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German Pages [300] Year 2018
Enno Edzard Popkes
Erfahrungen göttlicher Liebe Band 1: Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus und zum frühen Christentum
Enno Edzard Popkes
Erfahrungen göttlicher Liebe Band 1: Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus und zum frühen Christentum
Vandenhoeck & Ruprecht
Meinen Kolleginnen und Kollegen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Dante, Paradiso, 31,1–3, Gustave Doré 1868 © akg-images Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-55259-5
Vorwort
Das vorliegende Buch ist meine erste schriftliche Stellungnahme, die ich zum Themenfeld ‚Nahtoderfahrung‘ vorlege. Es ist das Ergebnis eines langen Weges. Nachdem ich dieses Themenfeld bereits in meiner Jugendzeit kennengelernt habe, hat es mich in der weiteren Entwicklung meines Lebens geprägt und begleitet, vor allem auch in Bezug auf meinen beruflichen Werdegang. Aus diesem Grund handelt es sich auch nur um einen ersten Teilaspekt von weiteren Entwicklungen, die folgen werden. Dies gilt nicht nur für den zweiten Teil dieser aus zwei Bänden bestehenden Monographie, sondern vor allem auch für den Aufbau von Forschungsprojekten zum Themenfeld ‚Thanatologie‘. Letzteres ist eine Konsequenz verschiedener Projekte, die sich der wissenschaftlichen Erforschung von sogenannten Nahtoderfahrungen und verwandten Phänomenen gewidmet haben. Dabei gilt es zu beachten, dass diese Folgeprojekte sich nicht nur dem eng gefassten Phänomen ‚Nahtoderfahrung‘ widmen sollen, sondern einer Vielzahl von Themenfeldern, die mit dem Phänomen ‚Tod‘ in Beziehung stehen. Die Ausarbeitung einer ‚Wissenschaft vom Tod‘ (so die unmittelbare Übersetzung des Begriffs ‚Thanatologie‘) ist aus der Sicht der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler notwendig, um die zentrale Herausforderung weiterer interdisziplinärer und transdisziplinärer Forschungen zu diesem facettenreichen Themenfeld zu bewältigen. Diese Herausforderung besteht darin, eine kontinuierliche Kooperation der an der Forschung beteiligten Wissenschaften aufzubauen (z. B. aus den Bereichen der Psychologie, Medizin, Neurophysiologie, Soziologie, Physik, Biologie, Ethnologie, Religionswissenschaft, Theologie etc.). Ebenso bedarf es transdisziplinärer Kooperationen mit außeruniversitären Einrichtungen, die direkt bzw. indirekt mit dem Themenfeld in Beziehung stehen (z. B. mit Hospizen, Krankenhäusern, psychotherapeutischen bzw. psychiatrischen Einrichtungen). In diesen Projekten bringe ich mich selbst als Religionshistoriker und Theologe ein. Worin dabei meine wissenschaftlichen Kompetenzen und Diskussionsimpulse bestehen werden, dokumentiere ich unter anderem in den beiden Teilbänden der vorliegenden Monographie.
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Vorwort
An der Entstehung des vorliegenden Buchs waren viele Personen beteiligt, denen ich hiermit danke möchte. Dies gilt für alle jene Kolleginnen und Kollegen, die sich an entsprechenden Tagungen und an einer Ringvorlesung beteiligt haben. Ebenso danke ich allen Studierenden, mit denen ich in Lehrveranstaltungen inspirierende Diskussionen zu diesem Thema führen konnte. Ebenso danke ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei der formalen Erstellung des Bandes geholfen haben, insbesondere Swantje Rinker, Laila Mohamed, Sarah Perez Kuwald, Pia Zander, Jasmin Reschka-Zielke, Ullrich Schiller und Thomas Hartmann. Widmen möchte ich diesen Band jedoch meinen Kolleginnen und Kollegen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie haben mich nicht nur durch ihre positiven Reaktionen überrascht, als ich ihnen meinen neuen Forschungsschwerpunkt anvertraute (ich beschreibe diese Reaktionen in Kapitel 2; Arbeitsschritt 6.1). Vor allem jedoch sind viele dieser Kolleginnen und Kollegen inzwischen selbst zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den skizzierten Projekten geworden. Die Widmung dieses Buches soll der Dankbarkeit für diese Entwicklungen Ausdruck verleihen. Kiel-Kronshagen, im Herbst 2017
Enno Edzard Popkes
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Kapitel 1: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Thematische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Eine persönliche Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3. Der wissenschaftliche Ausgangspunkt der vorliegenden Studie . . . . . . . 15 4. Das Anliegen und die Struktur der vorliegenden Studie . . . . . . . . . . . . . . 17 5. ‚… über den garstigen Graben‘ – zur Frage der Vergleichbarkeit von Nahtoderfahrungen und platonischen bzw. frühchristlichen Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 6. Über Unaussprechliches sprechen – Grundprobleme wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Kapitel 2: L eitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die sukzessive Etablierung von Nahtoderfahrungen als Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Definitionen von Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Methodische Probleme einer Definition von Nahtoderfahrungen 2.2 Zur Differenzierung von ‚Transzendenzerfahrungen‘, ‚Nahtod erfahrungen im weiteren Sinne‘, ,Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘, ,Transformationserfahrungen‘ und ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Charakteristika und Teilaspekte von ,Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Exemplarische ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ und daraus folgende ‚Transformationserfahrungen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wissenschaftliche Deutungen bzw. Erklärungen von Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Polemik im Kontext der Nahtodforschung als Folge mangelnder wissenschaftlicher Diskursfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Deskriptive Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4.3 Religiös-ontologische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Skeptische bzw. reduktiv-materialistische Positionen . . . . . . . . . . . . . 4.5 Parawissenschaftliche Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wissenstheoretische Schlüsselfragen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Verständnis von Materie als wissenschaftstheoretische Schlüsselfrage reduktiv-materialistischer und parawissenschaftlicher Deutungen von Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die interdisziplinäre Erforschung von Nahtoderfahrungen und die ,Struktur wissenschaftlicher Revolutionen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Nahtoderfahrungen und das ‚Leib-Seele-Problem‘ . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Diskursanalytische Potenziale interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die mediale Vermittlung von Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die multimedialen Vermittlungen von ,Nahtoderfahrungen‘ als religionssoziologische Massenphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Empirische Sammlungen und Kategorisierungen von Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Autobiographische Erfahrungsberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Psychologische und biographische Konsequenzen von Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Religions- und kulturgeschichtliche Vergleichsgrößen zu Nahtoderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Nahtoderfahrungen als Thema von Theologie und Kirche . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3: Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus . . . . . . . . . . 1. Grundprobleme einer Interpretation platonischer Dialoge . . . . . . . . . . . 1.1 Tradition – Kreativität – Innovation: zur Frage der Entstehung des platonischen Welt- und Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Deutungsoffenheit der platonischen Dialoge . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Frage der Existenz ‚ungeschriebener Lehren‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Bedeutung der platonischen Schulbildungen für die Interpretation der platonischen Dialoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Zur Übersetzung platonischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unsagbares aussagen: die platonischen Jenseitsmythen . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur argumentativen Verortung und Bedeutung der Erzählung von dem vermeintlich verstorbenen Soldaten Er im Schlusskapitel des Dialogs Politeia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4. Einsichten außerhalb der Höhle: die Konzeption der Ideenlehre und des Höhlengleichnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Leib-Seele-Verständnis und die Seelenwanderungslehre . . . . . . . . . 5.1 ‚Reinkarnation‘ – ‚Wiedergeburt‘ – ‚Seelenwachstum‘: Grundprobleme einer Auseinandersetzung mit platonischen Seelenwanderungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Grundstruktur der platonischen Seelenwanderungslehre . . . . . 5.3 Die Beschreibung der Seelenwanderungen in der Erzählung von dem Soldaten Er . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Das Ziel der Seelenwanderungen bzw. des Seelenwachstums . . . . . . 6. Das Motiv der verborgenen Allwissenheit der Seele und die Anamnesis-Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Geheimnis erotischer Faszination und die Sehnsucht der Seele nach der Erfahrung des Göttlich-Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Grundprobleme einer Auseinandersetzung mit dem platonischen Eros-Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Komposition und mysterientheologischen Hintergründe der Diotima-Rede (Plato Sym. 201 d 1–212 c 3) und der Palinodie (Plato Phaidr. 243 e 10–257 b 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Die Erfahrung des Göttlich-Schönen als Klimax der Stufenleiter der Erotik nach der Diotima-Rede im Dialog Symposion . . . . . . . . . 7.4 Das Motiv der Erinnerung der Seele an das Göttlich-Schöne nach der Palinodie des Sokrates im Dialog Phaidros . . . . . . . . . . . . . 8. „… dem Regenbogen vergleichbar, aber glänzender und reiner …“ (Plato Polit. 615 8 f.): das Licht als ‚Band des Himmels‘ . . . . . . . . . . . . . . 9. Plotins Lehre von der ‚Henosis‘ (‚Einswerdung‘) als Analogie zu ,Erfahrungen göttlicher Liebe‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 4: Nahtoderfahrungen als Zugänge zum frühen Christentum 1. Die Lebenswende des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die grundlegende Bedeutung der Lebenswende des Paulus für die Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums . . . . . . . . . . . . 1.2 Die autobiographischen Aussagen zur Lebenswende des Paulus 1.3 Die Bedeutung der Apostelgeschichte für das Verständnis der Theologie und Biographie des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die lukanischen Aussagen zur Lebenswende des Paulus . . . . . . . . . . 1.5 Zentrale Fragen einer Deutung der Lebenswende des Paulus . . . . . 1.5.1 Wann nimmt Paulus Kontakt zu Christen auf? . . . . . . . . . . . . .
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1.5.2 Warum unterscheidet sich die paulinische Theologie signifikant von der Lehre anderer Autoritäten des frühen Christentums? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Warum wird die Theologie und der Selbstanspruch des Paulus von zentralen Autoritäten des frühen Christentums abgelehnt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Warum rekurriert Paulus kaum auf Worte und Taten Jesu? 1.5.5 In welchem Verhältnis stehen die Lebenswende und die ‚Himmelsreise‘ (2 Kor 12,1–5) des Paulus? . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Himmelsreise des Paulus (2 Kor 12,1–5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die kontextuelle Verortung von 2 Kor 12,1–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Zur Stellung von 2 Kor 12,1–5 in 2 Kor 10–13 . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die Bedeutung von 2 Kor 12,6–10 für die Interpretation von 2 Kor 12,1–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Argumentationsstruktur von 2 Kor 12,1–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Besonderheit von 2 Kor 12,1–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unterschiedliche Zugangsperspektiven zur Lebenswende und Himmelsreise des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Lebenswende des Paulus als Transformationserfahrung infolge einer ‚Erfahrung göttlicher Liebe‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Modifikationen der Religiosität des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die universalen Dimensionen paulinischer Eschatologie . . . . . . . . . 4.3 Liebe als ein Zentrum paulinischer Theologie und Ethik . . . . . . . . . 4.4 ‚Christus-Mystik‘ bzw. ‚mystisch-partizipatorische Aussagen‘ . . . . . 4.5 ‚Rätselhafte Spiegelbilder‘ (1 Kor 13,12a), ‚Unaussprechliche Worte‘ (2 Kor 12,4) und die Unbeschreiblichkeit von ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ . . . . . . . . . . Kapitel 5: Rückblicke und Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nahtoderfahrungen als Zugänge zur paulinischen Lebenswende . . . . . . 3. Perspektiven und Herausforderungen weiterer Forschungen . . . . . . . . .
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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Erfahrungen göttlicher Liebe Band 2: Begegnungen von Platonismus und frühem Christentum im Diskursfeld ‚Postmortale Existenz‘
Kapitel 6: Anliegen – Methodik – Terminologie – Struktur – Textauswahl Kapitel 7: Frühjüdische Hintergründe des frühchristlichen Diskursfeldes ‚Postmortale Existenz‘ Kapitel 8: Das Diskursfeld ‚Postmortale Existenz‘ im Kontext der paulinischen Briefe Kapitel 9: Das Diskursfeld ‚Postmortale Existenz‘ im Kontext deuteround tritopaulinischer Traditionen Kapitel 10: Das Diskursfeld ‚Postmortale Existenz‘ im Kontext der Erzählungen von der Auferstehung Jesu Kapitel 11: Beiträge zum Diskursfeld ‚Postmortale Existenz‘ aus dem ‚verborgenen Kontinent‘ apokrypher Zeugnisse des frühen Christentums Kapitel 12: Korrespondenzthemen der Begegnungen von Platonismus und frühem Christentum im Diskursfeld ‚Postmortale Existenz‘ Kapitel 13: Subjektive Diskurspositionierungen
Kapitel 1: Einleitung
1. Thematische Hinführung An ‚Nahtoderfahrungen‘ scheiden sich die wissenschaftlichen Geister. Unter dem Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ werden Erlebnisse von Menschen subsumiert, die sich in lebensbedrohlichen Situationen befunden haben bzw. die bereits für klinisch tot erklärt wurden (zu verschiedenen Ansätzen einer Definition und zu der für die vorliegende Studie grundlegenden Differenzierung der Begriffe ‚Transzendenzerfahrungen‘, ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘, ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘, ‚Transformationserfahrungen‘ und ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 2.2). Dass es kultur- und religionsübergreifend eine nahezu unüberschaubare Fülle entsprechender Erfahrungsberichte gibt, ist unstrittig1. Strittig ist jedoch, wie dieselben wissenschaftlich erklärt werden können. Verschiedentlich wurde versucht, Nahtoderfahrungen z. B. als spezifische Formen von Halluzinationen oder Träumen bzw. als Notfunktionen eines sterbenden Gehirns zu deuten. Im Gegensatz hierzu wurde oftmals konstatiert, dass derartige Erklärungsmuster wissenschaftlich unzureichend sind. Nahtoderfahrungen seien vielmehr wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grenzfälle, welche neue Zugangsperspektiven zu zentralen Fragen menschlicher Existenz eröffnen: Was ist ‚Bewusstsein‘ bzw. ‚Selbstbewusstsein‘? In welchem Verhältnis stehen jene Aspekte menschlicher Existenz, die mit Begriffen wie ‚Geist‘, ‚Seele‘, ‚Körper‘ bezeichnet werden? In welchem Verhältnis stehen ‚Geist‘ und ‚Materie‘? Es kann nicht verwundern, dass dieses Themenfeld seit geraumer Zeit in verschiedenen wissenschaftlichen Diskursfeldern massive Kontroversen inspiriert (z. B. in Bereichen der Psychologie, Medizin, Neurophysiologie, Soziologie, Ethnologie, Religionswissenschaft, Theologie etc.). Angesichts der komplexen Debatten möchte die vorliegende Studie einen weiteren Diskussionsimpuls 1
Zu Studien zur Häufigkeit von Nahtoderfahrungen s. u. Kapitel 2; Arbeitsschritt 6.1: Multimediale Vermittlungen von Nahtoderfahrungen als Massenphänomene.
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Einleitung
vermitteln. Dabei geht es vor allem um die Frage, welche religions- und philosophiegeschichtlichen Vergleichsgrößen es zu jenen Phänomenen gibt, die heute mit dem Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden, und zwar speziell im Bereich des Platonismus und des frühen Christentums. Um diesen Untersuchungsansatz erläutern zu können, ist die nachfolgende Einleitung in fünf Arbeitsschritte untergliedert. Zunächst wird der wissenschaftliche Ausgangspunkt der vorliegenden Studie skizziert (3), um so deren Anliegen und Struktur erläutern zu können (4). Vor diesem Hintergrund soll hinterfragt werden, welche methodischen Prämissen zu beachten sind, wenn man die auf den ersten Blick disparaten Themenfelder ‚Nahtoderfahrungen‘, ‚Platonismus‘ und ‚frühes Christentum‘ angemessen zueinander in Beziehung setzen möchte (5). Daraufhin wird bereits vorausgreifend skizziert, mit welchen grundlegenden erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problemen jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen konfrontiert ist (6). Doch bevor die wissenschaftliche Annäherung an das Thema beginnen soll, möchte ich zunächst eine persönliche Vorbemerkung formulieren (2).
2. Eine persönliche Vorbemerkung Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des vorliegenden Buchs habe ich seit ca. 18 Jahren an verschiedenen Universitäten unterrichtet. In dieser Zeit habe ich kein anderes Thema kennengelernt, welches derartig polarisiert2. Warum dies so ist, ist leicht zu verstehen. Nichts ist uns sicherer, als dass wir alle einmal sterben werden – und wohl jeder von uns fragt sich, was unter dieser finalen Grenze unserer vorfindlichen Existenz genau zu verstehen ist. Ist sie das Ende jeder Form von Existenz, Leben und Bewusstsein? Oder gibt es Aspekte des Lebens, welche einen biologischen Exitus bzw. exitus letalis, der gemeinhin als Tod bezeichnet wird, ‚überleben‘? Auch hat wohl jede Leserin und jeder Leser der vorliegenden Zeilen schon erlebt, was es bedeutet, einen geliebten Menschen durch dessen Tod zu verlieren. Kurz gesagt: Der Tod betrifft uns alle unmittelbar3. 2 3
Zu den erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problemen dieses Phänomens s. u. Kapitel 2; Arbeitsschritt 4.1: „Polemik im Kontext der Nahtodforschung als Folge mangelnder wissenschaftlicher Diskursfähigkeit.“ Entsprechend konstatiert aus religionswissenschaftlicher Perspektive M. von Brück, Leben, 17: „Interessanterweise zeigen nicht nur theologische, sondern auch zahlreiche medizinische, psychologische und religionswissenschaftliche Studien, wie emotional das Thema besetzt ist, z. B. hinsichtlich der Hoffnung, in diesen Erfahrungen Hinweise auf ein mögliches Leben nach dem Tod zu finden, die weit über die traditionellen (kirchlichen) religiösen Sprachformen hinausgreift.“
Der wissenschaftliche Ausgangspunkt der Studie
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Ich habe in meiner bisherigen Beschäftigung mit dem Thema sehr konträre Reaktionen erlebt. Diese reichten von radikaler Ablehnung bis hin zu einer tiefen Betroffenheit, ja bis zu einer religiösen Faszination. Und deshalb möchte ich mich bei meinen Leserinnen und Lesern bereits im Voraus entschuldigen: Einigen Leserinnen und Lesern mag es zu wissenschaftlich distanziert erscheinen, wie ich mich dem Thema nähere. Anderen mag es aus wissenschaftstheoretischen Gründen problematisch erscheinen, sich überhaupt einem emotional so besetzten Thema zu nähern. Es ist leider nicht möglich, den persönlichen Dispositionen einer breiten Leserschaft gerecht zu werden. Doch ich hoffe, einen Mittelweg gefunden zu haben, das Thema zu vermitteln.
3. Der wissenschaftliche Ausgangspunkt der vorliegenden Studie Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen begegnen in völlig unterschiedlichen Forschungsfeldern (z. B. in Bereichen der Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Neurophysiologie, Philosophie, Soziologie, Physik, Ethnologie, Theologie, Religionswissenschaft etc.). Dies bedeutet, dass kein(e) Wissenschaftler(in), die bzw. der sich an diesen Diskursen beteiligt, in jedem Wissenschaftsgebiet ein ausgewiesener Experte sein kann – das Ideal einer Universalgelehrtheit ist angesichts der komplexen Entwicklungen innerhalb einzelner Fachgebiete schon lange zu einem Phänomen der Vergangenheit geworden. Heute ist es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern selbst innerhalb einer Disziplin nicht mehr möglich, die gesamte Breite eines Fachs angemessen zu erfassen. Dies hat für Forschungen zu Nahtoderfahrungen zur Konsequenz, dass alle an den Diskussionen beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dokumentieren sollten, in welchem Fachgebiet ihre Kernkompetenzen liegen und in welchen Gebieten sie auf die Expertisen anderer Fachbereiche angewiesen sind. Gleichwohl sollte es allen Diskursteilnehmer(inne)n möglich sein zu beobachten, in welcher Weise in einem fremden Fachgebiet bzw. zwischen fremden Fachgebieten Diskussionen geführt werden. Es geht um die Frage, ob die an den Diskussionen beteiligten Personen auf die jeweiligen Beobachtungen, Fragen und Argumente anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingehen oder ob sie lediglich aneinander vorbeireden. Letzteres lässt sich leider in vielen Diskursfeldern der Nahtodforschung beobachten. Zuweilen werden von einigen Diskursteilnehmer(inne)n seit Jahren die gleichen Argumente wiederholt, ohne dass auf die an sie gerichteten Fragen ernsthaft eingegangen wird. So kommt es dazu, dass sich in einigen Bereichen der Nahtodforschung zuweilen – wie es im Folgenden tautologisch anmutend genannt
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Einleitung
werden soll – ‚redundante Wiederholungen‘ vergleichbarer Diskussionsbeiträge beobachten lassen. Mit anderen Worten: Es werden zuweilen nicht nur die gleichen Argumente wiederholt, sondern sogar die gleichen Argumentationskreisläufe. Dies ist erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch schlicht defizitär. Eine angemessene Aufarbeitung des Themenfeldes wird nur möglich sein, wenn es zum Aufbau interdisziplinärer Arbeitsgruppen kommt, in welchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jener unterschiedlichen Fachbereiche sich kontinuierlich der Erforschung von Nahtoderfahrungen widmen können (zur Skizze entsprechender Projekte vgl. die Angaben im Vorwort). Eine zentrale Aufgabe solcher Kooperationen besteht auch darin, die erkenntnistheoretischen und methodischen Paradigmen und Prämissen, die sich innerhalb einzelner Wissenschaftsfelder ausgebildet haben, in die Reflexionen einzubeziehen und in Bezug auf ihre Angemessenheit zu überprüfen (ausführlich hierzu Kapitel 2; Arbeitsschritt 5). Angesichts dessen soll im Folgenden erläutert werden, worin der wissenschaftliche Ausgangspunkt der vorliegenden Studie besteht. Meine eigene wissenschaftliche Kernkompetenz liegt im Bereich der Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums. Es geht um die Frage, wie sich aus der Wandermission Jesu bzw. der frühen Jesusbewegung sukzessive jene religiösen Gruppierungen und Schulbildungen entwickeln konnten, die schließlich mit dem Begriff ‚Christentum‘ bezeichnet wurden4. Diese Entwicklungen können nur dann angemessen verstanden werden, wenn man sich vergegenwärtigt, welche grundlegenden Wandlungen das Judentum im Vorfeld und während der Ausbildung des frühen Christentums durchlief und welche religiösen, philosophischen und politischen Rahmenbedingungen der antik-mediterranen Welt auf diese kulturellen Entwicklungen Einfluss genommen haben. Auf den ersten Blick betrachtet könnte man den Eindruck gewinnen, dass diese antik-mediterranen Gegebenheiten mit den gegenwärtigen Diskursen zu Nahtoderfahrungen kaum Berührungspunkte haben. Dieser Eindruck wandelt sich jedoch, wenn man die Zugangsperspektive ändert. Die Frage ist, inwieweit sich in der antik-mediterranen Religions- und Philosophiegeschichte Traditionen bzw. Vorstellungen beobachten lassen, die Analogien zu jenen Phänomenen aufweisen, welche heute mit dem Begriff ‚Nahtoderfahrung‘
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Die Verwendung der Begriffe ‚Christen‘ bzw. ‚Christentum‘ stehen in diesem Zusammenhang stets in der Gefahr, anachronistisch missverstanden zu werden (vgl. Kapitel 4; Anm. 12). Zur Abgrenzung der Begriffe ‚Jesusbewegung‘ bzw. ‚frühes Christentum‘ vgl. G. Theißen, Soziologie, passim; E. Voigt, Jesusbewegung, 11–14; M. Wolter, Paulus, 23. Zur Entstehung der Bezeichnung ‚Christen‘, die Act 11,26 zufolge erstmals im syrischen Antiochien verwendet wurde, vgl. R. Pesch, Apostelgeschichte I, 353 f.; A. Weiser, Apostelgeschichte, 278 f.
Das Anliegen und die Struktur der Studie
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bezeichnet werden. Worin solche Analogien konkret bestehen können, soll im Folgenden erläutert werden.
4. Das Anliegen und die Struktur der vorliegenden Studie Wie im vorhergehenden Arbeitsschritt angedeutet wurde, widmet sich die vorliegende Studie der Frage, inwieweit sich in der antik-mediterranen Religionsund Philosophiegeschichte Traditionen bzw. Vorstellungen beobachten lassen, die Analogien zu jenen Phänomenen aufweisen, welche heute mit dem Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden. Bevor diese Frage aufgearbeitet wird, soll jedoch zunächst eine forschungsgeschichtliche Einführung vorangestellt werden. Es soll skizziert werden, was unter dem eigentlich unpräzisen Begriff bzw. dem Phänomen ‚Nahtoderfahrungen‘ konkret zu verstehen ist, in welcher Weise dieselben zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen werden konnten und welche Schlüsselfragen gegenwärtige Diskurse prägen (vgl. Kapitel 2). In Bezug auf den zuvor angesprochenen wissenschaftlichen Ausgangspunkt gilt es somit zu beachten, dass ich in Kapitel 2 größtenteils über Forschungsgebiete und Diskussionen referiere, in denen nicht meine wissenschaftlichen Kernkompetenzen liegen. Es soll lediglich darum gehen, die religionshistorischen Beobachtungen an die neuzeitlichen Diskurse anzuschließen. Daraufhin wird in zwei zunächst separat konzipierten Kapiteln zwei Fragestellungen nachgegangen, welche seit den Anfängen der Nahtodforschung immer wieder in verschiedenen Variationen formuliert wurden, nämlich den Fragen, inwiefern Nahtoderfahrungen Analogien in der platonischen Philosophie (Kapitel 3) und in frühchristlichen Traditionen besitzen (Kapitel 4). Im Bereich der platonischen Philosophie wurde dabei z. B. auf die Erzählung von der Jenseits-Erfahrung des pamphylischen Soldaten Er verwiesen, die Platon an einer exponierten argumentativen Position im Schlusskapitel des Dialogs Politeia überliefert (Platon, Politeia 614a–621b)5. Dieser Tradition zufolge soll jener Soldat in einer Schlacht getötet worden sein. Kurz vor seiner Bestattung sei er wieder zu Bewusstsein gekommen und habe daraufhin berichtet, was er – um es mit der entsprechenden Terminologie der vorliegenden Studie zu sagen – während seiner Nahtoderfahrung erlebt 5
So bereits R. A. Moody, Life, 107. Entsprechend bezeichnete E. Alexander, Vermessung, 41 zuletzt Platon als den „Vater der westlichen Berichte über Nahtoderlebnisse.“ Zu einer verhältnismäßig frühen Wahrnehmung dieser Affinitäten im Bereich wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit der antik-mediterranen Religions- und Philosophiegeschichte vgl. J. N. Bremmer, Near-Death Experiences: Ancient, Medieval and Modern, passim, der im Kontrast zu vielen anderen entsprechenden Diskussionsbeiträgen auf die methodischen Probleme eines Vergleichs antiker Texte und neuzeitlicher Erfahrungsberichte hinweist.
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Einleitung
haben soll. Diese Erzählung steht wiederum in Beziehung zu weiteren Aspekten der platonischen Anthropologie, der zufolge die menschliche Seele lediglich temporär in einem Körper lebt und sich während des Todes wieder aus diesem Körper befreit (zu den verschiedenen literarischen und argumentativen Vermittlungen dieses Menschenbildes s. u. 3.1.5). Im Bereich des frühen Christentums wurden demgegenüber immer wieder das sogenannte ‚Damaskuserlebnis‘ (vgl. Act 9,3–9; 22,6–11; 26,12–15) und die ‚Himmelfahrt‘ des Paulus (2 Kor 12,1–5) als Analogien zu Nahtoderfahrungen benannt6. Dass sowohl in den platonischen Dialogen als auch in den Traditionen zur paulinischen Lebenswende prinzipiell Affinitäten zu sogenannten ‚Nahtoderfahrungen‘ zu beobachten sind, ist somit kein neuer Gedanke7. Gleichwohl wurden diese Bezüge bisher nicht einmal annähernd angemessen untersucht. Dieses Desiderat soll durch den vorliegenden ersten Teilband des Gesamtprojekts aufgearbeitet werden (zu den daraus sich ergebenden Anliegen des zweiten Teilbands, der sich frühchristlichen Auferstehungsvorstellungen widmen wird, vgl. Kapitel 5; Arbeitsschritt 3: Perspektiven und Herausforderungen weiterer Forschungen). Gleichwohl gilt es sich im Folgenden eine Frage zu vergegenwärtigen, welche die bisherigen Ausführungen bei einigen Leserinnen und Lesern evozieren könnten, nämlich die Frage, inwieweit zeitgenössische Erfahrungsberichte einzelner Menschen und schriftlich-manifestierte Zeugnisse der antik-mediterranen Philosophie- und Religionsgeschichte überhaupt angemessen miteinander in Beziehung gesetzt werden können.
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Vgl. u. a. R. A. Moody, Life, passim; C. Zaleski, Otherworld Journeys, 26 f.; H. Knoblauch, Begegnungen, 42 ff.; E. Alexander, Map, 47; M. N. March, Near-Death-Experiences, 190 ff.; J. Nicolay, Nahtoderfahrungen, 14 f.; R. Lachner, Trennung, 107 f.; G. Ewald, Nahtoderfahrungen, passim; S. Högl, Transzendenzerfahrungen, 154–158 etc. Im Bereich der historisch-kritischen Wissenschaft bzw. biblischen Exegese wurden entsprechende Vorüberlegungen u. a. erwogen von A. F. Segal, Religious Experiences, passim; I. Czachesz, Cognitive Science, 157–166. Bemerkenswerterweise werden diese Affinitäten auch von Vertretern reduktiv-materialistischer Deutungsansätze konstatiert. Paradigmatisch sei verweisen auf B. Engmann, Mythos, 33, der nach einer Skizze vergleichbarer religionsgeschichtlicher Analogien resümiert: „Die von vielen Betroffenen geschilderten Nahtodphänomene verkörpern spirituelle Anschauungen, die seit den frühesten Tagen der Menschheit Teil unserer Vorstellungswelt, aber auch der Welt unserer Wünsche geworden sind. Ob den alten Mythen und Überlieferungen wiederum abnorme Erfahrungsqualitäten zugrunde liegen oder ob ein bereits entwickeltes Gedankengebäude im Nachhinein mit ungewöhnlichen Erfahrungsqualitäten assoziiert wurde, lässt sich mit Bestimmtheit nicht entscheiden. Wie so oft enthalten Mythen einen wahren Kern, in dem Reales, Psychopathologisches und Fantastisches verschmolzen sind.“
Vergleichbarkeit von Nahtoderfahrungen und Traditionen
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5. … über den garstigen Graben‘ – zur Frage der Vergleichbarkeit von Nahtoderfahrungen und platonischen bzw. frühchristlichen Traditionen Auf den ersten Blick betrachtet mag ein Vergleich von Nahtoderfahrungen, platonischen und frühchristlichen Traditionen abwegig erscheinen. Einerseits besitzt der neuzeitlich geprägte Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ keine unmittelbare quellensprachliche Analogie in platonischen und frühchristlichen Zeugnissen. Andererseits gilt es sich eine Problematik zu vergegenwärtigen, welche jede historisch-kritische Lektüre antik-mediterraner Zeugnisse prägt, nämlich jenen ‚garstigen Graben‘, den bereits Gotthold Ephraim Lessing in Bezug auf die Differenzen antiker und neuzeitlicher Welt- und Menschenbilder konstatierte8. So können z. B. viele Aspekte frühchristlicher Glaubensvorstellungen auf der Ebene einer religionshistorischen Beschreibung als Ausdruck zeitgenössischer Religiosität erläutert werden, ohne dass sie für heutige Reflexionen christlicher Selbstverständnisse noch eine bleibende Bedeutung haben9. Dieser ‚garstige Graben‘ tut sich in besonderem Maße bei dem Ringen um ein angemessenes Verständnis frühchristlicher Auferstehungsvorstellungen auf. Es gibt kaum ein anderes Themenfeld theologischer Wissenschaft, das seit den Anfängen historisch-kritischer Exegese in verschiedenen theologischen Fachgebieten mit einer vergleichbaren Vehemenz diskutiert wurde (exemplarisch sei verwiesen auf die Kontroversen, die sich an den entsprechenden Beiträgen des Neutestamentlers Gerd Lüdemann entzündet haben)10. Dabei gilt es zu beachten, dass dieses Thema nicht nur im Binnenbereich von Theologie und Kirche massive Kontroversen auslösen kann, sondern dass es auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten immer wieder Aufmerksamkeit auf sich zog11. 8 Zu Kontext und Interpretation dieses Diktums vgl. J. Lauster, Prinzip, 26 f. 9 Dies gilt z. B. für die Vorstellungen einer dämonischen Verursachung von Krankheiten bzw. Behinderungen und den damit einhergehenden exorzistischen Praktiken (Mt 12,22–30; Mk 3,22–27; Lk 11,14–20 etc.), die frühchristliche Erwartung unmittelbar bevorstehender apokalyptischer Endzeitereignisse (Mt 10,23 par.; 1 Thess 4,15–18; Off 1,1–3 etc.), für einzelne Facetten kosmologischer Vorstellungen biblischer Traditionen (Gen 1–3*; Ps 104*) etc. 10 Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Studie von G. Lüdemann, Auferstehung, passim wurden paradigmatisch nahezu alle Argumentationen rekapituliert, die seit den Anfängen historisch-kritischer Exegese in Bezug auf eine Interpretation der Überlieferungen zur Auferstehung Jesu debattiert wurden. Zur Skizze gegenwärtiger exegetischer und dogmatischer Diskurse vgl. die Beiträge der Sammelbände von F. Avemarie/H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung, passim; H.-J. Eckstein/M. Welcker (Hg.), Auferstehung, passim; speziell zu exegetischen Diskussionen zudem N. T. Wright, Resurrection, passim; J. Becker, Auferstehung, passim; S. Alkier, Auferstehung, passim etc. 11 Exemplarisch sei verwiesen auf entsprechende Artikel im Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘, die lange Zeit regelmäßig zu Ostern publiziert wurden. Zum Verhältnis entsprechender Artikel zum Jesus-Bild des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein vgl. H. Hengel, Blick, passim.
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Einleitung
Der skizzierte Ansatz der vorliegenden Studie zielt darauf ab, nicht nur eine rein religionshistorisch-deskriptive Betrachtung frühchristlicher Zeugnisse durchzuführen, sondern auch zu einer Reflexion der Erträge in anderen Bereichen theologischer Wissenschaft einzuladen. Eine theologische Betrachtung frühchristlicher Zeugnisse kann sich nicht der Frage entziehen, wie sich die in ihnen vermittelten Welt- und Menschenbilder zu entsprechenden Vorstellungen der Gegenwart verhalten. Und eines jener Forschungsfelder, in welchem gegenwärtig das ‚Leib-Seele-Problem‘, das Verständnis menschlichen Bewusstseins bzw. die Frage einer postmortalen Existenz diskutiert wird, ist ohne Zweifel die facettenreiche Forschungslandschaft wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen. In diesem Sinne möchte die vorliegende Studie dazu ermutigen, im Bewusstsein jenes ‚garstigen Grabens‘ sich nicht prinzipiell davon abhalten zu lassen, nach den Potentialen der skizzierten Aufgabenstellungen zu fragen. Die Leserinnen und Leser der nachfolgenden Ausführungen sollen zu einer Diskussion eingeladen werden, welche nicht abgeschlossen, sondern nur eröffnet werden soll. Bevor jedoch die skizzierten Themenfelder betreten werden können, gilt es sich zunächst erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Grundprobleme zu vergegenwärtigen, mit denen jede Form einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen konfrontiert ist. Nahezu alle Personen, die entsprechende Erfahrungen bzw. Erlebnisse für sich in Anspruch nehmen, heben mit Nachdruck hervor, dass dieselben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Worten und Beschreibungskategorien nicht angemessen zur Geltung gebracht werden können. Doch wie können Nahtoderfahrungen dann überhaupt Gegenstand wissenschaftlicher F orschungen werden?
6. Über Unaussprechliches sprechen – Grundprobleme wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen Viele Menschen, die von ihren Nahtoderfahrungen sprechen, heben hervor, dass dieselben die intensivsten und folgenreichsten Erfahrungen ihres Lebens waren. Gleichwohl sei es ihnen unmöglich, ihre Erfahrungen auch nur in Ansätzen angemessen sprachlich wiedergeben zu können. Doch wie können prinzipiell inadäquate Erfahrungsberichte zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden? Dieses erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundproblem muss bei jeder Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen vergegenwärtigt werden. Die Probleme potenzieren sich jedoch nochmals, wenn
Grundprobleme wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen
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die Konsequenzen jener Prämisse bedacht werden. Inzwischen liegen viele empirische Erhebungen und Dokumentationen von Nahtoderfahrungen vor, die in zuweilen sehr disparaten kulturellen und geographischen Kontexten durchgeführt wurden (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 6.2). Die sprachlichen und intellektuellen Voraussetzungen der betroffenen Personen können erhebliche Unterschiede aufweisen. Auch die methodischen Prämissen und Deutungskategorien, die den jeweiligen empirischen Erhebungen zugrunde liegen, sind mitunter sehr heterogen. Dabei gilt es stets das methodische Problem zu bedenken, dass ein Raster vorgegebener Fragen, welches von den Initiatoren der jeweiligen Erhebung konzipiert wurde, bereits suggestive Züge tragen kann und so die Ergebnisse präfiguriert. Wenn man wiederum darum bemüht ist, die Erfahrungsberichte aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu vergleichen, so ist man zwangsläufig auf sprachliche Übersetzungen angewiesen. Jede Übersetzung birgt jedoch auch Ansätze einer Interpretation. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Erfahrungen, die bereits für sich genommen kaum angemessen sprachlich vermittelt werden können, umso schwieriger miteinander zu vergleichen sind. Angesichts dessen sollten die verschiedenen Versuche, eine große Zahl individueller Erfahrungsberichte zu kategorisieren und zu quantifizieren, stets mit Vorbehalt zur Kenntnis genommen werden. Derartige Statistiken können zwar instruktive Leitlinien wissenschaftlicher Diskussionen aufzeigen. Gleichwohl bleiben Versuche einer Objektivierung subjektiver Erfahrungen und Erlebnisse erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch betrachtet im hohen Maße problematisch. Diesem Phänomen entspricht es, dass es zwar bereits eine Vielzahl von Ansätzen gibt, Nahtoderfahrungen begrifflich zu definieren. Dabei wird jedoch zumeist darüber diskutiert, inwieweit der Teilbegriff ‚Nahtod‘ verstanden werden kann (zu der für die vorliegende Studie grundlegenden Differenzierung der Begriffe ‚Transzendenzerfahrungen‘, ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘ und ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 2.2). Weniger Aufmerksamkeit wird demgegenüber der Frage geschenkt, inwieweit auch die Begriffe ‚Erfahrung‘ bzw. ‚Erlebnis‘ ihrerseits zu bedenken sind. Beide Begriffe beziehen sich auf Wahrnehmungen, die ein menschliches Individuum für sich in Anspruch nimmt, subjektiv ‚erfahren‘ bzw. ‚erlebt‘ zu haben. Es handelt sich nicht um ‚Erfahrungen‘ bzw. ‚Erlebnisse‘, die gleichzeitig und gemeinschaftlich von mehreren Individuen wahrgenommen wurden und die somit einen höheren Grad an Objektivität aufweisen können. Angesichts dessen sollte bei einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen ein Aspekt mitgedacht werden, welcher von William James, einem der Gründerväter der Religionspsychologie, formuliert wurde und der weitreichende Rezeptionen
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Einleitung
und Ausdifferenzierungen erfuhr12. William James zufolge gilt es nicht nur zu beachten, welche subjektiven Erfahrungen Menschen für sich in Anspruch nehmen, sondern auch, welche Konsequenzen dieselben für deren Leben haben. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Studie auch der Begriff ‚Transformationserfahrung‘ als Teilaspekt des Begriffs ‚Nahtoderfahrung‘ etabliert (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 2.2).
12 Vgl. W. James, Erfahrung, 209 ff. bzw. 234 ff., dem zufolge für eine solche religiöse Transformationserfahrung „das berühmteste Beispiel der heilige Paulus“ ist (op. cit., 234). Zur Wirkungsgeschichte dieser Konzeption vgl. F. Krämer, Wirklichkeit, passim.
Kapitel 2: L eitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
Das folgende Kapitel verfolgt drei primäre Anliegen. Einerseits soll erläutert werden, was unter dem Begriff bzw. Phänomen ‚Nahtoderfahrung‘ zu verstehen ist und wie sich dessen Erforschung sukzessive entwickelt hat. Andererseits wird dargelegt, warum die Forschungsdiskussionen zuweilen sehr konträre Einschätzungen zutage treten lassen. Dabei werden verschiedene Desiderate skizziert, welche weitere Forschungsarbeiten notwendig werden lassen, um ‚redundante Wiederholungen‘ vergleichbarer Diskussionsbeiträge zu vermeiden (zur Aussageintention dieses tautologischen Begriffs vgl. Kapitel 1; Arbeitsschritt 3). Vor diesem Hintergrund soll schließlich dargelegt werden, warum auch trotz der nach wie vor kontroversen Diskussionen wissenschaftliche Theologie sich diesem Thema widmen sollte. Angesichts dessen ist das folgende Kapitel in neun Arbeitsschritte untergliedert: Zunächst wird dargelegt, in welcher Weise Nahtoderfahrungen sukzessive zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen werden konnten (1). Daraufhin werden methodische Probleme von Definitionen des Begriffs ‚Nahtoderfahrung‘ vorgestellt, um so jene Terminologie erläutern zu können, welche der vorliegenden Studie zugrunde liegt (2). Vor diesem Hintergrund werden exemplarische Beschreibungen dessen dargelegt, was im Folgenden als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ und daraus resultierender ‚Transformationserfahrungen‘ bezeichnet wird (3). Es folgt eine Skizze des Themenfeldes, welches in der Forschung mit Abstand am kontroversesten diskutiert wird, nämlich die Frage wissenschaftlicher Deutungen und Erklärungen von Nahtoderfahrungen (4). Dies führt konsequent zu einer Erläuterung jener wissenschaftstheoretischen Schlüsselfragen, welche für weitere interdisziplinäre Forschungen von Nahtoderfahrungen von zentraler Bedeutung sein werden (5). Daraufhin wird veranschaulicht, welche Formen einer medialen Vermittlung von Informationen über Nahtoderfahrungen existieren (6). Ebenso bedarf es einer Beschreibung eines Forschungsfeldes, welches seit den Anfängen der Nahtodforschung eine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, nämlich die Analyse psychologischer und biographischer Konsequenzen, welche Nah-
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
toderfahrene für ihr weiteres Leben ziehen konnten (7). Nachdem auch mögliche kulturgeschichtliche Vergleichsgrößen zu Nahtoderfahrungen skizziert wurden (8), wird zuletzt angedeutet, in welcher Weise Nahtoderfahrungen auch zu einem Thema von Theologie und Kirche werden können (9).
1. Die sukzessive Etablierung von Nahtoderfahrungen als Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen Auch wenn die Anfänge wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen deutlich weiter zurückliegen1, kann die sukzessive Etablierung des Forschungsfeldes exemplarisch an der Rezeptionsgeschichte jenes Werks erläutert werden, welches für die zeitgenössischen Diskurse von zentraler Bedeutung sein sollte. Im Jahre 1975 veröffentlichte Raymond A. Moody die Ergebnisse einer ca. fünf Jahre dauernden empirischen Erhebung, zu welcher er durch zufällige Begegnungen inspiriert wurde. Nachdem Moody zunächst an der University of Virginia ein Studium der Philosophie begonnen und mit dem Erwerb eines Doktortitels abgeschlossen hatte, begann er Medizin zu studieren, um Facharzt für Psychiatrie zu werden. Während seines ersten Studiums lernte er den Arzt und Psychiater George G. Ritchie kennen (1923–2007). Letzterer war zur Zeit seines Militärdienstes im Alter von 20 Jahren infolge einer schweren Erkrankung für tot erklärt worden. Er überlebte jedoch und nahm seitdem für sich in Anspruch, eine besondere Erfahrung gemacht zu haben, die sein gesamtes weiteres Leben prägen sollte2. Dies inspirierte Moody dazu, im Rahmen seines Medizinstudiums gezielt nach vergleichbaren Fällen zu suchen. Die Ergebnisse dieser Suche dokumentierte Moody in dem Buch „Life after Life: the investigation of a phenomenon – survival of bodily death“, welches 1975 veröffentlicht wurde. In der Erläuterung der methodischen Prämissen seiner Studie verwendet Moody jenen Begriff, der sich in der Folgezeit zu einem terminus technicus entwickeln sollte:
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Zu den Anfängen wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen, die bereits lange vor den Studien von Moody zu verorten sind, vgl. D. Vaitl, Bewusstseinszustände, 145 f.; G. Lier, Unsterblichkeitsproblem I, 579 f.; E. F. Kelly/E. W. Kelly/B. Greyson, Near Death, 367 ff. Obwohl George Ritchie gegenüber seinen Studenten und Patienten offen von dieser Erfahrung sprach, veröffentlichte er sie im Rahmen einer Autobiographie erst nach der Edition der Studie von Moody (vgl. G. Ritchie, Return, passim).
Die sukzessive Etablierung von Nahtoderfahrungen
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“During the past few years I have encountered a large number of persons who were involved in what I shall call ‘near-death experience’”3.
Auch wenn der Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ die weiteren Forschungen dominieren sollte, wurden bereits sehr früh Stimmen laut, welche den Begriff als problematisch bzw. ungenau bezeichneten (ausführlich hierzu vgl. die im folgenden Arbeitsschritt erläuterte Differenzierung der Begriffe ‚Transzendenzerfahrung‘, ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘, ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘, ‚Transformationserfahrungen‘ und ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘). Gleichwohl waren die Vorgaben von Moody wegweisend für die folgenden Debatten. Die in einer allgemein verständlichen Sprache verfasste Studie intendierte nicht, konkrete wissenschaftliche Thesen zu formulieren. Sie war zunächst nur als eine systematische Ordnung und Dokumentation der gesammelten Erfahrungsberichte konzipiert, zu deren Abschluss thetisch auf mögliche kultur- und religionsgeschichtliche Vergleichsgrößen hingewiesen wurde4. Vor allem beabsichtigte Moody jedoch, Diskussionen dieses Themenfeldes anzustoßen. Bereits einleitend hebt er hervor: “There will be many who will find the claims made in this book incredible and whose first reaction will be to dismiss them out of hand. I have no room whatsoever to blame anyone who finds himself in this category; I would have had precisely the same reaction only a few years ago. (…) All I ask is for anyone who disbelieves what he reads here to poke around a bit for himself!”5
Dieser Appell erfuhr ein großes Echo. Die Studie avancierte zu einem millionenfach verkauften Bestseller, der in viele Sprachen übersetzt wurde und bis in die Gegenwart hinein hohe Neuauflagen erfährt. Ebenso kam es zur Einrichtung von nationalen und internationalen Vereinigungen bzw. Netzwerken, die sich der Auseinandersetzung und Deutung dieser Phänomene widmeten6. Die breite Rezeption in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten erschwerte 3
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Vgl. R. A. Moody, Life, 6. Während sich dieser Begriff in der englischsprachigen Literatur verhältnismäßig schnell etablieren konnte, fällt es schwerer, die Prägung des deutschen Pendants ‚Nahtoderfahrungen‘ nachzuzeichnen. In der deutschen Übersetzung der Studie begegnet zunächst der Begriff ‚Todesnähe-Erlebnis‘ (vgl. R. A. Moody, Leben, passim). Schon bald wird in weiteren deutschen Übersetzungen entsprechender Studien aber fast durchgehend der Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ verwendet (vgl. z. B. K. Ring, Tod, 31 f.). Vgl. R. A. Moody, Life, 107–124. Vgl. R. A. Moody, Life, XIX–XX. Ausführlich hierzu vgl. J. Miner Holden/B. Greyson/D. James, Near-Death Studies, 4 ff. Zu entsprechenden Institutionen vgl. Kapitel 2; Anm. 104.
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
es jedoch, dass ein wesentliches Ziel erreicht wurde, das Moody selbst bereits in der Einleitung der Erstauflage benannte, nämlich dass Nahtoderfahrungen zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen werden7. Letzteres liegt vor allem daran, dass die Beobachtungen und Thesen von Moody u. a. esoterisch-religiöse Rezeptionen und Deutungen erfuhren, die in einer teils bewussten, teils unbewussten Opposition zu wissenschaftlichen Zugangsperspektiven positioniert waren8. Gleichwohl kann heute – also über 42 Jahre nach der ersten Veröffentlichung jenes Werks – konstatiert werden, dass Nahtoderfahrungen in unterschiedlichen wissenschaftlichen Forschungsfeldern und Institutionen untersucht werden. Wie bereits einleitend angedeutet wurde, begegnen Versuche von Erklärungen bzw. Deutungen von Nahtoderfahrungen in Kontexten der Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Neurophysiologie, Soziologie, Philosophie, Physik, Ethnologie, Religionswissenschaft etc. Dabei lässt sich freilich ein deutliches Übergewicht der Forschungsbeiträge in der englischsprachigen, vor allem der US-amerikanischen Wissenschaftslandschaft beobachten. Im Verhältnis hierzu ist die Nahtodforschung im deutschsprachigen Bereich – um es wohlwollend zu formulieren – ausbaufähig.
2. Definitionen von Nahtoderfahrungen Die methodischen Probleme einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrung beginnen bereits bei der prinzipiellen Frage, was mit dem Begriff überhaupt gemeint ist. Um die ‚babylonische Sprachverwirrung‘ veranschaulichen zu können, die sich in den Diskussionen zuweilen beobachten lässt, sollen zunächst die methodischen Probleme einer Definition und Deskription von Nahtoderfahrungen skizziert werden (2.1). Vor diesem Hintergrund wird ein Vorschlag formuliert, in welcher Weise die disparaten Definitionsansätze voneinander unterschieden bzw. kategorisiert werden können, nämlich anhand der Differenzierung der Begriffe ‚Transzendenzerfahrungen‘, ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘, ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘, ‚Transformationserfahrungen‘ und ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ (2.2). Vor diesem Hintergrund sollen exemplarisch potentielle Teilaspekte von ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ beschrieben werden (2.3).
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Vgl. R. A. Moody, Life, 9 f. Zur Skizze dieser frühen Rezeptionen vgl. H. Knoblauch, Jenseits, 23 ff.; J. Miner Holden/ B. Greyson/D. James, Near-Death Studies, 5 ff.; G. Lier, Unsterblichkeitsproblem, 848 ff.
Definitionen von Nahtoderfahrungen
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2.1 Methodische Probleme einer Definition von Nahtoderfahrungen In der bisherigen Forschungsgeschichte wurden unterschiedliche Konzepte herausgearbeitet, um das Phänomen ‚Nahtoderfahrung‘ begrifflich zu definieren und inhaltlich zu beschreiben. Dieser Sachverhalt soll im Folgenden anhand von repräsentativen Definitionsvorschlägen bzw. Deutungsversuchen veranschaulicht werden, welche jeweils von unterschiedlichen Vertretern der Nahtodforschung formuliert wurden und die in den gängigen Diskursen oftmals repetiert werden. Auf diese Weise sollen Kontinuitäten und Divergenzen der Diskussionen veranschaulicht werden. Um zudem die diskursanalytische Komplexität der Forschungslandschaft zu dokumentieren, wird zu den jeweiligen Literaturangaben erläutert, aus welchen wissenschaftlichen Zugangsperspektiven bzw. institutionellen Sprecherpositionen heraus die Einschätzungen formuliert wurden (zu den Potenzialen diskursanalytischer Zugangsperspektiven für die weitere Entwicklung interdisziplinärer Forschungen zum Themenfeld ‚Nahtoderfahrungen‘ s. u. Kapitel 2; Arbeitsschritt 5.4). Raymond A. Moody: A Near-Death Experience is “any conscious perceptual experience which takes place during an event in which a person could very easily die or be killed (and may even be so close as to be believed or pronounced clinically dead) but nonetheless survives, and continues physical life.”9 Susan Blackmore: “I can see no reason to adopt the afterlife hypothesis. … The dying brain hypothesis … does a better job of accounting for experiences themselves. And it reveals not a false hope of self surviving for ever but a genuine insight beyond the self. We are biological organisms, evolved in fascinating ways for no purpose at all and with no end in any mind. We are simply here and this is how it is. I have no self and ‘I’ own nothing. There is no one to die. There is just this moment, and now this and now this.”10
9 Vgl. R. A. Moody, Reflections, 124. Eine leichte Modifikation lässt sich erkennen, wenn Moody Nahtoderfahrungen als “profound spiritual events that happen, uninvited, to some individuals at the point of death“ bezeichnet (vgl. R. A. Moody/P. Perry, Coming back, 11). Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: R. A. Moody ist Psychiater und Philosoph und als Verfasser der Studie “Life after Life: the investigation of a phenomenon – survival of bodily death (San Francisco 1975)” einer der bedeutendsten Impulsgeber für die moderne Erforschung von Nahtoderfahrungen. 10 Vgl. S. Blackmore, Dying, 263 f. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Neben verschiedenen Tätigkeiten als Lecturer, Reader und Visiting Professor ist die im Bereich Parapsychologie promovierte britische Psychologin Susan Blackmore als freie Autorin und Referentin tätig.
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
Hubert Knoblauch: „Die Nahtoderfahrung findet (…) in einem inneren Erfahrungsbereich statt. Sie ähnelt damit sehr stark dem, was wir aus religiösen Zusammenhängen kennen und als Visionen oder mystische Erfahrungen bezeichnen. Auch die Erscheinungen, die Gläubige bzw. Heilige machen, bleiben meist nur für sie zugänglich. Allerdings ist auch der Begriff der Vision etwas irreführend, insofern er nur auf das visuell Sichtbare abhebt. In der Nahtoderfahrung dagegen können die Betroffenen auch hören; sie riechen, ja sie bewegen sich sogar.“11 Bruce Greyson: “Near-Death Experiences (NDEs) are profound psychological events with transcendental and mystical elements, typically occurring to individuals close to death or in situations of intense physical or emotional danger. These elements include ineffability, a sense of union with a divine or higher principle.”12 Christopher Charles French: “Putting this all together, a comprehensive account of the NDE is likely to involve a lack of oxygen, elevated levels of some neurotransmitters produced under stress, hyperactivity of the temporal lobe, and psychological defense mechanism.”13 Christian Hoppe: „NTE … sind die Folge eines Ausfalls einzelner – aber eben nicht aller! – hirnphysiologischer Module, welche dem normalen, wachbewussten Erleben notwendig zugrunde liegen. Sie treten bei einem ungewöhnlich verlängerten oder inkompletten Übergang vom Wachbewusstsein in die Bewusstlosigkeit auf …; sie sind demnach Erlebnisse an der Grenze zwischen Wachbewusstsein und Bewusstlosigkeit, nicht notwendigerweise zwischen Leben und Tod.“14 (Kursiv von Hoppe). Pim van Lommel: „Meiner Definition nach umfasst eine Nahtoderfahrung alle aus der Erinnerung geschilderten Eindrücke während eines außergewöhnlichen Bewusstseinszustands – mit charakteristischen Elementen wie der Erfahrung eines Tunnels,
11 Vgl. H. Knoblauch, Jenseits, 18. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Hubert Knoblauch ist Professor für Soziologie an der Technischen Universität Berlin. 12 Vgl. B. Greyson, Near-Death Experiences, 315 f. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Bruce Greyson ist emeritierter Professor für Psychiatrie und Neurophysiologie an der University of Virgina; ehemaliger Direktor des Instituts Division of Perceptual Studies. 13 Vgl. C. C. French/A. Stone, Psychology, 112. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Christopher C. French ist Professor für Psychologie am Goldsmith College der Universität London und Leiter der Anomalistic Psychology Research Unit. 14 Vgl. C. Hoppe, Nahtoderlebnisse, 98. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Christian Hoppe ist Privatdozent für Neuropsychologie an der Universitätsklinik der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Definitionen von Nahtoderfahrungen
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eines Lichts, eines Lebenspanoramas, der Begegnung mit Verstorbenen oder der Wahrnehmung der eigenen Reanimation.“15 Jeffrey Long: “There is no widely accepted definition of near-death experience. The NDERF study took a straightforward approach by defining both the near-death and experience components of the near-death experience. I considered individuals to be ‘near death’ if they were so physically compromised that they would die if their condition did not improve. The NDErs studied were generally unconscious and often apparently clinically dead, with absence of heartbeat and breathing. The ‘experience’ had to occur at the time they were near death. Also, the experience had to be lucid, to exclude descriptions of only fragmentary and disorganized memories.”16 Birk Engmann: „Nahtoderfahrungen sind das Ergebnis sekundäre(r) psychische(r) Nachbearbeitungen, die allmähliche Umgestaltung des ‚Erlebten‘ als wesentlichen Formgeber der Erfahrungsqualitäten. Es ergibt sich hierbei folgender hypothetischer Ablauf: Hirnfunktionsstörung → Pathoklise → neuropsychologische Basisphänomene → sekundäre Nachbearbeitung → Erfahrungsqualitäten(.) Nahtoderfahrungen sind der rational-wissenschaftlichen Analyse zugänglich und somit wissenschaftlich erklärbar.“17 Dieter Vaitl: „Todesnähe-Erfahrungen bzw. Nahtoderfahrungen (NTE) stellen (…) eine Klasse von subjektiven Erlebnissen dar, die mit veränderten Bewusstseinszuständen einhergehen oder durch sie erzeugt werden. Sie treten auf, wenn sich Betroffene real oder psychologisch in Todesnähe befinden. (…) Es sind Grenzerfahrungen in Todesnähe – Erlebnisse von unmittelbarer Lebensnähe und Bedrohung, beängstigend und außergewöhnlich, aber bei aller Erschütterung und Neuartigkeit auch friedensstiftend und verheißungsvoll.“18
15 Vgl. Vgl. P. van Lommel, Bewusstsein, 33. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Pim van Lommel war Arzt für Kardiologie und Intensivmedizin. 16 Vgl. J. Long, Evidence, 5. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Jeffrey Long ist Arzt für Onkologie und Radiologie, Gründer und Leiter der Near Death Experience Research Foundation. 17 Vgl. B. Engmann, Mythos, 99. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Birk Engmann ist promovierter Neurologe und Nervenarzt. 18 Vgl. D. Vaitl, Bewusstseinszustände, 145. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Dieter Vaitl ist emeritierter Professor für Psychologie und Neurophysiologie, ehemaliger Direktor des Bender Institute of Neuroimaging (Universität Gießen) und Leiter des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (Universität Freiburg i. B.).
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
Olaf Blanke: “In different life-threatening situations, people can sometimes experience vivid illusions and hallucinations as well as strong mystical und emotional feelings often grouped under the term near-death experience.”19 Keith Augustine: “Near-Death Experiences are Hallucinations.”20
Die Komplexität und Divergenz der angesprochenen Definitionen und Einschätzungen lassen bereits erahnen, wie kontrovers die Forschungsdiskussionen zu Nahtoderfahrungen sind. Es wäre Aufgabe einer eigenständigen Studie, die bereits formulierten Definitionsvorschläge zu sichten und in Bezug auf ihre erkenntnistheoretischen und methodologischen Prämissen zu differenzieren. Dies gilt besonders für die zentrale Frage, inwieweit disziplinenspezifische Paradigmen als Voraussetzungen der jeweiligen Definition gesehen werden können bzw. inwieweit dieselben ihrerseits in die Reflexionen einbezogen und gegebenenfalls modifiziert werden müssen (ausführlich hierzu vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 5). Eine entsprechende Analyse der bisherigen Diskurse ist eines jener Desiderate gegenwärtiger Forschungen, auf welche in der vorliegenden Studie lediglich hingewiesen werden kann. Auch wenn die Aufarbeitung desselben noch viel Arbeitsenergie absorbieren wird, soll im Folgenden ein Vorschlag für eine Differenzierung unterschiedlicher Ansätze für Definitionen und Deskriptionen in die Diskussion eingebracht werden, nämlich die Differenzierung von ‚Transzendenzerfahrungen‘, ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘, ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘, ‚Transformationserfahrungen‘ und ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘.
19 Vgl. O. Blanke/N. Faivre/S. Dieguez, Leaving Body, 330. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Olaf Blanke ist Professor für kognitive Neurowissenschaft am Brain Mind Institute der École Polytechnique Fédérale de Lausanne und Neurologe am Universitätsspital Genf. 20 K. Augustine, Experiences, 529. Anmerkung zur wissenschaftlichen und institutionellen Verortung: Keith Augustine ist Executive Director and Scholarly Paper Editor, Internet Infidels. Zusammen mit dem emeritierten Philosophieprofessor Michael Martin ist er Herausgeber eines themenspezifisch relevanten Sammelbandes mit dem programmatischen, aber nicht sonderlich um wissenschaftliche Neutralität bemühten Titel „The Myth of an Afterlife: the case against life after death“ (Lanham/Boulder/New York/London 2015).
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2.2 Zur Differenzierung von Transzendenzerfahrungen‘, Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘, Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘, Transformationserfahrungen‘ und Erfahrungen göttlicher Liebe‘ Angesichts der vielschichtigen und partiell völlig konträren Ansätze einer Definition und Deutung von Nahtoderfahrungen legt es sich nahe, fünf Unterkategorien voneinander zu differenzieren, nämlich ‚Transzendenzerfahrungen‘, ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘, ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘, ‚Transformationserfahrungen‘ und ‚Erfahrungen göttlicher Liebe.‘ Als ein erstes Differenzkriterium kann die Bestimmung der Nähe zum Tod bzw. exitus letalis eines menschlichen Individuums gewertet werden, nämlich die Differenz einer objektiven bzw. medizinisch dokumentierten Todesnähe, einer subjektiv wahrgenommenen Todesnähe und einer nicht bestehenden Todesnähe. Die drei Begriffe ‚Transzendenzerfahrungen‘, ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘ und ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ sind dabei wie konzentrische Kreise einander zugeordnet. Der Begriff ‚Transzendenzerfahrung‘ ist zunächst sehr weit gefasst. Er bezeichnet alle Phänomene, bei denen Menschen subjektiv für sich in Anspruch nehmen, ein verändertes Bewusstsein wahrgenommen zu haben, welches einem normalen Spektrum individueller Wirklichkeitswahrnehmungen nicht entspricht bzw. über dieselben hinausreicht (eine Art „Transzendenz“ bzw. „Trans zendierung“21). Als Beispiele hierfür kann verwiesen werden auf Erfahrungen von Mystikern unterschiedlicher religiöser Provenienzen, Erfahrungen im 21 Zu den Implikationen der Differenzierung der Begriffe ‚Transzendenz‘, ‚Transzendierung‘ und ‚Immanenz‘ vgl. u. a. J. Lamprecht, Transzendenz, 13–16; I. U. Dalferth, Transzendenz, 91–125; E T. Schnell, Religiosität, 122 f.; E. Ruschmann, Spiritualität, 99 f. und die instruktiven Beiträge des Sammelbands I. U. Dalferth/P. Bühler/A. Hunzinger (Hg.), Hermeneutik, passim. Gleichwohl wäre es unpräzise, den Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ prinzipiell durch den Begriff ‚Transzendenzerfahrung‘ zu ersetzen, da auf diese Weise die terminologischen Probleme nur verschoben, aber nicht gelöst werden (gegen S. Högl, Transzendenzerfahrung, 16 f.). Eine Differenzierung solcher Transzendenzerfahrungen impliziert z. B. die von B. Greyson, Near-Death Experience, passim entwickelte Skala, welche durch sechzehn Fragen unterschiedliche Intensitätsgrade voneinander abhebt: 1. Did time seem to speed up or slow down? 2. Were your thoughts speeded up? 3. Did scenes from your past come back to you? 4. Did you suddenly seem to understand everything? 5. Did you have a feeling of peace or pleasantness? 6. Did you have a feeling of joy? 7. Did you feel a sense of harmony or unity with the universe? 8. Did you see, or feel surrounded by, a brilliant light? 9. Were your senses more vivid than usual? 10. Did you seem to be aware of things going on elsewhere, as if by extrasensory perception? 11. Did scenes from the future come to you? 12. Did you feel separated from your body? 13. Did you seem to enter some other, unearthly world? 14. Did you seem to encounter a mystical being or presence, or hear an unidentifiable voice? 15. Did you see deceased or religious spirits? 16. Did you come to a border or point of no return?
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
Zusammenhang von Meditationspraktiken, schamanistische Vorstellungen, Erfahrungen infolge von Drogenkonsum etc. Speziell in Bezug auf das Leitthema der vorliegenden Studie ist zu betonen, dass ‚Transzendenzerfahrungen‘ auch Gegenstand historisch-kritischer Exegese sein können. Dies gilt vor allem für jene Traditionen, die gemäß ihrer literarischen Gestaltung für sich in Anspruch nehmen, auf eine besondere, vorfindliche Weltwahrnehmungen übersteigende Erfahrung zurückzugehen, also z. B. eine Vielzahl jener Traditionen, die der frühjüdischen oder frühchristlichen Apokalyptik zuzuordnen sind und die bereits für sich genommen völlig konträre eschatologische Erwartungen und Welt- bzw. Menschenbilder propagieren können22. Im Sinne einer um Neutralität bemühten historischen Deskription steht dabei zunächst nicht die Frage im Vordergrund des Interesses, wie dieser Wahrheitsanspruch zu beurteilen ist (zu entsprechenden deskriptiven Positionen gegenüber Nahtoderfahrungen vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 4.2).
Ein Beispiel einer Studie, die mit einer solchen weit gefassten Terminologie arbeitet, ist die Monographie des Ethnologen Hans Peter Duerr, ‚Die Dunkle Seite der Seele: Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen‘23. In diesem Werk werden völlig unterschiedliche Erfahrungen dokumentiert, welche Hans Peter Duerr u. a. unter dem Leitbegriff Nahtoderfahrungen subsumiert24. Die Differenzierung zwischen ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ und ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘ kann an den methodischen Prämissen von Jeffrey Long und Hubert Knoblauch erläutert werden. Definitionsansätze im Sinne von Jeffrey Long beziehen sich auf Erfahrungen, die ‚im engeren Sinne‘ in medizinischen Notsituationen stattgefunden haben25. In der von Jeffrey Long und seinen Mitarbeitern durchgeführten Near-Death Experience Research Foundation Study wurden vor allem solche Fälle berücksichtigt, bei denen die medizinische Notlage dokumentiert bzw. nachweisbar war. Der Grad der Todesnähe wurde dabei anhand des Karnofsky-Index erfasst, der in unter22 Zur Definition dieser Begriffe exegetischer Beschreibungssprache vgl. F. Hahn, Apokalyptik, 2 ff. 23 Vgl. H. P. Duerr, Seele, passim. 24 Zu diesem Phänomen passt es, dass Hans Peter Duerr keine Definition des Begriffs Nahtoderfahrungen formuliert, die in seinem Werk konsequent adaptiert und durchgeführt wird (kritisch hierzu ferner Kapitel 2; Anm. 34). 25 J. Long, Evidence, 5. Dabei gilt es zu beachten, dass der Titel der deutschen Übersetzung (Beweise für ein Leben nach dem Tod: die umfassende Dokumentation von Nahtoderfahrungen aus der ganze Welt, München 2010) weniger wissenschaftlich formuliert ist als der amerikanische Originaltitel, bei dem der Begriff ‚evidence‘ eher im Sinne von ‚Indizien‘ und nicht im Sinne von ‚proof ‘ (Beweis) konnotiert ist.
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schiedlichen Modifikationen bis heute international zur Profilierung medizinischer Notsituationen verwendet werden kann26. Demgegenüber beziehen ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘ auch solche Erfahrungen ein, in denen die Betroffenen subjektiv für sich wahrgenommen haben, in Todesnähe zu sein. Eine solche empirische Erhebung wurde in Deutschland im Jahre 1997 unter Leitung des Soziologen Hubert Knoblauch durchgeführt27. Dies führt dazu, dass die erstmals 1999 veröffentlichten Ergebnisse dieser Studie auch subjektive Erfahrungen berücksichtigen, die im Sinne von Jeffrey Long keine Nahtoderfahrungen sind28. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung sollen mit der vorliegenden Studie zwei weitere Begriffe in die Diskussion eingeführt werden. Der Begriff ‚Transformationserfahrung‘ nimmt einen Gedanken von William James auf, einem der Gründerväter der Religionspsychologie29. William James zufolge gilt es nicht nur zu beachten, welche subjektiven Erfahrungen Menschen für sich in Anspruch nehmen. Entscheidend sei, welche Konsequenzen sie für deren weiteres Leben haben. Es geht also um die Frage, ob und in welcher Weise sich eine Existenz nach einer Erfahrung transformiert30. Solche Transformationen können wiederum sehr unterschiedliche positive und negative Konsequenzen haben31. Angesichts dessen wird mit dem fünften Begriff auf einen speziellen Anspruch Bezug genommen. Es geht um das Phänomen, dass Menschen ihr Leben transformieren, weil sie subjektiv für sich in Anspruch nehmen, eine ‚göttliche Liebe‘ erfahren zu haben. Die Bezeichnung ‚göttliche Liebe‘ bezieht sich dabei nicht 26 Vgl. D. A. Karnofsky/J. H. Burchenal, Evaluation, 196. 27 Zur Struktur der Erhebung und Auswertung von 2044 individuellen Erfahrungsberichten vgl. I. Schmied/H. Knoblauch/B. Schnettler, Todesnäheerfahrungen, 217–250; H. Knoblauch, Berichte, 203 ff. 28 Eine weitere Möglichkeit einer Differenzierung der Todesnähe kann von einem Konzept ausgehend entfaltet werden, welches von S. Peng-Keller, Todesnähe, 8–64 im Kontext einer Begleitung entsprechender Erfahrungen im Zusammenhang von Seelsorge bzw. Spiritual Care entwickelt wurde. Demnach wäre zu unterscheiden zwischen dem Bereich ‚Visionäres Erleben im Sterbeprozess‘, dem Unterkategorien wie ‚Traumvisionen‘, ‚Wachvision‘ oder ‚Sterbebettvisionen‘ zugeordnet werden können, und dem Bereich ‚Visionäres Erleben in episodischer Todesnähe‘, dem ‚Nahtoderfahrungen‘ und ‚Oneiroides Erleben‘ zuzuordnen wären. 29 Vgl. W. James, Erfahrung, 209 ff. bzw. 234 ff. Zur Wirkungsgeschichte dieser Konzeption vgl. F. Krämer, Wirklichkeit, passim. 30 Dabei gilt es in Bezug auf die folgenden Auseinandersetzungen mit der Geschichte des frühen Christentums zu beachten, dass William James zufolge für religiöse Transformationserfahrungen „das berühmteste Beispiel der heilige Paulus“ ist (W. James, Erfahrung, 234). 31 Wenn z. B. eine Person nach einem durch Drogenkonsum ausgelösten ‚Horrortrip‘ alltägliche Herausforderungen nicht mehr bewältigen kann oder sogar dauerhaft stationär behandelt werden muss, so ist dies sicherlich eine negative Transformationserfahrung (vgl. E. GouzoulisMayfrank, Komorbität, 64 bzw. 87). Zu entsprechenden Phänomenen im Zusammenhang mit posttraumatischen Belastungsstörungen vgl. A. Haase/M. Schützwohl, Diagnostik, 102 f. bzw. A. Hoffmann/G. Flatten/T. Siol/E. R. Pertold, Versorgung, 143 ff.
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auf ein spezielles Gottesverständnis eines historisch gewachsenen religiösen Systems. Sie soll lediglich dem Selbstanspruch vieler Nahtoderfahrener gerecht werden, eine Dimension von Liebe erfahren zu haben, die menschliche Dimensionen kategorisch übersteigt. Die zuletzt genannten Begriffe – Transformationserfahrungen infolge von Erfahrungen göttlicher Liebe – sind in ihrer wechselseitigen Bezogenheit der Fokus der vorliegenden Studie. Durch diese Konzentration auf spezifische Erfahrungsmuster soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es sehr unterschiedliche Formen von Nahtoderfahrungen geben kann32, die zuweilen auch als negative Erfahrungen gewertet werden33. Letztere bilden jedoch nicht den Bezugspunkt der folgenden Ausführungen34. Des Weiteren gilt es sich einen Aspekt zu vergegenwärtigen, der für die vorliegende Studie von hoher Relevanz ist: Transformationserfahrungen infolge von Erfahrungen göttlicher Liebe können nämlich in allen Kontexten auftreten, die mit den drei ersten Teilbegriffen bezeichnet werden, also im Kontext von ‚Transzendenzerfahrungen‘, ‚Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne‘ und ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘. Da solche Erfahrungen somit auch in Lebenssituationen gemacht werden können, bei denen keinerlei Lebensgefahr besteht, ist m. E. der Begriff Nahtoderfahrungen unpräzise35. Ebenso gilt es zu beachten, dass viele Menschen Erfahrungen in der Nähe des Todes machen, ohne dass dabei jene Erfahrungsmuster auftreten, die gemeinhin mit dem Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden. Mit anderen Worten: Der Begriff ‚Nahtod32 Zur Diversität potentieller Erfahrungen bzw. Erfahrungsmuster in Todesnähe vgl. H. Knoblauch, Berichte, 20 ff. 33 Speziell zu negativen Nahtoderfahrungen vgl. u. a. M. Schröter-Kunhardt, Negative Nah-Todeserfahrungen, 195–246; B. Rommer, Segen, passim. 34 Entsprechende Diskrepanzen des Sprachgebrauchs lassen sich an vielen weiteren Studien dokumentieren. So beziehen sich z. B. die von O. Blanke/S. Ortigue/T. Landis, Body Perceptions, passim konzipierten Versuche künstlicher Stimulationen vor allem auf autoskopische bzw. heautoskopische Phänomene, deren Beurteilungen dann auf andere Teilaspekte von Nahtoderfahrungen übertragen wurden. Eine besondere Vielfalt zuweilen völlig konträrer Erfahrungen bzw. Erfahrungsmuster begegnet im Werk des Ethnologen Hans Peter Duerr (H. P. Duerr, Seele, passim), der keine Definition des Begriffs Nahtoderfahrungen formuliert. Dies gilt auch für jene Transzendenzerfahrungen, die Hans Peter Duerr für sich selbst in Anspruch nimmt (vgl. op. cit., 9 f. bzw. 89 f.). Die autobiographischen Beschreibungen derselben lassen erkennen, dass sie zum thematischen Fokus der vorliegenden Studie keinen Bezugspunkt bieten. Gleiches gilt für die abschließenden „Bemerkungen zur Hoffnung auf Unsterblichkeit“ (op. cit., 407 f.), in denen Duerr u. a. seine Sorge benennt, dass ein „ewiges Leben … endlose Langeweile“ (op. cit., 407) bescheren könnte. Dies dokumentiert ein Denken in Kategorien von Raum und Zeit, welche mit den im Folgenden skizzierten ‚Transformationserfahrungen infolge von Erfahrungen göttlicher Liebe‘ nicht vermittelbar sind. 35 Dieser Sachverhalt inspiriert C. C. French/A. Stone, Psychology, 112, die eigentlich eine reduktiv-materialistische Deutung von Nahtoderfahrungen propagieren (vgl. Kapitel 2; Anm. 13), zu einer bemerkenswerten Einschätzung: „So perhaps all of these explanations should be regarded as somewhat speculative for the moment.“
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erfahrungen‘ ist nicht nur unpräzise, sondern er ist zuweilen irreführend bzw. schlicht falsch36. Aber es ist nur schwer möglich, einen Begriff zu modifizieren, der in den entsprechenden Diskursen seit Jahrzehnten verwendet wird. Aus diesem Grund wird der Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ auch in der vorliegenden Studie verwendet, wobei jedoch stets die Differenzierung der skizzierten fünf Teilbegriffe berücksichtigt werden muss. Die zuvor erläuterten Aspekte sind ferner von Relevanz für eine Frage, die in den unterschiedlichen empirischen Erhebungen zu Nahtoderfahrungen immer wieder kontrovers diskutiert wird, nämlich die Frage der Einheitlichkeit bzw. Diversität der berichteten Erfahrungen. Auch in diesem Zusammenhang muss wiederum ein Desiderat gegenwärtiger Diskussionen benannt werden, dessen Aufarbeitung weiteren Forschungen obliegt. Sowohl in Bezug auf die bereits vorliegenden empirischen Erhebungen als auch in Bezug auf zukünftige Studien gilt es nämlich zu analysieren, welche Strukturen einer Selektion und Kategorisierung der betrachteten Erfahrungsberichte beachtet wurden. Erst vor dem Hintergrund solcher Analysen wird präziser diskutiert werden können, ob z. B. Nahtoderfahrungen im engeren Sinne „im Kern auf der ganzen Welt gleich“37 sind, oder ob auch für diese Kategorien gilt, dass sie von der jeweiligen kulturellen Prägung bestimmt sind und inhaltlich-sachlich markante Differenzen aufweisen können38. Diese Problematik korrespondiert wiederum mit der Frage, ob die Differenzen im Bereich der Erfahrungen selbst bestehen oder ob sie erst durch die Versprachlichungen und Deutungen der Erfahrungen entstehen. Um diesen Sachverhalt genauer erläutern zu können, sollen im Folgenden die Thesen repräsentativer Studien dargelegt werden, welche primär zur Kategorie ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ gerechnet werden können. 2.3 Charakteristika und Teilaspekte von ,Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ Warum sich an Nahtoderfahrungen massive wissenschaftliche Kontroversen entzünden können, ist an den Definitionsansätzen selbst noch nicht angemessen zu erkennen. Diesbezüglich gilt es auch die Deskriptionen jener Erfahrungen einzubeziehen, die im Zusammenhang der jeweiligen Studien herausgearbeitet 36 Dies tritt noch deutlicher zutage, wenn man folgenden Gedanken ernst nimmt, der von einem Nahtoderfahrenen stellvertretend für viele Menschen mit vergleichbaren Erfahrungsmustern paradigmatisch formuliert wurde: „Es ist weniger ein Nah-Todeserlebnis, es ist vielmehr eine äußerst intensive Lebenserfahrung, wo immer dieses Leben auch stattfinden mag …“ (vgl. A. Serwaty, Grenzerfahrung, 15). 37 So J. Long, Leben, 221. 38 So H. Knoblauch, Berichte, 20 ff.
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
wurden. Im Folgenden sollen exemplarisch die Erträge von vier Studien skizziert werden, welche für die Anfänge und die jüngere Gegenwart der Nahtodforschung repräsentativ sind und die dem Spektrum von ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ zugeordnet werden können39, nämlich die Erträge der Studien von Raymond Moody (aus dem Jahr 1975), Pim van Lommel (aus dem Jahr 2007), Jeffrey Long (aus dem Jahr 2010) und Penny Sartori (aus dem Jahr 2014). Diese Studien dokumentieren wichtige Aspekte der Forschungsgeschichte, vor allem in Bezug auf die Differenzen der methodischen Ansätze. Die in den Jahren 1969–1975 durchgeführte Recherche des US-amerikanischen Psychiaters Raymond Moody basiert noch auf einer verhältnismäßig kleinen Auswahl von ca. 150 Erfahrungsberichten, die aus einem kulturell relativ homogenen Kontext stammen40. Dabei hat Moody in jener Klinik, in welcher er als Medizinstudent arbeitete, über einen Zeitraum von ca. fünf Jahren eine Vielzahl von Menschen befragt, bei denen er es für möglich hielt, dass sie entsprechende Erfahrungen gemacht haben könnten. Demgegenüber kann die 1986 bzw. 1988 begonnene Studie des niederländischen Kardiologen Pim van Lommel als eine „prospektive Studie“41 bezeichnet werden, insofern Patienten, die einen Herzinfarkt überlebt hatten und deren medizinische Notsituationen detailliert dokumentiert wurden, gezielt zu etwaigen Erfahrungen befragt wurden. Dabei wurde deutlicher als bei der Studie von Moody auch analysiert, welche sozial-kulturellen bzw. religiösen Prägungen bei den einzelnen Patienten gegeben waren und wie sich deren Lebenssituationen in den Folgejahren jener Erfahrungen entwickelten. Strukturell betrachtet steht die Studie der britischen Intensivmedizinerin Penny Sartori der Studie von Pim van Lommel nahe, insofern wiederum gezielt Personen angesprochen wurden, die aufgrund einer medizinischen Notlage eine Nahtoderfahrung gehabt haben könnten. Die Ergebnisse ihrer im Jahr 1997 begonnenen Studie wurden in Form zweier Monographien publiziert. Während eine erste Veröffentlichung zunächst die Ergebnisse der Recherchen darlegen sollte42, erläuterte Sartori in einem zweiten Beitrag, welche weltanschaulichen Konsequenzen sie aus jenen Ergebnissen zieht43. Einen gänzlich anderen Weg einer empirischen Erhebung beschreitet die Near-Death Experience Research Foundation Study, die von dem US-ameri39 Die Erträge dieser Studien können im Sinne von H. Knoblauch, Berichte, 18 dem Begriff „Standardmodell“ zugeordnet werden. 40 R. A. Moody, Life ‚ passim. 41 Vgl. P. van Lommel, Bewusstsein, 146. Während im Jahre 1986 zunächst lediglich eine Pilotstudie begonnen hatte, wurde die eigentliche prospektive Studie in den Jahren 1988–1992 durchgeführt. 42 Vgl. P. Sartori, Near-Death Experiences, passim. 43 Vgl. P. Sartori, Wisdom, passim.
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kanischen Radiologen und Onkologen Jeffrey Long initiiert wurde und deren erste Ergebnisse seit 2010 veröffentlicht sind. Im Rahmen dieser international agierenden Einrichtung wurde die bisher größte systematische Suche nach Berichten von Nahtoderfahrungen aufgebaut, die kontinuierlich fortgeführt wird44. Obwohl durch die Near-Death Experience Research Foundation bereits Tausende von Nahtoderfahrungen erfasst und dokumentiert wurden, basiert die NDERF-Studie auf lediglich 613 Erfahrungsberichten, bei denen die konkreten medizinischen Notsituationen erfasst und kategorisiert werden konnten45. Ferner gilt es zu beachten, dass Jeffrey Long und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Berichte aus völlig verschiedenen geographischen Regionen, aus völlig verschiedenen kulturellen und sprachlichen Kontexten und vor allem auch aus völlig konträren religiösen Hintergründen berücksichtigt haben46. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Ergebnisse der Studien von Raymond Moody, Pim van Lommel, Penny Sartori und Jeffrey Long markante Ähnlichkeiten aufweisen. Im Rahmen der jeweils ausgewerteten Erfahrungsberichte werden verschiedene Charakteristika und Teilaspekte benannt, die eine ‚Nahtoderfahrung im engeren Sinne‘ prägen können. Diese Teilaspekte treten nicht immer, aber in signifikanter Regelmäßigkeit auf. Auch wenn „(k)eine zwei Nahtoderfahrungen (…) gleich“47 sind, so werden von Moody, van Lommel, Long und Sartori folgende Teilaspekte von Nahtoderfahrungen voneinander differenziert:48 Raymond A. Moody, Life after Life: the investigation of a phenomenon – survival of bodily death, San Francisco 1975 bzw. Ders., Reflections on Life After Life, San Francisco 197848. 1. Das Unaussprechliche der Erfahrung. 2. Ein Gefühl des Friedens und der Ruhe. Der Schmerz ist verschwunden. 3. Die Erkenntnis, tot zu sein. Manchmal ist danach ein Geräusch zu hören. 4. Ein Verlassen des Körpers oder eine außerkörperliche Erfahrung (AKE). Die eigene Reanimation oder Operation wird von einer Position außer- und oberhalb des eigenen Körpers wahrgenommen.
44 Weitere Erträge dieser Projekte wurden inzwischen in der Studie von J. Long, God, passim dokumentiert. 45 Vgl. J. Long, Leben, 16. 46 Dabei gilt es zu beachten, dass für die Near-Death Experience Research Foundation viele zumeist ehrenamtlich arbeitende Übersetzerinnen und Übersetzer mit unterschiedlichsten Sprachkenntnissen tätig sind (vgl. J. Long, Leben, 66 f.). 47 Vgl. J. Long, Leben, 16. 48 Die Skizze der Erträge beider Studien orientiert sich an der von P. van Lommel, Bewusstsein, 37 f. erarbeiteten Kompilation.
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5a: Aufenthalt in einem dunklen Raum. Nur 15 Prozent der Betroffenen empfinden diese Erfahrung als beängstigend. In diesem dunklen Raum entsteht ein kleiner Lichtfleck, zu dem es sie hinzieht. Sie beschreiben dieses Erlebnis als: 5b: Tunnelerlebnis. Sie werden mit hoher Geschwindigkeit zum Licht gezogen. 5c: Etwa 1 bis 2 Prozent der Betroffenen kommen nicht über diesen dunklen Raum hinaus und erleben den Aufenthalt als Furcht einflößende NTE. Dies wird manchmal auch Höllenerlebnis genannt. 6. Wahrnehmung einer außerweltlichen Umgebung, einer wunderschönen Landschaft mit herrlichen Farben, schönen Blumen und manchmal Musik. 7. Begegnung und Kommunikation mit Verstorbenen. 8. Begegnung mit einem strahlenden Licht oder einem Wesen aus Licht. Die Erfahrung vollkommener Akzeptanz und bedingungsloser Liebe. Man tritt mit tiefem Wissen und Weisheit in Kontakt. 9. Lebensschau, Lebenspanorama oder Rückblick auf den Verlauf des Lebens seit der Geburt. Alles wird noch einmal durchlebt. Man überblickt das ganze Leben in einem einzigen Augenblick, es gibt weder Zeit noch Distanz, alles ist gleichzeitig, man kann tagelang über die Lebensschau sprechen, die nur Minuten dauerte. 10. Vorausschau oder „flash forward“. Man hat das Gefühl, einen Teil des Lebens, der erst vor einem liegt, zu überblicken und zu betrachten. Auch hier gibt es weder Zeit noch Distanz. 11. Das Wahrnehmen einer Grenze. Man erkennt, dass nach dem Überschreiten dieser Grenze keine Rückkehr in den eigenen Körper mehr möglich ist. 12. Die bewusste Rückkehr in den Körper. Nach der Rückkehr in den kranken Körper empfindet man tiefe Enttäuschung darüber, dass einem etwas Herrliches genommen wurde.
Pim van Lommel, Endloses Bewusstsein: neue medizinische Fakten zur Nahtod forschung, Düsseldorf 20126, 155 (die niederländische Originalausgabe erschien 2007). 1. Die Erkenntnis, tot zu sein. 2. Positive Gefühle. 3. Außerkörperliche Erfahrung. 4. Bewegung durch einen Tunnel. 5. Kommunikation mit einem Lichtwesen. 6. Farbwahrnehmung. 7. Wahrnehmung einer himmlischen Landschaft. 8. Begegnung mit verstorbenen Freunden und Angehörigen. 9. Lebensrückblick. 10. Wahrnehmung einer Grenze.
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Jeffrey Long, Evidence of the Afterlife. The Sciences of Near-Death Experiences, New York 201049. 1. Außerkörperliche Erfahrung: Lösung des Bewusstseins vom Körper. 2. Schärfere Sinne. 3. Intensive und allgemein positive Gefühle oder Empfindungen. 4. Hineingehen in oder Hindurchgehen durch einen Tunnel. 5. Begegnung mit einem mystischen oder strahlenden Licht. 6. Begegnung mit anderen Wesen, entweder mystischen Wesen oder verstorbenen Verwandten oder Freunden. 7. Das Gefühl, dass Zeit oder Raum sich verändert haben. 8. Lebensrückschau. 9. Eintritt in unirdische („himmlische“) Welten. 10. Begegnung mit oder Erlernen von besonderem Wissen. 11. Auftreffen auf eine Grenze oder Barriere. 12. Freiwillige oder unfreiwillige Rückkehr in den Körper. 4950
Penny Sartori, The Wisdom of Near-Death Experiences, Oxford 201450. 1. Die Betroffenen nehmen Nachrichten über ihren bevorstehenden Tod wahr. 2. Die Betroffenen nehmen spezielle Geräusche wahr. 3. Die Betroffenen erleben eine außerkörperliche Erfahrung. 4. Die Betroffenen nehmen einen Tunnel wahr, der dunkel oder lichterfüllt sein kann. 5. Die Betroffenen erfahren einen Lebensrückblick. 6. Die Betroffenen verfügen über geschärfte Sinne. 7. Die Betroffenen begegnen verstorbenen Angehörigen. 8. Die Betroffenen begegnen einer göttlichen Präsenz bzw. einem Lichtwesen. 9. Die Betroffenen erleben telepathische Kommunikation. 10. Die Betroffenen betreten andere Welten, z. B. wunderschöne Gärten und Landschaften. 11. Die Betroffenen empfinden Gefühle von Frieden, Freude, Ruhe und Schmerzfreiheit. 12. Die Betroffenen nehmen eine Grenze bzw. einen Punkt ohne Wiederkehr wahr. 13. Die Betroffenen haben das Gefühl einer Einheit bzw. Allverbundenheit. 14. Die Betroffenen erfahren, dass sie in ihre bisherige Existenz zurückkehren müssen bzw. zurückgeschickt werden.
49 Zitiert nach der deutschen Übersetzung J. Long, Leben, 17. 50 Zitiert nach der deutschen Übersetzung P. Sartori, Nahtoderfahrungen, 33–35.
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
An den inhaltlich-sachlichen Deskriptionen, welche Nahtoderfahrungen in diesen Studien bekommen, lässt sich leicht erkennen, warum dieses Forschungsfeld massive Kontroversen inspiriert. Vermittelnd kann formuliert werden, dass die betroffenen Personen Erfahrungen für sich in Anspruch nehmen, deren Inhalte über die Erfahrungshorizonte ihres bisherigen Lebens weit hinausgreifen. Wenn man hingegen einräumt, dass Aussagen über bzw. Vorstellungen von Dimensionen jenseits der vorfindlichen Existenz, eines Lebens nach dem körperlichen Tod geschweige denn von göttlichen Entitäten eigentlich Bestandteile religiöser Weltbilder sind, so können Nahtoderfahrungen u. a. auch als religiöse bzw. spirituelle Erfahrungen bezeichnet werden. Entsprechend wird zuweilen sogar postuliert, Nahtoderfahrungen seien Indizien bzw. sogar Beweise für die Unsterblichkeit eines menschlichen Bewusstseins, einer menschlichen Seele oder eine neuzeitliche Form eines Gottesbeweises (ausführlich hierzu vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 4.3). Wie bereits konstatiert wurde, konzentriert sich die vorliegende Studie lediglich auf jene Erfahrungsaspekte, welche als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ und die daraus folgenden ‚Transformationserfahrungen‘ bezeichnet werden. Worin solche Erfahrungen konkret bestehen können, soll im Folgenden erläutert werden.
3. Exemplarische Erfahrungen göttlicher Liebe‘ und daraus folgende Transformationserfahrungen‘ Im Folgenden sollen exemplarische Beschreibungen dokumentiert werden, welche als Beispiele für ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ und daraus folgende ‚Transformationserfahrungen‘ verstanden werden können. Aus einer Vielzahl möglicher Beispiele wurden zwölf Beschreibungen ausgewählt, welche ein breites Spektrum unterschiedlicher Dispositionen der Betroffenen abdecken sollen. Die Autorinnen und Autoren bzw. Interviewpartner(innen) stammen z. B. aus unterschiedlichen religiösen Sozialisationen bzw. kulturellen und geographischen Kontexten, sie weisen unterschiedliche Bildungshintergründe auf und sind bzw. waren in unterschiedlichen beruflichen Feldern tätig. Ebenso wird in Kurzinformationen zu den Personen skizziert, durch welche Ursachen die jeweiligen Erfahrungen ausgelöst wurden. Bei der Lektüre dieser exemplarischen Berichte sollte vor allem auf jene Erfahrungsmuster geachtet werden, welche bei den Vergleichen mit platonischen und frühchristlichen Traditionen besondere Aufmerksamkeit verdienen, z. B. auf Motive bzw. Begriffe wie ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘, ‚Erfahrungen des Göttlich-Schönen‘, Motive einer ‚Einswerdung‘ bzw. ‚Allverbundenheit‘, das Motiv einer ‚(verborgenen) Allwissenheit der Seele‘ bzw.
Exemplarische ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ und ‚Transformationserfahrungen‘
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‚Anamnesisvorstellung‘ und auf die aus den Erfahrungen resultierenden Transformationen (von Lebenseinstellungen, Weltansichten, Glaubenseinstellungen etc.). Beispiel Nr. 1: Beverly Brodsky Zitiert nach: K. Ring/E. Elsaesser-Valarino, Was wir aus Nahtoderfah rungen für das Leben gewinnen. Der Lebensrückblick als ultimatives Lerninstrument (aus dem Amerikanischen von H. F. Tophinke), Goch 2009, 239–242*. Kurzinformationen zur Person: Beverly Brodsky wuchs in einem jüdischen Elternhaus bzw. einem jüdisch geprägten Umfeld auf. Aufgrund einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust verstand sie sich jedoch seit ihrer Jugendzeit als Atheistin. Dies änderte sich nach einer Nahtoderfahrung, welche sie im Jahr 1970 im Alter von 20 Jahren infolge eines Motorradunfalls durchlebte. Aber jetzt richtete sich meine ganze Aufmerksamkeit direkt nach oben, zu einer großen Öffnung, die auf einen runden Korridor zuführte. Obwohl er offenbar sehr lang war, schien von der anderen Seite ein weißes Licht hindurch und ergoss sich in das Dunkel auf der Seite mit der Öffnung. Es war das hellste Licht, das ich je gesehen hatte, obwohl ich nicht erkennen konnte, wie viel von seinem Glanz verdeckt war. (…) Dann reiste ich eine große Entfernung nach oben auf das Licht zu. Ich glaube, ich kam sehr schnell voran, aber dies alles schien außerhalb der Zeit zu sein. Schließlich gelangte ich an mein Ziel. (…) Aber ich war nicht allein. Dort, vor mir, war die lebendige Präsenz des Lichts. In ihm spürte ich eine alles durchdringende Intelligenz, Weisheit, Mitgefühl, Liebe und Wahrheit. Dieses vollkommene Wesen hatte weder eine Gestalt noch ein Geschlecht. Es – im Folgenden werde ich in Übereinstimmung mit unserer allgemeinen Syntax von ihm sprechen – enthielt alles, so wie weißes Licht alle Farben des Regenbogens enthält, wenn es durch ein Prisma fällt. Und tief in meinem Inneren formte sich sofort eine wundersame Erkenntnis: Ich, ja ich, stand vor Gott. Ich bestürmte ihn sofort mit sämtlichen Fragen, die ich immer mit mir herumgetragen hatte; mit all den Ungerechtigkeiten, die ich in der physischen Welt gesehen hatte. Ich weiß nicht, ob ich das absichtlich tat, aber ich entdeckte, dass Gott alle Gedanken sofort weiß und telepathisch darauf antwortet. Mein Geist lag bloß; ja, ich wurde zu reinem Geist. Der ätherische Körper, in dem ich durch
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den Tunnel gekommen war, schien nicht mehr da zu sein; es war nur meine Intelligenz, die diesem universalen Geist gegenüberstand, welcher sich in ein prächtiges lebendiges Licht hüllte, das man mehr fühlen als sehen konnte, weil kein Auge in der Lage war, seine Herrlichkeit in sich aufzunehmen. Ich kann mich nicht an den genauen Wortlaut unseres Gesprächs erinnern; ich konnte die Einsichten, die mir im Himmel so klar und vollständig kamen, nicht über den ganzen Prozess meiner Rückkehr zur Erde mitnehmen. Aber ich bin sicher, dass ich die Frage stellte, die mich seit meiner Kindheit gequält hatte, die Frage zu den Leiden meines Volkes. Ich erinnere mich an dies: dass es einen Grund für alles gibt, was geschieht, auch wenn es in der physischen Welt noch so schrecklich erscheint. Und als ich die Antwort erhielt, reagierte in meinem Inneren mein erwachender Geist nun auf dieselbe Art und Weise: „Natürlich“, dachte ich, „das weiß ich bereits. Wie habe ich es nur vergessen können!“ Es scheint in der Tat so zu sein, dass nichts ohne Grund geschieht und unser ewiges Selbst den Grund bereits weiß. Mit der Zeit hörten die Fragen auf, denn plötzlich war ich erfüllt von der Weisheit des Wesens. Ich erhielt mehr als nur die Antworten auf meine Fragen; alles Wissen entfaltete sich vor mir wie das gleichzeitige, plötzliche Aufblühen einer unendlichen Zahl von Blumen. Ich war erfüllt vom Wissen Gottes, und in diesem kostbaren Aspekt seiner Wesenheit war ich eins mit ihm. (…) Alles verblasste, bis auf eine volle, reiche Leere, in der er und ich alles, was ist, umfassten. Hier erfuhr ich in unbeschreiblicher Herrlichkeit die Gemeinschaft mit dem Lichtwesen. Nun war ich nicht nur von allem Wissen erfüllt, sondern auch mit aller Liebe. Es war, als würde sich das Licht in mich und durch mich ergießen. Ich war Gottes Objekt der Anbetung; und seine/unsere Liebe schenkte mir Leben und Freude jenseits aller Vorstellung. Mein Wesen wurde verwandelt; meine Verblendungen, Sünden und Schuld wurden vergeben und geläutert, ohne dass ich darum bat: Nun war ich Liebe, ursprüngliches Sein und Glückseligkeit. Und in einem gewissen Sinn bleibe ich dort auf ewig. Eine solche Vereinigung kann nicht mehr gelöst werden. Sie war immer, ist immer und wird immer sein. Plötzlich und ohne zu wissen weshalb oder wie kehrte ich wieder in meinen zerschundenen Körper zurück. Aber wundersamerweise brachte ich die Liebe und Freude mit zurück. Ich war erfüllt von einer Ekstase, die jedes vorstellbare Maß überstieg. Hier, in meinem Körper, war jeglicher Schmerz verschwunden. Ich war noch immer wie verzaubert von einem grenzenlosen Entzücken. Und dieser Zustand hielt die nächsten beiden Monate an; der Schmerz konnte mir nichts anhaben. (…) Ich fühlte mich wie neugeboren. Überall sah ich
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wundersame Zeichen und Bedeutungen; alles war lebendig, voller Energie und Intelligenz. (…) Obwohl meine himmlische Reise nun schon 20 Jahre zurückliegt, habe ich sie nie vergessen. Ebenso wenig habe ich, Spott und Unglauben zum Trotz, jemals ihre Realität angezweifelt. Kein Traum und keine Halluzination hätte so intensiv sein können, dass mein ganzes Leben dadurch radikal verändert worden wäre. Ganz im Gegenteil, heute sehe ich mein restliches Leben als eine flüchtige Phantasie an, einen kurzen Traum, der enden wird, wenn ich in der ewigen Präsenz dieses Spenders von Leben und Segen wieder erwache. Denen, die in Trauer oder Angst leben, kann ich versichern: Es gibt keinen Tod, und die Liebe endet niemals. Und denkt auch daran, dass wir Aspekte des einen vollkommenen Ganzen sind und als solche Gott und einander angehören. Eines Tages werden Sie, der Leser dieser Zeilen, und ich im Licht und in Liebe und unendlicher Glückseligkeit zusammen sein.
