden, gegen die die Schlachtbeschreibung als zeitästhetisch reflexives bzw. selbstreferentielles Veto angetreten war. Im Werk-Begriff erstarrt die Gestalt und die Elementanordnung und -dichte des (rezeptions-)ästhetischen »Manövrier-Raum[s]«264, in dem dadurch Potentiale der Alterität unausgeschöpft bleiben. Was so unausgeschöpft bleiben muss, ist die Möglichkeit die Eigenzeit des Textes selbst zu verzeitlichen und sie dadurch auch in ihrer materiellen Textualität als Element in und Komponente von Ereignisverkettungen (sozialsystemischkommunikativer oder symbolsystemischer Art) zu konstituieren. Die Schlachtbeschreibung wählt einen exzeptionellen Präsentationsmodus, um dieses Potential anzusteuern und lesender Wahrnehmung verfügbar zu machen. An diesem Punkt bietet es sich an, auf die multiplen Fassungen der Schlachtbeschreibung und die damit verbundene Publikationspraxis ausführlicher einzugehen. Mit jeder der vier Fassungen der Schlachtbeschreibung vollziehen sich syntagmatische und paradigmatische Umstellungen, Ergänzungen und Serialisierungen des literarisierten Materials.265 Neben kleineren Bearbeitungen innerhalb der Module sind besonders die Verschiebungen ganzer Blöcke wie auch die Implementierung ganzer Neuabschnitte auffällig. Kommt in der zweiten Fassung von 1968 lediglich das 44 Seiten umfassende Modul »Formenwelt, handelnde Personen« hinzu, so sind die Veränderungen von Fassung zwei zu Fassung drei schon wesentlich umfangreicher. Die neuen Teile machen in der Fassung von 1978 bereits ein Drittel des Text262 Schulte: Dialoge mit Zuschauern, S. 241. Was Schulte für die filmästhetische Rezeptionsautonomie des Zuschauers konstatiert, lässt sich auf die literarische Rezeptionsästhetik der Schlachtbeschreibung übertragen. 263 Benjamin: Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen, S. 115. 264 Müller: Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe, S. 14. 265 Hier sei noch einmal hingewiesen auf die Unterscheidung von Publikation und Fassung: Als Fassung gelten die Publikationen von 1964, 1968, 1978 und 2000, da nur in diesen das Textgefüge Gegenstand signifikanter Eingriffe in Form von Erweiterungen, Tilgungen, Umstellungen und Verweisvarianzen ist; siehe hierzu auch die textgenetischen Skizzierungen in Fischer: Geschichtsmontagen, S. 136-145.

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umfangs aus. Zusätzlich wandern der »Rechenschaftsbericht« und die »Pressemäßige Behandlung« – in der Fassung von 1964 noch an erster Stelle aufgeführt – mit der Fassung von 1978 an das Buchende, wo sie mit der Fassung 2000 kondensieren und die semantische Funktion eines Epilogs bzw. fast schon Nekrologs zu erfüllen scheinen. Auch hinsichtlich der verwendeten Symbolsysteme kommt es zu einer wesentlichen Supplementierung. So sind die neuen Teile mit Abbildungen durchsetzt, und auch in aus früheren Fassungen übernommenen Teilen finden sich Abbildungen und somit intermediale Konstellationen. Hinzu kommt, dass auch die Titel einiger Teile variiert werden und kleinere Untersequenzen teils eigene Blöcke bilden, teils Blöcke in andere verschoben und von diesen inkorporiert werden.266 Zudem werden die neuen Teile nicht schlicht hintangestellt, sondern ohne explizit ersichtliche Logik zwischen aus den beiden anderen Fassungen übernommene Teile arrangiert. Dabei greift die dritte Fassung auch auf Teile der ersten Fassung zurück, die in der zweiten Fassung herausgefallen waren oder gekürzt wurden. Fischer sieht darin bereits eine Spezifik der genetischen Poetik Kluges, die für meine Lesart relevant ist: »Es ist wichtig, diesen Punkt zu betonen, denn in der Perspektive der dritten Fassung erscheint die erste Fassung nicht als ursprünglicher Text, der die zweite Fassung in irgendeiner Weise untergeordnet wäre. Richtiger ist es, die Veränderungen zwischen erster und zweiter Fassung als eigenständige Formentscheidungen (und nicht bloß als Variante eines Ursprungstextes) zu begreifen […]. Damit nimmt die Beschäftigung mit dem eigenen Werk einen anderen, vielleicht genauso wichtigen Rang ein wie die Auseinandersetzung mit dem historischen Ereignis.«267

In dieser parallel geführten Auseinandersetzung mit der eigenen Transkriptionsproduktivität arbeitet Kluge – so meine These – auf eine »Deemphase«268 der Ereignishaftigkeit des Textes hin. So wie die Schlachtbeschreibung fassungsintern die Isolation von und Zentrierung auf ein Ereignis von sich weist und wirre Pfade der Alteration beschreitet, so arbeitet die genetische Fassungspraxis gegen die Zentrierung auf den Text als Ereignis, dem klassisch auratische Ereignishaftigkeit, Einmaligkeit und Geschlossenheit nicht mehr zugesprochen werden können: Das »Ganze« er266 Ich werde auf die Details hier nicht eingehen, sondern verweise auf die umfangreichen und detaillierten Nachweise in ebd., S. 140-143. Einige Titeländerungen seien hier aber zur Veranschaulichung aufgeführt. So werden die Teile »Wunden« und »Wie wurde das Desaster ursprünglich angefasst« mit Agenssubstantiven betitelt. Aus »Wunden« wird »Die Ärzte« und »Wie wurde das Desaster ursprünglich angefasst« erhält den neuen Titel »Die Praktiker« (vgl. Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 530 u. 552). 267 Fischer: Geschichtsmontagen, S. 140. 268 Balke/Wagner: Vorwort, S. 10.

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weist sich als das »Unwahre«269. Mit einem solchen organologischen Text- bzw. Werk-Begriff ist die Schlachtbeschreibung daher nicht kompatibel. Mit jeder Fassung kommt es zu einer je neuen »rückwirkenden Gliederung der Vergangenheit«, in der auch die vorherigen Fassungen nun historische Zeitstellen besetzen.270 Die vorherigen Fassungen werden zu Prätexten; es zeichnen sich harte und auch graduell weiche Kontraste ab, die auf den transkriptiven Asymmetrien zwischen den Fassungen beruhen. Jede Fassung ist eine verändernde Wiederholung, die die Veränderung erst identifizierbar macht.271 Diese Veränderungen sind meines Erachtens nicht Versuche, durch Rekombination vorhandener und neuer Elemente einer Verdichtung von Geschichte näher zu kommen, so als wäre jede Fassung teleologisch auf die Deckung mit dem Ideal einer abschließend gelungenen Korrespondenz mit dem Historischen ausgerichtet. Wenn etwa die dritte Fassung nicht nur ihren Publikationskontext 1978 implizit zu erkennen gibt, sondern explizit zwei Krisenphasen deutscher Geschichte (die fassungsgegenwärtige Krise der Bonner Republik durch den Terror der RAF und die entfernt vergangene des Kessels in Stalingrad) nebeneinander stellt und assoziative, ja sogar analogisierende Beobachtungen angestellt werden, dann gibt sie mehr als nur die Zeitkoordinaten ihrer Publikation an: »Die höchsten Vorgesetzten werden von ihren hohen Kameraden nicht zurückgeholt: Hanns Martin Schleyer wird nicht ausgelöst, 1977 – Feldmarschall Paulus nicht gerettet, 1942. An den Nahtstellen zwischen den zentralistischen Zuständigkeiten entstehen die Pannen: 6. Armee, ihre Nachbarn 1942; BKA/Nordrhein-Westfalen, Erftstadt-Liblar, 1977. Horst Mahler, in der Zelle des Tegeler Altgefängnisses, spricht über die Toten von Stammheim, über sein politisches Programm von vor sechs Jahren: Irrtum, es sind aber Menschen daran gestorben, strategischer Mißverstand, 1970/78 – die Haltung des Feldmarschalls von Manstein zu Stalingrad 1943: zutiefst vermeidbare Irrtümer, verlorene oder gestohlene Siege, ›Irrtum der Geschäftsleitung‹. Usw. usf.«272

Desweiteren legt Kluge der Mutter der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin eine unvorsichtige Parallelisierung von Erlebnis und Erfahrung in den Mund, die zusätzlich durch semantische Kopplung historische Distinktionen auflösen soll: »Am Tag nach der Beerdigung auf dem Dornhaldenfriedhof sagte die Mutter von Gudrun Ensslin, sie sitzt im Wohnzimmer in der Runde der Trauernden (oder der in der Rage des Tages Trauer-Unfähigen): ›Es war auf der Hochfläche von Bartholomä (Pfarrsitz der Familie 269 Adorno: Minima Moralia, S. 55. 270 Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, S. 270. 271 Vgl. zur Identifizierung von Differenz aus einer Markierung ex post Derrida: Limited Inc, S. 65. 272 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 738.

200 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT Ensslin auf der Schwäbischen Alb) im Winter 1942 so bitter kalt, daß ich wußte, was Stalingrad war. Meine Mutter nähte Pelzstücke zusammen, strickte Socken, sammelte usf. Sie wollte damit in Stalingrad siegen. Als ihr das nicht gelang, hielt sie den Krieg für verloren.‹«273

Mögen diese Assoziationen das Werk autorspezifischer und literarischer Einbildungskraft sein, abwegig sind sie dadurch nicht. Das wird spätestens dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Obduktionen der Leichen der RAFMitglieder Gudrun Ensslin, Michael Baader und Jan-Carl Raspe von Hans Joachim Mallach, einem ehemaligen Angehörigen der im Ostkrieg eingesetzten »Leibstandarte SS Adolf Hitler«, durchgeführt wurden.274 Auf die Unzulänglichkeiten eines Blicks, dem solche Tiefenzeiten und ihr Hintergrundrauschen entgehen, weist die Schlachtbeschreibung hin, wenn es heißt, dass sich »alle Details des Kessels und der Jetztzeit verknüpfen ließen«275. Inwiefern Kluges Poetik als künstlerisches Verfahren dabei auch Geschichtsklitterung betreibt, sei dahin gestellt. Von wesentlich größerer Bedeutung sind im Zusammenhang der hier vorgeschlagenen Beobachtung vielmehr die semantischen Effekte dieses Verfahrens. Einerseits gewinnt die historische Gegenwart durch solche Verbindungslinien eine »dehnbar-prekäre Aktualität«276 – entsprechend zitiert Kluge aus Marx’ 18. Brumaire des Louis Bonaparte: »Die Geschichte aller toten Geschlechter liegt wie ein Alp auf den Hirnen der Lebenden«277; und die Schlachtbeschreibung ist in dieser Hinsicht ein entschiedenes Plädoyer gegen die »Flucht in die Inaktualität« und für einen Modus der »Daueraktualität«.278 Andererseits reflektiert der Text die wachsende temporale Distanz zu den geschilderten Ereignissen um Stalingrad, münzt diese aber um in die Möglichkeit, die empirische Eigenzeit der Fassungen je auf die »Sinnbedürfnisse und Bezugsrahmen«279 der jeweiligen Publikationsgegenwart rückzubinden und dies mitzuteilen. Das bedeutet dann für den Leser der letzten Fassung, dass er den Text »gegen den Strich« zu lesen habe, und zwar in einem »ganz unpraktischen, INAKTUELLEN, von der Gegenwart der Berliner Republik abgewendeten ZÄHEN Interesse«.280

273 Ebd. 274 Vgl. Dahlkamp: Trophäen für den Panzerschrank. Mallach fertigte sich zudem ungenehmigt Totenmasken der Obduzierten an. 275 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 739. 276 Gehring: Gegenwart revisited, S. 427. 277 Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 739. 278 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 527. 279 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 48. 280 Die zitierte Passage ist im Original kursiviert und folgt unmittelbar auf die Titelangaben und ein Motto, das Paul Valéry zitiert (vgl. Kluge: Schlachtbeschreibung, S. 511).

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In beiden Fällen exponiert der Text seine transkriptive und kommunikative Eigenzeit und kündet zugleich sinnlich-intelligibel davon, wie sehr diese wiederum als beobachtete Wirklichkeit zeitdurchsetzt ist.281 Jede Fassung lässt sich daher nicht nur verstehen als komplexes Verweissystem semiotischen Materials, sondern auch als spezifische Lektüre, die paradigmatisch wahrnehmbar macht, dass mit jeder Transkription, jeder Fassung die »Möglichkeit des Zweifels, der Korrektur und der Bestreitung implementiert«282 ist. Für jede Fassung gilt dann, dass sie ein Tableau potentieller semantischer Einschreibungen entwirft, indem sie Präskripte anordnet. Darüber hinaus aber ist sie eine alternierende Markierung, Semantisierung und Manifestierung bereits geleisteter oder latenter Lektüren. Die Fassungen der Schlachtbeschreibung treten gewissermaßen gegeneinander an bzw. treten miteinander in Konkurrenz und generieren auf diese Weise ein historisches Feld en miniature. Was die Fassungen fremdreferentiell konstatieren – nämlich dass und wie die Wirren der Eigenzeiten und Zeiterfahrungen durch eine »stabile Architektur aus Elementen, Regeln und historischen Konzepten«283 hierarchisiert oder amalgamiert werden –, dem versuchen sie sich performativ zu entziehen. Mit dem selbstreferentiellen Umschreiben der Textform findet im gleichen Zug auch eine Umschreibung der Verankerung der symbolischen Ereignis- und Welterzeugung in den Eigensinn der Publikationskontexte statt, die sich als ebenso komplex herausstellen wie die historischen Kontexte.284 Die Fassungen sind dabei Figuren doppelter Autorität: Sie sind zugleich Akteure und Zeugen dieser Ereigniserzeugungen. Beschreibt man nun die Schlachtbeschreibung als Projekt ohne teleologischen Ganzheitsanspruch, dann gewinnen die einzelnen Fassungen und die in ihnen kartierten Texte den Status von reversiblen Strukturen, die mit jedem Publikationsakt und somit auch selbstreferentiellem Postskript quasi kommunikative Ereignisverkettungen in Gang setzt. Das Projekt verlagert sich so in eine kybernetische Schleife der Selbstbeobachtung, da die ästhetische Eigenzeit jeder Fassung in der Produk-

281 Fischer spricht in diesem Zusammenhang etwas undifferenziert von »empirischer Historizität«, setzt diese Wendung entsprechend auch in einfache Anführungszeichen (Fischer: Geschichtsmontagen, S. 166). 282 Jäger: Transkriptivität, S. 33. 283 Certeau: Das Schreiben der Geschichte, S. 113. 284 Vgl. zum Eigensinn der Kontexte Renn: Die Differenz der Medien, S. 83. Entscheidend ist, dass Umschreibung und Umschreibung gerade nicht rein symbolische Operationen darstellen, sondern empirisch auf der Wirklichkeit der Kommunikations- bzw. Transkriptionsverkettungen insistieren, als deren Element die Fassungen dazu beitragen, das historische Feld beharrlich zu de/re/markieren.

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tionstemporalität der nächsten Fassung als Anschlussoperation mitmarkiert wird.285 Das Projekt exponiert durch seine operativen Eigen-Anschlüsse der Fassungen die endogene Unruhe, als deren Repräsentationsfigur sie sich gleichzeitig zeitigt, indem sie die Ungleichzeitigkeit von Gedächtnisräumen exponiert und ihr ›Realpräsenz‹ zukommen lässt. Begreift man die Fassungsvollzüge als projektimmanente Strukturevolution, als Verkettung von reversiblen Struktur- und Formereignissen, dann erschließt sich auch die produktionsästhetische Volte, mit der geleistet wird, was dem einzelnen Text anhand seiner immanenten Poetik allein nicht gelingen kann. Denn so sehr auch im einzelnen Text Sinn stets als Ereignis, nicht als Dauer ausgewiesen und spielerisch verschoben wird, so sehr ist doch die Rückseite des Spiels der Zeichen, die materielle und dinghafte Natur der text- und bildmedialen Zeichen, eine ›ent-ereignende‹ Gegenkraft. Gerät die Erschließung und Unterbrechung von Sinn, den jedes Ereignis im Text je momenthaft auslöst, zur semiotischen Bedeutungsbildung, die zugleich fortlaufend unterlaufen wird, so ist im Gegensatz dazu die Signifikantenstruktur im Text für sich genommen nicht reversibel. Spätestens mit der Drucklegung fordert das Medium Buch hier seinen konzeptuellen und materiellen Tribut ein, so dass die Formierungsauflagen literarischer Kommunikation sich gegen das »Weben« der »Erinnerung« und gegen die »Penelopearbeit des Eingedenkens«286, wie Benjamin die performative und konstruierende Operativität der Erinnerung nennt, stemmen. Was der Text hinter sich zu lassen sich bemüht, das wird ihm verbreitungsmedial wieder aufgepfropft. Erst die Zeitlichkeit der Variation, Selektion und Stabilisierung von anderen Formen, anderen Zeichenverkettungen, anderen Verweisstrukturen kann diese Pfropfung temporär aufheben. Dadurch, dass die Schlachtbeschreibung ihre Eigenzeit durch die Sukzession der Fassungen pluralisiert und dies auch ausstellt, generiert sie auch die Zeitlichkeit ihrer Semantisierungsroutinen. Sie zeichnet die Paradoxie der operativen Gleichzeitigkeit von Latentem und Manifestem, Beobachtetem und Unbeobachtetem, Kommuniziertem und Nichtkommuniziertem nicht nur nach, sie entfaltet sie auch temporär, indem sie Nichtaktualisiertes bzw. Nichtmarkiertes in einer nächsten Fassung zu seinem Recht kommen lässt. Dafür muss Zeit in Anspruch genommen werden, und diese erzeugt die Schlachtbeschreibung operativ mit jedem Publikationsereignis. Damit wendet das Projekt die Sedimentierung von Sinn im Medium Publikation gegen sich selbst, indem es sich als Selbstgespräch inszeniert und kommunikative Anschlüsse autologisch vollzieht. Dadurch hängen sich

285 In gewisser Weise wird die ›Textsubstanz‹ historisiert und chronologisch fassbar, während die textinternen Prozessualitäten entchronologisiert, d.h. ihrer temporalen Monokausalität beraubt werden. 286 Benjamin: Zum Bilde Prousts, S. 311.

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die Fassungen als symbolsystemische Verkettungsereignisse in die »Unendgültigkeit der Kommunikation«, für die es kein »letztes Wort« geben kann.287 Aber auch auf die Figur des Anfangs wirkt die fassungsübergreifende Transkriptionsverkettung in From einer »Verknüpfungskette der Wiedererkennung«288 zurück. Denn indem der Text in starkem Maße auf (historisch-authentische) Präskripte zurückgreift bzw. sich als deren Beschreibung imaginiert, ist er als Symbolsystem bereits in die immer schon laufende Verkettung von kommunikativen Ereignissen eingebettet. Er ist in operativer Hinsicht – radikal formuliert – nichts weiter als das ereignishafte Ergebnis der sozialen Realität kommunikativer Anschlüsse. Als Element in diesen Ereignisketten befindet er sich bereits »mitten in der Zeit«, gleichsam als »Spieler in einem Spiel, das schon angefangen hat.«289 Das stellt genaue Leseakte vor hohe Herausforderungen. Es geht nicht darum, die im Projekt der Schlachtbeschreibung gestifteten Zusammenhänge zu bestätigen oder abzulehnen. Vielmehr müssen die Zusammenhänge als Suche nach Zwischenstücken, Rissen und Lücken der Zeit gelesen werden – und zwar fassungsübergreifend. Das heißt dann auch, mit jeder neu entstehenden Fassung eine weitere Perturbation der Lektürenavigation auszuhalten, aber auch sich dem Kontinuitätsbedarf von Kommunikation auszusetzen. Sich einlesen heißt dann im Falle der Schlachtbeschreibung, sich mit dem konfrontiert zu sehen und wiederholt zu konfrontieren, was Kafka in einer Tagebucheintragung als das »Unglück des fortwährenden Anfangs« bezeichnet hat, eines Anfangs, der immer schon angefangen hat, bevor man anfängt und der darum »nicht einmal ein Anfang ist.«290 Sich einlesen heißt dann, sich immer im Lesen, zu jeder Zeit, ob am Anfang oder am Ende eines Textes, mit dem Imperfekten, dem Unfertigen zu konfrontieren.

287 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 141: »Jede Kommunikation setzt sich selbst der Rückfrage, der Bezweifelung, der Annahme oder Ablehnung aus und antezipiert das. Jede Kommunikation! Es gibt keine Ausnahme. Wollte ein Kommunikationsversuch sich dieser Form von reflexiver Rekursivität entziehen, würde er nicht als Kommunikation gelingen, wäre er nicht als solche erkennbar.« 288 Schulte: Konstruktionen des Zusammenhangs, S. 64. 289 Luhmann: Organisation und Entscheidung, S. 157. 290 Kafka: Tagebucheintragung vom 16.10.1921, S. 863.

Ars moriendi der black box: Thomas Lehrs Frühling Die Worte sind noch mehr Teil unseres Selbst als die Nerven. Wir kennen unser Gehirn ausschließlich vom Hörensagen.1 Aber man muß wählen: leben oder erzählen. […] Ich wollte, die Momente meines Lebens folgten aufeinander und ordneten sich wie die eines Lebens, an das man sich erinnert. Genausogut könnte man versuchen, die Zeit am Schwanz zu packen.2

O PERATIVE M IMESIS Was in traditionellen narrativen Modi durch diegetische Rahmung oder Fokalisierungsfunktionen zur Anschauung gebracht wird, nämlich Vorstellungen, Wahrnehmungen, Kognitionen und Empfindungen von Figuren, verdankt sich einem kunstspezifischen Fiktionsvertrag, der zwischen Autor und Leser aushandelt, dass die Innenwelt von Figuren zugänglich, ja transparent ist. Die Herbeiführung dieser Transparenz, als Effekt eines personalen Erzählverhaltens, eines panoptisch befähigten bzw. allwissenden Erzählers oder eines autonomen inneren Monologs, ist Bedingung dafür, dass literarische Erkundungen der ›Welt‹ nicht Halt machen müssen vor der black box des Bewusstseins. Dass das Bewusstsein überhaupt als eine solche uneinsehbare ›Schachtel‹ adressierbar ist, bildet das Grundproblem jener Theorien, die den Konnex von Individuum und Gesellschaft, von Einzelnem und Kollektiv, von psychischen Akten und kommunikativen Kontakten zu ergründen suchen, weil das Bewusstsein sich schwerlich einordnen lässt im Kanon der Phänomene. Aus systemtheoretischer Perspektive ergibt sich die unmittelbare Unzu1

Paul Valéry, zit. n. Fuchs: Der Eigen-Sinn des Bewußtseins, S. 7.

2

Sartre: Der Ekel, S. 50 u. 52.

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gänglichkeit des Bewusstseins aus der operativen Schließung desselben als psychisches System. Dadurch, dass Bewusstseine als Systeme gedacht werden, die – analog zu Kommunikation – ihre Autopoiesis je von Ereignis zu Ereignis prozessieren und dabei die Operationen realisieren, aus denen sie sich für die Dauer eines Ereignisses konstituieren, können sie bzw. müssen sie als operativ geschlossen gedacht werden. Aus dieser Geschlossenheit wiederum lässt sich für Kommunikation ein Funktionsprimat ableiten: Kommunikation – so die These – »ist mithin ein Korrelat der Geschlossenheit psychischer Systeme«, und somit ist umgekehrt die »Sozialität des Bewußtseins nicht Einheit, sondern Differenz«.3 Gerade weil also das Bewusstsein für die Umwelt kein determinierbares System darstellt, muss auf mittelbare Kontaktoptionen zurückgegriffen werden: etwa Kommunikation.4 Mit ihr kann das Intransparenzproblem nicht gelöst, aber anhand wahrnehmbarer Medien – Sprache, Schrift, Text, Film – exponiert, verhandelt und mehr oder weniger erfolgreich umgangen werden, mit allen Chancen und Risiken, die sich damit ergeben. Aber es bleibt dabei: Kommunikation ist ebenso wenig in der Lage Elemente für die Autopoiesis des Bewusstseins einzuspeisen wie auch Bewusstseinsakte keine operativen Elemente von Kommunikation sein können.5 Das systemtheoretische Konzept des psychischen Systems denkt Bewusstseine nicht nur als operativ geschlossen, sondern – und das ist im Zusammenhang des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit von besonderer Relevanz – auch als ereignisbasiert. Das wäre allerdings noch zu spezifizieren, denn von einem Ereignischarakter des Bewusstseins dürfte unter den präsentierten Prämissen genau genommen nicht die Rede sein. Statt dessen ergibt sich aus der operativen Figuration des Bewusstseins, dass dieses als restlos temporalisiert zu denken ist. Diese Umstellung von Substanz und Dauer auf ereignishafte Zeit bzw. Ereignistemporalität als ›Zustand‹ des Bewusstseins stellt spezifische Anforderungen an Modi der spekulativen Gedankenlese, seien diese nun kunstspezifisch motiviert oder faktual-pragmatisch bestimmt. Literarisch-fiktionale Darstellungen psychischer Innenwelten profitieren davon, dass die Operationen der Bewusstseine stets idiosynkratische Vollzüge sind, und folglich fiktive Darstellungen von Fremdbewusstsein prinzipiell nicht weniger der Realität verpflichtet sind etwa nicht-fiktionale Behauptungen, in anderen Bewusstseinen ›lesen‹ zu können. Die literarischen ›Apparaturen‹ einer Gedankenlese haben im Laufe der Evolution erzähltechnischer Darstellungsoptionen zudem davon profi3 4

Luhmann: Die Autopoiesis des Bewusstseins, S. 59. »Kein Bewußtsein kann die eigenen Operationen an die eines anderen anschließen, kein Bewußtsein kann sich selbst im anderen fortsetzen.« (Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 23)

5

Die oft missverstandene These, dass »nur Kommunikation kommunizieren kann« (Luhmann: Was ist Kommunikation?, S. 109) ist auf die systemische Beobachtung des Bewusstseins zurückzuführen.

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tiert, dass die Frage, ob die Spekulationen über die Beschaffenheit von Fremdbewusstseinen zutreffen oder nicht, im Kontext literarischer Kommunikationsofferten mit hoher Wahrscheinlichkeit suspendiert wird. So nimmt Monika Fludernik für Literatur an, dass es dieser gelungen ist, einen spezifischen Rezeptionsmodus des »willing suspension of disbelief«6 zu etablieren. Und es ließe sich anschließen, dass sich dieser Rezeptionsmodus insbesondere dort als aufmerksamkeitsaffine Komponente von Literatur ›auszahlt‹, wo sich literarische Texte darum bemühen, aisthetisch verfügbar zu machen und ästhetisch zu formen, was sich in individuellen Bewusstseinen abspielt. Entsprechend kommt Darstellungstechniken der Innenweltdarstellung eine narratologische Sonderstellung zu, sofern sie die Operationen des Bewusstseins abzubilden suchen. Es geht bei dieser narratologischen Besonderheit auch um ein spezifisches Wissen der Literatur, das dieser dadurch zukommt, dass sie zwar als Kommunikationsform gegenüber Bewusstseinen ihre operative Autonomie behaupten kann, aber zugleich auch eine dezidierte Relaisstelle der Verbindung von Individuum und Gesellschaft bildet, indem sie als Medium von Subjektivität fungiert.7 Subjekt und Subjektivität sind in diesem Konnex nicht bloß Variablen aus dem großen Themenpool der Literatur, sondern Literatur ist in hohem Maße an der Durchdringung des Subjekts und der Exploration und Kartographierung von dessen Innensphäre interessiert und seit dem Subjektivitätsschub des 18. Jahrhunderts auch zunehmend spezialisiert – insbesondere hinsichtlich der Subjektkonstitutionseffekte von Sozialisationsprozessen und Identitätserfahrungen.8 Dass die literarische Explorationspraxis im Falle der Introspektion, wie sie etwa der Innere Monolog realisiert, durch den Irrealis der Durchsicht und des Durchgriffs auf das Bewusstsein erkauft werden muss, wird wieder aufgewogen durch die Möglichkeiten, die dieser Darstellungsstil für die literarische Mimesis von Bewusstseinsvollzügen an die Hand gibt. Mehr noch: Dieser Irrealis korreliert mit der Faszination für fiktionale Erkundungen imaginierter transparenter Psyche. Denn das Eindringen in die mentalen Sphären, die jenseits der eigenen Ich-Sphäre deren Lebenswelt bevölkern, ist ein populärer Topos kultureller

6

Fludernik: Towards a »Natural« Narratology, S. 48.

7

Vgl. Reinfandt: Literatur als Medium, S. 174. Siehe dazu auch den instruktiven Band von Beutner/Tanzer (Hg.): Literatur als Geschichte des Ich.

8

Vgl. Jahraus: Literatur als Medium, S. 547-554. Umgekehrt lässt sich an literarischen Texten des 18. Jahrhunderts darlegen, wie die Evolution poetischer Schreibweisen auf Stile hinausläuft, die Literatur nicht nur für die Darstellung glückender oder scheiternder Subjektkonstitutionen in Form bringen, sondern gezielt als Medium von Subjekterfahrung konzipieren. Die philosophischen und subjekttheoretischen Fundamente dieser Medialisierung von Literatur hat Gerhard Plumpe in einer großen Studie untersucht (vgl. Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne).

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Phantasien.9 Diese Faszination kann es aber nur darum geben, weil die Bewusstseinsvollzüge im psychischen System eben nur für dieses System, nur als seine eigenen Operationen und nur in der Ereignisfolge der eigenen autopoietischen Sukzession transparent werden können: »Nur weil die operative Schließung das Innere des Lebens, Wahrnehmens, Imaginierens, Denkens des anderen verschließt, ist er als ewiges Rätsel attraktiv.«10 Wo narrative Texte Innenschau inszenieren, um das Bewusstsein von Figuren zu erreichen und lesbar zu machen, ergibt sich für den Irrealis der realistischen Mimesis des Bewusstseins eine metafiktionale Hürde, die grundsätzliche produktionsästhetische Entscheidungen abverlangt. Denn einfach nur aus der Ich-Perspektive erzählen zu lassen, führt nur wieder zurück in die narrativen Praktiken von Kommunikation, nicht aber in die Innenwelt des Bewusstseins, sofern man dieses als operativ geschlossenes System begreift. Soll also das Bewusstsein als Bewusstsein erfahrbar und beobachtbar werden – und der Irrealis bleibt auf dieser Ebene durchaus bestehen – dann muss eine formale Entscheidung getroffen werden, und zwar: ob man es im Text mit Bewusstseinsvollzügen zu tun haben soll oder mit Kommunikationsofferten eines Ichs, das das Blickfeld, das es mit seiner subjektiven Optik einfängt, exponiert. Eine solche Offerte wäre wohl erst Protokommunikation, aber schon nicht mehr Bewusstsein. Dieses ästhetische Dilemma ließe sich auch auf ein Axiom reduzieren: »Man kann vom Grübler erzählen, man kann aber nicht als Grübler erzählen.«11 Soll also auf der Informationsseite der Durchgriff auf das Bewusstsein ›an sich‹ gewagt werden, dann muss auf der Textebene die Mitteilungsseite so modelliert werden, dass sie nicht als Mitteilung exkludiert und unterschieden, sondern genuiner Bestandteil der Information wird.12 Zwar wird in jedem Falle nicht wirklich mit dem Text und im Text Bewusstsein erzeugt, sondern nur eine soziale Konstruktionsofferte, die verstanden, bzw. angenommen oder abgelehnt werden kann. Diese soziale Konstruktion bleibt für das Bewusstsein und seine Eigen-

9

Diese Popularität motiviert diskursive Neuausrichtungen und technische Apparaturen zur Sichtbarmachung, Aufzeichnung und Decodierung von Gedanken. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden sich aus diesem Bedürfnis nach Gedächtnisaufnahmen und Gedankenspuren die Diskurse der Hypnose und Telepathie, denen auf der Seite der maschinellen Zugangsformen die auratische Röntgenfotografie und der Lügendetektor entsprechen (vgl. Gomes: Gedankenlesemaschinen, S. 25-56).

10

Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 26.

11

Meyer-Sickendiek: »Transparent minds«, S. 407. Mitunter wird diese Axiomatik bezeichnet als »Gleichzeitigskeitsaporie« (Avanessian/Hennig: Die Evolution des Präsens, S. 155).

12

Ein solcher Text erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er als Kunstwerk unterschieden wird, enorm.

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zeit jedoch prinzipiell blind.13 Aber damit steht die literarische Konstruktion bzw. Fiktion der Inblicknahme des Bewusstseins nicht allein.14 Alle Theorien des Bewusstseins leiden unter dieser prinzipiellen Blindheit gegenüber der je singulären black box.15 Literatur zumindest kann sich auf das Inkommunikable des Bewusstseins konzentrieren und leistet – weil der Text auf ein adressiertes lesendes Bewusstsein trifft, das sich in der Haltung des make believe von der Fiktivität des Durchgriffs abstrahiert – einen eigensinnigen Beitrag zur diskursiven »Bewußtwerdung des Bewußtseins und des Nicht-Bewußten«16. Man kann die Unerreichbarkeit des Bewusstseins thematisieren, sie ignorieren oder im Extremfall radikal negieren, oder die Transgression der Grenze zum Bewusstsein inszenieren.17 Letztere Option wiederum führt in die Domäne literarischer Texte, die einen Darstellungsmodus einsetzen, den ich als operative Mimesis bezeichnen möchte. Damit soll ein Abbildungsstil bezeichnet sein, der nicht primär die Außenwelt durch die Innenwelt einer Figur präsentiert, sondern die Prozesse sichtbar macht, die das Innen als Innen kennzeichnen. Es ginge einem solchen Stil vor allem darum, die operativen Vollzüge des Bewusstseins, also die Eigenzeit des sich von Ereignis zu Ereignis fortsetzenden psychischen Systems als monadischer Beobachter zur Darstellung zu bringen. Eine solche komplexe und differenzierte Darstellungsausrichtung läuft unter stilistischen, formalen und sprachlichen Aspekten auf stark experimentelle Textkonfigurationen hinaus.18 Diese erfordern eine literarische Adaption und fiktionale Überwindung der systemtheoretischen Einsicht, dass es auch für die Beobachtung des Bewusstseins und damit seiner Eigenzeit »keinen métaécrit [gibt], weil es keinen externen Beobachter gibt.«19 In Frühling, erschienen 2005 und im Untertitel mir der Gattungsbezeichnung »Novelle« versehen, lässt sich Thomas Lehr auf ein solches Formexperiment ein, 13 14

Vgl. Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 45. Fiktionssignale im Iser‘schen Sinn muss eine solche Inblicknahme nicht mehr gesondert implementierten (vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 24 f.).

15

Vorsichtig formuliert ließe sich Literatur gar als eine spezifische Theorie der Inkommunikabilität des Bewusstseins bezeichnen (vgl. Deutschmann: Erzählkommunikation und Bewusstsein, S. 187).

