Erfahrung und Selbstbewußtsein: Zur Kategoriendeduktion bei Kant 9783787341108, 9783787341092

Die Studie hat Kants Transzendentale Deduktion der Kategorien zum Gegenstand. Sie enthält eine Erörterung von deren Vora

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German Pages 114 [125] Year 1986

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Erfahrung und Selbstbewußtsein: Zur Kategoriendeduktion bei Kant
 9783787341108, 9783787341092

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Wilfried Hinsch Erfahrung und Selbstbewußtsein Zur Kategoriendeduktion bei Kant

Wilfried Hinsch

·

Erfahrung und Selbstbewußtsein

WILFRIED HINSCH

Erfahrung und Selbstbewußtsein Zur Kategoriendeduktion bei Kant

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen ­Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche ­Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-4109-2 ISBN eBook: 978-3-7873-4110-8

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1986. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Meinen Großeltern

INHALT

Vorwort

IX

Teil I. Problemstellung und Ansatz der Transzendentalen Deduktion der Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1.

» Es gibt nur eine Erfahrung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

2. 2.1 2.2 2.3

Voraussetzungen der Transzendentalen Deduktion Apriorische Elemente der Wahrnehmung . . . . . . . . Kants » Sinnesdatenato mismus « . . . . . . . . . . . . . . Apriorische Elemente diskursiver Synthesis . . . . . .

3.

Die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion

4. 4.1 4.2

. . . .

4 4 7 10

. . . . .. . .. . .. .

18

Das Beweisprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synthesis und Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbewußtsein als Spontaneität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 20 26

Teil II. Die Durchführung der Transzendentalen Deduktion von 1 7 8 7 . .

32

Kategorie und Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analytische und synthetische Einheit der Apperzep tion Temporalität u n d Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kategoriengebrauch und Identitätsgewißheit . . . . . . . . . Kategorie und Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ambiguität des Objektbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . Objekt und Synthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die obj ektive Einheit des Selbstbewußtseins . . . . . . . . . Objekterkenntnis und Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . Begriff und Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urteil und Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 32 36 43

5. 5.1 5.2 5 .3 6 6 6 6 6 6 6

. .1 .2 .3 .4 .5 .6

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7.

Selbstbewußtsein und objektbezogene Synthesis . . . . . . .- . . . .

8. 8.1 8.2 8.3 8 .4

Die Universalität kategorialer Synthesis . . Die Reichweite des Spontaneitätsprinzips Die Einheit der Anschauung . . . . . . . . . . Der Abschluß der Deduktion . . . . . . . . . . Grenzen des Arguments . . . . . . . . . . . .

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52 53 57 64 6 7 69 76 79 82 82 86 102 1 04

VIII

Inhalt

Literaturverzeichnis

1 09

Name nverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 3

VORWORT

Die vorliegende Studie hat Kants Transzendentale Deduktion der Kategorien zum Gegenstand. Sie enthält eine Erörterung von deren Voraussetzungen und eine Analyse des ausgeführten Arguments in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft . Im Mittelpunkt steht die Frage nach der katego­ rialen Einheit menschlicher Erfahrung. Untersucht wird insbesondere die Annahme Kants , daß die durch Kategorien geregelte Einheit aller Wahrneh­ mungen in einer Erfahrung eine notwendige Konsequenz der Identität des erkennenden Subjekts ist. Dabei zeigt sich , daß die von Kant als Einheits­ prinzip in Anspruch genommene Spontaneität des Selbstbewußtseins nicht ausreicht, um die Einheit der Erfahrung zu begründen. Entgegen dem her­ kömmlichen Verständnis der Kategoriendeduktion muß die Einheit der menschlichen Anschauungen von Raum und Zeit als zusätzliche und von der Einheit des Selbstbewußtseins unabhängige Prämisse in den Argumenta­ tionsgang aufgenommen werden. Bei der Durchführu ng der Interpretation habe ich mich von dem Ge­ danken leiten lassen, daß es möglich sein müßte, die Kette von Argumenten, welche Kant uns auf knapp dreißig Seiten vorträgt , in einer Weise darzustel­ len , die zugleich verständlich macht, warum Kant glauben konnte , auf so wenig Raum alles Nötige gesag t zu haben. Auf keinen Fall sollte von der grundlegenden Struktur des Arguments durch unnötiges Beiwerk abgelenkt werden . Ich habe mich bemüht, dem folgenden Prinzip Christian Morgen­ sterns gerecht zu werden : »Denke dir immer jemanden, auf den deine Sätze durchaus nicht so Ein druck machen , wie sie 's dir selber bisweilen tun, der sie vielmehr trocken und gleichgültig prüft , ja beinahe feindselig, wie ein Mensch , den jede neue Behauptung zunächst - ärgert. « Ich möchte e s nicht versäumen, in diesem Vorwort jenen z u danken , die an der Entstehung dieser Arbeit in besonderer Weise beteiligt waren : meinen Freunden und Kollegen Theresia Mestmäcker-Poll , Ruth Westerbeck und Werner Hein für zahlreiche Diskussionen und für die kritische Durchsicht des Manuskripts, Gerd GraBhoff dafür, daß er den Schreibcomputer auf hexenmeisterliche Weise dazu brachte , den einmal geschluckten Text auch wieder in der gewünschten Weise herauszugeben . Mein ganz besonderer Dank aber gilt Herrn Professor Bartuschat für die unbestechliche Großzügigkeit, mit welcher er meine philosophischen Studien betreute , und Nina Hahm -

X

Vorwort

ohne sie läge ich längst von einem Band der Kant-Akademieausgabe erschla­ gen , verstaub t in meinem Arbeitszimmer_ Harnb urg im August 1 9 85

TEIL I PROBLEMSTELLUNG UND ANSATZ DER TRANSZENDENTALEN DEDUKTION DER KATEGORIEN

1. »Es gibt nur eine Erfahrung« Zu den Grundzügen unseres Weltverständnisses gehört die Annahme , daß sich alle unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen auf ein und dieselbe Wirk­ lichkeit beziehen. Wie heterogen unsere Wahrnehmungen auch sein mögen, wir werden sie stets als Wahrnehmungen einer einzigen Wirklichkeit , die sich uns aus verschiedenen Perspektiven und unter wechselnden empirischen Be­ dingungen präsentiert , betrachten. Die Vermutung liegt nahe , daß wir es hier nicht mit einer bloßen Ho ffnung oder einem willkürlich gesetzten Po­ stulat zu tun haben, sondern mit einer Annahme , für die sich prinzipielle Gründe anführen lassen. Einige dieser Gründe sollen im folgenden anband einer Interpretation vo n Kants Transzendentaler Deduktion der Kategorien erörtert werden . In der vorkantischen Metaphysik war die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit als ontologische Frage gestellt und im Rekurs auf eine gemein­ same Ursache alles Wirklichen beantwortet worden. Noch in der Dissertation von 1 7 7 0 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis finden wir diese Auffassung auch bei Kant selbst. Die Verbindung aller Substanzen zur Einheit eines Universums wird dort auf die als schöpferische Intelligenz gedachte Ursache alles Wirklichen zurückgeführt. 1 Der Gedanke eines creator mundi kann freilich nur dann als Einheitsprinzip in Anspruch genommen werden , wenn dessen Existenz nicht nur vermutet, sondern als bewiesen vorausgesetzt werden darf. Zu den vielleicht wichtigsten Ergebnissen der erkenntniskritischen Reflexionen Kants in der Kritik der reinen Vernunft gehört nun aber gerade die Einsicht, daß die Existenz einer höchsten Ursache alles Wirklichen zwar gedacht, nicht aber bewiesen werden kann. Damit ist die Möglichkeit einer ontologischen Auflösung des Einheitsproblems grund­ sätzlich in Frage gestellt. An ihre Stelle tritt bei Kant eine Reflexion auf die Bedingungen der Erkenntnis von Wirklichkeit . I » Substantiae mundanae sunt entia ab alio, sed non a diversis, sed omnia ab uno. Fac enim illas esse causata plurium entium necessariorum: in commercium non essent effectus, quarum causae ab omni relatione mutua sunt alienae. Ergo UNITAS in coniunc­ tione substantiarum universi est consectarium dependentiae omnium ab uno. Hinc forma universi testatur de causa materiae et nonnisi causa universorum unica est causa univer­ sitatis , neque est mundi architectus, qui non sit simul creator. « § 2 0 , 11/40 8 .

2

Es gibt nur eine Erfahrung

Menschliche Erkenntnis ist dadurch ausgezeichnet, daß ihr Gegenstand nicht im Akt des Erkennens hervorgebracht wird. Anders als in dem von Kant benutzten Gegenbild einer göttlichen Intelligenz vorgestellt, sind menschliche Anschauungen und Gedanken nicht eo ipso Anschauungen und Gedanken von Wirklichem. Gegenstand der Erkenntnis kann deshalb nur solches wer­ den, das uns in irgendeiner Weise gegeben ist. Der primäre Gegenstandsbe­ zug der Erkenntnis, das heißt derjenige , durch den wir allererst die Existenz von Gegenständen zur Kenntnis nehmen, muß deshalb als Rezeptivität be­ stimmt werden. Diese Rezeptivität kann näher als Wahrnehmung charakteri­ siert werden. Wirkliches zeigt sich uns als empirischer Inhalt von Wahrneh­ mungen , und alle weiteren Formen der Bezugnahme auf Gegenstände sind durch deren anschauliche Präsentation in der Wahrnehmung vermittelt. »Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige , wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht , und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. « ( B 3 3 ) Mit Blick auf den phänomenalen Charakter des Gegebenseins von Gegenständen in der Wahrnehmung, können diese auch als Erscheinungen bezeichnet werden . Bei Kant benennt dieser Terminus den begrifflich noch unbestimmten Inhalt einer empirischen Anschauung (B 34 ) Wegen ihres Angewiesenseins auf solche Anschauungen ist Wirklich­ keitserkenntnis zunächst und vor allem empirische Erkenntnis, das heißt Erfahrung. Die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit stellt sich dann als Frage nach der Einheit aller Wahrnehmungen in einer Erfahrung. In dieser Form ist das Einheitsproblem von Kant aufgenommen und in das Zentrum der transzendentalen Reflexion gestellt worden. In der ersten Fassung der Kate­ goriendeduktion von 1 7 8 1 schreibt er: » Es ist nur eine Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammen­ hange vorgestellt werde n . « (A l l O ) Wahrnehmungen geben den Stoff zu einer möglichen Erfahrung und sind noch nicht diese Erfahrung selbst. Erfahrung ist durch Wahrnehmungen vermitteltes Wissen von Objekten, die verschiede­ ne Eigenschaften in sich vereinigen und die in einem geregelten Zusammen­ hang mit anderen Objekten stehen. Sie ist als solche auf Funktionen begriff­ licher Synthesis angewiesen , die es erlauben, die Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke und Wahrnehmungen in einen erfahrungsmäßigen, auf Obj ekte bezogenen Zusammenhang zu bringen. Nicht alle sinnlichen Vorstellungen sind Präsentatio nen von Objekten . Als Obje k t bezeichnen wir einen bestimm­ ten Wahrnehmungsinhalt erst dann, wenn wir ihn durch Begriffe beschreiben und in einen regelhaften Zusammenhang mit anderen Wahrnehmungsinhal­ ten b ringen können. Dazu gehört vornehmlich auch, daß es möglich ist , ein .