Beispiel Nr. 2: Nancy Clark Zitiert nach: K. Ring, Den Tod erfahren – Das Leben gewinnen, Bern/München 1985, 240–245*. Kurzinformation zur Person: Der folgende Erfahrungsbericht hebt sich von den anderen ausgewählten Beispielen ab, insofern es sich um eine Erfahrung handelt, die sich völlig unabhängig von einer subjektiv wahrgenommenen bzw. objektiv dokumentierten Todesnähe vollzogen haben soll. Nancy Clark, die als Zellbiologin im Bereich der Onkologie tätig war, nimmt für sich in Anspruch, am 29. Januar 1979 während einer von ihr selbst gehaltenen Ansprache bei der Beerdigung eines Freundes eine Erfahrung gemacht zu haben, die einer „Erfahrung göttlicher Liebe“ und einer damit einhergehenden „Transformationserfahrung“ weitestgehend entspricht. Sie hebt hervor, dass sie „zu dem Zeitpunkt völlig gesund war, keine Medikamente nahm und sich auch nicht in Trance oder einem vergleichbaren außergewöhnlichen Geisteszustand befand“ (op. cit., 245). Ebd., 240–243: Anmerkung E.E.P.: In dem Erfahrungsbericht werden zunächst die individuellen Folgen für die weitere Lebensgestaltung von Nancy Clark geschildert. Die Hervorhebungen entsprechen der Vorlage: Wie hat sich diese Erfahrung auf mein Leben ausgewirkt? Ich wurde schlagartig zu einem völlig neuen Menschen, der sich auszeichnete durch:
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Liebe: Für alles und jenes, womit ich in Kontakt komme, empfinde ich eine tiefe Liebe – ich fühle mich eins mit ihm und spüre, daß wir alle ein Teil voneinander sind und schließlich Teil eines größeren Bewußtseins – Gott. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich mir der Dinge um mich herum wirklich bewußt, meine Augen haben sich geöffnet, um endlich zu sehen: Die einfachsten Dinge, ein Blatt, ein Baum, ein Grashalm, ein Frosch – alles ist für mich ein Wunder der Schöpfung, ich lasse mir Zeit, es zu bewundern, denn ich fühle das Band des Lebens zwischen uns. Erhöhte Spiritualität: Ich habe das Gefühl, mich auf einer höheren geistigen Ebene zu befinden. So bin ich zum Beispiel früher nie in die Kirche gegangen und habe mich um religiöse Dinge nicht gekümmert. Nach der Erfahrung bin ich einer Kirche beigetreten, und ich interessiere mich jetzt sehr für die Bibel und dergleichen. Allerdings – das möchte ich betonen – besteht zwischen Religion und Spiritualität ein großer Unterschied. Es kommt mir so vor, als sei ich über die „Religion“ bereits „hinausgewachsen“. Damit meine ich, daß die Religion sozusagen nur ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck ist, mit dessen Hilfe man eine höhere Ebene der Spiritualität erreicht. Meiner Erfahrung nach vernachlässigen die organisierten Religionen oft diese höhere Ebene der Spiritualität, indem sie sich zu sehr auf kleinliche Vorschriften, Lehrsätze und interkonfessionelle Konflikte konzentrieren. Trotzdem glaube ich, daß die Religion – alle Religionen – eine wichtige Rolle spielt bei der geistigen „Versorgung“ der Menschen. Ich selbst habe mein Abschlußexamen in Sachen „Religion“ bereits gemacht, das spüre ich, obwohl ich nicht alle biblischen Lehren begriffen habe. Das Wissen fließt einfach durch mein Bewußtsein, und ich kann erkennen, was wahr ist und was nicht. Vor der Erfahrung habe ich nichts dergleichen gefühlt. Ein besseres Selbst-Bild: Vor meiner Erfahrung war ich – wie wohl die meisten Menschen – mit meinem Selbstbild nicht besonders zufrieden. Aber nun habe ich wirklich erfahren, wieviel ich wert bin und wie sehr Gott – das Licht – mich liebt, und tagtäglich werde ich daran erinnert. Oft denke ich: „Wenn Er so viel von mir hält (wie mir an jenem Januartag klar wurde), dann muß ich ein wertvoller Mensch sein, egal wie negativ ich selbst über mich urteile.“ Da gibt es kein Wenn und Aber. Sehen Sie, all meinen Fehlern zum Trotz hat Er beschlossen, mir diese Erfahrung zuteil werden zu lassen, die mein ganzes Leben verändert hat. Nicht weil ich es verdient oder gar selbst in die Wege geleitet hätte, sondern aus irgendeinem unbekannten Grund bin ich in Seinen Augen etwas wert. Und seitdem ich davon überzeugt bin, ist auch mein Selbstgefühl gestiegen.
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Fehlende Todesangst: Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. Vor dem Sterben, ja, denn ich kann mir vorstellen, daß es mit Schmerzen und Leid verbunden ist. Aber den Tod selbst fürchte ich nicht. Tatsächlich, so merkwürdig das auch klingen mag – ich freue mich sogar auf den Tod, denn ich weiß, daß ich mit dem Licht, mit Gott, wiedervereint werde und daß es nichts auf dieser Welt gibt – Reichtum, Ruhm, Macht oder sogar das Leben selbst –, das ich mir mehr wünschen würde, als wieder mit Ihm vereint zu sein. Wissbegier: Ich habe in mir den großen Wunsch entdeckt, mich mit spirituellen Dingen zu befassen (der Bibel und anderen Weisheitslehren) und auch mit paranormalen Phänomenen. Ich lese und versuche, so viel wie möglich zu lernen. Ich weiß nicht, aber ich habe irgendwie das Gefühl, mich auf etwas Größeres vorzubereiten. Wissen scheint sehr, sehr wichtig zu sein, ich fühle mich geradezu gedrängt zu lernen und meine seit der Erfahrung gesteigerten psychischen Fähigkeiten einzusetzen. Hilfsbereitschaft: Das wichtigste Ziel in meinem Leben ist nun, meine Erfahrung auf eine positive, sinnvolle Weise zu nutzen, um anderen zu helfen. Mein größtes Problem ist, herauszufinden, wie ich das am besten bewerkstellige. Ich hoffe, mich mit jemandem zusammentun zu können, der mich berät und mir hilft. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, daß ich meine Mission auf dieser Erde erfüllen werde. Ich glaube fest, daß diese Erfahrung mir geschenkt wurde, um sie mit anderen zu teilen. Ich werde einen wichtigen Beitrag leisten zur Erforschung des Lebens nach dem Tod, egal wie skeptisch mir einzelne begegnen sollten. Diese Arbeit ist für mich persönlich von viel zu großer Bedeutung, um auch nur im Geringsten in Frage gestellt zu werden. Ich bin allein durch die Dankbarkeit motiviert, die ich empfinde, weil ich diese Erfahrung machen durfte. Dafür, daß man mich einen Blick hinter den Vorhang des gegenwärtigen Lebens werfen ließ, schulde ich es meinen Mitmenschen, diese große Wahrheit mit ihnen zu teilen. Wenn ich schließlich in die nächste Welt überwechseln und Ihm wiederbegegnen werde, möchte ich sagen können: „Herr, für das kostbare Geschenk, das du mir gemacht hast, als ich noch auf der Erde lebte, habe ich mich bemüht, so gut es ging, für dich zu wirken. Das ist mein Geschenk an dich“. Ebd., S. 244/245: Anmerkung E.E.P.: Nach der Beschreibung der individuellen Auswirkungen, welche die weitere Lebensgestaltung von Nancy Clark prägten, folgt der Bericht über die eigentliche Erfahrung. Dabei sei nochmals hervorgehoben, dass es sich um eine Erfahrung handelt, die sich völ-
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lig unabhängig von einer subjektiv wahrgenommenen bzw. objektiv dokumentierten Todesnähe vollzogen haben soll: Ich hatte vielleicht gerade drei Sätze gesagt, als ich plötzlich ein gleißend helles, weißes Licht sah, das von links hinten unter der Decke der Kapelle erschien. Ich sah dieses Licht nicht mit meinen Augen, sondern vielmehr auf irgendeine andere, unerklärliche Weise. Es war mehr eine Art „inneres Bewußtsein“. Es läßt sich einfach nicht beschreiben. Als ich dieses Licht „sah“, wußte ich sofort: Das ist Gott. Ich spürte, daß mein Schöpfer da war; es war ein sehr erregendes, spirituelles Gefühl. Ich kann nicht erklären, woher ich es wußte oder wie ich die Gegenwart Gottes erkannte. Ich kann nur sagen, daß mir dieses Wissen übermittelt wurde, daß es direkt in mein Bewußtsein gepflanzt wurde. Mit anderen Worten, ich erhielt die Information, die ich erhalten sollte. Das Licht hüllte mich völlig ein – es war, als sei ich völlig eins mit dem Licht, als „gehörte“ ich „zu ihm“. Ich hatte das Gefühl, „zu Hause“ zu sein – ganz real und wahr. Die Liebe, die von dem Licht ausging, ist wohl der Aspekt meiner Erfahrung, der sich am schwersten mitteilen läßt. Ich fühle mich einfach unfähig, Worte zu finden für diese Liebe. Nicht etwa, weil ich nicht „gebildet“ genug wäre, sondern einfach deshalb, weil meine Möglichkeiten als Mensch begrenzt sind! Es war keine Liebe, die irgendwie in den Bereich menschlicher Erfahrung fiel. Daher verschließt sie sich auch menschlicher Erklärungsversuche. Ich kann nur sagen, daß ich durch diese Liebe, die auf mich übertragen wurde, fähig bin, zuversichtlich auf dem Weg des Lebens weiterzugehen, mit dem Wissen, eine große Wahrheit erfahren zu haben. Ich wollte für immer in der Nähe dieses Lichts sein! Ich hatte das Gefühl, mich in einem Zustand der Gnade zu befinden. Ich war bar aller Sünden und fühlte mich völlig frei. Wenn mich in diesem Augenblick jemand gefragt hätte, ob ich bei diesem Licht bleiben und mein irdisches Leben hinter mir lassen wolle, dann hätte ich keinen Augenblick gezögert und ja gesagt. Nicht, weil das irdische Leben mir mißfiel, sondern vielmehr, weil dieses Licht so unglaublich schön war.
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Beispiel Nr. 3: Brad Burrows Zitiert nach: K. Ring/S. Cooper, Wenn Blinde sehen – Mindsight: Nahtoderfahrungen bei Blinden, Goch 2011, 40–44*. Kurzinformation zur Person: Brad Burrows erlebte eine Nahtoderfahrung im Jahre 1968. Das besondere an diesem Beispiel besteht in dem Phänomen, dass er blind geboren wurde. In Bezug auf sein Sehvermögen konstatiert er: „Meine Augen haben sich nicht richtig entwickelt. Ich habe zwar Augen, aber das innere Gewebe ist nur wie zufällig angeordnet. Meine Augen haben noch nicht einmal eine klare Augenfarbe – sie sehen opakweiß aus … (Das Resultat:) ich bin von Geburt an blind. In meinem ganzen Leben hatte ich keine Sehkraft.“ Anmerkung E.E.P.: Brad Burrows nimmt für sich in Anspruch, zu Beginn seiner Erfahrungen sich von seinem Körper gelöst und Personen und Gegenstände in seiner Umgebung wahrgenommen zu haben: Ich habe sie ganz deutlich visuell wahrgenommen. Auf einmal konnte ich sie erkennen und sehen. (…) Ich erinnere mich, dass ich imstande war, ziemlich deutlich zu sehen. Anmerkung E.E.P.: Burrows nimmt ferner für sich in Anspruch, daraufhin einen – auch in anderen Nahtoderfahrungen oftmals erwähnten – Tunnel durchquert zu haben, der ihn zu einem „immensen Feld“ leitete: Ich weiß noch, dass ich irgendwie alles, was um mich herum war, mit meinen Sinnen erfahren und buchstäblich sehen konnte. (…) Auf meinem Weg durch dieses Feld kam ich mir selbst so außer mir vor Freude und so unglaublich erneuert vor, … dass ich gar nicht weg wollte. Dort wo ich war, wollte ich niemals mehr weg. Ich kann es nur so adäquat beschreiben, dass ich mich dort absolut zuhause fühlte und nie mehr fortgehen wollte (…) Es war so unglaublich friedlich, dass ich keine Ausdrucksweise finde, um das Gefühl wiederzugeben – dieser Friede, diese Ruhe und Stille (…) Das Wetter war perfekt in Bezug auf Temperatur und Luftfeuchtigkeit. So frisch dabei, so unglaublich frisch und belebend, dass die „frische Bergluft“, die wir auf unserer Erde kennen, gar kein Vergleich ist. Absolut prickelnd, wunderbar erfrischend. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich etwas erlebte, wobei mein Wahrnehmungsvermögen über die Sinne hinausging, die mir in meinem Erdenkörper zur Verfügung standen und das mich dieses unglaublich intensive Licht bemerken ließ, das dort herrschte. Es schien aus
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allen Richtungen gleichzeitig zu kommen (…) Es umgab mich ganz und war überall, wohin ich auch sah (…) Das habe ich noch sehr klar in Erinnerung. (…) Es schien alles zu durchdringen. Sogar das Gras, auf dem ich stand, schien dieses Licht einzusaugen. Es schien so als ob das Licht tatsächlich durch alles hindurchscheinen konnte, was da war, auch durch die Blätter und die Bäume. Alles ohne Schatten – es gab keine Notwendigkeit für Schatten. Das Licht war wirklich überall. Und doch wunderte ich mich die ganze Zeit wie es sein konnte, dass ich das alles wahrnahm, denn ich hatte ja noch nie zuvor etwas sehen können. Zuerst war ich stumm vor Staunen. Ich verstand zuerst gar nicht, was für einen Sinneseindruck ich da erlebte. Während ich durch dieses Feld ging, schien ich die Tatsache, sehen zu können, einfach hinzunehmen und bereitwillig zu akzeptieren. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass ich das nicht so einfach hätte verstehen können, wenn es auf der Erde passiert wäre. Doch da, wo ich war, war ich imstande, es fast sofort zu akzeptieren. Anmerkung E.E.P.: Der Erfahrungsbericht von Brad Burrows fokussiert daraufhin Begegnungen mit Menschen, über die er Folgendes sagt: Ich erinnere mich noch, dass ich den Eindruck hatte, als ob all diese Stimmen in einer Sprache zu singen schienen, die ich nicht verstehen konnte – oder vielleicht auch in vielen, vielen unterschiedlichen Sprachen. Die Musik dazu war unvergleichlich mit allem, was ich je auf dieser Erde gehört hatte, auch später nicht. Die Rhythmen waren außerordentlich mitreißend und dabei sehr leicht, sehr angenehm, so ähnlich wie in der New Age Musik. Anmerkung E.E.P.: Eine spezielle Begegnung soll seine Rückkehr in seine vorfindliche Existenz eingeleitet haben: Ich fühlte die Präsenz einer intensiven Liebe, die dieses Wesen umgab. (…) Interessant war, dass er mir kein einziges Wort sagen musste. Es war fast so, als ob er einen Gedanken in mein Denken pflanzte. Dieser Gedanke lief darauf hinaus, dass ich auf die Erde zurückkehren müsse, weil ich für diese Ebene des Seins noch nicht bereit sei.
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Beispiel Nr. 4: Vicki Umipeg Zitiert nach: K. Ring/S. Cooper, Wenn Blinde sehen – Mindsight: Nahtoderfahrungen bei Blinden, Goch 2011, 36–40*. Kurzinformationen zur Person: Vicki Umipeg ist aufgrund von Komplikationen bei ihrer Geburt bereits zu Beginn ihres Lebens erblindet51. Am 2. Februar 1973 wurde sie im Alter von 22 Jahren bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt und erlebte infolgedessen eine Nahtoderfahrung. Anmerkung E.E.P.: Vicki Umipeg nimmt für sich in Anspruch, zu Beginn ihrer Erfahrung sich von ihrem Körper gelöst und denselben von außen erkannt zu haben: Ich wusste, dass ich das war. Ich war damals ziemlich dünn. Ich war auch ziemlich groß. Zuerst erkannte ich nur einen Körper und wusste anfangs noch nicht, dass es mein eigener war. Dann merkte ich, dass ich mich oben an der Decke befand und dachte, „Na, das ist aber ziemlich krass. Was mache ich denn hier oben?“ Und weiter dachte ich mir, „Na, das muss ich ja wohl sein. Bin ich tot? (…).“ Ich sah diesen Körper nur kurz und wusste, dass es meiner war, weil ich nicht drin steckte. Und dann war ich auch schon weg. So schnell ging das. Anmerkung E.E.P.: Umipeg nimmt für sich in Anspruch, daraufhin in einer anderen Dimension anderen Menschen begegnet zu sein: Jeder der dortigen bestand aus Licht. Auch ich. Was das Licht vermittelte, war Liebe. Liebe war überall. Mir war, als ob das Gras Liebe ausströmte, die Vögel, die Bäume. (…) Ich hatte auf einmal das Gefühl, alles zu wissen und alles machte Sinn. Ich wusste auf einmal, dass ich an diesem Ort alle Antworten auf meine Fragen nach dem Leben finden würde, über die Planeten, über Gott und überhaupt alles … Dieser Ort war das Wissen selbst. (…) Ich habe keine Ahnung von Mathematik und wissenschaftlichen Dingen, (…) doch ganz plötzlich verstand ich intuitiv fast alles über Differenzial- und Integralrechnung, und wie die Planeten gemacht waren. Ich weiß wirklich nichts über solche Dinge, (…) doch dort spürte ich, dass es nichts gab, das ich nicht wusste. 51 Vgl. die Transkription des entsprechenden Interviews: Interviewer: „Konnten Sie irgendetwas sehen?“ Vicki Umipeg: „Nichts. Niemals. Kein Licht, kein Schatten. Nichts davon. Zu keiner Zeit.“ Interviewer: „Der Sehnerv ist also auf beiden Augen zerstört?“ Vicki Umipeg: „Ja, und deshalb habe ich auch nie verstanden, was die anderen meinen, wenn sie vom Licht sprechen.“ (op. cit., 34).
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Beispiel Nr. 5: Virginia Rivers Zitiert nach: K. Ring/E. Elsaesser-Valarino, Was wir aus Nahtoderfahrungen für das Leben gewinnen. Der Lebensrückblick als ultimatives Lerninstrument (aus dem Amerikanischen von H. F. Tophinke), Goch 2009, 236–239*. Kurzinformationen zur Person: Virginia Rivers durchlebte eine Nahtoderfahrung aufgrund hohen Fiebers, welches durch eine Lungenentzündung ausgelöst wurde. Genauere Informationen zu ihrer religiösen Sozialisation sind nicht zugänglich. Dann erschien weit von mir, am anderen Ende meines kaleidoskopischen Tunnels, ein winziger Lichtpunkt. Er wurde größer und größer, je näher ich kam, bis ich endlich an meinem Ziel angelangt war. Dort herrschte sofort totale, absolute Bewusstheit. Es gab keine Frage, die ich stellen konnte, auf welche ich nicht bereits die Antwort hatte. Ich schaute hinüber zu der Präsenz, von der ich wusste, dass sie dort sein würde, und dachte: „Gott, es war so einfach, warum habe ich das nur nicht gewusst?“ Ich konnte Gott nicht sehen, so wie ich Sie sehen kann. Aber trotzdem wusste ich, dass er es war. Ein Licht, eine Schönheit, die von innen unendlich in alle Richtungen strahlte und jedes Atom des Daseins berührte. Die Harmonie von Farbe, Form und Melodie hatte hier im Licht ihren Ursprung. Es war Gott, seine Liebe, sein Licht, sein essentielles Wesen, die Kraft der Schöpfung, die bis an die Enden der Ewigkeit ausstrahlte (…) und sich als ein pulsierendes Leuchten der Liebe mir entgegenstreckte, um mich ‚nach Hause‘ zu bringen. Es kam zu einem Austausch, einen Augenblick oder ein ganzes Zeitalter lang, vollständiges und absolutes Wissen und Anerkennung meiner selbst und dessen, was aus mir geworden war. Ich wusste, in diesem Augenblick oder Jahrtausend hatte er mein gesamtes Leben gesehen und liebte mich immer noch endlos, ewig um meiner selbst, um meines Seins willen. Er sagte mir viele Dinge, an die ich mich kaum oder gar nicht mehr erinnern kann. Ich weiß nur noch, dass wir sprachen oder, genauer gesagt, er erleuchtete mich, und ich lernte. (…) Ich weiß von diesem Austausch nur noch zwei Dinge. Erstens, dass Gott mir sagte, es gebe nur zwei Dinge, die wir mitnehmen können, wenn wir sterben (…) Liebe und Wissen (…) Also solle ich über beide soviel wie möglich in Erfahrung bringen. Zweitens sagte mir Gott, ich könne nicht bleiben, weil ich noch etwas zu erledigen habe.
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Beispiel Nr. 6: Eben Alexander Zitiert nach: E. Alexander, Blick in die Ewigkeit: die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen (aus dem Englischen übersetzt von Juliane Molitor), München 2013, 103 ff.* Kurzinformation zur Person: Der US-amerikanische Neurochirurg Eben Alexander ist Autor des autobiographischen Buchs „Proof of Heaven: A Neurosurgeon’s Journey into the Afterlife“, welches seit der Studie von Raymond A. Moody die eventuell größte mediale Aufmerksamkeit zum Themenfeld ‚Nahtoderfahrungen‘ auf sich ziehen konnte. Letzteres ist darin begründet, dass Eben Alexander während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Professor an der Harvard University und als praktizierender Arzt für Neurochirurgie zunächst Deutungen und Erklärungen von Nahtoderfahrungen vertreten hatte, welche dieselben als Halluzination bzw. durch Medikamente induzierte Traumzustände kategorisierten. Inzwischen nimmt er jedoch für sich in Anspruch, im Jahr 2008 selbst eine Nahtoderfahrung durchlebt zu haben, welche seine wissenschaftliche Deutung entsprechender Phänomene grundlegend wandelte. Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Erfahrung betrachtet er es inzwischen als Herausforderung und Aufgabe, seine neue Sicht der Phänomene wissenschaftlich zu begründen und zu kommunizieren. Die massiven Kontroversen, die sich an seinen Thesen und seiner Person entzündeten, belegen einerseits, welche weitreichenden Folgen dieses Themenfeld für die jeweiligen Welt- und Menschenbilder hat. Andererseits dokumentieren sie eindrücklich die bereits angesprochene Problematik, dass eine unsachliche Polemik oft Ausdruck einer mangelnden wissenschaftlichen Diskursfähigkeit ist (ausführlich hierzu vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 4.1). Anmerkung E.E.P.: Die folgenden Zitate konzentrieren sich auf jene Aspekte, die Eben Alexander als die durch jene Erfahrungen gewonnenen Einsichten bezeichnet. Die graphischen Hervorhebungen entsprechen der Vorlage: Die Botschaft bestand aus drei Teilen, und wenn ich sie in eine irdische Sprache übersetzen müsste, würde ich sagen, dass sie in etwa so lauteten: „Du wirst für immer zutiefst geliebt und geschätzt.“ „Du hast nichts zu befürchten.“ „Du kannst nichts falsch machen.“ (…)
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Wenn ich die gesamte Botschaft in einem Satz zusammenfassen müsste, würde er lauten: „Du wirst geliebt“. Und wenn ich ihn auf ein einziges Wort reduzieren müsste, hieße es einfach: „Liebe“. Liebe ist ohne Zweifel die Basis von allem. Keine abstrakte, schwer zu ergründende Art von Liebe, sondern die ganz alltägliche, die jeder kennt: die Liebe, die wir spüren, wenn wir unseren Partner/unsere Partnerin und unsere Kinder oder auch unsere Haustiere anschauen. In ihrer reinsten und mächtigsten Form ist diese Liebe nicht eifersüchtig oder egoistisch, sondern bedingungslos. Sie ist die Realität der Realitäten, die unbegreiflich herrliche Wahrheit der Wahrheiten, die im Kern von allem, was existiert oder je existieren wird, lebt und atmet. Und niemand, der sie nicht kennt, kann ein auch nur annähernd exaktes Verständnis davon erlangen, wer und was wir sind, und dies in entsprechende Taten umsetzen. Keine sonderlich wissenschaftliche Einsicht? Nun, hier bitte ich zu unterscheiden. Ich war an diesem Ort, ich bin von dort zurückgekehrt, und nichts könnte mich davon überzeugen, dass dies nicht nur die wichtigste emotionale Wahrheit im Universum ist, sondern auch die wichtigste wissenschaftliche Wahrheit. (…) Die Wissenschaft – die Wissenschaft, der ich so viel von meinem Leben gewidmet habe – bestreitet das, was ich dort oben gelernt habe, nicht. Doch viel zu viele Menschen tun das, weil gewisse Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinde, die sich einer materialistischen Weltsicht verschrieben haben, behaupten, dass Wissenschaft und Spiritualität nicht koexistieren können.
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Beispiel Nr. 7: Anita Moorjani Zitiert nach: A. Moorjani, Heilung im Licht. Wie ich durch eine Nahtoderfahrung den Krebs besiegte und neu geboren wurde, München 20126, 99–102*. Kurzinformation zur Person: Die folgenden Texte stammen aus der Autobiographie der in Hongkong großgewordenen Inderin Anita Moorjani, die als Hinduistin erzogen wurde. Dieser Fall ist besonders bemerkenswert, weil Anita Moorjani eine Nahtoderfahrung im Jahr 2006 im Endstadium einer langwierigen Krebs-Erkrankung hatte. Unabhängig davon, was man von den Aussagen von Anita Moorjani hält, kann ein Faktum nicht bestritten werden: Nach dieser Erfahrung wurde Moorjani innerhalb weniger Tage von ihrem Krebsleiden geheilt. Dieser medizinische Sonderfall wurde von mehreren Ärzten dokumentiert, die eigens aus verschiedenen Ländern hierfür nach Hongkong gekommen waren. Die veröffentlichten Befunde kommen unabhängig voneinander zu der Einschätzung, dass es sich hierbei um eine spontane Remission handelt, für die es keine schulmedizinische Begründung gibt. Anmerkung E.E.P.: Die folgenden Ausschnitte konzentrieren sich lediglich auf jene Aspekte, die Anita Moorjani als die durch jene Erfahrungen gewonnenen Einsichten bezeichnet: „Warum verstehe ich das alles plötzlich?“, wollte ich wissen. „Wer gibt mir all diese Informationen? Ist es Gott? Ist es Krishna? Buddha? Jesus?“ Und dann wurde ich von der Erkenntnis überwältigt, dass Gott kein Wesen, sondern ein Seinszustand ist (…) und dass ich mich jetzt in diesem Seinszustand befand! (…) Mir wurde bewusst, dass wir alle miteinander verbunden sind. Das betraf nicht nur alle Menschen und jedes lebendige Geschöpf. Vielmehr schien sich diese wechselseitig verwobene Vereinigung nach außen hin auszudehnen und alles im Universum einzuschließen – jeden Menschen, jedes Tier, jede Pflanze, jedes Insekt, jeden Berg, jedes Meer, jeden unbeseelten Gegenstand und den ganzen Kosmos. Ich erkannte, dass das ganze Universum lebendig und von Bewusstsein durchdrungen ist und dass es alles und die gesamte Natur einschließt. Alles gehört zu einem grenzenlosen Ganzen. Ich war auf komplexe Weise und untrennbar mit allem Lebendigen verknüpft. Wir sind alle Facetten dieser Einheit – wir sind alle Eins, und jeder und jede von uns hat eine Auswirkung auf das kollektive Ganze.
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Beispiel Nr. 8: George Alexander Albrecht Zitiert nach: „Das Fenster zum Himmel war offen“, Interview von A. Serwaty mit G. A. Albrecht, in: C. van Kamp (Hg.), Auf einmal dem Himmel ganz nah – Nahtoderfahrungen: Berichte – Zeugnisse – Deutungen, Leipzig 2013, 79–91, 82–84*. Kurzinformation zur Person: George Alexander Albrecht, Bruder des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht und Onkel der derzeitigen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, war u. a. Generalmusikdirektor der Staatsoper Hannover und des Nationaltheaters bzw. der Staatskapelle Weimar. Für die vorliegende Fragestellung ist interessant, dass bereits sein Vater Carl Albrecht, der beruflich als Arzt tätig war, sich intensiv wissenschaftlich mit mystischen Erlebnissen auseinandergesetzt hat und auch selbst entsprechende Erfahrungsdimensionen für sich in Anspruch nahm52. George Alexander Albrecht widerfuhr eine Nahtoderfahrung, als er während eines Konzerts zum Jahreswechsel 2001/2002 einen körperlichen Zusammenbruch erlitt. Anmerkung E.E.P.: Die folgenden Ausschnitte konzentrieren sich auf die Vermittelbarkeit, die Nahtoderfahrungen mit jenen religiösen Weltbildern innewohnt, in denen George Alexander Albrecht sozialisiert wurde Ein unglaubliches Licht. Ich bin immer traurig darüber, dass es keinen Ausdruck für diese Qualität von Licht gibt. Alles, was wir an Licht kennen, von Lampen, von der Sonne, alles ist nichts dagegen. (…) Das Beglückende an diesem Erlebnis ist, dass es nicht im Widerspruch zu meinem Glauben steht. Christus hat gesagt: „Ich bin das Licht.“ Also, was wollen wir mehr. Ich habe ein Leben lang so gelebt, dass so etwas existieren könnte, sich ereignen könnte, und siehe da, es ereignete sich, und das, was ich glaube und praktiziert habe durch jahrzehntelange Übungen durch Meister Eckhart, das hat sich bestätigt. Und so ist es mehr die Krönung gewesen, wie eine Summe der Hoffnungen und Erfahrungen. Natürlich gibt es da einige Reibungspunkte. Der eine ist, was machen die anderen Religionen? Dabei sage ich immer zu meinen Kindern, du kannst den Apfel von unten anstechen, von der Seite oder von der anderen Seite, du kommst immer zum Kern. Also, die Ausschließlichkeit des Heils, da kann man mich nicht überzeugen, dass dies von einer bestimmten
52 Vgl. u. a. C. Albrecht, Wort, passim; ausführlich hierzu S. Peng-Keller, Gottespassion, passim.
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Religion abhängt. Aber die Religionen stehen im Dialog und reden miteinander. Das andere ist die Auferstehung der Toten nach Jahrtausenden oder Jahrhunderten, wenn dann endlich die Posaune erschallt. Das ist auch nur ein Bild. Wer darauf besteht, das wörtlich zu nehmen, der ist für mich kein Gesprächspartner. Wir gehen alle diesen Weg, und zwar in dem Moment des Sterbens, und kommen sofort ans Ziel und nicht erst nach Jahrhunderten, die wir dann auf dem Friedhof warten, bis das Grab sich öffnet. Und ein drittes: Bei Gustav Mahler ist das so, in der zweiten Sinfonie, dass sie alle aufmarschieren vor den Weltenrichter, die Großen und die Kleinen, die Päpste und die Huren und die Verbrecher und die Heiligen, alle marschieren dahin, Millionen Menschen. Und siehe da, die große Überraschung: Es ist kein Gericht, sondern nur die allumfassende Liebe. Und die unglaubliche Güte, die einem aus dem Licht entgegenkommt. Das ist, was uns dann beschämt, das ist eigentlich das Gericht, dass wir so beschämt sind, dass wir das nicht erkannt haben, ein Leben lang: dass das Tiefste, die Existenzfrage der ganzen Welt, der spirituellen wie der dinglichen, die Liebe ist. Das ist der zentrale Punkt. Dass wir diesem Gedanken Unrecht tun, indem wir ihn verletzen, missbrauchen, das ist das Eigentliche, was man Sünde nennen muss. Daran muss man meiner Meinung nach arbeiten, im Diesseits wie im Jenseits. Im Faust II tragen die Engel die Seele, das Unsterbliche, von Faust im „Puppenstand“ empor, verpuppt wie der Schmetterling, und dort entfaltet er seine Flügel zur Seligkeit, zur letzten Reife.
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Beispiel Nr. 9: Natalie Sudman Zitiert nach: N. Sudman, Die Wirklichkeit des Unmöglichen: meine Nahtoderfahrung im Irak, Goch 2015, 69 f. bzw. 73 f. Kurzinformation zur Person: Die Archäologin Natalie Sudman durchlebte eine Nahtoderfahrung infolge eines Bombenattentats, welches sie im Jahr 2007 während ihrer Arbeit als Zivilangestellte der US-amerikanischen Armee im Irak schwer verletzt überlebte. Eine Besonderheit dieses Beispiels besteht darin, dass Sudman infolge jener Erfahrung eine sehr spezielle Form einer Reinkarnationsvorstellung entwickelte. Die Religionen sagen uns, dass wir im Grunde genommen alle Sünder sind – und die Wissenschaft setzt einen drauf, indem sie sagt, wir wären alle im Grunde genommen nur aggressive Überlebenskünstler. Meine eigene Erfahrung auf der Ebene des erweiterten Bewusstseins bestärkt mich jedoch in der Meinung, dass wir alle von Grund auf gut, heilig, kooperativ, kreativ und erstaunlich cool sind. (…) Wir haben unser Konzept der Welt auf der Einstellung aufgebaut, dass Menschen von Grund auf mit Fehlern behaftet sind, und diese Einstellung hat nicht dazu beigetragen, dass wir uns in einer besonders attraktiven Welt wiederfinden: Es herrschen Wettbewerb, Konkurrenzdenken, Gier, Armut, Kriege, Gewalt, Hass und Furcht. Immerhin hat sie uns auch einen Spiegel in die Hand gegeben – und wir sehen eine Welt, die unsere kollektiven Grundeinstellungen und Ängste widerspiegelt. Eine physische Welt in einem Zustand erweiterten Bewusstseins könnte jedoch Einstellungen möglich machen, die von gegenseitigem Respekt für uns selbst und alle anderen Wesen geprägt sind und damit eine natürliche Harmonie gegenseitiger Kreativität in dieser physischen Welt manifestieren. Doch auch wenn noch Zeit vergeht, bis dieser Zustand des Gewahrseins erreicht sein wird, so ist das, was wir zur Zeit erleben, individuell und als Kollektiv, immer noch ein Ausdruck unseres Selbst in seiner Ganzheit, in seiner Ganzheit ist dieses Leben die Chance für Kreativität – und auch von gewissem Unterhaltungswert. Mein Selbst hat diesen physischen Fokus und diese ganz bestimmte Kultur ausgewählt – und es macht immer weiter damit, in diesem Kontinuum Erfahrungen für mich auszuwählen.
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Beispiel Nr. 10: Reto Bohrer alias Bo Katzman Zitiert nach: B. Katzman, Zwei Minuten Ewigkeit, Altendorf 2012, 32 f. Kurzinformation zur Person: Dem in einer römisch-katholischen Familie aufgewachsenen Schweizer Reto Bohrer widerfuhr eine Nahtoderfahrung infolge eines Motorradunfalls am 17. Juni 1972 im Alter von 20 Jahren. Der in der Schweiz sehr populäre Musiker hat sich zeit seines Lebens mit der Deutung dieser Erfahrung beschäftigt und setzt sich intensiv für eine gesellschaftliche Würdigung des Themas ein. Es handelt sich um ein weiteres Beispiel dafür, in welcher Weise Nahtoderfahrene Reinkarnationsvorstellungen entwickeln können53. Nun befand ich mich also in einem geistigen Zustand, in dem ich zwar keinen Körper mehr besaß, aber ein Bewusstsein und eine Wahrnehmungsfähigkeit. Dieses Bewusstsein übertraf in seiner Klarheit und Grenzenlosigkeit alles, was man sich vorstellen kann. Nachdem ich einigermaßen verkraftet hatte, dass es in dieser ungewohnten neuen Dimension keine Zeit gab und ich ein Teil des gesamten Wissens war, gewahrte ich eine Art Morgenröte, die wie an einem fernen Horizont zu schimmern begann. Dieses zarte Licht hatte eine Wirkung auf meinen Gefühlszustand, der nicht zu beschreiben ist. Ich bemerkte sofort, dass dieses Licht nicht einfach ein heller Schein war, sondern eine Energie, die so stark war, dass sie gar nicht anders konnte als leuchten. Es war nicht der Anblick des Lichts, der mich so beglückte, sondern das Spüren der Energie, die von ihm ausging. Diese Strahlung, in deren Wirkungskreis ich geraten war und die mich förmlich überschwemmte, war pure, ungetrübte, konzentrierte Liebesenergie. Ich fühlte mich als das Wesen, das ich war, vollkommen geliebt und bis in die tiefsten Abgründe meiner Persönlichkeit akzeptiert. Es war ein Gefühl, wie ich es von einem Zustand völliger Verliebtheit her kannte: Als Verliebter, der seiner Angebeteten gegenübersitzt und ihr in die Augen schaut, liebt man einfach alles an diesem Wesen. Nicht die geringste Kritik stört den euphorischen Austausch von Empfindungen, die einem das Herz bis zum Halse schlagen lassen und einen auf Wolke sieben befördern. Es ist die Ausstrahlung, das Aussenden von Verliebtheitsenergie der beiden Beteiligten, die solche Emotionen zu stimulieren vermag. So ein Gefühl erfüllte mich nun, allerdings bis ins Millionenfache, schier Unerträgliche gesteigert. So viel Liebe war 53 Vgl. B. Katzman, Du, 185 ff.
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fast nicht auszuhalten und mir war klar: Sollte ich noch ein wenig mehr davon abbekommen, dann würde ich explodieren. Ich kam mir vor wie ein fünfundzwanzig Watt Glühlämpchen, dem man ein Gigawatt Strom zuführen will. Dabei war dieses „Licht“ nur ganz schwach zu „sehen“ und die ursprüngliche Quelle in unerreichbarer Entfernung. Trotzdem empfand ich es als persönliche Ausstrahlung von jemandem, der mich bedingungslos liebte. Je näher ich mich darauf zubewegte, desto stärker wurde die Intensität. Ich dachte: Noch näher heran kann ich nicht, da meine Kapazität, diese Energie zu verkraften, viel zu klein ist, um noch mehr davon aufzunehmen. Es war, als wollte man einen Ozean in einen Fingerhut pressen, und mein seelisches Gefäß war einfach zu winzig, um diese Riesenmenge aufzunehmen. Allein meine Fähigkeit, diese gewaltige Liebesenergie zu ertragen, entschied über die Nähe, in die ich mich zu der Quelle hinbewegen konnte. In der Entwicklungsstufe, in der ich mich befand, war ich noch unvorstellbar weit davon entfernt und wusste doch mit aller Klarheit, dass dies das Ziel meiner Existenz ist, immer näher zu dem Ursprung zu gelangen. Ich erkannte, dass meine langfristige Aufgabe darin bestand, im Verlauf von Äonen mein Liebesgefäß so zu vergrößern und meine Liebesfähigkeit zu entwickeln und zu steigern, dass ich irgendwann mit dieser Liebesquelle verschmelzen konnte. Ich hatte den Sinn des Lebens entdeckt! In dem Moment empfand ich aber die Gewissheit, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht nur nicht näher zu dieser Lichtquelle hinbegeben konnte, ja, ich wollte es nicht einmal! Zu schäbig kam ich mir vor, etwa so, als wäre ich von einem König zu einem strahlenden Ball eingeladen und würde nun mit schmutzigen Lumpen bekleidet vor dem Tor stehen. In dieser seelischen Aufmachung kam ich mir völlig fehl am Platze vor. Ich konnte da nicht hin, weil ich so nicht dahin gehörte.
Exemplarische ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ und ‚Transformationserfahrungen‘
Beispiel Nr. 11: Sybrig Lips Zitiert nach: D. op den Dries, Zurück aus dem Himmel: Wie Nahtoderfahrungen das Leben verändern, Amerang 2013, 64–68 bzw. 75 f. Kurzinformation zur Person: Die Niederländerin Sybrig Lips durchlebte im Jahr 1946 im Alter von sieben Jahren eine Nahtoderfahrung. Dieser Aspekt ist einerseits bemerkenswert, insofern im Jahr 1946 dieses Thema wissenschaftlich und medial kaum präsent war. Andererseits dokumentiert das Beispiel das Phänomen, dass Nahtoderfahrungen von Kindern sich zuweilen kaum von denen unterscheiden, die Erwachsene durchleben. Des Weiteren gilt es hervorzuheben, dass Sybrig Lips sich bis in die Gegenwart hinein für eine gesellschaftliche Würdigung des Themas einsetzt. Mein Vater nahm mich und legte mich auf die Rückbank im Auto. Dort begann meine Nahtod-Erfahrung. Sie war auf einmal da. Ich sah mich von oben auf der Rückbank liegen. Die Angst war weg. Meine Beklemmung auch. Ich fühlte mich leicht und frei. Ich hatte Ruhe. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, was ich damals fühlte. Erstaunen und Entzücken. Ich wusste, dass es eine neue, besondere Erfahrung war, doch ich empfand sie auch als ganz normal. „Jetzt bin ich tot. Jetzt bin ich irgendwo anders“, stellte ich fest. Ich sage das mit irdischen Worten, doch das Schwierige daran ist, dass diese Worte niemals ausdrücken können, wie es wirklich war. (…) Ich war nun ganz ich selbst, und doch auch ein anderes „Ich“. Mehr „ich“ als zuvor, viel mehr. Ich war befreit. Frei von allem, was man normalerweise im Leben fühlt. Ich war nicht mehr an meinen Körper gebunden, sondern mit dem großen Ganzen verbunden. (…) Ich schaute auf mich selbst herunter, dort, auf der Rückbank im Auto. Ich sah meinen Körper, meine äußere Hülle. Ich trug eine rote Jacke. Eine handgestrickte Jacke mit einer Borte aus gelben Würfeln. Und farbige Knöpfe mit einem Blumenzwiebelfeld. Ich nahm die kleinsten Details ganz scharf wahr. Ich sah auch meinen Vater im Auto. Nicht seine äußere Gestalt, sondern nur sein Inneres. Ich sah schwarze, negative Emotionen: Wut und Angst. Plötzlich war ich weiter weg vom Wagen und sah die Aura der Bäume. So schön farbig, sie waren nicht grün, wie wir die Bäume hier wahrnehmen. Die Bäume bestanden aus vielen, vielen Farben. Alle Farben verschwammen ineinander, doch jede Farbe behielt ihre charakteristische Eigenart. Wieder war da dieses Erstaunen und Entzücken. Es war eine andere Form der Wahrnehmung. Ich sah und spürte den enormen Raum. Als ob man zum ersten Mal im Leben an einem Strand steht
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und die Weite des Meeres erfährt – jedoch um ein Hundertfaches stärker. Meine Erfahrung hat stoßweise stattgefunden. Als würde ich immer wieder eine andere Zone betreten. Nach dem Auto und den Bäumen kam ich in die Zone ‚Rückblick auf mein Leben’. Ich war zwar erst sieben Jahre alt, doch dieser Rückblick war ganz tiefgreifend. Ich erhielt Einblick. Es wurde mir eine Reihe von Geschehnissen gezeigt, und ich sah die Folgen davon. Mit dieser uneingeschränkten Sehfähigkeit konnte ich viel tiefer schauen als sonst. Es gab schöne Rückblicke und weniger schöne, doch ich habe niemals ein Urteil damit verbunden. Ich sah, wie ich meiner Freundin in der Kriegszeit ein Bonbon schenkte. Das fand ich damals eine ganz normale Geste. Ich hatte mir dabei nicht viel gedacht. Doch sie war so glücklich mit dem einen Bonbon. Ich spürte ihre Freude voll und ganz, als sei ich auch sie selbst. In gleicher Weise spürte ich auch die Freude eines jeden Menschen in seinem persönlichen Umfeld – die Freude seiner Eltern, seiner Oma und seines Opas. Diese Freude breitete sich immer weiter aus, wie ein Stein, der ins Wasser gefallen ist und Kreise zieht. Ab diesem Moment wusste ich, dass auch das Kleinste, was man für einen anderen tut, Auswirkung auf das Ganze hat. Ich erhielt die Einsicht, dass wir alle miteinander verbunden sind und an dem Guten wachsen, das wir füreinander tun. Wieder spürte ich Staunen. Dass eine solche kleine Geste so viel bedeuten kann! Dieses Verständnis hatte ich niemals zuvor gehabt. Ich spürte auch die Emotionen des Mädchens, das in der Klasse vor mir saß. Sie hatte Läuse. Die hatten wir alle, doch ich sammelte provokativ einige Läuse aus ihrem Haar und zerdrückte sie auf meinem Tisch. Ich wollte den anderen in der Klasse damit zeigen, dass sie Läuse hat. In diesem Rückblick auf mein Leben sah ich, wie viel Schmerz ihr das zufügte. Ich spürte, wie sie sich schämte. Die Scham ließ sie unwillkürlich zusammenkrampfen. Ich spürte aber auch den Schmerz und die Scham all der Menschen aus ihrem Umfeld – die Scham ihrer Eltern und ihrer Großeltern. Ich empfand sehr starkes Mitgefühl mit ihr. Auf einmal war der Rückblick abgelaufen. Ich kam in einen Tunnel. Rasend schnell schoss ich hindurch. Der Tunnel war hell, wurde jedoch immer noch ein wenig heller. Je weiter ich vorwärts kam, desto schmaler wurde der Tunnel, und der Druck schien größer zu werden. Ich kam immer schneller voran, und auch mein Verlangen nach Licht wuchs immer mehr. Ich begriff, dass ich zu dem Ort hin unterwegs war, von dem ich herkam. Mit jeder Faser meines Körpers zog es mich an diesen Ort, um dort aufgenommen zu werden. Es war mein Boden, mein Grund, mein Haus – und der Tunnel führte mich hin. Ich spürte, dass der Tunnel durch das Licht angezogen wurde, und ich selbst wurde
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ebenfalls vom Licht angezogen. Im Tunnel war buntes Licht, so wie die Bäume aus vielen Farben bestanden. Doch am Ende war ein einheitliches Licht. Ein unbeschreiblich warmes, liebevolles, weiß-gelbes Licht: die Quelle, die Urquelle von allem. Als ich am Ende des Tunnels bei der Quelle angekommen war, kam ich an eine Grenze. Ich spürte auf einmal, dass ich zurück musste. Ich wollte nicht, doch es musste sein. Das wusste ich. Wissen bedeutet auch zu kommunizieren. Es ist herrlich, ohne Worte zu kommunizieren, wenn man nicht mehr durch seinen Körper eingeschränkt ist. (…) S. 75–76: Ich habe selbst niemals auch nur einen Moment an der Echtheit meiner Erfahrung gezweifelt. Sie ist mein ganzes Leben lang so wesentlich für mich gewesen. Sie ist der Fels, auf dem ich stehe. Auch wenn ich wollte, ich kann einfach nicht umhin. Wenn Menschen zu mir sagen, dass sie nicht daran glauben, finde ich das in Ordnung. Anfangs fühlte ich mich dadurch sehr abgelehnt. Jetzt nicht mehr. Ich respektiere es. Solange meine Erfahrung auch einfach so stehen gelassen und toleriert wird. (…) Die Nahtod-Erfahrung aus meiner Kindheit ist das schönste Erlebnis in meinem Leben, die einzigartigste Erfahrung, die ich jemals hatte. Niemand hat mir sie wegnehmen können. Doch ich habe meine geschätzte Erfahrung so viele Jahre lang in mir unterdrücken müssen. Was ich mir wünschen würde, ist, dass andere für Kinder offen sind, die auch solch eine Erfahrung gemacht haben. Dass man nicht mehr sagt, ein Kind habe geträumt oder fantasiert, sondern dass man zuhört und offene, neugierige Fragen stellt. Fragen, wie etwa: ‚Was hast du denn auf der anderen Seite erlebt?’ Wer ein Kind in diesem Punkt nicht ernst nimmt, macht vieles kaputt. Es hätte in meinem Leben einen himmelweiten Unterschied gemacht, wenn der Arzt damals richtig reagiert hätte. Wenn er beispielsweise gesagt hätte: ‚Ich verstehe sehr wohl, dass du lieber auf der anderen Seite geblieben wärest. Doch deine Eltern und ich – wir möchten dich noch nicht missen!’
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Beispiel Nr. 12: Sabine Mehne Zitiert nach: S. Mehne, Licht ohne Schatten: Leben nach einer Nahtoderfahrung, Ostfildern 2013, 45–47* bzw. 54–56*. Kurzinformation zur Person: Der ehemaligen Physiotherapeutin Sabine Mehne widerfuhr u. a. eine Nahtoderfahrung im Jahr 1995 im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung. Ihre autobiographischen Ausführungen dokumentieren u. a. die Probleme, die Nahtoderfahrene durchleben, wenn ihr gesellschaftliches Umfeld von diesem Thema keine Kenntnis hat bzw. demselben ablehnend gegenübersteht. Die schrittweise Verarbeitung ihrer Erfahrung inspirierte sie u. a. dazu, mit anderen Betroffenen gemeinsam das ‚Netzwerk-Nahtoderfahrung‘ zu gründen, das sich im deutschsprachigen Raum für eine gesellschaftliche und wissenschaftliche Würdigung des Themas einsetzt (vgl. www.netzwerk-nahtoderfahrung.org). Anmerkung E.E.P.: Die folgenden Ausschnitte konzentrieren sich auf das sukzessiv wachsende Verständnis der Erfahrung und die Bemühung, dasselbe mit dem eigenen Welt- und Menschenbild in Einklang zu bringen: Im November 1999 zappe ich müde und gelangweilt durch die Programme des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, in der Hoffnung eine Sendung zu finden, die mir beim Einschlafen hilft. Ein rundlicher Mittvierziger auf dem Bildschirm fasziniert mich. Ich habe fast das Gefühl, er stünde mitten in meinem Zimmer. Dort erzählt er von seinem Herzstillstand, davon, dass er aus seinem Körper ausgetreten sei, sich von oben habe sehen können und die Reanimation mitverfolgt habe. Seine verstorbene Großmutter, die er nie hat kennenlernen dürfen, habe plötzlich neben ihm gestanden und habe ihn freundlich lächelnd begrüßt. Er habe denken können, ohne zu denken, weil er alles gewusst habe. Und dann erzählt er von einem schönen Licht, einem Licht, das es so gar nicht gebe, das aber so wunderschön gewesen sei und ihn in Frieden eingehüllt habe. Hellwach sitze ich im Bett und nicke dem Mann bei jedem Wort zu. Wie eine Kurzsichtige, der man die passende Brille aufsetzt, sehe ich schlagartig klar. Wie ist es möglich, dass ich die Geschichte eines mir fremden Menschen kenne? Am Ende seines Berichtes schildert er noch, wie schmerzlich es für ihn gewesen sei, als er wieder in seinen Körper zurückkehren musste. Er habe eine große Wut empfunden, überhaupt gerettet worden zu sein. Im Untertitel lese ich immer wieder seinen Namen und das Wort „Nahtoderfahrung“. Das muss es ein. Das ist es, was auch ich erfahren habe! Und diese Wut! Diese Wut, zurückkehren zu müssen,
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von der dieser Mann sprach! Wie auf Knopfdruck macht sie sich in mir breit, ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Sie bemächtigt sich meines Körpers, meines Geistes, meiner Essenz, meines ganzen Ichs. Sie erfasst mich durch und durch, als wäre alles gerade erst geschehen. Nein, will ich schreien, mein Pullover, er ist zu eng, er hält das nicht aus, die Nähte werden reißen. Es brodelt in mir. Ich will wegrennen. Doch dann überlasse ich mich den alten Bildern. Es hat keinen Zweck! Gib dich hinein, Widerstand macht es nur schlimmer. Die Erinnerungen rollen wie eine Dampfwalze über mich hinweg. (…) S. 54–56: In meiner heißgeliebten Bett-Universität starte ich mit einem Masterstudiengang in Selbsterkenntnis. Ich verspüre einen unbändigen Heißhunger, alles über Nahtoderfahrungen wissen zu wollen. In einem Telefonat mit meiner jüngeren Schwester erfahre ich, dass ich eine gehörige Bildungslücke aufzuholen habe. Sie ist überrascht, dass ich die Bücher von Raymond Moody nicht kenne und empfiehlt mir seinen Weltbestseller Leben nach dem Tod – Die Erforschung einer unerklärlichen Erfahrung, den ich sofort verschlinge. (…) Professor Ochsmann hatte mich auf das Buch Berichte aus dem Jenseits, Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung des Soziologen Prof. Dr. Hubert Knoblauch hingewiesen. Er wertet darin die Berichte über Nahtoderfahrungen von über zweitausend Menschen in ganz Deutschland aus. Zum anderen lese ich von Viktor Frankl … trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Dieses Buch hat er mir ans Herz gelegt, obwohl es nichts mit Nahtoderfahrungen zu tun hat. Er sagt, dass ich an diesem Buch lernen und verstehen könne, welche Kraft in Menschen möglich wird, die ein schweres Schicksal gemeistert haben. Er wollte mich anregen, auch in mir diese Kraft zu entdecken, die Viktor Frankl im Konzentrationslager als Überlebensenergie mobilisiert hatte. Und mit diesem Rat trifft Professor Ochsmann bei mir ins Schwarze. Die Schilderungen von Herrn Frankl kommen mir ganz vertraut vor. Ich kann mich beim Lesen exakt in seine Situation einfühlen, so als wäre ich selbst in einem Konzentrationslager gewesen. Wie kommt das? Und diese Kraft, von der er spricht, die kenne ich auch. Ich fühle sie in meinem Inneren, wie einen kleinen Motor. Rätselhaft. Leider ist das Lesen immer noch mehr als mühsam. Ich kann mich bisweilen nicht länger als fünf Minuten konzentrieren. Trotzdem ist erstaunlich, dass ich oft sofort verstehe, was gemeint ist, obwohl ich niemals in der Lage wäre, alles wortgetreu wiederzugeben. Doch zu diesem Zeitpunkt ist mir das völlig unwichtig. Ich sauge alle Informationen, die in mir eine Resonanz erzeugen, wie ein trockener Schwamm auf. Außerdem habe ich in meinem Studium keine Prüfung zu bestehen. Ich habe nur ein Ziel vor Augen: zur eigenen
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Erkenntnis zu gelangen, wie immer ich es auch anstelle. Eine Frage lässt mir keine Ruhe: Wäre ich schneller in der Lage gewesen, mein Erlebnis einzuordnen, wenn ich über Vorwissen verfügt hätte? Hätte ich so weniger innere Not gehabt? Ich stelle mir vor, wie einer, der Bescheid weiß, aus der Bewusstlosigkeit nach einem Herzstillstand aufwacht und gleich sagt: „Ich hatte eine Nahtoderfahrung. Wow! Das war unglaublich, das war toll, was ich erlebte.“ Nein, beruhige ich mich, das ist unmöglich. Es gibt doch keine Worte für all die Erlebnisse aus dieser anderen Dimension. Jeder muss sie doch erst finden. Ich gelange zu der festen Überzeugung, dass die meisten Menschen, die eine solch tiefe Erfahrung machen, einen Begleiter, einen Übersetzer, einen Wegführer brauchen. Bei einer schwierigen Bergtour sucht man sich ja auch einen erfahrenen Bergführer, um unbeschadet ans Ziel zu gelangen. Mein erster Bergführer war der Mann aus dem Fernsehen.
4. Wissenschaftliche Deutungen bzw. Erklärungen von Nahtoderfahrungen Wie bereits mehrfach konstatiert wurde, ist die Frage einer wissenschaftlichen Deutung bzw. Erklärung von Nahtoderfahrungen die mit Abstand am kontroversesten diskutierte Frage diesbezüglicher Forschungen. Aus diesem Grund soll im Folgenden zunächst moniert werden, dass diese Kontroversen zuweilen von einer unsachlichen Polemik geprägt sind, die nur als Folge mangelnder wissenschaftlicher Diskursfähigkeit verstanden werden kann (4.1). Nach diesen vermittelnden Vorbemerkungen sollen vier Kategorien von Zugangsperspektiven bzw. Erklärungsansätzen voneinander differenziert werden, nämlich deskriptive, religiös-ontologische, skeptische bzw. reduktiv-materialistische und parawissenschaftliche Positionen (4.2–4.5)54. 54 Diese Differenzierung orientiert sich partiell an den Vorgaben von D. Vaitl, Bewusstseinszustände, 153 f. (ähnlich bereits H. Knoblauch/I. Schmied/B. Schnettler, Einleitung, 10 f.). Im Kontrast zu jenen Vorüberlegungen werden jedoch einerseits die sogenannten ‚skeptischen Positionen‘ als ‚skeptische bzw. reduktiv-materialistische Positionen‘ bezeichnet, um die in den meisten Fällen vorausgesetzten wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Prämissen begrifflich zu benennen (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 4.4). Andererseits werden ‚deskriptive Positionen‘ als eigenständige Gruppe benannt, um eine Diskussionsebene zu beschreiben, auf der sich die Vertreter aller anderen Positionen bewegen können müssen (Kapitel 2; Arbeitsschritt 4.2).
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4.1 Polemik im Kontext der Nahtodforschung als Folge mangelnder wissenschaftlicher Diskursfähigkeit Bevor unterschiedliche Ansätze von Deutungen und Erklärungen von Nahtoderfahrungen skizziert werden sollen, gilt es sich ein erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Problem zu vergegenwärtigen. Im Kontext der Nahtodforschung lässt sich zuweilen ein Grad an Polemik und persönlicher Diffamierung beobachten, der diskursanalytisch nicht tolerabel ist55. Dies mag einerseits dem Umstand geschuldet sein, dass Auseinandersetzungen mit dem Thema Tod bzw. mit der Frage eines etwaigen Lebens nach dem körperlichen Tod nicht nur eine wissenschaftliche Diskussionsebene berühren, sondern stets auch die persönliche Existenz der Diskussionsteilnehmerinnen und Diskussionsteilnehmer (vgl. die entsprechende Vorbemerkung Kapitel 1; Arbeitsschritt 2). Andererseits kann jene Polemik darauf zurückgeführt werden, dass viele unterschiedliche Forschungsfelder an den Diskussionen beteiligt sind, wodurch wiederum sehr konträre Fachkompetenzen miteinander in Konkurrenz treten. Ein Appell zur Vermeidung einer solchen Polemik ist sicherlich nicht darauf zurückzuführen, dass die vorliegende Studie von einem Theologen verfasst wurde, der vermeintlich an einer konfliktunfähigen Harmoniesucht leidet, welche scharfe Diskussionen meidet (für den Berufsstand der Theologinnen und Theologen ist in der Regel eher das Gegenteil der Fall). Stattdessen muss festgehalten werden, dass Polemik auf der Ebene einer wissenschaftlichen Kommunikation keinerlei Sinn und Funktion hat. Polemik entsteht oft in solchen Situationen, in denen zwischen einer sachlichen und persönlichen Ebene nicht richtig unterschieden wird56. Viele polemische Entgleisungen gehen schlicht auf persönliche Betroffenheit und Eitelkeit bzw. ein mangelndes Maß an wissenschaftlicher Reflexionsfähigkeit zurück. Oder um es mit jener Arbeitsterminologie zu formulieren, die im Folgenden erläutert wird: Im Kontext einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Nahtoderfahrung‘ muss es möglich sein, dass Vertreter religiös-ontologischer, skeptischer bzw. reduktiv-materialistischer oder parawissenschaftlicher Positionen ihre Ansichten einander kommunizie55 Exemplarisch sei diesbezüglich verwiesen auf die diskursanalytisch in hohem Maße aufschlussreichen Streitigkeiten um die Thesen und die Personen des US-amerikanischen Neurochirurgen Eben Alexander und der schweizerischen Ärztin Elisabeth Kübler-Ross (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 3; Beispiel 6 bzw. Arbeitsschritt 6.3). 56 Um derartige Auseinandersetzungen nicht weiter fortzuführen, werden im Folgenden auch keine konkreten Beispiele für eine solche unsachliche Polemik benannt. Es wäre jedoch eine lohnenswerte Aufgabe für eine eigenständige Untersuchung, die Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung von Nahtoderfahrungen aus einer diskursanalytischen Perspektive aufzuarbeiten, um veranschaulichen zu können, in welcher Weise Polemik auf einer wissenschaftlichen Reflexionsebene kontraproduktiv war und ist.
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ren, ohne dass es zu polemischen Ausfällen oder persönlichen Diffamierungen kommt. Auf einer wissenschaftlichen Kommunikationsebene kann und darf es auch kein Ziel sein, dass einzelne Sprecherpositionen versuchen, ihre Ansichten anderen Diskursteilnehmer ‚missionarisch‘ aufzudrängen. Es geht vielmehr darum, im interdisziplinären Diskurs die unterschiedlichen Grade an Plausibilitäten gegensätzlicher Erklärungsansätze auszuloten. Vor allem jedoch wird durch Polemik etwas verhindert, was für weitere Forschungen zu diesem Thema von zentraler Bedeutung ist, nämlich eine interdisziplinäre Kommunikation unterschiedlicher Fachexpertisen, über welche einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht verfügen können. Angesichts dessen gilt es sich eine erste wissenschaftliche Position zu vergegenwärtigen, zu der jede Diskursteilnehmerin und jeder Diskursteilnehmer fähig sein muss, nämlich eine um Neutralität bemühte deskriptive Position. 4.2 Deskriptive Positionen Unabhängig von den Stärken und Schwächen der drei folgenden Positionen ist eine erste Zugangsperspektive zu benennen, die auch für die Vermittlung unterschiedlicher Erklärungsansätze hilfreich sein kann, nämlich deskriptive Positionen. Wie bereits verschiedentlich konstatiert wurde können Nahtoderfahrungen als Phänomene betrachtet werden, die in verschiedenen sprachlichen und religiösen Kontexten begegnen und die auch in früheren Zeugnissen menschlicher Kulturen Analogien besitzen (dies wird auch von Vertreterinnen und Vertretern sogenannter skeptischer bzw. reduktiv-materialistischer Positionen eingeräumt)57. In dieser Hinsicht können sie als kulturelle Phänomene verstanden werden, über die auch auf einer historisch-deskriptiven Ebene diskutiert werden kann, ohne dass unmittelbar die Frage angemessener bzw. unangemessener Deutungen beantwortet werden muss. Würde man stattdessen postulieren, dass Nahtoderfahrungen prinzipiell nicht Gegenstände wissenschaftlicher Forschung sein können, weil sie sich etablierten wissenschaftlichen Paradigmen entziehen, so müsste eine solche Position ihrerseits als wissenschaftstheoretisch defizitär eingestuft werden. Wissenschaftstheoretisch betrachtet hat die Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen partiell Affinitäten zu akademischer Theologie bzw. Religionswissenschaft. Beide können sich ebenfalls religiösen Vorstellungen widmen, 57 In Bezug auf die statistische Häufigkeit sei auf die vielfach zitierten Studien von H. Knoblauch, Berichte, passim und G. Gallup Jr./W. Proctor, Adventures, passim verwiesen, welche zu der Einschätzung gelangen, dass 4–5 % aller Menschen in Deutschland bzw. den USA entsprechende Erfahrungen gemacht haben bzw. machen.
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die als kulturelle Zeugnisse bzw. Ausdruck spezifischer Welt- und Menschenbilder analysiert werden, ohne dass dabei zugleich der Realitätsanspruch der jeweiligen Konzeptionen erörtert geschweige denn als existentiell bedeutend verstanden werden muss58. Eine vergleichbare Differenzierung der Diskursebenen wurde in bisherigen wissenschaftlichen Diskussionen zu Nahtoderfahrungen oft nicht beachtet. Aus diesem Grund ist es notwendig, zunächst stets Beschreibungen der Phänomene vorzunehmen, die möglichst neutral gestaltet sein sollten59. Erst vor diesem Hintergrund sollten beurteilende Positionen eingenommen werden, die – wie im Folgenden beschrieben wird – als religiös-ontologisch, skeptisch bzw. reduktiv-materialistisch oder parawissenschaftlich kategorisiert werden können. 4.3 Religiös-ontologische Positionen Religiös-ontologische Positionen verstehen Nahtoderfahrungen als Indizien oder Beweise für die Existenz eines unsterblichen menschlichen Bewusstseins bzw. einer unsterblichen menschlichen Seele oder sogar als Beweise einer Existenz Gottes60. Derartige Positionen wurden vor allem in jenen frühen esoterisch 58 So kann z. B. der Verfasser der vorliegenden Zeilen sich als historisch-kritischer Exeget frühchristlicher Zeugnisse mit frühchristlichen Exorzismus-Vorstellungen beschäftigen, ohne dass dies in einem etwaigen Krankheitsfall die Konsultation eines Exorzisten nach sich zieht. Zum Umgang mit diesen kulturgeschichtlichen Differenzen vgl. E. E. Popkes, Krankenheilungsauftrag, 140–145. Paradigmatisch lassen sich die Aufgaben und Herausforderungen einer um Neutralität bemühten religionshistorischen Deskription zudem an der Analyse frühchristlicher Auferstehungsvorstellungen veranschaulichen, welche für die vorliegende Studie von zentraler Relevanz sind. Auf der Ebene einer religionshistorischen Beschreibung wird man diesbezüglich Akzentunterschiede bzw. Divergenzen konstatieren müssen, die sich nicht in eine einheitliche Gesamtkonzeption fügen lassen. Welche dieser Aspekte wiederum für Reflexionen heutiger theologischer Selbstverständnisse von Relevanz und welche kritisch zu betrachten sind, muss auf weiteren Diskussionsebenen debattiert werden, z. B. auf der Ebene einer systematisch-theologischen Reflexion exegetischer Arbeitsergebnisse. 59 Eine völlig objektive Beschreibung entsprechender Phänomene ist wissenschaftstheoretisch betrachtet nicht möglich. Es geht vielmehr darum, die Prämissen der eigenen Perspektiven zu benennen und in Anbetracht dessen so gut es geht von denselben zu abstrahieren. Zu dieser historisch-kritischen und diskursanalytischen Methodik vgl. Kapitel 6; Arbeitsschritt 2. 60 Zu solchen Einschätzungen tendieren in unterschiedlicher Intensität u. a. J. Long, God, 193– 196; Ders., Leben, passim; P. M. H. Atwater, Leben, 19–24; W. Moissl, Jenseits, 376–398; W. Meili, Phänomen, 242–250; W. Huemer, Unsterblich, 244–293 u. a. Zudem zählen zu dieser Kategorie der Großteil autobiographisch dokumentierter Erfahrungsberichte, die aufgrund ihrer großen Anzahl hier nicht eigens genannt werden (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 6.3). Eine Sonderposition nehmen in diesem Bereich die Diskussionsbeiträge ein, die Michael Schröter-Kunhardt als Facharzt für Psychiatrie in vielen Veröffentlichungen dargelegt hat (vgl. die entsprechenden Angaben im Literaturverzeichnis). Einerseits skizziert dieser Diskursteilnehmer eine Vielzahl wissenschaftlich fundierter Einwände, die eine reduktiv-materialistische Deutung von Nahtoderfahrungen problematisieren (vgl. u. a. M. Schröter-Kunhardt,
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anmutenden Diskussionsbeiträgen vertreten, die in einer teils bewussten, teils unbewussten Opposition zu wissenschaftlichen Zugangsperspektiven positioniert waren. Dabei wird die Evidenz subjektiver Erfahrungen zumeist als bedeutender eingeschätzt als die Evidenz wissenschaftlicher Infragestellungen. Inzwischen können religiös-ontologische Positionen jedoch auch von Personen vertreten werden, die in ihrem jeweiligen wissenschaftlichen Diskursfeld anerkannte Kapazitäten sind – oder es bis zum Zeitpunkt einer solcher Einschätzung waren61. 4.4 Skeptische bzw. reduktiv-materialistische Positionen Als deutlichster Gegensatz zu religiös-ontologischen Positionen können skeptische Erklärungsansätze verstanden werden. Skeptischen Positionen zufolge können Nahtoderfahrungen im Rahmen der etablierten Paradigmen der jeweiligen Wissenschaften erklärt werden. So wurde z. B. im Bereich neurobiologischer Erklärungsansätze versucht, Nahtoderfahrungen als Folgen hirnfunktionaler Veränderungen zu deuten. Als Beispiele solcher Erklärungsansätze Nah-Todeserfahrungen, 197 ff.). Andererseits formuliert er selbst eine Einschätzung, die in einem speziellen Sinn als religiös-ontologische Position gewertet werden kann. Exemplarisch sei verwiesen auf das in M. Schröter-Kunhardt, Sicht, 97 gezogene Resümee: „Tatsächlich verweisen die paranormalen Leistungen von Lebenden wie Sterbenden und ihr vermehrtes Auftreten im Rahmen von religiösen Erlebnissen (im Sterben) selbst bei areligiösen Menschen auf einen Zeit- und Raum-unabhängigen und somit unsterblichen Anteil der menschlichen Psyche. Die NDEs als primär religiös-mystische Erfahrungen bereiten die Psyche somit in einem letzten über das Gehirn vermittelten Akt auf ein Weiterleben eben dieser Seele in einem religiöses Jenseits vor. [Anm. EEP: die letzte Formulierung entspricht dem Original]. Religiös-mystisches (NDE-)Erleben beruht dabei auf einer anhand der NDEs/OBEs nachgewiesenen biologisch angelegten Matrix, die durch keine Theorie hinwegerklärt werden kann und elementarer Bestandteil der menschlichen Psyche ist. Marx und Freud haben sich also geirrt, der areligiöse Mensch irrt immer: Homo religiosus sapiens est!“ Diese Einschätzungen gehen jedoch mit zwei eigentümlichen Phänomenen einher. Einerseits verbindet Schröter-Kunhardt diese Variation einer religiös-ontologischen Deutung mit einer Interpretation frühchristlicher Traditionen, die aus der Sicht einer historisch-kritischen Exegese wissenschaftstheoretisch schlechterdings untragbar ist (exemplarisch sei verwiesen auf den Beitrag M. Schröter-Kunhardt, Grenze, 77–105 und auf die entsprechenden Angaben auf der Webseite www.nahtodforschung.com). Andererseits sind viele Beiträge dieses Diskursteilnehmers ein signifikantes Beispiel dafür, was in der vorliegenden Studie als „Polemik im Kontext der Nahtodforschung als Folge mangelnder wissenschaftlicher Diskursfähigkeit“ negativ benannt wird und auf die in der skizzierten Weise nicht eingegangen werden soll (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 4.1). Dies gilt übrigens auch für die Beiträge dieses Diskursteilnehmers zu anderen Themenfeldern wie Sexualität bzw. Homosexualität und Islam. 61 Auch diesbezüglich kann wiederum exemplarisch auf die diskursanalytisch in hohem Maße aufschlussreichen Streitigkeiten um die Thesen und die Personen des US-amerikanischen Neurochirurgen Eben Alexander und der schweizerischen Ärztin Elisabeth Kübler-Ross verwiesen werden (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 6.3).
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kann verwiesen werden auf die Hypoxie-Hypothese, die Schläfenlappen- bzw. Temporallappen-Hypothese oder die Neurotransmitter-Hypothese62. Dabei wurde verschiedentlich versucht, Teilaspekte von Nahtoderfahrungen künstlich zu stimulieren, z. B. durch neurophysiologische Mechanismen63 oder pharmakologische Induktionen64. Ein weiteres Spektrum skeptischer Positionen eröffnet sich, wenn spezielle Formen psychologischer Deutungsansätze in die Diskussion einbezogen werden. In diesen Diskursfeldern wurde verschiedentlich versucht, Nahtoderfahrungen im Sinne eines unterbewussten Abwehrmechanismus bzw. einer Depersonalisierung im Zusammenhang lebensbedrohlicher Situationen zu deuten65. In diesen Formen neurophysiologischer und psychologischer Erklärungsansätze wären Nahtoderfahrungen somit als spezifische Formen von Halluzinationen, Illusionen, Träumen oder Rauschzuständen zu deuten. Wissenschaftstheoretisch betrachtet basieren die skizzierten Positionen zumeist auf Prämissen, die einem sogenannten ‚reduktiven Materialismus‘ nahestehen. Dabei wird von der Grundannahme ausgegangen, dass Phänomene verschiedenster Art auf materielle bzw. physiologische Ursachen zurückgeführt und entsprechend erklärt werden können. Dies würde auch für jene Aspekte menschlicher Existenz gelten, die mit den Begriffen ‚Seele‘, ‚Geist‘ bzw. ‚Bewusstsein‘, ‚Selbstbewusstsein‘ bezeichnet werden. Die erkenntnistheoretischen Grundzüge eines solchen Welt- und Menschenbildes wurden bereits in der vorsokratischen Philosophie entwickelt und vor allem in der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte in unterschiedlichen Forschungsfeldern entfaltet66.
62 Zu entsprechenden Ansätzen vgl. C. Hoppe, Nahtoderlebnisse, passim; B. Engmann, Mythos, 61 ff.; S. Blackmore, Dying, 261–263; D. Mobbs/C. Watt, Near-Death Experiences, 447–449; J. C. Saavedra-Aguilar/J. S. Gómez-Jeria, Neurobiological Model, 205–222; C. C. French, Near-death experiences, 351–367; Ders./A. Stone, Psychology, 112; D. Swaab, Nahtoderfahrungen, passim; G. M. Woerlee, Mortal Minds, passim; K. Augustine, Experiences, 529 etc. 63 Vgl. O. Blanke/S. Ortigue/T. Landis, Body Perceptions, passim; Dies. (u. a.), Out-of-Body Experience, 243–258; W. Britton/R. Bootzin, Near-death experience, 254–258; M. L. Morse/D. Venecia/J. Milstein, Near-Death Experiences, 45–53. 64 Vgl. K. Jansen, Neuroscience, 25–29; E. M. Krupitski/A. Y. Grinenko, Ketamine, 165–183. Einen Sonderfall verkörpern diesbezüglich die Studien von Stanislav Grof u. a., welche zwar pharmakologische Induktionen entsprechender Erfahrungen untersuchen, die jedoch nicht dem Spektrum skeptischer bzw. reduktiv-materialistischer Deutungen zugeordnet werden können, sondern zum Gebiet parawissenschaftlicher Positionen (Kapitel 3; Anm. 106). 65 Zur Übersicht über entsprechende Ansätze vgl. u. a. B. Engmann, Mythos, 92 ff.; H. J. Irwin, Dissociative phenomenon, 95–103. 66 Zu wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründen dieser Terminologie vgl. u. a. A. WittkauHorgby, Materialismus, passim; zum Verhältnis zum Begriff ‚Naturalismus‘ vgl. G. Vollmer, Naturalismus, 46–67; P. Janich, Szientismus, 289–309; B. Kanitschneider, Zukunft, 37–53; H.-D. Mutschler, Kritik, 55–68.
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4.5 Parawissenschaftliche Positionen Parawissenschaftliche Positionen schließen an die zuerst genannten deskriptiven Perspektiven auf Nahtoderfahrungen an, ohne bereits eine religiös-ontologische oder skeptische Position einer Bewertung zu beziehen67. Von skeptischen bzw. reduktiv-materialistischen Positionen unterscheiden sich parawissenschaftliche Positionen vor allem in ihrem Verständnis des menschlichen Bewusstseins und der Deutung des ‚Leib-Seele-Problems‘. Sie verstehen die im Zusammenhang von Nahtoderfahrungen auftretenden Phänomene als Indizien, dass Bewusstsein nicht nur ein Produkt hirnphysiologischer Prozesse ist, sondern dass es unabhängig von der körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz existieren kann68. Auf diese Weise könne die interdisziplinäre Erforschung von Nahtoderfahrungen neue Zugangsperspektiven zur Ergründung des ‚Leib-Seele-Problems‘ eröffnen. Dabei gilt es zu betonen, dass der Begriff ‚parawissenschaftlich‘ nicht negativ konnotiert ist. Er kennzeichnet vielmehr einen Vorbehalt, bei welchem noch nicht geklärt ist, ob sich ein neues Forschungsgebiet als Protowissenschaft oder als Pseudowissenschaft erweisen wird69. Parawissenschaftliche Positionen sind darum bemüht, Nahtoderfahrungen als Phänomene zu erklären, die noch nicht im Rahmen bisher etablierter wissenschaftlicher Paradigmen angemessen gedeutet werden können. Es handle sich vielmehr um Phänomene, welche zu Reflexionen bzw. Weiterentwicklungen und gegebenenfalls zu Revisionen jener Paradigmen herausfordern. Solange solche Erklärungsansätze sich in den entsprechenden Diskursfeldern jedoch noch nicht etabliert haben, können bzw. müssen sie als parawissenschaftliche Positionen bezeichnet werden. Wenn es im Zuge weiterer Diskurse zu Paradigmenwechseln kommen sollte, sind auch diese Erklärungsansätze als wissenschaftliche Positionen zu bezeichnen. Die Vorstufen jener Diskurse könnten dann rückblickend als Protowissenschaft 67 Zu entsprechenden Ansätzen vgl. B. Greyson, Near-Death Experiences, 315 f.; W. Kuhn, Nahtoderfahrungen, 45–62; P. van Lommel, Endloses Bewusstsein, 190 f. bzw. 382–385; P. Fenwick, Gehirn, 37–56; E. F. Kelly/E. W. Kelly/A. Crabtree/A. Gauld/M. Grosso/B. Greyson (Hg.), Irreducible Mind, passim; G. Lier, Unsterblichkeitsproblem I, 579 ff.; G. Ewald, Jenseits, 173–179; W. van Laack, Nahtoderfahrungen, 7–24; Ders., Wer stirbt, passim; C. Bache, Expanding, 113–139; W. Richards/S. Grof/L. Goodman (u. a.), LSD-assisted psycho-therapy, 121–150; S. Grof, Beyond death, passim; K. Ring, Tod, 273 ff.; S. Gripentrog, Perspektiven, passim etc. 68 Treffend spricht diesbezüglich B. Greyson, Paranormal Perception, 242 f. von “anecdotical evidence” im Kontrast zu “controlled scientific research”. 69 Zur Definition und wissenschaftstheoretischen Etablierung dieser Begriffe vgl. die Beiträge der Sammelbände G. L. Eberlein (Hg.), Schulwissenschaft, passim; D. Rupnow/V. Lipphardt/J. Thiel/C. Wessely (Hg.), Pseudowissenschaft, passim.
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bezeichnet werden70. Würden sich dieselben hingegen im wissenschaftlichen Diskurs nicht etablieren können, so müsste man jene Ansätze im Nachhinein als Pseudowissenschaften einstufen71. Wissenschaftshistorisch betrachtet waren es oft solche Paradigmenwechsel, durch welche entscheidende Fortschritte innerhalb eines Forschungsfeldes erreicht wurden. Angesichts dessen gilt es sich im folgenden Arbeitsschritt zu vergegenwärtigen, welche entsprechenden Potentiale interdisziplinären Erforschungen von Nahtoderfahrungen innewohnen und welche Schlüsselfragen dabei aufgearbeitet werden müssen.
5. Wissenstheoretische Schlüsselfragen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen Der folgende Arbeitsschritt ist in drei Teilbereiche untergliedert. Zunächst gilt es sich zu vergegenwärtigen, welche wissenschaftstheoretische Schlüsselfrage aufgearbeitet werden muss, die für eine Vermittlung reduktiv-materialistischer und parawissenschaftlicher Deutungen von Nahtoderfahrungen von zentraler Bedeutung ist, nämlich die Frage nach dem jeweils zugrundeliegenden Verständnis von Materie (5.1). Vor diesem Hintergrund soll eine Frage angesprochen werden, welche in verschiedenen Diskursfeldern in unterschiedlichen Varianten formuliert wurde. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet muss konstatiert werden, dass es in vielen Disziplinen grundlegende Paradigmenwechsel gab, ohne welche man sich die entsprechenden Wissenschaftsfelder heute nicht mehr vorstellen kann. Es ist also ein Ausdruck wissenschaftlicher Redlichkeit und Gesprächsfähigkeit, sich entsprechenden Diskursen auch in Bezug auf die Erforschung von Nahtoderfahrungen nicht zu entziehen. Aus diesem Grund soll skizziert werden, warum verschiedentlich gefragt wurde, ob – um es mit den Worten des Wissenschaftstheoretikers und Wissenschaftshistorikers Thomas S. 70 Als ein signifikantes Beispiel für einen solchen Prozess kann die Entwicklungsgeschichte der Quantenphysik verstanden werden, die sich in ihren Anfängen mit massiven Infragestellungen konfrontiert sah und die sich schließlich als Grundlage moderner Physik etablieren konnte. Zur Wissenschaftsgeschichte vgl. C. Friebe/M. Kuhlmann/H. Lyre, Chronologie, 275–287; S. Gasiorowicz, Quantenphysik, passim. Treffend konstatiert S. Aroya Camejo, Quantenwelt, 37, dass die von Max Planck im Jahr 1900 durchgeführte erste Anwendung der Quantenhypothese, die als Geburtsstunde der Quantenphysik gilt, einem „Akt der Verzweiflung“ an vorgegebenen Paradigmen zu verdanken ist. 71 Exemplarisch sei diesbezüglich auf unterschiedliche Konzepte einer Rassentheorie bzw. Rassenkunde verwiesen, die sich zuweilen bereits an Universitäten etablieren konnten und die heute ein Musterbeispiel einer Pseudowissenschaft verkörpern (vgl. V. Lipphardt, Schaf, 223 f.; E. Barkan, Scientific Racism, passim).
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Kuhn zu sagen – diesen Diskursen etwas von einer „Struktur (…) wissenschaftlicher Revolutionen“72 zu eigen ist (5.2). Vor diesem Hintergrund kann erläutert werden, worin eine, wenn nicht gar die zentrale Frage dieser Diskurse eigentlich besteht, nämlich die Frage nach dem Verständnis menschlichen Bewusstseins und der Deutung des ‚Leib-Seele-Problems‘ (5.3). Abschließend soll angedeutet werden, inwiefern für weiterführende interdisziplinäre Kooperationen methodische und thematische Verschiebungen zu erwägen sind, welche die Akzente der Diskussionen verlagern und neue Ebenen der Verständigung ermöglichen (5.4). 5.1 D as Verständnis von Materie als wissenschaftstheoretische Schlüsselfrage reduktiv-materialistischer und parawissenschaft licher Deutungen von Nahtoderfahrungen Die Auseinandersetzung mit den wissenschaftstheoretischen Prämissen eines sogenannten reduktiven Materialismus können als eine, wenn nicht gar die Schlüsselfrage interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen und verwandten Phänomenen verstanden werden. Viele neurophysiologische und psychologische Diskussionsbeiträge setzen ein bestimmtes Verständnis von Materie voraus, ohne dasselbe selbst zum Gegenstand der Diskussionen werden zu lassen. Jene Schlüsselfrage ist, was die wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe des jeweiligen Verständnisses von Materie sind? Oder um es mit anderen Worten zu formulieren: Ist das Verständnis von Materie, welches in verschiedenen Ausformungen reduktiv-materialistischer Welt- und Menschenbilder vorausgesetzt wird, eigentlich noch mit den Erkenntnissen jener Wissenschaftsfelder vermittelbar, in denen die Erforschung und Erklärung von Materie das eigentliche Zentrum wissenschaftlichen Arbeitens bilden, also z. B. im Bereich quantenphysikalischer Forschungen? An dieser Schlüsselfrage lässt sich auch die Aufgabe einer Vermittlung zwischen reduktiv-materialistischen und parawissenschaftlichen Positionen zu Nahtoderfahrungen erläutern. Parawissenschaftliche Positionen verstehen Nahtoderfahrungen als Phänomene, die zur Diskussion erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Paradigmen herausfordern. Parawissenschaftliche Positionen bewegen sich somit auf einer Grenzlinie73. Zugespitzt kann diese Grenzlinie mit drei Grundgedanken beschrieben werden: a) Eine Prämisse reduktiv-materialistischer Deutungen von Nahtoderfahrungen besteht darin, dass alles, was mit den Begriffen ‚Bewusstsein‘, ‚Selbstbewusst72 Vgl. T. S. Kuhn, Revolutionen, passim. 73 Einer Reflexion unterschiedlicher wissenschaftstheoretischer Grenzlinien einer Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen widmen sich die Beiträge des Sammelbands S. Gripentrog/J. Kugele/E. E. Popkes (Hg.), Null-Linie, passim.
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sein‘, ‚Seele‘, ‚Geist‘ etc. bezeichnet wird, auf physiologische bzw. materielle Vorgänge zurückgeführt werden kann. b) Parawissenschaftliche Positionen hinterfragen, inwieweit jene Prämisse reduktiv-materialistischer Deutungen von Nahtoderfahrungen in Frage gestellt werden kann. c) Parawissenschaftliche Positionen implizieren die Frage, ob Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein auch unabhängig von der vorfindlichen körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz existieren kann. Diese drei Grundgedanken wurden in der Geschichte der wissenschaftlichen Erforschungen von Nahtoderfahrungen in vielen Variationen wiederholt. Immer wieder wurde die These formuliert, dass jene Prämissen einer reduktiv-materialistischen Deutung auf einem veralteten Verständnis von Materie basieren. Diejenige Fachdisziplin, die dabei immer wieder als Bezugspunkt benannt wurde, ist jene Wissenschaft, die sich zentral mit dem Verständnis von Materie beschäftigt, nämlich die Quantenphysik74. Parawissenschaftliche Infragestellungen reduktiv-materialistischer Deutungen von Nahtoderfahrungen haben immer wieder die These rekapituliert, dass die wissenschaftstheoretischen Prämissen eines reduktiven Materialismus wesentlichen Erkenntnissen der Quantenphysik nicht gerecht werden. Dabei wurden verschiedene Modelle entworfen, Theorien über Bewusstsein und quantenphysikalische Einsichten miteinander zu vermitteln75. Demgegenüber entgegneten verschiedene Vertreter eines reduktiven Materialismus, dass jene parawissenschaftlichen Deutungen quantenphysikalischer Einsichten nicht überzeugen oder gar pseudowissenschaftlich wären76. In diesen Diskursen tritt signifikant ein wissenschafts- und erkenntnistheoretisches Desiderat zutage, dessen Aufarbeitung noch viel Energie absorbieren wird. Es geht um die Frage, welche Konsequenzen die Einsichten quantenphysikalischer Forschungen für verschiedene natur- und geisteswissenschaftliche Forschungsfelder nach sich ziehen werden77. Diesbezüglich lassen 74 Zur Geschichte und zu gegenwärtigen Diskursfeldern quantenphysikalischer Forschungen vgl. S. Gasiorowicz, Quantenphysik, passim; A. Zeilinger, Spuk, passim. 75 Vgl. u. a. E. Alexander, Vermessung, 95 bzw. 111 f.; G. Ewald, Physik, 215 ff.; M. Niemz, Ewigkeit, passim; P. van Lommel, Bewusstsein, 221–254; G. Lier, Unsterblichkeitsproblem I, 254– 263; E. F. Kelly, Psychology, 630 ff. u. a. 76 Vgl. u. a. C. Hoppe, Quanteneschatologie, 83 f.; C. C. French/A. Stone, Psychology, 108–144 bzw. 255 f.; K. Augustin/Y. I. Fishman, Dilemma, 240 f. 77 Welche Dimensionen derartige interdisziplinäre Herausforderungen in Bezug auf ein wissenschaftliches Verständnis des Phänomens ‚Bewusstsein‘ bzw. ‚Selbstbewusstsein‘ haben, bringt D. J. Chalmers, Mind, XI in der ihm eigenen Sprache treffend auf den Punkt: “Consciousness is the biggest mystery. It may be the largest outstanding obstacle in our quest for a scientific understanding of the universe.”
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sich bisher lediglich erste Ansätze erkennen, in denen zuweilen sehr disparate Einschätzungen propagiert werden und bei denen die Grenzen zwischen wissenschaftstheoretisch seriösen und fragwürdigen Reflexionen zuweilen fließend ineinander übergehen78. In Bezug auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen war dieses Forschungsfeld bisher zumeist ein Beispiel dafür, wie wissenschaftliche Kommunikation misslingen kann. Zu einer angemessenen Aufarbeitung des skizzierten Forschungsfeldes wird es kommen müssen79. Gerade hier gilt jene bereits zuvor formulierte These: Signifikante Fortschritte der Erforschung von Nahtoderfahrungen sind erst zu erwarten, wenn interdisziplinäre Kommunikationen zustande kommen und gelingen. Eine zentrale Herausforderung besteht somit darin, eine kontinuierliche Kooperation der an diesen Forschungen beteiligten Wissenschaften aufzubauen. Doch auch wenn entsprechende Projekte sich derzeit erst in einem frühen Planungsstadium befinden (vgl. die entsprechenden Ausführungen im Vorwort dieser Studie), evoziert bereits die skizzierte wissenschaftstheoretische Schlüsselfrage eine Folgefrage, die im nächsten Arbeitsschritt debattiert werden soll.
78 Exemplarisch sei verweisen auf W. Heisenberg, Kopenhagener Deutung, 27–42; Ders., Rolle, 181–201; R. Penrose, Quantentheorie, 87 ff.; S. Hawking, Quantenkosmologie, 105 ff.; F. J. Tripler, Physik, 204–220; P. C. W. Davies/J. R. Brown (Hg.), Quantenphysik, passim; P. Davies, Existenz, 69–79 bzw. 275–277; G. Schrupp, Naturwissenschaft, passim; A. Zajonc, Licht, 265 ff.; F. Capra, Physik, 51 ff.; J. C. Eccles, Selbst, 213 ff.; Ders./K. Popper, Gehirn, passim; K. Nelson, Brain, passim; H.-P. Dürr, Weltauffassungen, 157–168; D. J. Chalmers, Mind, 333–357; M. Müller, Leben, 321 ff.; C. Koch, Bewusstsein, 8 f.; A. Zeilinger, Schleier, 145–169; P. Janich, Neurobiologie, 309–326; Ders., Szientismus, 301 ff.; E. F. Kelly, Psychology, 630 ff.; F. Selleri, Quantentheorie, passim; G. Ewald, Gehirn, 45–65; H. P. Stapp, Mind, passim; J. Horgan, Grenzen, 278–284; M. Esfeld, Quantentheorie, 197–217; W. v. Lucadou, Theorien, 88–100; G. Lier, Unsterblichkeitsproblem I, 118–212; D. Wilson, Physical Laws, 361–365 u. a. 79 Diesbezüglich kann partiell der Einschätzung von C. Hoppe, Quanteneschatologie, 84 zugestimmt werden: „Klar scheint mir jedoch, dass jeder Versuch, das Bewusstsein quantenphysikalisch zu erklären, zum jetzigen Zeitpunkt als verfrüht … betrachtet werden muss, wenn wir die Quantenphysik in all ihren Konsequenzen noch gar nicht begriffen haben.“ Keine Zustimmung muss dabei jedoch jene aus diesem Zitat zunächst weggelassene Einschätzung erfahren, dass derartige Ansätze „daher auch als verfehlt“ zu kategorisieren sind. Zum Vergleich sei exemplarisch auf die bereits im Jahr 1916 von Albert Einstein postulierten ‚Gravitationswellen‘ verwiesen, deren Existenz erst 100 Jahre später bewiesen werden konnte (vgl. D. Giulini/K. Kiefer, Gravitationswellen, 37 ff.). Nachträglich die Überlegungen von Albert Einstein als ‚verfrüht und daher auch als verfehlt‘ einzustufen, wird diesem Sachverhalt sicher nicht gerecht. Gleichwohl bringt dieses Beispiel signifikant zur Geltung, dass wissenschaftliche Prozesse – und auch wissenschaftliche Revolutionen – Zeiträume in Anspruch nehmen können, die nicht-wissenschaftlichen Betrachtern nur schwer zu vermitteln sind.
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5.2 Die interdisziplinäre Erforschung von Nahtoderfahrungen und die ,Struktur wissenschaftlicher Revolutionen‘ Wenn man sich mit der Geschichte der wissenschaftlichen Erforschungen von Nahtoderfahrungen beschäftigt, so drängt sich die Frage auf, inwieweit ihr etwas zu eigen ist, was Thomas S. Kuhn, einer der profiliertesten Wissenschaftsphilosophen und Wissenschaftshistoriker des 20. Jahrhunderts, als die „Struktur (…) wissenschaftlicher Revolutionen“80 bezeichnet hat. Die in hohem Maße kontroversen Debatten evozieren immer wieder eine wissenschafts- und erkenntnistheoretische Schlüsselfrage. Diese Frage ist, ob Nahtoderfahrungen im Rahmen der etablierten Paradigmen der an den Diskussionen beteiligten Wissenschaften angemessen erklärt werden können oder ob sie vielmehr zu Revisionen bzw. Weiterentwicklungen jener Paradigmen herausfordern. Dabei gilt es zu beachten, dass Thomas S. Kuhn an verschiedenen Forschungsfeldern darlegen konnte, dass ‚Paradigmenwechsel‘ oft nicht durch kontinuierliche Entwicklungen innerhalb eines Diskursfeldes herbeigeführt wurden. Dies war vor allem dann der Fall, wenn die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht imstande waren, die historisch gewachsenen Paradigmen ihrer Disziplinen selbstkritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu bestimmen. Wegweisende wissenschaftliche Revolutionen haben sich Kuhn zufolge vielmehr oft dann ereignet, wenn normierte wissenschaftliche Paradigmen in Frage gestellt wurden. In diesem Zusammenhang begegnet wieder jener Begriff der Para- bzw. Protowissenschaft, welcher die Infragestellung bestehender Konventionen einer Wissenschaft kennzeichnet (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 4.5). Diese Entwicklungen beschreibt Kuhn im Sinne eines Kreislaufs, der seinen Anfang in einer Konfrontation temporär normierter Wissenschaftsverständnisse (‚normal sciences‘) und parawissenschaftlicher Ansätze nimmt, die sich im Nachhinein als eine protowissenschaftliche Übergangsphase beschreiben lässt (‚presciences‘). Es folgen Entwicklungsstufen, die als ‚model-drift‘, ‚model-crisis‘, und ‚model-revolution‘ bezeichnet werden können und an deren Ende ein ‚paradigm change‘ steht. Auf diesem Wege wird die ehemalige Parawissenschaft zur normierten Wissenschaft, welche diesen Status beibehält, bis sie wiederum durch neue parawissenschaft-
80 Vgl. T. S. Kuhn, Revolutionen, passim. Zu den bis in die Gegenwart reichenden Diskussionen dieser Konzepte vgl. S. Fuller, Kuhn, passim; K. B. Wray, Epistemology, passim und die instruktiven Beiträge der Sammelbände von W. J. Devlin/A. Bokulich (Hg.), Scientific Revolutions, passim; T. Nickles (Hg.), Kuhn, passim.
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liche Anfragen auf den Prüfstand gestellt wird81. Man darf gespannt sein, wie sich diese Diskurse zu Nahtoderfahrungen diesbezüglich weiterentwickeln werden. In Bezug auf eine wissenschaftsgeschichtliche Einordnung einer Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen gilt es zu beachten, dass auch in jenen Forschungsfeldern, in denen die skizzierten skeptischen bzw. reduktiv-materialistischen Positionen formuliert werden, keine einheitlichen Meinungsbilder existieren. So lehnen es z. B. verschiedene Neurophysiologen und Psychologen aufgrund wissenschaftlicher Beobachtungen ab, Nahtoderfahrungen als Halluzinationen, drogeninduzierte Träume oder Notfunktionen eines sterbenden Gehirns zu kategorisieren82. Eine Schlüsselfrage entsprechender Diskurse kann mit den Worten des Neurologen und Psychologen Dieter Vaitl charakterisiert werden, welche das Dilemma der gegenwärtigen Forschungsdiskussionen treffend auf den Punkt bringen: „Die erste und zentrale Frage lautet: Wie können mentale Prozesse bei klarem Bewusstsein ablaufen, wie sie von NTE-Betroffenen geschildert werden, wenn die bisher bekannten neurophysiologischen und zerebralen Prozesse für einen Bewusstseinsverlust sprechen? (…) Beim derzeitigen Kenntnisstand müssen wir uns eingestehen, dass es für die oben geschilderte Diskrepanz keine plausible Erklärung gibt. Es ist und bleibt ein Paradox!“83
Diese von Dieter Vaitl diagnostizierte Paradoxie ist umso bemerkenswerter, wenn man sich vergegenwärtigt, welche fundamentalen Fragen die Forschungsdiskurse noch immer prägen. Aus einer Fülle solcher offenen Fragen sollen nur einige signifikante Beispiele benannt werden: Wie ist es z. B. zu erklären, dass viele Menschen nach Halluzinationen oder drogeninduzierten Rauschzuständen massive psychologische Probleme erleiden, während die meisten Nahtoderfahrenen nach einer intensiven Verarbeitung gerade diese Erfahrung selbst als Fundament einer neuen positiven Weltsicht verstehen? Warum kommt es infolge von Nahtoderfahrungen zuweilen zu medizinischen Heilungsverläufen, für die es keine schulmedizinische Erklärung gibt? Wenn es – wie oft postuliert wird – möglich wäre, alle Teilaspekte von Nahtoderfahrungen neurophysiologisch 81 Diesen Kreislauf wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen konnte Thomas S. Kuhn an vielen Forschungsfeldern aufzeigen. Exemplarisch sei verwiesen auf die sogenannte Kopernikanische Wende, die Relativitätstheorie und die Entwicklungen der Quantenphysik. 82 Vgl. u. a. B. Greyson, Near-Death Experiences, 315 f.; P. Fenwick, Gehirn, 37–56; E. F. Kelly/ E. W. Kelly/A. Crabtree/A. Gauld/M. Grosso/B. Greyson (Hg.), Irreducible Mind, passim; E. Alexander, Vermessung, 95 bzw. 111 f.; W. Richards/S. Grof/L. Goodman (u. a.), LSDassisted psycho-therapy, 121–150; S. Grof, Beyond death, passim; W. Meili, Phänomen, 191 ff.; K. Ring, Tod, 273 ff. 83 So D. Vaitl, Bewusstseinszustände, 159 f.
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oder pharmakologisch künstlich zu stimulieren, warum werden dann nicht deren therapeutische Potenziale auf psychologischer und physiologischer Ebene regelmäßig künstlich hervorgerufen? Warum können Menschen, die bereits in früher Kindheit erblindet sind bzw. sogar blind geboren wurden, nach einer Nahtoderfahrung beschreiben, wie sie selbst zum Zeitpunkt dieser Erfahrung aussahen und in welcher Umgebung sich die lebensbedrohlichen Ereignisse abgespielt haben? Wie ist es zu erklären, dass taube Menschen auf einmal die Gespräche wiedergeben können, welche Rettungskräfte miteinander führten, als sie in akuter Lebensgefahr gerettet wurden? Wie kommt es dazu, dass Menschen nach einer Operation, die während einer Vollnarkose an ihnen durchgeführt wurde, detailliert beschreiben können, was währenddessen von den behandelnden Ärzten für spezifische Maßnahmen vorgenommen wurden und was sich darüber hinaus im und außerhalb des Operationssaals abspielte? Wie kommt es, dass Menschen während Nahtoderfahrungen fast ausschließlich Verstorbenen begegnen? Und wie kann erklärt werden, dass sie zuweilen nach einer solchen Erfahrung eine Kenntnis von verstorbenen Familienmitgliedern haben, von deren Existenz sie vorher nie etwas gehört hatten? Warum sind einzelne Kernaspekte der ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ einander so ähnlich, obwohl sie von Menschen berichtet werden, die aus völlig unterschiedlichen kulturellen Kontexten stammen? Müsste man demnach postulieren, dass jeder Mensch über ein vergleichbares neuronales Programm verfügt, welches ihm den eigenen Tod erleichtern soll? Wenn in diesem Sinne Nahtoderfahrungen z. B. als Depersonalisierungen in einer Notsituation verstanden werden, welchen Sinn machen dann negative bzw. furchterregende Nahtoderfahrungen? Warum entsprechen die Inhalte der Erfahrungen oft gerade nicht den dogmatischen Vorgaben jener Religionen, in denen die jeweiligen Personen sozialisiert wurden? Derartige Fragen beschäftigen die Nahtodforschung seit ihren Anfängen und werden sie auch weiterhin begleiten84. Sie veranschaulichen, was die eigentlichen Schlüsselfragen wissenschaftlicher Diskurse zu Nahtoderfahrungen sind. Nahtoderfahrungen sind wissenschaftstheoretische Grenzfälle, welche eine neue Zugangsperspektive zu einer Grundfrage menschlicher Existenz eröffnen: Was ist ‚Bewusstsein‘ bzw. ‚Selbstbewusstsein‘? In welchem Verhältnis steht das, was gemeinhin mit den Begriffen ‚Geist‘, ‚Seele‘ und ‚Körper‘ bezeichnet wird? In welchem Verhältnis stehen ‚Geist‘ und ‚Materie‘? 84 In diesen Diskursen lassen sich die bereits erwähnten ‚redundanten Wiederholungen‘ vergleichbarer Diskussionsbeiträge und Argumentationsabläufe beobachten, die m. E. nur überwunden werden können, wenn es zu einem Aufbau interdisziplinärer Arbeitsgruppen kommt, in welchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jener unterschiedlichen Fachbereiche sich kontinuierlich der Erforschung von Nahtoderfahrungen widmen (ausführlich zu entsprechenden Projekten vgl. die Angaben im Vorwort).