16 17

Jahraus: Literatur als Medium, S. 550. »Symptomatisch, ja geradezu verräterisch sind dabei die Texte, die einerseits literarische Subjekt- und Sprachkritik üben, dabei aber Subjektivität und Literarizität par excellence exerzieren.« (Ebd., S. 575)

18

Es geht hier daher weder um die Typik einer auf einen Ich-Erzähler umgemünzten »Psycho-Narration« (Cohn: Transparent Minds, S. 14 f.) noch um autonome Monologe, die auf eine »kontinuierliche Psychologie« (Benn: Lebensweg eines Intellektualisten, S. 318) zurückrechenbar sind.

19

Luhmann: Beobachtungen der Moderne, S. 9.

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das sich als Vertextung der unmittelbaren Teilhabe an den Bewusstseinsvollzügen eines Sterbenden ›zur Aufführung‹ bringt.20 In 39 Abschnitten, deren Überschriften das Aufschreibesystem chronometrischer Sukzession bemühen (»:39«, »:38«, »:37« usf.), werden die mentalen Akte in den letzten 39 Sekunden im Leben des suizidalen Pharmakologen Christian Rauch als unmittelbar rezipierbare Ereignisfolge vor dem lesenden Auge zum Ablauf gebracht. Zeitformal steht somit hier eine ästhetische Beleuchtung innerer Zeitbegriffe statt.21 Aus den Wahrnehmungen, Imaginationen, Assoziationen und Reflexionen des Sterbenden ergibt sich im Laufe der Lektüre, die dem Countdown des Sterbens folgt, ein Tableau der Stationen und Episoden eines erinnerten Lebenslaufs und der Bedingungen, unter denen jene Wahrnehmungen, Imaginationen, Assoziationen und Reflexionen das Erleben, Empfinden und Reflektieren von Zeit im Moment intensivierter Individuation und Erinnerung gestalten. Formal signalisieren vor allem Unregelmäßigkeiten in der Groß/Kleinschreibung, abweichende Satzformen, Enjambements und eine irritierende Interpunktionsmatrix den Eintritt in die Sphäre mentaler Prozesse. Thematisch knüpft Lehr an Beiträge zum Shoah-Diskurs an22, denn das Motiv für Rauchs Suizid ist sein Versäumnis, die NS-Vergangenheit des Vaters als KZArzt zu durchleuchten und wenigstens zu erfahren, »was dr. x angerichtet hat und wohin seine Akten die erinnerungen der Zeugen die schreie der opfer / verschwunden sind.«23 Während sein Bruder Robert bereits mit 17 Jahren entscheidende Hinweise auf die Beteiligung des Vaters an Menschenexperimenten zusammengetragen hat, dass ihm die Rekonstruktion der düsteren Vergangenheit gelungen zu sein scheint – was ihn bereits mit 17 Jahren in den Suizid treibt –, hat Rauch erst im Moment der Todesgewissheit nach seinem eigenen Suizidhandeln »die Kraft: den Dingen. Auf ihren blutigen. Grund«24 zu gehen. Sein beruflicher und familiärer Lebensweg erweisen sich – bis auf die Ausnahme der Verstrickung in die NSVerbrechen – als Kopie des väterlichen Lebenslaufs und mithin als phänotypische kleinbürgerliche Episodenreihung. Insofern projiziert der Text die mentale (Re-)Konstruktion einer Biographie des Scheiterns, in das eine Genealogie der Schuld eingeschrieben zu sein scheint. Rauchs Entschluss, sich zu töten, festigt sich nach 20

Vgl. zum Topos der »Bühne im Kopf« Gomes: Gedankenlesemaschinen, S. 11-22.

21

Insofern geht es in diesem Text in gesteigerter Weise um den Menschen als organisches, »zeitverstehende[s] Wesen« (Grätzel: Organische Zeit, S. V).

22

Bezüge zum Erinnerungsdiskurs spielen in meinen Untersuchungen zwar eine nicht zu vernachlässigende, aber keine zentrale Rolle. Mich interessiert die thematische Komponente hier vordergründig als Impuls und Motiv für die Darstellungsselektionen, die den Text ästhetisch konstituieren. Eine ausgiebigere Einbettung Frühlings in den Erinnerungsdiskurs findet sich bei Herrmann: Vergangenwart, S. 227-236.

23

Lehr: Frühling, S. 137.

24

Ebd., S. 124.

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der Begegnung mit der Prostituierten Gucia, die sich als Tochter einer ehemaligen KZ-Insassin im KZ Dachau erweist. Die von Rauch mehrmals auch szenisch erinnerte Begegnung seines Vaters mit der Mutter Gucias in Dachau führt textdramaturgisch in die irritierende Einsicht, dass die gemeinsame suizidale Gegenwart Rauchs und Gucias der Kulminationspunkt zweier völlig konträrer Vergangenheitsläufe ist, die sich aber in einem historisch-traumatischen Punkt bereits gekreuzt haben. Im gemeinsamen Suizid mit der krebskranken Gucia ergeben sich für Rauch dann auch harmonisierende Vorstellungen einer generationalen Zäsur, aber auch diese Vorstellungen bleiben letztlich nicht ohne Affizierungen durch eine eskapistische Logik des Scheiterns. Erst in den letzten Sekunden der leiblich-existenziellen Eigenzeit, zwischen der »ruhe nach dem schuss«25 und dem Tod, öffnet sich für Rauch ein »großer Freiraum«26, der sich der besonderen Konstellation eines verzögerten Todes verdankt. In dieser offenen Zone operiert die Autopoiesis des Bewusstseins Rauchs unter den Bedingungen eines Todesnäheerlebnisses, was dem Text motivisch die realistische Konzentration der Bewusstseinsinhalte auf »bedeutsame Augenblicke oder Erfahrungssequenzen«27 ermöglicht. Dem Leser begegnet in Frühling aber nicht einfach das Bewusstsein eines seine Vergangenheit rekonstruierenden Individuums. Der existenziell herausgehobene Zustand, in dem Rauchs Bewusstsein erfahrbar wird, kennzeichnet dieses Bewusstsein als infra-individuelles28 Beobachtungsobjekt, das entsprechend dieser InfraIndividualität von Ereignis zu Ereignis je andere Differenz-›Zustände‹ annimmt. Mit anderen Worten: Wir haben es nicht nur mit einem singulären Anderen im Text zu tun, sondern zudem mit einem singulären Anderen in singulären Zuständen, in ereignishaften Formierungen, die sich scharf abgrenzen von anderen singulären Zuständen und einer extensionalen Vergangenheit. Im Moment einer exzeptionellen Existenzerfahrung im Angesicht des Todes laufen kontrollierte Erinnerungen, mémoire involontaire, Gegenwartswahrnehmungen, Reflexionen und Bewusstseinsstrom ineinander, durcheinander und gegeneinander: »Vielleicht habe ich mir die Stadt hier nur. Angetrunken durch ihre Wasserluft. Wie gut, dass Sie: da sind. Mein dunkler Freund, still wie ein Schnitt denn ich kann noch immer nicht sehr. Gut sehen und Hören. Alle ver: gehen hier zu Fuß. Bringen Sie mich zu einem Glücks: Arzt später – erst viel später. Noch sitzen wir endlich hier und mein Körper ist leicht. Wie neu oder. Flüssig. Ist es ein Abend. Dunkel oder meine Augen sind trübe, mein Freund, sagen Sie weshalb kann ich nicht: das Gesicht zu: Ihrem Gesicht: drehen oder denke ich täte ich es: hät25

Ebd., S. 119.

26

Ebd., S. 125.

27

Priester: Mythos Tod, S. 55. So ist Rauchs »ganze Erinnerung ertrunken […] bis auf wenige inseln« (Lehr: Frühling, S. 48).

28

Den Begriff entlehne ich Nancy: Singulär plural sein, S. 29 f.

212 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT te ich keine. Augen mehr? Wenn ich zu dir rede, Angelika, dann. Hat es mich fast: Gegeben. Der herrliche weiße. Blitz, mein Freund, so. Bin ich hier. Hergekommen. Auf diesem Platz ist es wattestill. Ich war einmal. Sehr genau mit allem aber jetzt ist das hier wie völlig gut gegangen und ich brauche. Nichts: Luft: Was ist das Ende. Der Stadt?«29

Die Vermischung von erlebter Gegenwartsebene, Erinnerungspartikeln, Assoziationen und Reflexionen unterminiert laufend die Stetigkeit der Aufmerksamkeitsdauer. Zwischen den Gegenwartsklammern, die der Signifikant »Stadt« markiert, expandiert der Bewusstseinsraum und wird von mäandernden Assoziationen, selbstdiagnostisch-selbstreferentiellen Zeitsprüngen wie auch vom »Blitz« des plötzlichen Einfalls von Brüchen okkupiert. Die Rhetorik und Metaphorik dieser Okkupation und der ihr zugrundeliegenden Unterminierung eines linear kontrollierten Gedankenstrangs ist chiastisch auf zwei gegensätzliche Wort- und Bildfelder verteilt, die konträre Zeitsemantiken aufrufen. Den diagnostizierten Kontrollverlust über das Leistungsvermögen des eigenen Bewusstseins stilisiert Rauch in emphatischem Gestus als »unvorstellbar schönste. Verflüssigung.«30 Das Haltlose, Amorphe, Unstetige der Bewusstseinsvorgänge, das Umspülen des Bewusstseins durch sich selbst gewinnt reißende Kräfte, subordiniert das Bewusstsein durch »Gewaltige Wirbel Unterwasserstromschnellen tückische Strömungen […] hinter den Rosenblättern der Lider.«31 Das Bewusstsein als Letztbegründungsinstanz spaltet sich auf, weil das Schema der Subjekt-Objekt-Beziehung, mit der Rauch die Welt beobachtet, auf die eigenen Operationen aufläuft. Die »Selbstläufigkeit der Gedanken«32 umfasst im Ausgeliefertsein des Bewusstseins an sich selbst den Vollziehenden, den Vollzug und den Gegenstand zugleich, weshalb Rauchs Orientierung prekär wird, wie der Text gleich in den ersten Zeilen erfahren lässt: »Helfen Sie. Mir! Glauben Sie: Ich würde niemanden. Bitten, wenn mir nicht immer: der Bürgersteig: das Haus: hören Sie diese dunkle Straße sogar: diese Stadt. Selbst! Immer wieder. Entgleiten würde.«33

Was hier dem stabilisierenden Zugriff entgleitet und sich somit fluide entzieht, ist nicht nur die Welt als Objektumwelt. Auch das Selbst selbst ist seltsam abgeschirmt gegen seine eigenen stabilisierenden Kontaktaufnahmen. Die Spaltung des Selbst in Beobachter und Beobachtetes inszeniert der Text raffiniert durch die Interpunktionsmatrix, die das » .Selbst! « – das satzlogisch und satzsemantisch rigider an den 29

Lehr: Frühling, S. 13 f.

30

Ebd., S. 14.

31

Ebd., S. 50.

32

Paß: Bewußtsein und Ästhetik, S. 271.

33

Lehr: Frühling, S. 11.

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Signifikanten »Stadt« gekoppelt ist – mit einem Punkt und einem Ausrufezeichen explizit separiert. In dieser semantisch-interpunktiven Ambivalenz findet sich ein den Text initial rahmender re-entry der Unterscheidung von System (Bewusstsein) und Umwelt. Denn das Selbst ist hier einerseits graphemisch strikt isoliertes System, andererseits aber Teil der Sinnkette, die die Umwelt (»diese Stadt. Selbst!«) repräsentiert. Dadurch, dass das Selbst auf der Seite der Fremdreferenz aufblitzt, entgleitet es, verflüssigt sich und wird »entweichendes Seiendes«34. Die Verlagerung der Subjekt-Objekt-Beziehung empfindet Rauch zu Beginn noch als Krise. Sie wird aber, dies hatte die vorherige Passage angedeutet, mit dem Gang der Gedanken zu einer begehrlichen Krise. Denn durch die Beobachtung des eigenen Entweichens erfährt sich das Bewusstsein in der Zeit als unabgeschlossener Prozess, in dem Differenz und nicht Identität der Ursprungspunkt und Dauerzustand sind. In diesem Sinne bemüht Rauch die »alte Rhetorik der Unfaßbarkeit des Geistes«35, mit der er sein Selbst vor dessen paradoxer Verdinglichung zu bewahren versucht, ohne dies jedoch gänzlich verwirklichen zu können. Gerade in den Passagen, in denen Rauch seinen Lebenslauf mit dem seines Bruders abgleicht, kommt dies zum Ausdruck: »wenn. Ich zu dir könnte, Robert, wie in einen Spiegel gehen, der etwas anderes. In der Vergangenheit zeigt wenn ich zu dir könnte endlich, Robert, ich war. Mir doch nur ein Schattenund Scham: Mensch.«36

Der Spiegel als Reflexionssymbol verweist auf die explizite Selbstreferenz und die damit unumgängliche Schau der Spaltung des Bewusstseins in ein beobachtendes Subjekt und ein beobachtetes Objekt. Diese Paradoxie sucht Rauch zunächst durch den Einbau der Fremdreferenz »Bruder« zu umgehen. Dass diese Referenz unzugänglich bleibt – da der Bruder tot ist – und zudem identifikatorisch motiviert ist – und darin die Differenz von Ich und Anderem stellvertretend für die Differenz von Selbst (Selbstreferenz) und Selbst (Fremdreferenz) zum Kollabieren gebracht werden würde –, bleibt Rauch nur der Rückzug auf die Temporisation des Bewusstseins. Das Ich lagert sich als temporale und je temporäre Repräsentanz zeitlich dissoziierter Zustände in die Zeit aus. Nicht als Ding tritt das Selbst sich selbst in dieser Paradoxieentfaltung gegenüber, sondern als zeitlicher Zustand, der objektiviert werden kann. Die Neutralisierung der Paradoxie eines sich zum Gegenstand der Beobachtung machenden Bewusstseins sucht Rauch in der spiegelbildlichen Verdopplung des Ichs. Allerdings geht die Spiegelsymbolik hier über das übliche Signum einer Pluralisierung des Ichs hinaus. Denn die Fremdheitserfahrung im Spiegelbild gerät als optische Information dadurch in den Hintergrund (freilich oh34

Derrida: Die différance, S. 37.

35

Fuchs: Das Maß aller Dinge, S. 114.

36

Lehr: Frühling, S. 58 f.

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ne zu verschwinden), dass der Spiegel als begehbare Sphäre der Zeitlichkeit imaginiert wird. In der Metapher einer räumlich ausgedehnten und betretbaren Tiefe der Erinnerung gestaltet Lehr Rauchs Einsicht in die analytische Zergliederung des Ichs, soll denn die Erinnerungsexpedition, die der letztlich tödliche Kopfschuss initiiert hat, das Eingeständnis des Verdrängens bestätigen. Das Erinnern des Vergessens und Verdrängens bleibt als einzige Rekonstruktionsoption für die Vergangenheit, weil das erinnernde Ich zugleich ein sich im Erinnern reflektierendes Ich ist, und die Erinnerungen an das Selbst zugleich als Selbst- und Fremdbilder projizierbar sind, auch wenn Rauch zunächst den Spiegel als Initial für kontrafaktische Eingriffe in das Vergangene denkt.37 Wenn Rauch im unmittelbaren Anschluss an das Spiegelmotiv sich an den Besuch eines Pharmakongresses erinnert und sich dabei Vorstellungen einer Eigenzeit der Schuld verselbständigen, dann erweitert Lehr die Reflexionen Rauchs um die Komponente einer transgenerationalen Transmission der Schuld38: »die angst überkam mich zwischen Angelikas schenkeln selbst noch einmal zu erscheinen oder einen neuen wiedergänger unseres eiskalten vaters gezeugt zu haben als sein wieder zeugendes werkzeug«39

Der eigenen generationellen Position innerhalb einer Genealogie der Schuld gewinnt Rauch mit seinem Suizid die Sinnoption eines kathartischen Bruchs ab, nachdem er zuvor schon den Nachnamen seiner Frau Angelika angenommen und so die Genealogie der Schuld bereits nominell hatte abreißen lassen. Die Transzendierung der Schuld über die eigene Lebenszeit hinaus an die nächste Generation bildet dabei den differenziellen Zukunftshorizont, von dem aus das vergangene Versagen und das gegenwärtige Reflektieren und Erinnern Sinnorientierung erfahren. In der Novelle überlagern sich somit nicht nur die Erinnerungen und Projektionen aus der Gegenwart ihrer Vollzüge als palimpsestartig; ebenfalls palimpsestartig findet die Überlagerung der Schuld der Vätergeneration durch die Symptomatik des gescheiterten Erinnerns der Nachfolgegeneration statt.40 Erst in der Reflexion des Erinner37

Vgl. zum counterfactual thinking, das in Frühling eine wichtige Komponente im Hinblick auf die Schuldverarbeitung Rauchs ist, Mandel: Counterfactual and causal explanation, S. 11 f.

38

Vgl. zur generationenübergreifenden Transmission von realer Schuld und ihrer transgenerationalen Introjektion Hirsch: Schuld und Schuldgefühl, S. 282 ff.

39 40

Lehr: Frühling, S. 62 f. Rauchs Suizid trägt insofern Züge einer nachgelagerten generationalen Sanktionierung im Zeichen einer autodestruktiven Reaktion auf eine moralische Krise. Was im Text zur Diffusion des Ich beiträgt und von Rauch mehr und mehr erinnernd reflektiert wird, ist die prinzipielle Skepsis als beobachtende Grundhaltung, die das Resultat des kollabier-

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ten im Prozess des Sterbens, der den Tod mit Gewissheit in Aussicht stellt und die Eigenzeit des Individuums Rauch abschließt, erfährt das Ich die Stabilität als Ich im Moment, im Augenblick, im Ereignis der reflektierten Erinnerung: »jetzt bin ich endlich wieder in und vor mir vorhanden«41 lautet im Anschluss entsprechend Rauchs Resümee der erinnerten Kongressepisode. Insofern ist die Erinnerungspoiesis Rauchs nicht nur eine reine, sinnspezifische Re-Aktualisierung von in der Vergangenheit situierten Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken. In diese Poiesis inkorporiert ist als Mitläufer bereits die emotionale und diskursive Zurichtung des Erinnerten durch einen Erinnernden in Richtung auf eine Zukunft: »Erinnerung […] ist immer das Geschehnis plus die Erinnerung an seine Erinnerung.«42

S TROBOSKOPISCHE E REIGNISHAFTIGKEIT – D AS AUFBLITZEN DES TEMPORALISIERTEN B EWUSSTSEINS Lehr konzipiert die Sterbesituation Rauchs gleichsam als dessen eigener »Biographiegenerator«43, mit dem Rauch aus der Vielzahl seiner Erlebnisse und Handlungen selektiv und reflexiv Lebenslauf und Lebensführung der Selbstthematisierung zuführt. Und hier zeigt sich der Abbildungsvorteil einer auf die operative Mimesis des Bewusstseins verpflichteten Stilistik. Denn das Ausbilden einer Eigenzeit als identitäre Matrix des Individuums ist in Frühling nicht einem diegetischen Überbau, einem externen Erzähler, einem auktorialen Beobachterstandpunkt überlassen, der unabhängig von der Figur deren Lebenslauf referiert. Da alle Informationen über die Welt-im-Text Rauchs Selbstbeschreibung44 entstammen, schlägt die Beobachtungsrelativität der restituierten Ereignisse auch durch auf die Rekonstruktion des Lebenslaufs. Dieser ist damit eben nicht mehr vorgelagerte Einheit, sondern das ten Vaterbilds ist und darüber hinaus auch die Erinnerungen und Wahrnehmungen Rauchs bis zu seinem Tod prägt. Die poetische Formierung seiner Bewusstseinsakte ist in dieser Hinsicht als Ausdruck dieser Diffusität und Skepsis lesbar, wie sie z.B. von Garbriele Rosenthal als psychosoziale Effekte beschreiben wurden: »Während Kinder und Enkel von Überlebenden wissen, dass ihre Eltern beziehungsweise ihre Großeltern verfolgt wurden, haben die Kinder und Enkel in Familien von Tätern nur vage Ahnungen. Für sie hat das zur Folge, dass sie an ihrer Wahrnehmung immer wieder zweifeln« (zit. n. Alberti: Seelische Trümmer, S. 136). 41

Lehr: Frühling, S. 63.

42

Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 149.

43

Hahn: Konstruktionen des Selbst, S. 125.

44

Die Paradoxie ergibt sich in diesem Falle daraus, dass die Beschreibung zum Beschriebenen dazugehört, sich selbst aber in diesem Moment der Beschreibung noch nicht mitbeobachten kann.

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je momentane Produkt von Ordnungsereignissen, die den »Lebenslauf […] über die Fiktion biographischer Repräsentation als Wirklichkeit zugänglich«45 machen. Nimmt man die Ereignishaftigkeit dieser Repräsentationsprozesse ernst, dann deckt sich die Ereignisstruktur des Textes mit der Temporalisierung der Sinnstrukturen. Rauchs erinnernde Zeitreise in die eigene Vergangenheit wird so zu einer Geschichte intensiver Sinnverschiebungen, die auch die Geschichte der Reflexion dieser Sinnverschiebungen mit aufnehmen muss. Und daraus leitet sich zu weiten Teilen die Komplexität der gegeneinander laufenden Verschiebungen von Zeitbewusstsein und verzeitlichtem/verzeitlichendem Bewusstsein ab. Dass der Text die Komplexität dieser Verschiebungen nicht umschifft, sondern als poetischen Impuls literarisch fruchtbar macht, ist eine seiner ästhetisch-programmatischen Facetten. An dieser Stelle bietet es sich an, neben der Flussmetaphorik, deren semantische Verortung die letzten Ausführungen eingeleitet hatte, auch der Blitzmetaphorik Aufmerksamkeit zu schenken, da mit ihr ein spezifisches Beobachtungsschema zur Anwendung kommt, mit dem Rauch die Diskontinuität seiner Erlebnisse semantisiert. Da er sich selbst zum Erlebnismaterial wird, sucht er in seinen Selbstbeobachtungen nach einer Erlebnistheorie, die sich in Metaisierungs-Instrumenten manifestiert. Insbesondere auf Blitzmetaphorik und Blitzrhetorik lässt Lehr seinen Sterbenden zurückgreifen und verlängert die Eigenzeit des Zeitbewusstseins durch Blitzsymbolik und Blitzmotivik gezielt auf den Topos der Ereignishaftigkeit. Das Blitzhafte findet sich in Frühling in unterschiedlichen poetischen Funktionen. Teils taucht es auf als Attribut von wahrgenommen Ereignissen, teils als Attribut des Wahrnehmungsereignisses selbst. Rauch reagiert auf Erlebnisse mit der Assoziation des Blitzhaften auch dort, wo es nicht um Attribution, sondern vielmehr um Repräsentation geht. In diesen Fällen fungieren der Blitz und das Blitzhafte als Synonyme für das Emergieren dunkler Bilder aus der Erinnerung. Deren plötzliches Erscheinen fesselt die Aufmerksamkeit, indem sie sie bannt. Das Verweisspektrum des Blitzhaften geht dabei in seiner Komplexität weit über die Versinnbildlichung des Epiphanischen hinaus. Besonders auffällig ist die Verschränkung des Blitzhaften mit dem Fotografischen: »mein leben ist doch nichts als diese blitzlichtszenen meiner brennenden Erinnerung«46. So erscheint durch das sprunghafte Eigenleben des Erinnerns und Assoziierens für Rauch das Leben selbst als fotografische Abbildreihe. Das Blitzlicht als Figur einer fotografischen Poiesis (Rauch) und Poetik (Lehr) steht in diesem Sinne für die Plastizität des Erinnerten, das zu einer zeitlichen Plastik erstarrt. Das Erinnerte entspringt einer seriellen Momentfotografie, die sich in Rauchs Gedanken zu einer chronofotografischen Reihe fügt – einer Reihe allerdings, deren Elemente sich auch auflösen oder verschieben können. Für die Zeit des Erinnerungsereignisses, das sich auf die Dauer eines Blitzes festlegen lässt, gelingt 45

Hahn: Biographie und Lebenslauf, S. 94.

46

Lehr: Frühling, S. 51.

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dem Bewusstsein die eigene Objektwerdung als zeitgefrorene Realität im Bild. In diesem Beobachtungsschema findet Rauch die adäquate Beschreibung dessen, was seinen Beobachtungen Stabilität gibt. Das Blitzhafte wird umgewertet und potenziert die Wahrscheinlichkeit des Festhaltens, statt als Mechanismus zu fungieren, der das Unerwartete und Unwahrscheinliche zwanghaft in die Bemühungen um identitäre Selbstbeschreibung einschleust. Gegen die »Nacht der Erinnerung«47 stellen sich die »Blitzlichtmale meiner Erinnerung«48, gegen das Diffuse und Amorphe stellen sich die blitzlichterhellten, scharfen Konturen und harten Kontraste einer präzisen Fokussierung. Die fotografische Erinnerungsgenese zitiert aber nicht nur die intensive und problematische semantische Einbindung fotografischer Artefakte in die Gedächtnisdiskurse über die NS-Zeit.49 Sie erfüllt auch eine operativ mimetische Funktion. Denn die mit dem Blitzhaften aufgerufenen Wahrnehmungskonzepte des Plötzlichen und Unerwarteten werden mit der ›Zeitfalle‹ des Fotografischen als zeitgenauer Markierungsgeste so verschränkt, dass die ›Blitzlichtmale‹ als reine Markierung, als rauschfreie Information lesbar werden.50 Das mit diesem Mal, dieser Markierung angedeutete Punktuelle der Erinnerung ist aber – soll sie das Leben stillstellen und erfassen – mit einem Paradox belastet. Denn wie soll das sich erinnernde Ich sich als Erinnernder innerhalb der Kette dieser Blitzlichtszenen, dieser Blitzlichtmale beobachten, wenn der Beobachter selbst sich im Moment des Beobachtens beobachten müsste, um sein Leben und sein Selbst als Ganzes überschauen zu können? Diese paradoxe Sinnstruktur ereignishaften Erinnerns und Selbsterfassens arbeitet Lehr gezielt in die Reflexionsvollzüge Rauchs ein. Die Erinnerungstätigkeit wie auch die Assoziationen, die imaginierten Wahrnehmungen wie auch die unkontrolliert aufblitzenden Halluzinationen und Phantasmen erscheinen Rauch mehr und mehr als ein und dasselbe – auch wenn er rückblickend zwischen Erinnerungen, Träumen und Wahnvorstellungen zu unterscheiden vermag, wie sich etwa im Moment der Assoziation von Sommersprossentinktur und der Zerstückelung des Bruders durch seinen Suizid zeigt: »es gibt keine erklärung für diese vorgänge es sei denn man wollte sie als traum ausgeben im liegen geträumt«51. Aber für diese traumhafte Assoziation gilt operativ dasselbe wie für diejenigen Erinnerungen, die sich im Laufe der 39 Sekunden stabilisierend kondensieren und konfirmieren. Alle 47

Ebd., S. 38.

48

Ebd., S. 23.

49

Vgl. Horstkotte: Nachbilder, S. 12-14. Vgl. zum Phänomen der Unschärfe als poetologischer Impuls ebd., S. 115 ff.

50

Das Mal zeigt etymologisch genau diese Verschränkung von seriellem Punkt (›das erste Mal‹, ›einmal‹) und dem Mal als Signum, Markierung, als Marke einer Differenz, die eine Differenz macht, ergo einer Information (vgl. Derrida: Limited Inc, S. 48 f.)

51

Lehr: Frühling, S. 100.

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Momente der Wahrnehmung, Anschauung und Reflexion sind Innenereignisse, blitzen auf und müssen vergehen, soll denn die Autopoiesis des Bewusstseins nicht ins Stocken geraten. Dass diese Autopoiesis der einzige und letzte noch verbliebene Indikator für die Existenz Rauchs ist, schafft die dramatische Spannung zwischen der rätselhaften Chiffre der Familiengeheimnisse und dem in den Tod auslaufenden Lebensstrang eines sich über seine Vergangenheit dechiffrierenden Ichs. Alles, selbst die beharrliche Rumination der Erlebnisse und Erinnerungen, kann nur als Ereignis stattfinden, ist daher vergänglich und bedarf, um ereignistranszendente Dauer beobachten zu können, eben weiterer Ereignisse. Das Ich Rauchs schiebt so sein ›Ich‹ beobachtend vor sich her. Und hier schlägt die Umwertung der Blitzmetaphorik erneut dramaturgisch zu Buche. Denn so wie das Ich »aus einem Blitz«52 hervorgeht, so ist es wiederum ein Blitz, der das Ich »zer:setzen«53 wird.54 Stilistisch korreliert dieser von Ereignis zu Ereignis sich verschiebende Erfahrungs- und Erlebnisprozess mit dem Kunstgriff eines ›Jetztstils‹, der in jeder Sekunde den Aufbau der Erinnerungen Rauchs und gleichzeitig den Abbau des Existenzindividuums präsentiert. Die komplizierte Textstruktur ist somit lesbar als Schattenmuster der komplexen Zeitlichkeit, mit der das Bewusstsein in ständigen kontrollierten und unkontrollierten Sprüngen zwischen den Episoden des Lebenslaufs bzw. den Zäsurereignissen hin und her springt. Das »Flackern der Zeit«55, als das Rauch den aufblitzenden Andrang der Ereignisse empfindet, entspricht dabei dem stroboskopischen Flackern der Autopoiesis des Bewusstseins, das als generische Unruhe der operativen Elementsukzession begreifbar wird.56 Es geht aber bei diesem Ereignisflackern nicht schon um eine »die Kontinuität der erzählten Zeit aufhebende Dignität.«57 Denn dann müsste jedes blitzhafte Ereignis mit seinen Diskontinuitätseffekten bereits den Ereignischarakter einer unerhörten Begebenheit zugewiesen bekommen, was die gattungstypische Form, der Lehr trotz aller Devianz in vielen Punkten treu bleibt, implodieren ließe. Der Text wäre dann ein einziger Zusammenhang von unerhörten

52

Ebd., S. 28.

53

Ebd., S. 44.

54

Ähnlich, aber noch mit paradoxer epiphanischer Rückbindung an die somatische Sphäre des Ich und die Sphäre des Psychischen formuliert dies bereits Hofmannsthal in einer Tagebucheintragung: »Wir haben kein Bewußtsein über den Augenblick hinaus, weil jede unsrer Seelen nur einen Augenblick lebt. Das Gedächtnis gehört nur dem Körper: er reproduziert scheinbar das Vergangene.« (Hofmannsthal: Tagebucheintrag vom 17. Juni 1891, S. 333)

55 56

Lehr: Frühling, S. 130. Vgl. Fuchs: Intervention und Erfahrung, S. 142. Fuchs spricht hier dann auch von einem »Flimmern« der Autopoiesis.

57

Bohrer: Plötzlichkeit, S. 43.

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Begebenheiten und das Bewusstsein Rauchs gar ein hortus conclusus permanenter Epiphanien.

B ULLET

TIME



KINETISCHE

M ASSVERHÄLTNISSE

Die literarische Darstellungskonfiguration der entschleunigten stroboskopischen Phänomenalität in Frühling weist Parallelen zur Filmtechnik der bullet time auf, auf die der Text sogar motivisch anzuspielen scheint. Kennzeichen der Zeittechnik der bullet time ist die illusionistische Dehnung der Zeit durch die Darstellung eines deutlich verlangsamten kinetischen Prozesses. Zeit wird in diesem visuellen Verfahren als konstante Dimension transzendiert und virtualisiert. Besondere Popularität erfahren derart aufbereitete Filmszenen insbesondere dann, wenn nicht nur die Dimension der Zeit moduliert wird, sondern durch technisch-optische Bifurkation die Zeit in eine zeitverlangsamte Ebene und eine Normalzeitebene auseinanderfällt und gleichzeitig beobachtbar wird. Es geht also im Wesentlichen um eine Duplizierung der temporalen Maßverhältnisse der Zeit und die simultane Wahrnehmbarkeit (bzw. produktionsästhetisch: Inszenierung) unterschiedlich modulierter Zeiten. Der Terminus bullet time bezeichnet einen speziellen Typus extremer temporaler Divergenz zwischen diesen modulierten Zeiten. Am Beispiel einer berühmten Szene aus dem Film Matrix – deren Handlungsszenario die Anwendung des Zeitverkürzungsverfahrens auf die Flugzeit eines abgefeuerten Schusswaffenprojektils ausmacht – lässt sich das etwas deutlicher veranschaulichen. Eine auf den Protagonisten Neo abgefeuerte Kugel wird durch dessen übernatürliche Fähigkeiten in ihrer Fluggeschwindigkeit derart verlangsamt, dass sie in der Luft zu schweben scheint. Die Eigenzeit des Projektils und die Eigenzeit des Protagonisten werden derart parallelisiert, dass das extrem verlangsamte Projektil in meditativer Geste betrachtet, umkreist und sogar gefahrlos taktil affiziert werden kann.58 Was im Film thematisch als Aufbegehren gegen die (Computer-)Macht einer simulierten Wirklichkeit und allegorisch als philosophische Steuerungsutopie lesbar ist, zeigt sich zeittheoretisch und zeitästhetisch als vraisemblance einer Sinnestäuschung, die letztlich das augustinische Beobachtungsschema von aeternitas/tempus reanimiert. Die bis zum Nullpunkt der Zeit verlangsamte Kinetik des Geschosses figuriert als Metapher einer Proto-Ewigkeit und damit als Diabolik eines ober- oder unterhalb der ›realen‹ Zeit situierten Dauerjetzt, das nicht an sich quantifizierbar ist, sondern nur über die kinetische Differenz zu erwartungsgemäßen Bewegungsrekonstruktionen. Temporal58

Dadurch und durch die Technik der interpolierten virtuellen Kamerafahrt (universal capture) um das bis zum Stillstand retardierte Projektil wird die modulierte Zeit »regelrecht aus der Zeit heraus gemeißelt und erhält skulpturalen Charakter« (Volland: Die Ästhetik der ›RaumZeit‹, S. 120)

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ästhetisch ergibt sich der Irritationseffekt primär aus der Adaption der Eigenzeit des Projektils an die Eigenzeit seiner visuell-diegetischen Präsentation. Und diese Adaption kann sich – soll der Effekt als solcher wahrnehmbar sein – nur als Konstruktion einer unmöglichen Wirklichkeit präsentieren. Eine solche unmögliche Wirklichkeit ist das strukturbildende Movens des Darstellungsprozesses wie auch der Eigenzeit des erinnernden Erlebens und des erlebenden Erinnerns in Frühling. Löst das Eindringen des Projektils die Immobilität und das Verstummen Rauchs erst aus, so imaginiert Rauch die Zeit bis zum Tod als Kürzestspanne des Flugs des Projektils durch seinen Kopf. Er imaginiert die sich ihm eröffnende Möglichkeit der Selbstschau als Eintritt einer »ruhe nach dem Schuss während der langen reise des projektils zwischen den berstenden wänden: meines schädels:«59. Auch wenn die Kugel bereits wieder ausgetreten zu sein scheint, imaginiert Rauch eine retardierend modulierte Zeit des Geschossflugs, in der im Memorieren des Erlebten das Gelebte ermittelt werden kann. Damit ist bereits die primäre temporal-formale Gestaltung des Textes angesprochen und wird von der Figur auf die Logik des make believe der Rezeptionshaltung des Lesers übertragen. Das Initialereignis des Schusses assoziiert Rauch wiederum mit dem Blitzhaften und bettet die Ursache-Wirkungs-Relation von Schuss und Tod in eine paradoxe Lichtmetaphorik. Der Schuss wird so zum »blitz. Licht / das mich aus. Löschte«60. Die poetische Bifurkation in erlebte und erzählte Zeit, wie sie via Differenz von retardierter Geschossflugzeit und extendiertem Sterbeprozess sichtbar wird, spiegelt sich in der Überhöhung der Präsentationszeit der Bewusstseinsdarstellung, die zugleich die Präsenzzeit des Bewusstseins ergibt. Die Logistik des Bewusstseins erzeugt eine autonome Geschwindigkeit, die immer deutlicher aus der Latenz bricht und als Aufmerksamkeitsmagnet den Blick auf die Selbstreferenzseite der literarischen Fiktion und damit auf die symbolisch-sprachliche Darstellung des Bewusstseins als literarischem Objekt lenkt. Mit weiteren Wortfeldern zeichnet Rauchs nach sprachlicher Entsprechung tastendes Bewusstsein textintern die textübergreifende Paradoxie eines geschlossenen und zugleich entgrenzten Beobachtungsgegenstands nach. So heißt es in der dritten Sekunde nach dem Schuss bereits: »Mir ist so weich. Zu Mute. Als könnte mir oder nichts: mehr geschehen. […] Haben Sie einen Denk: Arzt? Denn man hat mich. Geblitzt. Jetzt bin ich. Lichtgewaschen bis durch die Knochen wie ein Röntgen: Bild so leicht.«61 59

Lehr: Frühling, S. 119.

