Entwürfe und Gefüge: William Forsythes choreographische Arbeiten in ihren architektonischen Konstellationen [1. Aufl.] 9783839423776

Das Potenzial von Choreographie und Architektur liegt im Entwerfen von Schauplätzen und Handlungsräumen. In dieser Hinsi

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German Pages 348 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1. Entfaltung von Bewegung
Kapitel 2. Decreation: Prinzipien der Ent-Schöpfung
Kapitel 3. Wolken: Medien der Übertragung flüchtiger Erfahrung. Zu Forsythes Clouds after Cranach und Three Atmospheric Studies
Kapitel 4. Verzeichnen und Verwischen der Spuren: Diagrammatische Relationen
Kapitel 5. Installationen choreographieren: Zur Handlungsmacht des choreographischen Objekts und zur Organisation des Raumes
Schluss und Ausblick: Choreographie als die Kunst, ein bewegliches Gefüge zu entwerfen
Dank
Bibliographie
Besuchte Vorstellungen der Forsythe Company
Abbildungsverzeichnis
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Entwürfe und Gefüge: William Forsythes choreographische Arbeiten in ihren architektonischen Konstellationen [1. Aufl.]
 9783839423776

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Kirsten Maar Entwürfe und Gefüge

TanzScripte  | Band 28

Editorial Tanzwissenschaft ist ein junges akademisches Fach, das sich interdisziplinär im Feld von Sozial- und Kulturwissenschaft, Medien- und Kunstwissenschaften positioniert. Die Reihe TanzScripte verfolgt das Ziel, die Entfaltung dieser neuen Disziplin zu begleiten und zu dokumentieren: Sie will ein Forum bereitstellen für Schriften zum Tanz – ob Bühnentanz, klassisches Ballett, populäre oder ethnische Tänze – und damit einen Diskussionsraum öffnen für Beiträge zur theoretischen und methodischen Fundierung der Tanz- und Bewegungsforschung. Mit der Reihe TanzScripte wird der gesellschaftlichen Bedeutung des Tanzes als einer performativen Kunst und Kulturpraxis Rechnung getragen. Sie will Tanz ins Verhältnis zu Medien wie Film und elektronische Medien und zu Körperpraktiken wie dem Sport stellen, die im 20. Jahrhundert in starkem Maße die Wahrnehmung von Bewegung und Dynamik geprägt haben. Tanz wird als eine Bewegungskultur vorgestellt, in der sich Praktiken der Formung des Körpers, seiner Inszenierung und seiner Repräsentation in besonderer Weise zeigen. Die Reihe TanzScripte will diese Besonderheit des Tanzes dokumentieren: mit Beiträgen zur historischen Erforschung und zur theoretischen Reflexion der sozialen, der ästhetischen und der medialen Dimension des Tanzes. Zugleich wird der Horizont für Publikationen geöffnet, die sich mit dem Tanz als einem Feld gesellschaftlicher und künstlerischer Transformationen befassen. Die Reihe wird herausgegeben von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein.

Kirsten Maar (Dr.phil.) ist Juniorprofessorin für Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Von 2007-2014 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« ebenfalls an der FU Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen choreographische Verfahren im 20. Jahrhundert, Entgrenzungen zwischen Choreographie, Architektur und Kunst sowie Raumkonzeptionen und deren kinästhetische Erfahrung.

Kirsten Maar

Entwürfe und Gefüge William Forsythes choreographische Arbeiten in ihren architektonischen Konstellationen

Diese Publikation wurde durch den SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin gefördert und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Szene aus »Heterotopia« von William Forsythe (Schauspielhaus Zürich/Schiffbau, 2006) mit Jone San Martin und Cyril Baldy; Photographie © Dominik Mentzos Korrektorat, Lektorat & Satz: Dr. Vito Pinto Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2377-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2377-6 https://doi.org/10.14361/9783839423776 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort  | 9 Einleitung  | 15

Kapitel 1 – Entfaltung von Bewegung  | 47 1

Körper-Extensionen – Körper-Relationen  | 47 1.1 Zur Erweiterung der Kinesphäre als Interaktions-Modell im relationalen Raum | 47 1.2 Forsythes Improvisation Technologies: Körperbilder im Prozess | 50

2 Empfinden, Erfahren, Erkennen  | 56 2.1 Zur Bedeutung kinästhetischer Empfindung bei Edmund Husserl | 56 2.2 Kritik und Perspektivierung des Husserl’schen Denkens | 61 3

Räumliche Relationen: Rudolf von Labans Raumharmonielehre  | 63

3.1 Zur Konzeption der Kinesphäre | 63 3.2 Kritik und Perspektiven des Laban’schen Modells | 72

4

Vom kinästhetischen Leib zum architektonischen Raum  | 75

4.1 August Schmarsow und Heinrich Wölfflin | 75 4.2 Der nichtsimultane Raum: Neue Raum-Zeit-Modelle | 78

5 Richard Buckminster Fuller  | 80 5.1 Entwerfen als Form-Findung | 80 5.2 Navigieren | 85 5.3 Faltung und Entfaltung: Die Jitterbug-Transformation | 88 6

Falten und Entfalten  | 93 6.1 Gilles Deleuze: plier, expliquer, perpliquer, depliquer – plié: Die Dimensionen des Faltens | 93

6.2 Bewegung ent-falten? Faltung in computergenerierten Entwurfsverfahren der Architektur | 96 6.3 Kieslers Endless House als Modell der Phasenübergänge | 102 6.4 Forsythes Synchronous Objects als Werkzeug der Übertragung? | 106 6.5 Warum man einen Körper haben muss: Phänomenologische Überlegungen zum Falten | 109 6.6 Zur Verschränkung von Subjekt und Welt im phänomenologischen Ansatz | 117

Kapitel 2 – Decreation: Prinzipien der Ent-Schöpfung  | 121 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Der Körper als Passage  | 125 Bewegungsmodi in Forsythes Decreation | 125 Zum Prinzip des Entwerdens bei Simone Weil und William Forsythe | 128 Rezeptive Transformation des Materials: Zustände generieren durch den Körper hindurch | 131 Topologische Gefüge im Tanz | 141 Affizierungen | 146

2

Entwerfen – Entwerden – Entschöpfen  | 148 2.1 Kreativität jenseits des Autorsubjekts  | 148 2.2 Techniken und Praktiken der Entsubjektivierung | 154

Kapitel 3 – Wolken: Medien der Übertragung flüchtiger Erfahrung. Zu Forsythes Clouds after Cranach und Three Atmospheric Studies  | 159 1

Ent-Setzungen: Unterbrechung und Störung  | 159

1.1 1.2 1.3

Intermediale Rahmungen nachträglicher Erfahrung | 159 Zwei kurze Bildbeschreibungen | 162 Wolken: Bildtraditionen, Medienkonstellationen und Wahrnehmungsmodelle | 164

2

Übertragungen und Überlagerungen: Nachträglichkeit und Verschiebung  | 169

3

Three Atmospheric Studies: Zwischen Disparatheit und Verdichtung  | 171

3.1 Zu den verschiedenen Versionen der Inszenierungen | 171 3.2 Three Atmospheric Studies (Version Berlin 2006, erster Teil) | 173 3.3 Three Atmospheric Studies (Version Berlin 2006, zweiter Teil) | 176

4 »Things fall apart«  | 178 4.1 Störungen als konstitutives Merkmal des Atmosphärischen | 178 5 Architektur und Atmosphäre  | 189 5.1 Eintauchen und Umhüllt-Werden als mediales Ereignis: Diller & Scofidios Blur-Wolke | 189 5.2 Blurring the Boundaries | 192 6

Clouds after Cranach  | 203 6.1 Variation one | 203 6.2 Die Übersetzung als Entsetzung | 204

Kapitel 4 – Verzeichnen und Verwischen der Spuren: Diagrammatische Relationen  | 209 1 Peter Welz und William Forsythe: Whenever on on on nohow on/ Airdrawing: Interdependenzen von Zeichnung, Bewegung und Raum  | 209 2

Nachzeichnen, aufzeichnen, verzeichnen, vorzeichnen: Möglichkeitsdenken im Entwurf  | 214

2.1 Aufzeichnung des Lebendigen oder Verlebendigung? | 214 2.2 Das Potential und das Potentielle der Linie zwischen Konzept und Zeichnung, zwischen Präskript und Werkzeug | 216

3

Retranslation/Final Unfinished Portrait (Francis Bacon)  | 221

3.1 Das Diagramm  | 221 3.2 Das Verwischen der Spuren | 222 3.3 Zur Operationalität des Diagramms | 229

4 4.1 4.2 4.3

Verräumlichung: Konstellative Werkzeuge des Entwerfens  | 232 Architekturzeichnung und Diagramm | 232 Das Diagrammatische im und über den zeichnerischen Entwurf hinaus – Cedric Price: Utopische Potenziale der Architektur | 234 Bernard Tschumis ›Ereignisse‹ | 239

5 Human Writes  | 245 5.1 Entwurf einer diagrammatischen Konstellation | 245 5.2 Ephemere Komplizenschaften | 248

Kapitel 5 – Installationen choreographieren: Zur Handlungsmacht des choreographischen Objekts und zur Organisation des Raumes  | 257 1

Heterotopia: Vom Anders-Werden des Raumes  | 257

2 Installieren/choreographieren  | 266 2.1 Zwischen Choreographie und Installation | 266 2.2 Aufstellen und herstellen: Das Gestell | 272

3 You made me a Monster  | 275 3.1 Unheimliche Verbindungen zwischen Objekt und Subjekt  | 275 3.2 Zur Handlungsmacht des choreographischen Objekts | 279 4

Spielerische Verhandlungsräume des Öffentlichen  | 285

4.1 White Bouncy Castle und City of Abstracts | 285 4.2 Publikum und situatives Handeln  | 289

5

Architektur als »Planung des Unvorhersehbaren«  | 295

5.1 Choreographien des Alltäglichen | 295 5.2 Architektur als Modell | 297

Schluss und Ausblick: Choreographie als die Kunst, ein bewegliches Gefüge zu entwerfen  | 305 Dank  | 311 Bibliographie  | 315 Besuchte Vorstellungen der Forsythe Company  | 339 Abbildungsverzeichnis  | 343

Vorwort

2015 – im selben Jahr, in dem sich die Forsythe Company auflöste, stellte William Forsythe einzelne seiner Choreographic Objects im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main im Rahmen der von ihm kuratierten Ausstellung »The Fact of Matter« zusammen mit Werken aus der Sammlung aus.1 In der Konstellation von Arbeiten der Bildenden Kunst mit den installativen Ansätzen der Choreographic Objects entfaltete sich ein spezifisches Zusammenspiel von unterschiedlichen Akteuren: Betrachter*innen, die zu Teilnehmenden wurden, die durch einzelne der Objects erst in Bewegung gesetzt und durch die Konfrontation mit diesen genötigt wurden, eine Haltung einzunehmen, und die durch die spezifischen Anordnungen schließlich selbst choreographiert wurden. Forsythe umschrieb die Aufgabe, die der Ausstellung zugrunde lag, mit den Worten: »You have to move to know.«2 Ob die Besucher*innen bereits in der Eingangshalle angesichts der Videoinstallation City of Abstracts mit den verzögert projizierten und verzerrten eigenen Abbildern zu tanzen begannen, ob es sich um die im Wind tanzende Tüte in den Straßen New Yorks in der Arbeit Incidents von Svetlana und Igor Kopystiansky handelte, oder um Fred Sandbacks dünne, aufgespannte Fäden, die, einer Notation vergleichbar, den Raum aufteilten, der durch die sich daraus ergebende unterschiedliche Positionierung der Betrachter*innen den Ausstellungsraum zu einem »dance floor« werden ließ:3 Stets wurde ein anderer Blick auf die Ebene des Choreographischen gerichtet oder der Bewegung im Verhältnis von Körper und Umgebung eine andere Perspektive hinzugefügt. Der groteske Eigen-Sinn der Dinge, die uns herausfordern, wie in Anna und Bernhard Blumes Photoserien von fallenden Vasen, wurde den schwingenden Pendeln aus Nowhere and Everywhere at the Same Time gegenübergestellt, die die Besucher*innen wiederum mit dem schwierigen task herausforderten, beim Durchqueren des Raumes diese nicht zu berühren. Eine andere Arbeit, Towards 1 | Die Ausstellung »The Fact of Matter« war vom 17.10.2015–31.01.2016 im Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main zu sehen. Ich beziehe mich im Folgenden auf meinen Besuch am 27.12.2015. 2 | Ausstellungsfilm des MMK zu »The Fact of Matter«, unter: https://www. youtube.com/watch?v=OAyNzdaKjIk (letzter Zugriff: 31.01.2019) 3 | Vgl. hierzu das Beiheft zur Ausstellung »The Fact of Matter«, S. 14.

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Entwürfe und Gefüge a Diagnostic Gaze, ein Staubwedel aus Federn, konfrontierte die Besucher*innen mit der Anweisung: »Hold the object absolutely still«. Sie zeigte so nicht nur die Unmöglichkeit dieses Unterfangens, sondern erinnerte zugleich an Steve Paxtons small dance, in dem selbst der bloß stehende Körper den Ausführenden demonstriert, dass absolute Ruhe eine Illusion ist und selbst die winzigen Bewegungen der Wirbelsäule stets dabei sind, Gewicht und Schwerkraft auszubalancieren und damit aufzuzeigen, wozu der Körper in der Lage ist und wozu nicht. Auf diesen unterschiedlichen Ebenen etablierte die Ausstellung Relationen zwischen aktuellen künstlerischen Arbeiten und den Entgrenzungen der Avantgarde seit den 1960er-Jahren, zwischen Minimalismus und Conceptual Art. Explizit nahm Forsythe keine Verortung im Rahmen der Tanzgeschichte vor, sondern situierte seine Choreographic Objects als installative Arbeiten, die mit der Referenz auf die Verwendung von Handlungsanweisungen in der Kunst die Fragen von Autorschaft, Partizipation und Produktion neu stellten. Damit wurde erneut der Ansatz thematisiert, den er bereits in den Jahren zuvor mehr und mehr verfolgt hatte, nämlich die Idee einer Expanded Choreography. So ließe sich ausgehend von Rosalind Krauss’ einflussreichem Aufsatz »Sculpture in the Expanded Field« aus dem Jahr 1979, in dem die Kunsthistorikerin die Kohärenz der Gattung angesichts der zunehmenden Verzeitlichung der Skulptur und Prozessualisierung der Objektform infrage stellte,4 die vorliegende Arbeit auch explizit unter den Fragestellungen einer ›Choreography in the Expanded Field‹ lesen, wie sie sich im zeitgenössischen Tanz – nicht nur bei Forsythe – perspektiviert. Denn die Erweiterung des Begriffs von Choreographie, wie sie Forsythe mit seinen Choreographic Objects vorantrieb, ist mit einem Ineinandergreifen der Sphären von Bildender Kunst und Choreographie, wie wir sie in den letzten zehn Jahren zunächst im Zusammenhang mit Retrospektiven von Choreographinnen der Judson Church beobachten konnten, eng verbunden. Die Präsentation von Tanz und Performance im Ausstellungskontext hat in diesen Jahren, nicht zuletzt über ein Interesse an Reenactment, eine erneute Auseinandersetzung mit Performance und Tanz bzw. dem Körper als Objekt seitens der Institutionen der Bildenden Künste forciert.5 Produktionen wie Xavier Le Roys Expanding Choreography, Boris Charmatz’ Musée de la danse, Aus-

4 | Rosalind Krauss: »Sculpture in the Expanded Field«, in: October 8, Frühjahr 1979, S.  30-44; siehe auch Michael Lüthy: »Expanded Field«, in: Skulptur Projekte Münster 07, Münster: Walter König, Glossar, S. 56f. 5 | Vgl. dazu: Kirsten Maar: »Le Musée de la danse – or: What a body can do: Reconsidering the Role of the Moving Body in Exhibition Contexts« [2016], unter: http:// www.stedelijkstudies.com/journal/what-a-body-can-do/ (letzter Zugriff: 30.01.2019).

Vorwort stellungen wie Move: Choreographing You oder Arbeiten im öffentlichen Raum, wie etwa diejenigen von Alexandra Pirici, belegen diese Entwicklung.6 Doch was passiert, wenn das Ausstellungsobjekt durch den bewegten Körper ersetzt wird? Wie lässt sich Choreographie jenseits des Tänzerkörpers denken und auf die Bewegung von nicht allein menschlichen Körpern im Raum projizieren? Was ein Körper vermag, ist in diesen Konstellationen nicht lediglich abhängig von äußeren Strukturen. Körper sind mit ihrer Umwelt verbunden, angesichts ihrer Vermögen, angesichts der Kräfte, die sie durchwandern, angesichts der Affekte, die sie übersteigen. So bilden sie ephemere Relationen und Gefüge und eröffnen alternative Erfahrungsräume innerhalb der Ausstellung. Die Überlappung der Dispositive von Ausstellung und Aufführung ließe sich mit den Überlegungen zu scoring practices als ›AnOrdnungen‹ im doppelten Sinne einer Anweisung und eines räumlichen Arrangements verbinden.7 Scores, wie sie seit den 1960er-Jahren als Präskripte für regelbasierte Improvisationen fungieren, suggerieren ein Verständnis von Choreographie als »art of command«,8 wie es Forsythe beschreibt. Doch welche Perspektiven lassen sich daraus für das Verhältnis von Choreographie und Tanz ableiten? Es kann, so schlägt es die vorliegende Studie vor, im Zusammenspiel von Anweisung oder Präskript und deren Interpretation, die stets den Spielraum des Unbestimmten beibehält, als »Planung des Unvorhersehbaren« verstanden werden, als ein Entwerfen eines Verhandlungsraumes. Denken wir die einzelnen Akteure innerhalb dieser instant composition in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander, entwickeln wir ein Verständnis eines Gefüges oder, um einen Begriff Buckminster Fullers einzuführen, einer ecology, das heißt eines Gefüges, das in gegenseitiger Abhängigkeit seiner einzelnen Teile ephemer, im Entwurf, in Bewegung existiert. Von dieser Idee einer Planung des Unvorhersehbaren, von einem improvisatorischen Wissen ausgehend, ist auch ein weiterer zentraler Gedanke meiner Untersuchungen inspiriert: Choreographie und Architektur nicht als abgeschlossene Projekte, sondern in ihren Entwurfsprozessen, in ihren Verfahren 6 | Studiengänge zum »Kuratieren in den szenischen Künsten« (Paris Lodron Universität Salzburg) oder zu »Kulturen des Kuratorischen« (Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig) spiegeln dies wider ebenso wie zahlreiche Veröffentlichungen in diesem Bereich. 7 | Vgl. dazu den aus der gleichnamigen Tagung hervorgegangenen Band von Maren Butte/Kirsten Maar/Fiona McGovern/Marie-France Rafael/Jörn Schafaff (Hg.): Assign and Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, Berlin: Sternberg, 2014. 8 | William Forsythe, zitiert in Mark Franko: »Dance and the Politics of Exeption«, in: Susanne Franco/Marina Nordera (Hg.): Dance Discourses. Keywords in Dance Research, London/NewYork (NY): Routledge, 2016, S. 11-29, hier S. 16.

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Entwürfe und Gefüge und Praktiken zu betrachten. Nicht umsonst nimmt die Studie Randgänge der Architektur in den Blick, die ihren Entwurfscharakter nicht verbergen und oftmals nicht darüber hinausgehen, die eher den (Infra-)Strukturen nachgehen und weniger einen systematischen Blick auf die gebaute Umwelt oder auf die Medien des Entwurfsprozesses richten als vielmehr eine imaginäre, oftmals utopische Potentialität eröffnen. Von Buckminster Fullers geodätischen Sphären über Cedric Prices diagrammatische Zeichnungen, Bernard Tschumis Advertisements for Architecture oder seine Manhattan Transcripts bis hin zu Nikolaus Hirschs Modellversuch Cybermohalla Hub liegt hier eine Auswahl unterschiedlicher Entwürfe vor, die nicht auf abgeschlossene architektonische Objekte oder Bauwerke zielen, sondern eher den Charakter interventionistischer Praktiken spiegeln – und bei denen es sich eher um Formate als um spezifische Formen handelt. Dies wiederum verbindet Architektur und Choreographie, versteht man sie im Sinne einer »public sphere by performance«9 – eines performativ zu entwerfenden öffentlichen Verhandlungsraumes. Das angeführte Laban’sche Modell der Kinesphäre, als Umraum des Tänzers, ebenso wie die Thematisierung des Atmosphärischen lassen sich hier mit Jean-Luc Nancy als Weise des singulär plural Seins oder des Mit-Seins denken, als ephemere und flüchtige ecologies – Ökologien des Sozialen, der Beziehungen und Verteilungen. Die Frage nach den Entwurfsverfahren und -praktiken ist gebunden an die Untersuchung der Herangehensweisen, die unter dem Stichpunkt Decreation – in der kritischen Betrachtung von Autorschaft und Kreativität – beschrieben werden. Ent-Schöpfung wird hier als ein Entwerfen gedacht, das seine eigene Bedingtheit stets mitreflektiert und in Auseinandersetzung mit den heteronomen Aspekten von Kunstproduktion Choreographie als ein Handwerk der Übersetzung – als Ent-Setzung – perspektiviert. Aus verschiedenen Gründen habe ich mich letztlich entschieden die vorliegende Studie, die ich zwischen 2007 und 2011 verfasst und 2012 verteidigt habe, ohne große Überarbeitungen oder Aktualisierungen zu veröffentlichen. Abgesehen davon, dass mit meinen anschließenden Forschungen zur Judson Avantgarde und deren retrospektiven Präsentationen im Ausstellungsraum die Fragestellung eine zwar verwandte, aber doch ganz anders ausgerichtete Perspektive erhalten und die Prämissen der ursprünglichen Dissertation verschoben hätte, habe ich hier einzelne Punkte dargelegt, die mir aus heutiger Sicht eine andere Akzentuierung erlauben. Viele der erwähnten Diskurse haben sich in den vergangenen Jahren zu eigenen Forschungsfeldern etabliert. Diese Ansätze, die ich hier rückblickend beschreibe, sind in der vorliegenden Studie aus ihren 9 | Bojana Cvejic/Ana Vujanovic (Hg.): Public Sphere by Performance, Berlin: b_books, 2015.

Vorwort Anfängen heraus konzipiert. Insofern eröffnet diese Arbeit, auch wenn oder gerade weil das Verfassen derselben einige Jahre zurückliegt, eine fast historiographische Perspektive auf einen bestimmten Zeitraum der choreographischen Arbeiten der Forsythe Company und veranschaulicht retrospektiv deren Bedeutung, die sich vom heutigen Standpunkt aus noch einmal anders darstellt.

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Einleitung 1 Architekturen choreographieren: Nowhere and everywhere at the same time 1 Die Zuschauertribüne der großen Halle des Festspielhauses in Hellerau wurde entfernt, der Saal ist leer, nur am Rand befindet sich eine Reihe mit Sitzmöglichkeiten, auf denen sich die Zuschauer niederlassen. An einem Gestell an der Decke befestigt hängen über den ganzen Raum verteilt unzählige Pendel an dünnen Nylonfäden. Fast jede noch so kleine Bewegung der Tänzerinnen und Tänzer2 setzt diese Pendel in Bewegung, und so schaffen sie vielfältige ineinander greifende Räumlichkeiten, die sich entsprechend der Bewegungen und Entscheidungen der Tänzer jeweils neu ergeben, vergleichbar einem beweglichen Labyrinth. Die transparente Architektur der Installation wird so zum Mobile, zum kinetischen Labyrinth, das aus fast Nichts zu bestehen scheint denn aus Licht und Fäden und den von Thom Willems komponierten Klangfeldern. Diese Schwingungen lassen den Raum selbst scheinbar schwanken. Immer wieder versuchen einzelne Tänzer ein Pendel in den Zustand der Ruhe zu versetzen, fassen das unten hängende Gewicht, ziehen das Seil von oben nach unten und versuchen es auszutarieren, doch eine minimale Schwingung bleibt stets erhalten. Die Manipulation der Pendel beeinflusst ebenso den Bewegungsraum der anderen Tänzer und schafft ein komplexes Bedingungsgefüge möglicher Bewegungen: So werden die Tänzer in ihren Bewegungsintentionen von den Absichten der anderen unterlaufen, sie müssen auf Unvorhergesehenes reagieren. Ausladende Bewegungen, die gekonnt gerade noch die Berührung der Aufhängungen vermeiden, oder minimale Bewegungen, nah am eigenen Körper in den beweglichen Zwischenräumen bestimmen die Choreographie. Die Tänzer scheinen eine Art »inneres Sehvermögen«3 zu aktivieren, ein körperliches Wis 1 |  Ich beziehe mich auf die Vorstellung, die ich am 12.09.2009 in Hellerau gesehen habe. 2 |  Aus stilistischen Gründen verwende ich im Folgenden fortlaufend die maskuline Form personenbezogener Substantive, bitte jedoch darum, weitere Genderperspektiven entsprechend mitzulesen. 3 |  Zitiert aus dem Programmheft zur Aufführung vom 12.09.2009: »Als der blinde französische Widerstandskämpfer Jacques Lusseyran, der über ein inneres

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Entwürfe und Gefüge sen, wie die Bewegungen des Pendels zu antizipieren und wie ihnen auszuweichen ist. Die Schwerkraft der Pendel und das Austarieren des Gleichgewichts eröffnen den Tänzern Spielräume, die erst in der Interdependenz verschiedener Ebenen zu verstehen sind: eines bestimmten, unregelmäßigen Rasters, nach dem die Aufhängungen und das Gestänge an der Decke gesetzt sind und das den der Aufführung zugrunde liegenden score4 mitbestimmt, der wiederum die zeitliche Abfolge und die Bedingungen zwischen den Tänzern regelt. Innerhalb dieser Rahmungen sind sie aufeinander angewiesen. Aber ebenso vermag die Beherrschung bestimmter Bewegungstechniken sowie eine besondere technische Einrichtung des Raumes jenes System zu manipulieren, dessen Grenzen zu erkunden gerade im Fast-Scheitern zur Herausforderung wird, und in den Momenten, in denen alle oder fast alle Tänzer im Pendelfeld agieren, den Eindruck eines geregelten Chaos vermittelt.

Abb. E.1: William Forsythe: Nowhere and Everywhere at the same time, © Dominik Mentzos.

Sehvermögen schrieb, das es ihm ermöglichte, Formen und Gedanken zu sehen und zu manipulieren, schilderte dies treffend als eine unbegrenzte mentale Leinwand oder Projektionsfläche, die ›gleichzeitig nirgendwo und überall‹ existiert. In gleichem Maße lässt sich diese Formulierung auch auf die Allgegenwärtigkeit der Schwerkraft beziehen.« Vgl. dazu genauer den Schlussteil. 4 |  Der Begriff score ist seit den 1960er-Jahren im Tanz üblich und wird hier und im Folgenden im Sinne einer der Improvisation zugrunde liegenden Partitur gebraucht, welche bestimmte Regeln für die Choreographie festlegt.

Einleitung In dieser choreographischen Installation5 werden Aspekte einer Ästhetik des Entwerfens angesprochen, für die Interferenzen zwischen Choreographie und Architektur entscheidend sind: Die sich in jedem Moment neu ergebende, labyrinthische Struktur erfordert vonseiten der Tänzer eine sehr präzise Raumvorstellung, die bereits in der Konzeption deren mögliche Veränderungen und Manipulationen mitbedenkt. Es geht darum, einen Bereich ins Unbekannte hinein zu kartographieren.6 Die Eigendynamiken des eingeschlagenen Weges bzw. der Bewegung und der sich daraus ergebenden Alternativen, die Um- und Abwege, die daraus folgen, sind gebunden an Zufälle, die konstitutiv für jedwelche Entscheidung werden, sie erfordern somit eine Form der Navigation, die nicht auf vorliegende Kartierungen zurückgreifen kann,7 und so entspricht die im Programmheft erwähnte Blindheit, die auf andere denn visuelle Modi der Orientierung zurückgreifen muss, der Idee des Labyrinths in korrellierender Weise. Damit sind Modi einer Ästhetik des Entwerfens angesprochen, innerhalb derer im Folgenden sowohl die Spannung zwischen choreographischen Verfahren und tänzerischem Wissen als auch die Korrespondenzen eines architektonischen Denkens betrachtet werden. Das Entwerfen wird hier nicht als lineare Bewegung gefasst, sondern als ständiges Vor- und Zurück, als ein Ent- und wieder Verwerfen, als eine stete Suche nach möglichen und immer nur vorläufigen Teillösungen. Dabei gibt es keine eindeutige Verfahrensweise, keinen Plan, der vorschreibt, wie ein Schritt nach dem anderen auszuführen wäre. Ganz im Gegenteil spielen die Momente der Desorientierung und des Nicht-Wissens eine zentrale Rolle in diesem Prozess; zwingen sie doch dazu, die eigenen Vorannahmen zu überprüfen und gegebenenfalls infrage zu stellen, sich dem Unbekannten zumindest für einen produktiven Moment lang zu überlassen.

5 |  Jene Arbeit wurde zuerst mit einem einzelnen Tänzer, Brock Labrenz, 2005 in New York entwickelt. Hier war es dem Publikum teilweise erlaubt, die Installation auch selbst zu betreten; später wurde die Arbeit mit den Tänzern der Forsythe Company in der Londoner Tate Modern im Museumskontext aufgeführt. 6 |  Vgl. dazu Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve, 1991, S. 23ff.; S. 36. Die Karte wird bei Deleuze/ Guattari der Kopie gegenübergestellt, sie ist Grundprinzip eines rhizomatischen Denkens (im Gegensatz zum baumartigen, das in Genealogien verläuft); ein ihr wesentliches Charakteristikum ist, dass sie im Gegensatz zur Kopie grundsätzlich viele Zugangsmöglichkeiten aufweist. »Bei der Karte geht es um Performanz, während die Kopie immer auf eine angebliche ›Kompetenz‹ verweist«; ebd., S. 24. 7 |  Vgl. Philipp Stoellger: »Im Labyrinth des Lebens. Der Umweg als Modus Vivendi«, in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie 16/17, Dezember 2011, Was ist ein Weg? Bewegungsformen in einer globalen Welt, ith Zürich, S. 47-61, hier S. 49.

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Entwürfe und Gefüge Nowhere and Everywhere at the same time scheint mir paradigmatisch viele der für Forsythe charakteristischen Arbeitsweisen zu beinhalten: Er und seine Tänzer experimentieren hier mit choreographischen Verfahren der Anordnung, d.h. bestimmten Regelkombinationen, die wiederum bestimmte raum-zeitliche Arrangements generieren. Voraussetzung dafür ist die improvisatorische Virtuosität der Tänzer, die imstande sind, imaginierte Raumfiguren in flüchtige Topographien zu übertragen, sie erkunden den Umgang mit Objekten und schaffen durch Umordnungen im Raumgefüge der Theaterarchitektur Situationen oder Spiel-Räume, die den Betrachter mehr oder weniger aktiv involvieren. An dieser Stelle jedoch möchte ich die Ausführungen zum Stück vorerst abbrechen, um in meinen Schlussbetrachtungen diesen Faden wieder aufzunehmen.

2 Forsythes »Architecture of Disappearance« 8 und ihre Fortführungen Die Arbeit des Choreographen William Forsythe und seiner Tänzerinnen und Tänzer zeichnet sich seit seinen Anfängen mit dem Ballett Frankfurt9 durch den Umgang mit dem Unvorhersehbaren aus und dient daher als Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu den Prozessen des Entwerfens verschiedenartiger relationaler Raumgefüge zwischen Choreographie und Architektur. Bereits das kurz beschriebene Beispiel veranschaulicht, dass Forsythes Arbeiten mit einem besonderen Sinn für das Architektonische wahrgenommen werden können. Das ›Architektonische‹ bezeichnet hier und im Folgenden nicht lediglich die gebaute Umwelt, sondern in bestimmten Verfahren emergierende dynamische Gefüge. Das Labyrinth in Nowhere and Everywhere at the Same Time kann als ein Beispiel für ein solches Gefüge gelten, das durch die Bewegung der Tänzer und der Pendel erst hervorgebracht wird. Nicht nur arbeitet Forsythe an einer spezifischen Ästhetik des zeitgenössischen Theaters, die sämtliche Mittel des Theaters – Bewegung, Stimme und Klang, Licht, Bühnentechnik, Kostüm und Narration – zu einer Choreographie 8 |  Patricia Baudoin/Heidi Gilpin: »Vervielfältigung und perfektes Durcheinander. William Forsythe und die Architektur des Verschwindens«, in: Gerald Siegmund (Hg.): William Forsythe. Denken in Bewegung, Berlin: Henschel, 2004, S. 117-124 (im Original: »Proliferation and Perfect Disorder: William Forsythe and the Architecture of Disappearance«). 9 |  Seit 1984 leitete William Forsythe das Ballett Frankfurt, das 2005 in die Forsythe Company überführt wurde. Seitdem wurde die Company durch die Etats der Städte und Länder Frankfurt am Main, Dresden, Hessen und Sachsen-Anhalt ko-finanziert und verfügt sowohl in Frankfurt als auch in Hellerau über feste Spielstätten.

Einleitung der verschiedenen Medien zusammenführt, sondern vor allem entwickeln er und seine Tänzer eine eigene Bewegungssprache.10 Insbesondere der Aspekt eines analytischen Raumverständnisses, das sich unter anderem aus dem klassischen Ballett und den Bewegungsprinzipien Rudolf von Labans entwickelte, ist zentral für die Forsythe’sche Arbeitsweise. Wie sich ausgehend von den Relationen der Körperteile zueinander und zu bestimmten Punkten im Raum Interaktionen mit den anderen Tänzern entwickeln, und wie diese wiederum die Zuschauer affizieren und in den Prozess des Entwerfens bestimmter choreographischer Raumrelationen einbeziehen, wird im Folgenden an einzelnen Arbeiten seit 2003 untersucht.11 Der Blick wird in der vorliegenden Studie auf einzelne Arbeiten gerichtet, in denen sich das komplexe Verhältnis von Bewegung und Raum, Objekten, Performern und Zuschauern gegenüber den älteren Arbeiten, welche vornehmlich die Dekonstruktion des Balletts und des theatralen Bühnenraums und der damit einhergehenden traditionellen Zuschauerperspektive betrieben, bis hin zu choreographischen Installationen erweitert hat, in denen die Zuschauer selbst zu Akteuren werden. Zunächst jedoch schaffen die Tänzer der Company durch ihre Bewegungen jenen Raumzusammenhang, innerhalb dessen sich Möglichkeiten der Bedeutungszuschreibung und des Handelns entfalten. Über Techniken der ›Entschöpfung‹ und der Entsubjektivierung, in denen die Intentionalität von Bewegung und die zeitweise Aufgabe von Kontrolle in steter Oszillation stehen, wird ihr Körper zu einem Medium, welches das Ereignishafte der Bewegungen in situative Entscheidungszusammenhänge setzt. Dabei kann gerade der Tanz als relationale Kunstform schlechthin betrachtet werden: Denn selbst wenn ein Tänzer sich allein im Raum bewegt, werden doch immer spezifische Ver 10 |  Explizit wurde seine Arbeit ausgewählt, um diese spezifische Art der Bewegungsrelationen zu verdeutlichen, im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Choreographen, die eher ein Paradigma des Stills favorisieren. Neben dem Topos des Stills (als Rahmen des Nicht-Tanzens) hat Gabriele Brandstetter das Schreiben (als Reflexion auf das eigenen Tun) und die Passage (Dezentrierung des Körpers) als charakteristisch für den Postmodernen Tanz herausgearbeitet, wovon vor allen die beiden letzteren auch für die Arbeit Forsythes bestimmend sind; vgl. Gabriele Brandstetter: »Still/Motion. Zur Postmoderne im Tanztheater«, in: Claudia Jeschke/Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Forschung, Berlin: Vorwerk 8, 2000, S. 122-137. 11 |  Decreation wurde am 27. April 2003 im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main uraufgeführt; anhand dieser Arbeit wird im 2. Kapitel die für die vorliegende Arbeit grundlegende Idee der Ent-schöpfung behandelt. Mit den letzten Arbeiten des Ballett Frankfurt zeichnet sich bereits eine Entwicklung zu anderen Verfahren ab, die ich in der vorliegenden Arbeit darstellen werde.

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Entwürfe und Gefüge hältnisse zwischen den einzelnen Körperteilen, zwischen seinem Körper und anderen Objekten und dem umgebenden Raum, oder zuweilen sogar zu imaginären Körperdoubles entworfen. Die Beherrschung und Umsetzung dieser Relationierungen werden umso komplexer, wenn die regelbasierte Improvisation zentraler Bestandteil der Arbeitsweise ist. Bereits in den Arbeiten, die Forsythe seit Ende der 1980er-Jahre entwickelte, steht diese Art der real-time-composition im Vordergrund seines Interesses,12 welches das »Sich-Selbst-Überraschen« als zentrale Motivation begreift.13 In den frühen 1990er-Jahren entwickelte Forsythe die Improvisation Technologies, eine CD-Rom, die mithilfe gezeichneter Linien Bewegungsabläufe im Raum konzipierbar und analysierbar machte und die die Relationierung der Körperteile zueinander und deren Ausrichtung im Raum konzeptionalisierte. Den Umgang mit solchen notationellen Systemen verfolgen er und seine Tänzer weiter mit dem in den letzten Jahren entwickelten Online-Tool Synchronous Objects, das mithilfe verschiedener Darstellungsverfahren aus anderen Disziplinen Raumorganisation, Interaktionen und Synchronisierungen zwischen den Tänzern visualisiert und für den Betrachter nachvollziehbar macht, sowie mit dem Motion Bank-Projekt, das digitale Online-Partituren von verschiedenen Choreographen darstellt. Angesichts einer so intensiven Beschäftigung mit den Modi der Aufzeichnung des Tanzes wird bereits deutlich, dass Choreographieren bei Forsythe nicht bloß als das einfache Schritte setzen oder als Kompositionsprozess im Sinne von Doris Humphreys »The Art of Making Dances« zu verstehen,14 sondern innerhalb einer Tradition des post-modernen und zeitgenössischen Tanzes zu verorten ist, die alternative choreographische Verfahren entwickelt. Dies lässt sich zum einen in Anlehnung an Merce Cunninghams zufallsbasierte Kompositionsverfahren und der sich daraus ergebenden MultiPerspektivität des Raumes erklären, die die gerichtete Fluchtpunktperspektive des Zuschauers auflöste. Zum anderen wurde seit den 1960er-Jahren von den Judson-Choreographen Kritik an traditionellen Kreativitäts- und Autorschaftskonzepten formuliert und ausgehend davon eine Transformation der choreographischen Verfahren angestoßen, die in ihren vielfältigen Umdeutungen 12 |  Vgl. dazu Kerstin Evert: Dance Lab. Tanz und Neue Technologien, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, insbes. Kap. 4: »Choreographie als Hypertext: William Forsythe«, S. 117-155. 13 |  Vgl. dazu Gabriele Brandstetter/Hans-Friedrich Bormann/Annemarie Matzke (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld: transcript, 2010, darin insbes. G. Brandstetter: »Selbst-Überraschung: Improvisation im Tanz«, S. 183-200. 14 |  Vgl. dazu Gabriele Brandstetter: Lemma »Choreographie«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2005, S. 52-55.

Einleitung bis in den zeitgenössischen Tanz reicht. In dieser Tradition (post-)moderner und zeitgenössischer choreographischer Entwurfsverfahren sind für Forsythe vor allem die Arbeit mit Regelkombinationen und deren improvisatorischer Ausführung bestimmend sowie die Neu-Aufteilung des Verhältnisses von Performer und Zuschauern über eine Umstrukturierung des Bühnenraums,15 und schließlich eine Ausweitung des choreographischen Denkens im Austausch mit anderen Kunstformen. Bereits in Limb’s Theorem (1990) arbeitete Forsythe ausgehend von den Skizzen des Architekten Daniel Libeskind an Formen und Strukturen und deren Veränderungen in der Wahrnehmung. Das Stück handelte von den Zusammenhängen der einzelnen Gliedmaßen und deren kombinatorischen Regeln, die von Forsythe und seinen Tänzern neu formuliert wurden. Vergleichbar den dekonstruktivistischen Prinzipien, die in der Architektur bzw. insbesondere in den Architekturzeichnungen Libeskinds die Räume aufsplittern und das »rationale, ordentliche Gitter (engl.: grid; im Architekturkontext hier besser: Raster; KM) als eine Reihe von dezentrierten Räumen« entfalten, zeigte Forsythe, »dass die Einheit des tanzenden Körpers trügerisch und irreführend ist«.16 Indem er in Anlehnung an Libeskind das Raster als architektonisches Werkzeug der proportionalen Darstellung als Medium der Verzerrung und Distortion nutzt und, wie in den Improvisation Technologies sichtbar, den Körpermittelpunkt verschiebt und die Tänzer immer wieder anders an den Rand des Equilibriums bringt, schafft er eine Ästhetik, die sich gegen Reproduzierbarkeit und Objektsstatus wendet und dagegen mit Diskontinuitäten und Brüchen arbeitet.17 15 |  Dies gilt sowohl für Performances mit aktiver Beteiligung der Zuschauer, die deren Handeln und Entscheidungen herausfordern, als auch für solche ohne aktive Beteiligung, die ›lediglich‹ eine gesteigerte Aufmerksamkeit fordern. 16 |  Baudoin/Gilpin: 2004, S. 122. 17 |  Der Kontext, innerhalb dessen die neueren Arbeiten Forsythes im Folgenden betrachtet werden sollen, bezieht sich auf diese Ansätze, ist jedoch über das dekonstruktivistische Denken hinaus weniger auf die Destrukturierung von Form und Sinn, sondern vielmehr auf handlungstheoretische Ansätze zu projizieren, die Architektur als Kunst des Kontextes, als Entfaltung von Möglichkeitsräumen, als situativ und relational, und insofern ebenfalls als flüchtig auffassen. Dass die Arbeitsweise Forsythes, vor allem in den Choreographien der 1990er-Jahre, wesentlich innerhalb der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus zu verorten ist, hat u.a. Gabriele Brandstetter ausführlich beschrieben in: »Defigurative Choreographie. Von Duchamp zu Forsythe«, in: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart: Metzler, 1997, S. 598-623; darüber hinaus haben Baudoin/Gilpin: 2004 sowie Steven Spier und Valerie Briginshaw aufschlussreiche Aufsätze zum Verhältnis von Choreographie und Architektur bei Forsythe vorgelegt: Steven Spier: »Danc-

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Entwürfe und Gefüge Für Limb’s Theorem entwarf der Bühnenbildner Michael Simon verschiedene bewegliche Objekte – ein Segel, Stäbe und Kugeln, die es notwendig machten, ihnen auszuweichen, andere Wege zu wählen, und so die Komplexität der Anordnung der Tänzer steigerten. Das große Segel und die Lichtgestaltung, die mit vielen Blacks operierte, verunmöglichte eine kontinuierliche Sicht auf die Bewegungen der Tänzer und regte so die Zuschauer zu eigenen, imaginierten Ergänzungen an.18 Die Fragmentierung und Aufsplitterung sowie die daraus resultierenden Verschiebungen, die so charakateristisch für die Architektur der Dekonstruktion sind,19 lassen sich auch in den choreographischen Arbeiten nachvollziehen und zeitigen in der Zersplitterung des Körperbildes und der stets schon entschwundenen Bewegung eine Abwesenheit, die für Forsythes Ästhetik bestimmend ist.20 Betrachtet man Tanz als flüchtige Kunstform unter dem Paradigma der sich stets entziehenden Bewegung, so wird Abwesenheit zum zentralen Merkmal einer Kunst des Flüchtigen, die sich vor dem Hintergrund der Spektakelgesellschaft einer stetigen Forderung nach erfüllender Präsenz entzieht und damit auch eine ethische Dimension der Unverfügbarkeit des Körpers und des Subjekts behauptet. Sie wendet sich gegen ein allzu emphatisches ›Hier und Jetzt‹

ing and Drawing, Choreography and Architecture«, in: The Journal of Architecture 10/4, 2005, S. 349-364; ders.: »Engendering and Composing Movement: William Forsythe and the Ballett Frankfurt«, unter http://www.frankfurt-ballett.de/spier. html, (letzter Zugriff: 16.09.2007); ders.: »Inside the Knot Two Bodies Make«, in: Dance Research Journal 39/1, Sommer 2007, S. 49-59; Valerie Briginshaw: Dance Space and Subjectivity, London: Palgrave, 2001, darin insbes. »Introduction«, S. 1-26, und »Architectural spaces in the Choreography of William Forsythe and Anne Teresa de Keersmaeker’s Rosa Danst Rosas«, S. 183-206. 18 |  Ich nenne Limb’s Theorem hier nur als eine von vielen Arbeiten, die paradigmatisch Forsythes Umgang mit dem Bühnenraum beschreiben. Ebenso könnte man Arbeiten, wie Endless House (1999) und Kammer/Kammer (2000) hervorheben, auch hier wurde ein Spiel aus Zeigen und Verbergen inszeniert, indem das Raumgefüge des Theaters durch verschiedene mediale Anordnungen gebrochen wurde. 19 |  Vgl. dazu v.a. Jacques Derrida: »Am Nullpunkt der Verrücktheit – Jetzt die Architektur«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim: VCH, 1988, S. 215-232; sowie Peter Eisenman: Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur, hg. v. Ulrich Schwarz, Wien: Passagen, 1995. 20 |  Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jerôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript, 2006.

Einleitung und fragt vielmehr danach, mittels welcher medialer Formate das Spiel von Abwesenheit und Präsenz hergestellt wird.21 Dies zeigt sich bei Forsythe bereits am Umgang mit den Bewegungstechniken: Er begreift das Ballett oder auch andere Bewegungstechniken nicht als Ideologie, sondern als eine Form des Wissens, mit der man arbeiten und umgehen muss.22 Eine Arabeske, so betont Forsythe, bestehe gerade nicht in der Perfektion der Pose, sondern im stetigen Verfehlen derselben; sie sei genau zwischen zwei Punkten zu verorten23 – als eine Figur des Transitorischen und des Transfers: »Niemand kann eine absolute, richtige Arabeske tanzen. Alles, was ein Tänzer machen kann, ist, sich mit seinem individuellen Körper und seinen Fähigkeiten durch die Figur Arabeske hindurchzubewegen wie durch eine leere Form.«24 Diese Beschreibung einer »mögliche[n] Form im Kontinuum der Bewegungen und Perspektiven«25 verweist auf das Potential, Choreographie als einen stets unabgeschlossenen Prozess des Entwerfens zu betrachten.26 Der Entwurf einer Arabeske vollzieht sich also zwischen zwei Momenten: der Erinnerung an die gerade vergangene Bewegung und der Antizipation der folgenden. Diese Fähigkeit der Tänzer, unterschiedliche Informationen zwischen zwei Momenten zu übertragen, weist die Arabeske als Beispiel einer zeitlichen Übertragungsfigur aus. Doch nicht nur die Arabeske als transitorische Figur, sondern auch das épaulement als komplexes Gefüge von klassischen Fußpositionen, korrespondierenden Armhaltungen, der Neigung des Kopfes und der Gerichtetheit des Blicks, das insgesamt in seiner Ausrichtung zum Publikum bestimmt wird und mit dem Zeigen und Verbergen spielt, wird von den Forsythe-Tänzern mittels bestimmter Körpertechniken transformiert, und bildet einen zentralen Ausgangspunkt, um Möglichkeiten der Entfaltung von Bewegung weiterzuentwickeln.27 Der Begriff des Gefüges als Relation, die sich durch die Organisation der einzelnen Elemente zueinander und durch ihre Zwischenräume bestimmt sowie jene choreographischen Prozesse konturiert, soll in dieser Arbeit als wesentlich für eine Ästhetik des Entwerfens herausgearbeitet werden, sind im Spiel der 21 |  Vgl. dazu auch Evert: 2003. 22 |  Siegmund: 2006, S. 255 und 235ff. 23 |  William Forsythe, zitiert in Siegmund: 2006, S. 255. 24 |  Ebd. 25 |  Ebd. 26 |  Dass Form hier als dynamisch und generativ gedacht ist, wird auch im Rückbezug auf Laban und dessen Idee der Spurformen deutlich, vgl. Kap. 1.3. 27 |  Die Beispiele sind zwar aus dem Bewegungsrepertoire des klassischen Balletts gewählt, an dessen Dekonstruktion Forsythe in den 1990er-Jahren intensiv gearbeitet hat, lassen sich jedoch auch auf die Weiterentwicklungen eines von Laban inspirierten, zeitgenössischen Bewegungsvokabulars übertragen.

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Entwürfe und Gefüge einzelnen Elemente doch das Bewegliche, das Im-Werden-Begriffene bereits angelegt. Hierbei spielt das Intervall28 als Lücke oder produktive Leere, als nicht fixierbare Größe und als ein Moment einer Ästhetik der Abwesenheit eine wichtige Rolle: Es schafft einen Zwischenraum, der sich erst durch die Beziehungen untereinander genauer bestimmt, und kann als potentiell zu füllendes Möglichkeitsfenster jene beweglichen Relationen beschreiben.29 In ihrer Einleitung zu Tausend Plateaus beschreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari das Gefüge als »agencement«, was im Französischen so viel wie Einrichtung, Anordnung, Aufstellung oder Arrangement bedeutet und hauptsächlich im Handwerklichen verortet ist.30 Der Begriff der Agency bzw. Handlungsmacht, der im Französischen mitschwingt, erlaubt es, das Gefüge als eine Figur des Entwerfens zu denken. Dabei jedoch ist der Entwurf nicht linear – vom Körper, vom Objekt oder von der Architektur aus – zu bestimmen, sondern gerade im Hin- und Her, Vor- und Zurück als Prozess vorzustellen. Dieser kann nicht auf ein abschließbares Werk gerichtet sein, sondern entfaltet sich gerade in den verschiedenen möglichen Operationen. Handlungsmacht kann in umgekehrter Weise auch vom einzelnen Objekt oder von der räumlichen Anordnung ausgehend das Subjekt verändern, es erlaubt aber noch viel weitergehend Handlungen jenseits der Hierarchien von Subjekt und Objekt, von aktiv und passiv zu denken. In diesen Gefügen geht es um das Zusammenwirken unterschiedlicher Körper, Materialien und Konzepte – die als Assoziationen von Aktion, Bewegung, Körperhaltungen und in sozialen Formierungen in nicht-deterministischer/nicht linear-teleologischer Weise funktionieren, sondern in denen sich ein Ensemble von Dingen, Individuen und Milieus als compositum herstellt. Insofern können auch die daraus hervorgehenden Prozesse niemals als statisches Objekt oder Werk gedacht werden. 28 |  Gabriele Brandstetter: »Intervalle. Raum, Zeit, Körper im Tanz des 20. Jahrhunderts«, in: Martin Bergelt/Hortensia Völckers (Hg.): Zeit-Räume-Raumzeiten-Zeitträume, München/Wien: Hanser, 1991, S. 225-278. 29 |  Deleuze/Guattari: 1991, S. 12. Dieses Gefüge besteht selbst nur in Verbindung mit anderen Gefügen; vgl. ebd., S. 13. Sie nennen das Beispiel eines Reiters, der nur im Zusammenhang mit Steigbügel, Pferd und Lanze zu einem Gefüge wird, das den Ritter als Geschwindigkeitsvektor hervorbringt; ebd., S. 549ff. 30 |  Das Gefüge wird an anderer Stelle mit dem Rhizom gleichgesetzt; ebd., S. 12: »Ein Rhizom besteht aus Plateaus, eine in sich selbst vibrierende Intensitätszone, es ist ein Gefüge. Wie diese hat es weder Anfang noch Ende, ist immer Mitte, Dazwischen, von wo aus es wächst und sich ausbreitet.« Die für das Rhizom geltenden Merkmale der Konnexion, Heterogenität, Mannigfaltigkeit, des asignifikanten Bruchs, der Kartographie werden infolge auch für die Gefüge Forsythes zu untersuchen sein. Auch die Falte, die in Kapitel 1 genauer beschrieben wird, stellt ein solches Gefüge dar.

Einleitung

3 Topologien und Topographien des Flüchtigen Denkt man das Körpermodell bei Forsythe über seine Grenzen hinaus als konnektiv und tendenziell unabgeschlossen, ergeben sich weitreichende Konsequenzen für jene zu beschreibenden Gefüge: Figurationen des Unabgeschlossenen,31 wie sie sich in Forsythes Ästhetik beschreiben lassen, scheinen die Körpergrenzen in fließenden Konturen aufzulösen. In dieser Grenzverschiebung und stets neuen Grenzbestimmung liegt ein zentraler Punkt entwerfender Tätigkeit, die sich verschiedene Körperkonzepte zum Ausgangspunkt ihres Denkens von Bewegungsrelationen nimmt. Im Tanz wird über Bewegungstechniken ein Körpergefühl trainiert, das eine erhöhte Aufmerksamkeit von den Tänzern (wie auch von den Zuschauern) erfordert. Diese Aufmerksamkeit ermöglicht eine Art Erweiterung des Körpers – ein Spüren über die eigenen Körpergrenzen hinaus; es ermöglicht, Impulse über den ganzen Raum aufzunehmen und zu verarbeiten. Dies geschieht jedoch nicht einfach nur über die visuelle Vermessung des Raumes, sondern über ein Training der Nahsinne. Durch Nachbarschafts- und dynamische Austauschverhältnisse werden nicht-metrische Relationen, von z.B. innen und außen in ein spezifisches Verhältnis gesetzt und darüber paradoxe Raumfiguren generiert (vgl. Kap. 2). Diese lassen sich eher topologisch als topographisch beschreiben: In der Topologie, die als Theorie der Strukturen und Verhältnisse relationale Räume beschreibt, wird der Raum nicht als Entität, sondern als Struktur gefasst, sie beschreibt die Abwendung vom Raum hin zur Räumlichkeit, zur Transformation von Raum32 und kann damit im Zusammenhang dieser Arbeit dazu dienen, den herkömmlichen Begriff von Choreographie als Kunst des Schrittesetzens zu erweitern – ein Anliegen, das Forsythe nicht erst in seinem Essay zu den »choreographic objects« beschreibt.33 Gewöhnlich wird Choreographie aus dem Griechischen als das Schreiben des Raumes übersetzt:34 Als Produkt graphischer Operationen, als Topo-graphien verweisen Choreographien auf das ›Gemacht-Sein‹ des Raumes, auf ihr Entstehen aus der Anordnung – den Vorschriften und Regeln – die sich wiederum in 31 |  Susanne Foellmer: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript, 2009. 32 |  Vgl. u.a. Stephan Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, in: ders. (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2007, S. 13-29; Laura Frahm: Jenseits des Raumes. Zur filmischen Topologie des Urbanen, Bielefeld: transcript, 2010. 33 |  William Forsythe: »Choreographische Objekte«, in: Suspense, hg. v. der Ursula Blickle Stiftung/Markus Weisbeck, Zürich: Ringier, 2008, S. 8-11. 34 |  Vgl. Brandstetter: 2005.

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Entwürfe und Gefüge einer räumlichen Anordnung der bewegten Körper spiegeln. Die Spuren dieser Bewegungen können wiederum als Präskripte oder aber als Relikte gelesen werden. Ihre Lage, Gestalt und damit auch ihre Wirkung sind gebunden an KörperTechniken und Notationen von Bewegungen – an Regeln, die die Bewegungen im Raum organisieren.35 Die Dimensionalität und Ausgedehntheit sowie auch die Instabilität und Dynamisierung des Raumes sind mittels topographischer Techniken erfassbar. Jedoch lässt sich damit die Bewegung selbst und ihre kinästhetische Dimension noch nicht vollkommen beschreiben. Die Beziehungen zwischen dem eigenen Körperempfinden und der sie mit-konstituierenden Räumlichkeit lassen sich oftmals eher annäherungsweise mit relationalen Begriffen, wie etwa innen und außen, oben und unten umschreiben. Die Vorstellung eines plastischen, transformierbaren Raumes ist jedoch nicht nur an ein leibliches Empfinden, sondern ebenso an ein medial vermitteltes (Körper-)Wissen gebunden, welches verschiedene, oftmals auch inkompatible Raumerfahrungen verknüpft. So entsteht kein in sich geschlossener, unbeweglicher Behälterraum, sondern eine sich in Prozessen der Übertragung und Überlagerung erst konfigurierende Räumlichkeit. Von der Topologie her lässt sich aber auch eine Art der Notation denken, die in Relationen organisiert ist: Die diagrammatische Beschreibung bezeichnet Lagebeziehungen (wie etwa auf den Plänen der Verkehrsnetze)36 und kann bereits im Entwurfsmodus gerade jene Beweglichkeit garantieren und Möglichkeiten eröffnen, die innerhalb eines topographischen Systems erst im Verhältnis von Präskript und dessen Ausführung entstehen. Differenzerfahrungen und Transformationsprozesse zwischen verschiedenen räumlichen Ordnungen, die Auf oder- Vorzeichnung von Bewegung in notationellen Verfahren, die Modi der Bewegungserzeugung und deren Reversibilität und eine spezifische Art der Raumbildung sind Ausgangspunkt für den choreographischen Umgang mit Relationalität und Transformativität von Räumlichkeit. Im Rahmen der Arbeit möchte ich zeigen, wie topologisches und topographisches Raumdenken dabei ineinandergreifen und so ungewohnte Modelle des Sich-im-Raum-Bewegens hervorbringen; wie Choreographie als die Kunst, den ›Raum zu schreiben‹, an diesen Strategien der jeweiligen Neu-Konfiguration beteiligt ist und inwiefern diese einen ›Raum im Werden‹ definiert, der über eine spezifische Art des Zusammenwirkens von Körpertechnik, der Anordnung 35 |  Vgl. ebd. 36 |  Vgl. Stephan Günzel: »Spatial Turn, Topographical Turn, Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen«, in: Jörg Döring/ Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2008. S. 219-240, hier S. 226.

Einleitung von Objekten, der Adressierung, Affizierung und Involvierung des Betrachters, eine Relationalität zwischen Tänzern und Zuschauern und schließlich einen Verhandlungsraum herstellt, einen Raum, der immer auch durch ein spezifisches Körper-Wissen angeeignet wird. An den Überkreuzungen von Topographie und Topologie lässt sich beschreiben, wie der maßstäblich, das heißt optisch vermessene, »gekerbte« (metrische) Raum zu einem »glatten« (nicht-metrischen) Raum der Nahsinne wird (und umgekehrt).37 Wo das Moment des Taktilen wichtig wird, wo der Raum nicht überblickt wird, sondern man sich in ihm vorantastet, wird die Rezeptivität der Hand oder auch des ganzen Körpers zu einem tastenden und rezipierenden und daraus wiederum agierenden Instrument und im Entwerfen produktiv.38 Jedoch ist dieses Moment nur vor dem Hintergrund eines orientierenden, visuellen Denkens zu haben. Trotz Kritik an einem Okularzentrismus und einer Dominanz der visuellen Vermessung des Raumes sind die Grundlagen des Tanzes bei Forsythe nicht ohne jene Maßstäbe der Orientierung zu denken. Die Produktivität eines Moments der Desorientierung, wie er z.B. in der Improvisation zutage tritt, ist nur vor diesem Hintergrund möglich. Wenn die metrische Verfasstheit des Raumes nicht mehr einer traditionellen Vermessung des Raumes durch Zentralperspektive entspricht, sondern vielfältige Modi der Vermessung an diese Stelle getreten sind, kann jeder Ort als Knotenpunkt verschiedener möglicher Fortbewegungen betrachtet werden, die sich nicht (unbedingt) linear entfalten müssen, sondern durch Brüche oder Faltungen erfolgen können. Diese Überkreuzungen und Verwandlungen verweisen auf die Frage danach, welche Vor-schriften (Graphien) den Raum lesbar machen, und wie sich die Relationen, die sich durch die Interaktion zwischen den Tänzern bzw. zwischen Tänzern und Zuschauern entfalten, die diese Vorschriften auslegen und interpretieren, genauer beschreiben lassen. So ist zu fragen, welche spezifische Einrichtung eines Raumes durch choreographische Praxis möglich wird. Die Aufteilung des Raumes in Zuschauerraum und Szene wird in Forsythes Arbeiten zunehmend aufgelöst zugunsten eines Ineinander, welches dem Betrachter verschiedene neue Rollen zuweist, sein Involviert-Sein unterstreicht. Die spe-

37 |  Deleuze/Guattari: 1991, S. 657-693. 38 |  Hierzu wird in Kap. 1 ein kurzer Rückblick auf die Einfühlungstheorien vorgenommen; vgl. dazu Robin Curtis/Gertrud Koch (Hg.): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Fink, 2009. Diese Ansätze werden in den folgenden Kapiteln ergänzt durch die Studien von JeanLuc Nancy: Corpus, Berlin/Zürich: diaphanes 2000; ders.: Die Ausdehnung der Seele, Berlin: diaphanes 2010; sowie Erin Manning: Politics of Touch. Sense, Movement, Sovereignty, Minneapolis (MN)/London: Univ. of Minnesota Press, 2007.

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Entwürfe und Gefüge zifische (etymologische) Verwandtschaft von Theater und Theorie,39 als Orten des Schauens und Zeigens, von denen aus beobachtet wird und aufgrund derer der Zuschauer die distanzierte Kontrolle über das Geschehen, seine Urteilsfähigkeit behauptet, wird hier infrage gestellt. Nicht als unbeteiligter Beobachter, sondern als potentiell Handelnder wird er in eine zeitliche Spannung zwischen einzelnen Akten der Raumkonstitution gestellt: Welches Potential ist den spezifischen choreographischen Aufteilungen des Raumes inhärent, welche fordern sie heraus? Welche ästhetische Erfahrung ermöglichen sie?

4 Zum Verhältnis von Choreographie und Architektur Vor diesem Hintergrund des Ineinandergreifens verschiedener räumlicher Modelle muss geklärt werden, inwiefern gerade der Begriff des Architektonischen hier als ergänzender Begriff zum Choreographischen gelten soll. Wäre es nicht genauso gut möglich, das Choreographische mit dem Entwerfen von bestimmten Räumlichkeiten zu verbinden, wie sie in den letzten Jahren in den Diskussionen um einen spatial turn geführt wurde?40 Choreographie und Architektur bestimmen in ihren verschiedenen Ausübungen als Raum bestimmende Denkmodelle nicht nur die Künste, sondern auch das Alltagsleben.41 Mittels verschiedener Modi der Repräsentation schreiben sie dem Raum ihre Rahmungen, ihr Vokabular, ihren Stil und somit verschiedene Ordnungen ein. Jedoch sind diese Modi der Repräsentation nie neutral. Die Frage ist, wie sie benutzt werden, unter welchen politischen und ästhetischen Anspruch sie gestellt werden, welches Konzept sie verkörpern. Räume entstehen durch Bewegung und umgekehrt räumt der Raum die Möglichkeiten wechselnder Relationen der Dinge und Menschen in ihm ein, 39 |  Vgl. Samuel Weber: Theatricality as Medium, New York (NY): Fordham Univ. Press, 2004, S. 3. 40 |  Um hier nur wenige Publikationen zu nennen: Armen Avanessian/ Franck Hofmann (Hg.): Raum in den Künsten: Bewegung – Konstruktion – Politik, München: Fink, 2010; Döring/Thielmann (Hg.): 2008; Günzel (Hg.): 2007; Franck Hofmann/Jens-Emil Sennewald u.a. (Hg.): Raum-Dynamik/Dynamique de l’espace. Beiträge zu einer Praxis des Raumes/Contribution aux pratiques de l’espace, Bielefeld: transcript, 2004; Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.): Raum – Wissen – Macht, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002. 41 |  Vgl. z.B. Andrew Hewitt: Social Choreography. Ideology as Performance in Dance and Everyday Movement, Durham (NC)/London: Duke Univ., 2005; oder auch Gabriele Klein: Stadt. Szenen. Künstlerische Praktiken und theoretische Positionen, Wien: Passagen, 2005.

Einleitung er ermöglicht einen Prozess, der an den Bedeutungsproduktionen und -verschiebungen und den daraus resultierenden Aktionen beteiligt ist.42 Zwischen der phänomenologischen Erfahrung des architektonischen Raumes und der Ambivalenz, welche sich aus deren Versprachlichung und der zeichenhaften, repräsentativen Nutzung des Raumes ergibt, entfalten sich verschiedene Ebenen zu aktualisierender Entwürfe. Entsprechend muss die Betrachtung des Verhältnisses von Körper und Architektur die Bewegung des Körpers43 und deren Aufführungscharakter, Aspekte wie Theatralität und Inszenierung – abhängig von der Zeichen- und Symbolfunktion der Architektur – integrieren.44 Dabei ist das Verhältnis von Choreographie und Architektur hier als Gestaltung eines relationalen raum-zeitlichen Gefüges zu verstehen, das Verhandlungsräume generiert. Nähert man sich dem Begriff der Choreographie unter Bezug auf seine etymologischen Wurzeln – ausgehend vom griechischen choros, dem Tanzplatz 42 |  Ein Modell relationaler Räumlichkeit entwickelt auch Henri Lefèbvre: La production de l’espace, Paris: Gallimard, 1974. Hier konzipiert er den sozialen Raum als soziales Produkt, wobei die räumliche Praxis, die Raumrepräsentationen sowie die Repräsentationsräume als voneinander abhängig und aufeinander bezogen gedacht werden. 43 |  Zum Verhältnis von bewegtem Körper und Architektur vgl. Joseph Rykwert/George Dodds/Robert Tavernor (Hg.): Body and Building. Essays on the Changing Relation of Body and Architecture, Cambridge (MA): MIT Press, 2002; Deborah Hauptmann (Hg.): The Body in Architecture, Rotterdam: 010 Publishers, 2006; Catherine Ingraham: Architecture, Animal, Human: The Asymmetrical Condition, New York (NY): Routledge, 2006; Anthony Vidler: Warped Space. Art, Architecture and Anxiety in Modern Culture, Cambridge (MA): MIT Press, 2000. 44 |  Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive sind der Theaterraum und dessen architektonische Gestaltung auf das Verhältnis, welches zwischen Publikum und Performern mit spezifisch inszenatorischen Mitteln eingerichtet wird, u.a. untersucht worden bei Silke Konneffke: Theaterraum. Visionen und Projekte von Theaterleuten und Architekten zum anderen Aufführungsort 1900–1980, Berlin: Reimer, 1999. Wesentlich im Zusammenhang zur Performance bzw. zur choreographischen Praxis des 20. Jahrhunderts ist aber auch der Bezug zu ortsspezifischen Arbeiten, die im Rahmen institutioneller Kritik andere Modi der Raumorganisation hervorbringen, wie z.B in installativen Arbeiten: Juliane Rebentisch hat unter den Stichworten ›Theatralität‹, ›Ort‹ und ›Raum‹ eine Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, entwickelt; vgl. ebenso: Barbara Gronau: Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München: Fink, 2010; sowie Erin Manning: »Propositions for the Verge. William Forsythe’s Choreographic Objects« (2008), unter: http://www.senselab. ca/inflexions/volume_2/nodes/manning_1.html (letzter Zugriff: 01.01.2019).