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5.3 Nahtoderfahrungen und das Leib-Seele-Problem‘ In den schriftlichen Zeugnissen der antik-mediterranen Religions- und Philosophiegeschichte, die in der vorliegenden Studie betrachtet werden, begegnen verschiedene Begriffe, mit denen unterschiedliche Aspekte menschlicher Existenz differenziert werden sollen. Im besonderen Maße gilt dies für die Trias ‚Geist‘, ‚Seele‘ und ‚Körper‘. Auch wenn sich für diese Begriffe in fast allen entsprechenden Kulturräumen quellensprachliche Äquivalente finden lassen, können dieselben inhaltlich-sachlich sehr unterschiedlich bestimmt sein85. Gleiches gilt für die Frage, in welchem Verhältnis die mit jenen Begriffen bezeichneten Aspekte menschlicher Existenz zueinander in Beziehung gebracht werden. Diskussionen zu diesem Themenfeld lassen sich in fast allen Kontexten der Religions- und Philosophiegeschichte in verschiedensten Kulturen beobachten. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Schlüsselfrage menschlicher Existenz, die oft etwas lapidar mit den Begriffen ‚Leib-Seele-Problem‘ bzw. ‚Geist-Materie-Problem‘ bezeichnet wird. In neuzeitlichen Diskursen tritt ein weiterer Begriff in den Vordergrund, der seinerseits bereits in antik-mediterranen Zeugnissen vorgezeichnet ist, nämlich ‚Bewusstsein‘ bzw. ‚Selbstbewusstsein‘86. Dabei gilt es zu beachten, dass die Erörterungen dieser Aspekte menschlicher Existenz in antiken Zeugnissen vor allem im Kontext religiöser und philosophischer Ausführungen begegnen. Dies hat sich in neuzeitlichen Diskursen geändert, insofern diese Themen in sehr verschiedenen Forschungsgebieten angesprochen werden können (z. B. in der Neurophysiologie, Psychologie, Soziologie, Kognitionswissenschaften, Quantenphysik etc.)87. Wenn dabei Nahtoderfahrungen zum Gegenstand der Diskussionen werden, wird man oft mit einem Grundproblem konfrontiert. Es geht um die Frage, ob menschliches Bewusstsein im Sinne eines reduktiven Materialismus lediglich das Produkt neurophysiologischer Prozesse ist oder ob menschliches Bewusstsein weit mehr als das ist, was physiologisch gemessen werden kann? In den konträren Antworten auf diese Schlüsselfrage 85 Dies wird ausführlich in den nachfolgenden Ausführungen zu den jeweiligen platonischen und frühchristlichen Konzeptionen erläutert. 86 Zu der im Jahr 1719 von Christian Wolff geprägten Übersetzung des lateinischen Begriffs conscientia und der damit beginnenden Begriffsetablierung vgl. C.-F. Graumann, Bewußtsein, 79–130; W. Mack, Psychologie, 180 ff. 87 Zum facettenreichen Spektrum unterschiedlicher Ansätze vgl. u. a. A. Beckermann, Leib-Seele-Problem, passim; P. Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, passim; G. Brüntrup, Leib-Seele-Problem, passim; F. Hermanni/T. Buchheim (Hg.), Leib-Seele-Problem, passim; B. McLaughlin/A. Beckermann/S. Walter (Hg.), Oxford Handbook of Philosophy of Mind, passim; T. Metzinger (Hg.), Bewusstsein, passim; D. J. Chalmers, Mind, passim; S. Blackmore, Bewusstsein, passim.
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begegnen wiederum immer wieder Erklärungsansätze, die mit den Begriffen ‚Produktionshypothese‘ und ‚Transmissionshypothese‘ umschrieben werden können88. Die prinzipielle Ausrichtung dieser Erklärungsmodelle soll im Folgenden mit einem vereinfachenden Bild veranschaulicht werden, welches in den entsprechenden Diskursen bereits vielfach verwendet wurde, und zwar mit dem Vergleich des menschlichen Gehirns mit einem Computer. Im Sinne eines reduktiven Materialismus könnte man das Gehirn mit einem Computer vergleichen, der durch neurophysiologische Prozesse das ‚produziert‘, was gemeinhin mit den Begriffen ‚Bewusstsein‘ bzw. ‚Selbstbewusstsein‘ bezeichnet wird. Inwieweit in einem solchen Konzept die Begriffe ‚Geist‘ oder ‚Seele‘ in ihren historisch vorgeprägten Bedeutungen noch sinnvoll erscheinen können, ist ein Folgeproblem, welches seinerseits sehr unterschiedlich beantwortet werden kann89. In Bezug auf die Dauer der Existenz dieser ‚Seele‘ bzw. dieses ‚Bewusstseins‘ müsste dann gefolgert werden, dass dies nur für die Zeit der Leistungsfähigkeit jenes ‚Computer-Gehirns‘ gilt. Oder um es mit den entsprechenden Worten des bekannten Physikers Stephen Hawking zu veranschaulichen: „Ich betrachte das Gehirn als einen Computer, der aufhört zu funktionieren, wenn seine Bestandteile versagen. Es gibt keinen Himmel und kein Leben nach dem Tod für kaputte Computer. Dies ist ein Märchen für Leute, die Angst vor der Dunkelheit haben.“90
Im Kontrast hierzu gehen Erklärungsansätze im Sinne einer ‚Transmissionshypothese‘ davon aus, dass das Gehirn das Bewusstsein nicht produziert, sondern vermittelt. Auch diese Hypothese kann wiederum durch einen Vergleich mit einem Computer veranschaulicht werden. Ein Computer kann z. B. seinem Benutzer die Signale des Internets vermitteln. Wenn dieser Computer aus 88 Zu den forschungsgeschichtlichen Hintergründen dieser Terminologie vgl. G. Lier, Unsterblichkeitsproblem, 789–808. 89 Entsprechend konstatiert W. Mack, Psychologie, 167 – seines Zeichens Professor für allgemeine Psychologie – leicht süffisant, dass die „aktuelle Psychologie … eine Psychologie ohne Seele“ ist. Letzteres entbehrt nicht einer gewissen Ironie, insofern der Begriff ‚Psychologie‘ schlicht ‚Wissenschaft von der Seele‘ bedeutet. Zu Implikationen derartiger Welt- und Menschenbilder für religiöse und theologische Selbstverständnisse vgl. D. Evers, Materie, passim; P. Becker/U. Diewald, Herausforderung, 9–18; J. Dierken, Einleitung, 1–12; F. Steger/J. Brunner, Seele, 13–28; M. Kurthen, Hirnforschung, 125–146; A. Steinmeier, Seelsorge, 195–218; R. Langthaler, Seele, 271–313; R. Barth, Innerlichkeit, 315–328; U. Barth, Schicksal, 105–123; P. Janich, Szientismus, 289–309; B. Kanitschneider, Zukunft, 37–53; H.-D. Mutschler, Kritik, 55–68; R. Eckel/H.-P. Großhans, Gegner, 85 ff. u. a. 90 So anschaulich in den Worten des britischen Physikers Stephen Hawking, welche er in einem Interview für die Zeitung ‚The Guardian‘ formulierte (zitiert nach der deutschen Übersetzung in einer Ausgabe des Magazins ‚Focus‘ vom 26. 2. 2015).
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irgendeinem Grund nicht mehr funktioniert, so bedeutet dies nicht, dass die Signale des Internets nicht mehr existieren. Sie können nur nicht mehr empfangen werden. In einem solchen Konzept sind die Begriffe ‚Geist‘, ‚Seele‘ und ‚Körper‘ durchaus wieder sinnvoll. Der Begriff ‚Körper‘ steht dabei für die materiell fassbaren Aspekte menschlicher Existenz, ‚Geist‘ und ‚Seele‘ hingegen für jene Aspekte, welche eine rein materielle Ebene übersteigen. Eine prinzipielle Frage der weiteren Forschungen zu diesem Themenfeld ist, ob es Phänomene gibt, welche den Grad der Plausibilitäten der konträren Erklärungsansätze präziser einschätzen lassen. Derartige Fragen werden hirnphysiologische und psychologische Diskurse zu Nahtoderfahrungen noch lange beschäftigen. Wie zuvor skizziert wurde, wird dabei nicht nur weiter zu fragen sein, was man eigentlich mit den Begriffen ‚Bewusstsein‘, ‚Geist‘ oder ‚Seele‘ bezeichnet, sondern – was oftmals zu wenig diskutiert wurde – ebenso, was eigentlich unter ‚Körper‘, ‚Stofflichkeit‘ und ‚Materie‘ zu verstehen ist (vgl. Kapitel 2; 5.1–2). Die Komplexität dieser Fragestellungen kann in Bezug auf ein wissenschaftliches Verständnis des Phänomens ‚Bewusstsein‘ und noch mehr in Bezug auf das Phänomen ‚Selbstbewusstsein‘ mit dem Philosophen David James Chalmers folgendermaßen skizziert werden: „Consciousness, however, is as perplexing as it ever was. It still seems utterly mysterious that the causation of behavior should be accompanied by a subjective inner life. We have good reason to believe that consciousness arises from physical systems such as brains, but we have little idea how it arises, or why it exists at all. How could a physical system such as brain also be an experiencer? Why should there be something it is like to be such a system? Present-day scientific theories hardly touch the really difficult questions about consciousness. We do not just lack a detailed theory; we are entirely in the dark about how consciousness fits into the natural order.“91 Diese im Jahre 1996 formulierte Einschätzung steht jener These nahe, die im „Manifest … (e)lf führender Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung“ im Jahre 2004 zu lesen war: „Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet, wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als ‚seine‘ Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte“92. Diesbezüglich sei zudem auf die in hohem Maße anregende Lektüre einer Sammlung von 91 Vgl. D. Chalmers, Mind, XI. 92 Vgl. C. E. Elger/A. D. Friederici/C. Koch/H. Luhmann/C. v. d. Malsburg/R. Menzel/H. Monyer/ F. Rösler/G. Roth/H. Scheich/W. Singer, Manifest, 33.
Wissenstheoretische Schlüsselfragen interdisziplinärer Forschungen
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Diskussionen verwiesen, welche Susan Blackmore mit unterschiedlichen themenspezifisch relevanten Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern führte und im Jahr 2012 edierte93, welche sie selbst zu einem bemerkenswerten Resümee führten: Auf die grundlegende Frage, „wie physikalische Prozesse im Gehirn subjektive Erfahrungen hervorrufen können“, hat „niemand … eine Antwort …, auch wenn manche das von sich glauben.“94
Man darf gespannt sein, wie diese Diskurse sich weiter entwickeln werden. Doch auch diesbezüglich muss wiederum konstatiert werden, dass profunde Fortschritte der Diskussionen nur dann zu erwarten sind, wenn es zu einem Aufbau interdisziplinärer Arbeitsgruppen kommt, in welchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachbereiche sich kontinuierlich der Erforschung von Nahtoderfahrungen widmen können (zur Planung entsprechender Projekte vgl. die Angaben im Vorwort). Gleichwohl erscheint es ratsam, für diese weiterführenden interdisziplinären Kooperationen methodische und thematische Akzentverschiebungen zu erwägen, welche die Akzente der Diskussionen verlagern und neue Ebenen der Verständigung ermöglichen. Worin diese bestehen, soll im Folgenden erläutert werden. 5.4 Diskursanalytische Potenziale interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen Angesichts der konträren, partiell diffusen Diskussionen zu interdisziplinären Forschungen zu sogenannten Nahtoderfahrungen soll im Folgenden auf potentielle wissenschafts- und erkenntnistheoretische Verschiebungen der Zugangsperspektiven hingewiesen werden, welche die Akzente der Diskussionen verlagern und neue Ebenen der Verständigung ermöglichen können. Interdisziplinäre Forschungen zu Nahtoderfahrungen können wertvolle Impulse erfahren, wenn sie aus diskursanalytischen Perspektiven betrachtet werden. Auch wenn unter dem Sammelbegriff ‚Diskursanalyse‘ eine Vielzahl unterschiedlicher, zuweilen kaum miteinander vermittelbarer Theoriebildungen subsumiert werden, so haben solche Zugangsperspektiven eine vergleichbare Grundausrichtung95. Es geht nicht nur darum, die inhaltlichen Beiträge der jeweiligen Diskursteilnehmer wahrzunehmen. Es geht ebenso darum zu analysieren, wie 93 S. Blackmore, Bewusstsein, passim. 94 Op. cit., 11. 95 Zur geschichtlichen Entwicklung und zum facettenreichen Spektrum unterschiedlicher diskursanalytischer Konzepte in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen vgl. neben Einleitungswerken wie u. a. B. Paltridge, Discourse Analysis, passim; M. Bloor/T. Bloor, Discourse Ana-
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die jeweiligen Diskussionen gestaltet werden, wie bestehende Meinungsbilder infrage gestellt, bestätigt, verteidigt oder sogar gegen Infragestellungen immunisiert werden. Die Komplexität einer solchen Zugangsperspektive potenziert sich nochmals, wenn ein Sachverhalt in die Diskussionen einbezogen wird, der skizzenhaft bereits bei der Sichtung konträrer Versuche einer Definition des Begriffs ‚Nahtoderfahrungen‘ erkennbar wurde (s. u. Kapitel 2; Arbeitsschritt 2.1). Die exemplarisch ausgewählten Definitionsansätze basieren auf jeweils unterschiedlichen disziplinengeschichtlichen Prämissen. Wie bereits verschiedentlich erwähnt wurde, sollten die Reflexionen dieser Prämissen und ihrer jeweiligen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe einbezogen werden, wenn es zu konstruktiven Fortschritten der Diskussionen kommen soll. Diskursanalytisch betrachtet gilt es aber ebenso zu beobachten, wie die jeweiligen Prämissen und die damit einhergehenden Meinungsbilder historisch etabliert wurden. Dies geht einher mit der Frage, wie Ansprüche auf Deutungshoheit in Bezug auf wissenschaftliche Fragestellungen begründet bzw. konstruiert werden. Neben solchen wissenschaftshistorischen Perspektiven gilt es auch zu berücksichtigen, welche Formen einer gesellschaftlichen Repräsentation die Meinungsbilder gefunden haben, wie sich diese gesellschaftlichen Repräsentationen ihrerseits verändern und welche gesellschaftlichen Konstellationen dazu führen, dass wissenschaftliche Meinungsbilder sich etablieren können bzw. gegebenenfalls Modifikationen unterzogen werden müssen (diese diskursanalytischen Ebenen korrespondieren somit in gewisser Hinsicht mit den zuvor skizzierten Beobachtungen von Thomas S. Kuhn zu der Frage, was das ‚Wesen und die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen‘ ausmacht). Welche konkrete Gestalt die diskursanalytischen Prämissen und Methoden zeitgenössischer Diskursebenen zum Phänomen ‚Nahtoderfahrungen‘ annehmen werden96, muss noch nicht Gegenstand der vorliegenden Studie sein, insofern der thematische Schwerpunkt derselben religions- und philosophiegeschichtlicher Natur ist. Aus diesem Grund werden vor allem Prämissen und Methoden gewählt, die sich an der sogenannten ‚Historischen Diskursanalyse‘ orientieren97. Die methodischen Prämissen und Strukturen dieses Ansatzes werlysis, passim die instruktiven Beiträge der Sammelbände von R. Keller/A. Hirseland/W. Schneider/W. Viehöver (Hg.), Diskursanalyse; Bd. 1, passim; J. Angermüller/K. Bunzmann/M. Nonhoff (Hg.), Diskursanalyse, passim. 96 Zu entsprechenden Vorüberlegungen vgl. die methodologischen Einleitungen zu dem interdisziplinär angelegten Sammelband S. Gripentrog/J. Kugele/E. E. Popkes, Grenzlinie, passim. 97 Die u. a. an den Konzepten von A. Landwehr, Historische Diskursanalyse, passim; K.-M. Bogdal, Untersuchungen, passim orientierten Ansätze beziehen zudem themenspezifisch relevante Aspekte der u. a. von S. Jäger konzipierten ‚kritischen Diskursanalyse‘ ein (vgl. S. Jäger, Kritische Diskursanalyse, passim). Zu entsprechenden Konzepten im Bereich historisch-kritischer Exegese vgl. neben den programmatischen Beiträgen des Sammelbandes S. E. Porter/
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den jedoch erst im Zusammenhang der Einleitung des zweiten Teilbandes der vorliegenden Monographie erläutert. Dieses Vorgehen begründet sich in der inhaltlichen Struktur der beiden Teilbände. Der Schwerpunkt des ersten Teilbandes besteht in der Frage, in welcher Weise sogenannte ‚Nahtoderfahrungen‘ einen Zugang zu den Hintergründen und Gestaltwerdungen der platonischen und paulinischen Welt- und Menschenbilder gewähren. Dabei werden die entsprechenden Konzepte von Platon und Paulus zunächst getrennt voneinander wahrgenommen. Demgegenüber soll im zweiten Teilband thematisiert werden, wie diese jeweiligen Welt- und Menschenbilder in der Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums miteinander in Beziehung getreten sind und sich beeinflusst haben – mit anderen Worten: ein Diskursfeld erschaffen haben (ausführlich hierzu vgl. Kapitel 6). Vor dem Hintergrund der skizzierten Positionen und wissenschaftstheoretischen Schlüsselfragen wissenschaftlicher Deutungen von Nahtoderfahrungen und den Erwägungen zu methodischen Akzentverschiebungen innerhalb der Diskursfelder soll nun veranschaulicht werden, wie sich die Forschungen der letzten Jahre entwickelt haben und welche weiteren Perspektiven sich daraus ergeben.
6. Die mediale Vermittlung von Nahtoderfahrungen Ein prinzipielles Problem einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen ‚Nahtoderfahrung‘ ist die Frage, auf welchen unterschiedlichen Ebenen dieselben medial vermittelt werden. Der erste Schritt ist hierbei, dass Menschen infolge solcher Erfahrungen sich überhaupt dafür entscheiden, über dieselben zu sprechen. Wie jedoch eingangs erläutert wurde, ist diese Versprachlichung bereits für sich genommen ein erstes wissenschaftstheoretisches Grundproblem, insofern die überwiegende Mehrzahl von Nahtoderfahrenen hervorheben, dass ihre Erfahrungen sprachlich kaum angemessen wiedergegeben werden können (vgl. Kapitel 1; Arbeitsschritt 6). Wenn sich Menschen jedoch dafür entscheiden, ihre Erfahrungen mitzuteilen, so stellt sich die Folgefrage, welche medialen Vermittlungsformen hierfür zur Verfügung stehen98.
J. T. Reed, Discourse Analysis, passim u. a. S. Scholz, Art. Diskursanalyse, passim; Ders., Ideologien, passim; H. Tiedemann, Erfahrung, passim; E. Castelli, Paulus, passim und v. a. S. Luther, Sprachethik, 23–46, deren diskursanalytische Zugänge zur Sprachethik in frühchristlichen Zeugnissen instruktive Leitlinien entsprechender Methodologien aufzeigen. 98 Zu den religionssoziologischen Grundproblemen dieser medialen Vermittlungen und ihrer Auswertungen vgl. H. Knoblauch, Berichte, passim.
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Dieses prinzipielle Problem soll im Folgenden anhand von drei Themenfeldern erläutert werden. Zunächst soll das generelle Phänomen skizziert werden, wie es dazu kam, dass aufgrund multimedialer Vermittlungen das Phänomen ‚Nahtoderfahrung‘ einen immer höheren Grad an Bekanntheit erlangte und inzwischen als „Massenphänomen“99 bezeichnet werden kann (6.1). Vor diesem Hintergrund sollen zwei der wichtigsten Unterkategorien jener generellen Vermittlungsebenen differenziert werden, die wechselseitig aufeinander bezogen sind, nämlich empirische Sammlungen und Kategorisierungen von Nahtoderfahrungen (6.2) und autobiographische Erfahrungsberichte (6.3). 6.1 Die multimedialen Vermittlungen von ,Nahtoderfahrungen‘ als religionssoziologische Massenphänomene Die Eigentümlichkeit der sukzessiv zunehmenden Bekanntheit des Phänomens Nahtoderfahrungen möchte ich mit einem persönlichen Beispiel veranschaulichen. Ich selbst habe das Thema in jugendlichem Alter durch eine Lektüre der ersten Studie von Raymond A. Moody (Life after Life: the investigation of a phenomenon – survival of bodily death, Erstausgabe San Francisco 1975) kennengelernt, auf welche ich zufällig in einer Buchhandlung aufmerksam wurde. Als ich Mitglieder meiner Familie und meines Freundeskreises fragte, ob sie von solchen Phänomenen schon einmal etwas gehört hatten, stieß ich größtenteils auf völlige Unkenntnis. Zudem wurde mir seitens des christlich-konservativen Umfelds, in welchem ich religiös sozialisiert wurde, empfohlen, mich gar nicht erst mit solchen Dingen zu beschäftigen100. Gleichwohl hatte ich mich u. a. aufgrund dieser Impulse bereits relativ früh dazu entschieden, Theologie und Philosophie zu studieren. Auch wenn ich privat versucht habe, mich über neue Forschungen zu diesem Thema zu informieren, wurden Nahtoderfahrungen im Rahmen meines Studiums und meiner wissenschaftlichen Qualifikationsphase nicht eigens thematisiert. Dies änderte sich für mich grundlegend, nachdem ich meine Professur an der Universität Kiel antrat und unabhängig von karriere-strategischen Erwägungen meine weiteren Forschungsschwerpunkte wählen konnte. So kam es einerseits dazu, dass ich sukzessive den Ansatz der vorliegenden Studie und weiterer Forschungsprojekte ausgearbeitet habe (zur Skizze weiterer Forschungsprojekte vgl. die Angaben im Vorwort). Anderer 99 So B. Jacoby, Brücke, 8. 100 Zuweilen gab es sogar Warnungen, ich solle mich von einem solchen Thema generell fernhalten, weil es sich um eine diabolische Verführung handeln könnte. Entsprechende Einschätzungen existieren seit den ersten größeren Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen und werden bis in die Gegenwart hinein reformuliert. Zur Übersicht vgl. W. Thiede, Literatur-Rückblick, passim; J. Bruhn, Horizont, 108 ff.
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seits entschied ich mich dazu, meine Forschungen auch in meiner Lehrtätigkeit zu dokumentieren. Als ich für das Sommersemester 2015 das Seminar ‚Nahtoderfahrungen – Aufgabe und Herausforderung für Theologie und Kirche?‘ ankündigte, war bereits die Sitzung der Lehrplan-Kommission reich an Überraschungen. Zunächst waren meine Kolleginnen und Kollegen verwundert, dass ich mich diesem Thema zuwende. Daraufhin war ich selbst erstaunt, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kommission das Thema in unterschiedlicher Intensität kannten und meine Pläne unterstützten. Noch größer wurde die Überraschung jedoch, als die Lehrveranstaltung schließlich durchgeführt wurde. Es war das mit Abstand am besten besuchte Seminar, welches ich bis zu jenem Zeitpunkt geleitet hatte – und dies, obwohl auch in den ersten Jahren meiner Tätigkeit an der Theologischen Fakultät der Universität Kiel der Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ weder in meiner Anwesenheit noch von mir selbst erwähnt wurde. In den ersten Sitzungen des Kollegs nahm ich mir eingehend Zeit, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu befragen, woher sie das Thema eigentlich kennen. Dabei zeigte sich etwas, was ich im Folgenden mit dem Begriff ‚multimediale Vermittlung‘ bezeichnen möchte. Die Studierenden benannten so ziemlich alle Medien, die man sich für eine Vermittlung von Informationen vorstellen kann, also z. B. Bücher, Artikel in Zeitungen, Zeitschriften oder Illustrierten, Sendungen im Fernsehen oder Radio, Texte oder Interviews im Internet, Filme etc. Neben diesen indirekten Vermittlungsformen gab es unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltung jedoch auch eine Vielzahl von direkten Kontakten mit Personen, die für sich in Anspruch nehmen, Nahtoderfahrungen durchlebt zu haben. In persönlichen Gesprächen außerhalb der Lehrveranstaltungen wurde mir zudem anvertraut, dass auch einige Nahtoderfahrene selbst an der Veranstaltung teilgenommen haben. Demgegenüber wurde die universitäre Lehre kaum als Vermittlungsebene für diesbezügliche Informationen bezeichnet. Für die vorliegende Studie ist dabei aufschlussreich, dass Theologie und Kirche ebenfalls kaum als entsprechende Vermittlungsinstanzen benannt wurden. Diese persönlichen Erfahrungen sind sicherlich kein Einzelfall. Die mediale Präsenz des Themas in unterschiedlichsten Sprach- und Kulturräumen lässt sich leicht dokumentieren. Dies entspricht verschiedenen Studien, die zu dem Schluss kommen, dass Nahtoderfahrungen keine selten auftretenden Erfahrungsmuster sind, sondern dass sie eher als ein „Massenphänomen“101 bezeichnet werden können. Exemplarisch sei auf Erhebungen hingewiesen, die zu dem Ergebnis kommen, dass ca. 4–5 % aller Menschen entsprechende Erfahrungen in ihrem
101 So B. Jacoby, Brücke, 8.
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Leben machen102. Viele dieser Betroffenen haben jedoch Bedenken, darüber zu sprechen, da sie Sorgen haben, für verrückt gehalten zu werden. Aus diesem Grund war das Phänomen früher bei weitem nicht so bekannt wie heute. Je mehr jedoch Nahtoderfahrungen aus dem Bereich einer psychologischen Pathologisierung heraustreten, desto mehr Menschen sind bereit, über sie zu reden. Noch präziser könnten diese Entwicklungen jedoch als ‚religionssoziologische Massenphänomene‘103 bezeichnet werden. Viele Menschen entwickeln infolge von Nahtoderfahrungen religiöse bzw. spirituelle Vorstellungen, die nur in wenigen Fällen unmittelbar aus den jeweiligen religiösen Sozialisierungen heraus erklärt werden können (vgl. hierzu Kapitel 2; Arbeitsschritt 7 und die dabei formulierten Anmerkungen zu den zuweilen unreflektiert verwendeten Begriffen ‚Religion‘, ‚Religiosität‘ und ‚Spiritualität‘). Religionssoziologisch betrachtet ist bemerkenswert, dass es dabei zu neuen Formen von religiös motivierten Gemeinschaftsbildungen kommen kann. Welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf vorhandene, historisch gewachsene Religionsgemeinschaften haben wird, ist noch nicht absehbar104. Dies ist jedoch einer von vielen Aspekten, der zutage treten lässt, warum das Themenfeld ‚Nahtoderfahrungen‘ auch für wissenschaftliche Theologie und Kirche eine Aufgabe und Herausforderung sein sollte (vgl. hierzu Kapitel 2; Arbeitsschritt 9). Meines Erachtens wird sich die sukzessiv zunehmende Bekanntheit dieses Phänomens nochmals verstärken, wenn es zu einem kontinuierlichen Gegen-
102 Vgl. u. a. G. Gallup, Jr./W. Proctor, Adventures, passim; H. Knoblauch, Berichte, passim; I. Schmied-Knittel/H. Knoblauch/B. Schnettler, Todesnäherfahrungen, 217–250. 103 Vgl. B. Jacoby, Brücke, 8. 104 Entsprechend konstatierte bereits im Jahre 1999 der Religionssoziologe H. Knoblauch, Berichte, 201: „Auch wenn diese Spiritualität in der Subjektivität der Transzendenzerfahrung verankert ist, zwingt sie keineswegs unbedingt zur Einsamkeit. Denn immer öfter beobachten wir, daß sich diejenigen zusammentun, die solche Erfahrungen machen – gleichsam Erfahrungsgemeinschaften bildend. … In den Vereinigten Staaten trifft das auch auf die Betroffenen von Nahtoderfahrungen zu, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich auch bei uns solche Gemeinschaften bilden“. Diese Einschätzung hat sich nach nun fast zwanzig Jahren voll bestätigt, da es nicht nur im deutschsprachigen Bereich, sondern in vielen Ländern entsprechende Vereinigungen gibt. Exemplarisch sei diesbezüglich verwiesen auf die bereits im Jahr 1978 gegründete ‚International Association for Near Death Studies, INC‘ (vgl. J. Miner Holden/B. Greyson/D. James, Near-Death Studies, 4 ff.), speziell für den deutschsprachigen Raum zudem auf das im Jahr 2004 gegründete ‚Netzwerk-Nahtoderfahrung e. V.‘ (zur Entstehungsgeschichte und den Intentionen vgl. A. Serwaty, Netzwerk, 143 f.). Religionssoziologisch betrachtet ist dabei bemerkenswert, dass viele solcher Vereinigungen in unterschiedlichen Sprachräumen mit vergleichbaren Konfliktfeldern konfrontiert werden, die zu Spannungen und sogar zu Spaltungen führen können. Dies gilt vor allem für die Vermittlung rational-wissenschaftlicher und individuell-erfahrungsbezogener Zugangsperspektiven.
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stand interdisziplinärer Forschungen und Lehre wird105. In dieser Hinsicht können Nahtoderfahrungen mit anderen Erfahrungshorizonten und deren Folgen verglichen werden, für die es früher auch keine gesellschaftliche Akzeptanz gab. Als eine negative Vergleichsgröße können z. B. posttraumatische Belastungsstörungen infolge traumatischer Kriegserfahrungen verstanden werden. In früheren Entwicklungsstadien einer medizinischen bzw. psychologischen Beurteilung dieser Phänomene wurde oft postuliert, dass es sich hierbei lediglich um Einbildungen oder um Versuche handeln würde, sich den weiteren Herausforderungen von Kriegshandlungen zu entziehen (exemplarisch sei auf die im Zuge des Ersten Weltkriegs aufkommende diffamierende Bezeichnung ‚Kriegszitterer‘ verwiesen, denen u. a. eine ‚Schützengrabenneurose‘ attestiert wurde106). Heute ist es selbstverständlich anerkannt, dass Menschen in der Verarbeitung traumatischer Kriegserfahrungen massive psychische bzw. psychosomatische Beeinträchtigungen erleiden können, die eine Reintegration in eine normale bürgerliche Existenz extrem belasten107. Meines Erachtens werden sich Nahtoderfahrungen in vergleichbarer Weise zu einem Erfahrungsmuster entwickeln, dessen potentielle Möglichkeit gesellschaftlich akzeptiert sein wird – auch wenn die Folgen konstruktiv verarbeiteter Nahtoderfahrungen so ziemlich das exakte Gegenteil zu posttraumatischen Belastungsstörungen verkörpern (zu entsprechenden psychologischen und biographischen Konsequenzen s. u. Kapitel 2; Arbeitsschritt 7). Dabei ist es zunächst lediglich von Relevanz, den Erfahrungsanspruch von Menschen wahrzunehmen. Bei solchen ersten Kommunikationen sollte noch nicht die Frage im Vordergrund stehen, wie jene Erfahrungen wissenschaftlich erklärt werden können. Inhaltlich-sachlich betrachtet begegnen in den skizzierten multimedialen Vermittlungen zumeist zwei unterschiedliche Gattungen von Informationen, die 105 Der Journalist und Publizist Franz Alt spricht sogar von „dem Beginn des Zeitalters der Nahtoderfahrungen“ (vgl. F. Alt, Jesus, 65). Zur Zurückhaltung universitärer Forschung und Lehre formulierte Günter Ewald, Professor für Mathematik und Mitbegründer des Netzwerk-Nahtoderfahrung e. V. im Jahre 2000 treffend: „Man könnte annehmen, dass an den Universitäten sowohl Naturwissenschaft als auch Theologie sehr am Thema Nahtod-Erfahrungen interessiert sind. Das ist jedoch kaum der Fall. Die Abstinenz wird sich nicht auf Dauer aufrecht erhalten lassen; dafür sind die anstehenden Fragen zu drängend. Das Alibi, man wolle sich nicht in die Szenerie von Spuk, Ufos und okkultem Unfug begeben, reicht nicht aus. Man unterlässt ja auch nicht die Wissenschaft der Astronomie mit der Begründung, die Astrologie würde sich ebenfalls mit Sternen beschäftigen.“ (vgl. G. Ewald, Jenseits, 31). 106 Ausführlich hierzu K.-H. Biesold/K. Barre, Militär 489 f.; P. Liebermann/W. Wöller/T. Siol/ L. Reddemann, Einleitung, 16 bzw. G. Flatten/W. Wöller/L. Redemann/A. Hoffmann, Therapie, 109. 107 Dies wird auch in den Richtlinien der World Health Organization (WHO) als kulturübergreifendes und therapiebedürftiges Krankheitsbild anerkannt. Vgl. A. Haase/M. Schützwohl, Diagnostik, 102 f. Zu konkreten Therapieformen vgl. A. Hoffmann/G. Flatten/T. Siol/E. R. Pertold, Versorgung, 143 ff.
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ihrerseits wechselseitig aufeinander bezogen sind, nämlich empirische Sammlungen und Kategorisierungen von Nahtoderfahrungen (6.2) und einzelne autobiographische Erfahrungsberichte (6.3). Was mit dieser Differenzierung gemeint ist, soll im Folgenden erläutert werden. 6.2 Empirische Sammlungen und Kategorisierungen von Nahtoderfahrungen Die eingangs angesprochene Studie von Raymond A. Moody kann als die erste größere systematische Dokumentation von Erfahrungsberichten verstanden werden, die heute unter dem Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ subsumiert werden (s. o. 2.1). Gleichwohl muss konstatiert werden, dass es rückblickend betrachtet bereits viele Ansätze solcher Sammlungen gab, die freilich nicht mit einer entsprechenden Terminologie arbeiteten und die keine vergleichbare mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnten108. Seit den Studien von Moody hat es hingegen eine Vielzahl weiterer empirischer Erhebungen gegeben, so dass sich die Diskussionsgrundlage der Forschung gegenüber den skizzierten Anfängen signifikant gewandelt hat. Auch die methodischen Prämissen jüngerer Studien sind inzwischen wesentlich differenzierter als dies in den Anfängen der Fall war. Entsprechende Recherchen wurden in unterschiedlichen geographischen Regionen und kulturellen bzw. sprachlichen Kontexten durchgeführt109. Ebenso waren die strukturel108 Zu den Anfängen wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen, die bereits lange vor den Studien von Moody zu verorten sind, vgl. C. Zaleski, Jenseitsvisionen, 147–152; D. Vaitl, Bewusstseinszustände, 145 f.; J. Nicolay, Einführung, 62–97; G. Lier, Unsterblichkeitsproblem I, 579 f.; E. F. Kelly/E. W. Kelly/B. Greyson, Near Death, 367 ff.; J. Schlieter, Nahtoderfahrungen, passim. Als ein Beispiel für frühe individuelle Erfahrungsberichte kann verwiesen werden auf die vielfach zitierten Erfahrungen des Geologie-Professoren Albert Heim, welche ihm während eines Absturzes bei einer Bergbesteigung im Jahr 1872 zuteil wurden (vgl. A. Heim, Notizen, passim). Ferner sei verwiesen auf die Studien des Arztes Eckart Wiesenhütter und des evangelisch-lutherischen Theologen Johann Christoph Hampe, deren Erstveröffentlichungen nahezu zeitgleich (1974 bzw. 1975) mit der im Jahr 1975 edierten Studie von Moody erschienen sind, die jedoch keine vergleichbare internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnten (vgl. E Wiesenhütter, Sterben, passim; J. C. Hampe, Sterben, passim). Vgl. ferner R. L. White/S. C. Liddon, Survivors, 219–225; R. A. Kalish, Experiences, 84–96 und verschiedene Facetten der frühen Studien der schweizerischen Ärztin Elisabeth Kübler-Ross, die später u. a. in ihrer Studie ‚On Life after Death‘ (1991) zusammengefasst wurden. 109 Vgl. u. a. A. Kellehear, Near-Death Experiences, passim; Ders., Hawaiian Near-death experience, passim; C. Becker, Buddhism, 154–171; S. Blackmore, India, 205–217; C. Carr, Tibetan and Euro-American experiences, 59–110; D. A. Counts, Melanesian society, 115–135; J. S. Gómez-Jeria, Mapuche people, 219–222; A. Serwaty, Kulturkreis, 238–250; J. T. Green, Chommorro culture, 6 ff.; J. T. Green/P. Friedman, Southern California population, 77–95; J. M. Holden/J. Long/J. MacLurg, Western Near-Death Experiencers, passim; J. H. Lindley/
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len Herangehensweisen unterschiedlich ausgerichtet. Einerseits konnte über verschiedene Medien wie dem Internet bzw. briefliche Anfragen nach entsprechenden Erfahrungsberichten gesucht werden110. Andererseits gab es prospektive Studien, in denen Patientinnen und Patienten, die medizinische Notsituationen wie z. B. einen Herzstillstand überlebt hatten, gezielt auf etwaige Erfahrungen hin befragt wurden111. Besondere Aufmerksamkeit wurde immer wieder der Frage gewidmet, inwieweit kulturelle bzw. religiöse Prägungen für die Inhalte von Nahtoderfahrungen von Relevanz sein können. Angesichts der breiten medialen Aufmerksamkeit, die Nahtoderfahrungen inzwischen auf sich ziehen, wurde auch der Frage nachgegangen, inwiefern sich zwischen entsprechenden Berichten, die in der Zeit vor bzw. nach 1975 – also vor bzw. nach der Veröffentlichung der erste Studie von Raymond A. Moody – dokumentiert wurden, signifikante inhaltliche Veränderungen beobachten lassen112. Weitere Modifikationen erfahren jüngere empirische Erhebungen darin, dass inzwischen verschiedene Kategorisierungen der Intensität und Spezifität von Nahtoderfahrungen entwickelt wurden113. Ebenso werden empirische Erhebungen zu einzelnen Teilaspekten etwaiger Nahtoderfahrungen durchgeführt114. Dies gilt z. B. für die Frage, in welcher Weise sich Nahtoderfahrungen von blinden bzw. blind geborenen Menschen von denjenigen Erfahrungen unterscheiden, die Menschen mit einem normalen Sehvermögen gehabt haben115. Ebenso wurde verschiedentlich analysiert, wie sich entsprechende Erfahrungen von Kindern unterschiedlicher Altersstufen, die noch keine fortgeschrittenen kulturellen bzw. religiösen Prägungen erfahren haben, zu den
S. Bryan/B. Conley, Pacific Northwest American population, 104–124; C. R. Lundahl, Mormon Near-death experiences, 101–104 bzw. 107; Ders., The perceived other world, 319–327; H. Knoblauch/I. Schmied, Berichte, 187–215; H. Knoblauch/I. Schmied/B. Schnettler, Different kinds, 15–29; S. Pasricha, South India, 161–171; Dies., Channapatna, 111–118; F. Zhiying/L. Jian-xun, Tangshan earthquake, 39–48 u. a. 110 Exemplarisch sei verwiesen auf die entsprechenden Projekte von Jeffrey Long und Hubert Knoblauch (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 2.2). 111 Vgl. u. a. P. van Lommel, Bewusstsein, passim; P. Sartori, Prospective Study, 34–40; Dies./ P. Badham/P. Fenwick, A prospectively studied, 69–84; P. Schwanninger/P. R. Eisenberg/K. B. Schechtman (Hg.), Prospective Analysis, 215–232. 112 Vgl. G. K. Athappilly/B. Greyson/I. Stevenson, Reports of near-death experiences, 218–222. 113 So z. B. von B. Greyson, The Near-Death Experience Scale, 369–375; K. Ring, Life, passim; C. S. Alvarado/N. L. Zingrone, Factors related, 339–344; J. Long, Leben, 17 ff.; R. Lange/B. Greyson/J. Houran, Scaling Validation, 161–177. 114 Diesbezüglich kann verwiesen werden auf verschiedene Studien zu außerkörperlichen Erfahrungen wie z. B. C. S. Alvarado, Features, 331–332; S. Parnia, Aware, passim. 115 U. a. K. Ring/S. Cooper, Mindsight, passim; Dies., Near-Death, 101–147; J. Long, Leben, 127 ff.
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Berichten Erwachsener verhalten116. Auch partiell bzw. vollständig negativ wahrgenommene Nahtoderfahrungen zogen eine hohe Aufmerksamkeit auf sich117. Eine Fragestellung, die in vielen vorliegenden Studien in unterschiedlichen Variationen wiederholt wird, ist, inwiefern Nahtoderfahrungen Kernelemente aufweisen, die inhaltlich-sachlich miteinander vergleichbar sind bzw. inwieweit Diversitäten auftreten, die nicht miteinander vermittelbar sind118. Um dieses Problem angemessen aufarbeiten zu können, wird es einerseits notwendig sein, weitere empirische Erhebungen durchzuführen. Andererseits müssen jedoch auch die bereits durchgeführten Erhebungen nicht nur in Bezug auf ihre inhaltlich-sachlichen Erträge miteinander verglichen werden, sondern vor allem auch in Bezug auf die jeweils gewählten methodischen Prämissen und wissenschaftsspezifischen Zugangsperspektiven. Doch auch unabhängig hiervon gilt es sich einen Sachverhalt zu vergegenwärtigen, der in allen relevanten Beiträgen hervorgehoben wird: Nahtoderfahrungen sind keine nur selten auftretende Phänomene, die statistisch betrachtet eine zu vernachlässigende Größe sind (zur Einstufung von Nahtoderfahrungen als religionssoziologische ‚Massenphänomene‘ s. o. 6.1)119. Bereits die weite und kulturübergreifende Verbreitung entsprechender Erfahrungen rechtfertigt es, Nahtoderfahrungen als einen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen zu betrachten. 6.3 Autobiographische Erfahrungsberichte Neben den zuvor angesprochenen empirischen Erhebungen, Recherchen und Kategorisierungen liegen inzwischen auch viele Berichte einzelner Personen vor, die aufgrund eigenständiger Initiativen ihre individuellen Erfahrungen dokumentieren und zur Diskussion stellen. Neben dem Medium Buch werden autobiographische Erfahrungsberichte auch auf allen zuvor genannten medialen Vermittlungsebenen verbreitet, also z. B. in Form von Interviews in TV, Radio, Internet-Blogs bzw. Internet-Videos, themenspezifischen Gruppenbildungen in
116 Vgl. M. L. Morse/P. Castillo/D. Venecia u. a., Population, passim; P. M. H. Atwater, Children, passim; E. Elsaesser-Valerino, Land, passim. 117 Vgl. J. Long, God, 153–172; M. Schröter-Kunhardt, Negative Nah-Todeserfahrungen, 195– 246; B. Rommer, Segen, passim; B. Greyson/N. E. Bush, Distressing near-death experiences, 95–110; P. M. H. Atwater, Is there a hell?, 149–160; N. E. Bush, Afterward, 99–133; H. J. Irwin/ B. A. Bramwell, Devil, 38–43 etc. 118 Vgl. diesbezüglich die Kritik von H. Knoblauch, Berichte, 18 an dem von ihm so genannten „Standardmodell“. 119 Dies wird auch von Vertreterinnen und Vertretern sogenannter skeptischer bzw. reduktiv- materialistischer Zugangsperspektiven eingeräumt.
Psychologische und biographische Konsequenzen
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sozialen Netzwerken, in Form von Theaterstücken bzw. Kabarett, Filmen etc.120 Autobiographisch dokumentierte Erfahrungsberichte unterscheiden sich von den zuvor skizzierten empirischen Sammlungen und Kategorisierungen vor allem in Bezug auf ihre persönlich-emotionale Akzentuierung. Im Vordergrund steht dabei selten eine Bemühung um eine wissenschaftlich-distanzierende Sprache und um eine um Neutralität bemühte Bewertung der Erfahrungen, sondern um die damit einhergehenden Modifikationen der jeweiligen Welt- und Menschenbilder und individuellen Lebenssituationen121. Worin letztere bestehen können, soll im Folgenden erläutert werden.
7. Psychologische und biographische Konsequenzen von Nahtoderfahrungen Ein besonderer Fokus der Forschungsdiskurse widmet sich der Frage, welche Folgen Nahtoderfahrungen für das weitere Leben der Betroffenen haben können, ob sich z. B. psychologische und physiologische Auswirkungen, Wandlungen ethischer Wertevorstellungen, religiöser Weltbilder oder individueller Lebensgestaltungen beobachten lassen122. Auch in diesem Bereich werden oftmals die individuellen Konstellationen voneinander differenziert, welche das Leben der Betroffenen vor und nach Nahtoderfahrungen prägten bzw. prägen, ob Nahtod120 So gibt es z. B. in verschiedensten Sprachen Video-Kanäle, die sich ausschließlich der Sammlung autobiographischer Erfahrungsberichte widmen. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Phänomen, dass die in den USA in hohem Maße bekannte TV-Moderatorin Oprah Winfrey in ihren Sendungen einer Vielzahl von Menschen, die Nahtoderfahrungen für sich in Anspruch nehmen, die Möglichkeit gegeben hat, von jenen Erfahrungen und den daraus resultierenden Konsequenzen öffentlich zu sprechen. Da das Phänomen auf diese Weise eine enorme mediale Präsenz in den USA erreicht hat, sprechen einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereits von dem sogenannten ‚Oprah-Effekt.‘ 121 Als Sonderfall sei diesbezüglich wiederum verwiesen auf die diskursanalytisch in hohem Maße aufschlussreichen Streitigkeiten um die Thesen und die Person des US-amerikanischen Neurochirurgen Eben Alexander (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 3; Beispiel 6). 122 Stellvertretend für eine große Fülle entsprechender Studien sollen genannt werden u. a. G. Groth-Marnat/R. Summers, Altered beliefs, 110–125; K. Ring/E. Elsaesser-Valerino, Leben, 120 ff.; P. M. H. Atwater, Beyond, passim; J. Long, God, 93 ff.; Ders., Leben, passim; R. Noyes, Attitude, passim; D. Raft/J. J. Andresen, Transformations, 319–346; M. Bauer, Attitude change, 39–47; R. J. Bonenfant, Comparative study, 155–178; J. E. Colli/T. E. Beck, Recovery, 33–55; D. K. Corcoran, Helping, 34–39; C. P. Flynn, Human transformation, passim; B. Greyson, Psychic Phenomena, 26–29; Ders., Anti-suicidal attitudes, 81–89; Ders., Reduced death threat, 523–536; Ders., Personal values, 618–620; Ders., Satisfaction, 103–108; R. Hoffman, Disclosure habits, 29–48; M. L. Morse, Light, passim; C. Musgrave, Transformation, 187–201; P. R. White, Transformation, 163–185; J. Wren-Lewis, Aftereffects, 107–115; C. Sutherland, Changes, 21–31; S. R. Christian, Marital satisfaction, passim; M. Insinger, Family relationships, 141–181; A. Kelleher/P. Heaven/J. Gao, Community, 163–173 u.v.m.
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
erfahrungen z. B. infolge von Suizidversuchen auftraten, welche psychologischen Prädispositionen die Betroffenen hatten, welche religiösen und weltanschaulichen Ansichten sie vor und nach ihren Erfahrungen vertreten haben etc. Im Bereich dieser Zugangsperspektiven lässt sich ein Phänomen beobachten, welches bereits für sich genommen zu weiteren Forschungen inspirieren kann. Prinzipiell kann konstatiert werden, dass viele von Nahtoderfahrungen betroffene Menschen oftmals zunächst die Sorge bewegt, dass sie auf Unverständnis treffen bzw. dass sie schlicht für verrückt gehalten werden, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen. Wenn es ihnen jedoch gelingt, die Erfahrungen und die mit ihnen einhergehenden neuen Einstellungen und Ansichten konstruktiv in ihr weiteres Leben zu integrieren, so werden diese Wandlungen von den Betroffenen oft als in hohem Maße positiv bezeichnet. Demgegenüber sind langfristige negative Folgen wie z. B. posttraumatische Belastungsstörungen bzw. bleibende Angstzustände kaum dokumentiert123. Probleme bereiten psychologische Verarbeitungen von Nahtoderfahrungen vor allem in solchen Konstellationen, in denen die jeweiligen Mitmenschen nicht bereit bzw. fähig sind, die neu gewonnenen Lebenseinstellungen der Betroffenen zu tolerieren bzw. zu akzeptieren. In diesen Fällen kann es dazu kommen, dass Nahtoderfahrene ihr Leben grundlegend ändern, z. B. im Bereich von Partnerschaften, beruflichen Tätigkeiten, Distanzierungen von vertrauten religiösen oder sozialen Gemeinschaften etc. Zudem ist bemerkenswert, dass viele von Nahtoderfahrungen betroffene Menschen verstärkt altruistisch ausgerichtete Lebenseinstellungen entwickeln. So wird z. B. oftmals einer solidarischen Fürsorge für hilfsbedürftige Mitmenschen oder der Wahrnehmung von Natur und Umwelt eine gesteigerte Wertschätzung zuteil, während das Streben nach materiellen Werten wie Reichtum bzw. einem höheren Lebensstandard an Bedeutung verliert. Neben diesen ethischen bzw. lebenspraktischen Akzentverschiebungen entwickeln viele Menschen infolge von Nahtoderfahrungen auch Ansichten, die als religiöse bzw. spirituelle Vorstellungen bezeichnet werden können. Dies gilt z. B. für individuell gewonnene Überzeugungen, dass der körperliche Tod nur als das Ende der vorfindlichen körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz zu verstehen sei. Auch wenn – wie bei jedem anderen Menschen – der Prozess des Sterbens z. B. aufgrund von schweren Krankheiten als belastende Lebensphase wahrgenommen werden kann, haben viele Nahtoderfahrene vor dem Tod selbst keine Angst mehr. 123 Eine solche Problematik kann entstehen, wenn die vorfindliche Existenz nicht mehr ertragen werden kann und an die Stelle einer Todesangst eine Todessehnsucht tritt. Vgl. hierzu E. Wiesenhütter, Sterben, 28 bzw. 77; J. Nicolay, Verklärung, 109 ff.; B. Greyson, Posttraumatic Stress Symptoms, 368–378; P. M. H. Atwater, Children, 93 u. a.
Religions- und kulturgeschichtliche Vergleichsgrößen
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Ebenso entwickeln viele von Nahtoderfahrungen betroffene Menschen den Glauben an eine höhere Sinngebung ihrer Existenz und neue bzw. modifizierte Gottesvorstellungen. Dabei lässt sich in den Ausführungen der Betroffenen zuweilen ein eigentümliches Changieren der Begriffe ‚Religion‘ und ‚Spiritualität‘ beobachten. Mit dem Begriff ‚Religion‘ wird dabei oft auf etablierte Religionsgemeinschaften und deren dogmatisch verfasste Lehrtraditionen Bezug genommen, während der Begriff ‚Spiritualität‘ als Ausdruck für eine unmittelbar wahrgenommene Glaubensüberzeugung verstanden wird, welche keine institutionell verfasste Autorisierung benötigt bzw. sich einer solchen Autorisierung bewusst entzieht124. Diese Terminologien bedürfen freilich weiterer Reflexionen, insofern sie gerade bei der Suche nach religions- und kulturgeschichtlichen Vergleichsgrößen zu Nahtoderfahrungen zuweilen fließend ineinander übergehen können bzw. andere Konnotationen besitzen125.
8. Religions- und kulturgeschichtliche Vergleichsgrößen zu Nahtoderfahrungen Ein besonders weites Forschungsfeld eröffnet sich, wenn nach religions- und kulturgeschichtlichen Vergleichsgrößen zu Nahtoderfahrungen gefragt wird. Bereits die gegenwärtig vorliegenden empirischen Erhebungen zu Nahtoderfahrungen vermitteln den Eindruck, dass Nahtoderfahrungen kultur- bzw. religionsübergreifend auftretende Phänomene verkörpern. Das Spektrum potentieller Vergleichsgrößen vergrößert sich jedoch exponentiell, wenn auch erwogen wird, welche Zeugnisse menschlicher Kulturen vergangener Epochen direkte bzw. indirekte Affinitäten und Analogien zu zeitgenössischen Berichten von entsprechenden Erfahrungen aufweisen. Bereits in den frühesten Beiträgen der Nahtodforschung wurde auf verschiedene historische Vergleichsgrößen verwiesen, die bis in die jüngere Gegenwart hinein immer wieder in die Diskussion einbezogen werden. Die dabei 124 Zu diesen Phänomenen vgl. H. Knoblauch, Berichte, 198 ff., der aus religionssoziologischer Perspektive treffend konstatiert: „Die Popularität der Nahtoderfahrung zeugt also nicht nur von der zunehmenden Offenheit der westlichen Kultur gegen den Tod. Sie deutet auch an, daß wir uns in Richtung auf eine neue Form der Religiösität, also der individuellen religiösen Sinngebung, bewegen, die sich außerhalb der Kirchen abspielt. Aber können wir überhaupt von Religiösität reden? Dürfen wir sagen, die Nahtoderfahrung sei religiös?“ (op. cit, 198). Diese m. E. völlig berechtigte Frage beantwortet H. Knoblauch, Berichte, 199 selbst folgendermaßen: „Noch angemessener aber wäre es, sie als Ausdruck einer sehr zeitgemäßen Form der Spiritualität anzusehen.“ 125 Zu entsprechenden terminologischen Abgrenzungen vgl. S. Peng-Keller, Spiritualität, passim; H. Knoblauch, Berichte, 199–202; S. Huber/C. Klein, Konstrukträume, 53–65.
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angeführten Zeugnisse sind oftmals in völlig unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten entstanden. Exemplarisch für das facettenreiche Spektrum etwaiger Vergleichsgrößen sei verwiesen auf Passagen des Ägyptischen und Tibetanischen Totenbuchs, auf Sequenzen des Gilgamesch-Epos oder der platonischen Werke, einzelne Aspekte biblischer Traditionen, auf verschiedene Aspekte der christlichen Kirchen- und Theologiegeschichte (v. a. im Bereich mystischer Traditionen und der Divina Commedia des hochmittelalterlichen Dichters Dante Alighieri, vgl. Titelbild), auf schamanistische Vorstellungshorizonte etc.126. Neben schriftlich manifestierten Zeugnissen menschlicher Kultur gilt es jedoch auch zu beachten, inwieweit Nahtoderfahrungen in ikonographischen und kunstgeschichtlichen Werken Niederschlag gefunden haben können. Dies gilt z. B. einerseits für altorientalische bzw. ägyptische Wandmalereien, die an Beschreibungen von außerkörperlichen Erfahrungen erinnern, andererseits für Kunstwerke, welche Ähnlichkeiten zu Berichten von Nahtoderfahrungen aufweisen (exemplarisch sei verwiesen auf das Werk ‚Flug zum Himmel‘ des spätmittelalterlichen Malers Hieronymus Bosch127). Gleichwohl muss konstatiert werden, dass bei vielen solchen Vergleichen zuweilen recht hohe Defizite in Bezug auf die Reflexion der methodischen Prämissen zu beobachten sind. Dies gilt im Besonderen für die Frage, in welcher Weise literarische bzw. ikonographische Zeugnisse, die im Zusammenhang völlig konträrer kultureller Kontexte entstanden sind, methodisch sachgemäß mit Berichten verglichen werden können, die durch neuzeitliche Studien zugänglich wurden und deren Erhebungen wissenschaftlichen Nachfragen unmittelbar zugänglich sind128. Es kann jedoch festgehalten werden, dass gerade in diesem Bereich der Nahtodforschung besondere Entwicklungspotentiale liegen. Der vorliegende Ansatz, Nahtoderfahrungen als Zugangsperspektiven zum Platonismus und zum frühen Christentum zu betrachten, kann auch als ein Diskussionsbeitrag zu diesem Forschungsfeld verstanden werden (vgl. die methodologischen Vorüberlegungen in Kapitel 1; Arbeitsschritt 5).
126 Zu entsprechenden Ansätzen vgl. H.-P. Duerr, Seele, passim; S. Högl, Transzendenzerfahrungen, 98–190; S. Rinpoche, Leben, 375 ff.; R. A. Moody, Life, passim; C. Zaleski, Otherworld Journeys, 26 f.; H. Knoblauch, Begegnungen, 42 ff.; E. Alexander, Map, 47; M. N. March, Near-Death-Experiences, 190 ff.; J. Nicolay, Nahtoderfahrungen, 14 f.; R. Lachner, Trennung, 107 f.; G. Ewald, Nahtoderfahrungen, passim; A. F. Segal, Religious Experiences, passim; I. Czachesz, Cognitive Science, 157–166; A. Bryson, Bahá’í Faith, passim u.v.m. 127 Zu weiteren kunstgeschichtlichen Beispielen vgl. H.-P. Duerr, Seele, 409 ff. 128 Zu einer entsprechenden Kritik vgl. die instruktiven Überlegungen von J. N. Bremmer, NearDeath Experiences: Ancient, Medieval and Modern, passim.
Nahtoderfahrungen als Thema von Theologie und Kirche
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9. Nahtoderfahrungen als Thema von Theologie und Kirche Seit geraumer Zeit inspiriert das Themenfeld Nahtoderfahrungen in verschiedenen wissenschaftlichen Diskursfeldern massive Kontroversen (z. B. in Bereichen der Psychologie, Medizin, Neurophysiologie, Philosophie, Soziologie, Physik, Ethnologie, Religionswissenschaft etc.). Im Bereich wissenschaftlicher Theologie hat es bisher jedoch nur eine verhältnismäßig geringe Aufmerksamkeit erfahren129. Demgegenüber lassen sich in Verlautbarungen unterschiedlicher kirchlicher Institutionen sogar „zuweilen feindselige Reaktionen“ beobachten130. Dies verwundert umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass verschiedene nicht-theologische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, welche sich der Erforschung von Nahtoderfahrungen widmen, immer wieder darauf hingewiesen haben, dass sich auch Theologinnen und Theologen an den Diskussionen beteiligen sollten131. Eine Ursache für dieses Phänomen könnte im wissenschaftstheoretischen und erkenntnistheoretischen Selbstverständnis akademischer Theologie liegen. In der jüngeren Forschungsgeschichte wurde oft postuliert, theologische Wissenschaft aus dem Bereich der universitas litterarum zu verbannen132. Entsprechend sind viele Theologinnen und Theologen 129 Als ein Beispiel für eine frühe, kritische Reaktion im Bereich wissenschaftlicher Theologie vgl. u. a. H. Küng, Leben, 27–33. Zur Skizze von Reaktionen im Bereich von Theologie und Kirche vgl. S. Högl, Transzendenzerfahrungen, 378–387; W. Thiede, Vorhang, passim; Ders., Literatur-Rückblick, passim; Ders., Tod, passim; J. Bruhn, Horizont, 108–123; J. Nicolay, Gott, 236 ff.; Ders., Nahtoderfahrungen, 13–32; D. Schmelter, Nahtoderfahrungen, 125–151; W. Schweer, Hoffnung, passim; H. Häring, Tunnel, 121–154 etc. Dabei gilt es zu beachten, dass im Kontrast zu den wenigen Beiträgen aus dem Bereich der wissenschaftlichen Theologie bereits seit geraumer Zeit viele Stimmen aus dem Bereich der kirchlichen Praxis auf dieses Thema hingewiesen haben. Vgl. die entsprechenden Hinweise in Kapitel 2; Anm. 147. 130 So H. Knoblauch, Berichte, 150. 131 Exemplarisch für eine Vielzahl entsprechender Stimmen sei verwiesen auf die Einschätzung des Religionssoziologen H. Knoblauch, Berichte, 153: „Für (…) Christen bilden persönliche religiöse Erfahrungen traditionsgemäß eine wichtige Grundlage des Glaubens. Das wären freilich nicht die einzigen Gründe, aus denen sich die Theologie den Nahtoderfahrungen eigentlich zuwenden müsste. Ihr erstes und auch pastorales Motiv müssten die vielen Menschen sein, die diese Erfahrung machen und sich mit ihr auseinandersetzen. Doch die christliche Theologie stellt ihnen tatsächlich wenig Hilfe und Möglichkeiten bereit, eine solche Erfahrung der Transzendenz zu deuten. Diese Lücke wird – häufig und überraschenderweise – von vielen gefüllt, die sich eigentlich die (wissenschaftlich neutrale) Erforschung der Nahtoderfahrung zum Ziel gesetzt haben.“ 132 Derartige Dispute entwickelten sich vor allem in solchen Zusammenhängen, in denen kirchliche Instanzen die Freiheit von Forschung und Lehre einzugrenzen bzw. zu regulieren versuchten (zu verfassungsrechtlichen Vorgaben bzw. Spielräumen theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten vgl. H. M. Heinig, Verfassung, 279–300). Exemplarisch sei verwiesen auf die in diskursanalytischer und kirchenrechtlicher Perspektive in hohem Maß interessanten Streitigkeiten um das Werk des römisch-katholischen Dogmatikers Hans Küng und um den evangelischen Neutestamentler Gerd Lüdemann. Für die vorliegende Fragestellung ist dabei
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darum bemüht, die wissenschaftlichen Standards ihrer Disziplin vor möglichen Infragestellungen zu schützen. Frühe Forschungen zu Nahtoderfahrungen hatten jedoch oft eine Nähe zu solchen Diskussionskreisen, die man landläufig als esoterisch bezeichnen könnte. Dieser Esoterikverdacht war für viele Theologinnen und Theologen unterschiedlicher Fachdisziplinen bereits für sich genommen ein Grund, sich gar nicht erst auf dieses Thema einzulassen. Verschiedene Bereiche der jüngeren internationalen und interdisziplinären Nahtodforschung konnten sich jedoch von jenem Esoterikverdacht distanzieren. Diese Entwicklungen sind im Bereich wissenschaftlicher Theologie oft noch nicht registriert worden. Wandlungen dieser Diskussionslage lassen sich erst in der jüngeren Forschungsgeschichte beobachten133. Im Folgenden sollen thetisch einige repräsentative Themen benannt werden, die theologische Zugangsperspektiven zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen bilden können. Ein eindrückliches Beispiel befindet sich im Bereich kirchengeschichtlicher Forschungen, nämlich im Bereich sogenannter mystischer Traditionen134. In diesem Gebiet begegnen Berührungspunkte mit Nahtoderfahrungen, die geradezu frappierend sind. Dabei gilt es sich den eingangs erläuterten Sachverhalt zu vergegenwärtigen, dass der Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ eigentlich unpräzise ist, insofern entsprechende Erfahrungsmuster auch unabhängig von einer akuten Todesnähe wahrgenommen werden können135. Vor diesem Hintergrund sollen aus dem Bereich der christlichen Mystik zwei Beispiele angeführt werden, in denen jene Analogien signifikant zutage treten, nämlich Überlieferungen von Meister Eckhart (1260–1328) und Teresa von Ávila (1515–1582). Beide Personen können als zwei der bedeutendsten Vertreter der hochmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Mystik verstanden werden. Viele Vertreter(innen) einer solchen Spiritualität beschäftigen sich vor allem mit der Erfahrung einer Transzendenz, einer die Rationalität menschlichen Denkens übersteigende Dimension, welche sie durch meditative Praktiken zu erreichen versuchten. Meister Eckhart und Teresa von Ávila waren aber auch darum bemüht, derartige Erfahrungen rational zu reflektieren und mit vorgegebenen theologischen und philosophischen von Relevanz, dass die Streitigkeit um Gerd Lüdemann sich an Auferstehungsvorstellungen entzündet haben, die im zweiten Band der vorliegenden Studie im Zentrum des Interesses stehen werden. 133 Exemplarisch sei verweisen auf die Beiträge von S. Peng-Keller, Todesnähe, 36–48; H. Kessler, Tod, 44–87; K. Müller, Eschatologie, 109–124; D. Schmelter, Nahtoderfahrungen, 125–151 etc. 134 Entsprechend konstatiert M. Schröter-Kunhardt, Nah-Todeserfahrungen, 192, dass „NDEs die häufigsten mystisch-religiösen Erfahrungen überhaupt“ sind. 135 Zu diesem Sachverhalt und den damit einhergehenden Konsequenzen für eine Modifikation der Terminologie vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 2.2.
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Konzepten in Beziehung zu setzen. Die Fundamente ihres Welt- und Menschenbildes sind jedoch oft nicht in rationalen Reflexionen begründet, sondern in Erfahrungen, die den gängigen Spektren alltäglicher Erfahrungen enthoben sind136. Für beide Personen soll im Folgenden ein signifikantes Beispiel benannt werden. So formuliert z. B. Meister Eckhart in Bezug auf sein Gottesbild folgende bemerkenswerte These: „Was Gott an sich selbst ist, dazu kann niemand kommen, der nicht in ein Licht entrückt wird, das Gott selbst ist.“137
Bereits diese kurze These erinnert stark an das Motiv einer Begegnung mit einem transzendenten Lichtwesen, welches oft im Rahmen moderner Berichte von Nahtoderfahrungen erwähnt wird. Für das für die vorliegende Studie zentrale Motiv einer ‚Erfahrung göttlicher Liebe‘ ist dieser Aspekt von konstitutiver Bedeutung138. Dass Meister Eckhart mit seinen Worten im Bereich der christlichen Mystik nicht alleine steht, soll mit einem Verweis auf Teresa von Ávila veranschaulicht werden. In diesem Zusammenhang ist unzweifelhaft zu erkennen, dass Teresa auf eigene Erfahrungen verweist. Aus einer Vielzahl potentieller Vergleichstexte soll folgende autobiographische Aussage angeführt werden: „Ich dachte, ich würde zum Himmel emporgehoben: Die ersten Personen, die ich dort sah, waren meine Mutter und mein Vater, und so großartige Dinge passierten dort in so kurzer Zeit … Ich wünschte, ich könnte eine Beschreibung wenigstens des kleinsten Teils von dem, was ich dort lernte, geben – aber wenn ich versuche, einen Weg zu finden, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, empfinde ich dies als unmöglich. Denn obwohl das Licht, das wir hier sehen, und jenes andere Licht, beide Licht sind, gibt es doch keine Ähnlichkeit zwischen den beiden und die Hel136 Zu diesen Facetten der jeweiligen Werke vgl. J. Sudbrack, Liebe, passim; V. Leppin, Mystik, 96 ff.; W. Herbstrith, Kirchenlehrerin, passim; D. Mieth, Einheit, 38 ff. 137 Zitiert nach G. Landauer, Meister Eckhart, 171. 138 Bei Meister Eckhart ließen sich viele vergleichbare Motive benennen, die Analogien zu Teilaspekten von Nahtoderfahrungen erkennen lassen. In kirchengeschichtlichen Diskursen wird dabei immer wieder debattiert, inwieweit Eckhart diese Motive aufgrund eigener Erfahrungen formuliert, oder ob es sich eher um rational konstruierte Beschreibungen bzw. Rekapitulationen der Erfahrungen anderer Personen handelt. In jedem Fall kann festgehalten werden, dass Meister Eckhart subjektiven Erfahrungen, die sich rationaler Reflexion entziehen, kritisch gegenübersteht. Vgl. D. Mieth, Einheit, 40: „Erfahrung ist … bei Eckhart nicht einfach zu haben. Er ist gegenüber einer Vorstellung vom Erfahren, die vom Erleben her kommt, äußerst kritisch. Auf das Empfundene … kommt es nicht an. Die höhere Erfahrung spürt man nicht, weil man nicht dort wohnt, wo sie zu Hause ist, bei Gott.“
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ligkeit der Sonne erscheint ziemlich trübe im Vergleich mit jenem anderen. (Nach dieser Erfahrung) blieb mir … nur wenig Angst vor dem Tod, vor dem ich vorher sehr viel Angst hatte.“139
Dass diese Worte von Meister Eckhart und Teresa von Ávila eine hohe Affinität zu zeitgenössischen Berichten von Nahtoderfahrungen haben, kann kaum in Abrede gestellt werden140. Aber ebenso wie bei dem Anliegen der vorliegenden Studie – also dem Vergleich von Nahtoderfahrungen mit platonischen bzw. frühchristlichen Traditionen – stellt sich auch hier die Frage, wie zeitgenössische Berichte mit mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Traditionen verglichen werden können. Wurden diese Beschreibungen durch vergleichbare Erfahrungen inspiriert? Derartigen Fragen werden sich Kirchenhistoriker stellen müssen, welche sich an der wissenschaftlichen Erforschung von Nahtoderfahrungen beteiligen. Auch im Bereich der Systematischen Theologie lassen sich verschiedene Anschlussmöglichkeiten benennen. Wenn z. B. im Bereich theologischer Dogmatik nach dem Verständnis menschlicher Existenz gefragt wird, so begegnet man unweigerlich jenem bereits eingangs angesprochenen Problem, welches nahezu die gesamte abendländische Geistesgeschichte bewegte, nämlich dem sogenannten ‚Leib-Seele-Problem‘. Es geht also um die zentrale anthropologische Frage, in welchem Verhältnis jene Aspekte menschlicher Existenz stehen, die gemeinhin mit den Begriffen ‚Leib‘, ‚Seele‘ oder ‚Geist‘ bezeichnet werden. Oder um es mit jenem Begriff zu beschreiben, der in der jüngeren Nahtodforschung omnipräsent ist: Was ist menschliches Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein? Ist menschliches Bewusstsein im Sinne einer reduktiv-materialistisch orientierten Hirnforschung lediglich das Produkt neurophysiologischer Prozesse oder ist menschliches Bewusstsein weit mehr als das, was physiologisch messbar ist?141 Dies sind Schlüsselfragen der wissenschaftlichen Erforschung von Nahtoderfahrungen. Systematisch-theologische Dogmatikerinnen und Dogmatiker sollten sich m. E. diesen Diskursen nicht weiterhin entziehen142. Stattdessen 139 Zur Texttradition und Einordnung dieses Diktums in die Theologie von Teresa von Ávila vgl. J. Cressy, Nahtoderfahrung, 63 f. 140 Diese Bezüge wurden bereits in den Anfängen der Nahtodforschung benannt und werden auch von kirchengeschichtlichen Fachexperten zugestanden. Vgl. u. a. P. Dinzelbacher, Jenseits, passim; C. Zaleski, Jenseitsvisionen, 70 ff.; P. L. Berman, Himmel, 167 ff. 141 Derartige systematisch-theologische Anschlussfähigkeiten erläutern in jüngerer Zeit U. Eibach, Nahtoderlebnisse, passim; H. Kessler, Tod, 44 ff.; W. Thiede, Vorhang, passim; Ders., Literatur-Rückblick, passim; Ders., Tod, passim. 142 Exemplarisch sei auf das Phänomen hingewiesen, dass in verschiedenen Beiträgen, die in jüngerer Zeit aus einer theologischen Perspektive dem ‚Leib-Seele-Problem‘ gewidmet sind, Nahtoderfahrungen nicht thematisiert werden. Vgl. u. a. die Beiträge der Sammelbände von
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lassen derzeit vorliegende theologisch-dogmatische Äußerungen zum Phänomen Nahtoderfahrungen zuweilen eine deutliche Unkenntnis der jüngeren Forschungsdiskussionen erkennen143. Eine weitere Zugangsperspektive lässt sich im Bereich einer systematisch-theologisch profilierten Ethik erkennen. Psychologisch betrachtet sind diesbezüglich vor allem die Folgen von Nahtoderfahrungen bemerkenswert. Wie bereits skizziert wurde, entwickeln viele Betroffene infolge von Nahtoderfahrungen Glaubensüberzeugungen und Wertesysteme, in denen altruistische Haltungen, soziale Fürsorge für Mitmenschen und eine Verantwortung für die Natur und Umwelt massiv in den Vordergrund treten. Ein Streben nach materiellen Werten oder Reichtum tritt hingegen in den Hintergrund (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 7). Dies sind wiederum Glaubens- und Wertevorstellungen, die auch für eine theologische Ethik von zentraler Bedeutung sind. Es stellt sich somit die Frage, wie es sein kann, dass gerade diese Erfahrungen zu Ausbildungen von Wertevorstellungen führen können, die Grundaspekten christlicher Ethik nahestehen. Auch in diesem Bereich sollte m. E. wissenschaftliche Theologie fähig sein, zu diesen Phänomenen Stellung zu beziehen144. Viele Zugangsperspektiven zur wissenschaftlichen Erforschung von Nahtoderfahrungen begegnen im Bereich der Praktischen Theologie. Oft suchen Menschen nach Nahtoderfahrungen Kontakt zu kirchlichen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern. Wenn kirchliche Seelsorgerinnen und Seelsorger für dieses Thema jedoch keinerlei fachliche und menschliche Sensibilität besitzen, können solche Begegnungen für die Bewältigungsprozesse der Betroffenen sehr negative Folgen haben145. Ebenso ist es ein bedauernswertes Desiderat, dass es seitens verschiedener christlicher Konfessionen kaum offizielle Verlautbarungen J. Dierken/M. D. Krüger (Hg.), Seele, passim; B. Janowski/C. Schwöbel/F. Hermanni (Hg.), Seele, passim. 143 Dies gilt besonders für die Einschätzung von M. Mühling, Eschatologie, 161, der mit einem losen Verweis auf Raymond A. Moody und Elisabeth Kübler-Ross folgende Schlussfolgerung zieht: „Aus all dem folgt nur, dass aus Nahtoderfahrungen aus medizinischer Sicht über den Tod schlichtweg nichts auszusagen ist. Noch deutlicher muss aus theologischer Sicht den Interessen an sog. Nahtoderfahrungen begegnet werden. Denn es könnte sich herausstellen, dass das Interesse an Nahtoderfahrungen darauf beruht, aus der Sicht von vorläufigen, nicht eschatischen Erwartungshorizonten extrapolative Aussagen über den Tod als einen letztlich eschatischen Sachverhalt […] treffen zu wollen, was nur als Kategorienfehler, wenn nicht sogar als sündhafter Versuch des Verfügbarmachenwollens von Unverfügbarem beurteilt werden kann.“ In den meisten sonstigen Einführungswerken zum Themenfeld ‚Eschatologie‘ werden hingegen Nahtoderfahrungen schlicht ignoriert. 144 Zu entsprechenden Ansätzen vgl. A. Munzinger, Ethik, passim. 145 Dies gilt im besonderen Maße für konservativ-evangelikale Reaktionen, die entsprechende Erfahrungen schlicht als Gefahren einer diabolischen Verführung deuten. Zur Übersicht entsprechender Strömungen vgl. W. Thiede, Literatur-Rückblick, passim; J. Bruhn, Horizont, 108 ff.
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
bzw. Stellungnahmen zu Nahtoderfahrungen gibt, die jenen komplexen wissenschaftlichen Diskursen gerecht werden, welche sich in der jüngeren Forschungsgeschichte entwickelt haben146. Alleine in Anbetracht der großen Zahl von Nahtoderfahrungen ist zu fragen, ob eine Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen nicht in eine praktisch-theologische Ausbildung einbezogen werden sollte147. Gleiches gilt für religionspädagogische Ausbildungen. Angehende Religionslehrerinnen und Religionslehrer sollten während ihres Studiums dazu befähigt werden, zu einem Phänomen wissenschaftlich reflektiert Stellung zu beziehen, das in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen eine hohe Aufmerksamkeit erfährt und multimedial präsent ist. Es gilt sich jedoch auch das Phänomen zu vergegenwärtigen, dass Menschen, die ‚Nahtoderfahrungen im engeren Sinne‘ und vor allem ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ für sich in Anspruch nehmen, starke religiöse und spirituelle Lebenshaltungen entwickeln. Angesichts dessen kann auch gefragt werden, inwiefern Nahtoderfahrungen ihrerseits etwas zu einer Revitalisierung christlicher Religiosität oder Spiritualität beitragen148.
146 Dieses Phänomen dokumentiert sich eindrücklich darin, dass Nahtoderfahrungen bisher in den meisten Einführungswerken zum Themenfeld ‚Seelsorge‘ kaum bzw. thematisch unangemessen zur Sprache gebracht werden. Zu Modifikationen dieser Sachlage und zu Potenzialen dieses Themas für kirchliche Seelsorge vgl. die Erwägungen von R. Kunz, Seelsorge, passim; S. Peng-Keller, Todesnähe, 65 ff. bzw. 125 ff.; H. Fugmann, Nahtoderfahrungen, passim; S. Bobert, Mystik, passim etc. 147 Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass gerade jene Personen, die z. B. im Bereich der Krankenhaus- bzw. Hospizseelsorge tätig sind, mit Nahtoderfahrenen in Kontakt treten und aufgrund dessen die Wichtigkeit einer kirchlich-theologischen Auseinandersetzung hervorheben. Exemplarisch sei auf die themenspezifischen Beiträge von U. Eibach, Nahtoderlebnisse, passim hingewiesen. Ulrich Eibach war von 1981 bis zu seinem Ruhestand im Jahre 2007 einerseits zu 50 % als Pfarrer in der Klinikseelsorge am Klinikum der Universität Bonn tätig. Andererseits war er zu 50 % der Beauftragte der Evangelischen Kirche im Rheinland für die Fortbildung im Bereich der Krankenhausseelsorge. In einer solchen Konstellation können die Wahrnehmung von Erfahrungen in der Praxis und die Reflexion und das Lernen aus diesen Erfahrungen einander inspirieren. Zu entsprechenden Stimmen aus der kirchlich-seelsorgerischen Praxis vgl. W. Schweer, Hoffnung, passim; W. Thiede, Vorhang, passim; H. Koch, Licht, 95 ff.; K. Kiehl, Himmel, 186 ff.; L. Bellg, Near Death, passim. 148 Diesbezüglich sei auf entsprechende Konzepte einer ‚Mystagogik‘ verwiesen. In verschiedenen Zeugnissen antik-mediterraner Religiosität bezeichnet ein solcher Begriff eine Einführung in Mysterien, also in die tieferen Lehren einer religiösen Gemeinschaft, die erst auf einer höheren Entwicklungsstufe einer Mitgliedschaft eröffnet wurden. Ein Mystagoge war die Person, welche jene rite de passage, jenen Ritus des Übergangs leitete. Bereits Karl Rahner, einer der bekanntesten römisch-katholischen Theologen des letzten Jahrhunderts, skizzierte Konzepte einer katechetischen Mystagogik. Dabei formulierte er in einer Studie zur Theologie und Spiritualität der Pfarrseelsorge jene vielfach rezipierte und diskutierte These, dass seines Erachtens „der Christ der Zukunft ein Mystiker sei oder nicht sei“ (vgl. K. Rahner, Spiritualität, 161). Im Bereich protestantischer Theologie sei auf die entsprechenden Konzepte von Sabine Bobert verwiesen, derzufolge „mystagogische Zugänge zum Christentum“ als „das Zukunfts-
Nahtoderfahrungen als Thema von Theologie und Kirche
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Man darf m. E. gespannt sein, welche Einschätzungen seitens praktisch-theologischer Fachvertreter diesbezüglich entwickelt werden. Ein besonders weites Feld eröffnet sich, wenn Nahtoderfahrungen zum Thema empirischer und systematischer Religionswissenschaft werden149. So stellt sich z. B. die Frage, inwieweit unterschiedliche religiöse Sozialisationen die Inhalte von Nahtoderfahrungen prägen bzw. inwieweit jene unterschiedlichen religiösen Prägungen in einer vergleichbaren Weise modifiziert werden. Dies impliziert die Folgefrage, ob Nahtoderfahrungen Potentiale einer interreligiösen Verständigung besitzen. Eine religionspsychologische Zugangsperspektive eröffnet sich, wenn Nahtoderfahrungen mit Konzepten im Kontext der transpersonalen Psychologie verglichen werden150. Aber diese Themenfelder sind so weitreichend, dass alleine die Skizzen möglicher Zugangsperspektiven einer eigenständigen Studie bedürfen. Zum Abschluss dieser Sichtung potentieller Themenfelder einer theologischen Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen kann eine aus drei Teilaspekten bestehende These formuliert werden, der m. E. kaum widersprochen werden kann: 1. Studierende der Theologie und Religionswissenschaft sollten befähigt werden, sich im Laufe ihres Studiums eine eigenständige Meinung zum Themenfeld ‚Nahtoderfahrungen‘ zu bilden. 2. Dabei geht es nicht darum, eine bestimmte Deutung der Phänomene zu propagieren. 3. Die Meinungsbildungsprozesse sollten aber der Komplexität des Themas gerecht werden. Vor diesem Hintergrund gelangt die vorliegende Studie zu einer Frage, die ich mit persönlichen Worten formulieren möchte. Ich habe an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eine Professur inne, welche der ‚Geschichte und Archäologie des frühen Christentums und seiner Umwelt‘ gewidmet ist. Dies könnte bei der geneigten Leserschaft eine Frage aufwerfen, welche mir in letzter Zeit sehr oft gestellt wurde – und zwar immer dann, wenn modell der Volkskirche“ verstanden werden können (vgl. S. Bobert, Spiritualität, 8 f.). Ferner zum Umgang mit mystischen Traditionen im Bereich der protestantischen Theologie zuletzt P. Zimmerling, Mystik, passim; P. L. Berman, Himmel, 167 ff.; W. Thiede, Mystik, passim. 149 Zu entsprechenden Ansätzen vgl. J. Schlieter, Nahtoderfahrungen, passim; B. Heller, Jenseitsreisen, passim bzw. M. von Brück, Leben, 16 f., der m. E. zu Recht resümiert: „Die Debatte über diese Erfahrungen trägt … erheblich dazu bei, dass Sterben und Tod Themen sind, denen sowohl in der Öffentlichkeit als auch im wissenschaftlichen Rahmen neue Aufmerksamkeit zuteil wird.“ Diese Einschätzung entspricht den Projekten, die diesbezüglich an der Universität Kiel geplant werden (vgl. die Erläuterungen im Vorwort der vorliegenden Studie). 150 Zu entsprechenden Ansätzen vgl. S. Gripentrog, Perspektiven, passim.
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Leitthemen interdisziplinärer Forschungen zu Nahtoderfahrungen
ich meine Fachkolleginnen und Fachkollegen über meinen neuen thematischen Schwerpunkt informiert habe. Fast immer evozierte dies ein ungläubiges Staunen. Und fast immer folgten Variationen einer Frage: „Was haben denn Nahtoderfahrungen mit der Geschichte des frühen Christentums zu tun?“ Meine erste Antwort war stets sehr kurz: Sehr viel! Eine angemessene Antwort fällt jedoch sehr lang aus. Erste Andeutungen dazu wurden bereits in den einleitungswissenschaftlichen Vorbemerkungen formuliert (s. o. Kapitel 1; Punkt 4). Eine ausführliche Antwort geben jedoch erst die nachfolgenden Ausführungen der vorliegenden Studie. Das nun endende Kapitel 2 diente nur dazu, Schlüsselfragen gegenwärtiger Forschungen zu Nahtoderfahrungen zu skizzieren und ihre Potentiale für Theologie und Kirche anzudeuten.
Kapitel 3: N ahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus
Das dritte Kapitel der vorliegenden Studie untergliedert sich in neun Arbeitsschritte. Im Wesentlichen soll veranschaulicht werden, inwiefern Nahtoderfahrungen als Zugänge zu den platonischen Dialogen und damit zu Platon als dem geistigen Vater des Platonismus verstanden werden können. Zunächst gilt es sich jedoch zu vergegenwärtigen, mit welchen grundsätzlichen Problemen man konfrontiert wird, wenn man die platonischen Dialoge zu interpretieren versucht (1). Vor diesem Hintergrund werden jene Themenfelder aufgearbeitet, bei denen Analogien zwischen Nahtoderfahrungen und den platonischen Dialogen eindrücklich zutage treten, nämlich die sogenannten platonischen Jenseitsmythen (2), die Erzählung von dem vermeintlich verstorbenen Soldaten Er im Schlusskapitel des Dialogs Politeia (3), die Konzeption der Ideenlehre und des Höhlengleichnisses (4), das Leib-Seele-Verständnis und die Seelenwanderungsvorstellung (5), das Motiv der verborgenen Allwissenheit der Seele und der damit einhergehenden Anamnesis-Vorstellung (6), die platonische Stufenleiter der Liebe bzw. Erotik und das Motiv der Sehnsucht der Seele nach der Erfahrung des Göttlich-Schönen (7) und die Prädikation des ‚Lichts als Band des Himmels‘ (8). Im Verlauf dessen wird verschiedentlich angedeutet, inwieweit sich auch in der weiteren Geschichte des antiken Platonismus entsprechende Traditionen beobachten lassen. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei jedoch das Motiv der ‚Henosis‘ (‚Einswerdung‘), welches einen integralen Bestandteil der Philosophie Plotins verkörpert. Diese Konzeption des Vaters des sogenannten Neuplatonismus soll in einem eigenständigen Kapitel gewürdigt werden (9). In den einzelnen Arbeitsschritten wird kontinuierlich auf phänomenologische Analogien verwiesen, welche die platonischen Konzeptionen zu jenen Berichten über Erfahrungen aufweisen, die in Kapitel 2 (Arbeitsschritt 3) als Beispiele für ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ und daraus resultierende ‚Transformationserfahrungen‘ angeführt wurden.
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1. Grundprobleme einer Interpretation platonischer Dialoge Die Grundprobleme einer Interpretation der platonischen Dialoge sollen an vier Sachverhalten erläutert werden. Zunächst gilt es eine Frage zu benennen, welche für die Interpretation nahezu aller Teilaspekte platonischen Denkens von Relevanz ist, nämlich die Frage, in welchem Maße Platon sich auf traditionsgeschichtliche Vorgaben bezieht, inwiefern er dieselben kreativ modifiziert und kritisiert und in welchem Maße er innovative Konzepte gestaltet, die keine traditionsgeschichtlichen Vorgaben besitzen (1.1). Daraufhin gilt es zu erläutern, inwiefern der formalen Gestalt, die Platon zur Vermittlung seines Denkens wählt, eine Deutungsoffenheit innewohnt, die Freiräume für konträre Interpretationen bieten kann (1.2). Letzteres impliziert eine Frage, welche seit den Anfängen des Platonismus diskutiert wird, nämlich die Frage, ob es sogenannte ‚ungeschriebene Lehren‘ (ἄγραϕα δόγματα) gab, welche Platon in seinen Dialogen nicht kommunizieren wollte (1.3). Zuletzt kann erläutert werden, warum für beide Problemfelder auch Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Entwicklungen der weiteren Geschichte der platonischen Schulbildungen von Relevanz sein können (1.4). Ebenso gilt es, sich die Grundprobleme einer Übersetzung der Dialoge Platons zu vergegenwärtigen (1.5). 1.1 T radition – Kreativität – Innovation: zur Frage der Entstehung des platonischen Welt- und Menschenbildes Wenn analysiert wird, inwiefern sogenannte ‚Nahtoderfahrungen‘ einen Zugang zum Platonismus bieten können, so wird man mit einer prinzipiellen Frage konfrontiert, die sich auf nahezu alle Themenfelder beziehen lässt, die Platon in seinen Dialogen zur Sprache bringt. Diese Frage kann in drei Ebenen differenziert werden. Auf einer ersten Ebene muss gefragt werden, zu welchen Aspekten platonischen Denkens sich religions- und philosophiegeschichtliche Vorgaben benennen lassen?1 Auf einer zweiten Ebene gilt es zu fragen, welche Facetten platonischen Denkens keine derartigen Vorentwicklungen besitzen und somit als kreative bzw. innovative Konzeptionen Platons verstanden wer1
Prinzipiell zu potentiellen religions- und philosophiegeschichtlichen Vorgaben platonischen Denkens im Bereich des Pythagoreismus, der Orphik und verschiedenen vorsokratischen Traditionen vgl. die instruktiven Beiträge des Sammelbandes M. Dixsaut/A. Brancacci (Hg.), Platon, passim; M. Erler, Kontexte, 61–99; C. Riedweg, Mysterienterminologie, passim; ferner J. A. Palmer, Parmenides, passim; S. S. Monoson, Entanglements, passim; T. Irwin, Background, 51–89; J. Mansfeld, Presocratics, 1–59; G. Grossmann, Protagoras, 510–525; R. J. Mortley, Protagoras, 24–32; R. Ferwerda, Democritus, 351–359; F. J. Pelletier, Parmenides, passim etc.
Grundprobleme einer Interpretation platonischer Dialoge
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den können2. Auf einer dritten Ebene muss gefragt werden, was Platon dazu inspiriert haben könnte, jene traditionellen Vorgaben und jene kreativ-innovativen Konzepte in der gegebenen Form miteinander in Beziehung zu setzen, die sein philosophisches Gesamtsystem bilden. Diese Leitfragen werden bei den im Folgenden analysierten Themenfeldern stets mit zu bedenken sein (eine solche Zugangsperspektive wird für die vorliegende Untersuchung vor allem im Kontext der Analyse der Seelenwanderungsvorstellungen von Relevanz sein; ausführlich hierzu Kapitel 3; Arbeitsschritt 5). Die Bedeutung dieses Sachverhalts soll bereits vorausgreifend angedeutet werden: An verschiedenen Themenfeldern wird deutlich werden, dass gerade die kreativ-innovativen Aspekte platonischen Denkens Analogien zu jenen Erfahrungsmustern aufweisen, die heute mit dem eigentlich unpräzisen Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden (vgl. die entsprechenden Ausführungen zum Motiv der Anamnesis bzw. der verborgenen Allwissenheit der Seele, der Beteiligung der Seele an der Gestaltwerdung neuer Reinkarnationen, einzelne Facetten der platonischen ‚Jenseitsmythen‘ etc.). 1.2 Die Deutungsoffenheit der platonischen Dialoge Platon vermittelt seine philosophischen und religiösen Vorstellungen nicht in der Gestalt sachlich-konsistenter und systematisch-geordneter Abhandlungen. Seine Vermittlungsformen sind in den meisten Fällen literarisch stilisierte Dialoge. Diese können in Bezug auf ihre dramaturgische Gestaltung, argumentative Stringenz und lebendig-berührende Anschaulichkeit als literarische Meisterwerke verstanden werden3. Gleichwohl konfrontieren sie ihre Leser mit verschiedenen Grundproblemen einer Interpretation. Dies beginnt bereits bei der Frage, in welchem Maße Platon in seinen Dialogen konkrete historische Begebenheiten aufgreift und dieselben ausgestaltet bzw. inwiefern er dieselben frei literarisch erfindet. Diese Frage tritt eindrücklich an der Gestalt des Sokrates zutage, welcher in den meisten platonischen Dialogen der Protagonist der Handlung ist. Wie weit es sich hierbei jedoch – um die Terminologie der modernen Jesus-Forschung zu übernehmen – um den historischen bzw. erinnerten Sokrates oder um eine literarisch stilisierte und interpretierte Sokrates-Figur handelt, kann 2
3
Dies gilt im besonderen Maße für die für die vorliegende Studie zentralen ‚Jenseitsmythen‘. Entsprechend konstatiert J. Dalfen, Jenseitsmythen, 359 f.: „Platon beruft sich für seine Mythen auf Quellen und Traditionen, obwohl die Erzählungen, die er Sokrates über die Orte im Jenseits, über das Totengericht und über das, was die Seelen im Jenseits erleben und erleiden, vortragen lässt, doch seine eigenen Texte sind: Man kann von ‚erfundenen Traditionen‘ sprechen.“ Ausführlich hierzu ferner K. Alt, Jenseits, 278 ff.; J. N. Bremmer, Near-Death Experiences: Ancient, Medieval and Modern, passim; J. U. Schmidt, Gerichtsmythos, 30 ff. Generell zur literarischen Eigentümlichkeit der platonischen Dialoge vgl. K. Gaiser, Schriftsteller, 3–72; T. Szlezák, Platon, passim; R. Geiger, Aspekte, 363–386 etc.
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in vielen Kontexten nicht eindeutig geklärt werden4. Dies gilt vor allem für jene Texte, in denen nicht etwa Sokrates die dominante und die Diskurse letztlich bestimmende Position einnimmt, sondern in denen er von anderen Figuren belehrt und korrigiert wird5. Eine weitere Schlüsselfrage einer Interpretation der platonischen Dialoge besteht in der Frage, inwiefern den Dialogen eine konsistente Gesamtkonzeption zugrunde liegt bzw. inwieweit zwischen unterschiedlichen Entwicklungsstadien platonischen Denkens unterschieden werden muss6. Doch nicht nur die formale Gestaltung der platonischen Dialoge schafft Deutungsoffenheiten, die Freiräume für konträre Interpretationen bieten. Zuweilen lässt Platon die Protagonisten seiner Dialoge Fragen aufwerfen, die im weiteren Verlauf der literarisch stilisierten Gespräche nicht geklärt werden. Ebenso bedient er sich der Sprachform argumentativer Leerstellen7. Auch baut Platon oft einen argumentativen Spannungsbogen auf, welcher auf eine Lösung bzw. Klimax zuläuft. Durch die erzählerische Einbettung lässt er seine Protagonisten diese Argumentationen jedoch zuweilen unterbrechen, ohne dass dieselben wieder aufgenommen und einer Lösung zugeführt werden (als ein eindrückliches Beispiel für dieses Phänomen wird in der vorliegenden Studie die Zielbestimmung der Reinkarnationsvorstellung dienen, die unmittelbar vor der Erzählung vom Tod des Sokrates angedeutet, aber nicht ausgeführt wird [vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 5.3]). Aus diesem Grund wurde bereits sehr früh diskutiert, ob es so etwas wie ‚ungeschriebene Lehren‘ gab, die Platon nicht in seinen Dialogen ausführen wollte. 1.3 Die Frage der Existenz ungeschriebener Lehren‘ Führende Vertreter der platonischen Schulbildungen erwähnen bereits früh sogenannte ‚ungeschriebene Lehren‘, die Platon nicht in seinen Dialogen vermitteln wollte. Ob es dieselben tatsächlich gab und welche Funktion sie gehabt haben könnten, ist bis hinein in die gegenwärtige Platon-Forschung umstritten8. Philosophie- und religionshistorisch betrachtet wären dieselben nicht abwegig. Sie würden dem Phänomen einer Arkan-Disziplin entsprechen, welche in verschiedenen antiken Schulbildungen praktiziert wurde. Dabei wurden die Mit4 5 6 7 8
Zu diesen Fragestellungen vgl. G. Vlastos, Socrates, passim; G. Figal, Sokrates, 16 ff. Im Rahmen der vorliegenden Studie werden diesbezüglich u. a. die Diotima-Rede im Dialog Phaidon und die Weltentstehungsvorstellungen im Dialog Timaios von Relevanz sein. Zu unterschiedlichen Ansätzen einer chronologischen Kategorisierung der Dialoge Platons vgl. u. a. L. Brandwood, Chronology, passim; J. Söder, Werken, 24 f. Zu diesem Phänomen vgl. C. Schefer, Erfahrung, passim; J. Söder, Werken, 29 f. Zur Übersicht der Forschungsgeschichte und unterschiedlicher Erklärungsansätze vgl. J. Söder, Werken, 29 f.; T. Szlezák, Schriftlichkeit, passim; G. Reale, Interpretation, passim; H. Krämer, Lehre, 249–275; K. Gaiser, Lehre, passim.
Grundprobleme einer Interpretation platonischer Dialoge
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glieder derartiger Gemeinschaften dazu verpflichtet, zentrale Inhalte der Lehre einer Gruppierung nicht gegenüber Außenstehenden zu kommunizieren (vgl. z. B. entsprechende Instruktionen in verschiedenen Mysterien-Kulten und sogenannten gnostischen Gruppierungen)9. Ebenso ist es denkbar, dass auf diese Weise eine Sonderstellung der von Platon gegründeten Akademie bewahrt werden sollte. Die Dialoge hätten somit vor allem eine propädeutische Funktion. Sie würden lediglich die Grundzüge platonischen Denkens skizzieren, während zentrale Aspekte dieser Lehren nur im vertrauten Kreis der platonischen Akademie vermittelt werden sollten. Für die vorliegende Fragestellung wird von Relevanz sein, inwieweit die Frage nach einer etwaigen Existenz ungeschriebener Lehren vor dem Hintergrund der weiteren Geschichte des Platonismus angemessener verstanden werden kann (ausführlich hierzu s. u. Kapitel 3; Arbeitsschritt 9). Diese Zugangsperspektive soll im Folgenden erläutert werden. 1.4 Die Bedeutung der platonischen Schulbildungen für die Interpretation der platonischen Dialoge Bereits zu Lebzeiten Platons ließ sich erkennen, dass seine Lehre unterschiedliche Ausgestaltungen und Interpretationen erfahren konnte10. Dieses Phänomen spitzte sich nach dem Tod Platons massiv zu, indem es zur Ausbildung von Schulbildungen kam, die zum Teil sehr konträre Ansichten propagieren konnten11. Das Spektrum dieser Wirkungsgeschichte platonischen Denkens gestaltet sich noch komplexer, wenn man auch jene Traditionen einbezieht, die sich zwar nicht explizit auf Platon beziehen, die jedoch implizit von seinem Denken beeinflusst sind, sei es in Gestalt einer impliziten Adaption oder in Gestalt einer expliziten Ablehnung. In diesem Sinne können auch weite Teile christlicher Traditionsbildungen in diese Wirkungsgeschichte einbezogen werden12. Dieses Phänomen inspirierte den britischen Philosophen und Mathematiker Alfred 9 Zu entsprechenden Indizien einer Prägung platonischen Denkens durch antike Mysterienkulte vgl. die Ausführungen zur Terminologie der Diotima-Rede im Dialog Symposion und der Palinodie im Dialog Phaidros (Kapitel 3; Arbeitsschritt 7.2). Ferner C. Riedweg, Mysterienterminologie, passim; C. Evans, Diotima, passim. 10 Zur thematischen Einführung vgl. F. Ricken, Akademie, 387–393. 11 Zur Skizze unterschiedlicher Schulbildungen vgl. u. a. J. M. Dillon, Heirs, passim; F. Ricken, Akademie, 387–393; H. Dörrie/M. Baltes, Platonismus Bd. 1–6, passim; W. Deuse, Untersuchungen, passim; M. Baltes, Weltentstehungslehre, passim; A. Weische, Neue Akademie, passim. 12 Vgl. die entsprechende Einschätzung von W. Pannenberg, Theologie, 37 bzw. 67: „Keine andere Philosophie der Antike hat die christliche Theologie im Zeitalter ihrer Entstehung und ersten Entwicklung so tief geprägt wie der Platonismus. Dabei reicht es nicht aus, von einem ‚Einfluß‘ zu sprechen. Es handelt sich vielmehr um einen Vorgang produktiver Rezeption
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North Whitehead zu der These, dass die „sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“13 Auch wenn diese These ohne Zweifel rhetorisch zugespitzt ist, kann sie nicht als völlig unzutreffend eingestuft werden. Sie gilt in einem gewissen Maße auch für den neben Platon bedeutendsten Philosophen der Antike, nämlich für seinen Schüler Aristoteles. Auch wenn viele Aspekte des Aristotelismus als genuin eigenständige Konzepte verstanden werden können, bezog sich Aristoteles in der Ausarbeitung seiner Philosophie immer wieder auf Platon, und zwar gerade auch in jenen Zusammenhängen, in denen er sich von seinem Lehrer abgrenzte14. In Bezug auf die Fragstellungen der vorliegenden Studie sei bereits vorausgreifend angemerkt, dass sich auch in verschiedenen platonischen Schulbildungen markante Analogien zu Nahtoderfahrungen beobachten lassen. Dabei wird zuweilen seitens der jeweiligen Denker selbst ein Rückbezug zu den entsprechenden Vorgaben im Werk Platons hergestellt, die in der vorliegenden Studie als Analogien zu Nahtoderfahrungen herausgearbeitet werden (dies soll im Folgenden exemplarisch mit Verweisen auf Werke und Autoren erläutert werden, die im engeren und weiteren Sinne zur Geschichte des Platonismus gezählt werden können, z. B. in Bezug auf Plutarch von Chaironeia, Philo von Alexandrien, Marcus Tullius Cicero und an dem pseudepigraphischen Dialog Axiochos). In besonderem Maße gilt dies jedoch für Plotin, den Stammvater des sogenannten Neuplatonismus, der diesbezüglich die deutlichsten Analogien erkennen lässt. Bemerkenswerterweise versteht sich Plotin gerade in diesem Punkt als Interpret und Restaurator der metaphysischen Vorstellungen Platons (s. u. Kapitel 3; Arbeitsschritt 9). 1.5 Zur Übersetzung platonischer Texte Eine weitere zentrale Herausforderung einer Auseinandersetzung mit den platonischen Dialogen ist der Umgang mit Übersetzungen. Streng genommen ist es kaum möglich, die in hohem Maße anspruchsvolle altgriechische Sprache dieser Werke angemessen in anderen Sprachen wiederzugeben. Stattdessen bildet jede und Assimilation, der konstitutiv ist für die spezifische ‚Wirkungsgeschichte‘ platonischer Gedanken im Christentum. (…) Auch gegenwärtig darf das Potenzial platonischen Denkens keineswegs als erschöpft gelten.“ 13 Vgl. A. N. Whitehead, Prozeß und Realität, 91. 14 Dies veranlasste den Philosophen und Dichter Samuel Taylor Coleridge zu der These, dass jeder Mensch entweder als Platoniker oder als Aristoteliker geboren wird. Zur Überlieferung und zu unterschiedlichen Beurteilungen dieser These vgl. A. J. D. Porteous, Platonist or Aristotelian, 97.