60

Ebd., S. 68.

61

Ebd., S. 15. Dass hier das Blitzen passivisch realisiert wird, hängt sachlogisch mit der Verweigerung Rauchs zusammen, sich selbst zu erschießen. Die Waffe hält Gucia, während Rauch ihren Finger am Abzug entscheidend bewegt. Darüber hinaus bestärkt diese Passivität den asthenischen Charakter Rauchs und hat Züge einer generationellen

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An anderer Stelle wird die röntgenhafte Transparenz des Bewusstseins direkt als Öffnungs- und Penetrationsszenario geschildert, wenn das, was »hinter geschlossenen Lidern« versteckt ist, jetzt über den »geöffneten Schädel zugänglich wird«62 und »[d]as schwarze Bild von mir in meinem breiten Schädel«63 offenbart. Die Öffnung des Schädels als Phantasma einer externen Bewusstseinsfokussierung ist jedoch nicht nur eine metonymische Anspielung auf die Aufhebung der Hermetik des im Kopf situierten Bewusstseins, das als open box vorliegt. Die traumartig retardierte Flugdauer des Projektils eröffnet das Bewusstsein metaphorisch als dreidimensionale Sphäre, und zugleich spricht der Text in der ›Stimme‹ Rauchs diskursiv über seine eigenes Vorstellungsverfahren, mithin seine ästhetische Eigenzeit. So wie Rauch beschreiben kann, »welchen Weg die: Kugel nehmen musste bevor sie aus meinem Schädel. Wieder hinaustreten […] konnte«64, so kann der Leser den Weg, den das Bewusstsein intentional oder nicht-intentional in seinen letzten Sekunden eingeschlagen hat, an seiner fiktiven Ausstülpung ins Textuelle nachvollziehen. Die entscheidende Differenz liegt aber in der Inkompatibilität der kausalen, chronologischen Determination, wie sie die Flugbahn der Kugel kennzeichnet, und der Kontingenz der Anschlussselektionen und Sinnkonstruktionen des Bewusstseins, wie sie sich in der Heterogenität und Komplexität der Verknüpfungen niederschlagen, die das Bewusstsein von Moment zu Moment konstituieren. Das literarische Projekt einer Versprachlichung und Vertextung des Bewusstseins wird hier, wie es Benjamin für den Film-Dada-Konnex beschreibt, zum Projektil, das die imaginären Einblicke in die Eigenzeit der black box liefert: »Aus einem lockenden Augenschein oder einem überredenden Klanggebilde wurde das Kunstwerk bei den Dadaisten zum Geschoß. Es stieß dem Betrachter zu. Es gewann eine taktile Qualität, damit hat es die Nachfrage nach dem Film begünstigt, dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Betrachter eindringen.«65

Das Projektil selbst fungiert in dieser poetologischen Analogie als Penetrationsinstrument und aufzeichnende Sonde zugleich. Während die Kugel in linearer Sukzession ihren Weg »durch das zeit: licht durch die zerreißenden folien der erinnerung durch den schussbahntunnel in meinem endlich überflüssigen Schädel ich«66 Diagnostik, sofern man den Text nicht als Fallstudie, sondern Rauch als Repräsentanten einer gruppenspezifischen Grundhaltung einliest. 62

Ebd., S. 139.

63

Ebd., S. 49.

64

Ebd., S. 137.

65

Benjamin: Kunstwerk, S. 502.

66

Lehr: Frühling, S. 138.

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zieht, wird ihre bullet time retardiert, um ihre Umwelt beobachten zu können. Erst die Retardierung auf die Zeitmaße des Bewusstseins schafft die logistische Matrix, mit der sich die intentionalen und nicht-intentionalen Bewusstseinsakte in ihrer dimensionalen Tiefe, in ihrer vektoriellen Verknüpfung in alle Zeitzonen vor und gegen die Laufrichtung der Zeit realistisch darstellen lassen.67 Diese irritierende und den Lesefluss strapazierende Entschleunigung gewinnt semantisches Profil zusätzlich dadurch, dass die Linearität der zeitlichen Sukzession durch den Flug des Projektils, der wie die 39 Sekunden der erzählten Zeit nur eine Richtung kennt und damit den Horizont der Vergangenheitsrekonstruktion bildet, als Negativhorizont beobachtbar bleibt. So gelingt textthematisch einerseits die Darstellung der offenen kontingenten und »allmähliche[n] Verfertigung der Vergangenheit«68 durch die rhizomatische Verknüpfung zeitlich, semantisch und thematisch nah- und fernliegender Bewusstseinsinhalte. Andererseits aber bleibt die Linearität der Zeit metonymisch und auf der Ebene der im Text (verlangsamt) abgezählten erzählten Zeit stets als Sinnordnungsdimension präsent, die das eigene und das fremde Erinnerte, das Unmittelbare und das längst Vergangene, das zur Sprache Gebrachte und das Ungesagte bzw. Unsagbare, das Ereignis und das Versäumnis letztlich in eine temporalkausale Beziehung überführt. Die zeitformale Anlage des Textes macht dies lesbar, allerdings wird diese Sachlogik der Zeitbifurkation textintern zugunsten einer Hierarchisierung der linearen Zeit zunehmend explizit in Dysbalance gebracht. Auf den letzten zwanzig Seiten, die deckungsgleich sind mit den letzten fünf Sekunden im Leben Rauchs, werden die wesentlichen Stationen, Episoden und Ereignisse, die er erinnert, repetitiv geschildert und in eine deutlicher chronologisch gestaffelte Ordnung gebracht. So erfährt der Leser letztlich das Ausmaß der unabwendbaren, kontingenten und zufälligen biographischen und zeitlichen Verstrickungen der zentralen (erinnerten) Figuren. Dadurch wird z.B. klar, dass der im Garten der Eltern sich nackt ausziehende Mann ein ehemaliger KZ-Häftling war, der den Vater Rauchs als seinen Peiniger identifiziert und aufgespürt hatte. Ebenso verhärtet sich die zunächst noch vage Identität der Prostituierten Gucia, mit der Rauch den Doppelsuizid plant und durchführt. Den die Zufälligkeit der Begegnung in einem Bordell transzendierenden Konnex zwischen den suizidalen Figuren bildet dabei der Umstand, dass Gucias Mutter als Inhaftierte im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück zur Prostitution 67

Und zwar realistisch im Sinne einer psychischen Kategorisierung von Geschwindigkeiten: »Es gibt keine vorkategoriale Geschwindigkeit, mithin auch keine ›natürlich‹ vorgegebene Seinslage, die wir zu Recht mit diesem Begriff in Beschlag nähmen. Denn Geschwindigkeit ist eine reine Relationsbestimmung und folglich das Resultat kognitiver Teilungsprozesse, besitzt daher keine ontologische Eigenständigkeit.« (Kirchmann: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck, S. 127)

68

Vgl. Welzer: Über die allmähliche Verfertigung der Vergangenheit.

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gezwungen und in dieser Zeit auch ins Konzentrationslager Dachau (»aus der Hölle ins Verderben«69) deportiert wurde, wo sie – mit der Aufgabe betraut, die »eiskalten Leiber des Dr. R. zu wärmen«70 – dem an Unterkühlungsexperimenten am Menschen beteiligten Vater Rauchs begegnet war.71 Das koinzidentielle Kreuzen der Eigenzeiten von Gucia und Rauch, deren genealogische Linien sich in der asymmetrischen Konstellation von Täterbiographie (»unseres eiskalten Vaters«72) und Opferbiographie (»deine nie wieder gesundete Mutter«73) bereits verschränkt finden, liefert Rauch erst die Nähe zu den Fernwirkungen der väterlichen Täterschaft, von der letztlich der Impuls ausgeht, den Suizid durchzuführen, den Rauch als ultima ratio hinsichtlich der ultima irratio der väterlichen Verbrechen stilisiert. Letztlich betont der Text in diesen finalen Passagen die parallele Linearität von Autodestruktion und autobiographischer Sinnerzeugung. Dass diese Sinnerzeugung das Ergebnis einer Montage von Zitaten, Reihungen von Erinnerungssplittern, faktischen und fiktionalen Gedächtnisinhalten, Fantasieschüben und Wahnvorstellungen ist, spiegelt die strikt bewusstseinsmimetische Anlage, mit der Lehr Geschlossenheit und Offenheit, Kohärenz und Entgrenzung der singulären Eigenzeit des Bewusstseins poetisch zu beobachten sucht. Die Verlangsamung durch Modulierung der ›objektiven‹ Zeit (die länger als 39 Sekunden läuft, also fast stillgestellt ist) dient dazu, das Nebeneinander und die radikale Kontiguität der Bewusstseinsereignisse ausgedehnt anvisieren und ihre spezifische Gestalt exponieren zu können. Das geschieht, indem das Bewusstsein in seiner vernetzenden Beobachtungspotentialität und zugleich in seiner operativen Sukzessivität zum Ausdruck kommt, also für den Leser operative Zeit und Beobachtungszeit wie auch deren Differenz gleichermaßen erfahrbar werden.74 Die notwendige Linearität der Folge der Be69

Lehr: Frühling, S. 106.

70

Ebd., S. 133.

71

Meike Herrmann hat die Bezüge in Frühling zu den historisch verbrieften Unterkühlungsexperimenten, die von Sigmund Rascher in Dachau geleitet wurden, rekonstruiert (vgl. Herrmann: Vergangenwart, S. 232-236).

72

Lehr: Frühling, S. 62.

73

Ebd., S. 106.

74

Der Leser kann dann im und am Text beobachten, wie das Bewusstsein Rauchs rekursiv erst zu dem wird, was es an sich zu beobachten sucht: »Auf der Ebene der Gedankenfolge herrscht deshalb Inkohärenz und rein lineare Sukzession. […] Nur indem ein neuer Gedanke sich als Beobachter eines vorherigen aufführt, entsteht Aufmerksamkeit mit nichtbeliebiger, durch die Vorstellung vorgezeichneter Anschlußmöglichkeit« (Luhmann: Die Autopoiesis des Bewusstseins, S. 62). So bleibt bei aller sichtbaren Verkettung der Bewusstseinsereignisse offen, wie die einzelnen intentionalen wie auch nichtintentionalen Verknüpfungen von intentionalen und nicht-intentionalen Ereignissen semiotisch zu handhaben sind. Wie auch immer die Semiose verfährt, sie wird sich reiben

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wusstseinsakte und die Kontingenz der Aufmerksamkeitsrichtung der rhizomatisch kohärenzsuchenden Beobachtungen Rauchs rahmen sich gegenseitig, sind paradox ineinander verschränkt und strapazieren schon dadurch das Vorstellungsvermögen des Lesers, was sie letztlich in ihrer ästhetischen Formierung zu Irritationsmedien für die intelligibel-sinnliche Beobachtung von Bewusstseinen macht.

L IQUIDE D ISKORPORATION – D IE O RTLOSIGKEIT DES Z EITBEWUSSTSEINS Das Bewusstsein inszeniert Lehr als »Sinnmaschine«75, die sich nicht als Gefäß, nicht als Speicher oder Substanz fassen lässt, sondern immer nur ereignishaft in je singulären Zuständen aufblitzt. Notwendigerweise müssen dazu die Ereignisse des Bewusstseins selbst transformiert werden in die Gestalt »langsamer Blitze«76 und in die räumlichen Koordinaten des Textes. Dessen lineare und narrative Zwänge blendet Lehr aber nicht aus, sondern lässt sie rudimentär in der Linearität der Sprachereignisse und Schriftereignisse wie auch in den Bemühungen Rauchs um eine kohärente Identitätsnarration immer mitlaufen. Die Darstellungsparadoxien, in die der Text notwendig laufen muss, werden dabei aber nicht derart narrativ entfaltet, dass erzähllogische Narrativität die dominante Mitteilungsgrammatik bildete. Dies wäre stilistisch aufgrund der strikten Aktualitätsbezogenheit des Darstellungsmodus problematisch. In einem poetologischen Abriss über die Aufgabe der poetischen Gedächtnisarbeit schreibt Lehr, der Literatur komme es als »Träger der Erinnerungskultur« zu, im unmittelbaren Kontakt mit individuellen und kollektiven Katastrophen das »Leichtflüchtigste festzuhalten«, um so die spezifisch »unmittelbare Katastrophen-Erinnerung der Menschen […] zu verobjektivieren«.77 Aus dieser Perspektive kommt dem literarischen Text als Wahrnehmungsofferte die pragmatische Funktion zu, sich dem »Präparieren des Unmittelbaren«78 zu widmen, um so mit detailgetreuem Blick den Schock, die Paralyse, die intentional und nichtmüssen an der paradoxen gegenseitigen Rahmung von operativer und Beobachtungszeit, die das ›Was‹ des im Text Lesbaren hergibt, zugleich aber das »Formprinzip der zeitlichen Konfiguration« (Ricœur: Zeit und literarische Erzählung, S. 50) ins Oszillieren zwingt. In diesem Sinne ist Lehrs Poetik wohl unter die Schreibweisen zu subsumieren, in denen Ricœur diejenigen »neuen Erzähl-Formen« vermutet, an denen sich das »Konsonanzbedürfnis« des Lesers/der Leserin zu reiben hätte (ebd.). 75 76

Fuchs: Der Sinn der Beobachtung, S. 119. Schafroth: Empfindliche Heftigkeiten, S. 10, in Bezug auf Friederike Mayröckers ›Gedankenpoetik‹.

77

Lehr: Zur Erfindung der Erinnerung, S. 316 f.

78

Ebd., S. 316.

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intentional ablaufenden Prozesse zu veranschaulichen, die als Effekte eines Schlüsselereignisses das Bewusstsein in Gang bringen. Im Fall von Frühling widmet sich Literatur der Seismographie des flüchtigen Wirklichkeitsbestandes eines psychischen Systems, um dessen implizite, motivierte und spontane Ereignishaftigkeit einzufangen. In der introspektiven Anlage drängen Vertrautes und Unvertrautes, Eigenes und Fremdes gleichermaßen an die ›Oberfläche‹ der Aufmerksamkeit, sind gleichermaßen dem wirklichkeitserobernden Subjekt ausgesetzt. Sind alle Ereignisse im Bewusstsein Rauchs zunächst schlicht das Ergebnis eines operativen Auswürfelns von Anschlüssen, so konkretisiert sich in den willentlichen Assoziationen und intentionalen Kombinationsverkettungen der Einfall des Narrativen als Medium biographischer Identitäts- und historischer Sinnstiftung. Entscheidend für das poetische Insistieren auf der Fülle der Ereignishaftigkeit im Text ist die Raumlosigkeit des Bewusstseins, das seine spatiale Extension erst hinzugedichtet bekommt durch eine Raummetaphorik, »die sich dem Umstand verdankt, daß wir uns Zeit gewöhnlich am Raum verdeutlichen.«79 Dieser Form von Simplifikation des Bewusstseins als Container, der Ereignisse unveränderlich präsent hält, widerspricht der Text vehement, indem er erfahrbar macht, wie sich Rauchs Denken und Imaginieren als ein »sich selbst schreibendes Lesen«80 vollzieht, das sich immer hinterher lesen muss, da jedes Sich-selbst-Lesen zugleich ein Schreibvorgang ist, dessen Effekt wiederum gelesen werden muss. Im Sukzessionsgebilde des Textes kommt zur Geltung, wie Rauchs Bemühen um eine Stabilisierung seines Selbst mit jedem Akt das Selbst als Ganzes konterkariert, durchstreicht. Das Ich als Identifikationsfigur des Bewusstseins wird mit jeder Selbstbeobachtung zerlesen und gekittet, und der Kitt selbst wiederum ist nur der Verweis auf den nächsten notwendigen Riss und den nächsten notwendigen, supplementären Kitt. Die perspektivische Einengung auf den Gegenstand Bewusstsein, durch dessen Filter alle thematischen, historischen, aktuellen Referenzen auf der Textebene laufen, problematisiert künstlerisch die ›endo-systemische‹ Inkonsistenz wie auch die Konsistenznarrationen Rauchs, die das Ich als rettende Konsistenzadresse in die Zeit verlagern und damit ortlos machen. So reflektiert Rauch ziemlich in der Mitte der 39 Sekunden Lebenszeit: »Weshalb kein Bild von mir, weshalb bin ich mir selbst ein schrecken […]?«81. In diesem expressiven Eingeständnis der eigenen aisthetischen Blindheit für das Selbstbild im Moment der Selbstbetrachtung artikuliert sich das fundamentale Unbehagen an der Uneinholbarkeit einer transzendentalen Subjektivität. Die aisthetische Blindheit ist der Ausdruck einer An-Ästhetik des Ereig79 80

Fuchs: Der Sinn der Beobachtung, S. 120. Ebd., S. 122. Dies ist eine metaphorische Umkehrung der Metapher einer skripturalen Autohermeneutik, wie sie etwa Max Frisch in einer Tagebucheintragung formuliert: »Schreiben heißt: sich selber lesen« (Frisch: Tagebuch 1946-1949, S. 19).

81

Lehr: Frühling, S. 51.

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nisses, das sich der Beobachtung dort entzieht, wo erst das nächste, zukünftige Ereignis das Ereignis als quasi-gegenwärtiges Geheimnis von der eigenen Gegenwart unterscheidet. Das Ereignis der Selbstbeobachtung trifft das Selbst nie als gegenwärtiges Sein an, sondern nur als »Sein in der Ferne«82. Was sich dabei in die Zeit entzieht, ist die Blindheit des Selbst gegenüber seinem Gesichtspunkt. Der blinde Fleck liegt dort, wo das Gesicht sich nicht im Gesichtsfeld befindet und diese temporalisierte Andersheit von Beobachter und Beobachtetem als unumgängliche différance mit jedem neuen Ereignis (er)neu(t) durchschlägt. Der Text exaltiert in expressiver Bildlichkeit die Sehnsucht nach einer Auflösung dieser paradoxen Selbstreferentialität, diesem paradoxen Selbstaufschub, wie sich an Rauchs Imagination des Körpers als ontologischem Hemmnis der différance und der Paradoxie des blinden Flecks eindrücklich ausgemalt und in den Bildwelten des Räumlichen, Somatischen und Visuellen raffiniert inszeniert findet: »nun also erweist sich: eine neue wundersame geometrische Eigenart meines Körpers, die Drehbarkeit nämlich um die zentrale Längsachse, die In-Sich-Spiegelung, die Verdopplung der Vorderseite bei Ersetzung der unsichtbaren Rückseite. Von innen betrachtet ist es, als würde sich der Kern des Körpers, alles, was unmittelbar unter der Haut liegt, eben in dieser Haut drehen können wie in einem Mantel oder engen Schlafsack – um nach dieser Drehung, einer Drehung allein um 180 Grad, schon wieder bei sich zu sein, um 180 Grad zu früh also finden die inneren Augen die Schlitze der Gesichtshaut, die sie benötigen, die inneren Hände die korrekt orientierten langstulpigen Hauthandschuhe, die Ausprägungen der Haut für die Brustmuskeln und so fort. Die längs durch meinen Körper schneidende, weiße, womöglich papierdünne Marmorlinie ist die Fläche, an der sich die Außenseite meiner Vorderseite spiegelt, und leicht wie eine Spielzeugfigur kann sich der rohe, blutige, innere Mensch in mir in die jeweils andere Sicht drehen: zum Blick vom Saalboden empor in den funkelnden Mahlstrom des Alls: zu einem fast ebenso ungeheuerlichen Blick von oben herab, wie an den Himmel genagelt und nicht abwärtsfallend auf eine Stadt am Ufer eines Flusses.«83

Hier geht es sichtbar um die Verstofflichung der Innenwelt, die zu diesem Zweck als in die Außenwelt des Körpers versenkbares Beobachtungsinstrument fantasiert wird. Diese Fantasie aber ist nicht nur allegorische Figur der Unterscheidung von Innen- und Außenwelt, sie ist auch Phänotyp jener Denkfigur, die das poetische Eintauchen in ein geschlossenes System motivisch zur Grundlage hat. Die Haut wird zur dünnen Grenzlinie zwischen Innen und Außen, Individuum und Welt. Das Szenario eines autoskopischen Erlebnisses, das die Selbstbeobachtung von einem dem eigenen Leib geschiedenen Standpunkt aus imaginiert, setzt den Leib als Garanten des Zeiterlebens ein. Dass die Textstruktur und die Ereignisrealität des 82

Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 309.

83

Lehr: Frühling, S. 32 f.

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Sterbens den Körper bereits von Beginn an als angezähltes Auslaufmodell präsentieren (der Countdown der 39 Sekunden), konterkariert die surrealistische Verausgabung des Körpers durch seine tatsächliche Mortalität. Die Körper-Subjekt-Einheit löst das poetische Verfahren hier so weit auf, dass das Bewusstsein als eigendynamischer Mechanismus separiert und ästhetisch isoliert angesteuert werden kann. Der Körper ist zwar sachlogisch die letzte Rückzugsstätte des Subjekts, aber seine Eigenzeit neigt sich in dem Moment abrupt dem Ende zu, in dem die Eigenzeit des Textes beginnt – denn der Text setzt in dem Moment ein, in dem der Tod des Körper-Bewusstsein-Komplexes beschlossene Sache ist. An die Stelle des lebensversichernden und Erinnerung generierenden ›Mediums‹ Körper/Leib treten dadurch die Medien Schrift/Text, die den Leib als kontingente und damit als nur eine unter anderen möglichen Identitäts- und Eigenzeitbehauptungsformen verorten.84 Entscheidend ist in diesem Kontext, dass die somatische Signatur des sich selbst erinnernden Ich umgewandelt wird in eine semiotische Struktur, mit der sich vielfältige und mannigfache Lebensabschnitte als Anknüpfungspunkte eines ungleichzeitigen Gedächtnisses überlagern.85 Das plotment – nicht emplotment – der Eigenzeit des Bewusstseins transzendiert die Dialektik von Körperzeit und Bewusstseinszeit, indem sie diese Dialektik sozial, d.h. im Raum literarischer Ereignishaftigkeit kommunikativ entfaltet. In der erlebten Diskorporation des Bewusstseins erfährt Rauch schließlich eine Autonomieekstase, einen existenziell »absurde[n] Freiheitsrausch[ ]«86 gar, der im Ereignis des Freitods das Irreversible einer bedrohlichen Lebensgegenwart aufsucht. Besonders markant tritt diese Diskorporation auf dort, wo die wohl bald tödlich wirkende Verwundung des Leibes von der noch kaum affizierten Instanz der Selbstbeobachtung allein gestellt wird: »lauf Robert, es ist der schönste lauf meines lebens über die felder zur stadt hin und höher es braucht bald nichts mehr gesagt zu werden nichts mehr erklärt es ist wie schon einmal im mai als sie auf den wachtürmen tanzten es ist der große lauf über das moos zur stadt hinauf durch das zeit: licht durch die zerreißenden folien der erinnerung durch den schussbahntunnel in meinem endlich überflüssigen Schädel ich laufe auf meinen jungenbeinen hinter dir her«87

Die Reihung »meinem endlich überflüssigen Schädel ich« ergibt sich als Kolon durch das Enjambement des eigentlich semantisch dem »ich« zugeordneten Satzge84

Allerdings gilt dies nur für die funktionale Äquivalenz von Leib einerseits und Schrift/Text andererseits als Medien; Vgl. Srubar: Die pragmatische Lebenswelttheorie, S. 159.

85

Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 149.

86

Améry: Hand an sich legen, S. 342.

87

Lehr: Frühling, S. 138.

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füges »laufe auf meinen jungenbeinen«, das zudem eine präsentische Analepse ist und daher noch den Zustand der Ko-Organisation von Ich und Leib als kindlichnaive Indifferenz von physischer und psychischer Eigenzeit aufruft. Das Bildfeld des Fluiden (»überflüssigen Schädel«) dient aber auch der Versinnbildlichung einer amorphen Zähigkeit, die als Selbstbeschreibung einer zeitdehnenden Homöostase der Darstellung der 39 Sekunden eingesetzt wird: »Algenbäume. Sehr schöne Algenbäume hier links. Wir könnten unter. Wasser sein. Spüren Sie das: man schwebt so. Man kann. Sich Zeit lassen, immer etwas (mehr) Zeit (als man denkt) lassen mit dem nächsten Schritt. Unter Wasser. Unter Wein, könnte ich. Sagen.«88

Als amorphes Fluidum erweist sich das imaginäre, einer medialen Suggestionsstruktur entlehnte Retardierungselement just als die semantische und mediale Konnotation einer Überwindung der Unerfahrbarkeit der Eigenzeit des Bewusstseins durch den Modus der imaginären Transparenz der black box und ihrer Gedankenwelt. Das nachgiebige Medium liefert nur so viel Widerstand, wie für das ausgedehnte novellistische Durchsichtig-Machen bzw. für das Überbrücken der operativen Schließung an zeitlicher Extension notwendig erscheint. Anders als der »Mahlstrom des Alls«89, der einen anti-aristotelischen bewegten Beweger als Superbeobachter imaginiert, gerät das Naturelement Wasser vom Symbol des Lebens zum Symbol der Retardierung des Todes im traumähnlichen Mikrokosmos des Bewusstseins. Wasser, als Symbol des Lebens und als Bildspender für die Metapher des Zeitflusses, wird hier zum Synonym der Zeit in Form eines schwach wechselwirkenden Mediums, gegen das sich die Form der Eigenzeit des Bewusstseins mit jedem Ereignis zu behaupten sucht. Das Motiv der Wechselwirkung von Weltzeit und Eigenzeit im Bildfeld des transparenten und fluiden Mediums Wasser spielt hier ästhetisch die Karte einer Verstofflichung von divergierenden Zeitläufen aus, wie sie sich auch bei Walter Benjamin als »Motiv der Traumzeit: Atmosphäre der Aquarien. Wasser Widerstand verlangsamend?«90 oder etwa bei Alexander Kluge findet, wenn Zeit als ubiquitäres Medium erfahren wird, als sei »alles Wasser. In dieser Hinsicht könnten wir zwar sagen, daß wir in einem Zeitmeer leben, erreichbare Zeit ist aber nur das, was wir durchschwimmen, worin wir uns tarnen, wogegen wir beißen und wie weit wir flüchten können […].«91 Die Eigenzeit des Einzelnen wird so zum Generator jener Ereignisse, mit denen der je neue »paradoxe Augenblick die Zeit zerreißt«92. Und für die Ebene der Textereignisse gilt dann, dass 88

Ebd., S. 11.

89

Ebd., S. 33.

90

Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 1031.

91

Kluge: Die Macht der Bewusstseinsindustrie, S. 202 f.

92

Derrida: Falschgeld, S. 19.

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die Gestaltung der Sinnhaftigkeit der Sukzession der Bewusstseinsereignisse stets (zumindest metaphorisch bzw. allegorisch) an die Differenz von Eigenzeit und Fremdzeit gebunden bleibt. Dass diese Gestaltung sich zusammensetzt aus dem Erleben vergehenden Lebens und der Reaktualisierung vergangenen Lebens im Augenblick der Gewissheit des Sterbens, macht eine Tranche der experimentellen Zurichtung des Textes aus. Eine andere Tranche bildet die poetische Formung des gesamten Geschehenszusammenhangs, der als Zeitvariable im Bewusstsein Gestalt annimmt. Damit ist gemeint, dass die lineare Zeitgestalt des Textes, die erzählte Zeit von 39 Sekunden, allein als Zusammenhang einer Erlebnisserialität jenes Bewusstseins aufgefasst werden kann, das mit seinen Operationen erst die Zeit setzt, die der Leser als imaginärer Teilhaber beobachten kann. Dadurch gewinnt die operative Ereigniszeit und die Beobachtungszeit des protagonistischen Bewusstseins die Ereignisinitiative als vorgeschalteter Zustandsträger jeglicher im Text zirkulierender Eigenzeiten.93 In dieser Konstellation gibt es denn auch keine Zeit jenseits des biographischen Subjekts: »Zeiterfahrung wird zum Korrelat operativer Verknüpfungsleistungen (Bewusstseinsakte, Handlungen), vermöge derer jene Eigenzeit entsteht, die ein biographisches Subjekt als die seinige erfährt. Zeiterleben geschieht hier also nicht in der Zeit, sondern durch die Zeit.«94 Das Subjekt Rauch, das am Ende des Textes im Ereignis seines Todes kollabiert, konstitutiert die Gegenstands-, die Phänomen- und die Zeitebenen im Text. Weil alles, was beobachtbar ist, genuin seinen Beobachtungsleistungen entspringt, und insofern die erzählte Zeit mit dem subjektiven Zeiterleben parallel läuft, fallen die Lebenszeit Rauchs und der Zeitzusammenhang der Textereignisse qualitativ zusammen und ergeben eine monologische Ereignisserie. Da diese ohne narrativen Rahmen bzw. ohne diegetischen Überbau der Wahrnehmung des Lesers ausgesetzt wird, ist das Zeiterleben Rauchs die primäre Zeitdimension des Geschehens. Es ist die (Noch-)Lebenszeit Rauchs, die jede Textpassage zugleich rahmt und jeden Bewusstseinsakt als Ausschlag auf der Lebensleiste der unaufhörlich verstreichenden Lebenszeit aufreiht. Aber nicht quantitative Zeit erfährt der Leser, sondern qualitative Zeit als innere Erlebniszeit. Der starre Blick auf diese erlebte Zeit, von der der Text nicht abweicht – jegliche diegetische und narrative Rahmung wäre eine solche Abweichung –, gibt der Eigenzeit des Bewusstseins erst den Beobachtungsraum, in dem diese sich als Zeitraum entfalten kann. Die Divergenz von erzählter Zeit und Erzählzeit und vor allem die Unbestimmbarkeit der erlebten Zeit wird nicht nur unterstrichen, sondern auch die Superiorität der letzteren gegenüber erzählter Zeit und Erzählzeit durchgehalten, da alle Gegenwarten, alle Re-aktualisierungen vergangener Gegenwarten, 93

Gemeint ist hier nicht das Bewusstsein des Protagonisten, sondern das Bewusstsein als isolierter, monadischer, in sich geschlossener Protagonist.

94

Kauppert: Erfahrung und Erzählung, S. 20.

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alle Wünsche, Imaginationen, Erinnerungen, Adressierungen ihren Ausgangspunkt in den ereignishaften Verkettungen der Autopoiesis des Bewusstseins haben. Die Ereignisse, die diese Autopoiesis operativ in Gang halten, generieren auch jene elementare Zeit, die nie zu sich selbst identisch ist und sich damit der quantitativen Erfassung überhaupt entzieht: »Die Zeit, die da auftritt, ist keine objektive, keine objektiv bestimmbare Zeit […], für sie gibt es keine Uhr und keine sonstigen Chronometer.«95 Der ›narrative‹ Rückzug ins Innere, den die strikt durchgehaltene Technik der operativen Mimesis erlaubt, verweist in seinem Isolationsmodus auf die Genese der Zeitbeobachtungen aus den Sinnselektionen eines Systems, das seine Umwelt und sich selbst je neu auf die große innere Leinwand projiziert. Die literarische und literale Introspektion, als deren Matrix sich der graphemisch privilegierte Text andient, zeichnet in der narrativ unvermittelten Fokussierung auf das fühlende, wahrnehmende und denkende Subjekt die zwei wesentlichen Unzulänglichkeiten übereinander, die das Erleben Rauchs antreiben. Geht es in temporaler Hinsicht um die operative Unzugänglichkeit der Vergangenheit – denn sie ist nicht wieder-holbar, sondern wird mit jeder Wiederholungsgeste weiter in Distanz gesetzt –, so geht es in sozialer Hinsicht um die Unmöglichkeit, operativ in die Umwelt einzugreifen und dort mit Ereignissen Zeit zu produzieren. Denn Rauchs Erinnerungen und Gedanken materialisieren sich nicht zu Schrift, sie sind ihm nicht als ein von ihm getrenntes Objekt, als externalisiertes Produkt, gegeben.

I NTERPERSONALE E IGENZEIT – D ER SOZIALE I NDEX DER E IGENZEIT

DES

B EWUSSTSEINS

Ein wesentlicher Aspekt der literarischen Simulation der Innenschau ist bisher noch nicht zur Sprache gekommen und soll an dieser Stelle gesondert Beachtung finden. Es handelt sich dabei um den Mitteilungscharakter der intentionalen Bewusstseinsakte der Figur. Jede Erinnerung und jede intentionale Assoziation wird im Kontext einer Ansprache ›erdacht‹. Damit sind allerdings nicht Selbstgespräche als Folge von Ichverdoppelungen gemeint. Rauchs Ich adressiert vielmehr die zentralen ›Protagonisten‹ seiner Erinnerungen: seine Frau, seinen Sohn, Gucia und insbesondere seinen Bruder:

95

Husserl: Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis, S. 68. Bei Husserl ist natürlich noch nicht die Rede von der Autopoiesis des Bewusstseins. Sein Modell sieht ein transzendentales Bewusstsein vor, dass Zeitlichkeit überdauert und von den Bewusstseinsakten nicht elementar affiziert wird. Daran reiben sich Derridas Präsenzkritik und Luhmanns Unterscheidung von System und Umwelt.