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Entwürfe und Gefüge bzw. Reigen oder Rundtanz –, wird der Zusammenhang von Raum und Bewegung offenbar: Im Mythos weist der Ariadnefaden Theseus den Weg aus dem Labyrinth des Architekten Daidalos, er markiert die ›Choreo-graphie des Raumes‹.45 Diese wird auf dem Tanzplatz re-konstruiert und so wird über diese Wieder-holung ein Ort der gemeinschaftlichen (Erinnerungs-)Kultur konstituiert. Das Labyrinth als Bauwerk und als Bewegungsmuster (im Tanz-Platz) bildet so den Ausgang und die Eröffnung – arché – für eine mögliche Bewegung.46 Architektur wird im Griechischen als arché tekton, als das Bauen des Anfangs verstanden, das also nur einen Ansatzpunkt, eine Eröffnung liefert für das zu verhandelnde Öffentliche.47 Weniger soll hier auf das Ursprüngliche, Originäre der arché abgehoben werden, als vielmehr auf die Geste eines Anfangs, der sich als immer wieder zu verschiebender Anfang begreift. Diese schließt auch immer die Möglichkeiten eines anderen Anfangs ein und lässt sich daher als Figur eines nicht linearen Entwurfsdenkens diskutieren. Demgemäß bestimmt sich Architektur in der vorliegenden Arbeit nicht als das durch einen Autor-Architekten entworfene, konstruierte Gebäude und die gebaute Form, sondern durch das komplexe Verhältnis von Akteuren und gebauter Umwelt; sie ist performativ zu verstehen. Gleichwohl werden Architekturen unter bestimmten Parametern entworfen und unterliegen in diesem Prozess u.a. Vorstellungen von einem bestimmten Körperkonzept,48 von dem aus entworfen wird. Inwiefern diese gebaute Architektur an Prozessen der Interaktion mitwirkt, Gemeinschaft oder Öffentlichkeit ermöglicht, welche Handlungsentwürfe des Miteinander sie bereitstellt, aber auch wie ein solcher Gemeinschaftsbegriff überhaupt zu fassen wäre,49 wird hier im Hinblick auf 45 |  Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen [1966], München: dtv, 131990, zitiert in Gabriele Brandstetter: Tanzlektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt: Fischer, 1995, Kapitel: »Labyrinth und Spirale«, S. 319-329. 46 |  Dementsprechend ließe sich auch der eigentümliche Ort erklären, den der choros im antiken Theaterbau einnimmt, wo er zwischen dem Publikum und der Bühne platziert ist, und aus welcher Position der Chor (oft als Vermittler) agiert. 47 |  Vgl. Ludger Schwarte: Philosophie der Architektur, München: Fink 2009, Kapitel 1: »Arché«, S. 15-57, hier S. 15: »Der erste Anfang ist die Kombination von Politik und Physik durch den Logos. Der erste Anfang ist eine Versammlung.« Wobei hier jedoch choros und theatron zu unterscheiden sind. Wo das Öffentliche, wo die Gemeinschaft verhandelt wird, ist in Kapitel 5 zu klären. 48 |  Dieses Körperkonzept kann sich auf einen sich in diesem Bauwerk bewegenden Körper beziehen, oder auch nur auf den Baukörper selbst. 49 |  Vgl. Kap. 5; Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Schwarz, 1988 (auch übersetzt als Die entwerkte Gemeinschaft, Frz.: La communauté desœuvrée, 1983); ders.: singulär plural sein, Berlin/Zürich: diaphanes, 2005;

Einleitung die Arbeiten Forsythes, aber auch in den Entwürfen von R. Buckminster Fuller, Friedrich Kiesler, Cedric Price, über Bernard Tschumi und Diller & Scofidio bis hin zu Nikolaus Hirsch untersucht. Das griechische theatron ist im Gegensatz zum choros als Ort eines spezifischen Rituals explizit als Ort der Öffentlichkeit konzipiert – als (Ort der) Versammlung, der die Verhandlung nicht etwa des Gemeinsamen, sondern des Streitbaren garantiert. Es ermöglicht das Erscheinen – das Sichtbar-Werden – auf einem Schauplatz. Über je spezifische Verfahren der räumlichen Einrichtung und Aufteilung innerhalb dieses Ortes, die eine gegenseitige Wahrnehmung ermöglichen, wird das Publikum sich seiner selbst und seiner Möglichkeiten bewusst, es entwickelt Geschmacksurteile, es erfährt sich selbst als betrachtend, urteilend und auch als Gegenstand der Betrachtung. Dieser Schauplatz ist jedoch nicht notwendig an den Ort des Theaters gebunden. Das Potential der Architektur, diese Schauplätze und Handlungsräume herzustellen, ist vielmehr abhängig von Fragen der Anordnung, Ein- und Ausschlüssen, Verschiebungen, Brüchen, Übergängen und Entgegnungen;50 ein architektonisches Denken setzt die Regeln der Kombination und Distribution von Bauteilen und stellt damit eine Art Syntax her.51 Zugleich wird Architektur aber auch als »Kunst der Raumschöpfung« beschrieben, und stellt damit kinästhetische Vollzüge in den Vordergrund.52 Zwischen diesen Polen soll im Laufe der Arbeit herausgearbeitet werden, wie beide Aspekte untrennbar verbunden sind. Doch nicht nur die Kombination funktionaler, tragender und schmückender Elemente, wie sie Vitruv mit utilitas – firmitas – venustas benennt, sondern auch Lage und Kontext entscheiden über das situative Potential des Architektonischen, das sich wiederum auch in choreographischen Entwürfen beschreiben lässt. Jacques Derrida hat den Raum als chōra – als das, was zugleich separiert und einräumt, versammelt und unterscheidet53 – beschrieben. Zwischen den beiden Polen topos (< Aristoteles) und chōra (< Platon) lässt sich eine Auffächerung des Räumlichen beschreiben, die das Begrenzte, Statische des Ortes einerseits, und das Bewegte, Ausgedehnte, Übergreifende des Raums andererseits in Spannung zueinander setzt. Gegenüber den Topographien als Ortsbeschreibungen Robert Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin/Zürich: diaphanes, 2004; Joseph Vogl: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994. 50 |  Vgl. dazu Schwarte: 2009, S. 26. 51 |  Ebd., S. 24. 52 |  So bei August Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung (Antrittsvorlesung, 08.11.1893, Universität Leipzig), Leipzig: Hiersemann, 1894. 53 |  Jacques Derrida: Chōra, Wien: Passagen, 1990, zitiert in Schwarte: 2009, S. 44.

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Entwürfe und Gefüge verweist der Begriff chōra, der ein Drittes zwischen Ort und Raum bezeichnet, auf eine Dimension zwischen Sein und Werden: Als Raum menschlicher Schöpfung und Teilhabe bezeichnet chōra etwas zwischen Bewegung und Raum, Zentrum und Weg, Unveränderlichkeit und Wechsel54 – als Beispiel wäre hier der Tanzplatz zu nennen. Damit lässt sich beschreiben, wie einerseits die Präsenz der Architektur ihre Erfahrung konstituiert, diese jedoch gleichzeitig sprachlich oder oftmals auch notationell vermittelt ist.55 Die Spannung zwischen Sein und Werden wird durch die Bewegung in ihrem Entstehen erfahren. So bestimmt sich der Körperumraum nicht nur nach vermessbaren Größen, sondern ist, wie es Labans raumanalytisches Modell der Kinesphäre beweist,56 vor allem von der Körperbewegung und kinästhetischen Erfahrung aus zu konzipieren. Anliegen der vorliegenden Studie ist es, das Architektonische als einen Analysebegriff in das Denken über Choreographie, und umgekehrt den Begriff des Choreographischen für die Architektur einzuführen, die erst seit Kurzem aus der Blickrichtung des Performativen betrachtet wird.57 Mehr noch aber als im Performativen, scheint sich im Choreographischen die spezifische Korrespondenz beider Künste als raumschöpfende Künste in der Spannung zwischen Notation, Regel und deren Ausführung zu entfalten. So lassen sich die Korrespondenzen zwischen choreographischen und architektonischen Verfahren aus den je verschiedenen Perspektiven aber überhaupt nur dann zueinander in Bezug setzen, wenn offensiv ein anderer, auf die Interaktion und Relationalität gerichteter Begriff von Architektur eingesetzt wird. Die Interferenzen zwischen Architektur und Choreographie in ihrer Verklammerung in Bezug auf Interaktion zu denken, kann als Modell dienen, das es ermöglicht, Architektur jenseits 54 |  Alberto Perez-Gómez: »The Space of Architecture: Meaning as Presence and Representation«, in: Architecture and Urbanism, Juli 1994, Questions of Perception – Phenomenology of Architecture, hg. v. dems./Steven Holl/Juhani Pallasmaa, S. 43-60; als Beispiel nennt Perez-Gómez das Labyrinth des Daidalos und den Tanzplatz, auf dem die Bewegungsfigur des Labyrinths nachvollzogen wird. 55 |  Ebenso wie der Plan, die Skizze, der Aufriss, kann die gebaute Architektur selbst als latent in ihr angelegte Bewegungsvorschrift gelesen werden, die jedoch in der Ausführung wiederum neue Bewegungsmöglichkeiten entfaltet; vgl. Isa Wortelkamp: »Choreographien der Architektur: Bewegung schreiben, Wege lesen«, in: Kerstin Hausbei/Franck Hofmann/Nicolas Hube/Jens E. Sennewald (Hg.): transversale 2, Erfahrungsräume – Configurations de l’expérience, München: Fink, 2006, S. 174-181. Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie sich jene Prozesse zwischen leiblicher Raumerfahrung und semiotischer Sinnzuschreibung gegenseitig kontaminieren. 56 |  Rudolf von Laban: Choreutik. Grundlagen der Raumharmonielehre, Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 1991. 57 |  Vgl. Schwarte: 2009.

Einleitung des abgeschlossenen Werks – eher als eine Tätigkeit zu begreifen, die sich diskursiv und in Suchbewegungen entfaltet und Möglichkeitsräume eröffnet.

5 Prozesse des Entwerfens: Einen Bereich ins Unbekannte kartographieren Das Entwerfen dieser Möglichkeitsräume vollzieht sich in einem unabschließbaren Prozess, der die verschiedenen Arten des Planens, Erfindens, Konzipierens, Komponierens, des Projektieren, Zeichnens, Darstellens und der Transformation verbindet. Sie sollen hier jedoch nicht in der traditionellen, auf ein Werk hin ausgerichteten Linearität und Funktionalität einer Zweck-MittelRelation behandelt werden. Die Techniken und Werkzeuge des Entwerfens werden innerhalb eines beweglichen Gefüges betrachtet, das gerade in einer je spezifischen Konstellation von Körper, Raum und Bewegung erst erscheint. Zu fragen ist, welche Bedingungen die Mittel des Entwerfens selbst schaffen, welche Sichtbarkeiten sie generieren und wie diese durch den Einsatz der Techniken und Werkzeuge verändert werden, wie sie Objekt und Selbstverhältnis der Betrachtung beeinflussen.58 Inwiefern wird der Körper durch diese Techniken partialisiert, werden Sequenzierungen von Bewegungsabläufen notwendig und wie werden die einzelnen Teile in Bewegung versetzt? Dabei spielen spezifische körpertechnische Fähigkeiten ebenso eine Rolle wie imaginative Techniken und mnemotechnische Kapazität. Jedoch kann es hier nicht um die Entdeckung des künstlerischen Subjekts hinter dem Entwurf gehen, sind doch das Ungewisse, Unbekannte, das Nicht-Wissen oder gar das Nicht-Tun ebenso konstitutiv für den Prozess des Entwerfens.59 Das potentielle Vermögen eines Objekts/eines 58 |  Vgl.: Joseph Vogl: »Medien-Werden. Galileis Fernrohr«, in: Lorenz Engell/ders. (Hg.): Mediale Historiographien, Archiv für Mediengeschichte 1, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität, 2001, S. 115-123. 59 |  Ich beziehe mich in den folgenden Kapiteln dabei zum einen auf Publikationen, die im Kontext des Graduiertenkollegs »Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses« der Universität der Künste Berlin hervorgegangen sind, u.a. Gundel Mattenklott/Friedrich Weltzien: Entwerfen und Entwurf. Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses, Berlin: Reimer, 2003; Andreas Haus/Franck Hofmann/Änne Söll (Hg.): Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin: Reimer, 2000; Friedrich Weltzien/Amrei Volkmann (Hg.): Modelle künstlerischer Produktion, Berlin: Reimer, 2003; Karin Gludovatz/ Martin Peschken (Hg.): Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin: Reimer, 2004. Die medialen Dimensionen der Werkzeuge im Prozess des Entwerfens bearbeitete von 2010–2012 das Forschungskolleg »Werkzeuge des Entwerfens« am IKKM Weimar.

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Entwürfe und Gefüge Dings oder einer architektonischen Apparatur, wie sie in den Installationen Forsythes eine Rolle spielen, ist dabei ebenso zu berücksichtigen, wie die mögliche Schwächung einer klaren Positionierung des Subjekts.60 Die Übertragungen von einem (oft idealisierenden) Konzept in die Aktualisierung bedürfen der Versprachlichung, der Zeichnung und/oder des Modells. Diese dienen als Werkzeuge im Entwurf, als Medium, als (mimetisches) Präskript oder als Simulation; oftmals bedarf es gar nicht mehr der Verwirklichung im Werk, sondern die Entwürfe oder auch die Prozesse werden selbst zum Werk. So entfaltet beispielsweise die Zeichnung im Prozess des Zeichnens selbst Effekte der Mobilisierung, die den Raum des Blattes für Operationen, Korrekturen, Umdeutungen öffnet.61 Das Diagramm vermag Lagebeziehungen veränderlich darzustellen, Probleme zu zerlegen und auseinanderzusetzen. Im Zuge dieser komplexen, häufig widersprüchlich sich verhaltenden Verfahren kann es allerdings auch zu Brüchen kommen. Das Risiko des Entwurfs, abhängig von Zufällen und den Kontingenzen zwischen Regel und Ausführung im Improvisatorischen, enthält immer auch die Möglichkeit des Scheiterns.62 Das Verwerfen einer Idee ist jedoch zugleich auch schöpferische Denkbewegung, die Wirkungsprinzipien und Strukturen dieser Bewegungen sichtbar macht und das Entstehen neuer Muster befördert. In den choreographischen Arbeiten der Forsythe Company lässt sich der Begriff der Decreation nicht nur auf die einzelne, gleichnamige Produktion anwenden, sondern ist übertragbar auf weite Teile der Entwurfsprozesse. Hier ist es nicht ein schöpferisches Autor-(oder Tänzer-)Subjekt, das den Entwurfsprozess regiert – eher wird über Techniken der Entsubjektivierung der Körper in einem Oszillieren zwischen aktiven und passivem Handeln gehalten. Entfaltung von Bewegung wird hier über die Transformation verschiedenartiger Verhältnisse von Kinesphäre und Dynamosphäre,63 Kinesphäre und Atmosphäre hergestellt, die auch den Zuschauer in den Prozess des Entwerfens miteinbeziehen.

60 |  Vgl. Kap. 2; sowie Michael Lüthy/Christoph Menke (Hg.): Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Berlin/Zürich: diaphanes, 2006. 61 |  Vgl. Kap. 4; sowie Carolin Meister/Angela Lammert/Jan Philipp Frühsorge/Andreas Schalhorn (Hg.): Räume der Zeichnung, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2007. 62 |  Vgl. Brandstetter/Bormann/Matzke (Hg.): 2010. 63 |  Vgl. Laban: 1991; dazu genauer hier in Kapitel 1.3.

Einleitung

6 Material und Methode In der Betrachtung der Korrespondenzen zwischen Choreographie und Architektur wurde im Hinblick auf Forsythe bislang zumeist auf den Bezug zu Labans architektonisch inspiriertem Modell der Kinesphäre sowie auf die Architektur der Dekonstruktion, die dieses Modell erweitert, verschiebt und transformiert, verwiesen.64 Sie sind inbesondere für die frühen Arbeiten Forsythes von nicht unterschätzbarer Bedeutung. Jedoch setzt die vorliegende Arbeit im Anschluss an diese Betrachtungen einen anderen Fokus. Indem Architektur hier unter der Perspektive einer Topographie des Flüchtigen – und den Taktiken der Kartographie des Unbekannten – betrachtet wird, scheint es nur folgerichtig, entsprechende Verfahren in den Entwurfsprozessen aufzusuchen. Die vorliegende Studie widmet sich folglich, aufgrund der Ausrichtung, Architektur weniger als bloßes Bauwerk, sondern als Tätigkeit zu betrachten, die gerade jene Prozessformen in ihre Entwurfsverfahren integriert hat, jene Figuren der neueren Architektur-/Geschichte, die Architektur aus ihrem Rahmen des Statischen zu lösen versucht haben. Zwar wurde die Mobilisierung der Architektur bereits seit der Moderne mit den Futuristen ebenso wie mit Le Corbusier und anderen forciert, jedoch erhält diese Dynamisierung in den 1960er-Jahren und vor allem durch alternative Verfahren ihrer Darstellung eine andere Wendung. Fullers Idee der Ephemeralisierung, die Interventionen der Situationisten in den 1950er-Jahren sowie die Idee, Architektur von einer fixierenden Struktur und den starren Restriktionen, wie sie Le Corbusier und die Moderne über das Raster in die Planung eingeführt hatten, zu befreien, haben dazu beigetragen. Die Utopien der 1960er-Jahre bildeten dafür den Hintergrund: So sind gerade die Versuche, durch die Entgrenzung von Pop und gegenkulturellen Bewegungen die Gesellschaft von innen heraus zu verändern, den Rationalismus des Welt der Moderne zu überwinden,65 die Mittel, mit denen sie Bewegung und Kontexte wie Alltagsphänomene in den Entwurf integrieren. Was die Architekten verbindet, sind alternative Praktiken des Entwerfens, die sich von den rational-funktionalistischen Prinzipien der Moderne abgrenzen (– auch wenn sie teilweise fast zeitgleich arbeiten). Richard Buckminster Fuller ist neben den Entwicklungen der geodätischen Strukturen für seine Leichbaukuppeln vor allem für alternative Entwurfsweisen, für sein Denken zwischen den Wissenschaften und Künsten bekannt. Friedrich Kiesler, der sich in einem ebenso entgrenzten Feld zwischen Ausstellungsdesign, Möbelentwürfen und Theaterbauten bewegte, ist durch sein korre 64 |  Vgl. Baudoin/Gilpin: 2004. 65 |  Vgl. Lara Schrijver: Radical Games. Popping the Bubble of 1960s’ Architecture, Amsterdam: 010 Publishers, 2009.

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Entwürfe und Gefüge alistisches Denken und sein Endless House als Entgrenzungsfigur zwischen den Künsten zu betrachten. Ebenso wird Cedric Price, der mit seinen Ideen zum Fun Palace oder Potteries Thinkbelt utopische Gesellschaftsentwürfe im Rahmen zu gestaltender öffentlicher Gebäude vorlegte, herangezogen. Oder Bernard Tschumi, der das Feuerwerk als singuläres Ereignis der Architektur beschrieb und in seinen Manhattan Transcripts eine Art situationistischer dérive aus der Perspektive des Films als Bewegungskunst sowie einer Choreographie der Stadt entwarf. In all diesen Entwürfen wird das dynamische Potential der Architektur nicht lediglich auf der Ebene einer zunehmenden Mobilisierung beleuchtet, sondern als qualitative Eigenschaft erfahrbarer, verhandelbarer Räumlichkeit. Aktuelle Arbeiten von Nikolaus Hirsch, der sich als Architekt wiederum im Feld des Kuratorischen, oder Diller & Scofidio, die sich in der Entgrenzung zwischen Architektur und Kunst, Ausstellungsdesign und Intervention bewegen, stehen in dieser Tradition. Insbesondere die Koinzidenz bzw. die Gegenüberstellung von Rudolf von Labans Kinesphäre und Buckminster Fullers geodätischen Kuppeln nimmt hier eine wichtige Rolle ein und kann als Ausgangspubkt der Überlegungen zu dieser Arbeit verstanden werden. Indem Fuller Raum an sich als bedeutungslos bezeichnet und die Abhängigkeit der einzelnen Elemente und der Umgebung voneinander betont, entwickelt er ein Entwurfsdenken, welches das Relationale und Prozesshafte in den Mittelpunkt rückt. Damit stellt er auch die Verfahren des Entwerfens selbst infrage. Durch die Einbeziehung szenographischer Elemente in die Entwurfsverfahren wird das Genre der klassischen Entwurfszeichnung fundamental verändert. Die ihm nachfolgende Generation der 1960er-Jahre ist sich der instabilen Situation des Entwerfens und der notwendigen Flexibilität eines architektonischen Entwurfs ebenso bewusst. Non-Plan Strategien66 (oder in Großbritannien as-found) sowie die Einbeziehung pop-kultureller Phänoneme lösten den Entwurf aus der alleinigen Macht eines Architekten, die sich zunehmend in Kollektiven organisierten und Partizipation und gegenkulturelle Gesellschaftentwürfe favorisierten.67 Über Skizzen, Comics, Diagramme oder Textfragmente erweitern sie den Entwurf um zeitliche Parameter und lassen über das Nebeneinander verschiedener Möglichkeiten in ein und derselben Zeichnung unterschiedliche Bewe 66 |  Jonathan Hughes/Simon Sadler: Non-Plan. Essays on Freedom, Participation and Change in Modern Architecture and Urbanism, Oxford: Architectural Press, 2000; darin insbes. Simon Sadler: »Open Ends. The social visions of 1960s NonPlanning«, S. 138-154. 67 |  Das Scheitern dieser Utopien bzw. die Kritik an den Entwürfen ist notwendigerweise auch zu beachten, jedoch soll im Rahmen dieser Arbeit nicht die spezifische Entwicklung in den Blick genommen werden, sondern vielmehr die Verfahren und deren mediale Wirkung und Transformation.

Einleitung gungs- und Handlungsmuster aufscheinen.68 Dass mit diesen Präskripten auch eine andere Vorstellung gegenseitiger räumlicher Bedingtheit einhergeht, wird nicht nur in den diagrammatischen Zeichnungen von Price und Tschumi sichtbar. Diese diagrammatischen Relationen gehen über die Zeichnung hinaus und sind gerichtet auf potentielle Ereignisse innerhalb variabler, den jeweiligen Bedürfnissen anpassbarer Architekturen.69 Diese Entwurfsverfahren lassen sich durch das Konzept des Gefüges stützen. Sowohl das Diagramm als auch die Falte können als dynamische Gefüge die Bewegung in den Entwurf implementieren. Das Ineinanderwirken von Außen und Innen wird entsprechend mit Gilles Deleuzes topologischem Modell der Falte beschrieben.70 Wie auch das Diagramm zeichnet sich die Falte aus durch ihre Operationalität. Daher können beide als Modelle der Entfaltung von Bewegung äußere Parameter bzw. Kontexte in den Entwurf integrieren. Unter Bezugnahme auf die Falte als Modell veränderte das Computer Aided (Architectural) Design (CAD oder CAAD) in den 1990er-Jahren die Entwurfsverfahren fundamental. Zwar wurde der Prozess der Formgenerierung hierbei durchaus dynamisiert, und durch neue Entwicklungen in der Materialtechnologie wurde es möglich, die digital generierten, kurvilinearen Formen auch tatsächlich zu bauen. Dass diese Verfahren jenseits ihrer

68 |  Nicht umsonst ist es diese Generation der 1960er- und 1970er-Jahre, die der Phase der Dekonstruktion in der Architektur (wenn auch je nach Lesart der Architekturgeschichte nicht unmittelbar) vorausgeht. Die Mittel, mit denen die Architekten oder Gruppierungen, wie Archigram, Superstudio, Archizoom (in der Nachfolge des Team 10 um Alison and Peter Smithson, Peter Cook u.a.), Bewegung und Alltagsphänomene in den Entwurf integrieren, geschieht auf verschiedenen Ebenen, ein zentraler Aspekt liegt jedoch in der Einbeziehung pop-kultureller und alltäglicher Materialien, die den Symbol- und Zeichencharakter architektonischer Form betrifft. Hier müssen neben den europäischen Entwicklungen auch Denise Scott-Brown und Robert Venturi genannt werden, die mit Learning from Las Vegas (1970) die Aspekte der Konsumgesellschaft adressierten. Als eine signifikante Figur, die beide Phasen verbindet, kann Rem Koolhaas gelten, der seine collageartigen, frühen Entwürfe Exodus, or the Voluntary Prisoners of Architecture (1972) oder Delirious New York (1978) aus seiner Zeichenpraxis als Journalist und Drehbuchautor entwickelte; vgl.: Jeffrey Kipnis (Hg.): Perfect Acts of Architecture, Ausstellungskatalog des MoMA New York/Wexner Center for the Arts, Columbus, New York (NY): Abrams, 2001, S. 14-33. 69 |  Vgl. Petra Gehring/Thomas Keutner/Jörg F. Maas/Wolfgang Maria Uedig (Hg.): Diagrammatik und Philosophie. Akten des 1. interdisziplinären Kolloquiums der Forschergruppe Philosophische Diagrammatik, Amsterdam: Rodopi, 1992. 70 |  Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.

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Entwürfe und Gefüge Fluidität jedoch nicht automatisch mehr Anpassbarkeit an die Bedürfnisse der Nutzer mit sich brachten, blieb lange unbeachtet. So ist eine weitere Entwicklung zu beobachten, die sich auf anderer Ebene an die utopischen Entwürfe der 1960er-Jahre anschließen lässt: Parallel zu Entwicklungen des Partizipatorischen in den Künsten, wie sie in den 1960er-Jahren und erneut seit einiger Zeit auch im Ausstellungskontext oder im Theater wieder zu finden sind,71 wird Architektur als »Planung des Unvorhersehbaren«72 und als Ermöglichung von Gelegenheiten verstanden – und es werden vermehrt Gestaltungsmöglichkeiten an den Nutzer abgegeben. Weder die Strategien der 1960er-Jahre noch die zeitgenössischen, partizipativen Ansätze gehen von einem bestimmten Formbegriff oder einem rigiden Funktionalismus aus, sondern entwerfen Wege, Strukturen und Handlungsmöglichkeiten, die sich im Gebrauch jeweils abwandeln lassen. Fast alle angeführten Architekturen lösen sich in ihrer Werk-Struktur auf, sie verbleiben im Stadium der Theorie oder des Entwurfs, wie die Skizzen zu Tschumis Manhattan Transcripts oder Cedric Prices Fun Palace, oder sie verbleiben im Ausstellungskontext wie bei Nikolaus Hirsch bzw. im Kontext einer spielerischen, ephemeren Eventarchitektur (Elizabeth Diller & Ricardo Scofidio); sie experimentieren mit (künstlerischer) Intervention oder raumbildenden Körperpraktiken im öffentlichen Raum und ähneln oft eher der Performance oder dem Theater, sie spielen mit Charakteristika ortsspezifischer Kunst oder sie weisen wie bei Nikolaus Hirsch einen installativen Charakter auf. Bezeichnenderweise nähern sie sich mit diesen Praktiken oftmals den Verfahren der Stadtplanung, die solch performative, vormals unüblichen Praktiken zunehmend integriert.73 Dem möglichen Einwand, wie sich mit solchen ›utopischen‹, unverwirklichten Beispielen ein Konzept von Öffentlichkeit und Handlungsmacht diskutieren lassen soll, ist zu entgegnen, dass diese gerade in ihrem Modellcharakter eine besondere Potentialität für die Interaktion zwischen Performern, Objekten und Rezipienten darstellen; darüber hinaus haben diese Ansätze generative Wirkungen auf andere Projekte. 71 |  Vgl. Jane Rendell: Art and Architecture. A place between, London: Tauris, 2006; Nicholas Bourriaud: Ésthetique relationelle, Dijon: Les presses du réel, 2001. Zu einer ansatzweisen Kritik der partizipatorischen Ästhetik siehe Claire Bishop: »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: October Magazine 110, Herbst 2004, Cambridge (MA): MIT Press, S. 51-79. 72 |  Nikolaus Hirsch: »Die Planung des Unvorhersehbaren. Ein Dialog zwischen Nikolaus Hirsch und William Forsythe«, in: ders.: On Boundaries, New York (NY): Sternberg, 2007, S. 73-184. 73 |  ARCH+ 183, Mai 2007, Situativer Urbanismus. Zu einer beiläufigen Form des Sozialen, hg. v. Nikolaus Kuhnert/Anh-Lingh Ngo/Martin Luce/Carolin Kleist, Mai 2007.

Einleitung Die Beispiele wurden gewählt, um je Kapitel eine leitende Frage, die bestimmte Momente des Architektonischen im Choreographischen aufzeigt, in der Architektur/-Theorie selbst zu beleuchten. Inwiefern die Darstellungsweisen dieser architektonischen Entwürfe den Charakter des Choreographischen herausarbeiten, ist nicht nur in der jeweiligen Einbeziehung eines Kontextes, der Neuorientierung und Bewegung im Bezug auf kinästhetische Parameter interessant, sondern darüber hinaus auch für die konzeptionelle Ausrichtung einer Erweiterung dessen, was als Choreographie (– und was als Architektur) betrachtet werden kann. Dementsprechend haben die Architekturbeispiele innerhalb dieser Arbeit einen doppelten Status: Zum einen geht es um eine wechselseitige Erhellung von Architektur und Choreographie anhand je korrespondierender Fragestellungen, zum anderen wird ein Architekturbeispiel nicht nur als Material angeführt, sondern wird methodisch eingesetzt – nicht gleichwertig mit anderen, theoretischen Konzepten, doch soll das Beispiel, indem es einen spezifischen Aspekt offenlegt, die Übertragung eines choreographischen Denkens gewährleisten und dabei auch die traditionellen Eigenschaften des Architektonischen selbst infrage stellen und neu bewerten. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen Forsythes choreographische Arbeiten seit 2003: Decreation (2003), Three Atmospheric Studies (2006), Clouds after Cranach (2005), Human Writes (2005), Heterotopia (2006), You made me a Monster (2005) sowie die mit dem Bildhauer Peter Welz realisierten Projekte Whenever on on on nohow on/Airdrawing, (2004) und Retranslation/Final Unfinished Portrait (Francis Bacon) (2006), die choreographischen Installationen White Bouncy Castle (1997), Scattered Crowd (2002) und City of Abstracts (2000) sowie die mit dem Architekten Nikolaus Hirsch gemeinsam konzipierte Umgestaltung des Foyers im Bockenheimer Depot (2008). Da Forsythe Choreographie als unabgeschlossenen Arbeitsprozess begreift, und die Aufführungen (mehr oder weniger) als Unterbrechungen dieses Prozesses, erfahren seine Stücke im Laufe der Jahre vielfältige Umgestaltungen, die nicht nur in der Anpassung an den jeweiligen Aufführungsort bestehen. Aufgrund dessen gibt es auch nicht eine Aufzeichnung einer Aufführung, sondern jeweils vielfache Variationen des Materials. Dieser besonderen Flüchtigkeit und Verschiedenartigkeit des Choreographischen beizukommen, erfordert eine andere Art und Weise sich dem Material zu nähern und die ›Aufzeichnungen des Flüchtigen‹ in diesem Sinne ernst zu nehmen: Aus den üblichen Bewegungs- und Aufführungsanalysen, die sich für gewöhnlich auf die Video-Aufzeichnungen einer Choreographie stützen, wurde in diesem Fall eine recherche volatile, in der ich mich nur auf die Erinnerungen an meine mehrfachen Aufführungsbesuche sowie auf meine Aufzeichnungen und Notizen zu den Auf-

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Entwürfe und Gefüge führungen stütze. Diese stellen ebenso ein im Werden befindliches Konvolut dar, da sich Beobachtungen und Fragestellungen je nach Aufführung wieder verändern. Dies muss als Voraussetzung und Ausgangspunkt einer Arbeit gewendet werden, die sich mit Topographien des Flüchtigen auseinandersetzt, denn sie erfordert eine andere methodische Herangehensweise. Daher wird implizit auch der Fokus dieser Studie anders gewendet, denn sie thematisiert im Besonderen die sich stets entziehende Flüchtigkeit der Bewegung. Hier wird die Aufführung der Erinnerung überlassen, dem Akt der Transkription in andere Modi des Choreographischen. Die Annäherung über die verschiedenen Möglichkeiten der Rekonfiguration der Erinnerung ermöglicht es, eine andere, je spezifische Zugangsweise allererst zu kreieren. Den Tanz auf andere Weise wieder zu beleben, ist eine »Aufforderung an die Aufzeichnung«74, doch ist die Erinnerung wiederum gerahmt durch die je veränderlichen, spezifischen Fragestellungen des entwerfenden Schreibprozesses. Dabei ist die Perspektive auf das choreographische Entwerfen, die ich einnehme, eine gemischte: Zum einen versuche ich aus der Erfahrung der Aufführungsbesuche auf die Praxis des Entwerfens zu schließen, an der ich selbst als Zuschauerin großen Anteil habe, zum anderen greife ich zurück auf die Aussagen der Tänzerinnen und Tänzer zu ihren Arbeitsweisen,75 auf Interviews mit Forsythe selbst und auf Publikumsgespräche. Indem ich diese Ebenen zueinander in Bezug setzte, werde ich einzelne Passagen mit einer detaillierten Bewegungsanalyse beleuchten können, um sie dann gezielt unter den jeweils das Kapitel bestimmenden, theoretischen Fragestellungen zu betrachten. Dabei ist ebenso zu hinterfragen, inwiefern die Prozesse des Entwerfens in architektonischen und choreographischen Verfahren auch als Modi ästhetischer Erfahrung im Produktionsprozess selbst nutzbar gemacht werden. Und es ist zu zeigen, welche Produktionsverfahren, welche Theorien und Techniken auf welche Weise in der Erfahrung übertragen werden, mit welchen Schwierigkeiten, welchen medialen Verschiebungen die Übertragungen zwischen einem choreographischen und einem architektonischen Denken verlaufen. Jedoch geht es hier keinesfalls um eine Geschichte der Einflüsse, sondern darum, zu zeigen, welche Denkfiguren durch die verschiedenen Disziplinen und Zeitschnitte ›migrieren‹ und diese mithin entgrenzen.

74 |  Isa Wortelkamp: Sehen mit dem Stift in der Hand. Die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung, Freiburg im Breisgau: Rombach, 2006. 75 |  Insbesondere stütze ich mich hier auf die Arbeitsberichte der Tänzerinnen Dana Caspersen und Prue Lang in Siegmund: 2004; ebenso danke ich Elisabeth Waterhouse, Prue Lang und Nik Haffner für einzelne Gespräche.

Einleitung

7 Übersicht der Kapitel Unter dem Titel »Entfaltung von Bewegung« widmet sich das erste Kapitel Forsythes Improvisation Technologies als Grundlage seiner Bewegungssprache. Dazu wird auf die phänomenologischen Ansätze Edmund Husserls zurückgegriffen, dessen Begriff kinästhetischer Empfindung als zentral für ein Verständnis von Bewegung im Verhältnis zum Raum verstanden wird. Seine Idee der Ausdehnung des Leibes und der Intentionalität von Bewegung findet sich in veränderter Form wieder in Rudolf von Labans Raumharmonielehre. Dessen analytisches Raum-Modell der Kinesphäre und die sich aus ihm ergebenden Bewegungsmuster einer »lebendigen Architektur«76 werden als Voraussetzung für Forsythes Arbeiten analysiert. Von hier aus wird Buckminster Fullers Denken in Strukturen in den Blick genommen: Seine Suche nach den Mustern der Entfaltung von Bewegung – der Emergenz der Form – lässt sich, wie auch Labans Denken, auf die Kristallphilosophie zurückführen; die Verwandlung der fünf platonischen Körper in der Jitterbug-Formation dient ihm als Modell zur Entwicklung der geodätischen Strukturen und dem Tensegrity-(Zugspannungs-)Prinzip. Entfaltung von Bewegung gilt bei Fuller im dynamischen Ineinander von Innen und Außen als wichtigstes Moment der Konstruktion. Verbunden sind diese beiden Entwürfe durch die Denkfigur der Falte, die Innen und Außen – Kinesphäre und Dynamosphäre oder Atmosphäre – in ein dynamisches Verhältnis setzt bzw. bei Fuller ein Entwerfen in diesen Relationen eröffnet. In den 1990er-Jahren wird im Zuge der Entwicklung computergenerierter Entwurfsverfahren die Faltung im Rekurs auf Gilles Deleuzes Theorie der Falte wieder aufgegriffen, jedoch hier vielmehr als eine fluide Auflösung des Verhältnisses von Innen und Außen, die in einer vorwiegend formalästhetischen Übersetzung verstanden wird. Hingegen erfordert die topologische Relationierung, wie sie bei Deleuze als Bedingung des Faltens formuliert wird, eine spezifische Form von Körperlichkeit, die sich in raum-zeitlichen Prozessen, wie in den choreographischen Verfahren Forsythes aktualisiert. So werden die Improvisation Technologies erneut in den Blick genommen, um die grundlegenden Arbeitsweisen Forsythes und seine Erweiterung des Konzepts der Kinesphäre zu erläutern. Bestimmte choreographische Verfahren, basierend auf spezifischen Körpertechniken, können hier als Faltungen im generativen Sinne verstanden werden, sie eröffnen Möglichkeitsräume zwischen den Tänzern, bei denen das Verhältnis von Innen und Außen in seiner Komplexität entwickelt wird. Edmund Husserls Idee phänomenologischer Intentionalität (wie sie auch bei Rudolf von Laban zu finden ist) muss hier überdacht und mit Maurice

76 | Laban: 1991, S. 14.

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Entwürfe und Gefüge Merleau-Pontys Idee des Chiasmus und Bernhard Waldenfels’ Begriff der Responsivität ergänzt werden, die gerade in den Momenten der Dysfunktion und der fortwährend notwendigen Neuorientierung ein produktives Moment sehen. Das zweite Kapitel »Decreation – Prinzipien der Ent-Schöpfung« betrachtet Bewegung als Möglichkeit Zustände ›durch den Körper hindurch‹ zu generieren und hinterfragt Vorstellungen von subjektiver Kreativität im Prozess choreographischen Entwerfens. Untersucht wird, inwiefern das Modell der Kinesphäre als ein über die Körpergrenzen hinaus gehendes Spüren begriffen werden kann, das es ermöglicht, Impulse auch aus größerer Entfernung aufzunehmen und Szenarien des Austauschs zu entwerfen.77 Vor dem Hintergrund der sich seit den Avantgarden verändernden Produktionsverfahren sowie Entwurfs- und Kreativitätstheorien wird anhand von Forsythes gleichnamiger Choreographie und Simone Weils Theorie, auf die er dabei zurückgreift, ein Modell entwickelt, das nicht die Subjektposition eines einzelnen Autors ins Zentrum stellt, sondern über Taktiken der De-subjektivierung und Entleerung operiert, welche jedoch von solchen des Unterlassens oder Nicht-Tuns unterschieden werden.78 Forsythe und seine Tänzer entwerfen eine Praxis der ›Entschöpfung‹, die sie innerhalb verschiedener Körpertechniken nutzbar machen, die wiederum Zustände produzieren, welche die Körpergrenzen aufzulösen scheinen. Daran anschließend wird gefragt, in welcher Weise diese Zustände auch die Betrachter affizieren und inwieweit Choreograph, Tänzer und Zuschauer jeweils auf andere Art und Weise am Entwurfsprozess beteiligt sind. Das dritte Kapitel »Wolken: Medien der Übertragung flüchtiger Erfahrung« knüpft an die Überlegungen zur scheinbaren ›Durchlässigkeit‹ des Tänzerkörpers an und fragt nach der medialen Verfasstheit des Verhältnisses von Kinesphäre und Atmosphäre – danach, welche Übersetzungsproblematiken sich im Prozess des Entwerfens dynamischer Raumrelationen ergeben. Am Beispiel des Topos der Wolke und der Aufführungen von Three Atmospheric Studies und Clouds after Cranach wird gefragt, inwiefern das Atmosphärische als Medium der Übertragung gilt und damit nicht nur im leiblich-präsentischen Sinne von Böhme und Fischer-Lichte zu lesen ist, sondern vielmehr eine Beschreibung der minimalen, zwischen den medialen Ebenen operierenden Differenzen erfordert, die gerade in den Übertragungen und Überlagerungen die Wahrnehmung des Zuschauers herausfordern und ihn involvieren. Dies geschieht 77 |  Vgl. dazu: José Gil: »The Dancer’s Body«, in: Brian Massumi (Hg.): A Shock to Thought. Expression After Deleuze and Guattari, London/New York (NY): Routledge, 2002, S. 117-127. 78 |  Barbara Gronau/Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen, 2008.

Einleitung nicht nur mittels der Erzeugung von Präsenzeffekten, sondern ebenso auf der Ebene von Nachträglichkeit und Entzug. Am Beispiel der Forsythe’schen Arbeiten wird gezeigt, auf welche Weise sich in diesen Prozessen über ein nach innen gerichtetes Spüren und die nach außen gerichtete Aufmerksamkeit Kinesphäre und Atmosphäre verbinden lassen, wie Medialität als Störung in diesem Prozess produktiv hervortreten kann und die medialen Übertragungen als Indikator minimaler, kaum wahrnehmbarer Aufmerksamkeitsleistungen fungieren. Anhand von Diller & Scofidios Blur-Building (2002) wird der Diskurs des Atmosphärischen in der Architektur79 auf die medialen Dimensionen der Inszenierung der Wolke als immersive und flüchtige Inszenierung des Augenblicks sowie daraufhin befragt, inwieweit diese die Imagination des Rezipienten auf die Interferenzen des Medialen lenkt. Das vierte Kapitel »Verzeichnen und Verwischen der Spuren: Diagrammatische Relationen« beschreibt zunächst am Beispiel der Kooperationen Forsythes mit dem Bildhauer Peter Welz – Airdrawing/Whenever on on on nohow on und ReTranslation Final Unfinished Portrait (Bacon) – die Dynamiken des Zeichnens im Prozess des Entwerfens, erkundet das Potentielle der Linie im Verhältnis von concetto und disegno und untersucht deren diagrammatische Operationalität. Dabei ist die spezifische körperliche Disposition als Bedingung des Entwerfens jeweils mitzudenken. Wie entsteht Bewegung zwischen Konzept und Ausführung? Hier sind es nicht nur die definierenden, unterscheidenden Qualitäten der Linie, sondern ebenso die »Möglichkeiten der nicht-fixierenden Linie«80, die die Spannung zwischen Figuration und dem Verwischen der Spuren81 beleben. Diese Spannung zwischen Figurativem und Verwischtem findet sich auch in den Arbeiten des Malers Francis Bacon. Deleuzes Studie über Bacon führt hier den Begriff des Diagrammatischen ein, der sich auch am Beispiel der Installationen Forsythes als tragfähig erweist. In Beispielen architektonischer Entwürfe von Cedric Price und Bernard Tschumi, die alternative Modi in narrativer, relationaler Weise in den Entwurf integrieren und somit das Verhältnis von Architektur und Kontext entscheidend verändern, wird Architektur nicht mehr bestimmt durch ein monumentales oder skulpturales Moment, sondern vielmehr durch die choreographierten Handlungsabläufe, die in ihnen angelegt werden und auf die hin sie projiziert 79 |  Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995; ders.: Architektur und Atmosphäre, München: Fink, 2006. 80 |  Werner Busch: »Die Möglichkeiten der nicht-fixierenden Linie: Ein exemplarischer historischer Abriß«, in: ders./Oliver Jehle/Carolin Meister (Hg.): Randgänge der Zeichnung, München: Fink, 2007, S. 121-140. 81 |  Alexander Garcia Düttmann: »Das Verschwischen der Spuren«, in: ders.: Das Verwischen der Spuren, Berlin/Zürich: diaphanes, 2005, S. 57-68.

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Entwürfe und Gefüge werden, ohne dabei den Charakter des Offenen zu verlieren. Am Beispiel von Prices diagrammatischen Zeichnungen für den ungebauten Fun Palace sowie Tschumis Manhattan Transcripts und den Advertissements for Architecture wird eine ›Methode‹ der Aufzeichnung von Ereignissen beschrieben, die sich choreographischer und filmischer Notationen bedienen und über diagrammatische Verhältnisbestimmungen Möglichkeitsszenarien entwerfen, ihre eigentliche Operationalität jedoch jenseits der Zeichnung entfalten. Der abschließende Teil beschreibt den Prozess von der Notation zur Organisation des Raumes. Mit der choreographischen Installation Human Writes wird noch einmal der Blick auf das Verwischen des vorgeschriebenen Gesetzestextes82 und dessen materiale Qualitäten gerichtet. Der Akzent liegt hierbei jedoch auf dem Akt des Schreibens eines Gesetzestextes und seiner Verfehlungen, die sich im Austausch mit den Zuschauern ergeben, die zu Akteuren der choreographischen Installation werden. Es wird gefragt, inwieweit auch die nicht-trainierten Körper, deren kommunikative Aspekte bislang über die Sensibilisierung der Tänzer beschrieben wurden, gestatten, jene diagrammatische Struktur mitzudenken, die sich hier als Ermöglichung eines Verhandlungsortes erweist. Das fünfte und abschließende Kapitel »Installationen choreographieren. Zur Handlungsmacht des choreographischen Objekts und zur Organisation des Raumes« fragt anhand der choreographischen Installationen Forsythes nach den Herausforderungen eines zu entwerfenden Verhandlungsraumes und untersucht Ansätze partizipatorischer Entwürfe und Modelle des Öffentlichen in der Architektur. Am Beispiel von Forsythes Heterotopia wird erkundet, wie diese spezifische heterotopische Qualität ›hergestellt‹ wird und welche spezifische Ein-Richtung eines Raumes durch choreographische Praxis möglich wird: Die Aufteilung des Raumes in Zuschauerraum und Szene wird in dieser wie auch in anderen installativen Arbeiten aufgelöst zugunsten eines Ineinander, welches dem Betrachter verschiedene neue Rollen zuweist. Als potentiell Handelnder ist er an den einzelnen Akten der Raumkonstitution beteiligt. Dabei entwickeln auch die Objekte oder architektonischen Elemente eine spezifische Handlungsmacht, welche das Gefüge stetig verändert. Am Beispiel zweier choreographischer Installationen im öffentlichen Raum (White Bouncy Castle, City of Abstracts) wird gefragt, wie sich diese auf einen gemeinschaftlich zu konstituierenden Verhandlungsraum öffnen lassen. Die Arbeiten mit und von Nikolaus Hirsch schließlich zeigen, inwiefern Architektur ›jenseits der Architektur‹ einen spezifischen Modellcharakter annimmt, und das ›Architektonische‹ in der Übertragung auf andere Felder Offenheit und Anpassbarkeit eröffnet.

82 |  Es handelt sich bei Human Writes um die Nachschrift der Charta der Menschenrechte.

Einleitung Im Zuge der Arbeit werden Entwurfsverfahren vorgestellt, die Momente der Unbestimmtheit und Desorientierung einschließen; sie charakterisieren Handlungen als singulär, vielgestaltig und können sich gegenüber vorgezeichneten Spuren, Gebrauchsweisen und Codes als resistent und subversiv gestalterisch erweisen. Als Prozesse der Aneignung und Transformation stellen sie schließlich eine Verhandelbarkeit erst her, in welcher die jeweiligen Rahmungen potentieller Öffentlichkeit unter choreographisch-architektonischen Gesichtspunkten diskutiert werden können.

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Kapitel 1 Entfaltung von Bewegung 1 Körper-Extensionen – Körper-Relationen 1.1 Zur Erweiterung der Kinesphäre als Interaktions-Modell im relationalen Raum »In his dancers he looks for the ability to coordinate in highly complex ways, creating folding relational chains of impetus and residual response, using isolation and extreme articulation of head, neck, hips, torso and limbs. When I work with new people, I find that I end up working most on developing in them authentic residual response, which means allowing the rest of the body to respond in an accurate way, i.e. with physical mechanics that are functional and not extraneous, to the impetus of one point. These initiations and reactions within the body are simultaneous and inextricably linked. The body is a continuum, like a body of water; all parts are continuously alive to the others.«1

Die Art und Weise wie Dana Caspersen, Tänzerin der Forsythe Company und des früheren Ballett Frankfurt, seit 1988 die methodischen Ansätze und Herangehensweisen ihres Trainings beschreibt, verdeutlicht, dass nur ein spezifisch trainierter Körper in der Lage ist, innerhalb des Tanzens auf eine dem anderen Tänzer angemessene und gleichzeitig doch auch der eigenen Bewegungsart entsprechenden Weise zu reagieren, und dabei eigene und fremde Bewegungen zu koordinieren. Darüber hinaus wird deutlich, wie wichtig das Bewusstsein von Relationalität der einzelnen Körperteile zueinander und die Aufmerksamkeit gegenüber den anderen Tänzern und ihres Umraums – ihrer Kinesphäre – ist. Diese Fähigkeiten und Techniken lassen sich auf Überlegungen zurückführen, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Rudolf von Laban entwickelt wurden. Sein Modell der Kinesphäre beruht auf der Interdependenz von Bewe-

1 |  Dana Caspersen: »The Company at Work. How they train, rehearse, and invent. The Methodologies of William Forsythe«, in: ballettanz, Jahrbuch 2004, Forsythe. Bill’s Universe, S. 26-33, hier S. 26 [Hervorhebung KM].

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Entwürfe und Gefüge gung und Raum. Seine Choreutik2 – die Raumharmonielehre – bildet die Grundlage für ein analytisches Konzept von Choreographie, auf das sich William Forsythe explizit bezieht und in dem es um die genaue Segmentierung und Relationierung von Körperteilen und Bewegung als Grundlage für den choreographischen Prozess geht. Die Entfaltung von Bewegung im Raum, ausgehend vom menschlichen Körper, eröffnet einen vielfältigen Möglichkeitsraum; das Modell der Kinesphäre kann, so die These, als Grundlage einer choreographischimprovisatorischen Interaktion zwischen den Tänzern und Zuschauern begriffen werden. Um Labans Ansätze sowohl historisch als auch theoretisch einzuordnen und auf andere Perspektiven hin zu öffnen, soll ihnen im Folgenden Edmund Husserls phänomenologischer Ansatz kinästhetischer Empfindung an die Seite gestellt werden. Als Begründer der Phänomenologie thematisiert Husserl als einer der ersten die »Einlegung der Bewegungsempfindungen in den Leib«3 und versucht damit unter anderem bis dahin geltende Raumvorstellungen zu relativieren. Diese beruhen auf einer Vorstellung vom Raum als Behälter sowie auf Euklidik und Zentralperspektive, welche sich weitgehend auf die visuelle Erfassung und Objektivierung beschränken. Die kinästhetische Empfindung kann insofern als wichtiger Ausgangspunkt für die Überlegungen zur Entfaltung von Bewegung gelten, da sie die Ausdehnung des Leibes erfasst, Lage- und Bewegungsempfindung in Relation setzt und visuelle mit taktilen Empfindungen verknüpft. Mithin beschreibt sie eine Verschränkung topographischer mit topologischen Figuren, die relationale Räumlichkeiten bestimmen. Über Husserls Einführung des Horizontbegriffes können darüber hinaus folgende Fragen genauer konturiert werden: Was bedeutet es, wenn die kinästhetische Empfindung als Teil des Erkenntnisprozesses und als konstitutiv für ästhetische Erfahrung betrachtet wird? Und was hieße es, wenn sie somit auch im choreographischen Prozess als wirksamer Faktor eingesetzt werden könnte? Welche Bedeutung hat zudem die kinästhetische Raumkonstitution für choreographische und architektonische Entwurfsweisen? Der phänomenologische Ansatz Husserls soll im Rückblick auf die Einfühlungsphilosophie, wie sie sich in der Architekturtheorie des ausgehenden 19. Jahrhunderts bei August Schmarsow und Heinrich Wölfflin niederschlägt, in der Folge genauer untersucht werden. Jene definieren Architektur als raumschöpfende Kunst, beschreiben sie von der Bewegung, vom Körper und von der Psyche des Rezipienten her und konzeptualisieren sie in einem Resonanzverhältnis von menschlichem Körper und Baukörper. Architektur und Choreo-graphie 2 |  Rudolf von Laban: Choreutik. Grundlagen der Raumharmonielehre des Tanzes, Wilhelmshaven: Noetzel, 1991. 3 |  Siehe insbes. dazu Edmund Husserl: Ding und Raum: Vorlesungen 1907, hg. v. Karl-Heinz Hahnengress und Smail Rapic, Hamburg: Meiner, 1991, S. 161.

Entfaltung von Bewegung können unter diesen Gesichtpunkten zusammengedacht werden, als Raumschreiben, als Vorzeichnung von Bewegung im Raum.4 So kann eine Betrachtung, die Raumkunst vom phänomenologischen Leibempfinden angeht, zwar atmosphärische Erfahrungsräume beschreiben, vernachlässigt dabei jedoch die Defizite phänomenologischer Theoriebildung, wie historische, soziologische, zeichen- und symboltheoretische Deutungen des Raumes. Eine Dynamisierung der (relativ) statischen Architektur kann aber auch aus der Perspektive der struktiven Tektonik angegangen werden. Dies wird am Beispiel der Entwurfsweisen Richard Buckminster Fullers gezeigt, der wie Laban die Entfaltung von Bewegung erprobt: Laban am menschlichen Körper, Fuller seinerseits mit geodätischen Körpern. Beiden geht es um die Erforschung von Bewegungsmustern, Spannungsgesetzen, energetischen Ereignismustern, darum wie innen und außen in ein dynamisches Gleichgewicht gebracht werden können. Fuller setzt dabei ebenfalls relationale Parameter ins Zentrum seiner Überlegungen: Architektur wird bei ihm als oikos, als sich bedingendes Gefüge verschiedener Elemente konzipiert, die von den Beziehungen einzelner Körper bis hin zu komplexen Strukturen reichen und die das gesamte Gefüge von Mensch und Umwelt betreffen. Das Ineinanderdenken von Außen und Innen, welches diesen Überlegungen zugrunde liegt, wird sodann am Modell der Falte, wie es bei Gilles Deleuze entwickelt wird,5 weiterverfolgt. Deleuze expliziert, wie über die Faltung als raum-zeitliches Ereignismuster eine Aktualisierung des Virtuellen ermöglicht wird und damit der Raum als Möglichkeit mannigfaltiger Operationen erscheint. Dabei sind die Einfaltungen des Außen ins Innere auch auf physiologischer Ebene zu verstehen: Die zu konturierenden Defizite phänomenologischer Theoriebildung und die Kritik an der Intentionalität bei Husserl lassen sich mit dem Konzept des »Eingefaltet-Seins in die Welt«, das sowohl bei Maurice Merleau-Ponty als auch bei Deleuze zum Ausgangspunkt für die Interaktion mit ihr wird, ergänzen.6 Die Impulse, die dem Subjekt von außen widerfahren, ohne seiner Verfügungsgewalt zu unterliegen, werden hier in einem Austauschverhältnis gedacht und sind für die Betrachtung einer nicht-intentionalen Bewegung nutzbar. Jene Interaktionen aus dem Bewusstsein der Kinesphäre und den analytischen Kapazitäten eines choreographischen tools, das eine raumzeit 4 |  Vgl. Isa Wortelkamp: »Choreographien der Architektur: Bewegung schreiben. Wege lesen«, in: Kerstin Hausbei/Franck Hofmann/Nicolas Hubé/Jens E. Sennewald (Hg.): Transversale 2: Erfahrungsräume – Configurations de l’expérience, München: Fink, 2006, S. 174-181. 5 |  Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000. 6 |  Vgl. Kerstin Andermann: Spielräume der Erfahrung. Kritik der transzendentalen Konstitution bei Merleau-Ponty, Deleuze und Schmitz, München: Fink, 2007.

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Entwürfe und Gefüge liche Improvisation erlaubt, werden schließlich am Beispiel der Forsythe’schen Improvisation Technologies, die eine Grundlage seiner choreographischen Arbeit bilden, genauer zu untersuchen sein. Wenn im Folgenden Husserl, Merleau-Ponty, Laban und Fuller in Beziehung zueinander gesetzt und Korrespondenzen zwischen ihnen aufgezeigt werden, geht es hier jedoch keinesfalls darum, eine Geschichte der Einflüsse zu beschreiben, sondern darum zu zeigen, welche Denkfiguren und Entwurfsweisen durch die theoretischen Ansätze in Tanz und Architektur migrieren, welche Verfahren von einer zur anderen Kunstform übertragen werden und mit welchen Gewinnen und Verlusten dies verbunden ist. Was geschieht beispielsweise, wenn die Denkfigur der Faltung und Entfaltung von der Philosophie in die Verfahren architektonischer Praxis transferiert wird; oder welche Akzentverschiebungen ergeben sich in der Übertragung eines analytischen tools von Laban zu Forsythe? Es ergibt sich zunächst daraus, dass der diachrone Vergleich nicht a-historisch verfahren muss; d.h. ähnliche Ansätze tauchen zwar in verschiedenen Zeitabschnitten und anderen Kontexten auf, jedoch nicht in gleichen Konfigurationen, sondern sie verändern sich entsprechend den jeweiligen historischen und medialen Konstellationen.

1.2 Forsythes Improvisation Technologies: Körperbilder im Prozess Im Rückgriff auf das einleitende Zitat von Dana Caspersen möchte ich nun genauer auf die dort angelegten Fragestellungen nach den Bewegungstechniken eingehen. Welche Bedeutung hat etwa ein räumliches Denken, das die kinästhetischen Empfindungen als zentral für ein choreographisches Denken begreift? Mittels welcher Akzentverschiebungen kann es als »lebendige Architektur«7 oder als »Architecture of Disappearance«8 beschrieben werden? Und in welchem Sinne wird hier Bewegung ent-faltet? Die 1994 von Forsythe am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe entwickelten Improvisation Technologies stellen sowohl eine Art ›Gedächtnis‹ dar als auch eine Schulung für die neu zur Company stoßenden Tänzer. Hierin werden über den direkten Umraum des Tänzers hinaus durch Tanz im Raum erzeugte oder auch nur imaginierte Bewegungslinien mit 7 |  Laban: 1991, S. 14. 8 |  Vgl. Patricia Baudoin/Heidi Gilpin: »Vervielfältigung und perfektes Durcheinander: William Forsythe und die Architektur des Verschwindens«, in: Gerald Siegmund (Hg.): Denken in Bewegung. William Forsythe und das Ballett Frankfurt, Berlin: Henschel, 2004, S. 117-124 (im Original: »Proliferation and Perfect Disorder. William Forsythe and the Architecture of Disappearance«, in: Intendanz Ballett Frankfurt (Hg.): Parallax. Programmheft, 1989, S. 9-23).

Entfaltung von Bewegung hilfe digitaler Technik dargestellt. Die CD-Rom der Improvisation Technologies9 zeigt zudem Forsythes Arbeit Solo und erläutert in vier ausführlicheren Kapiteln Techniken, die Bewegung generieren und welche unter den Stichworten lines, writing, reorganizing and additions subsummiert werden. Dazu kann man die erläuterten Bewegungen jeweils auch exemplarisch aus Eidos:Telos, einer zeitnah entstandenen Choreographie, anschauen, was jedoch, wie der Titel es bereits sagt, ein »analytisches Auge« verlangt, ohne das die jeweilige Aneignung der Verfahren in den einzelnen Szenen nicht immer leicht wiederzuerkennen ist.

Abb. 1.1: William Forsythe: Improvisation Technologies, ZKM 1994.

Im Kapitel lines findet sich zunächst eine Beschreibung und Darstellung, wie die Verbindung zwischen zwei Körperpunkten geschaffen wird: point point line zeigt beispielsweise, wie aus der gedachten Verbindung zwischen zwei Körperpunkten eine Linie wird, die unterschiedlich bewegt werden kann: imagining lines (Abb. 1.1). Das Unterkapitel folding erläutert daraufhin: »You can also extend this section« (während Forsythe auf die Länge seines Oberarms zeigt) »by folding« (und den Unteram nach unten klappt), »folding is a very easy way to extend a line.« Diese wie alle weiteren Operationen können ebenso mit anderen Körperteilen ausgeführt werden. Fortgeführt und erweitert wird diese Operation z.B. durch bridging – den Transfer dieser Linie in ein anders Körperteil – »between my connecting points establishing a new line.« Andere Bewegungen werden dadurch generiert, dass man versucht, einen bestimmten Raumkörper, der zuvor durch Bewegung ›vorgestellt‹ und umschrieben wird, in der anschlie 9 |  William Forsythe/Chris Ziegler: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance-Eye, CD-Rom, hg. v. ZKM Karlsruhe und Deutsches Tanzarchiv Köln, 1999.

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Entwürfe und Gefüge ßenden Bewegung zu vermeiden sucht: avoidance, rotation inscription, u-ing and o-ing oder room writing markieren weitere Operationen. Mit dem Kapitel reorganizing wird die spatial orientation angesprochen, womit sowohl die spezifische Raumorientierung als auch die jeweilige Re-Orientierung gemeint ist, der Tänzer kann durch spatial compression oder amplification eine Weitung oder Engung der Kinesphäre bewirken. Kapitel wie projection und cz with trajectory zeigen, wie bestimmte Körperteile imaginiert oder dekonstruiert werden können, und verweisen auf die ansatzweise Auflösung anatomischer Repräsentation. Die Improvisation Technologies stellen für Forsythe eine Methode innerhalb fester Regeln dar.10 Es geht um den Moment, welcher der Erfindung einer Bewegung vorausgeht, sowie darum, wie man Improvisation analysieren kann während man tanzt. Wie lässt sich beschreiben, was man macht bzw. gerade gemacht hat? Forsythe spürt damit dem Zusammenhang von Wahrnehmung, Denken, Sprache und Handeln nach, der für ein choreographisches Entwerfen von zentraler Bedeutung ist. Wie kann ich eine komplizierte Tanzbewegung vermittelbar machen und damit gleichzeitig dem immer noch gängigen Vorurteil widersprechen, Bewegung sei lediglich eine Sache des Körpers? In dieser Hinsicht spielt das Verhältnis von imaginären und wirklichen Raummodellen insofern eine wesentliche Rolle, als es sich hier um eine Vermittlung von Vorstellungsbildern handelt, die ins Verhältnis zu den Vorstellungen anderer gesetzt werden oder sich als Synthetisierung im zeitlichen Vollzug etablieren sollen. Wie Kerstin Evert in ihrer Studie DanceLab ausführlich dargelegt hat,11 wird diese Form der Bewegungsgenerierung in den Stücken verknüpft mit einem System der Einbeziehung verschiedener, kombinierbarer Regelsysteme zur Komplexitätssteigerung innerhalb eines Konzeptes des sich im Moment generierenden Aufführungstextes. Schnelligkeit und Reaktionsvermögen der Tänzer sind dabei essentiell und können nur durch ein intensives Training dieser Techniken erlangt werden:

10 |  Damit verortet er sich innerhalb eines Verständnisses von Improvisation im Tanz, das im besonderen seit der frühen Avantgarde um die Jahrhundertwende vielfältige Ansätze hervorgebracht hat. Entgegen der Regel- oder score-basierten Improvisation, wie sie sich vor allem mit der Entgrenzung der Künste parallel zu den Entwicklungen der Judson-Church in den 1960er-Jahren herausbildet, steht ein Verständnis von ›freier‹ Improvisation, die auf ein Ursprüngliches, im Körper Verborgenes zielt, und die im Ausdruckstanz sowie in damals entstehenden therapeutischen Ansätzen fokussiert wurden und heute noch werden. 11 |  Kerstin Evert: DanceLab. Zeitgenössischer Tanz und Neue Technologien, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003.

Entfaltung von Bewegung »We developed the notion of kinetic isometries where the dancers tried to register an exterior and an interior refraction of movement in their bodies, and proceed according to the ›reading‹ that they achieved of their own states. Suddenly mental agility had to be equal to physical agility and this was really important.«12

Durch diese schnelle Umsetzung und Übertragungsleistung von innerer und äußerer Brechung von Bewegungen entstehen Bilder von Körpern an der Grenze zur scheinbaren Instabilität, die den Augenblick des drohenden Zusammenbruchs oder des Scheiterns einer Bewegung fokussieren, aber tatsächlich auf der hochgradig ausgeprägten Virtuosität der Tänzer beruhen. Was aber beinhaltet diese Virtuosität genau und wie ist sie zu erreichen? Es kann sich nicht nur um die besondere Leichtigkeit der komplexen Bewegung eines trainierten Körpers handeln, sondern um den spezifischen Umgang mit einem bestimmten Vokabular, die Fähigkeit, Momente des in-between herbeizuführen. Die Herausforderung für die Tänzer liegt bereits in der Entwicklung solcher Momente der Unsicherheit – in der Improvisation miteinander. Denn Forsythe geht es nicht darum, einen spezifisch geformten, sondern einen in dynamischer Vielfalt re-/ agierenden Körper herauszubilden. Deshalb werden im Training verschiedene Methoden erarbeitet, um die Selbstwahrnehmung des Körpers sowie seine Fähigkeit, auf andere zu reagieren, zu steigern. Es geht darum, »Situationen herzustellen, in denen es unmöglich ist, den Körper in gewohnter instinktiver Weise zu koordinieren.«13 Innerhalb dieser Situationen wird nicht nur ein bestimmter relationaler Raum geschaffen, sondern explizit eine der Situation gemäßen ›Architektur‹, die sich sowohl durch die körperliche Erfahrbarkeit auszeichnet als auch zugleich über sich hinaus verweist. Die ephemeren imaginären Architekturen, mit denen Forsythes Tänzer arbeiten14 – z.B. mit Vorstellungsbildern, die Bezug nehmen auf die eigenen vorangegangenen Bewegungen –, werden realiter zu einer »Architektur des Verschwindens«15, in der die nächste Bewegung immer schon vergangen ist. 12 |  William Forsythe im Interview mit Roslyn Sulcas, 1995, zitiert in: Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jerôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript, 2006, S. 263. 13 |  Dana Caspersen: »Der Körper denkt: Form, Sehen, Disziplin und Tanzen«, in: Siegmund (Hg.): 2004, S. 107-116. Caspersen bezieht sich hier zwar auf spätere Arbeitsweisen, das Zitat trifft jedoch m.E. auch hier bereits zu. 14 |  Vgl. dazu: Kirsten Maar: »Imaginäre und improvisatorische Raumkonzepte bei William Forsythe. Korrespondenzen zwischen Entwurfskonzepten in Tanz und Architektur«, in: Annette Geiger/Stefanie Hennecke/Christin Kempf (Hg.): Imaginäre Architekturen. Raum und Stadt als Vorstellung, Berlin: Reimer, 2005, S. 219-235. 15 |  Vgl. Baudoin/Gilpin: 2004.