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Übersetzung bereits einen ersten Schritt einer Interpretation. Um jenen Leserinnen und Lesern der vorliegenden Studie, die selbst keine altphilologischen Vorkenntnisse besitzen, gleichwohl einen Zugang zu den themenspezifisch relevanten Quellentexten zu eröffnen, wird im Folgenden in den meisten Fällen auf eine Übersetzung Bezug genommen, welche in der deutschsprachigen Platon-Forschung eine besondere Stellung einnimmt, nämlich auf die Übersetzung von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834)15. Obwohl diese Übersetzung in den meisten Fällen bereits über zweihundert Jahre alt ist, wird sie aufgrund ihrer philologischen Präzision und sprachlichen Schönheit bis in die Gegenwart hinein mit partiellen Überarbeitungen als Standardwerk und Referenzpunkt für konträre Übersetzungsvorschläge verwendet16. Auch in gegenwärtigen Ausgaben dieses Gesamtwerks werden zumeist nur die Gegebenheiten aktueller Orthographie angeglichen17. Entsprechend werden auch im Folgenden jeweils die Übersetzungsvorschläge Schleiermachers verwendet. Nur dort, wo eigenständige Modifikationen der Vorgaben Schleiermachers erwogen werden bzw. ein anderer Übersetzungsvorschlag bevorzugt wird, soll dies explizit benannt werden. Angesichts dieser Skizze grundsätzlicher Probleme einer Interpretation der Schriften Platons kann nun damit begonnen werden, deren Analogien zu Nahtoderfahrungen herauszuarbeiten.
15 Zu Schleiermachers Hochschätzung Platons vgl. folgende Aussagen aus einem Brief aus dem Jahr 1800: „Es giebt gar keinen Schriftsteller der so auf mich gewürkt hat und mich in das Allerheiligste nicht nur der Philosophie sondern der Menschen überhaupt so eingeweiht hätte, als dieser göttliche Mann.“ (vgl. KGA V, 4 82). 16 Zur Wertschätzung der Übersetzung Schleiermachers vgl. die zeitgenössische Einschätzung des hoch angesehenen klassischen Philologen August Boeckh: „Gestehen wir rund heraus, was wir denken: noch niemand hat den Platon so vollständig selbst verstanden und andere verstehen gelehrt, wie dieser Mann, welcher bei seltener Umfassung des Höchsten, mit nicht geringer Sorgsamkeit auch das kleinste nicht verschmäht: ein Talent, das in wenigen Gelehrten ausgebildet, ein Glück, das wenigen Gegenständen zu Gute gekommen ist.“ (vgl. zitiert nach H. Fischer, Schleiermacher, 64). 17 Exemplarisch sei auf die Leitlinien der im Folgenden verwendeten Bearbeitung durch D. Kurz, Bemerkung, IX verwiesen: „Lautbestand, einzelne Ausdrücke, Wortstellung, und Zeichensetzung sind, soweit das durch geringfügige Eingriffe möglich war, dem heutigen Gebrauch angeglichen. Wo sich Verständlichkeit oder Eindeutigkeit nur durch größere Änderungen erreichen ließen, wurde ein lesbarer Text wie eine Übersetzungsvariante in den Buchstabenapparat gesetzt.“ Entsprechend wird diese Ausgabe im Folgenden zitiert als F. D. E. Schleiermacher (Name des Bearbeiters), Band der Ausgabe.
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2. Unsagbares aussagen: die platonischen Jenseitsmythen Ein Themenfeld, in welchem sich viele Analogien zwischen den platonischen Dialogen und Nahtoderfahrungen beobachten lassen, sind die sogenannten platonischen Jenseitsmythen. Dabei handelt es sich nicht um jene Facetten platonischen Denkens, in denen überlieferte Mythen explizit kritisiert werden18. Es geht vielmehr um jene Texte, die von Platon selbst als mythische Erzählungen konzipiert wurden und die als eine Veranschaulichung und Vertiefung einer dem Logos verpflichteten Sprachform verstanden werden können. Speziell in Bezug auf entsprechende Jenseitsvorstellungen begegnen in den platonischen Dialogen mindestens sechs solcher Erzählungen, nämlich in der Politeia (Plato Polit. 614a–621b), der Apologie des Sokrates (Plato Apol. 40e–41c), im Gorgias (Plato Gorg. 523a–527a), Menon (Plato Men. 81a–e), Phaidon (Plato Phaid. 107d–114c) und Phaidros (Plato Phaidr. 246a–257a.). Bis in gegenwärtige Diskurse hinein lassen sich zuweilen sehr konträre Einschätzungen beobachten, welche Bedeutung diese Mythen für das Gesamtverständnis der platonischen Texte besitzen. Während einige Interpretationsansätze postulieren, dass dieselben eigentlich überflüssiges Beiwerk sind oder gar dem Anliegen platonischen Denkens widersprechen19, heben andere Konzepte hervor, dass es sich hierbei um genuin platonische Konstruktionen handelt, ohne welche die an logischen Argumentationen orientierten Ausführungen Platons nicht angemessen verstanden werden können20. Bereits vorausgreifend sei konstatiert, dass die 18 Bemerkenswerterweise arbeitet Platon auch kaum mit Allegorien bzw. Allegoresen, um überkommene Mythen zu deuten. Vgl. J. Dalfen, Jenseitsmythen, 370: „Die Allegorie ist kein Mittel, um aus alten Mythen das herauszuholen, was Platon sagen will. Durch den Aufbau seiner Dialoge setzt Platon seine eigenen Mythen in eine Fernbeziehung zu den alten poetischen Mythen, er kritisiert deren Inhalte und geht auf Distanz zu einer allegorischen Ausdeutung. Dadurch hebt er die Unterschiede hervor und macht auf das Neue seiner Mythen aufmerksam.“ 19 So etwa T. Kobusch, Wiederkehr, 49: „So scheinen sich bei Platon Mythos und Philosophie oder Logos unversöhnlich gegenüberzustehen. Mythos – das ist das Falsche, das Beliebige, Unverbindliche, der Logos aber ist die Form der Wahrheit. Indes, so wird man einwenden, hat Platon nicht selbst in seinen Dialogen Mythen erzählt? (…) Ist es nicht ein unerträglicher Widerspruch, auf der einen Seite am Mythos als solchem fundamental Kritik zu üben und andererseits doch eben diese Form der Rede selbst zu benutzen? Die Wiederkehr des Mythos bei Platon … ist eine rätselhafte Angelegenheit.“ Diesbezüglich sei angemerkt, dass der Autor der zitierten Einschätzung einen Forschungsschwerpunkt in mittelalterlicher Philosophiegeschichte, insbesondere im Bereich des mittelalterlichen Aristotelismus hat. Dies impliziert die Frage, inwieweit auf diese Weise ein hermeneutischer Ansatz vorausgesetzt wird, der den Mythos-Traditionen Platons prinzipiell nicht gerecht werden kann. 20 Treffend konstatiert J. Dalfen, Jenseitsmythen, 369: „Der platonische mythos ist epistemologisch nicht minderwertiger als der platonische Logos, aber er ist in existentiellen Fragen psychologisch wirkungsvoller.“
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vorliegende Studie die zuletzt genannte Einschätzung dezidiert unterstützen wird. Gerade jene Facetten des Corpus Platonicum, welche Analogien zu jenen Erfahrungen aufweisen, die heute mit dem eigentlich unpräzisen Begriff Nahtoderfahrungen bezeichnet werden, dokumentieren eindrücklich, in welcher Weise man Platon – im wahrsten Sinne des Wortes – als einen ‚Mythologen‘ bezeichnen kann, als einen Denker und Philosophen, der logische und mythische Sprachformen in einer Weise miteinander verschränken kann, in der jede Ebene eine spezifische Funktion einnimmt21. Um diesen Sachverhalt erläutern zu können, soll auf eine themenspezifisch in hohem Maße relevante Passage des Dialogs Phaidon verwiesen werden, die zwischen einem solchen Jenseitsmythos (Plato Phaid. 107 d 7–114 c 5) und der Erzählung von der Hinrichtung des Sokrates (Plato Phaid. 115 a 9–118 a 18) angeordnet ist. In diesem Zusammenhang legt Platon seinem Protagonisten eine Aussage in den Mund, in welcher er „den Wahrheitsgehalt des Mythos“22 zur Sprache bringt und die als ein Leitgedanke einer platonischen Hermeneutik mythischer Sprachformen verstanden werden kann: Plato Phaid. 114 d 1–10: „Daß sich nun dies alles gerade so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt habe, das ziemt sich wohl einem vernünftigen Mann nicht zu behaupten; daß es jedoch, sei es nun diese oder ähnliche Bewandtnis haben muß mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas unsterbliches ist, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl und lohne, auch zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muß mit solcherlei gleichsam mit sich selbst besprechen. Darum spinne ich auch schon so lange an der Erzählung (διὸ δὴ ἔγωγε καὶ πάλαι μηκύνω τὸν μῦθον).“23
Diese Sokrates in den Mund gelegten Worte können dahin gehend paraphrasiert werden, dass es Platon sehr wohl bewusst ist, dass die von ihm formulierten Mythen nicht als wortwörtlich ernst zu nehmende ‚Tatsachenberichte‘ verstanden werden können. Sie sollen vielmehr etwas zum Ausdruck bringen, was mit menschlichen Worten und Sprachmöglichkeiten eigentlich nicht zum Ausdruck gebracht werden kann24. Phänomenologisch betrachtet weist dies eine 21 Diese Einschätzung entspricht der Grundthese von M. Detienne, Mythology, passim, der aus religionswissenschaftlicher Zugangsperspektive die Spezifität der platonischen Mythen gegenüber antik-mediterranen Vergleichsgrößen charakterisiert. 22 So J. Dalfen, Jenseitsmythen, 363. 23 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 195. 24 Dieses Phänomen entspricht der m. E. angemessenen Einschätzung von H. Blumenberg, Mythos, 18: „Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär, der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit am Logos.“
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deutliche Analogie dazu auf, dass in neuzeitlichen Erzählungen von Nahtoderfahrungen ebenfalls konstatiert wird, dass es sich um Erfahrungen handelt, die eigentlich nicht beschrieben werden können (vgl. Kapitel 1; Arbeitsschritt 6). Ein weiteres Detail, welches die Bedeutung der von Platon selbst konzipierten Mythen dokumentiert, ist deren erzählerische Einbettung. Gerade die sogenannten Jenseitsmythen begegnen jeweils am Ende von ‚logos-orientierten‘, also rationalen Erörterungen, deren Kernaussagen nochmals durch diese modifizierte Sprachform veranschaulicht werden sollen. Dramaturgisch betrachtet verkörpern sie eine Klimax der Gestaltung des jeweiligen Dialogs25. Auch wenn die dabei referierten Jenseitsvorstellungen in unterschiedlichen argumentativen Kontexten begegnen und eine „einheitliche Darlegung und kohärente Interpretation der eschatologischen Mythen Platons“26 kaum möglich ist, lassen sie deutliche inhaltlich-sachliche Berührungen erkennen. Sie beleuchten jeweils unterschiedliche Teilaspekte einer Jenseitsvorstellung27. Für die vorliegende Fragestellung ist dabei von Relevanz, in welcher Weise Platon in diesen Texten seine Vorstellung über das Verhältnis von Leib und Seele, seine Seelenwanderungsvorstellung, die Anamnesislehre und das Motiv der Sehnsucht der Seele nach der Idee bzw. Quelle des Göttlich-Schönen vermittelt. Bevor diese Konzeptionen im Folgenden im Detail erläutert werden, soll jedoch zunächst dargelegt werden, warum für die vorliegende Fragestellung einer dieser Jenseitsmythen eine Sonderstellung einnimmt. Hierbei handelt es sich um die Erzählung von dem vermeintlich verstorbenen Soldaten Er, welche Platon im letzten Buch der Politeia an exponierter Stellung loziert, also in der Klimax der Gesamtkomposition des Werkes.
25 Treffend konstatiert J. Dalfen, Jenseitsmythen, 356: „Signifikant ist, dass die Mythen Platons über das Schicksal der Seele nach dem Tod Schlussmythen sind. Sie folgen auf den Dialog, auf den rational-argumentativen Diskurs, und ziehen die Linien weiter, die im Dialog mit verschiedenen Gesprächspartnern bis zu bestimmten Punkten gezogen wurden.“ 26 So J. Müller, Seelenwanderung, 326 in Abgrenzung zu älteren Versuchen einer systematischen Kompilation der Textpassagen. 27 So z. B. W. Eisele, Jenseitsmythen, 316 in Bezug auf das Verhältnis von Plato Gorg. 523a–527a, Plato Phaid. 107d–114, Plato Polit. 614a–621b: „Schon bei der ersten Betrachtung fällt auf, dass sie sich in ihren inhaltlichen Aussagen kaum überschneiden, sondern vielmehr ergänzen. Folgt man der Zeitschiene, welche Platon vom Todestag des Menschen hinüber ins Jenseits und wieder zurück bis zur erneuten Einverleibung einer Seele auszieht, so sind nacheinander die Jenseitsmythen im Gorgias, im Phaidon und in der Politeia zu behandeln. Entsprechend dem zeitlichen Ablauf, gibt jeder der Mythen in fortgesetzter Reihenfolge und mit geringfügigen Überschneidungen einen anderen Ausschnitt aus der Handlung im Jenseits wieder.“
Verortung und Bedeutung der Erzählung
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3. Zur argumentativen Verortung und Bedeutung der Erzählung von dem vermeintlich verstorbenen Soldaten Er im Schlusskapitel des Dialogs Politeia Der Dialog Politeia kann als eines der Hauptwerke Platons verstanden werden. Platon versucht zu entfalten, in welcher Weise seines Erachtens aufgrund philosophischer Erwägungen ein idealer Staat konzipiert werden sollte28. In der Darlegung seiner politischen Ansichten ist für Platon ein Gedanke leitend, welcher in verschiedenen argumentativen Kontexten aufgenommen und reflektiert wird: Eine unsterbliche Seele (bzw. präziser die unsterblichen Anteile der Seele) lebt nur vorübergehend in einem sterblichen Körper. Sie kehrt jedoch zyklisch in diese körperliche Existenzform zurück. Dieser Zyklus von Wiedergeburten dient einem Lernprozess, in welchem eine tugendhafte, auf Gerechtigkeit ausgerichtete Lebenshaltung eingeübt werden soll (ausführlich hierzu vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 5.1)29. Aus diesem Grund gilt es Platon zufolge eine Staatsform zu finden, die eine kontinuierliche Förderung und Formung jener Seelen ermöglicht, welche in die vorfindliche Lebensform zurückkehren. Eine solche ideale Staatsform ist für Platon ein „Philosophenstaat“30. Jene Philosophen, die um die skizzierte Grundbestimmung menschlicher Existenz wissen, sollen jene Menschen leiten und prägen, die sich derselben noch nicht bewusst sind und deshalb in anderen Lebensbereichen ihre Aufgaben zu erfüllen haben. Bereits im Verlauf der Politeia erläutert Platon die Grundzüge dieser Vorstellungen, die seiner Ideenlehre verpflichtet sind. Im letzten Kapitel dieses Werkes bietet Platon seinen Leserinnen und Lesern eine weitere Begründung der Berechtigung seiner Ansichten. Hierbei handelt es sich um den erwähnten Jenseitsmythos über den verstorbenen und wiederbelebten Soldaten Er (Plato Polit. 614a–621b). Dies 28 Auch wenn aus heutiger Sicht betrachtet viele politische Ansichten Platons als befremdlich bzw. zutiefst problematisch erscheinen können (zu entsprechenden totalitären Zügen vgl. K. Popper, Gesellschaft, passim), werden sie in der jüngeren Forschung zuweilen „in einem milderen Licht“ gesehen (so C. Horn, Philosophie, 179), wenn man ihre unterschiedliche Entwicklungsstufen voneinander unterscheidet und jeweils mit vergleichbaren sozialen Strukturen der antik-mediterranen Umwelt in Beziehung setzt (vgl. u. a. S. S. Monoson, Entanglement, passim; C. Bobonich, Utopia, passim; G. Klosko, Development, passim; S.-C. Rhim, Struktur, passim). 29 Zur inhaltlichen Bestimmung des Begriffs ‚Gerechtigkeit‘ vgl. S. Weber, Gerechtigkeit, 275: „Unter Gerechtigkeit versteht Platon die umfassende Tugend und den guten Zustand der menschlichen Seele bzw. der Polis. Damit unterscheidet er ebenso wie zeitgenössische Moralphilosophie zwischen einem individualethischen … und einem sozialethischen Gerechtigkeitsbegriff.“ 30 Grundlegend zur Struktur dieser Staatsform vgl. O. Höffe, Politeia, 3–26. Entsprechend bezeichnet H. Zander, Seelenwanderung, 74 dieses Konzept einer Seelenwanderungsvorstellung als „Reinkarnation aus Staatsraison.“
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bedeutet, dass dieser Mythos nicht etwa beiläufig von Platon angeführt wurde, sondern in der Klimax eines seiner bedeutendsten Werke angeordnet ist. Es würde der Aussageintention der platonischen Textgestaltung somit in keiner Weise gerecht werden, wenn man postulieren würde, dass solche mythischen Erzählformen nur schmückendes Beiwerk seien, welche für die platonischen Argumentationen eigentlich irrelevant sind31. Für die vorliegende Studie ist aufschlussreich, dass jene Erzählung als ein Bericht von einer Erfahrung bezeichnet wird. Es handle sich um die Erfahrung des pamphylischen Soldaten Er, der während einer Schlacht schwer verwundet und für tot gehalten wurde. Kurz bevor sein Leichnam verbrannt werden sollte, sei er wieder zu Bewusstsein gekommen. Der Erzählung zufolge soll der Soldat Er in einer jenseitigen Welt bzw. Dimension den Auftrag erhalten haben, seine Mitmenschen in der vorfindlichen Welt über seine Erfahrung und die damit einhergehenden Erkenntnisse über die Grundbestimmungen menschlicher Existenz zu informieren (im Kontext einer narrativ stilisierten Gerichtssituation wird dem Soldaten Er Folgendes mitgeteilt: „Als nun auch er hinzugekommen, hätten sie ihm gesagt, er solle den Menschen ein Verkünder des Dortigen sein, und hätten ihm geboten, alles an diesem Orte zu hören und zu schauen.“32 [Plato Polit. 614 d 2–4]). Es verwundert kaum, dass diese Erzählung seit den Anfängen der Nahtodforschung als eine antik-philosophische Vergleichsgröße zu entsprechenden neuzeitlichen Erfahrungsberichten verstanden wurde33. Doch diese vordergründige Analogie kann noch nicht darlegen, inwieweit weitere zentrale Aspekte der platonischen Philosophie ihrerseits Analogien zu jenen Erfahrungen aufweisen, die gegenwärtig als Nahtoderfahrungen bezeichnet werden. Letzteres gilt im besonderen Maße für die Konzeption der Ideenlehre, des Höhlengleichnisses, der Reinkarnationsvorstellung, der Anamnesisvorstellung, der Sehnsucht der Seele nach der Erkenntnis des ‚Göttlich-Schönen‘ und für das Motiv des ‚Lichts als Band des Himmels‘, die im Folgenden sukzessive aufgearbeitet werden sollen. Die am leichtesten zu erkennende Sach- und Motivparallele besteht dabei zwischen der Erzählung vom scheintoten Soldaten Er und dem Höhlengleich31 Vgl. die entsprechenden Erläuterungen von D. Cürsgen, Mythos, 373–397. 32 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 4, 853 bzw. 855. 33 Exemplarisch sei verwiesen auf R. A. Moody, Life, 107. Entsprechend sei nochmals die These von E. Alexander, Vermessung, 41 rekapituliert, der Platon als den „Vater der westlichen Berichte über Nahtoderlebnisse“ bezeichnet. Die Bedeutung einer Erfahrung als Quelle einer Inspiration Platons wird auch von C. Schefer, Erfahrungen, passim, erörtert, und zwar speziell in Bezug auf das Motiv einer ‚Apollon-Epiphanie.‘ Auch in diesem Zusammenhang wird herausgearbeitet, inwieweit eine solche religiöse Erfahrung Platon zufolge prinzipiell nicht adäquat beschrieben werden kann (op. cit., 63 ff.).
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nis (Plato Polit. 514 a–517 a bzw. die Deutung des Gleichnisses in Plato Polit. 517 b–518 b). Polit. 614 d 2–4 zufolge verlässt eine Seele die vorfindliche Welt, um dann wieder von außen in dieselbe zurückzukommen. Der Soldat Er soll berichten, was er in jener anderen Dimension erfahren hat und was dies für Konsequenzen für das Verständnis der vorfindlichen Welt und das Verhältnis von Seele, Geist und Körper nach sich zieht. Bevor die entsprechenden Aspekte dieses Mythos im Einzelnen betrachtet werden (vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 5.2), gilt es sich einen zentralen Sachverhalt zu vergegenwärtigen: Die Grundaspekte jener Erzählung entsprechen der Aussageintention des Höhlengleichnisses und der damit illustrierten Ideenlehre34. Diese Bezüge sollen im Folgenden entfaltet werden.
4. Einsichten außerhalb der Höhle: die Konzeption der Ideenlehre und des Höhlengleichnisses Das Höhlengleichnis (Plato Polit. 514 a–517 a) ist eine, wenn nicht gar die bekannteste Passage des Corpus Platonicum35. Entsprechend inspirierte es eine facettenreiche geistesgeschichtliche Wirkungsgeschichte, in welcher es vielfach interpretiert und erzählerisch modifiziert werden konnte (dabei gilt es zu beachten, dass die von Platon selbst formulierte Deutung des Höhlengleichnisses in Plato Polit. 517 b–518 b in gleicher Weise rezipiert wurde). Das Höhlengleichnis veranschaulicht in nuce einen Sachverhalt, welcher für das platonische Denken im Generellen gilt und dessen außergewöhnliche Wirkungsgeschichte veranschaulicht. Im Detail ist das Höhlengleichnis im hohen Maße komplex und intellektuell herausfordernd (dies dokumentiert bereits der Sachverhalt, dass das Höhlengleichnis mit dem Sonnengleichnis [Plato Polit. 506 b–509 b] und dem Liniengleichnis [Plato Polit. 509 c–511 e] in Beziehung steht, die jeweils nur in ihrer wechselseitigen Bezogenheit angemessen verstanden werden können36). 34 Entsprechend resümiert G. Martin, Ideenlehre, 29, dass im „umfangreichsten Gleichnis, dem Höhlengleichnis, … das mytische Element schwerlich übersehen werden (kann). Es ist aber gewiß kein Zufall, sondern eine wohlüberlegte Absicht, wenn das zehnte Buch, und damit die Politeia im Ganzen, in den Mythos vom Leben nach dem Tod einmündet und damit den Abschluß und die Vollendung des großen Werks erreicht.“ 35 Zur Einführung vgl. u. a. T. Szlezák, Höhlengleichnis, 205–228. 36 Treffend konstatiert R. Rehn, Höhlengleichnis, 330: „Sonnen, Linien- und Höhlengleichnis zählen zu den Grundtexten der platonischen Philosophie, denn sie fassen nicht nur in mythisch-bildhafter Form zusammen, was in den mittleren Büchern des Staats (V–VII) hinsichtlich der Fragen nach der Erkenntnis und der Natur der Wirklichkeit dialektisch entwickelt wird, sondern sie entwerfen in einprägsamen Bildern grundlegende Gehalte, Motive und Aspekte der platonischen Philosophie überhaupt.“
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Zentrale Aussageintentionen des Höhengleichnisses können jedoch relativ leicht erfasst und pädagogisch vermittelt werden. Um diesen Aspekt erläutern zu können, müssen die anthropologischen und kosmologischen Grundmotive des Höhlengleichnisses vergegenwärtigt werden. Die vorfindliche Existenz eines jeden Menschen kann demnach mit einer Höhlenexistenz verglichen werden. Das vorfindliche Leben ist vergleichbar mit der Situation von Menschen, die in einer Höhle gefesselt sind. Die Fesselung ist so stark, dass jene Menschen nicht einmal den Kopf frei bewegen können. Aufgrund dieser Fesseln können sie lediglich auf die hinteren Wände jener Höhle blicken. Auf diesen Wänden sehen sie wiederum Schattenbilder von Gegenständen. Die Gegenstände und die Lichtquelle, welche jene Schatten produzieren, befinden sich jedoch am Rande bzw. außerhalb der Höhle. Die Schattenbilder werden von den Bewohnern der Höhle fälschlicherweise für die eigentliche Realität gehalten. Platon lässt seinen Protagonisten Sokrates ausführen, dass es sogar zur Ausbildung einer ‚Schattenwissenschaft‘ kommt, insofern verschiedene Höhlenbewohner für sich in Anspruch nehmen, eine angemessene Beschreibung und Deutung jener Schattenbilder entwickelt zu haben und diesbezüglich sogar Wettbewerbe veranstalten (Plato Polit. 515 b 4–c 3 bzw. 516 c 10–d 9; etwas süffisant formuliert könnte demnach ein reduktiver Materialismus im Sinne des Höhlengleichnisses als eine solche ‚Schattenwissenschaft‘ bezeichnet werden [ausführlich zu diesem Begriff Kapitel 2; Arbeitsschritt 4.4]). Die zentrale Aussage des Höhlengleichnisses besteht darin, dass zuweilen Menschen aus jener Fesselung befreit und dazu genötigt werden, die Höhle zu verlassen37. Wenn sie die Höhle verlassen, erkennen sie schrittweise, wie die Welt außerhalb jener Höhle aussieht und was die eigentlichen Urbilder jener Schattenbilder sind38. Es entspricht der bildlich-plastischen Sprache Platons, wie dieser Erkenntnisprozess beschrieben wird. Die Augen eines Befreiten müssen sich erst sukzessive an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen. Während er als Erstes nur die Schatten und Umrisse von umherstehenden Menschen und Gegenständen wahrnehmen kann, kann er sich den himmlischen Dimensionen nur langsam annähern. Nachdem er dieselben zunächst nur im milden Mond- und Sternen37 Im Kontext des Mythos über die postmortale Existenz der Seele, welchen Platon seinen Protagonisten Sokrates kurz vor dessen Hinrichtung referieren lässt, wird beklagt, dass nur wenige Menschen den Aufstieg aus der als Höhlung bezeichneten vorfindlichen Welt in die obere Welt schaffen. Völlig zu Recht hebt W. Eisele, Jenseitsmythen, 320 hervor, dass zwischen diesen Texten die „Anspielungen … unüberhörbar“ sind. 38 Eine der vielen im hohen Maße komplexen Fragen einer Interpretation des Höhlengleichnisses besteht darin, in welchem Verhältnis der aus drei Stufen bestehende Austritt aus der Höhle mit den entsprechenden Facetten des Liniengleichnisses in Beziehung steht (vgl. u. a. T. Szlezák, Höhlengleichnis, 205–228; P. Pritchard, Philosophy, 94 ff.).
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licht wahrnimmt, ist er langsam auch imstande, Spiegelbilder der Sonne z. B. auf einer Wasseroberfläche zu erkennen. Zuletzt ist er fähig, die Sonne selbst als die Urquelle allen Lichts zu erkennen (der Aussageintention des Sonnengleichnisses entsprechend wird in der von Platon selbst formulierten Deutung des Höhlengleichnisses die Sonne mit der Idee des Guten in Beziehung gesetzt [vgl. Plato Polit. 517 b 10]). Auch wenn ein solcher von seinen Fesseln befreiter Mensch von der Schönheit und Anmut der Welt außerhalb jener Höhle fasziniert und beseelt ist, so sieht er sich mit fundamentalen Problemen konfrontiert, wenn er in die Höhle zurückkehrt und die weiterhin gefesselten Bewohner derselben über seine Erkenntnisse zu informieren versucht. Diese halten den Rückkehrer für lächerlich, verrückt oder gar gefährlich. Statt sich belehren zu lassen, neigen die Höhlenbewohner sogar dazu, die Rückkehrer zu ermorden, weil bestehende Welt- und Menschenbilder in Frage gestellt werden (Plato Polit. 516 e 8–517 a 8). Die skizzierten Aspekte des Höhlengleichnisses können als eine Illustration zentraler Gedanken der platonischen Ideenlehre verstanden werden39. Demnach entsprechen die Schattenbilder innerhalb jener Höhle den vermeintlichen ‚Realitäten‘, welche Menschen in ihrer vorfindlichen körperlichen Existenz erkennen können. Hierbei handelt es sich freilich nur um Abbilder (εἰκών). Deren Urbilder (ἰδέα) sind jedoch am Rande bzw. außerhalb der Höhle angeordnet und werden durch eine Lichtquelle außerhalb der Höhle als Schattenbilder an die Höhlenwände projiziert. Die Berührungen zwischen dem Höhlengleichnis und der Ideenlehre begegnen jedoch nicht nur auf narrativer Ebene, sondern dokumentieren sich auch in der Terminologie bzw. Semantik. Der Wortstamm des Begriffs ἰδέα besteht nämlich in dem Aorist ἰδεῖν und ist somit aus dem Wortfeld ὀράω κ.τ.λ. abzuleiten. Mit anderen Worten: Der Begriff ‚Idee‘ steht für das, was gesehen und dadurch erkannt bzw. verstanden werden konnte40. Gleichwohl wirft die erzählerische Gestaltung des Höhlengleichnisses eine weitere Frage auf, welche für die Aufgabenstellung der vorliegenden Studie von zentraler Relevanz ist. Diese Frage ist, in welcher Weise das Motiv der Befreiung einzelner Menschen aus den Fesseln jener Höhlenexistenz gedeutet werden soll. Interessanterweise wird in Plato Polit. 515 c 4 ff. hervorgehoben, dass diese u. a. als ‚Heilung‘ bezeichnete Befreiung von den Fesseln und der Verständnislosigkeit nicht von den Höhlenbewohnern selbst bewirkt wird. Dieses Detail ist bemerkenswert, insofern sowohl die von Platon selbst formulierte Deutung des Gleichnisses (Plato Polit. 517 a 9–518 b 7) als auch die späteren Interpretationen in den platonischen Schulbildungen unterschied39 Generell zur Skizze der Entfaltung der Ideenlehre in unterschiedlichen platonischen Dialogen vgl. R. Patterson, Image, passim; B. Strobel, Formen, passim; G. Martin, Ideenlehre, passim. 40 Zur Etymologie dieses Begriffsfeldes vgl. G. Martin, Ideenlehre, 48 f.
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liche Antworten auf die Frage ermöglichen, inwiefern ein Mensch von sich aus in der Lage ist, die Welt außerhalb der Höhlenexistenz, also die Ideenwelt, zu erkennen (vgl. die Ausführungen zur Wiedererinnerung und zur unendlichen Sehnsucht der Seele nach der Erkenntnis des ‚Göttlich-Schönen‘; Kapitel 3; Arbeitsschritt 6 bzw. 7). Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage führt konsequent zu dem platonischen Leib-Seele-Verständnis und der damit einhergehenden Seelenwanderungsvorstellung.
5. Das Leib-Seele-Verständnis und die Seelenwanderungslehre Wenn Platon im Höhlengleichnis davon spricht, dass einzelne Menschen von den Fesseln jener Existenz in einer Höhle befreit werden, so steht dies in Beziehung zu zwei zentralen Motiven seiner Anthropologie, nämlich zum Leib-Seele-Verständnis und der damit einhergehenden Reinkarnations- bzw. Seelenwanderungsvorstellung. Um diesen Aspekt in seiner Bedeutung für einen Vergleich mit neuzeitlichen Nahtoderfahrungen angemessen beschreiben zu können, gilt es sich zunächst die Grundprobleme zu vergegenwärtigen, mit denen man bei einer Auseinandersetzung mit diesen Facetten der Dialoge Platons konfrontiert wird (5.1). Daraufhin wird eine Systematisierung der platonischen Seelenwanderungslehre entworfen (5.2). Vor diesem Hintergrund wird beschrieben, in welcher Weise Platon die zyklischen Stufen einer Reinkarnation in seinem Mythos von dem vermeintlich verstorbenen Soldaten Er erzählerisch vermittelt (5.3). Zuletzt kann erläutert werden, wie das Ziel der Seelenwanderung bzw. des Seelenwachstums bestimmt wird. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, sondern ein Ausdruck platonischer Erzählkunst, in welchem narrativen Kontext Platon seinen Protagonisten Sokrates auf dieses Thema zu sprechen kommen lässt, nämlich kurz vor dessen Hinrichtung (5.4). 5.1 Reinkarnation‘ – Wiedergeburt‘ – Seelenwachstum‘: Grundprobleme einer Auseinandersetzung mit platonischen Seelenwanderungsvorstellungen An dem Themenfeld ‚Seelenwanderung‘ tritt ein eigentümliches Phänomen der themenspezifisch relevanten Forschungsdiskurse zutage. Obwohl Platon einen der elaboriertesten und wirkungsmächtigsten Entwürfe einer Seelenwanderungslehre in der abendländischen Philosophie- und Religionsgeschichte entworfen hat, wird derselbe – ironisch formuliert – „nicht gerade übermäßig häufig in der
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Platonliteratur behandelt.“41 Eine Ursache hierfür kann darin bestehen, dass an diesem Themenfeld signifikant nahezu alle eingangs skizzierten Grundprobleme einer Interpretation der platonischen Dialoge zutage treten. Eine angemessene Aufarbeitung der im Folgenden nur skizzenhaft erwähnten Grundfragen einer Auseinandersetzung mit den Seelenwanderungsvorstellungen Platons ist meines Erachtens ein Desiderat der Forschung, welches Potenziale verschiedener Folgeprojekte birgt, und zwar sowohl in Bezug auf deren religions- und philosophiegeschichtliche Hintergründe, in Bezug auf die Entwicklungsgeschichte der Seelenwanderungsvorstellungen innerhalb der Dialoge Platons als auch in Bezug auf ihre Wirkungsgeschichte42. Zunächst gilt es kritisch anzumerken, dass in den vorliegenden Diskussionsbeiträgen die Begriffe ‚Reinkarnation‘, ‚Wiedergeburt‘ und ‚Seelenwanderung‘ oft synonym benutzt werden. Religionswissenschaftlich betrachtet müssen jedoch unterschiedliche Konzepte und Facetten entsprechender Vorstellungen voneinander differenziert werden43. In Bezug auf die entsprechenden Züge der Philosophie Platons ist es angemessener, den Begriff ‚Seelenwanderung‘ als Leitbegriff zu verwenden. Demgegenüber bezeichnen Begriffe wie ‚Reinkarnation‘, ‚Wiedergeburt‘ etc. lediglich Teilaspekte einer ‚Wanderung‘ bzw. eines ‚Wachstums‘, welche die Seele auf dem Weg zu ihrer eigentlichen Zielbestimmung durchschreitet44. Ansätze entsprechender Vorstellungen begegnen bereits in vorsokratischen Traditionen (z. B. bei Pindar, Pythagoras, Empedokles, in orphischen oder schamanistischen Traditionen)45. Im Gegensatz zu diesen Vorformen 41 Diese von H. Zander, Seelenwanderung, 675 Anm. 2 vor fast zwanzig Jahren süffisant formulierte Diagnose ist auch gegenwärtig noch zutreffend. Zur Skizze der Diskussionsbeiträge vgl. J. Müller, Seelenwanderung, 324–328; R. S. Bluck, Reincarnation, 156–164; Ders., Metempsychosis, 405–411; A. Böhme, Seelenwanderung, passim; J. Kerschensteiner, Platon, passim; E. Ehnmark, Transmigration, 1–20; U. Dierauer, Tier, 71–80; T. J. Saunders, Penal Code, passim; B. Bostock, Immortality, 404–424; W. Burkart, Weisheit, 101 ff. 42 Zur antiken Wirkungsgeschichte platonischer Seelenwanderungsvorstellungen vgl. H. Z ander, Seelenwanderung, 80 ff. In Bezug auf diese Wirkungsgeschichte sei vorausgreifend darauf hingewiesen, dass im zweiten Teil der vorliegenden Monographie dargelegt wird, inwieweit platonische Seelenwanderungsvorstellungen auch frühchristliche Schul- und Traditionsbildungen beeinflussen konnten, sei es direkt oder indirekt, sei es in kritischer Ablehnung oder positiver Aufnahme (vgl. v. a. Kapitel 11 und 12). 43 Zu einer graphisch anschaulichen Differenzierung unterschiedlicher Konzepte und Facetten entsprechender Vorstellungen vgl. A. Grünschloß, Diskurs, 19. Zu unterschiedlichen religions- und philosophiegeschichtlichen Entwicklungen vgl. H. Zander, Seelenwanderung, passim; M. Bergunder, Wiedergeburt, passim. 44 Zur Begriffsgeschichte und Verbreitung der unterschiedlichen quellensprachlichen Termini vgl. A. Grünschloß, Diskurs, 13–18. 45 Zu vorplatonischen Seelenwanderungsvorstellungen in antik-mediterranen Traditionen vgl. F. Back, Wiedergeburt, 45–73; A. Böhme, Seelenwanderung, passim; H. S. Long, Metapsychosis, passim; I. G. Kalogerakos, Seele, passim; H. Zander, Seelenwanderung, 57 ff.; W. Burkart, Weisheit, 101 ff.
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einer Seelenwanderungsvorstellung entwirft Platon jedoch eine ausgearbeitete Seelenwanderungslehre46. Für jene Aspekte, die für diese Lehre als Gesamtsystem von zentraler Bedeutung sind, lassen sich jedoch oft nur schwer oder gar keine geistesgeschichtlichen Vorgaben benennen, zumindest nicht in der antik-mediterranen Welt, von der Platon geprägt wurde. Gleichwohl implizieren die einzelnen Facetten der Seelenwanderungslehre Platons eine Vielzahl von Folgefragen. Letztere konnten in den themenspezifisch relevanten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen sehr konträre Einschätzungen inspirieren, welche Bedeutung Seelenwanderungsvorstellungen für das Verständnis der Philosophie Platons haben. Prinzipiell muss festgehalten werden, dass es angesichts der literarischen Gestaltung der platonischen Dialoge kaum möglich ist, eine systematisch- kohärente Darstellung der Seelenwanderungsvorstellung zu (re-)konstruieren. Es können jedoch diejenigen themenspezifisch relevanten Grundaspekte benannt werden, welche in unterschiedlichen erzählerischen Kontexten verortet sind und inhaltlich-sachlich miteinander korrespondieren. Ferner gilt es zu beachten, dass Platon Seelenwanderungsvorstellungen zumeist im Zusammenhang jener Ausführungen zur Sprache bringt, die als die von ihm selbst gestalteten mythologischen Erzählformen bezeichnet werden können. Dies impliziert die Frage, welche Bedeutung jenen ‚neuen Mythen‘ für das Verständnis der Philosophie Platons zugestanden werden kann (ausführlich hierzu Kapitel 3; Arbeitsschritt 2). Zudem kann die formale und inhaltlich-sachliche Entfaltung dieses Themenfeldes in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Corpus Platonicum markante Akzentunterschiede aufweisen. Dies konnte Diskussionen inspirieren, inwieweit Seelenwanderungsvorstellungen lediglich ein Randthema platonischen Denkens sind, das Platon vor allem in einer mittleren Phase der Entwicklung seiner Dialoge forcierte und in späteren Entwicklungsphasen wieder marginalisierte47. Eine solche Einschätzung wurde oft mit dem Phänomen in Verbindung gebracht, dass gerade die Seelenwanderungs46 Den Kontrast zu religions- und philosophiegeschichtlichen Vorentwicklungen, bei denen die genaue Gestalt dieses Themenfeldes zuweilen nicht eindeutig erfasst werden kann, konstatiert H. Zander, Seelenwanderung, 74 treffend: „Bei diesem Übervater der europäischen Philosophiegeschichte ist … eindeutig nachweisbar, daß er von Seelenwanderung gesprochen hat und wie sie in Details aussah.“ 47 Exemplarisch sei auf zwei konträre Ausrichtungen einer Urteilsbildung verwiesen. Einerseits kann postuliert werden, dass es Platon nicht um eine konsistente Lehrbildung geht, sondern um eine Vermittlung einer anthropologischen Vorstellung, für die er sich unterschiedlicher Wort- und Motivfelder bedient (so z. B. Long, Metapsychosis, 77: „He never insists upon the details of metempsychosis, but is assured that something like it must be true“). Andererseits wurde postuliert, dass der Gestalt der platonischen Sprache eine implizite Kritik solcher Vorstellungen einzuwohnen scheint (so. z. B. E. Zeller, Philosophie, 842 f.: „Die … Ausmalung
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vorstellungen in der weiteren Geschichte des Platonismus nicht annähernd eine ähnliche Wirkung entfalten konnten wie andere Facetten des Denkens Platons. Nichtsdestotrotz kann ebenso festgehalten werden, dass „nahezu alle antiken Debatten über Seelenwanderung mehr oder weniger im Gravitationsbereich Platons“48 stehen. Ebenso ist unstrittig, dass verschiedene Aspekte platonischen Denkens fast zwingend die Vorstellung einer Präexistenz bzw. einer sukzessiven Wiederverkörperung einer Seele bzw. der unsterblichen Anteile der Seele vorauszusetzen scheinen49. Dies gilt einerseits für das Motiv der Anamnesis, derzufolge Lernen Wiedererinnerung der Seele an ihre verborgene Allwissenheit ist. Andererseits impliziert der platonische Seelenbegriff, dass die Seele bzw. die unsterblichen Anteile der Seele nach dem Tod ihrer ‚körperlichen Behausung‘ fortexistieren. Gleiches gilt für das Motiv der ‚Angleichung an Gott so gut wie möglich‘ (Plato Theait. 176b1-d1)50, demzufolge menschliche Individuen eine Lebenshaltung einüben sollen, die dem Wesen der Gottheit bzw. der damit in Bezug stehenden Idee des Guten entspricht51. Diese Aspekte sprechen dafür, dass die Seelenwanderungslehre nicht eine vorübergehende Episode der Entwicklungsgeschichte der platonischen Philosophie war, sondern ein Zentrum derselben bildet. Dass sie gleichwohl nicht in allen Dialogen in der gleichen Weise zur Sprache gebracht wird, kann als eine Folge der thematischen Ausrichtungen und literarischen Gestaltungen der jeweiligen Dialoge verstanden werden52.
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des Jenseits und der Seelenwanderung hat … soviel Phantastisches, und wird von Platon mitunter so scherzhaft behandelt, dass hier die Lehre, je weiter sie sich ins einzelne entwickelt, umso mehr in den Mythos übergeht.“). Vgl. S. Vollenweider, Reinkarnation, 329. Vgl. u. a. B. Bostock, Immortality, 404–424. An diesem Motiv tritt eine von vielen Grundfragen auf, die im Gesamtzusammenhang der platonischen Dialoge nicht eindeutig geklärt werden kann und die von J. Müller, Seelenwanderung, 326 treffend auf den Punkt gebracht wird: „Im Gesamtzusammenhang bleibt … unklar, ob die Seele als dreiteilige wandert und reinkarniert oder ob bloß der vernünftige Teil den Tod überdauert, ob es also einen konstitutiven Unterschied zwischen Diesseits- und (geläuterter) Jenseitsseele gibt.“ Zu diesem Verhältnis vgl. P. Courcelle, Tradition, 406–443; M. Bordt, Angleichung, 253–255; D. A. Dombrowski, Religion, 95 ff.; W. K. C. Guthrie, Soul, 1–22; F. Finck, Seele, 243–262. Angesichts dieser inhaltlich-sachlichen Bezüge greift es zu kurz, wenn man aufgrund der statistisch betrachtet verhältnismäßig selten expliziten Ausführungen von Seelenwanderungsvorstellungen im Gesamtspektrum des Corpus Platonicum zu der Einschätzung gelangen würde, dass man nur von einer „peripheren Bedeutung der Lehre innerhalb des Systems Platons“ sprechen sollte (so etwa S. Vollenweider, Reinkarnation, 329). Dieser Sachverhalt kann an dem Phänomen erläutert werden, dass Seelenwanderungsvorstellungen z. B. in den Dialogen Timaios bzw. Nomoi signifikante Akzentunterschiede gegenüber früheren Dialogen aufweisen (vgl. u. a. Tim. 41 a–c; 91 a–92 c*; Nom. 872 e; 903 d–e). Dies wurde verschiedentlich als Indiz gewertet, dass auf diese Weise frühere Konzeptionen relativiert bzw. „ausgeschieden“ werden (so u. a. H. Zander, Seelenwanderung, 78 in Rekurs auf T. J. Saunders, Penal Code, 204; ähnlich zuletzt J. Müller, Seelenwanderung, 327 f.). Gegen
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Angesichts der skizzierten religionshistorischen und hermeneutischen Probleme sollen zwei Aspekte festgehalten werden, welche für die nachfolgenden Ausführungen von Relevanz sind. Einerseits gilt es zu beachten, dass im Folgenden der Versuch einer Systematisierung der Seelenwanderungsvorstellungen Platons vorgenommen wird, welche spezielle Texte Platons als eine hermeneutische Leitinstanz versteht, der andere themenspezifisch relevante Ausführungen Platons zugeordnet werden. Andererseits soll in diesem Rahmen zur Diskussion gestellt werden, inwieweit die oftmals mit dem Begriff ‚Seelenwanderung‘ bezeichneten Facetten der platonischen Anthropologie präziser mit dem Begriff ‚Seelenwachstum‘ bezeichnet werden können. Denn unabhängig von der Interpretation der einzelnen Facetten der Seelenwanderungsvorstellungen kann ein Aspekt kaum in Abrede gestellt werden: Die Entwicklung der Seele bzw. der unsterblichen Anteile der Seele ist ein zentrales Anliegen der Philosophie Platons. Und wenn Platon in seinen kosmogonischen und anthropogonischen Ausführungen des Dialogs Timaios die Seele bzw. die durch sie konstituierten menschlichen Individuen als „himmlisches Gewächs“53 bezeichnet (Plato Tim. 90 a 7 ὄνταϛ ϕυτὸν οὐκ ἔγγειον ἀλλὰ οὐράνιον), so bringt der vegetationsmetaphorisch konnotierte Terminus ‚Seelenwachstum‘ die platonische Aussageintention auch sprachlich zur Geltung. 5.2 Die Grundstruktur der platonischen Seelenwanderungslehre Unter dem Vorbehalt der zuvor skizzierten religionsgeschichtlichen und hermeneutischen Probleme kann die Grundstruktur der platonischen Seelenwanderungslehre folgendermaßen skizziert werden: Die platonische Anthropologie basiert auf einer dichotomischen bzw. trichotomischen Unterscheidung von Seele, Geist und Körper54. In einer vereinfachenden Weise formuliert kann konstatiert werden, dass die menschliche Seele Platon zufolge unsterblich ist. Präziser formuliert muss jedoch zwischen sterblichen und unsterblichen
solche Einschätzungen kann jedoch kritisch eingewendet werden, ob erwartet werden muss, dass Platon in jedem Dialog ein komplettes System rekapituliert, dass in früheren Dialogen in extenso entfaltet wurde. Entsprechend unterscheiden sich die thematischen Ausrichtungen und literarischen Gestaltungen der Dialoge Timaios bzw. Nomoi signifikant von den themenspezifisch relevanten Passagen der Dialoge Phaidros, Symposion und Politeia. 53 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher/F. Müller (K. Widdra), Platon, Bd. 7, 205. 54 Vgl. J. Müller, Anthropologie, 191 zur philosophiegeschichtlichen Einordnung dieser Konzeption: „De facto findet sich im Corpus Platonicum die erste extensive Reflexion auf das Verhältnis von Körper … und Seele … in der abendländischen Literatur, aber das gezeichnete Bild ist hochgradig komplex und scheinbar nicht frei von Widersprüchen.“
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Anteilen der Seele unterschieden werden (Plato Tim. 34 a 11–37 c 7; 69 a 8 ff.)55. Zur sprachlichen Vereinfachung wird im Folgenden jedoch von der unsterblichen Seele gesprochen, womit freilich eigentlich die unsterblichen Anteile der Seele gemeint sind, deren Beziehungen zur Weltseele bzw. zur Göttlichkeit jedoch nicht immer im Einzelnen benannt werden können56. Jene unsterbliche Seele wohnt nur vorübergehend in einem sterblichen Körper, der als ‚Gefängnis‘ (Plato Phaid. 62b) oder ‚Grab‘ (Plato Gorg. 493a; Phaidr. 250c) bezeichnet werden kann57. Der Mensch steht somit zwischen den Sphären des Sterblichen und des Unsterblich-Göttlichen (Plato Polit. 309 c 8). Zentrale Aufgabe und Herausforderung des Menschen ist die ‚Angleichung an Gott so gut wie möglich‘ (Plato Theait. 176b1-d1)58. Jene ‚Angleichung an Gott‘ vollzieht sich u. a. darin, dass Menschen eine Lebenshaltung einüben, die dem Wesen der Gottheit bzw. der damit in Bezug stehenden Idee des Guten entspricht. Dies dokumentiert sich u. a. in der Einübung der Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Weisheit, Klugheit, Frömmigkeit, welche durch eine philosophisch reflektierte Lebensführung ermöglicht wird (Plato Phaid. 114 d 10–115 a 2)59. Nur auf die55 Diese Differenzierung geht einher mit der Unterscheidung unterschiedlicher Dimensionen der menschlichen Seele, die Platon in Gestalt des Gleichnisses von einem Ungeheuer, einem Löwen und einem inneren Menschen veranschaulicht (vgl. Plato Polit. 588 a – 589 b). Letzteres ist somit in jenen Dialog eingebettet, der von seiner erzählerischen Struktur her betrachtet chronologisch unmittelbar vor dem Dialog Timaios angeordnet ist, also im Dialog Politeia. Dieser Aspekt verdient besondere Aufmerksamkeit, insofern die zuletzt genannte Passage und die in diesem Zusammenhang entfalteten Metaphern und Terminologien in vielen frühchristlichen Texten direkt und indirekt rezipiert wurden und somit die Wirkungsgeschichte platonischer Anthropologie im Bereich des frühen Christentums signifikant zutage treten lassen (vgl. u. a. die in 2 Kor 4,16 f.; Röm 7,21–23; 1 Petr 3,4 vorliegende Metapher vom ‚inneren Menschen‘ und die im Rahmen der Nag-Hammadi-Kodizes gefundene koptische Übersetzung dieser Passage). Ausführlich hierzu und zu weiteren frühchristlichen Rezeptionen vgl. C. Markschies, Art. Innerer Mensch, 266–312; T. Heckel, Mensch, passim; H.-M. Schenke, Platon, 356–358 und die entsprechenden Ausführungen in den Kapitel 9–12 im zweiten Band der vorliegenden Monographie. 56 In Bezug auf die im Dialog Timaios entfaltete Verhältnisbestimmung der unsterblichen Anteile der Seele in ihrer Beziehung zur Weltseele bzw. zur Göttlichkeit kann mit M. Erler, Platon, 134 konstatiert werden, dass sie „zu den schwierigsten Partien in Platons Werk (zählt) und seit der Antike Gegenstand lebendiger Diskussionen“ ist. 57 Entsprechend vergleicht Platon im Kontext der Palinodie den Menschen mit einem Schaltier bzw. Einsiedlerkrebs, der seinen Körper wie ein Gehäuse mit sich herumträgt (vgl. Platon Phaidr. 250 c 5–7). 58 Auch wenn der Begriff ‚Angleichung an Gott‘ in dieser expliziten Form lediglich in Theaitetos 176 b 1-d1 vorliegt, können die damit in Beziehung stehenden Vorstellungen als ein Fundament platonischen Denkens verstanden werden (vgl. M. Bordt, Angleichung, 253–255; D. A. Dombrowski, Religion, 95 ff.). 59 Eine weitere zentrale Herausforderung in der Ausbildung einer philosophisch gebildeten Persönlichkeit verkörpert für Platon der angemessene Umgang mit erotischer Faszination, welche einen sich sukzessive vollziehenden Erkenntnisprozess einleiten kann, welcher schließ-
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sem Weg sei es einem menschlichen Individuum, größeren Gemeinschaften von Menschen bzw. einem Staat möglich, εὐδαιμονία (Glückseligkeit) zu erreichen60. Der für eine solche Entwicklung notwendige Lernprozess vollzieht sich Platon zufolge nicht nur in einem Leben, sondern er erstreckt sich über verschiedene Reinkarnationen der unsterblichen Seele. Dieser Aspekt impliziert eine schlichte Frage, welche auf der Grundlage der platonischen Dialoge nicht eindeutig beantwortet werden kann: Was ist Platon zufolge eigentlich der Ursprung bzw. Anlass dafür, dass die unsterbliche Seele einen solchen Lernprozess durchlaufen muss? Diesbezüglich bieten die platonischen Dialoge verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die nur bedingt miteinander vermittelt werden können. So wird z. B. im Kontext der ‚Palinodie‘ im Dialog Phaidros von einem Sturz der Seele gesprochen, der durch jenen Lernprozess wieder korrigiert werden kann (zu der für die Anamnesislehre und das Motiv der Sehnsucht der Seele nach der Erkenntnis des Göttlich-Schönen grundlegenden ‚Palinodie‘ vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 7.3). Demgegenüber bedient sich Platon im Kontext seiner im Dialog Timaios vermittelten Weltentstehungsvorstellung einer Wachstumsmetaphorik, um die Entwicklung der Seele als einen Weg von der irdischen zur himmlischen Sphäre zu beschreiben, die „nach dem Gesetz der Notwendigkeit den Körpern eingepflanzt worden“ (Plato Tim. 42 a 2 f.)61 sei: „Die maßgebendste Form von Seele bei uns müssen wir uns aber folgendermaßen denken, dass nämlich Gott sie jedem von uns als einen Schutzgeist verliehen hat; lich zur Erkenntnis des ‚göttlichen Schönen‘ führen soll. Ausführlich hierzu sei auf die nachfolgenden Ausführungen zur Diotima-Rede im Dialog Symposion und in der ‚Palinodie‘ des Dialogs Phaidros verwiesen. 60 Zur platonischen Entfaltung des Begriffs εὐδαιμονία vgl. A. Schriefl, Glück, 284–288. Zur Verschränkung der kosmo- bzw. anthropogonischen Vorstellungen Platons und seinen staatspolitischen Konzepten vgl. G. R. Carone, Ethical Dimensions, 68–77. Im Kontrast z. B. zu späteren gnostischen Platon-Rezeptionen will platonisch-mittelplatonisches Denken nicht zu einem Rückzug aus der vorfindlichen Welt motivieren (vgl. Kapitel 12; 3.1). 61 Es wurde verschiedentlich konstatiert, dass Platon in diesem Kontext des Dialogs Timaios nicht die Themenfelder eines eschatologischen Gerichts thematisiert, in welchem über eine temporäre Belohnung oder Bestrafung entschieden wird, welche der Seele vor ihrer nächsten Inkarnation widerfährt (vgl. J. Müller, Seelenwanderung, 326). Dies kann jedoch nicht als Indiz gewertet werden, dass die Seelenwanderungslehre für Platon eigentlich nur schmückendes Beiwerk ist, um den ethischen Dimensionen seiner Lehre einen pädagogischen Nachdruck zu verleihen. Stattdessen gilt es zu beachten, dass wesentliche Begriffe und Motive der im Timaios entfalteten Weltentstehungsvorstellung auch in jenen Passagen begegnen, in denen Platon unterschiedliche Teilaspekte seiner Seelenwanderungsvorstellungen erläutert. Entsprechend konstatiert M. Bordt, Angleichung, 254 in Bezug auf das Motiv der Angleichung an Gott: „Am ausführlichsten entwickelt Platon die Vorstellung einer Angleichung an Gott im Timaios. In diesem Dialog steht weder die Unsterblichkeit noch die Ausbildung von Tugenden im Vordergrund. Sich Gott zu verähnlichen bedeutet hier, sich der göttlichen Vernunft anzugleichen und die Gedanken Gottes zu denken.“
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von ihr behaupten wir, dass sie im obersten Teil unseres Körpers wohnt und uns von der Erde zu unserer Verwandtschaft im Himmel erhebt, da wir kein irdisches, sondern ein himmlisches Gewächs sind.“62 (Plato Tim. 90 a 2–7: ὄνταϛ ϕυτὸν οὐκ ἔγγειον ἀλλὰ οὐράνιον).
Eine der biblischen Traditionen entsprechende ‚Sündenfall-Vorstellung‘ ist mit der platonischen Kosmogonie und Anthropogonie kaum vermittelbar, insofern der vorhandene Kosmos in seiner gegebenen Form als eine göttliche und vollkommene Entität beschrieben wird (zu den fast überschwenglich wirkenden Prädikationen im Schlusshymnus des Dialogs Timaios vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 8)63. Bei den zyklischen Einwohnungen der Seele in sterblichen Körpern handelt es sich jedoch nicht zwangsläufig um einen kontinuierlichen Fortschritt zum Besseren. Eine Seele kann Platon zufolge einen bereits erreichten hohen Entwicklungsgrad auch wieder verlieren und sogar als Tier wiedergeboren werden (Plato Phaidr. 249 b 3–5; Plato Polit. 619 e 7–620 d 7). Der Prozess der Reinkarnationen ist Platon zufolge nicht im Sinne einer unendlichen, zyklischen Wiederkehr zu verstehen. Das Ziel des Lernprozesses besteht darin, der temporären Einwohnung der Seele in einem sterblichen Körper schließlich zu entrinnen und endgültig ohne jene vergänglichen Körper bzw. Dimensionen zu existieren. Auf diese Weise erreicht die Seele ihre eschatologische Vollendung. Worin diese Vollendung besteht, lässt Platon Sokrates nur marginal andeuten, nämlich kurz vor dessen Hinrichtung (Plato Phaid. 114 c 2–6). Bevor die Eigentümlichkeit des zuletzt genannten Aspekts herausgearbeitet werden kann, gilt es sich zunächst die Beschreibung der zyklischen Reinkarnationen zu vergegenwärtigen, welche Platon in seine Erzählung von dem vermeintlich verstorbenen Soldaten Er integriert.
62 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher/F. Müller (K. Widdra), Platon, Bd. 7, 205. 63 Zu diesen Aspekten vgl. W. Nicolai, Sündenfall, 512–524. Auf diese positive Beurteilung des Kosmos in der Weltschöpfungsvorstellung Platons konnten sich freilich auch christliche Theologen berufen, um zur Geltung zu bringen, warum der Mensch sich als ein „herausgehobener Teil einer als gut und schön begriffenen Schöpfung“ verstehen dürfe. So U. Volp, Menschen, 143 speziell zur Adaption platonischer Vorstellungshorizonte im Denken von Clemens Alexandrinus (zur Übersicht entsprechender christlicher Adaptionen der platonischen Anthropogonie- und Kosmogonie-Vorstellungen vgl. op. cit., 353 ff.).
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5.3 Die Beschreibung der Seelenwanderungen in der Erzählung von dem Soldaten Er Nachdem bereits erläutert wurde, warum die Erzählung von dem vermeintlich verstorbenen Soldaten Er in der Komposition des Dialogs Politeia eine Sonderstellung einnimmt (vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 3), sollen im Folgenden die in diesem Zusammenhang vermittelten Beschreibungen zyklischer Reinkarnationen skizziert werden. Dabei werden lediglich jene Aspekte berücksichtigt, welche für das platonische Leib-Seele-Verständnis und die damit einhergehende Seelenwanderungsvorstellung von unmittelbarer Relevanz sind. Einzelne Details und Anspielungen, welche Platon zur narrativen Ausschmückung der zeitgenössischen Mythologie und Geschichtsschreibung entlehnt, werden demgegenüber nur dann erwähnt und erläutert, wenn dies für das Verständnis der platonischen Reinkarnationslehre unmittelbar von Relevanz ist64. In Plato Polit. 614 b 2–621 b 10 lässt Platon seinen Protagonisten Sokrates ausführen, was jener pamphylische Soldat auf seiner Jenseitsreise erlebt haben und warum er seinen Mitmenschen davon erzählen soll. Der Soldat Er nimmt der Erzählung zufolge für sich in Anspruch, dass sich seine Seele von seinem Körper gelöst hat, während er auf einem Schlachtfeld liegend für tot gehalten wurde. Während er zum Himmel geschwebt sei, habe er wahrgenommen, dass auch andere Seelen auf dem Weg dorthin waren. Sie seien an einen ‚wundersamen Ort‘ (Plato Polit. 614 c 1 f.) gekommen, wo jede einzelne Seele sich vor Richtern verantworten musste, die ihr jeweiliges Leben beurteilten. Nach dieser Beurteilung habe jede Seele eine Belohnung bzw. Bestrafung erfahren, die ihren Taten angemessen war. Gerechte Seelen wären zur rechten Seite des Gerichtshofs in den Himmel eingegangen, ungerechte Seelen hingegen zur linken Seite zu einem Ort der Bestrafung bzw. Läuterung. Bis zu diesem Punkt der Erzählung weist der Mythos vom Soldat Er eine deutliche Affinität zu Vorstellungen von einem eschatologischen Endgericht auf, wie sie auch aus freilich zuweilen wesentlich jüngeren frühjüdischen und frühchristlichen Traditionen bekannt sind (vgl. Dan 12,1–3; 1 Hen 6–16; 45–51, Mt 25,31–46; Apk 20,11–15 etc.)65. Im Gegensatz zu jenen frühjüdischen und frühchristlichen Gerichtsvorstellungen handelt es sich in der platonischen Konzeption jedoch nur um eine vorläufige 64 Exemplarisch sei z. B. auf die in Plato Polit. 619 e 6–621 b 10 erwähnten Gestalten und die von ihnen gewählten Schicksale verwiesen. 65 Eine angemessene traditionsgeschichtliche Aufarbeitung des Einflusses platonischer Gerichtsvorstellungen auf Zeugnisse alttestamentlich-frühjüdischer Apokalyptik ist im Bereich historisch-kritischer Exegese ein Forschungsdesiderat (zu entsprechenden Ansätzen vgl. R. Feldmeier, Unsterblichkeit, 141–153; W. Eisele, Reich, passim).
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Beurteilung, also frei formuliert um ein ‚Zwischenzeugnis‘. Nach einem Aufenthalt in jenen Orten der Läuterung und Belohnung müssen die Seelen sich auf eine weitere Inkarnation vorbereiten. Der Erzählung zufolge will der Soldat Er gesehen haben, wie die Seelen aus jenen Zwischenstadien zurückkehren und sich gegenseitig über ihre jeweiligen Erfahrungen informieren. Dabei lässt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz beobachten. Die Erzählung hebt hervor, dass sowohl die belohnten, als auch die bestraften Seelen über ihre Erfahrungen berichten. Die Bestrafungen werden jedoch wesentlich ausführlicher und detaillierter beschrieben als die positiven Erfahrungen (Plato Polit. 615 a 7–616 b 2). Die Darstellungen der Strafen für konkrete Vergehen lassen deutlich anthropomorphe und zuweilen sehr gewaltvolle Züge erkennen. Das skizzierte Phänomen zeigt sich auch in der weiteren Geschichte des Platonismus. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist der pseudepigraphische Dialog Axiochos, der zu der Gruppe antik-mediterraner Zeugnisse einer ars moriendi gezählt werden kann66. Die Rahmenhandlung schildert einen Besuch des Sokrates bei dem schwerkranken Axiochos, der Angst vor seinem unmittelbar bevorstehenden Tod hat. Sokrates erörtert mit ihm verschiedene Zugangsperspektiven auf das Phänomen Tod, bei dem immer wieder die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele im Mittelpunkt des Interesses steht67. Der Struktur der Dialoge Platons entsprechend folgt auf eine an logisch-rationalen Argumenten orientierte Erörterung ein Jenseits-Mythos, welcher das zuvor Gesagte zusätzlich illustrieren soll (371 a 1–372 a 14). Auch wenn diese Darstellungsform im Kontrast zu Platon nicht explizit als Mythos gekennzeichnet wird, entspricht er deutlich jenen Korrespondenztexten. Dies gilt im Besonderen für die Erzählung vom vermeintlich verstorbenen und wiederbelebten Soldaten Er68. Im Vordergrund des Interesses steht dabei die Aussage, dass eine Seele, die während ihrer körperlich-verfassten Existenz tugendhaft gelebt hat, gelassen einem eschatologischen Gericht und ihrer postmortalen Existenz entgegengehen 66 Zu entsprechenden Texten vgl. I. Männlein-Robert, Schrift, 13 f. Auch wenn der Text literarisch für sich in Anspruch nimmt, auf Platon selbst zurückzugehen, wurde bereits in der Antike konstatiert, dass dies nicht der Fall sein kann. Sowohl sprachliche als auch inhaltlich-sachliche Aspekte lassen eine deutliche Distanz zu genuin platonischen Texten erkennen. 67 Nachdem Axiochos sich zunächst von den Argumenten des Sokrates nicht überzeugen und trösten lässt, ist er letztendlich dermaßen von Sokrates’ Überlegungen zur Unsterblichkeit der Seele überzeugt, dass er sich sogar auf seinen Tod freut (369 e 3–372 a 14). 68 Dabei gilt es freilich zu beachten, dass der Verfasser des Dialogs Axiochos hervorhebt, dass das Wissen um jene Botschaften aus einer transzendenten Dimension schon seit langen Zeiten aus fremden Kulturkreisen überliefert wurde. Als Traditionsgarant wird ein gewisser Gobryas benannt, der aus dem sagenumwobenen Geschlecht der Hyperboreer stammen soll. Ebenso wie bei Platons Erzählung vom Soldaten Er arbeitet auch der Verfasser des Dialogs Axiochos mit Anspielungen auf orphische und pythagoreische Traditionen (vgl. J. N. Bremmer, N earDeath Experiences: Ancient, Medieval and Modern, passim).
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kann (371 c 1–e 4), während tugend- und gesetzeslose Existenzen eine Bestrafung zu erwarten haben (371 c 1 bzw. 371 e 5–372 a 3). Dabei lassen sich jedoch kaum Anspielungen auf die für Platon grundlegende Vorstellung von einem schrittweisen Wachstum der Seele erkennen, welche im Verlaufe mehrerer Inkarnationen sich zu jener himmlischen Heimat zurückbegeben kann, aus der sie ursprünglich stammt.
Letzteres unterscheidet die skizzierten Züge des Dialogs Axiochos von den themenspezifisch relevanten Ausführungen des wohl bedeutendsten Vertreters des sogenannten Mittelplatonismus, als der Plutarch von Chaironeia (ca. 45–120 n. Chr.) bezeichnet werden kann. Insbesondere in dem später als Moralia bezeichneten Schriftencorpus begegnen eine Vielzahl von „Reinkarnationsvorstellungen, die … sich zwischen philosophischer Reflexion, mythologischer Erzählung und volksreligiösen Eschatologien“69 bewegen. Entsprechend finden sich hier auch komplexe Analogien zu den platonischen Jenseitsmythen im Allgemeinen und zu der Erzählung vom Soldaten Er im Speziellen, vor allem in den Schriften De sera numinis vindicta (§§ 22–33; 563 B–568 A), De genio Sokratis (§§ 21–26; 589 F–594 E) und De facie lunae (§§ 26–30; 940 F–945 D). Die Erzählungen haben jeweils miteinander gemeinsam, dass „der Einblick in das Leben der Seele nach dem Tod auf der ekstatischen Nahtoderfahrung eines Einzelnen (basiert), der berichtet, was er gesehen hat.“70 Exemplarisch sei auf die entsprechenden Züge des Dialogs De sera numinis vindicta verwiesen, welcher als „das ausgereifteste und durchdachteste“71 moralisch-philosophische Werk Plutarchs verstanden werden kann. Die Teilnehmer des Dialogs erörtern die Frage, warum die Götter nicht in das Weltgeschehen eingreifen und u. a. menschlich verursachtes Unheil verhindern. Eine zentrale Aussage des Werkes besteht darin, dass spätestens ein eschatologisches Gericht für eine solche Gerechtigkeit sorgen wird und dass jeder Mensch für die von ihm vollbrachten Taten zur Verantwortung gezogen wird. In diesem Zusammenhang wird schließlich ein Jenseitsmythos erzählt. Als Traditionsgarant dient in diesem Zusammenhang ein ‚Nahtoderfahrener‘72, der infolge eines Sturzes für tot gehalten wurde und der fast schon bestattet worden wäre (§ 22 D). Als er wieder in das vor69 So. H. Zander, Seelenwanderung, 94. 70 Dabei sei eigens hervorgehoben, dass der Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ in diesem Zusammenhang explizit von I. Männlein-Robert, Schrift, 26 verwendet wird. 71 So H.-J. Klauck, Schriften, 66. 72 Für den Vergleich mit neuzeitlichen Nahtoderfahrungen ist dabei interessant, dass Plutarch über die grundlegende Transformation des Lebens der beschriebenen Person spricht, die sich auch in einer Namensänderung dokumentiert. Vor jener Erfahrung habe sie unter dem Namen Aridaios ein gesetzesloses und lotterhaftes Leben geführt, nach jener Erfahrung habe sie den Namen Thespesios angenommen und sich zu einem Vorbild einer tugendhaften Lebensführung entwickelt.
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findliche Leben zurückkehrte, berichtete er, wie bei jenem Sturz ‚sein Bewusstsein aus dem Körper hinausgeschleudert wurde‘. Daraufhin bietet Plutarch in deutlicher Anlehnung an die platonische Erzählung vom Soldaten Er detaillierte Beschreibungen der Folgen jenes eschatologischen Gerichts. Dabei fällt auch hier auf, dass im Verhältnis zu den Beschreibungen der positiven Folgen eines tugendhaften Lebens (§ 23) die Bestrafungen wesentlich ausführlicher und zuweilen mit drastischen Bildern illustriert werden (§ 25–26.30) Anders verhält es sich hingegen bei Platon selbst mit den Aussagen über die positiven Erfahrungen der Seelen in der jenseitigen Welt. Diesbezüglich lässt sich ein eigentümliches Phänomen beobachten, welches in der folgenden Aussage vermittelt wird: „Die aus dem Himmel hingegen hätten von ihrem Wohlergehen erzählt und von der unbegreiflichen Schönheit des dort zu Schauenden. Vielerlei davon … erfordere viel Zeit zu erzählen.“73 (Plato Polit. 615 a 3–7)
Diese Form der Beschreibung der himmlischen Belohnungen entspricht in ihrer Kürze jenem Verweis, welchen Platon Sokrates kurz vor seinem Tod in Bezug auf das Ziel der Reinkarnationen in den Mund legt (s. u. 5.3). In beiden Fällen wird konstatiert, dass eine angemessene Beschreibung dieser Aspekte in diesem Zusammenhang nicht möglich sei. Es handelt sich demnach ebenso wie bei der Erzählung von dem Tod des Sokrates um eine Aussparungsstelle bzw. eine argumentative Leerstelle74. Doch auch in Bezug auf die Erzählung von dem Soldaten Er kann festgehalten werden, dass Platon in einem anderen Zusammenhang auf das zu sprechen kommt, was er in diesem Kontext nur beiläufig als die „unbegreifliche Schönheit des dort zu Schauenden“ bezeichnet, nämlich in den Ausführungen zum Motiv des ‚Göttlich-Schönen‘, welches die Quelle und das eigentliche Ziel aller erotischen Faszinationen ist (zu den entsprechenden Zügen der Diotima-Rede und der Palinodie vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 7). Dabei weisen insbesondere die Erzählungen von dem Soldaten Er und von dem Flug der Seele in ihre himmlische Heimat in der Palinodie derartig markante formale und terminologische Analogien zueinander auf, dass es kaum s trittig sein dürfte, dass beide Texte miteinander in ein I nterpretationsverhältnis gesetzt werden müssen75. 73 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 4, 855. 74 Zur Skizze solcher Aussparungsstellen und argumentativen Leerstellen vgl. C. Schefer, Erfahrungen, passim. 75 Entsprechend D. Cürsgen, Rationalität, 288: „Er-Mythos und Phaidros-Palinodie werden aufeinander bezogen, um eine Ganzheit hervortreten zu lassen, die sich vom Teil alleine her nicht zeigen lassen kann“.
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Im Kontext der Erzählungen von dem Soldaten Er steht jedoch die weitere Beschreibung der Struktur des Reinkarnationszyklus im Vordergrund des Interesses. Nach den skizzierten Läuterungszeiten wird entschieden, in welcher Weise die unsterblichen Seelen weitere körperlich verfasste Existenzen in der vorfindlichen Welt durchleben und welche Existenzformen für sie lehrreich sein können. Jede dieser Inkarnationsphasen dient dazu, dass eine Seele lernt und wächst und dem Ziel einer Angleichung an Gott näher kommt. Dabei lässt Platon seinen Protagonisten eine These referieren, die so nicht aus traditionsgeschichtlichen Vorentwicklungen abgeleitet werden kann76. Die platonische differentia specifica gegenüber traditionellen Vorgaben besteht darin, dass den einzelnen Seelen vor einer weiteren Inkarnation eine Auswahl verschiedener Existenzformen angeboten wird. Je höher die einzelne Seele sich bereits entwickelt hat, desto präziser kann sie erkennen, welche Existenzform für eine positive Weiterentwicklung geeignet ist. Die Entscheidung für die Existenzform und der mit ihr verbundenen Einzelbestimmungen obliegt der Seele selbst77. Aus diesem Grund könne einer Gottheit auch keine Schuld für eine unglückliche Existenz während einer körperlichen Inkarnation zugewiesen werden (Plato Polit. 617 e 6). Zudem wird hervorgehoben, dass die Seele vor ihrer erneuten Inkarnation eine weitere Wahl zu treffen habe, nämlich die Wahl eines Daimonions, also einer die Seele begleitenden Macht, von deren Wirken Platon seinen Protagonisten Sokrates verschiedentlich erzählen lässt (Plato Polit. 617 e 1–2)78. Bevor die „eintätigen Seelen einen neuen todbringenden Umlauf “ antreten (Plato Polit. 617 d 10: Ψυχαὶ ἐϕήμεροι, ἀρχὴ ἄλληϛ περιόδου θνητοῦ γένουϛ θανατηϕόρου), müssen sie das „Feld des Vergessens“ durchwandern und aus
76 Zur dieser traditionsgeschichtlichen Eigentümlichkeit vgl. G. Droz, Mythes, 142 ff.; J. Dalfen, Jenseitsmythen, 368 f. 77 Die zentrale Aussageintention des mit vielen mythischen Bildern und Metaphern beschriebenen Auswahlprozesses bringt D. Cürsgen, Mythos, 395 treffend auf den Punkt: „Vor jeder Seele, die mit ihrer Wahl an der Reihe ist, liegt eine Vielzahl möglicher Lebensganzheiten ausgebreitet (618a–b) – weit mehr, als Wählende anwesend sind. Die Muster sind stets aus Gütern und Übeln zusammengesetzt, so dass die Seele genau abwägen muss, welches Muster insgesamt das beste für sie ist, denn ein von Übeln völlig freies Leben gibt es nicht. Zu den Elementen der Muster gehören verschiedene materielle Güter, Naturanlagen, Gemütseigenschaften, Charakterdispositionen und einzelne konkrete Handlungssachverhalte (618a–d; 619b–c), was die Muster allesamt zu aggregativen Mischungen macht. Die Ganzheit aller Mischungen ist als primäres Gut abzuwägen, wozu allein die Vernunft in der Lage ist, weil nur sie alle Güter, Übel und Intentionalobjekte kennt und ihren Wert bestimmen kann. Jedes einseitige und partiell ausgerichtete Streben führt zwangsläufig zu einer falschen Wahl.“ 78 Entsprechend lässt Platon Sokrates in seiner Verteidigungsrede hervorheben, dass er seit seiner Kindheit eine göttliche Stimme wahrgenommen habe, die ihn vor falschen Entscheidungen und Handlungen gewarnt haben soll (Plato Apol. 31 d–33 e). Zu diesem Motiv vgl. G. Figal, Sokrates, 32 f.; H. Gundert, Daimonion, 46–63.
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dem Fluss Sorglos trinken (Plato Polit. 621 a 3–b 1)79. Auf diese Weise vergessen die Seelen die Erinnerungen an ihre früheren Existenzformen und beginnen erneut zu lernen. In Bezug auf diesen Aspekt wird zwischen der Situation des Soldaten Er und dem Schicksal der anderen Seelen, die in die vorfindliche Welt zurückkehren, unterschieden. Dem Soldaten Er sei es nämlich erlaubt worden, partiell ein Wissen an seine jenseitige Existenz zu behalten80. Er durfte nicht aus jenem Fluss trinken, damit er nach seiner Wiederbelebung seine Mitmenschen über die Rahmenbedingungen ihrer Existenz informieren kann. Oder um es mit dem Bildrepertoire des Höhlengleichnisses zu sagen: Der Soldat Er ist eine jener Personen, die sich aus der körperlichen Verfasstheit ihrer Existenz für eine kurze Zeit befreien und aus jener Höhle heraustreten durften, um so bei ihrer Rückkehr die Mitbewohner in der Höhle über ihre neuen Erkenntnisse informieren zu können. Obwohl somit die Erzählung vom Soldat Er die Struktur der platonischen Seelenwanderungsvorstellung plastisch veranschaulicht, fehlt in ihr ein Aspekt, der für die platonische Gesamtkonzeption eigentlich von fundamentaler Bedeutung ist. Es geht um die Frage, was das Ziel jener Reinkarnationen ist bzw. was die Angleichung an Gott letztlich bewirkt. Worin diese eschatologische Vollendung besteht, lässt Platon – sicherlich nicht ohne Grund – Sokrates erst in einer exponierten Situation andeuten, nämlich kurz vor dessen Hinrichtung. 5.4 Das Ziel der Seelenwanderungen bzw. des Seelenwachstums Die Erzählung von den Geschehnissen vor, während und nach der Hinrichtung des Sokrates gehört zu jenen Aspekten der platonischen Dialoge, welche eindrücklich die literarische Meisterschaft ihres Autoren zutage treten lassen (Plato Phaid. 115 a 9–118 a 18). Neben den Traditionen zur Passion Jesu sind sie eventuell die wirkungsvollste literarische Stilisierung einer Figur, die für die Bewahrung ihrer Botschaft und Ideale bereit ist, auch einem Todesurteil nicht aus dem Weg zu gehen81. Doch bei aller literarischen Faszination ist diese Erzählung auch für das Verständnis der platonischen Philosophie von zentraler Bedeutung, auch 79 Zu traditionsgeschichtlichen Hintergründen dieser Motivik vgl. B. Lincoln, Waters, 19–34. Zur begriffsgeschichtlichen Profilierung des dabei verwendeten Terminus ‚Lethe‘ als ‚Verborgenheit‘ im Kontrast zu ‚Aletheia‘ als ‚Unverborgenheit‘ bzw. ‚Wahrheit‘ vgl. J. Szaif, Wahrheit, passim. 80 Dabei deutet Platon in diesem Kontext ein Motiv lediglich an, welches er in unterschiedlichen Zusammenhängen seines Werkes in extenso thematisiert, nämlich das Motiv der verborgenen Allwissenheit der Seele und der damit einhergehenden Anamnesis-Vorstellung (vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 6). 81 Zur Spezifität und zum Vergleich dieser Traditionen vgl. M. Vogel, Commentatio, 160 ff.; L. Scornaienchi, Jesus, 168–172.
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und gerade für das Verständnis der platonischen Leib-Seele-Vorstellung und der Reinkarnationsvorstellung. In diesem erzählerischen Rahmen lässt Platon seinen Protagonisten Sokrates die eschatologische Vollendung der Seele ansprechen, welche dieselbe am Ende ihrer Inkarnationen erreicht. Dieses erzählerische Detail ist definitiv kein Zufall – es dokumentiert vielmehr bereits für sich genommen und in mehrfacher Hinsicht die literarische Meisterschaft Platons. Nachdem Platon Sokrates eine weitere Variante eines Mythos über das Schicksal der Seele nach dem Tod des Körpers referieren lässt, ist er „an dem Punkt angelangt, an den er seine Schüler führen wollte.“82 Die eschatologische Vollendung am Ende der Reinkarnationen wird mit den folgenden Worten umschrieben: Plato Phaid. 114 c 2–6: „Welche nun unter diesen durch Weisheitsliebe sich schon gehörig gereinigt haben, diese leben für alle künftigen Zeiten gänzlich ohne Leiber und kommen in noch schönere Wohnungen als diese (καὶ εἰϛ οἰκήσειϛ ἔτι τούτων καλλίουϛ ἀϕικνοῦνται), welche weder leicht wären zu beschreiben, noch würde die Zeit für diesmal ausreichen.“83
Diese Aussage über eine eschatologische Vollendung der Seele am Ende ihrer Inkarnationen ist in mehrfacher Hinsicht eigentümlich: Platon lässt Sokrates benennen, was das Ziel der Seelenwanderung ist. Vollendete Seelen existieren „für alle künftigen Zeiten gänzlich ohne Leiber und kommen in noch schönere Wohnungen als diese …“. Platon lässt Sokrates aber nicht genauer beschreiben, was unter einer solchen Existenzform genau zu verstehen ist84. Dabei verdient die Formulierung besondere Aufmerksamkeit, der zufolge jene endgültigen Wohnstätten nicht „leicht wären zu beschreiben“ und dass dafür nicht „die Zeit … diesmal ausreichen“ würde. Um die Besonderheit dieser Angabe verstehen zu 82 So treffend W. Eisele, Jenseitsmythen, 322. Da Platon in diesem Zusammenhang Sokrates die vorfindliche Welt als Höhlung der oberen Welt bezeichnen lässt und beklagt, dass nur wenige Menschen den Aufstieg schaffen, kann festgehalten werden, dass die „Anspielungen an Platons berühmtes Höhlengleichnis … hier unüberhörbar“ sind (op. cit., 320). Zum Verhältnis von Tradition und Innovation in diesem Kontext des Schlussmythos des Phaidon formuliert T. Ebert, Schlussmythos, 436: „In dieser Erzählung am Ende des Phaidon haben wir es mit einem Dokument zu tun, in dem Vorstellungen der pythagoreischen Wissenschaft wie die der Kugelgestalt der Erde mit der Vorstellungswelt einer Erlösungsreligion verknüpft sind, in der eine Welt oberhalb und eine Welt unterhalb der unseren zu Schauplätzen der jenseitigen Existenz unserer Seelen werden.“ 83 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 193 bzw. 195. 84 Die Sonderstellung dieser Angabe wird in vielen Kommentaren bzw. Bezugnahmen nicht angemessen herausgearbeitet. So z. B. J. Dalfen, Jenseitsmythen, 362; ähnlich E. Dönt, Mythos, 18 f.; W. Eisele, Jenseitsmythen, 322.
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können, muss zwischen der textinternen Welt der Erzählung und einer textexternen Situation unterschieden werden, wie sie z. B. in der platonischen Akademie gegeben sein kann. In der textinternen Welt der Erzählung wird Sokrates keine Gelegenheit mehr haben, jene Vollendung zu beschreiben. Seine Hinrichtung steht unmittelbar bevor – oder positiv formuliert: Sokrates geht seiner eigenen Vollendung entgegen. Dabei stilisiert Platon seinen Protagonisten zu einem Vorbild einer ars moriendi, einer von Selbstsicherheit, Vertrauen und Gelassenheit geprägten ‚Kunst des Sterbens‘85. Sokrates schlägt jede Fluchtmöglichkeit aus und will den Zeitpunkt des Todes auch nicht weiter hinauszögern, indem er ein letztes Festmahl oder amouröses Abenteuer genießt. Stattdessen erklärt er sich bereit, den Schierlingsbecher mit eigener Hand zu trinken, um so selbstbestimmt mit einem letzten Gebet „zu den Götter … die Wanderung von hier dorthin“ anzutreten (Plato Sym. 117 c 1–6). In der textexternen Situation der platonischen Akademie kann jene Aussparungsstelle jedoch gefüllt werden, z. B. im Sinne der eingangs erwähnten ‚ungeschriebenen Lehren‘ (vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 1.3). Es kann jedoch auch unabhängig von einem Verweis auf ‚ungeschriebene Lehren‘ gefragt werden, inwiefern weitere Kontexte der platonischen Dialoge für eine Interpretation jener Leerstelle in der Beschreibung des Zielpunkts der Reinkarnationen von Relevanz sein können. So kann Platon z. B. im Zusammenhang seiner im Dialog Timaios entfalteten Weltentstehungsvorstellung konstatieren, dass eine erlöste gute Seele nach ihrer Trennung vom Körper zu „dem Wohnsitz des ihm verwandten Sterns zurückkehrt“ (Plato Tim. 42 b 3–5)86. Ebenso erwähnt er im Kontext der Palinodie in der Beschreibung des „überhimmlischen Ortes“ die „Heimat der Seele“ (Plato Phaidr. 247 c 3–9)87. Diese Aspekte veranschaulichen, dass die Frage nach dem Zielpunkt der Reinkarnationen nur im Zusammenhang weiterer Facetten platonischen Denkens angemessen erfasst werden kann, vor allem im Zusammenhang der Anamnesis-Vorstellung und des Motivs der Sehnsucht der Seele nach der Erfahrung des ‚Göttlich-Schönen‘, die im Folgenden in die Diskussion einbezogen werden sollen.
85 Zur platonischen Stilisierung dieser Sokrates-Figur folgert T. Ebert, Schlussmythos, 436: „Damit macht Platon seinen Sokrates zum jenseitstrunkenen Verkündiger einer Erlösungsreligion und gibt ihm somit eine Rolle, die der historische Sokrates wohl nie hatte.“ 86 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher/F. Müller (K. Widdra), Platon, Bd. 7, 69. 87 Zum Motiv des ‚überhimmlischen Ortes‘ vgl. W. Schwabe, Geistcharakter, 184 ff.
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6. Das Motiv der verborgenen Allwissenheit der Seele und die Anamnesis-Vorstellung Ein weiteres Grundmotiv der platonischen Anthropologie im Generellen und der Seelenwanderungslehre im Speziellen besteht darin, dass die unsterbliche Seele des Menschen eigentlich allwissend ist88. Im Sinne dieser auch als Anamnesislehre bezeichneten Vorstellung ist somit jeder Prozess eines Lernens schlicht eine Wiedererinnerung. Diese Vorstellung entfaltet Platon vor allem in den Dialogen Menon (Plato Men. 80 d–86 c bzw. 97 e 6–98 a 5), Phaidon (Plato Phaid. 72 e–76 e bzw. 91 e) und Phaidros (Plato Phaidr. 249 b–c)89. Es ist jedoch eine m. E. unangemessene Engführung, wenn lediglich jene Passagen der platonischen Dialoge in die Diskussion einbezogen werden, in denen die entsprechende Terminologie der Wiedererinnerung begegnet. Es gilt auch jene Aspekte der platonischen Anthropologie einzubeziehen, die inhaltlich-sachlich dieser Konzeption entsprechen90. Exemplarisch sei auf die skizzierten Züge des Schlussmythos des Dialogs Politeia verwiesen. Platon lässt den vermeintlich verstorbenen und wiederbelebten Soldaten Er referieren, was vor einer erneuten Inkarnation der unsterblichen Seele in einen sterblichen Körper geschieht. Bevor die Seele einen ‚neuen todbringenden Umlauf ‘ (Plato Polit. 617 d 10) antritt, muss sie nach der Wanderung durch das ‚Feld des Vergessens‘ aus dem ‚Fluss Sorglos‘ trinken (Plato Polit. 621 a 3–b 1). Auf diese Weise vergisst sie das Wissen um frühere Existenzformen und steht vor der Herausforderung, sich partiell wieder an jene Allwissenheit zu erinnern91. Für die Leitfragen der vorliegenden Studie ist aufschlussreich, in welcher Weise diese Konzeption Platons philosophie- und religionsgeschichtlich eingeordnet werden kann. Es handelt sich streng genommen um eine jener Facetten 88 Generell zur Diskussion des Themenfelds vgl. S. I. Lee, Anamnesis, passim; C. E. Huber, Anamnesis, passim. 89 Auch diesbezüglich zeigt sich wiederum, dass die von Platon in unterschiedlichen Kontexten formulierten Konzepte stets aufeinander bezogen werden müssen. Entsprechend C. H. Kahn, Recollection, 304: „… we have a single theory but three incomplete formulations, formulations that require one another for adequate understanding.“ 90 Wenn man mit B. Manuwald, Wiedererinnerung, 352 festhalten kann, dass in den Dialogen Menon, Phaidon und Phaidros das Motiv der Anamnesis jeweils untrennbar „mit der Vorstellung von der Unsterblichkeit bzw. der Präexistenz der Seele in Zusammenhang gebracht“ wird, so müssen auch die weiteren platonischen Dialoge in die Diskussionen einbezogen werden, in denen diese Referenzgrößen thematisiert werden. Dem entspricht das Phänomen, dass Platon seinen Protagonisten Sokrates als einen Meister der Mäeutik dargestellt, der Hebammenkunst. Er verhilft Menschen dazu, jenes Wissen zu erfassen, das in ihnen ruht und geborgen werden will. 91 Entsprechend zu dem Begriff ‚Aletheia‘ (‚Wahrheit‘) als das ‚Nicht-Vergessene‘ bzw. ‚Nicht-Verborgene‘ vgl. Kapitel 3; Anm. 79.
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platonischen Denkens, die als kreativ-innovative Leistungen Platons bezeichnet werden können. Umso bemerkenswerter ist es, dass genau zu diesem Aspekt eine Vielzahl von Analogien im Kontext jener Erfahrungsmuster begegnen, die heute mit dem sachlich unpräzisen Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden (vgl. die entsprechenden Züge der in Kapitel 2; Arbeitsschritt 3 angeführten Beispiele). An diesem Themenfeld kann signifikant erläutert werden, warum statt des Begriffs ‚Nahtoderfahrung‘ eigentlich der Begriff ‚Erfahrung göttlicher Liebe‘ oder in diesem speziellen Fall auch der Begriff ‚Erfahrung des Göttlich-Schönen‘ gewählt werden sollte. Platon zufolge gibt es nämlich in der Entwicklung der menschlichen Seele spezielle Situationen, in denen jene Wiedererinnerung intensiv zutage tritt. Im besonderen Maße gilt dies für das Phänomen erotischer Faszination. In diesen Situationen erinnert sich Platon zufolge die Seele an das tiefste Fundament ihrer Existenz, nämlich an die Schau des Göttlich-Schönen und die Urquelle aller Ideen. Auf welche Weise Platon diese Vorstellung vermittelt, soll im Folgenden dargelegt werden.
7. Das Geheimnis erotischer Faszination und die Sehnsucht der Seele nach der Erfahrung des Göttlich-Schönen Eine Facette der platonischen Philosophie, die in der späteren Geistesgeschichte eine besondere Rezeption erfahren sollte, ist Platons Deutung des Geheimnisses erotischer Faszination und das damit verbundene Motiv der Sehnsucht der Seele nach der Erfahrung des Göttlich-Schönen. Im Folgenden sollen jene beiden Teilmotive betrachtet werden, in welchen Platon dieses Themenfeld mit unterschiedlichen Zugangsperspektiven entfaltet, nämlich das Motiv der Erfahrung des Göttlich-Schönen als Klimax der Stufenleiter der Erotik in der Diotima-Rede im Dialog Symposion (7.3) und das Motiv der Erinnerung der Seele an das Göttlich-Schöne in der Palinodie des Sokrates im Dialog Phaidros (7.4). Letztere können freilich erst nach einer Skizze ihrer jeweiligen formalen Komposition und mysterien-theologischen Terminologie angemessen erfasst werden (7.2). Zunächst gilt es sich jedoch einige Grundprobleme zu vergegenwärtigen, mit denen man bei einer Auseinandersetzung mit dem platonischen Eros-Begriff konfrontiert wird (7.1).
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7.1 G rundprobleme einer Auseinandersetzung mit dem platonischen Eros-Begriff Wenn man sich aus heutiger Perspektive mit Platons Deutung des Geheimnisses erotischer Faszination auseinandersetzt, so wird man mit verschiedenen Phänomenen konfrontiert, die auf den ersten Blick als anstößig bzw. intolerabel erscheinen können. Dies gilt einerseits für das Phänomen, dass Platon seine Konzeption primär in Bezug auf eine spezielle Form von erotischer Faszination entfaltet, nämlich in Bezug auf ein homoerotisches Verhältnis zwischen einem älteren Mann und einem Jugendlichen. Dieser Sachverhalt ist jedoch ein Ausdruck der kulturellen Prägung und Umgebung Platons, der zugleich durch die von ihm propagierte Haltung kritisiert wird92. Platon stilisiert Sokrates zu einem Vorbild dafür, in welcher Weise erotische Faszination wahrgenommen und nicht ausgelebt werden soll93. Andererseits mag es aus heutiger Sicht verwunderlich sein, dass Platon einem heterosexuellen Liebesverhältnis kaum Aufmerksamkeit schenkt. Auch dieses Phänomen ist Ausdruck eines zeit- und kulturbedingten Menschenbildes, welches gendertheoretisch in keiner Weise mehr akzeptabel ist94. Umso bemerkenswerter ist es, dass Platon im Rahmen des Dialogs Symposion die zentralen Erkenntnisse über das Geheimnis erotischer Faszination von einer Frau verkünden lässt (zur Gestalt der mantinischen Priesterin Diotima s. u. 7.2). Dieses Phänomen kann nämlich in mehrfacher Hinsicht als eine kritische Zugangsperspektive zu den soeben skizzierten befremdlichen Zügen des platonischen Liebesverständnisses verstanden werden. Es kann als eine implizite Kritik an einem an patriarchalen Kategorien ausgerichteten Denken und Handeln gedeutet werden. Demnach übt Platon „mit der von Diotima vorgebrachten Lehre … Kritik an dem traditionellen männlichen Paradigma von Liebe als Eroberung und Besitz und ersetzt dies durch die weiblich konnotierten Begriffe der erotischen Verantwortlichkeit, Zeugung und Schwangerschaft.“95 92 Zu diesen kulturgeschichtlichen Gegebenheiten vgl. K. Dover, Homosexualität, passim; M. Foucault, Gebrauch, passim; T. Gould, Love, passim. 93 Paradigmatisch hierfür ist die Rede des Alkibiades im Dialog Symposion über das Verhalten des Sokrates und die Beschreibungen der Beziehung zwischen Sokrates und Charmides im gleichnamigen Dialog. Vgl. F. v. Kutschera, Philosophie I, 171–176; B. Zehnpfennig, Symposion, 159 f. 94 Treffend konstatiert S. Ebbersmeyer, Liebe, 304: „Das heterosexuelle Liebesverhältnis und das zwischen zwei Frauen spielt … bei Platon kaum eine Rolle. Frauen, die im antiken Athen von dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen waren und denen keine Bürgerrechte zukamen …‚ werden von Platon im Vergleich zum Mann als von Natur aus defizitär begriffen“. Zu dieser im Weltschöpfungsmythos des Timaios (Tim. 90 e-91 a) entfalteten Vorstellung vgl. M. Kuhn, Timaios, 116 f. 95 So treffend S. Ebbersmeyer, Liebe, 304.
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Einer solchen Einschätzung entspricht ferner, dass die von Platon entfaltete Bestimmung des Begriffsfeldes ἐρᾶν κ.τ.λ. keineswegs nur körperliche bzw. sexuelle Dimensionen von Liebe kennzeichnet, sondern auch seelisch-freundschaftliche Aspekte, die eigentlich den Begriffsfeldern ϕιλεῖν κ.τ.λ. bzw. στέργειν κ.τ.λ. und dem vor allem in christlichen Traditionen präsenten Begriffsfeld ἀγαπᾶν κ.τ.λ. zuzuordnen sind (dies wird signifikant in dem Dialog Lysis entfaltet, welcher dem Themenfeld einer verantwortungsvoll gestalteten Freundschaft gewidmet ist)96. Diese bereits bei Platon vorgezeichneten Akzentverschiebungen, welche umgangssprachlich oft mit dem unpräzisen Begriff ‚platonische Liebe‘97 bezeichnet werden, werden in der weiteren Geschichte des Platonismus sogar noch verstärkt. Dies zeigt sich z. B. in der Freundschaftsethik des bedeutendsten Schülers von Platon. Auch wenn von Aristoteles keine Reflexionen über den ἔρωϛ-Begriff überliefert sind, sprechen verschiedene Indizien dafür, dass er sich in nicht tradierten Abhandlungen intensiv mit den entsprechenden Konzeptionen seines Lehrers auseinandergesetzt hat und sich gerade diesbezüglich bei aller Freiheit und Selbstständigkeit ganz als Schüler Platons erweist98. Dies gilt einerseits für die These, dass Gott als ‚unbewegter Beweger‘ eine anziehende Energie ausströmt, welche mit dem Zielpunkt einer erotischen Sehnsucht verglichen werden kann (Arist. Metaph. 1072 b 3: κινεῖ δὲ ὡϛ ἐρώμενον)99. Andererseits ist auch für Aristoteles die Entfaltung einer auf Tugendhaftigkeit ausgerichteten ϕιλία das einigende Band zwischen Gott und Mensch, welches zur Glückseligkeit führt100.