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»Zwischen deinen Beinen, Angelika, ein blutiger Kopf welche. Freude. / Er lebe in der Hölle, sagtest du, Robert.96 […] wie ein Spinnennetz über deinem Gesicht, Robert, als wüsstest du jetzt schon: was du drei Jahre später erst wissen würdest97, […] Deine Mutter, Gucia, überlebte nicht. Um deine Verzweiflung zu gebären. Sie konnte nichts für das was dich zerfrisst wenn du. Heute sagst du seist wie sie. Dann Opfer einer ganz anderen Gewalt98, […] Gucia, so gerne hätte ich dir meinen bruder vorgestellt meine mutter sagst du plötzlich: ganz polen ist für sie ein grab gewesen sagst du und: ich bin auch ein grab.«99

Daneben imaginiert Rauch auch einen »Freund«, der als ›Adresse‹ des personifizierten Todes lesbar ist, den Rauch an seiner Seite wartend wähnt, und an den seine letzten Gedanken gerichtet sind: »ohne Flügel heben wir. uns hinauf mein Freund tod denn: es ist. Frühling.«100 Dass dieser Freund über weite Strecken aber diffus und anonym bleibt, macht ihn lesbar als Adresse eines abstrakten Beobachters zweiter Ordnung und als Markierung des Lesers als skoptophilen Beteiligten. Der Inszenierungsmodus scheint sich dadurch in seinem Exponiertsein an ein lesendes Bewusstsein metapoetisch zu kommentieren. Durch die Anrede erfahren die Gedanken soziale Indexikalität. Was als rein halluzinatorische Zwiesprache abgetan werden könnte, ist vielmehr eine imaginierte Zweisprache. Denn die Anreden sind stets gebunden an das Ko-Memorieren signifikanter Ereignisse. Was hier aufgerufen wird, ist ein spezifischer Modus interaktioneller Genese von Erinnerungen, der meines Erachtens sämtlichen Textereignissen unterliegt und implizit die Eigenzeit Rauchs zu untergraben scheint. Was sich hier als Simulation im Rahmen einer ästhetischen Simulation einer Bewusstseinsschau lesen lässt, folgt in wesentlichen Zügen dem Phänomen des memory talk. Der Begriff memory talk bezeichnet die soziale Praxis von Vergangenheitskonstruktionen, die in Interaktionssystemen ausgehandelt werden: »Die Gegenwarten, an die Menschen sich erinnern, sind ebenso wie die Gegenwarten, aus denen sie sich erinnern, soziale Konstruktionen einer bedeutsamen Welt des Erlebens und Handelns. […] Das entscheidende Medium dieser Konstruktion ist die Kommunikation.«101 Erinnerungen werden im memory talk motiviert und generiert durch kommunikative Interaktionen mit Gesprächspartnern. D.h., dass Interaktionssysteme Amplifikatoren sind für das Anstoßen von Gedächtnisoperationen und die Annahme von Erinnerungsofferten. Im Austausch mit Anderen eröffnen sich den individuellen Erinnerungsbeständen erst Verifikationsmöglichkeiten, mit denen sie sich für den Auf96

Lehr: Frühling, S. 56.

97

Ebd.

98

Ebd., S. 99.

99

Ebd., S. 104.

100 Ebd., S. 142. 101 Keppler: Soziale Formen individuellen Erinnerns, S. 137.

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druck von Validitätsinsignien auszeichnen. Das erinnernde und sich mit seinen Erinnerungen seine Eigenzeit als Basis für Identität bescheinigende Bewusstsein erfährt in dieser Fassung eine psychosoziale Umschrift. Für das autobiographische Konstruktionssymptom »Eigenzeit« ergibt sich dadurch eine Verwebung mit den Eigenzeiten und Erinnerungen Anderer: »Recollections arise not from the depths of a storehouse in the head, but from a desire to communicate with others about the personal past. What is remembered and how it is remembered are functions of the resulting discourse.”102 Das bedeutet, dass das Bilden von Vergangenheitsbezügen auch im monadischen und intransparenten Bewusstsein das Ergebnis einer diskursiven Regulation und der über Kommunikation wahrgenommenen Eigenzeiten und Eigengeschichten anderer Systeme ist, seien es psychische oder soziale Systeme, Funktionssysteme oder die Gesellschaft als Überbau. Erinnerungen werden in diesem Beschreibungsmodell nicht als autarker Inhalt eines individuellen Containers (»storehouse in the head«) beschreiben, sondern als interpersonell initiierte psychische Effekte konversationeller Praxis. In Frühling ist die persistente Adressierung des Anderen durch Rauch ein Hinweis auf die Perforation der Privation des Bewusstseins, selbst in der Sphäre des autobiographisch Erinnerten. So stellt Lehr die Dynamik des Erinnerns so ein, als kämen die Erinnerungen nicht ohne Kommunikation zustande und seien daher stets mit diesen gekoppelt. Insofern ist die Erinnerungspoiesis Rauchs nicht nur eine reine, sinnspezifische Re-Aktualisierung von in der Vergangenheit situierten Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken. In diese Poiesis inkorporiert ist als Mitläufer bereits die emotionale und diskursive Zurichtung des Erinnerten. Entscheidend für die ästhetische Vermittlung dieser Ferndynamik des Sozialen hinsichtlich der individuellen Eigenzeit ist nun, dass die Bewusstseinsakte nicht als Selbstgespräche oder als innerer Dialog eines gedoppelten Ichs in Szene gesetzt werden. Rauch ›spricht‹ nicht zu sich selbst, sondern zu Akteuren, trennt das Ich also nicht auf, sondern kann es erst absetzen durch die je neu aktualisierte Imagination einer sozialen Differenz, mit deren Hilfe sich Rauch die Adressen und Adressaten seiner Offerten vergegenwärtigt, mit denen er seine Identität, seinen Lebenslauf, seine biographische Konstruktion des Selbst kommunikativ auszuhandeln sucht.103 Dass die Verletzung durch den Schuss ihn mit sich selbst allein stellt, quasi in Isolationshaft versetzt, konfrontiert ihn auch mit einer Umwelt, mit der er kommunikativ nicht mehr interagieren kann. Mit Hilfe seiner Erinnerungen und den darin reaktua102 Hirst/Manier: Remembering as Communication, S. 271. 103 Zwar geben die Bewusstseinsakte Rauchs die Richtung an, die der Text nimmt. So sind Zeitbewusstsein und Intentionalität vom Leser auf ihn problemlos zurückrechenbar. Aber die Bewusstseinsakte sind in Rauchs persönlichem Vollzugsmodus stets mit externer Adressierung versehen, sind somit in temporaler Hinsicht in die Handlungsfelder kommunikativer Interaktion verwoben.

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lisierten Adressen und Akteuren werden Eigenes und Fremdes, trotz ihrer operativen Indifferenz, als auf fremdreferentielle und selbstreferentielle Gegenstände der Beobachtung des Ich verteilt vorstellbar. In diesem Ich kulminieren alle Ereignisse, Geschehen und Eigenzeiten, werden aber von Rauch nicht zirkulär auf sich zurückgeworfen, sondern immer in kommunikative Formen gekleidet. Alles ereignet sich im Dekor der Ansprache, alles hat den Anschein von Äußerungen, alles ist auf eine Antwort, auf die Möglichkeit der fremden Bezugnahme, der Bezugnahme eines Anderen ausgerichtet. Die kommunikativen Offerten Rauchs gehen aber nicht nur ins Leere, weil sie die Sphäre des Protokommunikativen nicht verlassen. Schließlich bleiben selbst emotional hoch aufgeladene Mitteilungen ohne Anschluss: »du, Robert, warst mein todeszwilling in mir. die schattenhälfte die in mich flutete«104; und so bleibt die Mitteilung in sich selbst gewendet und ohne ein externes Verstehensereignis, wie eine »Postkarte zwischen den Wolkentränenflaschen«105. Die suggestiven kommunikativen Offerten scheitern auch, weil sie keine andere Zukunft erreichen können als die Zukunft ihrer eigenen Gegenwart, der eigenen Resonanz. In der Simulation der doppelten Kontingenz zweier Bewusstseine gewinnt das Gedanken- und Erinnerungsarsenal Rauchs zum einen die Form einer Mitteilung, die Zweiheit voraussetzt. Zum anderen ist in dieser Simulation eine Seite der doppelten Kontingenzkonstellation nur imaginiert. Es kommt zu einem seltsamen »Spiegelspiel«106, in dem Innerlichkeit sich als Äußerlichkeit gespiegelt findet und so cogitans, res cogitans und res extensa rubriziert. Diese Verstellung benötigt Zeit, und sie benötigt viel Zeit, soll sie aufrechterhalten werden. Und diese Zeit ist von Simultaneität geprägt, sie wird im Modus des ›Zusammen-mit‹ erlebt: im Falle Rauchs in der Simultaneität der imaginierten Anderen als Subjekte und Kommunikationsadressen; im Falle des Lesers als imaginierte temporale Ko-Präsenz von beobachtetem Erleben und erlebender Beobachtung. Rauchs Innenwelt ist ein Vexierbild des Vollzugs von Gesellschaft in Episoden historischer, individueller und sozialer Zeit(en). Das Selbst nimmt in dieser Extremsituation den Standpunkt eines Außenbetrachters ein, kann aber die Paradoxie der Selbstbezogenheit der Beobachtung nicht durchhalten und imaginiert daher einen externen Beobachter zweiter Ordnung, der für ihn diesen Standpunkt besetzt hält und die Paradoxie reflexiver Identitätsschleifen in der Sozialdimension, und eben nicht in der Zeitdimension, lösen soll. Was sich dabei in das textlesende Bewusstsein einprägt, ist die Permanenz und Persistenz, mit der das erinnernde Ich die eigenen Erlebnisse und deren »gemeinsame narrative Elaboration«107 verquickt.

104 Lehr: Frühling, S. 80. 105 Ebd., S. 19. 106 Nancy: Singulär plural sein, S. 107. 107 Neumann: Erinnerung – Identität – Narration, S. 58.

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Rauchs Zeitbewusstsein bezieht seine Beobachtungen aus imaginierten sozialen Handlungen. Und erst die Isolationssituation eröffnet die Möglichkeit, das Arrangement der historischen Ereignisse, die sich zu seinem Lebenslauf verdichten, in einen Sinnzusammenhang zu bringen, der nicht über chronologische Kausalitäten allein strukturiert ist. Denn ohne die Interventionsmöglichkeiten des Anderen könnte zum ersten Mal die Verarbeitung der traumatischen Ereignisse und ihre biographisch-sinnhafte Verknüpfung gelingen – ohne Rücksicht nehmen zu müssen auf Enttäuschungen, Hemmnisse, Risiken oder Erwartungen des Anderen. Aber diese Möglichkeit ist prinzipiell durch den Ich-Welt-Bezug, den das Bewusstsein aufrechterhalten muss, verwehrt: »Helfen Sie. Mir! Glauben Sie: Ich würde niemanden. Bitten, wenn mir nicht immer: der Bürgersteig: das Haus: hören Sie diese dunkle Straße sogar: diese Stadt. Selbst! Immer wieder. Entgleiten würde. […] Ich heiße. Habe ich vergessen.«108

Nicht nur entzieht sich dem Ich seine Persistenz, seine Identität und psychophysische Individualität – signifikant ist, dass die Differenz (»Sie«) vor der Identität (»Mir«) erscheint. Die Priorität der Differenz, die der Text gleich in den ersten drei Wörtern zum Ausdruck bringt, zieht sich wie ein roter Faden durch die Bewusstseinsakte Rauchs. Von Beginn an sucht Rauch den Dialog, die Antwort des Anderen, den er als simultanpräsent imaginiert, um die Kohärenz seines Selbst in der Interaktion als den Anderen des Anderen verorten zu können. Das Ich wird zum funktionalen Anderen des Anderen, und verharrt damit als Außen des Innen des Außen im Innen. Den memorativen Pfad des nosce te ipsum sucht das Selbst am sicheren Geländer der diskursiven und kommunikativen Ankerpunkte des Referenz auf das fremde Bewusstsein zu beschreiten. Die stillschweigende Selbstpositionierung wird aus der Stille gezerrt und muss sich zu artikulieren suchen von einem Ich, dass sich nicht mit einem Namen bezeichnen kann, so dass die Kongruenz von Identität und Name blockiert bleibt. Dass das Vergessen des Namens mit der Verleugnung des Namens aufgrund der Familiengeschichte korreliert, liegt nahe und ist ein populäres literarisches Motiv.109 Lehrs Novelle führt in den Bereich, in dem die Trennung von persönlichen Erinnerungen und interpersonalen Gedächtnissen kollabiert, wo die lebensweltliche Realität, die das Selbst sich als seiner Existenz zugrundeliegendes primordiales Fundament unterlegt, nicht seiner eigenen, monadischen, isolierten, autarken Konstitutionsmatrix entspringt. Stattdessen ist die Eigenzeit als Beobachtungsresultat 108 Lehr: Frühling, S. 11. 109 Zu finden z.B. bei William Shakespeare: »JULIA: Verleugne deinen Vater, deinen Namen! […] / ROMEO: Mit Namen weiß ich dir nicht zu sagen, wer ich bin.« (Shakespeare: Romeo und Julia, S. 33)

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immer schon ein Produkt je aktueller Vollzüge von selektiven und historisch unterfütterten sozialen Vollzügen. So ist das Bewusstsein zwar stets die reine Ereignisfolge der eigenen Operationen und Beobachtungen – das gilt für fremdreferentielle Beobachtungen im gleichen Maße wie für selbstreferentielle – aber das Selbst Rauchs erfährt sich als mehr als nur die Gesamtheit seiner Handlungen und Gedanken: »Wie fing es an Mit was Falsche Fragen Denn es kam nur wieder zum Ausbruch Als Opfer von Erinnerungen Obwohl es die Erinnerungen anderer waren.«110 Der Andrang der Erinnerungen, den der Leser mitverfolgt, baut sich nicht nur im Deckmantel der Kommunikation auf. Durch das Einfallen von fremden Erinnerungen und deren Amalgamierung mit den eigenen Erinnerungen erhält die Subjektseite der Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse, Erlebnisse und Handlungen Schlagseite und wird überformt – das Subjekt wird zum Opfer seines eigenen »Montageprinzip[s]«111. So kommt es auch bei Rauch zur Verfertigung der Vergangenheit in der kommunikativen Vergegenwärtigung von Ereignissen durch die Kopplung und Abgleichung verschiedener Eigenzeiten auf gemeinsame Wahrheiten, aus denen sich identitäre Verortungen ergeben, die schließlich Rauch mit dazu bewegen, sich für den Freitod zu entscheiden. Dass dieser Tod letztlich als Befreiung der Eigenzeit von der temporalen Fremdbestimmung durch die Erlebnisse und Handlungen Anderer ist, scheint mir ein wesentliches Motiv für Rauchs Suizid.112

110 Lehr: Frühling, S. 107. 111 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 39. 112 Der den Text auf der Ebene der immanenten Ereignisse rahmende Doppelsuizid Rauchs mit der krebskranken Gucia ist eine literarisch-kommunikative Reminiszenz an den Doppelsuizid Heinrich v. Kleists und der ebenfalls krebskranken Henriette v. Vogel. Der Text stellt diesen Bezug explizit her: »also: Umfassen deine schweißnassen schlanken Finger das Geschenk kühles einläufiges. Metall. Noch aber denkst. Du ich. Wäre ein. Wahrer Kleist jedoch falle ich schon. Auf die Knie vor dir. Wie seltsam denke ich […].« (Lehr: Frühling, S. 114). Das Suizidszenario, mit dem Rauch die eigene geplante Durchführung vergleicht und sich im Vergleich inferior wähnt, weil er nicht wie Kleist zuerst die Tatgenossin und dann sich selbst erschießt, ist – abgesehen von seiner Signifikanz für die Bestimmung des Mentalstils der Figur selbst – auch ein Sprungbrett hinüber zu Kleists Schrift Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. In dieser ordnet Kleist bereits die Imagination der Möglichkeit des Einfalls fremder Eigenzeiten in Form von Interaktionsereignissen als notwendige »Selbstinformierung« (Hahn: Rauschen, Gerücht und Gegensinn, S. 107) ein, mit der die Autopoiesis des Bewusstseins (für die »Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft«) »noch um einen Grad höher gespannt« werde. (Kleist: Über die allmählige Verfertigung der Gedanken, S. 536 f.) Diese Spannung ergibt sich in Frühling bereits aus der Todesnäheerfahrung Rauchs.

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K OPPLUNGEN – D IE E IGENZEIT DER E IGENSINN DER S PRACHE

DES

B EWUSSTSEINS

UND

Das Bindeglied zwischen dem Bewusstsein und dessen kommunikativer und diskursiver Rahmung ist Sprache. Im Operieren mit Sprachsymbolen erreicht das Bewusstsein ein höheres Maß an Komplexität und Reflexion und erfährt sich dabei vor allem als das, was diesseits der Sprachsymbole situiert ist. Folgt man der Annahme, das Bewusstsein erfasse sich selbst in seiner Komplexität erst durch das Operieren von Symbolen, dann ließe sich Bewusstsein in diesem Sinne als das Andere der Sprache begreifen. Paß formuliert hierzu: »Das Bewußtsein fällt im Operieren von Sprachsymbolen als selbstreferentieller Aspekt von der Sprache ab«113. In dem das Bewusstsein in seinen sprachsymbolisch medialisierten Operationen stets ein Innen (Bewusstsein) und dessen Ent-Äußerung (Symbolsystem Sprache) beobachten kann, entgeht es tautologischen Schleifen. Es prozessiert mit dem Medium Sprache ereignishaft jenes durch Referenzaufteilung externalisierte Sinnsystem, an das sich seine Aufmerksamkeit von Ereignis zu Ereignis haften kann.114 Das hieße dann, dass das Bewusstsein sich mit der Differenz von Sprache und Bewusstsein als Unterschied von Fremdreferenz und Selbstreferenz selbst beobachten und synchronisieren kann. Aber die Sprache ist als Medium nicht volldisponibel; sie trägt bereits Spuren von syntaktischen, semantischen, pragmatischen und logischen Konditionierungen. Diese Spuren lassen sich semantisch als »Eigensinn des Mediums Sprache«115 bündeln. Sprache liegt nicht unstrukturiert vor, sondern leistet Widerstand, indem sie die operative Umlaufzeit des Bewusstseins retardiert. Das ist primär dem Umstand geschuldet, dass »die Sprache zur Linearisierung der Sprachelemente [zwingt] und […] damit zu einem Medium der Verzögerung, der Trägheit« wird »das die relative Simultanpräsenz der Bewusstseinsinhalte zu entfalten und zu rhythmisieren zwingt.«116 Sprache zwingt also das Bewusstsein in eher lineare und sukzessive Bahnen, für deren Genese mehr Zeit in Anspruch genommen und das Tempo der Operationen des Bewusstseins durch Verzögerung synchronisiert werden muss. In einer solchen Zeitverzögerung – von Fuchs auch als Hysteresis bezeichnet117 – leidet aber nicht nur der Eigensinn und die Eigenzeit des Bewusstseins. Auch die Sprache wird affiziert, denn das Bewusstsein zieht seine Spuren in das Medium Sprache, das dabei idiosynkratische Formen abwirft und die Aufmerksamkeit des Lesers verstärkt auf die Selbstreferenzseite des Bewusstseins lenkt. Der Text wird 113 Paß: Bewußtsein und Ästhetik, S. 274. 114 Vgl. ebd., S. 292. 115 Jäger: Vom Eigensinn des Mediums Sprache, S. 48. 116 Paß: Bewußtsein und Ästhetik, S. 289. 117 Fuchs: »Lieber Herr Fuchs, lieber Herr Schmatz!«, S. 140.

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damit zu einer Spielart von Kommunikation, in der Komplikationen des lesenden und verstehenden Vollzugs nicht nur irritierend, sondern auch maximal semantisiert sind.118 Mit dem Zugewinn an Ordnung in den Operationen des Bewusstseins mithilfe der temporal-sukzessiven Struktur in der sprachlichen Folge der Elemente, korreliert das singuläre In-Form-Bringen der Sprache in jedem Moment, in dem sich bewusstseinsgenerisch »Sprache-im-Betrieb«119 ereignet. Der Eigensinn der Sprache erweist sich im Text als notwendiges Störrelais zwischen der fremdreferentiellen Thematisierung der traumatischen Erinnerungen und den selbstreferentiellen Verweisen auf den Modus der operativen Mimesis. Das lässt sich an folgender, etwas längerer Passage verdeutlichen: »Plötzlich ist es wie ein Ausbleiben einer Störung ohne die kleinsten Schwierigkeiten. Den Augenblick zu erfassen. Der sich ereignet mit furchtbarer Geschwindigkeit denke ich dass. Noch gar nichts entschieden ist und ich die Stadt benennen muss und. Den Weg und wenigstens einige letzte Schatten der: Vergangenheit: :Kon. Servation. Ver: vertauscht (Robert!) Hören Sie es ist mir nicht völlig klar wer dieser dunkle Mensch an meiner linken Seite ist er erscheint mir wie angewachsen wie ein noch nie gekannter bester Freund ja diese Stadt entzückt mich so weit ich sie sehen konnte in ihrer wohl nie endenden Staffelung ich erkannte wie ich mich nun allmählich entsinne einige der gewaltigen Statuen am Bahnhof noch nie erblickte ich Marmormenschen dieser Größe unvorstellbare Goliaths Herkulesse Atlasse Künder-Heroen einer ewigen Stadt voller Leichtigkeit und Säulen dieser Bar nie etwas aber ich brauche auch nicht das Geringste so unglaublich erfüllt mit Vogelflugkraft ist mein Gehirn meine Lunge mein blitzheller Kopf die Anreise sagen viele sei das Schlimmste da man nicht einmal zu hoffen wagt dass man es eines Tages bei aller Vorbereitung schafft obwohl es immer wieder so vielen geglückt ist wenn Sie mich fragen gibt es tausenderlei Wege die man fortwährend erneuert hat prinzipiell natürlich kommt man durch Feuer Wasser Erde Luft das ist gleich geblieben aber bedenken Sie welche Atombrände Tiefseekälten betonierte Kellerverliese bald kommt man von außerhalb der Erde auf dem Weg hierher um natürlich war es bei uns nur das Flugzeug und die übliche kurze Zugfahrt an der Seite der Frau […]«120

Der Einbruch der Absenz von Störung kündigt sich an, wird ebenso reflektiert und vom Bewusstsein in seinen Effekten geahnt wie die »furchtbare[ ] Geschwindigkeit«, die ohne die Hysteresis der Sprache-im-Betrieb droht. Mitvollziehbar wird in 118 Das bringt die Sprachtechnik in Frühling durchaus in die Nähe der Irritationsleistungen und Zeitverzögerungsformen moderner Lyrik, zumindest dort, wo sie zeitaufwendige Lektüren für kleinste semantische Einheiten motiviert. 119 Fuchs: Das psychische System, S. 14. 120 Lehr: Frühling, S. 21.

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diesen Zeilen der erste Unfall der Synchronisierung von Bewusstseinsakten einerseits und Konditionierungsrhythmen der sprachlichen Sinnstrukturen und Zäsuren andererseits. Die Vertauschung von Konversation und Konservation, von ereignishafter kommunikativer Interaktion und zeitüberdauernder Erhaltung ist der Umschlagpunkt, an dem die Bewusstseinsmaschine die semantischen Restriktionen des Mediums übertönt und wild von einem Thema zum anderen hüpft.121 Von der Nennung einer Bar in die Mythenwelt und Plastik der Antike, das eigene organische Innenleben, über eine Elementkosmologie (»Feuer Wasser Erde Luft«) hin zu »Tiefseekälten«, »Atombrände« und »betonierte Kellerverliese« springt das Bewusstsein rhizomatisch umher – weder durch Interpunktionen noch durch pragmatische oder semantische Einschränkungen gehemmt. Hatte der silben-anagrammatische Störfall (»Kon: Servation«) noch eine konstatierende zeitliche Rekursion und somit ein reflexives Beobachtungereignis ausgelöst (»Ver: vertauscht«), so setzt hernach ein störungsfreier Modus ein, in dem für reflexive Distanznahme einfach keine Zeit reserviert ist. Dass dabei auch die Aufmerksamkeit für die Selektivität der Erinnerungen wieder ins Zerstreuende umschlägt, verweist – so liegt es nahe – auf die internalisierte Verdrängungshaltung Rauchs, die er auch im Moment des repräsentativsühnenden Sterbens nicht ablegen kann. Schließlich drehen sich seine Gedanken nicht mehr um die Konflikt- und Krisenereignisse, die traumatischen Erlebnisse und Erinnerungen, die seine Gedanken (bzw. den Text) durchziehen und das Gravitationszentrum bilden, in das sich alles Denken, Wahrnehmen und Erleben hineingezogen findet. Dass die zerstreuende und verdrängende Gedankensukzession hier ohne Interpunktion läuft, ließe sich als Veranschaulichung der ungestörten Kontinuität lesen, die sich durch Verdrängung und Verschweigen ergibt, und die Rauch schließlich die berufliche und familiäre Laufbahn seines Vaters einschlagen lässt.122 Die Handhabung der Vergangenheit in vergangenen Gegenwarten schlägt auf ihre Handhabung in der Gegenwart zurück. Die Fernwirkung der Shoah hält damit genauso weiter an wie die Fernwirkung der Verdrängung. Dadurch gelingt es dem Text, nicht nur auf der Ebene expliziter Thematisierung, sondern auch in der Darstellung der Bewusstseinsoperativität neben den traumatisierenden Schlüsselereignissen (Shoah, Identifizierung des Vaters als NS-Täter, Roberts Suizid, die Begegnung mit einer Opfertochter und der eigene Suizid) auch die tiefe Imprägnierung des Verdrängens im Bewusstsein sichtbar zu machen. Der Drang nach kontinuierlicher und störungsfreier Ereignisfolge, nach dem irritationsfreien Lauf des Lebens

121 Die Sprache schlägt allerdings nicht um in völlig unkoordinierte Elementverknüpfungen wie etwa in Samuel Becketts Wie es ist. 122 Mit Ausnahme allerdings der Verstrickung in Gräueltaten. Für Rauch wiegt sein ›Verbrechen‹ – die nichtgeleistete Konfrontation mit dem Vater und dessen NS-Vergangenheit – nicht minder schwer.

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zeigt sich an der Eigenzeit eines Bewusstseins, das im literarischen Text auf eine widerständige Sprache und Ästhetik trifft.123 Nur mithilfe des Mediums Sprache kann Rauch und mit ihm der Leser die Konstruktions- und Ordnungsleistungen beobachten, mit denen das Bewusstsein als Ich gegen seine operativ und beobachtend selbsterzeugte Spaltung, Fragmentierung und Entfremdung ereignishaft vorgeht und seine Eigenzeit als mehr oder weniger ungebrochene Subjektivität abzugrenzen sucht. Dass diese für Rauch nur durch den Bruch mit dem Leben zu haben ist – und somit zusammenfällt mit dem Tod des Subjekts –, setzt der Unendlichkeit dieses auf Synthesis der Bewusstseinsereignisse abzielenden Abgrenzungsbestrebens die Zeit als Positivität des Endlichen entgegen. Den Tod des Subjekts motiviert Lehr als Folge dessen Einsicht in die Dialektik von Kontingenz und ethischer Notwendigkeit, von »Handelnkönnen« und »Handelnmüssen«124. Hatte Kontingenz Rauch erst den Handlungsspielraum, erst die Möglichkeit eröffnet, zu schweigen, zu verdrängen, zu versäumen, und so die eigene Identität als notwendiges Leiden erfahrbar gemacht, so zeigt sich für das Ich in einer auf das Ende seiner Eigenzeit zugehenden Existenz der Griff nach einer kathartischen Kontingenz, die als ultimative Kontingenz firmiert, insofern der Tod das »Symbol für die unübersehbare Kontingenz schlechthin«125 ist. Das in Frühling entfaltete Darstellungsmodell impliziert einen Repräsentationsmodus traumatischer historischer Vergangenheit, der strikt in den Bahnen subjektiver transgenerationaler Erinnerung läuft. Lehr entscheidet sich in dezidierter Zurückhaltung nicht für die Introspektion eines betroffenen Zeitzeugen der Shoah, sondern platziert die Optik in einem Repräsentanten der »Gnade der späten Geburt«126. Statt also auf eine Aneignung der Erlebnisse der Opfer der Shoah, auf identifikatorische Sympathie oder auf eine unmittelbare Rekonstruktion der Motive der Tätergeneration zu setzen, wählt Lehr einen Repräsentationsmodus, der die Generationenfolge dahingehend funktionalisiert, dass sich Taten und Mitläufertum der Elterngeneration wie auch die Leidenserfahrungen der Opfer als Erinnerungen zweiter Ordnung einschreiben.127 D.h. es geht um die Reflexion der visuellen und 123 So interagieren poetisch die Grenzgeschwindigkeit des Bewusstseins und die Grenzgeschwindigkeit der Sprache, ohne dass einer der beiden Geschwindigkeiten das absolute Diktat über die andere zukäme. Von einer Art ›Denkstimme‹ zu sprechen, würde in diesem Fall eine doppelte Stabilität und Präsenzkontiguität kompossitiv zusammenbringen, die so für die Behandlung der Ebenen Bewusstsein und Sprache in Frühling nicht angemessen scheint. 124 Bubner: Geschichtsprozesse und Handlungsnormen, S. 42. 125 Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft, S. 423. 126 Lehr: Zur Erfindung der Erinnerung, S. 316. 127 Lehrs Programmatik läuft in einzelnen Punkten auf einen Typ Erlebnisdichtung hinaus, der für einen starken Autorbezug dort plädiert, wo es um die Relevanz der lebensweltli-

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sprachlichen, der medialen und diskursiven, der kognitiven und sozialen Strategien der Erinnerungsvollzüge, mit denen semantische Strukturen individuell und kulturell kondensieren.128 Liest man den Text entlang der poetologischen Pragmatisierung seiner Ästhetik, wie dies nahelegt scheint, dann fungiert der Text als literarisches Medium des Opponierens gegen das »kreative Vergessen« der Täter, die in diesem Vergessen praktizierte »selektive Auslöschung von Untaten«129, die »Gleichgültigkeit« der Vielen und die Schleier »medialer Zerstreuung«130. In dieser Hinsicht führt die radikale Erfahrungsvariante von Eigenzeit in Frühling das Formexperiment eines kreativen literarischen Erinnerns durch, das Zeitsinn und Geschichte als Andrang von Ereignissen im Textgebilde ästhetisch zugleich individualisiert, exponiert, diskursiviert, stillstellt und historisiert. Die syntaktisch-semantische Gestaltung des Sprachmaterials wie auch die komplexen inhaltlichen Zusammenhänge, die trotz aller textinternen Erhellungen alles andere als klar werden, stellen dabei hohe Zeitansprüche an die Rezeption, die als intensives literarisches Lesen ausfallen muss, um der ereignishaften Vernetzung der Ereignisse im Text ästhetisch angemessen begegnen zu können.

chen Eigenzeit des Autors für die Adäquanz der fiktionalisierten Welt geht: »Die unmittelbare Erinnerung errichtet die Brückenpfeiler, über die Kunst und Wissenschaft der Zukunft ihre Wege zurück anlegen können. […] Es kommt uns aufrichtiger vor, die sonografischen Ergebnisse von Walter Kempowski oder Alexander Kluge zu studieren, die Romane von Imre Kertész zu lesen oder die Aufzeichnungen von Victor Klemperer, als eigenhändig nachträgliche Fiktionalisierungen einer Zeit vorzunehmen, die wir nicht aus direktem Erleben kennen. Gewiss tun wir auch gut daran, zumindest bisher.« (Ebd., S. 316 f.) 128 Vgl. zum Begriff der ›Erinnerung zweiter Ordnung‹ auch Gall: Schreiben und Extremerfahrung, S. 150. Operativ gesehen ist die Erinnerung zweiter Ordnung zugleich auch eine Erinnerung erster Ordnung; referenziell gesehen fragt sie nach dem ›Wie‹ und damit nach den Konstruktionsbedingungen und -kontexten des Erinnerns. 129 Lehr: Zur Erfindung der Erinnerung, S. 317. 130 Ebd., S. 324.

Natura non facit saltus .1 Zeitnahmen und -gaben im Feld eines literarischen coup de temps: Thomas Lehrs Roman 42 Gibt es auf Erden ein Maß. Es gibt Keines2 Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.3

I M AUGENBLICK EINER N EUEN P HYSIK – GLEICHZEITIGE U NZEIT Eine gleichsam fantastische Auseinandersetzung mit eingeschliffenen Zeitkonzepten und erwartbaren Zeiterfahrungen auf der Ebene der histoire unternimmt Thomas Lehr in seinem 2007 erschienenen Roman 424, der in eine skurrile Welt paradoxer 1

Die Proposition ›natura non facit saltus‹ (»Die Natur macht keine Sprünge«) formuliert das thetische Prinzip der Stetigkeit der Natur und der Kontinuität der in ihr ablaufenden Prozesse, gegen das Lehrs Roman in eklatanter Weise verstößt. Der Sprung steht als Bewegungsmodus geradezu zwischen Stillstand und sukzessiver Reihung und lässt sich als Chiffre für die duale Welt zwischen Zeitlosigkeit und autarken Eigenzeiten hypostasieren. Zu wissenshistorischen Nachweisen dieses Axioms siehe Kudla: Lexikon der lateinischen Zitate, S. 303 (Randnr. 2007); vgl. auch Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur, S. 420.

2

Hölderlin: In lieblicher Bläue, S. 372.

3

Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, S. 113 (Nr. 6.4311).