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Entwürfe und Gefüge Als Regelwerk, demnach Bewegungen ›entworfen‹ werden, stellen die Improvisation Technologies einen Rahmen bewegungsgenerierender Prinzipien her und machen damit gleichzeitig auf die Möglichkeiten der Überschreitungen eines solchermaßen gesetzten Rahmens aufmerksam, darauf, was innerhalb eines bestimmten Systems nicht mitbedacht wird. Entwerfen kann daher auch als Spurenlesen verstanden werden, insofern man die Reversibilität jener vielfältigen Prozesse des Ent- und Verwerfens sowie der Neu-/Anordnung mitdenkt. Die Praktiken des Lesens, des Entzifferns von Bewegung ermöglichen wiederum das probeweise Zusammensetzen, Verwerfen und Neukonfigurieren von Bewegungsmaterial, welche ihre erkenntniskritische Produktivität erst im Austausch entfalten. Innerhalb dieser Prozesse sind die engen Verbindungen zwischen Körper, Techniken und Medien stets präsent, wenn sie auch für den Betrachter oft schwer lesbar sind. So hinterlassen verschiedene Tanztechniken und Trainingsweisen Spuren im Körper und verändern ihn mit der Zeit. Darin wird aber gerade auch die Notwendigkeit einer engen Verzahnung von phänomenologischem Ansatz und medientheoretischer Reflexion deutlich. Denn zwar sind die Improvisation Technologies, wie auch andere Tanztechniken und Verfahren, ausgehend von einem phänomenologischen Spüren des Innen und Außen her konzipiert, jedoch sind diese in Bildern gefasst, die auf eine andere Vermitteltheit schließen lassen, die Darstellungsweisen der Architektur integrieren. In den Improvisation Technologies wird veranschaulicht, dass Entwerfen ohne Körpererfahrung unmöglich ist: Der Körper erscheint als ein »zweiblättriges Wesen [...], auf der einen Seite ist er Ding unter Dingen, und auf der anderen sieht und berührt er sie.«16 Dieser »Doppelbezug des Leibes«, sein »Zur-WeltSein« ist wesentlich für ein Entwerfen, das Bezüge zur Welt, deren Wahrnehmung sowie ein Handeln in ihr ermöglicht. Der Körper/Leib wird hier als eine ständig oszillierende Differenz gedacht, was ihm eine produktive Unbestimmtheit verschafft, die am Ende dieses Kapitels sowie in Kapitel 2 näher diskutiert wird. Für die verschiedenen Konzepte und Denkmodelle, die sich mit den Bewegungen des Körpers und ihrer Beziehung zur Architektur auseinandersetzen, spielen aber auch die Bilder des Körpers und deren Inszenierungen eine wichtige Rolle. Nun sind dies auf der einen Seite Bilder, die auf der Leiblichkeit des Körpers und seiner Schwere beruhen, eines Körpers, der sich (allein schon aus physikalischen Gründen) weiterhin an den Maßstäben der euklidischen Geometrie und der Zentralperspektive orientieren muss, der den Raum visuell vermisst, bevor er in ihm operiert und daraus seine Sicherheit bezieht, mit der er 16 |  Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, hg. v. Claude Lefort, übers. v. Regula Guiliani und Bernhard Waldenfels, München: Fink, 21994, S. 275.

Entfaltung von Bewegung sich bewegt. Auf der anderen Seite lässt sich dem ein Körperbild gegenüberstellen, das einerseits durch die Prägung des Balletts mit einem antigraven Körper arbeitet, andererseits durch die Imagination eines Körperdoubles, einen ›leichten‹, virtuellen Doppelkörper als Respondenzfolie entwirft (vgl. Kap. 2.1). Dieses dichotomische Verhältnis von Statik und Dynamik, Leichtigkeit und Schwere sowie die Implikationen, die sich daraus ergeben – wie fest und fluid, Sicherheit und Unsicherheit, Schwindel und Balance –, sollen im Folgenden relativiert werden. Durch ein spezielles Training wird die Sensibilisierung und ›Durchlässigkeit‹ des Körpers (der Tänzer/Akteure/Performer) erhöht, sodass die Destabilisierung habitueller Relationen erprobt werden kann als ein Spiel mit dem Verlust der Positionalität. So bietet insbesondere der Tanz die Möglichkeit, Raumverhältnisse anders, in der Reflektion auf das Kinästhetische zu erfahren, und sie darüber zu verändern. Es ist dabei offensichtlich, dass Tanzen spezifische imaginäre Leistungen erfordert. Doch die imaginäre Bewegung ist dabei ebenso wie der reale Tanz immer an bestimmte Raummodelle gebunden. In einer vornehmlich visuell geprägten Kultur, die durch Zentralperspektive und Euklidik bestimmt ist, wäre es jedoch für die Entwicklung von neuem Bewegungsmaterial notwendig, gerade dieses Modell infrage zu stellen, d.h. dem klassischen Ballett als Sinnbild eines räumlich angeordneten, repräsentativen Wissens den experimentellen Umgang damit gegenüberzustellen. Das Ballett geht traditionellerweise von einem Raum aus, in dem der klassische Tänzer den Grund durch das compartimento di terreno17 vermisst. Dies beinhaltet ein Verständnis des Raumes als imaginärem Behälter, in dem die Dinge ihre Ordnung finden und den der Tänzer gewissermaßen von außerhalb, von oben, d.h. kartographisch betrachtet und mithilfe von Linien und Rastern zergliedert. Gleichzeitig beruht diese Art, den Raum zu denken, auf einem letztlich statischen Denken, das durch vornehmlich visuelle Kriterien, vor allem aufgrund der Zentralperspektive und ihrer Implikationen entwickelt wurde – und das die Zeit bzw. Zeitlichkeit nicht miteinbezieht. Um einen geglätteten, ebenen Untergrund zu erlangen, auf dem die Tänzer sich mit Sicherheit bewegen und auf dem ihre Virtuosität in Erscheinung treten kann, muss nicht nur der Grund, sondern ein ganzes kulturelles System geschaffen werden, müssen die Parameter für eine bestimmte Konzeption von Kunst abgesteckt werden. Was aber geschähe, wenn diese Sicherheit des vermessenen Grundes teilweise aufgegeben werden würde? Denn auch mit dem ungeraden, sich verändernden oder 17 |  Domenico da Piacenza: De arte saltandi et choreas ducendi. Tanztraktat aus dem 16. Jahrhundert, zitiert in: Gabriele Brandstetter »Choreographie als Grabmal. Das Gedächtnis von Bewegung«, in: dies./Hortensia Völckers (Hg.): Remembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung, Ostfildern-Ruit: Hatje-Cantz, 2000, S. 102-134, hier S. 110.

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Entwürfe und Gefüge schwankenden Grund lässt sich am besten umgehen, indem man sich bewegt. Und auch auf festem Grund ergeben sich durch die Bewegung ständig wechselnde Perspektiven, verbunden mit verschiedenen Haltungen und ihren energetischen Zuständen (vgl. sowohl Husserl KU als auch Laban CH). Was geschieht beispielsweise, wenn der Raum ganz wesentlich verzeitlicht, durch Bewegung und Rhythmus erfahren wird? Dazu muss zumindest ansatzweise ein anderes Verständnis von unserem Verhältnis zum Raum entwickelt werden. In dieser Hinsicht bietet das phänomenologische Denken Husserls einen Ansatz: Bezüglich der Raumorientierung hieße das nämlich, sich beispielsweise auf Fähigkeiten, wie die Relationierung von Lage- und Bewegungsempfindung einerseits und die Eigen-Innenwahrnehmung andererseits, als einem selbstreferentiellen, nicht nach außen gerichteten Sinn (wie es der visuelle Sinn ist), zu konzentrieren, und diese sodann in Bezug zum Außen zu setzen.

2 Empfinden, Erfahren, Erkennen 2.1 Zur Bedeutung kinästhetischer Empfindung bei Edmund Husserl »Alle Räumlichkeit konstituiert sich, kommt zur Gegebenheit, in der Bewegung, in der Bewegung des Objektes selbst und in der Bewegung des ›Ich‹, mit dem dadurch gegebenen Wechsel der Orientierung.«18

In Ding und Raum schlägt Edmund Husserl ein Modell kinästhetischen Empfindens vor,19 in welchem er auf frühe Positionen aus dem Feld der Wahrnehmungspsychologie, Einfühlungsästhetik und vergleichbare wissenschaftliche Ansätze seiner Zeit zurückgreift20 und diese für seine eigenen Untersuchungen zur Bewegungsanalyse nutzbar macht. Ausgehend von den Bewegungen des Körpers und der Bewegungsempfindung widmet er seine Aufmerksamkeit zunächst der visuellen Konstitution von Räumlichkeit und Örtlichkeit, betont aber, 18 |  Husserl: 1991, S. 154 (im Folgenden zitiert als: DR). 19 |  DR, Kap. 8: »Der phänomenologische Begriff der Kinästhese«, S.  154163; DR, Kap. 16, §83: »Sich-Bewegen und Bewegtwerden des Leibes. Grenzen der kinästhetischen Konstitution des Leibkörpers«, S.  278-284. Ich verdanke diese Hinweise den Diskussionen im SFB-Teilprojekt mit Gabriele Brandstetter und Franck Hofmann. 20 |  Als Student von Wilhelm Wundt war Husserl mit den Grundsätzen der Pychophysik und der Experimentalpsychologie bestens vertraut. Bereits vor der Phänomenologie wendet sich die Physiologie der Sinne und ihre Theorie der sensomotorischen Verknüpfung gegen eine Metaphysik des Schönen bzw. Ästhetik von oben und will zurück zu den Dingen.

Entfaltung von Bewegung dass weder visuelle noch taktile Fähigkeiten allein hinreichend seien, um (visuelle und taktile) Eigenschaften von Räumen zu beschreiben, sondern dass ebenso die Ausdehnung des Leibes und Materialität von Bedeutung seien (DR 159). »Die Einlegung der kinästhetischen Empfindungen in den Leib« (DR §47, 161), der als Träger des Ich die Konstitution von Subjektivität, die Wahrnehmung eines Außen und die Abgrenzung gegen dieses Außen einerseits erst ermöglicht, andererseits aber gerade in der gegenseitigen Konstitution ansatzweise auch unterläuft, ist zentraler Gedanke seines phänomenologischen Ansatzes. Um eine Verortung im Raum vorzunehmen, müssen Lage-Empfindung und Bewegungsempfindung zueinander in Beziehung gesetzt werden, ebenso sind aber auch die Verbindungen im Leib für die Wahrnehmung des Außen von Bedeutung und für eine Betrachtung im Rahmen des Tanzes wesentlich (DR 280; vgl. Kap. 1.3.1. zu Laban). Welches Verhältnis jedoch zwischen diesen verschiedenen Faktoren etabliert wird, bleibt an dieser Stelle offen. Husserls alleinige Konzentration auf Augenbewegung und Taktilität (die sicher vor dem Hintergrund sinnesästhetischer Theorie zu sehen ist) kann für eine angemessene Beschreibung von Bewegung aber kaum hinreichend sein. Der Bewegungssinn ist für Husserl neben den anderen fünf Sinnesempfindungen konstitutiv für jegliche Erfahrung und sogar als eine Praxis des Erkennens zu verstehen. Als zwei Varianten der Kinästhese untersucht Husserl die Erscheinung eines Dings in Ruhe und in Bewegung, jeweils unter Berücksichtigung der »Bewegungen und Unbewegungen« des wahrnehmenden Ichs (DR 157). Um den Charakter der bloßen Bewegung zu bestimmen, die ihre Norm an der Ruhe habe und in verschiedenen Varianten in ihrem Bezug zum Raum durchgespielt wird, nennt er folgendes Beispiel: »Zu den kinästhetischen Umständen, die ›Gehen‹ heißen, gehört die Bewegung der Beine nicht nur in Relation zum übrigen Körper, sondern des ganzen Körpers durch Abstandsänderungen von anderen Körpern. […] Es bewegt sich der Ichpunkt immer mit, bei aller Bewegung entfernt sich das Ich nicht, der Leib bewegt sich, ohne sich zu ›entfernen‹: die Bilder von ihm ändern sich nicht im Sinne der ›Entfernung‹. So also bewegt das Ich sich.« (DR 280)

Zum einen werden hier Bewegung und Ruhe in Bezug zueinander gesetzt, zum anderen wird aber auch – für die weitere phänomenologische Theoriebildung wesentlich – die Verhältnisbildung von Lageempfindung und Bewegungsempfindung beschrieben. Die hier dargelegte Relationalität eröffnet nicht nur eine Betrachtung der eigenen Bewegung, sondern ist bzw. ermöglicht eine Konstitution von Bewegung als einer potentiellen Interaktion; die Abstandsänderungen

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Entwürfe und Gefüge zu anderen Körpern betreffen sowohl unser Verhältnis zur Dingwelt als auch zu anderen Handelnden.21 In der späteren Krisis-Schrift22 und den Cartesianischen Meditationen23 beschreibt Husserl die Grundstruktur des Bewusstseins in einem Korrelationszusammenhang, der in Anlehnung an Descartes als ego – cogito – cogitatum gefasst wird.24 Das Bewusstsein von etwas erschöpfe sich aufgrund der Horizontintentionalität keineswegs im Vollzug der jeweiligen cogitatio; das aktuelle cogitatum eines Dinges sei nur die eigentlich und wirklich gesehene Vorderseite – als Beispiel führt er die Betrachtung eines Kubus an. Mit dem Sehen sei zugleich die kinästhetische ›Vermöglichkeit‹ bewusst, das Ding von allen Seiten ansehen zu können. Vermöglichkeitsbewusstsein und Horizont werden somit als streng korrelative Begriffe gefasst.25 Das Verhältnis zwischen kinästhetischer Empfindung und Erfahrung ergibt sich aus den akkumulierten Empfindungen oder ihren Revisionen, dieses kontinuierliche und synthetische Abgleichen ermöglicht es, den intendierten Gegenstand als mit sich selbst identisch zu erfassen und erlaubt so eine Orientierung in der Welt. Bewusstsein ist bei Husserl eng an die Intentionalität gebunden und stets auf einen Gegenstand oder Sachverhalt gerichtet. Jedoch setzt Husserl weder ein reines Subjekt, noch ein reines Objekt voraus – kein »An-sich« der Dinge (noema), vielmehr konstituieren sich beide gegenseitig in einem fortwährenden Prozess, einem Akt des Bewusst-Werdens (noesis). Um jenseits einer empirischen oder theoretisch vorgeprägten Ansicht zu den Dingen zu gelangen, sei es notwendig, dass wir unsere Vorannahmen und Vorurteile gegenüber diesen ausklammern (wobei sich fragen lässt, inwieweit dies überhaupt möglich ist).

21 |  Der Handlungsaspekt wird hier zunächst nicht weiter ausgeführt und ist gerade mittels einer phänomenologischen Theorie sicherlich nicht hinreichend zu konturieren, fehlen doch soziale, symboltheoretische und andere Systematisierungen, um einen Handlungsrahmen überhaupt bestimmen zu können. 22 |  Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana (Hua), Bd. VI, hg. v. Walter Biemel, Den Haag: Nijhoff, 21976. 23 |  Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, Hua I, §19, S.  81f., hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg: Meiner, 1976 (im Folgenden zitiert als CM). 24 |  Vgl. dazu Günther Neumann: Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumauffassung bei Husserl und Heidegger, Berlin: Duncker & Humblot, 1999, insbesondere Teil A, Kap IV: »Die kinästhetische Motivation der Konstitution von Ding und Raum«, S. 153-163. 25 |  Ebd., S. 154.

Entfaltung von Bewegung Diese Ausschaltung aller Setzungen, das Sich-Zurücknehmen bezeichnet der späte Husserl als phänomenologische Reduktion oder als Epoché.26 Husserls Konzeption kinästhetischer Bewegung als eines ›Sich-Bewegens‹ und eine sich daraus ergebende ›Fassung‹ des Raumes wird in einem anderen Text, Die kopernikanische Umwendung der kopernikanischen Umwendung – Die Urarche Erde,27 ergänzt. Hier weitet er den Zusammenhang von Bewegung und Raum aus in Bezug auf das Verhältnis zum Grund.28 Er spricht vom Bodenkörper als Beziehungsgrundlage für Körpererfahrungen (KU 313). Die Empfindung von Bewegung muss jedoch hier von der Welt-Erfahrung unterschieden werden: In der Konstitution der Welt aus Erfahrung werde der Boden zum »Boden-Körper« und seine ursprüngliche »Boden-Form« aufgehoben (KU 308). Das SichBewegen geschieht hier in Bezug auf die Erde als Erdboden. Als ästhetisches Phänomen und Produkt ästhetischer Erfahrung erscheint Räumlichkeit vorwiegend im Verhältnis zu unserer Bewegung und dem Wechsel der Orientierung, insofern als diese immer auf einen spezifischen Horizont potentieller Bewegung bezogen ist. Wenn sich der Horizont aber beständig verschiebt, werden auch die räumliche und kinästhetische Erfahrung, welche stets auf die unhintergehbare Empfindung und Wahrnehmung und deren prozessuale Synthese zurückgehen, verunsichert, und wir müssen uns stets von Neuem orientieren 26 |  Vgl. Husserl: 1976, auf den Zusammenhang von Epoché und Intentionalität werde ich ausführlicher im 2. Kapitel eingehen. Die Denkweise Husserls ist in einer westlich-europäischen Denktradition verankert, die fälschlicherweise Descartes als ihren geistigen Urvater versteht und die Dualität zwischen Körper und Geist nicht wirklich überwinden kann – was deutlich wird, wenn er z.B. jede Wahrnehmung als Vernunftsetzung beschreibt (DR 290). Auch die gewählten Begrifflichkeiten, mittels derer er argumentiert, sind in diesem Kontext zu verorten, sprachlich versucht er zudem oft in ungefähren Be- und Umschreibungen sich einem schwer fassbaren Sachverhalt langsam anzunähern oder diesen mit Wortneuschöpfungen zu begegnen (vgl. z.B. DR 288f.). 27 |  Dieser 1934 verfasste Text wurde veröffentlicht unter folgendem Titel: Edmund Husserl: »Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur«, in: Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, hg.  v. Marvin Farber, New York (NY): Greenwood, 1968, S.  307-325 (im Folgenden zitiert als KU). 28 |  Diese Bedingtheit von Körperbewegung und Grund, auf dem getanzt wird, stellt besonders für den Tanz eine zentrale Figur dar, wie z.B. in Paul Valéry: »Die Seele und der Tanz«, in: ders.: Eupalinos oder Der Architekt, eingeleitet durch Die Seele und der Tanz, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 31995. Vgl. dazu ebenfalls: Georges Didi-Huberman: »Die Erde bewegt sich unter den Schritten des Tänzers«, in: Armen Avanessian/Franck Hofmann (Hg.): Raum in den Künsten: Bewegung – Konstruktion – Politik, München: Fink, 2010, S. 83-92.

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Entwürfe und Gefüge und diese räumlich-subjektiven Parameter immer wieder neu bestimmen. Erfahrung zeichnet so die Möglichkeiten weiterer Bewegungen vor. (Damit wird eine Dimension eröffnet, die auch für die Zeitlichkeit choreographischer Entwurfsprozesse bestimmend ist.) Entsprechend beschreibt Husserl den Raum als das »noematische Korrelat des kinästhetischen Systems«: Der kinästhetische Stellungsraum als subjektiver Spielraum von Vermöglichkeiten und der »Bereich als (ver)mögliche kinästhetische Situation« bilden die Einheit einer »konstituierten Koexistenz«. »Körper«, so schreibt Husserl, »sind wirklich in offenen Möglichkeiten, die sich in dem, was von ihnen wirklich wird, in ihrer Bewegung, Veränderung verwirklichen« – wobei Unveränderung als einzelne Möglichkeitsform von Veränderung betrachtet wird (KU 309). Das macht ihre Horizonthaftigkeit aus. Der Horizont wird hier zur Figur eines Theorieansatzes, der sich später auch bei Merleau-Ponty und Deleuze wiederfindet und in dem der Horizont im Rahmen von Möglichkeit und Aktualisierung diskutiert wird. Insofern wird jener Horizont wichtig für eine Theorie des Entwerfens, die ihre Rahmungen und Perspektiven stets neu bestimmen muss.29 Die beschriebene Relativität von Bewegung und Ruhe wird allerdings nicht auf ihren bei Husserl künstlich gesetzten Rahmen hin befragt. Erfahrung zeichne die Möglichkeit weiterer zu empfindender Bewegung vor, wenn Bewegung von Körpern im Erdraum endet – sie ist auf deren zugehörigen »Horizont« möglicher Bewegung bezogen (KU 154). »Wirkliche Erfahrung« – die in den Horizont eindringe, ein Weltfeld anschaulich erfasse – ergebe Körper in Ruhe oder Bewegung. (KU 155) Körper gelten ihm in ihrer wirklichen Bewegung als erfahren (KU 154) und als Kern aktueller Erfahrung, Kern dessen, was durch ihn vorgezeichnet ist, als ein »Spielraum von Möglichkeiten«: »Welt konstituiert sich aufsteigend und ist schließlich – hinsichtlich der Natur als ihren abstrahierbaren Bestand – konstituiert in einer Horizonthaftigkeit, in welcher das Seiende als wirklich in den allzeit vorgezeichneten Seinsmöglichkeiten konstituiert ist« – und durch Begriff und Urteil auf eine Weltform gebracht wird (KU 154). Erfahrung ist für Husserl stets auf sinnliche Wahrnehmungen bezogen als deren prozessuale, je zu vollziehende Synthetisierung: »Nur wenn in der Einheit der Erfahrung der stetige Übergang von der einen Wahrnehmung in die andere gewährleistet ist, dürfen wir von der Evidenz sprechen, daß die Identität [des erscheinenden Gegenstandes] gegeben sei.« (DR 155).30 29 |  Vgl. dazu auch Stefanie Wenner: Vertikaler Horizont. Zur Transparenz des Offensichtlichen, Berlin/Zürich: diaphanes, 2004. 30 |  Klärungsbedürftig scheint auch das Verhältnis von Empfindung zu Darstellung: Unter Darstellung versteht Husserl dasjenige, worunter alle Empfindungsinhalte und physische Daten gefasst sind, die »beseelende Auffassung« erfahren. Die Bewegungsempfindung ermögliche Darstellung ohne jedoch selbst

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2.2 Kritik und Perspektivierung des Husserl’schen Denkens Die Konzeption von Zeitlichkeit stellt zugleich aber auch ein wesentliches Problem dar. Husserl beschreibt in seinen frühen Schriften Zeit als spezifisch zum erscheinenden Ding gehörend (DR  197), er bezieht jedoch die Zeit nicht auf den Raum, sondern beschreibt vielmehr eine sequentielle Zeitlichkeit, in der es keine Brüche oder Sprünge gibt, durch welche sich Erinnerung konstituieren könnte. So entsteht eine künstliche Situation ohne Erinnerung und historische Bezugnahme, ohne Geschichte. Auch eine Konzeption des Körpergedächtnisses, wie sie gerade für den Tanz von Bedeutung ist, bleibt hier außen vor, ebenso eine Subjektkonstitution, die sich nur durch Erinnerung und historische Bezugnahmen bilden kann, durch die Lücken und Brüche, welche gerade Möglichkeitszeiträume für die Erinnerung, Kreativität und Imagination bieten. Bereits mit Henri Bergsons zeitnah entstehender Konzeption der intuitiven Erfassung von Dauer ließe sich dem ein Modell gegenüberstellen oder ergänzen, das wesentlich auch für die Weiterentwicklung dieses phänomenologischen Ansatzes ist, wie wir ihn für den Tanz nutzbar machen können und wie er bei Merleau-Ponty fortgeführt wird. So produktiv sich phänomenologische Annäherungen für eine Theoretisierung von an Bewegungsempfindungen gebundene Choreographie und Architektur erweisen, so klar müssen jedoch auch deren Defizite hinsichtlich der Erfahrungsdimensionen der Künste benannt werden, die soziologische, kulturhistorische, medientheoretische und zeichentheoretische oder symbolphilosophische Positionen zu ihrer angemessenen Erfassung notwendig machen. Wie nun aber kann Husserls Denken für den Tanz produktiv gemacht werden? Zum einen: Wie kann die kinästhetische Erfahrung innerhalb des choreographischen Denkens ihren Raum finden – als Kategorie, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Tanz betrifft? Die Relationierung von Lage- und Bewegungsempfindung wird auch bei Laban genauer expliziert und in ein analytisches Modell eingefasst. Hierzu soll im Folgenden sein Modell der Kinesphäre genauer beleuchtet und in Beziehung zur kinästhetischen Empfindung gesetzt werden. Und zum anderen: Welche Rolle spielt Husserls Ansatz für das Verhältnis von Performern oder Tänzern und Publikum? Die Zielgerichtetheit oder Intendarzustellen (DR 161). Dadurch gerät das Verhältnis von Bewegungsempfindung zu medialen und symbolischen Formen in den Blick, wenn Darstellung nicht als beschreibende Kategorie, sondern auch als ästhetische Praxis aufgefasst wird. Hier wäre die phänomenologische Analyse um historisch spezifische choreographische Beispiele zu ergänzen, gerade auch um so die spezifischen ästhetischen Dimensionen, die nicht (alleine) in der Sphäre der Empfindung hinreichend begründet sind, besser in den Blick zu bekommen.

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Entwürfe und Gefüge tionalität von Handlung ist hier nicht gegeben, ebenso gestalten sich Narrative im Tanz nicht unbedingt logisch oder linear. Dennoch ist ein Aspekt auch für den Tanz zentral und kann weiter entwickelt werden: Intentionalität ist hier vielmehr im Zusammenhang zur Responsivität zu verstehen, die Möglichkeiten der Bezugnahme eröffnet. Wie ist dann z.B. die Begegnung und Interaktion mit etwas Neuem, Unbekannten zu denken, wie es etwa in der Improvisation zutage tritt? Der Versuch, Intentionalität vollkommen aus einer Perspektive eines absolut gesetzten Subjekts zu verstehen, erweist sich für die Kunstproduktion spätestens seit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts als obsolet, wird dieses Subjekt doch angesichts gesellschaftlicher, kultureller und anderer Umbrüche zunehmend als brüchig und instabil erfahren. Was also liegt jenseits der Intentionalität? Wie kann ein Weltverhältnis beschrieben werden, das nicht rein intentional-subjektiv verfährt, sondern vielmehr Welt und Subjekt im Austausch konzeptualisiert? Husserl selbst gibt in den Logischen Untersuchungen zu bedenken: »Ich sehe nicht Farbempfindungen, sondern gefärbte Dinge, ich höre nicht Tonempfindungen, sondern das Lied der Sängerin.«31 Damit wird ein kleiner Schritt in die Richtung gemacht, den Vorgang des Wahrnehmens als Etwas, das sich der Wahrnehmung darbietet, zu begreifen. Bewusstsein ist in diesem Sinne nicht nur auf Verstehen, Erkenntnis oder eine Form positiven Wissens reduziert, die Bezugnahmen finden auch im Lieben oder Fürchten statt; hier ›entwirft‹ sich mein Bewusstsein im Hinblick auf Etwas. Zwar werden hier noch nicht die Erkenntnisschranken benannt, welche der Wahrnehmung entgegentreten und nicht vom Wahrnehmenden gesetzt werden. Husserl denkt Erfahrung immer noch als originär, als Ursprung und nicht als Konstrukt, dennoch beschreibt diese entwerfende Bezugnahme ein anderes Verhältnis. Erst Merleau-Ponty geht einen Schritt weiter und erklärt, wie man von etwas gefangen genommen wird, das der eigenen Verfügungsgewalt entzogen ist. Auch wenn die phänomenologische Bemühung darum, Bewegungsempfindungen als Bewegungssysteme zu beschreiben (KU 159), für eine choreographische Theoriebildung natürlich ein wichtiger Ansatzpunkt sein kann, bleibt diese jedoch in ihrer Analytik spezifischer Bewegungen und von diesen her aufgefassten Raumordnungen – nicht nur sprachlich – ungenau. Ein Raummodell, wie die Kinesphäre Labans, und choreographische Raumbeschreibungen, wie etwa Tanz-Notationen oder die Improvisation Technologies, bieten hier notwendige Ergänzungen. Jene Systeme bzw. Verzeichnungen ermöglichen eine genauere Erfassung spezifischer Körperrelationen und ihrer dynamischen Ausgestaltung. 31 |  Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. I, Prolegomena zur reinen Logik, Hua XVIII, hg. v. Elmar Hohenstein, Den Haag: Martinus Nijhoff, 1975, S. 387.

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3 Räumliche Relationen: Rudolf von Labans Raumharmonielehre 3.1 Zur Konzeption der Kinesphäre »Tänzer ist mir jener neue Mensch, der sein Bewusstsein nicht einseitig aus den Brutalitäten des Denkens, des Gefühls oder des Wollens schöpft, es ist jener Mensch, der klaren Verstand, tiefes Empfinden und starkes Wollen zu einem harmonisch ausgeglichenen und in den Wechselbeziehungen seiner Teile dennoch beweglichem Ganzen bewusst zu verweben trachtet.«32

Rudolf von Laban (1879–1958), einer der Pioniere des deutschen Ausdruckstanzes, war davon überzeugt, dass der Tanz als kulturelle Praxis die synästhetischen Fähigkeiten des Menschen fördern und damit ein gemeinschaftliches Gefühl wieder ermöglichen könne.33 Tanz wird nicht als autonomes Kunstwerk, sondern als eine Erlebnis- und Erkenntnisstruktur verstanden.34 Vor diesem Hintergrund entwickelt er in den 1920er-Jahren die Choreosophie als Lehre der Bewegung, die Choreographie, Choreologie und Choreutik vereint. Für den Zusammenhang von Kinästhese und kinesphärischem Raummodell ist vor allem Labans Choreutik wichtig35 – ein System der Raum-Harmonie-Lehre, in dem er »Motion und Emotion, Form und Inhalt, Körper und Geist« zu verbinden trachtet.36 Die Choreutik, so Laban, könne als »Kunst bzw. Wissenschaft der Analyse und Synthese von Bewegung« (CH  17) die »synthetisierten Akte der Wahrnehmung« von Bewegung und Raum nachvollziehen, analysieren und sich in systematisierbaren Modellen (z.B. des Isokaeders und des Dodekaeders) veranschaulichen lassen. Bewegung versteht er als eine Sprache des Menschen und als solche müsse sie bewusst gemeistert werden – mittels eines analytischen Raummodells (und ergänzend dazu der Tanzschrift). Mit diesem analytischen Ansatz setzt er sich deutlich von den Ausdruckstänzern seiner Zeit ab, die eher

32 |  Rudolf von Laban: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen. , Stuttgart: Seifert, 1920, S. 9. 33 |  Ebd. 34 |  Ebd., S. 134-139; vgl. zudem Yvonne Hardt: Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik, Münster: LIT, 2004. 35 |  Bereits in der Choreographie werden jedoch zentrale Elemente der Raumharmonielehre entwickelt; vgl. Rudolf von Laban: Choreographie, Jena: Diederichs, 1926. 36 |  Laban: 1991, S. 8 (im Folgenden zitiert als CH).

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Entwürfe und Gefüge dem ›authentischen Körper‹ Ausdruck verleihen wollten.37. Ausgehend von den Prämissen der Orientierung des Körpers im Raum entwickelt Laban aus den Schwungskalen das Modell der Kinesphäre (Abb. 1.2 und 1.3.), die den Körper entsprechend der Reichweite seiner Extremitäten umgibt und mit dem Körper in der Bewegung immer mitwandert. Jenes Modell kann als eine Variante des Husserl’schen Empfindungsraums verstanden werden, wird doch bei beiden die Ausdehnung des Leibes und die Relationalität von Lage- und Bewegungsempfindung zentral verhandelt. Laban geht von den fünf Positionen des klassischen Balletts aus; bereits auf den ersten Seiten der Choreographie von 1926 wird dieser Bezug deutlich.38 Jedoch dynamisiert er sie und versteht sie im Sinne relationaler räumlicher Orientierung und macht dieses Potential nutzbar für choreographische Entwurfsprozesse. Im Gegensatz zum Ballett liegt jedoch hier der Fokus nicht auf den Positionen als Ergebnis oder Endpunkt einer Bewegung, sondern auf dem Bewegungsvorgang selbst; die »Spurformen«, das ›Zwischen‹, der Weg, die Bewegung werden als essentiell verstanden und können ansatzweise wiederum mit Husserls Konzeption des kontinuierlichen Übergangs verglichen werden. Während jedoch bei Husserl die Syntheseleistung stets vom selben Gegenstand ausgeht, ist das Denken von Bewegung bei Laban bereits ansatzweise durch Bergsons Idee der intuitiven Dauer geprägt, zur Analyse muss er jedoch die Theorie der schnappschussartigen Illusion von Bewegungsformen, des momentanen Stillstellens von Bewegung heranziehen. (CH 13) Dieses zunächst paradox anmutende Zeitkonzept kommt daher einem Versuch der Bewegungsanalyse eher entgegen. Während im klassischen Tanz den festgelegten Positionen der Füße ganz bestimmte Haltungen der Arme und des Kopfes sowie Neigungen des Torsos zugeordnet sind, und somit auch hier ein Netz von Relationen aufgespannt wird, werden die Haltungen bei Laban bereits mit den dynamischen Qualitäten verbunden und so multipliziert; die Wahl der jeweiligen Bewegung ergibt sich aus den inneren Spannungsgesetzen des Körpers. Die vielfältigen Möglichkeiten der Relationierung und der daraus resultierenden Analysemöglichkeiten erlauben es so Choreographie als Verfahren der Aktualisierung vielfältiger Möglichkeiten zu verstehen, was für choreographische Entwurfsprozesse zentral ist. Antizipation von Bewegung kann nur im Rückgriff auf präzise Kategorien, in denen Bewegung gefasst und beschreibbar wird, möglich werden.

37 |  Vgl. hierzu Labans Kritik an Isadora Duncan in: Sabine Huschka: Merce Cunningham und der Moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000, S.  74ff. William Forsythe hingegen bezieht sich mit den Improvisation Technologies als Tool for the Analytical Dance Eye gerade auf diesen analytischen Ansatz 38 |  Laban: 1926, S. 16ff.

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Abb. 1.2 (o.): Rudolf von Laban: Schwungskalen; Abb. 1.3 (u.): Rudolf von Laban: Bewegung im Ikosaeder.

Im Mittelpunkt seiner Konzeption steht ein in drei Dimensionen sowie in Zentrum und Peripherie unterteilter Körper – jene Einteilungen des Körpers ermöglichen erst eine Bestimmung des Verhältnisses von Kinesphäre und Dynamosphäre –, des Raumes, in dem die dynamischen Aktionen stattfinden (CH 40). »Die vertikale und bilaterale Ausrichtung des Leibes ergeben zusammen das Gefühl der Zweidimensionalität [...], die dritte Dimension tritt nur in der Bewegung zutage.« (CH 28) Labans Konzept körperlicher Ausdehnung kann hier durchaus mit Husserls phänomenologischen Ansätzen in Beziehung zueinander gesetzt werden.39 So schreibt Laban, es sei eine »intellektuelle Verwick 39 |  Der Vergleich der Kinesphäre mit dem Begriff der Aura (CH  21) wird an anderer Stelle noch einmal aufgegriffen, er ist aber hier keinesfalls mit dem Benjamin’schen Aura-Begriff aus »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen

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Entwürfe und Gefüge lung«, dass man, wenn man in Bewegung sei, die »Richtung unseres Kopfes als Höhe und die Richtung unserer Füße als Tiefe« bezeichne, und das Grundgefühl der Dimensionen auf das Schwerezentrum der Erde, statt auf den eigenen Körperbau beziehe (CH 28). Die Ausdehnung und Größe der Bewegung wird aus der Struktur des menschlichen Körpers heraus entwickelt: vertikal und bilateral, periphere und transversale Bewegungen kreuzen die Kinesphäre, indem sie das Zentrum des Körpers durchlaufen oder von ihm aus gesteuert werden. Diese Systematik wird fortgeführt: So gliedert Laban den Körper in das dreidimensionale Kreuz, welches mit den Ebenen Höhe  – Breite  – Tiefe: vor-rück, hoch-tief, rechts-links einen Würfel beschreibt (CH 24), darüber hinaus in das vier-diagonale Kreuz, das die diagonalen Möglichkeiten von Armen und Beinen veranschaulicht, und schließlich in das sechs-diametrale Kreuz, das die zwölf diametralen Neigungen zeigt. Aus diesen Bewegungen ergibt sich schließlich die Übersetzung in die geometrische Figur des Ikosaeders. Die Neigungen stehen in Relation zum Körperzentrum und werden vom Tänzer aus gedacht statt vom umgebenden Raum, sie werden mit zwei Gleichgewichtsstadien assoziiert: Die Dimensionen sind vorwiegend stabil, die Diagonalen hauptsächlich mobil, die Diametralen oszillieren. Die Kinesphäre bewegt sich aber nicht nur mit den Richtungen, in die der Tänzer sich bewegt, sie kann sich auch, je nachdem, in welchem Maße die Gliedmaßen gestreckt werden, ausdehnen oder kleiner werden. Die Grundsätze der Raumharmonielehre unterliegen der Struktur der räumlichen Skalen und Ringe. Sie betreffen das Verhältnis zum Körperzentrum, das Prinzip der kontrapunktischen Bewegung, die Prinzipien von Parallelismen und Triaden, welche durch die ikosaedrischen Skalen und Ringe bedingt sind, den Grundsatz der Komplementarität, die durch das Verhältnis der diagonalen Achsen und der A- und B-Skalen bestimmt sind. Jede choreutische Konfiguration wird schließlich durch die sequentiellen Gesetze ergänzt, die die raum-zeitliche Struktur bestimmen. Räumliche Zusammenhänge werden bei Laban zumeist kontrapunktisch gedacht: »Das kanonartige Führen der Bewegungen gegeneinander ist eine einfache Form der Harmonie. Sie ergibt sich daraus, dass der schwebende Körperteil die Hauptrichtung schon wieder verlassen hat, wenn ein anderes Körperteil die Kontrarichtung begeht.«40 Jene oppositionalen Körperspannungen werden in den »Umkehrpunkten« der Bewegungen konzeptualisiert. Im Gegensatz zum klassischen Ballett werden die Körperteile und Positionen hier weniger hierarchisch gedacht und bilden erst im Übergang von der einen zur anderen Form die Bewegung, dennoch ist die Körpermitte, der Reproduzierbarkeit« (1936) zu verwechseln, sondern eher als atmosphärisches Korrelat zu verstehen. Dennoch ist Aura auch nicht rein esoterisch zu begreifen, sondern dem analytischen Modell der Kinesphäre zugeordnet. 40 |  Laban: 1926, S. 8f.

Entfaltung von Bewegung Solarplexus, derjenige Punkt, von dem aus alle Bewegung, wenn auch nicht initiiert, so doch getragen wird. Laban geht somit von einem ganzheitlichen Körperbild aus, das verbindet ihn mit anderen Ausdrucktänzern (seiner Zeit) und ist im Sinne einer den Menschen durchdringenden ›Allganzheit‹ durchaus ideologisch geprägt.41 »Jede Bewegung hat ihre Form, und Formen werden gleichzeitig mit und durch Bewegung erschaffen.« (CH 13) Als Ensemble von »Spurformen« bilden sie darüber hinaus eine »lebendige Architektur« (CH 14). Durchaus ist die als kontinuierlich verstandene Bewegung mit Husserls Auszeichnung des stetigen Übergangs zu vergleichen: Leerer Raum existiert nicht, sondern konstituiert sich durch Bewegung; Raum gilt Laban als eine Überfülle von gleichzeitig angelegten möglichen Bewegungen (CH 13): Es kann erforscht werden, wie eine Form sich aufbaut, wie sie abgebaut wird, auf welche Weise sie in verwandte Formen hinübergleitet und über welche Formen sie zu fremderen gelangt. Die Kenntnis des grundlegenden Formenmaterials und der Gesetze der Formwandlungen (in einfachen Handlungen des Körpers) ist die Bedingung dafür. Laban geht es nicht um eine starre Raumlehre, stattdessen macht bereits die Choreographie den Versuch, die Elemente der Haltungslehre, die »Zustände«, möglichst von Beginn an in ihren dynamischen Werten und ihren Zusammenhängen mit der Handlung, dem Ereignis, zu schildern. Die Form der Bewegung wird charakterisiert in der Flucht (»Labilitätsgrad«), durch ihren kinetischen Inhalt, den Bewegungsfluss, der gebunden oder offen, starr oder mobil erscheint, darüber hinaus in der Kraft (»Spannungsgrad«), durch ihren dynamischen Inhalt, zwischen schwacher und starker Spannung, sowie in der Zeit (»Geschwindigkeitsgrad«), durch ihren rhythmischen Inhalt, der langsam, plötzlich oder schnell verlaufen kann, und schließlich im Raum (»Weitegrad«), durch ihren metrischen Inhalt, der nah und fern bezeichnet.42 41 |  Jedoch unterscheidet ihn eben jene analytische Ebene von anderen Ausdruckstänzern, die ein verborgenes Ursprüngliches in freier Improvisation finden wollten und den Gedanken der Körpereinheit viel stärker als Laban betonten. Wichtig in diesem Zusammenhang ist aber das durchaus kosmologisch, als Zusammenhang zwischen Mikro- und Makrokosmos gedachte Modell, das sowohl auf Ideen der sogenannten Kristallphilosophie (a.a.O.) zurückzuführen ist als auch auf die lebensphilosophisch und reformpädagogisch inspirierten Ideen jener Zeit. Ähnliche ganzheitliche Ideologien finden sich wieder in den späteren Entwürfen von Buckminster Fuller, insbes. im Zusammenhang mit der Herausgabe des Whole Earth Catalogues: Die Möglichkeit, die Erde angesichts der Mondlandung im Jahr 1969 erstmals von außen zu sehen, schuf ein anderes Bewusstsein von der Begrenztheit des Planeten und seiner Ressourcen, das die Gegenkulturen der 1960er-Jahre, Esoterik und die beginnenden ökologischen Strömungen vereinte. 42 |  Ebd., S. 9.

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Entwürfe und Gefüge Das Modell der Raumanalyse wird ergänzt durch Beschreibungen, die spezifische Qualitäten von Bewegung formulieren.43 Mittels dieser dynamischen Grundaktionen – Peitschen, Gleiten, Drücken, Wringen oder Ziehen, Schweben, Stoßen, Flattern und Tupfen – kann die dynamische Struktur dieser Bewegungen genau festgelegt werden (CH  40ff.). Das aus den Schwungskalen emergierende, ikosaedrische Modell der Kinesphäre gewinnt so Werkzeugcharakter im Erlernen und der Beherrschung von Bewegung. Der Raum als Überfülle gleichzeitig angelegter, möglicher Bewegungen kann durch den bewussten Umgang mit ihm, der jedoch einen Teil der Bewegungen bereits inkorporierten Materials umfasst, erschlossen werden. Laban, der alle Sinne als Variationen des Tastsinns fasst (CH 39), womit er eine weitreichende Differenz zu Husserl markiert und eine viel intuitivere Sicht darlegt, die die Nahsinne favorisiert, beschreibt das Verlangen nach Stabilität als Verlusterscheinung einer wachsenden taktilen Unfähigkeit. (CH  16) Hier scheint ein wichtiger Ansatz für den zeitgenössischen Umgang mit Labans Ideen zu sein, jene taktile Fähigkeit, andere Orientierungssysteme des Körpers wieder zu aktivieren, zu trainieren und so eine Grundlage für andere Möglichkeiten der Interaktion innerhalb der Dynamosphäre zu generieren. Neben Kraft und Zeit fasst Laban energetische Prozesse zwischen den Gegenständen, Intensität und Spannung, Schwergewicht und Energie, als konstitutive Bestimmungen des Raumes.44 Der Tänzer stellt sich räumliche Richtungen immer in Bezug auf bzw. durch seinen Leib hindurch, genauer: durch den Schwerpunkt vor. Von hier aus entfalten sich Rhythmus und Phrasierung, Bewegung und Energien des Körpers werden zu Atmung, Spannung und Bewegungsfluss ins Verhältnis gesetzt. Laban verbindet physikalisches Raumdenken mit subjektiven Wahrnehmungen, die Kinesphäre wird so zu einem Modul der Vermessung des Verhältnisses von Tänzer und Umraum wie zu einem Modell der Beschreibung des Verhältnisses des leibhaften Menschen zur Welt,45 das er keineswegs nur auf die tänzerische, sondern auch auf die Alltagsbewegungen des Menschen bezieht. Jede Bewegung ist auch mit psychologischen Attributen verbunden. Je nachdem, welche Haltung betont wird, stellt sich eine spezifische Situation her: »Bewegungen können mit unterschiedlichen Graden der inneren Teilnahme und mit größerer oder kleinerer Intensität ausgeführt werden. Sie mögen durch das 43 |  Vgl. dazu CH 62ff., 6. Kapitel. 44 |  Vera Maletic: Body – Space – Expression. The Development of Rudolf Laban’s Movement and Dance Concepts, Berlin/New York (NY)/Amsterdam: Peter Lang, 1987. 45 |  Diese Subjektzentriertheit muss aber durchaus auch kritisch betrachtet werden; vgl. diesbezüglich Kapitel 1.6.5. und 2 der vorliegenden Studie.

Entfaltung von Bewegung übertriebene Verlangen ein Ziel zu erreichen, beschleunigt oder durch eine vorsichtige, zweifelnde Einstellung verlangsamt werden. Der Bewegende mag sich ganz auf die Bewegung konzentrieren und den gesamten Körper in einem Akt des kraftvollen Widerstands einsetzen, eine der grundlegenden Erfahrungen mit der Dynamik von Bewegungen ist, dass ihre verschiedenen räumlichen Nuancen immer klar unterscheidbare geistige und emotionale Haltungen offenbaren.« (CH 37)

Bewegung wird hier vom Bewegungsimpuls her verstanden, diese Sicht von innen nennt Laban auch »Körperperspektive«.46 Hinsichtlich der Frage, wie Bewegung überhaupt aktualisiert wird, ist er überzeugt, dass die menschliche Bewegung einem inneren Willen entspringt: »Das komplexe Gefühl, das wir haben, wenn wir eine Bewegung sehen oder ausführen, kann nicht mit Worten beschrieben werden, es ist jedoch möglich, den wesentlichen Willensakt, der in einer Bewegung enthalten ist, zu beschreiben. Am besten trennt man die Muster der Linien und Formen, die der sich bewegende Körper im Raum zeichnet, von den übrigen Komponenten der Bewegung.«47

Und an anderer Stelle heißt es: »Eine vollständig willentliche Bewegung, in der jedes Detail vorausgeplant und kontrolliert ist, bringt dem Tänzer oder Schauspieler nur sehr selten Erfüllung.«48 Mit der Betonung dieses Willens, inspiriert durch die Lektüre Schopenhauers und vor allem Nietzsches, entwickelt Laban seine Antriebslehre. Der Wille ist jedoch zu unterscheiden von der phänomenologischen Intentionalität, ist die tänzerische Motilität doch nicht direkt gerichtet, auch nicht ziel- oder zweckorientiert. Zwar sind die Ausführbarkeit und Erreichbarkeit bestimmter Bewegungen aufgrund ihrer räumlichen Relationalität analysierbar angelegt, der Wille entspringt jedoch eher einem vitalistisch inspirierten Antrieb. Einerseits wird damit eine starke Subjektzentriertheit verbunden, andererseits wird aber auch das ›Allganze‹ betont, innerhalb dessen sich der Wille erst entfalten kann. Die Choreosophie stellt in ihrer Gesamtheit, vor allem, wenn man Labans erste größere Schrift Die Welt des Tänzers von 1920 hierzu in den Blick nimmt, eine vitalistisch-organische Konzeption dar,49 die gleichwohl eine genaue Bewe 46 |  Siehe CH 88ff., 8. Kapitel. 47 |  Ebd., S. 55. 48 |  Ebd., S. 57. 49 |  Bereits in Die Welt des Tänzers entfaltet er die Idee einer Kristall-Philosophie, die zu jener Zeit recht verbreitet war; vgl. Laban: 1920. Zahlreiche Künstler, wie z.B. Ernst Haeckel oder Bruno Taut, waren ebenfalls fasziniert von einer Mischung mathematischer und mystischer Ansätze.

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Entwürfe und Gefüge gungsanalyse ermöglicht.50 Die scheinbar paradoxe Verbindung von Mathematik und Magie, von Mikro- und Makrokosmos, von Kreisläufen und Energetik, lässt sich, wie Gabriele Brandstetter darlegt, zurückverfolgen auf die lebensphilosophischen Ansätze der Zeit, zu Nietzsche, Klages und Bergson.51 Dass gerade der »Schrifttanz«52 als Wirkungsmuster und als Medium eines Ganzheitskonzeptes gilt, das die »Vergeistigung des Leiblichen und damit die Befreiung des Leiblichen zum Wunsch und Willen unserer Zeit werden lässt«,53 ist jedoch nicht so verwunderlich, bedenkt man die engen Verbindungen von Abstraktion und Organischem, welche sich zu jener Zeit Bahn brechen und die nicht mehr, wie noch kurz zuvor, als unüberwindlicher Dualismus behandelt werden. Mit Wilhelm Worringers Studie Abstraktion und Einfühlung von 1907 wird der Gegensatz zwischen romantischer Naturphilosophie, wie sie den Einfühlungstheoretikern noch zum Vorwurf gemacht wurde, und einem Abstraktionsvermögen zumindest ansatzweise aufgelöst. Worringer stellt neben den Einfühlungsdrang den Abstraktionsdrang des Menschen als anthropologische Konstante, die ihm ermögliche, dem »verwirrenden und beunruhigenden Wechselspiel der Außenwelt-Erscheinungen« Ruhepunkte entgegenzusetzen. Damit ist aber keine distanzierte Haltung gegenüber dem Wahrgenommenen intendiert, auch die geometrische Abstraktion besitze gleichermaßen wie die organische Natur das Vermögen sich in sie hinein zu versetzen. Ästhetischer Genuss als objektivierter Selbst-Genuss, Dynamisierung der Wahrnehmung, Immaterialisierung und energetische Phänomene, wie sie z.B. in der Photographie sichtbar gemacht wurden, sollten den verborgenen Lebensstrom alles Bewegten sichtbar machen. Die Vorlesungen, die Laban ab 1899 in München beim Künstler, Architekten und Theoretiker Hermann Obrist hörte,54 inspirierten ihn, in allem lebendige, 50 |  Evelyn Dörr macht darauf aufmerksam, dass Laban mit einem seiner Architekturentwürfe, die er später an der École des Beaux-Arts in Paris einreichte – ein kristallines Raumgebilde mit sechseckiger Bühne –, das Stilprinzip expressionistischer Architektur, deren wichtigstes Attribut das Kristalline war, vorwegnahm. Vgl. auch Regine Prange: Das Kristalline als Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee, Hildesheim: Georg Olms Verlag, 1991. 51 |  Gabriele Brandstetter: Tanzlektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt am Main: Fischer, S. 135. 52 |  Vgl. dazu die von der Deutschen Gesellschaft für Schrifttanz von 1928 bis 1931 publizierte Zeitschrift Schrifttanz. Methodik, Orthographie, Erläuterungen. 53 |  Die neue Tanzschrift, zitiert in Brandstetter: 1995, S. 439. 54 |  Evelyn Dörr: Die Schrift des Tänzers. Rudolf von Laban, ein Portrait, Norderstedt: Books on demand, 2005, S. 24ff. Zu Hermann Obrist vgl. Zeynep Çelik Alexander: »Zur Konstruktion körperlichen Wissens. Theorien der ästhetischen Wirkung im Münchner Jugendstil«, in: Robin Curtis/Gertrud Koch (Hg.): Ein-

Entfaltung von Bewegung bewegte Formen, ein physiologisch-funktionales Ganzes zu sehen. Die Frage, worauf jede (menschliche) Bewegung basiere, welche Gesetze ihr zugrunde liegen, wird zwischen Jugendstil und Expressionismus mit dem vegetabilen Wuchern der Formen in Verbindung gebracht. Lebenswissenschaftliche Aspekte und eine ›Ästhetik der Lebendigkeit‹, wie sie sich im späten 19. Jahrhundert ausgebildet hatten, veranlassten die Künste, ihre Darstellungen jenseits repräsentativer, mimetischer, anatomischer, perspektivischer Regeln neu zu fassen.55 Inge Baxmann hat darauf hingewiesen, dass die Kristallphilosophie bei Laban mit dem Erkenntnisprozess in Verbindung gebracht wird und zum Symbol eines neuen Bewegungs- und Raumverständnisses wird.56 Als Symbol der Verschmelzung der gegensätzlichen Tendenzen der modernen Kunst und Kultur sollte der Kristall als Ordnungsmuster gelten. Die Kristallformation versinnbildlichte ebenso die ›lebende‹ (soziale) Struktur 57 und galt darüber hinaus als Symbol der Einheit, die aus Bewegung und der Komplementarität entgegengesetzter Spannungen, wie sie Laban in der Choreutik beschreibt, entsteht. »DER KRISTALL LEBT. Der Kristallisationsprozess ist Erregung und Bewegung... ›Verstehen‹ ist im Grunde das Befolgen einer Erregung, einer Kraft, durch Bewegungen, Wachsen usw. Es gibt fremde Anstöße, die befolgt sein wollen [...]; und es gibt Eigenanstöße, wie die Strebungen im Kristall nach bestimmten Richtungen der Gedanken, Triebe und Gefühle. Immer bleibt aber das ›Verstehen‹ ein Vorgang, den wir bisher mit dem Worte ›geistig‹ zu bezeichnen gewöhnt waren. Bleiben wir bei dieser Bezeichnung, so ist auch der wunderbare Aufbau des Kristalls ein geistiger Vorgang.«58 fühlung. Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Fink, 2009, S. 213-231. 55 |  Vgl. dazu: Claudia Blümle/Armin Schäfer: »Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung«, in: dies. (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Berlin/Zürich: diaphanes, 2007, S. 9-25. 56 |  Inge Baxmann: »Kristalline Ordnungsmuster. Architektur und Tanz«, in: dies.: Mythos Gemeinschaft, Körper- und Tanzkulturen in der Moderne, München: Fink, 2000, S.  151-159. Baxmann erwähnt in jenem Kapitel auch die in diesem Zusammenhang bedeutenden Arbeiten Oskar Schlemmers, der wie Laban ein System des Menschen im Raum entwickelt, das er am Bauhaus erprobt – was hier jedoch nicht im Detail ausgeführt werden kann. 57 |  Weiterführend wären an dieser Stelle die Ideen zu Bruno Tauts Glashaus heranzuziehen, vgl. dazu: Kristallisationen, Splitterungen: Bruno Tauts Glashaus Köln 1914, Katalog der Ausstellung des Werkbundarchivs, Berlin: Birkhäuser 1993. Insbesondere wäre es interessant das Glashaus auch als einen Vorläufer für Buckminster Fullers geodätische Kuppeln zu untersuchen. 58 |  Laban: 1920, S. 59, zitiert in Baxmann: 2000, S. 153.

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Entwürfe und Gefüge Auch hier wird erneut der Gedanke der Einheitlichkeit, der Ganzheitlichkeit betont, ebenso wie der Umstand, dass die Transformationen von einem Zustand in den anderen – die Übergänge von einer Form in die andere – als energetische Vorgänge zu verstehen sind. Die Verwandlung der fünf platonischen Körper ineinander, die Metamorphose von einem qualitativ energetischen Zustand zum nächsten, wie sie bei Laban dem Konzept des Ikosaeders zugrunde liegt,59 ist auch im Folgenden für Buckminster Fullers Konzeption einer »lebendigen Architektur« – insbesondere der Jitterbug-Transformation – von wesentlicher Bedeutung. Diese Transformationsfigur stellt systematisch die Frage danach, wie sich die einzelnen Teile zueinander verhalten, welche Linien sie bilden, welche Formen sie generieren und wie deren Übergänge beschaffen sind.

3.2 Kritik und Perspektiven des Laban’schen Modells Labans Modell der Kinesphäre kann als Element einer Theorie kinästhetischer Erfahrung studiert werden. Jedoch ist zu fragen, ob die ästhetischen Elemente des Kinetischen in der Aufmerksamkeit für Körperempfindung alleine hinreichend begründet sind, oder wie diese als kinästhetische spezifisch zu charakterisieren wären. Zugleich kann eine Konzeption ästhetischer Erfahrung aus der Perspektive eines choreographischen Denkens genauer gefasst werden, werden diese Dimensionen körperlicher Empfindung und die von ihnen strukturierte Konstruktion von Raum als eine nicht zu hintergehende Grundlage von Erfahrung ernst genommen. Konsequenzen ergeben sich auch für das Verhältnis von Erkenntnis und Empfindung, die nicht mehr als eine Vorstufe der Erkenntnis gelten kann, sondern mit einem spezifischen Körperwissen verbunden ist, das sich in kinästhetischer Erfahrung erschließen lässt.60 In der Erweiterung und Transformation des Laban’schen Ansatzes im postmodernen und zeitgenössischen Tanz wird Empfinden insofern als ein Empfindlich-Sein oder Empfindlich-Werden gefasst, wie es bei Merleau-Ponty verstanden wird; es ist keine Entscheidung, sondern eher a-personal zu verstehen. Damit öffnet sich die subjektzentrierte Perspektive des Laban’schen Modells auf eine intersubjektive Durchdringung von Welt und Subjekt.61 59 |  Vgl. Dörr: 2005, S. 140ff. 60 |  Vgl. zu den Transformationen des Konzepts der Kinesphäre in der zeitgenössischen Choreographie: Valerie Preston-Dunlop/Anna Sanchez-Colberg (Hg.): Dance and the Performative. A Choreological Perspective. Laban and beyond, London: Verve, 2002. 61 |  Wohl kann Labans Kinesphäre als ein Modell gefasst werden, das Bewegung über ein dynamisches Verhältnis von Präsenz und Ereignis gegenüber Absenz und Entmaterialisierung bzw. Ephemeralisierung versteht. Die gleichzeitig angelegte Überfülle von Möglichkeiten, von Spurformen bildet ein Muster, das

Entfaltung von Bewegung Bei Forsythe etwa werden die Bewegungen multipliziert, verschoben, sie wandern durch den Körper; Raummodelle verändern sich und werden wie in den Improvisation Technologies medial überformt. Kontrapunktische Spannungen werden verlagert, Körper-Grenzen werden auf ihre Durchlässigkeit hin trainiert. Dabei wird die Körper-Eigen-Innen-Wahrnehmung (proprioception, vgl. Kapitel 1.6.4 und 1.6.5) als einer der wichtigsten Faktoren der tänzerischen Arbeit beschrieben. Aus der Tatsache, dass gerade diese zu erwerbende Fähigkeit, die erhöhte Sensibilisierung im Zusammenhang mit dem Kinesphäre-Modell, so wichtig für die tänzerische Interaktion ist, ergeben sich daran anschließende Fragen: ob der Tänzer z.B. eine Art innere, energetische Karte seiner Bewegungsmöglichkeiten entwirft – und aufgrund welcher Parameter; wie das Erlernen bestimmter Bewegungen, das oft noch in Korrespondenz zum Bild im Spiegel trainiert wird, möglich ist, oder wie genau jene wechselseitigen Prozesse zwischen dem Taktilen und Visuellen im Tanzen und in der Betrachtung von Tanz zueinander im Verhältnis stehen. Der Leib62 wird hier als »Vehikel des Zur-Welt-Seins« (MerleauPonty), als handelnder, kommunizierender Leib beschrieben. Der Selbstbezug des Leibes kann als Selbstvergewisserung und Bedingung für ein Handeln in der Welt gelten. Die Form der Bewegung wird jedoch gerade in diesem Rahmen immer auf etwas hin, für jemanden entworfen, öffnet sich Verweisen und Kontexten. Insofern ist bei Merleau-Ponty das Subjekt selbst ebenso auch etwas, was entworfen wird, im Werden ist. Trotz der beschriebenen Kritik am phänomenologischen Ansatz, a-historisch zu argumentieren oder Fragen des Medialen auszublenden, können die Konzepvielfältige mögliche Aktualisierungen beinhaltet. Wenn Abwesenheit im Sinne Heideggers als Wechselspiel zwischen entbergendem und verbergendem An- und Abwesen aufgefasst wird – in einem dynamischen, nicht dualistischen Verhältnis, das Bezug und Entzug im Spiel hält und an Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit bindet, kann Leere als Latenz und Potenz gefasst werden: als eine présence d’absence, wie sie bei Paul Valéry gefasst wird, in der Unendlichkeit und Fülle, von Spurformen der potentiell möglichen Bewegungen. Zeitliche Aspekte finden hierin ebenso ihre Resonanz: Denn vor den »Schnappschüssen« (CH 13), die zwischen den Bewegungen entstehen, beschreibt Laban gerade die Zwischenphasen des Übergangs als den eigentlichen Kern von Bewegung. Diese wahrnehmungstheoretischen Fragen ermöglichen mit der Leere zugleich das imaginäre Öffnen von Räumen und können somit für eine Betrachtung von Potentialität und Aktualität auch im Rahmen eines architektonischen Denkens von Belang sein. 62 |  Ich wechsle an dieser Stelle mit dem erneuten Bezug auf die phänomenologische Theoriebildung wieder zum Begriff des Leibes; im Tanz wird nicht immer begrifflich auf die hier gegebene Unterscheidung zwischen dem repräsentativen Körper und dem kinästhetsichen Leib-Empfinden getrennt.

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Entwürfe und Gefüge tionen der Kinesphäre und kinästhetischen Subjektivität als produktive Ideen für ein choreographisches Denken gelten: Als analytisches Raum-Zeit-Modell ermöglicht Labans Konzept dem Tänzer und Choreographen die vielfältigen Relationen zwischen dem Körper und seiner Umgebung genau zu beschreiben und zu analysieren. Einzelne Aspekte des phänomenologischen Ansatzes, wie die Ausdehnung des Leibes oder die Relationierung von Lage und Bewegungsempfindung scheinen zentral für verschiedene Bewegungstechniken, doch hat auch das Wissen darum, dass Bewegung niemals ungerahmt, ohne historischen, sozialen, technischen Kontext zu denken ist und dass sie mittels verschiedener Medien inszeniert und wahrgenommen wird, seine Spuren im zeitgenössischen Tanz hinterlassen. Welche Parameter werden also modifiziert, wenn man Labans Ideen auf die zeitgenössische choreographische Praxis überträgt?63 In den Improvisation Technologies zeigt William Forsythe beispielsweise, wie sich Bewegung dabei verändert. Als Ausgangspunkt dient ihm die Frage: »But what if movement does not emanate from the body’s centre? What if there were more than one centre? What if the source of a movement were an entire line or plane and not simply a point? Choreutics inspires such questions.«64 Entsprechend dieser Vorannahmen transformiert er Labans Modell, indem er die Punkte, von denen aus Bewegung initiiert werden kann, multipliziert. Vor allem scheint mir in diesem Zusammenhang der Punkt zentral zu sein, inwiefern Labans subjektzentriertes Modell abgelöst wird, das immer noch von einer bestimmenden Körpermitte, einem einzigen Schwerpunkt ausgeht und letztlich doch eine Stabilität ins Zentrum der Bewegung setzt. Zentral für zeitgenössische Ansätze ist die Frage danach, wie diese Stabilität unterminiert und wie eine nicht-intentionale Bewegung im Zusammenspiel mit der für diese Interaktion notwendigen Relationalität verbunden werden kann. Wie können nichtwillentlich herbeigeführte Bewegungen oder Momente der zeitweiligen Desorientierung produktiv gemacht werden? Und wie wäre damit auch ein Denken der Intentionalität zu ergänzen durch ein Modell, das eher intersubjektiv ausgerichtet ist, das Bewegung vor dem Hintergrund versteht, dass sich die Dinge der Wahrnehmung darbieten, ohne dass das Subjekt darüber direkte Verfügungsgewalt hätte? Mit Husserl und Laban wird ein Raumempfinden ins Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit gesetzt, beide gehen mit diesem Resonanz-Verhältnis auf Ansätze zurück, die bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Einfühlungstheorie 63 |  Valerie Preston-Dunlop und Anna Sanchez-Colberg versuchen in ihrer Studie die Einflüsse Labans auf zeitgenössische Choreographen nachzuweisen, bleiben dabei jedoch an der Oberfläche und weisen lediglich einzelne Elemente nach ohne sie jeweils tanzhistorisch in ihren Verschiebungen zu verorten. 64 |  Baudoin/Gilpin: 2004, S. 117-124.

Entfaltung von Bewegung thematisiert werden. In diesem Zusammenhang mag es aufschlussreich sein, noch einmal einen historischen Sprung zurück zu machen, um jene einfühlungstheoretischen Überlegungen zu betrachten, wie sie auf dem Gebiet der Architektur als einer Raumkunst verstanden wurden. Zu fragen ist in dieser Hinsicht, welche Perspektivverschiebungen sich damit verbinden, welche Defizite und welche Stärken durch diese Perspektivierung deutlicher hervortreten.