96 Grundlegend hierzu vgl. D. Bolotin, Friendship, passim. Die Dominanz des Begriffsfeldes ἀγαπᾶν κ.τ.λ. in christlichen Texten kann nicht als implizite Diskreditierung hellenistischer Liebesterminologie gedeutet werden. Gegen u. a. A. Nygren, Eros I, 25 ff.; K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV/2, 825 ff. Ausführlich hierzu vgl. E. E. Popkes, Liebe, 47 f.; T. Söding, Wortfeld, 288 f. ἀγαπᾶν κ.τ.λ. wurde vermutlich schlicht aufgrund seiner phonetischen Korrespondenz zum hebräischen אהבzum semantischen Leitbegriff in der Septuaginta und in christlichen Traditionen. Dies dokumentiert eindrücklich der Sachverhalt, dass in der LXX-Übersetzung des in hohem Maße erotisch orientierten Hoheliedes Salomos primär ἀγαπᾶν κ.τ.λ., jedoch in keinem Fall ἐρᾶν κ.τ.λ. als Äquivalent gewählt wurde (vgl. u. a. Cant. 1,3; 2,4 f.; 3,1.4; 5,8; 8,6 etc.). 97 Zur Entstehungsgeschichte und Problematik dieses Begriffs vgl. S. Ebbersmeyer, Liebe, 304. 98 Ausführlich hierzu O. Gigon, Nikomachische Ethik, 19 bzw. 47; ders., Aristoteles Opera III, 277–283. 99 Ausführlich hierzu I. Düring, Aristoteles, 211 bzw. U. v. Wilamowitz-Moellendorf, Platon, 313. 100 Vgl. R. Weil, Aristoteles, 234 bzw. A. W. Price, Erotic Love, 236: „It is difficult enough to try to infer from the fragmentary evidence we do possess what Aristotle took love to be; yet it seems worthwhile to attempt a kind of archaeological reconstruction.“ Die Grundtendenz seiner Interpretation scheint jedoch zu sein: „The moral end of love is to transcend itself in friendship“ (op. cit., 249).
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Entsprechende Entwicklungen begegnen auch in unterschiedlichen mittelplatonischen Interpretationen des platonischen Eros-Begriffs101. Im Besonderen gilt dies für die entsprechenden Ausführungen von Plutarch im Dialog Amatorius, welcher als eine grundlegende Reformulierung und Ausarbeitung der platonischen Vorgaben zu verstehen ist102. Dabei werden die positiven Dimensionen unterschiedlicher Facetten menschlicher Sexualität für die Entwicklung der Persönlichkeit hervorgehoben. Eine zentrale gesellschaftliche Funktion der ehelichen Gemeinschaft besteht z. B. darin, durch ein angemessenes Ausleben erotischer Sehnsüchte die Tugenden gegenseitiger Ehrerbietung, Hingabe und Treue zu erlernen (vgl. v. a. Plutarch, Amat. 20 769 2–4)103. In diesem Sinne bringt Plutarch signifikant zur Geltung, was bereits im platonischen Eros-Begriff vorgezeichnet ist: „Der Eros wirft ein eigenes Licht auf die Dinge, er macht an der Welt und den Menschen ihre wahre, und das heißt platonisch: ihre gute und liebenswerte Struktur offenbar.“104 7.2 Die Komposition und mysterientheologischen Hintergründe der Diotima-Rede (Plato Sym. 201 d 1–212 c 3) und der Palinodie (Plato Phaidr. 243 e 10–257 b 8) In den Dialogen Phaidros und Symposion lässt Platon die Akteure seiner Erzählungen jeweils über das Wesen des Eros bzw. der Liebe und das Geheimnis erotischer Faszination debattieren. Dabei fällt auf, dass die jeweiligen Reden des Sokrates formale und terminologische Analogien zueinander aufweisen105. Einerseits lässt Platon Sokrates jeweils hervorheben, dass er seine Einsicht nur durch eine Einflussnahme ‚fremder Instanzen‘ erlangen konnte. Andererseits weisen die daraufhin skizzierten Konzeptionen terminologisch betrachtet eine deutliche Affinität zu zeitgenössischen Mysterien-Kulten auf, insbesondere zu solchen Traditionen, die in Bezug auf die Eleusis-Kulte überliefert wurden. Letzteres ist für die vorliegende Fragestellung von Interesse, insofern in Myste-
101 Vgl. C. Riedweg, Mysterienterminologie, 115 f. bzw. 158–161; F. Karfik, Beseelung, 244–251. 102 Grundlegend hierzu R. Hirsch-Luipold, Denken, passim. Bemerkenswerterweise wird Eros in diesem Zusammenhang zu einer Gottesgestalt stilisiert, die „in einer der Idee des Guten nahekommenden Rolle erscheint“. So C. Schoppe, Plutarchs Interpretation, 267, der hierin m. E. zu Recht eine implizite Rezeption der entsprechenden Züge der platonischen Palinodie erkennt (ausführlich hierzu s. u. Arbeitsschritt 7.4). 103 Zur Edition vgl. H. Görgemanns, Text, 120. Zu den sozialgeschichtlichen Hintergründen dieser Vorstellung vgl. B. Feichtinger, Geschlechterverhältnis, 268–272. 104 So R. Hirsch-Luipold, Denken, 167. 105 Zum Verhältnis der beiden Reden vgl. T. Szlezák, Platon, 132 ff.; G. Krüger, Wesen, 49–73.
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rien-Kulten Initiationsriten vollzogen wurden, die ein aus Transzendenzerfahrungen gewonnenes Wissen vermittelt haben sollen106. Diese Aspekte inszeniert Platon in den Dialogen Symposion und Phaidros auf unterschiedliche Weise. Im Dialog Symposion werden in einer kunstvoll gestalteten narrativen Rahmung von den Teilnehmern des Gastmahls zunächst unterschiedliche mögliche Zugangsperspektive zur Thematik Eros bzw. Liebe eingenommen (vgl. Plato Sym. 178 a 6–198 a 1). Vor diesem Hintergrund ergreift schließlich Sokrates das Wort und eruiert die Stärken und Schwächen der Beiträge seiner Vorredner (Plato Sym. 198 a 1–201 d 1). Sein eigener konstruktiver Gesprächsbeitrag wird jedoch nicht als eine Einsicht präsentiert, zu der Sokrates aus eigener Kraft gelangt sei. Platon lässt Sokrates hingegen hervorheben, dass er die von ihm dargelegten Einsichten einer anderen Person zu verdanken hat, nämlich der Priesterin Diotima, die aus dem arkadischen Mantineia stammen soll (Plato Sym. 201 d 1–212 c 3). Dieses Detail der Erzählung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zunächst zeichnet Platon seinen Protagonisten als jene Gestalt, welche die vorhergehenden Ausführungen zum Thema Eros kritisch durchleuchtet. Daraufhin stellt Platon inmitten einer von Männern dominierten Erzählung Sokrates als einen Schüler dar, der von einer Frau in die „höchsten und heiligsten Geheimnisse der Liebe eingeweiht“ wurde (vgl. Plato Sym. 209 e 6–210 a 5). Auch wenn unklar ist, inwieweit diese Figur auf eine historische Gestalt zurückgeführt werden kann bzw. inwieweit es sich bei ihr um eine literarische Fiktion handelt, so lassen der Duktus und die Terminologie der platonischen Erzählung drei Aspekte deutlich zutage treten: Diotima ist die einzige weibliche Gestalt, die in den platonischen Dialogen Sokrates in ein derartiges Lehrerinnen-Schüler-Verhältnis stellt107. Andererseits legt Platon Diotima im Höhe- und Schlusspunkt der in ihrem Namen referierten Rede eine Terminologie in den Mund, die der Beschreibung von Initiationsriten in antiken Mys-
106 Es gibt eine Vielzahl von Überlegungen und Spekulationen, was die konkreten Inhalte jener Erfahrungen und die damit zusammenhängenden Praktiken gewesen sein könnten. Vgl. u. a. K. Clinton, Mysteries, passim; J. N. Bremmer, Initiation, 166 f.; W. Burkart, Homo necans, 274–326. In Bezug auf das Themenfeld ‚Nahtoderfahrungen‘ verdienen dabei die Vermutungen von R. G. Wasson/A. Hoffmann/C. A. P. Ruck (Hg.), Eleusis, passim besondere Beachtung, insofern sie Indizien herausarbeiten, die dafür sprechen, dass der Eleusis-Kult mit einer Verabreichung von Substanzen einherging, die aus dem Mutterkorn gewonnen wurden. Dies würde eine Verbindung zur Erforschung der synthetischen Droge LSD eröffnen, deren Bedeutung für künstliche Induktionen entsprechender Erfahrungen ein eigenständiges Forschungsfeld bildet. Vgl. u. a. W. Richards/S. Grof/L. Goodman (u. a.), LSD-assisted psychotherapy, 121–150; S. Grof, Beyond death, passim; K. Ring, Tod, 273 ff.; S. Gripentrog, Perspektiven, passim etc. 107 Derartige literarische Gestaltungen sprechen dafür, dass in diesem Kontext im besonderen Maße die genuinen Vorstellungen Platons zutage treten (vgl. hierzu G. Figal, Sokrates, 96 f.).
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terien-Kulten entspricht108. Letzteres gilt besonders für die Überlieferungen zu den Mysterien in Eleusis. Dieser Aspekt ist für die vorliegende Studie von zentraler Bedeutung. Bereits im Höhepunkt des Dialogs Politeia loziert Platon eine Erzählung von einer Erfahrung, die eine zuweilen frappierende Ähnlichkeit zu solchen Erfahrungen aufweist, die in heutiger Zeit mit dem unpräzisen Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ bezeichnet werden (s. o.). Ebenso bedient er sich im Höhepunkt des Dialogs Symposion einer literarischen Gestalt, die als Mystagogin Sokrates in die Geheimnisse der Liebe bzw. Erotik einführt109. Dieser Sachverhalt ist umso bemerkenswerter, wenn berücksichtigt wird, dass die Teilnehmer des Eleusis-Kultes schrittweise auf einen Initiationsritus vorbereitet wurden, der einen Zugang zu einer Transzendenzerfahrung vermitteln soll. Die skizzierten Aspekte entsprechen auch einer zentralen Aussage der Palinodie im Dialog Phaidros, in welchem Platon seinen Protagonisten zwei Reden zum Themenfeld Eros bzw. Liebe halten lässt. Die zweite Rede ist jedoch als eine Korrektur bzw. als ein Widerruf der ersten zu verstehen. In der ersten Rede hat Sokrates vor allem die negativen Potenziale einer erotischen Faszination benannt und damit die problematischen Seiten des Eros in den Vordergrund gestellt. Der Erzählung zufolge wollte Sokrates bereits seine Freude verlassen. Er sei jedoch durch eine Einwirkung des ‚göttlichen und gewohnten Zeichens‘ abgehalten worden (Plato Phaidr. 242 b 7–242 d 1; zum sogenannten Daimonion, welches Sokrates von falschen Handlungen abgehalten haben soll, vgl. Plato Apol. 31 c f.). Er habe bereits während jener ersten Rede intuitiv wahrgenommen, dass er gegen eine Gottheit sündigt. Da jedoch der Seele die ‚Kraft der Weissagung‘ innewohnen würde, müsse er nun als ‚Wahrsager‘ jenen Widerspruch zur ersten Rede in Worte fassen. Während Sokrates somit im Dialog Symposion durch die Mystagogin Diotima belehrt wurde, wird er im Dialog Phaidros unmittelbar durch eine göttliche Sphäre zu seinem Handeln inspiriert. Die Parallelität dieser Erzählungen tritt noch deutlicher zutage, wenn bedacht wird, dass der Name Diotima schlicht als die ‚Gottesfürchtige‘ bzw. ‚Gottgeweihte‘ gedeutet werden kann110. Ebenso wie die von Sokrates referierte Rede der Diotima begegnen auch in der Palinodie eine Vielzahl von Aspekten, die formal und terminologisch an 108 Grundlegend hierzu vgl. C. Riedweg, Mysterienterminologie, 1 ff.; C. Evans, Diotima, passim. 109 Vgl. C. Evans, Diotima, 1: „Like the goddess Demeter, Diotima from Mantineia, the prophetess who teaches Socrates about eros and the ‘rites of love’ in Plato’s Symposion, was a mystagogue who initiated individuals into her mysteries, mediating to human esoteric knowledge of the divine. The dialogue, including Diotima’s speech, contains religious and mystical language, some of which specifically evokes the female-centered yearly celebrations of Demeter at Eleusis.” 110 Zur Diskussion unterschiedlicher etymologischer Herleitungen des Namens ‚Diotima‘ vgl. H. Sier, Rede, 1–13.
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Initiationsriten antiker Mysterien-Kulte erinnern, wiederum im besonderen Maße an die Überlieferungen zu den Mysterien in Eleusis. Entsprechende Assoziationen werden durch die formale Gestaltung in diesem Zusammenhang sogar noch deutlicher als bei dem Dialog Symposion evoziert, insofern der Dialog Phaidros an einem geweihten Ort außerhalb der Stadt verortet wird, der ebenso inspirierend sei wie der Gesang der Zikaden bzw. Musen und die temporäre Gegenwart des Pans111. Die liturgischen Vollzüge des jährlich gefeierten Eleusis-Kults lassen sich partiell aus verschiedenen antik-mediterranen Quellen rekonstruieren, z. B. zu der schrittweisen Vorbereitung der Initianten, der Prozessionen zum Kult-Heiligtum und zu liturgischen Riten112. Der Höhepunkt der Initiation vollzog sich in einem als Telesterion bezeichneten Kultbereich, welcher in seinem Zentrum das sogenannte Anaktoron umschloss113. Letzteres durfte nur von dem durch eine strenge Sukzession bestimmten Hierophanten betreten werden, dessen Aufgabe darin bestand, den Initianten die Heiligtümer des Kultes und die damit verbundenen Mysterien zu offenbaren. Sowohl die formalen Beschreibungen als auch die Terminologie, welche die unterschiedlichen Stufen der Einführung in die Mysterien kennzeichnet, bringen zur Geltung, dass Platon „eindeutig diese athenische Praxis voraus(setzt)“114. Während jedoch die skizzierten äußeren Vollzüge in verschiedenen Quellen bezeugt sind, sind über die konkreten Inhalte jener Mysterien kaum angemessene Informationen überliefert. Letzteres kann mit dem Phänomen zusammenhängen, dass es bei Androhung einer Todesstrafe verboten war, über die Inhalte jener Mysterien zu berichten. Dieser Aspekt lässt die Eigentümlichkeit der platonischen Stilisierung der Diotima-Rede und der Palinodie zutage treten. Es stellt sich die Frage, inwiefern Platon indirekt das Gebot der Geheimhaltung umgeht, um die Inhalte des Eleusis-Kults für seine Philosophie fruchtbar machen zu können. Auf diese Weise würde er einerseits jene Inhalte einer breiten Leserschaft offenbaren und andererseits bestehende religiöse Vorstellungen kritisieren115. Eine solche Deutung der religionsgeschichtlichen Hintergründe der Diotima-Rede und der Palinodie Platons steht auch dem Sokrates-Bild des Aristophanes nahe. Letzterer bringt Sokrates in seiner Komödie ‚Die Wolken‘ ebenfalls in Verbindung mit dem Eleusis-Kult und lässt 111 Zur den exponierten Verortungen der Gespräche in den Dialogen Symposion und Phaidros vgl. E. Heitsch, Phaidros, 226; P. Gardeya, Symposion, passim. 112 Ausführlich vgl. J. N. Bremmer, Initiation, 2–20; K. Clinton, Mysteries, passim; W. Burkart, Homo necans, 274–326. 113 Zu unterschiedlichen Überlieferungen dieser Terminologien vgl. F. Graf, Eleusis, passim. 114 So treffend C. Riedweg, Mysterienterminologie, 5. 115 C. Evans, Diotima, 1: „Plato borrowed Eleusinian language because it criticized conventional notions of the divine, thereby allowing him to reimagine the possibilities for the philosophical process among humans.“
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ihn schließlich neben einer Leugnung der traditionellen Athener Götter nur noch die Existenz der Götter ‚Chaos‘, ‚Wolken‘ und ‚Zunge‘ postulieren. Dabei gilt es zu beachten, dass dieses Werk bereits im Jahre 423 v. Chr. aufgeführt wurde, also noch ca. 24 Jahre vor dem Prozess gegen Sokrates. Entsprechend lässt Platon Sokrates in seiner Selbstverteidigung auf ebendieses Werk Bezug nehmen (Plato Apol. 19 b 1 ff.). In welchem Maße das Werk des Aristophanes als eine der Ursachen des Prozesses und des Todesurteils gegen Sokrates verstanden werden muss, kann nicht eindeutig geklärt werden. Der zuweilen sehr spöttischen Darstellung des Sokrates in der aristophanischen Komödie widerspricht freilich grundlegend das literarische Denkmal, das für Sokrates in den platonischen Dialogen durch seinen Schüler Platon errichtet wurde. Umso deutlicher tritt jedoch die subtile Aussage der formalen Gestaltung der Diotima-Rede und der Palinodie Platons zutage. Letztere besteht darin, dass es letztlich nicht Sokrates selbst ist, der jene Einsichten über das Geheimnis erotischer Faszination und das Motiv der Sehnsucht der Seele nach der Erfahrung des Göttlich-Schönen vermittelt. Es kann nicht verwundern, dass immer wieder die Vermutung formuliert wurde, inwiefern Platon auf diese Weise seine eigene Lehre im Kontrast zu seinem Lehrer dokumentiert116. 7.3 Die Erfahrung des Göttlich-Schönen als Klimax der Stufenleiter der Erotik nach der Diotima-Rede im Dialog Symposion Die zentrale Botschaft der von Sokrates referierten Diotima-Rede wird mit jenen Worten eingeleitet, die im Kontrast zum bisherigen Verlauf der Erzählung erstmals deutlich mit einer Terminologie arbeiten, die Assoziationen zu den eleusinischen Mysterien evoziert (Plato Sym. 209 e 6 ff.)117. Diotima unterrichtet Sokrates darüber, was der Zielpunkt jeder erotischen Faszination ist, nämlich die Schau und Erkenntnis des Göttlich-Schönen (Plato Sym. 211 e 3 f.: … ἀλλ᾽ αὐτὸ τὸ θεῖον καλὸν δύναιτο μονοειδὲϛ κατιδεῖν). Alle Schönheit der vorfindlichen Welt ist demnach nur ein Abbild jener göttlich-schönen Urquelle. Keine Seele kann jemals zur Ruhe kommen, bevor sie nicht zur Schau der Urquelle alles Schönen gelangt ist. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Diotima bzw. Platon zufolge jedes menschliche Individuum in seiner Entwicklung unterschiedliche Stufen der Erotik bzw. Liebe durchschreiten. Auf einer ersten Entwicklungsstufe wird eine Faszination für einen schönen Körper wahrgenommen. Es folgt 116 Vgl. hierzu G. Figal, Sokrates, 96 f. 117 Zur narrativen Einbettung und Funktion der Diotima-Rede in der sukzessiven Entfaltung des Eros-Begriffs im Dialog Symposion vgl. H. Sier, Rede, 182 f.; A. Wurm, Amor, 22–30; zur platonischen Personifikation des Eros bzw. zum Verhältnis des Eros-Begriffs und der Ideenlehre vgl. G. Martin, Ideenlehre, 103–106.
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jedoch die Erkenntnis, dass viele verschiedene Körper auf verschiedene Weisen schön und erotisch faszinierend sein können und dass es „großer Unverstand wäre, nicht die Schönheit in allen Leibern für eine und dieselbe zu halten …“ (Plato Sym. 210 b 2–4)118. Von der Faszination der äußeren Wahrnehmungen muss die Entwicklung fortschreiten zu inneren Werten, also zu den Ausdrucksformen der Seele, die in einem schönen Körper existiert. Dies zeigt sich u. a. in der Faszination für „das Schöne in den Bestrebungen und in den Sitten“ (Plato Sym. 210 c 4). Eine wohlgeleitete Entwicklung führt schließlich zur Faszination von ‚Erkenntnissen‘. Wer diese Stufen der Entwicklung angemessen durchlebt und auf diese Weise Tugendhaftigkeit praktiziert und anderen dazu verhilft, erlangt schließlich eine Gottesfreundschaft und Unsterblichkeit (Plato Sym. 212 a 6–8)119. Wer sich auf diese Weise auf „die hohe See des Schönen“ (Plato Sym. 210 d 6 f.) begibt und sich in einer philosophisch reflektierten Lebenshaltung weiterentwickelt, der nähert sich Diotima zufolge dem eigentlichen Zielpunkt aller erotischen Faszinationen. Worin derselbe besteht, wird von Platon bzw. Diotima in bemerkenswerter Weise umschrieben (Plato Sym. 210 e 2–211 b 6). Mit einer einleitenden These schaut Diotima zunächst nochmals auf die vorhergehenden Entwicklungsschritte zurück und ermutigt Sokrates wiederum mit Worten, die deutlich an Terminologien aus dem Kontext der eleusinischen Mysterien erinnern: „Wer nämlich bis hierher in der Liebe erzogen ist, das mancherlei Schöne in solcher Ordnung und richtig schauend, der wird, indem er nun der Vollendung in der Liebeskunst entgegengeht, plötzlich ein von Natur wunderbar Schönes erblicken (πρὸϛ τέλοϛ ἤδη ἰὼν τῶν ἐρωτικῶν ἐξαίϕνηϛ κατόψεται τι θαυμαστὸν τὴν ϕύσιν καλόν), nämlich jenes selbst, o Sokrates, um dessen willen er alle bisherigen Anstrengungen gemacht hat, welches …“
Auf diese formalen Umschreibungen folgen unterschiedliche Kategorien, die jenes „von Natur wunderbar Schöne“ von allen anderen Gestaltwerdungen von
118 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 345. 119 Das Motiv der ‚Gottesfreundschaft‘ erlangte nicht nur in der weiteren Geschichte des Platonismus eine breite Rezeption (so verdient z. B. für Aristoteles derjenige, der die von ihm skizzierte Konzeption des guten Lebens praktiziert, das Prädikat eines θεοϕιλέστατοϛ [Aristot, Eth Nic, X,9 1179 a 30 ff.]), sondern konnte auch frühjüdische Weisheitstheologie prägen, vor allem in der Sapientia Salomonis und bei Philo von Alexandrien (Sap 7,27 f.). Zu entsprechenden Motiven bei Philo von Alexandrien vgl. u. a. Philo, Leg All III 1.71; Omn Prob, Lib 42; Abr 50; Rer Div Her 21; Vit Mos I 156; sobr. 55; migr 45; Vita contemplativa. 90 etc.; zu diesen Belegen vgl. U. Schnelle, Neuer Wettstein I/2, 726 ff.
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus
Schönheit unterscheiden. Dabei können vierzehn Bestimmungen voneinander differenziert werden: 1. „zuerst immer ist und weder entsteht noch vergeht“, 2. „weder wächst noch schwindet“, 3. „ferner auch nicht etwa nur insofern schön, insofern aber häßlich ist“, 4. „noch auch jetzt schön und dann nicht“, 5. „noch in Vergleich hiermit schön, damit aber häßlich“, 6. „noch auch hier schön, dort aber häßlich“, 7. „als ob es nur für einige schön, für andere aber häßlich wäre“. 8. „Noch auch wird ihm dieses Schöne unter einer Gestalt erscheinen, wie ein Gesicht oder Hände oder etwas sonst, was der Leib an sich hat“, 9. „noch wie eine Rede oder Erkenntnis“, 10. „noch irgendwo an einem anderen seiend“, 11. „weder an einem einzelnen Lebenden, noch an der Erde, noch am Himmel“, 12. „sondern an und für sich und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend“, 13. „alles andere Schöne aber an jenem auf irgendeine solche Weise Anteil habend“, 14. „daß, wenn auch das andere entsteht und vergeht, jenes doch nie irgendeinen Gewinn oder Schaden davon hat noch ihm sonst etwas begegnet“120. Diese Klimax der Diotima-Rede ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Einerseits wird konstatiert, dass alle Schönheit der vorfindlichen Welt nur ein Abbild jener göttlich-schönen Urquelle ist, deren Schau und Erkenntnis alle anderen Formen von Schönheit als „sterblichen Flitterkram“ erweist (Plato Sym. 211 e 1–6). Andererseits wird via negationis umschrieben, worin sich jenes Göttlich-Schöne von allen seinen irdischen Abbildern unterscheidet. Wie jedoch dieses Göttlich-Schöne genauer zu verstehen ist, wird im Zusammenhang des Dialogs Symposion nicht präziser benannt. Platon lässt Sokrates sein Referat über Diotima beenden und ihn abschließend hervorheben, dass dies ein Enkomion, eine „Lobrede auf den Eros“ sei. Die platonische Erzähldramaturgie zielt darauf ab, dass es zu keiner Diskussion über diese Rede kommt. Stattdessen werden die anwesenden Gäste durch die Ankunft des betrunkenen Alkibiades gestört, der schließlich eine Lobrede hält, in welcher Sokrates zu einem Vorbild für den angemessenen Umgang mit dem Phänomen erotischer Faszination stilisiert wird121. 120 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 347 bzw. 349. 121 Ausführlich hierzu vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 7.1.
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Bemerkenswerterweise hebt die platonische Erzählung jedoch hervor, dass Aristophanes etwas zur Rede des Sokrates anmerken wollte (Plato Sym. 212 c 4–7). Letzteres ist thematisch von Relevanz, insofern Platon in der vorhergehenden Rede des Aristophanes den Mythos vom androgynen Kugelmenschen loziert, der die Entstehung erotischer Begierde erläutern soll (vgl. Plato Sym. 189 c 3–193 d 6). Durch eine körperliche Vereinigung der Liebenden kann die unsterbliche Seele während ihrer Existenz in geschlechtlicher Dualität partiell wieder in ihre ursprüngliche Einheit zurückfinden (… ἐκ δυοῖν εἷϛ γενέσθαι [vgl. v. a. Plato Sym. 192 e 9]). Die literarische Gestaltung des Dialogs Symposion vermeidet somit eine Reflexion, in welchem Verhältnis jener Kugelmensch-Mythos zu den Aussagen der von Sokrates referierten Diotima-Rede steht. Dies gilt z. B. für die Frage, in welchem Maße jene Schau des Göttlich-Schönen in der vorfindlichen körperlichen Existenz erreichbar ist. Die Besonderheit der literarischen Gestaltung des Endes der Sokrates-Rede im Symposion tritt jedoch zutage, wenn erläutert wird, dass derartige thematische Bezüge in der zweiten großen Rede vorliegen, die Platon seinen Protagonisten über das Geheimnis erotischer Faszination und das Motiv der Sehnsucht der Seele nach der Erfahrung des Göttlich-Schönen halten lässt, nämlich in der Palinodie im Dialog Phaidros, die nun in die Diskussion einbezogen werden soll. 7.4 Das Motiv der Erinnerung der Seele an das Göttlich-Schöne nach der Palinodie des Sokrates im Dialog Phaidros Die sogenannte Palinodie, jener Widerruf auf eine erste, unangemessene Rede des Sokrates über das Geheimnis erotischer Faszination im Dialog Phaidros, ist in Bezug auf ihre sprachliche und metaphorische Komplexität eine der anspruchsvollsten Passagen im gesamten Corpus Platonicum (zur narrativen Funktion dieser formalen Gestaltung s. o. 7.1). Im Bereich der mythologisch geprägten Sprachebenen bedient sich Platon traditioneller Vorgaben und innovativer Bilder, welche zuweilen unmittelbar ineinander übergehen. So erwähnt Platon z. B. Motive unterschiedlicher Himmelsareale, bei denen er benennt, dass sie schon von anderen Dichtern besungen wurden (vgl. die Motivaspekte „unterhimmlische Wölbung“ [Plato Phaidr. 247 a 1] oder „Rücken des Himmels“ [Plato Phaidr. 247 c 1])122. Gleichzeitig konstatiert er, dass er weitere Himmelsebenen beschreiben möchte, die bisher nicht besungen wurden und die eigentlich unbeschreiblich sind (Plato Phaidr. 247 c 3–5: „Den überhimmlischen Ort aber hat noch nie einer von den Dichtern hier besungen, noch wird ihn je einer
122 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 75 bzw. 77.
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus
nach Würden besingen.“)123. Gleichwohl versucht er, genau dieses Unbeschreibliche zu beschreiben (Plato Phaidr. 247 c 5–7: „Er ist aber so beschaffen, denn ich muß es wagen, ihn nach der Wahrheit zu beschreiben, besonders auch da ich von der Wahrheit zu reden habe.“)124. Dabei wechselt Platon auf engstem Raum zwischen logisch-rationalen und metaphorisch-mythologischen Gesprächsebenen125. So versucht er z. B. zunächst partiell wiederum via negationes Aspekte der Sphäre des Göttlich-Schönen zu beschreiben, wie er dies ausführlich bereits in der Klimax der Diotima-Rede vorgenommen hat: „Das farblose, gestaltlose, stofflose, wahrhaft seiende Wesen, das nur der Seele Führer, die Vernunft, zum Beschauer hat und um das das Geschlecht der wahrhaften Wissenschaft ist, nimmt jenen Ort ein.“126 (Plato Phaidr. 247 c 5–d 1)
Auf diese zum Teil rationalen Kategorien verpflichtete These folgt unmittelbar eine mythologische Sprachform, nämlich eine kunstvoll komponierte Beschreibung einer Ausfahrt des Götterpantheons auf himmlischen Gefährten durch jene ‚überhimmlischen Areale‘. Die Erzählung mündet in die These, dass dies „der Götter Lebensweise“ sei (Plato Phaidr. 248 a 1–2). Die Metaphorik ‚himmlischer Gefährte‘ verwendet Platon auch bei dem folgenden Mythos über den Flug der Seele in ihre himmlische Heimat. Dabei lassen sich unterschiedliche Teilaspekte der Bildebenen voneinander differenzieren, die auf den ersten Blick konträr erscheinen mögen, welche aber im Kontext der Palinodie unterschiedliche Funktionen erfüllen127. Prinzipiell kann konstatiert werden, 123 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 77. In diesem Detail zeigt sich eindrücklich das bereits eingangs skizzierte Phänomen des kreativ-innovativen Potenzials der platonischen Mythen. Entsprechend resümiert C.-F. Geyer, Mythos, 84: „,Neue Mythen‘ treten nicht unvermutet an die Stelle der ‚ererbten Bestände‘ …. Die Authentizität des Mythos ist nur in einem Prozess von Traditionskritik und Traditionsbewahrungen herzustellen.“ Ferner zu diesem Motiv W. Schwabe, Geistcharakter, 184 ff. 124 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 77. Dieser Aspekt entspricht der Aufgabe des vermeintlich verstorbenen und wiederbelebten Soldaten Er im Schlussmythos des Dialogs Politeia, der seinen Mitmenschen von den Dimensionen außerhalb ihrer vorfindlichen Existenz erzählen soll. Entsprechend D. Cürsgen, Rationalität, 288: „Er-Mythos und Phaidros-Palinodie werden aufeinander bezogen, um eine Ganzheit hervortreten zu lassen, die sich vom Teil alleine her nicht zeigen lassen kann“. 125 Dies entspricht weiteren platonischen Mythen, in denen Argumentationen begegnen können, die von Platon selbst als ‚Logos‘ bezeichnet werden, obwohl sie eher einem Mythos ähneln, während zuweilen auch rational-argumentative Passagen von Platon als Mythos bezeichnet werden. Zu diesen Phänomenen vgl. J. Dalfen, Jenseitsmythen, 356 f. 126 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 77. 127 Exemplarisch sei verwiesen auf die facettenreiche Metaphorik der Flügel. Einerseits konstruiert Platon das Bild der Flügel der Seele, die aus den Körpern von Menschen erwachsen, welche von erotischer Faszination erfüllt werden und sich so in Ansätzen wieder in jene himmlische
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dass Platon durch seine formale Komposition des Textes und sein kunstvolles Spiel mit prosaischen, poetischen und grammatikalischen Figuren den Inhalt und Gegenstand der Palinodie sprachlich abzubilden versucht, nämlich einen „durch göttliche Gunst … verliehenen Wahnsinn“, der „größte Güter“ vermitteln kann (Plato Phaid. 244 a 8–9)128. Dabei lässt sich eine Vielzahl von Aspekten benennen, die als eine Präzision jener Ausführungen verstanden werden kann, die Platon in das Referat der Diotima-Rede zum Geheimnis erotischer Faszination und zur unendlichen Sehnsucht der menschlichen Seele nach der Schau und Erkenntnis des ‚Göttlich-Schönen‘ integriert hat. Die zentrale Metaphorik, derer sich Platon in den themenspezifisch relevanten Passagen der Palinodie bedient, ist der Flug der Seele in ihre himmlische Heimat. Eine erste Entfaltung des Bildes folgt auf eine Reflexion über verschiedene Formen einer göttlichen Inspiration bzw. eines ‚positiven Wahnsinns‘, welche der menschlichen Seele von Gott geschenkt wurden, um eine Erinnerung an ihre eigentliche Heimat und Zielbestimmung wahrnehmen zu können (Plato Phaidr. 244 a 4–246 a 2). Auf die jene Reflexion abschließende These, dass die Seele „notwendig … unentstanden und unsterblich ist“, folgt der Mythos vom Flug der Seele in ihre himmlische Heimat (Plato Phaidr. 246 a 3 ff.). Demnach spürt eine Seele im Moment erotischer Faszination wieder jene Flügel, über die sie während ihrer körperlichen Existenz nicht verfügen kann. Sie kann sich wieder aufschwingen zu ihrer himmlischen Heimat und sie erahnt die Schau der Idee des Schönen. Nach diesem urgöttlichen Schönen sehnt sich die Seele fortwährend und unermesslich zurück. Denn dies ist der Ort, von wo die Seele stammt (Plato Phaidr. 249 d 4–e 5). Der vordergründige Auslöser der erotischen Faszination, z. B. eine schöne körperliche Gestalt eines Menschen, wird jedoch von Menschen, die nicht in die Geheimnisse erotischer Faszination eingeweiht sind, nicht als das erkannt, was es eigentlich ist, nämlich ein Abbild jenes ‚Göttlich-Schönen‘, nach dem die Seele sich zurücksehnt: „Durch dieses nun, wenn sie ein Ebenbild des dortigen sehen, werden sie entzückt, und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen.“129 (Plato Phaidr. 250 a 7–b 2) Heimat aufschwingen können, aus der die unsterbliche Seele ursprünglich stammt. Andererseits beschreibt Platon eine Himmelsreise der Seele, die auf einem Wagen durch himmlische Bereiche fliegt, der von zwei beflügelten Pferden gezogen wird. Zur Verschränkung dieser Metaphorik und den jeweiligen traditionsgeschichtlichen Hintergründen vgl. E. Heitsch, Phaidros, 98 f. bzw. 109. 128 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 63. 129 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 87.
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An diesem Aspekt kann auch jene problematische Haltung der Seele erläutert werden, welche Platon mit dem Motiv des himmlischen Reiterwagens und einer Differenzierung von drei Teilaspekten einer seelischen Ausrichtung zu vermitteln versucht. Die Metaphorik arbeitet mit dem Bild eines Reitergespanns, das von zwei Pferden gezogen wird (Plato Phaidr. 253 c 8–d 15). Ein Pferd versinnbildlicht eine positive, philosophisch reflektierte Ausrichtung einer leidenschaftlich affektierten Seele, das zweite Pferd hingegen eine unkontrollierte, destruktive Leidenschaftlichkeit130. Die Aufgabe des Wagenlenkers besteht darin, die unterschiedlichen Potenziale der Seele zu koordinieren und vernunftorientiert in die richtige Richtung zu lenken. Gelingt dies nicht, so kann die Seele aus jenen himmlischen Gefilden abstürzen. Ebenso wie in den Beschreibungen der Struktur und des Ziels der Reinkarnationen wird auch in diesem Zusammenhang nicht erläutert, ob bzw. wie es zu einem ersten Sturz der unsterblichen Seelen kam. Mit anderen Worte: eine platonische Sündenfall-Vorstellung gibt es nicht – ein entsprechendes Korrelat aber auch nicht131. Gleichwohl bezieht Platon im Kontext der Palinodie jene protologischen und eschatologischen Perspektiven in besonderer Klarheit aufeinander. Exemplarisch zeigt sich dies in den folgenden Worten, die ebenso wie die entsprechende Passage der Diotima-Rede im Dialog Symposion über die Wahrnehmung des ‚Göttlich-Schönen‘ von verschiedenen Termini geprägt sind, welche antiken Mysterienkulten entsprechen, im Besonderen den eleusinischen Mysterien: „Die Schönheit aber war damals glänzend zu schauen (κάλλοϛ δὲ τότε ἦν ἰδεῖν λαμπρόν), als mit dem seligen Chore wir dem Jupiter, andere einem anderen Gott folgend, des herrlichsten Anblicks und Schauspiels genossen und in ein Geheimnis eingeweiht waren, welches man wohl das allerseligste nennen kann (εἶδόν τε καὶ ἐτελοῦντο τῶν τελετῶν ἥν θέμιϛ λέγειν μακαριωτάτην), und welches wir feierten, untadelig selbst und unbetroffen von den Übeln, die unserer für künftige Zeit warteten, und so auch zu untadeligen, unverfälschten, unwandelbaren seligen Gesichten vorbereitet und geweiht in reinem Glanze, rein und unbelastet von diesem unserem
130 Vgl. E. Heitsch, Phaidros, 93 f. Das Motiv des Seelenwagenmythos inspirierte eine facettenreiche Wirkungsgeschichte, insbesondere auch bei frühjüdischen und frühchristlichen Platon-Interpretationen. Zu entsprechenden Ansätzen bei Philo von Alexandrien bzw. Clemens Alexandrinus vgl. C. Riedweg, Mysterienterminologie, 106 f. bzw. 140; D. T. Runia, Creation, 229 ff.; P. Courcelle, Flug, 29–65. 131 Dass die vorfindliche körperliche Verfasstheit menschlicher Existenz nicht als eine verwerfliche Schöpfung zu verstehen ist, konstatiert Platon in unterschiedlichen Zusammenhängen seiner kosmologischen Vorstellungen. Zu den entsprechenden Konzeptionen in den Dialogen Timaios und Phaidon vgl. F. Karfik, Beseelung, 45–48 bzw. 203 f.
Das Licht als ‚Band des Himmels‘
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Leib, wie wir ihn nennen, den wir jetzt, eingekerkert wie ein Schaltier, mit uns herumtragen.“ (Plato Phaidr. 250 b 6–c 6)132
Ebenso wie Platon an anderer Stelle den sterblichen Körper als ‚Gefängnis‘ (Plato Phaid. 62b) oder ‚Grab‘ (Plato Gorg. 493a) der unsterblichen Seele bezeichnen kann, so vergleicht er in der Palinodie die vorfindliche Verfasstheit der menschlichen Existenz mit der eines Tieres, welches temporär einen Schutzpanzer mit sich herumträgt133. Die eigentliche Heimat der Seele, in welche sie durch die Lernprozesse verschiedener Inkarnationen zurückkehren soll, wird jedoch mit jenem ‚Göttlich-Schönen‘ beschrieben, welches in diesem Zusammenhang mit lichtmetaphorischen Motiven charakterisiert wird. Die lichtmetaphorischen Züge der Beschreibung des ‚Göttlich-Schönen‘ weisen eine Analogie zu einem weiteren Detail der platonischen Reinkarnationslehre auf, welches in den wissenschaftlichen Kommentierungen zuweilen eigentümliche Beurteilungen erfährt, nämlich das Motiv eines Lichts, welches als ‚Band des Himmels‘ bezeichnet wird. Dies soll im Folgenden betrachtet werden.
8. „… dem Regenbogen vergleichbar, aber glänzender und reiner …“ (Plato Polit. 615 8 f.): das Licht als Band des Himmels‘ In der für die platonische Seelenwanderungslehre fundamentalen Erzählung von dem vermeintlich verstorbenen und wiederbelebten Soldaten Er (Plato Polit. 614 a–621 b) begegnet ein erzählerisches Detail, welches eine hohe Analogie zu jenen Beschreibungen der himmlischen Sphären aufweist, welche Platon seinen Protagonisten Sokrates in der Palinodie des Dialogs Phaidros ausführen lässt. Die in jenem Zusammenhang komponierte Beschreibung der himmlischen Heimat der unsterblichen Seele weist markante lichtmetaphorische Züge auf (Plato Phaidr. 250 b 6–c 6). Letztere entsprechen einem Motiv, welches Platon in seine Beschreibungen der Seelenwanderungen integriert, welche er den Soldaten Er entfalten lässt (Plato Polit. 616 b 3–c 5). Demnach begegnen die 132 Sachlich entsprechend auch Plato Phaidr. 249 c 3–5: „Und dieses ist Erinnerung von jenem, was einst unsere Seele gesehen, Gott nachwandelnd und das übersehend, was wir jetzt für das wirkliche halten …“ Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 85. 133 Entsprechend konstatiert G. Martin, Ideenlehre, 151 in Bezug auf das Verhältnis der skizzierten Motive zur Seelenwanderungsvorstellung: „Der Götterzug des Phaidros, das Höhlengleichnis der Politeia, der Aufstieg zur Idee des Schönen im Symposion, die Trennung der Seele vom Körper im Phaidon, diese und manch andere Stelle beruhen auf einer fast handgreiflichen Chorismosvorstellung.“
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus
unsterblichen Seelen auf ihrem Weg zu einer neuen Inkarnation einem ‚geraden, säulenförmigen Licht‘, welches eine besondere Qualität haben soll. Platon vergleicht es zwar mit einem Regenbogen, hebt jedoch zugleich hervor, dass dieses Licht ‚glänzender und reiner sei‘ (Plato Polit. 616 b 7 f.: λαμπρότερον δὲ καì καθαρώτερον). Obwohl Platon dieses Licht nur mit wenigen Worten beschreibt, stilisiert er es in diesem Zusammenhang zu einem zentralen Motiv seiner Kosmologie. Dieses Licht sei das ‚Band des Himmels‘ (Plato Polit. 616 c 2–3: εἶναι γὰρ τοῦτο τὸ ϕῶϛ ξύνδεσμον τοῦ οὐρανοῦ), welches den gesamten Kosmos durchdringt und zusammenhält134. Würde man die platonischen Dialoge als eine systematisch-konsistente Gesamtkonzeption missverstehen (zur literarischen Gestaltung der platonischen Dialoge und den damit verbundenen Interpretationsproblemen vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 1), so würde man eine präzisere Ausgestaltung dieses kosmologischen Motivs in jenem Dialog erwarten, welcher dramaturgisch als Fortführung des Dialogos Politeia gestaltet ist135, nämlich im Dialog Timaios, in welchem Platon seine Vorstellung von der Erschaffung des Kosmos entfaltet. Eine explizite Analogie zu jenem den gesamten Kosmos durchdringenden und zusammenhaltenden Licht wird in diesem Zusammenhang nicht formuliert. Die skizzierten Beschreibungen des ‚Göttlich-Schönen‘ und das Motiv des ‚Bandes des Himmels‘ entsprechen jedoch inhaltlich-sachlich dem Schluss-Hymnus des Timaios, in welchem Platon ebenfalls die sichtbare und unsichtbare Welt in Beziehung zueinander setzt. Dabei wird der Kosmos mit einer Kaskade höchstmöglicher Prädikationen zu einer prinzipiell guten Schöpfung stilisiert, deren Terminologie dem überschwänglichen Lobpreis der himmlischen Sphären in der Palinodie des Phaidros und der Beschreibung des ‚Göttlich-Schönen‘ in der Diotima-Rede des Symposion sachlich entspricht: „Denn indem diese unsere Welt sterbliche und unsterbliche Lebewesen erhielt und derart mit ihnen erfüllt ward, ist sie ein sichtbares Lebewesen, das die sichtbaren Lebewesen umgibt, als Abbild des nur denkbaren Lebewesens, ein wahrnehmbarer Gott, der größte und beste, schönste und vollkommenste geworden – dieser unser einziger einzigartiger Himmel (εἰκὼν τοῦ νοητοῦ θεὸϛ αἰσθητόϛ μέγιστοϛ καὶ ἄριστοϛ
134 Platon illustriert dies mit einem aus dem antiken Schiffbau vertrauten Vergleichspunkt, wonach die Teilelemente eines Schiffrumpfs durch ein solches Band zusammengehalten werden. Zu den entsprechenden Hintergründen vgl. W. Biesterfeld, Mythos, 39. 135 Letzteres ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die erzählerische Rahmung des Timaios unmittelbar auf den Dialog Politeia Bezug nimmt und als Fortsetzung des Gesprächs verstanden wird. Zu dieser literarischen Gestaltung vgl. L. Hartmann, Timaios, 13 ff. bzw. 396 f.
Das Licht als ‚Band des Himmels‘
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κάλλιστόϛ τε καὶ τελεώτατοϛ γέγονεν εἷϛ οὐρανὸϛ ὅδε μονογενὴϛ ὤν).“136 (Plato Tim. 92 c 6–12).
Gleichwohl muss konstatiert werden, dass die Prädikation des ‚Lichts als Band des Himmels‘ im Mythos von dem vermeintlich verstorbenen Soldaten Er zu jenen Aspekten der platonischen Kosmologie zu zählen ist, zu dem nur schwer explizite traditionsgeschichtliche Vorentwicklungen benannt werden können137. Es kann jedoch als ein weiteres Beispiel für jene Analogien verstanden werden, welche zwischen dem platonischen Welt- und Menschenbild und jenen Erfahrungen bestehen, welche heute mit dem unpräzisen Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden und in denen eine Lichtvision in vielen Fällen als ein zentrales Element benannt wird. Die skizzierten kosmologischen Dimensionen des Schlussmythos in Platons Dialog Politeia besitzen eine bemerkenswerte Analogie in einem Werk, dessen Autor im weiteren Sinne zur Wirkungsgeschichte des Platonismus gezählt werden kann, nämlich im Somnium Scipionis (der ‚Traum des Scipio‘) von Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.)138. Auch wenn diese Schrift eigentlich als sechstes und letztes Buch von Ciceros staatstheoretischem Hauptwerk De Re Publica konzipiert war, wurde sie bereits in der Antike als eigenständige Schrift überliefert und kommentiert139. Im Kontrast zur Erzählung vom vermeintlich verstorbenen und wiederbelebten Soldaten Er wird dabei ein außergewöhnlicher Traum thematisiert, welchen Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus (185–129 v. Chr.) im Jahr 129 v. Chr. einigen Verwandten und Freunden anvertraut haben soll. Die Bezüge zum 10. Buch der Politeia werden von Cicero selbst hervorgehoben. Demnach sei im Jahr 149 v. Chr. Scipio Africanus 136 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher/F. Müller (K. Widdra), Platon, Bd. 7, 209. 137 Zur entsprechenden Erwägungen vgl. W. Biesterfeld, Mythos, 123 ff. Im Bereich der PlatonForschung wäre es eine lohnende Aufgabe, die skizzierten lichtmetaphorischen Aspekte mit weiteren Zügen platonischer Dialoge in Beziehung zu setzen, insbesondere mit den entsprechenden Facetten des Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnisses, deren Interpretationen bekanntlich „erhebliche Schwierigkeiten (bereiten), die in erster Linie auf deren metaphorische Form zurückzuführen sind“ (so treffend R. Rehn, Höhlengleichnis, 331). 138 Grundlegend hierzu M. von Albrecht, Literatur, 433 f.; K. Büchner, Somnium Scipionis, passim. Auch wenn bereits der Name De Re Rublica deutlich an den Titel Politeia erinnert, besteht zwischen beiden Entwürfen ein grundlegender Unterschied. Während Platon auf theoretischer Ebene einen Entwurf eines Philosophenstaates konstruiert, dessen praktische Umsetzung nie gelungen ist, kann Cicero als aktiver Politiker und Philosoph auf eine lange Geschichte der römischen Republik zurückschauen. 139 Dies gilt v. a. für die entsprechenden Kommentierungen durch den spätantiken Philosophen Macrobius, dessen Textedition für die Rekonstruktion des partiell fragmentarisch überlieferten sechsten Buchs von De Re Publica von hoher Bedeutung ist (vgl. M. Armisen-Marchetti, Macrobe, passim; P. Brugisser, Macrobius, 831–856).
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus
maior seinem Adoptivenkel in jenem Traum erschienen. Er unterrichtet ihn u. a. über die Unsterblichkeit der menschlichen Seele (Cicero, De Re Publica VI 26–29), die Bedeutung eines tugendhaften Lebens (Cicero, De Re Publica VI 13) und die Struktur jenseitiger Welten (Cicero, De Re Publica VI 17–25)140. Die Analogien zur Kosmologie und Anthropologie Platons treten an vielen Aspekten signifikant zutage. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei der Sachverhalt, dass Cicero in diesem Zusammenhang auch astronomische Vorstellungen formuliert, welche die skizzierten Vorgaben Platons fortführen und mit zeitgenössischen Entwicklungen vermitteln. Welche Faszination denselben nicht nur zu ihrer Zeit zu eigen war, dokumentiert eindrücklich das Phänomen, dass sie auch in der weiteren Forschungsgeschichte der Astronomie immer wieder rezipiert und kommentiert wurden141. Philosophieund religionsgeschichtlich betrachtet ist dies eines jener Desiderate, welche im Rahmen der vorliegenden Studie nicht aufgearbeitet werden können, aber als weiterführende Arbeitsfelder beschrieben werden sollen. Auch wenn Cicero nicht von einer Erfahrung in Todesnähe spricht, stehen seine Ausführungen nicht nur deutlich den Vorgaben Platons nahe, sondern auch entsprechenden Erfahrungsmustern der Gegenwart (exemplarisch sei verwiesen auf die Beschreibung der Begegnung zwischen Scipio Africanus minor und seinem verstorbenen Vater Lucius Aemilianus Paullus [Cicero, De Re Publica VI 14], die sich infolge des Traums entwickelnde negative Sicht auf die körperlich verfasste Existenz [Cicero, De Re Publica VI 15 f.] und die ethischen Implikationen für das weitere Leben des Scipio Africanus minor [Cicero, De Re Publica VI 26–29]). Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, inwiefern der Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ sachlich unpräzise bzw. missverständlich ist. Gleichwohl ist es kaum strittig, dass der ‚Traum des Scipio‘ als eine weitere antik-mediterrane Analogie zu diesen Erfahrungsmustern verstanden werden kann142.
140 Zu diesen Analogien vgl. R. Nickel, Einleitung, 42 f. 141 Vgl. u. a. A. Hüttig, Mittelalter, passim; F. Krafft, Astronomen, passim. 142 Vgl. R. Nickel, Einleitung, 42: „Um die Polemik zu vermeiden, die Platon … erfahren musste, ließ Cicero seinen Scipio nicht etwa sterben und anschließend wieder ins Leben zurückkehren, sondern nur träumen und dann einfach aufwachen und erzählen, was er im Traum gesehen hat.“
Plotins Lehre von der ‚Henosis‘ (‚Einswerdung‘) als Analogie
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9. Plotins Lehre von der Henosis‘ ( Einswerdung‘) als Analogie zu Erfahrungen göttlicher Liebe‘ In den bisherigen Erläuterungen der Analogien, die zwischen den platonischen Dialogen und sogenannten Nahtoderfahrungen beobachtet werden können, wurden zuweilen auch einzelne Aspekte der weiteren Entwicklungsgeschichte des antiken Platonismus erwähnt. Diesbezüglich verdienen jedoch die themenspezifisch relevanten Konzeptionen eines Denkers besondere Beachtung, die in einem eigenständigen Arbeitsschritt gewürdigt werden sollen. Die deutlichsten Analogien zu neuzeitlichen Nahtoderfahrungen, die sich in der Geschichte des antiken Platonismus beobachten lassen, begegnen nämlich bei Plotin, dem Stammvater des sogenannten Neuplatonismus. Auch wenn das durch seinen Schüler Porphyrius redigierte und überlieferte Werk Plotins literarisch nicht annähernd jene Faszination aufweist, welche den platonischen Dialogen innewohnt, ist Plotin „neben Platon und Aristoteles der größte, einflußreichste und wirkungsmächtigste Denker der Antike“143. Obwohl zwischen Platon und Plotin sich bereits eine fast sechs Jahrhunderte umfassende Geschichte des Platonismus entwickelt hatte, gilt es sich einen Sachverhalt zu vergegenwärtigen, der für die vorliegende Fragestellung von zentraler Bedeutung ist. Plotin nimmt für sich nicht in Anspruch, eine eigenständige neue philosophische Konzeption zu entwerfen. Er sieht sich vielmehr als einen treuen Interpreten Platons, der dessen eigentliche Lehre präziser zur Geltung bringen möchte144. Wie dieser Selbstanspruch zu bewerten ist, ist in der Plotin-Forschung umstritten145. Unstrittig ist jedoch, dass Plotin diesen Aspekt mehrfach hervorhebt. Analogien zu Nahtoderfahrungen begegnen vor allem im Zusammenhang mit dem von Plotin entfalteten Motiv der sogenannten Henosis, der ‚Einswerdung‘. Plotin zufolge stammen alle Ebenen des Seins aus dem ‚Göttlich-Einen‘, dem ‚Hen‘. Aus dieser göttlichen Einheit gehen die weiteren Ebenen der kosmologischen Ordnung hervor, vor allem die Weltseele, die Einzelseelen und die 143 So treffend J. Halfwassen, Plotin, 9. 144 Dies gilt J. Halfwassen, Plotin, 13 zufolge nicht nur für Plotin, sondern auch für alle weiteren sogenannten Neuplatoniker: „Sie wollten keine Neuerer sein, sondern verstanden sich als getreue Wahrer und Interpreten der Philosophie des ‚göttlichen‘ Platon, die für sie den Gipfel der Weisheit darstellt“. 145 So stellt z. B. H. Zander, Seelenwanderung, 104 die These auf, dass Plotin in Auseinandersetzung mit platonischen Seelenwanderungsvorstellungen und im Kontext seiner Emanationslehre „in etwa das kosmologische Gegenteil von dem (konstruiert), was Platon gelehrt hat.“ Ob Plotin somit die Vorgaben Platons verkennt oder ob eine solche Einschätzung eine Verkennung der Konzepte Plotins ist, ist eine von vielen Fragen, die in einer angemessenen Aufarbeitung der platonischen Seelenwanderungslehre und ihrer Wirkungsgeschichte zu debattieren ist (vgl. die entsprechenden Hinweise in Kapitel 3; Arbeitsschritt 5.1).
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus
Materie. Ein zentrales Motiv der Platon-Deutung Plotins besteht darin, dass alles Seiende aus jener göttlichen Einheit stammt und in diese göttliche Einheit zurückstrebt146. Im Sinne der platonischen Ideenlehre betont Plotin, dass der Kosmos die Dignität und Schönheit der göttlichen Schöpfung erkennen lasse (vgl. Plot., Enn. II 8,8–10)147. Plotin beschreibt in verschiedenen Zusammenhängen, was Menschen widerfährt, wenn ihre unsterblichen Seelen während einer temporären Existenz in einem sterblichen Körper in Ansätzen die Wiedervereinigung mit jener göttlichen Einheit erfahren. Diese Beschreibungen besitzen eine geradezu frappierende Ähnlichkeit zu jenen Erfahrungen, die heute mit dem unpräzisen Begriff Nahtoderfahrungen bezeichnet werden. In den themenspezifisch relevanten Passagen der Werke Plotins tritt noch deutlicher zutage, was bereits in den skizzierten Ausführungen Platons über das Geheimnis erotischer Faszination und die Erfahrung des ‚Göttlich-Schönen‘ indirekt erkennbar war: Es geht um ‚eine Art Liebeserfahrung‘ – oder um es mit der Terminologie der vorliegenden Studie zu sagen: um eine ‚Erfahrung göttlicher Liebe‘. Dies soll im Folgenden exemplarisch an Ausführungen Plotins erläutert werden, mit denen er jene Henosis umschreibt. Ebenso wie für Platon geht auch für Plotin eine unio mystica mit einer modifizierten Relation von Leib und Seele einher: „Immer wieder, wenn ich aus dem Leib aufwache in mich selbst, lasse ich das andere hinter mir und trete ein in mein Selbst, sehe eine wunderbar gewaltige Schönheit und vertraue in solchem Augenblick ganz eigentlich zum höheren Bereich zu gehören, verwirkliche höchstes Leben, bin in eins mit dem Göttlichen und auf seinem Fundament gegründet …“ (Plot. Enn. IV 8,1/1–11)148.
Diese Ausführungen Plotins weisen eine deutliche Nähe zu jenen Beschreibungen des ‚Göttlich-Schönen‘ auf, die Platon seine Protagonisten in Ausführungen über 146 Zur neuplatonischen Interpretation der platonischen Verhältnisbestimmung von Körper, Geist und Seele vgl. W. Deuse, Seelenlehre, 113 f. 147 In diesem Zusammenhang polemisiert Plotin gegen gnostische Autoren, die in Rekurs auf Platon eine prinzipielle Diskreditierung der vorfindlichen Welt propagieren (vgl. u. a. Plotin, Enn. II 8,4–5.10–12; 9,1 f. 6,1 ff.). Weder die platonische Schöpfungsvorstellung noch die Vorstellung von einer Abbildhaftigkeit menschlicher Existenz ziele auf eine prinzipielle Diskreditierung der körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz. Ausführlich hierzu K. Alt, Polemik, 62–66 bzw. C. Tornau, Plotin, 395: „… Plotin (attackiert) die Vielzahl der Hypostasen im gnostischen Pleroma … und die gnostische Kosmologie, nach der die materielle Welt ein Abfallprodukt ist, das von einem durch einen Sündenfall der Seele entstandenen minderwertigen Schöpfer (Demiurgen) hergestellt worden ist und jetzt als Gefängnis der Seele dient … Eine solche dualistische Weltsicht, die zwischen Körper- und Geisteswelt eine Mauer baut, verhindert für Plotin jede Gotteserkenntnis und führt zu einer absurden Selbstüberhebung.“ 148 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. K. Kremer, Enneade IV 8, V 4, VI 6 und V 3, 3.
Plotins Lehre von der ‚Henosis‘ (‚Einswerdung‘) als Analogie
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das Geheimnis erotischer Faszination im Rahmen der Diotima-Rede (Plato Sym. 201 d 1–212 c 3) und der Palinodie (Plato Phaidr. 243 e 10–257 b 8) formulieren lässt. Noch deutlicher als Platon hebt Plotin jedoch hervor, in welchem Maße die Erkenntnis jener Urquelle aller Schönheit für die unsterbliche Seele während einer Inkarnation möglich bzw. unmöglich ist: „Indem man aber berührt, hat man, in dem Augenblick, wo man berührt, überhaupt weder Vermögen noch Muße, irgend etwas auszusagen, sondern man reflektiert erst nachträglich darüber. Man muss aber annehmen, daß man Jenen in dem Augenblick gesehen hat, wo die Seele mit eins von einem Licht erfüllt wird, denn das kommt von Ihm, das ist er selbst (…) So ist denn auch die Seele, wenn sie von Jenem unerleuchtet ist, gottlos, ist sie aber erleuchtet, so hat sie was sie suchte. Und das ist das wahrhafte Endziel für die Seele: Jenes Licht anzurühren und es kraft dieses Lichts zu erschauen.“ (Plot. Enn. V 3,17/17–38*)149
Die Erfahrung jener göttlichen Schönheit wird somit als das Ziel benannt, dem die unsterbliche Seele entgegenstrebt. Dabei gilt es zu beachten, dass Plotin die bereits bei Platon vorliegende Lichtmetaphorik nochmals zuspitzt. Die Ausführungen über das mit dem ‚Göttlich-Schönen‘ identifizierte Licht lässt nicht nur eine Analogie zu den Mysterien-Kulten entlehnten Terminologien der Diotima-Rede und der Palinodie erkennen, sondern auch zu jenem singulären lichtmetaphorischen Motiv, welches Platon in seine Beschreibungen der Seelenwanderungen integriert (Plato Polit. 616 b 3–c 5). Den vermeintlich verstorbenen und wiederbelebten Soldaten Er lässt Platon berichten, dass die unsterblichen Seelen nach dem Verlassen ihres Körpers und vor einer weiteren Inkarnation einem Licht begegnen, welches ‚glänzender und reiner als der Regenbogen‘ ist. Es durchdringt als ‚Band des Himmels‘ den gesamten Kosmos und hält ‚Himmel und Erde zusammen‘ (s. o. Arbeitsschritt 8). Derartige lichtmetaphorische Motive werden in Plotins Beschreibungen der Henosis signifikant entfaltet. Neben den skizzierten lichtmetaphorischen Details entsprechen Plotins Beschreibungen der Henosis auch den platonischen Ausführungen über das Geheimnis erotischer Faszination. Die Analogien zur platonischen Stufenleiter der Liebe bzw. Erotik und zur Beschreibung der himmlischen Heimat der unsterblichen Seele sind kaum zu übersehen: „Wenn man an dem, worauf sich die Sehnsucht richtet, weder Gestalt noch Form zu erfassen vermag, dann ist das das am meisten Ersehnte und Reizvollste, und da ist das Liebesverlangen unermesslich. (…) Gleichwie auch seine Schönheit von anderer 149 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. K. Kremer, Enneade IV 8, V 4, VI 6 und V 3, 127.
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus
Art ist: das Über-Schöne. (…) Es ist das, was das Schöne erzeugt, Ursprung und Ziel des Schönen. (…) Das Eine erzeugt ungeheurere Sehnsucht. (…) Abbild davon sind hier auf Erden Liebende und Geliebte, die die Vereinigung wollen. Dabei wird die Seele nicht mehr gewahr, dass sie im Leibe ist“. (Plot. Enn. VI 7,32/24–35*)150
Ebenso wie Platon bringt auch Plotin zur Geltung, dass die Erkenntnis des ‚Göttlich-Schönen‘ während einer Inkarnation der unsterblichen Seele nur in Ansätzen möglich ist. Sie kann nur erahnt werden durch Abbilder jener Schönheit, welche die Erfahrung erotischer Faszination auslösen. Auch wenn die eschatologische Vollendung menschlicher Existenz im Sinne der neuplatonischen Reformulierung der Vorstellung vom erotischen Aufstieg zum Guten letztlich eine Überwindung der individuellen Merkmale der liebenden Individuen anstrebt, so ist für Plotin unstrittig, dass erotische Faszination nicht als defizitär betrachtet werden muss, sondern dass sie als ein grundlegendes und Erkenntnis ermöglichendes Element menschlicher Existenz verstanden werden kann (vgl. diesbezüglich u. a. das Motiv des der Seele angeborenen Liebesbegehrens [Plot. Enn. VI 9,9,25 ὸ Ἔρωϛ ὁ τῆϛ ψυχῆϛ σύμϕυτοϛ] bzw. der Möglichkeit einer erkenntnisermöglichenden Vermittlung von ῎Ερωϛ und ψυχή [Plot. Enn. III 5,4,22 f.])151. Dabei formuliert Plotin auch eine These, welche für die Diskussionen zu den sogenannten ‚ungeschriebenen Lehren‘ von Relevanz ist (vgl. Kapitel 3; Arbeitsschritt 1.3). Sie entspricht dem Phänomen, dass Platon im Zusammenhang der Diotima-Rede das ‚Göttlich-Schöne‘ vor allem via negationis umschreibt. Gleiches gilt für die sachlich vergleichbare Aussage im Zusammenhang der Palinodie, dass die „überhimmlischen Sphären“ kaum angemessen beschrieben werden können (Plato Phaidr. 247 c 3–5: „Den überhimmlischen Ort aber hat noch nie einer von den Dichtern … besungen, noch wird ihn je einer nach Würden besingen.“152). Derartige Vorbehalte entsprechen der These Plotins in Bezug auf die Unbeschreiblichkeit der Erfahrungen der Henosis:
150 Zu alternativen Übersetzungsvorschlägen vgl. E. Döll, Weisheit, 15 f.; C. Tornau, Plotin, 293 f. 151 Ausführlich hierzu A. Wurm, Amor, 119 ff. Treffend konstatiert C. Tornau, Eros, 205 f. in bezug auf den plotinischen Eros-Begriff: „Als einzige Möglichkeit der Erkenntnis des Guten bleibt … die radikale Innensicht, wenn die Seele den erotischen Aufstieg tatsächlich vollzieht und sich ihr Liebesstreben in der Einswerdung mit dem Guten erfüllt. Ihr angeborener Eros führt die Seele über jede körperliche und geistige Welt hinaus; erst wenn sie ‚nichts von allem‘ geworden ist und den Abgrund der Dualität zwischen sich und dem Geliebten überwunden hat, ist ihr Streben am Ziel und seine Erfüllung eine unmittelbare und unbezweifelbare Gewissheit“; zu entsprechenden Reformulierungen des platonischen Eros-Begriffs bei Proklos vgl. op. cit., 206–229. 152 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. F. D. E. Schleiermacher (D. Kurz), Platon, Bd. 3, 77.
Plotins Lehre von der ‚Henosis‘ (‚Einswerdung‘) als Analogie
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„Die Schwierigkeit entsteht aber hauptsächlich darum, weil man ein Bewußtsein von ihm nicht durch Wissen haben kann, auch nicht durch geistiges Erkennen …, sondern nur durch ein Gegenwärtigsein (παρουσία). … Darum kann es wie (Platon) sagt, nicht ausgesprochen und nicht niedergeschrieben werden.“ (Plot. Enn. VI 9,4)153.
Mit anderen Worten formuliert: Bereits eine erste Ahnung der Einswerdung mit dem göttlichen Urgrund kann mit Worten nicht vermittelt werden. Nur diejenige oder derjenige kann es verstehen, die oder der es selbst erfahren hat. Dieser Aspekt ist eine weitere Analogie zu jenen Thesen, die heute viele Nahtoderfahrene formulieren können: Es handelt sich um unbeschreibliche Erfahrungen, die gleichwohl für die Betroffenen die intensivsten und folgenreichsten Erfahrungen ihres Lebens sind (vgl. Kapitel 1; Arbeitschritt 6).
153 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. C. Tornau, Plotin, 67.
Kapitel 4: N ahtoderfahrungen als Zugänge zum frühen Christentum
Im folgenden vierten Kapitel dieser Studie soll erläutert werden, in welcher Weise Nahtoderfahrungen als Zugänge zum frühen Christentum verstanden werden können. Dabei wird zunächst ein Phänomen im Vordergrund stehen, das bei der Suche nach religionshistorischen Vergleichsgrößen zu Nahtoderfahrungen bereits verschiedentlich benannt wurde, nämlich das sogenannte ‚Damaskuserlebnis‘, also jenes Geschehen, in dessen Folge Paulus von einem Verfolger frühchristlicher Gemeinden zu einem, wenn nicht gar dem wichtigsten Theologen und Missionar des frühen Christentums wurde1. Die bisherigen Diskussionsbeiträge zu diesem Themenfeld berühren jedoch nur die vordergründigen Analogien zwischen den paulinischen Traditionen und Nahtoderfahrungen. Diese begegnen vor allem in den Erzählungen der Apostelgeschichte, denen zufolge die Christusvision des Paulus eine Lichtvision war (vgl. z. B. Act 9,3; 22,6; 26,13). Ebenso wurde bereits verschiedentlich auf die im 1. Timotheusbrief überlieferte Gottesprädikation verwiesen, der zufolge Gott „in einem Licht wohnt, zu dem keiner kommen kann“ (1 Tim 6,13)2. Besonders häufig wurde jedoch die Beschreibung einer ‚außerkörperlichen Erfahrung‘ bzw. einer ‚Himmelsreise‘ thematisiert, die Paulus im Zusammenhang seiner Kontroversen mit Gegnern in den Gemeinden in Korinth erwähnt hat (2 Kor 12,1–5)3. Doch es greift zu kurz, wenn lediglich nach solchen vordergründigen 1 2 3
Zur Skizze historisch-kritischer Diskussionen zu diesem Phänomen vgl. M. Wolter, Paulus, 23–30; B. Kollmann, Heidenmissionar, 80–90; U. Schnelle, Paulus, 77–93; E. Ebel, Leben, 93 f.; J. Becker, Paulus, 60–80 etc. Zu 1 Tim 6,13 vgl. H. Koch, Licht, passim. Zu entsprechenden Beiträgen R. A. Moody, Life, passim; C. Zaleski, Otherworld Journeys, 26 f.; H. Knoblauch, Begegnungen, 42 ff.; E. Alexander, Map, 47; M. N. March, Near-Death Experiences, 190 ff.; J. Nicolay, Nahtoderfahrungen, 14 f.; R. Lachner, Trennung, 107 f.; G. Ewald, Nahtoderfahrungen, passim; S. Högl, Transzendenzerfahrungen, 154–158; H. Koch, Licht, passim. Im Bereich der historisch-kritischen Wissenschaft bzw. biblischen Exegese wurden entsprechende Vorüberlegungen u. a. erwogen von A. F. Segal, Religious Experiences, passim; I. Czachesz, Cognitive Science, 157–166. Als ein Beispiel einer interdisziplinären Studie, die sowohl neurophysiologische, als auch theologische und historisch-kritische Zugangsperspektiven wählt, sei verwiesen auf M. N. March, Near-Death Experiences, passim.
Die Lebenswende des Paulus
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Motiv-Analogien zwischen paulinischen Traditionen und Nahtoderfahrungen gesucht wird. Lichtmetaphorik ist im Kontext antik-mediterraner Gottesprädikationen weit verbreitet4. Auch Himmelsreisen sind ein in vielen Zeugnissen der alttestamentlich-frühjüdischen Literatur begegnender Topos5. Bemerkenswerter sind m. E. hingegen die Folgen, die jene Lebenswende hatte. Der Wandel der Religiosität des Paulus weist starke Analogien zu jenen Transformationen auf, die Menschen durchleben, die für sich in Anspruch nehmen, eine ‚göttliche Liebe‘ erfahren zu haben. Um diesen Sachverhalt angemessen herausarbeiten zu können, sollen im Folgenden die verschiedenen Traditionen zur Lebenswende und zur Himmelsreise des Paulus zunächst als getrennte Größen betrachtet werden (1 bzw. 2). Dabei wird jedoch stets die grundlegende Frage im Blick bleiben, inwiefern es sich hierbei um verschiedene Erfahrungen handelt oder inwieweit sie aufeinander bezogen werden können (zur Frage des Verhältnisses dieser Aspekte vgl. 1.5.5). Daraufhin wird skizziert, welche religionsgeschichtlichen, religionsphänomenologischen und religionspsychologischen Zugangsperspektiven zur Lebenswende des Paulus in vorliegenden Deutungsansätzen herausgearbeitet wurden (3). Vor diesem Hintergrund soll dargelegt werden, inwieweit die Modifikationen der Religiosität des Paulus als Transformationen infolge einer ‚Erfahrung göttlicher Liebe’ gedeutet werden können (4).
1. Die Lebenswende des Paulus Die Analyse der Lebenswende des Paulus gliedert sich in fünf Unterkategorien. Gerade für jene Leserinnen und Leser, die mit Einsichten einer historisch-kritischen Sicht auf die Geschichte des frühen Christentums nicht vertraut sind, soll zunächst skizziert werden, welche grundlegende Bedeutung die paulinische Theologie und das paulinische Missionswerk für die Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums hatten (1.1). Vor diesem Hintergrund kann der eigentümliche Sachverhalt erläutert werden, dass Paulus selbst auf die Ursache dieser Entwicklungen – also auf seine Lebenswende – nur sehr beiläufig und unfreiwillig zu sprechen kommt (1.2). Daraufhin wird erörtert, welche Bedeutung die Apostelgeschichte für das Verständnis der Theologie und Biographie des Paulus haben kann (1.3), um so die lukanischen Aussagen zur Lebenswende des Paulus zur Geltung bringen zu können (1.4). Auf dem Fundament dieser Vorarbeiten wird
4 5
Zur Skizze vgl. E. E. Popkes, Licht, passim; T. Podella, Lichtkleid, passim; H. H. Malmede, Lichtsymbolik, passim. Grundlegend hierzu M. Himmelfarb, Ascent, passim.
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum frühen Christentum
schließlich herausgearbeitet, welche zentralen Fragen eine religionshistorische und theologische Einordnung des ‚Damaskuserlebnisses‘ erschweren (1.5). 1.1 D ie grundlegende Bedeutung der Lebenswende des Paulus für die Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums Die paulinische Theologie bildet ein entscheidendes Fundament für alle bis heute existierenden christlichen Kirchen und Konfessionen6. Sie bildet die erste und ausführlichste Reflexion der christlichen Glaubensüberzeugung, dass sich in den Worten und Taten Jesu die eschatologischen Hoffnungen der jüdischen Bibel erfüllt haben. Für verschiedene christliche und jüdische Theologinnen und Theologen ist Paulus sogar der eigentliche Stifter des Christentums7. Doch nicht nur die paulinische Theologie, sondern auch das paulinische Missionswerk war von zentraler Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums. Paulus entwickelte eine einzigartige Intensität einer systematischen Verbreitung der von ihm propagierten neuen Religiosität. Er war nicht nur selbst in einer analogielosen Weise missionarisch aktiv, sondern er gründete und inspirierte auch theologische Schulen, die sein Werk fortsetzen. Auch die Biographie des Paulus nimmt in der Geschichte des frühen Christentums eine Sonderstellung ein. Über keine andere Person sind derartig viele historische und theologische Informationen überliefert8. Im Leben und Denken des Paulus ringen wie in keiner anderen Gestalt des frühen Christentums das Erbe jüdischer und christlicher Glaubenshoffnungen. Dabei kann Paulus nicht nur als einer der wichtigsten christlichen Theologen des 1. Jahrhunderts verstanden werden, sondern auch als ein prominenter jüdischer Theologe dieser Epoche. Die originalen Paulusbriefe, welche die ältesten vollständig erhaltenen Zeugnisse des frühen Christentums sind, verkörpern zum größten Teil Gelegen6
7
8
Zu grundlegenden Informationen zu Paulus und seinem Werk vgl. die einleitungswissenschaftlichen Beiträge von u. a. F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, passim; O. Wischmeyer (Hg.), Paulus, passim; U. Schnelle, Paulus, passim; M. Wolter, Paulus, passim; J. Becker, Paulus, passim. Es kann gefragt werden, inwieweit ohne die Impulse der paulinischen Theologie das frühe Christentum eine innerjüdische Gruppierung geblieben wäre, vor allem aufgrund der paulinischen Zuordnung judenchristlicher und heidenchristlicher Gemeinschaften und Lebensformen. Rückbesinnungen auf die paulinische Theologie inspirierten in der christlichen Theologiegeschichte verschiedentlich grundlegende Neuaufbrüche: Exemplarisch sei verwiesen auf die entsprechenden Paulus-Interpretationen von Augustinus, Martin Luther, Karl Barth etc. Zur Skizze einer entsprechenden Wirkungsgeschichte vgl. W. Wischmeyer, Rezeption, 358–368. Paulus ist die einzige jüdische Gestalt des ersten Jahrhunderts, von der explizit (und historisch valide) bekannt ist, dass sie sich von einer zunächst radikal widerchristlichen Haltung zu einer radikal prochristlichen Haltung umorientiert hat.
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heitsschreiben, in denen Paulus mit Gemeinden kommuniziert, die er selbst gegründet hat und deren Mitglieder ihm partiell persönlich bekannt sind. Lediglich der Römerbrief nimmt diesbezüglich eine Sonderstellung ein, da Paulus hierbei mit Gemeinden kommuniziert, die er nicht selbst gegründet hat9. Auch wenn bereits sehr früh Paulusbriefe gesammelt und ausgetauscht wurden (vgl. 2 Petr 3,16; Kol 4,16), sind sicherlich nicht alle Paulusbriefe überliefert worden10. Zudem gilt es zu beachten, dass die originalen Paulusbriefe aus einer verhältnismäßig späten Phase der Missionstätigkeit des Paulus stammen. Welche theologischen Ansichten Paulus in früheren Phasen seiner Tätigkeit vertrat bzw. inwieweit sich seine Theologie sukzessive weiterentwickelt hat, kann nicht eindeutig geklärt werden. Doch trotz ihrer überragenden historischen Bedeutung konfrontieren die paulinischen Briefe ihre Leserinnen und Leser mit massiven Herausforderungen. Dies dokumentiert sich einerseits in dem Phänomen, dass die paulinische Theologie immer wieder Gegenstand facettenreicher wissenschaftlicher Kontroversen werden konnte11. Andererseits muss konstatiert werden, dass die paulinischen Briefe sprachlich und inhaltlich-sachlich in weiten Teilen nur schwer zu interpretieren sind und für Leserinnen und Leser ohne entsprechende Vorkenntnisse oftmals eine Überforderung darstellen. Die Komplexität dieser Probleme wird nochmals potenziert, wenn man sich die Heterogenität der weiteren Zeugnisse über das Leben und Denken des Paulus vergegenwärtigt. Neben den originalen Paulusbriefen sind auch die Zeugnisse der Paulusschule, das Paulusbild der Apostelgeschichte, apokryphe Paulus-Zeugnisse und auch antipaulinische Zeugnisse zu berücksichtigen. Letztere
9 Da Paulus die römische Gemeinde besuchen und nach einem kurzen Aufenthalt seine Missionsarbeit bis nach Spanien ausweiten (Röm 15,23 f.) möchte, erläutert er seinen im Zentrum des Imperium Romanum lebenden Adressaten ausführlich seine theologischen Vorstellungen. Aus diesem Grund kann man den Römerbrief nicht nur als einen Gemeindebrief, sondern in gewisser Hinsicht auch als ein theologisches „Testament des Paulus“ verstehen (so grundlegend G. Bornkamm, Testament, 120–139). Entsprechend konstatiert O. Wischmeyer, Römerbrief, 272: „Der Römerbrief ist diejenige Schrift des Paulus (und des Neuen Testaments), die das theologische Denken des Christentums begründet und eröffnet.“ 10 Mindestens zwei Briefe an die Gemeinde in Korinth und ein in Kol 4,16 erwähnter Brief an eine Gemeinde in Laodizäa wurden nicht überliefert. Entsprechend dokumentiert 2 Thess 2,1 f. die Existenz gefälschter Paulusbriefe. Zu diesen epistolographischen Grundinformationen vgl. S. Schreiber, Paulus, 136 ff. 11 U. a. in Bezug auf den paulinischen Umgang mit jüdischen Traditionen, in Bezug auf einzelne Facetten seiner Theologie (z. B. das Motiv der Willensfreiheit), in Bezug auf die religionshistorische Einordnung des Paulus etc. Angesichts der kontroversen Diskussionslage zur Gestalt und Theologie des Paulus ist jede(r) angehende(r) Theologin und Theologe dazu herausgefordert, eigene Einschätzungen zu dieser tragenden Gestalt des frühen Christentums zu finden.
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum frühen Christentum
veranschaulichen, dass das Erbe paulinischen Denkens in sehr unterschiedlicher, zum Teil gegensätzlicher Weise weitergeführt werden konnte. Obwohl Paulus aus heutiger Sicht somit als eine der wichtigsten Gestalten des frühen Christentums verstanden werden kann, war seine Theologie und Person zu seinen Lebenszeiten zutiefst umstritten (vgl. vor allem die judenchristliche Polemik gegen Paulus). Eine zentrale Frage war dabei stets, in welchem Verhältnis die Theologie des Paulus zur Botschaft Jesu stand. Im Gegensatz zu wichtigen frühchristlichen Autoritäten wie Petrus oder Jakobus, dem Bruder Jesu, hatte Paulus keinen historischen Kontakt mit Jesus vor dessen Hinrichtung. Die paulinischen Briefe dokumentieren vielmehr eine Deutung des Lebens und des Todes Jesu, ohne das Leben Jesu selbst zu thematisieren. Angesichts dessen tritt die Bedeutung der sogenannten ‚Damaskuserfahrung‘ zutage. Wenn man Paulus als den Stifter der Form von Christentum versteht, die sich schließlich historisch durchsetzen konnte, so ist die Lebenswende des Paulus ein, wenn nicht gar das zentrale Ereignis in der Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums. 1.2 Die autobiographischen Aussagen zur Lebenswende des Paulus Es ist weithin bekannt, dass Paulus zunächst ein Verfolger jener kleinen, innerjüdischen Erneuerungsbewegungen war, die später mit dem Namen ‚Christen‘ bezeichnet werden sollten (auch wenn die Begriffe ‚Christen‘ bzw. ‚Christentum‘ in diesem Zusammenhang in der Gefahr stehen, anachronistisch missverstanden zu werden, sollen sie der sprachlichen Anschaulichkeit halber verwendet werden)12. Der pharisäisch ausgebildete Schriftgelehrte Paulus ist nicht Christ geworden, weil ihn frühchristliche Interpretationen der jüdischen Bibel überzeugt haben. Die Ursache der Lebenswende des Paulus war eine Erfahrung. Infolge dieser Erfahrung hat er begonnen, seine jüdische Bibel neu zu deuten. Was genau diese Erfahrung war, deutet Paulus selbst nur minimal an. In den autobiographischen Passagen des Galaterbriefs erwähnt er, Gott habe ihm seinen Sohn offenbart (Gal 1,15 f.). Er nimmt für sich in Anspruch, ‚den Herrn gesehen‘ zu haben (1 Kor 9,1). Entsprechend versteht er sich als einen unzeit-
12 Mit M. Wolter, Paulus, 23 kann konstatiert werden, dass „damit selbstverständlich nicht gemeint ist, das Paulus vom Judentum zum Christentum übertrat. Eine solche Beschreibung wäre ganz anachronistisch, denn so etwas wie ein vom Judentum zu unterscheidendes Christentum hat es in paulinischer Zeit noch nicht gegeben.“ Zur Entstehung dieser Bezeichnung, die Act 11,26 zufolge erstmals im syrischen Antiochien verwendet wurde, vgl. R. Pesch, Apostelgeschichte I, 353 f.; A. Weiser, Apostelgeschichte, 278 f.
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gemäßen Zeugen der Auferstehung Jesu (1 Kor 15,8)13. Besondere Beachtung verdient dabei das Phänomen, dass Paulus „an keiner Stelle freiwillig auf das Damaskusgeschehen zu sprechen (kommt), er wird jeweils durch Gegner dazu gezwungen“14. Angesichts dieser nur beiläufigen Erwähnungen gilt es zu fragen, ob es weitere Facetten der paulinischen und deutero-paulinischen Traditionen gibt, die dabei helfen können, jene Lebenswende besser zu verstehen. Eine Sonderstellung nimmt dabei sicherlich jene ‚außerkörperliche Erfahrung‘ bzw. ‚Himmelsreise‘ ein, die Paulus im Kontext seiner in 2 Kor 10–13 thematisierten Kontroversen mit den Gemeinden in Korinth erwähnt (2 Kor 12,1–5). In den einleitenden Worten seiner Ausführungen konstatiert Paulus, dass er nun auf „Visionen und Offenbarungen des Herrn“ zu sprechen kommen möchte (2 Kor 12,1c). Gleichwohl impliziert dieser Text derartig viele religionshistorische und inhaltlich-sachliche Fragen, dass er im Rahmen der vorliegenden Studie in einem eigenständigen Kapitel bearbeitet werden soll (zur Verhältnisbestimmung der Lebenswende und der Himmelsreise des Paulus vgl. 1.5.5). Weitere Passagen, in denen Paulus selbst auf seine Lebenswende zu sprechen kommt, lassen sich in jenen Briefen nicht finden, die gemeinhin als echte Paulusbriefe betrachtet werden. Anders verhält es sich mit dem Werk jenes Autoren, der als erster die Lebenswende und missionarischen Tätigkeiten des Paulus ausführlich erzählerisch in Szene setzt, nämlich mit der Apostelgeschichte, deren Verfasser im Folgenden mit der altkirchlichen Tradition Lukas genannt wird. 1.3 Die Bedeutung der Apostelgeschichte für das Verständnis der Theologie und Biographie des Paulus Ebenso wie in Bezug auf die grundlegende Bedeutung der Theologie und des Missionswerks des Paulus sollen auch in Bezug auf das lukanische Paulusbild zunächst für jene Leserinnen und Leser einige grundsätzliche Vorinformationen vermittelt werden, die für historisch-kritische Exegetinnen und Exegeten einen
13 Die in diesen Zusammenhängen angedeuteten visuellen Aspekte entsprechen dem Sprachgebrauch der Septuaginta in der Beschreibung von Theophanien (Gen 12,7; 17,1; 18,1; Ex 16,10; Lev 9,23; Num 14,19; 1 Kön 3,5 etc.) bzw. Engelbegegnungen (Ex 3,2; Ri 6,12; Tob 12,22). So M. Wolter, Paulus, 26. Entsprechend konstatiert C. Strecker, Theologie, 103 f., dass man dies „mit gutem Recht als Anspielung auf eine Christusvision ekstatischer Natur interpretieren“ darf. Zur Diskussion dieser für das Selbstverständnis des Paulus fundamentalen Aspekte vgl. H. D. Betz, Galater, 129 ff.; J. D. G. Dunn, Galatians, 53; P. Stuhlmacher, Evangelium, 71. 14 So U. Schnelle, Paulus, 83 zum Verhältnis der skizzierten autobiographischen Angaben. Entsprechend spricht B. Kollmann, Heidenmissionar, 82 von einer bemerkenswerten „stenographische(n) Kürze“ der Aussagen über diese doch eigentlich grundlegenden Phänomene.
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Grundwissensbestand verkörpern15. Das lukanische Geschichtswerk ist der mit Abstand größte geschlossene Textkorpus innerhalb des Neuen Testaments. Die Apostelgeschichte ist als die unmittelbare Fortsetzung des Lukasevangeliums das einzige neutestamentliche Zeugnis, welches nachzuerzählen versucht, wie aus der Jesusbewegung das frühe Christentum hervorging, sich sukzessive vom Judentum löste und sich zu einer eigenständigen Religion entwickelte (vgl. den Rekurs von Act 1,1 f. auf Lk 1,1–4)16. Der Verfasser des lukanischen Geschichtswerks, der sich selbst als Angehöriger der dritten Generation des entstehenden Christentums zu erkennen gibt (Lk 1,2 f.)17, verarbeitet zuweilen sehr unterschiedliche Traditionen und verschränkt historisch valide Informationen mit legendarischen Erzählungen und fiktiven Elementen18. Die lukanische Theologie spricht dafür, dass ihr Verfasser ein hellenistisch gebildeter Heidenchrist war, der eine Vermittlung zwischen sogenannten juden- und heidenchristlichen Strömungen zu erreichen versuchte19. Dabei tritt an vielen Facetten seines Werks zutage, dass Lukas zu harmonisierenden Darstellungen von Kontroversen und Spannungen innerhalb der Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums neigt, die historisch betrachtet sicherlich wesentlich kontroverser abgelaufen sind. Eines seiner zentralen Anliegen besteht darin, Paulus als einen der bedeutendsten Missionare und Theologen des frühen Christentums darzustellen, dessen theologisches Erbe es zu bewahren gilt. Aufgrund dieser Fokussierung weist die Apostelgeschichte eine Vielzahl von „historiographischen Leerstellen“20 auf. Letztere sind für die 15 Zu grundlegenden Informationen zum lukanischen Geschichtswerk vgl. U. Schnelle, Einleitung, 309–353 bzw. die Beiträge des entsprechenden Sammelbandes J. Frey/C. Rothschild/J. Schröter (Hg.), Apostelgeschichte, passim. Die folgenden Erläuterungen orientieren sich an meinen Ausführungen in E. E. Popkes, Perspektivenwechsel, passim; Ders., Paulus, passim. 16 Dabei gilt es zu beachten, dass das Lukasevangelium nur angemessen verstanden werden kann, wenn man auch die Apostelgeschichte einbezieht. 17 Zu dieser Angabe passen auch jene textinternen Indizien, die dafür sprechen, dass das lukanische Geschichtswerk nach dem jüdischen Krieg bzw. der Zerstörung des Jerusalemer Tempels verfasst worden ist. Da sich bereits im Johannesevangelium Anspielungen auf das Lukasevangelium beobachten lassen und Lukas Sammlungen von Paulusbriefen noch nicht zu kennen scheint, scheint das lukanische Geschichtswerk vor 90 n. Chr. fertig gestellt worden zu sein. 18 Die historischen Informationen der Apostelgeschichte avancierten zu elementaren Bestandteilen für nahezu alle folgenden Entwürfe christlicher Kirchengeschichtsschreibung. Exemplarisch sei auf die entsprechenden Rezeptionen der Apostelgeschichte durch den Kirchenhistoriker Euseb von Caesarea verwiesen. Ausführlich hierzu A. Müller, Rezeption, 393–416. 19 Auch wenn die Sprache und Stilistik des auctor ad Theophilum deutliche Affinitäten zur Septuaginta aufweist, können auf diese Weise nicht die religionssoziologischen Kontexte präziser bestimmt werden, aus denen heraus das lukanische Geschichtswerk entstanden ist bzw. in die hinein es sprechen möchte. 20 Zu diesem Begriff vgl. E. E. Popkes, Perspektivenwechsel, 117 f.
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Erfassung der lukanischen Aussageintentionen von hoher Relevanz, und zwar im besonderen Maße für das Verständnis des lukanischen Paulusbildes. Historiographisch betrachtet werden von Lukas wesentliche Facetten der Geschichte des frühen Christentums nicht angemessen zur Geltung gebracht. Eindrücklich zeigt sich dies an der Frage, wie der sogenannte ‚Herrenbruder‘ Jakobus zu der Autorität gelangen konnte, die ihm in der Apostelgeschichte zugestanden wird (zur zentralen Bedeutung dieses Phänomens für die vorliegende Fragestellung vgl. Arbeitsschritt 1.5.3). Ebenso konzentriert sich Paulus auf die Ausbreitung des frühen Christentums in bestimmten Regionen und erläutert nur partiell bzw. überhaupt nicht, wie sich die entsprechenden Entwicklungen in Regionen wie Syrien, Ägypten oder in östlichen Gebieten vollzogen haben (vgl. die programmatische Funktion der in Act 1,8 angesprochenen Gebiete21). Auch die fortwährenden Konflikte zwischen einem paulinisch geprägten Heidenchristentum und einem paulus-kritischen Judenchristentum, welche sich auch nach dem sogenannten ‚Apostelkonzil‘ (Act 15*) weiter zugespitzt haben, werden von Lukas nicht angemessen zur Geltung gebracht. Diesbezüglich müssen die Leserinnen und Leser der Apostelgeschichte oft einen „Perspektivenwechsel“22 vornehmen. Lukas scheint bei seinen Leserinnen und Lesern zuweilen ein Wissen um historische Gegebenheiten vorauszusetzen, die er ihnen nicht vermitteln muss (eindrücklich zeigt sich dies an dem offenen Ende der Apostelgeschichte, welches nicht das Lebensende des Paulus thematisiert, obwohl Lukas dessen Märtyrertod verschiedentlich andeutet23). Ein solcher Perspektivenwechsel ist auch für die lukanischen Aussagen zur Lebenswende des Paulus von Relevanz. Eine zentrale Frage für die Rekonstruktion des Lebens des Paulus im Allgemeinen und der Lebenswende des Paulus im Speziellen ist, welchen historiographischen Wert man dem Paulusbild der Apostelgeschichte zugestehen kann. In früheren Phasen einer historisch-kritischen Interpretation der Apostelgeschichte wurde das lukanische Paulusbild oft sehr negativ beurteilt und als theologisch defizitär bezeichnet24. Dies hat sich in der jüngeren Forschung grundlegend geändert, in welcher die entsprechenden Züge des lukanischen Geschichtswerks als Ausdruck gewandelter historischer 21 Zu methodischen und religionshistorischen Problemen einer Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums in anderen Regionen vgl. D.-A. Koch, Geschichte, 193 ff. 22 Ausführlich hierzu E. E. Popkes, Perspektivenwechsel, passim. 23 Trotz der ausführlichen Erzählungen der Apostelgeschichte liegen (mindestens) die letzten zwei Jahre des Lebens des Paulus historisch im Dunkeln (vor allem aufgrund des offenen Endes der Apostelgeschichte). Zu unterschiedlichen Deutungen dieses offenen Endes vgl. R. Kany, Fortsetzung, 327–347. 24 Paradigmatisch hierfür die vielfach rezipierte Einschätzung von P. Vielhauer, Paulinismus, 15, wonach sich im lukanischen Paulusbild „kein einziger spezifisch paulinischer Gedanke“ erkennen lasse.
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Verortungen und theologischer Herausforderungen gedeutet werden25. Dabei möchte Lukas seinen zeitgenössischen Leserinnen und Lesern etwas vermitteln, was aus einer heutigen Perspektive selbstverständlich zu sein scheint, nämlich die theologische Legitimität und die Bedeutung des paulinischen Missionswerks. Aus der Perspektive vieler Zeitgenossen des Paulus und des Lukas war gerade dieser Aspekt zutiefst umstritten. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Informationen zur Eigentümlichkeit des lukanischen Paulusbildes gilt es sich jetzt die lukanischen Aussagen zur paulinischen Lebenswende zu vergegenwärtigen und deren Kontrast zu den autobiographischen Angaben des Paulus herauszuarbeiten. 1.4 Die lukanischen Aussagen zur Lebenswende des Paulus Der Verfasser der Apostelgeschichte überliefert drei Varianten der Lebenswende des Paulus (Act 9,1–9; 22,3–21; 26,2–23). Aufgrund dieser Erzählung wird die Lebenswende des Paulus oft als das ‚Damaskuserlebnis‘ bezeichnet26. Da es sich hierbei um die einzigen Traditionen handelt, die Lukas in drei Varianten überliefert, ist es unstrittig, dass ihm dieselben in besonderem Maße wichtig waren. Dies zeigt sich auch daran, wie kunstvoll diese Traditionen in den erzählerischen Duktus der Apostelgeschichte eingebettet sind. Während die erste Variante als Erzählung aus einer Beobachterposition gestaltet ist, handelt es sich bei der zweiten und dritten Variante um Verteidigungsreden, mit denen der Verfasser der Apostelgeschichte den bereits inhaftierten Paulus sich rechtfertigen lässt27. Zunächst soll Paulus in der Tempelfestungsanlage Antonia mit diesen Worten zu jener aufgebrachten Menschenmenge gesetzestreuer Juden gesprochen haben, die ihn als vermeintlichen Gesetzesbrecher lynchen wollten (vgl. Act 21,27–31; 25 Vgl. u. a. J. Schröter, Kirche, 79: „Die Unterschiede zwischen der Theologie des Paulus in der Apg und in seinen Briefen sind …, wie in neuerer Zeit verschiedentlich herausgestellt wurde, zu Unrecht zu grundlegenden Widersprüchen aufgebaut worden. Sie lassen sich dagegen wesentlich angemessener als Rezeption des Wirkens des Paulus aus veränderter Perspektive verstehen.“ Zur jüngeren Forschungsgeschichte sei ferner verwiesen auf O. Pichler, Paulusrezeption, 31–40 bzw. 358 f.; D. Sänger, Paulus, 269–292; B. Heininger, Rezeption, 309–340, 333 f.; J. C. Lentz, Paul, 171 f.; J. Roloff, Paulus-Darstellung, 255–278; S. E. Porter, Paul, 1–9. 26 Auch in den autobiographischen Angaben des Paulus zu seiner Lebenswende wird indirekt Damaskus als Bezugsort angegeben, insofern die Erwähnung dieser Stadt in Gal 1,17 auf die entsprechenden Angaben in Gal 1,15 zurückbezogen wird. Zu diesem Verhältnis vgl. U. Schnelle, Paulus, 72 f. bzw. 78 f. 27 Zu den Implikationen dieser narrativen Gestaltung vgl. B. Witherington, Socio-Rhetorical Commentary, 666. Strittig ist u. a., inwieweit eine dieser Varianten als eine Leitinstanz einer Interpretation der anderen gewählt werden sollte bzw. inwieweit aus den unterschiedlichen Varianten eine Grundmotivik konstruiert werden kann. So versteht z. B. D. Marguerat, Saul’s conversion, 137 die erste Variante als eine solche Leitinstanz, während die zweite und dritte Variante lediglich als „retrospective readings“ zu verstehen seien.
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Die Lebenswende des Paulus
22,22 f.). Die zweite Verteidigungsrede soll Paulus in Cäsarea Maritima in seinem Prozess vor dem jüdischen ‚König‘28 Agrippa II gehalten haben. Gleichwohl konfrontieren diese Texte ihre Leserinnen und Leser mit einem eigentümlichen Phänomen. Zwischen den drei Varianten lassen sich derartig markante Differenzen beobachten, dass man sich fragen muss, wie ein Autor in ein und demselben Werk solche Widersprüche stehen lassen kann29. Um dies zu erläutern, sollen dieselben im Folgenden synoptisch nebeneinander aufgelistet werden, um sie anschließend zueinander in Beziehung setzen zu können. Die unterschiedlichen Varianten der lukanischen Erzählungen von der Lebenswende des Paulus Act 9,1–19
Act 22,3–21
Act 26,2–23
1 Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn und ging zum Hohenpriester 2 und bat ihn um Briefe nach Damaskus an die Synagogen, damit er Anhänger des neuen Weges, Männer und Frauen, wenn er sie dort fände, gefesselt nach Jerusalem führe. 3 Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; 4 und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? 5 Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst.
3 Ich bin ein jüdischer Mann, geboren in Tarsus in Zilizien, aufgewachsen aber in dieser Stadt und mit aller Sorgfalt unterwiesen im väterlichen Gesetz zu Füßen Gamaliels, und war ein Eiferer für Gott, wie ihr es heute alle seid. 4 Ich habe die neue Lehre verfolgt bis auf den Tod; ich band Männer und Frauen und warf sie ins Gefängnis, 5 wie mir auch der Hohepriester und alle Ältesten bezeugen. Von ihnen empfing ich auch Briefe an die Brüder und reiste nach Damaskus, um auch die, die dort waren, gefesselt nach Jerusalem zu führen, damit sie bestraft würden. 6 Es geschah aber, als ich
2 Es ist mir sehr lieb, König Agrippa, dass ich mich heute vor dir verantworten soll wegen all der Dinge, deren ich von den Juden beschuldigt werde, 3 vor allem weil du alle Ordnungen und Streitfragen der Juden kennst. Darum bitte ich dich, mich geduldig anzuhören. 4 Mein Leben von Jugend auf, wie ich es von Anfang an unter meinem Volk und in Jerusalem zugebracht habe, ist allen Juden bekannt, 5 die mich von früher kennen, wenn sie es bezeugen wollten. Denn nach der allerstrengsten Richtung unsres Glaubens habe ich gelebt als Pharisäer. 6 Und nun stehe ich hier und werde angeklagt wegen
28 Auch wenn der Verfasser des lukanischen Geschichtswerks in diesem Zusammenhang Agrippa II als König bezeichnet, ist diese Angabe historiographisch betrachtet falsch, insofern es seit Herodes dem Großen jüdischen Potentaten nicht mehr gestattet war, den Königstitel zu führen. Die Angabe verwundert umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Gestaltung der Erzählung von einer vermeintlichen Begegnung von Pontius Pilatus, Jesus und Herodes Antipas (Lk 23,6–12) zu erkennen gibt, dass Lukas um dieses Verbot wusste. Zu diesem Phänomen vgl. S. Schreiber, König, 446–450. 29 Zur Skizze historisch-kritischer Forschungen zu den im lukanischen Geschichtswerk verwendeten Traditionen vgl. D. Marguerat, Saul’s conversion, passim; C. Dietzfelbinger, Berufung, passim; J. Schröter, Paulusdarstellungen, 542–551; B. Heininger, Visionär, 329–334 etc.