Es gib t nur eine Erfahrung

3

und dasselbe Objekt in verschiedenen Wahrnehmungssituationen wiederzu­ erkennen. Verschiedene Wahrnehmungen werden in einer Erfahrung vereinigt , in­ dem sie durch Begriffe als Wahrnehmung von Objekten , deren Zusammen­ hängen und Veränderungen bestimmt werden. Dies geschieht in Urteilen. Erkenntnis anschaulich präsenter Obj ekte ist in dem Maße möglich, in wel­ chem es uns gelingt , den Zusammenhang unserer Wahrnehmungsinhalte in Urteilen durch Begriffe zu bestimmen. Die Einheit der Erfahrung ist dann die in Urteilen artikulierte Einheit aller möglichen Wahrnehmungen in einem einzigen , durchgängig konzeptuell bestimmten Zusammenhang. Es stellt sich die Frage nach den Gründen für Kants Annahme , daß alle möglichen Wahrnehmungen in einer Erfahrung zusammenkommen. Zwar dürfen wir davon ausgehen, daß sich für jeden Wahrnehmungsinhalt ein Be­ griff finden läßt, durch den er beschrieben und in Verb indung mit anderen Wahrnehmungsinhalten gebracht werden kann, aber dadurch is t noch nicht sichergestellt, daß auch alle Wahrnehmungen zusammen in einen einzigen, durch Begriffe organisierten Zusammenhang integriert werden können. Dies kann offenbar auch nicht durch die Feststellung faktischer empirischer Übereinstimmungen und Gleichförmigkeiten unserer Wahrnehmungen ge­ währleistet werden. Denn der Gedanke , daß alle Wahrnehmungen in einer einzigen Erfahrung vereinigt werden können, bezieht sich auch auf solche , deren Inhalt wir weder kennen noch antizipieren können . Wenn überhaupt , s o kann das Einheitsproblem nur durch eine Argumentation a priori aufge­ löst werden. Paradigma einer solchen Lösung ist Kants Transzendentale Deduktion der Kategorien. In ihr unternimmt Kant den Versuch, im Rückgang auf all­ gemeine und notwendige Strukturmerkmale menschlicher Wirklichkeitser­ kenntnis zu zeigen, daß alle Wahrnehmungen eines Subjekts notwendiger­ weise in einer Erfahrung vereinigt gedacht werden und eben darum als Wahr­ nehmungen einer einzigen Wirklichkeit zu betrachten sind. Die vorliegende Untersuchung dient der Klärung des Kautischen Lösungsvorschlages und dem Aufweis seiner argumentativen Stringenz. Und dies kann sie nur, indem sie zugleich seine immanenten Grenzen kenntlich macht .2 2 Die Frage nach der Einheit aller Wahrnehmungen in einer Erfahrung hat Kant bis in die späten Reflexionen des Opus postumum hinein beschäftigt. So wird im siebten Konvolut des Spätwerkes, das nach Adickes in der Zeit von 1 7 99 bis 1 8 00 entstanden ist, ihre zentrale Bedeutung für die transzendentale Fragestellung insgesamt immer wie­ der hervorgehoben. »Wie sind synthetische Sätze a priori möglich? Aufgabe der Transz : Philos. Wie ist Erfahrung als Einheit möglich; den es giebt nicht Erfahrungen, sondern nur ein Ganzes möglicher Wahrnehmungen, in so fern es ein System ausmacht und nicht durch diese für sie und ihre M oglichkeit werden die synthetische Sätze a priori, wird der

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Voraussetzungen der Transzendentalen.Dedu ktion

2. Voraussetzun gen der Transzendentalen Deduktion Grundle gend für den Kantischen Ansatz insgesamt ist die Annahme, daß in einer Reflexion auf die subjektiven Bedin gungen der Möglichkeit von Er­ kenntnis sowohl allgemeine und notwendige Formen des Gegebenseins von Ge genständen in der Wahrnehmung als auch der konzeptuellen Bestimmung von Wahrnehmungsinhalten im Urteil aufgewiesen werden können. Dem Auf­ weis dieser Formen ist die Transzendentale Ästhetik und der erste Teil der Transzendentalen Lo gik gewidmet, der im Anschluß an eine Äußerung Kants als »Metaphysische Deduktion der Kategorien« bezeichnet wird (B 1 5 9 ) .

2 . 1 Apriorische Elemente der Wahrnehmun g In der Ästhetik identifiziert Kant Raum und Zeit als Formen des primären Ge g enstandsbezug es menschlicher Erkenntnis. Alle Wahrnehmungen sind anschauliche Präsentationen von Ge gebenheiten in Raum und Zeit, und alles, was Gegenstand menschlicher Erkenntnis werden kann, muß in Raum und Zeit lokalisiert werden können . Nach Kant erg ibt sich der räumlich-zeitliche Charakter aller empirischen Gegenstände aus der Natur der menschlichen Anschauung. Raum und Zeit sind demnach subjektiv notwendige Formen der anschaulichen Präsenz von Gegenständen in der Wahrnehmung. Sie werden von Kant durch eine Art Reduktion eingeführt. »In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit iso lieren , dadurch, daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische An­ schauun g übrigbleibe . Zweiten s werden wir von dieser noch alles, was zur Empfindun g gehört, abtrennen , damit nichts als reine Anschauung und die Complexus derselben gedacht . « XXII/ 7 3 . (Vgl. a. a. O., S. 8, 5 0, 6 6 , 9 2 , 9 7 f. , 99, 1 02 , 1 03 , 1 28 .) Mit Blick auf die Transzendentale Deduktion der Kategorien mag es dennoch zu­ nächst verwunderlich erscheinen , die Frage nach der Einheit aller Wahrnehmungen in der Erfahrung ins Zentrum der Interpretation zu stellen. N ach Kants eigenen Worten soll dort bekanntlich die objektive Realität der reinen Verstandesbegriffe dargetan werden ( B 1 1 6 f.), und dabei ist von der Einheit der Erfahrung zunächst einmal nur am Rande die Rede . Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, daß in der Kategoriendeduktion nicht in erster Linie die Möglichkeit und Notwendigkeit der Gegenstandsbeziehung von Kate­ gorien hergeleitet werden. Hauptsächlich wird vielmehr ein Argument flir die Universalität des Kategoriengebrauchs vorgestellt. Die Deduktion endet mit dem Ergebnis, daß alles sinnlich Gegebene unter Kategorien steht und eben deshalb zur Einheit einer Erfahrung gebracht werden kann. Und die hervorragende Bedeutung der Kategoriendeduktion im Rahmen der Transzendentalen Analytik ergibt sich, wie sich zeigen wird, genau aus dem in ihr eingelösten Universalitätsanspruch kategorialer Synthesis.

Apriorische Elemente der Wahrnehmung

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bloße Form der Erscheinungen übrigbleibe, welches das einzige ist, das die Sinnlichkeit a priori liefern kann. Bei dieser Untersuchung wird sich finden, daß es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung als Prinzipien der Erkennt­ nis a priori gebe , nämlich Raum und Zeit, mit deren Erwägung wir uns jetzt beschäftigen werden . « ( B 3 6 ) Als Argument für die subjektive Notwendigkeit von Raum und Zeit als Formen der Anschauung ist dies wenig üb erzeugend ; denn wir müssen bereits zugestehen, daß Raum und Zeit formale Bedingungen der Anschauung und nicht etwa empirische Relatio nen zwischen Gegenständen sind, um sie am Ende des Reduktionsprozesses als »Form der Erscheinung« identifizieren zu können . Andernfalls würden sie mit der Abstraktion von allen empirischen Inhalten der Anschauung ebenfalls verschwinden. Zwar führt Kant in der Metaphysischen Erörterung der Transzendentalen Ästhetik verschiedene Argumente an, die zeigen sollen , daß Raum und Zeit Anschauungen a priori und keine empirischen Begriffe von Relationen sind . Aber dies hilft uns hier nicht weiter. Auch wenn gezeigt werden könnte , daß Raum und Zeit selbst reine Anschauungen sind, wäre damit noch nicht bewiesen, daß sie als solche auch allgemeine und notwendige Formen des Gegebenseins von emprischen Anschauungen sind. Ich werde nicht weiter auf die immanente Begründungsproblematik der Subjektivität von Raum und Zeit als Anschauungsformen, wie sie sich für Kant in der Transzendentalen Ästhetik stellt, eingehen.3 Unabhängig davon, ob Raum und Zeit Formen der Anschauung sind oder nicht, können wir feststellen, d aß der Begriff empirischer Gegenständlichkeit außerordentlich eng mit dem räumlich-zeitlicher Existenz verknüpft ist. Es scheint weniger falsch als vielmehr unverständlich zu sein , die empirische Existenz eines Gegenstandes zu behaupten und gleichwohl zu leugnen, daß dieser Gegen­ stand auch irgendwo und irgendwann wahrgenommen werden kann. Wenn wir sagen , daß alle emprischen Gegenstände Gegebenheiten in Raum und Zeit sind, blicken wir weder von einem Olymp göttlicher Einsicht auf die empirischen Gegenstände hinunter, um festzustellen , daß sie tatsächlich alle in Raum und Zeit versammelt sind , noch stellen wir eine empirische Hypothese auf, die durch das Auftauchen nicht-räumlicher oder nicht-zeit3 Wer an diesen Fragen interessiert is t, sei an den unerschöpflichen Kommentar von Hans Vaihinger verwiesen, der eine ausführliche Diskussion der Metaphysischen Erörte­ rung von Raum und Zeit gibt. Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 2 Bde . , Stuttgart/Berlin/Leipzig 1 9 2 2 , 2 . Aufl.) E ine kritische Auseinandersetzung m i t der Transzendentalen Ästhetik findet sich in : J onathan Bennett, Kant's Analytik, Garnbridge 1 96 6 , S. 3 ff. Neuerdings hat Malte Hassenfelder eine kritische Diskussion des Kantischen Anschauungsidealismus gegeben (Kants Konsti tutionstheorie und die Transzendentale Deduktion, Berlin/New Y ork 1 9 7 8 , S. 2 8 ff. ) .