4

Der Titel verweist auf eine semantisch-temporale Koinzidenz: Der Stillstand der Zeit erfolgt um 12:47 und 42 Sekunden. Im Japanischen ergeben die Morpheme für die Zahlen vier (shi) und zwei (ni) das Kompositum shi ni, das ›tot sein‹ bedeutet. Zu einer

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Zeitlichkeit hineinführt und ein Umbruchs- und Katastrophenszenario entwirft, in dem eine kleine soziale Gruppe höchst irritierenden »Weltabsonderlichkeiten«5 ausgesetzt ist. Was der Gruppe wiederfährt, ist nichts Geringeres als die Gleichzeitigkeit von Zeit und Unzeit. Anders als in den Texten Kluges, in denen das Temporale als metrisierbare Kategorie prinzipiell nicht negiert wird, setzt Lehr auf die Irritationseffekte höchstdevianter Zeitformen und intensiv entfalteter Zeitanomalien, denen er seine Figuren aussetzt. Im Mittelpunkt der histoire von 42 steht vordergründig die Diskrepanz zwischen der subjektiven Zeit der Mitglieder der Gruppe und einer paradox gedoppelten ›objektiven‹ Zeit, in der die Zeit fast durchgängig still steht. Die diegetische Mitteilung dieser absonderlichen Situation überlässt Lehr der Figur des Wissenschaftsjournalisten Adrian Haffner. Dessen sechs Notizhefte bilden den Textkorpus des Romans. Sie leisten nicht nur die Chronik der Ereignisse, sondern dokumentieren und reflektieren auch die Erfahrungen, Wahrnehmungen und Rationalisierungen dieser Ereignisse. Adrian Haffner gerät mit 69 anderen Anwesenden (Besucher und Mitarbeiter) am Teilchenbeschleuniger DELPHI im Kernforschungszentrum CERN in eine Zeitanomalie, die bis zum Ende des Romans, das mit dem Ende der Aufzeichnungen Haffners zusammenfällt, ihre Rätselstruktur nicht ablegen wird. Der Text setzt ein mit einer fulminanten und irritierenden Exposition, die die zeitlichen und räumlichen Rahmungen der histoire absteckt und in medias res beginnt: »Ein Augenblick. Ich sah das Höllenflackern, den tödlichen paradiesischen Schimmer, der durch die Nachtzellen der Pupillen in die kristallisierten Gehirne schoss und sie vor Angst und Hoffnung hätte zerspringen lassen müssen. Dieses wahnwitzige, einzig wirkliche, sanfte Vibrieren des Gefüges! Schritte. Die Ahnung eines sommerlichen Luftzugs. Musik. Das Herz der Welt wieder erwacht für einen einzigen Schlag. Seither ist jeder Gegenstand verdächtig. Klar und ohne Ausflucht erkennen wir wieder, dass der Ort an dem wir uns befinden, unmöglich ist. Zürich, am 14. August, im Jahre Null.«6

Wenn im Initialraum des Textes von der ›Unmöglichkeit des Ortes‹ die Rede ist, so ist das zunächst eine trügerische Information. Denn Anzeichen, Indizien, gar Evidenzen für diese Unmöglichkeit spart die Exposition aus, da sie als räumliche Koordinate lediglich die Stadt Zürich angibt. Wohl aber wird eine andere Abweichung als Information eingeführt, die sich auf die temporalen Koordinaten bezieht und die möglichen Interpretation der Textwelt als Übergangsstadium vom Leben in den Tod siehe Lehr: »Die Seifenblasen der Kunst«, S. 29. Einen Bezug zu Douglas Adams’ The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy sieht Leiß: Inszenierungen des Widerstreits, S. 269. 5

Lehr: »Die Seifenblasen der Kunst«, S. 27.

6

Lehr: 42, S. 11.

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kulturelle Semantik historischer Nullzeit bzw. ereignishafter Zäsur zitiert, wie sie in der gesellschaftsstrukturellen Zäsurfigur der ›Stunde Null‹ im Nachkriegsdiskurs oder in der Zeitrechnung der année liberté im Kontext der Französischen Revolution diskursiviert wurden.7 Was hier im Einstieg in die fiktionale Welt Gestalt annimmt, tut dies durch ein auslösendes Ereignis, das eine Notiz initiiert, mit der die Welt selbst zum textuellen Ereignis wird. Die Konstellation ist von Ereignishaftigkeit geradezu durchsetzt. Während ein noch vage umschriebener »Augenblick« in der Welt der histoire ein Erzählereignis auslöst, konturiert sich die Darbietung dieses Ereignisses als Narrationsereignis in Form einer diarischen Notiz, die ortund zeitfixierende Angaben macht. Worauf Text und Erzählung referieren, bleibt zunächst diffus, wiewohl sich bereits einige Zeilen später die Zeit- und Raummaßstäbe verkleinern und der Blick sich auf kleinere Weltausschnitte einengt: »›Am Bürkliplatz, in Zürich, sobald etwas geschieht‹. Der Vorschlag kam von Boris. ›Um 12.47 Uhr‹, hatte er lächelnd hinzugefügt. Was hätte mehr geschehen können?«8 Der zentrale Unterschied, der einen Unterschied macht, ist in der Textwelt von 42 entgegen der Ankündigung keine genuin räumliche »Unmöglichkeit«. Die zentrale Abweichung in der Textwelt ist eine temporale Korruption, was jedoch zunächst noch vage bleibt. Dass das »Herz der Welt […] wieder erwacht für einen einzigen Schlag«, bleibt höchst erklärungsbedürftig und stellt gerade dadurch in seiner Imprädikabilität durchaus ein Ereignis dar, auch weil es gleich in der Exposition die spezifische Abweichungsstruktur der fiktionalen Welt markiert. Das Irritationspotential der Vorstellung einer unbeweglichen Welt, deren kinetische Regung für die Dauer eines »Herzschlag[s]« ein Unerhörtes ist, mag von hoher ereignishafter Qualität sein. Dieses Unerhörte ist aber in der erzählten Welt nur ein sekundäres Ereignis im Sukzessionsparadigma einer Geschehnisverkettung, aus der sich die beschriebene Welt zusammensetzt, denn dem ›Herzschlag‹ der Welt geht als erstes Ereignis der ›Herzstillstand‹ derselben voraus. Der ereignishafte Augenblick, den die Eingangspassage beschreibt, trägt alle Züge eines fruchtbaren Augenblicks, der die Vorgeschichte und die Ahnung des nächsten Moments in sich führt. Rätselhaft prägnant ist dieser Moment in der Zeit, weil er die Spuren einer unmittelbar vorangegangen Zeitstelle beschwört, die zwischen »Höllenflackern« und »tödliche[m] paradiesischem Schimmer« oszilliert, weil sie zwei entgegengesetzte mythologisch-religiöse Endzeitszenarien verschweißt. Das Ereignis trägt hier zugleich die Attribute der sanktionierenden Sphäre einer diabolischen Verdammnis wie auch die Attribute des Paradiesischen, Göttli7

Neben der Einführung eines neuen Kalendertyps etablierte sich im Zusammenhang mit den Neuausrichtungen der französischen Gesellschaft auch (allerdings nur für kurze Zeit) eine neue Zeitrechnung, die mit dem Revolutionsjahr 1789 neu ansetzte (vgl. Vogtherr: Zeitrechnung, S. 104 f.).

8

Lehr: 42, S. 11.

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chen, Idyllischen, Harmonischen, das allerdings als morbid akzentuiert und so in die Nähe eines Oxymorons gerückt wird. Ob dieser eine ›Herzschlag‹ der Welt, dieser eine Takt von der Länge eines »Akkord[s]«9 den Keim einer fatalen Ereignisfolge in sich trägt oder die Signatur einer verheißungsvollen unmittelbaren Zukunft des Weltgefüges ist, belässt der Text in der Schwebe. Das ephemere Ereignis, das unerwartet in die Welt einbricht und diese für die Dauer eines Moments mit der Normalität einer kinetischen Zeit imprägniert, ist Auslöser von »Angst und Hoffnung«10zugleich. Der fruchtbare Augenblick birgt den Keim eines furchtbaren Augenblicks. Dass der Text gleich zu Beginn die Referenz auf das Prinzip des Transitorischen im Ereignis ausspielt, ruft bereits die kunsttheoretische Debatte um die schriftbedingte mimetische Eigengesetzlichkeit der Literatur auf, wie sie in der ParagoneDebatte der Renaissance und später wieder in Lessings Schrift Laokoon zum Ausdruck kommt.11 Entscheidend für die histoire des Textes ist, dass das einschneidende Ereignis, das die Narration auf der Ebene des récit in Gang bringt, (unmittelbare) Vergangenheit und (unmittelbare) Zukunft im Dunkeln lässt und den Bedarf analytischer Rekonstruktion und synthetischer Entfaltung des Geschehens im Akt der Lektüre aneinanderbindet. Das hier bereits ausführlich beschriebene Schlüsselereignis ist expositorisch hoch aufgeladen und verdient eine Situierung im plot des Textes, der hier kurz vorgestellt werden soll. Das Ereignis, das der Text episch expliziert, ist eine Chimäre aus wirklicher und unwirklicher Möglichkeit. Die Merkwürdigkeit, um die herum sich der discours entfaltet, ist ein temporaler und zugleich seltsam temporärer Vorfall. Der Text illustriert sprachlich die Isolationssituation einer handvoll Menschen, die Zeugen und Betroffene einer paradoxen physikalischen Zeitbifurkation werden, deren Polarität sich zudem als fragil herausstellt. Kurzum: Die Zeit wird gedoppelt und tritt als ewige Dauer bzw. als »Unzeit«12 wieder in die Welt ein. Das Setting des Romans bildet ein Katastrophenszenario, das die Folge einer Störung am Teilchenbeschleuniger DELPHI am multinationalen Kernforschungszentrum CERN in Genf ist. Avanciert das Forschungszentrum im Laufe des Textes zum zentralen semantischen Mensch-Maschine-Konglomerat, so kommt dem Teilchenbeschleuniger die Rolle des zentralen technischen Artefakts zu. Mit ihm werden Experimente zur Elementarteilchenphysik durchgeführt, bei denen kleinste Quasi-Singularitäten erzeugt oder Urknall-Szenarien simuliert werden, um unter anderem Hypothesen über die Entstehung kosmologischer Größen wie Zeit und Raum nachzugehen.

9

Ebd., S. 20.

10

Ebd., S. 11.

11

Vgl. Lessing: Laokoon, S. 883 f..

12

Lehr: 42, S. 39.

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Das primäre Epiphänomen des in Rede stehenden Vorfalls ist der fast ausnahmslose Stillstand der Zeit. Ausgenommen von dieser Stasis sind siebzig Menschen: Touristen, Mitarbeiter des CERN und Journalisten, die in einem ersten Akt der Selbstbezeichnung den Neologismus »Chronifizierte« einführen. Diese sind in ihrer Mobilität nur unwesentlich eingeschränkt und können bei Überlappung ihrer »Chronosphären« – das sind je eigene kleine Zeitblasen, in denen normale Zeitverhältnisse gegeben sind – auch miteinander interagieren und sogar mündlich kommunizieren. Außerhalb dieser Sphären gilt durch den temporalen »Gefrierschnitt der Welt«13 eine bipolare »Neue[ ] Physik«14, in der der Pfeil der Zeit in der Luft verharrt wie die am Himmel fixierten und in der leeren Luft erstarrten Flugzeuge.15 Diese Doppelhelix von Zeit und Unzeit generiert eine zwitterhafte Realität, deren kollektive Erfahrungswerte sich ergeben aus dem Ereignen einer ereignislosen Parallelwelt: »Über die wichtigsten Nachrichten haben wir uns gestern sofort verständigt. Erstens: Alles ist, wie es war. Zweitens: Nichts ist wie zuvor.«16

Die Doppelnatur der phänomenalen Welt führt unweigerlich zu Beschreibungsbemühungen. Denn weder die Ursache der temporalen Abweichung noch die Grundrelationen des neuen Zustands der zeitlosen Umwelt lassen sich aus Erfahrungsarchiven, Erkenntnissen oder Daten ableiten. Es gibt kein »Vertrauen. In die Bewegungen, in die Starre.«17 Gesetzmäßigkeiten und Konstanten lassen sich kaum identifizieren und die quantentheoretischen und relativistischen Abstrakta der physikalischen Beschreibungsmatrix waren nie daraufhin ausgelegt, den Bereich der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung als Prüfstein zu akzeptieren, sodass sie zwar maximal imaginative Gedankenspiele erlauben, aber weit hinter dem zurückbleiben, was die beobachtbare Welt an Realfragmenten abwirft. Die »FOLIE«, wie die erstarrte ›Welt-in-der-Welt‹ von den Chronifizierten genannt wird, bleibt eine unwirklich unglaubliche Wirklichkeit, deren wesenhafte Bestimmtheit sich den analytischen Obsessionen der Chronifizierten ebenso entzieht wie sie dem Leser dunkel bleiben muss: »Als ein so wahrhaftiger wie dilettantischer Fanatiker kann ich nur sagen, dass ich die FOLIE nicht glaube, dass sie nicht meine Welt ist, nicht die Welt, in der es einmal darauf ankam, was 13

Ebd., S. 148.

14

Ebd., S. 109.

15

Vgl. ebd., S. 186.

16

Ebd., S. 81.

17

Ebd., S. 41.

246 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT wir taten oder unterließen. Ich argumentiere physikalisch […], also mit der abgrundtiefen oder noch tieferen, wahnsinnigen UNRUHE des Universums, seiner grundsätzlichen Unwilligkeit stillzuhalten, seiner wildpferdigen, umtriebigen, hypernervösen Struktur, die sogar noch aus dem Vakuum immer neue abstruse Teilchenwinzlinge hervortreibt und statistisch zwanghaft wieder vernichtet. Je genauer wir hinsehen, desto fahriger und farbiger benimmt sich die Substanz. Zenons Pfeil steckt nicht fest und kann nicht fliegen, sondern zuckt und ruckelt, niemals innehaltend im Brodeln des Quantenschaums. Alles ist immer in Bewegung, und die FOLIE, das Standbild, durch das wir zu wandern glaubten, Jahr um Jahr, existiert einfach nicht, wenigstens nicht so, nicht als die wirkliche angehaltene Welt.«18

Die neue Welt ist erst einmal wieder primär durch Wahrnehmung zu erfassen und sie ist nicht einfach nur eine inverse Kopie der bisherigen. Die (natur-)philosophischen Zeittheorien von Heraklit bis Rorty wie auch die naturwissenschaftlichen Differentialgleichungen oder die neun- bis elfdimensionalen Modelle der String Theorie als avancierteste physikalische Beschreibungssets bleiben für die Herstellung einer sozialen Gesamtheit der Zeiterfahrung fruchtlos. Es existiert in der neuen Welt keine universale Zeit, keine Zeit des Universums, die als dauerhaft dynamischer Horizont das Fundament für alle ableitbaren Formen der Zeit böte. Die jeglicher Existenz unterlegte dynamische Organisation dieser Welt ist selbst aus den Fugen geraten und oszilliert. Die Welt der ›Neuen Physik‹ schert sich um die kausalistischen Zeitordnungen der Physik ebenso wenig, wie sie den Wünschen nach »Realitätsangemessenheit«19 entgegenkommt. Ein mimetisches Bild dieser Welt wird für den Leser dadurch erfahrbar, dass Lehr den Protagonisten Haffner zu Fuß durch Europa schickt und ihn als Kommentator der Realität der FOLIE und als Experimentator, der diese Realität auf die Probe stellt, fungieren lässt. Aus der zunehmenden Intensität von Ohnmachtserfahrungen erwächst in der kleinen Gruppe der Chronifizierten der Impuls für eine rudimentäre Kulturentwicklung en miniature. Das Ziel ist kein geringes: der Aufbau einer neuen Ordnung der Dinge. Doch die improvisierte Entwicklung sozialer, ethischer, epistemologischer und psychologischer Richtlinien für die neue Welt erweist sich als kaum zu leisten, weil jene aufgrund des harten Einschnitts der Zeitdoppelung nicht Ergebnis eines langen progressiven Entwicklungsprozesses sein können, und weil ihnen auch kein evolutiver Differenzierungsprozess vorausgehen kann. Ohne historisch-analytische Dimension bleiben die Normierungsversuche der Betroffenen nur auf die lückenhaften Informationen des psychischen Apparates gestützt – die Welt ist, was der Fall ist, und der Fall ist eine Unwirklichkeit, die eingetreten ist und keinen Präzedenzfall kennt. Der erfolglosen Etablierung von adäquaten Denksystemen zur Definition des eigenen Zustands stellt Lehr daher eine Stufenleiter psychischer Dynamik 18

Ebd., S. 285.

19

Elias: Über die Zeit, S. XXXII.

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entgegen. Sie wird von der Figur des Altphilologen Sperber formuliert und verschriftlicht, der der Aufgabe nachkommt, die Chronifizierten durch das von ihm herausgegebene Bulletin quartalsweise mit Informationen über den aktuellen Erkenntnisstand und den Verbleib der Chronifizierten zu unterrichten. Die »Fünf Gesetzmäßigkeiten, des Doctor Magnus Sperber, das Verhalten der Chronifizierten betreffend« – so der Titel dieser Stufenleiter – erfüllen die Funktion einer provisorischen »Formulierung von Gesetzen, die keine Paragraphen aufzählen und keine andere Strafe kennen als die Zustände, die sie beschreiben. Ihr Gegenstand ist rein psychologisch, es geht um uns, in der Form knapper, unausweichlicher Prophezeiungen […]: 1. Schock, 2. Orientierung, 3. Missbrauch, 4. Depression, 5. Fanatismus.«20

Diese Asymmetrie zwischen physikalischer Unbestimmtheit/Unterdetermination und psychologischer Determination erfüllt zumindest zwei Funktionen. Zum einen bildet sie die Grundlage für die diskursstrukturelle Reihung der Kapitel des Romans. Diese tragen nicht nur die Phasen der Degeneration in ihrem Titel, ihre Folge korrespondiert auch mit der Degenerationssukzession der Sperberschen »Gesetzmäßigkeiten«. Dadurch gewinnt die Frage nach »einer praktischen Ethik für das Verhalten zur Unzeit«21 einen autonomen Status als diskursiver Strang. Zweitens generiert die als Hybrid aus »Gesetzen« und »Prophezeiungen« linearen Verfalls zusammengesetzte projektive Norm der Sperberschen Gesetzmäßigkeiten eine stabile Orientierungsmatrize, die aus der »himmelschreienden Unlogik«22 der dramatischen Realität zweier Zeitordnungen heraus sticht, weil sie einer psychologischen Kausal-Mechanik den epistemologischen Vortritt gegenüber physikalischen Weltbeschreibungsmodellen gibt. Dass das Phasenmodell Sperbers eine Mischung aus posttraumatischen Verarbeitungsphasen und Konflikteskalationsphasen darstellt, ist Symptom einer Doppelstruktur der ›Neuen Physik‹, die nicht schlicht der Negativabdruck der ›Alten Physik‹ ist und somit nicht weniger indeterministisch abläuft. Das Szenario, das Lehr in 42 entwirft, trägt deutliche Züge eines Gedankenexperiments, nicht nur in seiner spekulativen Thematik, sondern auch in formaler Hinsicht. Das Auslöseereignis der Chronifizierung schafft eine Isolationssituation zeitlicher Aktionsformen, aus der Irritationen und Irritationseffekte resultieren, die observiert, protokolliert und interpretiert werden. Der epistemologische Eigenwert dieses Experiments verdankt sich aber nicht der adäquaten Adaption experimenteller Wissenschaftspraxis. Denn zum einen fehlt es an einer formulierten Hypothese, 20

Lehr: 42, S. 17.

21

Ebd., S. 52.

22

Ebd., S. 147.

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deren Erprobung das Experiment vornehmlich diente. Zum anderen verlagert Lehr die Protokollierung und Interpretation der observierten Daten in die Isolationssituation hinein. Es ist der Protagonist Haffner, der eigene und fremde Beobachtungen macht und in seinen sechs Notizheften protokolliert, kommentiert und dem Bemühen um Sinnerschließung zuführt. Die Dramaturgie der gedankenexperimentellen Zeitstarre und des isolierten Schreibflusses in 42 erinnert an einen literarischen Vorläufer, in dem Zeiterfahrung, Isolation und Schreibbegehren gleichermaßen verwoben sind: In Marlen Haushofers Die Wand wird die Protagonistin durch eine volltransparente Sperre in ihrer Bewegungsfreiheit auf eine kleine Berghütte und die unmittelbare Umgebung eingeschränkt. Während im Inneren der Isolationszone die Zyklen und Rhythmen der Sukzession von Ereignissen natürlichen Zeitstrukturen folgen, bleibt im Außen der Zone die Zeit stehen. Dieser Irritationssituation begegnet die Isolierte unter anderem mit der kalendarischen Niederschrift der Ereignisse, die sich in Form von autobiographischen Aufzeichnungen zu Textereignissen materialisieren. Was der Leser über die Welt diesseits und jenseits der Wand erfährt, verdankt sich ausschließlich den Beobachtungen und Semiotisierungen der Protagonistin. Zwar ist ihr Interaktionsraum eingeschränkt, aber sie bewegt sich innerhalb dieser Zone in chronologischen Ordnungen und im Realitätssystem temporaler Logiken. Die Entfaltung der Isolationssituation folgt in Die Wand den Mustern einer Robinsonade, zumal die Protagonistin in den für sie noch gültigen stabilen Regulativen der Naturzeit die Eigenzeit ihres Körpers und ihrer Psyche gespiegelt finden kann.23 Ist bei Haushofer die Abgeschiedenheit zunächst eine heterotopische, die teils mit marginalen heterochronen Nebenwirkungen einhergeht, so wählt Lehr ein umgekehrtes Szenario. Die Situation, in der sich die Chronifizierten in 42 befinden, ist eine temporal korrupte, die die Raumannektierung der Welt nicht ausschließt bzw. von räumlicher Isolation weitgehend absieht. Nicht die ontische Dimension des Raums, sondern die der Zeit ist korrupt und setzt die routinierten Handlungsmuster und Wahrnehmungserfahrungen vor kaum lösbare Probleme. Durch eine solche Isolationskonstellation entzieht sich der Text der Notwendigkeit, topographische Parzellierungen der Lebenswelt vornehmen zu müssen. So bleibt die Welt als räumliche Konstante prinzipiell zugänglich für die »Zeitschiffbrüchigen«24, weshalb die Lebenswelt dieser Schiffbrüchigen kaum als heterotopischer Raum firmieren kann. Die Isolierten sind nicht aus den Koordinaten ihrer räumlichen Lebenswelt gerissen, sondern alles außer ihnen ist der Dynamik des Zeitlichen entrissen, ›musealisiert‹.25

23

Vgl. Torke: Die Robinsonin, S. 217-220.

24

Lehr: 42, S. 54.

25

Unter den Erklärungsansätzen, die unter den Chronifizierten zirkulieren und diskutiert werden, findet sich auch eine »Museumstheorie«, nach der die starre Welt ein museales

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Die Verlassenheitserfahrungen, die die Isolierten machen müssen, gründen sich auf eine Seinserfahrung, die auch den absoluten Zeitentzug denken und das eigene Sein als neben dem Nicht-mehr-Sein der Zeit Situiertes aushalten können muss. Die Welt kennt mit einem Mal eine ereignislose Modalität des Seins, deren Realitätsdefizite zuallererst temporaler Natur sind und auf ein Bewusstsein treffen, das darauf mit je eigenen Ereignissen reagiert: »Den Atem nehmend, infolge der blitzartig begriffenen Tatsache, ein für unmöglich gehaltenes Ereignis sei nun doch in die Welt eingetreten, und dem jähen Gedanken, es dadurch am Leben halten zu können, dass man selbst keinen Finger rührt.«26

Die Möglichkeit einer wahrnehmenden Erfassung der starren Welt bleibt bestehen, weil sich der gefrorene Zeitrahmen der Welt durch psychische und physische Eingriffe begrenzt dynamisieren lässt. Die Ruhelosigkeit der Wahrnehmungen und Gedanken, deren Jähheit und Blitzartigkeit die temporal geteilte Welt mit Ereignissen füttert, bewährt sich ebenso gegen die Ereignislosigkeit in der Unzeit wie der Aktionismus somatischer Durchgriffe: »Die Zeit existierte nicht unabhängig von uns, wir mussten sie mitbringen, in unseren Köpfen ausspannen, mit unseren Gedanken und Gefühlen, unseren Körpern, in unseren Augen erst nahm der Strom seine Fahrt auf, schwarz aus der Zukunft hervorbrechend, randlos die Gegenwart erfüllend und mit Milliarden von Gedächtnistrümmern übersät, in die Vergangenheit fließend. Infolgedessen lag es an uns […].«27

Die Welt der Unzeit, so viel erfährt der Leser, ist manipulierbar. Und in die Liste der aufgezählten Ereignisgeneratoren lassen sich auch schriftliche Aufzeichnungsakte einreihen, deren Sukzessivität und zeichenbasierte Linearität ebenfalls ein Gegengewicht zur Ereignislosigkeit der unbewegten Welt bilden. Insofern ist das Schreiben, dem viele Chronifizierte nachgehen, nicht nur die beiläufige Protokollierung der scheiternden Ergründung und Entzifferung einer achronen Sonderwelt. Vielmehr sind die notizhaften Aufzeichnungen zusammen mit Sperbers Bulletin der Nachweis einer Differenz von Ewigkeit und Zeit, von aeternitas und tempus. »Wer nicht schreibt, wird unsere Welt kaum ertragen«28, notiert Haffner in sein Heft und benennt damit die Notwendigkeit, auch mithilfe des Schreibens dasjenige zu erzeugen, das die Welt der ewigen Ereignislosigkeit von der Struktur der Ereigniszeiten Exponat, gar eine grob fehlerhafte Kopie der Welt und ihrer Gesetze sei (vgl. ebd., S. 119). 26

Ebd., S. 25.

27

Ebd., S. 116.

28

Ebd., S. 160.

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zu unterscheiden erlaubt: Reizverarbeitungen, Wahrnehmungen, Gedanken, Handlungen – kurz: Operationen, die Daten in Form von Ereignissen abwerfen, um die sich dann weitere Wahrnehmungen, Gedanken, Handlungen ereignishaft ›kümmern‹ können. Die Paradoxie der Gleichzeitigkeit von Zeitlosigkeit und zeitlichen Strukturen ist somit nicht nur Beobachtungsgegenstand, sondern wird mit jeder Beobachtung bestärkt und validiert. Und noch etwas anderes wird verdeutlicht, nämlich, dass jenseits der metaphorisch und symbolisch aufgeladenen Zeitsemantik das menschliche Wissen über Zeit beobachtungs- und beschreibungsabhängige, und damit soziale Konstruktion ist.29 Wenn Haffner in sein Notizheft einträgt, dass »[d]ie Zeit […] nicht unabhängig von uns [existierte]«30, dann wird auf den ersten Blick Zeit aus dem repräsentationalistischen Subjekt-Objekt-Schema herausgeschält und einem Paradigma transzendentaler Erkenntnis zugewiesen, das Zeit als reine Form der inneren Anschauung definiert, wie dies von Kant in der Kritik der reinen Vernunft gedacht wird.31 Zeit kommt der Welt subjektkonstitutiv zu, und in der Zeit/Unzeit-Welt fällt dies umso deutlicher aus, als in der Umwelt der Subjekte Zeit faktisch empirisch nicht existiert. Die absolute Präsenz der zeitlosen Welt ist daher stets das Ereignis einer Folge von Vorfällen in der Zeit: Erfahrungen, Erinnerungen, Antizipationen und sprachvermittelte Postrationalisierungen, die aber erst die Zeit hervorbringen, mit der sich das Zeitliche vom Ewigen und das dynamische Leben von der unbewegten Monumenthaftigkeit der Unzeit unterscheiden bzw. unterscheiden lassen.32 Der Strom der Zeit hat seine Quellen nur in den Eigenzeiten der beobachtenden und agierenden Individuen, und er umspült die Festigkeit der aeternitas, weil jeder dieser Beobachter sich mit der Welt zu arrangieren sucht, die er vorfindet. Und in dieser Welt ist der ordo naturalis entkoppelt vom ordo temporis. Allerdings können die Chronifizierten durchaus auf Wissensbestände zurückgreifen, die sozialdimensionale Ausdifferenzierungen reaktivieren und Aufgabenverteilungen nahelegen:

29

Im Sinne der neopragmatischen Sozialtheorie etwa Richard Rortys; vgl. etwa Rorty: Hoffnung statt Erkenntnis, S. 39.

30 31

Lehr: 42, S. 160. Kant: KrV, A 34, B 50 und im Wortlaut ebd., B 46: »Die Zeit ist […] kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden.«

32

In diese Richtung geht auch bereits bei Herder die Kritik an Kants Formalisierung der Zeit als apriorische Universalie: »Eigentlich hat jedes veränderliche Ding das Maß seiner Zeit in sich; dies besteht, wenn auch kein anderes da wäre; keine zwei Dinge haben dasselbe Maß der Zeit […] Es gibt also (man kann es eigentlich und kühn sagen) im Universum zu einer Zeit unzählbar viele Zeiten.« (Herder: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, S. 68)

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»Die uns allen wohl bekannte Villa im Parc des Eaux-Vives bilde jedenfalls in der nächsten Zeit das Hauptquartier derjenigen, die glaubten, das Ausmaß der Katastrophe müsse tatsächlich erkundet werden (statt nur im niederdrückenden globalen Sinne logisch erschlossen) oder die Vollständigkeit der Illusion ergangen und erprüft. Freiwillige, Reiselustige, Scouts und Globetrotter bitte melden bei den Thillets. Einige von uns erschreckten diese schon wieder politischen Aktivitäten ebenso sehr wie Sperbers journalistische Tüchtigkeit. Ihr Schrecken wuchs, als Mendecker ankündigte, auch die Cernianer stellten sich eine Art Zentrale vor, einen Think Tank, eine Anlaufstelle für gemeinsame Aktivitäten, koordiniertes Nachdenken, das wissenschaftliche Erkunden der – ›Verwunschenheit!‹ rief Daisuke und hatte damit einen sich einprägenden Namen entdeckt.«33

Die Sozialität der Gruppe ergibt sich dabei in der Dramaturgie des Romans unweigerlich aus der Verbindlichkeit des Ziels aller Chronifizierten, in die normale Zeit zurückzukehren. Die Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung orientiert sich an der Dualität von stationärer und mobil-nomadischer Beobachtung von Welt. Die Gruppe teilt sich auf in die Aktionssphären eines koordinierten Nachdenkens und eines koordinierten Nachsehens, das Haffner und andere fünf Jahre lang betreiben, bis das Ereignis des Weiterlaufens der Zeit für drei Sekunden die Zeitspäher wieder mit dem Think Tank zusammenführt. Die Entscheidung, zwei Formen der Weltvermessung nebeneinanderlaufen zu lassen, erfüllt vor allem dramaturgische Zwecke. Lehr gelingt damit die Doppelung der Explorationskomplexe, die sich um die Ergründung der neuen Welt gruppieren. Während die Physiker im Modus einer stationären Robinsonade der »Zeitschiffbrüchigen« die paradoxe Realität am Ort des Störfalls zu erfassen suchen, erkunden die Journalisten Haffner, Anna und Boris zu Fuß die Ausmaße der Zeitkatastrophe. Erst der »RUCK«, das dreisekündige Fortlaufen der ›Normalzeit‹, zieht die wie Sonden Ausgesandten zurück nach Genf. Diesen Explorationskomplex wiederum konzipiert Lehr im Modus einer fünf Jahre dauernden Odyssee, an deren Ende die Rückkehr in die vertraute Welt und der Anschluss an die alte Zeit erhofft werden. Mithilfe dieses bipolaren Explorationsmusters gelingt dem Roman die Parallelisierung zweier Inklusionsformen in die verfremdete Welt. Setzen die Physiker an, für die Zeitfixierung belastbare Hypothesen, Theorien und elaborierte Beschreibungen zu formulieren, die auf Jahrestagungen diskutiert und von Sperbers Bulletin dann distribuiert werden, so setzt Haffner sich der Welt unmittelbar als (Un-)Zeitzeuge aus, dessen journalistisch durchsetzter Beschreibungsmodus nur die Korrelation von Ereignis und Aufzeichnung kennt: Was zu Papier kommt, hat ereignishaften Eigenwert. Dass er dabei zumeist solitär umherzieht, nutzt Lehr, um an ihm symbolisch die Facetten einer personalen Eigenzeit auszuleuchten, die nicht in soziale Zeiten oder gar die regulativen Zeiten von Funktionssystemen inkludiert ist. Weder ist Haffner Rechtssubjekt noch hat er Familie; weder 33

Lehr: 42, S. 114.

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ist er Bürger oder Mitglied einer Organisation, noch hat der ökonomische Code Zahlung/Nicht-Zahlung für Haffners personalen Inklusionsstatus Relevanz. Zwar ist ihm die »ganze Welt ein Kaufhaus geworden«34, aber nicht die grenzenlose Verfügbarkeit der Ware ›Welt‹ ist das Faszinosum, sondern die Entkopplung von Konsumation und Gegenleistung. Die Welt öffnet sich als totale Verfügbarkeit, als Potlatsch, der die Erwiderung der Gabe dadurch in Schach hält, dass er ihr die Zeit der Gegengabe entzieht. Denn nur die Chronifizierten können durch Kontaktnahme den Objekten der Unzeit Zeit geben. Nur sie können Zeit einsetzen, stiften, vergeuden. Als gleichsam göttlicher Zeitgeber ist der Chronifizierte mit einer neuen Differenz zwischen Welt und Ich konfrontiert, und er muss einsehen, dass es »nicht so leicht [ist], der Gott zu sein, den man bis dahin nur gedacht hatte.«35

AUTARKE E IGENZEITEN Das Ereignis des Störfalls am CERN wird zum Ereignis der Eröffnung einer neuen Welt, in der Phantasma und Wirklichkeit nicht auf die Differenz von Imagination und Faktizität reduziert werden können: »[D]ie Nullzeit ist ernst«36. Und entsprechend ernst fallen die Bemühungen der Chronifizierten aus, dem Entzug, der Aushöhlung, der Depression der Zeit »Denk- und Rechen-Spiralen«37 entgegenzusetzen. Hier die fantastische neue Schöpfung, eine Art »an-archische (Ver-)Ordnung der Welt«38, von deren Ursprung, Existenz und Konsistenz niemand mit Gewissheit Rechenschaft ablegen kann; dort die Banalität des Geworfenseins in eine Welt, in der trotz aller Ek-sistenz doch die »Erbärmlichkeit […] der Körperdinge«39 weiterhin von Bestand ist: »Wir mussten das rechte Essen und Trinken lernen, das Baden, das umweltfreundliche Defäkieren ohne Spülung, die Kunst, immer frisch gekleidet zu sein, ohne je die Wäsche zu waschen.«40 Die neue Welt ist kein vollkommen alogischer, mystifizierter Bewegungsraum. Bestandteil der Textfiktion ist die Plausibilität solcher Einschränkungen, die dem temporalen Ruin nicht zum Opfer gefallen sind. Für die histoire des Romans wesentlich ist daher neben der facettenreichen Beschreibung des Erscheinungsbilds einer fantastischen, zeitstillen Welt, das Spannungsverhältnis zwischen der beschriebenen Wirklichkeitsdiffusion und den Zwängen des Alltags, die sich physikalischer Gesetzesbrüche zum Trotz als unaufgeho34

Ebd., S. 254.

35

Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 108.

36

Lehr: 42, S. 191.

37

Ebd., S. 223.

38

Nancy: Das Ereignis der Liebe, S. 26.

39

Lehr: 42, S. 192.

40

Ebd., S. 197.