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Act 9,1–19
Act 22,3–21
Act 26,2–23
6 Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst. 7 Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden. 8 Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; 9 und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht. 10 Es war aber ein Jünger in Damaskus mit Namen Hananias; dem erschien der Herr und sprach: Hananias! Und er sprach: Hier bin ich, Herr. 11 Der Herr sprach zu ihm: Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann mit Namen Saulus von Tarsus. Denn siehe, er betet 12 und hat in einer Erscheinung einen Mann gesehen mit Namen Hananias, der zu ihm hereinkam und die Hand auf ihn legte, damit er wieder sehend werde. 13 Hananias aber antwortete: Herr, ich habe von vielen gehört über diesen Mann, wie viel Böses er deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat; 14 und hier hat er Vollmacht von den Hohenpriestern, alle gefangen zu nehmen, die deinen Namen anrufen. 15 Doch der Herr sprach zu ihm: Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor
dorthin zog und in die Nähe von Damaskus kam, da umleuchtete mich plötzlich um die Mittagszeit ein großes Licht vom Himmel. 7 Und ich fiel zu Boden und hörte eine Stimme, die sprach zu mir: Saul, Saul, was verfolgst du mich? 8 Ich antwortete aber: Herr, wer bist du? Und er sprach zu mir: Ich bin Jesus von Nazareth, den du verfolgst. 9 Die aber mit mir waren, sahen zwar das Licht, aber die Stimme dessen, der mit mir redete, hörten sie nicht. 10 Ich fragte aber: Herr, was soll ich tun? Und der Herr sprach zu mir: Steh auf und geh nach Damaskus. Dort wird man dir alles sagen, was dir zu tun aufgetragen ist. 11 Als ich aber, geblendet von der Klarheit dieses Lichtes, nicht sehen konnte, wurde ich an der Hand geleitet von denen, die bei mir waren, und kam nach Damaskus. 12 Da war aber ein gottesfürchtiger Mann, der sich an das Gesetz hielt, mit Namen Hananias, der einen guten Ruf bei allen Juden hatte, die dort wohnten. 13 Der kam zu mir, trat vor mich hin und sprach zu mir: Saul, lieber Bruder, sei sehend. Und zur selben Stunde konnte ich ihn sehen. 14 Er aber sprach: Der Gott unserer Väter hat dich erwählt, dass du seinen Willen erkennen sollst und den Gerechten sehen und die Stimme aus seinem Munde hören; 15 denn du wirst für ihn vor allen Menschen
der Hoffnung auf die Verheißung, die unsern Vätern von Gott gegeben ist. 7 Auf ihre Erfüllung hoffen die zwölf Stämme unsres Volkes, wenn sie Gott bei Tag und Nacht beharrlich dienen. Wegen dieser Hoffnung werde ich, o König, von den Juden beschuldigt. 8 Warum wird das bei euch für unglaublich gehalten, dass Gott Tote auferweckt? 9 Zwar meinte auch ich selbst, ich müsste viel gegen den Namen Jesu von Nazareth tun. 10 Das habe ich in Jerusalem auch getan; dort brachte ich viele Heilige ins Gefängnis, wozu ich Vollmacht von den Hohenpriestern empfangen hatte. Und wenn sie getötet werden sollten, gab ich meine Stimme dazu. 11 Und in allen Synagogen zwang ich sie oft durch Strafen zur Lästerung und ich wütete maßlos gegen sie, verfolgte sie auch bis in die fremden Städte. 12 Als ich nun nach Damaskus reiste mit Vollmacht und im Auftrag der Hohenpriester, 13 sah ich mitten am Tage, o König, auf dem Weg ein Licht vom Himmel, heller als der Glanz der Sonne, das mich und die mit mir reisten umleuchtete. 14 Als wir aber alle zu Boden stürzten, hörte ich eine Stimme zu mir reden, die sprach auf Hebräisch: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Es wird dir schwer sein, wider den Stachel zu löcken. 15 Ich aber sprach: Herr, wer bist du? Der Herr
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Die Lebenswende des Paulus
Act 9,1–19
Act 22,3–21
Act 26,2–23
Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel. 16 Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen. 17 Und Hananias ging hin und kam in das Haus und legte die Hände auf ihn und sprach: Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir auf dem Wege hierher erschienen ist, dass du wieder sehend und mit dem Heiligen Geist erfüllt werdest. 18 Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen 19 und nahm Speise zu sich und stärkte sich.
Zeuge sein von dem, was du gesehen und gehört hast. 16 Und nun, was zögerst du? Steh auf und rufe seinen Namen an und lass dich taufen und deine Sünden abwaschen. 17 Es geschah aber, als ich wieder nach Jerusalem kam und im Tempel betete, dass ich in Verzückung geriet 18 und ihn sah. Da sprach er zu mir: Eile und mach dich schnell auf aus Jerusalem; denn dein Zeugnis von mir werden sie nicht annehmen. 19 Und ich sprach: Herr, sie wissen doch, dass ich die, die an dich glaubten, gefangen nahm und in den Synagogen geißeln ließ. 20 Und als das Blut des Stephanus, deines Zeugen, vergossen wurde, stand ich auch dabei und hatte Gefallen daran und bewachte denen die Kleider, die ihn töteten. 21 Und er sprach zu mir: Geh hin; denn ich will dich in die Ferne zu den Heiden senden.
sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst; 16 steh nun auf und stell dich auf deine Füße. Denn dazu bin ich dir erschienen, um dich zu erwählen zum Diener und zum Zeugen für das, was du von mir gesehen hast und was ich dir noch zeigen will. 17 Und ich will dich erretten von deinem Volk und von den Heiden, zu denen ich dich sende, 18 um ihnen die Augen aufzutun, dass sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans zu Gott. So werden sie Vergebung der Sünden empfangen und das Erbteil samt denen, die geheiligt sind durch den Glauben an mich. 19 Daher, König Agrippa, war ich der himmlischen Erscheinung nicht ungehorsam, 20 sondern verkündigte zuerst denen in Damaskus und in Jerusalem und im ganzen jüdischen Land und dann auch den Heiden, sie sollten Buße tun und sich zu Gott bekehren und rechtschaffene Werke der Buße tun. 21 Deswegen haben mich die Juden im Tempel ergriffen und versucht, mich zu töten. 22 Aber Gottes Hilfe habe ich erfahren bis zum heutigen Tag und stehe nun hier und bin sein Zeuge bei Groß und Klein und sage nichts, als was die Propheten und Mose vorausgesagt haben: 23 dass Christus müsse leiden und als Erster auferstehen von den Toten und verkündigen das Licht seinem Volk und den Heiden.
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Alle drei Varianten verorten die Lebenswende des Paulus in der Nähe von Damaskus und damit außerhalb von Israel (Act 9,3; 22,6; 26,12)30. Ebenso wird jeweils hervorgehoben, dass Paulus selbst aktiv die Verfolgung von Anhängern des ‚neuen Weges‘ bzw. der ‚neuen Lehre‘ (Act 9,2; 22,4)31 organisierte und hierzu von den religiösen Instanzen Jerusalems autorisiert worden war (Act 9,1 f.; 22,4 f.; 26,10–12). Es entspricht weitestgehend den autobiographischen Angaben des Paulus, dass Lukas seinen Protagonisten als einen gesetzestreuen Phärisäer darstellt, der für sich in Anspruch nimmt, seit seiner Jugend durch einen besonderen religiösen Eifer aufgefallen zu sein (vgl. Act 22,3; 26,4 f. mit Gal 1,14; Phil 3,5 f.; 2 Kor 11,18.21; Röm 11,1)32. Ebenso wird jeweils hervorgehoben, dass Paulus eine Delegation für die Durchführung von Verhaftungen zur Verfügung stand (Act 9,7; 22,9; 26,14). Die Differenzen zwischen diesen Überlieferungen betreffen vor allem die Erzählungen von der Vision und Audition, die Paulus und seinen Begleitern widerfahren sein sollen. Während seine Begleiter Act 9,7b zufolge eine Audition wahrgenommen haben, wird ihnen in Act 22,9 eine Lichtvision zugeordnet. Demgegenüber wird in Act 26,14 lediglich erwähnt, dass sie ebenso wie Paulus aufgrund jenes Geschehens gestürzt sein sollen. Ob ihnen eine Audition oder Vision widerfahren sein soll, wird in diesem Zusammenhang nicht konstatiert. Umso bemerkenswerter ist, dass ein Aspekt in allen Beschreibungen des Damaskuserlebnisses einheitlich zutage tritt und sogar sukzessive verstärkt wird. Dies betrifft die These, dass die Vision des Paulus eine Lichtvision war. Während in Act 9,3b zunächst erwähnt wird, dass Paulus plötzlich von einem ‚Licht vom Himmel umleuchtet‘ wurde (ἐξαίϕνηϛ τε αὐτὸν περιήστραψεν ϕῶϛ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ), wird dieses Geschehen in Act 22,6b chronologisch mit der Mittagszeit verbunden, also mit jener Tageszeit, zu der Sonnenlicht besonders intensiv wirken kann (περὶ μεσημβρίαν ἐξαίϕνηϛ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ περιαστράψαι ϕῶϛ ἱκανὸν περί ἐμέ). In der dritten Variante wird schließlich hervorgehoben, dass jenes ‚Licht vom Himmel‘ nicht mit der Sonne identifiziert werden könne und sogar deutlich heller als dieselbe sei (Act 26,13:
30 Zu religionspsychologischen Deutungen dieses Aspekts vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 4; Arbeitsschritt 3. Dass Paulus speziell in Damaskus Christen verfolgen wollte, ist historisch plausibel, insofern diese syrische Stadt in jener Zeit dem Städtebund der Dekapolis angehörte und somit ein hoher Anteil an jüdischen Bewohnern vermutet werden konnte. Vgl. M. Hengel/A. Schwemer, Paulus, 80–101. 31 Es ist kein Zufall, dass der Verfasser der Apostelgeschichte in diesem Zusammenhang nicht den Begriff ‚Christen‘ verwendet, da er selbst die Tradition überliefert, dass diese Bezeichnung erst außerhalb von Israel in Antiochien gebildet wurde (Act 11,26b). 32 Zu den autobiographischen Aussagen des Paulus über seine religiöse Sozialisation vgl. K.-W. Niebuhr, Israel, passim; J. Frey, Judentum, 6–10.
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ἡμέραϛ μέσηϛ κατὰ τὴν ὁδὸν εἶδον, βασιλεῦ, οὐρανόθεν ὑπὲρ τὴν λαμπρότητα τοῦ ἡλίου περιλάμψαν με ϕῶϛ καὶ τοὺϛ σὺν ἐμοὶ πορευομένουϛ)33. Neben der sukzessiven Akzentuierung jener Lichtvision gilt es sich einen zentralen Aspekt zu vergegenwärtigen, der in allen lukanischen Varianten ebenfalls identisch ist: Der lukanische Paulus erkennt jeweils nicht selbst, was jenes Licht sein soll. Der Verfasser der Apostelgeschichte gestaltet diese Identifikation jeweils als eine Selbstprädikation Jesu (Act 9,5; 22,8; 26,15). Dabei gilt es ein weiteres Detail der Erzählungen zu beachten, dessen Bedeutung für die theologische Aussageintention des lukanischen Geschichtswerks gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dieses Detail erscheint auf den ersten Blick nicht außergewöhnlich zu sein: Lukas gestaltet die Selbstvorstellung Jesu gegenüber Paulus als Worte des Auferstandenen. Die Besonderheit dieses Details tritt zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Lukas nur in diesem Zusammenhang den Auferstandenen selbst sprechen lässt. Mit der Erzählung von der Himmelfahrt Jesu ist die unmittelbare Kommunikation und Konfrontationen zwischen Jesus und seinen Nachfolgern eigentlich abgeschlossen (Act 1,9–11). Mit anderen Worten formuliert: Lukas will hervorheben, dass mit der Berufung und Beauftragung des Paulus der Auferstandene selbst noch einmal in die Geschichte der Entwicklung der von ihm angestoßenen Bewegung eingegriffen hat34. Markanter kann die Bedeutung und Legitimität des Missionswerks des Paulus kaum in Szene gesetzt werden. Die Komplexität und Vielschichtigkeit der drei lukanischen Erzählungen von der Lebenswende des Paulus spiegelt sich auch in den exegetischen Diskussionen wider, in denen nach wie vor um eine angemessene Interpretation dieser Erzählungen intensiv gerungen wird35. So stellt sich z. B. die Frage, ob der Autor der Apostelgeschichte dieselbe frei erfunden oder ob er sie in Rekurs auf religionshistorische Vorgaben kompiliert hat. In Bezug auf die skizzierten Differenzen kann wiederum erwogen werden, ob sie unterschiedliche Varianten eines traditionsgeschichtlichen Grundbestandes dokumentieren. Besonders kontro33 Besondere Beachtung verdient dabei auch die in den beiden ersten Varianten verwendete Metaphorik, dass jenes Licht Paulus umleuchtet haben soll. Diese Wendung kann dahingehend gedeutet werden, dass Lukas seinen Protagonisten nicht nur eine äußerliche Lichtwahrnehmung zuschreibt, sondern dass er ihn von jenem Licht umfangen sein lässt. 34 Treffend formuliert J. Jervell, Apostelgeschichte, 280: „Von den anderen Christophanieberichten unterscheidet sich das Damaskusereignis darin, dass Jesus nicht nur als der Auferstandene auftritt, sondern sich als der Erhöhte im Himmel befindet. Eine solche Christophanie kommt nur hier vor, und Paulus ist in der Kirche der einzige, dem eine solche Offenbarung zuteil wird. … Er hat eine Qualifikation, die kein anderer, auch die Zwölf nicht, besitzt.“ 35 Zur Skizze der themenspezifisch relevanten Diskussionen vgl. F. Mußner, Apostelgeschichte, 54; A. Weiser, Apostelgeschichte, 219; O. Pichler, Paulusrezeption, 31–40; J. C. Lentz, Paul, 171 f.; J. Roloff, Paulus-Darstellung, 255–278; S. E. Porter, Paul, 1–9; B. Heininger, Visionär, 212–234 etc.
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vers ist jedoch die Frage, inwiefern der Verfasser des lukanischen Geschichtswerks entsprechende Motive von jener Person vermittelt bekommen hat, die er in seinem Werk in Szene setzen will, also von Paulus selbst. Letzteres hängt mit der in der historisch-kritischen Exegese sehr gegensätzlich debattierten Frage zusammen, ob Lukas Paulus persönlich kannte bzw. sogar für eine gewisse Zeit ein Reisebegleiter des Paulus war36. Doch auch wenn diese Fragen auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Traditionen kaum angemessen aufgearbeitet werden können, so ist ein Sachverhalt in den exegetischen Diskussionen kaum strittig. Die zentrale Aussageintention des Lukas lässt sich in den weiteren Entfaltungen seiner Erzählungen erkennen, denen zufolge Paulus zu seiner missionarischen Tätigkeit von keinem anderen als von dem auferstandenen Jesus autorisiert wurde. Der lukanischen Erzählung zufolge hat Jesus nicht nur Paulus zu seinem Werk beauftragt, sondern er arrangiert sogar höchstpersönlich, in welcher Weise Paulus zu weiteren Christen Kontakt aufnimmt. In der ersten und zweiten Variante der Erzählungen vom Damaskuserlebnis wird die Gestalt des Hananias zum Offenbarungsmittler stilisiert, der Paulus von seiner Blendung heilt und unterweist (vgl. die in Act 9,10–19 unmittelbar folgende Erzählung und deren Reformulierung in Act 22,12–15). Demgegenüber erfolgt die Berufung des Paulus zum ‚Apostel der Völker‘ in der dritten Variante unmittelbar im Zusammenhang der JesusVision (Act 26,12 b–18)37. Neben den skizzierten Aspekten muss ein weiteres Motiv fokussiert werden, das lediglich in der zweiten Variante begegnet. In Act 22,17–21 wird eine Vision des Paulus im Jerusalemer Tempel erwähnt, die in der These kulminiert, dass Paulus „in die Ferne zu den Heiden“ gesendet werden soll (V 21b). Auch wenn dies in der Konsequenz den beiden anderen Varianten entspricht, so bietet die zweite Variante der Erzählungen vom Damaskuserlebnis eine Vermittlungsmöglichkeit für die bereits beschriebene Problematik einer Verhältnisbestimmung zwischen der Lebenswende des Paulus und jener ‚Himmelsreise‘, die Paulus 2 Kor 12,1–5 zufolge für sich in Anspruch nahm. Bereits vorausgreifend sei hervorgehoben, dass diese zweite Vision von dem Verfasser der Apostelgeschichte als ‚Ekstase‘ bezeichnet wird (vgl. Act 22,17: Ἐγένετο δέ μοι ὑποστρέψαντι εἰϛ Ἰερουσαλὴμ καὶ προσευχομένου μου ἐν τῷ ἱερῷ γενέσθαι με 36 Diesbezüglich sei exemplarisch auf die sogenannten ‚Wir-Passagen‘ der Apostelgeschichte verwiesen, die den Eindruck vermitteln bzw. vermitteln sollen, dass sie auf einen Augenzeugen zurückgehen (Act 16,10–17; 20,5–15; 21,1–18; 27,1–28,16). Zur Diskussion dieser Aspekte vgl. J. Wehnert, Wir-Passagen, passim. 37 Zu dieser dritten Variante urteilt B. Kollmann, Heidenmissionar, 82: „Mit der Interpretation des Damaskuserlebnisses als einer Berufung zur Völkermission steht Apg 26,12–18 … in unmittelbarer Nähe zu den paulinischen Primärzeugnissen.“
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ἐν ἐκστάσει). Dies steht 2 Kor 12,1–5 nahe, insofern Paulus in jenem Zusammenhang von einer ‚außerkörperlichen Erfahrung‘ spricht (ausführlich hierzu s. u. 1.5.5). 1.5 Zentrale Fragen einer Deutung der Lebenswende des Paulus Eine Deutung der Lebenswende des Paulus birgt eine Vielzahl von Fragen, welche seit den Anfängen einer historisch-kritischen Exegese der themenspezifisch relevanten Traditionen in verschiedensten Varianten aufgeworfen und diskutiert wurden38. Im Folgenden sollen vor allem fünf Fragen angesprochen werden, welche für die vorliegende Fragestellung von Relevanz sind. Die erste Frage mag auf den ersten Blick unerheblich wirken – für eine Verhältnisbestimmung der autobiographischen Aussagen des Paulus und den lukanischen Erzählungen von der Damaskuserfahrung ist sie jedoch von hoher Relevanz. Es geht um die Frage, wann Paulus nach seiner Lebenswende Kontakt zu Christen aufnimmt (1.5.1). Die Aufarbeitung dieser Frage führt zu zwei Folgefragen, die wechselseitig aufeinander bezogen sind, nämlich die Fragen, warum sich die paulinische Theologie in zentralen Aspekten von der Theologie anderer Autoritäten des frühen Christentums unterscheidet (1.5.2) und warum die Theologie und der Selbstanspruch des Paulus von anderen Autoritäten des frühen Christentums abgelehnt wird (1.5.3). Letzteres impliziert wiederum die Frage, warum Paulus kaum auf Worte und Taten Jesu rekurriert (1.5.4). Vor diesem Hintergrund soll schließlich diskutiert werden, in welchem Verhältnis die Lebenswende und die ‚Himmelsreise‘ (2 Kor 12,1–5) des Paulus zueinander stehen (1.5.5). 1.5.1 Wann nimmt Paulus Kontakt zu Christen auf?
Die autobiographischen Aussagen des Paulus und die lukanischen Erzählungen stimmen in der These überein, dass der Christenverfolger Paulus sich aufgrund einer Vision bzw. der Damaskuserfahrung christlichen Gemeinden zuwandte und schließlich zu einem der bedeutendsten Theologen und Missionare des frühen Christentums wurde. Die paulinischen und lukanischen Darstellungen geben jedoch unterschiedliche Antworten auf die Frage, wann und in welcher Weise Paulus zu jenen Gruppierungen Kontakt aufnahm, die er zuvor verfolgt hatte. Die lukanischen Erzählungen lassen diesbezüglich etwas erkennen, 38 Im Kontrast zu vielen exegetischen Beiträgen zu diesem Themenfeld wird in der vorliegenden Studie primär der um Neutralität bemühte Begriff ‚Lebenswende des Paulus‘ verwendet, da Begriffe wie ‚Berufung‘, ‚Bekehrung‘, ‚Initiationsprozess‘ jeweils mit eigenständigen Diskursfeldern und religionsgeschichtlichen Implikationen verbunden sind. Vgl. hierzu C. Strecker, Theologie, 83–156; J. Frey, Judentum, 24 ff.; B. Kollmann, Heidenmissionar, 86 f.; M. Wolter, Paulus, 23; P. T. O’Brian, Paul, 361–391.
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was viele Facetten des lukanischen Geschichtswerks dokumentieren, nämlich einen Hang zu einer harmonisierenden Darstellung von Gegebenheiten, die sicherlich wesentlich kontroverser abgelaufen sein müssen39. Die drei lukanischen Varianten bieten in unterschiedlicher Weise literarische Stilisierungen, denen zufolge der auferstandene Jesus höchstpersönlich die Kontaktaufnahme zwischen Paulus und den frühen Christen legitimiert und arrangiert hat. Act 9,10–19; 22,12–15 zufolge soll der in Damaskus lebende Christ Hananias, der weiterhin jüdische Gesetzesobservanz praktizierte, unmittelbar durch den Auferstandenen instruiert worden sein, Paulus aufzusuchen. Er soll Paulus als Zeichen seiner Autorität von seiner temporären Erblindung erlösen und auf seine weiteren Aufgaben vorbereiten. Demgegenüber wurde Paulus Act 26,12b-18 zufolge bereits unmittelbar im Kontext der Christusvision darüber informiert, welche Aufgaben ihm zukünftig obliegen. Die drei lukanischen Erzählungen von jener Lebenswende stimmen somit in der Kernaussage überein, dass Paulus in einem reibungslosen Übergang vom Christenverfolger zu einem in die christliche Bewegung aufgenommenen Novizen wurde. Auf diese Weise würde sich der Wille des auferstandenen Jesus Christus vollziehen. Die skizzierten lukanischen Erzählungen von der Kontaktaufnahme zwischen Paulus und Christen in Damaskus entsprechen jedoch nicht den autobiographischen Angaben, die Paulus selbst diesbezüglich formuliert. Im Rahmen seiner Konflikte mit den Gemeinden in Galatien bietet Paulus die mit Abstand ausführlichsten Ausführungen über sein Leben vor und nach seiner Lebenswende (Gal 1,13–2,21*)40. Paulus selbst hebt hervor, dass er nach jenem Ereignis, das seine Lebenswende einleitete, keinen Kontakt zu anderen Menschen aufnahm, um jene Erfahrung zu reflektieren (vgl. Gal 1,16 b). Stattdessen zog er sich zunächst in die Provinz Arabia in den Machtbereich des Nabatäerkönigs Aretas IV zurück und kehrte schließlich nach Damaskus zurück41. Er verließ somit einerseits sein vertrautes Leben in Israel und seine gesicherte gesellschaftliche Stellung im religiösen Establishment Jerusalems. Andererseits hebt er im Kontrast zur lukanischen Darstellung hervor, dass er keinen Kontakt zu jenen Gruppierungen aufnahm, die er eigentlich in Damaskus verfolgen wollte (Gal 1,16 b–17). Dieser Aspekt ist umso bedeutender, wenn bedacht wird, dass ein Verweis auf eine frühe Kontaktaufnahme mit Christen in Damaskus 39 Diese Einschätzung kann als ein sensus communis historisch-kritischer Diskussionsbeiträge verstanden werden. Vgl. u. a. M. Wolter, Paulus, 23–30; B. Kollmann, Heidenmissionar, 80– 90; U. Schnelle, Paulus, 29 ff.; E. Ebel, Leben, 93 f. u. a. 40 Zur grundlegenden Bedeutung dieser Ausführungen für die Rekonstruktion einer Biographie des Paulus vgl. U. Schnelle, Probleme, 44–48. 41 Zur sozial- und religionsgeschichtlichen Bedeutung des Nabatäerreichs vgl. M. Hengel/A. Schwemer, Paulus, 174 ff.
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für seine apologetischen Intentionen im Rahmen seiner Kommunikation mit den Gemeinden in Galatien hilfreich gewesen wäre. Dass er stattdessen in der Provinz Arabia Kontakt mit christlichen Gemeinschaften gesucht haben soll, erwähnt Paulus ebenfalls nicht. Inwieweit er selbst bereits in dieser frühen Phase nach seiner Lebenswende missionarisch aktiv gewesen sein soll, bleibt reine Spekulation42. Ebenso bleibt unklar, was Paulus dazu veranlasste, aus jener Provinz schließlich wieder nach Damaskus zurückzukehren. Wie lange er im Nabatäerreich bzw. in Damaskus geblieben ist und was er dort konkret tat, erläutert Paulus selber nicht43. Die erste Kontaktaufnahme mit Christen bzw. frühchristlichen Autoritäten, die Paulus selbst explizit erwähnt, erfolgte erst drei Jahre nach seiner Lebenswende. Hierbei handelt es sich um einen fünfzehn Tage währenden Aufenthalt in Jerusalem, bei dem Paulus Petrus kennenlernen wollte (Gal 1,18). Auf welche Weise diese Kontaktaufnahme durch andere Christen vermittelt wurde, wird in den autobiographischen Passagen der paulinischen Briefe nicht dargelegt. Paulus hebt jedoch hervor, dass er in Jerusalem außer Petrus lediglich Jakobus traf, also den Bruder Jesu, welcher als zentrale Autorität der Jerusalemer Gemeinden verstanden werden muss (ausführlich hierzu 1.2.3). Paulus betont somit, dass sich drei Jahre nach dem Damaskuserlebnis jene drei Personen in Jerusalem begegnet sind, welche für die weitere Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums von zentraler Bedeutung waren. Ein derartiges Treffen erwähnt der Verfasser der Apostelgeschichte jedoch nicht explizit. Lukas stilisiert Paulus vielmehr zu einem Missionar des frühen Christentums, der bereits unmittelbar nach seiner Lebenswende in Damaskus aktiv wird und aufgrund seiner erfolgreichen Tätigkeit nun selbst von jüdischen Kontrahenten verfolgt wird (Act 9,20–25). Nach einer erfolgreichen Flucht sei er jedoch nach Jerusalem gekommen, wo er durch eine Vermittlung von Barnabas auch mit ‚den Aposteln‘ in Kontakt getreten sei (Act 9,26–28). Die von Paulus selbst hervorgehobene Übereinkunft mit den zentralen Autoritäten Petrus und Jakobus, dem Bruder Jesu (Gal 1,18 f.), erwähnt Lukas hingegen nicht. Dies verwundert, da ein zentrales Anliegen des Lukas darin besteht, die legitime Fortführung der frühen Jesusbewegung in der paulinischen Theologie und im paulinischen 42 Gegen z. B. M. Hengel/A. Schwemer, Paulus, 208, die diesbezüglich vermeintlich präzise postulieren: „Wir sagten schon, daß der Aufenthalt des Paulus in ‚Arabien‘, d. h. im Nabatäerreich, von längerer Dauer war, und bis zu zwei Jahre umfaßt haben kann. Dabei wird er, wie dann auch später, lediglich in größeren Städten missionarisch gewirkt haben, denn nur dort gab es Synagogen mit einem Kreis von heidnischen Sympathisanten.“ Gleiches gilt für die Frage, ob bzw. wann Paulus in Damaskus getauft wurde. Vgl. diesbezüglich B. Kollmann, Heidenmissionar, 87. 43 Zum Verhältnis der autobiographischen Angaben des Paulus (2 Kor 11,14.32 f.) und den lukanischen Korrespondenzaussagen Act 9,25 vgl. R. Riesner, Frühzeit, 139 ff.; W. Kraus, Heidenmissionar, 92 f.
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Missionswerk darzulegen. Warum das lukanische Geschichtswerk diesbezüglich eine ‚historiographische Leerstelle‘ aufweist, bleibt Gegenstand von Spekulationen44. Letztere ist jedoch umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass sich die paulinische Theologie markant von jenen theologischen Konzeptionen unterscheidet, welche mit den Namen Jakobus und Petrus verbunden werden. Dieser Aspekt soll in den folgenden beiden Arbeitsschritten erläutert werden. 1.5.2 W arum unterscheidet sich die paulinische Theologie signifikant von der Lehre anderer Autoritäten des frühen Christentums?
Wie bereits skizziert wurde, überliefern die paulinischen Briefe keinen systematisch-konsistenten Gesamtentwurf einer Theologie des Paulus. Sie gewähren lediglich Einblicke in Teilaspekte paulinischen Denkens. Es handelt sich bei ihnen größtenteils um Gelegenheitsschriften, in denen Paulus mit Gemeinden kommuniziert, die er selbst gegründet hat und mit denen er sich über Themen wie theologische Fragestellungen, Gemeindeorganisation, ethische Verhaltensweisen, gesellschaftliche Herausforderungen etc. verständigt (zur Sonderstellung des Römerbriefs s. o. 1.1). Entsprechend ist es nur bedingt möglich, aus den überlieferten Briefen des Paulus einen konsistenten Gesamtentwurf herauszuarbeiten. Einerseits lassen sich zwischen einzelnen Briefen zuweilen markante thematische Akzentunterschiede erkennen (z. B. in Bezug auf die Naherwartung einer Wiederkunft Jesu), andererseits lassen sich partiell unterschiedliche Entwicklungsstufen der Theologie des Paulus beobachten (z. B. in Bezug auf die ablehnende Haltung des zeitgenössischen Judentums gegenüber der Botschaft Jesu und des frühen Christentums)45. Trotz dieser Vorbehalte kann festgehalten werden, dass Paulus einige theologische Konzeptionen entwickelt, die innerhalb der Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums so überhaupt erst von ihm propagiert wurden. Dies gilt vor allem für eine Missionierung nicht-jüdischer Menschen und die damit einhergehende Neubewertung der Relevanz einer Observanz jüdischer Kult- und 44 Gerade solche ‚historiographischen Leerstellen‘ können für ein Verständnis der Komposition und Aussageintention des Verfasser des lukanischen Geschichtswerks von hoher Bedeutung sein, da sie zuweilen zu erkennen geben, welches Vorwissen derselbe bei seinen Leserinnen und Lesern voraussetzt und welche Informationen demgegenüber für ihn im Vordergrund stehen. Exemplarisch hierfür ist die Gestalt des Jakobus, des Bruders Jesu, der für die Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums eigentlich eine extrem hohe Bedeutung hatte und der von Lukas nur in drei Zusammenhängen erwähnt wird. Vgl. hierzu E. E. Popkes, Perspektivenwechsel, 174–197 bzw. die entsprechende Erläuterungen in Kapitel 4; Arbeitsschritt 1.2.3. 45 Zur prinzipiellen Frage von Entwicklungen im paulinischen Denken vgl. die konträren Einschätzungen von U. Schnelle, Paulus, 11 ff.; M. Wolter, Paulus, passim; M. Hengel/A. Schwemer, Paulus, 27–30.
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Speisegesetzgebungen. Paulus zufolge sind jene Menschen, die vor ihrer Hinwendung zum Christentum nicht jüdisch sozialisiert wurden, nicht dazu verpflichtet, das jüdische Gesetz zu befolgen. Paradigmatisch erläutert Paulus diese Ansicht im Rahmen seiner Kommunikation mit den Gemeinden in Korinth, indem er hervorhebt, dass die einzelnen Mitglieder jenen sozialen, religiösen und ethnischen Gruppierungen verbunden bleiben sollen, in denen sie sich dem Christentum zugewendet haben (vgl. 1 Kor 7,17–24; vor allem V 18). Vor dem Hintergrund einer solchen Einschätzung ist die Entstehung unterschiedlicher Ausrichtungen innerhalb des frühen Christentums nachvollziehbar, die in einer historisch-kritischen Beschreibungssprache mit den Begriffen ‚Judenchristentum‘ und ‚Heidenchristentum‘ bezeichnet werden46. Ein zentrales Problem einer Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums besteht in der Frage, inwiefern diese Differenzierung auf Paulus zurückgeht bzw. inwieweit sie bereits in vorpaulinischen Traditionen – geschweige denn in der Botschaft Jesu selbst – vorgezeichnet ist. Auch wenn diese Frage kaum angemessen beantwortet werden kann, ist unstrittig, dass eine Unterscheidung zwischen sogenannten judenchristlichen und heidenchristlichen Gemeinschaften und einer entsprechenden Ausrichtung der Missionsarbeit erst seit Paulus bzw. im Zuge der Auseinandersetzung mit der paulinischen Theologie programmatisch propagiert und praktiziert wurde. Inwiefern dies bereits vor Paulus der Fall war, kann auf der Grundlage der überlieferten Schriften nicht rekonstruiert werden. Es lässt sich aber beobachten, dass Paulus genau für die Unterscheidung von anderen Autoritäten des frühen Christentums kritisiert wurde. 1.5.3 W arum wird die Theologie und der Selbstanspruch des Paulus von zentralen Autoritäten des frühen Christentums abgelehnt?
Für heutige Leser der paulinischen Schriften wirkt es selbstverständlich, dass Paulus einer, wenn nicht gar der entscheidende(n) Theologe(n) und Missionar des frühen Christentums war. Dies war zu Lebzeiten des Paulus jedoch alles andere als selbstverständlich. Bereits innerhalb der paulinischen Briefe wird indirekt erkennbar, wie stark die Theologie und die Person des Paulus umstritten waren, und zwar vor allem bei anderen christlichen Theologen. Eindrücklich dokumentieren dies die apologetischen Züge des Galaterbriefs und des zweiten Briefs an die Gemeinde(n) in Korinth. Der Galaterbrief lässt erkennen, dass die
46 Die Verwendung des Begriffs ‚Judenchristentum‘ orientiert sich im Folgenden an dem Definitionsvorschlag von J. Carleton Paget, Definition, 49 Anm. 119: „A Jewish Christian is a Jewish believer in Jesus who maintains a Jewish lifestyle.“ Zur Begriffsgeschichte H. Lemke, Judenchristentum, passim.
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von Paulus in galatischen Gebieten47 gegründeten Gemeinden von Missionaren aufgesucht wurden, welche forderten, dass auch sogenannte heidenchristliche Gruppierungen jüdische Kult- und Speisegesetzgebungen praktizieren müssten (vgl. u. a. Gal 1,6–8; 5,7 f.). Um welche Missionare es sich hierbei konkret handelte, wird von Paulus nicht explizit benannt. Er verweist jedoch auf einen vergleichbaren Konflikt, der ausgelöst wurde durch eine Delegation des Jakobus, also des Bruders Jesu. Gal 2,11ff zufolge kam eine Delegation des Jakobus nach Antiochien, während Paulus und Petrus dort gemeinsam missionarisch aktiv waren48. Infolgedessen habe Petrus aufgehört, an Gemeinschaftsmählern mit nicht-jüdischen Mitmenschen teilzunehmen. Aus der Sicht des Paulus handelte es sich hierbei um einen Rückfall in eine Observanz jüdischer Kult- und Speisegesetzgebungen, die mit seiner Deutung des Evangeliums nicht zu vereinen sei. Wie auch immer diese Geschehnisse historisch einzuordnen sind49, so dokumentieren sie eindrücklich einen Sachverhalt, der im Kontext der neutestamentlichen Schriften lediglich in Ansätzen erkennbar ist, nämlich die Autorität des Bruders Jesu, der als eine bzw. die zentrale Autorität im frühen Christentum angesehen werden kann. Selbst Petrus, welcher schließlich zum Fundament der entstehenden Kirche stilisiert wurde (vgl. das ‚Felsenwort‘ Mt 16,17–19)50, lässt sich Gal 2,1 ff. zufolge von der Autorität des Jakobus beeinflussen. Dass Jesus neben verschiedenen Geschwistern auch einen Bruder namens Jakobus hatte, wird bereits in den synoptischen Evangelien konstatiert (vgl. Mk 6,3 par.). Dabei wird jedoch hervorgehoben, dass die Brüder Jesu nicht zu den Nachfolgern Jesu gehörten (Mk 3,31–35 par.)51. Stattdessen wird in der sin47 Grundlegend zur Frage einer präziseren geographischen Verortung dieser Gemeinden zuletzt F. John, Lebenswelten, 133–160; D.-A. Koch, Geschichte, 573 f. 48 Bemerkenswerterweise wird dieser Aspekt in der lukanischen Erzählung relativiert, insofern die in Act 15,1 erwähnte Gruppierung nicht mit Jakobus in Verbindung gebracht wird. Zum Verhältnis von Gal 2,11 ff. und Act 15,1 ff. vgl. E. E. Popkes, Anmerkungen, 53–64, J. Ådna, James, 125 ff. 49 Zum Verhältnis von Gal 2* und Act 15* vgl. H. Zeigan, Aposteltreffen, 17 ff. 50 Zu den im hohen Maße komplexen Diskussionen zur Entstehung und religionsgeschichtlichen Verortung von Mt 16,17–19 vgl. u. a. M. Hengel, Petrus, 1 ff.; U. Luz, Matthäus II, 450–483; W. D. Davies/D. C. Allison, Matthew II, 602–652. 51 Dieses Detail kann auch nicht auf eine etwaige spätere Änderung an der markinischen Vorgabe des Lukas zurückgeführt werden, da in Mt 13,55 ebenso wie in Mk 6,3 Jakobus als einer von vier Brüdern Jesu namentlich identifiziert wird. Vgl. diesbezüglich W. Pratscher, Jakobus, 13–28. Nur Lukas identifiziert keinen der Brüder Jesu namentlich. In diesem Detail entspricht Lukas der johanneischen Erwähnung der Brüder Jesu (vgl. Joh 7,3–5). Allerdings wird im dritten Evangelium ein Jakobus an einer Stelle erwähnt, wo er in den weiteren Evangelien nicht begegnet, nämlich in der lukanischen Erzählung von der Auferstehung Jesu. Doch auch wenn betont wird, dass eine der Zeuginnen der Osterereignisse eine ‚Maria des Jakobus‘ war (Lk 24,10), wird nicht explizit gesagt, ob es sich um den Bruder Jesu handelt. Zu dieser Spezifität der lukanischen Auferstehungserzählungen vgl. F. Bovon, Lukas IV, 528 f.
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gulären Tradition Mk 3,20 f. sogar die theologisch anstößige These überliefert, dass Jesus von seiner Familie für verrückt gehalten wurde52. Warum Jakobus dennoch jene zentrale Autorität in der Jesusbewegung bzw. im frühen Christentums erlangen konnte, wird weder in den neutestamentlichen Evangelien, noch in anderen Schriften des neutestamentlichen Kanons erläutert53. Gleichwohl wird Jakobus überall dort, wo er in neutestamentlichen Zeugnissen erwähnt wird, eine hohe Autorität zugestanden. Bereits Paulus selbst erwähnt in seiner Korrespondenz mit den Gemeinden in Galatien Jakobus und bezeichnet denselben als ‚Bruder des Herrn‘, der zur Gruppe der Apostel gezählt wird (Gal 1,19). Obwohl er im Geiste eines tempelmetaphorisch geprägten Bildes als eine der ‚Säulen‘ der Gemeinde bezeichnet wird (Gal 2,9), wird seine Position und Funktion nicht genauer spezifiziert. Ebenso erwähnt Paulus Jakobus als einen von vielen Zeugen nachösterlicher Erscheinungen des Auferstandenen (1 Kor 15,7a). Ob Jakobus zu diesem Zeitpunkt bereits ein Sympathisant seines Bruders war oder es erst durch dieses Ereignis wurde, wird nicht erläutert54. Wie sehr eine Kenntnis von der besonderen Stellung des Jakobus im Kontext neutestamentlicher Zeugnisse oft schlicht vorausgesetzt wird, dokumentiert auch der Jakobusbrief, der in einem religionssoziologischen Milieu entstanden sein muss, in welchem „der Herrenbruder Jakobus als Autorität der Jerusalemer Urgemeinde anerkannt und wertgeschätzt wurde.“55 Ebenso begründet der Judasbrief seine Legitimität durch einen Rekurs auf den Bruder Jesu, insofern der Verfasser als Bruder des Jakobus und damit indirekt als Bruder Jesu bezeichnet wird (vgl. Jud 1a: Ἰούδαϛ Ἰησοῦ Χριστοῦ δοῦλοϛ, ἀδελϕὸϛ δὲ Ἰακώβου …)56. Warum der Bruder Jesu eine solche prominente Stellung im frühen Christentum erlangen konnte, kann somit nicht auf der Grundlage neutestamentlicher Zeugnisse angemessen verstanden werden, sondern nur unter Einbeziehung
52 Zur Bedeutung dieser Tradition im Kontext des Jesus-Bildes des Markusevangeliums und zur traditionsgeschichtlichen Modifikation vgl. T. Reiprich, Mariageheimnis, 38–56. 53 M. Hengel, Jakobus, 549 f. zufolge veranschaulicht dieses Phänomen signifikant „die ‚Verdrängung‘ des Schicksals des Judenchristentums in der frühen Kirche“. Dies lässt sich auch statistisch demonstrieren, da in den Schriften des neutestamentlichen Kanons Jakobus nur 11 Mal erwähnt wird und somit neben Autoritäten wie Petrus (190 Erwähnungen) und Paulus (173 Erwähnungen) in gewisser Weise ‚verschwindet‘. 54 Zur Interpretation des in 1 Kor 15,7 erwähnten Phänomens vgl. W. Pratscher, Jakobus, 32 ff. 55 So M. Konradt, Jakobusbrief, 52. 56 Grundlegend hierzu zuletzt J. Frey, Brief, 48 f. Dabei gilt es zu beachten, dass der Judasbrief als eines der jüngsten kanonischen Zeugnisse auch in einem verhältnismäßig fortgeschrittenen Stadium der frühchristlichen Theologiegeschichte noch immer mit einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit auf diese Autorität verweisen kann und dass somit sein Verfasser indirekt auch für sich selbst in Anspruch nimmt, ein „leiblicher Bruder Jesu“ zu sein (op. cit., 49).
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außerkanonischer Jakobus-Traditionen57. Auch wenn bei diesen Traditionen oft noch schwieriger differenziert werden kann, inwieweit sie historische Gegebenheiten widerspiegeln bzw. in welcher Weise sie legendarisch-prosopographische Stilisierungen verkörpern, so stimmen sie in einer Grundbotschaft überein. Demnach geht die Autorität des Jakobus auf niemand anderes als auf seinen Bruder Jesus zurück. Eindrücklich zeigt sich dies bei Eusebius von Caesarea (ca. 260/64–339/340 n. Chr.), der als Verfasser eines der ersten großen Entwürfe einer Geschichte des Christentums als „Vater der Kirchengeschichte“58 bezeichnet werden kann. Auch für Euseb war Jakobus der Bischof der Jerusalemer Gemeinde, der hierzu von seinem Bruder Jesus ernannt wurde. Dass dies in irgendeiner Weise strittig gewesen sein soll, wird von Euseb nicht erwähnt (Euseb, Historia Ecclesiastica, 2,1,1–5)59. Diese Einschätzung steht einer durch das Thomasevangelium tradierten Überlieferung nahe, der zufolge alle Nachfolger Jesu sich Jakobus unterordnen sollen (EvThom 12)60. Da das Thomasevangelium jedoch keine Mk 1,16–20; 3,13–19 par. entsprechende Erzählung von einer Berufung der Jünger, eines Zwölfer-Kreises geschweige denn von den Namen der Jünger überliefert, wird bei den Leser(inne)n bzw. Hörer(inne)n dieses Werkes offensichtlich eine Kenntnis um die hierarchischen Gegebenheiten nach Jesu Tod vorausgesetzt. Angesichts dessen kann EvThom 12 nur als eine Rückprojektion nachösterlicher Entwicklungen in die Tätigkeit Jesu hinein verstanden werden, in welcher die besondere Stellung des Bruders Jesu nun durch ein nachträglich stilisiertes Jesus-Wort legitimiert werden sollte. Des Weiteren überliefern EvThom 12 und Euseb, Historia Ecclesiastica, 2,1,1–5 jeweils den Ehrentitel ‚der Gerechte‘, der Jakobus zugesprochen wurde. Im Kontrast zu den kirchenhistorischen Ausführungen von Euseb hebt EvThom 12,2 f. zudem in Gestalt
57 Bei aller Komplexität und partiellen Diversität außerkanonischer Jakobus-Traditionen kann mit E. K. Broadhead, Jewish Ways, 87 festgehalten werden: “While legendary developments and contradictory images are evident, this literary tradition certainly reflects a historical core concerning James: he was the brother of Jesus, the leader of the Jerusalem church, a martyr at the hands of Ananias.” 58 So F. Winkelmann, Euseb, 9. 59 Zu Fragen der Quellen des Jakobusbildes Eusebs vgl. J. Ulrich, Euseb, 138 f. 60 Dabei gilt es freilich zu beachten, dass EvThom 12 eine zuweilen geradezu ahistorisch wirkende Eigentümlichkeit des Thomasevangeliums zutage treten lässt. Diesem Logion zufolge wollen die Jünger von Jesus erfahren, wer nach dessen Weggang ihr Leiter sein soll. Diese Anfrage, die keine Analogie in der synoptischen Evangelientraditionen besitzt, setzt somit eine Kenntnis um den Tod Jesu voraus, dem im Thomasevangelium ansonsten kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ausführlich hierzu E. E. Popkes, Umdeutung, passim.
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eines vermeintlichen Jesus-Logions hervor, dass Jakobus derjenige Mensch sei, um ‚dessen willen Himmel und Erde erschaffen wurden‘61. Eine vergleichbare Hochschätzung des Jakobus dokumentiert auch das nur fragmentarisch überlieferte Hebräerevangelium, welchem ebenso wie weiteren judenchristlichen Evangelien im frühen Christentum eine hohe theologische Autorität zugeschrieben wurde (EvHebr fr. 6)62. Ebenso wie in EvThom 12 wird auch im sechsten Fragment des Hebräerevangeliums die Ehrenbezeichnung ‚Jakobus, der Gerechte‘ angeführt63. Im Kontrast zu den neutestamentlichen Evangelien hebt das Hebräerevangelium jedoch hervor, dass Jakobus bereits zu Lebzeiten Jesu ein Sympathisant seines Bruders gewesen sein soll. EvHebr fr. 6 zufolge soll er bei dem letzten Mahl, welches Jesus mit seinen Nachfolgern unmittelbar vor seiner Verhaftung einnahm, zugegen gewesen sein64. Jakobus wird zu einem Vorbild einer Glaubensgewissheit stilisiert. Er soll sich im Zuge der Verhaftung bzw. des Prozesses und der Passion Jesu dazu verpflichtet haben, keine Nahrung mehr zu sich zu nehmen, bevor sein Bruder nicht gemäß seiner Verheißung von den Toten auferstanden sei. Während andere Jünger Jesu geflohen sind bzw. ihre Beziehung zu Jesus verleugnet haben (Mk 14,50.66– 72 parr.), wird Jakobus zu einem Auferstehungszeugen stilisiert, der von der Wahrheit der Botschaft seines Bruders derartig überzeugt war, dass er sogar sein eigenes Leben dafür verbürgen konnte. Erst als ihm sein Bruder als Auferstandener begegnet sei und mit ihm eine (eucharistisch anmutende) Mahlzeit einnehmen wollte (vgl. die an die Einsetzungsworte erinnernde Formulierung tulit panem et benedixit et fregit et dedit Iacobo …), ist er bereit, wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Euseb, Historia Ecclesiastica, 2,1,1–5, EvThom 12 und EvHebr fr. 6 stimmen jedoch nicht nur darin überein, dass sie Jakobus als eine Gestalt darstellen, die bereits sehr früh eine Autorität im frühen Christentum verkörperte. Sie doku61 Treffend formuliert M. Hengel, Jakobus, 557 f.: „Der Satz, daß um des Jakobus willen ‚Himmel und Erde geworden sind‘, unterstreicht seine Autorität als paradigmatischer, einzigartiger sạddîq. Man wird hier an zahlreiche rabbinische Traditionen erinnert: Daß ein wahrer vollkommener Gerechter die ganze Welt aufwiege, ja wichtiger sei als die ganze Welt, daß die Macht der Gerechten der Gottes nahe komme, daß die ganze Schöpfung dem sạddîq zu Dienste stehe.“ 62 Zur Rekonstruktion und Zählung vgl. D. Lührmann, Fragmente, 53. Zur Bedeutung und Autorität judenchristlicher Evangelien im frühen Christentum urteilt A. F. J. Klijn, Jewish-Christian Gospel Tradition, 26: „We note that in some early period knowledge of these Gospels was obviously so widespread in some regions that it was impossible for non-Jewish-Christian writers to ignore their existence. This was the situation in Egypt and is reflected in the works of Clement, Origen and even Didymus the Blind. However, Jewish-Christian Gospel tradition gradually fell into oblivion in this region.“ 63 Zum Verhältnis dieser Traditionen vgl. E. K. Broadhead, Jewish Ways, 264 f. 64 Zur Bedeutung dieser narrativen Stilisierung vgl. E. E. Popkes, Jakobusbild, 661–673.
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mentieren ebenso, dass seine Autorität lange Zeit bestanden hat. Dies tritt zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, dass z. B. das Thomasevangelium in seiner vorliegenden Form nicht als ein judenchristliches Evangelium verstanden werden kann, insofern es bereits eine deutliche Ablehnung markanter Merkmale jüdischer Religiosität erkennen lässt (vgl. EvThom 6,1; 14; 27, 53; 89; 104,1)65. Wenn dennoch ein Logion wie EvThom 12 überliefert wird, kann dies nur als Ausdruck der bleibenden Autorität eines Rekurses auf Jakobus verstanden werden. Gleiches gilt für das sechste Fragment, welches durch Hieronymus im Kontext einer Abhandlung über wichtige Persönlichkeiten des frühen Christentums überliefert wurde (Hier, vir. ill II). Hieronymus konstatiert, dass dieser Text ursprünglich in hebräischer Sprache vorlag und erst von ihm selbst ins Griechische bzw. Lateinische übersetzt worden sei66. Dies würde dafür sprechen, dass jene Aussage über Jakobus ein hohes Alter gehabt haben muss. Doch auch wenn man diese These von Hieronymus für nicht vertrauenswürdig halten sollte, so lassen seine Ausführungen erkennen, dass Jakobus noch immer als eine hohe Autorität betrachtet wurde. Angesichts dieser überragenden Bedeutung und Autorität, die Jakobus in den skizzierten außerkanonischen Traditionen zugestanden wird, tritt die Besonderheit der lukanischen Aussagen über Jakobus, Petrus und Paulus umso deutlicher zutage – und dies ist für die Interpretation der lukanischen Erzählungen von dem Damaskuserlebnis von zentraler Relevanz67: Gerade die Verhältnisbestimmung zwischen Petrus, Jakobus und Paulus ist für die theologische Aussageintention des Verfassers der Apostelgeschichte von grundlegender Bedeutung. Es soll dargelegt werden, in welcher Weise das paulinische Missionswerk als eine angemessene Fortführung der christlichen Botschaft verstanden werden kann, die bereits zuvor vor allem von Petrus und Jakobus verantwortet wurde. Genau dies kann jedoch vor dem Hintergrund der skizzierten antipaulinischen Traditionen nur als ein Versuch einer Harmonisierung gedeutet werden, welche den historischen Entwicklungen kaum gerecht wird. Um diesen Sachverhalt angemessen erläutern zu können, gilt es sich folgende Aspekte zu vergegenwärtigen: In den Anfängen der lukanischen Erzählungen 65 Vgl. E. E. Popkes, Menschenbild, 55 ff. Anders hingegen u. a. H. Koester, Introduction, 157; R. Nordsieck, Thomas-Evangelium, 70 f. 66 Zur Eigentümlichkeit und Beurteilung dieser Angaben vgl. H.-J. Klauck, Evangelien, 55 f. 67 Dem programmatisch formulierten Leitsatz Act 1,8 entsprechend konzentriert sich Lukas zunächst auf die Anfänge des Christentums in Jerusalem bzw. seine Ausbreitung in judäischen und samaritanischen Gebieten, um daraufhin vor allem die paulinischen Missionsreisen zu fokussieren. Den Anfängen christlicher Gemeinschaftsbildungen in Ägypten, in weiten Teilen Syriens oder in noch weiter östlich gelegenen Gebieten etc. widmet sich der auctor ad Theophilum hingegen nicht. Zu den methodischen Problemen einer Rekonstruktion der Anfänge des Christentums außerhalb von Palästina vgl. zuletzt D.-A. Koch, Geschichte, 193 ff.
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vom gemeinschaftlichen Leben und Wirken der Nachfolger Jesu in Jerusalem wird der Bruder Jesu zunächst mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen wird Petrus als tragende Gestalt dargestellt (vgl. u. a. Act 2,14–36; 3,1–26; 4,8–12 etc.). Dies ändert sich erst mit der Erzählung von der Inhaftierung und Befreiung des Petrus (Act 12,3–17), an deren Ende lediglich beiläufig erwähnt wird, dass Petrus Jerusalem verlässt und dass Jakobus über diese Entwicklungen informiert werden soll (Act 12,17a). Auch wenn Petrus noch einmal in prominenter Funktion in der lukanischen Erzählung vom sogenannten Apostelkonzil in Erscheinung tritt (Act 15,7–11), wird sein Wirken und Schicksal außerhalb von Jerusalem nicht weiter thematisiert68. Demgegenüber wird Jakobus bei jeder weiteren Erwähnung als die zentrale Autorität der Jerusalemer Gemeinde dargestellt. Er ist vor allem die tragende Figur in der lukanischen Erzählung von dem sogenannten Apostelkonzil, auf dem die Frage geklärt werden sollte, in welcher Weise nicht-jüdisch sozialisierte Christen jüdische Kult- und Speisegesetzgebung zu praktizieren haben (Act 15*). Gleiches gilt für die lukanischen Erzählungen von der letzten Reise des Paulus nach Jerusalem, denen zufolge Paulus einen Bericht vor den versammelten Jerusalemer Autoritäten gegeben haben soll, wie er sich auf seinen Missionsreisen gegenüber nicht-jüdischen Mitmenschen verhalten hat (Act 21,19). Auch in diesem Zusammenhang wird Jakobus wiederum eine zentrale Autorität zugestanden, ohne dass die Ursachen bzw. Hintergründe derselben eigens erläutert werden69. Daraufhin wird Paulus mit dem Vorwurf konfrontiert, dass er auch unter christusgläubigen Juden die Aufhebung des jüdischen Gesetzes propagiert hätte (Act 21,21). Um etwaige Kontroversen zu vermeiden, soll Paulus sich während seiner Zeit in Jerusalem als ein gesetzeskonform lebender Jude zu erkennen geben (Act 21,23 f.). Dabei lässt sich ein narratives Detail erkennen, welches signifikant die historischen Spannungen zwischen juden- und heidenchristlichen Bewegungen im frühen Christentum widerspiegelt. Ebenso wie in Act 15* wird auch in Act 21,20a konstatiert, dass Paulus um die Mindestforderungen einer Observanz jüdischer Gesetze gewusst haben soll70. Derartige vermeintliche Auflagen für seine Missionsarbeit werden jedoch von Paulus selbst mit Nachdruck abgestritten (Gal 2,6). Die Dimensionen dieses Konfliktpotenzials und ihre Relevanz für die Deutung der Lebenswende des Paulus werden jedoch auch in den paulinischen 68 Zu entsprechenden, zuweilen sehr legendarisch anmutenden Überlieferungen in den Petrus akten und Pseudoclementinen vgl. M. Hengel, Petrus, 78 ff. 69 Entsprechend J. Jervell, Apostelgeschichte, 523: „Jakobus scheint der absolute Leiter zu sein, und die Ältesten treten möglicherweise mehr als Ratskollegium an der Seite des Jakobus auf.“ 70 Die Differenzen zwischen Act 15* und Act 21* könnten damit zusammenhängen, dass der Verfasser des lukanischen Geschichtswerks unterschiedliche Quellen verarbeitet hat. Vgl. M. Klinghardt, Gesetz, 207 ff.
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Originalzeugnissen nicht angemessen erkennbar. Sie treten erst zutage, wenn außerkanonische Zeugnisse in die Diskussion einbezogen werden. Für die vorliegende Fragestellung ist dabei vor allem eine Schriftengruppe aufschlussreich, die überlieferungs- und redaktionsgeschichtlich betrachtet zu den komplexesten Zeugnissen des frühen Christentums zu zählen ist, nämlich die unter der Bezeichnung ‚Pseudoclementinen‘ subsumierten Schriften und Traditionen71. Diese außerkanonische Schriftsammlung wird mit dem Namen Clemens Romanus verbunden, einer weiteren hohen Autorität im frühen Christentum72. Bemerkenswerterweise soll ausgerechnet dieser Clemens Romanus jene scharfe Kritik an Paulus überliefert haben. Im Folgenden sollen einige Beispiele für antipaulinische Argumentationen skizziert werden, die jeweils im Zusammenhang der sogenannten Homilien und Rekognitionen überliefert wurden. Gattungsgeschichtlich betrachtet handelt es sich bei diesen Zeugnissen um romanhafte Erzählungen, deren vorliegende Gestalten wohl erst in einem fortgeschrittenen Stadium der antiken Kirchengeschichte entstanden sind73. Es ist jedoch unstrittig, dass einzelne Traditionselemente in sehr frühe Entwicklungsstadien des frühen Christentums zurückreichen74. Dies gilt im besonderen Maße für die Aussagen über die Autoritäten des Jakobus und Petrus, die für die vorliegende Fragestellung von zentraler Bedeutung sind. Paradigmatisch zeigt sich dies in den Einleitungen der im Zusammenhang mit den Homilien und Recognitionen überlieferten Epistula Petri ad Jacobum und der Epistula Clementis75. Die literarisch stilisierten Protagonisten Jakobus und Petrus debattieren, auf welche Weise theologische Fehlentwicklungen vermieden werden können. Dabei wird dem Herrenbruder Jakobus eine zentrale Kontrollfunktion zugestanden. Er wird als ‚Herr und Bischof der heiligen Kirche‘ (vgl. EpPetr 1,1a: τῷ κυρίῳ καί ἐπισκόπῳ τῆϛ ἁγίαϛ ἐκκλησίαϛ) und sogar als ‚Herr und Bischof der Bischöfe‘ bezeichnet (EpCl 1,1a: τῷ κυρίῳ καὶ ἐπισκόπων ἐπισκόπῳ bzw. in der von Rufin verfassten lateinischen Übersetzung domino et episcopo episcoporum). Er sei 71 Zum Problem einer traditionsgeschichtlichen Verortung der unterschiedlichen Teilaspekte der pseudoclementinischen Literatur vgl. u. a. N. Kelley, Knowledge, 174–178; G. Stanton, Elements, 305–324; J. Wehnert, Homilien, passim. 72 Römisch-katholischer Tradition zufolge war diese Gestalt der vierte Papst. Zu den Überlieferungen zur Person und Biographie des Clemens Romanus vgl. H. E. Lona, Clemensbrief, 66–75. 73 In ihrer vorliegenden Form müssen dieselben wohl als Zeugnisse des dritten bzw. vierten Jahrhunderts verstanden werden. Vgl. M. Vielberg, Klemens, passim. 74 Vgl. hierzu u. a. J. Carleton Paget, Jewish Christians, 427 ff.; N. Kelley, Knowledge, 174–178. 75 Ausführlich zu diesen überlieferungsgeschichtlichen und textkritischen Aspekten vgl. E. K. Broadhead, Jewish Ways, 267fff.; J. Wehnert, Homilien, 29 ff.; G. Strecker, Pseudoclementinen, passim.
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nicht nur der Leiter ‚der heiligen Gemeinde der Hebräer zu Jerusalem‘, sondern auch der Leiter aller Gemeinden, die ‚überall durch Gottes Vorsehung wohl gegründet‘ sind (EpCl 1,1b). Für die Deutung der paulinischen Lebenswende sind diese Ausführungen von Relevanz, da sie zugleich eine indirekte Kritik an Paulus tradieren. Die zentrale Forderung besteht darin, dass christliche Missionare regelmäßig in Jerusalem über ihre Aktivitäten Rechenschaft ablegen müssen. Es sei die Aufgabe des Jakobus, die Orthodoxie ihrer Lehre zu prüfen76. Diese Instruktionen entsprechen den lukanischen Erzählungen vom Apostelkonzil und von dem letzten Besuch des Paulus in Jerusalem, insofern Jakobus in beiden Zusammenhängen als die zentrale Autorität der Jerusalemer Gemeinde dargestellt wird, bei der Paulus für einen Rechenschaftsbericht vorstellig werden muss (vgl. Act 15,13 ff.; Act 21,18 f.). Im weiteren Verlauf der Epistula Petri ad Jacobum wird konstatiert, dass eine solche Vorgehensweise notwendig sei, da Irrlehrer bereits damit begonnen haben, die Botschaft Jesu und die seiner Nachfolger zu korrumpieren. Der fiktive Petrus beschwert sich bei Jakobus über einen ‚feindlichen Menschen‘, welcher die Notwendigkeit einer Observanz des jüdischen Gesetzes in Frage stellen würde (vgl. EpPetr 2,3: „Denn einige Heiden haben meine dem Gesetz entsprechende Verkündigung verworfen und sich einer gesetzeslosen und lächerlichen Lehre des feindlichen Menschen angeschlossen.“77). Dieses Motiv evoziert eine Assoziation zu einem Detail des matthäischen Gleichnisses vom Taumellolch unter dem Weizen (Mt 13,28)78. Während der ‚feindliche Mensch‘ in der allegorischen Deutung jenes Gleichnisses jedoch als eine diabolische Gestalt gedeutet wird, welche die Ausbreitung der christlichen Botschaft verhindern möchte, bietet der Kontext der Epistula Petri ad Jacobum eine antipaulinische Zuspitzung79. Der literarisch stilisierte Petrus beschwert sich bei Jakobus, dass jene Gestalt ihm eine unaufrichtige Haltung gegenüber dem jüdischen Gesetz unterstellt. Der Vorwurf besteht darin, dass Petrus zwar durch sein Verhalten die Heilsnotwendigkeit einer Observanz des jüdischen Gesetzes relativiert, dies aber nicht öffentlich eingestehen wolle. Dieser Vorwurf erinnert an jene Vorwürfe, die Paulus gegenüber Petrus im Zusammenhang des sogenannten antiochenischen Zwischenfalls formulierte (vgl. Gal 2,11–14 mit EpPetr 2,4: „Noch dazu haben einige, obwohl ich noch lebe, versucht, durch manch schillernde Deutung meine 76 Vgl. N. Kelley, Knowledge, 176: “James has the power to approve and reject those who claim to speak in Jesus’ name, and his decision is portrayed … as final and absolute.” 77 Vgl. J. Wehnert, Homilien, 43 f. 78 Zur unpräzisen Rede von dem ‚Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen‘ und den botanischen bzw. sozialgeschichtlichen Hintergründen dieser Metaphorik vgl. P. von Gemünden, Weizen, 405 ff. 79 Entsprechend u. a. H.-J. Klauck, Bibel, 271; J. Wehnert, Homilien, 44 Anm. 5.
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Worte bis hin zur Auflösung des Gesetzes zu entstellen, als ob ich auch selbst so dächte, es aber nicht offen ausspräche … Das sei ferne!“80). Bei den Lesern von EpPetr 2,1–5 wird offensichtlich eine Kenntnis von Gal 2,11–14 vorausgesetzt. Gleiches gilt für die weitere Entfaltung der Argumentationen der pseudoclementinischen Traditionen. Der literarisch stilisierte Petrus rekurriert auf eine Tradition, welche im Rahmen der matthäischen Theologie als Jesus-Logion überliefert und die als Argument für die bleibende Bedeutung einer Observanz des jüdischen Gesetzes gewertet wird (vgl. den Rekurs auf Mt 5,17–20 in EpPetr 2,5: „Denn solches hieße, dem Gesetz Gottes zuwiderzuhandeln, das durch Moses gesprochen und von unserem Herrn in seiner ewigen Gültigkeit bezeugt worden ist. Denn so sprach er: ‚Der Himmel und die Erde werden vergehen, ein Jota oder ein Häkchen vom Gesetz vergeht gewiss nicht‘.“81). EpPetr 2,5 bringt somit mit Nachdruck zur Geltung, was bereits in den entsprechenden Zügen der matthäischen Überlieferungen zutage tritt (vgl. neben Mt 5,17–20 auch Mt 23,1–3)82. Es handelt sich jeweils um judenchristliche Traditionen, welche die ‚ewige Dauer‘ des jüdischen Gesetzes propagieren und somit eine antipaulinische Theologie repräsentieren (vgl. den signifikanten Kontrast zu Röm 10,4 etc.). Diese Aspekte sprechen deutlich dafür, dass die EpPetr 2,1–5 zugrundeliegenden Traditionen verhältnismäßig alt sein müssen. Sie würden keinen Sinn ergeben, wenn sich bereits ein neutestamentlicher Kanon ausgebildet hätte, durch welchen die entsprechenden Züge der paulinischen Texte in ihrer theologischen Legitimität bestätigt worden wären83. Die skizzierte Kritik an paulinischen Vorstellungen entspricht einer weiteren Tradition, die im Zusammenhang der pseudoclementinischen Homilien überliefert wird und die für die Deutung der Lebenswende des Paulus von höchster Relevanz ist. In Hom 17,19,1 ff. liegt ein literarisch stilisiertes Streitgespräch vor, das in seiner vorliegenden Textgestalt zwischen Petrus und Simon Magus stattfindet. Es ist jedoch unstrittig, dass es sich ursprünglich um ein fiktives Streitgespräch zwischen Petrus und Paulus gehandelt haben muss. Einerseits bezieht sich der Gesprächspartner des Petrus fortwährend auf paulinische Argumente. Entsprechend macht der von vielen Anspielungen auf das zweite Kapitel des paulinischen Galaterbriefs geprägte Text nur einen Sinn als Diskussion zwischen 80 Vgl. J. Wehnert, Homilien, 44. 81 Vgl. J. Wehnert, Homilien, 44. 82 Zu konträren Einschätzungen der traditionsgeschichtlichen Hintergründe von Mt 5,17–20; 23,1–3, insbesondere zum Verhältnis zur Logienquelle bzw. zu paulinischen Traditionen vgl. M. Konradt, Matthäus, 74–76 bzw. 363 ff.; R. Deines, Gerechtigkeit, 257 ff. 83 Ausführlich hierzu J. Carleton Paget, Jewish Christians, 427 ff. bzw. J. Wehnert, Homilien, 38, der m. E. treffend formuliert, dass gerade die antipaulinischen Ausführungen der pseudo clementinischen Literatur „mit Argumenten“ aufwarten, „die in das 1. Jahrhundert zurückgehen mögen.“
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Petrus und Paulus. Andererseits nimmt der fiktive Paulus für sich in Anspruch, aufgrund einer Christusvision eine apostolische Autorität zu haben. Dies entspricht deutlich den autobiographischen Ausführungen des Paulus und nicht den ohnehin sehr legendarischen Überlieferungen zu Simon Magus84. Der fiktive Petrus stellt wiederum die Berechtigung des paulinischen Selbstanspruchs in Frage und hebt seine eigene Autorität durch einen Verweis auf das sogenannte ‚Felsenwort‘ Mt 16,17–19 hervor. Das dabei formulierte Argument ist für die Deutung der Lebenswende des Paulus von hoher Relevanz. Dem fiktiven Petrus der pseudoclementinischen Homilien werden folgende bemerkenswerte Worte in den Mund gelegt: Hom 17,19,1–7: 19,1 „Selbst wenn dir also unser Jesus in einem Gesicht erschienen und bekannt geworden ist, dann ist er (mit dir) wie mit einem Widersacher im Zorn zusammengetroffen. Deshalb sprach er durch Visionen und Traumbilder oder auch durch Offenbarungen, die von außen kommen. 19,2 Ob aber jemand aufgrund einer Erscheinung zur Lehre befähigt werden kann? Und wenn du sagst: Es ist möglich, warum blieb der Lehrer ein ganzes Jahr bei wachen (Menschen) und redete mit ihnen? 19,3 Selbst dass er dir erschienen ist (1 Kor 15,8) – wie sollen wir dir das glauben? Wie kann er dir denn überhaupt erschienen sein, wenn du denkst, was im Widerspruch zu seiner Lehre steht. 19,4 Wenn Du aber von ihm eine Stunde lang mit einer Erscheinung bedacht und belehrt worden bist und sein Apostel wurdest, verkündige seine Aussprüche, lege seine (Worte) aus, liebe seine Apostel, kämpfe nicht mit mir, seinem Schüler! Denn mir, dem festen Fels, dem Grundstein der Kirche (Mt 16,18), stehst du feindlich gegenüber (Gal 2,11). 19,5 Wenn Du nicht mein Widersacher wärst, würdest Du mich nicht in Verruf bringen und meine Verkündigung verleumden, damit man mir nicht glaubt, wenn ich sage, was ich vom Herrn mit eigenen Ohren gehört habe. So als sei ich verurteilt worden, während Du in gutem Ruf stehst. 19,6 Wenn Du mich verurteilt nennst (Gal 2,11), klagst Du Gott an, der mir den Christus offenbarte, und setzt den herab, der mich wegen dieser Offenbarung seligpries (Mt 16,17). 19,7 Wenn Du jedoch wirklich am (Werk) der Wahrheit mitarbeiten willst, lerne zuerst von uns, was wir von ihm gelernt haben, und wenn Du ein Jünger der Wahrheit geworden bist, werde unser Mitarbeiter (3 Joh 8)!“85
Die in diesem Rahmen formulierten Argumente sind historisch betrachtet bemerkenswert. In der exegetischen Forschung besteht ein weitgehender Konsens in Bezug auf die Einschätzung, dass die Worte und Taten Jesu zunächst eine 84 Zu diesen Aspekten vgl. J. Wehnert, Petrus, 175–185; J. Verheyden, Demonization, 330–359; S. Haar, Simon Magus, 13 f. 85 Zur Textkritik, zum Übersetzungsvorschlag und den Verweisen auf die genannten kanonischen Bezugstexte vgl. J. Wehnert, Homilien, 231.
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innerjüdische Erneuerungsbewegung anstoßen sollten86. Viele Nachfolger Jesu haben eine innerjüdische Fokussierung auch nach dem Tod Jesu fortgeführt87. Die Geschichte dieser als Judenchristentum bezeichneten Gruppierungen lässt sich bis ins fünfte Jahrhundert hinein nachzeichnen – und zwar stets mit einer scharfen antipaulinischen Abgrenzung88. Dabei wird immer wieder hervorgehoben, dass die Botschaft, welche Jesus zu seinen Lebzeiten seinen Nachfolgern anvertraut hat, nicht mit der Theologie des Paulus übereinstimmen würde. Einem solchen Vorwurf entspricht das Phänomen, dass Paulus in seinen überlieferten Briefen seinerseits kaum mit Rekursen auf Jesus-Traditionen argumentiert. Dieser Sachverhalt soll im Folgenden betrachtet werden. 1.5.4 Warum rekurriert Paulus kaum auf Worte und Taten Jesu?
Wie im vorhergehenden Arbeitsschritt skizziert wurde, kulminierte die vor allem in außerkanonischen Zeugnissen überlieferte judenchristliche Kritik an Paulus immer wieder in der These, dass die Theologie des Paulus die Lehre Jesu verfälschen würde. Dieser Vorwurf entspricht dem Phänomen, dass Paulus in seinen Briefen kaum auf Jesus-Worte rekurriert89. Dies gilt im besonderen Maße für jene Facetten der paulinischen Theologie, die von den judenchristlichen Gegnern des Paulus problematisiert werden. Im Kontext der paulinischen Interpretation der Bedeutung des jüdischen Gesetzes begegnet kein einziger Rekurs auf eine Jesus-Tradition. Stattdessen entwickelt Paulus auf dem Fundament seiner jüdischen Bibel eine Deutung des Lebens bzw. des Todes Jesu, die mit einer Neubestimmung der Funktion des jüdischen Gesetzes einhergeht90. Diese Neudeutung ist jedoch im Wesentlichen eine Konsequenz jener Damaskuserfahrung, welche die zentrale Wende im Leben des 86 Exemplarisch sei verwiesen auf die entsprechenden Ausführungen bei J. P. Meier, Marginal Jew III, 19 ff.; E. Voigt, Jesusbewegung, 15 ff.; G. Theißen, Religion, 47 ff. 87 Dies dokumentieren sowohl die entsprechenden Züge der Apostelgeschichte als auch eine Vielzahl außerkanonischer Zeugnisse judenchristlicher Provenienz. Vgl. E. Hvalvik, Jewish Believer, 121–153; E. K. Broadhead, Jewish Ways, passim. 88 Zum Spektrum judenchristlicher Traditionsbildungen im zweiten, dritten bzw. vierten Jahrhundert vgl. u. a. O. Skarsaune, Evidence, 505–580; P. S. Alexander, Jewish Believers, 659–709; J. Carleton Paget, Jewish Christians, 383 ff. 89 Die Frage nach einer Kontinuität bzw. Diskontinuität zwischen der Botschaft Jesu und der Theologie des Paulus im Generellen und die Frage nach der Präsenz von konkreten Jesus-Tradition in den paulinischen Briefen im Speziellen ist seit den Anfängen historisch-kritischer Forschungen zum frühen Christentum ein wissenschaftliches Dauerthema. Zu entsprechenden Skizzen der Forschungsgeschichte vgl. S. Patterson, Jesus Tradition, passim; F. Regner, Paulus, passim; J. W. Fraser, Jesus, passim und zuletzt C. Jacobi, Jesusüberlieferung, 1 ff. 90 Die Frage, inwieweit es Paulus gelungen ist, schrittweise eine konsistente Neudeutung des jüdischen Gesetzes zu konstruieren bzw. inwieweit er diesbezüglich letztlich gescheitert ist und nur unterschiedliche, fragmentarische Deutungsansätze vermittelt, kann als eine der kontroversesten Fragen einer historisch-kritischen Perspektive auf die paulinischen Zeugnisse ver-
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Paulus bewirkte. Mit anderen Worten: Eine Rückanbindung an die Worte und Taten Jesu bildet nicht das Fundament der paulinischen Theologie91. Paulus entwickelt vielmehr eine Deutung des Lebens und des Todes Jesu im Zeichen jener Vision, die er für sich in Anspruch nimmt. Wenn man somit Paulus als einen, wenn nicht gar den bedeutendsten Theologen des frühen Christentums versteht, so muss man die Damaskuserfahrung und die mit ihr in Beziehung stehenden Phänomene als die eigentliche Geburtsstunde dieser Gestaltwerdung von Christentum verstehen. Dies führt konsequent zu der Frage, in welchem Verhältnis jene Lebenswende zu der ‚Himmelsreise‘ steht, die Paulus für sich in Anspruch nimmt. Letztere erwähnt Paulus nämlich in einem Zusammenhang, in welchem er auf ‚Visionen und Offenbarungen des Herrn‘ zu sprechen kommen möchte (2 Kor 12,1). 1.5.5 In welchem Verhältnis stehen die Lebenswende und die Himmelsreise‘ (2 Kor 12,1–5) des Paulus?
Wie bereits einleitend erläutert wurde, deutet Paulus nur unfreiwillig und in einer „geradezu stenographische(n) Kürze“92 an, was seine Lebenswende vom Christenverfolger zu einem der wichtigsten Theologen und Missionare des frühen Christentums konkret ausgelöst hat. Angesichts der nur sehr knappen Angaben in den autobiographischen Ausführungen Gal 1,15 stellt sich die Frage, inwiefern andere Facetten der paulinischen Briefe indirekte Aussagen zu jener Lebenswende implizieren. Eine Sonderstellung nimmt dabei jene ‚außerkörperliche Erfahrung‘ bzw. ‚Himmelsreise‘ ein, die Paulus im Kontext seiner in 2 Kor 10–13 thematisierten Kontroversen mit den Gemeinden in Korinth erwähnt standen werden. Zur Übersicht über die entsprechende Forschungsgeschichte und das Spektrum zuweilen völlig konträrer Interpretation vgl. M. Wolter, Paulus, 351–373 bzw. 412–435; H. Lichtenberger, Gesetz, passim; J. Dunn, Paul, 499 ff. 91 Entsprechend konstatiert C. Jacobi, Jesusüberlieferung, 392, dass „Jesus als Traditionsurheber und als Lehrer für Paulus nicht relevant“ ist. Christine Jacobi hebt jedoch m. E. zu Recht hervor, dass eine zu eng gefasste Frage nach einem historischen Verhältnis zwischen Jesus und Paulus in ein weiteres Themenfeld eingeordnet werden muss, in welchem unterschiedliche Konzepte einer Erinnerungskultur voneinander unterschieden werden müssen: „Die Präsentation verschiedener überlieferter Topoi als Worte des irdischen Jesus gehört zur erzählenden Vergegenwärtigung Jesu in den Evangelien. Eine Erinnerungshermeneutik, die solche Rezeptionsprozesse untersucht, statt kognitive Gedächtnisfunktionen als Schlüssel einer diachronen Beschreibung der Jesustraditionen zu verwenden, wird meines Erachtens den Texten eher gerecht. Unter ihr zeigt sich zwischen paulinischer Theologie und den Jesuserzählungen der Evangelien eine theologische Kontinuität: Sie liegt im Zugang zu Gott, der durch das Wirken Jesu eröffnet wurde und in der Theologie des Apostels und später in den synoptischen Evangelien auf je eigene Weise zur Darstellung gebracht wird.“ (op. cit., 395 f.). 92 So B. Kollmann, Heidenmissionar, 82. Entsprechend sei nochmals auf die Beobachtung von U. Schnelle, Paulus, 83 verwiesen, dass Paulus „an keiner Stelle freiwillig auf das Damaskusgeschehen zu sprechen (kommt), er wird jeweils durch Gegner dazu gezwungen.“
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(2 Kor 12,1–5). In diesem Zusammenhang muss Paulus die apostolische Autorität rechtfertigen, die er für sich in Anspruch nimmt und die offensichtlich von anderen frühchristlichen Autoritäten in Frage gestellt wird, die er polemisch als ‚Überapostel‘ bezeichnet (zur Frage, welche Personen bzw. Autoritäten hiermit gemeint sein könnten vgl. die Ausführungen zur Stellung von 2 Kor 12,1–5 im Kontext von 2 Kor 10–13; s. u. 2.1.1). In den einleitenden Worten seiner Ausführungen konstatiert Paulus, dass er nun auf ‚Visionen und Offenbarungen des Herrn‘ zu sprechen kommen möchte (2 Kor 12,1b: ἐλεύσομαι δὲ εἰϛ ὀπτασίαϛ καὶ ἀποκαλύψειϛ κυρίου). Diese Termini entsprechen weiteren Aussagen, in denen Paulus für sich in Anspruch nimmt, den auferstandenen Jesus gesehen zu haben und somit ein Auferstehungszeuge zu sein. Während Paulus dieses Geschehen in 1 Kor 9,1; 15,7 als Vision bezeichnet (vgl. 1 Kor 9,1: Οὐκ εἰμὶ ἐλεύθεροϛ; οὐκ εἰμὶ ἀπόστολοϛ; οὐχὶ Ἰησοῦν τὸν κύριον ἡμῶν ἑόρακα;), verwendet er in seinen autobiographischen Ausführungen des Galaterbriefs das Wortfeld ‚Offenbarung‘ (Gal 1,16a: ἀποκαλύψαι τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐν ἐμοί)93. Diese terminologischen Details und der argumentative Kontext scheinen auf den ersten Blick dafür zu sprechen, dass die in 2 Kor 12,1–5 erwähnte Himmelsreise mit der Lebenswende des Paulus in einer Beziehung steht. Die Einleitung der Beschreibung jener Himmelsreise bietet jedoch eine chronologische Angabe (vgl. 2 Kor 12,2 a: „… vor vierzehn Jahren …“), die mit keiner der verschiedenen Möglichkeiten einer chronologischen Einordnung der Lebenswende des Paulus vermittelt werden kann. Wenn z. B. die Lebenswende um ca. 32 n. Chr. angesetzt wird94, so hätte Paulus jene Zeilen um ca. 46 n. Chr. geschrieben. Auch wenn strittig ist, wie die Stellung und zeitliche Einordnung der Entstehung des Textabschnitts 2 Kor 10–13 in der facettenreichen Korrespondenz zwischen Paulus und seinen Adressaten in Korinth einzuordnen ist, ist eine Bezugnahme auf die Lebenswende des Paulus mit der zeitlichen Verortung 2 Kor 12,2 a kaum zu vermitteln95. Dies wäre
93 Diese präzisen terminologischen Analogien werden in vielen Beiträgen zu einer Interpretation von 2 Kor 12,1–5 nicht angemessen zur Geltung gebracht. Stattdessen wird die Frage, in welchem Verhältnis die Lebenswende und die Himmelsreise des Paulus zueinander stehen, oftmals schlicht ignoriert. Angesichts dessen kann mit M. Wolter, Paulus, 265 festgehalten werden, dass es fraglich ist, inwieweit „hier überhaupt von zwei unterschiedlichen Ereignissen die Rede ist.“ 94 Zu den prinzipiellen Problemen einer Rekonstruktion der Grunddaten der paulinischen Biographie und einer zeitlichen Verortung der Lebenswende vgl. R. Riesner, Frühzeit, 56–65; M. Hengel/A. M. Schwemer, Paulus, 43 ff.; E. Ebel, Leben, 87 f. 95 Zur zeitlichen Verortung der Gründung der Gemeinden in Korinth und der Frage unterschiedlicher Entwicklungsstufen des 2. Korintherbriefs vgl. U. Schnelle, Paulus, 253 ff.; T. Schmeller, Korinther II, 106 ff.
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streng genommen nur möglich, wenn man Paulus unterstellen würde, er habe jene Zeitangabe nur ungenau in den Raum gestellt96. Gleichwohl gilt es auch zu beachten, dass Paulus im weiteren Verlauf von 2 Kor 12,1–5 nicht zur Geltung bringt, in welcher Weise seine Himmelsreise als eine Begegnung mit dem auferstandenen Jesus verstanden werden kann. Wenn man aufgrund der skizzierten Aspekte jedoch zu der Einschätzung gelangt, dass das Damaskuserlebnis und die in 2 Kor 12,1–5 erwähnte Himmelsreise zwei verschiedene Erfahrungen gewesen sein müssen, so würde dies bedeuten, dass Paulus mehrere Jesus-Visionen für sich in Anspruch nimmt. Für eine solche Einschätzung gibt es in den facettenreichen Traditionen zur Lebenswende des Paulus lediglich eine Vergleichsgröße. Diese begegnet in der zweiten lukanischen Variante zum Damaskuserlebnis, in der zwischen der Licht- bzw. Christusvision vor Damaskus (Act 22,6) und einer Christus-Vision im Jerusalemer Tempel (Act 22,17) unterschieden wird (zum Versuch einer Vermittlung dieser Aspekte s. u. 1.5.5)97. Angesichts dieser Grundprobleme einer Interpretation der facettenreichen Traditionen zur Lebenswende des Paulus gilt es sich nun die autobiographischen Aussagen des Paulus über seine vermeintliche Himmelsreise zu vergegenwärtigen.
2. Die Himmelsreise des Paulus (2 Kor 12,1–5) Ebenso wie die platonische Erzählung von dem vermeintlich verstorbenen Soldaten Er wurde auch die von Paulus in 2 Kor 12,1–5 angedeutete Himmelsreise früh als eine antik-mediterrane Parallele zu heutigen Nahtoderfahrungen benannt. Doch auch diesbezüglich wurde die Tiefendimension dieser Parallele nicht angemessen herausgearbeitet. Entscheidend ist nämlich nicht nur der Text selbst, sondern vor allem auch sein Kontext. Um diesen Sachverhalt erläutern zu können, soll im Folgenden zunächst die kontextuelle Verortung von 2 Kor 12,1–5 dargelegt werden (2.1). Daraufhin wird die Argumentationsstruktur von 2 Kor 12,1–5 nachgezeichnet (2.2), um schließlich die Besonderheit von 2 Kor 12,1–5 darstellen zu können (2.3).
96 Diesbezüglich konstatiert B. Kollmann, Heidenmissionar, 82 m. E. zu Recht, dass bei den autobiographischen Angaben des Paulus „der zeitliche Abstand zwischen dem Geschehen und der Bezugnahme darauf zu bedenken“ ist. 97 Zu diesen Aspekten vgl. u. a. B. Heininger, Visionär, 249 f.; T. Heckel, Kraft, 34; U. Schnelle, Paulus, 283.
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2.1 Die kontextuelle Verortung von 2 Kor 12,1–5 Um die kontextuelle Verortung von 2 Kor 12,1–5 erläutern zu können, müssen drei Textbereiche voneinander unterschieden werden, die konzentrisch einander zugeordnet sind. Zunächst gilt es zu erfassen, welche Stellung 2 Kor 12,1–5 im Gesamtzusammenhang von 2 Kor 10–13 einnimmt (2.1.1). Daraufhin wird das Verhältnis der unmittelbar aufeinander bezogenen Textbereiche 2 Kor 12,1–5 und 2 Kor 12,6–10 erläutert (2.1.2). 2.1.1 Zur Stellung von 2 Kor 12,1–5 in 2 Kor 10–13
Bereits in den Anfängen einer historisch-kritischen Exegese neutestamentlicher Zeugnisse wurde konstatiert, dass der Textabschnitt 2 Kor 10–13 sich aus sprachlichen und inhaltlich-sachlichen Gründen markant von den vorhergehenden Teilen des 2. Korintherbriefs unterscheidet98. Bis in die Gegenwart hinein wird diskutiert, inwieweit diese Differenzen dafür sprechen, dass 2 Kor 10–13 zu einem ursprünglich eigenständigen Brief des Paulus an die Gemeinden in Korinth zu zählen ist, der erst im Nachhinein im Zuge einer Kompilation mit anderen Briefteilen verbunden wurde99. Für die vorliegende Fragestellung sind diese Diskussionen vor allem in zweierlei Hinsicht von Relevanz. Einerseits benennt Paulus in 2 Kor 12,2 eine Zeitangabe, wann ihm jene außerkörperliche Erfahrung bzw. Himmelsreise widerfahren sein soll. Diesbezüglich ist somit auch zu beachten, wie der Rahmentext 2 Kor 10–13 chronologisch zu verorten ist. Andererseits gilt es zu berücksichtigen, dass 2 Kor 10–13 in hohem Maße durch polemische Auseinandersetzungen inspiriert und geprägt wurde. Paulus musste sich gegen verschiedene Angriffe und Verleumdungen wehren100. Ihm wurde offensichtlich vorgeworfen, dass sein persönliches Auftreten in Korinth nicht sonderlich überzeugend gewesen sei (2 Kor 10,10). Entsprechend konstatiert Paulus, dass sich die Gemeinde von anderen Aposteln beeindrucken lasse, die er polemisch konnotiert als ‚Überapostel‘ (2 Kor 11,5; 12,11) bezeichnet. Er warnt seine Adressaten, sich nicht durch ‚falsche Apostel‘ (2 Kor 11,13) von der rechten Lehre abbringen zu lassen. Entsprechend muss Paulus sich offensichtlich 98 Grundlegend hierzu T. Schmeller, Korinther II, 106 ff.; T. Heckel, Kraft, 6 ff.; E. Lohse, Existenz, 188–198; A. Satake, Schritt, 283–299. 99 Zu den im hohen Maße komplexen Diskussionen unterschiedlicher Briefteilungshypothesen vgl. T. Schmeller, Korinther II, 106–119. 100 Wer die Gegner des Paulus waren und worin die konkreten Streitpunkte jener Kontroversen bestanden haben, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Zur Diskussion möglicher Gegner und Konfliktpotentiale vgl. J. Wehnert, Falschbrüder, 124–136; T. Schmeller, Korinther II, 149–155 bzw. E. Käsemann, Legitimität, 41 f., für den die ‚Superapostel‘ die Autoritäten in Jerusalem sind und die ‚Falschapostel‘ deren Repräsentanten, die jedoch ihrem Auftrag nicht gerecht werden.
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gegen die auch in anderen Passagen der Korintherbriefe thematisierten Vorwürfe wehren, dass er kein Apostel sei (vgl. 2 Kor 10,12–18; 12,11–13 mit u. a. 1 Kor 9,1 ff.; 2 Kor 3,1–3 etc.)101. Diese Aspekte sprechen dafür, dass 2 Kor 10–13 Entwicklungen in den christlichen Gemeinden in Korinth widerspiegeln, die als eine aktive „Mission gegen Paulus“102 verstanden werden können. Angesichts dessen wird Paulus zu einer Argumentation genötigt, welche in Anlehnung an 2 Kor 11,1.16; 12,11 als ‚Narren-Rede‘103 bezeichnet wird. Das „Zentrum der Narrenrede“104 ist der für die vorliegende Fragestellung zentrale Textabschnitt 2 Kor 12,1–10. Paulus bietet Aussagen über sich selbst bzw. über die Legitimität seiner apostolischen Autorität, welche unabhängig von diesem konkreten Anlass seines Erachtens als töricht erscheinen müssen. Auch wenn die potentiellen Gegner des Paulus nicht explizit benannt werden, ist es in einem hohen Maße plausibel, dass von ihnen u. a. auch jene antipaulinischen Ansichten vertreten wurden, die in neutestamentlichen Schriften oft nur indirekt dokumentiert werden und die vor allem in außerkanonischen Schriften des sogenannten ‚Judenchristentums‘ überliefert wurden (ausführlich hierzu s. o. 1.5.3)105. Verschiedentlich wurde postuliert, dass es sich bei jenen Gegnern um „Pneumatiker“106 handele, die vor allem an ekstatischen Erfahrungen interessiert waren und welche die Autorität des jeweiligen Lehrers von seinen Erfahrungsansprüchen abhängig gemacht haben sollen. Dies habe Paulus in die Verlegenheit gebracht, auch für sich selbst eine außerkörperliche Erfahrung bzw. eine Himmelsreise literarisch zu stilisieren bzw. zu konstruie101 Dabei stellt sich Paulus immer wieder selbst in die Reihe der Christuszeugen und damit in die Reihe der anerkannten Apostel. Das dabei immer wieder auftretende Problem und die Legitimationsversuche von Paulus werden von B. Kollmann, Heidenmissionar, 82 am Beispiel des Streits um Unterhalt bzw. Unterhaltsverzicht komprimiert zusammengefasst: „Paulus muss sich in Korinth wegen des Verzichts auf das Unterhaltrechts erster Angriffe erwehren, dass er kein rechtmäßiger Apostel sei. Während die Gegner des Paulus sich auf ein traditionelles Apostelverständnis stützen, das in Anlehnung an die Aussendungsanordnungen Jesu das Recht auf Gemeindeunterhalt als Eckpfeiler des Apostolats ansieht, leitet Paulus seine apostolische Autorität aus dem Berufungserlebnis ab. Mit der rhetorischen Frage, ob er den Herrn nicht gesehen habe, greift er die traditionelle Sprache der Ostererzählungen auf (Joh 20,18.25).“ 102 So m. E. zu Recht U. Schnelle, Mission, 300. Entsprechend konstatierte bereits W. Wrede, Paulus, 39 als ein führender Vertreter der sogenannten ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘, dass „das Judenchristentum … in den eigenen Gemeinden des Paulus eine förmliche Gegenmission“ organisierte, von der „Spuren vorhanden (sind), dass sich die Bewegung nicht auf Galatien und Korinth beschränkte“. 103 Zur Abgrenzung dieser Argumentationseinheiten vgl. T. Schmeller, Korinther II, 231 f. 104 So treffend U. Schnelle, Paulus, 283. 105 Zur Frage nach den potentiellen Gegnern vgl. J. Wehnert, Falschbrüder, 124–136; T. Schmeller, Korinther II, 149–155, U. Schnelle, Paulus, 280 f.; F. Lang, Korinther, 357–359. 106 So exemplarisch F. Lang, Korinther, 357 in Rekurs auf die bereits in 1 Kor 12–14 dokumentierten Kontroversen um Phänomene einer Glossolalie.
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ren. Im Sinne eines solchen Interpretationsansatzes könnte man die Funktion von 2 Kor 12,1–5 auch folgendermaßen süffisant umschreiben: Wer konstruiert bzw. fabuliert die am meisten beeindruckende Himmelsreise und gewinnt so die meisten Hörer(innen) und Leser(innen) für sich und seine Lehre? Gegen eine solche Deutung von 2 Kor 12,1–5 sprechen jedoch eine Reihe von Aspekten. Wenn man den argumentativen Kontext ernst nimmt, so kann es sich nicht nur um eine „symbolische Sprache“107 handeln. Ebenso wird in 2 Kor 10–13 nicht thematisiert, dass jene Gegner des Paulus entsprechende Erfahrungen für sich selbst in Anspruch genommen haben. Eine entscheidende Eigentümlichkeit von 2 Kor 12,1–5 besteht vielmehr darin, dass Paulus gerade nicht mitteilen will, was ihm in jener Himmelsreise an „unaussprechlichen Worten“ zuteilwurde (ausführlich zur Deutung von 2 Kor 12,4 vgl. 2.3). Ebenso gilt es zu beachten, dass Paulus seine Kritiker u. a. als ‚Überapostel‘ (2 Kor 11,5; 12,11) bezeichnet108. Dass wiederum im frühen Christentum Personen eine apostolische Autorität erlangen konnten, weil sie besonders kreativ in der Stilisierung von Himmelsreisen waren, ist nicht dokumentiert und entspricht auch nicht dem Apostelbegriff109. Stattdessen bezieht sich die vor allem in außerkanonischen Zeugnissen überlieferte Kritik an Paulus gerade auf dessen Selbstanspruch, aufgrund von ‚Gesichten‘ und ‚Visionen‘ zu seiner Lehre beauftragt worden zu sein (vgl. u. a. Hom 17,19,1 f.: „Selbst wenn dir also unser Jesus in einem Gesicht erschienen und bekannt geworden ist, dann ist er [mit dir] wie mit einem Widersacher im Zorn zusammengetroffen. Deshalb sprach er durch Visionen und Traumbilder oder auch durch Offenbarungen, die von außen kommen. 19,2 Ob aber jemand aufgrund einer Erscheinung zur Lehre befähigt werden kann?“110; ausführlich hierzu s. u. 1.5.3). Die Bedeutung des letztgenannten Arguments tritt vor dem Hintergrund von 2 Kor 12,6–10 noch deutlicher zutage, weil Paulus in diesem Zusammenhang die hohe Relevanz jener Erfahrung konstatiert und zugleich erläutert, warum er sie dennoch nicht mitteilen wollte. Dies soll im Folgenden erläutert werden. 2.1.2 D ie Bedeutung von 2 Kor 12,6–10 für die Interpretation von 2 Kor 12,1–5
Es ist unstrittig, dass 2 Kor 12,6–10 unmittelbar mit den Ausführungen über die außerkörperliche Erfahrung und die Himmelsreise des Paulus in Beziehung steht 107 Zu diesem Begriff vgl. B. Heininger, Visionär, 248 bzw. 253. Zu konträren Einschätzungen vgl. A. F. Segal, Paul, 36; U. Schnelle, Paulus, 283; C. Gerber, Selbstlob, 213 ff.; T. Heckel, Kraft, 58; H.-D. Betz, Tradition, 132 ff. u. a. 108 Zur Frage der Identifikation dieser ‚Überapostel‘ vgl. Kapitel 4; Anm. 100. 109 Zum frühchristlichen Apostelbegriff vgl. J. Frey, Apostel, 91 ff. 110 Zum Übersetzungsvorschlag vgl. J. Wehnert, Homilien, 231.
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und als eine hermeneutische Leitinstanz jener Schilderungen verstanden werden kann. Entsprechend wird in den meisten Kommentaren der Textbereich 2 Kor 12,1–10 als geschlossene Einheit zur Geltung gebracht, der in fünf Teilbereiche unterschieden werden kann, nämlich ‚Einleitung‘ (2 Kor 12,1), ‚Erzählung von der Himmelsreise‘ (2 Kor 12,2–4), ‚Überleitender Deutevers mit Bekräftigung‘ (2 Kor 12,5–7 a), ‚Erzählung vom Stachel im Fleisch‘ (2 Kor 12,7 b–9 a), ‚Generalisierender Abschluss‘ (2 Kor 12,9 b–10)111. Um angesichts dessen die Eigentümlichkeit von 2 Kor 12,1–5 erfassen zu können, gilt es zunächst festzuhalten, dass Paulus explizit von mehreren Offenbarungen spricht und deren außergewöhnliche Besonderheit herausstellt (vgl. die Formulierung ‚Übermass der Offenbarung‘ [2 Kor 12,7 a: καὶ τῇ ὑπερβολῇ τῶν ἀποκαλύψεων, die zweifelsohne positiv konnotiert ist)112. Ob die Erwähnung mehrerer Offenbarungen eine Differenzierung zwischen dem in 2 Kor 12,2 erwähnten ‚dritten Himmel‘ und dem in 2 Kor 12,4 erwähnten Paradies intendiert oder ob noch weitere Erfahrungen angedeutet werden sollen, bleibt in diesem Zusammenhang unklar (zu religionsgeschichtlichen Bezugspunkten dieser Motive s. u. Kapitel 4; Arbeitsschritt 3). Bemerkenswert ist jedoch, dass Paulus eine weitere Begründung formuliert, warum er über jene Erfahrungen nicht sprechen möchte. Während er zunächst konstatiert hatte, dass die bei jener Erfahrung vernommenen Worte unaussprechlich seien würden (2 Kor 12,4), hebt er jetzt hervor, dass eine Krankheit bzw. ein nicht näher beschriebenes Leiden verhindern soll, dass er aufgrund seiner Erfahrungen überheblich wird (2 Kor 12,9 f.). Mehrfach habe er Gott um eine Befreiung von jenem Leiden gebeten, doch ihm sei vermittelt worden, dass er sich auch in seiner existenziellen Schwäche der göttlichen Kraft gewiss sein soll113. Dass er unter einer Krankheit leidet, deutet Paulus auch im Galaterbrief indirekt an (Gal 4,14)114. Doch was bedeuten diese Facetten von 2 Kor 12,6–10 für das Verständnis von 2 Kor 12,1–5? Wenn – wie m. E. zu Unrecht zuweilen postuliert wird – Paulus den Verweis auf eine Himmelsreise nur literarisch sti111 So T. Schmeller, Korinther II, 278. 112 Der Begriff ὑπερβολή begegnet in neutestamentlichen Zeugnissen ausschließlich in paulinischen Briefen und bezeichnet zumeist eine außerordentliche Steigerung positiver Auswirkungen einer Gottesbeziehung bzw. einer bestimmten Lebenshaltung (1 Kor 12,31; 2 Kor 4,7.17). Überaus negative Auswirkungen werden demgegenüber in Röm 7,13; Gal 1,13; 2 Kor 1,8 bezeichnet. Vgl. G. Schneider, Art. ὑπερβολή, 952. 113 Diesbezüglich formuliert F. Lang, Korinther, 351 treffend: „Daß Paulus diese Krankheit positiv als Hilfe für sein missionarisches Wirken werten und seinem apostolischen Leiden zurechnen kann, ist ein augenscheinlicher Ausdruck seiner Theologie des Kreuzes.“ Entsprechend könnte jene Krankheit von den Kontrahenten als Indiz gewertet worden sein, dass das Wirken des Paulus nicht unter dem Segen Gottes steht. 114 Zur Frage, welche konkrete Krankheitsform mit diesen Andeutungen gemeint sein könnte, vgl. J. Jervell, Charismatiker, 192 f.; J. Rohde, Galater, 185 f. Zur sachlichen Korrespondenz zu 2 Kor 12,7–10 vgl. H.-D. Betz, Galaterbrief, 387 ff.