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Voraussetzungen der Transzendentalen Deduktion

licher Gegenstände falsifiziert werden könnte. Wir geben eine Erklärung dessen, wa� ein empirischer Gegenstand ist , und diese Erklärung kann gar nicht anders als a priori gegeben werden, denn durch sie wird die Sphäre der Referenz empirischer Aussagen allererst festgelegt. Dabei müssen wir keinesfalls voraussetzen , daß eine solche Erklärung alternativlos ist. So hat Strawson in Individuals einleuchtend gezeigt, daß verschiedene grundlegende Charakteristika unserer Erfahrung auch in einem nicht räumlichen , zeitlich­ auditiven Universum möglich wären.4- Kant selbst stellt an mehreren Stellen fest, daß die Notwendigkeit von Raum und Zeit als Anschauungsformen nicht einsichtig gemacht werden kann. 5 Worauf es ankommt , ist nicht , daß Raum und Zeit die einzigen mög­ lichen Formen des Gegebenseins von Gegenständen sind , sondern daß sie in vielleicht einzigartiger Weise gestatten , den Begriff des empirischen Gegen­ standes so zu bestimmen, daß er mit dem Begriff des Wahrnehmbaren zu­ sammenfällt, ein Gegenstand ist gerade dann wahrnehmbar, wenn er an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit beobachtet werden kann, und dies ist gleichbedeutend damit , daß jeder wahrnehmbare Gegen­ stand als Gegebenheit in Raum und Zeit beschrieben werden muß. Wenn es nun richti g ist, daß wir uns der Existenz eines Gegenstandes nur durch Wahrnehmung vergewissern können, dann können wir uns im Rahmen empirischer Erkenntnis nur auf solche Gegenstände beziehen, die in Raum und Zeit lokalisierbar sind. Wir können dann a priori wissen, daß alle Gegenstände in Raum und Zeit auftreten, weil wir apriori die Bedingun­ gen angeben können , unter denen wir uns in der Wahrnehmung auf das Ge­ gebensein dieser Gegenstände beziehen. Dadurch kann zwar nicht die Exi­ stenz nicht-räumlicher oder nicht-zeitlicher Gegenstände ausgeschlossen werden - sie wird von Kant mit Blick auf die Belange einer vernünftig/ moralischen Orientierung menschlichen Handeins sogar ausdrücklich einge­ räumt- Ausgeschlossen ist aber die Möglichkeit einer empirischen Erkenntnis dieser Gegenstände. Solange sich unser Interesse an der Transzendentalen Ästhetik auf die Frage nach den allgemeinen und notwendigen Formen des primären Gegen­ standsbezuges menschlicher Erkenntnis b eschränkt, können wir uns mit die4

Peter F . S trawson, Individuals. An E ssay in Descriptive Me taphysics, London 1 95 9 ,

s. 59-86.

S Vgl. Refl. 5 04 1 ( 1 7 7 6- 1 7 7 8 ) : » Alle weitere Erklärung durch den Verstand von Raum, Zeit und appercep tion ist unmöglich. « XVIII / 7 0. In den 8 0er J ahren notiert Kant: » . . . des Raumes und der Zeit No thwendigkeit kann nicht bewiesen werden, son­ dern nur als nothwendige Bedingung der Moglichkeit der Dinge der F orm nach . . . « 5 5 00, XVIII/200. Vgl. B 1 45 f. , IV/3 1 8 , XI/5 1 .

Apriorische Elemente der Wahrnehmung

7

ser vergleichsweise harmlosen Interpretation der Kautischen Raum-Zeit­ Lehre zufriedengeben. Kants Identifikation von Raum und Zeit als An­ schauungsformen liegt dann darin begründet , daß menschliche Erkenntnis, insofern sie auf Wahrnehmungen angewiesen ist, notwendigerweise Erkennt­ nis von Gegenständen in Raum und Zeit ist. Kants Theorie der Subjektivität von Raum und Zeit besagt dann nur, daß die Geltung der Aussage » Alle em­ pirischen Gegenstände sind Gegebenheiten in Raum und Zeit« im Rekurs auf eine subjektive Erkenntnisbedingung, nämlich Wahrnehmbarkeit, ·be­ gründet wird und nicht durch eine ontologische Explikation des Gegenstands­ begriffs .

2 . 2 Kants »Sinnesdatenatomismus« Im Anschluß an die Einführung von Raum und Zeit als Formen des primären Gegenstandsbezuges in der Wahrnehmung kann eine der wichtigsten Voraus­ setzungen der Transzendentalen Deduktion der Kategorien eingeführt wer­ den. Es handelt sich um die Annahme, daß sich dem erkennenden Subjekt in der Wahrnehmung stets eine ungeordnete und zusammenhangslose Mannig­ faltigkeit sinnlicher Gegebenheiten präsentiert , deren Einheit erst durch eine vom Subjekt geleistete konzeptuelle Synthesis zustandegebracht wer­ den muß. Alle Verb indung sei, so Kant , eine Verstandeshandlung und als solche der Spon taneität des erkennenden Subjekts zuzurechnen. » Allein die Verbindung ( conjunctio ) eines Mannigfaltigen überhaupt, kann niemals durch Sinne in uns kommen , . . . denn sie ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft . . . « (B 1 29 f. ) Die Verbindung verschiedener Wahr­ nehmungsinhalte ist demgemäß eine spezifische Leistung des Subj ekts. Ihre strukturellen Voraussetzungen werden in der Transzendentalen Deduktion erörtert. Kants lapidare Feststellung »Allein die Verbindung eines Mannigfalti­ gen überhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen« ist nun in der philosophischen Diskussion der Kategoriendeduktion häufig auf Unverständ­ nis gestoßen , weil ihr streng epistemologischer Charakter verkannt und sie fälschlich für eine empirische Behauptung über die Verfassung der mensch­ lichen Wahrnehmung gehalten wurde . Im günstigsten Fall wurde ihr dann der Status einer unbegründeten Prämisse eingeräumt, die Kant ohne weitere Prüfung vom englischen Empirismus übernommen hätte. In ungünstigeren Fällen versuchte man von den Ergebnissen der Wahrnehmungspsychologie her gegen Kant zu argumentieren: Die Gestaltpsychologie habe gezeigt, daß Wahrnehmung grundsätzlich Wahrnehmung von Zusammenhängen sei, daß

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Voraussetzungen der Transzendentalen Deduktion

also bereits vor aller konzeptuellen Synthesis Ve rbindung des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit gegeben sei, mithin also nicht alle Verbindung erst vermöge der Spontaneität des Subjekts zustandegebracht werden müsse. Dem ist , solange wir uns auf der Ebene einer empirischen Charakterisie­ rung der kognitiven Besonderheiten menschlicher Wahrnehmung bewegen, nichts entgegenzuhalten. Ein Einwand gegen Kants Annahme einer unge­ ordneten und zusammenhanglosen Mannigfaltigkeit sinnlicher Gegebenhei­ ten läßt sich auf diese Weise j edoch nicht formulieren. Der Gedanke, daß alle Einheit von Wahrnehmungen ein Produkt verstandesmäßiger Synthesis ist, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine theoretische Konstruktion , ohne die der Begriff empirischen Wissens nicht gefaßt werden kann. Sobald solches Wissen als Erkenntnis von regelgeleiteten Zusammenhängen zwischen anschaulich präsenten Gegebenheiten bestimmt wird, muß vorausgesetzt werden, daß die Gegebenheiten, deren Zusammenhang erkannt werden soll , als einzelne Gegebenheiten unterschieden werden können. Zusammenhänge können nur insoweit erkannt werden, als es möglich ist , die in ihnen verei­ nigt gedachten Elemente unabhängig von der b esonderen Form ihres Ver­ bundenseins zu thematisieren. Da dies für alles gilt , was Gegenstand der Er­ kenntnis werden kann, können wir allgemein sagen, daß respektiv auf die Möglichkeit , Zusammenhänge zu erkennen, die Möglichkeit eingeräumt werden muß , Komplexe von Gegebenheiten, wie wohlgeordnet sie auch im­ mer in der faktischen Wahrnehmung erscheinen mögen, als zusammenhang­ lose Mannigfaltigkeit zerstreuter Daten zu denken. Eine Pointe der Kantischen Theorie liegt nun darin, daß die im Erkennt­ nisbegriff vorausgesetzte Unterscheidbarkeit aller empirischen Gegebenhei­ ten a priori dadurch gewährleistet ist , daß diese in Raum und Zeit gegeben sin d. Indem ich mich vermittels einer Wahrnehmung auf einen Gegenstand beziehe , thematisiere ich diesen als etwas , das an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit anschaulich gegeben ist, und unterscheide ihn dami t von allen anderen Gegenständen, die an einem anderen Ort oder zu einem anderen Zeitpunkt auftreten. Mit der Raum-Zeit-Struktur unserer Wahrnehmung ist deshalb der Gedanke einer durch das Hier undjetzt ihres Auftretens zerstreuten Mannigfaltigkeit von Gegebenheiten verbunden, de­ ren spezifischer Zusammenhang auf verschiedene Weise nach Regeln kon­ zeptueller Synthesis bestimmt werden kann . Damit ist nicht ausgeschlossen, daß sich uns in der faktischen Wahrnehmung stets Zusammenhänge präsen­ tieren, sondern nur festgestellt, daß Erkenntnis eine Leistung des Subj ekts ist , durch die der gegenständliche Zusammenhang verschiedener Wahr­ nehmungsinhalte , die durch Ort und Zeit ihres Auftretens unterschieden sind, zuerst konzeptuell b estimmt wird . So schreibt Kant im § 1 5 der Trans-