4 Vom kinästhetischen Leib zum architektonischen Raum 4.1 August Schmarsow und Heinrich Wölfflin Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelt sich angesichts der neuen Kenntnisse in Kinetik, Psychophysik und Einfühlungstheorie auch der architektonische Diskurs: Von einem repräsentativen System, welches sich immer noch auf Vitruvs Paradigmen firmitas, utilitas, venustas beruft, verschiebt sich der Akzent zur »Architektur als Kunst der Raumschöpfung«,65 die sich von einem durch die Bewegung definierten Körperzentrum aus zur äußeren Form entwickelt. Diese Entwicklung wird hauptsächlich durch die Theorien von August Schmarsow (1853–1936) und Heinrich Wölfflin (1864–1945) befördert.66 Sie sind die ersten, die Architektur vom Rezipienten und seinen synästhetischen Fähigkeiten her denken. Beide gehen von einer Projektion des menschlichen Körpers aus, von einer Übertragung vom Körper auf den gebauten Raum. Wölfflin konzeptualisiert Architektur als plastischen Körper,67 Schmarsow hingegen beschreibt Architektur als raumschöpfende Kunst.68 Er geht von der Axialität des menschlichen Körpers aus, seiner aufrechten Haltung und seinen Fähigkeiten, Bewegung im 65 |  August Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung (Antrittsvorlesung, 08.11.1893, Universität Leipzig), Leipzig: Hiersemann, 1894. 66 |  Vgl. Kirsten Wagner: »Vom Leib zum Raum. Aspekte der Raumdiskussion in der Architektur aus kulturwissenschaftlicher Perspektive« und Cornelia Jöchner: »Wie kommt Bewegung in die Architekturtheorie? Zur Raum-Debatte am Beginn der Moderne«, in: Wolkenkuckucksheim 16, Gebaute Räume. Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt, November 2004, unter: http://www.cloud-cuckoo.net/ openarchive/wolke/deu/Themen/041/Wagner/wagner.htm und http://www.cloudcuckoo.net/openarchive/wolke/deu/Themen/041/Joechner/joechner.htm (letzter Zugriff: 06.12.2018). 67 |  Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (Dissertation, Universität München, 1886), in: Joseph Gantner (Hg.): Heinrich Wölfflin: Kleine Schriften, Berlin: Gebr. Mann, 1946, S. 13-47. 68 |  Schmarsow: 1894.

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Entwürfe und Gefüge Zusammenhang zur visuellen Wahrnehmung zu verstehen. Die Spannung zwischen Vertikale und dem Grund markiert die wichtigste Achse und deshalb wird auch die Dimension der Tiefe als schöpferisches Prinzip der Architektur durch räumliche Korrelationen bestimmt. Ergänzend dazu und als Konsequenz unserer Atmung, unseres Herzschlags und unserer Vorwärtsbewegung definiert Schmarsow den Rhythmus als korrespondierendes schöpferisches Prinzip. Ähnlich wie bei Laban finden sich in Schmarsows Schriften sowohl analytisch-räumliche Prinzipien, die das Verhältnis zum Grund beschreiben, als auch energetisch-dynamische Kategorien, die als Projektionen vom menschlichen Körper auf den Baukörper gefasst werden. Diese Aspekte lassen sich durchaus mit den Passagen aus Labans Choreutik vergleichen, vor allem aber scheint es im Architekturkontext von Bedeutung, dass Schmarsow einen Körper konzeptualisiert, der nicht länger nur als äußeren Kräften ausgesetzt beschrieben wird, sondern selbst zum Ausgangspunkt wird den drei-dimensionalen Raum zu erfahren.69 Schmarsows Intention zielt keinesfalls darauf, eine Geschichte oder Entwicklung der räumlichen Formen zu schreiben, sondern zu beschreiben, wie ein Raumgefühl zu entwickeln sei und wie es möglich werde, dass architektonische Formen Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können. Wölfflin hingegen betrachtet den menschlichen Körper als geschlossenen Organisationskomplex, der sich durch Symmetrie auszeichnet, dabei in einzelne Glieder unterteilt ist und dem Einfluss der Schwerkraft unterliegt. Dieser Leibkörper erscheint als Bedingung für die psychologischen Effekte und Wirkungen der Architektur. Beide, der Leibkörper und der Architekturkörper, stehen laut Wölfflin in einem Verhältnis der Empathie. Wölfflin unterstreicht die Bedeutung des Psychologischen und der Ausdrucksmöglichkeiten der Architektur, etwa wenn er Asymmetrie beschreibt, die als »körperlicher Schmerz« hervortrete, oder »als ob ein Körperteil fehlen würde«.70 Ihre Überlegungen zur Raumerfahrung tragen bei zu einer Art ›Erziehung des Rezipienten‹; Architek-

69 |  In gewisser Weise können diese Ideen sicher als Vorläufer einiger modulor-ähnlichen Ansätze, wie sie von Le Corbusier bis hin zu Neuffert dargestellt werden, und wie sie auch Labans ikosaedrisches Kinesphäre-Modell prägen, verstanden werden. Die Architekten beschreiben mit dem Modulor jedoch nur das menschliche Maß, vernachlässigen aber die Bewegung sowie Aspekte der Ausdehnung des Leibes. Es ist in dieser Hinsicht zudem bezeichnend, dass Schmarsow wie auch Laban den Begriff der Ausstrahlung und Aura in diesem Kontext verwenden. 70 |  Diese fast anthropomorphe oder animistische Sicht der Architektur ist jedoch keine Erfindung von Wölfflin oder Schmarsow, sondern lässt sich bis zu Vitruv zurückverfolgen.

Entfaltung von Bewegung tur wird nicht als anthropomorphes Bild gefasst,71 sondern Raum wird hier als kommunikatives Medium begriffen. Die räumliche Orientierung des Menschen in der Architektur ist bei beiden nicht lediglich abhängig von einem singulären optischen Eindruck. Entscheidender ist, dass mit der Einsicht in die Bedingungen der räumlichen Empfindung die Bewegung als wichtigster Teil der Wahrnehmungsakte hervortritt. Wie aber ist der psychologische Übertragungs-Mechanismus, die enge Verbindung zwischen dem leiblichen Körper und einem historisch sich wandelnden Raumgefühl zu verstehen? Die Architektur fordert leibliche Empfindungen heraus. So kann ein Gebäude als Antwort auf eine bestimmte Bewegungsqualität verstanden werden, oder es kann einen an eine besondere Materialität erinnern, die unseren Tastsinn betrifft, oder die wiederum zwischen den einzelnen wahrgenommenen Empfindungen und Sinnesfunktionen vermittelt. Die Bedingung dafür, dass Schmarsow und Wölfflin ihre Konzepte entwickeln konnten, liegt in den Forschungen zur Einfühlungsästhetik begründet, wie sie von Friedrich Theodor (1807–1887) und seinem Sohn Robert Vischer (1847– 1933)72 sowie Theodor Lipps (1851–1914) entwickelt wurde.73 Diese gehen nicht von einer objektiven Realität aus, sondern davon, dass diese immer von einem Subjekt konstruiert wird. Lipps schlägt sogar eine direkte Korrelation zwischen der Form des wahrgenommenen Objektes und den Wahrnehmungs-Organen des wahrnehmenden Subjekts vor – vergleichbar einem Modell der Resonanz, wie es später auch bei Husserl konzipiert wird. Von diesen Vorannahmen ausgehend kommen sie zu einem anthropologischen Raumbegriff. Die ästhetischen Faktoren der »Raumanschauung« (Lipps) zeigen inwieweit Wahrnehmung von Erfahrung geleitet ist, als einem bestimmten Gefühl, einer Empfindung, die in Verbindung mit dem wahrgenommenen Objekt und seiner Materialität zum Tragen kommt. Die »Ineins- und Zusammenfühlung« (Lipps) eines Ichs mit einem Nicht-Ich, von Subjekt und Objekt wird hier zu einem vermittelnden Af 71 |  Die Darstellung des menschlichen Körpers als modularer Ausgangspunkt für den Architekturentwurf ist nicht neu, sie findet sich bei Vitruv sowie Leonardo oder auch später bei Le Corbusier oder Ernst Neuffert (s.o.). 72 |  Der Begriff der Einfühlung findet sich allerdings erstmals bei Robert Vischer: Über das optische Formgefühl [1873], zitiert in Robin Curtis: »Einführung in die Einfühlung«, in: dies./Koch (Hg.): 2009, S. 11-30, hier, S. 19. 73 |  Vgl. Theodor Lipps: Ästhetische Faktoren der Raumanschauung, Hamburg/Leipzig: 1891; sowie »Einfühlung und ästhetischer Genuß« [1906], zitiert in Curtis/Koch (Hg.): 2009, S. 12 Im Sinne einer Ästhetik von unten versuchten sowohl die Experimentalpsychologie als auch die Einfühlungsästhetik die Metaphysik des Schönen um eine zweite, physiologische Ästhetik zu erweitern. Der Ansatz dieser Erfahrungswissenschaften, eine neue Wirkungsästhetik zu formulieren (Fechner) geht von empirischen Prämissen aus.

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Entwürfe und Gefüge fekt. Der Raum wird so einerseits zum Distinktionsmedium zwischen Subjekt und Objekt, also Medium identitätsbildender Distanznahme, andererseits ist er zugleich Medium allumfassender »durchfühlter« Einheitserfahrung. Jedoch werden andere wichtige Faktoren vernachlässigt, wenn man das architektonische Denken lediglich unter jenen phänomenologischen Gesichtspunkten angeht: Schmarsows und Wölfflins Verdienst für die Theorie zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Baupraxis entscheidend wandelt, kann nur angemessen beurteilt werden, wenn man zugleich die fundamentalen Veränderungen bedenkt, welche die Bedingungen der Architektur zu jenem historischen Zeitpunkt betreffen: Die Nutzung neuer Baumaterialien, wie Stahl, Glas und Beton, sowie die Beschleunigungen im Transportwesen, in der Kommunikation und Produktion und schließlich ein gewandeltes Raumkonzept in den Naturwissenschaften fordern die Art und Weise der räumlichen Wahrnehmung heraus. Ebenso muss an diesem Punkt auch das Verhältnis von kinästhetischer Erfahrung und symbolischen Formen, Zeichenhaftigkeit und der Historizität bestimmter Ideen und Konzeptionen hinterfragt werden.

4.2 Der nichtsimultane Raum: Neue Raum-Zeit-Modelle Neue technologische Paradigmen erfordern andere Raummodelle und ein neues Verständnis von Körper und Materie. So wird dem dreidimensionalen euklidischen Raum zum Ende des 19. Jahrhunderts das vierdimensionale RaumZeit-Kontinuum an die Seite gestellt, das zuerst mit Luftschiffen und U-Booten sinnlich erfahrbar wird.74 Vierdimensional ist der Raum nicht mehr homogen, er wird vielfältig. Entsprechend kann nicht mehr von dem Raum, sondern nur noch von unendlich vielen Räumen die Rede sein, analog dazu, wie es im dreidimensionalen Raum unendlich viele Ebenen gibt.75 Paradigmen und Dichotomien wie stabil – labil, statisch – dynamisch, leicht – schwer müssen angesichts dessen neu reflektiert werden.76

74 |  Beim Höhenruder ist, im Gegensatz zu früheren Fahrzeugen, die sich zwar auch in der Zeit, aber nur auf der Fläche bewegten, jede Positionsbestimmung mit einer Zeitangabe verbunden. 75 |  Der Mathematiker und Physiker Hermann Minkowski entwickelte in Anlehnung an die Relativistätstheorie Albert Einsteins den sogenannten MinkowskiRaum, in dem dynamische Raum-Zeit-Modelle gedacht werden können, zitiert in: »Projektion und nicht-simultaner Raum«, Joachim Krausse im Gespräch mit Philipp Oswalt und Nikolaus Kuhnert, in: ARCH+ 107, März 1991, Textiler Raum, S. 59-65. 76 |  Vgl. Christoph Asendorf: Entgrenzung und Allgegenwart. Die Moderne und das Problem der Distanz. München: Fink, 2005; sowie insbes. ders.: Super Con-

Entfaltung von Bewegung Ein anderes Verständnis des Körperlichen und der Materie betrifft z.B. auch das Wohnen und Bauen: Das Haus wird plötzlich als ansatzweise ephemer, der Raum als Weg, als Prozess verstanden (so etwa bei Josef Frank Der Raum als Weg und Platz [1931] oder bei Le Corbusier im Begriff der promenade architecurale), d.h. er wird in seinen Raumfolgen, Funktionen, Materialien gegliedert und sequentiell erfasst. Verfahrensweisen, wie sie eher den Zeitkünsten Musik und Tanz oder dem seinerzeit neuen Medium Film entsprechen, halten somit auch Einzug in Architekturdarstellungen. Vergleichbar am stärksten äußert sich dieses veränderte Zeitbewusstsein in der Euphorie der Dynamisierung aller Lebensbereiche und -gegenstände später bei den Futuristen. Boten Schmarsows und Wölfflins Ansätze einen phänomenologisch und einfühlungstheoretisch gerahmten Ansatz im Hinblick auf die Inszenierung des Raumes, so rücken die Szenarien der Raumwahrnehmung nun in den Mittelpunkt. Die darin stattfindende Separierung respektive Zusammenführung der sinnlichen Einzelfunktionen betrifft auch Buckminster Fullers Idee der Ephemerisierung. Er ist einer der ersten, der auf der Einführung eines neuen Raumbegriffs in die Architektur insistiert und daraus ein anderes Verständnis von Körperlichkeit und Materie entwickelt. Mit der raum-entgrenzenden Umhüllung der geodätischen Kuppeln schafft er einen vieldeutigen Wahrnehmungsraum. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang danach, welche Parameter kinästhetischer Empfindung, wie sie bei Husserl formuliert sind, sich hinsichtlich jener Umwälzungen im raum-zeitlichen Gefüge verändern. Schließlich ist die Relativität des Raumes, seine Relation zur zeitlichen Dimension aber auch in einem anderen Rahmen zu verstehen, der für die Choreographie wie für die Architektur gleichermaßen von Bedeutung ist: Die benannten Veränderungen im raum-zeitliche Gefüge betreffen einen Körper, der sich jedoch in der alltäglichen Bewegung durch den umgebenden, gestalteten Raum immer noch stark an euklidischer Geometrie und der für ihn gewohnten Perspektive orientiert.77

stellation, Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien/New York (NY): Springer, 1997. 77 |  Ein relationaler Raumbegriff wird aber auch von soziologischer, bzw. symboltheoretischer Seite thematisiert; siehe beispielsweise Henri Lefèbvre: »Die Produktion des Raums« [1974] , in Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 330-342.

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5 Richard Buckminster Fuller 5.1 Entwerfen als Form-Findung »Space is meaningless. We have relationships – but no space.«78

Eine andere, nicht phänomenologisch orientierte Herangehensweise an den Gedanken der Entfaltung von Bewegung im Raum entwickelt Richard Buckminster Fuller (1895–1983), für den gerade die Beschleunigungen und technischen Entwicklungen zum Motor seiner Inspiration werden. Er konzipiert ein räumliches Modell, das nicht nur auf den ersten Blick Labans Kinesphäre ähnelt (Abb. 1.4). Abb. 1.4: R. Buckminster Fuller: Arbeit an einer der ersten geodätischen Strukturen, Black Mountain College 1948/49.

Auch die Mittel und Ideen, mit denen sich beide ihren Raummodellen annähern, sind vergleichbar: Beide suchen nach den inhärenten Spannungsgesetzen, von denen aus Bewegung initiiert wird. Für Laban sind die Oppositionen und Spannungen im Körper die treibende Kraft, Fuller sucht nach den zugrunde liegenden Prinzipien und Strukturen einer lebendigen Architektur, danach wie Material gefaltet und entfaltet werden kann. Ging es Schmarsow und Wölfflin um die Korrespondenz der Bewegung vom menschlichen Körper in Resonanz zum Architekturkörper, und fasst Laban das Verhältnis von Kinesphäre und Dynamosphäre von der Bewegung des Körpers her auf, so geht es Fuller um die Entfaltung energetischer Ereignismuster, um ein Projekt der »Ephemerisierung«

78 |  Richard Buckminster Fuller: Utopia or Oblivion: The Prospects for Humanity, New York (NY): Bantam, 1969, S. 348, zitiert in K.  Michael Hays/Dana A. Miller (Hg.): Buckminster Fuller. Starting with the Universe, Whitney Museum of American Art, New Haven (CT)/London: Yale Univ. Press, 2008, S. 11.

Entfaltung von Bewegung der Architektur, darum »to do more with less and less«.79 Dieses Paradigma ist nicht etwa zu verwechseln mit Mies van der Rohes modernistischer Ästhetik des less is more im Sinne einer stilbildenden Schlichtheit, sondern adressiert vor allem technologische Gesichtpunkte einer sich selbst tragenden energetischen Struktur in einer Zeit der zunehmend unsichtbar werdenden Technologien. Fullers Strukturdenken untersucht, wie die einzelnen Teile zueinander eine größtmögliche Effektivität unter geringstem Energieaufwand entfalten und wie in diesem Zusammenspiel eine optimale Effizienz des Ganzen – im Verhältnis zu seinen Teilen – entsteht. Formfindung statt Formgebung heißt in diesem Zusammenhang, sich die Energien und Funktionsweisen der Natur zu eigen zu machen, sie in die technischen Entwürfe einzubinden. Joachim Krausse und Claude Lichtenstein überschreiben die Einleitung ihrer zweibändigen Fuller-Monographie mit »Earthwalking – Skyriding« – ein Titel, der auf die durchgängige Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und Alltagserfahrung bzw. dem ›Common Sense‹ in Fullers Denken verweist. Fuller verbindet seine Studien ganzheitlicher Systeme mit der Relationalität von Innen und Außen und beschreibt damit bereits vor dem Aufkommen der Systemtheorie und der Kybernetik ein Konzept des oikos.80 ›Haushalt‹ wird hier im mehrdeutigen Sinne gedacht: sowohl im Hinblick auf die Verbindung der Ökonomisierung der Bewegungen als auch hinsichtlich des Zusammenhangs verschiedener Elemente und ihrer Steuerung, die bereits damals im Rahmen von Nachhaltigkeit und Selbsterhaltung energetischer Systeme zu verstehen sind. Auf der Suche nach neuen Koordinaten entwickelt Fuller seine Entwürfe von Innen nach Außen, in einem Prozess, in dem die »expandierende Sphäre und die Matrix des allseitigen Wachstums« den Weg zu einer ›living architecture‹ weisen.81 Bereits als 1928 seine ersten Zeichnungen erscheinen, geht seine Denk 79 |  R. Buckminster Fuller, zitiert in Joachim Krausse/Claude Lichtenstein (Hg.): Your private Sky. R. Buckminster Fuller. Diskurs. Baden (CH): Lars Müller, 2001, darin dies.: »Earthwalking – Skyriding«, S. 7-45, hier S. 12. 80 |  Bereits in seinen frühen Überlegungen wird das Wohnen (das in der Architekturtheorie traditionell den Bezug zum menschlichen Leib eröffnet – siehe hierzu Martin Heidegger: »Bauen, Wohnen, Denken« [1951] in: ders.: Gesamtausgabe, I. Abt.: Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Bd. VII, Vorträge und Aufsätze, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann, 2000, S.  145-164) nicht als »housing«, sondern als »shelter« bezeichnet, ökologische Komponenten werden betont, das ganze System von Kräften und Elementen, von Entfernungen und Bewegungen werden bedacht. Shelter ist zudem der Titel einer Zeitschrift, die Fuller von 1932 an herausgibt, und in der er seine Ideen vertrit und publiziert. 81 |  R. B. Fuller, zitiert in Krausse/Lichtenstein: Diskurs 2001, S.  22ff. und S. 32f. Der Vorstellung einer ›lebendigen Architektur‹ verbindet Fuller und Laban.

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Entwürfe und Gefüge richtung vom Lokalen zum Globalen sowie »from inside out« – diese Richtung bezeichnet aber nicht nur die Verhältnisse der Räumlichkeiten zueinander, sondern auch Produktionsverfahren selbst. Diese werden vom lokalen Umfeld zu den Systemen, innerhalb derer sie eingebettet sind, entworfen. Eine zunächst etwas naiv anmutende Zeichnung verdeutlicht Fullers Vorstellung, alles sei mit allem verbunden und hänge voneinander ab (Abb. 1.5).

Abb. 1.5: R. Buckminster Fuller: Lightful Houses (1928).

In Diagrammen und Skizzen, Szenarios und Modellen entwickelt Fuller eine Entwurfsphilosophie, die vor allem auch zeitliche Abläufe in die Entwurfszeichnungen integriert. Sein Begriff der Anticipatory Design Science82 macht darauf aufmerksam, welches Verhältnis das ›Nicht-mehr‹ zum ›Noch-nicht‹ innerhalb des Entwurfsprozesses unterhält. Das Erspüren von noch nicht Vorhandenem, von Prozessen, die sich in raumzeitlichen Beziehungen entfalten, zeichnet diese Entwürfe aus. In der abgebildeten Diagramm-Skizze zur Jitterbug-Transformation beispielsweise wird die Bewegung einer sich entfaltenden Struktur mittels der eingezeichneten Vektoren antizipierbar (Abb. 1.7). Die Zeichnung weist durchaus Ähnlichkeiten mit derjenigen Labans auf, die eingezogenen Schwungkreise werden in anderen Zeichnungen Labans durch Richtungsvektoren ergänzt und veranschaulichen im Zusammenspiel mit den Schwungskalen (Abb. 1.6 u. Abb. 1.2) die sich von innen nach außen generierenden Bewegungsformen sowie die Dynamik, die sich aus den jeweiligen Spannungesetzen ergibt.



82 | Ebd., S. 15.

Entfaltung von Bewegung

Abb. 1.6 (li.): Rudolf von Laban: Zeichnung der drei Schwungkreise (Hoch-tief-Kreis, Seit-Kreis, Vor-rück-Kreis), in die der Ikosaeder eingeschrieben ist; Abb. 1.7 (re.): R. Buckminster Fuller: Skizze zur Jitterbug-Transformation (1948).

Fullers Leichtbau-Strukturen,83 die er in den geodätischen Kuppeln vervollkommnet (Abb.  1.8), sind getragen vom Tensegrity-Konzept (engl: Zugspannung – zusammengesetzt aus tension und integrity), das er 1948/49 gemeinsam mit Kenneth Snelson und anderen Studierenden am Black Mountain College entwickelt. Als antiklassische Herangehensweise an Struktur und Konstruktion impliziert Tensegrity eine Umkehrung der euklidisch-cartesianisch geprägten Raum- und Bewegungswahrnehmung: Was als kompakt-stehend und solide erscheint, erweist sich als hängend und ephemer. Fuller veranschaulicht hiermit ein Modell der Kohärenz: Wodurch hält etwas zusammen, wenn es nicht die kompakte Masse sein kann? – Durch immer dünnere Zugglieder, die an die Grenze des Geistigen kommen, durch synergetische Spannungsverhältnisse innerhalb eines Systems, das nicht von seinen einzelnen Teilen determiniert wird. Schließlich bringt ihn das zum Schluss, dass: »Nothing in the universe touches anything else: [...] there are no solid bodies, but dependencies and correlations, and transformations of bodies to other states of energy.«84

83 |  Während ›funktionalistisch‹ denkende Architekten der Moderne ebenfalls ein Interesse an Fabrikation und Materialeigenschaften an den Tag legen, behandeln sie jedoch das Gewicht des Gebäudes und sein Verhältnis zum tragenden Untergrund vorwiegend als eine Frage ideologischer Symbolbildung. 84 |  R. Buckminster Fuller, zitiert in Krausse/Lichtenstein: Your Private Sky. R. Buckminster Fuller: Design als Kunst einer Wissenschaft, Baden: Lars Müller, 2001, S. 408f.

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Entwürfe und Gefüge

Abb. 1.8: R. Buckminster Fuller: Geodesic Dome, EXPO Montreal, 1964.

Fuller geht es beim architektonischen Entwerfen um ein In-Beziehung-Setzen, um die Etablierung eines beweglichen Verhältnisses – genauer: Er will Innen und Außen in eine Beziehung des dynamischen Gleichgewichts setzen. Dabei ist der Begriff des Raumes als absolute Größe bedeutungslos, nur Richtungen und Relationen sind für ihn relevant. So kommt er zu der Erkenntnis, dass es keine soliden Körper gibt, sondern nur eine fließende Bewegung, in der sich ein Körper in den anderen auflöst, eine Figur aus der anderen entsteht, Formen zu Phasen einer Bewegungsgestalt werden. Ein Denken in Strukturen, das nicht nach objekthaften Lösungen sucht, sondern nach den Gesetzen der Bewegungsentfaltung, nach Bewegungsmustern und energetischen Transformationen von einem zu einem qualitativ anderen Zustand bildet den Kern sowohl in Fullers wie auch in Labans prozessorientierter Philosophie.85 Wo bei Laban der lebensphilosophische Hintergrund und die Kristallphilosophie Inspiration liefern, ist es bei Fuller der amerikanische Pragmatismus eines John Dewey, ein learning by doing aus dem Geist des Empirimus. Gleichzeitig aber unterlaufen diese Strukturen gewohnte Wirkungsmuster und entziehen sich der sinnlichen Wahrnehmung. So bringen sie schließlich etwas hervor, das kaum wahrnehmbar und noch weniger sichtbar ist, aber dennoch über ein präzises Modell der Entfaltung von Bewegung konstruiert ist und Fullers genuinem Verständnis von Bewegung entspringt. Fullers Ideen sind 85 |  Auch der Architekturtheoretiker Sanford Kwinter würdigt Fuller als einen der ersten Designer, der Struktur als »a pattern comprised entirely of energy and information« verstand, zitiert in K. Michael Hays: »Fuller’s Geological Engagement with Architecture«, in: ders./Miller (Hg.): 2008, S. 2-19, hier S. 14.

Entfaltung von Bewegung keinesfalls direkt mit einem phänomenologischen Denken zu verbinden, aber sie setzen an der Verbindung von empirischem Denken und Erfahrungswissen an. Seine Vorbilder findet er als Empiriker in der Natur und in der Alltagspraxis. So gelten ihm Bäume mit ihrer effektiven Verteilung von Druck- und Zugspannung als Vorbilder für seine Aerodynamic Design Structures, seine TensegrityStrukturen entwickelt er in Anschauung des Drahtspeichenrades, und Sport, so Fuller, intensiviere den intuitiven dynamischen Sinn und gilt ihm als Voraussetzung für kompetente antizipierende Design-Formulierungen. Diese so unterschiedlichen Anleihen verdeutlichen, wie Fuller Verbindungen knüpft, wie er Relationen zwischen scheinbar unabhängigen Vorgängen konzipiert, innerhalb dessen die einzelnen Teile nur in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander existieren und ihre ›Anwendung‹ erst im Zusammenspiel entfalten.

5.2 Navigieren Dieses relative und relationale Wissen reflektiert seine Voraussetzungen und medialen Gegebenheiten ebenso wie seine Historizität. Fuller überträgt es aus seinen Erfahrungen der Seefahrt, die er von Anfang an als Motor seiner Überlegungen bezeichnet. »Der Blickpunkt, der sich durch die Introspektion ergibt, unbegrenzt durch das segmentierte Feld unseres beschränkten Gesichtssinns, ist unsere abstrakt zentrale Position in der Mitte des Universums; von hier schauen oder bauen wir von innen nach außen wie vom Zentrum eines großen Glasglobus der Erde. Durch einen solchen Globus kann die Veränderung der relativen Positionen des gestirnten Universums gesehen werden, wenn man entlang der Zeitlinien in alle Richtungen schaut. Die in Paragraphen zerlegten Gedanken sind nur durch ihre gemeinsamen Wahrheiten verbunden, welche sich zu kristallinen Sphären wahrnehmbarer und denkbarer Fakten materialisieren. Durch sie müssen die radialen Leitlinien des Individualismus unausweichlich hindurchgehen, wenn sie sich in Richtung zeitlicher Unendlichkeit ausbreiten.«86

So zeigt seine Dymaxion World Map, die 1943, inmitten des Zweiten Weltkriegs, im US-amerikanischen LIFE-Magazine veröffentlicht wurde, alternative Bewegungs- und Orientierungsmuster gegenüber der üblichen Mercator-Projektion auf.87 Fuller entwirft eine geopolitische Aufteilung des Raumes, die nicht mehr die notwendige Verortung von einem fixierten Standpunkt in den Mittelpunkt 86 |  R. Buckminster Fuller: »4D Time Lock« (1928/1972), in: Krausse/Lichtenstein (Hg.): 2001a/b, S. 364. 87 |  Krausse/Lichtenstein (Hg.): 2001a/b; sowie Asendorf: 1997.

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Entwürfe und Gefüge stellt, wie es der Ausgangspunkt für die jahrhundertelang beherrschende Mercatorprojektion bis dahin war, sondern stattdessen schlägt er eine bewegliche Lösung vor und ermöglicht so eine Neuorientierung. Abgedruckt wurde die Karte als Ausschneidebogen, sodass der Leser sich seine ›Weltsicht‹ erst selbst zusammenbasteln musste, wobei es verschiedene Möglichkeiten gab: entweder ein gefalteter Globus oder aber ein Kartenlegespiel – ein Puzzle (Abb. 1.9).88

Abb. 1.9: R. Buckminster Fuller: Dymaxion Map, 1942.

Karten zeichnen sich durch die Verbindung von Schriftlichkeit und Bildlichkeit aus sowie durch ihre Operationalität; sie können präskriptive wie auch aufzeichnende Funktionen erfüllen. Durch das Ineinander der Prozesse – produktionsästhetische Verfahren, welche sich im Akt der Rezeption, des Lesens 88 |  Fuller denkt nicht in Bildern, sondern in Modellen, die immer auch einen Bezug zu energetischen Verhältnissen haben, siehe dazu Joachim Krausse: »Bauen von Weltbildern. Die Dymaxion-World von R.  Buckminster Fuller«, in: ARCH+ 116, März 1993, Gebaute Weltbilder, S. 50-69, hier S. 57. Auch die Dymaxion-Map ließe sich als ein Modell verstehen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die fast gleichzeitige Entwicklung des Leichtbaus (Schalenbauweise oder geodätische Strukturen) sowie des Flugzeugbaus, die sich zum einen aus der Entwicklung neuer Materialien, aber vor allem zum anderen aus der Notwendigkeit eines zu dynamisierenden Weltverhältnisses ergab. So setzt sich der Name der Dymaxion-Map, die nur ein Projekt innerhalb einer ganzen Reihe war (mobile Wohneinheit, Automobil), aus den Worten Dynamic Maximum zusammen. Außerdem entwickelt Fuller 1938 ein Konzept zur Ephemeralisierung, das es ermöglichen sollte, »to do more with less and less«. Vgl. Krausse/Lichtenstein (Hg.): 2001, S. 39 und S. 124ff.

Entfaltung von Bewegung und Umsetzens spiegeln, die wiederum in diese eingeschrieben sind, wird der durch die Graphie beschriebene Raum neu erschaffen, und so lässt sich die Aufteilung des Raumes jeweils neu verhandeln. Dabei stellt sich die Frage, welche Erfahrungen des Raumes sich auf welche Art und Weise in diese Graphien eintragen lassen, welche Abstraktionen dieser Erfahrung im Prozess der Konzeptualisierung zutage treten und welche medialen Konfigurationen dazu beitragen, kurz: wie eine Politik des Hegemonialen und der territorialen Machtverteilungen sichtbar wird. Durch die jeweiligen Dispositive des Wissens und die Medien seiner Darstellung eröffnen die Kartographien ästhetische und politische Erfahrungshorizonte, unter denen die Annäherung an das Phänomen Raum stattfindet.89 Bei Fuller wurde mithilfe der geodätischen Verschaltungen die Geographie aus der überlieferten Fixierung gelöst, wobei der Beachtung von Richtungen und Strecken eine besondere Bedeutung zukam. Die geographischen Daten wurden auf einen Polyeder projiziert und konnten so wiederum zu je anderen Flächen aufgefaltet werden. So gab es eine Südpolvariante, in welcher der Südpol im Zentrum lag und die ganze Welt als einziger Ozean erschien, eine Nordpolvariante, welche die Welt als einen einzigen Kontinent darstellte und weitere Varianten verschiedener Ideogramme. Die ›Lesbarkeit der Welt‹ wurde jenseits der sonst gewohnten Strukturen vermittelt und machte den Übergang zwischen Linearität und Netzstruktur deutlich; die Karte als Text wurde durch die variablen Anschlüsse der einzelnen Teile zum Hypertext90 und eröffnete somit wiederum einen Raum vielfältiger Neuverknüpfungen. Im Aufsatz »Fluid Geography« (1944) verdeutlicht Fuller die Hintergründe und Herangehensweisen; er vergleicht Luftfahrt und Seefahrt, setzt sie strikt vom unbeweglichen Wissen der »Landratte« ab und verweist auf die Methode der Navigation als geometrisches Näherungsverfahren,91 das sich dem Entwerfen des Raumes in dem Moment, in dem man ihn »er-fährt«, widmet. Fuller spricht vom »Blindflug zur See«: 89 | R. Buckminster Fuller: »Flüssige Geographie« (1944), in: Krausse/Lichtenstein: 2001a/b, S. 136-152; sowie Joachim Krausse: »Gebaute Weltbilder von Boullée bis Buckminster Fuller«, in: ARCH+ 116, März 1993, S. 50ff.; ders.: »Buckminster Fullers Modellierung der Natur«, in: ARCH+ 159/160, Mai 2002, S. 40-49. Siehe zudem Kirsten Maar: »Das Denken des Kartographischen im Modus des Choreographischen«, in: Armen Avanessian/Franck Hofmann (Hg.): Raum in den Künsten: Bewegung – Konstruktion – Politik, München: Fink, 2010, S. 113-126. 90 |  Krausse/Lichtenstein: Diskurs 2001a/b, S. 35. Ein Hypertext kann verstanden werden als eine netzartige Struktur von Informationen, die durch Querverweise verknüpft sind. 91 |  Bekannte Fehlerquellen werden dabei bewusst ignoriert und relativiert: So erlaubt die Kopplung von Kompass und Karte lediglich eine ungefähre Positionsbestimmung. Ausgehend von einem bekannten Ausgangsort kann durch die

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Entwürfe und Gefüge »Konfrontiert mit einer Menge von Unbekanntem, das sich zwischen den bekannten Häfen einstellte, waren sie [die Seefahrer, K.M.] früh darauf angewiesen, sich auf Instrumente und Fähigkeiten des Intellekts zu verlassen, also auf eine wissenschaftliche Vorstellung. (...) sie sehen die Welt von außen, sie kommen an Land.«92

Die wissenschaftliche Vorstellung wird ergänzt durch die in langjähriger Gewohnheit erworbene kinästhetische Empfindsamkeit der Seefahrer, die als körperliche Disposition ihre Entscheidungen beeinflusst. Diese körperliche Aufmerksamkeit stellt sich nur her, weil die entstehenden Momente der Orientierungslosigkeit nicht ausgeschlossen, sondern gerade ständig mit einbezogen werden, weil die Irritationen und Abweichungen mitgedacht werden. »Die unaufhörliche allseitige Bewegung im Leben des Seemannes wirkt in seinem Kopf weiter...«93 Ausgehend von der notwendigen Verortung auf See wird ein bewegliches Wissen geschaffen. Ost und West, Nord und Süd werden nicht nur als Verortungsbezeichnungen betrachtet, sondern vornehmlich als Richtungen – und somit dynamisiert. Gerade über die als diskontinuierlich erfahrene Umwelt kann die Erfahrung jenseits eines intentional steuerbaren und selbstverständlichen Funktionierens gefasst werden. Akkumulierte Erfahrung und Vorstellungsvermögen wandeln sich gerade auch aufgrund von Verfehlungen in ein Weltwissen, welches die Desorientierung bzw. die stete Neuorientierung und Horizontverschiebung zu einem konstitutiven und konstruktiven Element macht. Diese Dimension der zeitweiligen Aufgabe von Kontrolle, des sich Einlassens auf äußere Kräfte und Bestimmungen sind für die Prozesse des Entwerfens konstitutiv, aber in der weiteren Übertragung auch für Tanz und Choreographie von größter Bedeutung (vgl. Kapitel 2).

5.3 Faltung und Entfaltung: Die Jitterbug-Transformation 1948 wurde Fuller zur Summer-School ins Black Mountain College eingeladen, wo er John Cage, Merce Cunningham, Josef und Anni Albers sowie andere Emigranten des frühen deutschen Bauhauses traf.94 Das Black Mountain College Berechnung von Richtung, Geschwindigkeit und Zeit der Ort ermittelt werden, diese stellt jedoch immer nur eine Annäherung an einen möglichst optimalen Wert dar, sie wird beeinflusst durch Strömungen, Winde, Missweisungen des Kompasses etc. 92 |  R. Buckminster Fuller: »Flüssige Geographie« (1944), zitiert in Krausse/ Lichtenstein: Your Private Sky: Diskurs 2001, S. 137. 93 |  Ebd. 94 |  Fuller war jedoch kein großer Anhänger der modernistischen BauhausTradition, er befand das Verhältnis von Funktionalität und Form als zu formal,

Entfaltung von Bewegung stellte in den Nachkriegsjahren eine Stätte der künstlerischen Avantgarde dar, einen Ort, an dem sich produktive Verbindungen zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher sowie ingenieurs-technischer Forschung ergeben konnten.95 Hier arbeitete Fuller an komplexen Strukturen von energetischen Ereignissen, die miteinander agieren, um letztlich eine stabile Struktur zu entwickeln, und bastelte gemeinsam mit den Studenten und Künstlern aus den unterschiedlichsten Disziplinen an den ersten vielflächigen Würfelformen, wobei auch eine geodätische Struktur entstand, die Labans Kinesphäre-Modell fast entspricht (s. Abb. 1.4). Fullers morphogenetischer Ansatz zielt auf die Emergenz bzw. Selbstorganisation der Formen, an die Stelle solider Körper setzt er raum-zeitliche, energetische Ereignismuster. Dabei beruft er sich auf die Mathematik als Wissenschaft der Struktur, Ordnung und Logik, die Muster hervorbringt, die als Regler oder shifter zwischen logischem Denken und empirischer Wirklichkeit fungieren. Aber auch sein Bezug zu den anderen Naturwissenschaften lässt darauf schließen, wie er Verfahren und Denkweisen überträgt: Aus der Physik entlehnt er den Modellbau, der der Veranschaulichung dient. Mithilfe dieser embodiments of mind baut er die dichtesten Kugelpackungen und erforscht auf empirischem Wege auch die Tensegrity-Strukturen (Abb. 1.10). Ebenso macht er sich die Biologie zunutze: Fuller bezieht sich explizit auf D’Arcy Wentworth Thompsons Buch On Growth and Form von 1917, wie es später vor allem Greg Lynn in der Begründung seiner morphogenetischen, computergenerierten Entwurfsverfahren tut (vgl.  1.6.2.). Fuller formuliert ein morphogenetisches Korrektiv gegenüber präformativen Ansätzen, die infolge der Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert Konjunktur hatten, und betont die Bedeutung mechanischer und physikalisch-mathematischer Einflüsse als strukturbildende Antworten der Lebewesen auf ihre Umwelt.96 Ihn direkt im Kontext

siehe E. J. Applewhite: »Fuller als Poet der Technologie. Eine retrospektive Würdigung«, in: Krausse/Lichtenstein (Hg): Diskurs 2001, S. 46-47, hier S. 47. 95 |  Fuller pflegte bereits in Greenwich Village zahlreiche Kontakte zu Künstlern der damaligen Avantgarde, u.a. auch zu Friedrich Kiesler. An dieser Stelle muss auch Fullers langjährige Freundschaft mit Martha Graham erwähnt werden sowie seine Tochter Allegra Fuller-Snyder, die später die Dance-Ethnography mit begründete. Es geht mir jedoch nicht darum, hier genaue Einflüsse zu dokumentieren. Die bewegungswissenschaftlichen Ansätze in Fullers Denken lassen sich an anderen Stellen im Folgenden deutlich nachweisen. 96 |  Sanford Kwinter: »Emergenz«, in: »Das Komplexe und das Singuläre«, in: ARCH+ 119/120, Die Architektur des Ereignisses, Dezember 1993, S. 77-90. Hier wäre die Parallele zu Labans Faszination für die Kristallphilosophie und die Lebenswissenschaften zurückzuverfolgen.

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Entwürfe und Gefüge

Abb. 1.10: R. Buckminster Fuller: Früheste Übersichtstafel zur energetischsynergetischen Geometrie 1944.

einer lebenswissenschaftlich inspirierten Perspektive zu verorten, ginge sicher zu weit,97 dennoch macht Michael Hays darauf aufmerksam, dass Fuller Architektur als etwas Organisches, im Werden Begriffenes versteht und unterstreicht ihr transformatorisches Potential: »By dealing with purely functional elements, forces, and the multiplicity of their relations in different domains, Fuller’s thought comes close to what Deleuze termed a ›transcendental empiricism‹, which is antirepresentational, vitalistic, and open to the multiple and divergent experiences and manifestations of life, or as Fuller put it, to ›the everywhere and everywhen nonsimultaneously intertransforming, differently enduring, differently energized, interdependently episodic and overlapping, eternally regenerative, scenario Universe’s laws‹.«98

97 |  Hier wären im Weiteren der Zusammenhang zu Ernst Schrödingers Schrift Was ist Leben? (1944) und die Frage nach physikalischen und biologischen Ordnungsmustern näher zu untersuchen, die Information gleichsetzt mit Struktur. 98 |  K.  Michael Hays: »Fuller’s Geological Engagement with Architecture«, in: ders./Miller (Hg.): 2008, S. 7f.

Entfaltung von Bewegung

Abb. 1.11 (li.): R. Buckminster Fuller: Tensegrity Ikosaeder, Modell, 1949, Black Mountain College; Abb. 1.12 (re.): R. Buckminster Fuller: Necklace Dome, geodätische, faltbare Struktur, 1950.

Oktet-Verbindungen gehören zu den leichtesten und stabilsten Raumfachwerken, sie sind synergetisch in dem Sinne, dass es ein Spannungsverhältnis im System gibt, das nicht von seinen Teilen vorher bestimmt ist, sondern sich nur im Zusammenwirken ergibt. Das Gleichgewicht zwischen jenen vektoriell gerichteten Kräften im Kuboktaeder nennt Fuller Vektorequilibrium, die hexagonale Symmetrie, die sich hieraus ergibt, das Kräftegleichgewicht und isotropische Vektormatrix energetisch-synergetische Geometrie. Die Grundzüge dieser Geometrie lassen sich im Gegensatz zu Laban in einer nicht nur oppositionalen Spannung ausmachen. Das Tensegrity-Prinzip beruht auf diesen Druck- und Zugspannungen. Während der Druck nur lokal wirksam ist, verteilen die Zugglieder hingegen die Spannung kontinuierlich; zum einen gibt es auseinanderstrebende, »strahlende« – zum anderen zusammenhaltende, »gravitierende« Kräfte, die Abhängigkeiten innerhalb holistischer Systeme bestimmen, welche des Weiteren durch das Tragwerk und synergetisch kommunizierende Systeme funktionieren. Die Übertragbarkeit jener Verhältnisbildungen denkt Fuller zugleich immer mit, insbesondere die gegenseitigen Abhängigkeiten, welche die Architektur nicht nur in ihrer tektonischen Struktur betreffen, sondern die gerade auch die Interdependenz einer sich selbst hervorbringenden und sich selbst erhaltenden Struktur im Hinblick auf eine Nachhaltigkeit fokussieren. Dies lässt sich anhand der Jitterbug-Transformation darstellen: Jene Figuration entspricht einem Vorgang, der sich durch Faltung und Entfaltung von einem Kuboktaeder in einen Ikosaeder – in einen Oktaeder – in einen Tetraeder verwandelt, dieser lässt sich zum achtfachen Dreieck zusammenlegen und wieder zurück verwandeln (Abb. 1.11 u. 1.12).

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Entwürfe und Gefüge Dieser Bewegungsablauf lässt sich als ein Oszillieren zwischen Kontraktion und Expansion beschreiben, wobei sich die Konfiguration schraubenförmig verdreht. Diese Verdrehung kann rechts- oder links-drehend erfolgen: Fuller veranschaulicht dies, indem er diese Transformation nach einem damals aktuellen Modetanz entsprechend benennt, der mit vergleichbaren Drehungen in den Kniegelenken arbeitet.99 Nicht umsonst gehört der Jitterbug zu jener Gruppe von Swing-Tänzen afro-amerikanischer Ursprungs, die mittels einer vom Körper ausgehenden, gegenläufigen Twist-Bewegung arbeiten und bei dem die Tänzerin von ihrem Partner weggeschleudert und wiederherangeholt wird. Die Ein- und Entfaltung von Bewegung aus den Knien heraus ist hierbei Motor der Bewegung. Die Falte gilt mit dieser Übertragung in die Architektur nicht mehr, wie noch bei Gottfried Semper, nur als Modell für Verwandlungs- und Bekleidungstheorien, die meist lediglich die Fassade betreffen,100 sondern als struktiver, formgenerierender Prozess. Die Technik des Faltens schafft bewegliche Grenzflächen, die Innen und Außen trennen und gleichzeitig schaffen. Als ein Modell der Raumbildung und der Veränderung durch Bewegung schafft sie mit dieser Transformation aber gleichzeitig auch Energiezufuhr. Vergleichbar der Verwandlung der fünf platonischen Körper ineinander, welche die fünf Elemente symbolisieren, können die Transformationen von einem in einen anderen qualitativen Zustand sowohl bei Laban wie auch bei Fuller als Metamorphosen bezeichnet werden. Jene Bewegungsmuster stellen die Praxis der Faltung in Zusammenhang mit verschiedenen Parametern ornamentaler Formbildung. Werden Faltungen gewöhnlich durch Wellenbildung, Knick oder Bruch erzeugt oder wird in der barocken Anamorphose die Starrheit der Zentralperspektive durch gefaltete Bewegung aufgelöst, so wird im Rahmen einer vitalistisch inspirierten Ästhetik bzw. der Anlehnung konstruktiver Prinzipien an biologistische oder physikalische Modelle der Konstruktions- oder Entwurfsprozess verändert.101 Lässt 99 |  Krausse: 2002, S. 47. 100 |  Hans-Georg von Arburg: Alles Fassade, ›Oberfläche‹ in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770–1870, München: Fink, 2007. 101 |  Vgl. auch Michael Dürfeld: Das Ornamentale und die architektonische Form. Systemtheoretische Irritationen, Bielefeld: transcript, 2008; Jörg Gleiter: Rückkehr des Verdrängten. Zur kritischen Theorie des Ornaments in der architektonischen Moderne, Weimar: universo 2002. Darüber hinaus hat Luhmann die Gegenüberstellung von Träger und Ornament kritisiert, Form wird nicht mehr von Materie oder Inhalt abgegrenzt, sondern bestimmt sich temporal in Relation mit dem Begriff des Mediums. Als »Muster ohne Grund« könne das Ornament, so Luhmann, im herkömmlichen Dualismus von Dynamik und Statik nicht erfasst werden (Dürfeld: 2008, S. 21ff.).

Entfaltung von Bewegung sich mit der Falte einerseits ein generatives Prinzip beschreiben, lässt sie sich andererseits auch im Kontext phänomenologischer Theorie erneut lesen, wie es beispielsweise das Eingefaltet-Sein von Innen und Außen im Modell des Chiasmus beschreibt. Mit den Möglichkeiten computergenerierten Entwurfsverfahren werden in den 1990er-Jahren die Fragen nach Formfindung oder Formgenerierung in der Architekturtheorie erneut und unter verschobenen Paradigmen diskutiert. Im Folgenden sollen jene Modelle der Faltung diskutiert werden sowie eine Vorgehensweise des Ent-faltens von Bewegung in der zeitgenössischen Choreographie. Dazu soll zuvor jedoch Gilles Deleuzes dafür maßgebliches Konzept der Falte, wie er es in seinem Buch über Leibniz und den Barock entwickelt, kurz vorgestellt werden.102

6 Falten und Entfalten 6.1 Gilles Deleuze: plier, expliquer, perpliquer, depliquer – plié: Die Dimensionen des Faltens 103 Im Rückgriff auf Leibniz’ Konzeption der Monade und ihren Kräften entwickelt Deleuze seine Theorie der Falte. Mit der ins Unendliche gehenden Falte als Charakteristikum des Barock benennt er eine operative Funktion.104 Dabei steht nicht die Rezeption oder Produktion allein im Vordergrund, sondern die Perzeption, welche die Trennung zwischen Innen und Außen aufhebt. Dieser Vorgang der Perzeption bildet »Falten in der Seele«105 – also im Inneren; ebenso wie er die Materie ihrerseits in äußeren Falten organisiert. Die Falte erzeugt Differenz zwischen Innen und Außen, die sie trennt, aber zugleich auch erst hervorbringt. Dabei wird trotzdem die Untrennbarkeit zweier real unterschiedener Materieteile angenommen, wonach auch ein elastischer Körper noch diskrete, jedoch kohärente Teile hat, ins Unendliche gehende Falten, die aber stets eine Kohäsion bewahren. Kohäsion, Spannkraft, Phasenübergänge und Zwischenzustände, wie sie zuvor bei Fuller nachgewiesen wurden, stehen auch hier im Zentrum. Die Monade bezeichnet den Zustand des Einen: die Einheit, insofern sie eine Mannigfaltigkeit 102 |  Deleuze: 2000. 103 |  John Rajchman hat in seinem Essay über Deleuzes Falte in der Architekturtheorie (insbesondere bei Eisenman) hervorgehoben, welche vielfältigen Bereiche allein der Wortstamm des Faltens eröffnet: »Folding«, in: ders.: Constructions, Cambridge (MA): MIT Press, 1998, S. 11-36. 104 |  Deleuze: 2000, S. 11. 105 |  Ebd.

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Entwürfe und Gefüge umhüllt, wobei diese Mannigfaltigkeit dieses Eine nach Art einer Reihe entwickelt. Es hat Einhüllungs- oder Entwicklungsvermögen,106 während das Vielfältige nicht etwa viele Teile hat, sondern auf viele Weisen gefaltet ist.107 Diese Vielfältigkeiten oder Mannigfaltigkeiten zeichnen sich durch die Beziehungen zwischen diesen Teilen aus, die so eine je höhere Komplexität generieren können. »Jede Monade kondensiert eine gewisse Zahl singulärer, unkörperlicher, idealer Ereignisse, die noch keinen Körper ins Spiel bringen [...]. Diese in der Monade als ursprüngliche Prädikate eingeschlossenen singulären Ereignisse konstituieren das Gebiet ihres klaren Ausdrucks oder ihren ›Bezirk‹. Sie beziehen sich notwendigerweise auf einen Körper, der dieser Monade angehört, und verkörpern sich in den unmittelbar auf sie einwirkenden Körpern. Kurz eben weil jede Monade ein klares Gebiet hat, muss sie einen Körper haben, wobei dieses Gebiet ein Verhältnis mit dem Körper konstituiert, kein gegebenes Verhältnis, sondern ein genetisches, das sein eignes ›relatum‹ mit sich bringt.«108

Dass die Monade also nur in Relation zu ihrem Außen, in dynamischen Gefügen existiert, verändert die Verhältnisse, in denen ein Körper auf den anderen wirkt. Aktive und passive Kraft eines Körpers, Tun und Leiden stehen hier gleichberechtigt nebeneinander, das Erleiden wird als andere Form der Tätigkeit beschrieben,109 Wahrnehmung als aktiver Akt. Dieser Auffassung folgend und unter Einbeziehung der Falte als energetischem Medium ergeben sich Konsequenzen für die prozessualen Veränderungen räumlicher – topologischer – Verhältnisse, die in diesem Sinne über die transformative Bewegung der Einfaltung des Außen ins Innen (und umgekehrt) Zeitlichkeit in räumliche Prozesse integrieren. Denn ebenso hängt die Falte – in endlosen Reihen organisiert – zusammen mit dem Verhältnis von Wiederholung und Differenz. Wiederholung wird dabei nicht als Kopie des Gleichen verstanden, sondern als generativer Akt der Differenzierung des bereits Vorhandenen. Dies wiederum bestimmt die Konzeption einer Idee von Veränderbarkeit sowie eine Umdefinierung des Schöpferischen. »Selbst komprimiert, gefaltet oder eingehüllt sind die Elemente Vermögen der Erweiterung und der Dehnung der Welt.«110 Davon ausgehend unterscheidet Deleuze zwischen der Realisierung des Möglichen (possible) und der Aktualisierung des Virtuellen – und damit zwei Arten der Mannigfaltigkeit – eine redun 106 |  Ebd., S. 43. 107 |  Ebd., S. 11. 108 |  Ebd., S. 140. 109 |  Das pathos wird auch im folgenden Kapitel als produktive Kraft im Prozess des choreographischen Entwurfs thematisiert. 110 |  Ebd., S. 202.

Entfaltung von Bewegung dant und eine kreativ –, wobei der Prozess der Aktualisierung mittels Verteilung operiert, der Prozess der Realisierung hingegen mittels Ähnlichkeit.111 Die Realisierung des Möglichen, welche aus der Begrenzung und Ähnlichkeit erwächst, schafft nichts Neues aus dem Möglichen, lediglich die Repräsentation dessen, was bereits besteht (da die Idee des Möglichen vor dem Hintergrund des Wirklichen zu denken ist). In der Aktualisierung des Virtuellen hingegen wird das Anders-Werden eines Gegenstandes gedacht: »The actualization of the virtual does not operate by resemblance or representation, but by differentiation, divergence, and creation. (...) The virtual must create its own lines of actualization in positive acts. While the real is in the image and likeness of the possible that it realizes, the actual does not ressemble the virtual that it embodies.«112

Hier wird deutlich, inwiefern die Falte als produktives Modell im Prozess des Entwerfens gedacht werden kann, das eine Technik der Verhältnisbildungen beschreibt, und inwiefern sie als architektonisches Modell dienen kann, das vieles ›impliziert‹ oder von ihm eingeschlossen (eingefaltet) wird.113 In seinem Buch diskutiert Deleuze die Kunst des informe in der Malerei und Skulptur sowie auch in der Musik; ohne je direkt auf die Architektur Bezug zu nehmen ist es jedoch auch ein ›architektonisches Buch‹, das in den 1990erJahren zahlreiche Architekten inspirierte.114 Inwiefern trägt also das Konzept der Falte zur Bildung oder Produktion neuer Formen in der Architektur bei? Oder wiederholt es nur, was schon existiert? Realisiert es einfach nur das vorhandene Mögliche, indem es ein Konzept – das der Falte – repräsentiert? Oder aktualisiert es das Virtuelle und schafft Neues, Experimentelles und Unvorhersehbares in der Architektur? Es muss unterschieden werden zwischen einer (gefalteten) architektonischen Form, die durch die Repräsentation eines Konzepts der Falte produziert wird, und der Praxis des Faltens in der Architektur: Operationen, die das Konzept der Falte konstituieren. Praktiken, die mit der Falte operieren, müssen notwendigerweise Verhältnisse ›ent-falten‹ und nicht einfach nur eine neo-barocke 111 |  Ebd., S. 171. 112 |  Bernard Cache: Earth Moves. The Furnishing of Territories, Cambridge (MA): MIT Press, 1995. 113 |  Rajchman: 1998. Vgl. dazu auch: Paul Harris: »To See with the Mind and Think through the Eye: Deleuze, Folding Architecture and Simon Rhodias Watts Towers«, in: Ian Buchanan/Gregg Lambert (Hg.): Deleuze and Space, Toronto: Univ. of Toronto Press, 2005, S. 36-60. 114 |  Allen voran Peter Eisenman, der die Theorie der Falte in seinem Rebstock-Projekt aufnahm; siehe dazu: Rajchman: 1998.

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Entwürfe und Gefüge Form re-präsentieren, was im Sinne Deleuzes hieße, sie schlecht zu wiederholen, sie bloß zu kopieren. Dies geschieht über eine intensive Lesart zweier singulärer Räume, oder wie John Rajchman es ausdrückt, ein experimentelles Zusammentreffen zweier unterschiedener Implikationen. »It is in this shaping of the form of practices (including techniques and logics), rather than the shaping of individual architectural forms, that the concept of the fold becomes important for the development of new architectural form.«115 Der Architekt und Designer Bernard Cache, Schüler Deleuzes, nimmt Aspekte des Deleuzianischen Denkens zum Ausgangspunkt für sein Denken der Faltung in der Architektur, die er wiederum als die Kunst des Rahmens definiert. »The frame marks a space of arrangement rather than enclosure«,116 er markiert keine starren Begrenzungen, sondern der Akzent liegt hier vielmehr darauf, dass er Intervalle produziert. Indem Cache diese Zwischenräume konstitutiv mitdenkt, ergibt sich daraus »a more fluid logic of involuted sacks rather than boxes: A contains B, which does not prevent B from being able to contain A. The window frames the landscape as much as the landscape encompasses the frame.«117 Diese Logik ist jedoch gerade nicht als ›fluid‹ bezeichnen, denn die Differenz zwischen den »involuted sacks« bleibt erhalten. Die Perzeption, so Deleuze, schafft nicht ein inneres Bild äußerer Objekte, sondern bringt die Dinge selbst hervor; unsere Wahrnehmungen sind der Oberfläche der Dinge eingeschrieben, dennoch sind Träger und Schrift different. Jene Fluidität spielt jedoch für die computergenerierten Entwurfsverfahren, die mit der topologischen Verformung von Architekturkörpern arbeiten und sich explizit auf das Deleuzianische Modell der Falte berufen, eine wesentliche Rolle.

6.2 Bewegung ent-falten? Faltung in computergenerierten Entwurfsverfahren der Architektur Mit den Möglichkeiten von computergenerierten Entwurfsverfahren werden in den 1990er-Jahren die Fragen nach Formfindung oder Formgenerierung in der Architekturtheorie erneut und unter verschobenen Paradigmen diskutiert.

115 |  Deleuze versteht das Konzept der Falte aber auch als das »sich zwischen zwei Künsten einzurichten um damit eine Einheit der Künste als Performance zu erreichen und den Zuschauer in diese Performance einzubeziehen«; hier verweist er in einer Fußnote auf die Bedeutung der Minimal Art: Deleuze: 2000, S. 201, Fußnote 4. 116 |  Harris: 2005, S.41; Cache: 1995, S. 28. 117 |  Ebd., S. 140.

Entfaltung von Bewegung Hauptakteure dieser Debatte waren zu Beginn Peter Eisenman118 und Greg Lynn,119 später auch Ben van Berkel und Caroline Bos (UN-Studio) sowie Lars Spuybroek (NOX).120 Von Hand könne man nur zeichnen, wovon man bereits eine innere Vorstellung habe. Auf digitalem Wege könne man jedoch Bilder erzeugen, die man nie vorher im Kopf gehabt habe – so argumentiert der Architekt Peter Eisenman im Sinne einer »Überwindung der Metaphysik der Architektur«.121 Während die Aufgabe von Autorschaft in den frühen 1990er-Jahren mittels dekonstruktivistischer Verschiebungen bewältigt werden sollte, wurde sie nun mit Deleuzes Theorie der Falte angegangen. Sie galt als Ansatzpunkt, fluide Formen zu generieren, die sich nicht auf eine ursprüngliche, ideale Form zurückführen ließen, und half so, die digitalen Verfahren diskursiv zu unterfüttern. Während Eisenmans frühe Ansätze es vor allem ermöglichten, Figur-Grund-Verhältnisse anders zu denken, indem sie Rastermodifikationen anwandten, entwirft Lynn mithilfe parametrischer Formbildung auf Grundlage vordefinierter Variablen, d.h. Kräfte werden programmiert bzw. topologische Verformungen der Flächen generiert. Es geht hierbei nicht mehr darum, Bilder in Bewegung zu setzen, sondern Form sogleich mit Bewegung auszustatten; ermöglicht wird das Ganze durch vorprogrammierte Regeln und gespeicherte Variablen. Hier ist der geometrische Körper nicht mehr diskret, sondern ein verformbares Kontinuum; Material wird durch Kräfte manipuliert. Jedoch werden auch jene bewegten Formen am Ende des Prozesses in eine endgültige Form eingefroren. Die empirischen Daten, mithilfe derer die Gegebenheiten des Kontextes, bestimmte Anforderungen, dynamische Kräftefelder oder andere Informationen in die Programme eingespeist werden, bleiben letztendlich nichts als eine die Form generierende Zahl, deren eigentlicher Informationsgehalt in der architektonischen Form nicht unbedingt wiederzufinden ist. In beiden Fällen tritt der Architekt als Formgeber zurück, er wird vornehmlich zum Regisseur, der nicht mehr die Form gestaltet, sie en detail entwirft und 118 |  Peter Eisenman: »Visions Unfolding. Architektur im Zeitalter der elektronischen Medien«, in: ders.: Aura und Exzess. Zur Überwindung der Metaphysik in der Architektur, Wien: Passagen, 1995, S. 203-215. 119 |  Greg Lynn: Animate Form, New York (NY): Princeton Architectural Press, 1999. 120 |  Carolin Höfler: »Form als Performance. Prozessorientiertes Entwerfen in der Architektur«, in: Avanessian/Hofmann (Hg): 2010, S.  203-214; sowie Christine Kempf: »Das Prinzip Unschuld. ›Organik‹ in der Architektur«, in: dies./Annette Geiger u.a. (Hg.): Spielarten des Organischen, Berlin: Reimer, 2005, S. 201-217. 121 |  Eisenman: 1995; sowie ders.: »Die Entfaltung des Ereignisses«, in: ARCH+ 119/120, Dezember 1993, Die Architektur des Ereignisses, S. 50-55.

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Entwürfe und Gefüge plant, sondern Bedingungen und Regeln verfasst, nach denen das Programm die Form generiert.122 Dabei wird eine quasi-natürliche Emergenz der Formen suggeriert, die im Sinne einer biologistischen Ästhetik ›lebendig‹ scheint.

Abb. 1.13: Greg Lynn: Embryological Houses, 2000.

Mit seinen Embryological Houses verfolgt Greg Lynn die Idee einer neuen Art von Architekturtypologie. Er fragt danach wie Form modelliert, konzeptualisiert und in einem quasi biologistischen Wachstumsprozess generiert werden kann. Dazu wird der Computer mittels eines abstrakten Daten- und Regelsets programmiert, aus dem heraus schließlich die Form entwickelt wird. Diese wird durch Abweichung und Varietät produziert, es gibt keine ideale Form mehr. Jedoch erlaubt die Vorgehensweise keine Differenzierung zwischen einem biologischen und einem architektonischen Objekt, was es erschwert, eine konkrete Beziehung zwischen Architektur und Umwelt bzw. zwischen Architektur und ihrem Nutzer zu beschreiben. Auch wenn Lynn Architektur als Verkörperung von Konflikten heterogener, fragmentierter Formen ansieht und in Abkehr vom Dekonstruktivismus versucht, wieder an die Begriffe von »conflict and contradiction« anzuknüpfen, wie sie beim Architekten Robert Venturi in den 1960er-Jahren gefasst wurden,123 so ist sein Ansatz doch fundamental von die 122 |  Der Vergleich zu choreographischen Verfahren, die seit den 1960erJahren (mit Cage/Cunningham bzw. den Judson-Choreographen) ebenfalls regelbasiert arbeiten und damit die Autorfunktion des Choreographen unterminieren, wird an anderen Stellen mehrfach wieder aufgenommen und daher hier nicht näher diskutiert. 123 |  Vgl. Robert Venturi: Complexity and Contradiction in Architecture, New York (NY): Museum of Modern Art, 1966. Dabei handelt es sich um einen der maßgeblichen Aufsätze der Architekturtheorie in den 1960er-Jahren. Venturi geht darin auf das komplexe Verhältnis von Architektur und Umgebung ein, auf das Verhältnis von Baukörper als Zeichenträger und Kommunikationselement. Diese Problematik ist mit dem Kontext dessen verbunden, was bei Lynn nur noch in Form von eingespeisten Daten Beachtung findet.

Entfaltung von Bewegung sem zu unterscheiden. Vermeintlich, so Lynn, würde die Biegsamkeit es der Architektur gestatten, sich durch Flexibilität auf die Komplexität des Kontextes einzulassen,124 und dabei nicht voraussagbare, ›lokale‹ Verbindungen einzugehen. Doch gerade die Kontextabhängigkeit und die Anpassbarkeit des architektonischen Objekts an die sich verändernde Umgebung – die Einfaltung des Außen ins Innen u.u. – ist hier nicht gewährleistet. Dass Lynn sich in seinen Texten dennoch eines Vokabulars des Ereignisses bedient, dass er von Intensitäten und Kräften, »glatten Mischungen disparater unzusammenhängender Elemente« spricht, scheint innerhalb dieser »fluid logic of connectivity«, die das »Fließende, Glatte, Geschmeidige« betont, nur folgerichtig (Abb. 1.13).125 Dabei wird jedoch das Potential topologischer Figuren als abstrakter Denkmodelle in der konkreten Raumbildung der CAD-Architektur weit unterschritten. Unbestritten ist, dass diese Verformungen das Verhältnis von Innen und Außen relational bestimmen und dass sie neue Formen hervorbringen, jedoch ist die Erfahrung dieser Räumlichkeit nicht nur an die fluide Form gebunden, sondern an bestimmte Verhältnisbildungen, innerhalb derer der Betrachter und Nutzer sich selbst verorten muss. Der Vorwurf, jene abstrakten Modelle hätten nichts mit einer phänomenologischen Erfahrung zu tun, die Kontinuität zwischen Prozess und Produkt ginge verloren, ist sicher zu kurz gegriffen. Zwar mag die kinästhetische Erfahrung in einem solchen Gebäude auf andere Art und Weise herausgefordert werden, jedoch sind diese nicht so groß, dass der Körper sich nicht daran anpassen könnte. Dennoch täuscht die fluide Form eine größere Dynamik nur vor. Zwar wird im Rechner durch die Einspeisung von kontextuellen datascapes Flexibilität suggeriert, jedoch werden im realisierten architektonischen Objekt keine anpassbaren Handlungsräume bereitgestellt. Lars Spuybroeck hingegen sieht durchaus die Defizite einer solchen Herangehensweise und versucht die phänomenologische Erfahrung direkt in das Feld des Entwerfens zu integrieren. Diesen Ansatz bezeichnet er als »Motorische Geometrie«. Er versucht damit Bewegungsmomente in die Form einzubetten, wobei er von einem fast prothetischen Baukörper ausgeht, der dem Körper zusätzliche Bewegung verleihen soll (Abb. 1.14).126

124 |  Was jedoch auch hier eine rein formale, rechnerische Angelegenheit bleibt. 125 |  Greg Lynn: »Das Gefaltete, das Biegsame und das Geschmeidige«, in: ARCH+ 131, April 1996, InFormation. Faltung in der Architektur, S. 62-65 (Original: »Architectural Curvilinearity. The Folded, the Pliant and the Supple«, in: Architectural Design 63/3-4, 1993, S. 8-15). 126 |  Lars Spuybroek: »Motorische Geometrie«, in: ARCH+ 138, Oktober 1997, Mehr ist anders, S. 67-75.

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Abb. 1.14: Lars Spuybroek/NOX: Water-Pavillon, 1997.