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ben erweisen. Die Notwendigkeit, alten Sorgen nachzukommen und gleichzeitig neue und vor allem unerwartete Probleme bewältigen zu müssen, entspringt einem ambivalenten Aktionsszenario. In diesem mischt Lehr die Probleme und Gefahren des Aufeinander-Einstimmens der Chronifizierten untereinander und hinsichtlich ihrer gemeinsamen Umwelt, mit der Option ungeahnter Verfügungsmacht und schier kontrafaktischer Handlungsmöglichkeiten, die sich den »Gezeitete[n]«41 aufgrund ihres Zeitvorteils bieten. Rudimentäre Selbstsorge und die Möglichkeit der Verwirklichung von Allmachtsphantasien bilden die Pole eines literarischen Spielund Spannungsfelds, in denen Formen der Alltagsrealität genauso wie Formen phantasmagorischen Machtbegehrens funktionalisiert werden können. Die Insistenz alter Gewohnheiten in der neuen Welt und die Existenz absurder neuer Freiheiten erzeugen die Dynamik einer kampf- und rupturvollen Zeit, der sich die Chronifizierten nicht entziehen können, weil sie diese selbst erzeugen. Während sich unter den in der Nähe des CERN verbliebenen Chronifizierten opponierende Gruppen bilden, soziale Komplexität aufgebaut wird und Theorien entworfen werden, die alle »fantastisch, aber nicht irrsinnig genug«42 scheinen, um die Versöhnung des Einzelnen und des Kollektivs mit der Umwelt zu bekräftigen, durchmisst Haffner zu Fuß das »Standbild unserer Welt«43, das dialektisch zwischen Idylle und Anti-Idylle changiert. Die Mechanik dieser Dialektik wird aber nicht allein von einer »Entsetzenssubstanz«44 angetrieben, die die neue Welt allein erzeugt. Denn die Verstörung, die die Umwelt bei Haffner (und den meisten anderen Chronifizierten) auslöst, steht in Korrelation mit der Zerstörung, die die Chronifizierten in ihrer Umwelt verursachen. Das Instrument, mit dem sie destruktiv ›Kontakt‹ aufnehmen, ist nichts Geringeres als ihre Eigenzeit. Die Erkundung der Welt der Unzeit gerät unter diesen Vorzeichen zur Zeitgabe, die Haffner mit göttlich-transzendenten, symbolischen und zugleich diabolischen Attributen ambivalent ausstattet. Lehr konzipiert diese Ambivalenz als ethisch prekäres Interaktionsverhältnis, das Durchgriffe aus der Sphäre der Zeit in die Sphäre der Unzeit ermöglicht: »Ein Rudel von uns, zusammengedrängt und ausgehungert, treibt immerhin eine Chronosphäre vom Ausmaß eines kleinen Busses mit sich, so dass etliche Zeitlose in seiner Nähe ergriffen und animiert werden können, den ihnen verbliebenen Rest motorischer und nervöser Energie ausschöpfen wie epileptische Puppen, von Schlaganfällen Getroffene oder Betrunkene, die unverzüglich ins Koma fallen.«45 41

Ebd., S. 54.

42

Ebd., S. 192.

43

Ebd., S. 152.

44

Bernhard: Gehen, S. 20.

45

Lehr: 42, S. 51.

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Dem nihilistischen Sog, der zunächst von dem horror vacui der Zeit in der Umwelt ausgeht, wirkt bei den Gezeiteten bereits in der Orientierungsphase ein Begehrenssog entgegen. Sind die Kontaktnahmen zur Umwelt der Zeitlosen anfangs von kindlich-taktiler Neugier und Exploration bestimmt, so schlägt die ›Fühlung‹ bald um in Übergriffe. Das anfangs als »Fähigkeit, Leben zu erwecken«46 entdeckte Vermögen, durch Berührung die zeitstarren Objekte und Menschen aus der Starre zu entreißen, entpuppt sich im Laufe der Erkundungen als »erschreckende Macht […], leider vor allem in parasitärer und destruktiver Hinsicht«, denn jeder Chronofozierte »könne, wenn es er es darauf anlege, sein tägliches Massaker verrichten […].«47 Haffners Notizen bestätigen den Sog dieser ernormen Machtfülle: »Dann kamen die Versuchungen, die Verzweiflung, die Verbrechen. Nur die wenigsten von uns waren stark oder verrückt genug, sich anders zu verhalten, als es die Fünf Gesetzmäßigkeiten vorsahen.«48 Bestimmend für die paradoxale Zeitdoppelung in 42 ist, dass die Ruptur der Zeit, die die lebensweltliche Irritation auslöst, nicht in eine globale Ereignislosigkeit führt; sie führt noch nicht einmal zu einem isoliert existierenden achronischen Endzustand, der eine für Zugriffe unzugängliche Dimension bildete. Es klingt bereits auf den ersten Seiten an und wird im Text mehr und mehr deutlich, dass diese Möglichkeit des Durchgriffs der Zeitschiffbrüchigen in die Dimension der Unzeit zu einer wesentlichen dramaturgischen Facette der histoire wird, da es nicht nur wortmorphologisch nur ein kleiner Schritt ist vom Durchgriff zum Zugriff zum Übergriff. Sind auch die semantischen und kognitiven Sinnstrukturen der Zeit nicht mehr tauglich, das Jetzt als Einheit von Zeit und Unzeit zu denken, so stellt Lehr der Entmündigung des konventionellen Zeitwissens die Möglichkeit unidirektionaler Formierungshandlungen über die Grenzen der zwei Zeitbereiche hinweg an die Seite. Dass die Chronifizierten mittels ihrer Chronosphären die Macht der Zeitgabe erhalten, stattet jene mit den Insignien der Reanimation und zugleich mit denen der Vernichtung aus. Was unter dem Kontakt mit den Chronifizierten für einen kurzen Zeitraum wieder den üblichen Zeitläufen unterworfen und der Zeitstasis entrissen wird, gewinnt nicht Leben und Willen zurück, sondern wird zum reinen Objekt, über das bis zur Destruktion verfügt werden kann: donner le temps, donner la mort.49 Die Schilderung dieser Macht der Eigenzeit der gezeiteten Subjekte durchzieht den ganzen Roman, erhält aber durch die Korrespondenz der fünfstufigen Degenerationsleiter der Fünf Gesetzmäßigkeiten mit dem Kapitelaufbau des Romans einen 46

Ebd., S. 35.

47

Ebd., S. 168.

48

Ebd., S. 17.

49

Ich werde auf die Disposition der zeitgefrorenen Objekte in der Unzeit später zurückkommen.

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herausragenden Stellenwert dadurch, dass das zentrale 3. Kapitel unter dem Titel »Missbrauch« das ethische Dilemma einer Lebenswelt beschreibt, in der »die Grenzen zu bestimmen […] das Schwierigste [ist], wenn niemand die Zeit hat zu leiden. Wenn niemand bestraft.«50 Die Transformation der eigenzeitlichen Autonomie des Subjekts führt scheinbar zur »totalen Autarkie der Eigenzeit«51. Hier spätestens wird detailliert veranschaulicht, dass die quasi omnipräsente Leere der Unzeit nicht in melancholische Handlungshemmungen mündet, sondern in düstere Sehnsüchte und Formen, diese Sehnsüchte zu stillen.52 Ganz im Gegenteil geht es nun darum – und der Roman exerziert das in wortreichen Beobachtungen – das temporal distanzierte Weltverhältnis zu überwinden. Die ver-rückte Welt bewirkt ein ver-rücktes Weltverhältnis und dieses tangiert die chronifizierten Subjekte. Sie können sich zwar ihrer gegenseitigen Wahrnehmbarkeit versichern, aber die erfahrene Exklusionssituation steigert das Bedürfnis nach Existenzvergewisserungen. So kann auch Haffner der Fremdheit der Neuen Physik nicht ohne die Traditionsüberhänge seiner »Ex-Existenz«53 begegnen. Es bedarf eines neuen Typus Identität, der temporale und territoriale Formeln von Selbstbeschreibung bereithält, die in einer Doppelwelt fundamental gegenläufiger Zeitgesetze das vertraute Eigene und das Fremde zu bestimmen erlauben. »Dennoch muss man vertrauen«54, »[m]an muss Vertrauen haben«55, »Vertrauen ist das Wichtigste«56 und »das Beste was wir noch haben«57, heißt es über den Text verstreut, und diese gebetsmühlenartige Iteration des Vertrauenstopos steigert einer50

Ebd., S. 201. Dass diesem Kapitel und dem Kapitel »Depression«, das die Depression als Folge der »immer verzweifelteren Exzesse« (ebd., S. 283) beschreibt, besonderes Gewicht zukommt, zeigt sich auch daran, dass beide im Umfang erheblich von den anderen Kapiteln abweichen. Ein Vergleich offenbart zusätzlich, dass die Kapitel 2, 4 und 5 jeweils 53 Seiten, die beiden hervorgehobenen Kapitel jeweils 88 Seiten umfassen.

51

Pause: Texturen der Zeit, S. 306. Dass diese ›totale Autarkie‹ allerdings wiederum Fragmentierungen erfährt und in die konkurrierenden Eigenzeiten physischer und psychischer Systeme und gar einzelner Organe zerfällt, übersieht Pause. So heißt es in 42 über die Eigenzeit des Darms: »Am CERN hatten wir uns noch diszipliniert und zusammengehalten wie in einer Frontstellung. Jetzt verliefen wir uns und ließen nach, im feuchtesten Sinne auch, wie Dreijährige überkam es uns, und unsere Gedärme reagierten scheinbar überhaupt nicht mehr oder sofort« (Lehr: 42, S. 90).

52

Vgl. zur melancholischen Hemmung als Folge einer Erfahrung der (zeitlichen) Leere und als sozial bedingtes Phänomen Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, S. 185 ff.

53

Lehr: 42, S. 295.

54

Ebd., S. 40.

55

Ebd., S. 146.

56

Ebd., S. 183.

57

Ebd., S. 296.

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seits die Explorationsgier der Betroffenen, spielt aber andererseits ironisch auf die Staffelung von korrupter Alterität der Zeit und der dadurch ausgelösten Korrumpierung des Weltvertrauens an. Erklärungsoptionen werden durchgespielt und die üblichen Verdächtigen zunächst ausgeschlossen: Dies ist kein Traum, man ist nicht tot, nicht schizophren. Die außerordentlichen Vorkommnisse mögen als »undurchdringliche[s] Traum-Wahn-Gewebe der Ereignisse«58 empfunden werden, aber auch diese Explikationsfigur kann kaum zur Etablierung einer Vertrautheit mit der Welt beitragen. Die fantastische Geschichte einer Unzeit, die Lehr zur Schrift bringt, bietet die Möglichkeit, ein raffiniertes subjektphilosophisches Reflexionsunterfangen zu lancieren, mit dem zeitphilosophisches und metaphysisches Denken dort auf den Plan treten, wo naturwissenschaftliche und kausale Logiken sich kaum noch aufs Feld wagen können. Anders als der Altphilologe Sperber, den Lehr mit den Fünf Gesetzmäßigkeiten eine psychologische und diegetische Sukzessionsfolge formulieren lässt und der sich professionell mit ›toten‹ Sprachen und Kulturen beschäftigt, anders als Sperber also ist Haffner mit rudimentärem physikalischen Wissen vertraut und daher der geeignete Kandidat, epistemologische und metaphysische Fragen an das Traum-Wahn-Gewebe der Ereignisse zu richten. Haffner zieht aus, um seinem Bewusstseinsstrom und seinem Schreibstrom identitätsstiftende Präsenzerfahrungen zuzuführen und seinen ontologischen Ort in der neuen Welt zu bestimmen mit den Zeitmaßen, die ihm zur Verfügung stehen. Beide Ströme speisen sich aus einem Fundamentalzweifel an der Zeit, der trotz aller Erklärungsversuche ›stehen‹59 bleibt und gegen den Haffner wortwörtlich angeht, um nicht einem präcartesianischen Skeptizismus zu verfallen.60 Es gilt das Andere in der Welt als das Andere der Welt und als andere Welt zu erkunden.

58

Ebd.

59

Vgl. zum ›Stehen‹ als Metapher metaphysischer Selbsterfahrung Gamm: Metaphysik und Metapher, S. 149 f.

60

Lehr lässt Sperber nach dem RUCK auf die Möglichkeit eines genuis malignus anspielen, wie ihn Descartes in der ersten seiner Mediationes de prima philosophia anführt, um zu erwägen, die sinnlich erfahrene Außenwelt (res extensa) sei das Täuschungswerk eines bösen Geistes: »Anna dachte an einen Hörsturz, Sperber an einen Herzinfarkt, dessen Vorbote das Erlebnis extremer Verlangsamung war, das ›Kaugummi der letzten Sekunde, gedehnt zwischen den schmutzigen Fingern eines bösartigen kleinen Knabengottes‹, wie er im Bulletin Nummer 2 schrieb.« (Lehr: 42, S. 31)

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P RÄSENTISTISCHE E THIK »Sperber hat eine Phase vergessen. Natürlich weil sie nie eintritt, wenigstens nicht mit der Bestimmtheit der anderen, und weil die kleinste Überlegung, die geringste Unvorsichtigkeit, die leichteste Druckerhöhung eines Blicks sie zerstört. Es gibt keine Gewöhnung für uns. Wenn ich über Land gehe, auf einer nicht befahrenen Straße, einem dieser zugleich aussichtslosen und aussichtsreichen Wege zwischen Feldern, deren Wölbungen nur noch sie selbst und den enzianblauen Himmel übrig lassen, dann erscheinen mir manchmal die gefrorenen Dörfer und Städte, die Begegnungen mit den Erstarrten, die durchquerten Wüsten der Stille wie Elemente der ganz gewöhnlichen Erinnerung, in der doch auch früher soeben gewechselte Sätze schon wie eingebildet, vor kurzem angetroffene Menschen wie blasse Fotografien und die vergangenen Bewegungen in unzusammenhängende Bilder zerlegt wirkten.«61

Mit diesem Einsatz, der eine Vielzahl literarischer und philosophischer Topoi anzitiert und mit dem Hinweis auf den Aufschub der Gewöhnung bereits die Absenz an den Anfang stellt, beginnt die Beschreibung der »Phase 3: Missbrauch«. Die Prolongierung der Gewöhnung wird begleitet von einer Verlangsamung der Wahrnehmung, was eine romantische Naturbetrachtung heraufbeschwört, die Haffner nicht nur als idyllische Genussstruktur einer umfassenden Schaulust realisiert.62 Seine Bewegung im Raum interpretiert er zugleich in Analogie zur Bewegtheit der Erinnerungen als Durchschreiten einer kognitiven Landkarte. Die Atomisierung des Memorierten in »unzusammenhängende Bilder« folgt der Taktung der »Begegnungen« mit den erstarrten Objekten. Der Präsentismus, den die starre Welt unnachgiebig ausstellt, und der das blickende Auge Haffners schon nicht mehr vor die Frage nach der Welt als Darstellungsproblem stellt, versieht den Modus der Potentialität mit einer Aura des Begehrlichen. Denn was nach dem »EREIGNIS« nicht mehr zu bestehen scheint, ist »so etwas wie eine MÖGLICHKEIT«63. In einer Welt ohne Möglichkeit bleibt auch die Möglichkeit eines nächsten Ereignisses unmöglich. Ohne ein Reservoir des Möglichen, das sich als solches erst durch eine weitere Aktualität zeigen müsste, ist selbst das Ereignen von Ereignissen nicht mit der Welt kompatibel. Ist das System der Begebenheiten stillgestellt, so scheint die Welt nicht nur der Kontingenz abtrünnig geworden. Wo die Unterscheidung vorher/nachher keine Differenzen mehr anzeigen kann, macht auch das Anders-möglich-seinKönnen keinen Sinn. 61

Ebd., S. 131.

62

Das Setting eines unbeobachteten Beobachtens der erstarrten Welt und die Radikalisierung der »Zwischenleiblichkeit« (Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 342) durch den Übergriff auf die Körper der Zeitgefrorenen erfüllt die Funktion einer Doppelmarkierung, mit der Voyeurismus und Fetischismus amalgamieren.

63

Lehr: 42, S. 292.

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Die Welt, die Lehr entwirft, geht darin weit über Leibniz prästabilierte Harmonie hinaus und bildet ein suprastabilisiertes Universum, für das die unendliche Fülle der Ereignisse trockengelegt zu sein scheint, und das nur durch das aleatorische Ereignis des RUCKS einen »RISS«64 erhält. Die Welt ist nicht mehr ein »verworrenes Chaos«65, sondern ein dauerhaft augenblicklicher Zustand, den ein absoluter Beobachter beobachten könnte, und zwar Schritt für Schritt, ohne dass dadurch die Welt außer seinen Grenzen bereits eine andere wäre.66 Ob an Haffners Weltwahrnehmung nicht doch »die vermeinte Unordnung und Verwirrung unsers Verstandes schuld gewesen, und nicht die Natur«67 – wie Leibniz über die Gefahren der Inflexion schreibt – oder ob »eine Aktivität im leibnizschen Sinne durchaus, die Handlung einer höheren Intelligenz, einer überragenden Zivilisation […] das Modell unserer Existenz«68 bereitstellt, bleibt trotz aller Indizien für beide Möglichkeiten letztlich im Roman unentschieden.69 »Die Gegenwart, das einmal flüchtigste, unfassbare Element, ist immer für uns da«70, schreibt Haffner, und markiert im »uns« die Grenze, die den Antagonismus von Zeit und Unzeit in die Welt bringt. Dadurch tritt an die Stelle der hemmenden Sorge um das Selbst ein strebendes Tun, dessen Auswüchse tabuisiert werden und unter den Chronifizierten kaum zirkulieren. Umso mehr sticht die Figur Haffner heraus, mit der Lehr einen Charakter geschaffen hat, der seine Hemmungslosigkeit auslebt und zugleich reflektiert, mehr und mehr aber Formen der Abstinenz entwickelt und seinen narzisstisch veranlagten Ereignishunger domestiziert. Zunächst aber nutzt auch Haffner die Möglichkeit, die Rigidität der Unzeit durch temporale Durchgriffe auf die zeitstarren Menschen und Dinge aufzuheben, wie einen »Unterbrechermechanismus«71, um im Kontaktvollzug mit den zeitgefrorenen Menschen (in Anlehnung an die fuzzy logic auch bezeichnet als »Fuzzis«) dem eigenen Begeh64

Vgl. ebd., S. 251.

65

Leibniz: Über den letzten Ursprung der Dinge, S. 222.

66

Unter den Chronifizierten werden solche Superpositionen diskutiert, mal als göttliche Instanz, mal als höhere extraterrestrische Intelligenz.

67

Leibniz: Von dem Verhängnisse, S. 131.

68

Lehr: 42, S. 150.

69

Haffner selbst trägt drei Jahre lang eine französische Ausgabe der Monadologie Leibniz‘ mit sich und überträgt Passagen daraus wie Fabelwissen in sein Notizheft: »Il arrive de meme que par la multitude infinie des substances Simples, il y a comme autant de different Univers, qui ne sont pourtant que les perspectives d’un seul, selon les differentes points de veue de chaque Monade.« (Ebd.) Leibniz‘ Monadologie bietet Haffner ein Arsenal an Denkfiguren zur Beschreibung des Unbeschreiblichen, mehr aber auch nicht.

70

Ebd., S. 143.

71

Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 128.

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ren die Erfüllung just in time zu besorgen. Und wo »Ethik […] nur eine Frage des Zusammenhangs [ist]«72, da fällt das Schlaglicht unweigerlich auf die operativen Kontexte. Für die gilt aber, dass die Autarkiegewinne, die der Einzelne macht, wesentliche Elemente repressiver Normengefüge, Verbote, Tabus und Bestrafungen obsolet machen. Eine von Sperber publizierte »Chronikette« fungiert zwar als Empfehlungsgerüst, das nahelegt, »dass möglichst wenig verschoben, verrückt und vergewaltigt werden sollte.«73 Aber ihre Regulierungswirkung bleibt weit hinter der Macht der Handlungsanreize zurück, die auch Haffners parasitären Einsatz seiner Eigenzeit bestimmen. Das von diesem parastären Einsatz geprägte Interaktionsverhältnis zwischen Chronifizierten und Fuzzis beschreibt Haffner in seinen Notizen ausführlich. Ob das »bloße Berühren eines Nicht-Chronifizierten ihn später einmal töten könne«74 bleibt ebenso offen, wie ungeklärt bleibt, ob die Fuzzis in ihrem Zustand »schlafen […], träumen, fantasieren, fiebern«75. Es ist die Zeitgabe selbst, die während des sexuellen Zugriffs auf den zeitstarren Körper manifeste und daher beobachtbare Effekte triggert: Den von »tranceartige[m] Stöhnen«76 begleiteten unkontrollierten Bewegungen der Fuzzis folgt bald schon ein komatöser Zustand. Mit jeder weiteren Zeitgabe durch ›Kontakt‹ zeigt der Affizierte »immer weniger Reaktion«77, bis schließlich alle Affekte durch den parasitär arrangierten und nekrophile Züge tragenden »Vampirsex«78 verbraucht sind: »Der chronoaffizierte Körper, der missbrauchte oder wenigstens längere Zeit von Beiwohnung betroffene Fuzzi, liegt wie zerschmettert als winzige nackte Figur in sich selbst, auf dem eigenen Grund, über dem sich eine weite Dunkelheit erhebt bis zur Ballonhülle der eigenen Haut.«79 Dass alles, was geschieht, nicht nur gleichzeitig geschieht, sondern monokausal durch die Hand eines über Zeit Verfügenden, ist eine entscheidende dramaturgische Zurichtung des Geschehens. Diese neue ›Macht der Verhältnisse‹, in deren Rahmen Haffner seine Eigenzeit in Aktion bringen kann, besteht aus einem Netzwerk von aneinander anschließenden Ereignissen, deren Temporalstrukturen und Wirkmechanismen nur vom mit Eigenzeit ausgestatten Individuum gesteuert werden können, während autonome Umweltaktivitäten ausbleiben. Der Überfluss der Macht, die Haffner einsetzen kann, ergibt sich aus dem Mangel komplementärer Eigenzeiten, ohne die die Sozialdimension der Zeit leer bleiben muss, was Haffner letztlich als Person von sozialer Referenzrealität abkoppelt. Die experimentelle Konstella72

Lehr: 42, S. 201.

73

Ebd., S. 102.

74

Ebd., S. 169.

75

Ebd., S. 164.

76

Ebd.

77

Ebd., S. 177.

78

Ebd., S. 197.

79

Ebd., S. 181.

260 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT

tion eines Überflusses an ›Ereigniserzeugungsmacht‹ gepaart mit einer Sphäre totalen Mangels an Eigenzeit bildet so die Kulisse für ein Zeit-Setting, in dem die »Entsozialisierung der versozialisierten Zeit des Individuums«80 ausbuchstabiert werden kann. Erleben und Handeln werden in einem solchen Setting zu unidirektionalen Effekten des Eigenzeitregimes Haffners. Ihm obliegt es, ob er wartet, ob er zögert und ob und wie er seine Zeit verschwendet. Losgelöst von den Rationalisierungs- und Ökonomisierungszwängen sozialer Zeit und mit dem Ausfall der telematischen und echtzeitaffinen Medien und damit der lichtschnellen Disposition von Information – alle elektronischen Medientypen sind in der neuen Welt außer Funktion – hat die ›Beschleunigung der Beschleunigung‹ ein Ende genommen.81 Und auch die Anpassungserfordernisse langfristiger Lebensziele sind offensichtlich implodiert: »Kein Beruf, kein Plan, keine Verpflichtungen, nichts.«82 Die Erfordernisse einer das Handeln im Jetzt strukturierenden Zukunft kann Haffner ignorieren. Weil Zukunft als Sinnkategorie wie auch als Zeitdispositiv höchst defizitär bleibt, kann er sich der Gegenwart hingeben. Was damit am Problemhorizont aufblitzt, ist die dialektische Beziehung von biographischer Eigenzeit und sozialer Zeitrahmung, die nur durch und um den Preis der Gabe von Zeit zu haben ist.

D ONNER LE TEMPS – DONNER LA MORT : E XZESSE G ABEN DER P RÄSENZ

UND

Dass die Weltzeit aus den Fugen geraten ist, zeigt sich auch an der Suspendierung der Zyklen und Rhythmen natürlicher Zeitfolgen. Da der Unfall am Cern, der zum ›Un-Fall‹ geführt hat zur Mittagstunde stattfand, bleiben die Umweltverhältnisse bei fixierter Mittagssonne stets gleich: heiß, trocken, hell. Die am Himmel erstarrte Sonne ist allerdings nicht nur Garant dieser auf den ersten Blick idyllischparadiesischen klimatischen Verhältnisse. Das Bild der solaren Permanenz trägt zugleich symbolischen Wert, insofern die Sonne als Spender von Wärme, Licht und Zeitmaß zu einem Doppelwesen mutiert, dessen Gabentrias auf ein Zwei-Zeiten80 81

Bußhoff: Die Zeitlichkeit der Politik, S. 47. Das gerade die Fehlfunktion eines Teilchenbeschleunigers die Beschleunigung der Beschleunigung aussetzt, erinnert an das von Virilios kulturkritischer Dromologie attestierte Ende der Beschleunigung und die damit einhergehende Diktatur des Instantanen (vgl. z.B. Virilio: Das letzte Vehikel). Lehr setzt an die Stelle des Instantanen die Diktatur der Eigenzeit des von komplementären Eigenzeiten abgehobenen Individuums, das Nutznießer einer mikrokosmischen Beschleunigung wird, die in eine makrokosmische Simultaneität umgeschlagen ist.

82

Lehr: 42, S. 132.

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Modell übertragen wird. Einerseits ist die im Zenit fixierte »[u]nnachgiebige Sonne«83 mehr als nur Metapher einer »allgemeinen Ökonomie«84 – sie ist in ihrer Zeitlosigkeit der Überfluss, das Unerschöpfliche in seiner reinen Form: »Ein Blick zur Sonne genügt, um die Unermesslichkeit zu spüren.«85 Andererseits ist dieser Überfluss die Folge einer temporalen Bewegungslosigkeit, die die Sonne als archetypischen Zeitgeber von Stunden, Tag- und Nacht-Wechsel, von Jahreszeiten und Naturzyklen stillstellt. Das Fehlen eines Fortschreitens am Himmel lässt sich in dieser Doppelfigur begreifen metaphorisch figurativer Hinweis auf eine Assoziationskette, die sich von der Eigenzeitobsession der technischen Zeitforschung bis zur Überwindung der Eigenzeit der Natur und des Kosmos zieht. Der Anspruch auf totale Naturexploration durch naturwissenschaftliche Experimente öffnet den Türspalt zur totalen Naturbeherrschung und scheint damit eine Sorge um die Moderne zu artikulieren, in der »die Fortschritte der Naturbeherrschung« und »die Rückschritte der Gesellschaft«86 dialektisch aufeinander bezogen bleiben. Die Permanenz der Sonne ist aber auch in anderer Hinsicht mehr als nur ein wesentliches Element der neuen Welt. Dass in dieser der synthetische Konnex von Licht, Wärme und Zeit aufgebrochen ist, macht die Sonne zu einem eigentümlich defizitären Objekt. Zwar stellt sie weiterhin die Sichtbarkeit der Phänomene sicher und wärmt die ›Körpermaschinen‹87 der Chronifizierten und bewahrt sie so vor dem thermodynamischen Kältetod. Aber sie verweigert die Gabe von Temporalstrukturen, mit denen der entropische Pfeil einst in Bewegung gehalten wurde. Was sich im Roman in den Parametern thermodynamischer Paradoxien formuliert findet – ewige Mittagshitze bei gleichzeitiger entropischer Kältestarre der Welt – dient auch zur Hinführung zu einer positionalen Transformation, an deren Ende eine zeitspezifische Machtverschiebung steht: »Eine einzige Dimension genügt, die Skala, die uns nichts weiter zu geben braucht als einen Punkt und noch einen Punkt und noch einen Punkt (12:47:42 - 12:47:43 - 12:47:44) und immer noch einen natürlich (12:47:45) am Ende dreht sie aus der kurzen Leine, die sie uns ließ, den Strick, mit dem sie uns hängt. Ruhe sanft. Die Zeit aber hat kein Bett, sie schläft nicht, sie strömt nicht, sie zeigt nur an, dass wir uns aufrichten, losmarschieren, stolpern. Sobald wir 83 84

Ebd., S. 16. Im Zusammenhang mit der poetischen Funktion der fixierten Sonne als Figuration der Gabe macht es durchaus Sinn, hier Batailles Begriff der allgemeinen Ökonomie einzubringen, zumal Bataille selbst die Sonne als kosmisches Paradigma einer voluntativen Gabe ohne die Forderung einer Gegengabe beschreibt (vgl. Bataille: Der verfemte Teil, S. 53 ff).

85

Lehr: 42, S. 84.

86

Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 319 (XI. These).

87

Vgl. Lehr: 42, S. 155, 222 u. passim.

262 | E REIGNISZEIT UND E IGENZEIT sind, steckt sie in uns. Wie sämtliche Windungen unseres Gehirns und Gedärms. Wie das Innerste des Auges. Wie der Schrittmacher unseres Bluts und alle Spiralen unserer DNA. Kein Fühlen, kein Denken ohne Zeit. Kein Atmen. Großherzig gibt sie uns mit einem Schlag immer Vergangenheit, immer Zukunft, immer Gegenwart, die Ekstasen, in denen sie uns verschwendet. Wir sind Zeit, Zeitmacher, Zeitgemachtes, Eingemachtes der Zeit. Gibt es sie denn ohne uns, außerhalb unseres Körpers, unserer Maschinen, unseres Lieds? Punkt für Punkt für Punkt. Wer denkt sie für uns weiter, wenn wir uns weggedacht haben?«88

Schritt für Schritt geht die Verfügungsmacht über die Zeit über vom Inertialsystem Sonne auf den sinnprozessierenden Beobachter Mensch. Nicht die Punktualität kosmisch-atomarer oder gar gequantelter Zeit gibt den Takt der Zeit an, sondern die Operationen des Bewusstseins übernehmen die allgemeine Ökonomie der Zeitgabe. Was in der zitierten Passage mit einem Fragezeichen versehen ist (»Gibt es sie denn ohne uns […]?«), haben Haffners Eintragungen bereits anschaulich dokumentiert. In ihnen lässt sich der Übergang des Menschen vom heliotropen Sternenkind zum souveränen Subjekt nachvollziehen, das sich durch seine Eigenzeit und Beobachtungszeit wieder einer Egozentrizität versichert fühlt.89 Die häufige Referenz auf den heraklitischen Strom der Zeit bestärkt diese Egozentrizität noch, weil durch das Versiegen des den Menschen umschließenden kosmischen Zeitflusses auch symbolisiert wird, dass die Doppelfigur des In-den-Fluss-Steigens nur mehr eine verschobene Form der Mensch-Welt-Relation ermöglicht. Die aktive und die passive Komponente des Steigens in den Zeitfluss, die Heraklit als paradoxe Verschränkung denkt,90 werden selbstreferentiell zurückgebogen und landen dort, wo sie ihren Ausgang genommen hatten: in den Operationen des zeiterfahrenden und dazu operativ zeitgenerierenden Bewusstseins, das Punktualität und Fließen, Dauer und Einschnitt der Zeit als Beobachtung konstruiert. Als »Zeitmacher« und »Zeitgemachtes« sind die Bewusstseine der Chronifizierten die Spinnen, die das »Spinnennetz der Zeit«91 weben und dabei als Sinnsysteme nicht nur operative Naturzeit, sondern auch beobachtungsrelative Sinnzeit und Zeitsinn hervorbringen, die sich im fiktiven Unzustand der neuen Welt durchsetzen können gegen die Sinnschranken einer universalen Einheit der Zeit.92

88 89

Ebd., S. 222. Die Paradoxie der Zeit in der Zeit wird ästhetisch-rhetorisch gestutzt und fügt sich der Seinsgeltung der Zeit in einer nichtwirklichen Welt, die selbst nur in der Figur einer Fülle logischer Paradoxien erfahrbar ist.

90

Vgl. Jung: Man steigt nicht einmal in denselben Fluß, S. 107 f.

91

Cornils: Reisen in Zeit und Raum, S. 286.

92

Vgl. zur Dialektik von Sinn- und Naturzeit aus operativer Perspektive Paß: Bewußtsein und Ästhetik, S. 248 f.

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Die Figuration der Zeitgabe als Dual von operativer und beobachtungsgenetischer Sinn- und Zeitsouveränität geht im Roman-Universum auch einher mit einer Handlungssouveränität, die die Gabe der Zeit materialisiert und Zeit faktisch substantialisiert. Kulturgeschichtliche und kognitionsevolutive Formen solcher Substantialisierungen der Zeit sieht Günter Dux in Aktivitätsparadigmen: »Die Entwicklung der Zeit über den Gewinn an Handlungskompetenz läßt sich in ebenso einfacher wie markanter Weise bestimmen: Zeit ist anfangs in ihrer Entwicklung an die einzelne Handlung gebunden: jede Handlung hat deshalb ihre eigene Zeit. Die Zeit ist deshalb auch so konkret wie substantiell.«93

Lehrs Konzeption sieht vor, dass die Chronifizierten vom fortschrittlichsten Stand der Zeitwissens zurückgeworfen werden in eine ontogenetische Frühphase der Zeiterfahrung, in der schiere Handlungsmacht die strukturlogischen Prozesse der Zeit bestimmt. Nur an Gedanken und Handlungen ist das vorher/nachher-Schema in der Welt beobachtbar, nicht an den archetypischen Bewegungen der Himmelskörper oder der Dinge/Körper in der Unzeit. Sind die Zeitgaben der Chronifizierten zunächst noch von voluntativen altruistischen Motiven angetrieben und im Aktionsraum untereinander auf Kooperation ausgerichtet, so schlagen die Handlungsformen schnell in egoistische Instrumentalisierungen der Elemente (vor allem der Fuzzis) in der Welt der Unzeit um. Aus der Autarkie der Eigenzeit entspringt die abusive Pervertierung der Zeitgabe. Und der Grund hierfür, so legt es die Anlage des Romans nahe, liegt in der Anziehungskraft der Konsumtionstotalität, die die Funktion der Gabe abnorm erhöht und die ökonomisch-soziale Problematik der Gabe mit deren psychisch-sozialer amalgamieren lässt. Das zeigt sich in vielfältigen Formen der destruktiven Verausgabung von Zeit, die Haffner detailliert beobachtet und präzise beschreibt, obwohl »[v]ielleicht die Auswege, die ein jeder für sich finden musste, interessanter [sind] als die Untaten, von denen sie fortführen sollten.«94 In der Folge einer Fremdheitserfahrung dient die Gabe von Zeit durch Überbrückung der Distanz zunächst dem Versuch, im Aufeinandertreffen ein »Geflecht zarter sozialer Beziehungen« dort zu etablieren, wo noch keine »fix und fertige[n] Integrationsformeln«95 greifen können. Daher bilden in erster Linie die in den Erinnerungen Haffners zirkulierenden ›frischen Spuren‹ der Handlungsmuster sozialer Intersubjektivität der ›alten Welt‹ die Grundlage für die Transformation des »Nebeneinander[s]« der Bewohner der Zeit und der Bewohner der Unzeit in ein »Miteinander«96. 93

Dux: Die Zeit in der Geschichte, S. 99.