Kants " Sinnesdatenatomismus"

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zendentalen Deduktion, » daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vor­ stellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gege­ ben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist . « (B 1 3 0) Es müssen dabei eine subjektive und eine objektive Seite der Erkenntnis ermöglichenden Individuierungsfunktion von Raum und Zeit unterschieden werden. Inso fern uns Gegenstände im Raum gegeben sind, sind sie an einem bestimmten Ort gegeben und vor aller empirischen Differenzierung hinsicht­ lich materialer Besonderheiten objektiv von allen anderen Dingen, die an anderen Orten zur gleichen Zeit wahrgenommen werden können, unter­ schieden. 6 Die empirische Welt ist deshalb a priori als Mannigfaltigkeit räum­ lich zerstreuter En titäten bestimmt. Durch die Zeit dagegen ist zunächst nur die subjektive Unterscheidbar­ keit von Wahrnehmungen gewährleistet. Sie erlaubt deren Differenzierung hinsichtlich der Aufeinanderfolge ihres Auftretens im Bewußtsein des wahr­ nehmenden Subjekts. »Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich , welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Ge­ müt nicht die Zeit in der Folge der Eindrücke aufeinander unterschiede : denn als in einem A ugenblick en thalten, kannjede Anschauung niemals etwas anderes als absolute Einheit sein . « ( A 9 9 ) Während zwei Gegenstände allein durch ihr räumliches Auseinander als verschiedene Gegenstände bestimmt sind, und deshalb Wahrnehmungen , die sich auf verschiedene Raumstellen beziehen , grundsätzlich numerisch verschiedene Dinge zum Inhalt haben, können in der Zeit unterschiedene Wahrnehmungen sich auf ein und das­ selbe beziehen. In ihr sind Wahrnehmungen zunächst nur als Bewußtseins­ inhalte und nicht zugleich schon als Repräsentationen verschiedener Gegen­ stände unterschieden. Wir haben es also mit zwei Formen des Mannigfaltigen der Anschauung zu tun : einmal mit dem Mannigfaltigen sinnlicher Gegeben­ heiten in Raum und Zeit selbst, dann mit dem Mannigfaltigen der Wahrneh­ mungen dieser Gegebenheiten. Entsprechend lassen sich auch an der im Erkenntnisbegriff vorausgesetz­ ten Synthesis eine objektive und eine subjektive Seite unterscheiden . » Syn­ thesis « bezeichnet zunächst den Akt des Verbindens von Anschauungen , die im Bewußtsein des Subjekts i n zeitlicher Ab folge gegeben sind. Al s sol­ che ist sie su bjek tive Verknüpfung von Bewußtseinsinhalten. Insofern durch 6 » Die Verschiedenheit der Orter macht die Vielheit und Unterscheidung der Gegen­ stände als Erscheinungen, ohne weitere Bedingungen, schon für sich nicht allein möglich, sondern auch no twendig. « B 3 2 8 . Vgl. Refl. 5 342 ( XVIII / 1 5 6 f. ) , 5 9 0 7 (XVIII/ 3 8 1 ) , 5 9 0 8 (ebd. ) , aus der Zeit zwischen 1 7 7 5 - 1 7 8 5 .

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Voraussetzungen der Transzendentalen Deduktion

diese Synthesis aber im Erkenntnisprozess die gegenständliche Einheit der in diesen Anschauungen präsenten Gegebenheiten bestimmt werden soll , ist sie , wenn dies gelingt, immer auch Synthesis des objek tiven Zusammenhanges dieser Gegebenheiten in Raum und Zeit. Womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß erst durch sie die Einheit der räumlich.zeitlichen Welt hervorge· bracht wird, sondern nur, daß ohne eine obj ektbezogene Synthesis von An­ schauungen kein Wissen von dieser Einheit möglich ist.

2.3 Apriorische Elemente diskursiver Synthesis Wenn nun verschiedene Wahrnehmungen nicht eo ipso Wahrnehmungen von Verschiedenem sind, dann ist eine Minimalbedingung von Erfahrung, daß Wahrnehmungen, die sich auf einen und denselben Gegenstand beziehen , von solchen unterschieden werden können, die verschiedene Gegenstände zum Inhalt haben. Dazu sind Beschreibungen erforderlich, anhand derer entschie­ den werden kann, ob zwei Wahrnehmungen sich auf ein und dasselbe oder auf verschiedene Objekte beziehen. Solche Beschreibungen setzen ihrerseits Begriffe voraus , in denen die für einen bestimmten Gegenstand charakteri­ stischen Eigenschaften vereinigt gedacht werden. Eine Sequenz von Wahr­ nehmungen ist gerade dann auf ein und dasselbe Objekt bezogen, wenn sich in ihrer Abfolge die für das Objekt typischen und in seinem Begriff angege­ benen Eigenschaften präsentieren.' Begriffe können demgemäß als Funk tionen bestimmt werden, durch welche verschiedene Wahrnehmungen auf ein und dasselbe Objekt bezogen und darin zur Einheit einer Erkenntnis dieses Objekts gebracht werden kön­ nen. » Alle Anschauungen, als sinnlich , beruhen auf Affektionen , die Begriffe also auf Funktionen . Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Hand­ lung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ord­ nen . « ( B 9 3 ) In Begriffen ist die Einheit einer Handlung gedacht , weil die Zuordnung einer Sequenz von Wahrnehmungen zu einem Objekt noch nicht durch die bloße Ab folge der Wahrnehmungen im Bewußtsein gegeben ist , sondern vom wahrnehmenden Subjekt erst vermöge seiner Spontaneität voll­ zogen werden muß. Dies geschieht in elementaren Fällen durch Urteile, in denen konzeptualisierte Wahrnehmungsinhalte als Prädikate bestimmten 7 Es ist denkbar, daß sich zwei numerisch unterschiedene Objekte durch keinerlei begriffliche Bestimmungen unterscheiden lassen. In diesem Fall kann die eindeutige Identifizierung eines Objekts nur durch seine Lokalisierung im Raum vorgenommen wer­ den. Die Einsicht, daß Begriffe für die Identifikation von Objekten notwendig sind, bleibt davon unberührt.

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Objekten zugesprochen werden. Und wenn es nun richtig ist, daß Wahrneh­ mungen nur in Urteilen auf Objekte bezogen werden können, dann verspricht eine Analyse der verschiedenen Urteilsformen zugleich, Auskunft darüber zu geben , welche Formen der objektbezogenen Einheit von Wahrnehmungen in der Erfahrungserkenntnis auftreten können. Nachdem Kant in der Transzendentalen Ästhetik Raum und Zeit als Be­ dingungen des primären Gegenstandsbezuges menschlicher Erkenntnis in der Wahrnehmung aufgewiesen hat , wendet er sich deshalb im ersten Teil der Transzendentalen Logik, der sogenannten Metaphysischen Deduktion der Kategorien, einer Analyse des Zusammenhanges zwischen den möglichen Formen der Einheit im Urteil und den möglichen Formen der Einheit von Anschauungen zu. Ziel dieser Analyse ist es, zu zeigen, daß alle möglichen Formen der objektiven Einheit von Wahrnehmungen durch genau zwölf Ka­ tegorien beschrieben werden können. Die Metaphysische Deduktion der Kategorien, die von Kant unter dem Titel » Vom Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe « vor­ gestellt wird ( 8 9 1 ) , gliedert sich in drei Teile. Zunächst stellt Kant fest, daß die in Begriffen gedachte Einheit von Vorstellungen Urteilsleistungen des Subjekts voraussetzt mit der· Konsequenz, daß alle Formen konzeptueller Einheit auf Urteilsfunktionen zurückgeführt werden können. Es folgt eine Obersicht über die grundlegenden logischen Funktionen in der UrteilstafeL Schließlich werden aus den verschiedenen Formbestimmungen des Urteils zwölf Kategorien hergeleitet. In ihnen sind diejenigen Formen der Einheit von Anschauungen gedacht, die sich aus den Urteilsfunktionen ergeben , wenn diese zur konzeptuellen Bestimmung von Anschauungen herangezo­ gen werden. Den Grundgedanken der Metaphysischen Deduktion formuliert Kant im dritten Abschnitt : » Dieselbe Funktion , welche verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiede­ ne Vorstellungen in einer A nschauung Einheit, welche, allgemein ausge­ drückt, der reine Verstandesbegriff heißt.« (B 1 0 4 f. ) Während also die Ka­ tegorien im Rückgriff auf bloß formale Bestimmungen der verschiedenen Urteilstypen gewonnen werden, zielen sie doch im Rahmen der Transzen­ dentalen Logik , » welche ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori vor sich liegen hat « (B 1 0 2 ) , von Anfang an auf die Synthesis von Anschauungen und werden auf diese Weise verbindliche Formen der synthetischen Einheit von Wahrnehmungen, deren Inhalt dem erkennenden Subjekt gegeben und nicht schon den logischen Formen seines Denkens gemäß hervorgebracht worden ist . Im einzelnen werden die Kategorien aus der Urteilstafel hergeleitet , in-