Problematisch an all diesen Ansätzen ist, dass Parameter, wie die antizipierte Bewegung des Nutzers oder die Orientierung am Kontext, nur als datascapes Eingang in den Entwurfsprozess finden und darüber digitale Daten in eine analoge Erfahrung des Raumes übertragen werden sollen, und dass so mit der Abgabe der Autorschaft und Verantwortung die Ausgestaltung jener Relationen dem Computer überantwortet wird. Der Zusammenhang zwischen räumlichem Zeichnen und der spezifischen Übertragungsleistung, welche es dem Architekten ermöglicht, aus dem eigenen Erfahrungswissen der Bewegung zu schöpfen und ein gespeichertes Formwissen in den Entwurfsprozess eintragen zu können, geht aber auch hier nicht vollständig verloren. Denn auch diese arbiträr generierten Formen, die sich jeglichem normativen Zugriff entziehen wollen, ›sprechen‹ eine spezifische Architektursprache; sie verweisen auf bereits Bekanntes, z.B. auf organizistische Architekturformen, wie man sie aus dem Expressionismus kennt, auf Antoni Gaudis organische Formen oder auf Santiago Calatravas konstruierte Tierskelette, die sich je aus unterschiedlichen Herangehensweisen und Verfahren speisen und doch einen Formenkanon generieren, der Wiedererkennbarkeit garantiert – oder sie werden in Anlehnung an Deleuzes’ Leibniz-Buch als ›neobarock‹ bezeichnet. »When a theoretical concept (the fold) or reading/writing protocol (deconstruction) is used as a blueprint to generate an architectural form, architecture becomes applied philosophy, and gives up all claims to singularity and

Entfaltung von Bewegung creativity.«127 So konstatiert der Architekturtheoretiker Anthony Vidler die ›Anwendung‹ des Konzepts der Falte in der Architektur und kritisiert in diesem Zusammenhang das Fehlen eines Schrittes in der traditionellen ÜbersetzungsKette zwischen Natur – Architektur und Bauwerk. Man springe ohne Umschweife von der Natur zum Bauwerk; was im Klassizimus symbolisch, im Barock allegorisch, in der Moderne abstrakt war, nehme nun im Bereich des Realen quasi ›unmittelbar‹ Gestalt an: Die digitale Technik erlaube einen direkten Übergang vom einen zum anderen, sodass alle Bereiche des Realen simultan erfasst werden könnten – als Resultat des Digitalen, das alle Phänomene auf ein und denselben Code reduziere. Hingegen bleibt ein weiteres zentrales Moment – der wirkungstheoretische Aspekt der Deleuzianischen Falte – unterbelichtet:128 Wenn Wölfflin als Charakteristika des Barock die 127 |  Michael Speaks in seiner Einleitung zu: Cache: 1995, S.  xiv, zitiert in Anthony Vidler: »Digitaler Animismus«, in: ARCH+ 159/60, Mai 2002, Formfindungen. Von biomorph bis technoform, S. 114-117. Die Bezugnahme auf den Barock taucht nicht nur in Deleuzes Theorie auf, sondern auch bei Wölfflin, der mit den stürzenden und fallenden Linien der Bauten die Auflösung der Form als Unbehagen gegenüber der Auflösung der räumlichen Grenzen der Renaissance thematisiert, die körperliche Unruhe erzeuge und örtliche Ambiguität evoziere. Diese kunsthistorische Bezugnahme wird in der Architekturtheorie sowie in der Kunstgeschichte und im Film aufgegriffen, sie findet sich auch in den Tanzwissenschaft: So vergleicht Gerald Siegmund William Forsythes Bewegungsvokabular mit den Anamorphosen des Manierismus, in: ders.: »Auf Biegen und Brechen. De-Formierter Tanz und manieristische Körperbilder«, in: Brandstetter/Völckers (Hg): 2000, S. 136-170. Susanne Foellmer ihrerseits verortet die Anamorphose als ein Charakteristikum des zeitgenössischen Tanzes, so in Susanne Foellmer: »Den Blick fangen. Verzerrte Flüchtigkeiten in den Choreografien Meg Stuarts und Christina Ciupkes«, in: Kyung-Ho Cha/Markus Rautzenberg (Hg.): Der entstellte Blick: Anamorphosen in Kunst, Literatur und Philosophie, München: Fink, 2008, S. 54-67. 128 |  Auch Gabriele Brandstetter betrachtet die Falte als Figur des Ausdrucks. Sie spricht von einer »Physiognomik« der Falte: Nicht nur das Gesicht oder die Körperbewegung übermittelt die E/Motion, sondern auch die Bauschung des Stoffes, die Drapierung oder die Falte transportiert das pathische Moment, das bewegte Beiwerk im Sinne Aby Warburgs rhetorischer Verzierung. Jene beweglichen Flächen, die ein unentscheidbares Zeige-Spiel von Innen und Außen inszenieren, lassen die Falte als Verwandlungsfigur diverser Umbildungsprozesse erscheinen. Diese Veränderbarkeit und die Latenz eines energetischen Potentials, die dem Faltenwurf innewohnt, spielt an auf ihr Potential im Entwurf. In Forsythes Choreographie The Second Detail, für die der Designer Issey Miyake die

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Entwürfe und Gefüge »horizontale Ausrichtung des Niedrigen, die Senkung des Giebels, gesenkte Stufen, und ansteigende Kurven, Behandlung der Materie in Massen oder Aggregaten, Abrundung der Winkel und Vermeidung des Rechtwinkligen, die Ersetzung des Zackigen durch das gerundete Akanthusblatt, die Benutzung des TravertinKalktuffs zur Hervorbringung von schwammigen und hohlen Formen oder die Bildung einer Wirbelform, die sich aus immer neuen Turbulenzen nährt...«129

benennt und sie mit den entsprechenden psychologischen Wirkungen verbindet, so ist zu fragen, inwieweit die Theorie des Faltens als Vermittlungsfigur zwischen Organischem und Abstraktem betrachtet werden kann und welche Wirkungen die gefaltete Architektur hervorzubringen imstande ist. Im Barock bereits wird die Auflösung der räumlichen Grenzen der Renaissance vollzogen (so Wölfflin), körperliche Unruhe und örtliche Ambiguität sind die Folge. Der Vergleich zwischen barocker und computergenerierter Faltung unter dem Paradigma einer Architektur des Lebendigen130 bringt hier die unheimliche Seite des belebten Unbelebten hervor und lässt sich mit der Einfühlung und dem deleuzianischen Konzept der Perzeption erneut lesen.

6.3 Kieslers Endless House als Modell der Phasenübergänge Gemeinsam ist den meisten Vertretern der computergenerierten Entwurfsverfahren der theoretische Rückbezug auf Friedrich Kieslers Endless House: 1959 entworfen und stets nur als Modell verwirklicht, stellt es einen polydiagonal geschlossenen Raum her, welcher Bewegung als rotierende Endlos-Spirale gestaltet. Wände, Decken, Boden gehen kontinuierlich ineinander über. EndlessKostüme entwarf, spielen die gefälteten Kostüme diese Rolle: Sie transportieren die Bewegungsenergie in bestimmte Richtungen und verwandeln so wie Fullers Tensegrity-Strukturen die Tänzerkörper; vgl. Gabriele Brandstetter: »›Ein Stück in Tüchern‹ – Rhetorik der Drapierung bei A. Warburg, M. Emmanuel, G. Clérambault«, in: Bruno Reudenbach (Hg.): Reliquiare als Heiligkeitsbeweis und Echtheitszeugnis, Berlin: Akademie Verlag 2000, S.  105-140; dies.: »Gesichter und Texturen. Zu einer Physiognomik der Falte – Rainer Maria Rilke, Aby Warburg, Yoko Tawada«, in: Ulrike Landfester (Hg.): Schrift und Bild und Körper, Bielefeld: Aisthesis, 2002, S. 87-122. 129 |  Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, München: Theodor Ackermann, 1888, zitiert in Deleuze: 2000, S. 13. 130 |  Ein Begriff, der, so oft er bei Laban, Fuller oder Lynn auch verwendet wird, zu differenzieren ist. Biologistische Analogien, bisher eingebunden in die Codes der Architektur, werden bei Lynn unter Stichworten wie Animismus, Wachstum, Antrieb, Vitalität und Virtualität zum generativen Prinzip.

Entfaltung von Bewegung ness – nicht Unendlichkeit! – ist hier als Biegung und Faltung einer einzigen Oberfläche begriffen. Jedoch schreibt Kiesler: »The Endless House is not amorphous. Not a free-for-all-form. On the contrary, its construction has strict boundaries according to the scale of our living. Its shape and form are determined by inherent life forces, not by building code standards.«131 (Abb. 1.15)

Abb. 1.15: Friedrich Kiesler: Skizze zum Endless House.

Damit beschreibt er ein elastisches Raumkonzept, das sowohl individuelle Abgeschlossenheit als auch Gemeinsamkeit durch Veränderbarkeit der Begrenzungsflächen garantiert und eine bedarfsabhängige Veränderung der Raumgrößen und -formen in der Zeit verspricht. In seinem Manifeste du Corréalisme von 1947 beschreibt Kiesler eine Architektur im Sinne einer topologischen Formung, in der Mensch und Umwelt in eine Wechselbeziehung gesetzt werden: Nicht umsonst enthält der Begriff des Korrealismus den Bezug auf den Realismus, auf das Reale, auf das Korrelieren von Mensch und Umwelt, die auch mittels der Figur des Möbius-Bandes, die beiden Enden eines um 180 Grad verdrehten Bandes miteinander verknüpft und darüber innen und außen miteinander verbindet oder vielmehr ineiander übergehen lässt, sich veranschaulichen lässt. Das Architektenduo Ben van Berkel und Caroline Bos (UN-Studio) hat diese Figur im Möbius-Haus (1999) verwirklicht, das sich von bestimmten zugewiesenen Funktionen einzelner Räume befreit und Phasenübergänge auch auf materieller Ebene schafft: Die Außenwand aus Beton wird zur Glaswand, 131 |  Friedrich Kiesler: »The Future: Notes on Architecture as Sculpture«, in: Art in America 54/3, Mai-Juni 1966, S. 57-68.

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Entwürfe und Gefüge diese zum Fenster, das wiederum einen anderen Innenraum separiert, die Holzfläche wird vom Boden zur Wand zur Decke usw. Bewegung und das fließende Ineinander von unterschiedlichen Tagesabläufen greifen ineinander: die Zeit wird zum Raum. Kiesler dehnt diesen Gedanken über den Bereich eines einzelnen oikos hinaus weiter aus: »Jedes Element eines Gebäudes oder einer Stadt, ob es sich um Malerei oder Skulptur, um Inneneinrichtung oder technische Ausstattung handelt, wird nicht als Ausdruck einer einzelnen Funktion aufgefasst, sondern als ein Kern von Möglichkeiten, der eine Korrelation mit den anderen Elementen entwickelt. Diese Wechselbeziehung bezieht ihren Halt sowohl aus den physischen Bedingungen, als auch aus dem sozialen Milieu oder aus dem Wesen des einzelnen Elements selbst.«132

Dieser Ansatz lässt sich in seinem Anspruch, Zusammenhängen Form zu verleihen, mit Fullers Gedanken vergleichen. Weniger steht hier eine bestimmte Form im Vordergrund, sondern ein sich entfaltendes Gefüge, in dem die einzelnen Elemente stets aufeinander bezogen sind. Dass seine Ansätze nicht an der Form orientiert, sondern an den Gebrauch gebunden sind, lässt sich auch an anderen Entwürfen wie z.B. seinen Theaterbühnen oder den Ausstellungskonzeptionen ablesen, die ebenso dem Konzept des Korrealismus verpflichtet sind, jedoch vollkommen andere formale Lösungen, wie zum Beispiel modulare, schwebende Displays oder ineinander geschachtelte Raumbühnenkonstruktionen vorschlagen. Insofern erscheint jedoch die Bezugnahme der Architektengeneration von Greg Lynn auf Kieslers Arbeiten nur teilweise schlüssig. Zwar würde auch bei Kiesler das Haus als Summe möglicher Bewegungen schließlich in der skulpturalen Form erstarren.133 Jedoch ist bei ihm die Oberfläche des Gebildes rau und unvollkommen. Vielmehr wird hier aber auch ein Konzept des Wohnens, der Architektur als Behausung und Höhle verhandelt, wohingegen bei Lynns Embryological Houses (die ja gerade als selbst zu gestaltende Wohnhäuser kon-

132 |  Zitiert in Dieter Bogner: »Friedrich Kieslers Manifeste du Corréalisme«, in: daidalos 69/70, Forschungsbedarf, Dezember 1998/Januar 1999, S. 142-154, hier S. 144 (Kieslers Text ist 1949 erschienen in: L’Architecture d’aujourd’hui). Sowohl seine Ausstellungsarchitekturen als auch die umfassenden Darstellungen seines Endless House enthielten somit auch Eckpunkte eines Denkens über die Organisation des Raumes, vgl. Kapitel 5. 133 |  Bezeichnenderweise jedoch wurde das Endless House nie gebaut, es existiert nur in zahlreichen Entwürfen.

Entfaltung von Bewegung zipiert sind) makellose Glätte vorherrscht134 und jeglicher haptische Effekt, der eine phänomenologische Taktilität mit bestimmen könnte, fehlt. Bezeichnend mag es daher erscheinen, wie sich Kiesler gegen einen – seiner Ansicht nach – sinnentleerten Funktionalismus wendet: »Ich setze dem Mysterium der Hygiene, die der Aberglaube funktionaler Architektur ist, die Wirklichkeit einer magischen Architektur entgegen, die ihre Wurzeln in der Totalität des menschlichen Wesens hat, und nicht in den gesegneten oder verfluchten Aspekten des Seins. Das von der traditionellen Ästhetik befreite Haus ist zu einem Lebewesen geworden.«

Jene ›Lebendigkeit‹, die gegen modernistische Hygienevorstellungen135 und Funktionalismus antritt, würde sicher auch Lynn für seinen Entwurf beanspruchen. Jedoch ist die Lebendigkeit bei Kiesler auf den Menschen bezogen, auf seine Aktivität im Bezug auf die Architektur, wohingegen Lynn allein die Form menschlichen Lebens am Wachstum des Embryos orientiert. Vor allem aber erschließt sich Kieslers Raumkonzept erst dadurch, dass der potentielle Nutzer oder Bewohner des Endless House die einzelnen Phasen des Raumes zueinander in Beziehung setzt und sie durch die je individuelle Erfahrung aneignet – dadurch, wie er seine individuellen Bedürfnisse auf die verschiedenen Raumfunktionen appliziert. Hingegen können die Entwurfsverfahren bei Lynn u.a. letztlich keinesfalls garantieren, dass ein Entwurf auch ›mitwächst‹, da er schlussendlich doch in eine starre Form gegossen wird; die datascapes, mit denen das Programm gespeist wird, sind später nicht mehr anpassbar an veränderte Kontexte. So zeigt sich in der Verfahrensweise, dass sie letztlich doch keineswegs prozessorientiert und offen agiert, sondern ein abgeschlossenes Werk präsentiert. Die Trennung digitaler Entwurfsverfahren und analoger Bauform wird zwar in einzelnen Ansätzen einer »performative architecture« erprobt, die differenzierte Struktur sowie die Materialentwicklungen lassen durchaus eine flexible Anpassung an spezifische Umweltanforderungen zu,136 doch ist die Anpassbarkeit zumeist mit dem Entwurf abgeschlossen. Die Frage danach, wie diese Modelle darüber hinaus als Modelle des Austauschs wirken können – was letztlich die wesentlichen Parameter von Deleuzes Falte ausmacht – wird hier nicht thematisiert. Die topologische Figur der Möbius-Schleife, die innen nach außen verwandelt und umgekehrt, ist also keineswegs reine Formspielerei. 134 |  Siehe auch K. Michael Hays: »Ideologische Glätte«, in: Arch+ 128, Architektur in Bewegung – Entwerfen am Computer, September 1995, S. 70-72. 135 |  Vgl. dazu: Nadir Lahiji, D.S. Friedman (Hg.): Plumbing. Sounding Modern Architecture, New York: Princeton Architecturel Press. 1997, S. 8ff. 136 |  Höfler: 2010, S. 214.

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Entwürfe und Gefüge Dennoch stellen die Möglichkeiten der Visualisierung, welche sich durch die technischen Neuerungen der CAD-Programme ergeben, eine Möglichkeit dar, Prozesse des Entwerfens in Rückkopplung an die situativen Bedingungen und Kontexte zur stetigen Überprüfung heranzuziehen. Waren Fullers Ideen getragen von einem technizistischen Fortschrittsglauben, dessen Problematiken erst nach und nach mit seinem späten Erfolg in den Gegenkulturen der 1960er- und 1970er-Jahren zutage treten, so wird in den computergenerierten Architektur-Visionen deutlich, wie auch sie einem Denken unterliegen, das die eigenen medialen Bedingungen trotz ihrer Dominanz nur ansatzweise mitreflektiert – gerade in den Herangehensweisen auf der Ebene der Formfindung wird deutlich, wie sehr sich Fullers Ansätze hierin unterscheiden.

6.4 Forsythes Synchronous Objects als Werkzeug der Übertragung? Bevor ich näher auf die Techniken des Faltens in den von Forsythe entwickelten Improvisation Technologies zurückkomme, möchte ich einen kurzen Blick auf ein innerhalb der Forsythe-Company entwickeltes Onlinetool – Synchronous Objects – werfen,137 das ebenfalls auf die Darstellungsweisen computergestützter Entwurfsprogramme zurückgreift. Ziel des Programms ist es, die »Strukturen einer Choreographie aufzuzeichnen«.138 Wo die Tanznotation einzelne Bewegungen festhält und zur Wiederholung archiviert, leiten Synchronous Objects dazu an, den »Zustand des Tanzens zu erfahren«.139 Wie aber wird diese an sich paradoxe Formel, die das »Denken in Bewegung« veranschaulichen möchte, umgesetzt? Den Ausgangspunkt bildet die digitale Aufnahme der Choreographie One Flat Thing, reproduced, welche formale Prinzipien des Kontrapunkts untersucht (Abb. 1.16).140 Fünf mal vier Tische bilden das Raster für eine Choreographie von zwanzig Tänzern, die sich zwischen, auf und unter diesen bewegen. Dabei ist die Choreographie hier größtenteils festgelegt, die Tänzer haben nur geringe improvisatorische Spielräume; sie bestimmen den Ablauf, indem sie cues – visuelle oder auditive oder anders übermittelte Signale, die ein bestimmtes Ereignis auslösen –, geben und empfangen und damit die Augenblicke der Synchroni 137 |  Unter: http://synchronousobjects.osu.edu/ (letzter Zugriff: 12.11.2010). 138 |  Eva-Elisabeth Fischer: »Hüpfburg für Rolex-Träger. Der Choreograph William Forsythe über die Perspektiven seiner neuen Company, die in Berlin gegründet wurde«, in: Süddeutsche Zeitung, 15.03.2005, S. 17. 139 |  Ebd. 140 |  Diese Bezugnahme auf kompositorische Verfahren des Barock, wie den Kontrapunkt als generativer Technik, hat Forsythe bereits in früheren Stücken systematisch untersucht.

Entfaltung von Bewegung sierung festlegen. Eine wesentliche Umdeutung erfährt dabei der Begriff des alignments: Bezeichnet er in der Contact-Improvisation und im New-Dance »die dynamische und muskulär entspannte Auf- und Ausrichtung des Körpers im Raum und damit ein energetisches Bewegungsprinzip, das den Körper expansiv organisiert«,141 wird es hier zum choreographischen Prinzip, das zwischen den einzelnen Tänzern vermittelt, Synchronisierungen ermöglicht und damit die gesamte Struktur der Choreographie beeinflusst.

Abb. 1.16 (o.): William Forsythe: One Flat Thing, Reproduced; Abb. 1.17 (u.): Synchronous Objects: 3D-Alignment Animation.

141 |  Sabine Huschka: »Mediale Transformationen choreographischen Wissens. Das Internetprojekt Synchronous Objects von William Forsythe«, in: Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias. Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin: Alexander Verlag, 2010, S. 182-204, insbes. S. 192.

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Entwürfe und Gefüge Versehen mit handgezeichneten Linien (wie bereits in den Improvisation Technologies) ermöglicht das Programm auch dem ungeübten Zuschauer die einzelnen Sequenzen der Choreographie nachzuvollziehen. Labans Idee der Spurformen wird hier erneut offensichtlich. Darüber hinaus visualisieren verschiedene Themenfelder, wie beispielsweise das interaktive counterpoint tool, das kompositorische Gefüge der Choreographie sowie einzelne Aspekte der choreographischen Verfahren (Abb. 1.17). Die verschiedenen am Projekt beteiligten Disziplinen – Bewegungsanalyse und Computerwissenschaft, Statistik und Geographie, Architektur und Design  – bringen ihre medienspezifisch bedingten Möglichkeiten Transformationen zu konzeptualisieren mit ein. Mit den Möglichkeiten digitaler Technik lassen sich unterschiedliche Darstellungsmodi entwickeln, die es erlauben, z.B. mittels computergesteuerter Animation die Dynamiken der Entwicklung von Bewegungsverläufen zu visualisieren. Dabei wird jedoch die Art und Weise der Übertragung nicht genauer reflektiert. Die Übertragungen aus den Visualisierungsformen der anderen Disziplinen produzieren ihre je eigene Logik. So suggerieren die Übertragungen aus den Bildwelten der CAD-Architekturen Lynns »fluid logic of connectivity«. Die Verflüssigung der Spurformen, wie sie hier dargestellt werden, mag dem Blick eines ungeübten Betrachters Orientierung bieten, sie entspricht jedoch nur oberflächlich den Prozessen, die sich zwischen den Tänzern abspielen und die auf Differenzerzeugung beruhen. Wie auch die Improvisation Technologies sollen Synchronous Objects als ein tool genutzt werden und dazu dienen, choreographisches Wissen fortzuschreiben. Das Projekt versteht sich innerhalb eines Kontextes interdisziplinärer, künstlerischer Forschung.142 Jenseits dieser Darstellungsform wäre somit die Funktion von Synchronous Objects genauer zu verdeutlichen.143 Dazu ist es notwendig, noch einmal auf Forsythes früheres »Entwurfswerkzeug« zurückzukommen, das einen engen Bezug zur Technik des Faltens darstellt.

142 |  Vgl. Rebecca Groves/Scott DeLaHunta/Norah Zuniga-Shaw: »Apropos Partituren: William Forsythes Vision einer neue Art von ›Tanzliteratur‹«, in: Sabine Gehm/Pirkko Husemann/Katharina von Wilcke (Hg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung, Bielefeld: transcript, 2007, S. 91-102. 143 |  Vgl. dazu Kirsten Maar: »Notation und Archiv. Zu Forsythes Synchronous Objects und Emio Grecos Capturing Intention«, in: dies./Gabriele Brandstetter/Franck Hofmann (Hg.): Notation und choreographisches Denken, Freiburg im Breisgau: Rombach, 2010, S. 183-205.

Entfaltung von Bewegung

6.5 Warum man einen Körper haben muss: Phänomenologische Überlegungen zum Falten Wie bei Deleuze findet sich ähnlich auch bei Merleau-Ponty in Das Sichtbare und das Unsichtbare144 in der Figur des Chiasmus die Verflechtung, das EingefaltetSein in »la chair du monde«. Die Reversibilität zwischen Leib und Welt, mit der im Folgenden die Faltung als eine Körpertechnik beschrieben werden soll, geht einen entscheidenden Schritt weiter als Husserls Idee der noesis, die immer noch auf dem Bewusstseinsakt aufbaut, also vorwiegend vom Subjekt aus intendiert ist.145 Merleau-Ponty denkt das Verhältnis der Pole des Wahrnehmungsgeschehens nicht mehr als subjektiv-intentional, sondern als reversible Verflechtung. Diese Verflechtung der Seinssphären mag einen entscheidenden Schritt zur Entwicklung der Figur der Falte bei Deleuze markiert haben,146 da diese hier »nicht von Grenzen, Brüchen, Stufen zwischen den Seinssphären ausgeht, sondern diese gleichursprünglich auf der Immanenzebene organisiert und im Seinskontinuum Falte für Falte ineinander übergehen lässt.«147 Diese Übergänge von aktiver in passive Kraft (u.u.) markieren einen wichtigen Punkt in Bewegungsverläufen, der für Forsythes Arbeit zentral ist und der bei Laban noch unterbelichtet blieb.

Forsythes Techniken des Faltens Forsythe orientiert sich mit den Improvisation Technologies explizit an Labans Auffassung des Tanzes als »lebendiger Architektur« – als einem Archiv von Formen, deren Impulse in den Raum hinaus weiterwirken. Das Modell der Kinesphäre wird bei Forsythe fortgeführt und erweitert; er vervielfacht und verlagert den von Laban noch festgelegten Körperschwerpunkt in die Extremitäten und schafft so eine Vielzahl bewegungsmotivierender Zentren, von denen aus die Tänzer Bewegungen in alle Raumrichtungen initiieren. Der Verlust der axial gestreckten Körperlinie des klassischen Balletts und ein zersplitterter, verschobener, in sich verdrehter Körper bilden das Resultat. Ebenso wird das strukturbildende Modell an bestimmten Ecken verformt und verzerrt. Während Labans Bewegungen um die Körpermitte peripher, transversal und zentral, in Ringen und Skalen, über Achsen und Ebenen verlaufen, nutzt For 144 |  Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, hg. v. Bernhard Waldenfels und Regula Guiliani, München: Fink, 2004, darin vor allem: Kap.3: »Der Chiasmus«. 145 |  Dies ist bei einer intensiven Husserl-Lektüre sicher ansatzweise zu relativieren, soll aber für die Argumentation an dieser Stelle genügen. 146 |  Andermann: 2007, S. 160f. 147 |  Ebd., S. 161.

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Entwürfe und Gefüge sythe eine andere Bandbreite von Operationen: »arc and axis, cross and pass, match, bridge, extrude, replace, collapse«. So wird Labans subjektzentriertes Modell abgelöst, das immer noch von einer bestimmenden Körpermitte, einem einzigen Schwerpunkt ausgeht und letztlich doch eine Stabilität ins Zentrum der Bewegung setzt. Forsythe fragt danach, wie jene Mitte destabilisiert werden und wie eine nicht-intentionale Bewegung im Zusammenspiel mit der für diese Interaktion notwendigen Öffnung verbunden werden kann. Wie können nicht-willentlich herbeigeführte Bewegungen oder Momente der zeitweiligen Desorientierung produktiv gemacht werden? Und wie wäre damit ein Denken der Intentionalität zu ergänzen durch ein Modell, das eher intersubjektiv ausgerichtet ist und das Bewegung vor dem Hintergrund versteht, dass sich die Dinge der Wahrnehmung darbieten, ohne dass das Subjekt darüber direkte Verfügungsgewalt hätte?

Zwischen-Raum: Interaktion zwischen den Tänzern Die Qualität der eigenen leiblichen Erfahrung überschneidet sich mit der Erfahrung des Außen und des Anderen. Der entstehende Zwischenraum erfordert es, eine bestimmte Haltung zueinander einzunehmen, er eröffnet eine Art improvisatorischen Handlungsspielraum. Die Interaktion mit den anderen Tänzern erfordert aber auch ein ständiges Oszillieren in der Zeit: Antizipation, ebenso wie Präsenz. »To make space real«, wie es Forsythe selbst ausdrückt – und dazu gehört der zeitliche Aspekt ganz wesentlich – ist eine der wichtigsten Aufgaben des Choreographen, um seinen Tänzern neue Bewegungs-Spielräume zu eröffnen. Die gerade vollzogene Bewegung entfaltet den Möglichkeitsraum für die anschließenden Bewegungen. Die Einschnitte und Abweichungen ereignen sich durch den Anderen; durch das, was dem Tänzer oder der Tänzerin von außen zustößt. Diese Einfaltung des Äußeren ins Innere kann mit Merleau-Ponty und Waldenfels als eine Erweiterung des Husserl’schen Modells gelesen werden. Der Tänzer entwirft seine Bewegung sowohl im Fluss der gerade vergangenen und der folgenden Bewegung, aber auch im Hinblick auf einen anderen Tänzer. Diese Bewegung ›stößt ihm zu‹. Zwar kann der Tänzer innerhalb eines bestimmten Rahmens verschiedene Möglichkeiten antizipieren und sich daraufhin ausrichten, aber jene »residual response«, von der Dana Caspersen im Eingangszitat zu diesem Kapitel spricht, wird dennoch im Moment gefunden, sie beruht gleichermaßen auf der geübten Reaktivität, auf der proprioception und der Fähigkeit jene in den Improvisation Technologies beschriebenen Bilder im Prozess zu imaginieren, mittels derer die Bewegung fortgeschrieben werden kann. Dabei scheint mir die Erfahrung der Alterität, die der Intention zuvor kommt, für die Arbeit Forsythes zentral zu sein. Dazu arbeiten die Tänzerinnen mit Techniken, in denen es um den gezielten Verlust der körperlichen Orientierung geht, z.B. mit Techniken des Kontrapunkts. Der Körper kann sich, ähnlich

Entfaltung von Bewegung wie auch bei Laban, kontrapunktisch zu seinen eigenen Teilen, zu anderen Körpern oder zur Musik bewegen. Dafür sind, wie oben genannt, die proprioception, aber auch das entrainment wesentlich. Unter entrainment versteht Forsythe »the process that occurs when two or more people become engaged in each other’s rhythms, when they synchronize [...], it is about experiencing someone else.«148 Er beschreibt, wie »[...] intimate and powerful entraining is, as well as how taxing it must be to sustain the level of involvement necessary to remain inside the event. [...] more than the physical part, it was the intellectual part that required keeping that amount of information flowing at that speed [...] and not getting habitual. It’s really an unbelievable task. [...] I think perhaps in our case it’s a big task because our dances are hyper-complex. [...] It’s kind of extra-ordinary counter-coordination [...]. Your brain can operate only so fast. That’s because you have to split your brain all the time, [...] You have to be in the present [...] and then you also have to be flowing your body into the next event, so you’re always between two events.«149

Der zwischen zwei oder mehreren Körpern mithilfe eines inkorporierten Wissens entstehende, sich ständig verschiebende Zwischenraum ist also vor allem auch zeitlich bestimmt. Die beschriebenen Techniken erfordern Fähigkeiten, die einem inneren Navigationssystem ähneln, das zeitlich operiert und wesentlich schneller ist als die Orientierung über das Sehen. Denn mit einer lediglich visuellen Orientierung, die erst wieder rückübersetzt werden müsste, kämen alle wichtigen physischen Re-/Aktionen zu spät. Dieses Re-/Agieren ist im Sinne einer Verantwortung gefasst, denn die ›Systeme‹ der einzelnen Tänzer arbeiten nicht voneinander unabhängig, sondern sind abhängig von den Entscheidungen der anderen Tänzer. Auch wenn die Aussagen Forsythes zum entrainment bereits aus einer früheren Arbeitsphase stammen, nimmt er mit den Synchronous Objects die Herausforderung der Visualisierung jener Prozesse an. Daraus ergeben sich u.a. Darstellungen von Architekturen, die Bewegung nicht nur integrieren, sondern sie zu ihrem Ausgangspunkt machen.150 148 |  Steven Spier: »Engendering and composing movement: William Forsythe and the Ballett Frankfurt«, in: The Journal of Architecture 3/2, 1998, S. 135-146, hier S. 142. 149 |  Ebd., S. 143. 150 |  Was ein jedes Entwurfsprogramm nur im Stadium des zweidimensionalen Planens vermag (als zweidimensional sehe ich trotz ihrer Dreidimensionalität suggerierenden Darstellungsweise auch die CAD-Programme an, da sie sich letztendlich nur auf dem Bildschirm entfalten), kann hier um den Preis der Vergänglichkeit in unendlichen Folgen variiert werden. Die dabei entstehende Raumformation ist aber insofern, als die ›Architektur‹ aus der Interaktion entwi-

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Entwürfe und Gefüge

Fraktale Faltung Forsythes Ansätze, Bewegung zwischen zwei Ereignissen zu entfalten, lassen sich in Anlehnung an den Architekten Steven Spier auch mit der Fraktalgeometrie, einer Theorie chaotischer Strukturen, in Verbindung bringen: Dabei handelt es sich um die von Benoît Mandelbrot 1975 eingeführte Geometrie, die nicht einfache Formen wie in der euklidischen Geometrie behandelt, sondern bestimmte komplexe Gebilde und Erscheinungen – Fraktale – wie sie ähnlich auch in der Natur vorkommen, z.B. im Adernetz, auf der Gebirgsoberfläche oder in Luftwirbeln. Ihre Eigenschaften sind erstens die Selbstähnlichkeit – d.h. jeder noch so kleine Ausschnitt ähnelt bei entsprechender Vergrößerung dem Gesamtobjekt – und zweitens die gebrochene (fraktale) Dimension. So liegt etwa die Dimension der Oberfläche eines Gebirges zwischen der Zweidimensionalität einer Ebene und der Dreidimensionalität eines Körpers. Mithilfe der Fraktalgeometrie können komplexe Erscheinungen mathematisch erfasst und am Computer simuliert werden; sie sind für topologische Verformungen und Entwurfsprozesse, gerade auch in der CAD-Architektur gebräuchlich, die ihre Muster und Oberflächen aus Ornamentfolgen generieren.151 »Dass die Ordnung innerhalb des Chaos so lange verborgen geblieben ist, liegt an seiner fraktalen (zwischen Punkt, Linie, Fläche und Raum liegenden) Dimension. Die Struktur des Fraktalen kann man als ›re-entry‹ der Form in die Form beschreiben, als eine Form, die in sich selbst hinein kopiert wird.«152

Diese topologische Relationierung von Innen und Außen geht hier jedoch in Bezug auf den Körper weiter als die computergenerierte Architektur, entwirft sie sich doch in direktem Bezug auf die Bewegungen eines fiktiv oder real anwesenden Anderen und stellt somit den performativen Vollzug in den Mittelpunkt. Auf die Komposition von Bewegung angewendet bedeutet dies, endloses Material iterativ aus einer einzigen Bewegung heraus zu produzieren. Durch die Bearbeitung mittels einer fraktalen Iteration erfährt der Tanz eine Ausdehnung in sich selbst, analog einem geschliffenen Stein, dessen Schnittflächen weitere eingeschriebene Oberflächen widerspiegeln. Diese Form der Generierung von Bewegung kann natürlich nicht 1:1 übertragen werden. Sie stellt lediglich eine ckelt wird, nicht von der Form her gedacht, sondern verbindet Improvisation und Analyse innerhalb eines sich situativ und relational entwickelnden ›Entwerfens‹. 151 |  Vgl. hierzu die Zeitschrift ARCH+ 189, Entwurfsmuster: Raster, Typus, Pattern, Script, Algorithmus, Ornament, Oktober 2008; Dürfeld: 2008; sowie Gleiter: 2002. 152 |  Norbert Bolz: Das kontrollierte Chaos. Vom Humanismus zur Medienwirklichkeit, Düsseldorf/Wien: Econ, 1994, S. 164f. Der Begriff des re-entry stammt von George Spencer Brown: Laws of Form, New York (NY): Dutton, 1979.

Entfaltung von Bewegung Herangehensweise, eine Idee, einen Ansatz dar, mit dem bis zu einem gewissen Punkt gearbeitet werden kann. Sie ist dabei stets abhängig von den Entscheidungen der einzelnen Tänzer. Wenn beispielsweise ein Tänzer eine Bewegung aufnimmt und transformiert, bleibt immer mindestens ein Parameter der Bewegung erhalten, die anderen werden nach und nach variiert. So kann z.B. die gedachte Linie im Unterarm zuerst in bestimmter Weise gedreht werden, dann kann diese Bewegung von einem anderen Körperteil übernommen werden. Die Ausrichtung im Raum wird dabei geändert, oben – unten, rechts – links werden umgekehrt. Ein anderer Tänzer könnte einen Teil dieser Bewegung mit einem andern Körperteil, z.B. der Schulter, dem Ellenbogen oder dem Ohr, in den Raum schreiben oder auf den Boden usw. Wie die Tänzer ihre Entscheidungen treffen, welchen Teil einer Bewegung, welche Qualität sie auf welche Art interpretieren und übersetzen, davon hängt das gesamte Zusammenspiel ab. Auch der Architekt Steven Spier spricht in seinem Aufsatz über Forsythes Bewegungstechniken von fraktaler Faltung;153 damit wird ein Konzept aufgerufen, das die Falte noch einmal in anderem Kontext, dem des Ornaments und der Systemtheorie situiert, die ebenfalls mit Wiederholung, Verschiebung und Differenzbildung operieren. Der Prozess der Faltung und Entfaltung beschreibt eine Technik, die auf Wiederholung und der ihr eingeschriebenen Differenz beruht: »Take an equation, solve it; take the result and fold it back into the equation and then solve it again: Keep doing this a million times.«154 Wichtig daran ist in Bezug auf das entrainment, dass die Bewegung nicht allein gedacht wird, sondern immer ein Verhältnis zu etwas oder jemand anderem etabliert. Das Körperwissen befindet sich hier in ständiger Anpassung, es oszilliert zwischen verschieden gedachten Positionen und Verhältnissen und gleicht diese an der Grenze zum tatsächlichen Fallen oder zur Verletzung aus. Vergleichbar Bernard Caches Definition der Architektur als Kunst der Rahmung, geht es auch hier um ein Bewusstsein dieser Gegenseitigigkeit. Im Tanz funktioniert diese nur, wenn ein sehr klares Bewusstsein über die Differenz besteht. Der Vergleich der ineinander gestülpten Säcke, den Cache benennt, hat dabei etwas sehr Körperliches: Er erinnert an das Beispiel der Handschuhe, das Merleau-Ponty in seinem Chiasmus-Aufsatz anführt, das Ineinanderwirken erinnert an die beschriebenen Techniken des entrainment, an das oszillierende Verhältnis von Außen und Innen, Ursache und Wirkung. Damit werden Körperbilder aufgerufen, die sich jedoch nicht einfach verflüssigen und ineinander 153 |  Steven Spier: »Inside the Knot that Two Bodies Make«, in: Dance Research Journal 39/1, Sommer 2007, S.  49-59. 154 |  William Forsythe in Eidos: Telos. Programmheft, hg. v. Städtische Bühnen, Frankfurt am Main, 1995, S. 18. Eidos:Telos steht in engem Zusammenhang mit den Improvisation Technologies, die Beispiele aus dem Stück sind auf der CDRom zu sehen.

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Entwürfe und Gefüge übergehen, sondern immer von einer Differenzfigur ausgehen. Das Bild der Ineinanderstülpung ist daher, was die Räumlichkeit betrifft, nicht inspiriert vom Bild einer organisch-fließenden Architektur, sondern von dem Übergang verschiedener ›Funktionsräume‹, die sich ablösen, verschieden fokussiert sind, und die nicht linear oder logisch aufeinander aufbauend verlaufen. Wie nun aber lassen sich diese beschriebenen abstrakten Techniken in Verbindung bringen mit den bereits diskutierten Ansätzen phänomenologischer Theoriebildung?

Navigieren im Unbekannten: Produktive Dysfunktionen Brian Massumi schlägt mit »Strange Horizon. Buildings, Biograms and the Body Topologic« eine andere Sichtweise der Orientierung im Raum vor. Er kritisiert die Trennung zwischen der Abstraktheit des Digitalen und phänomenologisch orientierten Ansätzen und setzt dem entgegen, dass wir nicht in einem rein euklidischen Raum lebten. Design-Technologien, die eher auf Kontinuität und Bewegung als auf der statischen Form insistierten, täuschten sich selbst hinsichtlich der Statik des endgültigen Produkts. Die Frage, die er daraus entwickelt, lautet: »What if the space of the body is really abstract? What if the body is inseparable from dimensions of lived abtractness that cannot be conceptualized in other than topological terms?«155 Die Art und Weise, mit der wir uns im Raum orientieren, entspräche, so Massumi, nicht einer visuellen Vermessung des Behälterraumes, sondern einem Navigationssystem, mittels dessen wir uns orientieren, ohne es vollständig begrifflich beschreiben zu können, und das auch nicht ohne Weiteres zu visualisieren wäre, sondern gerade aus einer Mischung visueller, kinästhetischer und erinnerungstechnischer Daten zusammengestellt würde.156 Wie Fuller beschreibt er ein relationales und relatives Beziehungsgeflecht verschiedener Daten, die in der Navigation aufeinander bezogen werden. Jener sechste Sinn der proprioception fungiert dabei in engem Zusammenspiel mit diesem Navigationssystem. So ergibt sich die Positionalität aus der Bewegung selbst, und diese Bewegung ist nicht nur, wie üblicherweise angenommen, abhängig von der vorgängigen Positionierung im Raum, sondern ergibt sich aus den verschiedenen Daten unerschiedlichster Qualität, die das Beziehungsgeflecht gerade jener ephemeren Konstellation bilden. Die außergewöhnlich entwickelte Sensibilität der Tänzer, die oftmals auch als Durchlässigkeit beschrieben wird, scheint von größter Bedeutung für ver-

155 |  Brian Massumi: »Strange Horizon. Buildings, Biograms and the Body Topologic«, in: ders: Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation, Durham (NC): Duke Univ. Press 2002, S. 177-207. 156 |  Ebd., S. 178.

Entfaltung von Bewegung schiedene zeitgenössische Tanztechniken zu sein.157 Sie betrifft nicht nur das Verhältnis der Tänzer untereinander, wie in jenen komplexen cueing-Systemen in Synchronous Objects, die die Abstimmung und Synchronisierung der Tänzer untereinander regeln, sondern sie überträgt sich auch in spezifischer Weise auf das Verhältnis zwischen Performern und Zuschauern, insofern als diese Interrelation nicht nur durch die Aufteilung von Bühne und Zuschauerraum gerahmt wird, sondern ebenso durch eine spezifisch phänomenologisch gesteuerte Relation.158 Das Zusammenspiel zwischen Performern und Zuschauern wird weitgehend durch die hoch entwickelte Fähigkeit der Tänzer, auf andere zu reagieren und ihre Aufmerksamkeit auf den anderen auszurichten, gesteuert, was wiederum die Zuschauer zwingt, die eigene Aufmerksamkeit zu erhöhen. Diese wird zusätzlich durch Konstellationen herausgefordert, die auf den ersten Blick der traditionellen Guckkastenbühne nicht widersprechen, die aber dennoch das Verhältnis von Kinesphäre und Dynamosphäre auf andere Art und Weise bestimmen, in der die phänomenologische Intentionalität gerade durch das Scheitern ihrer Gerichtetheit159 ins Blickfeld gerät und Desorientierung zum zentralen Modus der Erfahrung wird. Besonders wenn wir an den Rand unserer Fähigkeiten getrieben werden und mit dem Scheitern oder mit nicht-gerichteter, unwillkürlicher Bewegung konfrontiert werden, beginnen wir erneut über das Funktionieren unserer Sinne nachzudenken und unsere Gewohnheiten zu überdenken. Die gerichtete phänomenologische Intentionalität unserer Bewegungen, an die wir im täglichen Leben gewöhnt sind, oder die in klassischen Bewegungstechniken, wie im Ballett, zum Tragen kommt, wird in 157 |  Vgl. auch Jeroen Peeters: Les Corps sont des filtres. Lichamen als filters. Over Boris Charmatz, Benoît Lachambre en Meg Stuart/Bodies as Filters. On Boris Charmatz, Benoît Lachambre and Meg Stuart, Maasmechelen: Cultureel Centrum, 2004. 158 |  In den letzten Jahren wird diese Fähigkeit oft auch in neuro-physiologischen Termini, wie z.B. den Spiegelneuronen beschrieben, etwa bei: Ivar Hagendoorn: »Einige Hypothesen über das Wesen und die Praxis des Tanzes«, in: Gabriele Klein/Christa Zipprich (Hg.): Tanz Theorie Text, Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung 12, Münster: LIT, 2002, S. 429-444; oder Christiane Berger: Körper denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Bielefeld: transcript, 2006. Ich möchte diese Ansätze hier jedoch nicht hinzuziehen, da sie meines Erachtens nichts über ästhetische Erfahrung aussagen können. 159 |  Vgl. Philippa Rothfield: »Differentiating Phenomenology and Dance«, S. 43-53; sowie Vivian Sobchak: »Choreography for one, two and three legs. A Phenomenological Meditation in Movements«, S.  55-66; beide Texte in: Susan Leigh Foster/Philippa Rothfield/Colleen Dunagan (Hg.): Topoi. An International Review of Philosophy 24/1, Januar 2005, Dance and Philosophy.

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Entwürfe und Gefüge zeitgenössischen Bewegungstechniken bewusst unterlaufen. Stattdessen wird die Fähigkeit mit dem Potential des Unvorhersehbaren zu spielen und die improvisatorische Virtuosität der Tänzer gesteigert. Daher geht es Forsythe um die gezielte Aufgabe der Kontrolle und die Einbeziehung des Zufalls innerhalb eines strengen Regelsystems, um das Erkunden der Grenzbereiche, z.B. des kinästhetischen Sinns bis an die Grenzen des Schwindels, des Gleichgewichtsverlusts, der Destabilisierung der Balance, um das Unsicher-Werden habitueller Relationen und den Verlust der Positionalität. Nur durch dieses Ausloten der Grenzbereiche gelingt es, auch den Zuschauer in eine ähnliche Situation der Unsicherheit, des Nicht-Wissens zu manövrieren, in denen gewohnte Muster der Beurteilung nicht mehr greifen. Darüber wird das Entwerfen eines alternativen, relationalen Raumkonzeptes erprobt. Die bekannte Gliederung des euklidischen Raumes wird nicht etwa aufgehoben, der Grund und dessen Implikationen, wie Horizontalität und Vertikalität, Linearität und Kausalität werden nicht aufgegeben, wohl aber relativiert, indem ihnen eine zusätzliche Dimension der Raumerfahrung an die Seite gestellt wird, sodass euklidische und nicht-euklidische Raumerfahrung sich gegenseitig beeinflussen. Der Tanz kann so die Erkundung unbekannter, komplexer Räumlichkeiten ermöglichen, die im übertragenen Sinne nicht den geebneten Grund voraussetzen, wohl aber eine Differenzfläche. Das Besondere liegt darin, dass diese Differenzen das reibungslose Dahintanzen unmöglich machen und stattdessen ein Experimentieren mit ganz verschiedenen Verhältnissen, sei es zum Boden, zum Partner oder zu einem imaginären Raumgefüge erfordern. Hier wird dem zu Erwartenden eine ›Ethik des Ereignishaften‹ entgegengesetzt, innerhalb derer spezifische Situationen entstehen oder produziert werden, Situationen, die verantwortungsvolle Entscheidungen und Handlungen herausfordern. Ausgehend von dieser Ereignishaftigkeit besteht die Herausforderung darin, die verschiedenen Formen dieser unterschiedlichen Raumerfahrungen, abstrakt-topologische sowie leiblich-erfahrungsgemäße, zueinander in Relation zu setzen. Dies funktioniert jedoch nur, wenn diese verschiedenen Ebenen nicht einfach ineinander verschwimmen, sondern eine Differenz zwischen ihnen erhalten bleibt, und so ein oszillierendes Verhältnis entsteht. So wird ein Zwischenraum eröffnet, in dem sich andere Interaktionen ereignen können, in dem die getroffenen Entscheidungen relevant werden. Beschreiben lässt sich dies am ehesten mit Waldenfels’ Begriff der Diastase. Diese bezeichnet einen Differenzierungsprozess, in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht.160 Eine dynamische Räumlichkeit ebenso wie das Wissen, das eine solche generiert, wird ebenfalls erst in diesem Zwischenraum der ständigen Interaktion, im Wechsel, produktiv. Darüber hinaus aber zeigt sich ebenso, wie verschiedene 160 |  Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 174.

Entfaltung von Bewegung Navigationssysteme eine je subjektive Lesart räumlicher Anordnungen ergänzen und wie es die Tänzer dazu bringt, mit anderen in verantwortungsvoller Weise zu interagieren. Ebenso wird auch die Aufmerksamkeit der Zuschauer herausgefordert: Sie beobachten, was im Verlauf dieser unvorhersehbaren Begegnungen, den sich entwickelnden Ereignissen geschieht und welche Parameter ins Spiel kommen, wenn ein angestrebtes Ziel nicht länger zu erfüllen ist. Aber auch wenn das (intendierte) Scheitern und die Dysfunktion ein produktives Werkzeug im kreativen Prozess darstellen können, wie ist es möglich Bewegungsmuster und -techniken wieder zu verlernen, wo sie sich doch so stark in den trainierten Tänzerkörpern manifestieren?161 Vivian Sobchak erläutert, wie die selbstverständliche, nicht reflektierte Eigenbewegung zum Problem wird:162 Die Intentionalität und Immanenz der Bewegung, die Fokussierung eines bestimmten Ziels und die Aufmerksamkeit muss von dem dort, dem Ziel und Zweck der Bewegung, auf das hier und die Ausführung der Bewegung selbst verlegt werden. Im Abgleichen aller horizontal und vertikal sich darbietenden Möglichkeiten von Bewegung verändert sich der umgebende Raum je nach bestimmten Begehren und Notwendigkeiten. Das Modell der Kinesphäre ist hier sogar an andere Bedürfnisse anpassbar. Diese sind jedoch keinesfalls nur durch die unmittelbare Empfindung zugänglich, sondern sind bereits geformt durch gender-spezifische, historische und andere Rahmungen, die in der Erfassung von Welt mitgestaltet werden.

6.6 Zur Verschränkung von Subjekt und Welt im phänomenologischen Ansatz Dies hat auch Einfluss auf das Verhältnis von Performer und Zuschauer. Zwar arbeitet Forsythe oft mit dem traditionellen, zentralperspektivisch angelegten Bühnenraum (zu den choreographischen Installationen: vgl. Kapitel 5), er versucht jedoch immer, diesen innerhalb seiner Grenzen aufzubrechen und das Verhältnis von Zuschauer, Raum und Performer neu zu definieren, indem er herkömmliche Sichtweisen bricht. Dies geschieht etwa mittels medialer Konstruktionen, Einschränkungen des Sichtbaren und schließlich auch mit den Prinzipien der »Architektur des Verschwindens« (Baudoin/Gilpin). Das ständige Vergehen des Tanzes und des damit verbundenen räumlichen Eindrucks irritiert. So wird der Zuschauer durch die wechselnden Perspektiven in den kreativen Prozess miteinbezogen, er schafft sich abhängig von seiner persönlichen 161 |  Judith Butler spricht von Prozessen der Materialisierung, die im Laufe der Zeit stabil werden, aber beständig zu wiederholen sind und so ihre Stabilität erhalten. 162 |  Sobchak: 2005.

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Entwürfe und Gefüge Erfahrung seinen eigenen imaginären Raum, wobei er sich nicht an fertigen Lösungen orientieren kann, sondern temporäre Strukturen, Bewegungsmuster und deren mögliche Abweichungen akzeptieren muss – eine Form des Navigierens. Wie die Tänzer, so sind auch die Zuschauer gefordert, ständig Entscheidungen zu treffen, sich in ein Verhältnis zu setzen zu dem, was sie sehen oder was sie mit den anderen Sinnen wahrnehmen, denn auch die Betrachtung des Tanzes ist erwiesenermaßen nicht nur durch den visuellen Sinn erfahrbar, sondern ganz stark durch den kinästhetischen Sinn und die eigene Bewegungserfahrung.163 Was bei Husserl noch als bewusste intentionale Setzung beschrieben wird und bei Merleau-Ponty in der Figur des Chiasmus zumindest auf einen gegenseitigen Bezug von Welt und Subjekt geöffnet wird, wird bei Deleuze/Guattari mit Perzept, Affekt und dem Konzept des Empfindungsblocks umschrieben: »Das Ding ist kraft der Selbst-Setzung des Geschaffenen, das sich in sich erhält, vom Schöpfer unanhängig. Was sich bewahrt, erhält, die Sache oder das Kunstwerk, ist ein Empfindungsblock, das heißt eine Verbindung, eine Zusammensetzung aus Perzepten und Affekten. Die Perzepte sind keine Perzeptionen mehr, sie sind unabhängig vom Zustand derer, die sie empfinden, die Affekte sind keine Gefühle oder Affektionen mehr, sie übersteigen die Kräfte derer, die durch sie hindurchgehen.«164

Eine Konzeption, die wie hier beschrieben die Kräfte als durch die Subjekte hindurchgehend beschreibt, entwickelt zugleich sehr körperlich gefasste Spielarten von Empfindungskomplexen: die Schwingung, die Umfassung oder das Ineinander von Körpern, das Zurückweichen, die Trennung, die Dehnung. Diese lassen sich zwar durchaus auch mit Labans Idee des Mitschwingens und der Ausdehnung des Leibes vergleichen, sie gehen aber noch einen Schritt weiter und sie sind zeitlich gefasst. Die Affekte sind genau jenes Nicht-Menschlich-Werden des Menschen, wie die Perzepte die nicht-menschlichen Landschaften der Natur sind. »Eine Weltminute zieht vorüber, und man bewahrt sie nur, indem man, wie Cézanne sagt, mit ihr eins wird. Man ist nicht in der Welt, man wird mit der Welt, man wird in ihrer Betrachtung.« 165

163 |  Hagendoorn: 2002. 164 |  Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? [1991], Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996, insbes. Kap. 7: »Perzept, Affekt und Begriff«, hier S. 193f. 165 |  Auch bei Erwin Straus finden sich bereits Annäherungen an ein Konzept des Werdens; vgl. hierzu Deleuze/Guattari: 1996, S.199, Fußnote 6; sowie S. 210f, Hervorhebung KM.

Entfaltung von Bewegung Das Konzept kinästhetischer Erfahrung bei Husserl wäre aber nicht nur zu ergänzen durch eine angemessene Beschreibung der Zeitlichkeit, sondern ebenfalls ist der Prozess der Mimikry zu integrieren, der diese integriert. Die Passagen durch den Leib gestalten den Körper fortwährend um, er wird zum Übergangskörper. Die Anpassungs- und Verwandlungsfähigkeit ist jenseits rein mimetischer, nachahmender Fähigkeiten zu verstehen, sondern sie operiert stattdessen in Reihen und Verschiebungen.166 Wie aber gestaltet sich demnach der Akt ästhetischer Erfahrung? Die Subjektwerdung im Akt der Welterfahrung ist u.a. bestimmt durch Akte des Wissens, dementsprechend gibt es keine unvorgängige Erfahrung, kein reines Subjekt oder Objekt bzw. beide sind verbunden im Akt der Gegenstandskonstitution. Sowohl bei Husserl als auch bei Laban wird das Verhältnis von Ich und Welt hingegen als ein zu unmittelbares beschrieben und konstruiert eine Übereinstimmung zwischen den Phänomenen und dem auf sie gerichteten intentionalen Bewusstsein. Dies ist nur zu verstehen, wenn man glaubt, dass sich das Bewusstsein durch Wörter und Sätze oder ›ursprüngliche‹ Erfahrung direkt auf die Welt bezieht. Die Dinge sind jedoch nicht einfach intentional zugänglich, sondern stehen wie alles Sicht- und Sagbare in Ordnungen des Wissens; Verhältnisse zwischen Sichtbarem und Sagbarem werden durch kulturell, sozial oder gesellschaftlich bestimmte Machtverhältnisse organisiert und konstituiert.167 166 |  Die Tanzwissenschaftlerin Christiane Berger zieht für ihre Argumentation den Phänomenologen Hermann Schmitz heran, der die zwischenleibliche Erfahrung sowie das Mitschwingen als Angesteckt-Werden des eigenen Leibs als leiblichen Mitvollzug thematisiert. Schmitz aber postuliert nun gerade einen Leib vor der Erfahrung des Außen, den er mit dem leiblichen Eigensinn, dem SichSelbst-Spüren ausstattet. Gerade jene produktive Ambiguität, die Merleau-Ponty mit dem gleichzeitigen Spüren und Spürbaren entwirft, wie auch die Einbeziehung des Außen gehen hier verloren. Hilfreich für eine Betrachtung des Tanzes scheint Labans Konzept von Weitung und Engung. Hier werden nicht dialogische Spannungen wie bei Schmitz, sondern oppositionale Spannungen beschrieben. Dennoch scheint das Dialogische, das auf ein Außen und Anderes Gerichtet-Sein, in diesem Bewegungsmuster, bereits im einzelnen sich bewegenden Leib angelegt zu sein. Wie es möglich wäre, aus diesem Spannungsverhältnis auch ein Modell von Gemeinsinn, Gemeinschaftssinn zu entwickeln, erläutert ansatzweise Kap. 5. 167 |  Sowohl in Was ist Philosophie? als auch in Deleuzes Foucault-Studie wird die Notwendigkeit der Philosophie als das Bilden und Herstellen von Begriffen und Begriffsfunktionen umrissen. Damit wird auch Husserls Idee der lebensweltlichen Erfahrung und seiner noch zu sehr an die der allgemeinen wissenschaftlichen Ausdrucksweise entlehnten Begriffe kritisiert (Begriffe 3. Ordnung D/G).

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Entwürfe und Gefüge Eine produktive Verbindung von Phänomenologie und Bewegungspraxis liegt insofern gerade in der Spannung zwischen bewusst und unbewusst ausgeführter Bewegung: Eine spezifische Praxis der Ausübung von Tanz oder einer formierenden Körpertechnik, die jeweils im Zusammenhang eines eigenen Körperkonzeptes zu sehen ist und welche die aktuell im choreographischen Prozess zu treffende Entscheidungen beeinflusst, bestimmt, was ein Körper kann und wie er sich entwirft. »The body tends to disappear when functioning unproblematically, it often seizes our attention most strongly at times of disfunction; we then experience our body as the very absence desired or ordinary state; and as a force that stands opposed to the self.«168 Diese Gegenüberstellung des Eigenen als Fremdes mag im Rahmen der erläuterten Verfahren der Improvisation Technologies als eine passende Perspektivierung gelten, sie werden aber vor allem in den im folgenden Kapitel zu beschreibenden Praktiken wieder aufgenommen. Wesentlich erscheint, dass diese in einem Rahmen aus einerseits habitualisiertem Körperwissen, welches durch ein jahrelanges Training erworben wird, und andererseits gerade jener im zeitgenössischen Tanz so wichtigen »Fähigkeit jene Gewohnheiten zu verlassen, sich selbst zu überraschen« besteht.169 Entscheidend ist, dass dies aber bewusst produziert werden kann, dass Zustände der Desorientierung, welche die Gender-Theoretikerin Iris Marion Young als »an ambiguous transcendence, an inhibited intentionality and a discontinous unity with its surroundings«170 beschreibt, aufgesucht und verlassen werden können. Wie jene Passagen des Uneigenen durch den Leib gezogen werden und wie Bewegung als Zustand entworfen wird, soll vor diesem Hintergrund in Kapitel 2 verhandelt werden.

168 |  Drew Leder: The Absent Body, Chicago (IL): Chicago Univ. Press, 1990, S. 4. 169 |  Gabriele Brandstetter: »Selbst-Überraschung: Improvisation im Tanz«, in: dies./Hans-Friedrich Bormann/Annemarie Matzke (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld: transcript, 2010. S. 183-200. 170 |  Zitiert in: Sobchak: 2005, S. 62. Philippa Rothfield spricht von einer »situation of (kin)aeshetic difference« und argumentiert ergänzend: »that Merleau-Ponty’s term of the lived body is a portal to critical formulation of the phenomenological enterprise, one which requires a hermeneutics of suspicion, an ethics and politics of representation as well as a careful elaboration of its own forms of practice.«

Kapitel 2 Decreation: Prinzipien der Ent-Schöpfung »Decreation creates bodies that are inhabited by conflicting forces [...]. They are bodies undone or decreated because they are plural bodies in one body. [...] The movement thus produced is useless in the best sense of the word, namely free from intentions and therefore potentially free from depicting anything in particular. The result is not a choreography of steps.«1

Ich sehe einen Körper, der sich windet, dessen Glieder bis in die äußersten Zehenspitzen in spastischen2 Verrenkungen die Grenzen des Körpers und seiner Möglichkeiten ausloten. Die Verschiebungen der Körperpartien reichen bis in die Gesichtsmuskulatur, dazu werden quälend langsam Laute hervorgebracht, die klingen, als ob versucht würde, akustisch das Innere auf schmerzhaft anmutende Weise nach außen zu bringen, wobei Satz- und Sinnstrukturen an der Schwelle zur Artikulation zerfallen. Bewegungen werden teils eng am Körper ausgeführt,3 die Schultern hoch-, der Hals eingezogen, Kiefer und Augen in gegensätzliche Richtungen verdreht. Der Rest des Körpers verbleibt, bis auf die Füße, die sich bis in die Zehenspitzen nach innen krümmen, relativ unbewegt, doch die Spannung ist so groß, dass der Eindruck entsteht, der Körper würde sich in sich hinein schrauben. Diese Verschraubungen der Gelenke stellen nicht eine nachträgliche Verschiebung des Körpers dar, wie es in früheren Stücken Forsythes anhand der Dekonstruktion des Balletts gezeigt wurde, sondern die Bewegungen werden bereits im Prozess ihres Entstehens vielfach gebrochen und verschoben. Wie und wodurch Bewegung dabei initiiert wird, ist oft nicht 1 |  Gerald Siegmund: »Decreation and Human Writes: Making the impossible possible«, Programmheft zu Decreation, Brüssel, 2006, S. 18. 2 |  Der Spasmus stellt laut medizinischem Lexikon eine große Muskelanspannung dar, einen Krampf der Eigenspannung der Skelettmuskulatur, die ihre Ursachen im Gehirn oder Rückenmark hat. Vgl. Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, Berlin: de Gruyter, 2602005, S. 1798. 3 |  Ich beziehe mich hier auf eine beispielhafte Szene mit der Tänzerin Jone San Martin.

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Entwürfe und Gefüge genau zu bestimmen. Es scheint, als ob Kräfte von außen die Körperkontur verformten, sie ausstülpten und in alle Richtungen verzerrten. Diese befremdlich anmutenden Körperdeformationen, die auch über Isolation und Fragmentierung die Hierarchien des Körpers auflösen und die Bewegungen ungerichtet erscheinen lassen, bestimmen die Choreographie in Decreation.4 Sie werden ergänzt und verstärkt: auf der visuellen Ebene durch den Einsatz von fragmentierten Videobildern, akustisch durch technisch verstärkte und verzerrte Effekte der Stimme sowie schließlich durch eine Inszenierungsweise, die über die Mittel sprachlicher Kombinatorik Phrasen ins Leere laufen lässt. Die Szenen des Opernhaften, immer wieder ansetzende, absurde narrativ-theatrale Passagen einer Geschichte von Liebe, Eifersucht und Verrat werden mit jenen grotesken Bewegungssequenzen verbunden, und zwischen diesen Ebenen werden ihre Bögen gespannt, ohne jedoch je zu einem sinnhaften Ganzen zu gelangen. Dies alles spielt sich zudem ab auf einer Bühne, die in ihrer multiperspektivischen Aufsplitterung einzelner simultaner Szenen die Destabilisierung des Zuschauers befördert. Ausgehend von dieser 2003 erarbeiteten Choreographie möchte ich in diesem Kapitel die Verfahren der Generierung jener Körperformationen im Kontext der Entwicklungen von Entwurfs- und Kreativitätstheorien vorstellen und herausarbeiten, welche Paradigmen für die choreographische Arbeit Forsythes strukturbildend wirken. Wie bereits im ersten Kapitel geht es auch hier um ein Entfalten von Möglichkeiten, das relationale Strukturen hervorbringt. Die Geste des Entwerfens wird dabei jedoch von traditionellen Entwurfs- und Kreativitätstheorien umgedeutet in ein »Ent-Schöpfen«.5 Jedoch geht es nicht nur darum zu zeigen, inwiefern sich die Entwurfspraxis vom schöpferischen Subjekt auf das Entwerfen von Regeln und deren Dekonstruktion verlagert hat, sondern vielmehr wie sich die Techniken des Entwerdens, der Ent-Subjektivierung innerhalb einer Entwurfstheorie verorten lassen. Dies erfordert zunächst einen kurzen Blick auf traditionelle Entwurfskonzepte und Kreativitätstheorie sowie deren Veränderungen vom Werk und Autor hin zum Prozessualen, wie sie mit der Moderne und Postmoderne einhergehen. Wie wird das implizierte Sich-selbst-als-etwas-Ent 4 |  Das Stück war die vorletzte Premiere des Ballett Frankfurt, wird aber bis heute von der kleineren Forsythe Company und früheren Forsythe-Tänzern als Gästen gezeigt. Die Premiere war am 27.04.2003, ich habe das Stück am 4. Mai 2003 im Frankfurter TAT, am 24. und 25. Mai 2003 im Théâtre National in Brüssel und am 22. Januar 2009 im Haus der Berliner Festspiele gesehen. 5 |  Vgl. Peter M. Boehnisch: »Ent-Körpern, Ent-schreiben, Ent-schöpfen. Wie sich die Tanztheorie von Forsythes ›Decreation‹ zur Dekonstruktion der Diskurse über das Ballett verleiten ließ«, in: ballettanz, Jahrbuch 2004, Forsythe. Bill’s Universe, S. 56-61.