94

Lehr: 42, S. 201.

95

Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 116 f.

96

Ebd., S. 117.

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P ORNOKINESIS – F REMDZEIT

UND

E IGENTUM

Für die Neue Welt lässt sich so aus Haffners Aufzeichnungen eine provisorische Sozial- und Kulturtheorie der Gabe extrahieren, in der sich die Traditionsüberhänge der alten Welt und die Erfahrung des absolut Heterogenen in der neuen Welt niederschlagen.97 Bezeichnend ist dabei, dass die Möglichkeit einer reinen Gabe nicht scheitert, weil die Gabe als Gabe wahrgenommen würde, sondern weil die Möglichkeit einer Erwiderung gar nicht gegeben ist. Ohne das konstitutive Außen, also ohne die kontingente Option, die Gabe auch zu erwidern und sie dazu in einen Tausch zu verwandeln, bleibt die Gabe selbst Utopie.98 Die Pointe dieser Unmöglichkeit der Gabe von Zeit ist nun nicht der Antagonismus von Gabe und ökonomischen Vorgängen, sondern die Insuffizienz der Potentialität der Resonanzen auf diese Gabe. »Dort wo es die Gabe gibt, gibt es die Zeit, aber diese Gabe ist zugleich ein Verlangen nach Zeit«, schreibt Derrida. Für ihn besteht diese Zeit in der nichtunmittelbaren Reaktion auf die Gabe – bei Haffner hingegen besteht die verlangte Zeit aus fremder und widerständiger Eigenzeit. Die Erfahrung des fundamentalen Mangels an »wahrhaftige[r] Antwort aus Fleisch und Blut«99 festigt noch das duale Schema, das der Romanwelt als Weltmodell unterlegt ist. Den parasozialen Beziehungen, die Haffner (und andere) mit den Zeitlosen führen, weist Lehr aber auch eine entscheidende mnemonische Funktion zu, indem er sie als Gedächtnismedien konzipiert. Haffner notiert entsprechend eine Situation, in der er die Ereignisse früherer Intimkontakte mithilfe von weiblichen Fuzzis nachzustellen sucht: »Aus der Vergangenheit taumle ich auf mich zu. In das Gitter der Buchstaben, die ich gerade schreibe, ihren Elektrozaun. Der Ahnungslose bin ich. Als betrunken Gewesener, in dem andere Vergangenheiten, von denen ich nur noch die Glimmspuren sehe, als lebendiges Feuer brennen. Annas Kuss, die kissenweiche Deformation der Lippen, das beiderseitige Ansaugen, das leise Klacken der Schneidezähne, die Zungentiere, die sich im süßen Speichel umeinan-

97

In den Notizheften Haffners weicht die Wehleidigkeit über die Tatsache, dass jede reanimierende Zeitgabe ein zerstörerisches Eingriffsereignis bedeutet, bald einer abgeklärten Negativität, mit der das Scheitern der Zurückhaltung der Zeitmacht immer nüchterner beschrieben und letztlich ad acta gelegt wird.

98

Dass die Zeitgabe die Zeitgefrorenen überrascht und dadurch ›überwältigt‹, lässt sich allerdings auch lesen als satirische Überspitzung der Rede von der reinen Gabe, wie sie sich bei Derrida formuliert findet: »Keine Gabe ohne das Eintreten eines Ereignisses, kein Ereignis ohne die Überraschung einer Gabe« (vgl. Derrida: Falschgeld, S. 155).

99

Lehr: 42, S. 175.

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der wälzen. Wie man es auch nachmacht, es ist erbärmlich ohne die tastende, unberechenbare Software der anderen Seite.«100

Nicht nur Einsamkeitssentiments muss die simulierte Intimität überwinden, sie gerät auch zum reenactment einer in der Erinnerung vergangenen Intimität, die durch die Abgleichsituation mit der Nachahmung nicht minder hyperreal wirkt. Denn weder der kognitiven Erinnerung noch der nachahmenden Simulation gelingt die Wiederholung des Realen. Bewusstseinsinhalte wie auch die physischen Übergriffe auf die zeitstarren Körper laufen mehr und mehr in selbstreferentielle Schleifen, weil sie zunehmend nicht mehr auf das Erinnerte bzw. das Erlebte selbst verweisen, sondern ihre Zeichenhaftigkeit, ihr Imaginäres, ihre Virtualität als das eigentliche Ereignis exponieren. Der »Effekt des Realen«101 schiebt sich vor das begehrte Reale und bannt den Blick des Beobachters auf das »realistische Zeichen«102. Auf den ersten Blick mögen Haffners Vergegenwärtigungsakte dem klassischen Modus der Imitation entsprechen. Liest man sie aber als evolutiver nächster Schritt der virtuellen telematischen Intimitätsformen der ›alten Welt‹, deren größte ›Defizitstelle‹ der ausgeschlossene unmittelbare Körperkontakt ist, so gewinnt das Szenario vom freien Zugriff auf verfügbare Körper eine hyperrealistische Wendung. Die groteske Überzeichnung dieser Verfügbarkeit fungiert solchermaßen als Karikatur der Annäherung virtueller Intimität an somatische Intimität, mit dem Ideal-Ziel, die Unterscheidung zwischen beiden implodieren zu lassen. Für eine solche Lesart spricht auch Haffners Metaphorik, die dezidiert aus dem Bereich der Simulationstechnik entlehnt ist und mit der »unberechenbaren Software« auf die algorhythmische Programmiertheit der virtuellen Intimität anspielt. Wenn nämlich die Absenz der Unberechenbarkeit selbst absent ist, bricht die dynamische Verkettung von Intimereignissen zusammen. Es ist die doppelte Kontingenz im Rahmen der Koevolution von Eigenzeiten, die die Dynamik sozialer und intimer Begegnungen ausmacht, und die Haffner sucht. Die Mikroaleatorik intimer Ereignishaftigkeit können die Simulationsmedien (Technik bzw. ›Fuzzikörper‹) aber nicht bereitstellen, wie Haffner pathetisch und zugleich seltsam nüchtern festhält. Ihr Fehlen macht Handlungsmöglichkeiten erwartbar und fade, weshalb die Simulation sozialer und intimer Kontakte mithilfe von Fuzzis die Polarität von Zeitbewohnern und Unzeitbewohnern noch schärfer zum Vorschein bringt und damit gleichsam verifiziert. Die Verdichtung dieser Polarität schlägt sich auch im Umschlag der Intimitätssemantik in eine Maschinensemantik nieder. Das Universum scheint auf einen Schlag ein La Mettrie’sches geworden zu sein, in dem die Unterscheidungstenden-

100 Ebd., S. 176. 101 Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 209. 102 Ebd., S. 145.

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zen auf den Dual von chronifizierten ›Körpermaschinen‹ und »Sexmaschinen«103 – so die Bezeichnung für die missbrauchten Fuzzis – hinauslaufen. In diesem Zusammenhang wird auch die Parallelisierung der Zeitverhältnisse mit den Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern besonders bedeutsam. Dass überwiegend Übergriffe auf weibliche Fuzzis geschildert werden, entspricht dieser Signifikanz der geschlechterspezifischen Präferenz für weibliche Missbrauchsopfer. Gleiches gilt für die marginalisierende Sprache, deren Einsatz die Übergriffe bald schon nicht mehr als Übertretungs- und Grenzverletzungsereignisse ausweist. Die Hegemonie der Eigenzeit triggert die männliche Hegemonie über den weiblichen Körper, für die die sexuelle Ausbeutung der weiblichen Fuzzis zumeist nicht mehr als ein technisches Präzisionsereignis zu sein scheint: »Abstand ist erforderlich, gerade wenn man sich den Genuss erhalten will. Am schonendsten dürfte nach wie vor die Methode Kurz und Bündig sein, die pornokinetische Konzentration und Distanz, die nur das Entscheidende zusammenbringt, dafür aber vehement.«104

Haffners Bemühen um Latenzschutz findet seinen Ausdruck in dieser nüchternen Beschreibung eines Akts, der den Körper der Anderen synchronisiert, indem er diesen zum Sexsklaven respektive zur Sexmaschine umfunktionalisiert. Nicht die Medien ›Geld‹, ›Liebe‹ oder ›Schönheit‹ führen zu den Vollzügen ›unheimlicher‹ Lustbefriedigung, sondern das Medium ›Zeit‹, das in 42 aber zum Absolutmedium ›Macht‹ aufsteigt, insofern es die Einheit der Differenz von durchgesetztem Willen und absoluter Ohnmacht darstellt.105 Lehr baut in diese Machtkonstellation auch die Zeitskala einer kulturgeschichtlichen Degeneration ein, die gar die anthropologischen Diskurse der Aufklärung reanimiert. In den Reflexionen über die eigene Situation in der Stadt des Aufklärers Jean Jaques Rousseau mimen die Chronifizierten die historischen Protagonisten Voltaire, Denis Diderot oder Madame de Staël. Die nach der Rückkehr nach Genf zusammengetragenen Erlebnisse und Informationen erlauben Haffner eine an Aufklärungstopoi rückgebundene aktuelle Zivilisationsdiagnose: »Bei Rousseau, bei Voltaire, bei Diderot gab es doch das Bild von den Wilden, die eigentlich die Guten gewesen seien, die Unverfälschten und Unverbildeten, nicht in den Ketten der alten Gesellschaftsverträge Liegenden, Freie und froh Gemutete wie wir […], unverletzlich und

103 Lehr: 42, S. 302. 104 Ebd., S. 178. 105 Vgl. zu Macht und Geld als Medien der Steuerung des Konsums sexueller Dienstleistungen Grenz: (Un)heimliche Lust, S. 156-185.

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nicht mehr zu kolonialisieren. Der zerbrochene Goliath der Zivilisation liegt zu unseren Füßen, und wir können ihn bemalen, schänden oder auffressen, ganz wie es uns beliebt.«106

Die Vermessung der kulturellen Eigenzeit endet mit einem dystopischen Ergebnis, dass das Bild vom ›edlen Wilden‹ umkehrt. »Du bist der unedle Wilde, den DELPHI auserkoren hat, um mit den Glasperlen der Welt zu spielen«107 lautet denn auch eine konsequente Selbstverortung Haffners. Die Wissensbestände der Aufklärung und die exzessive sexuell motivierte Präsenzsucht bzw. präsenzmotivierte Sexsucht bilden die beiden Pole der neuen Geschichte der Stadt Genf bzw. der Geschichte der Stadt Genf in der neuen Welt. Die Stadt der Aufklärer und ProtoAnthropologen, der Kulturhermeneutiker und Kulturpoeten wird zum heterochronen Ausgangsort »flächendeckender Fruchtbarkeit, als wäre Zeus wie eine Schwanenarmee über die Töchter des Mittags im Jahre Null gekommen«108. Die Überwältigungssymbolik antiker Sexualmythologie bleibt in dieser euphemistischen Beschreibung aber weit hinter dem zurück, was sich zwischen den »unedlen Wilden« und den weiblichen Fuzzis ereignet. Haffners »Versinken unter der Haut«109 der Anderen geht über den Konnex von ›Wilden‹ und Frauen im Diskurs der Aufklärung110 weit hinaus. In seinen Beschreibungen der Zugriffe auf die Körper weiblicher Fuzzis klingt die Rede von der Frau als genuin amorphe Materie an, wie sie z.B. in Otto Weiningers 1903 veröffentlichtem abstrusem Werk Geschlecht und Charakter als Akt der Konstitution der Frau als Frau durch die männliche Penetration populär und diskursrelevant wurde: »Der Mann hat das Weib geschaffen und schafft es immer neu, so lange er noch sexuell ist. Wie er der Frau das Bewußtsein gab […], so gibt er ihr das Sein. Indem er auf den Koitus nicht verzichtet, ruft er das Weib hervor.«111

Haffner begreift seine Mikropolitik der Eigenzeit, den Einsatz seiner hegemonialen Ereignispotenz, im Rückgriff auf Strategien des Selbstschutzes als ebensolche »Re-

106 Lehr: 42, S. 270. 107 Ebd., S. 200. 108 Ebd. 109 Ebd., S. 178. 110 Vgl. zu diesem Diskurs Weigel: Topographien der Geschlechter, S. 118-142. 111 Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 397. Literarisch findet sich diese ›Geschlechter-Ungleichung‹ mit geringerer sexueller Drastik etwa in John Miltons epischem Gedicht Paradise Lost formalisiert, das im vierten Buch den zweifachen Objektstatus der Frau ebenfalls als poietisch vom Männlichen abhängige Konstitution markiert: »Hee for God only, shee for God in him.« (Milton: Paradise Lost, Buch IV, v. 299)

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animation«112 des leblosen weiblichen Körpers durch das Ereignis der Penetration. Dieses ist zugleich das bevorzugte Ereignis der Infizierung mit fremder Eigenzeit, mit der er im sexuellen ›Akt‹ zumindest eine Schwundstufe von Lebendigkeit am anderen Körper beobachten kann. Der Zugriff auf den weiblichen Körper geschieht als Zugriff auf einen für Zeit offenen Raum. Was Haffner initiiert, ist das irreale Wirklichkeit gewordene Ereignis des ›Wahr-Machens‹113 der temporalen Naturalisierung des weiblichen Körpers, der durch seine Gabe für den Moment einer Gegenwart wieder mit dem Lauf der Zeit imprägniert wird. Radikal zum Vorschein kommt dabei, wie die Container-Funktion des Weiblichen als wiederholbares Ereignis der Signifizierung männlicher personaler Identität in das System der Begierden und Wünsche eingelassen ist und an ihm mitwirkt. In diesem System ist das Weibliche »nichts Starres, es wird stets in Schwingungen und Schwankungen gebracht«114 mit jeder Gabe von Eigenzeit durch die »Leiber der […] göttliche[n] Zombies«115. Der weibliche Körper wird der poietischen Unschärfe ausgesetzt, und die Frau zum »Quasi-Subjekt« transformiert, dessen Status zischen »Wesen« und »Relation«116 oszilliert. Eine These Elisabeth Bronfens modifizierend und gleichwohl strapazierend,117 lässt sich für Haffners lustexzessiven Zeitkosmos festhalten, dass die »Sexmaschine« Frau insofern nicht als Frau existiert, als sie ohne autonome Eigenzeit eine instabile Stelle innerhalb der Zeit einnimmt.118 Diese bleibt zudem im Legitimationsdiskurs Haffners und anderer männlicher Chronifizierter ohne die Ereignisse männlicher Zugriffe stets jenseits von Zeitlichkeit verortet.119 112 Lehr: 42, S. 178. 113 Vgl. James: Pragmatism, S. 77-82. 114 Hess: Entkörperungen, S. 65. 115 Lehr: 42, S. 180 f. Der moderne paradiesische Unzustand – den Lehr in ironischem Gestus entwirft – kopiert und radikalisiert Weiblichkeit als Projektionsfläche und als Projekt. 116 Serres: Der Parasit, S. 350. 117 Vgl. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 305. 118 Der Text macht den impact der ungleichheitstheoretischen Differenz von geschlechterspezifischer Eigenzeitkonstruktion deutlich und veranschaulicht in den Beschreibungen des Zugriffs auf die Körper ›zeitloser‹ Frauen den soziologischen Befund, dass »Frauenzeiten tendenziell zu Zeiten für andere […], Männerzeiten hingegen zu Zeiten für sich selbst werden.« (Schöneck: Zeiterleben und Zeithandeln, S. 81 mit weiteren Nachweisen) 119 Machtheoretisch ist die Gabe von Zeit in der zeithybriden Welt stets ein Selbstläufer mit Boomerang-Effekt, weil die Gabe von Zeit an die Fuzzis keine Weitergabe von Macht sein kann. So ist denn auch die Teilhabe am Geschichtsprozess nur der exklusiven Gruppe der Chronifizierten überlassen, die eine Geschichte der Sieger zu schreiben beabsichtigen, die auch die Gegenwart zu transzendieren vermag: »Was wir getan ha-

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Die signifikativen Strukturen dieser Bemächtigung des fremden Körpers spiegeln nicht nur die Wertigkeitsstrukturen hegemonialer Eigenzeiten wider, wie sie in den Übergriffen Haffners sich als Ereignisse niederschlagen. Sie sind auch Zeichen einer instrumentellen Verschränkung von aisthetischer Intensitätserfahrung und Vergessensphobien. Indem Lehr den geschützten Raum der chronifizierten Zeit, der ein Raum maximaler Freiheit und minimaler Verbindlichkeiten ist, als maximalen Bruch des Kohärenz des Lebenslaufs gestaltet, schafft er ein Selektionsszenario, in dem sich seine Figuren – allen voran Haffner – fortwährend zwischen einem asketischen Pathos der Distanz und einer radikal-hedonistischen Eudämonie entscheiden müssen. Die neue Welt anomaler Zeitverhältnisse erfordert eine neue Lebenskunst und neue Praktiken einer ›Ästhetik der Existenz‹. Die intensivierte Sorge um die Lebenslage wird dabei zunehmend verdrängt durch die Sorge um die Präsenz im Augenblick und die Dauer der Echos dieser Präsenz: »Nur die stärksten und die jüngsten Empfindungen halten dem Zerfließen stand, das, was am meisten schmerzt oder das größte Glück verspricht. […] Nichts sollte unsereinem ferner liegen als Scham. So kommt es aber erst mit der Unzeit.«120

Die dramatische Hybris eines stets das intensive Glücksempfinden oder das maximale Schmerzerleben suchenden Strebens besteht nicht nur in der mangelnden Dauer der Ereignisse selbst, sondern erfasst auch die retentionalen Ausgriffe des Erinnernden in die Vergangenheit. Was Haffner zu erreichen hofft – ein zeitstabiles und substanzhaftes Gedächtnis, in das die Maximalempfindungen, wie in eine Konservierungslösung eingelassen, die Korrumpierungen und Erosionen des Vergessens überdauern – ist zwar seinem Entwurf einer Willensmetaphysik verpflichtet. Aber die Ereignisse, die sich in das Gedächtnis einprägen und die biographische Eigenzeit des Subjekts stabilisieren sollen, sind eben nur Ereignisse und somit nicht von Dauer. Glück und Schmerz in ihren Intensivformen können nur als temporale Reduktionen von Dauer die neue Existenz jenseits des Augenblicksmoments der Ereigniserfahrung auf Dauer stellen. Weil aber nur die »jüngsten Empfindungen« widerständig gegen die Zeit bestehen, sie aber gleichsam die Zeitstelle des unmittelbar Vergangen mit dem nächsten Ereignis, der nächsten Erfahrung, dem nächsten Glück und dem nächsten Schmerz räumen müssen und distant verschoben werden, gerinnt die Sehnsucht nach qualitativen Intensitätsereignissen zur monströsen quantitativen Ereignissucht. Wo das Leiden an der Ereignisfolge von Erleben, Erinnern und Vergessen kleben bleibt, da gerät das Ausbleiben der Dauerhaftigkeit der Befriedigung der Existenz zum neuen Fluss. Die Zeit ist nicht mehr das umspülende ben mögen, wird leicht übertönt werden vom Weltendonner der einsetzenden Zeitlawine.« (Lehr: 42, S. 169) 120 Ebd., S. 132.

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Fluidum, in das man erst steigen muss. Stattdessen wird das Leiden an der hyperbolischen Ereignissucht zum fortreßenden Medium. Haffners reflektierende Hypostasierung des Ereignishaften wie auch seine exzessiven Übergriffe auf die weiblichen Erstarrten erfüllen in ihrer quantitativen Permanenz die wesentlichen Züge einer männlichen Selbstvergewisserungsobsession. Das Reanimationsmodell, das Haffner zur Legitimation seiner Handlungen bemüht, ist insofern durchaus lesbar als monomanische Kreationsphantasie, die mit der Macht der Zeit und den diskursiven Insignien des Schöpferischen und Genialischen den »parasitären Eros«121, die phallischen Phantasien und die Vergewaltigungen hinter dem Mantel eines generischen Eros zu verstecken trachtet. Lehr realisiert offensichtlich den psychoanalytischen Topos der Dialektik von Libido und Destrudo im Begehren des Subjekts nach dem lustaffirmativen Objekt:122 Sobald Haffner über das Objekt seines Begehrens – die Verfügbarkeit des Ereignishaften der Erfüllung sexueller Begierden als Medium einer präsentischen Affektbezogenheit – verfügt, erodiert die imaginierte Verschmelzung von Subjekt und Objekt im Akt wiederholter Zugriffe auf denselben weiblichen Zeitgefrorenen. Den bei Freud als psychische Erosion beschriebenen fade out der Faszination, die vom begehrten Objekt als Projektionsfläche und als Lustobjekt ausgeht, erleben die übergreifenden Chronifizierten als physischen fade out des durch Zugriffe »anfaulenden«123 Objekts, was ihre libidinös unterfütterte Neigung zu Gewaltausbrüchen aus der Latenz hebt. Das Unbehagen des Menschen an der Zeit entzündet sich in dieser Facette des Romans an der Dominanz der triebökonomischen Struktur der Zeit des Begehrens, die Dauern abwirft, gegen die das begehrende Individuum mit Ereignisobsession reagiert und reagieren kann, weil die Hegemonie der Eigenzeit die Hemmnisse des Intersubjektiven ausschaltet.124 Derart 121 Ebd., S. 98. 122 Vgl. hierzu und zu den folgenden Referenzen Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 197 ff. 123 Lehr: 42, S. 179. 124 Die Stellung des Subjekts im Roman ist auch deshalb prekär, weil der subjektive Wille der Chronifizierten nicht nur die Welt vornehmlich nach dem Machtbegehren des Einzelnen ausrichtet, sondern Begehren, Bewusstsein und Triebwillen stets überschattet bleiben von der Paradoxie einer gegenwärtigen Existenz in einer ansonsten ohne Zeit existenten Welt. Diese Fragmentierung der Zeit in einen anormalen Dual scheint mir ein literarischer Reflex auf eine partikularitätspolitische Diagnose, wie sie z.B. Anne Norton für Zeitstrategien und -politiken des Begehrens stellt: »Mit dem Begehren ist die Anerkennung – die Vorstellung – verbunden, ein in der Zeit existierendes Wesen zu sein. […] Woran immer es mangelt – Nahrung, Luxus, Lust, Macht – das Selbst verfügt bereits über etwas mehr: das Bewußtsein einer Gegenwart in der Vergangenheit« (Norton: Zeit und Begehren, S. 163 f.) Haffners beständige Erlebnisproduktivität – verstanden als sexuelle Ereignisproduktivität – lässt sich einer Politik des Begehrens zuordnen,

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betrachtet zieht der Text konsequent die Summe der am Begehren orientierten ›sträflichen‹ Ereignisse. Die Konfrontation des Lesers mit dem Maß an Autonomie im fiktiven Gefüge und die in diesem Gefüge stattfindende exzessive Transgression ethischer Normen, denen letztlich auch die Funktion der Einschreibung von vergangenem Handeln in Handlungsoptionen in der Gegenwart obliegt, erinnern an die Absenz von ethischer Selbstkontrolle in de Sades Die 120 Tage von Sodom. Ist dort die Raumphantasie einer durch sieben Mauern isolierten menschenverzehrenden Entlegenheit dasjenige sadomasochistische Arkanum, in dem das Phantasma der absoluten sittlichen Überschreitung durchgespielt wird, ist es in 42 die Zeitphantasie einer jenseits empirischer Grenzen situierten Autarkie der Eigenzeit, mit der das begehrende Selbst manisch-repetitiv seine eigene Zeitlichkeit sich selbst zu Gehör bringt. Dass er sich kaum gegen das Begehren wehrt, führt Haffner letztlich selbst auf die Impulse jener fatalen Ökonomie des ereignishaft und je nur ›ereignislang‹ Emphatischen zurück – eines Emphatischen, das sich nicht aus sich selbst heraus auf Dauer stellen kann. Es ist der Dialektik des Bleibenden im Wechsel ebenso unterworfen wie die vollendende Erfüllung seiner Präsenz. Der immanenten Sättigungslogik des Begehrens kann aber vollendete Erfüllung stets nur als Seinsentzug gewahr werden, also ohne beständige Anwesenheit. Denn die Unendlichkeit des Begehrens sabotiert von Moment zu Moment die Ruhigstellung der Gegenwart im Ereignis. Dadurch, dass der Text das Aufbegehren des Inhumanen als Befriedigungsinflation parallel zum Mangel an fremder Zeitlichkeit gezielt an der Zeitlichkeit des Anderen inszeniert, sortiert er das Begehren in die Mechanik einer triangulären Partikularität ein, in der dem Subjekt die Verschiedenheit des Anderen und die der ›anderen Zeit‹ als in ihm selbst aufgehobene Komponenten seiner hegemonialen Eigenzeit ›begegnen‹.125 Im Konnex von Begehrenszeit und Zeithegemonie gewinnt die Kreativität der gewalttätig-sexuellen Handlungsformen die Form einer »paradoxen Einheit von Verletzung und Bestätigung«126 von Grenzen, und zudem eine beunruhigende ästhetische Anschaulichkeit.

die die Dauer der Nichterfüllung des Begehrens und die korrumpierte Geschichtlichkeit des Subjekts zu bekämpfen sucht. 125 Diese Triangulation weist deutliche Parallelen zu René Girards Modell der Triangularität des Begehrens auf. Girard konzipiert ein Dreieck des Begehrens aus Subjekt, Objekt und Mittler. Letzterer löst erst durch sein Objektbegehren das Begehren des Subjekts nach demselben Objekt aus (vgl. Girard: Figuren des Begehrens, S. 12 f.). Subjekt und Mittler werden in einem Konkurrenzverhältnis verortet; ob nun im Falle der Konstellation in 42 Zeit das Objekt der Mittler oder gar das Subjekt darstellt, soll hier nicht erörtert werden. 126 Alt: Ästhetik des Bösen, S. 312.

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Wo Zeit der Macht einer Privatsphäre (und als solche fungieren die Chronosphären) unterstellt ist, treten die kulturellen Praktiken und Mechanismen ex negativo zu Tage, mit denen Gesellschaften das Begehren aufschiebend zu domestizieren, kanalisieren und mediatisieren suchen. Der literarische Text entpuppt sich in dieser Hinsicht als eine ästhetische Technik der Geständnisakquise. Haffners Aufzeichnungen geraten zur Beichte einer durch verwahrlostes Begehren getriebenen Menschheit. Seine Notizhefte sind entlockte Geständnisse, die mit logischer Notwendigkeit eine Geschichte der zivilisatorischen Degeneration erzählen, die als temporale Determination nur noch die Stufenleiter der psychischen und ethischen Erosionen kennt.127

TO DO T IME WITH T HINGS : EPISTEMISCHE UND TECHNISCHE E IGENZEITEN

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E REIGNISSE

Die in 42 erzeugte (im klassisch-logischen Sinn) paradoxe Zeitpluralität ergibt sich aus einer eigentümlichen Wirklichkeit der Gleichzeitigkeit von abwesender und anwesender Zeit. Die irritative Dimension dieser Pluralität ist im Roman nur dadurch dauerhaft aufrechtzuerhalten, dass die temporale Paradoxie topologisch entfaltet wird. Der literarische Kunstgriff, mit dem Abwesenheit und Anwesenheit von Zeit zeitgleich zur Geltung kommen, basiert im Roman aber nicht nur auf der Verräumlichung der Zeit, sondern auf einem Lebens- und Erfahrungsraum, der die Figuren mit prinzipiell paradoxen Sinnstrukturen konfrontiert, die ihre Erlebnisse hervorbringen. Der Roman entzaubert diese paradoxe Zeitpluralität nicht. Er hält sie vielmehr aufrecht und verweigert den Figuren wie auch dem Leser die Möglichkeit eines souveränen und mit ausreichendem Wissen ausgestatteten Überblicks. Aber die Konfiguration der Welt ist keine, in der chronotypische Elemente gänzlich obsolet sind. Zwar ist das Standardkontinuum der Weltzeit durch die Sphäre der Unzeit partiell außer Kraft gesetzt und damit als Normierungsregulativ nicht universalisierbar und letztlich auf globalen Skalen unbrauchbar. Aber die Taktik der literarischen Erzeugung einer solchen Leerstelle erlaubt umgekehrt die Beobachtung der temporalen skills der Chronifizierten, deren Umgang mit den erstaunlichen Zeitphänomenen durchweg geprägt ist von den Erfahrungsüberhängen und Erwartungsprojektionen einer Welt ›normaler‹ Relationen zwischen verschiedenen Zeitord127 Insofern erfüllen die Fünf Gesetzmäßigkeiten und die vorgegebene Sukzession der Zustände, die sie beschreiben, keine triebaufschiebende Funktion. Sie repräsentieren künftige Ist-Zustände, vermeiden aber die Formulierung von Soll-Zuständen. Lehr lässt in der Romanwelt eine vorgezeichnete Entwicklung ablaufen und verlagert die Handlungsfreiheit seiner Subjekte in die paradoxe Überordnung einer Zustandsfolge, die die Determinationskategorie des ›Schicksals‹ aufruft.

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nungen. Wie atavistische Reste blockieren sie Erkenntnisse über die neue doppelte Struktur der kosmologischen Zeitlichkeit, leisten aber dennoch Hebammendienste bei der Koordination des in der Welt Erlebten. Nicht als gehetzte Subjekte, sondern als exklusiv mit Zeit ausgestattete Individuen konzipiert Lehr seine Robinsone, und diskursiviert dadurch die Zeitthematik nicht unmittelbar über ein Lamento der Zeitrationalisierung und Zeitökonomisierung. Seine Figuren sind von solchen Beschleunigungspathologien befreit und genießen geradezu einen Zeitwohlstand. Sie sind in gewissem Sinne utopische oder Idealformen dessen, was zeitsoziologische Modelle als »Zeitpioniere« beschreiben.128 Ihnen kommt Zeitsouveränität zu, die sich daraus speist, dass viele Risiken des Einsatzes von Eigenzeit im Handlungsraster der neuen Lebenswelt irrelevant werden. Die Chronifizierten sind aber auch in anderer Hinsicht Zeitpioniere – Zeitpioniere in einer fantastischen Zeit/Unzeit-Konstellation. Ihre Zeitsouveränität ist das Ergebnis eines Aus-der-Zeit-Fallens der Welt, weil sich die Zeit in das Exil des individuellen Zeitempfindens, Zeitdenkens und Zeithandelns zurückgezogen hat. Nur im Individuum und nur durch dieses findet Zeit statt, das ist die Erkenntnis, die Haffner in und mit seinen Aufzeichnungen dokumentiert. Das einmalige Weiterlaufen der kosmischen Weltzeit für die Dauer eines Augenblicks während des RUCKS ist das exzeptionelle Ereignis, das die superiore Dauer der Zeitanomalie nur noch bestärkt. Während in der Umwelt der Chronifizierten ohne ihr Zutun nirgendwo mehr die Zeit verrinnt, bleiben sie selbst der Entropie des »Seins-zum-Tode«129 als Konstitutivum des Daseins unterworfen. In Zeitfragen unerbittlich auf sich selbst zurückgeworfen, ist das Individuum in seiner ek-statischen Isolation mit Zeit nur in ihrer Form als Beobachtungskonstrukt oder Handlungseffekt konfrontiert. Der Zeit kommen so sichtlich die überindividuelle Eigentlichkeit und ihr autarker Eigenwert abhanden. Nichtsdestotrotz gibt es bewusstes Erleben von Zeit: von der phänomenalen Qualität der Wärme, wenn die Strahlung der fixierten Sonne bei Haffner einen Sonnenbrand erzeugt, über die Erfahrung der Speicherfunktion der Schrift in den Notizheften bis zu den oben bereits thematisierten sexuellen Präsenzobsessionen eines Begehrens, das sich gegen jede Form der Ataraxie sträubt. Der temporale Realitätszugang ist daher nicht blockiert, vielmehr bleiben die allgemeinen Symbole eines solchen Zugangs zumindest für die Chronifizierten weitgehend erhalten. Unter diese allgemeinen Symbole fallen auch die Uhren, die im Roman dreifach 128 Mit dem Begriff ›Zeitpionier‹ bezeichnen Soziologen Individuen mit avantgardistischen Lebensentwürfe, für die die Geltung individueller Zeitstrukturen als Set von Eigenzeiten zentral steht: »Sie behandeln den Allerweltswunsch: ›ich will mehr Zeit für mich haben‹ nicht wie Pharisäer. Zeitpioniere versuchen tatsächlich, ihre Zeitvorstellungen in der Arbeit und im Alltag zu verwirklichen.« (Hörning: Dem Tempo den Kampf ansagen, S. 1000) 129 Heidegger: Sein und Zeit, S. 260.