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dem jeder Urteilsform eine durch sie definierte Form der Einheit von An­ schauungen beigestellt wird . So wird der Subjekt-Prädikat-Form des Urteils die Substanzkategorie zugeordnet, weil durch sie die Einheit verschiedener Eigenschaften in einem Objekt gedacht werden kann. Aus der hypotheti­ schen Urteilsform ergibt sich die Kausalkategorie , durch welche die Einheit verschiedener Aussagen in b ezug auf einen ursächlich bestimmten Sachver­ halt konzeptuell gefaßt werden kann. Es kommt hier nicht auf eine voll­ ständige Rekonstruktion und Rechtfertigung der Kantischen Urteilstafel an. Mit Blick auf die Frage nach der Einheit aller Wahrnehmungen in einer Er­ fahrung sind die b esonderen Formen , in denen verschiedene Wahrnehmun­ gen zur Einheit eines Erfahrungszusammenhanges gebracht werden können, nur von untergeordneter Bedeutung. Zunächst ist nur wichtig, daß über­ haupt irgendwelche Formen a priori identifiziert werden können, denen ge­ mäß Wahrnehmungen auf Objekte bezogen und darin zur Einheit von em­ pirischen Erkenntnissen gebracht werden. Die Kategorien müssen nun aufgrund ihrer Herleitung aus der Urteilstafel als solche Formen a priori an­ gesehen werden; denn die in ihnen gedachte Einheit von Wahrnehmungsin­ halten ergibt sich nicht aus der empirischen Verfassung dieser Inhalte, son­ dern aus den logischen Funktionen , in denen diese durch Begriffe auf Ob­ jekte bezogen werden. Die Frage nach der Einheit der Erfahrung stellt sich genauer als Frage nach der Möglichkeit eines durch Begriffe a priori geregel­ ten Wahrnehmungszusammenhanges. Kants Herleitung der Kategorien aus der Urteilstafel war seit Hege! im­ mer wieder ein bevorzugter Gegenstand der philosophischen Kritik. Diese richtete sich vor allem auf den Anspruch Kants , in der Kategorientafel eine vollständige übersieht aller ursprünglichen , das heißt nicht weiter ableit­ baren Formen der synthetischen Einheit unseres Denkens von Objekten ge­ geben zu haben. Kant verzichtete auf einen Beweis für diese Vollständigkeit, weil er sie durch die Herleitung der Kategorien aus der Urteilstafel , deren Vollständigkeit er voraussetzte , für gesichert hielt . Wenn es nämlich richtig ist, daß alle Formen der konzeptuellen Einheit von Objekten auf Urteils­ leistungen zurückgeführt werden können, und wenn weiter eine vollständige übersieht üb er die grundlegenden Formen des Urteils vorliegt , dann ist es in der Tat unproblematisch, auch eine vollständige üb ersieht der möglichen Formen objektiver Einheit zu geben. Die Vollständigkeit der Kategorien­ tafel ist dann unmittelbar durch die Vollständigkeit der Urteilstafel garan­ tiert.8 Aber eben diese Vollständigkeit der Urteilstafel ist schon zu Kants 8 Vgl. Kants Äußerungen über seine Herleitung der Kategorien aus der Urteilstafel in den Prolegomena ( § 3 9 ) , IV/3 23 f.

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Lebzeiten und unüberhörbar seit Hegels Auslassungen in der Enzyklopädie immer wieder in Zweifel gezogen worden.9 Klaus Reich hat in seiner inzwischen legendären Dissertation versucht, den von Kant ausgesparten Vollständigkeitsbeweis für die Urteilstafel nach· zuliefern . 1 0 Er leitet aus Kants Definition eines Urteils, dergemäß ein Urteil » nichts anderes sei, als die Art , gegebene Erkenntnisse zur objektiven Ein· heit der Apperzeption zu bringen« ( B 1 4 1 ) , die verschiedenen Urteilsfunk­ tionen her. Und in der Folge gelingt es ihm, im Anschluß an die nachgelas­ senen Reflexionen Kants zumindest plausibel zu machen, daß seine Rekon­ struktio n der Herleitung von Urteilsformen aus der Urteilsdefinition in Übereinstimmung mit Kants eigenen Intentionen steht. Es ist Reichs Lei­ stung, gezeigt zu haben, daß die Kantische Urteilstafel tatsächlich durch diejenige innere Systematik ausgezeichnet ist , die ihr Urheber für sie bean­ spruchte und die seitdem immer wieder b ezweifelt worden war. 1 1 Was Reich aber nich t gelungen ist , und was ihm aufgrund der argumentativen Struktur seines Rekonstruktionsversuches auch nicht gelingen konnte , ist, zu bewei­ sen , daß die Kantische Urteilstafel vollständig ist . Ein Vollständigkeitsbe­ weis für ein bestimmtes Set von Urteilsfunktionen kann durch ihre Ableitung aus einem Prinzip allein nicht bereitgestellt werden, weil durch das Gelin­ gen faktischer Ab leitungen nicht auszuschließen ist , daß üb er die bereits ab· geleiteten Forme n hinaus weitere Formen als ableitbar ausgewiesen werden können. Vielmehr wäre ein eigenständiger Vollständigkeitsbeweis erforder­ lich, durch den gezeigt wird , daß nur diese und keine anderen Formen aus dem vorausgesetzten Prinzip abgeleitet werden können. Ein solcher Beweis findet sich aber weder bei Kant noch bei Reich. Lorenz Krüger hat die Auffassung vertreten , daß das Fehlen eines Voll­ ständigkeitsb eweises keine (prinzipiell schließbare ) Lücke im Kantischen Argumentationszusammenhang bildet , sondern vielmehr zu den charakteri­ stischen Besonderheiten des erkenntniskritischen Ansatzes gehört. 1 2 Er be9 Vgl. den Brief Mellins an Kant vom 1 2 . April 1 7 94, XI/4 7 9 und Hegels Enzyklopä­ die § 42. 10 Klaus Reich, Die Vollständigkeit der Kan tischen Urteilstafel, Berlin 1 94 8 , 2 . Auf!. 11 Dieses Verdienst wird auch dadurch nicht geschmälert, daß Hans Lenk inzwischen zeigen konnte , daß Reichs Herleitung der verschiedenen Urteilsformen sachlich nicht zu halten ist. ( Kritik der logischen Konstanten , Berlin 1 96 8 , S. 2 1 ff.) Die innere Stimmig­ keit des Kantischen Gedankens resp . seiner Rekonstruktion durch Klaus Reich ist von der (berechtigten) Kritik an seiner sachlichen Tragfähigkeit zu unterscheiden. Lenks ober­ flächliche Äußerungen zu S tatus und Funktion des Apperzeptionsprinzips im Rahmen der Kantischen Theorie (a. a. O. , S. 14 ff.) können hier unberücksichtigt bleiben; ihre Haltlosigkeit wird sich im folgenden erweisen. 12 Lorenz Krüger, Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen?, Kant­ Studien 59 ( 1 9 6 8 ) , S. 3 3 3 -3 5 6 .

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ruft sich auf die von Kant in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Ver­ nunft eingeführte Unterscheidung zwischen der Metaphysischen Erörterung resp . Metaphysischen Deduk tion gewisser apriorischer Grundelemente von Erkenntnis auf der einen Seite und der Transzendentalen Deduk tion be­ stimmter Geltungsansprüche auf der anderen Seite . Nach Kants Erklärung ist in der metaphysischen Erörterung eines Begriffs dasjenige anzugeben, »was den Begriff, als a priori gegeben , darstellt . « ( B 3 8 ) . Dementsprechend beziehe sich der Titel » Metaphysische Deduktion der Kategorien « auf den »A ufweis gewisser irreduzibler Formen aller Verstandestätigkeit 'als a priori gegeben ' « . 1 3 Wenn nun die Kategorien ebenso wie die Anschauungsformen Raum und Zeit von vornherein als a priori gegebene Elemente von Erkennt­ nis bestimmt werden müssen , dann scheint es nicht nur aussichtslos zu sein , sondern auch den Kantischen Intentionen e ntgegenzulaufen, via Urteilstafel eine Ableitung dieser Begriffe aus einem Prinzip zu versuchen, um auf diese Weise ihre Vollständigkeit sicherzustellen. Aufgabe der Erkenntniskritik könnte dann nur mehr sein , mit apriorischer Gewißheit o ffenzulegen, wel­ che Forme n kategorialer Einheit ursprünglich gegeben sind. Die objektive Einheit der Apperzeption - » der höchste Punkt , an den man . . . selbst die ganze Logik . . . heften muß « ( B 1 34 Anm. ) - fungiert dann nicht mehr als Prinzip zur Deduktion besonderer Urteilsformen wie bei Reich , sondern als En tscheidungskriterium, welche logischen Funktio­ nen » dem Verstand zu seinem Zweck, Einheit unter unseren Vorstellungen herzustellen« verhelfen.14 Die systematische Einheit der Kategorientafel, auf die Kant so großen Wert legte, und die er durch ihre Beziehung auf ein Prinzip , nach dem die Kategorien » aufzusuchen « seien, gewährleistet sah (B 9 2 ) , ergibt sich dann nicht aus der logischen Ableitbarkeit dieser Begriffe aus dem Apperzeptionsprinzip , sondern aus ihrer funktionalen Zusammen­ gehörigkeit, über die nur im Hinblick auf dieses Prinzip entschieden werden kann. Indessen ist klar, daß auch durch diese subtile Reformulierung dessen, worin die systematische Einheit der Kategorien- resp. Urteilstafel liegt , das 1 3 L. Krüger, a. a. O., S. 340. Man könnte einwenden, Kants Erläuterung des Begriffs •Metaphysische Erörterung • dürfe nicht auf den der »Metaphysischen Deduktion• über­ tragen werden, zumal bereits die Wortwahl auf einen Bedeutungsunterschied hinweist. • Deduktion« bezeichnet, anders als • Erörterung« , ein· Verfahren der Ableitung oder Herleitung, durch das eine Erkenntnis in Beziehung zu einer anderen gebracht und darin als gültig ausgewiesen wird. Krügers Interpretation kann aber dadurch gestützt werden, daß sowohl in dem von Jäsche besorgten Kompendium für die Logik-Vorlesungen Kants als auch in den Nachschriften zu diesen Vorlesungen ausdrücklich von a priorigegebenen Begriffen und das heißt doch wohl von nicht weiter herleitbaren Begriffen die Rede ist. Vgl . J äsche § 4 (IX/93 ) und die Vorlesungsnachschriften (XXIV / 2 5 2 , 4 5 2 , 543, 7 5 2 f.). 1 4 L. Krüger, a. a. 0., S. 342.