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lisiert, um vermeintlichen ‚Pneumatikern‘ einen Gegenpol bieten zu können, wie verhält es sich dann mit der skizzierten Deutung seiner Krankheit, die mit jenen Erfahrungen in Beziehung steht? Ist auch diese Deutung nur eine nachträgliche Schutzbehauptung, welche durch die Agitationen seiner Kontrahenten inspiriert wurde? Und ist demnach auch die von Paulus eindeutig positiv konnotierte Aussage über das ‚Übermass der Offenbarungen‘ (2 Kor 12,7 a) schlicht nur ein rhetorischer Schachzug, um jenen vermeintlich an ekstatischen Erfahrungen interessierten Adressaten gerecht zu werden? Angesichts der skizzierten Fragen und der Besonderheit von 2 Kor 12,1–5, die nur im Kontrast mit religionsgeschichtlichen Vergleichsgrößen zutage tritt (vgl. 2.3), legt sich m. E. folgende Interpretation von 2 Kor 12,1–5 nahe: Paulus wurde zwar durch seine Kontrahenten zu den Ausführungen über seine außerkörperliche Erfahrung bzw. Himmelsreise genötigt. Die damit umschriebenen Erfahrungen sind jedoch für sein theologisches Selbstverständnis und seine Lehre von zentraler Bedeutung. Mit anderen Worten formuliert: Wenn die in 2 Kor 10–13 angesprochenen Kontrahenten die Autorität des Paulus und die Legitimität seiner Lehre infrage stellen, so kann die Bedeutung der in 2 Kor 12,1–5 angedeuteten Erfahrungen kaum hoch genug bewertet werden. Angesichts dessen gilt es sich nun die Argumentationsstruktur von 2 Kor 12,1–5 zu vergegenwärtigen (2.2), um anschließend die Besonderheit von 2 Kor 12,1–5 herausarbeiten zu können (2.3). 2.2 Die Argumentationsstruktur von 2 Kor 12,1–5 Der Textabschnitt 2 Kor 12,1–5 bietet eine komplexe Argumentation, deren Struktur im Folgenden zunächst graphisch abgebildet werden soll, um sie anschließend beschreiben zu können. 1a Καυχᾶσθαι δεῖ, b οὐ συμϕέρον μέν, c ἐλεύσομαι δὲ εἰϛ ὀπτασίαϛ καὶ ἀποκαλύψειϛ κυρίου, 2a οἶδα ἄνθρωπον ἐν Χριστῷ b πρὸ ἐτῶν δεκατεσσάρων, c εἴτε ἐν σώματι οὐκ οἶδα, d εἴτε ἐκτὸϛ τοῦ σώματοϛ οὐκ οἶδα, e ὁ θεὸϛ οἶδεν, d ἁρπαγέντα τὸν τοιοῦτον ἕωϛ τρίτου οὐρανοῦ. 3a καὶ οἶδα τὸν τοιοῦτον ἄνθρωπον, b εἴτε ἐν σώματι εἴτε χωρὶϛ τοῦ σώματοϛ οὐκ οἶδα, c ὁ θεὸϛ οἶδεν,
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4a ὅτι ἡρπάγη εἰϛ τὸν παράδεισον b καὶ ἤκουσεν ἄρρητα ῥήματα, c ἃ οὐκ ἐξὸν ἀνθρώπῳ λαλῆσαι. 5a ὑπὲρ τοῦ τοιούτου καυχήσομαι, b ὑπὲρ δὲ ἐμαυτοῦ οὐ καυχήσομαι, c εἰ μὴ ἐν ταῖϛ ἀσθενείαιϛ μού. 1a Gerühmt muss werden; b wenn es auch nichts nützt, c so will ich doch zu sprechen kommen auf Visionen und Offenbarungen des Herrn. 2a Ich kenne einen Menschen in Christus; b vor vierzehn Jahren. c – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; d Ist er außerhalb des Leibes gewesen? Ich weiß es auch nicht. e Gott weiß es –, d derselbe wurde entrückt bis in den dritten Himmel. 3a Und ich weiß um denselben Menschen b – ob er im Leib oder außerhalb des Leibes gewesen ist, ich weiß es nicht; c Gott weiß es –, 4a der wurde entrückt in das Paradies b und hörte unaussprechliche Worte, c die kein Mensch sagen kann. 5a Für denselben will ich mich rühmen; b für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, c außer meiner Schwachheit. Ebenso wie die vorhergehenden Argumentationen lässt auch die einleitende These 2 Kor 12,1 erkennen, dass Paulus zu den in 2 Kor 12,2–5 formulierten Aussagen genötigt wurde115. Aufgrund dessen möchte Paulus nun auf ‚Visionen und Offenbarungen des Herrn‘ zu sprechen kommen (2 Kor 12,1 b). Wie bereits zuvor erwähnt wurde, entsprechen die Termini ὀπτασία und ἀποκάλυψιϛ weiteren Aussagen, mit denen Paulus für sich in Anspruch nimmt, den auferstandenen Jesus gesehen zu haben und somit ein Auferstehungszeuge zu sein (vgl. Gal 1,15 f.; 1 Kor 9,1; 15,8). Die zuletzt genannten Passagen werden gemein115 Zu den kritischen Aussagen über das Rühmen bzw. Selbstrühmen (2 Kor 12,1a-b) vgl. T. Schmeller, Korinth II, 280 f. Zu entsprechenden Diskursen und Röm 1–5 vgl. S. Gathercole, Boasting, passim; C. Gerber, Selbstlob, passim.
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hin auf die Lebenswende des Paulus bezogen116. Gleichwohl spricht der weitere Kontext und insbesondere die chronologische Angabe 2 Kor 12,2 b dafür, dass zwischen der Lebenswende und der Himmelsreise des Paulus unterschieden werden muss. Dies würde somit bedeuten, dass Paulus mehrere ‚Visionen und Offenbarungen des Herrn‘ für sich in Anspruch nimmt. Daraufhin nimmt Paulus eine Differenzierung vor, und zwar zwischen sich selbst und einer Person, über die er in der dritten Person spricht (vgl. die Übergänge zwischen 2 Kor 12,1 c und 2 Kor 12,2 a und 2 Kor 12,5 a und 2 Kor 12,5 b–c). Diese Differenzierung verwundert, insofern der Kontext und die Entwicklung der Argumentation deutlich dafür sprechen, dass es sich bei jener anderen Person um Paulus selbst handelt. Einerseits würde ein Verweis auf die Erfahrungen einer fremden Person im Zeichen einer Verteidigung der eigenen Autorität keinen Sinn ergeben. Andererseits lassen die unmittelbar folgenden Ausführungen erkennen, dass Paulus ein solches ‚Übermass an Offenbarungen‘ (12,7) für sich selbst in Anspruch nimmt117. Die in 2 Kor 12,2–4 in Bezug auf jene andere Person formulierten Aussagen können somit eigentlich als Selbstanspruch des Paulus verstanden werden118. Religionshistorisch betrachtet muss jedoch festgehalten werden, dass die Wahl der 3. Person „ein absolutes Unikum“119 darstellt. Paulus spricht von einem ‚Menschen in Christus‘. Er thematisiert somit eine Erfahrung, die in wissenschaftlicher Beschreibungssprache bereits verschiedentlich als ‚Christus-Mystik‘ bezeichnet wurde120. Auf die chronologische Verortung dieser Erfahrung (2 Kor 12,2 b) folgt eine Frage, die Paulus in zwei Varianten wiederholt und in Bezug auf die er jeweils konstatiert, dass er sie selbst nicht beantworten kann, nämlich die Frage, ob jene Erfahrung in oder außerhalb der körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz gemacht wurde (2 Kor 12,2 c.d bzw. 3 b). Stattdessen hebt er mehrfach hervor, dass dies nur Gott wissen könne (2 Kor 12,2 e bzw. 3 c). Eine solche zweifache Hervorhebung dokumentiert die Bedeutung, die Paulus diesem Aspekt zugesteht. Sie entspricht einer Kernaussage, in welche die Argumentation mündet: Jene Erfahrung ist mit menschlichen Worten und Kategorien nicht zu beschreiben (2 Kor 12,4 b.c). In Rekurs auf sprachliche und metaphorische Vorgaben aus dem Bereich der alttesta116 Exemplarisch für eine Vielzahl von Stimmen sei verwiesen auf B. Heininger, Visionär, 248; U. Schnelle, Paulus, 283. 117 Vgl. C. Wolff, Korinther, 246 f. 118 Lediglich die Funktion dieser indirekten Redeform ist strittig. So könnte es z. B. sein, dass Paulus durch die Wahl einen Distanzierungseffekt erreichen möchte, durch welchen er den Widerfahrnischarakter hervorheben will (so U. Schnelle, Paulus, 283) oder es könnte sich um einen Ausdruck paulinischer Bescheidenheit handeln (so R. v. Bendemann, Christusgemeinschaft, 308). 119 So treffend B. Heininger, Visionär, 248. 120 Ausführlich zu diesen Zügen paulinischer Theologie s. u. Kapitel 4; Arbeitsschritt 4.4.
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mentlich-frühjüdischen Apokalyptik charakterisiert Paulus jene Erfahrungen als ‚Entrückung‘ (2 Kor 12,2 d bzw. 4 a)121. Das Ziel jener Entrückung wird einerseits als der dritte Himmel (2 Kor 12,2 d), andererseits als das Paradies bezeichnet (2 Kor 12,4 a). Ob diese Formulierungen sich auf ein und dieselben oder auf unterschiedliche Erfahrungen beziehen, wird nicht eindeutig zur Geltung gebracht. Eine Beantwortung dieser Frage ist einerseits abhängig von einer Interpretation der von Paulus in 2 Kor 12,7 formulierten These, die explizit mehrere Erfahrungen erwähnt122. Andererseits ist sie abhängig von der Wahl der religionsgeschichtlichen Bezugsgrößen, bei denen zuweilen beide Termini unmittelbar zueinander in Beziehung gesetzt werden123. Die gesamte bisherige Argumentation von 2 Kor 12,1–4 a kann als die Vorbereitung bzw. Einleitung eines Erfahrungsberichts gedeutet werden, die nun auf ihren Höhepunkt zuläuft. In religionsgeschichtlichen Vergleichsgrößen würde an dieser Stelle das eigentliche Ziel jener Himmelsreise angeordnet werden, nämlich die Vermittlung der Botschaft, welche der Himmelsreisende in sein bisheriges Leben und zu seinen Mitmenschen ‚zurückbringt‘. Und genau in dieser exponierten Position begegnet die eigentliche Besonderheit von 2 Kor 12,1–5. Worin dieselbe besteht, wird im Folgenden erläutert. 2.3 Die Besonderheit von 2 Kor 12,1–5 Die eigentliche Besonderheit der autobiographischen Aussagen des Paulus über seine außerkörperlichen Erfahrungen bzw. seine Himmelsreise begegnen in einer kurzen, aber bedeutungsschweren These. Nachdem Paulus zunächst, wie es auch in religionsgeschichtlichen Vergleichsgrößen der Fall ist (s. u. Kapitel 4; Arbeitsschritt 3), äußere Merkmale einer solchen Erfahrung beschreibt, formuliert er eine These, welche der Erwartungshaltung seiner Adressaten kategorisch widerspricht und die sich auch von jenen religionsgeschichtlichen Vergleichsgrößen unterscheidet. Er konstatiert, dass er bei jener außerkörperlichen Erfahrung bzw. Himmelsreise ‚unaussprechliche Worte‘ vernommen haben will, die ‚kein Mensch aussprechen kann‘ bzw. ‚aussprechen darf ‘ (2 Kor 12,4 b.c). 121 Dabei verwendet Paulus den Terminus ἁρπάζω, mit welchem er in den eschatologischen Ausführungen gegenüber der Gemeinde in Thessaloniki die Vorstellung einer Entrückung bei der erwarteten Wiederkunft Christi bezeichnet (1 Thess 4,17a: ἔπειτα ἡμεῖϛ οἱ ζῶντεϛ οἱ περιλειπόμενοι ἅμα σὺν αὐτοῖϛ ἁρπαγησόμεθα ἐν νεϕέλαιϛ εἰϛ ἀπάντησιν τοῦ κυρίου εἰϛ ἀέρα.). 122 So A. F. Segal, Paul, 35. 123 Vor dem Hintergrund von Vergleichsgrößen wie VitAd 37,3 ff. 40,1; ApkMos 7–8; 2 Hen 8,1– 9,1; 31,1 f.; 42,3 könnten beide Termini auf ein und dieselbe Erfahrung bezogen werden, insofern das Paradies im dritten Himmel verortet wird. Vgl. M. Hengel/A. M. Schwemer, Paulus, 356 f.; C. Böttrich, Henochbuch, 846–852.
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In Bezug auf eine Interpretation dieses Motivs gilt es zunächst festzuhalten, dass die von Paulus verwendete Formulierung einen Interpretationsfreiraum bietet, der unterschiedliche Deutungen ermöglicht124. Die Wendung ἃ οὐκ ἐξὸν ἀνθρώπῳ λαλῆσαι kann dahingehend interpretiert werden, dass es einem Menschen verboten ist, die während jener Erfahrungen vernommene Botschaft weiterzugeben. Dies würde einer Arkan-Disziplin entsprechen, welche in verschiedenen antiken Kulten und Schulbildungen praktiziert wurde. Dabei wurden die Mitglieder entsprechender Gemeinschaften dazu verpflichtet, zentrale Inhalte der Lehre einer Gruppierung nicht gegenüber Außenstehenden zu kommunizieren (vgl. z. B. entsprechende Instruktionen in verschiedenen Mysterien-Kulten und sogenannten gnostischen Gruppierungen)125. Gegen eine solche Deutung spricht freilich, dass die von Paulus in 2 Kor 12,2–4 verwendeten Begriffe und Motive nicht jenen antiken Mysterien-Kulten nahestehen, sondern frühjüdischen Traditionen, die auch für die religiöse Sozialisation des Paulus von Bedeutung waren126. Dies spricht eher dafür, dass die Wendung ἃ οὐκ ἐξὸν ἀνθρώπῳ λαλῆσαι zur Geltung bringen soll, dass es einem Mensch unmöglich ist, mit den ihm zur Verfügung stehenden Worten, Begriffen oder Metaphern jene himmlische Botschaft adäquat wiederzugeben. Doch auch unabhängig von der Frage einer religionshistorischen Zuordnung von 2 Kor 12,4 b kann ein Sachverhalt festgehalten werden, der für die Interpretation dieser Passage von zentraler Bedeutung ist: Paulus nimmt für sich in Anspruch, ‚Visionen und Offenbarungen des Herrn‘ (2 Kor 12,1 b) erfahren zu haben, deren Inhalte er nicht wiedergeben kann bzw. wiedergeben darf. Die Eigentümlichkeit dieses Aspektes wird im Kontrast zu den Erzählungen über die Lebenswende des Paulus deutlich, die in der Apostelgeschichte überliefert werden. Trotz aller Divergenz jener drei Varianten verfolgt der Verfasser des lukanischen Geschichtswerks jeweils die Aussageintention, dass der auferstandene 124 Zu konträren Deutungen dieses Motivs vgl. T. Heckel, Kraft 62. 125 Dieses Phänomen beschäftigt nicht nur gegenwärtige exegetische Diskussionen (zum Spektrum unterschiedlicher Deutungsansätze vgl. T. Schmeller, Korinther II, 288–299), sondern inspirierte bereits in der frühen Rezeptionsgeschichte des Textes unterschiedliche Versuche, jene argumentative Leerstelle für die Vermittlung eigener Aussageintentionen zu nutzen. Paradigmatisch hierfür ist die im Rahmen der Nag-Hammadi-Kodizes überlieferte koptisch-gnostische Paulusapokalypse (NHC V,2), die eine Affinität zur valentinianischen Theologie aufweist (zur religionsgeschichtlichen Verortung vgl. W. R. Murdock/G. W. MacRae, Apocalypse, 49; U.-K. Plisch, Apokalypse, 299 f.). Letztere rekurriert auf 2 Kor 12,2–4, um eine Lehre zu propagieren, welche nicht mehr der paulinischen Theologie entspricht, sondern einer gnostischen Reformulierung paulinischen Denkens. Dies veranschaulicht die von Tertullian formulierte These, wie Paulus zum haereticorum apostolus stilisiert wurde. Vgl. K. Koschorke, Paulus, 177 ff. Zu weiteren altkirchlichen Deutungen jener Leerstelle vgl. H. Knoblauch, Berichte, 42 ff.; C. Zaleski, Jenseitsvisionen, 42 ff. 126 So M. Hengel/A. M. Schwemer, Paulus, 356 Anm. 1466.
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Jesus selbst Paulus zu seinem Missionswerk beauftragt hat. Dies gilt sowohl für die Erzählungen von der sogenannten Damaskuserfahrung (Act 9,5 f.; 22,8– 10; 26,14–18), für die Instruktionen des Paulus durch einen gesetzesobservant lebenden Christen namens Hananias in Damaskus (Act 9,1–19; 22,12–16), als auch für die Erzählung von der Christus-Vision bzw. Ekstase des Paulus im Jerusalemer Tempel (Act 22,17–21)127. Auch wenn unklar ist, in welchem Verhältnis die in 2 Kor 12,1–5 angedeutete Erfahrung zur Lebenswende des Paulus steht, kann für die vorliegende Fragestellung festgehalten werden: Obwohl Paulus seinen Adressaten ankündigt, seine ‚Visionen und Offenbarungen des Herrn‘ (2 Kor 12,1 b) thematisieren zu wollen, kann er sie ihnen inhaltlich-sachlich nicht vermitteln (2 Kor 12,4 b). Dies ist jedoch nicht dahingehend zu interpretieren, dass Paulus entsprechende Himmelsreisen lediglich parodieren will128. Stattdessen scheint jene ‚unbeschreibliche Erfahrung‘ für seine persönliche und theologische Entwicklung von zentraler Bedeutung gewesen zu sein. Wenn Paulus in dem polemischen Gesamtkontext von 2 Kor 10–13 konkret auf diese Erfahrung zu sprechen kommt, so wirkt dies fast so, als wenn 2 Kor 12,1–5 für Paulus die eigentliche Berufungserfahrung kennzeichnet129. Dabei gilt es zu beachten, dass 2 Kor 12,1–5 nur auf den ersten Blick betrachtet eine singuläre Sonderstellung in den paulinischen Briefen einnimmt. Verschiedene Aspekte seiner Ausführungen, insbesondere das Motiv eines ‚Menschen in Christus‘ (2 Kor 12,2 a) stehen nämlich jenen Facetten paulinischer Theologie nahe, die in wissenschaftlicher Beschreibungssprache als ‚Christus-Mystik‘ bzw. als ‚mystisch-partizipatorische Aussagen‘130 bezeichnet werden können (ausführlich hierzu Arbeitsschritt 4.4). Doch was bedeutet dies für eine Interpretation dieses eigentümlichen Textes? Wie zuvor skizziert wurde, musste sich Paulus im Kontext von 2 Kor 10–13 gegen 127 Besondere Beachtung verdient der Sachverhalt, dass die von dem Verfasser der Apostelgeschichte in Act 22,17b verwendete Phrase γενέσθαι με ἐν ἐκστάσει inhaltlich-sachlich den für das Selbstverständnis des Paulus zentralen autobiographischen Angaben in Gal 1,15 f. entspricht, die man „mit gutem Recht als Anspielung auf eine Christusvision ekstatischer Natur interpretieren“ darf (so treffend C. Strecker, Theologie, 103 f.). Ähnlich K. Lehmkühler, Inhabitatio, 23 ff.; C. R. Campbell, Paul, passim; J. D. G. Dunn, Theology, 390 ff.; A. F. Segal, Paul, 34 ff.; M. Wolter, Paulus, 227–258. 128 Gegen u. a. B. Heininger, Visionär, 301: „Offenbar unter Einfluß von Gegnern, die sich selber ekstatischer Erfahrungen rühmen, fordern die Korinther von Paulus ‚Erscheinungen und Enthüllungen‘ ein (2 Kor 12,1), was die völlige Demontage dieser visionären Kommunikationstypen zur Folge hat: Himmelsreisen bringen nichts außer ‚unsagbaren Worten.‘“ 129 So als Gedankenimpuls formuliert von A. F. Segal, Paul, 36. Treffend resümiert H.-C. Meier, Mystik, 156: „Das Besondere der Entrückung besteht dabei nicht darin, daß Paulus eine spezielle Begabung zu außergewöhnlichen religiösen Erfahrungen hätte, sondern darin, daß Gott ihn dieser Heilserfahrung würdigt. Nicht auf seine eigenen mystischen Fähigkeiten beruft sich der Apostel, sondern auf das von ihm erfahrene Heilshandeln Gottes.“ 130 Vgl. M. Wolter, Paulus, 256. Zur Skizze entsprechender Motive op. cit., 227–258 etc.
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Infragestellungen seiner Person, seines Auftretens und der Berechtigung seiner Lehre verantworten. Dabei verweist er u. a. auf vermeintliche ‚Überapostel‘, welche die apostolische Autorität infrage stellen, die er für sich selbst in Anspruch nimmt. Wenn wiederum jene ‚Überapostel‘ die Apostel in Jerusalem waren131, lässt dies erkennen, dass in diesen Kontroversen die prinzipielle Berechtigung der paulinischen Theologie und Missionsarbeit kritisch hinterfragt wurde und dass sich sogar eine aktive Mission gegen Paulus ausgebildet hatte. Und ist angesichts einer solchen thematischen Brisanz eine Aussage wie 2 Kor 12,4 hilfreich, die streng genommen keinerlei inhaltlichsachliche Aussage bietet? Wie die Kontrahenten des Paulus und die weiteren Adressaten der Gemeinden in Korinth auf die Argumentation des Paulus reagiert haben, ist nicht explizit überliefert. Es kann jedoch festgehalten werden, dass die Kritik an Paulus durch 2 Kor 10–13 nicht verstummt ist. Judenchristliche Abgrenzungen gegenüber Paulus haben sich vielmehr in jüngeren Zeugnissen sogar zugespitzt132. Eine solche Polemik begleitete Paulus nicht nur während seiner weiteren missionarischen Aktivitäten, sondern sie prägten auch das facettenreiche Spektrum weiterer frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse133. Nur vor diesem Hintergrund können die harmonisierenden Züge der lukanischen Darstellung der Lebenswende des Paulus angemessen verstanden werden. Umso bedeutender ist es, die konträren Traditionen zur Lebenswende und zur Himmelsreise des Paulus aus unterschiedlichen Zugangsperspektiven zu profilieren, um so einen eigenständigen Interpretationsansatz begründen zu können. Dies soll in den beiden folgenden Arbeitsschritten erfolgen.
3. Unterschiedliche Zugangsperspektiven zur Lebenswende und Himmelsreise des Paulus In der Geschichte einer historisch-kritischen Auseinandersetzung mit dem frühen Christentum wurden verschiedene Zugangsperspektiven zu einem Verständnis und einer Interpretation der Lebenswende und Himmelsreise des Paulus herausgearbeitet. Im Folgenden sollen verschiedene Ansätze skizziert wer-
131 Zu weiteren Indizien einer aktiven judenchristlichen Mission gegen Paulus vgl. W. Wrede, Paulus, 39; U. Schnelle, Mission, 310 ff. Zu konträren Einschätzungen einer Identifikation jener ‚Überapostel‘ vgl. Kapitel 4; Anm. 100. 132 Ausführlich hierzu die Skizze der antipaulinischen Züge der sogenannten Pseudoclementinen, die in Kapitel 4; Arbeitsschritt 1.2.2 bzw. 1.2.3 dargelegt werden. 133 Zu den bis in das vierte bzw. fünfte Jahrhundert reichenden Spuren judenchristlicher Schulund Traditionsbildungen vgl. Kapitel 4; Anm. 88.
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den, deren wissenschaftstheoretische Prämissen und methodische Strukturen zuweilen markante Differenzen aufweisen können134. Religionsgeschichtliche Zugangsperspektiven werden u. a. von der Frage geleitet, inwieweit es in der Geschichte alttestamentlich-frühjüdischer Traditionsbildungen und ihrer altorientalischen und antik-mediterranen Umwelt Vergleichsgrößen gibt, welche für eine Deutung der Lebenswende des Paulus hilfreich sind bzw. welche den Selbstdeutungsprozess des Paulus geprägt haben könnten. Gleiches gilt für den Verfasser der Apostelgeschichte, der die ausführlichsten Traditionen zur Lebenswende des Paulus überliefert. Diesbezüglich kann z. B. auf Berufungs- und Konversionserzählungen verwiesen werden, die in unterschiedlichen Entwicklungsstadien kanonischer und außerkanonischer Traditionen begegnen. Im Bereich biblischer Traditionen sei exemplarisch auf die Erzählungen von den Berufungen des Mose (Ex 3,1–22) oder der Propheten Jesaja (Jes 6,1–13), Jeremia (Jer 1,4–10) und Ezechiel (Ez 1–3) verwiesen, in denen jeweils postuliert wird, dass aufgrund einer unmittelbaren Kommunikation mit einer göttlichen Sphäre die jeweiligen Personen zu konkreten Handlungen bzw. Verkündigungen beauftragt und bevollmächtigt wurden135. Religionsgeschichtlich betrachtet ist bemerkenswert, dass die bereits biblisch tradierten Traditionsbestände zu diesen Berufungsvorstellungen in außerkanonischen Zeugnissen oft nochmals ausgestaltet werden (vgl. u. a. die Rezeption der Motivik von Jes 6,1–10 in der ursprünglich jüdischen und später christlich überarbeiteten ‚Himmelfahrt des Jesaja‘ bzw. die Ausgestaltung der sogenannten ‚Josephsnovelle‘ [Gen 37–50] in der außerkanonischen Schrift Joseph und Asenath)136. Hinsichtlich der paulinischen Lebenswende kann konstatiert werden, dass Paulus in seinen autobiographischen Aussagen eine Motivik bemüht, die eine Affinität zur Berufung des Jeremia aufweist (Gal 1,13). Demgegenüber lässt der Verfasser des lukanischen Geschichtswerks Paulus in der ersten großen Rede, die er seinem Protagonisten in den Mund legt, einen selbstreferentiellen Bezug auf die Gottesknechtstraditionen formulieren (vgl. den Rekurs auf Jes 49,6 in Act 13,47)137. 134 Zur Skizze konträrer Zugangsperspektiven aus den Bereichen der Religionsgeschichte, Religionsphänomenologie, Religionspsychologie, Soziologie, Kulturanthropologie etc. vgl. B. Heininger, Visionär, passim; C. Strecker, Theologie, 83–156; B. Kollmann, Heidenmissionar, 88–91; I. Broer, Erscheinungen, 57–94; C. Dietzfelbinger, Berufung, passim; J. D. G. Dunn, Conversion, 77–93; M. Reichert, Erklärung, passim bzw. die instruktiven Beiträge des Sammelbandes R. N. Longenecker (Hg.), Damascus, passim. 135 Ausführlich hierzu E.-J. Waschke, Berufung II, 1347–1349; H.-W. Wolff, Gotteserfahrung, 25–38. 136 Grundlegend hierzu E. Norelli, Himmelfahrt, 75–89; A.-M. Schwemer, Erinnerung, 277–298; D. Sänger, Mysterien, 1 ff. 137 Zu diesen Bezügen zu Traditionen alttestamentlicher Prophetenberufungen vgl. M. Wolter, Paulus, 24 f.; J. Frey, Judentum, 24 f.; B. Kollmann, Heidenmissionar, 83.
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Eine entsprechende Nähe und gleichzeitige Differenz zu religionsgeschichtlichen Vergleichsgrößen tritt auch bei den autobiographischen Aussagen über die außerkörperliche Erfahrung und Himmelsreise des Paulus zutage. Auf den ersten Blick betrachtet lassen sich zu 2 Kor 12,1–5 viele Parallelen benennen. So sind z. B. die sogenannte Thronsaal-Vision des Jesaja und die Ezechiel zugeschriebene Gottesvision insofern zugleich Berufungserzählung und Himmelsreise, als dass die jeweils beschriebenen Motivbestände in religionsgeschichtlichen Vergleichsgrößen mit himmlischen Sphären verbunden werden (vgl. Jes 6,1–13; Ez 1,4 b–22). Diese bereits in biblischen Traditionen vorliegenden Motive werden in außerkanonischen Zeugnissen signifikant weiterentwickelt, so dass schließlich detaillierte himmlische Topographien entworfen werden138. Eindrückliche Beispiele hierfür begegnen u. a. im Bereich der sogenannten Henoch-Schriften. Letztere basieren auf der in Gen 5,21–24 überlieferten Legende, dass Henoch aufgrund seiner besonderen Gerechtigkeit von Gott entrückt worden sein soll. Dies prädestinierte jene Gestalt dazu, durch die außerkanonischen Henoch-Traditionen zu einem Offenbarungsmittler stilisiert zu werden, dem Himmelsreisen, Visionen und Auditionen zuteil wurden. Auf diese Weise soll Henoch als Übermittler einer Botschaft verstanden werden, welcher seinen Adressaten nicht nur detailliert eine himmlische Welt und Topographie beschreibt, sondern zugleich auch eine Einsicht in einen göttlichen Weltenplan eröffnet139. Ohne eine Kenntnis dieser Traditionen sind auch wesentliche Facetten frühchristlicher Vorstellungen nicht verständlich, die oftmals unmittelbar auf entsprechende Konzeptionen Bezug nehmen (dies zeigt sich u. a. an apokalyptischen Zügen der Botschaft Jesu [vgl. Mk 13* par.], verschiedenen Passagen der neutestamentlichen Briefliteratur [1 Thess 4,15–18; 1 Kor 15,23–28; 2 Petr 3,11–13; Jud 6.14] und vor allem auch an der Johannesoffenbarung140).
138 Grundlegend hierzu M. Himmelfarb, Ascent, passim. 139 Zur grundlegenden Bedeutung des äthiopischen Henochbuchs für die Entwicklungsgeschichte der alttestamentlich-frühjüdischen und frühchristlichen Apokalyptik, die erst durch die Entdeckungen der Qumran-Schriften angemessen erfasst werden konnte vgl. K. Koch, Vorgeschichte, 109–134, 116 ff.; F. Hahn, Apokalyptik, 47 ff.; G. W. E. Nickelsburg, Enoch, passim. 140 Dies gilt im Besonderen für viele Beschreibungen einer Himmelstopographie in der Johannesapokalypse, welche für heutige Leserinnen und Leser unverständlich bleiben, die jene Hintergründe nicht kennen. Ebenso sei auf das Phänomen verwiesen, dass im neutestamentlichen Judasbrief das Äthiopische Henochbuch als eine prophetische Schrift zitiert wird. Zur Rezeption von 1 Hen 60,3; 93,3 in Jud 14 vgl. H. Paulsen, Judasbrief, 74 f. Ein eindrückliches Beispiel für die frühchristliche Adaption jener alttestamentlich-frühjüdischen Vorstellungen verkörpern zudem die sukzessiv wachsenden Ebenen der Esra-Traditionen, die schließlich in einer christianisierten Gestalt auch in den lateinischen Kanon aufgenommen wurden. Ausführlich hierzu M. E. Stone, Fourth Ezra, 1–9; J. Schreiner, Esra, 291 f. bzw. 297–301; F. Hahn, Apokalyptik, passim.
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Vor dem Hintergrund der angesprochenen Vergleichsgrößen kann ein Text wie 2 Kor 2,1–5 z. B. kategorisiert werden als „Kommunikationsstruktur Traum bzw. Nachtgesicht“141, „an apocalyse, a relevation“142, als „vorzeitiger Anteil an der himmlischen Welt“143 oder als „paradigmatisches Erlebnis“144, welches dem Vorbild frühjüdischer Himmelsreisen folgend Paulus legitimieren soll. Vor dem Hintergrund solcher religionsgeschichtlichen Vergleichsgrößen ergeben sich auch unterschiedliche Möglichkeiten einer Zuordnung des in 2 Kor 12,2 erwähnten Terminus ‚dritter Himmel‘ und dem in 2 Kor 12,4 erwähnten ‚Paradies‘, also z. B. im Sinne einer Verortung des ‚Paradieses‘ im ‚dritten Himmel‘ bzw. im Sinne einer Differenzierung unterschiedlicher Etappen einer Himmelsreise145. Gleichwohl hat eine Auseinandersetzung mit dem facettenreichen S pektrum religionsgeschichtlicher Vergleichsgrößen zur paulinischen Lebenswende und Himmelsreise vor allem eine indirekte Funktion. Im Kontrast zu jenen Berufungserzählungen und Himmelsreisen wirken die paulinischen Ausführungen extrem zurückhaltend. Dies gilt bereits für jene autobiographische Aussage zur Lebenswende des Paulus, in welcher er nur marginal andeutet, dass ‚Gott seinen Sohn ihm (bzw. ‚in ihm‘) offenbart habe‘ (vgl. Gal 1,15 f.). Noch deutlicher tritt diese Diskrepanz jedoch bei den autobiographischen Aussagen über die außerkörperliche Erfahrung und Himmelsreise des Paulus zutage. Obwohl Paulus z. B. von seiner Reise zum dritten Himmel bzw. zum Paradies spricht und damit entsprechende Assoziation bei seinen Lesern evozieren kann, konstatiert er nur lakonisch, dass er unaussprechliche Worte gehört habe, die er nicht wiedergeben kann. Vor dem Hintergrund religionsgeschichtlicher Vergleichsgrößen wird somit deutlich, wie sehr die Aussagen des Paulus aus jenem religionsgeschichtlichen Bezugsrahmen fallen, der ihm als pharisäisch ausgebildeter Schriftgelehrter sicherlich bekannt war. Angesichts dessen gilt es neben religionsgeschichtlichen Bezugsgrößen auch religionsphänomenologische Zugangsperspektiven zu beachten. Im Kontext religionshistorischer Zugangsperspektiven zur Lebenswende des Paulus stehen zumeist Vergleichsgrößen im Vordergrund des Interesses, bei denen ein historisch-genetisches Verhältnis der jeweiligen Traditionen gegeben zu sein scheint. So ist es z. B. im hohen Maße wahrscheinlich, dass ein pha141 Vgl. B. Heininger, Visionär, 245. 142 Vgl. A. F. Segal, Paul, 35. 143 T. Schmeller, Korinther II, 327. 144 Vgl. T. Heckel, Kraft, 56. 145 Zu entsprechenden Zuordnungen vgl. B. Heininger, Visionär, 250–252. Zu möglichen Vergleichsgrößen wie VitAd 37,3 ff. 40,1; ApkMos 7–8; 2Hen 8,1–9,1; 31,1 f.; 42,3 vgl. M. Hengel/A. M. Schwemer, Paulus, 356 f.
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risäisch gebildeter Schriftgelehrter wie Paulus die skizzierten Bezugsgrößen aus alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen kannte und so seine eigenen Erfahrungen vor dem Hintergrund seiner religionssoziologischen Prägung zu reflektieren versuchte. Dies unterscheidet religionshistorische Zugangsperspektiven zur paulinischen Lebenswende von religionsphänomenologischen Zugangsperspektiven. Ein Leitgedanke der zuweilen sehr heterodoxen Konzepte einer Religionsphänomenologie besteht darin, religiöse Phänomene miteinander zu vergleichen, die in völlig konträren geographischen, chronologischen und kulturellen Kontexten entstanden sind146. Auch wenn historisch-genetische Abhängigkeitsverhältnisse nicht gegeben sind, gelte es zu fragen, inwieweit die unterschiedlichen religiösen Phänomene in Bezug auf inhaltlich-sachliche oder funktionale Dimensionen miteinander vergleichbar sind. Im Hintergrund derartiger Vergleiche steht oft die Frage, inwieweit menschliche Individuen oder religiöse Gemeinschaften in konträren geographischen, chronologischen und kulturellen Kontexten Erfahrungen machen, die im Kern miteinander vergleichbar sind und bei denen lediglich die kulturell bedingten Deutungen bzw. Versprachlichungen Differenzen zutage treten lassen. Im Zeichen einer solchen Zugangsperspektive wurde versucht, die paulinische Lebenswende bzw. Himmelsreise mit zuweilen völlig konträren Phänomenen zu vergleichen, z. B. mit mystischen Traditionen unterschiedlicher Provenienz, mit indo-iranischen Konzepten, mit gnostischen Traditionen etc.147 Für die vorliegende Fragestellung sind religionsphänomenologische Zugangsperspektiven von Relevanz, insofern sie einen Vergleich der paulinischen Traditionen mit mystischen Traditionen ermöglichen, die in verschiedensten Zusammenhängen vorkommen. Dies gilt im Besonderen für die Kernthese der Erzählung von der außerkörperlichen Erfahrung bzw. Himmelsreise des 146 Zur Geschichte und Struktur entsprechender Ansätze vgl. F. Stolz, Religionswissenschaft, 223 ff. 147 In Bezug auf die vorliegende Fragestellung ist bemerkenswert, dass z. B. R. Otto, Das Heilige, 105 f. die – eigentlich wohl deuteropaulinische – Gottesprädikation 1 Tim 6,16 (‚… Gott wohnt in einem Licht, zu dem keiner kommen kann …‘) als zentrales Fundament der paulinischen Lebenswende und der sich daraus entwickelnden Religiosität erachtet: „Das Überschwengliche des Gottesbegriffs und Gottesgefühls führt bei ihm zu mystischem Erleben. Es lebt überhaupt bei ihm in den Gefühlen allgemeiner enthusiastischer Hochgestimmtheit und in seinem pneumatischen Wortgebrauch, die beide weit hinausliegen über die nur rationale Seite der christlichen Frömmigkeit. Diese Katastrofen und Peripetien des Gefühlslebens, diese Tragik von Sünde und Schuld, diese Glut beseligenden Erlebens ist nur auf numinosem Boden möglich und verständlich“. Zur Kritik einer solchen Paulus-Deutung vgl. u. a. R. Feldmeier, Heilige, 84 ff., der gegenüber Rudolf Otto zu Recht kritisch anmerkt, dass im Zeichen einer an mystischen Traditionen orientierten Zugangsperspektive wesentliche Aspekte der paulinische Theologie marginalisiert werden, u. a. der Umgang mit dem Christus-Begriff, die Sühne-Kult-Terminologie etc. Zu weiteren entsprechenden religionsphänomenologischen Ansätzen vgl. T. Widengren, Religionsphänomenologie, 112 f.; P Schüz, Mysterium, passim.
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Paulus, der zufolge die dabei vernommenen Worte für Menschen unaussprechlich sind (vgl. 2 Kor 12,4b)148. Dabei gilt es jedoch hervorzuheben, dass gerade dieses Detail offensichtlich nicht aus dem Kontext des christlichen Umfeldes heraus erklärt werden kann, in welches Paulus sukzessive hineingewachsen ist. Stattdessen bezieht sich die vor allem in außerkanonischen Zeugnissen überlieferte Kritik an Paulus speziell auf dessen Selbstanspruch, aufgrund von ‚Gesichten‘ und ‚Visionen‘ zu seiner Lehre beauftragt worden zu sein (vgl. u. a. Hom 17,19,1 f.: „Selbst wenn dir also unser Jesus in einem Gesicht erschienen und bekannt geworden ist, dann ist er [mit dir] wie mit einem Widersacher im Zorn zusammengetroffen. Deshalb sprach er durch Visionen und Traumbilder oder auch durch Offenbarungen, die von außen kommen. 19,2 Ob aber jemand aufgrund einer Erscheinung zur Lehre befähigt werden kann?“; ausführlich hierzu s. u. 1.5.3)149. Religionsgeschichtlich und religionsphänomenologisch weist 2 Kor 12,1–5 somit eine große Nähe zu mystischen Traditionen auf, ohne dass dies als ein Widerspruch zu den ohne Zweifel ebenfalls gegebenen jüdisch-apokalyptischen Prägungen der Religiosität des Paulus verstanden werden muss150. Dieser Aspekt veranschaulicht zugleich den spezifischen Interpretationsansatz der vorliegenden Studie. Die Affinität zwischen mystischen Traditionen und sogenannten Nahtoderfahrungen ist schon vielfach hervorgehoben worden151. Angesichts dessen ist es nur konsequent, wenn das facettenreiche Spektrum der Deutungsversuche zur paulinischen Lebenswende und Himmelsreise durch die Frage ergänzt und bereichert wird, ob dieses Motiv eine Affinität zu Nahtoderfahrungen aufweist (dies gilt besonders für das Motiv einer Unbeschreiblichkeit jener Erfahrungen; vgl. 1.6). Eine solche religionsphänomenologische 148 So erkennt u. a. R. v. Bendemann, Christusgemeinschaft, 308 hierin „einen Ausdruck der Hoheitlichkeit und Andersartigkeit himmlischen Wortgeschehens“, der in verschiedenen Formen mystischer Erfahrungsfrömmigkeit zum Ausdruck gebracht wird. Ähnlich urteilen u. a. C. Rowland/C. Morray-Jones, Mystery, 137–141; M. Wolter, Paulus, 256; K. Lehmkühler, Inhabitatio, 23 ff.; C. R. Campbell, Paul, passim; J. D. G. Dunn, Theology, 390 ff.; A. F. Segal, Paul, 34 ff. etc. 149 Gegen u. a. A. F. Segal, Paul, 11: „We know that converts learn the meaning of their experience in their new community. This appears to be true of Paul’s mysticism as well. He may have learned about ecstatic experience as a Pharisee or merely known about them generally from his Jewish background. He may also have learned about them in Christianity (…).“ 150 Bemerkenswerterweise wird diese gleichzeitige Affinität zur frühjüdischen Apokalyptik und zu verschiedenen mystischen Traditionen vor allem durch den jüdischen Paulus-Forscher Alan F. Segal mit Nachdruck hervorgehoben, der vor allem eine Vergleichbarkeit mit der Merkabah-Mystik beobachtet: „Paul is a mystic. (…) Mysticism in first-century Judea was apocalyptic, revealing not meditative truth of the universe but the disturbing news that God was about to bring judgement. Paul is a first-century Jewish apocalypticist, and as such, he was also a mystic.“ (A. F. Segal, Paul, 34). Ähnlich D. Marguerat, Paul, 307–329; M. N. March, Near-Death-Experiences, 190 ff.; H.-C. Meier, Mystik, 274–298. 151 Zu entsprechenden Einschätzungen vgl. die Angaben in Kapitel 2; Arbeitsschritt 2.9.
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Zugangsperspektive impliziert jedoch auch eine religionspsychologische Dimension, die nun ihrerseits erläutert werden soll. Ebenso wie die Religionsphänomenologie kann auch die Religionspsychologie als eine Forschungsrichtung charakterisiert werden, die in sehr unterschiedlicher Weise betrieben wurde bzw. wird und die sich nach wie vor mit vielen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Anfragen konfrontiert sieht152. Gleichwohl gibt es in der Geschichte der Ausbildung einer historisch-kritischen Exegese eine Vielzahl konträrer Ansätze, die Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums aus einer psychologischen bzw. speziell religionspsychologischen Zugangsperspektive zu betrachten und zu deuten153. Unabhängig von der Frage der methodischen und wissenschaftstheoretischen Probleme derartiger Ansätze kann in Bezug auf die vorliegende Fragestellung konstatiert werden, dass auch die Lebenswende und Himmelsreise des Paulus vielfach aus einer solchen Perspektive betrachtet wurden154. Diesem Phänomen entspricht es, dass beide Phänomene auch außerhalb der biblisch-exegetischen Fachdisziplin oftmals als markante Beispiele für religionspsychologische Diskurse gewählt wurden155. Die paulinischen Zeugnisse und die biographischen Traditionen über Paulus bieten eine Vielzahl von Ansatzmöglichkeiten für entsprechende Überlegungen. So können z. B. größere Argumentationszusammenhänge der paulinischen Briefe daraufhin analysiert werden, inwiefern sie eine religionspsychologische Einschätzung jener Lebenswende ermöglichen. So wurde unter anderem ein Text wie Röm 7,7–25a, der „ohne Zweifel zu den
152 Zur Geschichte und zum Spektrum unterschiedlicher Ansätze vgl. J. A. v. Belzen, Religionspsychologie, 3 ff.; H.-J. Hemminger, Religionspsychologie, 9–34. 153 Zur Forschungsgeschichte und zu den Potenzialen und methodischen Problemen solcher Ansätze vgl. G. Theißen, Verhalten, 15–48. Treffend formuliert B. Kollmann, Heidenmissionar, 89, dass entsprechende „Ansätze zeigen, dass sich über die seelische Verfassung des Christenverfolgers Paulus viel spekulieren, aber wenig Zuverlässiges sagen lässt. Grundsätzlich können tiefenpsychologische Erwägungen zu einem besseren Verständnis der radikalen Wende im Leben des Paulus beitragen, zumal sich diese nicht allein auf der kognitiven Ebene abspielte. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit das Quellenmaterial belastbare Aussagen über die psychischen Abläufe beim Damaskusgeschehen zulässt.“ Ähnlich M. Wolter, Paulus, 26 f. 154 Die Anfänge einer solchen Zugangsperspektive lassen sich bereits bei David Friedrich Strauß beobachten. Zur forschungsgeschichtlichen Skizze entsprechender Ansätze vgl. M. Reichardt, Erklärung, 17–88. 155 So kann der für die vorliegende Studie in hohem Maße relevante William James als einer der Gründerväter der Religionspsychologie hervorheben, dass für religiöse Transformationserfahrungen „das berühmteste Beispiel der heilige Paulus“ ist (W. James, Erfahrung, 234). Zu entsprechenden Ansätzen im Werk von Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Erik H. Erikson, Otto Pfister u. a. vgl. B. Kollmann, Heidenmissionar, 88 f.; H.-J. Hemminger, Religionspsychologie, 166 bzw. 192; J. A. v. Belzen, Religionspsychologie, 60 etc.
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schwierigsten Abschnitten des Römerbriefs wie der Paulusbriefe überhaupt“156 gehört, als eine indirekte Selbstreflexion des Paulus gedeutet, der seine unterschiedlichen Haltungen zur Observanz des jüdischen Gesetzes voneinander zu unterscheiden und zu begründen versucht157. In vielen derartigen Konzepten einer Deutung der Lebenswende des Paulus wird postuliert, dass Paulus bereits während seiner Lebensphase als radikaler Christenverfolger eine unterbewusste und verdrängte Sympathie zur Botschaft Jesu und zum Ethos seiner Nachfolger hatte, die sich erst voll entfalten konnte, als er sich auf dem Weg nach Damaskus und somit nicht mehr in seinem angestammten religionssoziologischen Umfeld befand158. Doch auch wenn derartige Erklärungsansätze den Diskussionen zu einer Deutung der Lebenswende des Paulus wertvolle Impulse geben können, so wird in ihnen ein Aspekt nicht angemessen zur Geltung gebracht: Das Welt- und Menschenbild, welches Paulus nach seiner Lebenswende propagierte, unterscheidet sich nicht nur von seiner jüdisch-pharisäischen Weltsicht. Es unterscheidet sich in wesentlichen Aspekten auch von der Lehre jener Autoritäten, die bereits vor und auch weiterhin nach der Lebenswende des Paulus die Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums wesentlich prägten (ausführlich hierzu Kapitel 4; Arbeitsschritt 1.5.3). Mit anderen Worten: Wenn Paulus eine subtile und verdrängte Sympathie zur Botschaft Jesu und der Lehre seiner Nachfolger hatte, warum wird ihm dann von eben jenen Nachfolgern Jesu vorgeworfen, die Botschaft Jesu zu verfälschen? Wenn man sich diesen Aspekten der Lebenswende und der Lehre des Paulus aus einer religionspsychologischen Perspektive nähern will, so gilt es sich jene zentrale Einsicht eines der Gründerväter der Religionspsychologie zu vergegenwärtigen, die bereits in den einleitungswissenschaftlichen Vorüberlegungen der vorliegenden Stu156 So zu Recht O. Hofius, Mensch, 104; entsprechend S. Krauter, Perspektiven, passim; L. Scornaienchi, Sarx, 298–332, H. Lichtenberger, Menschheit, 136 ff. 157 Vgl. G. Theißen, Aspekte, 236 f.: „Phil 3,4–6 gibt das Bewusstsein des vorchristlichen Paulus wieder, Röm 7 schildert dagegen einen damals unbewussten Konflikt, der Paulus erst später bewusst geworden ist.“ Ausführlich zu entsprechenden Ansätzen M. Reichhardt, Erklärung, passim. 158 So attestiert z. B. G. Lüdemann, Auferstehung, 111 Paulus einen „Christuskomplex“, der durch Begegnungen mit den von ihm verfolgten Nachfolgern Jesu zugespitzt wurde: „Er wollte sich seiner durch externe Bekämpfung entledigen. Das wurde ihm ‚zum Verhängnis‘. Aus Saulus wurde Paulus.“ In Bezug auf die zuletzt genannte Einschätzung sei freilich etwas angemerkt, was dem zitierten Autoren sicherlich bewusst ist, aber wohl kaum allen Leserinnen und Lesern der vorliegenden Zeilen: Die sprichwörtliche Wendung ‚vom Saulus zu Paulus‘ ist eine leider kaum zu überwindende Fehleinschätzung. Vgl. die treffende Formulierung von B. Kollmann, Heidenmissionar, 80: „Der Apostel trug zeitlebens beide Namen und in der Apostelgeschichte wird nicht etwa nach dem Damaskuserlebnis, sondern während der Zypernmission aus darstellerischen Gründen ein Namenswechsel vollzogen (Apg 13,9).“ Zu den unterschiedlichen Hintergründen der Namen ‚Paulus‘ und ‚Saulus‘ vgl. J. Frey, Judentum, 7.
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die angesprochen wurde. William James zufolge gilt es nicht nur zu beachten, welche subjektiven Erfahrungen Menschen für sich in Anspruch nehmen. Entscheidend sei, welche Konsequenzen dieselben nach sich ziehen. Es geht also um die Frage, ob und wenn wie sich eine Existenz nach einer Erfahrung transformiert. Niemand anderes als Paulus ist William James zufolge für eine solche religiöse Transformationserfahrung „das berühmteste Beispiel“159. Aus diesen Aspekten kann eine Frage abgeleitet werden, die konsequent zum nächsten Arbeitsschritt überleitet. Die Frage ist, ob es für die Transformationen, die das Welt- und Menschenbild des Paulus erfährt, vergleichbare Phänomene gibt? Auf diese Weise entwickelt der weitere Gang der Argumentationen eine neue Perspektive, welche als eine Variation und Vermittlung der zuvor skizzierten Zugänge zur Lebenswende des Paulus verstanden werden kann. Es soll nämlich gefragt werden, wieweit die Transformationen, die Menschen heutzutage infolge von sogenannten Nahtoderfahrungen oder – um es mit der Terminologie der vorliegenden Studie zu sagen – infolge von ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ durchleben, mit jenen Transformationen vergleichbar sind, welche die Lebenswende des Paulus für dessen Welt- und Menschenbild nach sich gezogen hat.
4. Die Lebenswende des Paulus als Transformationserfahrung infolge einer Erfahrung göttlicher Liebe‘ Im vorhergehenden Arbeitsschritt wurde erläutert, inwiefern religionsgeschichtliche Vergleichsgrößen die Spezifität der Traditionen zur Lebenswende und zur Himmelsreise des Paulus nur unzureichend erklären können und inwiefern es von Relevanz ist, auch religionsphänomenologische und religionspsychologische Zugangsperspektiven in die Diskussion einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden erörtert werden, inwieweit die Transformationen, die Menschen heutzutage infolge von sogenannten Nahtoderfahrungen oder – um es mit der Terminologie der vorliegenden Studie zu sagen – infolge von ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ durchleben, mit jenen Transformationen vergleichbar sind, welche die Lebenswende des Paulus für dessen Welt- und Menschenbild nach sich gezogen haben. Dies wird zunächst an vier Aspekten erläutert, nämlich an den Modifikationen, welche die Religiosität des Paulus infolge seiner Lebens159 Vgl. W. James, Erfahrung, 234 (zum Begriff ‚Transformationserfahrung‘ vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 2.2). Dies entspricht auch den themenspezifisch relevanten soziologischen Zugangsperspektiven von P. Berger/T. Luckmann, Konstruktion, 168–170, welche nicht nur die Aussagen über die Lebenswende des Paulus fokussieren, sondern vor allem die konkreten ethischen und gesellschaftlichen Folgen, die durch seine Theologie und Missionsarbeit bewirkt werden.
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wende erkennen lassen (4.1), an den universalen Dimensionen der paulinischen Eschatologie (4.2), an der zentralen Bedeutung, welche der Begriff Liebe in der paulinischen Ethik und Theologie einnimmt (4.3) und an jenen Facetten paulinischer Theologie, die in wissenschaftlicher Beschreibungssprache als ‚Christus-Mystik‘, ‚Christus-Teilhabe‘ bzw. als ‚mystisch-partizipatorische Aussagen‘ bezeichnet werden können (4.4). Vor diesem Hintergrund wird die oftmals postulierte Unbeschreiblichkeit von Nahtoderfahrungen zu zwei zentralen Aspekten der zuvor erörterten paulinischen Vorstellungen in Beziehung gesetzt, nämlich zu den Thesen, dass die vorfindliche menschliche Existenz nur ‚durch einen Spiegel in einem Rätsel‘ (1 Kor 13,12 a) wahrgenommen werden kann und dass die Botschaft jener Himmelsreise des Paulus aus ‚unaussprechlichen Worten‘ (2 Kor 12,4) bestand (4.5). 4.1 Modifikationen der Religiosität des Paulus Die Lebenswende des Paulus zieht Modifikationen seiner Religiosität nach sich, die religionsgeschichtlich betrachtet nahezu analogielos sind. Wie andere pharisäische Gelehrte und Gemeinschaften seiner Zeit war Paulus vor seiner Lebenswende darauf bedacht, eine orthodoxe Observanz jüdischer Religiosität zu praktizieren und gegen Verfälschungen abzugrenzen160. Es war für ihn ein rechtmäßiger Ausdruck seiner Religiosität, Verstöße gegen jüdische Kult- und Lebenspraxis zu verfolgen und gegebenenfalls bis hin zur Todesstrafe zu sanktionieren (vgl. die autobiographischen Aussagen Gal 1,13 f.; Phil 3,4 b–6 mit der lukanischen Erzählung von der Hinrichtung des Stephanus [Act 7,54–8,1] bzw. über die Verfolgungstätigkeit des Paulus [Act 9,1 f.; 22,4 f.19 f.; 26,9–12]). Genau diese Religiosität stellt Paulus nach seiner Lebenswende jedoch in einer Radikalität in Frage, welche die Grenzen ‚politischer Korrektheit‘ und eines guten Geschmacks zuweilen deutlich überschreitet (vgl. die despektierlichen Aussagen über die Beschneidung in Gal 5,12; Phil 3,2 und die völlig taktlose Fäkalsprache in Phil 3,8)161. Die Eigentümlichkeit dieser Modifikationen tritt noch deutlicher zutage, wenn bedacht wird, dass dieselben weder aus der Botschaft Jesu noch aus dem ‚vorpaulinischen Christentum‘162 bzw. dem Judenchristentum heraus
160 Zu den Problemen einer Rekonstruktion theologischer Konzeptionen des Pharisäismus zur Lebenszeit des Paulus vgl. J. Frey, Judentum, 16–24; R. Deines, Pharisäer, 534 ff.; P. Schäfer, Pharisäismus, 125–172. 161 Dabei gilt es zu beachten, dass die meisten deutschen Übersetzungen die derbe Wortwahl des Paulus in Phil 3,8 nicht angemessen, sondern nur abmildernd wiedergeben. 162 Zur Gefahr eines anachronistischen Missverständnisses des Begriffs ‚vorpaulinisches Christentum‘ s. o. Kapitel 4; Anm. 12.
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum frühen Christentum
abgeleitet werden können163. Aus historisch-kritischer Perspektive betrachtet kann die Botschaft Jesu und das früheste, vorpaulinische Christentum vielmehr zunächst als eine innerjüdische Erneuerungsbewegung gedeutet werden. Eine prinzipielle Infragestellung jüdischer Religiosität bzw. Thoraobservanz kann in frühen Jesus-Traditionen noch nicht beobachtet werden164. Diesem Phänomen entspricht es, dass Jesus mit seiner Botschaft seine jüdischen Mitmenschen erreichen wollte (vgl. Mt 15,25; Mk 7,27). Auch die überlieferten Angaben zu den regionalen Gebieten und Zielen der Wandermission Jesu bringen zur Geltung, dass Jesus vor allem jüdisch geprägte Dörfer aufsuchte und Zentren hellenistisch-römischer Kultur wie Cäsarea Maritima, Tiberias, Sepphoris etc. mied. Entsprechend soll Jesus den Aussendungsinstruktionen Mt 10,5 f. zufolge seinen Nachfolgern explizit verboten haben, nicht-jüdisch geprägte Städte bzw. Siedlungen aufzusuchen. Sie sollten stattdessen nur ‚die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel‘ missionieren165. Derartige Einschränkungen der Missionsinstruktionen können nur im Zeichen einer akuten Naherwartung unmittelbar bevorstehender Endzeitereignisse verstanden werden (zu den u. a. in Mt 10,23; Mk 13,24–27.30 f. dokumentierten Erwartungen Jesu s. u. Kapitel 4.2). Diesem Phänomen entspricht es, wie der Autor der Apostelgeschichte die Anfänge der nachösterlichen Jesusbewegung in Jerusalem darstellt. Er hebt hervor, dass die Gemeinschaft der Nachfolger Jesu sich regelmäßig im Tempel traf166. Entsprechend wird der Tempel auch als ein Ort dargestellt, wo jene Mitglieder der innerjüdischen Erneuerungsbewegung, die sich später Christen nannten bzw. 163 Dieser Sachverhalt kann an einer Einschätzung erläutert werden, die z. B. von M. Wolter, Paulus, 27 zunächst völlig zu Recht formuliert wird: „Die aus dem visionären Erlebnis erschlossene Auferweckung und Erhöhung Jesu musste Paulus zu der Gewissheit führen, dass Gott nicht nur Jesus von Nazareth und dessen Anspruch ins Recht gesetzt, sondern sich auch auf die Seite jener jüdischen Jesusanhänger gestellt hat, die der für die Heiligkeit eifernde Pharisäer eben darum verfolgt hatte, weil sie seiner Meinung nach die Bindung an diesen Jesus der Loyalität gegenüber der Heiligkeit Israels vorgeordnet hatten.“ Warum aber die paulinische Theologie nicht einfach als eine Fortsetzung der Botschaft Jesu bzw. ‚jener jüdischen Jesusanhänger‘ verstanden werden kann bzw. warum Paulus mit dieser Botschaft sogar in Konflikt gerät, wird oft nur unzureichend reflektiert (vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 4; Arbeitsschritte 1.2.2–1.2.4). 164 Dies gilt auch für jene Überlieferungen, denen zufolge Jesus z. B. mit zeitgenössischen Speise- oder Sabbatgeboten in Konflikt geraten sein soll (Mk 2,23–3,6 par.). Zu entsprechenden Zügen einer „Thoraverschärfung und Thoraentschärfung“ in den synoptischen Jesus-Überlieferungen vgl. G. Theißen/A. Merz, Jesus, 321 ff. 165 Die universalen Dimensionen des Missionsauftrags Mt 28,16–20 können demgegenüber als eine verhältnismäßig junge Tradition verstanden werden, die bereits fortgeschrittene Entwicklungsstadien des frühen Christentums widerspiegelt. Vgl. M. Konradt, Israel, 286 ff. 166 Zur Haltung Jesu und der frühen Christen zum Jerusalemer Tempel bzw. zum Tempelkult vgl. E. E. Popkes, Haltung, passim; J. Ådna, Tempel, passim; K. Paesler, Tempelwort, passim; G. Theißen, Tempelweissagung, 142–159.
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genannt wurden, durch Heilungen und Predigten ihre neuen Glaubensüberzeugungen propagierten (vgl. u. a. Apg 3,1–26 etc.). Erst aufgrund von Spannungen zwischen den Nachfolgern Jesu und den Vertretern der etablierten religiösen Autoritäten tritt die Bedeutung des Jerusalemer Tempels in den Hintergrund und es kommt zur Ausbildung eigenständiger Hausgemeindestrukturen167. Die prinzipielle Bedeutung des Tempels wird jedoch auch weiterhin nicht in Frage gestellt. Selbst Paulus besucht bei seinem letzten Aufenthalt in Jerusalem den Tempel, nachdem er von dem Herrenbruder Jakobus instruiert wurde, die Einhaltung eines Gelübdes von Mitgliedern der Jerusalemer Gemeinde zu observieren (Apg 21,23 f.). Auch diese Instruktionen setzen eine prinzipiell positive Haltung zum Tempel voraus168. Wie sehr demgegenüber die Frage der Einbeziehung nicht-jüdischer Menschen in den frühesten Gemeinden und Lehrbildungen umstritten war, wird eindrücklich durch die lukanische Erzählung über einen Hauptmann Cornelius zur Geltung gebracht, der zwar mit dem Judentum sympathisiert haben soll, aber selbst kein gebürtiger Jude war (Act 10,1–11,18). Diese Erzählung weist inhaltlich-sachlich und formal betrachtet deutliche Analogien zu den lukanischen Erzählungen von der Lebenswende des Paulus auf. Beide Traditionen stimmen in der Aussage überein, dass die Ausweitung der christlichen Botschaft auf nicht-jüdische Menschen durch eine unmittelbare Intervention himmlischer Instanzen legitimiert wird. Oder um die Kernaussage der lukanischen Erzählung frei zu formulieren: Frühchristliche Autoritäten wie Petrus (Act 10,14) und führende Vertreter der Jerusalemer Gemeinden (Act 11,1–3) müssen durch himmlische Interventionen in Gestalt einer dreimalig sich wiederholenden Vision samt einer Instruktion durch eine unmittelbare Audition des (heiligen) Geistes (Act 10,13–16; 44 f.; 11,7.12.17 f.) dazu genötigt werden, auch nicht-jüdische Menschen in das entstehende Christentum zu integrieren (Act 10,47 f.; 11,18). Ebenso wie bei den Varianten zur paulinischen Lebenswende werden auch in der Erzählung vom Hauptmann Cornelius jene ‚himmlischen Interventionen‘ nahezu wortgleich mehrfach erzählt bzw. rekapituliert. Ferner wird sowohl in Bezug auf Petrus als auch in Bezug auf Paulus von einer ‚Ekstase‘ gesprochen, welche mit jener Beauftragung einherging (Act 11,5; 22,17)169. Doch selbst wenn die literarischen Stilisierungen in Act 10,1–11,18 historische Begebenheiten widerspiegeln sollten, in denen judenchristliche Gemeinschaften sich gegenüber ihrer nicht-jüdischen Umwelt geöffnet haben, so wird erst durch die paulinische Lehre und Missionstätigkeit programmatisch eine 167 Zu diesen Entwicklungen vgl. P. Wick, Gottesdienste, 52. 168 Zu den dabei formulierten Instruktionen vgl. J. Jervell, Apostelgeschichte, 526 f. 169 Bemerkenswerterweise wird jedoch nur in den Erzählungen von der Lebenswende des Paulus von einem unmittelbaren Handeln des auferstandenen Jesus gesprochen.
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grundlegende Relativierung religiöser und ethnischer Grenzen vollzogen, welche einer „Vision radikaler Egalität“170 nahekommt (vgl. Gal 3,27 f.). Dabei verwendet Paulus eine Terminologie und Metaphorik, welche ihm aus seiner jüdisch-pharisäischen Sozialisation vertraut war, um seiner neuen Religiosität eine angemessene Versprachlichung zu vermitteln. So bezeichnet er z. B. in einer am Jerusalemer Tempelkult orientierten Metaphorik christliche Gemeinden als ‚Tempel Gottes‘ (2 Kor 6,16), einen ‚an Vernunft orientierten Gottesdienst‘ als ein ‚lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer‘ (Röm 12,1) und kontrastiert die ‚Beschneidung des Fleisches‘ mit der ‚Beschneidung des Herzens‘ (Röm 2,25–29)171. Doch Paulus relativiert nicht nur religiöse und ethnische Grenzen, sondern auch gesellschaftliche Gegebenheiten, die in seiner Zeit als selbstverständlich angesehen wurden (vgl. die Implikationen von Gal 3,28 in Bezug auf die Geschlechterdifferenz und die Kontrastierung von Sklavenhaltern und Sklaven). Die Eigentümlichkeiten derartiger Modifikationen der Religiosität des Paulus treten noch deutlicher zutage, wenn sie mit den universalen Dimensionen der paulinischen Eschatologie in Beziehung gesetzt werden. 4.2 Die universalen Dimensionen paulinischer Eschatologie Wie sehr sich die religiösen Hoffnungen des Paulus im Zuge seiner Lebenswende modifizieren, tritt eindrücklich an den kosmologischen Dimensionen seiner Eschatologie zutage. Die ältesten Aussagen, die von Paulus zu diesem Themenfeld überliefert sind, stehen noch stark jener Naherwartung nahe, die sich in den entsprechenden Jesus-Überlieferungen beobachten lassen172. Demnach war die Botschaft Jesu von der Erwartung geprägt, dass apokalyptische Ereignisse die bestehenden Weltverhältnisse in nächstliegender Zukunft grundlegend verändern sollten. Alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen entsprechend erwartete Jesus offensichtlich das unmittelbar bevorstehende Kommen einer eschatologischen Rettergestalt, die in Rekurs auf Dan 7,12 f. und entsprechenden
170 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Brennpunkt, 184. Zur Frage, in welchem Maß Gal 3,27 f. als eine genuin paulinische Aussage, eine Taufformel oder als „eine Art Merksatz der urchristlichen Überlieferung“ (so W. Klaiber, Galaterbrief, 119) verstanden werden kann, vgl. S. Petersen, Geschlechterdifferenz, 84 f.; D. F. Tolmie, Galatians, 114 f. bzw. 142 ff. 171 Diese Adaption tempelmetaphorischer Aspekte ist umso bemerkenswerter, wenn bedacht wird, dass Paulus sie zu einer Zeit formuliert, in welcher der Jerusalemer Tempel zwar noch existierte, allerdings in seiner „Funktion …als Ort der Sühne relativiert“ ist (so B. Kollmann, Heidenmissionar, 85). 172 Dabei handelt es sich um eines der wenigen Themenfelder, in denen Paulus explizit auf sogenannte ‚Herrenworte‘ rekurriert. Grundlegend hierzu zuletzt C. Jacobi, Jesusüberlieferung, 123 ff.
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Deutungen als ‚Menschensohn‘ bezeichnet wird (Mk 10,23; 14,62)173. Wie es in jenen traditionsgeschichtlichen Vorgaben vorgezeichnet war, so wird auch im Rahmen der apokalyptischen Rede Mk 13* konstatiert, dass das Ende der bestehenden Welt unmittelbar bevorsteht. Die zum Zeitpunkt des Wirkens Jesu lebende Generation sollte jene Ereignisse noch erleben (Mk 13,30: Ἀμὴν λέγω ὑμῖν ὅτι οὐ μὴ παρέλθῃ ἡ γενεὰ αὕτη μέχριϛ οὗ ταῦτα πάντα γένηται)174. Eine solche Naherwartung wurde im frühen Christentum fortgeführt, u. a. in der Gestalt der Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Jesu. Derartige Hoffnungen lassen sich noch in der zweiten und dritten Generation des frühen Christentums beobachten, wobei verschiedene Konzepte entwickelt wurden, mit denen das Ausbleiben dieser Ereignisse theologisch bewältigt werden sollte. So referiert z. B. eines der jüngsten Zeugnisse des neutestamentlichen Kanons zunächst den Vorwurf, dass jene Erwartungen sich als falsch erwiesen haben (2 Petr 3,3 f.), um dann entgegnen zu können, dass Gott Geduld habe, um Menschen eine Umkehr zu ermöglichen (2 Petr 3,9–13). Andererseits wird z. B. die Vorstellung, dass Jesus dem sogenannten ‚Lieblingsjünger‘ zugesichert haben soll, jene Endereignisse zu erleben, schlicht als Missverständnis bezeichnet (Joh 21,21–25)175. Derartige Erwartungen werden auch in dem ältesten überlieferten Brief des Paulus thematisiert. Paulus muss seinen Adressaten in den Gemeinden in Thessaloniki erklären, wie das Phänomen zu deuten ist, dass Mitglieder der Gemeinde gestorben sind, obwohl jene apokalyptischen Endzeitereignisse sich noch nicht vollzogen haben. Eine solche Fragestellung ist nur nachvollziehbar, wenn man sie als Indiz wertet, dass die akute Naherwartung Jesu in christlichen Gemeinden noch immer propagiert wurde176. Bemerkenswert ist dabei, dass die paulinische 173 Zu den grundlegenden Problemen einer Interpretation der Menschensohn-Traditionen vgl. G. Theißen/A. Merz, Jesus, 470 ff. Eine zentrale Frage ist dabei, inwiefern Jesus eine von sich selbst unterschiedene Rettergestalt erwartet hat bzw. ab wann er mit dieser angekündigten Rettergestalt identifiziert wurde. 174 Zur Kombination unterschiedlicher apokalyptischer Topoi in der Komposition von Mk 13* vgl. E.-M. Becker, Historiographie, 316 ff.; J. Gnilka, Markus II, 179 ff.; P. Dschulnigg, Markusevangelium, 332 ff. Religionshistorisch betrachtet ist es unstrittig, dass die Botschaft Jesu von einer solchen apokalyptischen Naherwartung geprägt war, die sich historisch als falsch erwiesen hat. Diese Aspekte bereiten vielen dogmatischen und christologischen Konzepten erhebliche Probleme, in denen „das angestrengte Bemühen, Jesus vor der Apokalyptik zu retten“, beobachtet werden kann. So völlig zu Recht K. Koch, Ratlos, 55. Zu den theologischen Herausforderungen dieses Phänomens vgl. die Beiträge des Sammelbandes M. Becker/ M. Öhler, Apokalyptik, passim. 175 Zu entsprechenden frühchristlichen Konzepten einer Relativierung der Naherwartung vgl. J. Frey, Apokalyptik, 23 ff. 176 Gegen entsprechende Versuche, die Naherwartung erst als eine Vorstellung des nachösterlichen Christentums zu deuten, die dann in Jesus-Worte zurückprojiziert wurde. Als Beispiel für derartig dogmatisch inspirierte Relativierungsversuche sei verwiesen auf E. Jüngel, Jesus,
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Eschatologie bereits zu diesem Zeitpunkt die Bedeutung jener Naherwartung relativiert. Obwohl Paulus offensichtlich noch davon ausgeht, selbst ein Zeuge jener Endzeitereignisse zu sein (vgl. die Formulierung 1 Thess 4,15: Τοῦτο γὰρ ὑμῖν λέγομεν ἐν λόγῳ κυρίου ὅτι ἡμεῖϛ οἱ ζῶντεϛ οἱ περιλειπόμενοι εἰϛ τὴν παρουσίαν τοῦ κυρίου οὐ μὴ ϕθάσωμεν τοὺϛ κοιμηθένταϛ), hebt er hervor, dass seines Erachtens die zuvor Verstorbenen keinen Nachteil haben werden (vgl. 1 Thess 4,13–15). Eine solche implizierte Relativierung macht es ihm auch leicht, zu einem späteren Zeitpunkt für sich selbst nicht mehr in Anspruch zu nehmen, jene Apokalypse mitzuerleben (vgl. die Formulierung Phil 1,23 b τὴν ἐπιθυμίαν ἔχων εἰϛ τὸ ἀναλῦσαι καὶ σὺν Χριστῷ εἶναι πολλῷ [γὰρ] μᾶλλον κρεῖσσον, derzufolge Paulus davon ausgeht, unmittelbar nach seinem Tod die eschatologische Vollendung zu erfahren)177. Stattdessen lassen sich weiterführende Modifikationen gängiger eschatologischer Erwartungen beobachten. Dabei bedient Paulus sich eines facettenreichen Repertoires frühjüdisch-apokalyptischer Bilder und Metaphern, um die erwarteten Ereignisse zu beschreiben (vgl. die Motive der Entrückung auf Wolken, einer eschatologischen Posaune etc.). Derartige apokalyptische Sprachformen begegnen auch in jüngeren Briefen des Paulus (exemplarisch sei verwiesen auf die ‚kleine Apokalypse‘ 1 Kor 15,23–28, die Paulus im Rahmen seiner Ausführungen zu Auferstehungsvorstellungen skizziert)178. Doch obwohl Paulus sich weiterhin der ihm vertrauten frühjüdisch-apokalyptischen Sprachmuster bedient, weitet er die Dimensionen der Erwartungen signifikant aus. Dies gilt besonders für das Motiv eines unmittelbar bevorstehenden Weltuntergangs bzw. einer eschatologischen Neuschöpfung von Himmel und Erde. Verschiedene frühjüdische und frühchristliche Zeugnisse propagieren die Vorstellung, dass die vorfindliche Welt ihrer Vernichtung entgegengeht (exemplarisch sei verwiesen auf die im Äthiopischen Henochbuch überlieferte ‚ZehnWochen-Apokalypse‘ [1 Hen 93,1–10; 91,11–17] und die Vision des ‚Himmlischen
327 f.; W. Pannenberg, Theologie II, 409 ff.; M. Mühling, Eschatologie, 243 f. Stattdessen wird die theologisch-dogmatische Anstößigkeit von Mt 10,23 paradigmatisch von A. Schweitzer, Geschichte, 405 f. treffend auf den Punkt gebracht: „Jesus sagt den Jüngern in dürren Worten, Mt 10,23, daß er sie in diesem Aeon nicht mehr zurückerwartet. Die Parusie des Menschensohns, die mit dem Einbruch des Reiches logisch und zeitlich identisch ist, wird stattfinden, ehe sie mit ihrer Verkündigung die Städte Israels durcheilt haben. Daß seine Worte … auch nicht die geringste Abschwächung ertragen, dürfte klar sein … Ebenso klar ist aber …, daß diese Weissagung nicht in Erfüllung ging.“ 177 Entsprechend kategorisiert U. Schnelle, Paulus, 197 bzw. 406 den 1. Thessalonicher als „Zeugnis frühpaulinischer Theologie“ und den Philipperbrief als „spätes Zeugnis paulinischer Theologie.“ 178 Gleichwohl ist es nicht möglich, vor dem Hintergrund von 1 Kor 15,23–28 einen konsistenten Gesamtentwurf aller apokalyptischen Motive in den paulinischen Briefen zu konstruieren, wie dies z. B. von P. Stuhlmacher, Eschatologie, 86 versucht wurde.
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Jerusalem‘ [Apk 21,1–22,17])179. Es würde zu einer allgemeinen Totenauferstehung und einem damit einhergehenden Endgericht über die guten und schlechten Taten aller menschlichen Individuen kommen (1 Hen 45–51; Mt 25,31–46; Apk 20,11–15). Erst nach diesem göttlichen Eingreifen in den Gang der Geschichte sei eine Schöpfung bzw. Offenbarwerdung eines neuen Himmels und einer neue Erde zu erwarten (Apk 21,1–5). Im Kontrast hierzu begegnen in den sich sukzessive entwickelnden paulinischen Vorstellungen markante Akzentverschiebungen180. Dies zeigt sich u. a. in der bereits angesprochenen ‚kleinen Apokalypse‘ 1 Kor 15,23–28. Die zunächst traditionellen Vorstellungen treubleibende Auflistung apokalyptischer Endzeitereignisse mündet in eine Klimax, die sich bereits von vorgegebenen apokalyptischen Erwartungen unterscheidet (vgl. die in 1 Kor 15,28c formulierte Vorstellung, dass zuletzt ‚Gott alles in allem‘ sein werde: … ἵνα ᾖ ὁ θεὸϛ [τὰ] πάντα ἐν πᾶσιν)181. Auf diese Weise deutet sich eine universale Hoffnungsperspektive an, die dem locus classicus der paulinischen Versöhnungsvorstellung entspricht (2 Kor 5,17–21). Für Paulus hat Gott bereits eine Versöhnung des Kosmos und eine eschatologische Neuschöpfung vollzogen, an der jeder einzelne Mensch partizipieren kann (vgl. v. a. die zentrale These 2 Kor 5,19a ὡς ὅτι θεὸς ἦν ἐν Χριστῷ κόσμον καταλλάσσων ἑαυτῷ, derzufolge der κόσμος in die durch Jesus vollzogene Versöhnung einbezogen). Paulus spricht nicht nur von einer Versöhnung des Kosmos, sondern auch von einem eschatologischen Schicksal der gesamten Schöpfung, die von der ‚Knechtschaft der Vergänglichkeit‘ befreit werden soll (Röm 8,21: ὅτι καὶ αὐτὴ ἡ κτίσιϛ ἐλευθερωθήσεται ἀπὸ τῆϛ δουλείαϛ τῆϛ ϕθορᾶϛ εἰϛ τὴν ἐλευθερίαν τῆϛ δόξηϛ τῶν τέκνων τοῦ θεοῦ). Diese Motive sind signifikante Beispiele dafür, wie Paulus als schriftgelehrter Pharisäer auch nach seiner Lebenswende seine neue Religiosität durch Bilder und Sprachformen seiner jüdischen Bibel zur Sprache bringen kann. Das Motiv der ‚neuen Schöpfung‘ und der Befreiung der Schöp179 Zur Modifikation der deutero- und tritojesajanischen Neuschöpfungsvorstellungen im Äthiopischen Henochbuch konstatiert J. v. Ruiten, Development, 166: „The most striking result is that, while referring to Is 65,17 and its context, the author of 1 En 91,16 changes perspective completely. The innovation of the earth is made of second importance to the innovation of the heaven.“ 180 Zur Modifikation alttestamentlich-frühjüdischer Neuschöpfungsvorstellungen durch Paulus vgl. M. V. Hubbard, New Creation, passim; S.-L. Shum, Isaiah, passim; J. R. Wagner, Heralds, passim, E. E. Popkes, Knechtschaft, passim. 181 Wie die Formel ἵνα ᾖ ὁ θεὸϛ [τὰ] πάντα ἐν πᾶσιν religionshistorisch eingeordnet und gedeutet werden kann, ist Gegenstand kontroverser Debatten und ist m. E. noch immer nicht angemessen aufgearbeitet (zur Diskussion vgl. T. Jantsch, Gott, 290–294; G. Holtz, Universalismus, 48 f. bzw. W. Schrage, Korinther IV, 184–188). Eine Deutung dieser Formel hängt sicherlich auch von der Frage ab, inwieweit sie überhaupt von religionshistorischen Bezugsgrößen her verstanden werden kann bzw. inwieweit die paulinische Eschatologie Entwicklungen durchläuft, die genuin eigenständige Vorstellungen zutage treten lässt.
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fung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit kann als eine konsequente Ausgestaltung von Hoffnungen verstanden werden, welche z. B. in den deuterojesajanischen und tritojesajanischen Traditionsbildungen vorgezeichnet wurden. Während jedoch in Jes 43,18 f.; 65,17; 66,22 noch nicht von einer Vernichtung der vorfindlichen Welt gesprochen wurde, wurden jene Vorgaben in ebendiesem Sinne in Werken wie dem Äthiopischen Henochbuch, dem 4. Buch Esra und der Johannesapokalypse zugespitzt. Im Gegensatz hierzu ist weder in Röm 8,18–23 noch im weiteren Kontext des Römerbriefs von einer Vernichtung der Schöpfung die Rede. In diesem Zusammenhang stellt Paulus zunächst fest, dass die gesamte Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen ist (Röm 8,20)182. Im Sinne seiner alttestamentlich-frühjüdischen bzw. speziell pharisäischen Prägung versteht er diese Vergänglichkeit als eine von Gott verfügte Folge des Sündenfalls183. Er hebt jedoch hervor, dass dies nicht das irreversible Schicksal der Schöpfung sei. Vielmehr habe Gott seine Schöpfung in dem Zeichen der Hoffnung unterworfen, aus der Knechtschaft der Vergänglichkeit wieder befreit zu werden und an der Freiheit der göttlichen Herrlichkeit der Gotteskinder zu partizipieren. Diesen Aspekt veranschaulicht Paulus mit einem geburtsmetaphorischen Bild: Die gesamte Schöpfung und die einzelnen Menschen leiden miteinander unter jener Knechtschaft der Vergänglichkeit und durchleben gemeinsam die Geburtsschmerzen, welche der eschatologischen Vollendung vorausgehen184. Derartige kosmologische Dimensionen der paulinischen Hoffnungen finden auch eine Ausarbeitung in Traditionen, bei denen unklar ist, inwieweit sie noch auf Paulus selbst zurückgehen bzw. inwieweit sie bereits Zeugnisse der Paulus-Schule sind. Dies gilt im Besonderen für jene universalen Dimensionen der paulinischen und deuteropaulinischen Theologie, in denen sich eine
182 Zu den folgenden Ausführungen vgl. meine Vorarbeiten in E. E. Popkes, Vergänglichkeit, passim. Der von Paulus in diesem Zusammenhang verwendete Begriff ματαιότηϛ (Röm 8,20a) kann als Äquivalent zu ϕθορά (Röm 8,21b) verstanden werden. Vgl. J. D. G. Dunn, Romans, 470; G. H. Van Kooten, Christology, 102. 183 Das Motiv des Leidens der Schöpfung unter der Vergänglichkeit ist sowohl in alttestamentlich-frühjüdischen als auch in griechisch-römischen Traditionen belegt (vgl. Ps 60,13; 62,10; Koh 1,4; 4Esra 7,11 ff.; 2 Bar 14,13; Sib III 788 f.; Luk Rer. Nat V,98.373–375; Verg. IV,50–52; Capl. Sic. Ecl I,39 ff. etc. Die Besonderheit von Röm 8,19–22 besteht darin, dass die „Vergänglichkeit … für Paulus keine Naturgegebenheit“ ist, „sondern einen Anfang und einen personhaften Urheber hat, den Paulus ungenannt läßt, um nicht die ganze Geschichte von Adams Sünde und Gottes Reaktion auf sie noch einmal aufzurollen.“ So treffend K. Haacker, Römer, 189; zu diesem Themenfeld vgl. ferner H. Weder, Seufzen, 247–262, R. Jewett, Romans, 516; J.-B. Matand Bulembat, Noyau et enjeux, 219 f. bzw. 225–228. 184 Dabei gilt es zu beachten, dass die neutestamentlichen Hapaxlegomena συστενάζειν und συνωδίνειν Komposita bilden, welche durch das Präfix συν- die Beziehung zwischen den einzelen Menschen und der gesamten Schöpfung hervorheben.
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sogenannte Allversöhnungshoffnung abzeichnet185. Bereits in der Klimax seiner ausführlichen Reflexionen der heilsgeschichtlichen Stellung Israels (Röm 9–11) formuliert Paulus die Glaubenshoffnung, dass Gott sich aller erbarmen werde (Röm 11,32). Diese hoffnungsvolle These mündet wiederum in einen Hymnus, welcher den gesamten Argumentationsbogen Röm 9–11 abschließen soll (Röm 11,33–36). Dabei bezeichnet Paulus in nahezu pantheistisch bzw. panentheistisch anmutenden Worten Gott als Existenzgrundlage allen Seins (vgl. Röm 11,36a: ‚… von ihm und durch ihn und zu ihm ist Alles.‘ (ἐξ αὐτοῦ καὶ δἰ αὐτοῦ καὶ εἰϛ αὐτὸν τὰ πάντα)186. In Bezug auf die vorliegende Fragestellung gilt es zu beachten, dass Paulus in diesem Zusammenhang seine Leserinnen und Leser mit der These konfrontiert, dass er ihnen diese Hoffnung aufgrund eines „Mysterions“ anvertrauen kann (zum Verhältnis des Begriffs μυστήριον zu den in 2 Kor 12,4 erwähnten ‚unaussprechlichen Worten‘ vgl. 4.5). Jene universale Hoffnung entspricht wiederum den Aussagen über eine Versöhnung des Alls, die im Höhepunkt des Kolosserhymnus als bereits vollzogenes Ereignis beschrieben wird (vgl. Kol 1,19 f.)187. Auch wenn bei dem Kolosserhymnus im Speziellen und bei dem Kolosserbrief im Generellen umstritten ist, inwieweit dieselben noch auf Paulus selbst zurückgeführt werden können bzw. inwieweit es sich hierbei bereits um Zeugnisse der Paulusschule handelt188, so kann festgehalten werden, dass derartige heilsuniversale Dimensionen in nahezu allen deuteropaulinischen Zeugnissen dokumentiert werden189. Dies gilt für das Motiv der sogenannten ‚Anakephalaiosis‘ (Eph 1,10) in der Eulogie des Epheserbriefs (Eph 185 Zur Skizze dieser Züge der paulinischen und deuteropaulinischen Schriften und unterschiedlichen Deutungsansätzen vgl. J. Adam, Versöhnung, 5–90. 186 Zur inhaltlichen Bestimmung und zur begriffsgeschichtlichen Profilierung der Begriffe ‚Pantheismus‘ und ‚Panentheismus‘ vgl. B. Gladigow, Pantheismus, 119–143; J. C. Wolf, Pantheismus, passim; J. Macquarrie, Art. Panentheismus, 611–615. In einigen exegetischen Beiträgen lässt sich dabei zuweilen eine theologisch motivierte Skepsis gegenüber pantheistischen Vorstellungen beobachten, die nicht mehr als Ausdruck von einer um Neutralität bemühten religionshistorischen Deskription verstanden werden kann. Exemplarisch sei verwiesen auf die Einschätzungen von U. Wilckens, Römer II, 173 f. in Bezug auf Röm 11,36: „Freilich ist dort, wo es darum geht, die Allgegenwart des handelnden Gottes zu beschreiben, christliche Theologie und Frömmigkeit (besonders in ihren mystischen Gestalten) zu allen Zeiten notwendig in z. T. gefährliche Nähe zum Pantheismus geraten. … Zuweilen kann Pantheismusverdacht sogar gefährlicher sein als pantheistische Sprache.“ 187 Zu konträren Deutungen der universalen Dimensionen von Kol 1,19 f. vgl. J. Adam, Versöhnung, 87; H. Hübner, Epheser, 12 bzw. 62 f.; C. Stettler, Kolosserhymnus, 283 ff. bzw. 293– 298. 188 In Bezug auf den Kolosserbrief wird von allen sogenannten deuteropaulinischen Zeugnissen am intensivsten diskutiert, ob er partiell oder vollständig noch auf Paulus selbst zurückgeführt werden kann. Zur Diskussion der konträren Argumente vgl. K.-W. Niebuhr, Paulusbriefsammlung, 262–270; P. Müller, Kolosserbrief, 526–530. 189 Lediglich im zweiten Thessalonicherbrief finden sich keine Reminiszenzen zu den heilsuniversalen Zügen paulinischer Theologie. Vgl. E. E. Popkes, Bedeutung, 55 ff.
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1,3–14) ebenso wie für die Prädikation Gottes als ‚Retter aller Menschen‘ (vgl. 1 Tim 4,10b: σωτὴρ πάντων ἀνϑρώπων)190. Auch wenn man diese Motive nicht mehr als paulinische Aussagen, sondern als Zeugnisse der Paulus-Schule versteht, so können sie als konsequente Ausgestaltungen jener universalen Dimensionen verstanden werden, welche die paulinische Eschatologie immer stärker durchdringen. Diese Entwicklungen gehen wiederum einher mit einer Akzentuierung der Liebe als einem Zentrum paulinischer Theologie und Ethik, die im Folgenden erläutert werden soll. 4.3 Liebe als ein Zentrum paulinischer Theologie und Ethik Die zentrale Bedeutung, welche der Begriff ‚Liebe‘ für die paulinische Ethik und Theologie besitzt, dokumentiert eindrücklich einer der bekanntesten Texte der biblischen Traditionen, nämlich das sogenannte ‚Hohelied der Liebe‘ (1 Kor 13)191. Dieser Text ist durch seinen vielfachen Gebrauch u. a. in liturgischen Kontexten wie z. B. Hochzeiten und Beerdigungen vordergründig derartig präsent, dass seine theologischen und ethischen Tiefendimensionen oft nicht mehr angemessen zur Kenntnis genommen werden192. Auch wenn Paulus diesen Text im konkreten Kontext von 1 Kor 12 bzw. 1 Kor 14 und damit im Zusammenhang einer Schlichtung von Kontroversen in den Gemeinden von Korinth verortet, so lässt die formale Gestaltung und poetische Sprachform von 1 Kor 13 erkennen, dass es sich um eine Reflexion über „die göttliche Qualität der Liebe“193 handelt, welche für die paulinische Theologie und Ethik von fundamentaler Bedeutung ist. Es scheint sich um einen Text zu handeln, der in einem liturgischen Rahmen oder auch im privaten Gebet zitiert und nachgesprochen werden kann, um sich kontinuierlich seine zentralen Aussagen zu
190 Zur etymologischen Herleitung des finalen Infinitivs ἀνακεϕαλαιώσασθαι (Eph 1,10) vgl. H. Hübner, Epheser, 138, der treffend resümiert: „Alles, ausnahmslos alles in den Himmeln und auf der Erde, soll in Christus zusammengefaßt werden.“ Zu heilsuniversalen Prädikationen in den Pastoralbriefen wie 1 Tim 2,1–4; Tit 1,3 f.; 2,10.13; 3,4.6 vgl. F. Jung, ΣΩΤΗΡ, 321–332; N. Brox, Pastoralbriefe, 298. Auch wenn das Wortfeld καταλλαγή κ.τ.λ. in diesen Kontexten nicht expressis verbis vorliegt, entsprechen diese universalen Dimensionen inhaltlich-sachlich 2 Kor 5,19; Röm 5,18 und damit dem paulinischen Versöhnungsgedanken. Vgl. J. Roloff, Timotheus, 122; T. Knöppler, Sühne, 184–186. 191 Prinzipiell kann folgender These von M. Wolter, Liebe, 449 mit Nachdruck zugestimmt werden: „Die Liebe ist bei Paulus die zentrale ethische Tugend für die Gestaltung des christlichen Lebens überhaupt.“ (Hervorhebung durch M. Wolter). 192 Es gibt kaum einen biblischen Text, der z. B. in liturgischen Kontexten wie Hochzeit oder Beerdigung so oft rezitiert wird. Entsprechend zu einer analogielosen kirchen- und theologiegeschichtlichen Wirkungsgeschichte vgl. W. Schrage, Korinther III, 320–373. 193 So treffend R. Zimmermann, Liebe, 207.
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vergegenwärtigen194. Personen, die das ‚Hohelied der Liebe‘ 1 Kor 13 rezitieren, bewegen sich „in Gott hinein wie in einen warmen Raum, den sie niemals mehr verlassen müssen.“195 Für die vorliegende Fragestellung ist aufschlussreich, dass in diesem Zusammenhang Liebe in einer Form ins Zentrum theologischer und ethischer Reflexionen gerückt wird, die religionsphänomenologisch betrachtet eine hohe Analogie zu Welt- und Menschenbildern aufweist, die Menschen infolge von solchen Nahtoderfahrungen entwickeln, die im Sinne der vorliegende Studie als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ kategorisiert werden können (vgl. die entsprechenden autobiographischen Ausführungen in Kapitel 2; Arbeitsschritt 3). Dieser Aspekt ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass ein solches Enkomion der Liebe einzelnen Zügen der Botschaft Jesu zwar entspricht, in der vorliegenden Weise jedoch kein Pendant in Traditionen über Jesus und die vorpaulinischen Nachfolger Jesu besitzt. Dies impliziert die religionspsychologisch ausgerichtete Frage, wie es dazu kommt, dass der ehemalige Christenverfolger Paulus den Begriff Liebe derartig massiv ins Zentrum christlicher Theologie und Ethik rückt. Auch wenn formal und stilistisch betrachtet 1 Kor 13 eine Vielzahl von Vergleichsgrößen im Bereich antiker Aretalogien bzw. in alttestamentlich-frühjüdischen Traditionsbildungen besitzt196, so bietet Paulus in diesem Zusammenhang eine Reflexion über das Wesen und die Bedeutung der Liebe, zu deren Tiefendimensionen partiell keine unmittelbaren Vorentwicklungen benannt werden können. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei der Sachverhalt, dass Paulus in diesem Zusammenhang viele Begriffe nicht verwendet, die ansonsten für seine Theologie von zentraler Bedeutung sind (so fehlen z. B. Rekurse auf die Begriffe Christus, Gott, Sünde etc.). In welcher Weise Paulus den Begriff Liebe mit seinen christologischen, ekklesiologischen und ethischen Konzepten in Beziehung setzen kann, wird jedoch in vielen anderen Kontexten seiner überlieferten Briefe deutlich. Um die Besonderheit dieses Sachverhalts zu verstehen, gilt es sich den bereits skizzierten Sachverhalt zu vergegenwärtigen, dass Paulus selbst Jesus als historische Person nicht kannte. Obwohl er nach eigenem Bekunden Kontakt mit prominenten Nachfolgern Jesu wie Petrus und mit frühchristlichen Autoritäten wie Jakobus, dem Bruder Jesu, aufgenommen hatte, 194 Die konkreten ethischen Dimensionen von 1 Kor 13* treten vor allem in 1 Kor 13,4–7 zutage. Vgl. O. Wischmeyer, Weg, 92 ff.; W. Schrage, Korinther III, 336 ff. 195 So L. Schottroff, Korinth, 261, die entsprechend fortfährt: „Die Sätze über die Liebe sind von Gott her gedacht. Es ist Gottes Handeln, die Geliebten stehen staunend und außer sich vor der Grenzenlosigkeit der Liebe.“ 196 Zu entsprechenden form- und gattungsgeschichtlichen Erwägungen vgl. O. Wischmeyer, Weg, 191 ff.; W. Schrage, Korinther III, 279 ff.
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begegnen in seinen Briefen kaum Rekurse bzw. Bezugnahmen auf die Worte und Taten Jesu (s. o. 1.5.4). Umso bemerkenswerter ist es, dass die deutlichsten inhaltlich-sachlichen Berührungen zwischen der Botschaft Jesu und der Theologie des Paulus im Bereich der Ethik und der Akzentuierung der Liebe vorliegen197. Auch wenn die paulinischen Briefe keinen systematisch-konsistenten Entwurf einer Ethik bieten, so wird in vielen Zusammenhängen deutlich, welche zentrale Bedeutung für Paulus die Reflexion und die Praxis eines Ethos hatte, in welcher eine konkret praktizierte Nächstenliebe das Zentrum bildete198. Aufschlussreiche Beispiele hierfür bieten die ekklesiologisch und ethisch orientierten Ausführungen des Galaterbriefs und des Römerbriefs (Gal 5,1– 26*; Röm 12,1–13,10*). Letztere sind nicht zuletzt deshalb instruktiv, weil sie in unterschiedlichen argumentativen Kontexten begegnen. Während Paulus im Zusammenhang des Galaterbriefs sich mit Vorwürfen auseinandersetzen muss, dass die von ihm propagierte Theologie insbesondere in Bezug auf die Haltung zum jüdischen Gesetz unzureichend sei, so ist seine Kommunikation mit der bzw. den Gemeinde(n) in Rom, welche er nicht selbst gegründet hatte, weit weniger polemisch ausgerichtet. Gleichwohl entsprechen sich seine jeweiligen Ausführungen zu einem Ethos der Liebe. In seiner Kommunikation mit den Gemeinden in Galatien versucht Paulus seine Adressaten davon zu überzeugen, dass ihre Religiosität nicht einer Observanz jüdischer Gebote wie z. B. Beschneidung bzw. Speisegebote bedarf (vgl. Gal 3,1 ff.; 4,8–21; 5,1–6; 6,11–18 etc.). Er weist entsprechende Forderungen von Missionaren zurück, welche die von ihm gegründeten Gemeinden entsprechend beeinflusst haben. Stattdessen propagiert Paulus eine Religiosität, in welcher das ‚Sein-in-Christus‘ in einem Ethos der Liebe Gestalt gewinnt (Gal 5,6b πίστιϛ δι᾿ ἀγάπηϛ ἐνεργουμένη). Ebenso wie in Röm 13,8–10 hebt er hervor, dass das jüdische Gesetz im Gebot der Nächstenliebe seine Erfüllung findet (Gal 5,14). Die ethischen Dimensionen eines solchen Ethos entfaltet er daraufhin mittels einer Metaphorik, welche ‚Werke des Fleisches‘ (Gal 5,19–21) und ‚Früchte des Geistes‘ (Gal 5,22–26) voneinander kontrastiert. Bei den dabei aufgeführten sieben Früchten des Geistes nimmt die Liebe die erste Position ein, deren Dimensionen mit den im Folgenden genannten Lebenshaltungen und 197 Zu entsprechenden Analogien vgl. C. Jacobi, Jesusüberlieferung, 47 ff.; T. Söding, Liebesgebot, 241–250; ders., Gott, 355; J. Sauer, Feindesliebe, 17 ff. 198 Zum Verhältnis von Indikativ und Imperativ in der paulinischen Ethik und Rechtfertigungslehre vgl. R. Zimmermann, Attraktivität, 237–255; M. Konradt, Gericht, 521 ff.; U. Schnelle, Paulus, 629; J. Becker, Paulus, 458 ff. Die damit einhergehenden Probleme einer Begründung der Ethik bringt A. Schweitzer, Mystik, 287 in der ihm gegebenen Klarheit einer bildlichen Sprache folgendermaßen auf den Punkt: „In der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben verhalten sich die Erlösung und die Ethik zueinander wie zwei Straßen, von denen die eine bis zur Schlucht und die andere von dieser Schlucht an weiter führt.“
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Tugenden entfaltet werden (vgl. Gal 5,22.23a: Ὁ δὲ καρπὸϛ τοῦ πνεύματόϛ ἐστιν ἀγάπη, χαρά, εἰρήνη, μακροθυμία, χρηστότηϛ, ἀγαθωσύνη, πίστιϛ, πραΰτηϛ, ἐγκράτεια)199. Die zwischenmenschlich gelebte Liebe kann somit als die lebenspraktische Auswirkung des Glaubens bezeichnet werden200. Diese Aspekte entsprechen prinzipiell den weit weniger polemisch geprägten Ausführungen des Römerbriefs201, in welchem Paulus in Röm 12,9–21 bzw. Röm 13,8–10 herausarbeitet, warum „Liebe als Kriterium des Guten“202 und „Nächstenliebe als Erfüllung des Gesetzes“203 verstanden werden können. In diesem Zusammenhang beginnt Paulus damit, die konkrete Lebensrealität seiner Adressaten in Rom in das Zentrum seiner Argumentationen zu stellen und unterschiedliche Forderungen und Appelle zu formulieren. Dabei bedient er sich zunächst einer kultisch geprägten Sprache, die jener pharisäischen Frömmigkeit nahesteht, in welcher er religiös sozialisiert wurde (vgl. die bereits in Röm 12,1 verwendete Metaphorik: ‚Ich ermahne euch nun, liebe Geschwister, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist.‘). Diese am Tempelkult orientierte Metaphorik bringt zum Ausdruck, dass Christen ihre eigene Existenz als eine Opfergabe verstehen sollen. Auf diese Weise praktizieren sie einen an ‚Vernunft orientierten Gottesdienst‘ (vgl. Röm 12,1c). Paulus vergleicht das Zusammenleben in einer christlichen Gemeinschaft mit dem Zusammenspiel verschiedener Gliedmaßen des menschlichen Körpers und benennt unterschiedliche Gaben bzw. Begabungen, die dieser Gemeinschaft zugutekommen können (1 Kor 12,12–30; Röm 12,4–8)204. Inmitten der konkreten Verhaltensanweisungen wird immer wieder ein Ethos der Liebe als das zentrale Fundament dieser Lebenshaltung benannt (vgl. Röm 12,9 f.: ‚Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme 199 Zu möglichen Interpretationen dieser Metaphorik vgl. T. Söding, Liebesgebot, 211 ff. 200 Dies entspricht einem deuteropaulinischen Postulat, demzufolge das richtige Verständnis von Liebe und Glaube als Hauptsumme ethischer Unterweisung verstanden wird (vgl. 1 Tim 1,5a τέλοϛ τῆϛ παραγγελίαϛ). Zum Verhältnis der Ethik der Pastoralbriefe zu den entsprechenden paulinischen Vorgaben vgl. J. Roloff, Timotheus, 66 f. 201 Das Verhältnis der paulinischen Interpretation des Liebesgebots im Galaterbrief und im Römerbrief bringt T. Söding, Liebesgebot, 255 f. treffend auf den Punkt: „Die wesentlichen Übereinstimmungen zwischen dem Römer- und dem Galaterbrief sowohl in der Rechtfertigungs- wie auch in der Gesetzestheologie weisen Röm 13,8ff einen ähnlichen Platz innerhalb der paulinischen Soteriologie und Ethik zu, wie ihn Gal 5,13f einnimmt. Die theologische Konvergenz spiegelt sich auch in der Formulierung der Verse. Röm 13,8ff setzt einige neue Akzente, ist aber im Wesentlichen eine Bestätigung der Aussage aus dem Galaterbrief.“ 202 Vgl. U. Wilckens, Römer III, 17. 203 Vgl. U. Wilckens, Römer III, 66. 204 Zur Bedeutung dieser Körpermetaphorik für das paulinische Ethos der Liebe vgl. R. Zimmermann, Liebe, 191 ff.