Decreation werfen, wie es bis in die Moderne hinein mit dem Schöpfungsakt des Kreativen zusammengedacht wurde,6 durch eine solche Konzeption herausgefordert? Was tritt an die Stelle des schöpferischen Subjekts? Wenn, wie im ersten Kapitel gezeigt, die Betonung der Nicht-Intentionalität im Rahmen kontingenter Bewegungsprozesse zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist es fraglich, ob die Vorsilbe de- als Negation der création oder gar als Zerstörung zu verstehen ist, oder als eine andere Art der dekonstruktiven Entstellung. Ob gegenläufige Modi der Bewegungsschöpfung oder Bewegungsfindung – nicht nur der création, sondern eben der decréation – in engem Wechselverhältnis zu lesen sind und gleichermaßen einen Prozess konstituieren, ist am Beispiel von einzelnen Prinzipien der Entschöpfung zu betrachten, die sich unterschiedlich artikulieren: in der Ent- und Aneignung von Bewegungsmaterial, das von anderen Tänzern übernommen und transformiert wird, aber auch in der Erschöpfung und der Verausgabung – darin, etwas an den Rand des Möglichen zu treiben –, wobei dies von der Unterlassung zu unterscheiden sein wird.7 Wurde im ersten Kapitel erläutert, wie sich ausgehend von Überlegungen zur kinästhetischen Empfindung eine Struktur des Umraums entwickeln und transformieren ließ und welche Relationen zwischen den einzelnen Körperteilen sich daraus ergaben, soll in diesem Kapitel der Frage nachgegangen werden, inwiefern bestimmte Körper-Techniken an den Prozessen der Ent-Schöpfung mitwirken. Indem sie den Körper als Passage denken, als transformatives Werkzeug im Prozess des Entwerfens, und die Bewegungen nicht als etwas Substantielles, als etwas rein intentional vom Subjekt Hervorgebrachtes und Konzipiertes verstehen, entstehen Bewegungen, die historisch und theoretisch situiert werden sollen: Mit Ansätzen von José Gil und Jean-Luc Nancy werden sie als topologische Matrices relationaler Gefüge nachgewiesen. Dabei geht es nicht lediglich darum, Bewegung und Gegenbewegung in den Prozess der Bewegungsfindung einzubeziehen, auch das Brechen eingeübter Bewegungsmuster gilt seit Cunningham und dem Postmodern Dance als choreographische Strategie, die durch Kombination von Regelsets, An- und Enteignung von Bewegungsvokabular versucht, die eigenen Gewohnheiten zu unterlaufen. Das Sich-Selbst-Überraschen8 ist gerade für eine oft als mimetisch definierte Körperkunst als Herausforderung zu begreifen, wenn sie nicht dem Vorwurf aus 6 |  Vgl. Gert Mattenklott: »Sich selbst entwerfen. Pico della Mirandola«, in: Gundel Mattenklott/Friedrich Weltzien (Hg.): Entwerfen – Entwurf. Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses, Berlin: Reimer, 2003, S. 15-26. 7 |  Vgl. dazu: Barbara Gronau/Alice Lagaay (Hg): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen, 2008. 8 |  Gabriele Brandstetter: »Selbst-Überraschung: Improvisation im Tanz«, in: dies./Hans-Friedrich Bormann/Annemarie Matzke (Hg.): Improvisieren. Para-

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Entwürfe und Gefüge gesetzt sein will, sich zu sehr auf eine traditionelle Vorstellung vom Körper als einem Ausdrucksmittel mimetischer Prozesse, auf ein ›natürlich-authentisches‹ Körperbild zu stützen. Inspiration, Improvisation und eine Kreativität, die aus dem Wissen des Körpers resultiert, gehen hier ganz eigene Verbindungen ein und müssen neu gedeutet werden. Ebenso muss auch gefragt werden, welcher Begriff von Technik hier verwendet werden kann. Denn es geht hier nicht um herkömmliche Körper-Techniken oder Techniken des Entwerfens, wie sie gewöhnlich als zielgerichtete Aktivität verstanden werden, sondern der Begriff der techné muss im Rahmen einer Theorie der Entschöpfung, der Betrachtung pathischer Widerfahrnis gedacht werden. Die teils gesteuerten, teils durch Momente des Aussetzens von Kontrolle erzeugten Bewegungen, lassen den Körper in anamorphotischen Verzerrungen als Bühne widersprüchlicher Kräfte erscheinen.9 Jedoch müssen jene Transformationen an der Auflösung der Körpergrenze aus der Perspektive des Zuschauers betrachtet werden. Wichtig ist in diesem Prozess, welche Erfahrung der Zuschauer mit den Modi der Entschöpfung macht bzw. inwieweit er in diese Verfahren der Epi- und Antigenese involviert ist. In dieser Arbeit, die sich durch eine eher traditionelle, frontale Positionierung von Performern und Publikum auszeichnet, kann das (kin)ästhetisch affizierende Potential, das auf der Befremdung durch jene abjekten Körperformationen aufbaut, untersucht werden, ohne dass der Zuschauer bereits in eine unmittelbarere aktiv-partizipatorische Situation, wie sie in anderen Stücken inszeniert und eingefordert wird, gebracht wäre: So kann es nicht darum gehen, welche Wirkungen beim Zuschauer intendiert sind. (Es handelt sich um keine Wirkungsästhetik im Sinne rhetorischer Regelverfasstheit, Forsythe verweigert sich solchen Fragen dementsprechend.) Innerhalb dieser Anordnung, die auf besondere Weise dem Zuschauer eine Rolle des Mitgestalters zuweist, ist die Wirkung nicht im Voraus berechenbar, sondern verläuft individuell verschieden. Durch die Auflösung der Bezugspunkte, die scheiternden Versuche des Wiedererkennens und der Zuordnung von Bewegungen, durch die Fragmentierung der Bilder, wird die Defokussierung, Destabilisierung und Desorientierung als konstitutiver Zustand erfahren, De- und Rekomposition werden zur Aufgabe des Betrachters.

doxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld: transcript, 2010, S. 183-200. 9 |  Vgl. Susanne Foellmer: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript, 2009; zur anamorphotischen Verzerrung siehe auch dies.: »Den Blick fangen. Verzerrte Flüchtigkeiten im zeitgenössischen Tanz«, in: Kyung-Ho Cha/Markus Rautzenberg (Hg.): Der entstellte Blick. Anamorphosen in Kunst, Literatur und Philosophie, München: Fink, 2008, S. 54-67.

Decreation Wurde zum Ende des ersten Kapitels im Anschluss an Merleau-Pontys Chiasmus-Modell Identität als Prozess betrachtet, als Sein im Werden, können Körperbilder, in denen sich die Kontur als schwingungsfähiges Medium erweist, den Zuschauer in eine Rezeptionshaltung versetzen, die auf spezifische Weise den Bewegungen auf der Bühne korrespondiert; inwiefern dies eine besondere Art der Affizierung produziert, die seine Involviertheit zu einem kritischen Moment der Aufführung werden lässt, ist zu fragen. Mittels der Beschreibung dieser Momente soll eine Theorie der Entschöpfung von zeitgenössischen Varianten des Nichttuns und Unterlassens unterschieden10 und im Rahmen einer Technik der Entsubjektivierung die in ihr angelegte Spannung zwischen aktiver und passiver Kraft, zwischen Potentialität und Aktualisierung untersucht werden. Jene wird auch auf der Ebene räumlicher Figuration, dem Ineinandergreifen topologischer und topographischer Momente, aktuell.

1 Der Körper als Passage 1.1 Bewegungsmodi in Forsythes Decreation

Abb. 2.1: William Forsythe: Decreation, Schlussszene mit Richard Siegal, Roberta Mosca, Elizabeth Waterhouse, © Julieta Cervantes-Ladd.

Die Schlussszene in Decreation zeigt wenige Tänzer am Rand der vorderen rechten Bühnenhälfte um einen runden Tisch versammelt. Während der Rest der Bühne fast ganz abgedunkelt ist, wird ein kreisrunder Spot auf den Tisch gerich

10 | Gronau/Lagaay (Hg.): 2008.

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Entwürfe und Gefüge tet und so ein begrenzter Schauplatz definiert. Christopher Roman, der seine Füße auf dem Tisch zusammengekrümmt gegeneinander gelegt hat, wird mit einer Handkamera gefilmt, durch die gekrümmten Füße sieht man sein Gesicht.11 Die Ausschnitte zeigen eine merkwürdig anmutende Körperkonfiguration, welche in der Darstellung wie ein gekipptes Auge wirkt und auf einem kleinen Videoscreen in der hinteren Bühnenhälfte projiziert wird, von wo aus es die Szene ›beobachtet‹. Bereits der Moment des Wartens zu Beginn dieser Szene, bis sich alle Tänzer versammelt haben, scheint im Vergleich zu den vorangegangenen temporeichen Szenen, die sich durch die Überlagerung vielfältiger Aktionsorte auszeichneten, unendlich verlangsamt. Als sich endlich alle Tänzer um den Tisch versammelt haben, kriecht David Kern unter den Tisch, wo er ein Streichholz entzündet, der Tisch selbst ist mit Kohle geschwärzt. Dies erinnert eher an ein Kinderspiel, in der das ›Opfer‹ sich das Gesicht mit Kohle bemalen muss und das in der stets gleichen Weise ähnlich ritualisiert abläuft. Elizabeth Waterhouse begibt sich auf den Tisch, nacheinander schließen sich ihr verschiedene Tänzer an und performen kleine Sequenzen zu folgenden Textpassagen, die langsam vom Band gesprochen werden: »How the soul returns… How the soul no longer controls… How the soul no longer performs…«12

Dabei werden auch die Bewegungen zunehmend langsamer und reduzierter. Nachdem sich die Tänzerinnen und Tänzer über die Dauer von mehr als einer Stunde lang bewegt haben, als würden ihre Körper von intensiven fremden Kräften verformt, wirkt diese Szene auf mich wie ein Exzess der Langsamkeit, als ob die Kräfte den Körper nach und nach verlassen würden. Diese andere Art der Intensivierung der Bewegungen und die Konzentration der Tänzer auf diesen einen Ort tun ein Übriges, den Eindruck, einem Ritual beizuwohnen, zu verstärken. Jede Bewegung hinterlässt dabei ihre kohlschwarzen Spuren – sowohl auf dem Körper von Elizabeth Waterhouse als auch umgekehrt auf dem Tisch und den Körpern der anderen.13 Die transformatorische Szene wird von den sitzen 11 |  Auf der Photographie ist statt Christopher Roman Richard Siegal zu sehen; die Schwärze der Kohle ist nicht erkennbar. Die Abbildung zeigt das Ende der Szene, kurz bevor alle Performer den Tisch verlassen. 12 |  Aus dem Gedächtnisprotokoll der Aufführung vom 18.04.2008, Haus der Berliner Festspiele. 13 |  Jene Prozesse der Körperbeschriftung und des Körperschreibens werden in Kap. 4 ausführlicher diskutiert.

Decreation den Tänzern betrachtet. Was jedoch wird hier beobachtet, welcher Handlung dient der medial gedoppelte Voyeurismus – oder sollte man eher von Zeugenschaft reden? Der Eindruck einer geheimnisvollen Zeremonie entsteht, deren Bedeutung ich mit dem Vorangegangenen nicht direkt in Zusammenhang setzen kann. Während die Figur des ›Opfers‹ mit jeder Sequenz an Kraft zu verlieren scheint, wird der Körper, der vormals in Verzerrungen verformt wurde, hier nur noch durch die anderen manipuliert. Während die Körperformationen zuvor erschienen als würden die Körper von außen durch gewaltige Kräfte transformiert, ist hier alle aktive Kraft aus dem Körper gewichen. Am Ende bleibt die Tänzerin allein, wie leblos auf dem Tisch zurück, die anderen verstreuen sich wieder in den Raum, das Licht erlischt, das Stück ist zu Ende. Die Gemeinschaft der Tänzer um den Tisch, die Struktur der Wiederholung sowie die Texte erinnern an ein Ritual: Unklar bleibt jedoch, ob dabei jemand geopfert oder gereinigt wird, wer oder was dort transformiert wird bzw. um welche der drei Phasen eines Rituals es sich im Sinne Arnold van Genneps handelt: um eine Trennung (rite de séparation), um einen Übergang (rite de marge) oder bereits um eine (Neu-)Eingliederung (rite d’aggrégation). In diesem Übergang sind Privation und Desorientierung für die sichtbare und unumkehrbare Lösung und anschließende Neueingliederung unumgänglich – jene dichotomische Gespaltenheit, bei Victor Turner als ein Zustand des »betwixt and between«14 beschrieben, wirkt regulativ, hat eine kontrollierende Funktion und schafft eine neue soziale Ordnung. Die Wandlungen der Seele, von denen im Text die Rede ist, lassen an gerade jene transformative Kraft des Rituals erinnern.15 Sie verweisen auf die Abgabe von Kontrolle bis hin zur vollkommenen Selbstaufgabe oder -entäußerung, die sich auch in den immer schwächer werdenden, repetitiven Bewegungen von Elizabeth Waterhouse zeigen. Dass dieser Zustand der Selbstentäußerung, gewöhnlich übersetzt als Ekstase, gerade mit der beobachtenden Anwesenheit der anderen – nicht nur der anderen Tänzer, sondern auch des Publikums eng zusammenhängt, macht ihren Charakter und das räumliche Moment des Rituals manifest. Die dramaturgische Grundlage der Choreographie bildet ein Opern-Libretto der Schriftstellerin Anne Carson, das wiederum auf einem Aufsatz derselben 14 |  Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, hier insbes. Kap. 6.3. zu Liminalität und Transformation, S. 305317. Fischer-Lichte bezieht sich hier auf Arnold van Genneps Rites de passage (1909) und die daran anschließenden Studien Victor Turners. 15 |  Mit dem Hinweis allerdings auf Marguerite Porètes Verbrennung auf dem Scheiterhaufen und vor dem Hintergrund des Librettos erinnert die Schlussszene an das Durchlaufen jener sieben Zustände der Seele, wie sie Porète beschreibt.

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Entwürfe und Gefüge beruht.16 Carson verbindet darin drei Frauenfiguren, die dem Begriff der Decreation als Selbstentäußerung auf dem Weg zu einem höheren Ziel – einer besonderen Form der Liebe zu Gott, Anschauung verleihen: die griechische Dichterin Sappho (die Figur wird jedoch in der Inszenierung weitgehend eliminiert), die französische Mystikerin Marguerite Porète, die 1310 als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, und deren Schriften, die die Wandlungen bzw. den Durchgang der Seele durch verschiedene Stadien schildern und mystische Erfahrung als Entäußerung jeglicher eigener, subjektiver Willensansprüche beschreiben, sowie die französische Religionsphilosophin Simone Weil, die 34-jährig an Magersucht starb und deren Denken der Begriff der Decreation entlehnt ist. Mit dieser nachträglichen Information17 erschließt sich auch eine mögliche Interpretation der beschrieben Szene, die im Folgenden in Bezug auf die Inszenierung und die dazu beitragende Verwendung von Körpertechniken der Selbstentäußerung zu diskutieren ist.

1.2 Zum Prinzip des Entwerdens bei Simone Weil und William Forsythe Der Begriff der décréation wird bei Simone Weil in Spannung zu Husserls Konzept der Epoché entwickelt. Die Epoché oder phänomenologische Reduktion, durch die zunächst den vorgefassten Urteilen über die äußere Welt die Geltung entzogen wird, um anschließend unter Beiseitelassung der tatsächlichen Existenz zu Erkenntnissen über das Wesen des betrachteten Gegenstandes zu gelangen, gilt Weil als Grundwiderspruch einer interpretierenden Lektüreverfasstheit. Von außen von dem ergriffen zu werden, was das Ich selbst an Bedeutungen hervorgebracht hat (wie Husserls Beispiel der Kubuswahrnehmung zeigt) – diese Lektürekorrektur wird bei Weil als Problem praktisch-spiritueller Philosophie betrachtet. Ihre Relativierung der Epoché scheint insbesondere im Hinblick auf die im ersten Kapitel diskutierte problematische Sichtweise der Intentionalität, wie sie bei Husserl gedacht wird, hilfreich, und ist für den Tanz und dessen Analyse nutzbar zu machen. Die beschriebenen Körperdeformationen scheinen nicht einer gerichteten Kraft zu entspringen, sondern entstehen vielmehr durch ein Sich-bestimmen-Lassen,18 wobei Kräfte und Gegenkräfte im Spiel miteinander ein Oszillieren zwischen Momenten der Selbst-Entäußerung und Momenten der Kontrolle erzeugen. 16 |  Anne Carson: Decreation. How Women like Sappho, Marguerite Porete, and Simone Weil Tell God, unter: http://muse.jhu.edu/journals/common_knowledge/ v008/8.1carson.html (letzter Zugriff: 20.08.2018). 17 |  In Publikumsgesprächen mit William Forsythe in Brüssel und Berlin. 18 |  Martin Seel: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.

Decreation Bei Weil steht die Aufgabe des Selbst im Mittelpunkt einer religionsphilosophischen Ethik, in der sie göttliche Offenbarung und menschliche Sinneskräfte verbindet: »Mit der Anordnung dieser Kräfte gab Gott uns ein vollkommenes Modell der Liebe, die wir ihm schulden, in unsere Sinnlichkeit selbst hat er eine Offenbarung eingeschlossen.«19 Die praktisch-methodische Bewusstseinsbestimmung im Verlauf der Wahrnehmung, wie sie besonders der Arbeitsbezug nahe legt, in dem die Verhältnisse von Ding und Umgebung definiert werden, impliziert eine Übertragungsleistung in Hinsicht auf das graduell zunehmende Wirklichkeitsgefühl, welches für das Subjekt der aufmerksamen Erkenntnis darin gipfelt, mit Gewissheit eine direkte Entsprechung zwischen seinem Denken und der Materie in ihrer jeweiligen kinästhetisch leiblichen Apperzeptionsform zu besitzen. Merleau-Pontys Konzept des Chiasmus und Waldenfels’ Idee der Responsivität können hier beide als Modelle herangezogen werden, das Ineinander von nach innen gerichteten und nach außen wirkenden Kräften zu beschreiben. Beide Modelle stellen eine in beide Richtungen gehende Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt. Bei Weil markiert die Vorbedingung, dem Gegenstand ›liebende Aufmerksamkeit‹ entgegenzubringen, den grundlegenden Unterschied zu Husserls Begriff der Epoché, denn bei ihm wird der Vernunftbesitz nie infrage gestellt. Die Intentionalität ist stets an das Bewusstsein geknüpft. Die phänomenologisch-reflexive Wahrnehmungsbeschreibung als ›Lektüre‹ ist abhängig vom Verhältnis zwischen uns und den Empfindungen. Bei Weil hingegen entzieht sich das Objekt am Erscheinungshorizont dem apperzeptiven Zugriff der Vorstellungskraft, solange diese nicht reine Aufmerksamkeit, d.h. Rezeptivität ohne verfälschendes Begehren geworden ist.20 Das Ich wird als Leerstelle gedacht – als transzendentale Ermöglichung der weltlichen Textfülle, als »mit-kreativer Akt«. Alles von den natürlichen Vermögen Begriffene ist hypothetisch. Allein die übernatürliche Liebe setzt Wirkliches. Auf diese Weise sind wir Mitschöpfer, wir nehmen an der Erschaffung der Welt teil, indem wir uns selbst ent-schaffen (en nous dé-créant).21 Weil spricht hier von einem Realitäts-neuschaffenden Anerkennen. Ohne partikuläres Motiv zu handeln, entspricht genau dieser Leere, wenn nichts Äußeres mehr dem Inneren entspricht. Wahrheit wird in diesem Prozess nur verborgen zuteil – als das »Andere« dessen was »ist«. Denken und Handeln werden als eins verstanden; Motivation wird nicht mehr vorgestellt, sondern nur als Vollzug kann sie ganz 19 |  Simone Weil, zitiert in Rolf Kühn: »Sinnlichkeit als Offenbarung. Eine phänomenologische Analyse zum Denken Simone Weils«, Archiv Für Religionspsychologie/Archive for the Psychology of Religion 25, 2003, S. 232-254, hier S. 232, unter http://www.jstor.org/stable/23912384 (letzter Zugriff: 20.08.2018). 20 |  Ebd., S. 238. 21 |  Ebd., S. 242.

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Entwürfe und Gefüge gegeben sein. In dieser Anordnung scheint es unmöglich, die Epoché zu vollziehen und dabei zugleich den Blick auf sich selbst beizubehalten. Weil beschreibt eine Intensivierung der Eigen-Innenwahrnehmung als Teil des kinästhetischen Empfindens, die mit einer Schwächung der Intentionalität einhergeht. In Forsythes Decreation jedoch geht es nicht nur wie bislang darum, einzelne Körperteile so zu mobilisieren, dass der Körper an den Rand des Gleichgewichts gebracht wird und sich der Gravität überlassen muss, vielmehr handelt es sich um einen Vorgang des Fremd-Werdens (im Eigenen) und darum, wie man zum Gegenstand einer anderen, fremden Kraft wird, wobei diese real oder imaginiert sein kann.22 Die Techniken, mit denen die Forsythe-Tänzer arbeiten, können damit als ein »heteronomes Modell von Poiesis« beschrieben werden.23 Es bleibt zu untersuchen, wie der Prozess des Sicht-selbst-Entschaffens in den Tänzerinnen vor sich geht, schließlich geht es Forsythe nicht um ein »deskilling«,24 sondern darum, ihre Virtuosität anders, nicht im Sinne einer auf ein abgeschlossenes Werk hin, einzusetzen.25 Etwa siebenhundert Jahre vor Simone Weil beschreibt Marguerite Porète in ihrem theologischen Traktat Le miroir des âmes simples, wie die Seele auf der Suche nach Gott sieben Stadien der Liebe durchläuft – beginnend mit brennendem Verlangen bis hin zur Ekstase. Jedoch auch hier verläuft die Entfernung aus ihrem eigenen Ich nicht passiv, sondern in freiem Willen, der seinerseits gespalten ist. Im Verlauf des »Spiegel«-Traktats erfährt sie sich selbst als wertlos, unzureichend und ausgeschlossen, als jemanden, der Wesentliches entbehrt – diese Nichtigkeit und Leere aber steht in enger Beziehung zu ihrem Gegenteil, der Erfüllung. Zwei Mal im Verlauf des Traktats bringt Porète die Eifersucht ins Spiel: in einer ungewöhnlich erotischen Konstellation wird ein/e fiktive/r Dritte/r in ihrem/seinem Verhältnis zu Gott eingeführt: »Wie würdest Du Dich verhalten, wenn Du wüsstest, dass ich es möglicherweise vorzöge, du liebtest jemand anderen mehr als mich? Dass ich es möglicherweise

22 |  Vgl. Simone Weil: Gravity and Grace [1947], London/New York (NY): Routledge, 2002. 23 |  Brandstetter: 2010, S. 193. 24 |  Ich entlehne jenen Begriff von John Roberts, mehr dazu im letzten Teil dieses Kapitels; vgl. John Roberts: The Intangibilities of Form. Skilling and Deskilling in Art after the Readymade, London: Verso, 2007. 25 |  Seit einigen Jahren arbeitet die Company mit einem Trainer, der sie in asiatischen Körpertechniken unterrichtet. Was Forsythe daran am meisten beeindruckt, wie er in einem Publikumsgespräch betonte, ist der Gedanke des »Nothing against«, d.h. keine Bewegung gegen eine andere Kraft oder mit zu hoher eigener Kraftanstrengung auszuführen.

Decreation vorzöge, jemand anderen mehr zu lieben als dich? Dass ich es möglicherweise vorzöge, jemand anders liebte dich mehr als ich?«26

Diese Dreieckssituation wird im Stück in verschiedenen Konstellationen immer wieder aufgenommen und in allen Formen ihrer Kombinatorik ausgeschöpft, so etwa, wenn Jone San Martin dicht gedrängt zwischen zwei Tänzern steht und eine Serie von Bewegungen in immer neuen Kombinationen durchgespielt wird, wobei sie als Transformations- und Mittlerfigur schließlich nur noch durch Flucht entkommen kann. Auch wenn Carson diese Dreier-Konstellation mit der Metapher des Tanzes beschreibt: »Jealousy is a dance in which everyone moves. It is a dance with a dialectical nature. For the jealous lover must balance two contradictory realities within her heart«,27 werden jene Relationen doch nicht einfach in ein narratives Bühnenstück übersetzt. So ist zu fragen, wie jene Konzepte und widersprüchlichen Bewegungen in Choreographie übertragen werden können. Wie werden diese Prinzipien des Bestimmt-Werdens (durch jene Leidenschaften), des Entwerdens, der De-Subjektivierung für ein Entwerfen produktiv gewendet und in Techniken manifest, ohne dass dabei eine reflexiv-analytische Perspektive aufgegeben würde?

1.3 Rezeptive Transformation des Materials: Zustände generieren durch den Körper hindurch »Schließlich wurde mir klar, dass ich, um mich in diese gedrehten, für meinen Körper eigentlich schädlichen Zustände versetzen zu können, verstehen musste, was mein Körper denkt. Ich musste erst begreifen, dass er bereits damit beschäftigt war, über den ganzen Raum zu denken: Über die Form und Ausrichtung des Stückkörpers und über die Informationen, die ich von den Körpern und Stimmen der anderen Tänzer erhielt. So stellte ich zum Beispiel fest, dass ich das Abprallen und Querschlagen von Augen, Kiefer, Brustkorb und Hüften tatsächlich dann bewerkstelligen konnte, wenn ich es mir nicht als Aktivität vorstellte, sondern als Zustand, der durch meinen Körper hindurch wandert und mich mit dem ganzen Raum verbindet.«28

26 |  Marguerite Porète, zitiert in Dana Caspersen: »Der Körper denkt: Form, Sehen, Disziplin und Tanzen«, in: Gerald Siegmund (Hg.): William Forsythe. Denken in Bewegung, Berlin: Henschel, 2004, S. 107-116, hier S. 113. 27 |  Anne Carson: Decreation. Poetry, Essays, Opera, New York (NY): Vintage Books, 2006, S. 165. 28 |  Caspersen: 2004, S. 114 [Hervorhebung KM].

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Entwürfe und Gefüge So beschreibt Dana Caspersen die Probenprozesse zu Decreation. Trotz der Deformation ihrer Wirbelsäule und den daraus resultierenden starken Schmerzen konnte sie im Training Techniken entwickeln, die es ihr über verschiedene Modi des Denkens von Bewegung ermöglichten, für sie sonst eigentlich unmögliche Bewegungen durchzuführen. Besonders fällt dabei die Fähigkeit ins Gewicht, sich Bewegung als einen Zustand vorzustellen. Wird der Körper getanzt? Handelt es sich dabei um eine Art Passivität? Viele der Bewegungen wirken tatsächlich als ob Kräfte durch den Körper hindurch strömten und die Körperkonturen in die eine oder andere Richtung ausdehnten, als ob der Körper besessen von einander widersprechenden Kräften sich selbst fremd würde. In der ersten Szene ist lediglich Dana Caspersens Oberkörper zu sehen, der Rest des Körpers ist durch einen Videoscreen verdeckt, der Aufnahmen einer Live-Kamera zeigt, die immer wieder während des Stückes eingeblendet werden und die an der Fragmentierung des Körpers, an der Auflösung seiner Kontur beteiligt sind, indem sie je andere Perspektiven auf den Körper z.B. aus extremer Nahsicht zeigen, womit auch der taktile, nicht nur der visuelle Sinn angesprochen wird.29 Caspersen redet über Liebe und Eifersucht, man versteht Worte wie liar oder traitor, dabei vertritt sie beide Seiten einer melodramatischen Auseinandersetzung; hin- und hergerissen zwischen den streitenden Parteien zieht sie ihre Körperkontur an einzelnen Punkten ihres T-Shirts mit jedem neuen Argument in eine andere Form. Ihre Rede und die bis dahin noch relativ ungebrochene Stimme stehen im Widerspruch zu ihrem Körper, der fragmentiert und in grotesken Re-Konfigurationen auf dem Videoscreen erscheint. Doch nach und nach wandern diese Verzerrungen und Deformationen der Körperkontur auch in den Bereich des Gesichts – dazu verschiebt sie den Kiefer und die Gesichtsmuskeln in unterschiedliche Richtungen – und in die Stimme: Aus den Sätzen werden einzelne Worte und schließlich vernimmt man nur noch Laute. Kurz darauf übernimmt die Stimme von Georg Reischl, der schräg vor ihr im vorderen Teil der Bühne agiert, einzelne Passagen. Er versucht einen Satz zu artikulieren, der Versuch scheitert jedoch permanent. Schließlich wird deutlich, dass es sich um die deutsche Übersetzung der Worte Caspersens handelt. Abwechselnd sind die Mundhöhle und dann wieder Ausschnitte des nicht passenden Restkörpers auf einer pultartigen Videoprojektionsfläche zu sehen. Die Verfahren der Fragmentierung und der Versuch, das Innere nach außen zu stülpen, wirken ineinander, verbinden sich zu einem grotesken Metakörper; Stimme, Mimik und Körper wirken als ob sie Durchgangsorte fremder Artikulationen, als ob je ein anderer durch sie spräche. Zugleich erinnern die Körperhaltungen Reischls an 29 |  Zum Umgang mit Körper-Fragmentierung und Neu-Zusammensetzung sei auch auf die in den letzten Jahren entwickelten photographischen Serien auf den Spielplänen der Forsythe Company verwiesen, die für eine Analyse auf diesem Feld ebenfalls Material böten.

Decreation Darstellungen christlicher Ikonographie, an einen dem Leiden ausgelieferten Körper, der sich mit jedem Argument des Streits seinen Peinigern neu ausliefert und darbietet. Schließlich mischt sich Christopher Roman ein, er führt die Unterhaltung mit Dana Caspersen wieder in ein lakonisches Narrativ, das auf gewöhnliche Eifersuchts-Szenen einer Liebesbeziehung schließen lässt. Die Forsythe-Tänzer und -Tänzerinnen arbeiten hier, wie auch schon bisher gesehen (Improvisation Technologies, vgl. Kap. 1.), mit Techniken, in denen es nicht nur um den gezielten Verlust der körperlichen Orientierung geht, sondern darüber hinaus um die nicht-intentionale und nicht vom Subjekt gesteuerte Bewegungsfindung. Wurden in den Improvisation Technologies noch Bewegungen generiert, die im Verhältnis von Kinesphäre und Dynamosphäre konzipiert und analysierbar waren, werden hier Techniken zur Anwendung gebracht, welche nicht nur die Aufmerksamkeit und das reaktive Vermögen, bestimmte Techniken der räumlichen Imagination auf besondere Weise herausfordern: Auch in den Improvisation Technologies geht es darum, sich bestimmte Konfigurationen räumlich vorzustellen, vor allem einzelne Körperteile in Beziehung zu setzen,30 die Spannungen zwischen einzelnen Körperteilen produktiv zu machen. Sichtbar wird das besonders an stark verdrehten, verlängerten oder verkürzt erscheinenden Körperlinien oder den Verschiebungen von Gelenken. Diese generativen Prinzipien werden mit Decreation auch in Bereiche des Muskulären, des Gesichts und der Stimme erweitert.31 Insbesondere geht es mit Decreation darum, körperliche Zustände zu erforschen. Jedoch ist diese Trainiertheit nicht mehr, wie noch in den früheren Stücken, an eine bestimmte Bewegungstechnik – das Ballett – gebunden. Forsythe bewegt sich mit diesem Stück weiter jenseits bestimmter vorgegebener Bewegungstechniken, er setzt die Forschungen zu je eigenen Möglichkeiten der Generierung von Bewegung jenseits einer Dichotomisierung von Reflexivität und körperlicher Authentizität fort. 30 |  Der Körper kann sich kontrapunktisch zu seinen eigenen Teilen, zu anderen Körpern oder zur Musik bewegen, Fähigkeiten und Techniken, wie proprioception, entrainment: synchronize, experiencing someone else sind eng damit verbunden. 31 |  Man könnte hier einen Vergleich zur Praxis des Body Mind Centering anstellen: Entwickelt von Bonnie Bainbridge-Cohen, liefert BMC © einen integralen Ansatz, das Verhältnis von Bewegung, Körper und Bewusstsein zu erforschen. Über die Idee der Verkörperung und die Anwendung von anatomischen, physiologischen, psychophysiologischen und Entwicklungsprinzipien werden Bewegung, Berührung, Stimme und Bewusstsein in Bezug zueinander gesetzt. Die Besonderheit liegt in der Integration der einzelnen Körpersysteme Bewegung zu generieren – über die Knochen, Bänder und Faszien, die Muskulatur, Organe, die Körperflüssigkeiten, über Atmung, Stimme und Nervensystem sowie deren komplexes Ineinandergreifen.

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Entwürfe und Gefüge Dazu wurden in der Probenarbeit verschiedene neue Techniken genutzt, bei denen es Forsythe um »behaviour without intention« und »undirected actions« ging.32 Eine dieser Techniken bezeichnen die Tänzer »als Zustand, in dem der Körper sich weder stimmlich noch körperlich jemals direkt artikuliert.«33 Diese Indirektheit ermöglicht das Querschlagen von Bewegungen, »in denen wir die Augen in die eine, den Kiefer in die andere, den Brustkorb in die eine, die Hüften in die andere Richtung usw. schicken.«34 Dies (wie auch der Begriff der Technik an sich) klingt vorerst nach einer durchaus intentional gesteuerten Bewegungsart – jedoch reichen die Verzerrungen auch in den Bereich des Gesichts oder der Stimme, und somit wird der Körper zu einer Bühne »for plural bodies in one body«.35 Diese mehrfache Dezentrierung des Körpers, die Abweichung von allen denkbaren Achsen ist nicht einfach durch eine willentliche Entscheidung herbeizuführen, sondern ihre Ausführung besteht vor allem in der Fähigkeit, sich ›durchlässig‹ zu machen, d.h. für verschiedene von außen kommende Impulse aufmerksam und empfänglich zu sein sowie um widersprüchliche Informationen zu verarbeiten. Bewegungen werden hier nicht intentional auf eine bestimmte Form gerichtet entwickelt, sondern in einer Fokussierung auf das Innen und abwechselnd reflexiv auf sich selbst und vor allem auf die Impulse anderer Tänzer hin ausgerichtet. Eine weitere Möglichkeit Bewegungsmaterial zu generieren, wurde in den Proben erkundet, indem man mit Seilen zur Fesselung experimentierte.36 Die Tänzer fesselten sich gegenseitig aneinander, um aus der starken Einschränkung und Behinderung von Bewegungsfreiheit neue Bewegungsmodi zu erfahren. Durch das Seil wurden Bewegungsimpulse übertragen, jede Bewegung des Mit-Gefesselten löste eine unwillkürliche eigene Bewegung aus. Dieses gegenseitige Bewegt-Werden schränkt aktive Bewegungen stark ein: Selbst die eigene Manipulationsfähigkeit wird durch das Bewegt-Werden behindert, sodass die unwillkürliche Bewegung im Vordergrund steht, die anschließend ohne die Fesselung – in der Erinnerung an den Zustand – wiederholt wird. Die Anwendung dieser Techniken erfordert einen spezifisch trainierten Körper, der die Umsetzung ermöglicht, ebenso sehr ist die Ausführung aber an imaginative Techniken gebunden, an die gesteigerte Eigen-Innenwahrnehmung des Körpers, sodass es letztlich unmöglich ist, eine Trennung zwischen geistigen und körperlichen Fähigkeiten vorzunehmen, die ›Virtuosität‹ stellt sich nur im perfekten Zusammenspiel beider her. So beschreiben die Tänzer mit dem Stichwort disfocus – eine »Art des Sehens, die das Gesichtsfeld nicht ver

32 | Vgl. Boehnisch: 2004, S. 60. 33 | Ebd. 34 | Ebd. 35 | Siegmund: 2006, S. 18. 36 | Caspersen: 2004, S. 113.

Decreation kleinert, sondern nach hinten gerichtet erweitert«.37 Wesentlich ist darüber hinaus ein verstärktes Gespür für das kinetische Potential des Raumes, was Dana Caspersen folgendermaßen beschreibt: »Die Kinesphäre ist der Raum, den die Bewegungen des Körpers einnehmen. Innerhalb dieser Sphäre Informationen zu speichern bedeutet, sich den Körper dort vorzustellen, wo er nicht gesehen werden kann. [...] Diese Fähigkeit des Körpers, ein inneres Bild von sich zu schaffen, ermöglicht ihm auch, sich selbst an einer Stelle zu projizieren, an der er sich gar nicht befindet. Wenn wir unsere Augen von dem üblichen funktionalen Verhältnis zum Körper ablösen, wie in der Methode des disfocus, erleben wir eine Phantom-Eigen-Innenwahrnehmung, das Gefühl eines Körpers, der außer sich ist und der sich im Verhältnis zu unseren losgelösten Augen bewegt.«38

Die Ablösung der Augen von dem »üblichen funktionalen Verhältnis zum Körper«, die wir in der Intentionalität ausagieren, wird zugunsten eines »spürenden Blicks nach innen« ersetzt und wirft uns auf unsere Nahsinne zurück, die gewöhnlich durch die Betonung des visuellen Sinns vernachlässigt und nicht so ausgeprägt sind. Zugleich wird mit dieser Fokussierung auf die anderen Sinne, insbesondere auf das Taktile, das Verhältnis von innen und außen zu einem generativen Imaginationsfeld, wie etwa, wenn Dana Caspersen weiter beschreibt: »Es ist ein umgestülpter Körper, der rückwärts vom Blick wegfließt.«39 Diese Umkehrung trägt dazu bei, Körperbewegung weder von einem bestimmten Formbegriff her zu denken, noch sie als Ausdruck eines Inneren zu missdeuten, sondern die Kinesphäre vielmehr als Medium imaginärer Prozesse zu nutzen. Was aber heißt es dann tatsächlich, »ein inneres Bild von sich zu schaffen?« Caspersen beschreibt es als Umkehrung des épaulements40 – als eine methodisch gesetzte Distanznahme zum eigenen Körperwissen, wie einen zweiten projizierten Körper, mit dem der eigene Körper sich im Dialog befindet. Das épaulement als Figur des klassischen Balletts, die ein genau bestimmtes, jedoch variables Verhältnis von Fußposition, Armhaltung, Blickrichtung und Ausrichtung des Torsos beschreibt, kann als préparation oder als Schließungsfigur in die Choreographie integriert werden. Die Kombinationen bestimmen die Ausrichtung auf den Zuschauer und initiieren ein komplexes Spiel von Zeigen und 37 |  Ebd., S. 109. 38 |  Ebd., S. 110f. [Hervorhebung KM]. 39 |  Ebd., S. 110; Caspersen bezieht sich im Text zwar auf eine andere Choreographie, The Loss of Small Detail (1987/91), die Herangehensweise ist jedoch hierbei durchaus übertragbar. 40 |  Ebd., S. 109.

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Entwürfe und Gefüge Verbergen. So kann die Tänzerin Bewegungen en face, croisé, éffacé, écarté oder de côté vollziehen. Damit wird ein komplexes Gefüge möglicher Konstellationen beschrieben, das jedoch nicht nur in Bezug auf den Zuschauer entworfen wird, sondern auch – denkt man die Linien weiter in den Raum hinein verlängert – das Verhältnis der eigenen Bewegung zum Raum sowie zu den anderen Tänzern bestimmt. Bei der Forsythe Company wird diese Figur nun ins Extrem getrieben und anders gewendet: So soll das épaulement helfen »to create alternative states of complex relational torsion«,41 die Tänzer verstehen dies »as an ecstatic practice«.42 Ekstase wird hier jedoch nicht im Sinne einer vollkommenen Entäußerung, wie sie in ritualistischen Praktiken stattfindet, begriffen, sondern wird immer nur im Wechsel zur Kontrolle ›benutzt‹, um einen kurzen Moment der Irritation herbeizuführen. Der Blick wird nun, statt wie beim klassischen épaulement nach außen, nach innen gerichtet, woraus sich, wird dies in Zusammenhang mit der gesamten Bewegungsfigur gebracht, die beschriebene Indirektheit von Bewegungen in Decreation ergibt. Stellt man sich zudem den eigenen Körper im Gegenspiel mit einem anderen vor, so liegt die Herausforderung darin, diese imaginative Leistung virtuell so weit zu treiben, dass sie schließlich ihre Aktualisierung in körperlichen Reaktionen findet, und beide Kräfte sich im Gegeneinander weiter und weiter entwickeln können, die eigentliche Körperbewegung dabei jedoch nie direkt initiiert wird. Der Körper ist somit nicht nur bestimmten physikalischen Kräften ausgesetzt, er ist selbst auch Ausgangsort spezifischer Kräfte, die immer aktiv und reaktiv sind, er entsteht als Diagramm dieser Kräfte.43 Um diesen zweiten Körper zu projizieren, ist es zentral, die eigene Subjektivität zurückzustellen: Stichworte wie abgeben, aufgeben, entäußern, verschieben oder doing less sind in diesem Zusammenhang jedoch keinesfalls mit Passivität gleichzusetzen, vielmehr stellen sie direkt die Frage nach dem Verhältnis von aktiver und passiver Kraft im Prozess der Bewegungsgenerierung, und danach wie diese sich erst im Gegeneinander ausbilden. So betont Caspersen die erhöhte Eigeninnenwahrnehmung, es geht also eher um eine Wahrnehmung im Bereich minimaler Veränderungen, und darum eine Aufmerksamkeit für dasjenige zu entwickeln, was jenseits der gewohnten 41 |  Elizabeth Waterhouse: »Dancing Admidst The Forsythe Company. Space Enactment and Living Repertory«, in: Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias. Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin: Alexander Verlag, 2010, S.  153-181, hier S. 160. 42 |  Ebd., S. 165. 43 |  Vgl. Mirjam Schaub/Stefanie Wenner (Hg.): Körper-Kräfte. Diskurse der Macht über den Körper, Bielefeld: transcript, 2004.

Decreation Wahrnehmungsstrukturen liegt. Auch wenn es nicht um zielgerichtete Aktivität bzw. die Form und Intention der Bewegung geht, es wäre unangemessen, dieses Sich-den-Kräften-Überlassen und Zustände zu erspüren als passiv im üblichen Sinne zu bezeichnen. Eine Technik, die den Körper verschiedenen Zuständen überlässt, und mit diesen dennoch auf einer reflexiven Weise eine Choreographie verschiedener Elemente schafft, die auf differenzierten Bewegungseinheiten der einzelnen Tänzer beruht, muss bestimmte Vorstellungen antizipieren können – der Tänzer oder die Tänzerin muss sich aber auch selbst überraschen können. Dazu ist die analytische Sequenzierung von Bewegungen, einerseits in bestimmte Körperabschnitte, aber auch die Sequenzierung von Bewegungsabschnitten wesentlich. Im Wechsel von Zufall und Kontrolle ist zu fragen, ob diese Art der Antizipation das Kreative nicht teilweise infrage stellt, insofern sie im Rahmen des Vorhersehbaren operiert. Wie wäre das Unvorhersehbare in das Geschehen zu integrieren? Welche Rolle spielen dabei die Aspekte der Imagination bezogen auf eine räumliche Relationalität, wie sie in der Idee von der Kinesphäre als Medium angedeutet wird? Wie ist es möglich, diesen Bereich der Körperkräfte zu nutzen und dabei doch zugleich die reflexivanalytische Perspektive auf den eigenen Bewegungsstil beizubehalten? José Gil beschreibt in seinem Aufsatz »Paradoxical Body«44 vergleichbare Techniken des Fremdwerdens des eigenen Körpers auf ähnliche, jedoch noch stärker an räumlichen Parametern orientierte Weise: »The space of the body is the skin extending itself into space, it is skin becoming space – thus the extreme proximity between things and the body.« Es entstehe somit Gil zufolge »an intensified space«.45 Aus dieser Perspektive entwickelt er im Rückgriff auf Labans Konzept der Kinesphäre als vorgestelltem Umraum und Erfahrungsraum des Tänzers, die Vorstellung und Positionierung eines Körperdoubles als eines Gegenkörpers (der wiederum aus einer Abtrennung oder Umkehrung resultiert). Dieser Entwurf eines Gegenkörpers ist jedoch keinesfalls zu verwechseln mit dem mimetischen Nachahmen, das im klassischen Balletttraining vor dem Spiegel geübt wird, um eine bestimmte Pose in ihrer Perfektion zu erlernen (auch wenn hier die Entsprechung einer bestimmten Position mit dem kinästhetischen Empfinden derselben abgeglichen wird und so eine ›interior map‹ erstellt wird). Vielmehr geht es darum sich an einen anderen (imaginierten oder realen) Partner anzupassen, indem man Gesten und Rhythmen anpasst, dieselben Impulse aufnimmt. Diese besondere Aufmerksamkeit für die Bewegungsimpulse weiter entfernter Tänzer erfordert eine Sensibilisierung über die Kinesphäre hinaus, um die Korrespondenzen zwischen zwei Körpern je wieder auf die eigene Bewegung zurückzufalten. In der bereits kurz beschriebenen Online-Ressource Synchronous Objects, welche die Forsythe Company ausgehend

44 | José Gil: »Paradoxical Body« in: TDR 50/4, Winter 2006, S. 21-35. 45 | Ebd., S. 22.

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Entwürfe und Gefüge von einer älteren Arbeit One Flat Thing, reproduced entwickelt hat, werden genau jene Prozesse der Synchronisierung über verschiedene cues und alignments aufgezeichnet.46 Hierzu wurden Beobachtungen von Bewegungen von außen, aber auch die internen Verabredungen zwischen den Tänzern, die auf einem inkorporierten Wissen beruhen, verzeichnet. Räumliche Daten wurden durch attributive und qualitative Beschreibungen der Tänzer ergänzt. Dieses dichte Geflecht von Relationen wurde schließlich durch handgezeichnete Linien, die sich aus den Informationen der Tänzer ergaben, visualisiert, und durch die Assoziationen anderer Künste und Wissenschaften kommentiert bzw. zusätzlich visualisiert. So stellt die multimediale Partitur Zusammenhänge her zwischen kinästhetischem Empfinden, dem Bewusstsein über die Relationierung der Körperteile zueinander und die Verarbeitung der eigenen Bewegungen mit den Interaktionen der anderen, die über die formale Beziehung zwischen Bewegungsmaterial und Phrasierung weit hinaus gehen. Dabei wird in diesen Darstellungen wiederum deutlich, dass die körperlichen Relationen nicht nur über die phänomenologische Beschreibung allein zugänglich wird, sondern als »Meta-Phänomen«47 betrachtet werden muss: »simultaneaously visible and virtual, a cluster of forces, a transformer of space and time, both emitter of signs and trans-semiotic – being in space and becoming space.«48 Somit wird nicht nur der Körper, sondern auch der Raum und das Verhältnis zwischen Körper, Raum und Bewegung semiotisch und aisthetisch aufgeladen. »Secondly one creates an interior ›paradoxical‹ space, which both is and is not in space. Being empty, and being of the order of the non-incorporated corporeal, interior space is composed of ›interstitial matter‹ that is of the matter proper of becoming par excellence. This matter will allow: (a) the whole body to become surface (skin), given that the interior no longer separates in terms of thickness (viscera) the different oppositional planes of the body (back and front, anterior and posterior); (b) the exterior to attract upon itself the entirety of the interior’s movement, most particularly the motion of affects. Interstitial matter has no 46 |  Siehe hierzu http://synchronousobjects.osu.edu; vgl. außerdem Kirsten Maar: »Notation und Archiv. Zu Forsythes ›Synchronous Objects‹ und Emio Grecos ›Capturing Intention‹«, in: Gabriele Brandstetter/Franck Hofmann/dies. (Hg.): Notationen und choreographisches Denken, Freiburg im Breisgau: Rombach, 2010, S. 183-206. 47 |  Gil: 2006, S. 28. 48 |  Ebd. Der Vergleich mit Tänzen von Besessenen und der Vorstellung, dass jemand Anderes in ihnen tanze, mag dabei eine hilfreiche Vorstellung sein, jedoch entfaltet der Körperraum sich in den tanzenden Körper-Agenten und den Körper-Raum, in dem er tanzt.

Decreation thickness: it has become pure matter transformable into surface energy. It is matter for becoming, it is the matter of becoming.«49

Mit dieser Positionierung eines inneren Raums als im Werden begriffen berührt Gil zentrale Fragen danach, wie Bewegung überhaupt entsteht, ob und wie sie (vorsprachlich) konzeptualisiert wird, ob und wie Bewegung erfahren, gefühlt wird, bevor sie sich artikuliert. Er rührt damit an das Verhältnis von Potentialität und Aktualisierung. Paradoxerweise braucht dieser narzisstische Körper aber kein ›Ich‹, um zu werden, sondern bezieht alle Impulse aus den Relationen zum virtuellen Gegenkörper oder seinen multiplen Fortsetzungen.50 Die Techniken des »Entwerdens« haben dabei durchaus ihre Vorläufer an der Grenze zu postmodernen Choreographien:51 Sabine Huschka beschreibt am Beispiel Merce Cunninghams, wie »die unprätentiöse Leere der Bewegungsartikulationen den Blick [der Zuschauer] verwirrte«.52 Die extreme Leichtigkeit der Bewegungen wurde nicht durch Unmittelbarkeit oder Körperausdruck generiert, sondern Cunningham entwickelte scores und Regelsets, nach denen er seine Choreographien auf der Basis von Zufallsoperationen entwarf.53 Die Aktivierung und Mobilisierung des Sich-Bewegens der Tänzer, so Huschka, ging aus der gezielten und methodisch erzeugten Spaltung von Ich und anderem, Körper und Bewegung, Raum und Zeit, Energie und Natur hervor. Die Tänzer bewegen sich aus einem Fremd-Werden ihres eigenen Körpers auf dem Weg, die generierten abstrakten Bewegungsentwürfe zu inkorporieren. Die Aufmerksamkeit der Tänzer richtet sich auf Potentialitäten eines performativ sich hervorbringenden Körpers, in der Cunningham die »Möglichkeit und Freiheit eines Sich-wandelnd-durch-andere-Körper-zu-bewegen erkennt«.54 Nicht etwas wird durch den bewegten Körper und bewegenden Körper artikuliert (weder als Ausdruck des Inneren noch als Ausdruck einer bestimmten energetischen Struktur), sondern die Verbindung zum Anderen, das Anderswo des Körpers

49 |  Ebd., S. 32. 50 |  Ebd. 51 |  Vergleiche zu postmodernen Tanztechniken, wie etwa der ContactImprovisation oder der Release-Technik, wären ebenfalls zu benennen, können jedoch hier nicht weiter ausgearbeitet werden. 52 |  Sabine Huschka: »Diamanten. Merce Cunningham zum 90. Geburtstag«, 2009, unter www.corpusweb.net/index2php?option=com_content&task (letzer Zugriff: 10.07. 2010). 53 |  Huschka verwendet den Begriff des Entwurfs sowohl im Kontext mit Cunningham als auch mit Forsythe. 54 |  Ebd.

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Entwürfe und Gefüge ist diese Verbundenheit.55 Das Sich-anders-Machen, die stetige Transformation ist das Bewegende der Bewegung. Dabei geht es jedoch nicht darum, den energetischen Grund von Bewegung zu mobilisieren und dessen Ausdruck zu sein, stattdessen funktioniert die Übertragung zwischen verschiedenen Bewegungsmodi über eine »Hinaus- und Hineinverlagerung von Konstrukten und Bildern«.56 Die Technik besteht nicht in der Vervollkommnung des Instruments Körper, sondern darin, Körper und Bewegung im gegenseitigen Bezug zu medialisieren, und rührt damit wiederum an die Frage, wie Bewegung aus sich selbst heraus Bewegung schöpfen kann. Das Sich-fremd-Werden ist daher weder Ausdruck noch theatrale Repräsentation, sondern bleibt als Leerstelle wirksam. Worin sich Forsythe von Cunningham unterscheidet, ist jedoch die ansatzweise melancholisch gestimmte Haltung, die das Tanzen in ein mnemotechnisches Verarbeiten früherer Bewegungen und Bewegungsstile und Bewegungen anderer verwandelt, sowie eine, wie ich sie nennen möchte, auf eine topologische Verfasstheit des Bewegungsstils hin ausgerichtete Entwurfsweise, die andere Verbindungen des Gefüges ermöglicht, als es die zufallsgenerierten Operationen Cunninghams vermögen. Der Körper fungiert hierbei als utopischer Akteur, der jenes in ihm eingeschlossene ›Anderswo‹ zu definieren sucht; dies wird nur in einem Zustand erfahrbar, in dem er sich leer und durchlässig für anderes macht: »In Wirklichkeit ist mein Körper stets anderswo, er ist mit sämtlichen ›Anderswos‹ der Welt verbunden, er ist anderswo als in der Welt. Denn um ihn herum sind die Dinge angeordnet. Nur im Verhältnis zu ihm – und zwar im Verhältnis zu einem Herrscher – gibt es ein Oben und Unten, ein Rechts und Links, ein Vorn und Hinten, ein Nah und Fern.«57

55 |  Huschka bezieht sich hier auf einen anderen Text von José Gil, der sich explizit mit Cunningham auseinandersetzt: José Gil: »The Dancer’s Body«, in: Brian Massumi (Hg.): A Shock to Thought: Expressions after Deleuze and Guattari, London/New York (NY): Routledge, 2001, S. 117-127. 56 |  Huschka: 2009. 57 |  Michel Foucault: »Der utopische Körper« [1966], in: ders.: Die Heterotopien. Der utopische Körper, Zwei Radiovorträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 25-36, hier S. 34, zitiert in Huschka: 2009. Wobei das »herrschende Verhältnis« im Tanz bei Cunningham und Forsythe allerdings mit Vorsicht zu betrachten wäre.

Decreation

1.4 Topologische Gefüge im Tanz Die hier beschriebenen Inversionen lassen sich schwerlich allein über ein Verständnis von Choreographie als Topographie fassen – auf ihr Entstehen aus der Anordnung der bewegten Körper, deren Wirkung an Techniken und Notationen von Bewegungen gebunden ist, an Regeln, welche die Bewegungen im Raum organisieren. Die beschriebenen räumlichen Konfigurationen sind eher als dynamische Gefüge zu beschreiben, als topologische Figuren, die das Verhältnis von innen und außen zu einer generativen Struktur verwandeln. Die Geometrien der Lage bilden den Ausgangspunkt für Deleuzes Konzeption der Falte wie auch für Merleau-Pontys Idee des Chiasmus. Sie organisieren Bewegungsabläufe, Blickrichtungen, Raumtrennungen und -verbindungen, ziehen Grenzen und überschreiten diese. Innen und Außen bilden zwar keine exakten, aber dennoch unverzichtbare Orientierungsmaßstäbe. Diese nicht-metrischen Relationen werden in ein spezifisches Verhältnis gesetzt und werden im Tanz dort wirksam, wo das In-Beziehung-Setzen über die Generierung von paradoxen Raum-Figuren ein wesentliches Verfahren darstellt. Wo das Moment des Taktilen bevorzugt wird, wo der Raum nicht überblickt wird, sondern man sich in ihm vorantastet, wird die Rezeptivität des Körpers und insbesondere der Haut hervorgehoben, sie/er nimmt die ›zuhandenen‹ Dinge auf und wird produktiv.58 (Wobei auch die Dinge in diesen Zusammenhängen wirken und nicht einfach passiv zu verstehen sind.) Die von Gil beschriebene Öffnung des Körpers auf sein Außen hin liegt insbesondere in der Haut als Grenze und Filter zwischen den Körpern, als Organ der Berührung, die aber nicht nur die Grenze des Körpers markiert, sondern: »Die Haut ist eine kontingente Mannigfaltigkeit; in ihr, durch sie und mit ihr berühren die Welt und mein Körper einander, das Empfindende und das Empfundene; sie definiert ihre gemeinsame Grenze: Kontingenz meint nichts anders als gemeinsame Berührung: Welt und Körper schneiden, streicheln einander darin [...], die Haut tritt zwischen mehrere Dinge der Welt und sorgt dafür, dass sie sich vermischen. [...] alle Mannigfaltigkeiten sind verknüpft durch hauchdünne oder dicke, weiche oder harte Verbindungen, durch Knoten, die der Analytiker mit Leichtigkeit oder mit Mühe löst. Das Gemisch kennzeichnet diese Situation besser als die Mitte.«59 58 |  In der Zeichnung oder im Diagramm schließlich fallen beide Momente zusammen, sie bilden die operative Gesamtheit der Linien und Zonen, entwerfen ungeahnte Möglichkeiten eines Verhältnisraumes. Ich komme darauf in Kap.  4 zurück. 59 |  Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Theorie der Gemische und Gemenge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 41.

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Entwürfe und Gefüge Mit Michel Serres’ Zitat wird eine Konzeption der Haut als Medium aufgerufen, die seit der Antike Prozesse beschreibt, welche die Dichotomie zwischen subjektivem Vermögen und Objekt ignorieren, vor allem jedoch unterstreicht, dass der Zwischenraum nicht nichts, keine Leere sei, sondern ebenfalls mit kleinsten Partikeln (in Lukrez’ De rerum natura, worauf Serres sich bezieht, sind es soger Häutchen – was wiederum an Gils oben angeführte Bemerkung anschließen lässt) angefüllt, welche die Vermittlerrolle übernehmen. Die Haut als Mittler zwischen dem Außen und dem Körper wird zum Medium der Relation, sie transformiert das Verhältnis der Interaktion.60 Die Kinesphäre kann somit in der improvisatorischen Interaktion mit anderen Tänzern bei Forsythe auch als eine Art Membran verstanden werden, in der das Verhältnis von innen und außen reguliert wird. Der Austausch von Information in diesem Zwischenraum ist jedoch nicht nur räumlich bedingt, sondern auch zeitlich – in der Relation von Gedächtnis und Antizipation von Bewegung. Durch die beschriebenen Trainingsformen wird die ›Durchlässigkeit‹ des Körpers, d.h. seine Fähigkeit, Reize von außen auf besondere Weise zu verarbeiten, als eine erweiterte sinnliche Erfahrungsebene sensibilisiert. Die Qualität der eigenen leiblichen Erfahrung überschneidet sich mit der Erfahrung des Außen und des Anderen im Zusammenspiel mit den anderen Tänzern – eine Interaktion, die wesentlich durch den körperlichen Kontakt, durch Körper- und Bewegungswissen informiert ist. Durch ein solches Konzept, in dem das Verhältnis von innen und außen generiert wird, kann die Destabilisierung habitueller Relationen, das Spiel mit dem Verlust der Positionalität erprobt werden. Auf diese Weise kann der Tanz die Möglichkeiten erweitern, Raumverhältnisse anders zu erfahren, und so werden die bekannte Aufteilung des euklidischen Raumes, der Grund, auf dem getanzt wird, und dessen Implikationen wie Horizontalität, Vertikalität, Linearität und Kausalität relativiert und durch leibliche Erfahrungen ergänzt und transformiert. Die beschriebenen Techniken erfordern Fähigkeiten, die einem inneren Navigationssystem ähneln, das zeitlich operiert und wesentlich schneller ist als die Orientierung über das Sehen.61 Der zwischen den Tänzern entstehende Raum betont die Nahsinne, vor allem Hautkontakt und Gleichgewichtssinn sowie das Gefühl für Gewicht. Aufgrund der Tatsache, dass wir mit diesen Sinnen im All 60 |  Jeroen Peeters hat dieses Verhältnis an den choreographischen Arbeiten von Boris Charmatz, Meg Stuart und Benoît Lachambre untersucht, in: Lichamen als filters. Over Boris Charmatz, Benoît Lachambre en Meg Stuart/Bodies as Filters. On Boris Charmatz, Benoît Lachambre and Meg Stuart, Maasmechelen: Cultureel Centrum, 2004. 61 |  Brian Massumi beschreibt dies genau in: »Strange Horizon. Buildings, Biogramms, and the Topologic«, in: ders.: Parables for the Virtual: Movement – Affect – Sensation, London: Duke Univ. Press, 2002, S. 177-207.

Decreation gemeinen ungeübter sind als mit den Augen, werden damit gewöhnlich Auflösung, Porosität, Unschärfe der Wahrnehmung assoziiert. Die Mischung der Trainingsformen von klassischem Ballett und zeitgenössischen Techniken sowie die gleichzeitige Anwendung nach innen gerichteter Techniken und streng analytischer Verfahren, welche die Antizipation von Bewegung ermöglichen, trainieren diese körperlich-sinnlichen Fähigkeiten und machen nebst den Alltagserfahrungen der Tänzer die Zwischenkörperlichkeit der Tänzer aus.62 Auch die Fähigkeit, Impulse am anderen Ende des Raumes aufzunehmen, wird durchaus mittels jener Relationen reguliert, denn die Art des Verhältnisses bleibt bei größerer oder geringerer Entfernung bestehen, hier wird es jedoch nicht über den Hautkontakt, sondern über bestimmte cues, wie z.B. ein gemeinsames Atmen oder einen bestimmten Rhythmus vermittelt. Die Haut als Medium, als relationale Matrix zu begreifen,63 geht daher über ein Verständnis des Körpers als Ausgangspunkt des Entwerfens relationaler Gefüge noch hinaus.64 Die anwendungsorientierte Gerichtetheit, wie sie im Sinne anthropologischer Ansätze, etwa bei André Leroi-Gourhan formuliert wird, der den aufrechten Gang und die durch jene erhobene Horizontalität gewonnene Sicht und das Freiwerden der Hände zum Werkzeuggebrauch und zur Entwicklung von Techniken beschreibt, ist allein nicht ausreichend,65 sondern sie ist in der engen Verflechtung von Innen- und Außenraum ein Austausch mit dem Materialen – ein Berühren der Welt,66 ein Rühren an die Grenze. Jean-Luc Nancy seinerseits fragt in seinen Texten immer wieder nach dieser Berührung und danach,67 was es heißt, den Körper zu denken, und stellt damit ebenfalls ein Modell bereit, eine phänomenologische Lesart zu überschreiten, die dem Ansatz Gils sehr nah scheint. »Ein anderer – wenn er ein anderer ist, so ist er ein anderer Körper. Ich hole ihn nicht ein, er bleibt auf Distanz. Ich beobachte ihn nicht, er ist kein Objekt. Ich 62 |  Vgl. Siegmund: 2006. 63 |  Vgl. dazu auch: Erin Manning: Politics of Touch. Sense, Movement, Sovereignity, Minneapolis (MN)/London: Univ. of Minnesota Press, 2007. 64 |  Vgl. hierzu Kap.  1 »Warum muss man einen Körper haben (MerleauPonty und Deleuze)«. 65 |  André Leroi-Gourhan: Hand und Wort: die Revolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995. 66 |  Vgl. Jacques Derrida: »Waschzettel«, in: ders.: Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin: Brinkmann & Bose 2007, o. S. 67 |  Jean-Luc Nancy: Corpus, Berlin/Zürich: diaphanes 2000; ders.: »Alliterations«, in: ders.: Die Ausdehnung der Seele, Berlin/Zürich, diaphanes, 2010, S. 3142; siehe ebenso Derrida: 2007.

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Entwürfe und Gefüge ahme ihn nicht nach, er ist kein Bild. Der andere Körper spiegelt sich in meinem noch einmal. Er durchquert ihn, macht ihn beweglich oder stachelt ihn an. Er leiht oder schenkt ihm seinen Schritt.«68

Dies ähnelt den beschriebenen Techniken und Inkorporationen in Decreation; Dualität findet bereits innerhalb des eigenen Körpers statt, aber auch Empathie und Resonanz des anderen klingen darin an, die jedoch von einer Resonanz des Anderen, wie sie bei Levinas in einer ethischen Ausrichtung beschrieben werden, zu unterscheiden sind. Im Dialog mit der Choreographin Mathilde Monnier entwickelt Nancy Überlegungen zum Tanz, zum Körper, zur Berührung. Durch die intensive Zusammenarbeit mit der Choreographin wird der Tanz weniger als gewöhnlich bei anderen Philosophen (von Nietzsche bis hin zu Badiou) lediglich als Metapher für das Denken gefasst. Doch ist gerade diese doppelte Perspektive auch eine besondere Gelegenheit, den Tanz nicht lediglich aus der Dichotomie zwischen phänomenologischer und semiotischer Blickrichtung zu verstehen, sondern zu entgrenzen und nach Übertragungsformen für ein choreographisches Denken zu suchen. Denken und Körper sind hier nicht voneinander losgelöst – sie sind nur ihr »gegenseitiges Berühren«.69 Der Körper wird auf der Grenze situiert, als »Schauplatz, auf dem die Philosophie stattfindet und von der jeglicher Gedanke ausgeht.«70 Was nennt man denken, wenn denken heißt, den Körper zu denken? Welchen Bezug hat dieses Denken zum Berühren? Kann dieses DenKörper-Berühren als Bedingung des Denkens gelten? Mit der Vorstellung eines Körpers, wie er ihn in Corpus entwickelt, schlägt Nancy ein Modell der Dualität eines Körpers vor, der zugleich hier ist und nicht ist, der sich im Verhältnis zum »Gewicht des Denkens« überhaupt nur bestimmen lässt: Er entwickelt einen endlosen, multiplen, und gleichzeitig einzigartigen Körper, »in dem Sinn gegeben ist und aus dem Sinn entsteht«.71 Damit geht er über phänomenologische Ansätze hinaus, und verweist mit der Kopplung von ›berühren und berührt werden‹ auch auf das Intervall der Berührung. Berührung wird nicht als Kontinuität und Unmittelbarkeit, sondern eher als ein Denken der dislocation und Trennung bzw. effraction verstanden – (als) das Unerreichbare, seine Alterität. Es gründet in einem Denken der Intimität und einer gleichzeitigen Unmöglichkeit von Kontakt. Das Berühren ereignet sich an der gemeinsamen Grenze zweier (oder mehrerer) sich berührender Körper, die diese Berührung teilen. Die Berührung impliziert, dass eine Differenz zwischen



68 | Nancy: 2000, S. 35. 69 | Ebd. 70 | Ebd., S. 50 71 | Ebd., S. 88.

Decreation den sich Berührenden bestehen muss, die ein Intervall öffnet, einen Zwischenraum. Dies ist nur möglich, weil alles, was geteilt wird, die Differenz ist.72 Ähnlich wie bei Gil artikulieren die Körper den Raum. Da die Körper nicht im Raum, sondern der Raum in den Körpern verortet wird, kann der Raum als eine Verräumlichung – eine Raumspannung – verstanden werden: »Because the bodies are not in space, but space is in the bodies, the space is a spacing, a tension of place.«73 Der Körper ist ausgedehnt und so kann er heraustreten aus der Punktualität, netzartige Erweiterungen bilden, wobei auch hier immer das ›Entgegen-stehen‹ des Körpers impliziert ist. Damit kann man sich auch den Bewegungen in Decreation nähern: So scheint der Körper immer im Aufbruch, kurz vor einer Bewegung, einem Fall, einem Auseinanderfallen, in jenem »Augenblick, in dem er dem bloßen Klaffen des Zwischenraums, der er selbst ist, Platz macht. Der Körper, der fortgeht, nimmt seinen Zwischenraum mit, er nimmt sich als Zwischenraum mit und stellt sich gewissermaßen beiseite, er zieht sich in sich zurück [...] Das fort-von-sich wird exponiert.«74

Diese Ausdehnung ermöglicht es den Körper in netzartigen Erweiterungen zu konzipieren, wobei sowohl die variable Vorstellung der Kinesphäre als auch die Imagination eines ›Doppelkörpers‹ von Bedeutung ist. Diese Öffnung ist jedoch vom einzelnen Tänzer aus zu denken, sie ist bei Nancy nicht als ethisches Konzept einer Gemeinschaft mit Anderen zu denken, sondern eröffnet lediglich die Möglichkeit jene Erweiterungen überhaupt eingehen zu können. Demgemäß entspricht das Sein als Mit-Sein nicht einer Philosophie des geschlossenen Subjekts. Dass diese Konzeption eines Körperdenkens schließlich zu einem Sein führt, das jenseits des Subjekts zu denken ist und darüber eine Öffnung auf den oder die anderen ermöglicht, erörtert Nancy in der Idee des singulär plural Seins: »Singulär plural Sein heißt: das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit-Wesen. Aber ein Mit-Wesen oder Mit-sein – das Sein mit mehreren, bezeichnet seinerseits das Wesen des Mit, oder auch vielmehr das Mit selbst in der Position oder Art des Wesens.« »Das Singuläre ist ein ego, das kein Subjekt im Sinne einer Beziehung von sich zu sich ist. Vielmehr ist es eine Intensität, die keine Beziehung von einem Ich zu einem Selbst ist, es ist weder Ich noch Du, sondern lediglich das Unterschiedene



72 | Jean-Luc Nancy: singulär plural sein, Berlin/Zürich: diaphanes, 2005. 73 | Gil: 2006, S. 23. 74 | Nancy: 2000, S. 32f.