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Vollständigkeitsproblem nicht z u lösen ist . Das von Krüger vorgeschlagene Entscheidungsverfahren führt nur dann zu einer vollständigen Liste aller eleme ntaren logischen und kategorialen Einheitsfunktionen , wenn voraus­ gesetzt werden darf, daß tatsächlich alle möglichen Kandidaten in Betracht gezogen wurden. Und dies vorauszusetzen heißt eben, die zu begründende These selbst vorauszusetzen. Krüger hat dies gesehen und festgestellt , daß Kant die Möglichkeit einer solchen Synopsis vorausgesetzt hat. 1 5 In der Tat schreibt Kant , daß uns bei der Inventarisierung aller » Besitze durch reine Vernunft« nichts entgehen könne , » weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern selbst durch Ver­ nunft ans Licht gebracht wird , sobald man nur das gemeinschaftliche Prin­ zip desselben entdeckt hat . « (AXX) Aber auch hier ist die Gewißheit der Vollständigkeit von einem Prinzip abhängig gemacht , das entdeckt werden kann und, so ergänze ich, im Rekurs auf welches die Vollständigkeit begrün­ det werden muß. Krügers These , daß im Rahmen des erkenntniskritischen Ansatzes kein Platz für einen Vollständigkeitsbeweis sei, steht also in einer gewissen Spannung zu Kants eigenen Äußerungen. Nun führt Krüger drei wichtige Textstellen an , die belegen sollen, daß Kant einen solchen Beweis für unmöglich gehalten habe, er mithin die Voll­ ständigkeit seiner Tafeln als irreduzibles Faktum schlicht voraussetze: » Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zustande zu bringen, läßt sich ebensowenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen haben, oder warum Raum und Zeit die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind. « ( B 1 45 f. ) » Wie aber diese eigenthümliche Eigenschaft unsrer Sinnlichkeit selbst, oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde liegenden nothwendigen Apperception möglich sei, läßt sich nicht weiter auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu allem Denken der Gegenstände wieder nöthig haben.« (IV/ 3 1 8) » Wie aber eine solche sinnliche Anschauung (als Raum und Zeit ) Form unserer Sinnlichkeit oder solche Functionen des Verstandes, als deren die Logik aus ihm entwickelt , selbst möglich sey, oder wie es zugehe , daß eine Form mit der Andern zu einem möglichen Er-

15 L. Krüger, a. a. O., S. 343.

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kenntnis zusammenstimme, das ist uns schlechterdings unmöglich weiter zu erklären . . . « (XI/ 5 1 ) 1 6 Die zitierten Passagen belegen eindringlich , daß Kant tatsächlich mit ge­ wissen , nicht weiter herleitbaren, Grundelementen menschlicher Erkenntnis rechnete, die in dem Argumentationsgang der Transzendentalen Ästhetik und Logik zwar als notwendige Voraussetzungen aufgewiesen , die aber nicht in ihm selbst aus allgemeineren Prämissen hergeleitet werden können. Dies stellt Krüger zu Recht heraus. Sie stützen aber nicht seine weitergehende Behauptung, daß Kant selbst die Liste dieser Voraussetzungen für überhaupt nicht weiter begründbar hielt. Zwar können wir nach Kant keinen Grund dafür angeben, warum wir apperzeptive Intelligenzen sind, die Gegenstände nur in Raum und Zeit anschauen können und sie gemäß zwölf spezifisch bestimmten Urteilsformen kategorial bestimmen müssen, um empirische Erkenntnis zu erlangen. Dies schließt aber nicht die Möglichkeit einer Be­ gründung dafür aus, daß wir apperzeptive Intelligenzen sind , daß alle em­ pirischen Gegenstände in Raum und Zeit lokalisierbar sind und daß wir nur über die zwölf angegebenen Urteilsfunktionen verfügen, denen gemäß An­ schauungen in einen kategorialen Zusammenhang gebracht werden müssen. 1 7 Die Möglichkeit einer solchen Begründung zu leugnen, hieße der Karrti­ schen Erkenntniskritik , durch die ja zugleich die Geltung von Erkenntnis überhaupt begründet werden soll , den Boden zu entziehen . Zwar ist es rich­ tig, daß die herausgestellten Grundbedin gungen gemäß dem Karrtischen Verständnis die fak tische und in der epistemologischen Reflexion nicht wei­ ter herleitbare Erkenntnissituation des Menschen beschreiben, dies befreit Kant aber nicht von der Verpflichtung, seine These zu begründen, daß wir es hier mit den elementaren Bedingungen menschlicher Erkenntnis zu tun haben. Kant legt deshalb zu Recht so großen Wert darauf, daß die systema­ tische Einheit und Vollständigkeit der Urteils- und Kategorientafel bewiesen werden könne. Daß dies weder im Anschluß an Reichs Ableitungsversuch , noch im Anschluß an Krügers Entscheidungsverfahren möglich ist, ist eine andere Sache. Durch die Entwicklung der modernen Logik seit Frege ist nun nicht nur die Vollständigkeit der Karrtischen Urteilstafel fraglich geworden, auch ihr materialer Bestand kann nicht ohne weiteres übernommen werden. Einer­ seits stellt Kant Urteilsformen als gleichursprüngliche nebeneinander, die durch elementare Umformungen ineinander übergeführt werden können : so läßt sich ein disjunktives Urteil (entweder p oder q) problemlos als hypo16 Vgl. Refl. 5 04 1 und 5 5 00 in Anmerkung 5. 17 Darauf hat bereits H ossenfelder aufmerksam gemacht. A . a. O. , S. 1 49 Anm.

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thetisches Urteil darstellen (wenn nicht p , dann q ) . Andererseits bleibt die logische Struktur von Urteilen, in denen mehrsteilige relationale Begriffe auftauchen , unberücksichtigt. Kants Unterscheidung von problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteilen mit den ihr korrespondierenden Modalb egriffen kann nicht als rein formale Unterscheidung verschiedener Urteilstypen angesehen werden. Sie bezieht sich auf die Geltung inhaltlich bestimmter Urteile innerhalb eines theoretischen Rahmens , durch den ge­ wisse materiale Voraussetzungen festgelegt werden. Allgemein ist festzustel­ len, daß die Idee eines alternativlosen Sets logischer Grundformen obsolet geworden ist, weil sich gezeigt hat, daß es bis zu einem gewissen Grade eine Frage willkürlicher Entscheidungen ist, welche Urteilsfunktionen als Grund­ elemente gekennzeichnet und zum Aufbau komplexerer Formen in An­ spruch genommen werden . Aus heutiger Sicht bleib t uns nichts anderes übrig, als festzustellen, daß Kants Versuch, eine alternativlose und vollständige übersieht aller elemen­ taren logischen Grundfunktionen zu geben, gescheitert ist. Dadurch ist frei­ lich nicht schon darüber entschieden, ob auch der Kantische Grundgedanke , Formen a priori der konzeptuellen Einheit von Objekten aus Urteilsformen herzuleiten, aufgegeben werden muß. In jedem Fall wird man bei der Aus­ führung dieses Programms von einer sehr viel schmaleren Basis ausgehen müssen als Kant. So schließt Strawson seine Kritik der Metaphysischen De­ duktion mit der Feststellung ab , daß eine Analyse des Zusammenhanges von Urteilsstruktur und Obje ktbegriff allenfalls an die Subjekt-Prädikat-Form des Urteils anknüp fen könnte , weil alle anderen Formen der Objektbezie­ hung von Begriffen au f sie zurückführbar seien. 1 8 Im Anschluß daran hat Dieter Henrich versucht, bestimmte strukturelle Eigenarten vo n Objekten aus dieser Urteilsform herzuleiten. 19 Aber auch dieses Minimalprogramm muß als gescheitert betrachtet werden.20 Ich werde dieser Problematik nicht weiter nachgehen ; denn die Argumentation der Transzendentalen Deduk­ tion ist weitgehend unabhängig von der Identifikation besonderer Formen kategorialer Synthesis , wie sie von Kant im Anschluß an die Urteilstafel vor­ genommen wird . Es ist jedoch nicht richtig, wie manche Interpreten meinen, daß das Ge­ lingen der Transzendentalen Deduktio n vollständig unabhängig von der Me­ taphysischen Deduktion ist. Wie sich im folgenden zeigen wird (Kap . 5 . 3 ) , 1 8 Peter F. Strawson , The Bounds of Sense, London 1 9 6 6 , S. 8 1 . 19 Dieter Henrich, Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants trans­ zendentale Deduktion, Heidelberg 1 9 7 6 , S. 23 ff. lO Vgl. unten Anmerkung 6 0 . S trawson konstatiert bereits die Vergeblichkeit eines solchen Versuchs. A. a. O., S . 8 2 .

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muß in der Transzendentalen Deduktion bereits vorausgesetzt werden kön­ nen, daß konzeptuelle Synthesis erstens überhaupt unter Regeln a priori (Kategorien) steht und zweitens , daß diese in einem abgeschlossenen System zusammengefaßt werden können . Es ist aber nicht ausgeschlossen , daß das System dieser Regeln auf andere Weise eingeführt wird als dies in der Meta­ physischen Deduktion geschieht. Zur Vereinfachung werde ich trotz der vorgetragenen Einwände im fol­ genden, soweit es nötig ist, stets die Kantische Kategorientafel in Anspruch nehmen. Zur Diskussion soll nicht die Frage stehen, welche Kategorien den Zusammenhang unserer Wahrnehmungen regeln , sondern nur mehr, ob es Kant gelungen ist , zu beweisen, daß Wahrnehmungen üb erhaupt unter ir­ gendwelchen Begriffen a priori stehen, durch die sie zur Einheit eines ein­ zigen Erfahrungszusammenhanges gebracht werden können.