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funktionalisiert werden: als Symbolisierungen der Vagheit des epistemischen Dings ›Zeit‹, als technisches chronometrisches Artefakt und als Element der poetischen Objektkonfigurationen, mit denen sich die Dimensionen der Eigenzeit der Figuren mit der Eigenspezifität einer homogenen und linear-irreversiblen Zeitstruktur in ein generalisierbares Manifestationsverhältnis setzen lassen. Nimmt man einen evolutionären Funktionsbegriff zu Hilfe,130 so lässt sich der Uhr als chronometrischem Artefakt die primäre Funktion zuschreiben, Ereignisse zu zählen und mit mechanischen, elektronischen oder atomaren Determinationsskalen abstrakte Zeitmaße bereitzustellen, die bewusstsseinsspezifische und kommunikative Weltzeiterfahrung erst ermöglichen. Als abstrakte, sinn-leere Zeitstruktur tritt die Uhrzeit in Kontrast zu symbolischen oder rituellen, d.h. eher zyklischen und rhythmischen Zeitstrukturen. Sie dient als vorgeschaltete Skala, mit der sich die Pluralität kulturspezifischer Zeitkonstrukte über lokale und kulturelle Grenzen hinweg in eine gleichförmige Verlaufsstruktur einordnen lässt. So erlaubt die Datierbarkeit von vergangenen Vorfällen und Entwicklungen mittels der Weltzeit erst die Markierung eines Typs von Weltgeschichte, in der Ereignisse und Dauern als von individuellen und kollektiven Perspektivverzerrungen bereinigt vorliegen und eine objektiv-temporale Position erhalten. Zusammen mit der Annahme, die Uhrzeit sei nur das Messgerät objektiv geregelten, autarken Takts, verleitet die Beobachtung einer Weltzeit zur Annahme, Zeit sei eine von Uhren (lediglich) abgetastete Substanz. Der Welt als hinter allem waltenden Gesamtzusammenhang kommt dabei zu, eine einheitliche und generalisierbare Zeitlichkeit an die Hand zu geben, mit der Ereignissen ein temporaler aber eben abstrakter Eigenwert attestiert werden kann. Aber gerade das Individuum, das nicht unter eine Allgemeinheit subsumierbar ist, bleibt mit seiner Eigenzeit eine Herausforderung für die Metrisierungen einer auf serielle Gleichtaktung reduzierten Struktur. Uhrzeit und Weltzeit sind daher aus der Perspektive des Individuums durchaus Anzeiger eines temporalen Ausgesetztseins, dem der Mensch im modernen Alltag kaum entrinnen kann. Dauer und Ereignis, Bewegung und Stillstand als lebensweltliche Erfahrungskomplexe gewinnen in diesem Ausgesetzsein erst durch die Kopplung mit rhythmischen, zyklischen oder linearen Zeitstrukturen diejenigen Sinnattribute, mit denen sie in individuelle, diskursive und kulturelle Realitätsfassungen integriert werden können, für die die Paradoxie einer Dauer des Stillstands oder einer Bewegung der Zeit nicht ohne weiteres auf der Hand liegen. Was unter der Hand bleibt, ist demnach die Paradoxie einer Zeitmessung, »die in der verordneten beweglichen Zeit als Repräsentation der Ein-

130 Einen solchen evolutionären Funktionsbegriff zeichnet aus, dass er Funktion als zeitüberdauernden Bestand früherer Funktionen zu erfassen sucht: »If certain things had correlated better with these functions, the chances are these other things would have been reproduced or would have proliferated instead.« (Millikan: Language, S. 27)

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heit von Bewegung und Nichtbewegung«131 den Menschen in ein soziotechnisches Geflecht verstrickt, das als Überbau der Koordination divergierender Zeitkonstellationen dient. Die abstrakte Uniformität der Uhrzeit ist damit das Gegengewicht zur Multiplizität der Rollen, denen das Subjekt gesellschaftlich nachkommen muss, so wie die Uniformität der Weltzeit das Gegengewicht bildet zur Multiplizität der Zeitstrukturen, die kulturellen Matrizen entspringen.132 Nun sind Uhren in der neuen Welt, in die einzutauchen der Roman einlädt, nicht mehr die Boten und Verkünder einer homogenen Zeit, die ohne Weiteres als transsubjektive, transmediale und transoperative Bezugsgröße fungieren kann. Die Folgen der Zeitanomalie tangieren auch die mechanische Bewegungsfreiheit des Zeitmessers Uhr. Die temporale Zäsur, die Zeit und Unzeit, Bewegung und Stasis zugleich in die Welt einführt, korrumpiert auch das Funktionsprimat der Zeit für die Zeitmessung. Einerseits sind Uhren für die temporale Koordination der Chronifizierten unabkömmlich. So zeigen die Uhren, sofern sie nicht in die Chronosphären der Chronifizierten gebracht werden, die genaue Zeit des Zeitunfalls an. An ihnen lässt sich das Fortlaufen der Zeit im RUCK um drei Sekunden verifizieren. Und für soziale Interaktionsoptionen bilden die am Körper mitgeführten Uhren die Peilungsinstrumente, mit denen zukünftige Treffen der verstreuten Individuen geplant werden können. Das hervorragende, die Uhren betreffende Novum in der neuen Welt ist, dass sie ihre Autarkie eingebüßt haben. Ihre Macht, die sie als Medien des Zeitdiktats innehatten, fällt den dezentrierten Subjekten zu. Derart realisiert der literarische Entwurf für die Funktion der Uhr, was Norbert Elias für chronometrische Medien insgesamt annimmt. Uhren – so Elias – würden »ihre Funktion als Zeitbestimmungsmittel einbüßen, wenn jeder Mensch sich seine ›eigene Zeit‹ zurechtmachte.«133 Nun wandeln aber die Chronifizierten nicht mehr »in der harmonisierten alten Zeit, in der sämtliche Uhren im Takt schlugen«134. Dadurch, dass die Uhren nur in den Chronosphären ihre Bewegungen vollziehen, werden sie zu Privatinstrumenten, die der Eigenzeit des Menschen unterworfen sind. Haffner schildert diese Umkehrung der Machtverhältnisse anhand unterschiedlicher metaphorischer Bilder und analogischer Kontiguitäten. In der Parallelisierung von ›Körpermaschine Mensch‹ und ›Zeitmaschine Uhr‹ über die Kopplung von Perpetuierungsmechanik und Synchronisation lässt sich ein solches Bild ausmachen: »Das Herz schlägt weiter. Die Uhr an deinem Handgelenk tickt. Das Gras zu deinen Füßen ist zu Draht erstarrt.«135 In einer solchen symtaktischen Konstellation von Leib und Uhr figuriert letztere nicht mehr als Agent eines symbolischen Netzes intersubjektiver Zeit, son131 Fuchs/Luhmann: Geheimnis, Zeit, Ewigkeit, S. 109. 132 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 25. 133 Elias: Über die Zeit, S. 99. 134 Lehr: 42, S. 126. 135 Ebd., S. 31.

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dern wird zum korporierten Begleiter des Menschen in seiner Sonderanthropologie. Sinnbild dieser Inkorporation der Zeitartefakte ist ein horologischer Automat in Form eines Hasen, den Haffner mit sich trägt: »Die Idee, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts meinen erschrockenen oder wenigstens verdutzt dreinschauenden silbernen Hasen schuf und dreihundert Jahre später die von Boris entliehene Wespe, war die gleiche. Haken schlagende, irrlichternde, unablässig den Raum, die Luft durchschneidende Tiere wurden festgehalten, ausgehöhlt und erhielten ihr mechanisches Implantat, kühl und prezios, fähig, noch die wahnwitzigste und flüchtigste Bewegung aufzuzeichnen. Nichts wird der Zeit entgehen, nichts aber auch der Feinfühligkeit der sie vermessenden Instrumente. In den Lauf des Hasen einzudringen, in den Flug der Wespe, verheißt aber noch mehr, nämlich das Unmögliche, das nur unsereinem (zum täglichen, stündlichen Überdruss) gegebene Zerdehnen der Gegenwart.«136

Der Uhrzeit kommt zusammen mit ihrem ›Bildgeber‹ damit das Auratische, ihre Unberührbarkeit abhanden. Denn nur in der taktilen Nähe der Autarkie der Eigenzeit des Menschen kann die Uhr zum aktiven materiellen Protagonisten erwachen. Die Absenz äußerer Zeitmaße nutzt Lehr zur Intensivierung der Beobachtung lokaler Temporalitäten. Die Subjekte, die er entwirft und die Erlebnisse, die er diesen zuschreibt, sind wundersam befreit vom Getriebensein durch die normierte, homogenisierte Zeit. Diese Befreiung ist aber eine Substitutionsbewegung, mit der die eigenzeitliche Getriebenheit des Menschen zur Geltung kommen kann. Der drohende Wegfall jeglicher temporaler Orientierung triggert auch das Monströse des Wegfalls einer Weltzeit als Supersynchronisation. Und mit ihm verpufft auch die Kategorie des Kairologischen, denn es gibt in der neuen Welt nur Konstellationen, nicht aber günstige oder ungünstige Zeitkonstellationen. Was fehlt, ist die »background expactancy«137, derer sich der Mensch mit einem Blick auf das chronometrische Artefakt versichern konnte. Lehr hat es – so scheint es – abgesehen auf die Beobachtung dieser Hintergrunderwartungen alltäglicher Zeitzwänge, die erst dann als fundamentale Ordnungsmatrix in den Blick kommen, wenn diese Erwartungen programmatisch irritiert werden. Mit den radikal eingesetzten Mitteln der literarischen Metonymie, durch deren Einsatz der Weltentwurf zwischen Phantastik und Analogmodell der Wirklichkeit changiert, kommt zum Vorschein, was in den Alltagsverstrickungen des Einzelnen von diesem (registriert aber weitestgehend ohne

136 Ebd., S. 77. Ist der Hase geöffnet, d.h. dekomponiert, ist die Zeit ablesbar. Bleibt er geschlossen und damit auch intakt, so entzieht sich die Zeit dem Blick. Der Uhrmacher Pierre Duhamel (1630-1686) hat verschiedene inkorporierte Uhren hergestellt, unter anderem um 1660 herum den erwähnten Hasen. 137 Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, S. 36.

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Aufmerksamkeitsfokus) wahrgenommen wird.138 Dem Neutralitätsverlust jener als objektiv ausgewiesenen Zeitformen begegnen die noch über Zeit verfügenden Einwohner der Welt in 42 unterschiedlich, gleichwohl gibt es Formen der Reetablierung von Hintergrunderwartungen durch die »Triangulation« der Uhren: »Dreimal halb neun, wie zumeist beim Aufwachen. Meine rechte Uhr, ein Liebhaberstück für 260000 Schweizer Franken, stört mich oft mehr als die beiden linken, obwohl ich gerade am rechten Handgelenk auf leichteste Verarbeitung achte. Das Verfahren zur Triangulation der Uhrzeit stammt von dem CERN-Physiker Lagrange, und die meisten haben es schon nach wenigen Tagen übernommen. In nervösen Phasen neigt man zu Übertreibungen, wie etwa Thillets Dolmetscherin, die eines wolkenlosen Mittags mit fünfzehn Uhren unterschiedlichster Art auftauchte, eingearbeitet in Ringen, Kettchen, Broschen, oder Sperber, der seine Weste mit Taschenuhren spickte wie einen bayrischen Schellenbaum. Keines meiner drei Genfer Meisterstücke wurde je von den beiden anderen des Verrats bezichtigt in all den Jahren der Unzeit. Ich muss sie nur tragen, unaufhörlich […]«.139

Die Uhr wird als Objekt reanimiert, ist aber in plurale Verwendungs- und Verweisungszusammenhänge eingebettet: als Talisman, als Ornament und als stets defizitäres, vertrauensunwürdiges Artefakt, dass nicht mehr ein rein technisches Ding ist, mit dem sich asignifikante Intervalle messen lassen. Stattdessen ist das Artefakt Uhr symbolisch überformt und semantisch aufgeladen. Wie das Subjekt Effekt einer technisch-materiellen Sphäre ist, so sind die technischen Artefakte wiederum in die semiotischen Operationen und semantischen Strukturen subjekt- und kulturspezifischer Sinnstiftungen eingebettet, die die Figuren in der zeitinsularen Isolation aus ihren Erinnerungen reaktivieren. Einerseits dient die Bindung der Eigenaktivität der Uhr an die autarke Eigenzeit der Figuren als probates Mittel zur Verdeutlichung der Reichweite der im Text entfalteten Freiheiten des Menschen. So fungieren die Uhren nicht mehr als Kontingenzreduktoren. Die Materialität der Zeitmesser und ihr metrisierter Output fungieren kaum noch als Instrumentarien möglicher Eindämmung von Kontingenz. Von Uhren angezeigte knappe Zeiten, bzw. die sekundengenaue Angabe von Rechtzeitigkeit, wären sinnlose Reduktionen des Spiels des Möglichen, das zu inszenieren sich der Roman dediziert vornimmt. Andererseits bleibt die »Interactivity«140 zwischen dem Agenten Uhr und dem Agenten Mensch reanimierbar, gleichwohl sich die Asymmetrie der Machtkonstellation verschoben hat. Die Wirksamkeit des Artefakts Uhr lässt sich nicht nur durch passive Missachtung unterlaufen; sie ist auch durch Anbindung an die Eigenzeit des Individuums aktivisch steuerbar. Was dabei 138 Das »socially standardized and standardizing« bleibt »seen but unnoticed« (ebd.). 139 Lehr: 42, S. 39. 140 Rammert: Where the Action Is, S. 71.

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poetische Form erhält, ist die Kontingenz des Enactments der Artefakte und ihres symbolsystemischen Eigenwerts.141 Mithilfe des literarischen Equipments des AlsOb einer zwischen Zeit und Unzeit gleitenden Paradoxie entzieht Lehr der Uhrzeit »ihren Charakter als eigenständige Weltdimension«142. So öffnet der Roman nicht nur den Blick auf die Pluralität der Zeitordnungen, die einen monokontexturalen objektiven Zeitbegriff blockieren; er verweigert auch die plumpe Rückbindung der Weltzeit(en) im Text auf eine supersynchrone Überform metrisierter Zeit. Uhren sind in 42 Zeugen und Zeugnisse von Zeit, aber ihnen verweigert Lehr die übergreifend funktionierende »Glättung, Einebnung, Egalisierung von an sich viel komplizierteren Zeitverhältnissen«143. Die Kulturtechnik der standardisierten Messung abstrakter Zeit wird im Aufschreibesystem Literatur mit umgestülpten Zeitlichkeitshierarchien konfrontiert, so dass sie die Paradoxie der Zeit in der Zeit auch für die Gleichförmigkeit einer Weltzeit sichtbar machen. Weil die temporalen Widersprüche im logischen und operativen Sinn erst die Erzähltrasse formen, die mäandernd erfahren wird, bilden die Paradoxien der Zeit die Elementarbausteine des Geschehens insgesamt wie auch der spezifischen Spannung, die sich aus der Implosion stabiler Zeitordnungen ergeben. Die dramaturgische Phänomenalität des Zeitempfindens, -erfahrens, -denkens, -handelns und -entwerfens transformiert der Text in eine Symbolizität der Zeitverhältnisse. Die Welt im Roman, so ließe sich gar in Umkehr eines Diktums aus Kluges Schlachtbeschreibung sagen, stellt sich voll auf menschliche Maße ein, wie auch die Uhrzeit sich den menschlichen Maßnahmen und Maß-Nahmen fügt.144 Die Ereignis- und Handlungssequenzen, die die Aufzeichnungen Haffners bevölkern, bedienen in ihren Versprachlichungstechniken die klassischen Topoi moderner Zeitkrisen. Hierin ist der Text nicht originell. Er schließt an zeitkritische Kategorisierungen der Subjektdezentrierung an wie auch an die Auswege, die das Subjekt sucht, um ein praktikables Lebensgefüge herzustellen, in dem das Zeitgetriebe 141 Der Begriff des Enactment bezeichnet mehr als nur die Konstruktion von Sachverhalten, sondern beinhaltet auch als performativen Überschuss deren Validierung, Verifikation und deren in Geltung setzen (vgl. Ortmann: Als ob, S. 201 f.) 142 Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 313. 143 Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte, S. 115. Dadurch entgeht Lehr auch der Versuchung, im Referat physikalischer Theorien Zeit als durch die Uhr gemessene Überform in die Romanwelt einzuführen. Die Zeitspielräume des Textes bleiben bewahrt und die Polykontexturalität der Uhrzeit entgeht einer Reduktion auf terminologische Derivate, wie sie Peter Janich für die Zeitdiskursivierung insgesamt ablehnt: »Der naheliegende Definitionsschritt, zu sagen, Zeit sei, was Uhren messen, verschiebt diese Aufgabe auf eine Definition der Uhr.« (Janich: Das Maß der Dinge, S. 131) 144 Zeit als der Messungsbewegung Vorgelagertes erweist sich damit als »Metakonstrukt« (Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 272).

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nicht allein als »Uhrwerk der Schwermut«145 sich dem Einzelnen präsentiert. Kafka hat diese Krisenkonstellation in einem Tagebucheintrag, der auf den 16. Januar 1922 datiert ist, besonders eindrücklich festgehalten: »Erstens: […] Die Uhren stimmen nicht überein, die innere jagt in einer teuflischen oder dämonischen oder jedenfalls unmenschlichen Art, die äußere geht stockend ihren gewöhnlichen Gang. Was kann anderes geschehen, als daß sich die zwei verschiedenen Welten trennen und trennen sich oder reißen an einander in einer fürchterlichen Art. Die Wildheit des inneren Ganges mag verschiedene Gründe haben, der sichtbarste ist die Selbstbeobachtung, die keine Vorstellung zur Ruhe kommen läßt, jede emporjagt um dann selbst wieder als Vorstellung von neuer Selbstbeobachtung weiter gejagt zu werden. Zweitens: Dieses Jagen nimmt die Richtung der Menschheit.«146

Haffner kann sich dieser Jagd trotz aller Anomalien der Zeit nicht entziehen. Mit jeder denkenden und schreibenden Selbstbeobachtung treibt er die Jagd weiter. Auch wenn es ihm obliegt, sich den anderen Zeiten zu unterwerfen, stets bleibt er Gejagter seiner inneren Uhr. So sehr der Roman die Befreiung des Subjekts von den Zwängen der externen Zeitstrukturen ausmalt, so sehr zeigt seine pessimistische Anlage Auswüchse dieser Dissoziierung von Zeit. Wenn – wie Susan Sontag schreibt – »das Leben einer Gesellschaft […] die Summe ihrer Voraussetzungen [ist]«147, dann ist die Autarkie der individuellen Eigenzeit in 42 die Chiffre eines »Erschrecken[s] vor den eigenen Möglichkeiten«148 diesseits ihrer Voraussetzungen. Freilich berichtet Haffner auch von gegensteuernden Impulsen zu dieser erschreckenden, quasi de Sade’schen Freiheit. So suchen die Chronifizierten Formen der Beschränkung ihrer Eigenzeiten, in dem sie sich dem Als-ob einer notwendigen moralischen Koordination von Eigenzeiten unterziehen. Insbesondere die als »Adoption« bezeichnete Praxis virtueller Sozialkontakte fungiert als ethische Barriere bzw. als altruistisches Richtmaß: Die Chronifizierten ziehen in Wohnungen ein, spielen Alltag, arrangieren die vorgefundenen Fuzzis in Familiensettings und werden so »Mitglieder einer frei gewählten Familie«149. Diese Simulationen trachten nach einem Leben an der Seite anderer Eigenzeiten. Die Suggestion einer solchen halbwegs wahrscheinlichen Balancierung nebeneinander bestehender Eigenzeiten wirkt als »Fessel« und »[beschert] uns für Tage und gar Wochen menschenwürdige

145 Celan: Brandmal, S. 43. 146 Kafka: Tagebücher, S. 877. 147 Sontag: Gesten radikalen Willens, S. 100. 148 Lehr: 42, S. 200. 149 Ebd., S. 201.

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Existenz und zivilisiertes Verhalten«150. Haffners Aufzeichnungen geben in der Summe aber Zeugnis von der Exzeptionalität dieser Selbsthemmungsformen, wodurch doch insgesamt ein düsteres Menschenbild gezeichnet wird. Dem take-off der originellen Geschichte steht nur eine geringe Erdung in ethisch-ästhetischem Gefilde gegenüber. In der irrealen Welt der Zeit/Unzeit tritt die Hegemonie von Zeitformen und damit die Kopplung von Zeit und Macht überspitzt zu tage. Den fantastischen horizontalen Antagonismus von Zeit und Unzeit spielt Lehr als vertikale Hegemonie der Eigenzeiten durch und schafft so ein radikal metonymisiertes Bild der Interdependenz von Zeitüberfluss und Zeitmangel. Als ethisches Gedankenexperiment erweist sich der Text als Beispiel einer literarischen Verschränkung von Ethik und Ästhetik, die – so Ricœur – poetischen Texten erlaubt, »Forschungsreisen durch das Gebiet des Guten und des Bösen« zu wagen und »im irrealen Bereich der Fiktion […] unablässig neue Bewertungsweisen für Handlungen und Figuren«151 durchzuspielen. Der Roman ist durchwebt mit mythologischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen und lebenspragmatischen Zeitdiskursen. Er bedient sich der Zeitsemantiken und -dispositive zwar, um zu beobachten, wie das ›Was‹ der Zeit beobachtet wird. Allerdings ist diese Beobachtung zweiter Ordnung schwerlich als didaktische Popularisierung von Wissensbeständen zur Zeit lesbar.152 Das temporale Isolationsszenario, das bedrohliche Irritationen wie ungeahnte Freiheiten und Handlungssouveränität bereit hält, erlaubt in seiner fantastischen Überhöhung vielmehr die eigenzeitspezifischen Kehrseiten von Zeit-Regimen, deren radikale Zurschaustellung sich als Allegorie ethischer und moralischer Entfremdung lesen lassen. Der Roman treibt die kafkaeske metonymische Verschiebung der Zeitwirklichkeiten so weit, dass sich unweigerlich das situative Dilemma der Verhältnisbestimmung zwischen individueller Freiheit und sozialer Interaktion manifestiert. Dass dieses Verhältnis mittels der krassen Diskrepanz zwischen Zeitverfügenden und Zeitgefrorenen veranschaulicht wird, macht den Roman nichtsdestotrotz zu einem komplexen Tableau der Wechselwirkung von sozialen Zeitordnungen und personaler Eigenzeit. Der Roman schafft es, als ausgewiesener Ort einer narrativen Zeitethik, die sich auch als Beobachtungsethik der Zeit Gehör zu verschaffen sucht, zu fungieren, ohne die Faszination für die Paradoxien der Zeitkonstruktionen zu invisibilisieren. Dass letztlich keine der präsentierten, auf Logik, Kohärenz und Konsistenzgültigkeit beharrenden Zeitparadigmen absolute Geltung für sich beanspruchen kann, artikuliert 150 Ebd. Diese Phasen moralischer Integrität verortet Lehr in Konstellationen, die sich als ironische Umpolung des Partnerschafts- und Familienmodells des living apart together lesen lassen. Vgl. zu Modell und Begriff Schlemmer: »Living apart together«, S. 364 f. 151 Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 201. 152 So auch die Einschätzung von Pause: Texturen der Zeit, S. 297.

N ATURA NON FACIT

SALTUS

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der Roman durch den interessanten Abriss der Historisierung und Polykontexturalisierung des Zeitdenkens. Inwiefern dem Zeitdenken als Zeitbeobachtung und somit als Evolution der Zeitkonstruktionen eine Eigenzeit zukommt, erfährt Haffner in seiner halb aus den Fugen geratenen Welt. Der Leser erfährt dies als Ergebnis einer Beobachtung der Beobachtung von Zeit, und zwar am »Zeitmischpult«153 der Literatur, die ihre Kompetenz unter Beweis stellt, die »spezifische Ich-Zeit-Perspektive, die zwischen Eigen- und Fremdzeit zu unterscheiden«154 erlaubt, zum ästhetischen und wirkmächtigen Bezugspunkt machen zu können. Dieser wird flankiert von der stetigen Referenz auf das moderne Getriebensein des Individuums, das sich mit seiner als dominierend imaginierten Eigenzeit gegen die Kontingenzen und Unbeständigkeiten der historisch-chronologischen Weltzeit zu behaupten sucht. In und mit 42 wird diese Imagination zwar fiktive aber nichtsdestotrotz kommunikative und damit soziale Realität.

153 Lehr: 42, S. 43. 154 Nowotny: Eigenzeit, S. 14.

Schlussbetrachtung

Das mit dieser Studie verfolgte Anliegen, die experimentellen Formkonfigurationen literarischer Texte dort in Augenschein zu nehmen, wo diese Zeit als differentiellereignistemporales Schema beobachten, hat unter anderem zwei wesentliche Erkenntnisse abgeworfen. Erstens kann rückblickend festgehalten werden, dass der »schiere[n] Operativität«1 von Zeitbeobachtung, die der konstruktivistische Grundstock der sinndifferenten Konstitution von Welt, Realität und Zeit ist, ein höchst variabler und höchst irritativer literarisch-ästhetischer Eigenwert zukommt. Dass die poetischen Impulse, die vom Ereignistyp des operativen Geschehens ausgehen, nicht hinter jenen zurückbleiben müssen, die sich epiphanischen bzw. emphatischen Ereigniskonzepten und -darstellungen verdanken, konnte die Arbeit anhand dreier exemplarischer Lektüren nachweisen. Dabei wurde deutlich, dass die operative Bedingtheit temporaler Strukturen bereits auf der Ebene basaler Selbstreferenz beobachtender Sinnsysteme, von Literatur in komplexe und komplizierte ästhetische Formen transferiert wird, was Literatur als mit spezifischen Performanzkompetenzen ausgestattetes Medium exzeptioneller und paradoxer Erfahrung von Zeit und Zeitlichkeit auszeichnet. In diesem Zusammenhang haben die Lektüren in dieser Arbeit auch zeigen können, dass die Darstellungsselektionen im Falle einer Ästhetisierung operativer Zeit stark zu experimentellen Veranschaulichungsformen tendieren, da die Versprachlichung und Vertextung temporaler Paradoxien durch die Verschränkung von Ereigniszeiten und Eigenzeiten nicht nur deviante rhetorische, figurative, tropische, syntaktische und semantische ›Verkörperungen‹ in Anschlag bringen, sondern auch Formdimensionen des Textuellen, des Werkhaften wie auch präsentistischer Narrationsmodi für Transgressionen performativ öffnen muss. Zweitens konnte unter Bezugnahme auf die Texte Alexander Kluges und Thomas Lehrs das Wechsel- und Konstitutionsverhältnis von Ereigniszeit und Eigenzeit als paradoxe Verschränkung von Ereignispermanenz und Ereignispersistenz beobachtet werden. Im Falle der Schlachtbeschreibung etwa konnte gezeigt werden,

1

Fuchs: Intervention und Erfahrung, S. 52 (Anm. 117).

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wie die Chronologik der Ereignisse in eine Chronologistik ihrer kommunikativen Zirkulationen eingelassen ist, die wiederum an jener Chronologik operativ stets mitwirkt. Dass dieser mikrostrukturelle Befund auch makrostrukturell in der Formensprache der Anschlusssukzessionen der Module in der Schlachtbeschreibung nachweisbar ist, wurde ebenso deutlich herausgearbeitet, wie die poetischpoietische Textstrategie, kulturelle und diskursive Semantisierungen von Ereignishaftigkeit, Geschichte und Zeitlichkeit selbst als Transkriptionsoperationen (im Sinne Ludwig Jägers) auf Ereignistemporalitäten zurückzuführen. Das zooming in auf die literarischen Texte hat Ereignistemporalität und Eigenzeitlichkeit als paradoxieaffine Inszenierung polykontexturaler Konfigurationen der Naturalisierung und Ontologisierung je spezifischen Umgangs mit Zeit und seiner begrifflichen, konzeptuellen oder diskursiven Legitimationsbasis in Augenschein genommen. Dabei lag ein Schwerpunkt der Untersuchung auch darauf, in exemplarischen Lektüren nachzuspüren, wie in literarischen Rekursen auf amalgamierende, kollabierende, divergierende und konfligierende Zeitparadigmen, sich im poetischen Formgefüge die endogene Unruhe der Ereignistemporalität stilkonstitutiv und zeitästhetisch niederschlägt.2 Dabei erwies sich, dass die multiplen Kausal- und Wechselverhältnisse zwischen Ereigniszeiten und Eigenzeiten im fiktionalen Textraum der untersuchten Texte der Oszillation von Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit der Zeit(Welten) ausgesetzt werden und kontrastive Extremformen der Darstellung von Zeiterfahrung und Zeitdiskursivität ergeben. Dokumentiert wurde zudem, welche Auswirkungen dies auf die semiotischen Perturbationen hat, die von den Texten ausgehen. Es konnte dabei dargelegt werden, wie die Kompliziertheit des Beobachteten und die Komplexität der in den Texten modellierten Repräsentationstypen und symbolischen Verweisstrukturen auf dekonstruktive ›Muster‹ der Temporisation zurückgreifen. Die Vertextung polychroner Zeiterfahrungen kommt dabei genauso zu ihrem ästhetischen Recht wie explizite Reflexionen über Zeittheorien und das selbstreferentielle Exponieren der eigenen Zeitmanifestationseffekte, wie sie sich aus der Formierung des Mediums Sprache und des Mediums Schrift ergeben. Diese Effekte – so konnte belegt werden – nutzt eine an operativer Zeit interessierte Literatur als avanciertes Irritationspotential. Gegen die routinierten und eingeschliffenen Ordnungsmuster der Zeit kann solche Literatur radikale Formierungen der Phänomenalität von Zeit wie auch von Zeitlichkeit in Stellung bringen. Indem Literatur dabei dezidiert die Differenz von Eigenzeiten beobachtet und zugleich beobachtet, wie Systeme ihre Eigenzeit ereignistemporal erzeugen und beobachten, beleuchtet sie die Unruhe, die den Systemen 2

Das gilt insbesondere für autoreflexive Inanspruchnahmen der operativen Maxime, dass die klassische Zeitstrahlrichtung für die Ereignissukzession der operativen Zeit Gültigkeit besitzt, die Beobachtungszeit hingegen Gegenwart und Gegenwärtigkeit nur in Gegenrichtung zur operativen Zeit beobachten kann.

S CHLUSSBETRACHTUNG

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innewohnt und mit der sie die Differenzen erzeugen können, die das Unterstellen von Einheit, von Identität, von Zeitstabilität erst auf Dauer und je paradox ermöglichen. Das Zeitverständnis der operativen Theorie der Zeit käme diesem Beobachtungsinteresse der Literatur insofern entgegen, als diese eine Theorie instabiler dynamischer Systeme ist – seien dies nun psychische oder soziale Systeme. Gerade experimentelle Literatur, wenn sie auf klassische Narrationsformen verzichtet – und als solch experimentelle Literatur können die in dieser Arbeit untersuchten Texte beobachtet werden – verfügt über ein Arsenal an Problematisierungsinstrumentarien, mit denen routinierte Wirklichkeitskonstruktionen als solche markiert, mit denen aber auch turbulente Denkformationen der Zeit und der Zeitlichkeit als Gegenkonzepte zu ›naturalisierten‹ Vorstellungen und Konzeptionalisierungen von Zeit realisiert werden können.3 Die herangezogenen literarischen Texte von Alexander Kluge und Thomas Lehr bringen sich dabei auch als Meta-Metapositionen zur Geltung, von denen aus textintern amalgamierende, kollabierende, divergierende und konfligierende Zeit-Metapositionen durchgespielt werden, die die Texte auch selbstreferentiell spiegeln und an die eigenen temporalen Bedingungen ihrer Möglichkeit koppeln. Die Texte Kluges und Lehrs organisieren, wie sich herausgestellt hat, keineswegs temporale Ordnungen oder einen zeitspezifischen Letzthorizont einer Weltzeit, in die sich die partikularen Eigenzeiten verorten ließen. Vielmehr fungieren die Texte als Subversionsprojekte, die die Verwirrungen perturbierender Eigenzeiten in ihren poetischen Verfahren forciert lancieren und als Medium der Negation temporaler Einheitsstiftung in Anspruch nehmen. Daher ging es meiner Beobachtung um die je anderen Zustände der Zeit, ihr je singuläres Rauschen, das die Texte als Deskriptions- und Erfahrungstopos inszenieren und durch radikalisierte Kontingenzintensitäten die Dekonstruierbarkeit der Zeitbeobachtungen erster Ordnung und – auf der Ebene selbstreferentieller Volten – die eigenen Ereignisstrukturen und temporalen Sinnkonstitutionen reflektieren. Dadurch entgehen sie der thematischen Postulierung einer Indifferenz der Weltzeit oder der Plausibilisierung einer Hierarchie der Eigenzeiten, indem sie Verwirrungen des Zeitdenkens, des Zeitbewusstseins, der 3

Das Irritationspotential literarischer Texte, die poetische Rekonfigurationen der Zeit durchspielen, ist sicherlich auch deshalb so hoch, weil in diesem Fall die Fremdreferenz (Zeit) weder als Konzept, noch als Begriffsname dem terminologischen Inventar einer spezifischen Disziplin zuzuordnen ist und zudem mythologische, eschatologische, kosmologische, naturwissenschaftliche und subjektive Mikropolitiken der Zeit nicht nur gleichzeitig nebeneinander, sondern auch ineinander verwoben realisiert werden. Wird hier literarisch irritierend eingegriffen, so ist die Informationsdichte, die von solch einem Eingriff ausgeht, beträchtlich. Insbesondere dort, wo die Uhrzeit als manifestierte und metrisierte Einheitlichkeit der Zeit in Frage gestellt wird, ergibt sich ein zusätzlicher Freiraum zur Gestaltung von divergierenden fiktiven Zeitrealitäten.

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Zeitkommunikation, die sie auf der thematischen Ebene dramatisieren, rekursiv auf ihre poetische Matrix zurückführen, etwa in Form einer mise en abyme als integrativen Bestandteil der Texte ästhetisieren. Als Beobachter zweiter Ordnung entziehen sie sich dezidiert nicht der eigenen Ereignishaftigkeit, indem sie mehr als nur Achronien und Heterochronien narrativ ausstellen.4 Sie inszenieren die semantische Entwertung der Zeitordnung(en) im Vollzug literarischer Optionen dadurch, dass sie Zeitparadigmen als nicht akkumulierbare und dennoch Diskursgefüge rahmende Größe ästhetisieren, als Konstituens und Konstitutum von Zeiterfahrung, als Explanandum und Explanans von Kontinuität/Diskontinuität, Singularität/long dureé, Kausalität/Zufall oder Zeitlichkeit/Zeitlosigkeit. Die in dieser Arbeit gewonnen Erkenntnisse möchten vielfältige Anschlüsse und Forschungsfortsetzungen motivieren. Insbesondere stärker bzw. dezidiert medienvergleichende oder medienübergreifende Forschungen zur Ästhetik operativer Zeit bieten sich aufgrund hoher Anschlussfähigkeit an. Aber auch an historisch tiefenscharfe Studien zu kunstspezifischen Proto-Formierungen operativer Zeit avant la lettre ist zu denken. Als sehr lohnenswert könnte sich des Weiteren auch die Integration rezeptionsempirischer Forschungsdesiderate erweisen. In künftiger literaturwissenschaftlicher Forschung ließe sich aber auch die funktional-pragmatische Dimension einer literarischen Ästhetik operativer Zeit weiter ausbauen. So ließe sich zumindest eine epistemologische Unruhe aufrechterhalten, die der flimmernden Unruhe ihres lebhaften Phänomenbezirks angemessen lebhaft und ereignisreich begegnen kann.

4

Vgl. zur Heterochronie als Bruch mit der Normalität der Zeit Foucault: Andere Räume, S. 43.

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Welzer, Harald: Über die allmähliche Verfertigung der Vergangenheit im Gespräch. In: Daniela Münkel (Hg.): Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Campus 2004, S. 157180. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2008. Wendorff, Rudolf: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1985. Wenzler, Ludwig: Zeit als Nähe des Abwesenden. Diachronie der Ethik und Diachronie der Sinnlichkeit nach Emmanuel Lévinas. Nachwort. In: Emmanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere. Hamburg: Meiner 1995, S. 67-92. White, Hayden V.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M.: Fischer 2008. Willke, Helmut: Symbolische Systeme. Grundriss einer soziologischen Theorie. Weilerswist: Velbrück 2005. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963. Zelger, Sabine: Wider die Macht des autorisierten Blicks. Die Arbeit am Wissen in Alexander Kluges Schlachtbeschreibung und Heimrad Bäckers Nachschrift. In: treibhaus – Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 3 (2007), S. 39-64. Zifonun, Dariuš: Gedenken und Identität. Der deutsche Erinnerungsdiskurs. Frankfurt/M.: Campus 2004.

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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