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dem andern mit Ehrerbietung zuvor.‘). Paulus thematisiert jedoch nicht nur das Leben innerhalb der christlichen Gemeinschaften, sondern er hebt auch hervor, wie Christen sich gegenüber allen Menschen verhalten sollen, unabhängig von ihrer ethnischen Abstammung oder ihrer religiösen und politischen Haltung (vgl. Röm 12,14.17 f.: „Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. … Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist es möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“). Diese Aspekte der paulinischen Ethik überschreiten prinzipiell die Grenzen christlicher Gemeinschaften. Sie weisen eine deutliche Affinität zu den ethischen Dimensionen der Botschaft Jesu auf, insbesondere zu den Geboten der Feindesliebe (Mt 5,43–48; Lk 6,27–35), der Vergebungsbereitschaft (Mt 6,14 f.; Lk 6,36 f.), dem Verbot der Vergeltung (Mt 5,38–42; Lk 6,29 f.) und den verschiedenen Appellen, sich sozial minderprivilegierten Menschen zuzuwenden (vgl. neben Röm 12,9–21 auch 1 Kor 4,12 f. bzw. 1 Thess 5,15)205. Nachdem Paulus vor dem Hintergrund dieser Maximen auch die Haltung christlicher Gemeinschaften gegenüber politischen Instanzen des Imperium Romanum thematisiert hat (Röm 13,1–7)206, hebt er nochmals hervor, in welcher Weise das Gebot der Nächstenliebe als Zusammenfassung aller übrigen Instruktionen jüdischer Religiosität bzw. Torafrömmigkeit verstanden werden kann (Röm 10,8 f.). Traditionsgeschichtlich betrachtet ist Röm 13,8–10 aufschlussreich, da ebenso wie in Gal 5,14 eine deutliche Analogie zu den entsprechenden Zügen der ethischen Botschaft Jesu gegeben ist (Mk 12,31; Mt 5,38–42; 22,39; Lk 6,27 f.; 10,27b), ohne dass Paulus seine Instruktionen explizit mit der Botschaft Jesu in Beziehung setzt. Zudem ist zu beachten, in welcher Weise Paulus im weiteren Zusammenhang das Christusgeschehen und das damit verbundene Ethos der Liebe zum jüdischen Gesetz in Beziehung stellt. Ebenso wie Paulus ‚Christus als das Ende (bzw. die Vollendung) des Gesetzes‘ bezeichnen kann (Röm 10,4), so versteht er Liebe als Vollendung bzw. Erfüllung des Gesetzes (Röm 13,10). Diese Aspekte dokumentieren eindrücklich, welche zentrale Bedeutung der Begriff ‚Liebe‘ für die paulinische Theologie und Ethik besitzt. Für Paulus geht die Entfaltung des Evangeliums bzw. seiner christologischen Deutung der Botschaft, des Leidens und der Auferstehung Jesu einher mit einer Entfaltung der Liebe, welche die gesamte menschliche Existenz durchdringen soll. Dies entspricht der Klimax des eingangs angesprochenen ‚Hohelieds der Liebe‘ (1 Kor 13*), welches in der Zuordnung der Begriffe ‚Glaube‘, ‚Liebe,‘ ‚Hoffnung‘ 205 Ausführlich hierzu vgl. C. Jacobi, Jesusüberlieferung, 47 ff.; T. Söding, Liebesgebot, 241–250; ders., Gott, 355; J. Sauer, Feindesliebe, 17 ff. 206 Zur Interpretation und Funktion von Röm 13,1–7 im Kontext der ekklesiologischen Ausführungen des Römerbriefs vgl. S. Krauter, Studien, passim.
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in die These mündet: „… aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1 Kor 13,13b)207. Der Begriff ‚Liebe‘ bildet auch für andere frühchristliche Traditions- und Schulbildungen ein Zentrum ethischer Reflexionen. Paradigmatisch zeigt sich dies in synoptischen Evangelientraditionen, in denen die Verschränkung von Gottesliebe und Nächstenliebe von Jesus als höchstes bzw. größtes Gebot bezeichnet wird (Mk 12,28–32 par.). Diese bereits in frühjüdischen Zeugnissen präfigurierte Zuordnung wird in Jesus-Traditionen freilich nochmals zugespitzt208. Wie bereits zuvor skizziert wurde, wurde das Gebot der Nächstenliebe zum Gebot der Feindesliebe ausgeweitet209. Dies entspricht inhaltlich-sachlich dem jesuanischen Verbot der Vergeltung und dem Gebot der Vergebungsbereitschaft. Das Liebesethos Jesu soll in der Zuwendung zu Armen, Ausgestoßenen und Kranken eine Gestalt finden, die als Ausdruck der Gottesliebe zu verstehen ist. Insbesondere die Gestaltung des Liebesgebots im lukanischen Geschichtswerk lässt erkennen, dass bereits sehr früh nicht mehr die prinzipielle Bedeutung des Liebesgebots Jesu zu diskutieren war, sondern Fragen zu dessen konkreter Umsetzung und Reichweite (paradigmatisch hierfür ist das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, welches mit dem Liebesgebot Jesu in Beziehung steht und die Reichweite seiner ethischen Dimensionen veranschaulicht)210. Eine solche religiös motivierte Ethik begegnet auch in einem Zeugnis, welches mit dem Bruder Jesu in Beziehung gebracht wird, nämlich im Jakobusbrief211. Auch wenn der Verfasser des Jakobusbriefs in Bezug auf das Verhältnis von ‚Glauben‘ und ‚Werken‘ signifikante Akzentunterschiede gegenüber Paulus erkennen lässt (vgl. Jak 2,17 f.), kann er in sachlicher Analogie zu den skizzierten Facetten der paulinischen Briefe hervorheben, dass es einen ‚lieblosen
207 Zur Funktion und Interpretation der Trias πίστιϛ – ἐλπίϛ – ἀγάπη (1 Kor 13,13) als Kimax von 1 Kor 13* vgl. R. Zimmermann, Liebe, 164–166; O. Wischmeyer, Weg, 144 ff.; U. Mell, Entstehungsgeschichte, 202 ff.; T. Söding, Trias, 40 ff. 208 Exemplarisch sei auf entsprechende Zuordnungen der Gebote der Nächstenliebe und der Gottesliebe in den Testamenten der Zwölf Patriarchen verwiesen (vgl. TestXII.Zab 5,1; 8,5– 9,2; TestXII.Naph 5,1–8,2 f.; TestXII.Jos 17,1 ff.; TestXII.Is 7,6). Ausführlich hierzu M. Konradt, Menschen- oder Bruderliebe, 296–298; M. De Jonge, Commandments, passim. 209 Zur traditionsgeschichtlichen Einordnung und zu den geistes- und sozialgeschichtlichen Hintergründen des Gebots der Feindesliebe und den damit verschränkten Geboten der Vergebungsbereitschaft und dem Verbot von Vergeltung vgl. M. Ebner, Feindesliebe, 119 ff.; G. Theißen, Gewaltverzicht, 176 ff. bzw. 180 ff.; L. Schottroff, Feindesliebe, 197 ff. 210 Die Frage nach der Reichweite des Liebesgebots wird in der narrativen Gestaltung des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter durch die Frage Καὶ τίϛ ἐστίν μου πλησίον; (Lk 10,29b) eingeleitet, welche die lukanische Variante der Frage nach dem höchsten Gebot abschließt. Vgl. E. E. Popkes, Krankenheilungsauftrag, 93 ff.; G. Sellin, Erzählung, 45 ff. 211 Prinzipiell zu den ethischen Dimensionen des Jakobusbrief vgl. M. Konradt, Existenz, 171 ff.
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Nahtoderfahrungen als Zugänge zum frühen Christentum
Glauben‘ eigentlich nicht geben kann212. Besonders intensive Reflexionen über das Wesen der Liebe im Generellen und das Liebesgebot im Speziellen begegnen in der johanneischen Theologie. Signifikant zeigt sich dies bereits in der vielfach als ‚das johanneische Hohelied der Liebe‘ bezeichneten Texteinheit 1 Joh 4,7–5,4, in welcher ebenso wie z. B. in 1 Kor 13* oder 1 Clem 49,1–50,7 angesichts innergemeindlicher Streitigkeiten die vermittelnde Kraft der Liebe thematisiert wird213. Dabei wird aus verschiedenen Zugangsperspektiven die theologische Spitzenaussage reflektiert, dass ‚Gott Liebe ist‘ (1 Joh 4,8.16). Angesichts dessen wird im Johannesevangelium sogar eine ‚dramaturgische Christologie der Liebe Gottes‘214 entworfen, welche als eine der reflektiertesten christologischen Konzepte frühchristlicher Traditionsbildungen verstanden werden kann. Auch in außerkanonischen Zeugnissen werden die ethischen Dimensionen der Botschaft Jesu und die skizzierten Konzepte einer Liebesethik weiter entfaltet. Exemplarisch sei auf das Phänomen verwiesen, dass in der Didache, der ältesten erhaltenen Kirchenordnung, die gesamten ersten sechs Kapitel nur dieser Thematik vorbehalten sind und dass die entsprechenden Züge der Botschaft Jesu, die in den synoptischen Traditionen in unterschiedlichen narrativen Kontexten vermittelt werden, unmittelbar miteinander verschränkt werden. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass Tertullian an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert in seinem ‚Apologetikum‘, einer der ersten großen Verteidigungsschriften des christlichen Glaubens, hervorheben kann, dass gerade diese ethischen Dimensionen von entscheidender Bedeutung dafür waren, dass sich aus der Wandermission Jesu schließlich eine eigenständige religiöse Bewegung formieren konnte, die in verschiedensten geographischen Regionen und sozialen Gruppen der antik-mediterranen Welt Anhänger gewinnen konnte.
Angesichts der zuvor skizzierten Bedeutung, welche der Begriff ‚Liebe‘ bzw. eine Liebesethik für verschiedene Facetten frühchristlicher Traditions- und Schulbildungen hat, könnte postuliert werden, dass die entsprechenden Konzeptionen des Paulus eigentlich keine Besonderheit darstellen. Einer solchen Einschätzung 212 Vgl. W. Popkes, Jakobus, 200: „Jak betreibt keine Fundamentalkritik des Glaubens, sondern korrigiert eine Fehlbehandlung des Themas. Wichtig ist, daß der Glaube ins Leben hinein wirkt. Die ἔργα haben mit Werkgerechtigkeit nichts zu tun, sondern sind Lebenszeichen wirklichen Glaubens.“ 213 Ausführlich hierzu vgl. E. E. Popkes, Liebe, 75–167; T. Söding, Liebesgebot, 124 f. bzw. 130 ff.; J. Zumstein, Dieu, 104; H.-J. Klauck, Johannesbrief, 244. Zur Korrespondenz von 1 Kor 13 und 1 Clem 49,1 ff. vgl. O. M. Bakke, Concord, 265 Anm. 1193; L. Sanders, Saint Clément, 94 f.; D. A. Hagner, Use, 200 f. Dabei gilt es zu beachten, dass im Vergleich zu den paränetischen Instruktionen, die Paulus gegenüber seinen Adressaten in Korinth formulierte, und im Vergleich mit den Erwägungen des Verfassers des ersten Clemensbriefs in 1 Joh 4,7–5,4 kaum zur Sprache gebracht wird, in welchen Verhaltensformen sich die gegenseitige Liebe der Glaubenden konkret zeigen soll. 214 Zu diesem Begriff vgl. E. E. Popkes, Liebe, 355 ff.
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soll jedoch mit Nachdruck widersprochen werden. Bei Paulus lässt sich nämlich eine weitere Begründungsstruktur beobachten, die bei den genannten traditionsgeschichtlichen Vergleichsgrößen so nicht zutage tritt. Worin dieselbe besteht, soll im folgenden Arbeitsschritt erläutert werden. 4.4 Christus-Mystik‘ bzw. mystisch-partizipatorische Aussagen‘ Als pharisäisch ausgebildeter Schriftgelehrter war Paulus mit dem breiten Spektrum unterschiedlicher Messias-Verständnisse und messianischer Erwartungen seiner Zeit vertraut. Obwohl es zur Zeit Jesu keine einheitliche ‚Christus-Dogmatik‘ gab, sondern sehr unterschiedliche Verständnisse des Begriffs ‚Messias‘ und messianischer Erwartungen215, können viele christologische Konzepte des frühen Christentums nicht aus dem zeitgenössischen Judentum abgeleitet werden. Dies gilt auch für Traditionsformeln, die Paulus als Überlieferungen kennzeichnet, welche er aus dem ‚vorpaulinischen Christentum‘216 übernimmt und weitergibt. Paradigmatisch sei auf die Formel Χριστὸϛ ἀπέθανεν ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν κατὰ τὰϛ γραϕάϛ (1 Kor 15,3b) verwiesen, in der eine christologische Interpretation der deuterojesajanischen Gottesknechtslieder (Jes 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12) zutage tritt, welche für verschiedene frühchristliche Schul- und Traditionsbildungen von grundlegender Bedeutung waren (vgl. u. a. Phil 2,5–11; Act 8,32–40; 1 Petr 2,18–25; Mk 10,42–45; 14,22–26 etc.)217. Paulus überliefert jedoch nicht nur vorgegebene christologische Konzepte, sondern er ist aufgrund seiner religiösen Bildung selbst in hohem Maße kreativ und innovativ, den Christus-Begriff neu zu bestimmen. Für viele dieser Konzepte lassen sich religionsgeschichtliche Vorgaben aus dem Horizont alttestamentlich-frühjüdischer Traditionsbildungen benennen. Ein Themenfeld, welches für die vorliegende Studie von hoher Relevanz ist, fällt diesbezüglich jedoch aus dem Rahmen. Dabei handelt es sich um jene Facetten paulinischer Theologie, die in wissenschaftlicher Beschreibungssprache bereits als ‚Chris-
215 Dabei gilt es zu beachten, dass in frühen Traditionsstadien unterschiedliche Bestimmungen des Begriffs ‚Messias‘ und sogenannte ‚messianische Erwartungen‘ sich unabhängig voneinander entwickeln konnten und erst in jüngeren frühjüdischen Konzepten in facettenreicher, teils konträrer Weise aufeinander bezogen werden konnten. Vgl. M. Hengel/A. M. Schwemer, Jesus, 461 ff.; K.-W. Niebuhr, Erwartungen, passim; M. Karrer, Gesalbte, 95ff; G. Theißen/A. Merz, Jesus, 462 ff. etc. 216 Zur Problematik dieses Begriffs vgl. Kapitel 4; Anm. 12. 217 Zur Rezeption der Gottesknechtstraditionen in frühchristlichen Zeugnissen vgl. P. Stuhlmacher, Evangelien, passim; O. Hofius, Gottesknechtslieder, passim.
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tus-Mystik‘, ‚Christus-Teilhabe‘ bzw. als ‚mystisch-partizipatorische Aussagen‘218 bezeichnet werden konnten219 (exemplarisch sei auf den locus classicus der paulinischen Versöhnungsvorstellung 2 Kor 5,17–21 verwiesen, insbesondere V 19a: ὡϛ ὅτι θεὸϛ ἦν ἐν Χριστῷ κόσμον καταλλάσσων ἑαυτῷ). Diese u. a. im Kontext der sogenannten ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘ und von Albert Schweitzer formulierten Ansätze einer Paulus-Deutung, die forschungsgeschichtlich vorübergehend wieder in den Hintergrund getreten waren, werden in jüngeren Diskursen wieder intensiv debattiert. Dies gilt im besonderen Maße für die Auseinandersetzung innerhalb bzw. mit der sogenannten ‚New Perspective on Paul‘220. Für die vorliegende Fragestellung sind diese Facetten paulinischen Denkens von Relevanz, weil sie in den meisten Fällen nicht aus religionsgeschichtlichen Vorgaben abgeleitet werden können, die in schriftlich manifestierten Quellen dokumentiert wurden. Sie können vielmehr als die sprachlichen Niederschläge von Reflexionsprozessen verstanden werden, welche durch subjektive Erfahrungen des Paulus inspiriert wurden. Diese Erfahrungsreflexionen sind für viele Aspekte paulinischen Denkens von fundamentaler Bedeutung. Und wenn Paulus eine Liebesethik formuliert, deren Begründungsstrukturen zuweilen gerade nicht aus traditionsgeschichtlichen Vorgaben abgeleitet werden können, so ist es naheliegend zu fragen, inwieweit es sich hierbei – um es mit der Terminologie der vorliegenden Studie zu sagen – um ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ gehandelt hat221. Um diesen Sachverhalt erläutern zu können, sollen nun eine Reihe von einzelnen Beobachtungen einander zugeordnet werden, die in den vorher218 So M. Wolter, Paulus, 256. Zur Skizze entsprechender Motive op. cit., 227–258 etc. Demgegenüber bezeichnet z. B. U. Schnelle, Paulus, 545 bzw. 629 diese Facetten paulinischen Denkens als Aussagen über das „neue Sein als Partizipation an Christus“ bzw. das „Leben im Raum des Christus.“ 219 Zur Geschichte, Kritik und zu den Potenzialen dieser Kategorien vgl. K. Lehmkühler, Inhabitatio, 23 ff.; C. R. Campbell, Union, passim; J. D. G. Dunn, Theology, 390 ff.; A. F. Segal, Paul, 34 ff.; M. Wolter, Paulus, 227–258; H.-C. Meier, Mystik, 3–26; L. Scornaienchi, Sarx, 208–213 etc. 220 Auch wenn sich innerhalb dieser ‚neuen Paulusperspektiven‘ zuweilen sehr unterschiedliche Interpretationsansätze erkennen lassen, werden dieselben von der prinzipiellen Frage geleitet, inwieweit eine an einer lutherischen Dogmatik orientierte Paulus-Deutung mit unangemessenen Prämissen auf jene antik-mediterranen Texte zugeht und aus diesem Grund deren religionsgeschichtlichen Eigentümlichkeiten nicht erfassen kann. Zur Forschungsgeschichte und zu gegenwärtigen Diskursen solcher neuen Perspektiven auf Paulus vgl. J. D. G. Dunn, New Perspective, passim; K. L. Yinger, Introduction, passim. 221 Die ethischen und sozialen Dimensionen dieser ‚Christus-Mystik‘ werden von G. Tiedemann, Erfahrung, 345 folgendermaßen charakterisiert: „‚In Christus‘ kommt es zu einer Umwertung der Werte“ die dazu führt, dass „traditionelle Klassifizierungen, die bisher über die Einbettung des Individuums in das Gemeinwesen entschieden, (…) ‚in Christus‘ an bestimmender und definierender Kraft“ relativiert werden.
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gehenden Arbeitsschritten zusammengetragen wurden: Wie bereits erwähnt wurde, lassen sich zentrale Aspekte der paulinischen Theologie nicht unmittelbar aus den Traditionen ableiten, die Jesus bzw. den vorpaulinischen Nachfolgern Jesu zugeordnet werden können (vgl. Kapitel 4; Arbeitsschritt 1.5.2). Stattdessen wird Paulus sogar mit dem Vorwurf konfrontiert, dass seine Lehre partiell eine Verfälschung der Botschaft Jesu sei (vgl. Kapitel 4; Arbeitsschritt 1.5.3). Religionsgeschichtlich betrachtet weist jedoch vor allem die paulinische Betonung der Liebe bzw. des Liebesgebots eine Affinität zur Ethik Jesu auf. Religionsphänomenologisch betrachtet entsprechen die Dimensionen der Hervorhebung der Liebe bzw. eines Ethos der Liebe in der Theologie des Paulus aber zudem jenen Welt- und Menschenbildern, die Menschen infolge von Nahtoderfahrungen entwickeln, die als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ kategorisiert werden können. Entsprechend reichen auch die anthropologischen und kosmologischen Dimensionen der paulinischen Eschatologie deutlich über jene vorpaulinischen Erwartungen hinaus (vgl. Kapitel 4; Arbeitsschritt 4.2). Religionspsychologisch betrachtet ist bemerkenswert, dass Paulus eine solche Transformation seiner Religiosität infolge einer Erfahrung entwickelt, auf die er selbst nur unfreiwillig zu sprechen kommt. Im Zusammenhang der Infragestellung seiner Person und Lehre, die Paulus zur Abfassung von 2 Kor 10–13 veranlasste, verweist er lediglich auf eine außerkörperliche Erfahrung bzw. Himmelsreise (2 Kor 12,1–5). Die Besonderheit dieses Verweises besteht wiederum darin, dass Paulus hervorhebt, dass er die inhaltliche Botschaft jener Erfahrung nicht mit Worten vermitteln kann (zu 2 Kor 12,4 vgl. Kapitel 4; Arbeitsschritt 2.3). Vor diesem Hintergrund gilt es sich nun einen weiteren Aspekt aus der Klimax des ‚Hohelieds der Liebe‘ (1 Kor 13) zu vergegenwärtigen, welcher mit dem Motiv der Unaussprechbarkeit der in 2 Kor 12,1–5 erwähnten Erfahrung inhaltlich-sachlich korrespondiert, nämlich die These, dass die vorfindliche Existenz nur ‚durch einen Spiegel in einem Rätsel‘ (1 Kor 13,12a) wahrgenommen werden kann. 4.5 Rätselhafte Spiegelbilder‘ (1 Kor 13,12a), Unaussprechliche Worte‘ (2 Kor 12,4) und die Unbeschreiblichkeit von Erfahrungen göttlicher Liebe‘ In der Klimax seines ‚Hohelieds der Liebe‘ (1 Kor 13,12 f.) formuliert Paulus eine These, welche seit den Anfängen ihrer Interpretations- und Wirkungsgeschichte eine hohe Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte und die zum Teil völlig konträre Deutungen erfuhr222. 1 Kor 13,12 zufolge können Menschen in 222 Zur Skizze entsprechender Deutungsansätze vgl. W. Schrage, Korinther III, 351–359.
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ihrer vorfindlichen Existenz sich selbst und ihre Mitwelt nur in einer abbildhaften Weise wahrnehmen. Dies wird in der Formel βλέπομεν γὰρ ἄρτι δἰ ἐσόπτρου ἐν αἰνίγματι auf zwei Ebenen vermittelt. Bereits das Motiv des Spiegels hebt hervor, dass eine unmittelbare Selbstwahrnehmung der eigenen Existenz nicht möglich ist223. Dieser Vorbehalt wird nochmals zugespitzt, indem die im Spiegel sichtbare visuelle Wahrnehmung mit einem neutestamentlichen hapax legomenon als ‚Rätsel‘ bzw. ‚Rätselbild‘ bezeichnet wird. Diesem eschatologischen Vorbehalt entspricht es, wenn Paulus im Folgenden konstatiert, dass in der vorfindlichen Existenz nur eine partielle Erkenntnismöglichkeit gegeben ist (vgl. 1 Kor 13,12 c: ‚Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich auch erkannt bin.‘). Eine umfassende Selbsterkenntnis und Erkenntnis Gottes ist erst in der eschatologischen Vollendung möglich (1 Kor 13,12 b: ‚… dann aber von Angesicht zu Angesicht.‘). An den konträren Interpretationen dieser Aussagen tritt signifikant ein Grundproblem einer Deutung nahezu aller Facetten paulinischen Denkens zutage, nämlich die Frage, in welchem Maße paulinische Aussagen durch einen Rekurs auf religions- bzw. traditionsgeschichtliche Bezugsgrößen interpretiert werden können und in welchem Maße sie kreativ-innovative Vorstellungen vermitteln, deren Spezifität es im Kontrast zu derartigen Bezugsgrößen herauszuarbeiten gilt. In Bezug auf 1 Kor 13,12 a kann festgehalten werden, dass es für die Spiegel-Metaphorik im Bereich der alttestamentlich-frühjüdischen Traditionsgeschichte ebenso wie in der nicht-jüdischen antik-mediterranen Religions- und Philosophiegeschichte eine Vielzahl von Vergleichsgrößen gibt224. Für die vorliegende Fragestellung ist dabei interessant, dass diesbezüglich vor allem die platonische und mittelplatonische Philosophie vielfache Anschlussmöglichkeiten bietet225. Die platonische Ideenlehre und das diese Lehre veranschaulichende Höhlengleichnis basieren fundamental auf der Annahme, dass in der vorfindlichen Existenz nur Schattenbilder bzw. Abbilder der eigentlichen Existenzgrundlagen zu erkennen sind. Eine Leitthese der vorliegenden Studie besteht wiederum darin, dass jenes platonische Welt- und Menschenbild aus der Reflexion von Erfahrungen entstanden ist, die heute mit dem unpräzisen Begriff Nahtoderfahrungen bezeichnet werden. Die Affinität von 1 Kor 13,12 zu den 223 Zur Frage der konkreten materialen Bezugsgrößen des Begriffs vgl. O. Wischmeyer, Weg, 130–133 bzw. 217 ff. 224 Zum weiten Spektrum unterschiedlicher Vorformen der Teilaspekte dieser Metaphorik in Zeugnissen der antik-mediterranen Religions- und Philosophiegeschichte vgl. W. Schrage, Korinther III, 310–315. 225 Diese Anschlussfähigkeit ist auch unabhängig von der Frage einer historisch-genetischen Zuordnung gegeben, wenn religionsphänomenologische Zugangsperspektiven gewählt werden. Zum Verhältnis religionsgeschichtlicher und religionsphänomenologischer Zugangsperspektiven vgl. Kapitel 4; Arbeitsschritt 3.
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entsprechenden Facetten platonischen Denkens könnte somit auf unterschiedliche Weise erläutert werden. Dabei gilt es zunächst hervorzuheben, dass eine zentrale Aussage von Paulus auch unabhängig von der Frage traditions- und religionsgeschichtlicher Bezugsgrößen erfasst werden kann. Paulus konfrontiert seine Leserinnen und Leser mit der These, dass sie die Eigentümlichkeit ihrer eigenen Existenz noch nicht angemessen erfassen können. Es bedarf einer eschatologischen Vollendung, in der jenes Rätselbild und die fragmentierte Erkenntnisfähigkeit aufgehoben werden. Dies evoziert die Frage, wie Paulus zu dieser Einsicht gekommen ist? Würde man diese Frage im Sinne einer religionshistorischen Ableitung beantworten wollen, so könnte postuliert werden, dass Konzepte wie z. B. die platonische Kontrastierung von Abbildern und Urbildern auf Paulus eingewirkt und ihn zu einer eigenständigen Versprachlichung derselben inspiriert haben. Eine Präsenz platonischer Bildungsgüter ist gerade bei den Adressaten des Paulus in einer Stadt wie Korinth in hohem Maße plausibel226. Religionspsychologisch betrachtet könnte jedoch auch gefragt werden, ob jene paulinische These Erfahrungen widerspiegelt, die Paulus für sich selbst in Anspruch nimmt. Die Affinität zu platonischen Vorstellungen wäre demnach darauf zurückzuführen, dass beide Konzepte auf vergleichbare Erfahrungsmuster zurückgehen, die in ähnlicher, aber nicht identischer Weise gedeutet und versprachlicht wurden. Doch auch unabhängig von der Frage einer religionshistorischen Profilierung von 13,12a gilt es m. E. eine innerpaulinische Parallele zu reflektieren, die in bisherigen Diskussionen zu 1 Kor 13,12 zu wenig thematisiert wurde. In 1 Kor 13,12 f. wird das Motiv einer eschatologischen Vollendung angesprochen, welche Paulus zufolge in der vorfindlichen Existenz nicht erreichbar ist. Steht eine solche Aussage dem Selbstanspruch des Paulus nahe, ein ‚Mysterion‘ (‚Geheimnis‘) erfahren zu haben, aufgrund dessen er seinen Adressaten in den Gemeinden in Rom anvertrauen kann, dass Gott sich ‚aller erbarmen wird‘ (Röm 11,25 f.32)227? Könnte die in 1 Kor 13,12 umschriebene eschatologische Hoffnung 226 Zur Präsenz und Vermittlung entsprechender Bildungsgüter und Kulte in Korinth zur Zeit des paulinischen Wirkens vgl. P. Coutsoumpos, Corinth, 45–59; J. Murphy O’Connor, Corinth, passim; E. Ebel, Korinth, 151 ff.; V. Gäckle, Korinth, 110 ff. etc. 227 An den konträren Einordnungen und Bestimmungen der Funktion der Verwendung des Begriffs μυστήριον in Röm 11,25 f. treten wie in einem Brennglas die religionsgeschichtlichen und theologischen Prämissen zutage, welchen den jeweiligen Paulusbildern der Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer zugrunde liegen. Zur Skizze der zuweilen völlig gegensätzlichen Interpretationsansätze vgl. J. Adam, Versöhnung, 364 ff.; J. D. G. Dunn, Theology, 40 f.; R. E. Brown, Background, passim; U. Wilckens, Römer II, 255 f.; M. Hengel, Paulus, 461 ff.; M. Theobald, Paulus, 177 f. Die Spezifität des vorliegenden Diskussionsimpulses besteht darin, Röm 11,25 f. vor dem Hintergrund der skizzierten Interpretation von 2 Kor 12,1–5 zu entfalten.
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einen Sachverhalt umschreiben, den Paulus in einem anderen Zusammenhang als ‚unaussprechbar‘ bezeichnete? Wie zuvor herausgearbeitet wurde, besteht die Besonderheit der in 2 Kor 12,1–5 erwähnten außerkörperlichen Erfahrung bzw. Himmelsreise des Paulus darin, dass er nicht benennt, was die Botschaft bzw. Erkenntnis derselben war (zum Motiv der ‚unaussprechlichen Worte, die kein Mensch sagen kann‘ [2 Kor 12,4] s. o. Kapitel 4; Arbeitsschritt 2.3). Bestand die ‚Einzigartigkeit der Offenbarung‘ (2 Kor 12,7) darin, dass Paulus in Ansätzen erfahren hat, was es heißt, die eigene Existenz nicht mehr ‚durch einen Spiegel in einem Rätsel‘ (1 Kor 13,12 a) zu sehen, so dass er erahnen konnte, was es heißt ‚von Angesicht zu Angesicht‘ zu erkennen. Die Besonderheit dieser Zuordnung tritt noch deutlicher zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, dass jenes Hohelied der Liebe in eine Schlussthese mündet, welche die Liebe in einer analogielosen Weise ins Zentrum der paulinischen Eschatologie rückt: ‚Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei: Aber die Liebe ist die größte unter ihnen.‘ (1 Kor 13,13). Kommt jene Erfahrung, die Paulus nur umschreibt, demjenigen Erfahrungsmuster nahe, das gegenwärtig mit dem sachlich unpräzisen Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ bezeichnet wird? Oder um es mit der Terminologie der vorliegenden Studie zu sagen: Können die Lebenswende oder die außerkörperliche Erfahrung des Paulus als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ gedeutet werden, in deren Folge dem Leben und der Lehre des Paulus eine fundamentale ‚Transformationserfahrung‘ widerfuhr? Rückt Paulus Liebe in das Zentrum seiner Theologie, Ethik und Eschatologie, weil er erfahren hat, was es heißt, dass ‚Gott alles in allem sein wird‘ (1 Kor 15,28) und dass ‚von ihm und durch ihn und zu ihm‘ (Röm 11,36) alles existiert? Diese Frage soll hiermit zur Diskussion gestellt werden. Für mich selbst kann ich sie nur mit Nachdruck bejahen.
Kapitel 5: Rückblicke und Ausblicke
Im Folgenden sollen die wesentlichen Erträge skizziert werden, welche die Verhältnisbestimmungen von sogenannten ‚Nahtoderfahrungen‘ mit platonischen und paulinischen Traditionen zutage treten ließen. Dabei soll zunächst separat voneinander rekapituliert werden, in welcher Weise derartige Erfahrungsmuster als Zugänge zum Platonismus und zur Lebenswende bzw. Himmelsreise des Paulus betrachtet werden können (1 bzw. 2). Vor diesem Hintergrund kann skizziert werden, in welchem inhaltlich-sachlichen und religionsgeschichtlichen Verhältnis diese auf den ersten Blick konträren Konzepte zueinander stehen und in welcher Weise sie neue Perspektiven auf die Entwicklungsgeschichte frühchristlicher Auferstehungsvorstellungen eröffnen, die im zweiten Teil der vorliegenden Studie im Zentrum stehen (3).
1. Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus In den Dialogen Platons begegnen verschiedene Analogien zu jenen Erfahrungsmustern, die heute mit dem eigentlich unpräzisen Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden. Besonders leicht zu identifizierende Analogien liegen im Kontext der sogenannten platonischen Jenseits-Mythen vor. Obwohl Platon viele Aspekte überlieferter Mythen explizit kritisierte, konzipierte er selbst mythische Erzählformen, die als eine Veranschaulichung einer dem Logos verpflichteten Sprachform verstanden werden können. In Bezug auf Jenseitsvorstellungen liegen in den platonischen Dialogen mindestens sechs solcher Erzählungen vor, nämlich in der Politeia (Plato Polit. 614 a–621 b), der Apologie des Sokrates (Plato Apol. 40 e–41 c), im Gorgias (Plato Gorg. 523 a–527 a), Menon (Plato Men. 81 a–e), Phaidon (Plato Phaid. 107 d–114 c) und Phaidros (Plato Phaidr. 246 a–257 a). Auch wenn die dabei referierten Jenseitsvorstellungen in unterschiedlichen argumentativen Kontexten begegnen, lassen sie deutliche Berührungen erkennen. Sie beleuchten jeweils unterschiedliche Teilaspekte von Jenseitsvorstellungen. Für die vorliegende Fragestellung ist vor allem der Jenseits-Mythos aufschlussreich,
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Rückblicke und Ausblicke
welchen Platon im letzten Buch des Dialogs Politeia an exponierter Stellung loziert, nämlich in der Klimax der Komposition des gesamten Werkes. Platon bezeichnet denselben als einen Erfahrungsbericht, und zwar als die Erfahrung des pamphylischen Soldaten Er, der während einer Schlacht schwer verwundet und für tot gehalten wurde. Kurz bevor sein Leichnam verbrannt werden sollte, sei er wieder zu Bewusstsein gekommen und habe dann berichten können, was er in Todesnähe erfahren habe. Der Erzählung zufolge sollte jener Soldat in das vorfindliche Leben zurückkehren, damit er von seinen Erfahrungen in jener anderen Dimension erzählen kann. Obwohl dieser Mythos seit den Anfängen der Nahtodforschung als eine antik-philosophische Vergleichsgröße verstanden wird, wurde bisher nicht angemessen herausgearbeitet, wie weit die Parallelen platonischen Denkens zu weiteren Aspekten von Nahtoderfahrungen reichen. Angesichts dessen soll als ein erstes Teilergebnis der vorliegenden Studie folgende These zur Diskussion gestellt werden: Sowohl einzelne Motive als auch das Welt- und Menschenbild des Platonismus lassen sich mit vielen unterschiedlichen Teilaspekten von Erfahrungsmustern vermitteln, die heute mit dem eigentlich unpräzisen Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ bezeichnet werden (dies gilt im besonderen Maße für jene Erfahrungsmuster, die in der vorliegenden Studie als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ bezeichnet werden). Aus diesem Grund können wesentliche Aspekte des Platonismus als das Resultat einer intellektuellen Reflexion von Erfahrungen verstanden werden, die heute unter den genannten Begriffen subsumiert werden. Die Beobachtungen, die zu einer solchen Einschätzung führen, können folgendermaßen zusammengefasst werden: Dem Schlussmythos des Dialogs Politeia zufolge bekommt jener Soldat Er in der jenseitigen Welt den Auftrag, in sein bisheriges Leben zurückzukehren. Er soll erzählen, wie die vorfindliche Welt eigentlich zu verstehen ist. Sowohl der Duktus der Erzählung als auch eine Vielzahl textstruktureller und terminologischer Details lassen eine Analogie zu den anthropologischen und kosmologischen Grundmotiven des bekanntesten platonischen Gleichnisses erkennen, dem Höhlengleichnis. Mit diesem Gleichnis veranschaulicht Platon einen zentralen Aspekt seiner Philosophie, nämlich die sogenannte Ideenlehre. Platon zufolge muss die vorfindliche Existenz als eine Höhlenexistenz verstanden werden. In jener Höhle sind Menschen derartig stark gefesselt, dass sie nicht einmal ihren Kopf frei bewegen können und lediglich die Rückwand jener Höhle sehen. Auf dieser Wand erscheinen wiederum Schattenbilder, und zwar Schattenbilder von Gegenständen, die am Rand der Höhle umhergetragen werden. Jene Gegenstände und die Lichtquelle, welche deren Schattenbilder produziert, sind für die Menschen in der Höhle jedoch nicht erkennbar. Gleichwohl versuchen die Höhlenbewohner die Schattenbilder zu analysieren und zu deuten. Diese Aspekte veranschaulichen die platonische Anthropologie. Das Bild der Höhle entspricht der unsterblichen Seele,
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die in einem sterblichen Körper existiert. Die Schattenbilder entsprechen den Abbildern, deren Urbilder in diesem Leben nicht erkannt werden können, Abbilder jener Urbilder, die Platon als ‚Ideen‘ bezeichnet. Wenn Personen in jener Höhle jedoch von ihren Fesseln befreit werden und die Höhle verlassen können, erkennen sie die Komplexität der Welt außerhalb der Höhle. Nachdem sie schrittweise realisieren, dass sie in der Höhle nur Abbilder gesehen haben, erkennen sie außerhalb der Höhle die eigentlichen Gegenstände und die Lichtquelle, welche jene Schattenbilder produziert hat. Wenn sie sich Schritt für Schritt an das Licht im Freien gewöhnt haben, so werden sie schließlich auch fähig sein, die Quelle allen Lichts und Lebens zu erkennen, die Sonne. Wenn solche Personen wiederum in die Höhle zurückkehren, können sie den Gefesselten die Welt außerhalb der Höhle nicht adäquat beschreiben. Wie kann anderen Höhlenbewohnern erklärt werden, dass auf der Rückwand der Höhle nur zweidimensionale schwarze Schattenbilder zu sehen sind? Wie kann Menschen, die niemals außerhalb der Höhle waren, erklärt werden, was Farben sind, wie die Welt im Freien aussieht, was der Glanz der Sonne ist? Dieses von Platon in Gestalt eines Gleichnisses vermittelte Welt- und Menschenbild veranschaulicht eine weitere Analogie zu jenem Phänomen, welches Nahtoderfahrene immer wieder betonen: die Unbeschreiblichkeit der Erlebnisse. Nahtoderfahrene betonen immer wieder, dass sie ihre Erfahrungen kaum mit den Worten und Beschreibungsformen veranschaulichen können, die ihnen zur Verfügung stehen. Oder um es mit den Worten Platons als Frage zu formulieren: Sind Nahtoderfahrene Menschen, welche die Höhle verlassen haben, als welche Platon das vorfindliche Leben versteht? Ebenso haben viele Nahtoderfahrene oft Angst, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Sie haben Angst, dass sie schlicht für verrückt gehalten werden. So ergeht es Platon zufolge auch Personen, welche aus dem Freien in die Dunkelheit der Höhle zurückkehren und von ihren Erkenntnissen berichten wollen. Dass dieselben für verrückt gehalten werden, ist für Platon noch eine milde Reaktion. Platon zufolge kann ihnen Verfolgung und Tod drohen, weil sie ein bestehendes Weltbild infrage stellen. Weitere Analogien begegnen im Zusammenhang der platonischen Ideenlehre, welche u. a. mit dem Höhlengleichnis veranschaulicht wird. Jene Personen, die die Höhle verlassen, erkennen die eigentliche Lichtquelle des Lebens. Die Welt außerhalb der Höhle entspricht der Dimension der Ideen. Die Schattenbilder in der Höhle entsprechen der Dimension der Abbilder jener Ideen. Der semantische Gehalt des griechischen Begriffs ἰδέα, der aus dem Wortfeld ὀράω κ.τ.λ. bzw. speziell dem Aorist ἰδεῖν abzuleiten ist, bezeichnet etwas, was gesehen und somit verstanden bzw. erkannt werden kann. Die skizzierten Aspekte des Höhlengleichnisses und der Ideenlehre entsprechen der platonischen Anthropologie. Ein Grundmotiv derselben besteht
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darin, dass die Seele (bzw. präziser die unsterblichen Anteile der Seele) unsterblich ist und nur temporär in einem sterblichen Körper wohnt. Im Moment des körperlichen Todes befreit sich die Seele dann wieder aus jener Behausung, die Platon als Grab oder Gefängnis bezeichnen kann. Nach einer Phase einer Läuterung tritt die Seele eine neue Inkarnation an. Die Reinkarnationen dienen einem Lernprozess, der eine tugendhafte, auf Gerechtigkeit ausgerichtete Lebenshaltung ermöglichen soll. Auf diese Weise kommt die Seele der ὁμοίωσιϛ θεῷ immer näher, der Angleichung an Gott. Die unsterbliche Seele ist für Platon wiederum eigentlich allwissend. Sie hat dies während ihrer körperlichen Existenz nur vergessen. Dieser Anamnesislehre zufolge ist Lernen schlicht die Wiedererinnerung an jene Allwissenheit. Auch zu diesem Motiv gibt es eine Vielzahl von Vergleichspunkten in jenen Erfahrungsberichten, die heute als Nahtoderfahrungen bezeichnet werden. Letzteres gilt ebenfalls für eine religionsgeschichtliche Eigentümlichkeit der platonischen Seelenwanderungsvorstellung, die in vorsokratischen Traditionen nur partiell Vorentwicklungen besitzt (z. B. bei Pindar, Pythagoras oder Empedokles, in orphischen oder schamanistischen Traditionen etc.). Im Gegensatz zu diesen Vorformen einer Seelenwanderungsvorstellung entwirft Platon jedoch eine ausgearbeitete Seelenwanderungslehre. Für jene Aspekte, die für diese Lehre als Gesamtsystem von zentraler Bedeutung sind, lassen sich oft nur fragmentarische bzw. keine religions- bzw. philosophiegeschichtliche Vorgaben benennen (zumindest nicht im Bereich der antik-mediterranen Welt, von der Platon primär geprägt wurde). Gerade jene spezifisch platonischen Strukturelemente einer Seelenwanderungsvorstellung besitzen jedoch zuweilen signifikante Analogien im Bereich von sogenannten Nahtoderfahrungen (exemplarisch sei verwiesen auf das Motiv der Anamnesislehre bzw. der verborgenen Allwissenheit der Seele, die Beteiligung der Seele an der Wahl kommender Reinkarnationen und das Motiv der Begegnung mit einem Licht, das als ‚Band des Himmels‘ bezeichnet wird und dessen Lichtqualität noch intensiver sei als ein Regenbogen). Die Vollendung der Seele bzw. der Angleichung an Gott lässt Platon seinen Protagonisten Sokrates im Dialog Phaidon in einer außergewöhnlichen Situation andeuten, nämlich unmittelbar vor dessen Hinrichtung. Dieses erzählerische Detail dokumentiert in mehrfacher Hinsicht die literarische Meisterschaft Platons. Der Tod des Sokrates wird zum Sinnbild einer ars moriendi, einer Kunst, mit dem unvermeidlichen Schicksal des Todes zuversichtlich und hoffnungsvoll umzugehen. Platon lässt Sokrates das Ziel der Seelenwanderung jedoch nur andeutungsweise erwähnen (Phaid. 114c2–6: „Welche nun unter diesen durch Weisheitsliebe sich schon gehörig gereinigt haben, diese leben für alle künftigen Zeiten gänzlich ohne Leiber und kommen in noch schönere Wohnungen als diese, welche weder leicht wären zu beschreiben, noch würde
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die Zeit für diesmal ausreichen.“). Eine präzisere Beschreibung wird in diesem Zusammenhang nicht ausgeführt. In Bezug auf diese als Aussparungsstelle zu verstehende Passage muss zwischen der textinternen Welt der Erzählung und der textexternen Situation in der platonischen Akademie unterschieden werden. In der textinternen Welt der Erzählung wird Sokrates keine Gelegenheit mehr haben, jene Vollendung zu beschreiben. Seine Hinrichtung steht unmittelbar bevor – oder positiv formuliert: Sokrates geht seiner Vollendung entgegen, und zwar so gelassen, dass er nicht flieht und sogar selbst den todbringenden Schierlingsbecher trinkt. In der textexternen Situation der platonischen Akademie kann jene Aussparungsstelle jedoch gefüllt werden, und zwar sowohl durch Rekurse auf andere Texte des Corpus Platonicum als auch im Sinne der ungeschriebenen Lehren. Eine mögliche Interpretation jener Aussparungsstelle lässt sich im Kontext der platonischen Deutung des Geheimnisses erotischer Faszination und im Motiv der unendlichen Sehnsucht der Seele nach ihrer himmlischen Heimat herausarbeiten. Dies gilt im Besonderen für die Diotima-Rede im Dialog Symposion und die Palinodie im Dialog Phaidros, die in Bezug auf ihre erzählerischen Kompositionen und ihre mysterien-kultische Terminologien signifikante Affinitäten zueinander aufweisen. So lässt Platon im Dialog Symposion seinen Protagonisten die Rede der mantinischen Priesterin Diotima referieren, durch welche Sokrates in die ‚höchsten Geheimnisse der Liebe‘ eingeweiht worden sein soll. Demnach muss jeder Mensch die Stufenleiter einer Entwicklung durchlaufen, an deren Ende der eigentliche Zielpunkt jeder erotischen Faszination erkannt werden kann, nämlich die Schau und Erkenntnis des ‚Göttlich-Schönen‘. Alle Schönheit der vorfindlichen Welt ist Platon zufolge nur ein Abbild jener göttlich-schönen Urquelle. Entsprechend lässt Platon Diotima bzw. Sokrates hervorheben, dass keine Seele jemals zur Ruhe gelangen kann, bevor sie nicht zur Schau der Urquelle alles Schönen gelangt ist. Während Platon dieses ‚Göttlich-Schöne‘ im Zusammenhang der Diotima-Rede des Symposions lediglich indirekt bzw. via negationis umschreibt, begegnen entsprechende Ausführungen in der Palinodie des Dialogs Phaidros. Diese zu den grammatikalisch und metaphorisch anspruchsvollsten Texten aller platonischen Dialoge gehörende Rede veranschaulicht mit dem Bild eines Flugs der Seele, was im Moment erotischer Faszination für das menschliche Individuum in Ansätzen spürbar wird: Die Seele spürt wieder jene Flügel, über die sie während ihrer körperlichen Existenz eigentlich nicht verfügen kann. Sie kann sich wieder aufschwingen in jene himmlische Heimat, aus der sie eigentlich stammt, und sie erahnt die Schau der Idee des Schönen und des Guten. Nach dieser göttlichen Schönheit und Heimat sehnt sich die Seele fortwährend und unermesslich zurück. Sie nimmt wieder die Schwingung des Kosmos wahr, wel-
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che die Urform jeder Musik ist, welche in diesem Leben wahrgenommen werden kann. Diese Aspekte der platonischen Deutung des Geheimnisses erotischer Faszination weisen Analogien zu jenen Aspekten auf, die in der vorliegenden Studie als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ bezeichnet werden. Die skizzierten Analogien zwischen den Dialogen Platons und jenen Erfahrungsmustern, die heute mit dem eigentlich unpräzisen Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ bezeichnet werden, begegnen auch in verschiedenen Kontexten der weiteren Entwicklungsgeschichte des antiken Platonismus. Im Besonderen gilt dies für Plotin, den Stammvater des sogenannten Neuplatonismus. Plotin nimmt für sich nicht in Anspruch, eine eigenständige neue philosophische Konzeption zu entwerfen. Er sieht sich vielmehr als einen treuen Interpreten Platons, den er oft schlicht als den ‚göttlichen Platon‘ bezeichnet. Es geht ihm darum, dessen eigentliche Lehre präziser zur Geltung zu bringen und vor Fehlinterpretationen zu bewahren. Analogien zu ‚Nahtoderfahrungen‘ im Generellen bzw. zu ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ im Speziellen begegnen vor allem in dem von Plotin entfalteten Motiv der sogenannten ‚Henosis‘, der ‚Einswerdung‘. Plotin zufolge stammen alle Ebenen des Seins aus dem ‚Göttlich-Einen‘, dem ‚Hen‘. Aus dieser göttlichen Einheit gehen weitere Ebenen der kosmologischen Ordnung hervor, vor allem die Weltseele, die Einzelseelen und die Materie. Ein zentrales Motiv der Platon-Deutung Plotins besteht darin, dass alles aus jener göttlichen Einheit stammt und dass alles in diese göttliche Einheit zurückstrebt. Plotin beschreibt in verschiedenen Zusammenhängen, was Menschen widerfährt, wenn sie während ihrer irdischen Existenz in Ansätzen die Wiedervereinigung mit dem göttlichen Hen, dem Einen erfahren. Diese Beschreibungen besitzen eine geradezu frappierende Ähnlichkeit zu neuzeitlichen Nahtoderfahrungen, insbesondere wiederum zu den als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ bezeichneten Teilaspekten. Der Diotima-Rede des Dialogs Symposion und der Palinodie des Dialogs Phaidros entsprechend hebt Plotin hervor, dass die Erkenntnis bzw. Erfahrung des Göttlich-Schönen in der körperlichen Existenz nur abbildhaft möglich ist. Dabei formuliert Plotin auch eine These, welche für die Diskussionen zum Problem der vermeintlichen ‚ungeschriebenen Lehren‘ Platons von Relevanz sein kann. Plotin zufolge kann bereits eine erste Ahnung der Einswerdung mit dem göttlichen Urgrund mit Worten nicht angemessen vermittelt werden. Nur derjenige kann es verstehen, der es selbst erfahren hat. Auch dieser Aspekt ist wiederum eine deutliche Analogie zu jenen Thesen, die heute Nahtoderfahrene formulieren. Es geht um unbeschreibliche Erfahrungen. Angesichts dessen kann abschließend nochmals jene bereits zuvor formulierte These rekapituliert werden, die als ein wesentlicher Ertrag der vorliegenden Studie verstanden werden kann: Zentrale Aspekte eines platonischen
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Welt- und Menschenbildes können als das Ergebnis intellektueller Reflexionen von Erfahrungen gedeutet werden, die heute unter dem Begriff ‚Nahtoderfahrungen‘ subsumiert werden, insbesondere jener Erfahrungsmuster, welche als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ zu benennen sind.
2. Nahtoderfahrungen als Zugänge zur paulinischen Lebenswende Bei der Suche nach religionshistorischen Vergleichsgrößen zu Nahtoderfahrungen wird immer wieder auf eine bedeutende Gestalt des frühen Christentums verwiesen, nämlich auf Paulus. Ebenso wie in Bezug auf Platon wurde jedoch bisher nicht angemessen herausgearbeitet, wie grundlegend diese Analogien sind. Allerdings treten dieselben nicht in der offenkundigen Deutlichkeit zutage, wie dies bei den platonischen Schriften der Fall ist. Um die vor allem indirekten Analogien angemessen erfassen zu können, gilt es sich zunächst einen Sachverhalt zu vergegenwärtigen, der für viele Leserinnen und Leser nicht selbstverständlich sein dürfte, die nicht mit einer historisch- kritischen Betrachtung der Geschichte des frühen Christentums vertraut sind. Es ist allgemein bekannt, dass die paulinische Theologie und das paulinische Missionswerk für die Entstehungsgeschichte des frühen Christentums von zentraler Bedeutung waren. Weniger bekannt ist jedoch der Sachverhalt, dass die Person des Paulus zunächst sehr umstritten war. Seine Theologie konnte sogar als eine Verfälschung der Botschaft Jesu bezeichnet werden. Diese Vorwürfe wurden wohlgemerkt von ‚Christen‘1 formuliert, die sich unmittelbar auf Jesus bzw. die frühe Jesusbewegung berufen und partiell sogar eine aktive Mission gegen Paulus betrieben haben. Warum vor diesem Hintergrund die vor allem indirekten Analogien zwischen Nahtoderfahrungen und der Lebenswende des Paulus so bemerkenswert sind, kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Paulus war zunächst ein Verfolger jener kleinen innerjüdischen Erneuerungsbewegung, die später den Namen ‚Christentum‘ erhalten sollte. Der pharisäisch ausgebildete Schriftgelehrte Paulus ist nicht Christ geworden, weil ihn christliche Interpretationen seiner jüdischen Bibel überzeugt haben. Die Ursache der Lebenswende des Paulus war eine Erfahrung. Erst infolge dieser Erfahrung hat Paulus begonnen, seine jüdische Bibel neu zu deuten. Was genau jene Erfahrung war, deutet Paulus selbst nur marginal an. Dabei gilt es zu beachten, dass er auf dieses Thema nicht freiwillig zu sprechen kommt, sondern nur dann, wenn 1
Zur Gefahr eines anachronistischen Missverständnisses dieses Begriff vgl. Kapitel 4; Anm. 12.
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er von Gegnern dazu genötigt wird. In den autobiographischen Passagen des Galaterbriefs erwähnt Paulus nur, Gott habe ihm seinen Sohn offenbart (Gal 1,15 f.). Entsprechend versteht er sich als einen unzeitgemäßen Zeugen der Auferstehung Jesu (1 Kor 9,1; 15,8). Weitere Ausführungen zur Lebenswende des Paulus begegnen lediglich in deutero- bzw. tritopaulinischen Traditionen. Der eigentlich anonyme Verfasser der Apostelgeschichte, der erst von altkirchlichen Autoren namentlich als Lukas identifiziert wurde, überliefert drei Erzählungen von der sogenannten ‚Damaskuserfahrung‘. Zwischen diesen drei Varianten lassen sich derartig markante Differenzen beobachten, dass man sich fragen muss, wie ein Autor in ein und demselben Werk solche Widersprüche stehen lassen kann. Aber ein Aspekt tritt in allen Erzählungen einheitlich zutage, ja er verstärkt sich sogar von Variante zu Variante. Lukas gestaltet die Damaskuserfahrung des Paulus als eine Lichtvision (Act 9,3; 22,6; 26,13). Dieser Aspekt ist eine erste vordergründige Analogie zwischen den Traditionen zur Lebenswende des Paulus und sogenannten ‚Nahtoderfahrungen‘. Die Eigentümlichkeit dieses Phänomens kann jedoch auf dieser Ebene noch nicht erfasst werden. Stattdessen gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass in historisch-kritischen Interpretationen dieser Erzählungen nach wie vor sehr konträre Einschätzungen vorliegen, wie dieselben entstanden sein könnten, z. B. in Bezug auf die Frage, inwieweit Lukas dieselben frei erfunden hat, inwieweit er sie in Rekurs auf religionshistorische Vorgaben kompiliert hat oder ob er entsprechende Aussagen sogar von jener Person kannte, die er in seinem Werk in Szene setzen will, also von Paulus selbst. Doch bei allen offenen Fragen lässt sich in den exegetischen Diskussionen ein sensus communis beobachten: Die lukanischen Erzählungen von dem Damaskuserlebnis lassen etwas erkennen, was viele Facetten des lukanischen Geschichtswerks dokumentieren, nämlich einen Hang zu einer Harmonisierung von Gegebenheiten, die historisch betrachtet sicherlich wesentlich kontroverser abgelaufen sind. Ein zentrales Anliegen des Verfassers der Apostelgeschichte besteht darin, die legitime Fortführung der frühen Jesusbewegung in der paulinischen Theologie und im paulinischen Missionswerk darzulegen. Diese Legitimität wurde jedoch von anderen Autoritäten des frühen Christentums prinzipiell in Frage gestellt. Dabei gilt es zu beachten, dass sich die paulinische Theologie markant von jenen theologischen Konzeptionen unterscheidet, welche u. a. mit den Namen Jakobus, dem Bruder Jesu, und Petrus verbunden wurden. Die mit diesen Namen verbundenen Vorwürfe gegenüber Paulus sind nicht nur, dass Paulus kein Nachfolger Jesu und kein Auferstehungszeuge sei. Vor allem jedoch würde Paulus die Botschaft Jesu verfälschen. Diese Vorwürfe lassen sich in unterschiedlicher Intensität bereits in Zeugnissen beobachten, die in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen wurden (exemplarisch sei ver-
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wiesen auf die Kontroversen, welche Paulus unter anderem zur Abfassung des Galaterbriefs und der Korintherbriefe veranlassten bzw. auf einzelne Aspekte des Jakobusbriefs und des Matthäusevangeliums). Noch deutlicher tritt diese prinzipielle Infragestellung der paulinischen Theologie jedoch in solchen Zeugnissen zutage, die nicht in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen wurden (aus dem Spektrum sogenannter ‚judenchristlicher‘ Zeugnisse sei auf die skizzierten Züge jener Schriften verwiesen, die unter dem Namen ‚Pseudoclementinen‘ subsumiert werden). Die dabei formulierten Argumente sind historisch betrachtet bemerkenswert. In der exegetischen Forschung besteht ein weitgehender Konsens, dass die Worte und Taten Jesu zunächst innerjüdische Erneuerungsbewegungen initiieren wollten. Viele Nachfolger Jesu haben diese innerjüdische Ausrichtung auch nach dem Tod Jesu fortgeführt. Die Spuren dieser als ‚Judenchristentum‘ bezeichneten Gruppierungen lassen sich bis ins fünfte Jahrhundert hinein beobachten – und zwar stets mit einer scharfen antipaulinischen Abgrenzung. Es wird immer wieder hervorgehoben, dass die Botschaft, welche Jesus zu seinen Lebzeiten seinen Nachfolgern anvertraut hat, nicht mit der Theologie des Paulus übereinstimmen würde. Diesem Vorwurf entspricht das Phänomen, dass Paulus seinerseits kaum mit Bezügen auf Jesus-Traditionen argumentiert. Dabei wird immer wieder der Selbstanspruch des Paulus infrage gestellt, aufgrund einer Vision eine apostolische Autorität zu besitzen. Auch wenn einige der skizzierten Züge eines judenchristlichen Antipaulinismus in verhältnismäßig jungen Zeugnissen überliefert werden, können sie Argumente widerspiegeln, mit denen Paulus sich schon zu seinen Lebzeiten auseinandersetzen musste. Insbesondere seine Briefe an die Gemeinden in Galatien und in Korinth spiegeln Kontroversen wider, die von einer aktiven Mission gegen Paulus seitens judenchristlicher Kontrahenten zeugen. Derartige Konflikte bilden wohl auch den Hintergrund der Selbstverteidigung, die Paulus in seinem zweiten Brief an die Gemeinden in Korinth formuliert. Dies gilt vor allem für die Kapitel 2 Kor 10–13, denen seit den Anfängen einer historisch-kritischen Exegese paulinischer Zeugnisse eine Sonderstellung im Rahmen der Korintherbriefe zugestanden wird. In diesem Zusammenhang muss Paulus sich in besonderem Maße gegenüber Infragestellungen der Legitimität seiner Lehre und seiner apostolischen Autorität rechtfertigen. Er warnt seine Adressaten vor ‚falschen Aposteln‘ (2 Kor 11,13) und versucht sich gegenüber ‚Überaposteln‘ (2 Kor 11,5; 12,11) zu legitimieren. In diesem hoch polemischen Kontext formuliert Paulus jenen Text, der seit den Anfängen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen immer wieder als eine antik-mediterrane Parallele bezeichnet wurde (2 Kor 12,1–5). Neben den Traditionen zur Lebenswende des Paulus kann 2 Kor 12,1–5 als eine zweite explizite
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Analogie zu dem Phänomen ‚Nahtoderfahrung‘ verstanden werden. Da Paulus in diesem Zusammenhang auf ‚Visionen und Offenbarungen des Herrn‘ zu sprechen kommen möchte (2 Kor 12,1c), scheinen diese Worte einen Bezug zur paulinischen Lebenswende zu haben (vgl. die terminologischen Entsprechungen zu Gal 1,15 f.; 1 Kor 9,1; 1 Kor 15,8). Gleichwohl scheinen chronologische Details und weitere paulinische Angaben dafür zu sprechen, dass Paulus von mehreren Erfahrungen spricht (vgl. u. a. 2 Kor 12,1 f.7). Angesichts dessen erscheint es präziser zu sein, die paulinische Lebenswende und Himmelsreise als Teilaspekte jener Facetten paulinischer Theologie zu verstehen, die in wissenschaftlicher Beschreibungssprache als ‚Christus-Mystik‘ bzw. als ‚mystisch-partizipatorische Aussagen‘ bezeichnet werden können. Dass Paulus in 2 Kor 12,1–5 von einer ‚außerkörperlichen Erfahrung‘ und einer ‚Reise in den dritten Himmel‘ bzw. in das ‚Paradies‘ spricht, ist aus religionshistorischer Sicht betrachtet nicht außergewöhnlich, da sich dazu in alttestamentlich-frühjüdischen Zeugnissen viele Vergleichsgrößen benennen lassen. Durch seine religiöse Sozialisation und seine pharisäische Ausbildung war Paulus mit diesen Konzepten zweifelsohne vertraut. Vor dem Hintergrund der skizzierten Aspekte lassen sich nun schrittweise jene indirekten Analogien erläutern, die zwischen dem paulinischen Leben und Denken und sogenannten ‚Nahtoderfahrungen‘ bestehen. Bemerkenswert ist zunächst, was Paulus über die Botschaft seiner ‚Himmelsreise‘ sagt – oder genauer genommen: nicht sagt. In jenen alttestamentlich-frühjüdischen Vergleichsgrößen werden unterschiedliche Gestalten zu Offenbarungsmittlern stilisiert, denen Himmelsreisen, Visionen und Auditionen zuteil wurden und die dadurch ihren jeweiligen Adressaten detailliert eine himmlische Welt bzw. Topographie und eine Einsicht in einen göttlichen Weltenplan eröffnen können. Genau dies vermeidet Paulus jedoch. Er konstatiert lediglich, dass er die Botschaft jener himmlischen Erfahrung mit menschlichen Worten nicht wiedergeben könne (2 Kor 12,4). In exegetischen Diskussionen wird kontrovers darüber debattiert, welche Aussageintention Paulus mit einer solchen inhaltsleeren These verfolgt. Dabei ist von zentraler Bedeutung, wie man die Position und die Anliegen der Kontrahenten des Paulus einschätzt. Verschiedentlich wurde postuliert, es handle sich bei ihnen um ‚Pneumatiker‘, die an phantastischen Schilderungen von Himmelsreisen interessiert sein würden, frei nach dem Motto: Wer konstruiert bzw. fabuliert die am meisten beeindruckende Himmelsreise und gewinnt so die meisten Hörerinnen und Hörer oder Leserinnen und Leser für sich und seine Lehre? Angesichts dessen sei Paulus dazu genötigt gewesen, auch für sich selbst eine solche Erfahrung in Anspruch zu nehmen. Sein Verweis auf die Unbeschreiblichkeit jener Himmelsreisen und die Unaussprechlichkeit ihrer Botschaft könne als eine Karikierung des Anspruchs seiner Gegner gewertet
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werden. Eine solche Einschätzung wird jedoch den paulinischen Aussagen und dem Anlass des Textes nicht gerecht. Einerseits hebt Paulus im unmittelbaren Kontext hervor, welche außergewöhnliche Qualität jenen Erfahrungen zu eigen sei (2 Kor 12,7). Andererseits gibt der weitere Kontext von 2 Kor 10–13 nicht zu erkennen, dass es sich bei jenen Gegnern um vermeintliche ‚Pneumatiker‘ handelt. Eine solche Einschätzung kann nur formuliert werden, wenn man einen Bezug zu den entsprechenden Zügen früherer Kommunikationen mit den Gemeinden in Korinth konstruiert (vgl. u. a. die Hintergründe von 1 Kor 12/14). 2 Kor 10–13 selbst spricht jedoch eher dafür, dass die prinzipielle Berechtigung der paulinischen Theologie und Missionsarbeit infrage gestellt wurde, und zwar nicht zuletzt von jenen ‚Überaposteln‘ (2 Kor 11,5; 12,11), mit welchen die Autoritäten der Jerusalemer Gemeinde gemeint sein könnten. Angesichts dessen kann 2 Kor 12,1–5 nicht als eine Karikatur verstanden werden, sondern als eine Aussage des Paulus über eine spirituelle Urerfahrung, welche für die grundlegenden Modifikationen seiner Religiosität infolge seiner Lebenswende von zentraler Bedeutung war. Vor diesem Hintergrund kann nun erläutert werden, worin die zwar nur indirekt erkennbaren, aber bedeutendsten Analogien zwischen dem Phänomen ‚Nahtoderfahrung‘ und der Lebenswende und Himmelsreise des Paulus bestehen: Es handelt sich um die Folgen jener Erfahrungen. Mit der durch die vorliegende Studie etablierten Terminologie kann dieser Sachverhalt mit folgender These umschrieben werden: Die Lebenswende und die Himmelsreise des Paulus können mit ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ verglichen werden, in deren Folge es zu ‚Transformationserfahrungen‘ kommt. Die angesprochenen Transformationen zeigen sich vor allem im Wandel der Religiosität des Paulus. Diesbezüglich lassen sich deutliche Analogien zu jenen Transformationen erkennen, die Menschen durchleben, die für sich in Anspruch nehmen, eine ‚göttliche Liebe‘ erfahren zu haben. Eine wesentliche Einsicht, welche infolge derartiger Erfahrungen gewonnen wird, besteht darin, dass die primäre Lebensaufgabe darin besteht, Liebe zu lernen und Liebe zu praktizieren. Ein solches Ethos der Liebe prägt auch die paulinische Theologie. Paulus selbst betont vehement, dass er als Schriftgelehrter streng die Observanz des jüdischen Gesetzes praktizierte und einforderte. Seine pharisäische Lebenshaltung war geprägt von einer scharfen Abgrenzung von anderen Religiositäten und Ethnien. Er war bereit, diese religiöse Überzeugung auch mit Gewalt zu verteidigen. Dies ändert sich grundlegend nach seiner Lebenswende. Seine christliche Botschaft ist geprägt von einer massiven Relativierung religiöser, ethnischer und gesellschaftlicher Grenzen (Gal 3,28). Eine partikularistische Glaubenshaltung wandelt sich in eine universalistische, deren Botschaft er in der antik-mediter-
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ranen Welt in einer analogielosen Weise zu verbreiten versucht (2 Kor 5,17–21). Paulus erkennt in dem Handeln Gottes in der Auferstehung Jesu nicht nur einen Ausdruck der universalen Liebe Gottes, sondern er formuliert auch Glaubenshoffnungen, die einen pantheistisch bzw. panentheistisch anmutenden Geist atmen (vgl. die Ausführungen zu 1 Kor 15,28; Röm 11,33–36). Worin eine solche ‚Erfahrung göttlicher Liebe‘, die eigentlich nicht in Worte gefasst werden kann (2 Kor 12,4), für Paulus bestanden haben könnte, kann am einfachsten mit seinen eigenen Worten umschrieben werden. Paulus scheint erfahren zu haben, dass jeder Mensch sich in seinem vorfindlichen Leben nur ‚in einem Spiegel wie in einem Rätselbild‘ wahrnehmen kann (1 Kor 13,12). Er scheint jedoch in Ansätzen erfahren zu haben, was es bedeutet, dass ‚Gott alles in allem sein wird‘ (1 Kor 15,28) und dass alles ‚von ihm und durch ihn und zu ihm‘ existiert. Im Zeichen eines solchen Welt- und Menschenbildes scheint er erkannt zu haben, worin die zentrale Botschaft dieser ‚neuen Schöpfung‘ und der Versöhnung zwischen Gott und Menschheit zu bestehen scheint (2 Kor 5,17–21). Das neue ‚Sein-in-Christus‘ entfaltet sich in einem Ethos der Liebe (Gal 5,6), in welchem ‚die Liebe das Gesetz erfüllt‘ (Röm 13,8–10). Die gesamte Schöpfung wird von der ‚Knechtschaft der Vergänglichkeit‘ befreit werden (Röm 8,19–23). Die Liebe ist der ‚höchste Weg‘ (1 Kor 12,31b). Sie wird niemals aufhören und übertrifft jede Glaubenshoffnung (1 Kor 13,8.13). Diese Collage verschiedener Aussagen der paulinischen Briefe entspricht phänomenologisch betrachtet deutlich jenen Erfahrungsmustern, die in der vorliegenden Studie als ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ bezeichnet werden (vgl. Kapitel 2; Arbeitsschritt 2.3 bzw. 3). Es scheint sich jeweils um Reflexionen von Erfahrungen zu handeln, deren Versprachlichungen von den jeweiligen religiösen und kulturellen Prägungen der Erfahrenen abhängig sind.
3. Perspektiven und Herausforderungen weiterer Forschungen In den beiden vorhergehenden Zusammenfassungen der Arbeitserträge wurde zunächst separat voneinander betrachtet, in welcher Weise Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus und zur Lebenswende des Paulus verstanden werden können. Nahtoderfahrungen erweisen sich in weit mehr Aspekten als solche Zugänge, als dies in den bisherigen Diskursen herausgearbeitet wurde. Dabei gilt es sich zu vergegenwärtigen, welche Brisanz solchen religions- und philosophiegeschichtlichen Verhältnisbestimmungen innewohnt. Einerseits kann nicht in Abrede gestellt werden, dass das Werk Platons bzw. der Platonismus eine der bedeutendsten und wirkungsreichsten Schulbildungen der abend-
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ländischen Geistesgeschichte initiierte2. Andererseits entwickelte sich aus der frühen Jesus-Bewegung bzw. dem frühen Christentum eine Weltreligion, deren kulturelle Folgewirkungen in unterschiedlichsten Zusammenhängen der Gegenwart zu erkennen sind – und zwar auch in solchen Zusammenhängen, die nicht mehr explizit als christlich benannt werden. Wenn also gefragt wird, ob jene Phänomene, die heute mit dem terminologisch eigentlich unpräzisen Begriff ‚Nahtoderfahrung‘ bzw. im Sinne der vorliegenden Studie mit dem Begriff ‚Erfahrungen göttlicher Liebe‘ bezeichnet werden, als Zugänge zum Platonismus und zum frühen Christentum verstanden werden können, so geht es nicht mehr und nicht weniger um die Frage, ob jene Phänomene neue Deutungen der Entstehungshintergründe zweier der bedeutendsten philosophischen und religiösen Konzeptionen der Menschheitsgeschichte ermöglichen. Oder anders formuliert: Bietet die wissenschaftliche Erforschung von Nahtoderfahrungen neue Möglichkeiten, die Anfänge dieser Konzeptionen besser zu verstehen und neu zu deuten? Es sollte nämlich nicht nur darum gehen, eine neue Perspektive auf Diskursfelder der antiken Religions- und Philosophiegeschichte zu gewinnen, die lediglich als kulturelle Zeugnisse der Vergangenheit betrachtet werden. Es soll auch gefragt werden, in welcher Weise jenen antik-mediterranen Diskursen Potentiale innewohnen, die auch für zeitgenössische Herausforderungen religiöser und philosophischer Selbstreflexionen von Relevanz sind3. Dieses Anliegen wird den zweiten Band der vorliegenden Studie beschäftigen. In welcher Weise dies geschehen wird, kann vorausgreifend folgendermaßen skizziert werden: Als sich das frühe Christentum sukzessive zu einer eigenständigen Religion entwickelte, wurde es geprägt von verschiedensten Einflüssen seiner antik-mediterranen Umwelt. Eine Schulbildung, die dabei eine besondere Wirkung entfaltete, war der Platonismus. Platonische Traditionen beeinflussten in vielen Bereichen direkt und indirekt – zuweilen in zustimmender Adaption, zuweilen in kritischer Distanznahme – frühchristliche und altkirch-
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Vgl. C. Horn/J. Müller/J. Söder, Vorwort, VII: „Platon ist eine der großen Figuren der westlichen Philosophiegeschichte – wenn nicht gar die zentrale Gründergestalt unserer philosophischen Tradition“. Zu entsprechenden Einschätzungen der Bedeutung der platonischen Philosophie s. u. Kapitel 3; Arbeitsschritt 1. Dies entspricht prinzipiell der Einschätzung von W. Pannenberg, Theologie, 67, der m. E. zu Recht konstatiert, dass für weitere Selbstreflexionen und Entwicklungen christlicher Welt- und Menschenbilder auch „gegenwärtig … das Potenzial platonischen Denkens keineswegs als erschöpft gelten“ darf. Die Thesen des zweiten Bandes der vorliegenden Studie unterscheiden sich freilich signifikant von den themenspezifischen Beiträgen Pannenbergs.
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liche Vorstellungen4. Im besonderen Maße zeigt sich dies an dem Leitthema, welches den zweiten Band der vorliegenden Studie beschäftigen wird, nämlich an dem Themenfeld frühchristlicher Auferstehungsvorstellungen. Es ist unstrittig, dass Auferstehungsvorstellungen ein zentrales Thema aller frühchristlichen Schulbildungen waren. Was jedoch unter dem Begriff bzw. dem Phänomen ‚Auferstehung‘ konkret zu verstehen ist, war seit den frühesten Anfängen des Christentums umstritten. Entsprechende Kontroversen lassen sich bereits bei verschiedenen Schriften erkennen, die in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen wurden. Dies zeigt sich u. a. in verschiedenen paulinischen Briefen bzw. in Zeugnissen der Paulus-Schule (vgl. u. a. das gesamte Kapitel 1 Kor 15,1–58 bzw. die Kontraste zwischen 2 Kor 5,1–10; Röm 6,4 f.; Kol 2,12 f.; Eph 2,6; 2 Tim 2,18) oder in der Entwicklungsgeschichte der Erzählungen von der Auferstehung Jesu (vgl. z. B. Lk 24,36–43; Joh 20,24–29). Noch deutlicher treten diese Kontroversen jedoch zutage, wenn auch jene frühchristlichen Zeugnisse in die Diskussionen einbezogen werden, die nicht in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen wurden (exemplarisch sei verwiesen auf die entsprechenden Züge des Thomasevangeliums [NHC II,2], des Philippus evangeliums [NHC II,3] und des sogenannten Rheginusbriefs [NHC I,4]). Gleiches gilt für die Schriften verschiedener altkirchlicher Autoren, die sich den Auferstehungsdiskursen widmen (vgl. u. a. Tertullian, De resurrectione carnis; Athenagoras [bzw. Pseudo-Athenagoras] von Athen, De resurrectione mortuorum und die entsprechenden Züge des monumentalen Werkes von Irenäus von Lyon, das in lateinischer Übersetzung Adversus haereses genannt wird). Warum es so unterschiedliche Auferstehungsvorstellungen geben konnte, hängt wiederum mit einer weiteren Fragestellung zusammen, welche nicht nur das frühe Christentum beschäftigte, sondern nahezu alle philosophischen und religiösen Traditionen seiner antik-mediterranen Umwelt. Hierbei handelt es sich um die Frage, in welchem Verhältnis die Aspekte menschlicher Existenz stehen, die in Zeugnissen jener Zeit und Kultur mit den Begriffen ‚Körper‘, ‚Geist‘ und ‚Seele‘ bezeichnet wurden. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: Auch wenn sich in frühchristlichen Traditionen verschiedene Kontroversen beobachten lassen, die sich vordergründig mit dem Verständnis von Auferstehung beschäftigen, so sind dieselben implizit von einem Problem mitbestimmt, das fast alle kulturgeschichtlichen Zeugnisse und Reflexionen beschäftigt, welche die Daseins4
Auch diesbezüglich sei nochmals die These von W. Pannenberg, Theologie, 37 rekapituliert: „Keine andere Philosophie der Antike hat die christliche Theologie im Zeitalter ihrer Entstehung und ersten Entwicklung so tief geprägt wie der Platonismus. Dabei reicht es nicht aus, von einem ‚Einfluß‘ zu sprechen. Es handelt sich vielmehr um einen Vorgang produktiver Rezeption und Assimilation, der konstitutiv ist für die spezifische ‚Wirkungsgeschichte‘ platonischer Gedanken im Christentum.“
Perspektiven und Herausforderungen weiterer Forschungen
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bedingungen menschlicher Existenz zu ergründen versuchen – nämlich von dem sogenannten ‚Leib-Seele-Problem‘. Letzteres ist wiederum eine Schlüsselfrage der wissenschaftlichen Erforschungen von Nahtoderfahrungen. Nahezu alle Disziplinen, welche sich dem ‚Leib-Seele-Problem‘ widmen, sind auch an der wissenschaftlichen Erforschung von Nahtoderfahrungen beteiligt (vgl. die entsprechenden Ausführungen der vorliegenden Studie Kapitel 2; Arbeitsschritt 5). Angesichts dessen sollen zum Abschluss dieses ersten Teilbandes zwei Leitfragen formuliert werden, welche jenen zweiten Teilband prägen werden: Können die wissenschaftlichen Diskussionen und Erträge, welche im Zusammenhang zeitgenössischer Forschungen zu Nahtoderfahrungen in Bezug auf das ‚Leib-Seele-Problem‘ bzw. in Bezug auf das Verständnis menschlichen Bewusstseins zutage treten, neue Zugangsperspektiven zu jenen Diskursen aufzeigen, die sich im frühen Christentum in Bezug auf das Verständnis von Auferstehung bzw. in Bezug auf das Verhältnis von ‚Körper‘, ‚Geist‘ und ‚Seele‘ herausgebildet haben? Und inwieweit ermöglichen solche Zugangsperspektiven Verständnisse von Auferstehung, die mit heutigen wissenschaftlich fundierten Welt- und Menschenbildern vermittelbar sind? Besondere Beachtung verdient dabei der Sachverhalt, dass für diese Perspektiven auf frühchristliche Auferstehungsdiskurse ein methodischer Zugang gewählt werden soll, der sich an den Konzepten einer ‚historischen Diskursanalyse‘ orientiert (zur Terminologie und Methodologie vgl. Bd 2; Kapitel 6). Dies bedeutet, dass nicht nur analysiert werden soll, welche inhaltlich-sachlichen Vorstellungen miteinander in Beziehung gesetzt bzw. voneinander abgegrenzt wurden, sondern wie diese Diskurse und Meinungsbildungsprozesse gesteuert, strukturiert und repräsentiert wurden.
Namensregister
A Aristophanes 141 f., 145 Aristoteles 108, 137, 143, 153 C Cicero 108, 151 f. Clemens Alexandrinus 125, 148 Clemens Romanus 184 D Dante 94 E Empedokles 119, 236 Esra 204, 218 Euseb von Caesarea 164, 180 f. H Hieronymus Bosch 94, 182 J Jakobus 162, 165, 175 f., 178–185, 213, 221, 226, 240 Jesus 19, 53, 87, 105, 131, 162, 167–169, 171 f., 174, 177–181, 185–191, 194, 197, 201, 207, 212–217, 221, 225, 227, 229, 239, 241, 245 Jesus-Traditionen 188, 212, 225, 241 Taten Jesu 160, 173, 187–189, 222, 241 M Meister Eckhart 54, 96–98 P Paulus 16, 18, 22, 33, 83, 158–167, 170–179, 182–233, 239–244, 246 antipaulinische Mission 193, 202, 239, 241 autobiographischen Aussagen 162, 170, 173, 191, 199, 203–205, 211 Biographie 159 f., 163, 174, 190 Lebenswende 18, 159 f., 162 f., 165–167, 170–175, 183, 185–191, 198, 200–203,
205–211, 213 f., 217, 232 f., 239–244 Theologie 13, 15, 19, 23 f., 66, 84–87, 95 f., 98–102, 107, 159–164, 166, 173, 175–177, 186, 188 f., 195, 198, 200–203, 206, 210–212, 216, 219–222, 224, 226 f., 229, 232, 239–243, 245 f. Petrus 162, 175 f., 178 f., 182–187, 213, 221, 240 Platon 17, 83, 103–157, 233–239, 245 Höhlengleichniss 103, 114–118, 131 f., 149, 151, 230, 234 f. Ideenlehre 103, 113–115, 117, 142, 149, 154, 230, 234 f. Innovation 104, 132, 217 Jenseitsmythen 103, 105, 110–112, 116, 128, 130, 132, 146 Traditionen 16–19, 32, 40, 68, 94, 96, 98, 101, 103–105, 107, 110, 119, 125–127, 131, 137 f., 158 f., 161, 163 f., 166 f., 172 f., 177, 180–182, 184, 186, 188, 191, 200, 202–208, 210, 212–215, 218, 220 f., 225 f., 229, 233, 236, 240 f., 245 f. ungeschriebene Lehren 104, 106, 133 Plotin 103, 108, 153–157, 238 Plutarch von Chaironeia 108, 128 f., 138 Pythagoras/Pythagoreismus 104, 119, 236 S Sokrates 105 f., 110 f., 116, 118, 125–127, 129–136, 138–145, 149, 233, 236 f. Hinrichtung 111, 116, 118, 125, 131, 133, 162, 211, 236 f. historische Figur 133 literarische Stilisierung 131, 174 T Teresa von Ávila 96–98 Tertullian 200, 226, 246 Thomas (Apostel) 71, 75 f., 82, 182
Sachregister
A
B
Abbild/Abbildhaftigkeit 80, 117, 142, 144, 147, 150, 154, 156, 230 f., 235, 237 f. Ägyptisches Totenbuch 94 Akademie, Platonische 107, 133, 237 Allegorie/Allegorese 110 Allversöhnung 219 Allwissenheit 40, 103, 105, 121, 131, 134, 236 Anamnesis s. Erinnerung Angst/Angstzustände 43, 45, 59, 79, 92, 98, 127, 235 Anthropologie 123 dichotomische 122 gnostische 107, 124, 154, 200, 206 „innerer Mensch“ 123 paulinische 18, 83, 158–163, 166, 172 f., 175–177, 182 f., 185–190, 195, 200– 203, 205–208, 211–220, 222–225, 228–233, 239–244, 246 platonische 17–19, 40, 78, 83, 94, 98, 103–108, 110 f., 114 f., 117–139, 141 f., 144–146, 148–151, 153–156, 191, 230 f., 233–239, 245 f. trichotomische 122 Apokalyptik s. auch Eschatologie Apostel 172, 179, 187, 192–194, 201 f., 209 Apostelgeschichte 16, 158 f., 161–166, 170–172, 175, 182 f., 188, 200 f., 203, 209, 212 f., 240 Aristotelismus 108, 110 Arkan-Disziplin 106, 200 Ars moriendi 127, 133, 236 Auferstehung 19, 55, 163, 178, 209, 224, 240, 244, 246 f. allgemeine Totenauferstehung 217 Auferstehung Jesu 19, 163, 178, 224, 240, 244, 246 Auferstehungszeugen 181, 190, 197, 240 Aussparungsstelle s. Platonische Dialoge Außerkörperliche Erfahrung 37–39, 163, 189, 192–194, 196, 199, 204 f., 229, 232 Axiochos 108, 127 f.
Bewusstsein 13 f., 17, 20, 29, 31, 36–38, 53, 57, 69 f., 72–74, 76–81, 89, 98, 114, 129, 209, 234 Bewusstseinsverlust 76 Selbstbewusstsein 13, 69, 72 f., 77–80, 98 C Christentum/Frühes Christentum 14, 16, 18, 33, 83, 94, 100–102, 108, 123, 158–162, 164 f., 173, 175–184, 188 f., 194, 202, 208 f., 211–213, 215, 227, 239 f., 245–247 antipaulinische Mission 193, 202, 239, 241 Autoritäten 165, 174 f., 178–185, 187, 190, 193 f., 196, 198, 202, 241 Begriffsgeschichte 119, 177 Definition 13, 26–28, 30–32, 34, 70, 82, 177 Entwicklungsgeschichte 16, 71, 83, 119, 121, 153, 159 f., 162, 164, 175 f., 204, 208 f., 233, 238, 246 Gemeinde/Gemeindestrukturen 52, 158, 161, 163, 173–180, 183, 185, 189 f., 192 f., 199, 202, 213–215, 220, 222, 231, 241, 243 paulinische Mission 159 f., 182, 239 Schulbildungen 16, 104, 106–108, 117, 200, 225 f., 244–246 Ursprünge 50, 58, 124, 156 Christus s. Messias D Daimonion 130, 140 Damaskuserfahrung s. Paulus/Lebenswende Depersonalisation 69, 77 Deuteropaulinismus s. Paulus Diotima-Rede 106 f., 124, 129, 135, 138, 141 f., 144–148, 150, 155 f., 237 f. Diskurs/Diskursanalyse 15 f., 27, 35, 66, 71–73, 77–79, 81–83, 97 f., 100, 112, 119, 197, 228, 244 f., 247 Diskursanalyse 81–83, 247 Diskursfähigkeit 14, 51, 64 f., 68 Historische Diskursanalyse 82
250 Kritische Diskursanalyse 82 Divina Commedia 94 Drogeninduktion 76 Drogenkonsum 32 f. E Einswerdung s. Henosis Eleusis-Kulte s. Mysterien/Mysterien-Kulte Epistula Clementis 184 Epistula Petri ad Jacobum 184 f. Erfahrung 13 f., 17, 20–26, 28–41, 43–47, 49–51, 53 f., 56 f., 59–64, 66, 68 f., 76 f., 80 f., 83, 85–101, 103, 106, 111 f., 114, 127–129, 133, 135, 139 f., 142, 145, 151–159, 162 f., 173 f., 189, 191–196, 198–201, 204–208, 210, 221, 228–232, 234 f., 238 f., 242–245 Erfahrung des Göttlich-Schönen 103, 135, 142, 145, 238 Erfahrung göttlicher Liebe 43, 97, 135, 154, 159, 210, 244 subjektiver Erfahrungsanspruch 87 Erinnerung 28, 48, 63, 103, 105, 121, 131, 133–135, 145, 147, 149, 203 Eros/Erotik s. Liebe Esoterik 95 f. Eschatologie 32, 55, 96, 99, 124, 126–129, 176, 199, 204, 207, 211 f., 214–217, 220, 222, 229, 232 Ethik 99, 137, 211, 220–225, 229, 232 Exorzismus 67 F Fiktion/Fiktionalität 139 Frühes Christentum s. Christentum/Frühes Christentum G Gehirn/Gehirnforschung 13, 68, 70, 74, 76, 79–81, 98 Produktionshypothese 79 Transmissionshypothese 79 Geist 13, 41 f., 69, 73, 77–80, 98, 115, 122, 154, 169, 244, 246 f. Gericht s. Eschatologie Gilgamesch-Epos 94 Glaube 41, 44 f., 54, 93, 111, 169, 222–226, 232 Gleichwerdung mit Gott s. Gott Gnosis/gnostisch 107, 124, 154, 200, 206
Sachregister
Gott 41, 43–46, 49 f., 53, 95, 97, 121, 123 f., 130 f., 137, 147–150, 158, 162, 167–169, 187, 189, 195, 197 f., 201, 204–206, 212, 214 f., 217–219, 221–224, 226, 231 f., 236, 240, 244 Erfahrungen des Göttlich-Schönen 40 Gleichwerdung mit Gott 118 f., 131 f. Götterpantheon 146 Gottesschau 135, 145 f. Gravitationswellen 74 H Halluzination 13, 43, 51, 69, 76 Heilsuniversalismus 214–219 Henoch/Henochtraditionen 204 Henosis 40, 103, 153–157, 238 Herz 57, 63, 214 Herzstillstand 62, 64, 89 Himmel Band des Himmels 103, 114, 149 f., 155, 236 Himmelsreise 147, 158 f., 163, 172 f., 189–196, 198 f., 201–208, 210 f., 229, 232 f., 242 f. Himmelstopographien 204 Himmelsvorstellungen 145 Rücken des Himmels 145 überhimmlischer Ort 149 historisch-kritischer Exegese 19, 32, 82, 126 Höhlengleichnis 103, 114–118, 131 f., 149, 151, 230, 234 f. Hirn/Hirnforschung s. Gehirn/Gehirnforschung Hirnstörung s. Gehirn/Gehirnforschung Hypoxie-Hypothese s. Nahtoderfahrung I Idee/Ideenlehre 103, 112–115, 117, 121, 123, 138, 142, 147, 149, 154, 230, 234 f., 237 Ikonographie 94 Illusion 30, 69 Innerer Mensch s. Anthropologie Interdisziplinarität 16, 23, 27, 66, 70–75, 77, 81, 87, 96, 158 J Jesusbewegung 16, 164, 175, 179, 188, 212, 239 f. Johannesevangelium 164, 226 Judenchristentum 165, 177, 188, 193, 211, 241
251
Sachregister
K Karnofsky-Index 32 Kirche 19, 24, 44, 85 f., 93–95, 100, 102, 160, 166, 171, 178 f., 184, 187 Kirchengeschichte 180, 184 Kognitionswissenschaften 78 Körper 13, 18, 20, 37–39, 41 f., 47, 49, 57, 59–63, 70, 72, 77 f., 80, 98, 103, 112 f., 115, 118 f., 122 f., 125 f., 129, 132–134, 142–144, 149, 154 f., 197, 223, 235 f., 246 f. Kosmologie 40, 54, 91, 116, 148, 150–154, 214, 218, 229, 234 f., 238 Kosmos 53, 125, 150, 154 f., 217, 237 Kunst/Kunstgeschichte 94, 133, 236 L Leib s. Körper Licht 38 f., 41–50, 53–55, 57 f., 60–62, 74, 97, 100, 113, 138, 149 f., 155, 158 f., 167–171, 191, 206, 235 f. als „Band des Himmels“ 103, 114, 149 f., 155, 236 Lichtmetaphorik 149, 151, 155, 159 Lichtvision 151, 158, 170 f., 240 Liebe 11, 13, 23, 25 f., 30 f., 33 f., 38, 40–44, 46, 48–50, 52, 55, 57, 97, 100, 103, 123, 129, 135–140, 142–147, 153–156, 159, 210 f., 220–226, 228 f., 232, 234, 237–239, 243–245 Agape-Begriff 220 f. Definitionen 13, 23, 26–28, 30–32, 34, 70, 82, 177 Eros-Begriff 135 f., 138, 156 erotische Faszination 136, 156 Feindesliebe 222, 224 f. Früchte der Liebe 220–223 Gottesliebe 225 göttliche Liebe 33, 159, 243 Hohelied der Liebe 220 f., 226, 232 Nächstenliebe 222–225 Stufenleiter der Erotik 103, 135, 142, 155 Liniengleichnis 115 f. Lukasevangelium 164 M Markusevangelium 179, 215 Materialismus 69, 72 f., 78 f., 116 Reduktiver Materialismus 69, 72 f., 78 f., 116 Materie 13, 71–73, 77–80, 154, 238
Matthäusevangelium 241 Medien 85, 89 Multimediale Vermittlungen 13, 84 f., 87 Meditationspraktiken 32 Medizin 13, 15, 24, 26, 95 Messias/Messianische Erwartungen 54, 169, 174, 187, 191, 197 f., 201, 206, 211, 220–222, 224, 227 f., 242, 244 Metempsychose s. Seelenwanderung Mission 45, 193, 202, 239, 241 antipaulinische Mission 193, 202, 239, 241 Missionsauftrag 212 paulinische Mission 160 f., 214 f. Mystagogik 100 Mysterienkulte 107, 138 f., 155, 200 Mysterienterminologie 104, 107, 138, 140 f., 148 Mysterientheologie 138 Mysterien 100, 107, 135, 138–143, 148, 155, 200, 203, 237 Eleusis-Kulte 138 Mystik 96 f., 100 f., 198, 201, 207, 211, 222, 227 f., 242 ‚Christus-Mystik‘ 198, 201, 211, 227 f., 242 ‚mystisch-partizipatorische Aussagen‘ 201, 211, 228, 242 Mythen/Mythologie 18, 105, 110–112, 120, 126, 146, 233 Jenseitsmythos 103, 105, 110–113, 116, 127 f., 130, 132, 146, 233 Mythenkritik 110–112 Mythenkomposition 110–113 Schöpfungsmythos 74 f., 149 f. N Naherwartung s. Eschatologie Nahtoderfahrung 69 Nahtoderfahrungen 13–21, 23–27, 29–37, 39–41, 47, 49–51, 54, 59, 63–78, 80–105, 108, 110–112, 114, 118, 128, 135, 139, 151, 153 f., 158 f., 191, 207, 210 f., 221, 229 f., 233 f., 236, 238–242, 244 f., 247 Autobiographische Erfahrungsberichte 84, 88, 90 Charakteristika 35, 37 Definitionen 13, 23, 26–28, 30–32, 34, 70, 82, 177 Deskriptive Positionen 32, 64, 66
252 Empirische Sammlungen 84, 88 Erfahrungen göttlicher Liebe 11, 13, 23, 25 f., 30 f., 34, 40 f., 100, 103, 153, 210, 221, 228 f., 232, 234, 238 f., 243–245 Hypoxie-Hypothese 69 Kategorisierungen 31–34 Nahtoderfahrungen im engeren Sinne 13, 21, 25 f., 30–32, 34–36, 77, 100 Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne 13, 21, 25 f., 30–34 Neurophysiologie 13, 15, 26, 28 f., 78, 95 Neurotransmitter-Hypothese 69 Parawissenschaftliche Positionen 64, 69 f., 72 f. prospektive Studien 89 reduktiv-materialistische Positionen 64, 68 religiös-ontologische Positionen 67 f. skeptische Positionen 70 Teilaspekte 26, 34 f., 37, 69, 76, 104, 112, 119, 124, 146, 176, 184, 230, 233, 242 Temporal- bzw. Schläfenlappen-Hypothese 69 Transformationserfahrungen 13, 22 f., 25 f., 30 f., 33 f., 40 f., 43, 103, 208, 210 f., 232, 243 Transzendenzerfahrungen 13, 18, 21, 25 f., 30–32, 34, 86, 94 f., 139 f., 158 Wissenschaftliche Deutung 51 Naturalismus 69 Neurologie 28 f., 80 f. Neurophysiologie 13 Neurotransmitter-Hypothese s. Nahtod erfahrung O Oneiroide 33 P Palinodie 107, 123 f., 129, 133, 135, 138, 140–142, 145–150, 155 f., 237 f. Panentheismus 219, 244 Pantheismus 219 Parawissenschaft 75 Parmenides 104 Pharisäismus 211 pharmakologische Induktionen 69 Philosophie 15, 17 f., 24, 26, 69, 78, 84, 95, 103, 106–110, 113–115, 118–122, 131, 135 f., 141, 152 f., 230, 234, 245 f.
Sachregister
Philo von Alexandrien 108, 143, 148 Platonische Dialoge 104–110 Aussparungsstelle 129, 133, 237 Chronologie 71 Deutungsoffenheit 104 f. Platonismus 11, 14, 94, 103 f., 107 f., 121, 127, 137, 143, 151, 153, 233 f., 238, 244–246 Ältere Akademie 107 f. Mittelplatonismus 128 Neuplatonismus 103, 108, 153, 238 Polemik 14, 51, 64–66, 68, 152, 154, 162, 202 Posttraumatische Belastungsstörung 33, 87, 92 Produktionshypothese s. Gehirn Protowissenschaft 70, 75 Pseudoclementinen 183 f., 202, 241 Homilien 184–187, 194 Recognitionen 184 Pseudowissenschaft 70 f. Psychiatrie 15, 24, 26, 28, 67 Psychologie 13, 15, 26, 28 f., 78 f., 95, 101 psychologische Deutung von Nahtod erfahrungen 27–30 psychologische Prädispositionen 92 psychologische Pathologisierung 86 Q Quantenphysik 71, 73 f., 76, 78 R Rassentheorie 71 Rausch/Rauschzustände 69, 76 Reinkarnation s. Seelenwanderung Religion/Religiosität 19, 31, 44, 54–56, 77, 86, 93, 100, 121, 123, 159 f., 164, 182, 188, 206 f., 210–212, 214, 217, 222, 224, 229, 243, 245 Religionsphänomenologie 203, 206, 208 Religionspsychologie 21, 33, 203, 208 f. Religionssoziologie 84–88 Religionswissenschaft 13, 15, 26, 66, 95, 101, 206 Ritus/Ritual 100 S Schamanismus 32, 94 Schläfenlappen-Hypothese s. Nahtod erfahrung Schönheit/Idee des Schönen 50, 109, 117, 129, 142–144, 147–149, 154–156, 237
253
Sachregister
Schöpfung 44, 50, 125, 148, 150, 154, 181, 217 f., 244 Neuschöpfung 216 f. Schöpfergott 149 f. Schöpfungsmythologie 110–113 Seele 13, 18, 20, 32, 34, 40, 55, 67–70, 72 f., 77–80, 94, 98 f., 103, 105, 111–116, 118 f., 121–135, 140, 142 f., 145–149, 152, 154–156, 235–237, 246 f. Erinnerung der Seele 135, 145 Flug der Seele 129, 146 f. Präexistenz der Seele 134 Seelenwachstum 118, 122, 131 Seelsorge 33, 79, 100 Sehnsucht der Seele 103, 112, 114, 118, 124, 133, 135, 142, 145, 237 Unsterblichkeit der Seele 127 Seelenwanderung 105, 112 f., 118–122, 124–126, 128 f., 131–133, 148, 153, 236 Definition 13, 23, 26–28, 30–32, 34, 70, 82, 177 Metapsychose/Metempsychosis 119 f. Reinkarnation 113, 118 f., 121 Seelenwanderungslehre 118–122, 124, 134, 149, 153, 236 Seelenwanderungsvorstellungen 105, 118–122, 124, 153 Struktur der Seelenwanderungen 122–126 Wiedergeburt 113, 118 f. Ziel der Seelenwanderung 118, 131 f., 236 Selbstbewusstsein s. Bewusstsein Selbstmord s. Suizid Sonnengleichnis 115, 117 Soziologie 13, 15 f., 26, 28, 78, 95, 203 Spiritualität 31, 44, 52, 86, 93, 96, 100 f. Spontanremission 53, 76 f. Spuk/Spukforschung 73, 87 Sühne/Sühnekult 206, 214, 220 Sünde 42, 46, 55, 169, 206, 218, 221 Sündenfall 125, 148, 154 Suizid 91 f. T Temporallappen-Hypothese s. Nahtod erfahrung Theologie 13, 15, 19, 23 f., 66, 84–87, 95 f., 98–102, 107, 159–164, 166, 173, 175–177, 186, 188 f., 195, 198, 200–203, 206,
210–212, 216, 219–222, 224, 226 f., 229, 232, 239–243, 245 f. Thomasevangelium/Thomastraditionen 180, 182 Tod 14, 25, 28, 31 f., 39 f., 43, 45, 63, 65, 70, 76 f., 79, 92 f., 95 f., 98 f., 101, 106 f., 112, 115, 121, 127–129, 132, 139, 167, 180, 188, 216, 235 f., 241 Tora/Toraobservanz Kultgesetzgebung 177 f., 211 Speisegesetzgebung 177 f., 183 Torafrömmigkeit 224 Transmissionshypothese s. Gehirn Transzendenzerfahrung 13, 18, 21, 25 f., 30–32, 34, 86, 94 f., 139 f., 158 Transzendenz/Transzendierung 31, 95 f. Trauma/Traumatische Erfahrungen 91 f. Tugend/Tugendhaftigkeit 113, 124, 137 f., 143, 220, 223, 236 U Ungeschriebene Lehren 104, 106, 133 Urbild/Urbildhaftigkeit 116 f., 231, 235 V Vergänglichkeit 217 f., 244 Vergeltung 224 f. Vision 28, 163, 170, 172 f., 187, 189–191, 194, 197 f., 200 f., 204, 207, 213 f., 216, 241 f. Christusvision 158, 163, 174, 187, 191, 201 Sterbebettvision 33 Traumvision 33 Wachvision 33 W Weltbild s. Kosmologie Wiedergeburt s. Seelenwanderung Wissenschaft 18–20, 52, 56, 73, 75, 79, 87, 95, 132, 146, 158 Wissenschaftliche Revolution 74 f. Wissenschaftstheorie 71–82
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