3. Die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion In der Transzendentalen Deduktion wird ein Geltungsnachweis für die Ka­ tegorien scheinbar dadurch angestrebt, daß kategoriale Synthesis von Wahrnehmungen als eine conditio sine qua non empirischer Erkenntnis von Objekten aufgewiesen wird . So schreibt Kant im » Obergang zur transzen­ dentalen Deduktion der Kategorien « : » Die transz. Deduktion aller Begriffe a priori hat also ein Prinzipium, worauf die ganze Nachforschung gerichtet werden muß , nämlich diese s : daß sie als Bedingungen a priori der Möglich­ keit der Erfahrungen erkannt werden müssen. « ( B l 2 6 ) Es wäre dann schon ein Beweis der universalen Geltung kategorialer Synthesis erbracht, wenn gezeigt worden ist, daß Erfahrung als Erkenntnis von empirischen Objekten ohne die in den Kategorien gedachte Synthesis unmöglich wäre . » Denn als­ dann beziehen sie sich notwendigerweise und a priori auf Gegenstände der Erfahrung, weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgendein Gegenstand der Er­ fahrung gedacht werden kann . » (ebda. ) Kate gorien sind dann Bedingun­ gen der Möglichkeit von Erfahrung, weil Wahrnehmungen erst durch Kate­ gorien auf Objekte bezogen werden können. Die Kantische Wendung von den Kategorien als Erfahrung ermöglichen­ den Begriffen legt aber eine Verwechslung dessen nahe, was als Aufgabe der Transzendentalen Deduktion und was als Prinzip, aus dem sie geführt wer­ den muß , anzusehen ist. Wenn Kant davon spricht , daß die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungen deduziert werden sollen, dann kann dies auch so verstanden werden , als solle die universale Geltung der Formen kategorialer Synthesis durch die Darlegung ihrer Erfahrung er-

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möglichenden Funktion b ewiesen werden. Angefangen mit Cohens Diktum , Kant lege seinen transzendentalen Untersuchungen das Fak tum der Erfah­ rung zugrunde , als dessen ermöglichende Bedingungen die Kategorien auf· zuweisen seien, bis hinein in die gegenwärtige Diskussion über Gültigkeit und Tragweite transzendentaler Argumente ist Kant immer wieder so inter­ pretiert und mißverstanden worden.2 1 Dieses Mißverständnis liegt nahe, weil die Darlegung der Erfahrung er­ möglichenden Funktion der Kategorien den weitaus größten Teil der Trans­ zendentalen � nalytik einnimmt. Es zeigt sich aber, daß so die besondere Aufgabenstellung der Kategoriendeduktion im Rahmen der Kantischen Argumentation nicht verständlich gemacht werden kann . Bereits in der Metaphysischen Deduktion werden die Kategorien als Bedingungen a priori des Gegenstandsbezuges von Begriffen im Urteil aufgewiesen . Insofern nun Erfahrung nicht ohne Begriffe , die in Urteilen auf Objekte bezogen werden, möglich ist, wäre damit gezeigt , daß Erfahrung Kategorien voraus­ setzt. Im Grundsatzkapitel wird dies näher ausgeführt , indem gezeigt wird , in welcher Weise j ede einzelne Kategorie eine unverzichtbare Voraus­ setzung von Erfahrung ist. Angenommen also , die Metaphysische Deduktion der Kategorien und die Beweise der Grundsätze wären gelungen, so wäre mit ihnen auch gezeigt, daß Erfahrung nicht ohne Kategorien möglich ist. Dann stellte sich allerdings die Frage , welche Bedeutung der Transzendenta­ len Deduktion für diesen Aufweis noch beigemessen werden könnte. Offen­ bar keine, denn die Metaphysische Deduktion und die Argumente des Grund­ satzkapitels reichen für sich genommen aus , den unlösbaren Zusammenhang vo n kategorialer Synthesis und Erfahrung einsichtig zu machen. Das Problem der universalen Geltung der Kategorien läß t sich auf diese Weise allerdings nicht lösen. Solange wir uns darauf beschränken, die Erfah­ rung ermöglichende Funktion dieser Begriffe festzustellen, bleibt die Gel­ tung kategorialer Synthesis auf solche Wahrnehmungsinhalte beschränkt , von denen wir bereits wissen, daß sie in die Einheit eines Erfahrungszusam­ menhanges integriert werden können. Aber woher wissen wir, daß dies für alle Wahrnehmungen gilt ? Offenbar bringt uns hier die Analyse der Be­ dingungen, unter denen Wahrnehmungen stehen, insofern sie zur Einheit der Erfahrung gebracht werden können, nicht weiter. Entweder wir setzen die Einheit aller Wahrnehmungen in einer Erfahrung bereits voraus , was einer petitio principii gleichkäme , dann wäre die universale Geltung der Ka2 1 Daß die Behauptung C ohens und seiner Schüler, Kant se tze die Gültigkeit der wis­ senschaftlichen Erfahrung in der KdrV bereits voraus, auf einem Mißverständnis der Kantischen Argumentationsstrategie beruht, hat Ebbinghaus herausgestellt ( Kantinter­ pretation und Kantkritik, 1 9 24 , in : J . Ebbinghaus, Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden , Hitdesheim 1 9 6 8 , S. 1 -2 3 . ) .

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tegorien zugleich mit ihrer Erfahrung ermöglichenden Funktion dargetan, oder aber wir setzen dies nicht voraus, dann muß ihre universale Geltung unabhängig von ihrer Eigenart, Erfahrung zu ermöglichen, einsichtig ge­ macht werden. Die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion ist damit klar umrissen. Sie dient dem Nachweis der universalen Geltung der Kategorien für alle mög­ lichen Wahrnehmungsinhalte. Aufgrund der Erfahrung ermöglichenden Funktion dieser Begriffe ist sie damit zugleich ein Beweis dafür, daß alle Wahrnehmungen zur Einheit einer Erfahrung gebracht werden können. Kants Äußerung B 1 2 6 gib t dann diejenige funktionale Bestimmung der Kategorien an, im Hinblick auf welche überhaupt eine transzendentale De­ duktion notwendig ist , und bezieht sich nicht auf das Beweisprinzip dieser Deduktion. Sie ist als Abgrenzung gegen andere Weisen des Kategorienge­ brauchs zu verstehen . Die Kategorien sollen in der Transzendentalen Deduk­ tion weder als ontologische Prädikate von Gegenständen überhaupt noch als logische Begriffe der Einheit von Urteilen , sondern als Erfahrung ermög­ lichende Begriffe in ihrer universalen Geltung deduziert werden. Die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion ist deshalb nicht der Aufweis dieser die Erfahrung ermöglichenden Funktion selbst, sondern der Nachweis ihrer uni­ versalen Geltung im Hinblick auf diese Funktion.

4. Das Beweisprinzip Zweck der vorangegangenen Abschnitte war es, zu klären, unter welchen sy­ stematischen Vorannahmen sich für Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Frage nach der Einheit der Erfahrung s tellt. In den folgenden Abschnit­ ten wird die Kategoriendeduktion selbst erörtert werden. Dabei werde ich mich auf die zweite Fassung von 1 7 8 7 konzentrieren, weil in ihr die eigen­ tümliche Struktur des Arguments , durch welches die Einheit aller Wahrneh­ mungen in einer Erfahrung begründet werden soll , deutlicher hervortritt. Sofern es zum besseren Verständnis des Kantischen Gedankens beiträgt , werde ich allerdings auch auf Äußerungen Kants in der ersten Fassung zu­ rückgreifen.

4 . 1 Synthesis und Selb stbewußtsein Die Transzendentale Deduktion beginnt in § 1 5 mit einer allgemeinen Ana­ lyse des Begriffs der Verbindung (Synthesis) . Nachdem Kant in den ersten

Synthesis und Selbstbewußtsein

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beiden Ab schnitten des Paragraphen herausgestellt hat , daß die im Objekt­ begriff gedachte Verbindung von Vorstellungen auf Synthesisleistungen des Subjekts beruht, führt er eine weitere Voraussetzung für Verbindung ein , die zum Beweisgrund des Arguments von § 1 6 wird . »Verbindung ist Vor­ stellung der syn thetischen Einheit des Mannigfaltigen. Die Vorstellung die­ ser Einheit kann also nicht aus der Verbindung entstehen , sie macht viel­ mehr dadurch, daß sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst möglich . « (B 1 30 f. ) Es ist aber nicht ohne weiteres z u sehen, warum und i n welchem Sinne im Begriff der Verbindung, durch die doch Einheit des Mannigfaltigen erst hervorgebracht werden soll, bereits Einheit vorausgesetzt ist. Auch ist unklar, was es bedeuten soll , daß der Begriff der Einheit zu dem des Mannigfaltigen » hinzukomme n « muß , um den der Verbindung möglich zu machen. Auszu­ schließen ist jedenfalls , daß es Kant um eine bloß definitorische Anmerkung zu tun war, dergestalt , daß , wer den Begriff » Verbindung« durch die Begrif­ fe » Einheit « und »Mannigfaltigkeit« definiert , diese bereits voraussetzt. Sachlich aufschlußreich ist dagegen die Frage, in welchem Sinne die Syn­ thesis eines Mannigfaltigen eine dem Akt des Verbindens vorgängige Einheit voraussetzt. Zunächst erschein t es ja plausibler, anzunehmen, daß alle Ein­ heit , sofern sie Einheit eines Mannigfaltigen ist, erst durch Verbindung her­ vorgebracht wird . Nun sind verschiedene Teile immer in irgendeiner spezifischen Weise verbunden, und der Gedanke der synthetischen Einheit eines Mannigfalti­ gen setzt die Bestimmbarkeit besonderer Formen des Verbundenseins vor­ aus. Indem wir zwei Dinge verbinden , realisieren wir eine besondere Form der Verbindung, und wir haben den Zusammenhang verschiedener Teile gerade dann erkannt , wenn wir mindestens eine Form ihres Verbundenseins angeben können. Schon die Art und Weise, in der wir Verbindungen sprach­ lich näher qualifizieren, macht dies deutlich. Ein Mann und eine Frau sind verbunden als Eheleute, als Menschen, die eine gemeinsame Wohnung be­ wohnen oder als zankende Parteien vor dem Scheidungsrichter. Verbindung ist Verbindung nach bestimmten Einheitsgesichtspunkten. Allgemein können wir sagen , daß die Verbindung eines Mannigfaltigen nur dann möglich ist , wenn alle seine Teile unter mindestens einer gemeinsamen Hinsicht themati­ siert werden können. Gegenstand der Transzendentalen Deduktion ist die Verbindung des Mannigfaltigen möglicher Wahrnehmungen eines Subj ekts zur Einheit einer Erfahrung. Dies erlaubt es, den Einheitsgesichtspunkt , von dem her diese Verbindung gedacht werden muß, genauer zu bestimmen, als es in einer all­ gemeinen Analyse des Begriffs der Verbindung möglich wäre . Im Rahmen