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Entwürfe und Gefüge der Unterscheidung. Es ist ein abseitiger Teil (l’être à part) des Seins selbst und im Sein selbst.«75

Wie sich aus dieser Perspektive des Mit-Seins die Kontakte zwischen den Tänzern artikulieren und beschreiben lassen, wird in Kapitel 4 und 5 noch einmal ausführlicher behandelt. Wie aber werden auch die Betrachter in diesen Prozess mit eingeschlossen?

1.5 Affizierungen Sind sie berührt oder ergriffen? Diese Formulierung setzt zwar einerseits Nähe und Berührung voraus, jedoch ist ihr, wie gerade beschrieben, auch ein unaufhebbarer Abstand eingeschrieben. Mehr noch, die sprachliche Wendung, die jeweils im ›Ergriffen-Sein‹, dem ›Begreifen‹ und dem ›Zugriff‹ anklingt,76 drückt eine machtvolle Konstellation aus. Wenn sich aus dem Bewegungsstil der Tänzer weder einheitliche Körperbilder erkennen lassen, wenn ebenso das Subjekt der Bewegung nicht mehr im Körper einzelner Tänzer zu verorten ist und die Zuschauer größte Schwierigkeiten haben, Bewegungsintentionen auszumachen und Zusammenhänge zu konstruieren,77 jedoch gleichzeitig von der Wucht der auf sie einstürmenden Bilder ›ergriffen‹ (und fast überfordert) werden, wird die Rezeption für den Zuschauer zu einer ständigen Erfahrung der Destabilisierung und Orientierungslosigkeit. Mögen die produzierten Körperbilder auch stets im Übergang befindlich sein, gleichwohl erinnern die entstehenden Körper- und Bewegungsbilder an Vor›Bilder‹ aus der bildenden Kunst, an Grotesken, bei denen die Körperkonturen ebenfalls verschwimmen, die Form auf dem Spiel steht, und bilden »Inventare«78 – vielfältige Möglichkeiten der sich gegenseitig kommentierenden Assoziationen. Die Entstellung der entstehenden Körper, das Zusammenbrechen der Gestalt, die Erschütterungen des Organismus79 erinnern an die Körper auf den 75 |  Nancy: 2005, S. 59; S. 62; dazu ausführlicher in Kap. 5. 76 |  Stefan Neuner: »peri haphēs. Rund um den Tastsinn«, in: Magazin des Instituts für Theorie 12/13, Dezember 2008, Taktilität – Sinneserfahrung als Grenzerfahrung, S. 5-14, hier S. 11f. 77 |  Vgl. Siegmund: 2006. 78 |  Vgl. Foellmer: 2009, S. 18ff. 79 |  Auf die Idee des organlosen Körpers, wie er bei Deleuze/Guattari: 1993 in Tausend Plateaus entwickelt wird, und inwieweit deren Konzept in der Tanzwissenschaft vielfache Anwendung gefunden hat, kann hier nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu jedoch u.a. Foellmer: 2009, S. 76ff.

Decreation Bildern Francis Bacons,80 die informellen Kräfte im Bild und in Decreation ließen sich mit Georges Batailles Begriff des informe beschreiben.81 Mit diesem Begriff wird vor allem die Aktivität der Bedeutungsverschiebung betont, eine Bedeutung, welche sonst an die klar umrissene, distinkte Form gebunden ist. Ebenso wird das Abjekte, das ansonsten Ausgeschlossene zu einem Modus der Affektbildung beim Zuschauer.82 Ein signifikantes Bild, das sich sowohl in Batailles Dictionnaire als auch bei Francis Bacon findet und in Decreation oftmals angespielt wird, ist der aufgerissene Mund – als die immanente Grenze des Humanen zwischen Mensch und Tier, welche die eigene Unähnlichkeit reflektiert.83 In der bereits beschriebenen Eingangsszene ist Dana Caspersen zu sehen, die ihre Körperkontur in verschiedene Formen zieht, dazu den Kiefer und die anderen Gesichtsmuskeln in unterschiedliche Richtungen verschiebt. Gleichzeitig versucht die Stimme von Georg Reischl, der schräg vor ihr steht, einen Satz zu artikulieren, scheitert jedoch permanent. Abwechselnd ist die Mundhöhle bzw. der nicht passende Restkörper auf einer kleinen Videoprojektionsfläche zu sehen. Hinzu kommt die komplexe lautliche Ent-Äußerung und die ›Opferungshaltung‹. Doch die ›Labilität‹ oder ›Schwäche‹ des Tänzers macht mehr mit dem Zuschauer als lediglich seinen Ekel vor dem geöffneten Mund oder der deformierten Figur zu schüren, er muss erkennen, dass er dem, was ihn am meisten ekelt, verbunden, ja ausgeliefert ist und dieser Affekt macht auch vor den Grenzen seines eigenen Körpers nicht Halt. Diese Affizierung geht über ein kinästhetisches Empfinden jedoch weit hinaus. Welche Grenze des Empathischen hier (fast) überschritten wird, ist auch nicht lediglich damit zu erklären, dass die Zuschauer selbst in ihrer eigenen Körperlichkeit affektiv berührt werden, denn:

80 |  Dass die Bilder Francis Bacons eine starke Inspirationsquelle für Forsythe darstellen, betont er nicht nur in mehreren Interviews, sondern darüber hinaus steht das »Final Unfinished Portrait« des Malers auch im Mittelpunkt der gemeinsam mit Peter Welz entwickelten Installation »Corps étrangers«, die 2007 im Pariser Louvre ausgestellt wurde; vgl. dazu Kap. 4. 81 |  Georges Bataille: Dictionnaire critique, Orléans: L’écarlate, 1993; dt.: Kritisches Wörterbuch, hg. und übersetzt von Rainer M. Kiesow, Berlin: Merve, 2005; vgl. auch: Yve-Alain Bois/Rosalind Krauss: Formless: A User’s Guide, Ausstellung des Centre Pompidou 1996, New York (NY): Zone Books, 21999. 82 |  Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München: Fink, 2005; Kathrin Busch/Iris Därmann (Hg.): »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld: transcript, 2007. 83 |  Vgl. auch hierzu Foellmer: 2009, S. 231-271.

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Entwürfe und Gefüge »Der alternierende Rhythmus zwischen formativen und deformierenden Gesten beschreibt die Genese der figurierten Kunst und ist Modell einer informen künstlerischen Praxis. In ihr schreibt sich der destruktive Ursprung des Bildes in den Prozess des Entstehens ein. Das Bild besteht allein im Rhythmus seiner Bildung und Zersetzung.«84

Die Art der Darstellung – die Deformationen des Körpers, dessen Bewegungen Spasmen ähnlich sind, der Kontur und der Mimik des Gesichts (das mehr noch als der Körper für die individuelle Unantastbarkeit steht) sowie der Stimme – ist verbunden mit dem Wissen um seine Fragilität, ist verbunden mit der Tatsache, dass es sich nicht nur um eine rein ›formale‹ Angelegenheit handelt, wenn die Innen- und Außengrenzen des Körpers auf dem Spiel stehen, sondern dass mit der Kontur die Unverfügbarkeit des Körpers entfließt. Damit wird eine ethische Dimension in die Inszenierung des Körperbildes eingetragen, die Giorgio Agamben in Das Offene als die Grenze zwischen Mensch und Tier thematisiert.85 Der Umbau des Menschen, die Abschließung des Körpers – des Organismus wie auch des Sozialkörpers – geht mit der Neukonstitution des Subjekts und einer veränderten Form des Austauschs mit anderen einher. Die klaffende Lücke zwischen einem Körper-Konzept eines homo clausus, dem Leitbild rationalistischer Aufklärung, und einem alternativen Konzept eines offenen Körpers, wie er u.a. in der mittelalterlichen Säftelehre, aber auch in der Antike als in ständigem Austausch mit seiner Umwelt vertreten wurde86 und hier in der Betonung des medialen Charakters einzelner Körperfunktionen wieder aufgenommen wird, soll im Folgenden im Zusammenhang mit Theorien des Entwerfens und einer veränderten Subjektkonzeption betrachtet werden.

2 Entwerfen – Entwerden – Entschöpfen 2.1 Kreativität jenseits des Autorsubjekts Wie lassen sich die beschriebenen Techniken des Ent-Werdens, der Ent-Subjektivierung innerhalb einer Entwurfstheorie verorten? Wie kann das Denken 84 |  Carolin Meister: »Athletik der Entstellung. Zum symptomalen Realismus bei Francis Bacon und Georges Bataille«, in: Erika Fischer-Lichte/Nicola Suthor (Hg.): Verklärte Körper. Ästhetik der Transfiguration, München: Fink, 2005, S. 249264, hier S. 259. 85 |  Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. 86 |  Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink, 1999.

Decreation im Entwurf bei Forsythe im Kontext zeitgenössischer Kunstproduktion verortet werden? Und wie wird das implizierte Sich-selbst-als-etwas-Entwerfen, wie es bis in die Moderne hinein mit dem Schöpfungsakt des Kreativen zusammengedacht wird,87 durch eine solche Konzeption herausgefordert? Was tritt an die Stelle des schöpferischen Subjekts? Stellte bis in die Neuzeit die Rhetorik als wirkungsorientierte ars inveniendi ein Regelwerk zur Schaffung von Kunstwerken in den verschiedenen Künsten bereit,88 so lässt sich bereits um 1800 eine Wendung zum Prozessualen feststellen.89 Dies geschieht über einen sich neu ausbildenden Werkbegriff, der den Prozess der Hervorbringung in den Mittelpunkt stellt. Das ›Machen‹ wird nun als eigentlicher Inhalt der Kunst – als poiesis und in spezifischen Poetiken  – gefasst. Der Prozess des Machens ist als dynamische Austauschbeziehung zwischen den Polen Subjekt und Medium, das Kunstwerk nicht mehr nur als Ausdruck eines Subjekts, sondern als Schauplatz widerstreitender Ideen, Techniken und Medien zu verstehen.90 Dennoch gilt das künstlerische Subjekt bis ins 20. Jahrhundert als Inbegriff moderner Subjektivität, die sich im Helden oder im Geniekünstler der Avantgarde spiegelt, dessen Auflösung sich allerdings bereits im 20. Jahrhundert vollzieht.91 Gerade die Ästhetik kann als Geburtsort der neuzeitlichen Subjektivität gelten, denn zunehmend wird der Einbildungskraft unabhängig von der leitenden Instanz der Vernunft Produktivität zugesprochen; Phantasie gilt als Selbst-Vermögen. Mit der Ablösung der bürgerlichen Gesellschaft durch Massenkonsum und der Verbindung von Gesellschaft und Unterhaltungsindustrie jedoch wird die Avantgarde Ausdruck einer Gesellschaft, die ihr protestantisches Arbeitsprinzip 87 |  Mattenklott: 2003. 88 |  Vgl. dazu: Stefan Metzger/Wolfgang Rapp (Hg.): homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik, Tübingen: Narr, 2003. 89 |  Michael Lüthy/Christoph Menke: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Berlin/Zürich: diaphanes, 2006, S. 7-11. 90 |  Ebd. 91 |  Josef Früchtl beschreibt in seinem Aufsatz »Die Unverschämtheit, Ich zu sagen – ein künstlerisches Projekt der Moderne« den Zusammenhang zwischen Moderne (die er bereits im deutschen Idealismus ansetzt) und ästhetischer Subjektivität. Die »Unverschämtheit, Ich zu sagen« ist zunächst (mit Descartes’ Vorrang des Bewusstseins vor dem Sein, des Ich vor dem Nicht-Ich) gegen das ontologische und theologische Paradigma gerichtet. Aber auch in struktureller Hinsicht sind Individualität und Allgemeinheit, Universalität, Widerspruch und Dynamik dem Akt des Ich-Sagens inhärent, worin jedoch bereits das Scheitern der Zuordnung anklingt; Josef Früchtl: »Die Unverschämtheit, Ich zu sagen – ein künstlerisches Projekt der Moderne«, in: Lüthy/Menke (Hg.): 2006, S. 37-48.

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Entwürfe und Gefüge zugunsten des Hedonismus (der ehemals als Gegner des Kapitalismus fungierte) eintauscht.92 Der Modernismus als Kult des Neuen funktioniert nur noch auf kultureller, nicht mehr auf sozialer Ebene, das Bild des Künstlers als Held der Moderne existiert nurmehr als ästhetische Fiktion, der Künstler wird zum Darsteller des Künstlers.93 In der Spannung zwischen Spontaneität und Reflexion werden soziale Bestimmungen von Lebensmodellen ausgehandelt, welche die Selbstpositionierung von Künstlern bestimmen.94 Denn parallel geht mit den Veränderungen von Produktionsverfahren in der Arbeitswelt auch eine Veränderung des Produktionsbegriffs in den Künsten einher. Die Verschränkung von ›kreativen‹ und ›administrativen‹, von sogenannten ›produktiven‹ und ›reproduktiven‹ Tätigkeiten95 als signifikanten Phänomenen des Post-Fordismus, bewirkt seit den 1960er-Jahren eine veränderte Selbstauffassung des Künstlers, der sich jenseits von Autorschaft, Originalität und Erfindungsgeist positioniert. Die Symbolfigur dieser Verbindung von Konzeptkunst und Büroästhetik ist Herman Melvilles Bartleby, der mit der Formel »I would prefer not to« nach einer Widerstandsmöglichkeit gegen das vollintegrierte Arbeits- und Zeitmanagement des fortschreitenden Kapitalismus sucht. Weder zeichnet sich diese Figur ›ohne Eigenschaften‹ durch Heldenhaftigkeit noch durch Kreativität im Sinne eines Neuheitsdenkens aus, wenn sie mit der berühmten Formel einen Riss zwischen Sprache und Handlung (re-)produziert und damit dem Möglichkeitssinn – dem ›es könnte auch anders sein‹ – einen Raum verschafft.96 Figuren der Kontingenz spielen in den Künsten seit den 1960er-Jahren eine zentrale Rolle, insbesondere sind hier die chance procedures John Cages zu nennen bzw. die scoring practices, wie sie künsteübergreifend das Verhältnis von score und dessen Interpretation in einer spezifischen Unbestimmtheit – indeterminacy – beschreiben.97 Figuren des Unterlassens wieder 92 |  Ebd., S. 47. 93 |  Ebd. 94 |  Sabeth Buchmann: »Zeit ohne Eigenschaften. Ökonomien der Zeit in zeitgenössischen künstlerischen Subjekt- und Produktionsentwürfen«, in: Karin Gludovatz/Martin Perschken (Hg.): Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin: Reimer, 2004, S. 17-26. Buchmann zeigt in der Kopplung von Herman Melvilles Bartleby und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (im Anschluss an Agamben) die Verbindung von passivem Widerstand, Sprachformel und Möglichkeitssinn auf. 95 |  Vgl. dazu Benjamin H.  D.  Buchloh: »Conceptual Art 1962–1969: From the Aesthetic of Administration to the Critique of Institutions«, in: October 55, Winter 1990, S. 105-143. 96 |  Buchmann: 2004. 97 |  Liz Kotz: Words to be looked at. Language in 1960s Art, Cambridge (MA): MIT Press 2007, darin: Kap. 2: »Post Cagean Aesthetics and the Event Score«, S. 59-99.

Decreation um werden insbesondere seit den 1990er- Jahren als Formen widerständiger Praxis gewertet.98 Wenn das künstlerische Subjekt also nicht länger in einer creatio ex nihilo das Objekt oder Werk aus sich selbst schöpft, (wie) kann er oder sie dann als Medium oder Katalysator jener Prozesse fungieren?99 Im Sinne einer Art von Inspiration, wie sie bei Weil durch die Entsubjektivierung möglich wird? Entfaltet sich Kreativität als nicht gerichtetes Handeln zwischen actio und passio durch eine unbestimmte von außen kommende Kraft? Wie bereits angedeutet, wird im 20. Jahrhundert mit der Fokussierung auf künstlerische Verfahrensweisen, wie etwa den scoring practices der künstlerischen Kreativität ihre Spontaneität entzogen – auch wenn es paradox erscheinen mag, ausgerechnet durch improvisatorische Ansätze, die jedoch analytisch das Verhältnis von Regel und Ausführung befragen. Gerade Forsythe hat mit seinen choreographischen Arbeiten (und den Improvisation Technologies) diese Befragung immer weiter entwickelt. Der Künstler kann hierbei aber immer noch als »maître du paradoxe«, als Arrangeur des Widersprüchlichen und Unberechenbaren verstanden werden: Frakturen, materiale Verschiebungen, mediale Interferenzen und Brüche, konträre Konstellationen und Störungen werden daher zu bevorzugten künstlerischen Strategien.100 Das Paradox fungiert als Dekuvrierung des Erstarrten und beweist seine Produktivität an der Sprengung bestehender Ordnungen und Systeme. Alteritäten und Differenzerfahrungen sind daher wesentlich für eine Erfahrung, die Reflexion und Alteration zu verbinden sucht.101 Dies erweist sich insbesondere in selbstreflexiven Prozessen, in denen ein Medium ein anderes zur Bühne macht und in denen Kreuzungen medialer Formate sich gegenseitig kommentieren, wie es zum Beispiel in Forsythes Decreation Körperfragmentierung und Videoscreen, Stimme und technische Verzerrung tun. Die Frage stellt sich jedoch, ob damit nicht ein allzu idealistisches Bild von den Vermögen der Widerständigkeit der Kunst und des Künstlers gezeichnet wird, und ob, indem der Bereich der Kunst als das »absolute Andere« beschrieben wird, Kunst zur Metapolitik verkommt. Was aber bedeutet die Diagnose, nach der der Möglichkeitssinn gerade keinen Gegensatz zum Pragmatismus neoliberaler Unternehmens-Philosophie darstelle, für den kreativen Prozess selbst? Von der Produktivität der Arbeit zur 98 |  Gronau/Lagaay (Hg.): 2008. 99 |  Inwieweit ist dies mit einer Art der Inspiration (durch äußere Kräfte), wie sie auch bei Weil beschrieben wird, vergleichbar? 100 |  Dieter Mersch: »Medialität und Kreativität – Zur Frage künstlerischer Produktivität«, in: Bernd Hüppauf/Christoph Wulf (Hg.): Bild und Einbildungskraft, München: Fink, 2007, S. 79-91. 101 |  Ebd., S. 86.

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Entwürfe und Gefüge Reproduktivität von Arbeitsanweisungen verändert sich die Arbeit als Modell sozialer Simulation. Der durch die italienischen Operaisten102 geprägte Begriff der immateriellen Arbeit (oft auch als affektive Arbeit bezeichnet), der sich im Zuge der Umwandlungen von Fordimus zum Post-Fordismus und parallel zu den Entwicklungen der konzeptuellen Kunst und der »Dematerialization of the Art Object«103 aufkommt, gewinnt insofern an Bedeutung, als sich hier Entwicklungen in der realen Arbeitswelt und veränderte Strukturen künstlerischer Produktion spiegeln. Mit den 1960er-Jahren, »when artists as Bruce Nauman, Dan Graham, or Robert Morris first introduced practices of selecting, assembling, arranging, contextualiszing and presenting into their art«,104 verändert sich das Verhältnis von Kunstproduktion und -rezeption grundlegend: Über diese Tätgkeiten etablieren die Künstler Relationen zwischen Objekten und Betrachtern, Orten und Kontexten – ebenso tun dies in diesen Jahren aber auch die Choreographinnen im Umkreis der Judson Church wie beispielsweise Simone Forti, Yvonne Rainer oder Trisha Brown. Diese Prozesse umfassen vornehmlich konzeptuelle Fertigkeiten aus den Bereichen Management und Organisation sowie Strategien der Veröffentlichung und Vermittlung, die heute mit dem tertiären, dem Dienstleistungs-Sektor verbunden werden – Tätigkeiten, die soziale und Selbsttechnologien auf engste miteinander verknüpfen und die Einbeziehung des gesamten Subjekts erfordern, für das Lebens- und Arbeitszeit ununterscheidbar werden. Der Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung verändert darüber auch die Modelle der Kunstproduktion. In einer Gesellschaft, die sich durch die zunehmende Flexibilität der Arbeitswelt auszeichnet, lässt sich daher der kreative Imperativ eher negativ beschreiben.105 Die Künstlerkritik geht einher mit einer Kritik der Kreativität. Das Kreative, so Gerald Raunig, sei nicht mehr den Künstlern überlassen, sondern innerhalb der post-fordistischen Gesellschaft zum Merkmal flexibler Arbeit schlechthin geworden. Kritik würde nicht mehr 102 |  Der Begriff des Operaismus steht in der Tradition der italienischen Arbeiterbewegung (Arbeit – opera) und übt Kritik an der Arbeit, der Post-Operaismus verbindet sich zudem mit den Ideen des Poststrukturalismus, zentrale Begriffe darin sind immaterielle Arbeit, Multitude, Biopolitik und Empire. 103 |  Lucy Lippard/John Chandler: »The Dematerialization of the Art Object«, in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.): Conceptual Art. A Critical Anthology, Cambridge (MA): MIT Press, 1999, S. 46-50. 104 |  Beatrice von Bismarck: »Relations in Motion: the Curatorial Condition in Visual Arts and its Possibilities for the Neighbouring Disciplines«, in: frakcija Performing Arts Journal 55, Sommer 2010, Curating the Performing Arts, hg. v. Florian Malzacher, S. 50-57. 105 |  Vgl. Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität, Wien: Turia & Kant, 2007; S. 9f.

Decreation als Unterscheidungsvermögen, sondern in einer post-operaistischen Theorie als Bewegung der Aneignung verstanden. Was bedeutet dies für künstlerische Schaffensprozesse, wie können Momente des Widerstands und der Subversion infiltriert werden, wenn das Feld der Kunstproduktion kein alternatives Rückzugsgebiet mehr darstellt und Kapitalismus- und Gesellschaftskritik sogleich absorbiert wird? Das künstlerische Produkt richtet sich folglich vielfach an institutionskritischen Formierungen aus; sie richtet sich damit auch gegen einen Kult der Individualisierung und Genialisierung, innerhalb derer Handeln als individualisiertes schöpferisches Tun mit transzendierender Kraft betrachtet wird. Dementsprechend ist Kreativität keine Ressource, die im Inneren verborgen liegt und schließlich zutage tritt, sie ist nicht auszubilden, nach außen zu bringen, sondern sie wirkt in Konstellationen, ist relational und bezieht sich auf bereits bekannte Problemlagen. Welches Potential dem Körper in diesen Szenarien des Entwerfens innewohnt, seiner Instabilität, seiner Positionierung an der Grenze zu einem Aufbruch, inwieweit er als Kraft gegen hierarchisierende Bestrebungen wirken bzw. als subversive Ressource des Widerstands im Sinne ökonomiekritischer Verschwendung eingesetzt werden kann, wurde bereits am Beispiel der vorab beschriebenen Körpertechniken erläutert. Gerade ein Körper, der jenseits von Ansprüchen an Authentizität, jenseits der Kategorien von Aktivität und Passivität, jenseits gerichteter Intentionalität operiert und das intendierte Scheitern in die Bewegung einbezieht, kann jene Gefüge von innen heraus verändern. Denn wenn Kreativität nicht nur an das künstlerische Tun zu binden ist, nicht an die Selbstverwirklichung und Ausdruck des Eigenen und Höherwertigkeit zweckfreien Handelns, wenn man ihr keine Befreiungskraft unterstellt, wenn sie nicht emergent ist, sondern jede Differenzierung das Kreative im Spiel von Alterität und Innovation inkorporiert, so kann sie dennoch mit dem Moment der Fiktionalisierung spielen. Mittels der Praxis des ›Als ob‹ ermöglicht sie in dieser Zwischensphäre ein nicht substantielles Probehandeln. Innerhalb dieser Ebene von Fiktionalität schlägt Paolo Virno einen alternativen Ansatz von Virtuosität vor, der als »Aufführung ohne Werk« nicht so sehr die traditionell mit dem Begriff verbundene Kunstfertigkeit in den Blick nimmt, sondern den Aspekt der Öffentlichkeit fokussiert. Dabei sieht er den Witz als Werkzeug subversiven (möglichen) Handelns. Nicht in der dialektischen Form der Negation bzw. des Widerstandes, sondern mittels der Differenz in der Wiederholung – durch Verschiebung und Verlagerung – ließe sich so eine Abweichung vom gängigen Diskurs produzieren. Der Witz als Diagramm innovativer Handlung, der seine Vektoren in benachbarte Bereiche ausdehnt und diese damit verändert, beziehe seine subversive Kraft aus dem Fehler, aus den Schwierigkeiten der Regelanwendung und seiner Beziehung zur Ausnahme, aus dem

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Entwürfe und Gefüge mehrdeutigen Gebrauch und der Verlagerung.106 Vor allem aber setzt er ein Publikum voraus, das am Akt des Erfahrungsgestaltung konstitutiv beteiligt ist.

2.2 Techniken und Praktiken der Entsubjektivierung Inwiefern ist eine solche Virtuosität, von der man bei den improvisatorisch geschulten Forsythe-Tänzern mit Sicherheit sprechen kann, an einen bestimmten Begriff der Technik gebunden? Lassen sich die beschriebenen Körper- und Imaginationstechniken in eine Theorie der Technik einordnen? In der Entwicklung der Künste spielt der Begriff der techné seit der Antike eine zentrale Rolle.107 Körpertechniken oder handwerkliche Techniken, generative Verfahren, Anwendung von Regeln oder das Entwerfen von Situationen lassen sich unter bestimmten Vorgaben je unter den Begriff der techné fassen – unterschiedlich ist jedoch, wie dabei das Verhältnis zum ›Werk‹ bzw. zum Prozess des Entwerfens gefasst wird bzw. wie sich dies hier mit dem Begriff der Entschöpfung verbinden lässt. Sowohl Platon als auch Aristoteles gehen von der Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie aus. Die theoretische Philosophie ist der Wahrheitssuche zugeordnet, während die praktische Philosophie das behandelt, was anders sein kann – die Bereiche der Ethik und Politik, die ständigen Veränderungen unterliegen, im steten Werden begriffen sind. Während Platon intuitionistische Prinzipien im Rahmen einer techno-theologischen Auffassung der Idee des Guten als absolute, göttliche Norm, deren Kenntnis als Voraussetzung ethischen Handelns dient, versteht, und mit dieser intellektualistischen Auffassung der Ethik eine Abwertung der praktischen Philosophie und eine Überbewertung der menschlichen Vernunft beschreibt, stellt Aristoteles menschliches Handeln (praxis) dem Herstellen (techné) gegenüber. Wo bei Platon zwischen poiesis und episteme als verschiedene Wissensformen (von etwas) unterschieden wird, zielen die Fachkünste technai nicht nur auf die schönen Werke, sondern auch auf die Selbsterkenntnis. Im 20. Jahrhundert hat vor allem Heidegger eine Philosophie der Technik erarbeitet, innerhalb derer er die techné eng führt mit dem Begriff der poiesis, dem Hervorbringen.108 Heidegger bezeichnet techné als die menschliche Fähigkeit, die den Dingen erlaube, in ihrer Essenz oder Seinsweise zu erscheinen, 106 |  Paolo Virno: »Witz und innovatives Handeln«, in: Raunig/Wuggenig (Hg.): 2007, S. 244-248. 107 |  Zum engen Zusammenhang von Kunst und Technik: Die griechische techné wurde im Lateinischen mit ars übersetzt. 108 |  Martin Heidegger: »Die Frage nach der Technik« [1953/1962], in: ders.: Die Technik und Die Kehre, Pfullingen: Neske, 1991, S. 9-40. Die moderne- und technologiekritische Positionierung muss ich an dieser Stelle auslassen. Heidegger

Decreation sie gilt ihm als eine Weise des Entbergens der Wahrheit aletheia, und begründet damit einen ethischen Anspruch der Kunst. Technik an sich ist insofern nicht instrumental, ihre Wirkung liegt in ihrer Ambiguität zwischen Verbergen und Entbergen. Mit dieser engen Kopplung von techné und poiesis, die das Entbergen der Wahrheit zum Ziel haben, erscheint die Frage nach der Enthaltung von Intentionalität unvereinbar. So scheint es notwendig, will man die Arbeit mit bzw. an Zuständen im Sinne einer ›Technik‹ begreifen und mit der ansatzweisen Enthaltung von Intention verbinden, dazu das Begriffsfeld von poiesis und techné im Rückgriff auf Aristoteles um den Begriff der praxis zu erweitern. Denn während poiesis und techné auf das Ziel des Entbergens der Wahrheit ausgerichtet sind, ist die praxis ein Tun ohne äußeres Ziel, sie trägt ihren Zweck in sich selbst. Wo poiesis als Transfer vom Nichtsein ins Sein eine Produktion von Neuem darstellt und somit einen Ausbruch aus dem Zirkel der Wiederholung verspricht, verbinden Vorstellungen von Kunst als praxis die endlose Iteration und so wird aus den Differenzen der Wiederholung und Re-Kombination nur relativ ›Neues‹ generiert. Heideggers Vorstellung der reinen Potentialisierung verbleibt im Bereich ontologischer Idealisierung und kann mit einer Aktualisierung und folglich mit praxis nicht zusammengedacht werden. Praxis kann hingegen mit Hannah Arendts Vita activa109 als Modell des Politischen verstanden werden, als öffentliche Handlung, die soziale Bezüge stiftet, als Mittel ohne Zweck, das weder den Regeln der vita contemplativa noch den Lasten des privaten Lebens und der Arbeit unterliegt. Diese Aspekte werden erneut in Kapitel 5 aufgegriffen und schließen den Bogen zu den choreographischen Installationen. Bei Forsythe kann, wie anhand des Beispiels Decreation gezeigt wurde, eine Enthaltung von Intention immer nur im Zusammenhang mit einer der beschriebenen Techniken gedacht werden. Inwiefern dies den Begriff von Choreographie selbst betrifft, ist vor dem Hintergrund des engen Zusammenhangs von Regel und ihren Ausführungen und Brechungen zu betrachten. Galt Choreographie lange vorwiegend als Notation, später als Kombinatorik und Erfindung neuer Schritte bzw. als Komposition von Tänzen, so wurde im 20. Jahrhundert der Begriff in Richtung veränderter Produktionstechniken und zur Technik des Verteilens und Ordnens von Personen im Raum umdefiniert.110 Spätestens seit den 1960er-Jahren wird mit John Cages und Merce Cunninghams zufallsbasierten unterscheidet weiter zwischen der Technik und dem Wesen der Technik als Mittel für Zwecke und gleichzeitig menschliches Tun – als instrumentum. 109 |  Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, Frankfurt am Main: Piper 2007. 110 |  Gabriele Brandstetter: Lemma »Choreographie«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2005, S. 52-55.

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Entwürfe und Gefüge Kompositionsverfahren, vor allem aber mit den score-basierten choreographischen Verfahren der Judson-Church, auch hier der Produktionsbegriff oder vielmehr der Begriff von Choreographie entscheidend verändert.111 Wie Laurence Louppe in ihrer »Poetik des zeitgenössischen Tanzes« schreibt, schließen die Produktionsverfahren des zeitgenössischen Tanzes – und sie beschreibt diese als »Gesamtheit der schöpferischen Verfahren, die ein Werk hervorbringen« – die Wahrnehmung in ihren eigenen Prozess ein und stellen damit »das Kunstwerk in den Mittelpunkt einer ›Arbeitsteilung‹«.112 In der Befragung des Verhältnisses von Choreographie und Institution erweisen sich die Verfahren schließlich als »kritische Praxis«, insofern sie die Bedingungen der Produktion selbst infrage stellen.113 – Dass in dieser Prozessualisierung von der Hervorbringung eines ›Werks‹ kaum noch die Rede sein kann, unterstreicht den von Virno betonten Ansatz.114 Hier mag eine weitere Wendung auf das Verhältnis von Potentialität und Aktualisierung, wie sie im Verhältnis von poiesis und praxis konzipiert werden, aufschlussreich sein. Die Techniken der Entsubjektivierung und der Projektion von Zuständen mit einem modifizierten Begriff der praxis zusammenzubringen, verweist zudem auf ihre generative Dimension: Während das Vermögen, die Potenz, als Prinzip des Möglichen, der dynamis gilt, ist die Aktualisierung mit dem Begriff der energeia verbunden, die das Mögliche ins Wirkliche bringt. Vermögen gilt als Prinzip der Veränderung, worunter Tun und Leiden als aktive und passive Kraft jedoch gleichermaßen zählen. Das Vermögen ist gebunden an die bloße Fähigkeit, an Bewegung und Werden. So ist das Vermögen schließlich nur erkennbar durch seine Realisierung, die wiederum von der Kraft abhängt. Die Unterlassung eines Vermögens, das nicht in den Akt überführt wird, macht die Lücke zwischen Aktualisierung des Wissens und praktischem Vollzug deut 111 |  Vgl. dazu insbes. über Yvonne Rainer in Sabeth Buchmann: Denken gegen das Denken. Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica, Berlin: b_books, 2007. 112 |  Laurence Louppe: »Einleitung. Gründe für eine Poetik«, in: dies.: Poetik des zeitgenössischen Tanzes, Bielefeld: transcript, 2009, S. 13-35, hier S. 13ff. Wobei Louppe zumindest in der Wahl ihres Vokabulars immer noch einem tradierten Werkbegriff anhängt. 113 |  Pirkko Husemann: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript, 2009. 114 |  Hierbei beziehe ich mich auf die Prozesse des Entwerfens bzw. des Choreographierens selbst. Dennoch ist Forsythe derjenige ›Autor‹, der im Hinblick auf die Aufführungen über die Inszenierung entscheidet, dies wird nicht etwa kollektiv verhandelt. Und so kann man selbstverständlich auch von einem ›Werk‹ sprechen, das über das ›Label‹ »Forsythe-Company« die Vermarktung der Stücke ermöglicht.

Decreation lich, sie kann aber auch in der Produktion einer gewissen Überschüssigkeit, eines Rests an Unbestimmbarem – im Sinne von Cages indeterminancy – liegen.115 Dieser Überschuss, der darüber hinwegtäuscht, dass unser rationales Handlungsvermögen in einer bestimmten Hinsicht ein Unvermögen ist, zeigt sich deutlich in den Körperformationen in Decreation – den verunklarenden, exzessiven, grotesken Bewegungen oder den tics.116 Die Imagination jener Körperbilder – etwas wahrzunehmen, was so nicht gegeben ist und nicht der Wahrnehmung entspricht – kann bereits als Form des Handelns und der Re-Orientierung verstanden werden. Interaktion erfordert hier eine Versammlung von Körpern, imaginären Gegenkörpern und räumlicher Situiertheit. Unsichtbares, Unvorhersehbares und Imaginäres tragen gleichermaßen dazu bei, die Erscheinung der Realität zu gestalten oder zu modifizieren. Die Erfüllung als Erfahrung der Nicht-Identität bewirkt eine Reorganisation des Objekts bzw. des Körpers, welche imaginär und kinästhetisch organisiert ist.117 Decreation als ›Entschöpfung‹ meint nicht nur die Spuren des Auktorialen zugunsten einer unabschließbaren Prozessualität zu tilgen, sondern verlangt eine Haltung, die zwischen Aktivität und Passivität oszilliert, die sich hier vor allem im steten Wechsel zwischen Potentialität und einer Widerständigkeit subversiver Umdeutungen und Verschiebungen zeigt. Giorgio Agamben hat die Spannung zwischen Potenz und Akt für das Gestische des Tanzes beschrieben.118 In der Geste verbinden sich Potenz und Akt, Kontingenz und Notwendigkeit. Die Geste, da sie zum Bereich des Handelns gehöre, sei Teil der Ordnung der Ethik und der Politik, und gehöre damit dem Bereich des Veränderlichen an (und nicht nur der Ästhetik). Dabei geht es nicht um ein Ausführen (agere) oder Hervorbringen (facere), man an- und übernimmt etwas; das Handeln – die praxis selbst – ist das Endziel im Gegensatz zum Hervorbringen, der poiesis, deren Endziel außerhalb liegt. Die Bewegung fällt damit 115 |  Dirk Setton: »Akratische Unterlassung. Un-Vermögen als Voraussetzung der Verständigung«, in: Gronau/Lagaay, 2008, S. 45-58. 116 |  Vgl. Boehnisch: 2004. 117 |  Nicht-Intentionalität lässt sich von der pathischen Dimension, die sich im Nichttun, Unterlassen oder Auslassen zeigt, insofern unterscheiden, als sie eher den Aspekt betont, sich auf etwas Unvorhersehbares einzulassen und damit mögliche Handlungen keinesfalls vollkommen ausschließt. Vgl. Gronau/Lagaay (Hg.): 2008; sowie dies. (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld: transcript, 2010. 118 |  Giorgio Agamben: »Noten zur Geste«, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.): Postmoderne und Politik, Tübingen: edition diskord, 1992, S.  97-108. Patrick Primavesi hat in einem Aufsatz zur Politisierung des Tanzes über die Geste am Beispiel von William Forsythe diese Verbindung bereits vorgenommen; vgl. Patrick Primavesi: »Was schreibt die Geste?«, in: ballett-tanz aktuell, Januar 2007, S. 54-57.

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Entwürfe und Gefüge weder einfach in den Bereich der Potenz noch in den des Aktes. Potenz und Akt bilden die beiden Teile des Seins zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. So ist der Tanz die Ausführung ihrer Tanzfähigkeit und ihrer Potenz zu tanzen. Die Geste sprengt die falsche Alternative zwischen Zweck und Mittel und präsentiert ihrerseits Mittel, die sich als solche dem Bereich der Mittel entziehen, ohne deshalb zu einem Zweck zu werden.119 »Wenn der Tanz Geste ist, so deshalb, weil er nichts anderes ist als die Austragung und Vorführung des medialen Charakters der körperlichen Bewegung. Die Geste ist die Darbietung einer Mittelbarkeit, das Sichtbar-Werden des Mittels als eines solchen. Sie bringt das In-einem-Medium-Sein des Menschen zur Erscheinung und eröffnet ihm die ethische Dimension.«120

Die Seinsart der Geste wäre in Figuren der Stillstellung, der Unterbrechung, der Pause zu finden, zwischen möglicher Bewegung und ihrer Störung, aber auch im Überschüssigen, Nutzlosen, Ungerichteten, in der Bewegung, die keinen Zweck erfüllt und nur schwer deutbar ist, wie es für Decreation beschrieben wurde. Damit gehört sie dem Bereich der Praxis an. Körpertechniken, wie sie bei Forsythe beschrieben wurden, sind daher nicht als Techniken, die auf ein festgelegtes Ziel hin angelegt wären, zu beschreiben, sondern letztlich untergraben sie gerade das ›Technische‹ ihrer selbst, sie hebeln einen Teil der Technik aus und überlisten sich selbst. Als Setzung einer Bewegung ›ent-setzen‹ sie diese zugleich,121 sind Ermöglichung und Verunmöglichung, Handlung und NichtHandlung. In ihrer Medialität eröffnen sie Möglichkeiten des interaktiven Handelns, setzen die Körper in Beziehung zueinander und affizieren den Zuschauer. Die Geste bei Forsythe beschreibt das Im-Medium-Sein, innerhalb derer der Körper sich, wie mit Gil und Nancy beschrieben, für den Körper des Anderen öffnen kann und worüber sich auch der Raum in den Handlungen der Tänzer auf die Spannungen zwischen materieller und immaterieller Architektur eröffnet. Der mediale Charakter, in dem die Störungen der Übertragung als Setzung und Entsetzung mitschwingen und in dem die Bewegungen bei Forsythe, aber auch der Inszenierungsstil angelegt sind, soll im folgenden Kapitel näher untersucht werden. 119 |  Ebd. 120 |  Agamben: 1992, S. 100. 121 |  Werner Hamacher: »Afformativ, Streik.«, in: Christiaan Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S. 346-360. Auch wenn Hamacher seine Überlegungen weitgehend am Beispiel der Sprache entfaltet, sind diese doch auch auf die Geste des Tanzes übertragbar.

Kapitel 3 Wolken: Medien der Übertragung flüchtiger Erfahrung. Zu Forsythes Clouds after Cranach und Three Atmospheric Studies 1 Ent-Setzungen: Unterbrechung und Störung 1.1 Intermediale Rahmungen nachträglicher Erfahrung Als ich nach der Aufführung von Forsythes Clouds after Cranach im Festspielhaus Hellerau den Saal verließ,1 nahm ich im Foyer zwei ausgestellte Bilder wahr: »Die Klage unter dem Kreuz« von Lucas Cranach dem Älteren von 1503 (Abb. 3.1) und eine Photographie von Athar Hussain für die Agentur Reuters, mit dem Datum des 15.11.2005 versehen (Abb. 3.2). Mitten im Foyer platziert, konnten die Besucher der Aufführung die Bildtafeln nicht übersehen, zumal sich bald eine rege Diskussion darum entspann. Sie betrachteten diese Konstellation von Bildern unter dem noch frischen Eindruck der Choreographie, welche wiederum von diesen beiden Bildern angeregt war,2 wobei sich die Frage danach stellte, wie sich die Übertragungsbewegungen zwischen den verschiedenen Medien beschreiben lassen konnten. In welcher Weise Forsythe den Bezug zu Cranachs Gemälde und Hussains Photographie, insbesondere aber den Bezug zu den Topoi der Wolken respektive des Atmosphärischen gestaltet, soll am Beispiel der im Folgenden zu beschreibenden, verschiedenen Versionen von Clouds after Cranach und Three Atmo 1 |  Ich beziehe mich hier auf die Aufführung, die ich am 4. April 2009 in Hellerau gesehen habe. Zuvor hatte ich an mehreren weiteren Aufführungen teilgenommen: am 2. und 3. Februar 2006 im Haus der Berliner Festspiele (zugleich die Premiere von Three Atmospheric Studies) sowie am 17. und 18. April 2007 in Dublin. Die Premieren von Teil I und II (Clouds after Cranach) fanden am 26. November 2005 statt, diejenige von Teil III (Study III) bereits am 21. April 2005 – jeweils im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main. 2 |  So William Forsythe während eines Publikumsgesprächs in Dublin, April 2007.

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Entwürfe und Gefüge spheric Studies gezeigt werden. Die Stücke verhandeln die Schwierigkeiten einer mehrfachen Übertragung zwischen verschiedenen Sprachen, zwischen Bildsprache und Körperbewegung, zwischen Dialog und seinem Versagen. Sie sind als Reflexionen über die Art und Weise der Berichterstattung während des zweiten Irak-Krieges und der Afghanistan-Intervention zu lesen, die eine zutiefst beunruhigende Stimmung beförderte. Innerhalb dieser thematisch-politischen Stellungnahme stellt Forsythe die Frage, was als eine verlässliche Quelle gelten kann,3 ob und wie es möglich ist, angemessen über etwas zu reden, was sich der direkten Wahrnehmung und damit auch der Erinnerung entzieht, was über Stimmungen erzeugt und vermittelt wird. Abb. 3.1: Cranach der Ältere: Die Klage unterm Kreuz (1503), Alte Pinakothek München).

Durch die Bilder und Inszenierungen zieht sich das Motiv der Wolke mit unterschiedlichen Akzentuierungen: Sowohl als Topos atmosphärischer Gestimmtheit und Medium der Übertragung semiotischer Codierung als auch als kompositorisches Element, das den Bild-Aufbau stützt, stiftet sie Relationen innerhalb eines komplexen Gefüges. Inwiefern sie dabei im Modus des Atmosphärischen an einer Involvierung des Zuschauers beteiligt ist, inwiefern die Übertragungen zwischen den verschiedenen medialen Ebenen eine Erfahrung der Nachträglichkeit und in den medialen Überlagerungen minimale, kaum wahrnehmbare Nuancen und Differenzen produzieren, ist in der Folge zu zeigen. Dabei ist das ›Wolkige‹ als Modus der Setzung und Ent-Setzung zu verstehen, als eine Form des Im-Medium-Seins, das seine Unterbrechung und Störung



3 | Ebd.

Wolken immer schon mitdenkt.4 Das Wolkige ist nicht mit der Wolke selbst zu verwechseln, es ist ein Mehr, es umgibt Objekte und Körper, es durchdringt sie, es ist zugleich sichtbar und doch nicht fassbar, es ist oben und unten, innen und außen sowie ein ›Zwischen‹, das performativ wirkt. Es gibt eine Struktur vor, die suspendiert bleiben muss, die nicht mehr nur als Performativ, sondern als Formations-Bedingung und als Ent-Setzung gedacht wird,5 die zwischen Struktur und Erfahrung vermittelt.

Abb. 3.2: Photo: Agentur Reuters, © Athar Hussain (15.11.2005).

Im Anschluss an die vorangegangenen Überlegungen zu Decreation als einem Prozess der Ent-Schöpfung wird in diesem Kapitel am Beispiel des Topos der Wolke und des Atmosphärischen der Prozess der Übertragung zwischen verschiedenen medialen Ebenen in den Mittelpunkt gestellt – als Modus des Entwerfens, das sich nicht nur auf der Ebene der Produktion abspielt, sondern diesen Vorgang hineinverlagert in die Prozesse der Wahrnehmung durch den Betrachter. Das Verhältnis von außen und innen als relationale Matrix von Prozessen der Interaktion voraussetzend, soll in diesem Kapitel deren generative Dimension auf das Verhältnis von Kinesphäre und Atmosphäre ausgedehnt und in der gegenseitigen Kommentierung verschiedener medialer Strategien betrachtet werden. Den choreographischen Arbeiten Forsythes soll als Beispiel einer Medienarchitektur die von dem Architektenteam Diller & Scofidio für die EXPO 2000 konstruierte Blur-Wolke gegenübergestellt werden. Als Inszenierung einer alles 4 |  Werner Hamacher: »Afformativ, Streik«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S. 340-370. 5 |  Ebd., S. 345f. sowie S. 360, Fußnote 4.

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Entwürfe und Gefüge durchdringenden Struktur, mittels derer der Erfahrungsraum selbst zum Akteur wird, kann diese ›Wolke‹ als Beleg für eine zunehmend medientechnisch informierte Architektur gelten: »Every Entity in the world is an aggregate of other groups and entities, that indisputably but also inexplicably produce emergent effects of coherence and directedness.«6 Die Unbestimmtheit von Informationen wirkt hier verunsichernd, sie geht über rein informationstheoretische Überlegungen hinaus und strukturiert unseren Umgang mit unserer Umwelt – unsere soziale Realität, die die Welt unseres Wissens und unsere Realität als »irregular, disorderly and unpredictable«7 beschreibt.

1.2 Zwei kurze Bildbeschreibungen Das Cranach-Gemälde zeigt die Klage unter dem Kreuz, es ist um die neunte Stunde, in der Jesus Gott anruft, warum er ihn verlassen habe, in der er stirbt und sich der Himmel mit Wolken verdunkelt.8 Die Körper der drei Gekreuzigten, deren Proportionen – einer stilistischen Verbindung deutscher RenaissanceMalerei und später Gotik entsprechend – in die Länge gezogen sind, rahmen das Bild, auf welchem in der Mitte Maria und Johannes, die Trauernden, zu sehen sind. Die expressive Körperlichkeit, in der die Figuren gestaltet sind, und die Intimität, die durch den nah gerückten Bildausschnitt entsteht, unterstreichen Cranachs humanistisches Menschenbild, innerhalb dessen der Mensch als Maß aller Dinge gilt. Rechts oben hinter dem Kreuze Jesu scheinen die schwarzen Wolken, blau-gräulich durchzogen und mit Spuren von Grün in ein aufhellendes Weiß übergehend, zur Bildmitte hin die Szenerie zu erdrücken und verstärken so die unheilvolle Stimmung. Diese wird jedoch von einem goldenen Licht gebrochen, das sich wie eine Aura um die Christusfigur ausbreitet. Das Gemälde zeigt zwar nur eine der zwölf Stationen der Kreuzigungsgeschichte, doch bereits in diesem einen Bild werden verschiedene Zeitebenen deutlich: Nicht nur verweist es auf die vorangegangene Kreuzigung; das Licht, das sich von der Mitte her ausbreitet, mag bereits auf die Auferstehung hinweisen. Die Dynamik der Wolken symbolisiert aber auch die emotionale Bewegtheit der Trauernden, deren Figuren ansonsten eher statisch gehalten sind und deren innere Bewegtheit nur in den Parerga – den Wolken und dem korrespondierenden Faltenwurf des Tuches, das Jesus um die Lenden gewickelt ist, sowie im Umhang des Johannes – ablesbar wird. Die Bewegungen der Gewänder und die 6 |  Sanford Kwinter: »Clouds«, in: ders.: Requiem for the City at the End of the Millennium, New York (NY)/Barcelona: Actar, 2010, S. 70-75, hier S. 73. 7 |  Ebd. 8 |  Vgl.: Matthäus 27,45; Lukas 23, 44; Markus 15, 33; hier Johannes 19, 26: »Um die sechste bis zur neunten Stunde brach eine Finsternis über das ganze Land herein«, in: Die Bibel. Altes und Neues Testament, Freiburg im Breisgau: Herder, 1980.

Wolken Unbewegtheit der Körper spielen ineinander und erzeugen über die Dynamik und Spannung in der Farbigkeit und in den Diagonalen jenseits des Bildinhalts eine Lebendigkeit und Spannung, welche die Bildkomposition erzeugt und zusammenhält. Im Gegensatz zur Spannung zwischen den bewegten Wolken und der Stasis der Figuren auf dem Cranach-Gemälde wird in der Schwarz-Weiß-Photographie die Bewegung der Figuren gezeigt: In der Bildmitte wird ein Toter oder Verletzter von Männern in Uniform weggetragen – ob es sich dabei um irakische oder pakistanische Soldaten oder um Uno-Truppen handelt, kann nicht eindeutig bestimmt werden, auch wenn der Zeitpunkt der Datierung der Photographie und der ersten Aufführungen darauf hindeuten, dass die Bezugnahme auf den Krieg im Irak gemeint ist. Die vier Männer laufen direkt auf den Photographen bzw. den Betrachter zu; rechts im Hintergrund brennt ein Auto – die Trümmer der anscheinend vorangegangenen Explosion liegen überall verstreut und aus dem brennenden Wrack steigen Rauchwolken auf. Man vermutet einen der damals (zur Zeit des Irak- und Afghanistan-Kriegs) täglich in den Nachrichten zu sehenden Anschläge oder Angriffe mit unheilvollem Ausgang. Die Stimmung des Schreckens nach dem Unfall ist noch nicht der Trauer gewichen, wie auf dem Cranach-Gemälde. Es handelt sich um einen Bildausschnitt eines weiteren Geschehens in actu, der keine malerische Kontemplation erlaubt. Kein erklärendes Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheint auf, dass sich im Bild andeuten würde, eher ist ein Moment der Stauung zu konstatieren. Stattdessen scheint das chaotische Durcheinander, die Verstörung spürbar, über deren genauen Ursprung jedoch nur nachträglich zu mutmaßen ist, und die auf den ersten Blick jedweden Versuch der übersetzenden Mutmaßung über das Geschehene fragwürdig erscheinen lässt. Beide Bilder verweisen auf die Inszenierung und versuchen eine Darstellung des Unfassbaren  – das eine in der wahrscheinlich digital übermittelten ›Unmittelbarkeit‹ des Augenblicks der photographischen Aufnahme, die eher dokumentarischen Charakter hat, das andere in der malerisch bearbeiteten und kompositorisch gefassten, nachträglichen Klage einer im kulturellen Rahmen eingebetteten Heilsgeschichte. Die Wolken sind – sowohl bei Cranach als auch in der Photgraphie – zentrales Bildmotiv und Agens dieses Übertragungs-Prozesses: Können die Rauchwolken auf der Photographie als Index des soeben vergangenen Unfalls oder Anschlags gelesen werden, so greifen bei Cranach die Turbulenzen der Wolkenformationen über die symbolische Bildbedeutung hinaus als kompositorisches Element der Unruhe in die Bildkomposition ein. Ist auf dem Gemälde die Klage noch kompositorisch geordnet und beschreibt so die Einbindung der Katastrophe ins göttliche Ganze, scheint dieses Verhältnis in der Photographie gestört: Hier erhält der Unfall oder Anschlag keine normative Einbindung oder nachträglichen Sinn.

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Entwürfe und Gefüge In der Nebeneinanderstellung dieser beiden so unterschiedlichen Bilder – einem Gemälde des frühen 16. und einer Photographie des frühen 21. Jahrhunderts, eines einerseits christlich-religiösen, andererseits politischen Kontextes – drängt sich die Frage auf, wie allein durch meine nachträgliche Reflexion des Materials und durch die konstituierende Tätigkeit der Bildbeschreibung, durch meine Wortwahl, wie z.B. den Begriff der ›Stimmung‹ oder des ›Scheinens‹, das Gesehene neu überformt wird und in den Bereich des Vagen, Unbestimmten gerät. Doch entstehen erst in diesem Akt des Vergleichens Ähnlichkeiten und Unterscheidungen, die wiederum einen Bezug zur Choreographie eröffnen. Inwieweit also wird durch die vielfachen intermedialen Bezüge, die sich in diesem Prozess entfalten, das Wahrzunehmende erst hergestellt? Inwiefern kann diese nachträglich versetzte Art des In-Beziehung-Setzens als Modus des Entwerfens gelten, an dem der Wahrnehmende entscheidend Anteil hat? Welchen Bezug zu den Bildern entwickelt die choreographische Komposition, handelt es sich doch auch hier wieder um die Darstellung von Zuständen, deren Bezug sich auf den ersten Blick (während der Aufführung selbst) nur ansatzweise erschließt. Zu fragen ist, ob dieses ›Zwischen‹ vielleicht selbst im Akt des Erzeugens von minimalen Abständen besteht und darin, Unterschiede als unmarkierten Rest zu (re-)produzieren.

1.3 Wolken: Bildtraditionen, Medienkonstellationen und Wahrnehmungsmodelle Das Motiv der Wolke verbindet das Cranach-Gemälde mit der Photographie wie auch mit der Inszenierung. Doch ob sie als »schwebend, sichtbares Ding«, dessen »Form und Zusammenhang lose, flüchtig, wandelbar« ist, zu betrachten oder vielmehr der Aspekt des Gestaltlosen, Diffusen hervorzuheben ist, ob sie als transparentes oder opakes, starkes oder schwaches Medium wirkt, entscheidet jeweils der Kontext.9 In der jüdisch-christlichen Tradition gilt die Wolke als Chiffre für das Abwesende und das Undarstellbare, Göttliche, als Signatur eines unsichtbaren Erscheinens. Als Zeichen gedeutet überlagern sich im Topos der Wolken verschiedene Ebenen des Medialen, Effekte und Erfahrungsdimensionen, auf die im Laufe des Kapitels genauer einzugehen sein wird: Denn nicht nur kann die Wolke als Symbol des Göttlichen oder Transzendenten gelesen werden, sie ist auch Mittel und Sinnbild der Kommunikation und fungiert als Ort der Erscheinung anderer Kräfte. Im Spiel dieser Kräfte, meteorologische Strömungen und Turbulenzen, entfaltet sie als flüchtige Formation des Atmosphärischen ihr Spiel

9 |  Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): Wolken, Archiv für Mediengeschichte 5, Weimar: Verlag der Bauhaus-Univ., 2005.

Wolken gerade in jenem ›Zwischen‹, das auf je bestimmte Art und Weise sich ereignet und damit erst in Erscheinung tritt. An dieser Grenze zwischen ihrem symbolischem und ihrem kommunikativen Potential steht die Wolke auch in enger Korrespondenz zum Begriff der Aura: So ist das lateinische Wort nimbus denotiert mit »Wolke, Gewölk, das von einer Licht- oder Nebelhülle Umgebene, oder die Erscheinung«.10 Diese Bedeutungen verweisen auf etwas Geistiges oder auf die Substanz, die das Heilige oder die Erscheinung wie ein Fluidum umhüllt, das wiederum durch seine Aureole sichtbar (gemacht) wird, und so wird die Unnahbarkeit, Originalität und Herausgehobenheit des Gegenstands signalisiert. Die Wolke markiert einen prekären Übergang von Ding und Nichtding. Als das nur flüchtig Erfahrbare, das dem Tanz vergleichbar stets seine Form und Gestalt wechselt, regt sie ihre imaginative Ergänzung durch die Rezipienten an. Als Symbol göttlicher Vermittlung einerseits und dynamisierendes, kompositorisches Element andererseits, genauer: ein Element, das den Bildaufbau stützt, indem es die perspektivische Ordnung abschließt und zugleich aufbricht,11 ist die Wolke zudem stets in einem spezifischen Sinnzusammenhang zu verorten und dementsprechend nur zu deuten. So ist sie auf dem Gemälde Cranachs wesentlich an der Organisation des Bildraumes beteiligt, schafft interpretierbare Verbindungen zwischen dem Himmel und den Menschen sowie ihren Gewändern und der Landschaft. Auf der Photographie ist der Nimbus des Göttlichen verschwunden und damit diese Verbindung getilgt. Die Wolke zeigt etwas an, ohne dieses Etwas selbst sichtbar werden zu lassen. Die Inszenierungen der Wolken spielen mit diesem Sich-Entziehenden, sie involvieren den Betrachter über das komplexe Zusammenspiel von Licht, Klang und Bewegung und sind so zugleich maßgeblich an der Generierung einer Atmosphäre beteiligt.

10 |  Vgl. den Eintrag »Aura« von Peter M. Spangenberg, in: Karl-Heinz Barck/ Martin Fontius/Dieter Schlenstedt (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart: Metzler, 2000, S. 400-416. 11 |  Werner Busch weist darauf hin, dass die Darstellung der Wolken, auch wenn sie klassischerweise nur als Parerga – als »protestantisches Beiwerk«, nicht als erhabener Gegenstand – fungierten, eher dem Studium der Natur diente, wonach der Künstler sich eine Fähigkeit zur Vergegenständlichung im Sinne einer Wirkungsästhetik schaffen sollte; siehe Werner Busch: »Die Wolken: protestantisch und abstrakt. Theoretische und praktische Empfehlungen zum Himmelmalen«, in: Wolkenbilder. Die Entdeckung des Himmels, Ausstellungskatalog, hg. v. Bärbel Hedinger/Inés Richter-Musso/Ortrud Westheider, München: Hirmer, 2004, S. 24-31, hier S. 24; vgl. auch: Hubert Damisch: Théorie du nuâge. Pour une histoire de la peinture, Paris: Éd. du Seuil, 1972.

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Entwürfe und Gefüge Auch die Blur-Wolke über dem Schweizer See schafft einen Raum, der an der intensiven Involvierung des Zuschauers arbeitet. Jene soll im Folgenden herangezogen werden, um bestimmte Korrespondenzen zu verdeutlichen: Die Architekten Elizabeth Diller und Riccardo Scofidio sowie Charles Renfro haben mit ihrem Entwurf des Blur-Building für die EXPO 2002 in Yverdon-les-Bains (15. Mai–20. Oktober) am Ufer des Neuenburger Sees ein paradigmatisches Beispiel einer Architektur des Atmosphärischen geschaffen (Abb.3.3).12 Es handelte sich dabei um eine Leichtmetallkonstruktion (100 Meter lang, 60 Meter breit, 12 Meter hoch), aus deren Gestänge aus 12.000 Düsen mit Hochdruck Seewasser gesprüht wurde, das zu mikrofeinen Tröpfchen zerstob und so einen steten Nebel- bzw. Wolkeneffekt erzeugte. Je nach Wetterlage (Hoch- bzw. Tiefdruck) und nach den Strömungen des Windes nahm die ›Wolke‹, wie sie umgangssprachlich genannt wurde, eine jeweils andere Gestalt an.

Abb. 3.3: Diller & Scofidio: Blur-Building, EXPO 2002, Yverdon-les-Bains.

Die Besucher waren eingeladen, im ›Inneren‹ des Nebelraumes, das über einen Steg zu erreichen war, die Erfahrung des Diffusen, der Unsicherheit und Desorientierung zu erkunden.13 Eine Klanginstallation unterstrich die atmosphärische Gestimmtheit des Raumes. Ebenso befand sich hier eine Bar, an der aus vielen verschiedenen Sorten Mineralwasser gewählt werden konnte, was die ›Stimmung‹ in gewisser Weise brach und den Ausstellungscharakter eines 12 |  Vgl. dazu: Bernadette Fülscher: Gebaute Bilder – Künstliche Welten. Szenografie und Inszenierung an der Expo.02, Baden: Hier + Jetzt, 2009. 13 |  Der Vorschlag, den Pavillon längerfristig zu erhalten, da er so großen Anklang auch bei der Schweizer Bevölkerung gefunden hatte, wurde abgelehnt: Am 27. Mai 2007 wurde das Stahlgerüst gesprengt.

Wolken solchen Projektes im Rahmen einer Weltausstellung und ihren repräsentativen und ökonomischen Zielsetzungen hervorhob. Interaktive Regenmäntel, sogenannte brain coats, die den Besuchern beim Eintritt ausgehändigt wurden und die mittels einer speziellen Sensor-Technologie farblich leuchtend aufeinander reagierten, sollten nicht nur vor der Feuchtigkeit schützen, sondern eine besondere Art der Kommunikation zwischen den einzelnen Besuchern anregen.14 Auch diese Wolke wurde im Wesentlichen nicht nur durch die aisthetische Erfahrung des Nebelraumes, sondern vor allem in ihrer Inszeniertheit und medialen Vermittlung rezipiert, sie wurde zum vielzitierten Beispiel einer Spektakelarchitektur, die sich im Wesentlichen durch ihren Bildcharakter bestimmt. Die Anmutung der Leichtigkeit verband sich mit der ephemeren Formation, deren mikrofeine Tröpfchen das Licht reflektierten und streuten, sodass je nach Dichte Halos, Regenbögen, Koronen erschienen, die auch dieser Wolke den Schein einer geheimnisvollen, ephemeren Erscheinung verliehen. Der Raum »ohne innen und außen«, der »optisch nicht durchquert werden konnte«,15 wurde zu einem Akteur, der die Zuschauer umhüllte und gleichzeitig eine auratische Bildkraft entwickelte. Das Schweben als Eigenschaft, die sich aus der spezifischen (meteorologischen) Beziehung zwischen Masse, Dichte, Gravität etc. ergibt, und die Erfahrungen in der Wolke ließen eine eigentümliche Spannung entstehen: Während Leichtigkeit in der Architektur seit der Entwicklung der Leichtbaustrukturen in modernistischer Dematerialisierungsemphase als Transparenz vermittelt wurde,16 wird hier durch die Vernebelung und die scheinbare Auflösung des Raumes der Akzent verschoben und eine Neubestimmung von Stasis und Dynamik vorgenommen, die das Verhältnis von Gravität und Grund re-definiert.17 Die Erfahrungen der Desorientierung, welche der Besucher im Inneren macht, werfen ihn auf seine eigenen kinästhetischen Empfindungen zurück. Wie diese Erfahrung genauer gefasst werden und ob eine ›Rückkehr zum Phänomenologischen‹ diese Erfahrungsräume hinreichend 14 |  Philip Ursprung: »Weißes Rauschen. Zur räumlichen Logik der EventArchitektur«, in: Regina Bittner (Hg.): Die Stadt als Event. Zur Konstruktion urbaner Erlebnisräume, Frankfurt am Main: Edition Bauhaus, 2002, S. 213-223. 15 |  Ebd., S. 216. 16 |  Die Leichtbaustrukturen erlaubten es, die tragende Struktur und die Fassade voneinander zu trennen, womit es möglich wurde, die Fassade von jeglicher tragenden Funktion zu befreien und eine lediglich dekorative ›verkleidende‹ Funktion zu übernehmen. Damit wurden später auch die ersten Komplettverglasungen möglich. Welche repräsentativen und konnotativen Implikationen damit einhergingen, beschreiben die diversen Beiträge im Sammelband von Todd Gannon (Hg.): The Light Construction Reader, New York (NY): Monacelli Press, 2002. 17 |  John Rajchman: »Lightness«, in: ders.: Constructions, Cambridge (MA): MIT Press, 1998, S. 37-54.

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Entwürfe und Gefüge beschreiben kann, sei hier vorerst dahingestellt, diese Frage wird in Kapitel 3.6. wieder aufgenommen und erörtert werden. Dem Gemälde und der Photographie sowie den Inszenierungen und der Architektur eignet in der Darstellung der Wolken und der damit verbundenen Inszenierung des Atmophärischen eine Spannung, die zwischen Zeigen und Verbergen oszilliert, die einerseits etwas erscheinen lässt, es andererseits jedoch vernebelt und verschwinden lässt. Sie entwerfen damit über die Verflechtungen verschiedener medialer Ebenen ein typisch theatrales Szenario, wie es im Laufe des Kapitels noch genauer betrachtet werden soll. Die Theatralität der WolkenBilder und des Atmosphärischen – in der Inszenierung, den Bildern und der Architektur – kann etwa im Rahmen von Michael Frieds Analyse zu Absorption and Theatricality betrachtet werden.18 Fried definiert darin Theatralität als Paradox des Betrachters, das besagt, dass die »Anwesenheit des Betrachters im Bild geleugnet und doch zugleich vorausgesetzt ist«.19 Der Betrachter wird als »teilnehmend teilnahmslos« beschrieben20 und zum performativen Element der Inszenierung, das sich u.a. eben in der relationalen Herstellung des Atmosphärischen, das als Gefüge verschiedener medialer Ebenen funktioniert, spiegelt. Die scheinbar ›unmittelbare‹ physische Präsenz und die virtualisierenden Effekte, welche sich durch die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen medialen Ebenen ergeben, lassen die ›Bühne‹ als einen Ort erscheinen, der sich in einem stetigen Prozess andauernd selbst hervorbringt.21

18 |  Seine Grundthesen zur Ablehnung des Theatralen entwickelt Michael Fried bereits in Art and Objecthood (1967, s.u.), dehnt sie aber in Absorption and Theatricality (1980) auf die gesamte Moderne aus. Der Vorwurf der Theatralität zielt auf die bloße konkrete Gegenwart des minimalistischen Objekts, das primär phänomenologisch wahrgenommen wird und nicht die Aufhebung der Objekthaftigkeit durch Form in Angriff nimmt. Versunkenheit (absorption) gilt Fried als der positive Gegenpol; vgl. Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley (CA)/Los Angeles (CA): Univ. of California Press, 1980. Vgl. dazu: Gabriele Brandstetter: »Figuration der Unschärfe. Der (un)beteiligte Betrachter«, in: Texte zur Kunst 58, BetrachterInnen, Juni 2005, S. 74-79. 19 |  Ebd., S. 79 20 |  Ebd. 21 |  Vgl. Samuel Weber: Theatricality as Medium, New York (NY): Fordham Univ. Press, 2004.