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Das Beweisprinzip

einer Untersuchung der Bedingungen, unter denen die Einheit aller Wahr­ nehmungen gedacht werden kann, ist es von vornherein ausgeschlossen, die im Begriff der Verbindung vorausgesetzte Einheit aus einer Reflexion auf qualitative empirische Übereinstimmungen der Wahrnehmungsinhalte zu ge­ winnen - bliebe doch jeder so gewonnene Einheitsgesichtspunkt der Partiku­ larität besonderer Inhalte verhaftet. Es wäre dann prinzipiell nicht auszu­ schließen, daß nur solche Wahrnehmungen in den geregelten Zusammenhang von Erkenntnissen geb racht werden können, die eine gewisse empirische Gleichförmigkeit aufweisen. Das aber wäre mit dem Universalitätsanspruch des Erfahrungsbegriffs unvereinbar. Es muß deshalb ein Einheitsgesichts­ punkt gefunden werden, der es erlaubt , die Einheit aller möglichen Wahr­ nehmungen unangesehen ihrer besonderen empirischen Inhalte in den Blick zu bekomme n . Ein solcher Einheitsgesichtspunkt ergibt sich aus dem Sub­ je ktbezug von Wahrnehmungen. Alle Wahrnehmungen sind als empirische Anschauungen Bewußtseinsinhalte eines Subj ekts , das in der Lage ist, sich Anschauungen als seine Anschauungen selbst zuzusprechen. Anschauungen sind nicht in der gleichen Weise im Bewußtsein präsent wie Personen auf einer Party. Eine Anschauung ist nur dann Bewußtseinsin­ halt eines Subjekts , wenn sie von diesem in einem Akt der Selbstzuschrei­ bung als sein Bewußtseinsinhalt identifiziert werden kann. In einer Wendung Kants können wir sagen , Bewußtseinsinhalt ist nur, was in das Selbstbe­ wußtsein des Subjekts aufgenommen werden kann. Damit ist nicht ausge­ schlossen, daß es Bewußtseinsinhalte gibt oder geben könnte , die dem Sub­ jekt selbst nicht gegenwärtig sind und die ihm , vielleicht aus lebensge­ schichtlichen Gründen, zu einem bestimmten Zeitpunkt auch nicht gegen­ wärtig sein können, ihm vorerst also nur aus der Perspektive eines externen Beobachters zugesprochen werden können. Kant selbst hat die Möglichkeit solcher aktuell nicht bewußten Bewußtseinsinhalte ausdrücklich zugestan­ den. Er schreib t in dem bereits zitierten Brief an Marcus Herz vom 26. Mai 1 7 89 über sie : » Ich würde gar nicht einmal wissen können; daß ich sie habe, folglich würden sie für mich , als erkennendes Wesen, schlechterdings nichts seyn, wobey sie (wenn ich mich in Gedanken zum Thier mache) als Vorstel­ lungen, die nach einem empirischen Gesetze der .Association verbunden wä­ ren und so auch auf Gefühl und Begehrungsvermögen Einflus haben würden . . . immer hin ihr Spiel regelmäßig treiben können « (XI/ 5 2 ) Aber auch für solche, dem Subjekt nicht b ewußten Vorstellungen, muß die Möglich­ keit der Selbstzuschreibung eingeräumt werden . Einem Subjekt eine ihm selbst nicht bewußte Vorstellung zuzusprechen , ohne die Möglichkeit ihrer Aktualisierung durch das Subjekt selbst zuzugestehen, hieße, die für den .

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Begriff des Subjektbewußtseins charakteristische Selbstbezüglichkeit, damit aber den Begriff des Subjektbewußtseins selbst aufzuheben. Die Konzeption von Subjektbewußtsein als Einheit von Bewußtsein und Selbstbewußtsein , dergemäß alle Bewußtseinsinhalte eines Subj ekts p er de­ finitionem mögliche Inhalte des Selbstbewußtseins dieses Subjekts sind, ist offensichtlich nicht alternativlos . Es sind Formen von Bewußtsein denkbar, die ohne die für den Begriff des Subjektbewußtseins typische Reflexivität auskommen. Vielleicht ist das Bewußtsein der Tiere von dieser Art. Für die Zwecke einer transzendentalen Deduktion ist Alternativlosigkeit aber auch gar nicht erforderlich. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, die mögliche Einheit aller Wahrnehmungen eines Subjekts , von dem wir bereits wissen, daß sein Bewußtsein von Selb stbewußtsein begleitet wird , einsichtig zu machen. Wir haben damit die drei wichtigsten inhaltlichen Voraussetzungen der Transzendentalen Deduktion beisammen : - das Gegebensein aller empirischen Gegenstände in Raum und Zeit - das System der Kategorien, denen gemäß Wahrnehmungen in einen erfahrungsmäßigen Zusammenhang gebrach t werden können - den notwendigen Subjektbezug aller Wahrnehmungen . Sie beschreiben die fak tische Erkenntnissituation des Menschen und können nach Kants Überzeugung nicht aus anderen Prinzipien hergeleitet werden . Begründbar wären sie nur, wenn in einer Reflexion auf die Bedin­ gungen der Möglichkeit von Erkenntnis gezeigt werden könnte , daß durch diese drei Grundbestimmungen die menschliche Erkenntnissituation tatsäch­ lich angemessen beschrieben wird . Es mag zunächst widersinnig erscheinen, daß faktische Charakteristika menschlicher Erkenntnis einer transzendentalen Analyse a priori zugänglich sein sollen. Diese Schwierigkeit löst sich aber, wenigstens im Ansatz auf, sobald wir uns vergegenwärtigen, daß die genannten Grundbedingungen erstens nicht in einer empirischen Untersuchung, sondern durch Analyse des Erkenntnisbegriffs aufgewiesen werden und zweitens , daß durch sie allererst der Begriff des Empirischen bestimmt wird. Alternative Konzeptionen von Erkenntnis sind dadurch nicht ausge­ schlossen und können aus prinzipiellen Gründen auch nicht ausgeschlossen werden. Sie können sich darauf stützen, daß Subjekte denkbar sind , deren Wissenserwerb unter Bedingungen steht, die von denen des Menschen grund­ sätzlich verschieden sind. Ob dem Begriff solcher Subj ekte aus menschlicher Perspektive eine sinnvolle Bedeutung verschafft werden kann , mag hier of­ fen bleiben. Kant j edenfalls hielt die Begriffe eines intuitus originarius (B 7 2 ) und eines intellectus archetypus ( B 7 2 3 ) offenbar für sinnvolle Begriffe.

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Das Beweisprinzip

Darüb erhinaus können alternative Beschreibungen dessen , was Erfahrung ist , gegeben werden , die vielleicht eine angemessenere Explikation des Er­ kenntnisbegriffs gestatten. Kant selbst glaubte dies zweifellos ausgeschlos­ sen zu haben ; daß dem nicht so ist, belegt die Entwicklung der Philosophie seit Kant. Dennoch darf der transzendentalen Argumentation Kants kein (verfehlter) Letztbegründungsanspruch untergeschoben werden. Der Gedan­ ke , daß Erkenntnis auf Wahrnehmungen angewiesen ist , die in bestimmten Urteilsformen durch Begriffe b estimmt werden, ist aus der Perspektive mög­ licher Letztbegründungen ebenso unbegründet wie die Annahme , daß Er­ kenntnis grundsätzlich Erkenntnis eines Subjekts ist, das durch eine be­ stimmt e From der Selbstbezüglichkeit gekennzeichnet ist . Die durch trans­ zendentale Argume nte angestreb te apodiktische Gewißheit bleibt von die­ sen nur im intertheoretischen Vergleich problematisierbaren Voraussetzun­ gen abhängig und bezieht sich allein auf die im Rekurs auf sie begründeten Strukturmerkmale menschlicher Erkenntnis. Daß Kant dies sehr wohl wußte, belegen die von Krüger angeführten Textstellen (vgl. oben, S. 1 5 f. ) . E s kann dann nicht die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion sein , zu zeigen, daß eine bestimmte Form der Wirklichkeitserkenntnis die einzig mögliche ist, wie Stephan Körner vermutet. 2 2 Unangesehen ihrer möglichen empirischen Differenzen kommen alle Wahr­ nehmungen also darin überein , daß sie als empirische Anschauungen in das Selbstbewußtsein eines Subjekts aufgenommen werden können. Der in dem Gedanken einer Verbindung aller Wahrnehmungen zur synthetischen Einheit einer Erfahrung vorausgesetzte Einheitsgesichtspunkt ist damit aufgewiesen . »Das : Ich denke , muß alle meine Vorstellungen begleiten können ; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht ge­ dacht werden könnte , welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich , oder wenigstens für mich nichts sein . « (B 1 3 1 f. ) Aber wie ist dies genau zu verstehen? Vielleicht so : J ede meiner Vorstel­ lungen kann von dem Bewußtsein begleitet werden, daß sie als Vorstellung in meinem Bewußtsein auftritt. Ich sehe nicht nur den Stift in meiner Hand, sondern habe jetzt auch ein Bewußtsein davon, daß ich ihn sehe. Aber Kant spricht nicht allgemein von der Möglichkeit eines reflexiven, meine Vorstel­ lungen begleitenden Bewußtseins , sondern von dem « Ich denke » . Nicht alle Vorstellungen sind Gedan ken, und wie sollen Anschauungen , die per defini22 Stephan Körner, The .lmp ossibility of Transeendental Deductions, in: The Monist 5 1 , ( 1 96 7 ) , s . 3 1 7 -3 3 1 .

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tionem keine Gedanken sind, von dem Bewußtsein begleitet werden können , daß ich sie denke? Nun wird die Möglichkeit des Begleitbewußtseins «