Wolken

2 Übertragungen und Überlagerungen: Nachträglichkeit und Verschiebung Clouds after Cranach: Mit dem Titel der choreographischen Arbeit bezieht sich Forsythe direkt auf das Gemälde. Somit ist zu erörtern, wie das präpositionale »after« des Stücktitels in den Blick zu nehmen ist, das sowohl eine inhaltliche als auch zeitliche Bezugnahme markiert, im modalen Sinn der Aneignung und im temporalen Sinn, der einen Zwischenraum von Vorher und Nachher etabliert, Differenzen sichtbar macht und nach den Modi der Übertragung zwischen den verschiedenen Bildebenen – dem Gemälde, der Photographie, der Inszenierung, dem Bewegungsstil – fragen lässt. Die nachträgliche Rahmung und Sinnverschiebung durch die Betrachtung der Bilder schafft neben den intermedialen Bezügen innerhalb der Aufführung selbst eine weitere Überlagerung der Perspektiven: Verschieden interpretierbare Referenzen werden zeitlich und räumlich zueinander in Bezug gesetzt. Die Ausstellung der Bilder produziert eine nachträgliche Erfahrung, mittels derer das zuvor Gesehene und Gehörte – und sich bereits Entziehende – noch einmal anders grundiert werden kann und mittels derer auch meine Gedächtnisleistung durch die bereits einsetzende Neu-Kontextualisierung und Re-Kombination der einzelnen Elemente eine weitere Verschiebung erfährt. Es ist somit der Frage nachzugehen, wie bestimmte Prädispositionen einer möglichen ästhetischen Erfahrung verstärkt oder verändert werden. Denn in den Überlagerungen unterschiedlicher medialer Ebenen und ihrer Erfahrungen in der Inszenierung selbst tritt nicht nur ein einzelner, spezifischer Aspekt hervor, sondern ich nehme Verhältnisse wahr, die entweder in der synästhetischen Entsprechung oder gerade in den Differenzen und Brüchen zwischen Licht, Klang, Bewegung und Raumorganisation sich zeigen. Die Situation nachträglicher Erfahrung und der dazugehörigen Brüche in der Wahrnehmung, die der flüchtigen Kunst des Tanzes ohnehin eigen sind, wird hier durch eine zusätzlich geschaffene Ebene gesteigert, wobei die Uneindeutigkeit der zueinander in Bezug zu setzenden Bilder und Szenen meine Einbildungskraft aktiviert. Insofern verbindet sich diese Erfahrung der Nachträglichkeit konstitutiv mit der Frage nach einer Erfahrung flüchtiger Bilder. Was macht die choreographischen Bilder trotz oder gerade aufgrund ihrer Flüchtigkeit so einprägsam? Mit welchem Bildbegriff kann hier operiert werden – entzieht sich das Erscheinende doch sogleich dem überprüfenden Blick und wird durch neue Eindrücke überlagert und neu kontextualisiert. Wie wird die Wechselwirkung zwischen Rezipient und Kunstwerk, Sichtbarkeit und Wirkung in Szene gesetzt? Und wie wird darüber eine Stimmung inszeniert, die die Rezeption grundlegend in bestimmte Richtungen lenkt? Um diese Wechselwirkung zu bestimmen, soll noch einmal auf vorangegangene Überlegungen zurückgegriffen werden.

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Entwürfe und Gefüge Wenn, wie im Kapitel zu Decreation beschrieben, die Tänzer mit Mitteln der imaginativen Relationierung den Körper als Medium der Transformation nutzen, um raumzeitliche Gefüge zu aktivieren, soll hier darauf Bezug genommen werden, wie die Konzeption der Kinesphäre gerade in ihrer Relation zur Atmosphäre an diesem Prozess beteiligt ist. Wie können die Fähigkeit, die Kinesphäre imaginativ zu mobilisieren (Kapitel 2), oder die Veränderung der räumlichen Konstellationen durch die Qualitäten der Dynamosphäre (Laban) die Atmosphäre beeinflussen? Wie haben diese teil an der Affizierung des Betrachters? Welche Korrespondenzen ergeben sich zwischen einer Konzeption des auratischen Umhüllt-Seins, wie es Labans Konzept der Kinesphäre noch beschreibt, der Ausgedehntheit des Körpers, wie sie bei Forsythe, Gil und Nancy gedacht wird, und dem rezeptionsseitigen Eintauchen in einen atmosphärischen (Bild-) Raum? Die Sensibilisierung der Tänzer für das, was sich in kaum wahrnehmbaren Intervallen bzw. den oft nicht greifbaren Zwischenräumen ereignet und sich als topologische Figur in Beziehungen der Nachbarschaft entfaltet, trägt in der choreographischen Arbeit ebenso entscheidend zu einer Gestimmtheit des Raumes bei wie die Licht- oder Klang-Technik. Die Idee, jene (scheinbare) ›Durchlässigkeit‹ der Tänzerkörper als medial verfasst und mithin transformatorisch zu begreifen, zielt darauf, den Körper als Instrument der Weiterverarbeitung von Impulsen zu trainieren und vor allem auch die Störungen innerhalb dieser kontingenten Prozesse der Übertragung als produktiv im Sinne der Inklusion von Momenten nicht-intentionaler Bewegung zu interpretieren. Kontingenz – aufseiten der Produktion – und Desorientierung – aufseiten der Rezeption – werden so zu Momenten, die den Prozess des Entwerfens vorantreiben und in unerwartete Richtungen lenken. Die eigentliche Arbeit der Tänzerinnen und Tänzer liegt darin, auf diese spontanen Richtungsänderungen adäquat zu reagieren. Für den Rezipienten werden in der Überlagerung verschiedener medialer Effekte die Desorientierung und der Umgang damit zu einer wesentlichen Kategorie der atmosphärischen Gestimmtheit des Raumes. Die Atmosphäre, die jenen Raum und die Situation der Erfahrung bestimmt, erscheint nach diesen Überlegungen nicht nur als eine Sache der leiblichen Anwesenheit, sondern darüber hinaus vor allem medial verfasst und markiert in den synästhetischen Übertragungen ein Feld zahlreicher, oft minimaler Transformationen.22 Damit ist Atmosphäre nicht nur ein präsenzsteigernder Effekt, sondern etwas, das sich aufgrund ihrer medialen Vermitteltheit gerade auch im 22 |  Dabei stütze ich mich auf die Arbeiten von Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin: Theater der Zeit, 2007; und Ilka Becker: »›Become what you are!‹ Ästhetisierungsdruck und Atmosphären in der visuellen Kultur der Gegenwart«, Vortrag auf der 3. Internationalen Graduierten-Konferenz »Verkörperte Differenzen«, Universität

Wolken Entzug oder in der Nachträglichkeit zeigt. Ästhetische Erfahrung ereignet sich somit stets im Oszillieren zwischen Distanz und Involviertheit. Wo in der theatralen Anordnung von Clouds after Cranach/Three Atmospheric Studies trotz der starken Momente der Desorientierung und Involvierung des Betrachters doch die Distanznahme erlaubt wird,23 wo es um Momente des Entzugs und der Verschiebung geht, scheint die präsenzschaffende Atmosphäre des Architektonischen bei Blur nicht auf die nachträgliche Erfahrungsarbeit, sondern auf die Inszenierung des Augenblicks hin angelegt, wobei allerdings Momente der Fiktionalisierung ins Spiel geraten, die die ästhetische Erfahrung zeitlich ausdehnen. Es soll daher in der Folge untersucht werden, inwiefern ein In-Szene-Setzen des Ephemeren die Erzeugung von Präsenzeffekten um eine Erfahrung der Nachträglichkeit, der steten Verschiebung erweitert – und ob sie den Betrachter immersiv umhüllt oder seine Aufmerksamkeit für die minimalen Verschiebungen und Differenzen herausfordert. Die Involvierung des Betrachters gestaltet sich, sowohl in den Choreographien Forsythes als auch in der Architektur Dillers & Scofidios, nicht nur im Eintauchen in einen (Bild-)Raum,24 sondern bedient sich insbesondere haptischer, akustischer und gar olfaktorischer Reize, in deren Wahrnehmung und Unterscheidung der Rezipient gewöhnlich weniger geübt ist, und die ihn deshalb ›unmittelbarer‹ zu treffen vermögen. Dies in Betracht ziehend, soll hier nicht, wie in Kapitel 2 die Körpertechnik, sondern stärker das Ineinanderwirken verschiedener medialer Ebenen in seiner synästhetischen Dimension einerseits und in den diastatischen Momenten andererseits betrachtet werden.

3 Three Atmospheric Studies: Zwischen Disparatheit und Verdichtung 3.1 Zu den verschiedenen Versionen der Inszenierungen Wie zu fast allen Arbeiten entwickelt Forsythe bei deren Wiederaufnahmen entsprechend dem Aufführungsort, der Theaterarchitektur und den zu vermutenden Publikumsreaktionen neue Varianten eines Stückes, stellt jeweils andere

Wien, April 2003, unter http://www.univie.ac.at/graduiertenkonferenzen-culturalstudies/3_konferenz/becker_vortrag.pdf (letzter Zugriff: 28.08.2018). 23 |  Dies geschieht insbesondere in Three Atmospheric Studies auch aufgrund der von der Guckkastenbühne gegebenen räumlichen Konstellation. 24 |  Vgl. hierzu Laura Bieger: Ästhetik der Immersion, Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City, Bielefeld: transcript, 2007, S. 9-20.

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Entwürfe und Gefüge Aspekte heraus.25 Besonders extrem fällt dies bei Three Atmospheric Studies und Clouds after Cranach auf, die sich nach und nach aus demselben Material entwickelt haben, wobei neue Sequenzen, die später als »composition one, two, three, four and five« bezeichnet werden, hinzugefügt oder andere weggelassen wurden. Entsprechend der verschiedenen Aufführungsorte wurden für die kleineren Theaterräume, in denen die Zuschauer weniger zahlreich, dafür aber näher am Geschehen waren, und in der die Tänzer direkten Augenkontakt zu ihnen aufnehmen konnten, andere Versionen entwickelt als für die großen Theatersäle mit traditioneller Guckkastenbühne. Clouds after Cranach wurde vor allem in den Räumen für ein kleineres Publikum aufgeführt. Diese intimeren Situationen wurden in nochmals differierenden Variationen aufgeführt. Die Arbeit für den größeren Raum, in dem das Publikum von der Bühne aus eher als Masse wahrgenommen wurde und auch die Zuschauer selbst nicht so nah am Geschehen waren, bildete den Ausgangspunkt für die Uraufführung von Three Atmospheric Studies im November 2005. Der nicht schriftlich fixierte Text des zweiten Teils beruht auf einem improvisierten Gespräch, das aus festgelegten Bildern und narrativen Elementen entwickelt wurde. Der erste Teil hängt stark von der Distanz zwischen Publikum und Performern ab, den Entfernungen zwischen den Tänzern und der Aufmerksamkeit der Zuschauer. So beschreibt Elizabeth Waterhouse, wie viel schwerer es beispielsweise war, vor einem zerstreuten, unaufmerksamen Publikum die freeze frames in ihrer notwendigen Präzision auszuführen.26 Geschwindigkeit und die Abstimmungen der Tänzer untereinander mussten entsprechend der Größe der Bühne angepasst werden. Sie waren vor allem dann wichtig, je weiter das Publikum vom Geschehen entfernt war.27 So werden die Konstellationen zwischen Publikum und Performern je nach Aufführung neu bedacht und konfiguriert und spielen eine entscheidende Rolle in der Erfahrung von Räumlichkeit, da die atmosphärische Qualität sich gerade in jenen Zwischentönen, dem im ersten Moment Unbestimmbaren, ergibt. Die eingangs aufgestellte These, dass Atmosphäre sich nicht über eine einzelne 25 |  Vgl. dazu Elizabeth Waterhouse: »Dancing Admidst The Forsythe Company. Space Enactment and Living Repertory«, in: Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias. Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin: Alexander Verlag, 2010, S.  153181, hier S. 172. 26 |  Elizabeth Waterhouse im Gespräch in Hellerau. 27 |  Teil 1 und 2 wurden 2006 im Bockenheimer Depot unter dem Titel Clouds after Cranach aufgeführt. Für diese Produktion wurden zwei sich gegenüber liegende Bühnen errichtet, ein zahlenmäßig eher begrenztes Publikum von etwa 75 Zuschauern wurde in der Mitte platziert. Diese Version wurde im April 2009 in Hellerau wieder aufgenommen.

Wolken Qualität, z.B. des Lichts herstellt, sondern in den flüchtigen Übertragungen zwischen den verschiedenen Ebenen – Licht, Klang, Räumlichkeit, Bewegung – synästhetisch erst wahrnehmbar wird, lässt sich hier an einzelnen Szenen überprüfen. Wie viele der früheren, größeren Forsythe’schen Stücke sind auch Three Atmospheric Studies/Clouds after Cranach durch eine fast klassische dramaturgische Struktur dreiaktig aufgebaut,28 wobei der mittlere Teil sich am stärksten durch die Vielgestaltigkeit theatraler Mittel – durch die Dialogstruktur, das Narrative, Kostüm und Requisite auszeichnet. In der Berliner Version von Three Atmospheric Studies geht dem mittleren Dialogteil ein erster Teil voraus, der sich durch atmosphärische Lichtwechsel sowie durch die besondere Gestimmtheit der Klanggestaltung auszeichnet und so einen Raum schafft, der jenseits der Wahrnehmung der tänzerischen Bewegung sich vor allem durch die Choreographie des Bühnenraums zum Erscheinen bringt. Erst in den verschiedenen Modi der Raumgestaltung durch Licht, Klang, Bewegung und in der Blickführung des Zuschauers wird ein Möglichkeitsraum potentieller Relationen geschaffen.

3.2 Three Atmospheric Studies (Version Berlin 2006, erster Teil) Referenzen an die Thematik der Wolken und das Atmosphärische – als »von Kräften, Energien und Bewegungen durchwirkt«29 – prägen auch die verschiedenen Ebenen der Choreographie: Zu sehen ist ein mit unterschiedlich farbigen Neonröhren hellgrau-blau durchleuchteter Bühnenraum; die Lichtchoreographien von Spencer Finch inszenieren subtile Wechsel, die den Stimmungen des Tageslichts ähneln, ab und zu wirkt es, als würde sich eine Wolke über den Bühnenhimmel schieben und ihn verdunkeln. Der Raum wird jedoch gleichermaßen auch durch einen besonderen Klang gestimmt, dessen ruhiger Verlauf nur selten durch schroffere Geräuschcollagen von David Morrow unterbrochen wird.30 Nach und nach entsteht der Eindruck, als ob sich etwas vom Heiteren 28 |  Es ist jedoch zu betonen, dass die erste Aufführung von Three Atmospheric Studies gerade mit dem Fehlen des 3. Teils spielt; vgl. dazu Brandstetter: 2005. In der Dubliner Aufführung von Three Atmospheric Studies wurde hingegen der erste Teil durch einen Abschnitt, der eher den Szenen aus Clouds after Cranach ähnelte, ersetzt und die Übersetzungsszene eingefügt. Die Aufführung entsprach somit trotz des Titels und bis auf die Distanz des Publikums im klassischen Theaterbau eher der Hellerauer Aufführung von Clouds after Cranach. 29 |  Gerald Siegmund: »Three Atmospheric Studies«, in: ballettanz, Juni 2005, S. 8-11, hier S. 10. 30 |  Während in seinen frühen Stücken Forsythe oft mit Thom Willems als Komponist zusammenarbeitete, bestimmte die Kooperation mit David Morrow die hier angeführten Choreographien wesentlich.

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Entwürfe und Gefüge zum Bedrohlichen aufbaut, das aber nicht recht fassbar wird: An die Rückwand projizierte Satzfetzen wie »resembling dawn«, »as if shortly afterwards«, »something like a wilderness over there« oder auch »an explosion too distant to be heard« lassen an das denken, was noch außerhalb dieses merkwürdig steril anmutenden Raumes liegt; sie regen die Imagination des Zuschauers an und erst in dieser gemeinsamen Bewegung wird eine atmosphärische Gestimmtheit geschaffen. Die Blicke der Tänzer nach oben wiederholen sich immer öfter, als würde dort ein unbestimmtes Unheil lauern. Die Bewegungsfolgen – meist in Duetten – sind nur durch periphere Berührungen angelegt, Bewegungsimpulse scheinen über die Entfernung hinweg zu entstehen, als würden sie sich über das atmosphärische ›Zwischen‹ übertragen. Schnellere Lichtwechsel vom Black zu einer Neonbeleuchtung simulieren ein Wetterleuchten, sie erzeugen Nachbilder auf der Netzhaut und tragen zu einer Wahrnehmung bei, die nur in den Intervallen der Beleuchtung kurz aufblitzt und das eigentliche Bild in der Nachträglichkeit erst entstehen lässt. Die Differenz innerer und äußerer Sensationen lässt eine ganzheitliche Wahrnehmung zusammenbrechen, das Auge selbst wird zum Erzeuger ephemerer Bildphänomene, wirft mich auf mein eigenes Sehen zurück.

Abb. 3.4: William Forsythe: Three Atmospheric Studies, 1. Teil, © Spencer Finch.

Zwar wird mir ein Raum präsentiert, der durch die beschriebenen Mittel der atmosphärischen Stimmungserzeugung und die meiner eigenen Imaginationsleistung erst erscheint, jedoch ›versinke‹ ich zu keinem Augenblick in dieser Situation. Im Gegenteil versetzt die ständig wechselnde Stimmung mich in

Wolken einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit für die Verbindungen, die sich zwischen den Tänzern und über den Raum hinweg ergeben. Die bereits zuvor genauer beschriebene Fähigkeit der Tänzer, durch ein trainiertes cueing-System Verabredungen auch auf größere Entfernung präzise abzustimmen,31 macht jene raumzeitlichen Intervalle, die gewöhnlich nicht als solche wahrnehmbar wären, spürbar; es sind insbesondere jene scheinbar ›immateriellen Verbindungen‹, die nicht nur zwischen den Tänzern Signale übermitteln, sondern deren ›Schwingungen‹ sich auch auf den Zuschauer übertragen und ihn auf besondere Art und Weise auch körperlich affizieren. So vermitteln die Sensationen einerseits Eindrücke des Wirklichen, dessen, was auf der Bühne geschieht, und sind zugleich Empfindungen im Subjekt selbst. Als »Empfindungsblock«, der ein chiasmatisches Gefüge beschreibt,32 sind sie weder dem Außen noch dem Innen zuzuordnen, sondern sie konstituieren ein Drittes, stets im Werden Begriffenes. Dieser bei Deleuze/Guattari beschriebene ›Empfindungsblock‹ kann als Sinnbild für die oft nur mikroskopisch wahrnehmbaren Übertragungen zwischen den Tänzern, zwischen Licht und Klang, zwischen Bewegung und Klang, Phänomene also, welche das Atmosphärische ausmachen, verstanden werden.33 Denn jene Erfahrungen übermitteln sich nicht nur durch einen akustischen, einen visuellen und schließlich auch durch einen kinästhetischen Sinn (der – individuell – jeweils mehr oder weniger ausgebildet ist). Diese Sinne funktionieren nur in Bezug aufeinander. Wenn beispielsweise in diesem ersten Teil eine Bewegungsfolge im vorderen Teil der Bühne zeitlich leicht versetzt, in der gleichen Phrasierung, nicht aber dem gleichen Bewegungsmaterial entsprechend im hinteren Teil der Bühne wieder aufgenommen wird, wird beim Zuschauer nicht nur ein Sinn für differente Wiederholung und Wiedererkennung von Ähnlichem aktiviert, sondern ebenso wird der Sinn für eine spezifische Rhythmisierung angesprochen. Die Übertragungen und Synchronisierungen zwischen den Tänzern zu verfolgen: welche Signale als Verabredungen genutzt werden, welches Regel- und Verabredungssystem der Choreographie zugrunde liegt, erfordert eine hohe Aufmerksamkeit. Die Ereignisse auf der Bühne wiederum werden durch meine gespannte Aufmerksamkeit beeinflusst; mit einem unaufmerksamen, zerstreuten Publikum werden die präzisen Synchronisierungen und Koordinationen auch für die Tänzer schwieriger, weniger präzise und verlieren dadurch ihre Qualität.34 Diese Spannung zwischen den Tänzern sowie 31 |  Vgl. http://synchronousobjects.osu.edu/ (letzter Zugriff: 12.08.2018). 32 |  Gilles Deleuze/Felix Guattari: Was ist Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, darin: Kap. 7: »Perzept, Affekt und Begriff«, S.  191-237, hier S. 210ff. 33 |  Es fehlt bei Deleuze/Guattari jedoch eine mediale Bestimmung, die ihren Thesen m.E. nicht widerspricht und im Folgenden geleistet werden soll. 34 |  So Elizabeth Waterhouse im Gespräch.

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Entwürfe und Gefüge zwischen Tänzern und Zuschauern stellt eine atmosphärische Dichte her, die mittels Körpertechnik und dem Einsatz von Bühnentechnik in den Zwischenräumen und zeitlichen Intervallen produziert wird. Es sind also nicht nur die leibliche Anwesenheit und die Lichtgestaltung, welche diese atmosphärischen Qualitäten hervortreten lassen, sondern ein diffiziles System an medialen Verschaltungen, die erst in der Kopplung und den Übertragungen untereinander wirksam werden. Zum einen sind es auch hier Synchronisierungen, die mich in eine bestimmte Situation einstimmen, aus der ich dann zum anderen durch die Diskrepanz zwischen auseinandertretenden Empfindungen herausgerissen werde. Entsprechend fällt inmitten dieser Szenerie eine Tänzerin aus dem Rahmen: Jone San Martin, die fast bewegungslos zwischen den anderen Tänzern verharrt. Welche Funktion jene Kontrastierung von Ruhe und Bewegung haben könnte, soll ein Blick auf den zweiten Teil verdeutlichen.35

3.3 Three Atmospheric Studies (Version Berlin 2006, zweiter Teil) Im zweiten Teil von Three Atmospheric Studies36 werden die verschiedenen medialen Überlagerungen und die Korrespondenzen zwischen der Inszenierung des Atmosphärischen mit tänzerisch-choreographischen Mitteln und technischen Effekten rhythmisch beschleunigt und verdichtet. Von sechs blauen Lichtfeldern sind nur noch vier erleuchtet, in der Mitte der Bühne teilt eine Sperrholzkabine mit zwei Türen den Raum, ein Stuhl steht direkt neben der Tür, ein anderer an der Längswand weiter hinten. Im vorderen geöffneten Türrahmen hängt ein Bild, das Wolkenformationen abbildet. Der Tänzer David Kern erläutert in einer Rolle als ›Meteorologe‹ die Bewegungen der Wolkenformationen, »der Schichten und Verschiebungen«, er begleitet seine Worte mit den von der Wettervorhersage bekannten Bewegungen der Hände, zeigt und deutet und überführt diesen Wetterbericht schließlich in eine immer schneller werdende gestische Choreographie: Die Wolkenformationen, so hören wir, bilden sich abhängig von der jeweiligen Thermik, sie funktionieren relational, über bestimmte Beziehungen, welche die einzelnen Elemente untereinander eingehen: Wenn a und b sich so und so verhalten, ermöglichen sie die Bewegung von c und d nach e usw. Die Kontingenz, die in den komplexen meteorologischen Relationen mitschwingt, spiegelt sich im Folgenden auch darin, wie die verschiedenen Ebenen von Klang, Licht Sprache und Bewegung zueinander in Bezug gesetzt werden. 35 |  Gabriele Brandstetter hat in Brandstetter: 2005, S. 75f., darauf hingewiesen, dass die Figur als Betrachterin – als »Schattenfigur des auf die Bühne versetzten Betrachters« – bereits in die Struktur der Strategie, die Zuschauer in das Geschehen zu involvieren, verwoben ist. 36 |  Auch hier beziehe ich mich auf die Berliner Aufführung.

Wolken Bis auf einen Scheinwerfer ist es nun fast dunkel auf der Bühne. Die atmosphärischen ›Turbulenzen‹ sind aber auch deutlich im choreographischen Geschehen abzulesen: Die Stimmung ist ins Gegenteil gekippt: Ordnung ins Chaos, Ruhe in Sturm, die Bewegungen der Tänzer sind abrupter und ausladender geworden. Über ein Mikrophon ertönt Ander Zabalas Stimme (der gleichzeitig auf der Bühne zu sehen ist) als verzerrte Kollage; Yasutake Shimatsu erscheint durch die Tür in der Holzkabine, die mit technisch verstärktem Knall auf und zu geht; auf ein Geräusch, das an den Lärm eines Maschinengewehrs erinnert, fallen alle Tänzer auf den Boden. Die verzerrte Klangcollage steigert sich zu ohrenbetäubendem Lärm. Auch hier ist es das assoziative Zusammenspiel von Klang und Bewegung bzw. die Diskrepanz, welche die Atmosphäre des Raumes bestimmt. Doch treten dabei Ursache und Wirkung auseinander. Die Holzwand ist mit Mikrophonen verkabelt, die über Lautsprecher jede Berührung, jedes Aufschlagen der Körper verstärken; das knallende Geräusch widerspricht der Fragilität der dünnen Sperrholzwand, die unter einem solchen Aufprall zusammenbrechen müsste, auch die Bewegungen, der Atem und die Stimmgeräusche der Tänzer werden über Handmikrophone weitergeleitet, verfremdet und vervielfacht in den Raum zurückgesendet. Für den Rezipienten entsteht eine Spannung gerade auch durch die Unmöglichkeit, die Bewegungen und deren komplexe Steigerung im Zusammenhang den Klangcollagen und Lichteffekten zuordnen zu können. Ursache und Wirkung sind entkoppelt. Emotion beispielsweise wird nur indirekt über den Bewegungsstil vermittelt, der Körper drückt sich nicht aus, sondern, wie auch in Decreation, vermitteln widerstreitende Impulse im Körper den Eindruck unterschiedlich gerichteter Kräfte, die durch den Körper wandern und ihn zur Bühne widersprüchlicher Bewegungsimpulse werden lassen, sodass nie ein einheitlicher oder psychologisierender Ausdruck zu erkennen wäre, sondern vielmehr eine Zerrissenheit spürbar wird, die eine eindeutige Zuordnung unmöglich macht. Während all dessen sitzt Jone San Martin im rosafarbenen Kleid immer noch bewegungslos, fast apathisch in sich gekehrt und scheinbar unberührt von allen Aufregungen, die sich um sie herum abspielen, auf einem Stuhl in der Mitte des Geschehens – ein Störfaktor im Gewirr der Bewegung. Dana Caspersen redet mit technisch manipulierter und gleichsam manipulierender Stimme auf sie ein, sie spricht von »two neutral observers«, beschwichtigt, die Katastrophe wäre notwendig, ja naturgegeben, vollkommen im Rahmen des Geplanten, »things fall apart« usw. Währendessen tanzt Roberta Mosca ein kurzes, stummes Solo, in dem sie, mittels weniger Bewegungen, die den Körper bis in die Gesichtsmuskeln verzerren und überdehnen, und somit konterkarierend zu Dana Caspersens Beschwichtigungsversuchen eine Figur entwickelt, die aus ihrem figurativen Zusammenhang zu stürzen scheint und die all jenen Versuchen, das

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Entwürfe und Gefüge Geschehen in einen sinnhaften Zusammenhang einzuordnen, widerspricht. Gleichzeitig schildert David Kern, der zuvor den Meteorologen gemimt hatte, in der Mitte der Bühne die Folgen einer Explosion – auch seine Erklärungen werden immer wieder von explosionsartigen Geräuschen durchbrochen. Schließlich wird Jone San Martin ebenso in Bewegung versetzt: Passiv, wie bei einer Puppe, werden ihre Körperglieder von Amancio Gonzales manipuliert, während neben ihr Dana Caspersen fortfährt: »It happened because it was necessary. It’s not personal. Everything happened because we planned it, calm down, we are offering you structure, we give you what you need.«37

4 » Things fall apart « 4.1 Störungen als konstitutives Merkmal des Atmosphärischen Das Hervorbringen von Sinn und Bedeutung geschieht erst in der Verspätung und markiert den Versuch, etwas zur Ganzheit zu fügen, was sich nicht fügen lässt. Denn die Art und Weise, wie die Darstellung inszeniert und aufgeführt wird, wie die mediale Überformung angelegt ist, bewirkt eine starke Irritierung des Zuschauers. So ist die Flüchtigkeit der Bewegung, die nicht zu fixierende Gestalt, hier ganz wesentlich mit dem Einsatz der vielfältigen Überlagerungen der Darstellung verbunden, die beim Zuschauer eine andauernde Desorientierung produzieren. Welche Elemente jenseits der ansatzweise herzustellenden Narration den atmosphärischen Qualitäten, wie den subtilen Lichtstimmungen, der Geräuschkulisse, der Steigerung des Tempos, der Rhythmisierung, dem Kontrast der bewegungslos verharrenden Figur, aber auch der Körperdeformationen sind es, die mich herausfordern, ›mehr‹ in den sich rasch verflüchtigenden Bildern zu sehen, die meine Imagination anregen und die Bilder beispielsweise zu Tableaux eines Kriegsgeschehens verdichten? Welcher Bezug zur Darstellungsart auf den beiden Bildern stellt sich her? Wie werden ein imaginativer und ein körperlicher Bezug des Betrachters zur Aufführung verschränkt?

37 |  Die Referenzen an die damals gegenwärtige politische Situation während des Kriegs im Irak, der amerikanischen Paranoia und Propaganda, ließen sich zum Zeitpunkt der Aufführung (2005/06) kaum von der Hand weisen. In einigen Kritiken gab es Stimmen, die Caspersens Darstellung mit Condoleeza Rice verglichen, insgesamt mit der Kriegssituation im Irak, z.B. Eva-Elisabeth Fischer: »Die Stimme ihres Herrn. Der triumphale Start der Forsythe Company mit Three Atmospheric Studies im Bockenheimer Depot in Frankfurt«, Süddeutsche Zeitung, 23. April 2005, S. 15.

Wolken Die spannungsvolle Disparatheit der verschiedenen Erfahrungen in diesen paradoxalen, medialen Überlagerungen,38 die sich zudem in sich immer wieder verschieben, wird in der Wiederholung und Erinnerung zu stets neuen Konfigurationen synthetisiert. Die Gestalt, die nicht in ihrer Ganzheit zu erfassen ist, der durch den Bewegungsstil zerteilt erscheinende Körper, das Auseinanderklaffen von Akustik und Bewegung, wird versuchsweise in der Wahrnehmung wieder zusammengesetzt, doch die Desorganisation des Gesamteindrucks kann nicht wirklich überwunden werden. Die Destabilisierung des Zuschauers, hervorgerufen durch den Widerspruch zwischen Erwartung und Enttäuschung, ist eng an diese widerstreitenden Wahrnehmungen geknüpft. Zwar scheinen einige wenige narrative Elemente dem Zuschauer eine Möglichkeit zur ReKonstruktion eines möglichen Geschehens zu eröffnen, doch die verschiedenen Arten medialer Verstärkung und Verzerrung der Stimmen und Sounds, die Lichtstimmung, der Diskurs und die Bewegungsqualität, wirken ineinander und lassen aufgrund der Informationsdichte nicht etwa den Eindruck eines synästhetischen Ganzen, sondern vielmehr der Schichtung fragmentierter Einzelheiten entstehen. Die Schwierigkeit, die einzelnen Elemente direkt zueinander in Beziehung zu setzen, sie überhaupt zuzuordnen, erschwert eine Einfühlung. Die Diskrepanz und das Ungleichgewicht wirken irritierend; sie haben trotz der Sounds, die einen sogar körperlich erschüttern, keinen überwältigenden Effekt, sondern lösen eher ein Gefühl des steten Befremdens aus. Auch wenn einzelne Passagen der Inszenierung jene reflexive Distanz aufgrund der Komplexitätssteigerung für Momente außer Kraft setzen, wird der Zuschauer nicht überwältigt, denn die Inszenierung verfährt keineswegs raum-auflösend, vielmehr werden Beziehung innerhalb des räumlichen Gefüges ständig neu gestiftet. Im Rückgriff auf Kapitel 2.1.4 muss hier zwischen Immersion und Affizierung als zwei unterschiedlichen Weisen, den Betrachter zu involvieren, unterschieden werden. Die Affizierung des Zuschauers über die atmosphärische Gestimmtheit ereignet sich hier nicht aus dem »Inneren der Dinge« – in einer »Ekstase der Dinge«, wie Gernot Böhme es beschreibt –,39 sondern sie ist viel 38 |  Vgl. Dieter Mersch, »Medialität und Kreativität. Zur Frage künstlerischer Produktivität«, in: Bernd Hüppauf/Christoph Wulf (Hg.): Bild und Einbildungskraft, München: Fink, 2006, S. 79-91. 39 |  Gernot Böhme: Atmosphäre, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, Kapitel: »Das Ding und seine Ekstasen. Ontologie und Ästhetik der Dinghaftigkeit«, S. 155-176. Dies setzt nach wie vor ein vereinzeltes Sein des Dings oder Akteurs voraus, das aus seinem »Inneren« heraus seine Aura entfaltet. Als Medium sind die Dinge jedoch nicht länger in sich abgeschlossene, klar abgegrenzte, definierbare Entitäten (vgl. Wetzel: 2007, s.u.); sie entfalten je nach Konstruktion ihr eigenes Begehren und darüber eine Ausrichtung auf andere an der Aktion oder Produktion

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Entwürfe und Gefüge eher mit einer befremdlichen Erfahrung des Getroffen-Werdens und einer Transformation des Eigenen zu umschreiben. Atmosphäre stellt sich, wie schon beschrieben, nicht nur über die Lichtgestaltung oder den Klangraum, sondern auch über die Affizierung durch die Bewegungsqualitäten her. Nicht nur die einzelne kinästhetische, akustische oder visuelle Erfahrung, sondern Schnittformen verschiedener Sinneseindrücke werden übereinander geblendet, somit teils überlagert und verwischt, teilweise verstärkt – im Sinne einer doppelten, stets begleitenden Funktion von Medien: als Störung einerseits, die das zu Übermittelnde bricht, verfremdet und es, andererseits, gerade durch das Wechselspiel von Transparenz und Störung erst erfahrbar werden lässt, wie es am Beispiel der Diskrepanz zwischen dem Klang des Aufpralls der Tänzerkörper auf der dünnen Sperrholzwand und der intensiven körperlichen Ausführung erfahrbar wird. Es entsteht der Eindruck einer stetigen Komplexitätssteigerung, die zwischen den kurzen Momenten der Immersion meinen Gedankenfluss immer wieder unterbricht und die Störung als aufmerksamkeits-steigerndes Moment einbaut. So sind die kurzen Momente der Immersion eng mit denen der Selbstreflexion verbunden, ästhetische Erfahrung wird zwischen sinnlichen, kognitiven und reflexiven Momenten angelegt. Innerhalb einer Theorie der Wahrnehmung als »gemischten Empfindungen«40 müssen die Manipulierbarkeit unserer Wahrnehmung durch technische Verfahren als Filterungen und Überlagerungen stets mitbedacht werden. Die Störungen haben einen produktiven Effekt – sie sind »Parasiten« im System der Übertragung.41 Für einen medientheoretischen Ansatz, wie er bei Michel Serres gefasst wird, ist der Parasit zwar derjenige, der auf Kosten anderer lebt, Schädling und Störung, eine Unterbrechung im System, er gehört aber dennoch konstitutiv zum System, in dem er eine dynamisierende Funktion ausübt: Durch ihn erst kann der Organismus jene notwendige Unordnung produzieren, die zu je komplexeren Ebenen und Strukturen führt. Die Störungen innerhalb der Inszenierung – die technisch manipulierten Verzerrungen der Stimme, die Distorsionen des Körperkontur, die Diskrepanzen zwischen akustischer und visueller Information – irritieren, aber sie ermöglichen zugleich eine stete Neukonfiguration des Gesehenen und werden so produktiv. In Forsythes Inszenierung entstehen gerade in den Übertragungen zwischen den verschiedenen medialen Ebenen neue Qualitäten, die nur angesichts einer steten Aufmerksamkeitssteigerung überhaupt wahrnehmbar werden.

bzw. Rezeption beteiligte Dinge oder Akteure und schaffen so experimentelle Anordnungen, die über die Grenzen des Faktischen hinausgehen können. 40 |  Michel Serres: Die Fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemische und der Gemenge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998. 41 |  Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987.

Wolken Desgleichen überlagern sich mit der Darstellung auch die eigene Vorstellung und Projektion. Der Zuschauer ist ständig damit befasst, Verbindungen zu ziehen, also nie nur im Hier und Jetzt, sondern oszillierend zwischen verschiedenen zeitlichen Momenten – dies erhöht die Dichte der Informationen zusätzlich. Die Schwierigkeit, Unterscheidungen zu treffen, erzeugt einen Überschuss an Bedeutungen, die den Zuschauer irritiert und oft als diffundierend wahrgenommen wird. Diese Unbestimmtheit kann als Potentialität gegenüber der Darstellung der angespielten Wirklichkeit ins Spiel gebracht werden. Die angeregte Imagination eröffnet Möglichkeiten, die jenseits des Realen liegen. Innerhalb dieser Konstellation werden der thematische Fokus, der über die Textpassagen Dana Caspersens und den Bezug zum damaligen Irak-Krieg evoziert wird, und ein unbestimmtes Feld, wie es z.B. in Roberta Moscas Solo aufscheint, in spannungsvollen Bezug zueinander gebracht. Die choreographischen Sequenzen werden so zu Orten der Konfiguration von Energien, die sich durch einen konstitutiven Zusammenhang von Zeigen und Verbergen, von Absenz und Präsenz entwickeln. Kontraste manifestieren sich, die etwas zu erkennen geben – die Spannung zwischen dem, was ist und was nicht ist, ermöglicht das je andere spezifisch zu rahmen, es erst erscheinen zu lassen. Martin Seel spricht von der Unbestimmbarkeit als dem Paradox zwischen Unter- und Überbestimmtheit, das jederzeit durch neue Interessen, Hinsichten, Erkenntnisverfahren verändert werden kann und nie alle Möglichkeiten, sondern nur das jeweils Relevante bestimmt.42 So werden in der Choreographie beispielsweise die heftigen Bewegungen durch die akustische Verstärkung des Knalls beim Aufprallen der Tänzer auf die Sperrholzwand sehr deutlich als Effekte des Plötzlichen, als eine Steigerung des Präsentischen markiert. Gleichzeitig aber trägt der Bruch in der Übertragung dazu bei, Veränderung und somit Zeitlichkeit zu markieren: Ich nehme nicht nur den Knall, sondern gerade die Differenz zwischen zwei verschiedenen Momenten wahr. Die Verfremdungen der Stimme verbunden mit den Bewegungen, die jegliche Gestalt des Körpers zu negieren scheinen, verstärken sich zwar gegenseitig, lassen aber auch den Eindruck des Auseinanderdriftens einer einheitlichen Erfahrung entstehen, der am ehesten mit dem Begriff der Diastase zu fassen ist. Als »Differenzierungsprozess, in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht«43 (vgl. Kap. 1), vermag sie, diese disparaten Erfahrungen zueinander in Relation zu setzen. Dies funktioniert jedoch 42 |  Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 92f. Nicht das Erscheinen von Etwas, sondern das Erscheinen punktum wird hier thematisiert; vgl. ebd., S. 95. 43 |  Bernhard Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 173-175, hier S. 174.

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Entwürfe und Gefüge nur, wenn die verschiedenen Ebenen nicht einfach ineinander verschwimmen, sondern eine, wenn auch minimale, Differenz zwischen ihnen geschaffen wird und so ein oszillierendes Verhältnis entsteht. Bewegung, Stimme, Klang, Licht verdichten sich zu einer Erfahrung, allerdings nicht zu einer synästhetischen, verstärkenden Erfahrung, sondern vielmehr zu einer widersprüchlichen, in der die diversen Wahrnehmungsmodi im Gegeneinander neue Qualitäten entfalten. Solch unbestimmte und unbestimmbare Differenzen, die so minimal sind, dass sie fast nur imaginiert werden können, lassen sich mit Marcel Duchamps Begriff »inframince« fassen. Er erlaubt es, jene Übertragungen in den Blick zu nehmen, die sich gerade an den Schnittstellen von unterschiedlichen medialen Formaten, zwischen visuell, kinästhetisch oder akustisch Wahrgenommenem ereignen und als Übergänge daher umso schwieriger zu beschreiben sind.44 Die Kunsthistorikerin Amelia Jones führt den Begriff bezeichnenderweise eng mit dem an anderer Stelle exponierten Begriff des Scharniers und beschreibt inframince als einen »Prozess, der den Übergang von einer Möglichkeit in eine andere beinhaltet, und [er] verbindet den lebenden und mit Geist ausgestatteten Körper mit den ihn umgebenden Dingen durch immaterielle körperliche Spuren als Scharniere zwischen Anwesenheit und Abwesenheit sowie das Sehen und Handeln mit dem Raum, der den sehenden/handelnden Körper umgibt.«45

Es wirkt »wie ein Scharnier, das verbindet und mitschwingen lässt.«46 Noch genauer lässt sich die zwischen den verschiedenen medialen Ebenen als minimale Differenz entwickelnde Spannung mit Marcel Duchamps Definition selbst beschreiben: »Inframince: Quand la fumée de tabac sent aussi de la bouche, qui l’exhale, leurs deux odeurs s’épousent par inframince (inframince olfactif )... Inframince caractérise généralement une épaisseur, une séparation, une différence, un intervalle entre deux choses, généralement peu perceptibles.

44 |  Michael Wetzel: »Von der Intermedialität zur Inframedialität. Duchamps Genealogie des Virtuellen«, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, München: Fink, 2007, S. 137-152. 45 |  Amelia Jones: »Kunsthandeln. Bruce Naumans Body Pressure und das Scharnier«, in: Karin Gludovatz/Dorothea von Hantelmann/Michael Lüthy/Bernhard Schieder (Hg.): Kunsthandeln, Berlin/Zürich: diaphanes, 2010, S. 15-36, hier S. 23. 46 |  Ebd.

Wolken 1. En premier, l’inframince signifie ›très, très, très légèrement‹, ce pourrait être 1/10e millimètre – la minceur des papiers. Mais à ce niveau, le concept signifie ›infinitésimal‹, ce n’est pas nouveau ni intéressant. 2. En deuxième, l’inframince caractérise n’importe quelle différence que vous imaginez facilement mais n’existe pas, comme l’épaisseur d’un ombre: l’ombre n’a aucune épaisseur, pas meme à la précision d’un Angstroem. 3. En troisième, l’inframince qualifie une distance ou une différence que vous ne pouvez pas percevoir, mais cela que vous pouvez seulement imaginer. Le meilleur exemple est la ›séparation inframince entre le bruit de détonation d’un fusil (très proche) et la marque de l’apparition de la marque de la balle sur la cible.«47

Diese kaum wahrnehmbaren Intervalle, die eine infinitesimale oder nur imaginierte Differenz markieren, trennen eine bestimmte Konfiguration von Einzelelementen von einem zeitlich unterschiedenen, anderen Zustand derselben. Damit wird deutlich, dass das Zusammenspiel der verschiedenen medialen Ebenen in der Inszenierung vor allem durch eine choreographische Rhythmisierung bestimmt wird, die jene beschriebenen Wirkungen der Desorientierung und Aufmerksamkeitssteigerung im Zuschauer hervorruft, und dass die Störungen in der Übertragung konstitutiv zu einer inszenierten Medialität gehören. Michael Wetzel spricht in diesem Zusammenhang von einer »latenten, im Innern singulärer Dispositive wirkende[n] Kraft [...], die zugleich im Außen fremder Medienwirkungen Spuren hinterlässt.«48 Und weiter, an anderer Stelle: »Inframedialität bezieht sich damit weniger auf eine Sichtbarkeit latenter Binnenstrukturen medialer Sinnkonfigurationen als vielmehr auf das Spürbarwerden einer Kraft des Werdens, die jedes Einzelmedium über die Grenzen seiner zu einem Zeitpunkt gegebenen Leistungsfähigkeit hinaustreibt.«49

Die Inszenierung spielt damit, diese Unterscheidungsfähigkeit auf die Probe zu stellen, die Aufmerksamkeit für minimale Differenzen – in der gegenseitigen Überlagerung – und auch für das Oszillieren zwischen Medium und Dingebene zu schärfen.50 Die Zuschreibungen »festes eigenbedingtes Ding« und »plastisches fremdbedingtes Medium« seien, so Fritz Heider, medientheoretisch keine 47 |  Marcel Duchamp: Notes, hg. v. Michel Sanouillet und Paul Matisse, Paris: Flammarion, 1999, S. 20f. 48 |  Wetzel: 2007, S. 143. 49 |  Ebd., S. 151. 50 |  Fritz Heider: Ding und Medium [1926], Berlin: Kadmos, 2005, S.  50ff. Heider macht hier den Versuch der Begründung einer Wahrnehmungsstruktur, die auch das Verhältnis von Sichtbarem, Unsichtbarem, Materiellem und Immateriellem sowie bestimmte Aspekte der Metaphorik zu fassen sucht.

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Entwürfe und Gefüge ontischen, sondern relationale Beschreibungen.51 Nur im Hinblick auf ein Ding kann etwas Medium werden, und umgekehrt. Nicht nur die Eigenschaften der Objekte zählen, sondern ein Zusätzliches, welches sie uns sehen lassen oder in einem anderen sinnlichen Bezug erfahrbar machen. Zwischen Medialität und Materialität zielt die Rezeption der Choreographie nicht auf die einzelnen ›objektivierbaren‹ Momente, sondern fordert die Aufmerksamkeit für die Übergänge heraus. Bestimmte Techniken der Aufführung, wie beispielsweise eine besondere Brüchigkeit in der Ausführung einer Bewegung oder eine spezifische Fähigkeit und die technische Möglichkeit, die Stimme zu verfremden, lassen in der Überlagerung die Bruchstellen deutlich als ein fast anamorphotisches Potential hervortreten, sie bringen die innere Organisation in Bewegung und erweisen sich so als destabilisierende Effekte. So zeigt sich in der Konstellation von Blick, Bild und Bewegung das inversive Potential von Ding und Medium. Indem die Inszenierung ihre Mittel gerade so verdichtend einsetzt, sie dabei immer wieder auch offen legt und an ihre Grenzen treibt, werden die medialen Anordnungen zum konstitutiven Merkmal einer Darstellungsweise, die  – entgegen dem Gefühl, das sich in der Rezeption einstellt – nicht un-mittelbar, sondern als eine medial inszenierte und dadurch verstärkte, verschobene Art und Weise wirkt. Diese Art der Verwendung medientechnischer Verfahren ist allerdings auch performancetheoretisch und in einer historischen Entwicklung von Performance-Kunst einzuordnen, sie betreffen direkt den Charakter des Choreographischen, denn nicht erst seit den Entgrenzungen der 1960er-Jahre »bricht die Choreographie mit der historischen Dimension der modernen Subjektivität des tanzenden Körpers und erweitert sich um jeden beliebigen Körper, jede beliebige Bewegung, jedes beliebige Verfahren.«52 So wird die Choreographie keineswegs allein durch das Setzen der Schritte und die Körperbewegung bestimmt, sondern der Begriff der Choreographie lässt sich dahingehend erweitern, dass er gerade durch eine Übertragung von Verfahren zwischen den Künsten anwendbar wird. Entsprechend beschreibt die Tanzwissenschaftlerin und Dramaturgin Bojana Cvejic an anderen choreographischen Beispielen die Übertragung von filmischen Verfahren auf die Choreographie: »In der Choreographie ermöglicht die Montage den umgekehrten Effekt: keine Synthese zur Einheit, sondern eine maschinistische Fragmentierung. Das Interes 51 |  Niklas Luhman führt in seiner Anverwandlung von Heiders Ansatz die Reversibilität von Medium und Form (Ding) ein; ich beziehe mich hier wie auch in Fußnote 50 auf die Diskussionen der Arbeitsgruppe Intermedialität des SFB 626. 52 |  Bojana Cvejic: »Schnittverfahren und Mischungen. Anmerkungen zu filmischen Verfahren in der zeitgenössischen Choreographie«, in: tanzjournal 05, 2009, S. 29-34, hier S. 29.

Wolken se verlagert sich von der Form zum Material, und das sind keine technischen Bedingungen, sondern Performancekonzepte. Dabei stellt ein solches Material eine Ordnung des Vermischens dar: eine Ordnung, deren heterogene Elemente gleichzeitig oder nacheinander platziert, so dass sie Mischbeziehungen bilden, deren Elemente nicht mehr voneinander getrennt werden können. Dieses Materialkonzept bestätigt eine Heterogenese, in der die Komposition nicht durch die Form (Ähnlichkeit mit einer Reihe idealer und allgemeiner Eigenschaften) erarbeitet wird, sondern durch ein Verfahren. Verfahren als Kompositionsprinzip unterscheidet sich von Form durch die Definition solcher Beziehungen, für die eine Offenheit für die Dinge, die als Material dazukommen, erforderlich ist.«53

Ein Verfahren wird hier weniger dazu in Stellung gebracht, Autorschaft und Werkbegriff zu negieren, sondern trägt dazu bei, poietische Strategien zu entwickeln, die eine Offenheit für Zukünftiges zeitigen. Die Montage – ursprünglich integratives Prinzip der Verbindung – markiert hier im Gegenteil eine ständige Fragmentierung und Verschiebung. Damit tendiert diese Konzeption in Richtung eines kontingenten Ensembles von Praktiken und Gegenständen, wie es Deleuze/Guattari in Tausend Plateaus beschreiben.54 Innerhalb dieses Konzepts einer assemblage – im Sinne eines mannigfaltigen Gefüges – lässt sich Choreographie als Übertragung von Verfahren betrachten, was am Beispiel von Three Atmospheric Studies nachgewiesen werden kann. Zwar sind es hier nicht filmische Verfahren, sondern akustische Verstärkung und klangliche Verfremdung sowie beleuchtungstechnische und bewegungstechnische Verfremdungen, die angewendet werden, doch zielt die Anordnung ebenso auf eine Veränderung der Wahrnehmung, die den Rezipienten (auf-)fordert, an der (Re-)Komposition mitzuwirken. Trotzdem hier der Raum zwar in Gänze sichtbar ist, wird für den Zuschauer eine stete Verschiebung der Wahrnehmungsmöglichkeiten inszeniert. Zwischen Immersion und Befremden wird der Betrachter in das Geschehen involviert.55 Durch die Verbindungen, die er zwischen dem eigenen, medial vermittelten Wissen und dem Bühnengeschehen zieht, durch die emotionale Beteiligung und die potenzierte Einbildungskraft wird die beschriebene und performte Katastrophe in Three Atmospheric Studies zu einem spezifisch theatralen Ereignis. Die Involvierung des Betrachters als befremdliche Transformation dessen, was 53 |  Ebd., S. 31. 54 |  Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve, 1991, S. 504ff. 55 |  Die Unbestimmtheitsrelation,dass jeweils zwei Messgrößen eines Teilchens, sein Ort und Impuls, nicht gleichzeitig genau bestimmt sind, ist nicht die Folge von Unzulänglichkeiten eines Messvorgangs, sondern prinzipieller Natur und findet hier ihre inszenatorische Entsprechung.

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Entwürfe und Gefüge er aus anderen Zusammenhängen kennt und nun neu zusammensetzen muss, entspricht einer Form ästhetischer Erfahrung, wie sie Erika Fischer-Lichte als für das Theater typisch beschrieben hat.56 Auf der einen Seite wird mit dem Ort des Theaters auf die reale, unmittelbare und physische Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern verwiesen, auf der anderen Seite sind der Einsatz verschiedener Medien und deren virtualisierende Effekte ebenso konstitutiv.57 Die oft zitierte Nähe von Theater und Theorie »as a place from which to observe or to see«,58 welche den visuellen Sinn, die Distanz, Kontrolle und Exteriorität favorisiert, wird hier auf einer anderen Ebene verhandelt. Transparenz und irreduzible Opazität, Zeigen und Verbergen weisen bestimmte Aspekte von Theatralität als Medium aus, welches sich in einem fortwährenden Prozess selbst als Bühne für die unterschiedlichsten medialen Verknüpfungen erweist und sich damit immer wieder neu hervorbringt.59 Nicht in der Distanz wird dem Betrachter eine kritische Position eingeräumt, sondern gerade indem er oder sie in den Zustand der Krise, der Ambivalenz und Unsicherheit versetzt wird. Eine kritische Betrachtung im Sinne eines Unterscheidens und Urteilens findet nicht, wie oftmals angenommen, in der sicheren Distanzierung statt, sondern gerade in der unbestimmbaren Lage des Involviertseins.60 In dieser Praxis des Vollzugs wird durch die Dichte an Informationen in Three Atmospheric Studies eine Situation des Überschüssigen geschaffen, die dennoch die Anmutung eines inneren Zusammenhalts suggeriert. In der Wolke findet dieses gleichzeitige Auseinanderstreben und Zusammengehören seinen paradigmatischen Ausdruck und kann in einer grundsätzlichen Frage der Kohärenz gelesen werden: »Every Entity in the world«, so beispielsweise der Architekturtheoretiker Sanford Kwinter, »is an aggregate of other groups and entities, that indisputably but also inexplicably produce emergent effects of coherence and directedness.«61 Die Wolke als Beispiel infra-medialer Beziehungen zwischen einzelnen Komponenten beschreibt, wie sich kleinste Dinge ohne Begrenzung und Umriss formieren, sie ist Joseph Vogl zufolge »eine Ansammlung, ein Aggregat, eine Mannigfaltigkeit«62 und »eine Sache, die sich bei näherem Hinsehen nicht 56 |  Erika Fischer-Lichte/Nicola Suthor: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Verklärte Körper. Ästhetiken der Transfiguration, München: Fink, 2006, S. 7-16. 57 |  Weber: 2004, S. 1. 58 |  Ebd., S. 3. 59 |  Ebd., S. 7. 60 |  Jörg Huber/Philipp Stoellger/Gesa Ziemer/Simon Zumsteg: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Ästhetik der Kritik. Oder Verdeckte Ermittlung, Zürich: Springer, 2007, S. 7-20, hier S. 7f. 61 |  Kwinter: 2010, S. 73. 62 |  Joseph Vogl: »Wolkenbotschaft«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/ ders. (Hg.): 2005, S. 69-80; Vogl bezieht sich hier auf die Wolkenstudien Johann

Wolken mehr besehen lässt, wer sich ihr nähert, wird umhüllt von Nebel und Dunst«. Sie ist »ungleichartiges Gewebe« und »gestörte Einheit« – »[...] durchlöchertes Continuum«, das den lateinischen Ausdruck »turba, turbo, turbidus« nahelegt, welcher das Verworrene, Unruhige, die Masse und Mannigfaltigkeit bedeutet.63 Sie umgibt uns, und sobald man in ihr Fluidum eintaucht, ruft sie einen Effekt der Desorientierung hervor. Als Grenz-Zustand oder Schwelle wird die Wolke nur zur erkennbaren Erscheinung, weil sie ein »Effekt unsichtbarer und noch mehr unspürbarer Kräfte ist«.64 So stellen sich in der Wahrnehmung der Wolke und ihrer Aura jene Momente des Unbestimmbaren ein,65 die durch eine mobilisierende »Kraft« erklärt werden können. Die Wolke ist »Entstehen und Vergehen« – ein ephemeres und semiotisches Ereignis. Als solches »versammelt sie am Flüchtigen und Unwiederholbaren alle Kräfte der Benennung und der Sprache« – und wird so zum Medium der Einbildungskraft,66 die besonders im Rahmen einer Theorie des Entwerfens zu verorten ist. Joseph Vogl beschreibt Wolken im Zusammenhang eines Handelns wie folgt: »Mit diesen Wolken werden also unkörperliche Ereignisse adressiert, unkörperliche Ereignisse insofern, als sie sich nicht auf einen Träger, auf ein Subjekt oder Objekt von Handlungen beziehen, sondern ganz konsequent den Unterschied zwischen Attribut und Gegenstand, Agens und Aktion, Substanz und Akzidens löschen. Die Wolken sind ein Handeln ohne Handelndes.«67

Damit sind sie, so Vogl weiter, nicht ein bestimmtes Sein, sondern im Deleuze’schen Sinne als infinitive oder partizipiale Verbform ausdrückbar:68 »Handelnd« – und in diesem Sinne zwischen Passivität und Aktivität angeWolfgang von Goethes und auf die meteorologische Klassifizierung der Wolkenformen von Luke Howard. 63 |  Ebd.; vgl. auch: Werner Busch: »Die Ordnung im Flüchtigen. Wolkenstudien der Goethezeit«, in: Sabine Schulze (Hg.): Goethe und die Kunst, Stuttgart: Hatje, 1994, S. 519-527. 64 |  Vogl: 2005, S. 72; sowie ders.: »Luft um 1800«; in: Armen Avanessian/ Wilfried Menninghaus/Jan Voelker (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin/Zürich: diaphanes, 2009, S. 45-53, hier S. 46. 65 |  Die Unbestimmtheit von Information geht über rein informationstheoretische Überlegungen hinaus, sie wirkt hier verunsichernd und desorientierend. Sie strukturiert unseren Umgang mit unserer Umwelt, unserer sozialen Realität, die Welt, unserer Wissen und beschreibt unsere Realität als »irregular, disorderly and unpredictable«; vgl. Kwinter: 2010, S .72 66 |  Vogl: 2009, S. 73. 67 |  Ebd., S. 46. 68 |  Ebd., S. 50.

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Entwürfe und Gefüge legt – können sie zum Medium einer Übertragung werden. Will man diese Überlegung mit der choreographischen Arbeit Forsythes zusammendenken, erscheint auf den ersten Blick das Paradox, dass wir es hier keinesfalls mit »unkörperlichen Ereignissen« zu tun haben. Es trifft jedoch insofern strukturell zu, als wir hiermit den Kern einer nicht rein intentionalen Bewegung treffen, die sich oszillierend zwischen aktiver und passiver Kraft entfaltet (vgl. Kapitel 2), »sich nicht auf ein Subjekt oder Objekt von Handlungen« bezieht, sondern eher auf die bereits erläuterte Idee des Empfindungsblocks bei Deleuze/Guattari verweist. Der Moment der Unbestimmtheit und Unschärfe, welcher aus einer Chimäre, aus einem Fleck, aus einem formlos Fließenden oder dem Auftauchen formloser Gestalt bedeutungsvolle Muster oder eine Figur entwickelt, verweist auf den konstitutiven Anteil des Betrachters an der Sinnproduktion. Damit ist die Wolke im Feld der »Figuren des Unabgeschlossenen«69 zu verorten und weist hin auf die Position des Betrachters, der am Entwurfsprozess beteiligt ist. Im Spiel an der Grenze von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit lassen sich Oberflächen, Lücken, Punkte in der ergänzenden Wahrnehmung verbinden. Die Fähigkeit, in diesen unförmigen und unbestimmten Lineamenten Gestalten zu erkennen, kann umgekehrt auch auf die kreative Kraft der Zufallsbilder selbst zurückgeführt werden,70 deren innere Struktur jedoch aufgrund dieser Kenntnis eher dazu verleitet, sie bestimmten Techniken der Mimesis unterzuordnen und innerhalb des Wahrscheinlichen zu verbleiben. Zum einen können die Wolken als spukhafte ephemere Gestalten des Zufalls gedeutet werden, die erst durch die einbildende Tätigkeit des Modellierens ins Leben gerufen werden, zum anderen kann aber die Wolke im Zeichen des Betrugs und der Camouflage auch ihre verhüllende Wirkung ausüben. Das Er-Scheinen der Wolke in der ergänzenden Imagination und das Scheinhafte ihrer selbst lässt sich, wie bereits erwähnt, mit der Ebene des Theatralen verknüpfen. Die etymologische Verwandtschaft von Bild (spectrum), Spiegel (speculum), Spektakel (spectaculum), Zeichen (specimen) und dem Schönen (speciosus)71 verortet die Inszenierung in einem Feld, das die Gemachtheit des Atmosphärischen unterstreicht. Forsythe setzt die Maschinerie der Theatertechniken auf virtuose Weise ein, indem er ihre einzelnen Mechanismen mit- und gegeneinander ausspielt und vorführt, wie die Künste in diesem Gegeneinander 69 |  So der Verweis auf die Publikation von Susanne Foellmer: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript, 2009. 70 |  Daran sind auch die Oberflächenstrukturen der Wolke, deren fast haptische Qualität beteiligt. 71 |  Giorgio Agamben: Profanierungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007, S. 56.

Wolken entstehen und so bestimmte Formen von Theatralität erst hervorbringen bzw. erscheinen lassen. Dies entspricht der (negativen) Definition Michael Frieds in dessen Aufsatz »Art and Objecthood«,72 in dem er das, »was zwischen den Künsten liegt«, als Theater verunglimpft. Theatralität wird aber gerade im Laufe der Rezeptionsgeschichte dieses Aufsatzes zu einer letztlich doch signifikanten Kategorie der Beschreibung situativer Kunst, die es erlaubt, die Ausweitung des Paradigmas »Theatralität« auf andere Felder zu gewährleisten. Inwiefern das Atmosphärische als Kategorie von Theatralität subsumiert werden kann, soll an einem Beispiel der Architektur nun aus anderer Perspektive diskutiert werden.

5 Architektur und Atmosphäre 5.1 Eintauchen und Umhüllt-Werden als mediales Ereignis: Diller & Scofidios Blur-Wolke »Mein Haus, sagt Georges Spyridaki, ist durchscheinend, aber nicht aus Glas. Eher wäre es aus einer Art Rauch. Seine Wände verdichten und verdünnen sich nach meinem Wunsch. Manchmal ziehe ich sie eng um mich zusammen wie einen Isolierungspanzer. [...] Aber manchmal lasse ich die Wände meines Hauses sich entfalten in ihrem eigenen Raum, welcher die unendliche Ausdehnbarkeit ist.«73

Das Zitat Gaston Bachelards belegt, dass das Atmosphärische – insbesondere was die Architektur betrifft – zwei benachbarten Feldern eng verbunden ist: zum einen einer Ästhetik des Flüchtigen74 – bemüht sich die Architektur doch vor allem im 20. Jahrhundert darum, dem Paradigma der Stabilität zu entkommen75 –,

72 |  Michael Fried: »Art and Objecthood« [1967], in: Gregory Battcock (Hg.): Minimal Art. An Anthology, New York (NY): E.P. Dutton, 1968, S. 116-147. 73 |  Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt am Main: Fischer, 1987, S. 71. 74 |  Vgl. u.a. Ralf Schnell/Georg Stanitzek: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Ephemeres. Mediale Innovationen 1900/2000, Bielefeld: transcript, 2005, S.  7-12. Die Phänomene des Flüchtigen selbst sind im 20. Jahrhundert in Korrespondenz zu einem Gegenstandbereich des Formlosen bzw. der Dynamisierung von Formprozessen zu beschreiben. Vgl. Yve-Alain Bois/Rosalind Krauss (Hg.): Formless: A User’s Guide (Ausstellung des Centre Pompidou 1996), New York (NY): Zone Books, 1997. 75 |  Vgl. z.B. Charles Jencks (Hg.): Ecstatic Architecture. The surprising Link, Chichester u.a.: Wiley, 1999.

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Entwürfe und Gefüge zum anderen einer Ästhetik der Transparenz, die ersteres Phänomen im Rahmen modernistischer Ästhetisierung unterstreicht.76 Innerhalb einer Kultur, die sich seit den 1960er-Jahren gerade durch die Entgrenzungen und Ausdifferenzierungen zwischen künstlerischen Verfahren und Alltagskultur auszeichnet, soll daher im Folgenden der theatrale und spektakuläre Inszenierungscharakter des Architektonischen betrachtet werden. Zu fragen ist, wie das Atmosphärische hier zum Generator einer medial vermittelten ›Authentizität‹ wird und damit zu einer ubiquitären Kategorie, die vom Erhabenen und Naturschönen bis in die ökonomischen Strategien künstlerischer Produktion zu verfolgen ist. Die Wahrnehmungen im Feld jener ausdifferenzierten visuellen Kultur zeichnen sich seit der Moderne nicht durch Kontinuität, sondern im Gegenteil durch Brüche und Störungen aus. Innerhalb einer solchermaßen komplexen Verschaltung von Blickachsen, institutionellen Rahmungen und Kunstkontexten ist das Verhältnis von Subjekt und Körper stets neu zu bestimmen. Gernot Böhme hat in seiner Studie zum Verhältnis von Architektur und Atmosphäre inbesondere auf die leibliche Anwesenheit als Bedingung für die Entstehung einer Präsenzerfahrung fokussiert, sein Ansatz legt jedoch einen (weitgehend) historisch und kulturell unspezifischen, phänomenologischen Begriff nahe, der mediale Aspekte nur unzureichend erfasst. Doch kann es innerhalb einer medial bestimmten Ästhetik nicht nur darum gehen, das Atmosphärische an der »Ekstase der Dinge«77 festzumachen, oder darum, wie ein Ding seine Präsenz artikuliert (dies schiene im Blick auf die flüchtige Kunstform des Tanzes von vorneherein fragwürdig, insofern sich Präsenz nur mit Absenz gemeinsam denken lässt) – vielmehr müssen auch Momente der Selbstreflexion, Mediatisierung und Distanzierung mitgedacht werden. Hermann Schmitz beschreibt Atmosphären als frei flottierende Halbdinge, die wie Wolkenfelder des Emotionalen unsere Umwelt durchziehen; dies macht sie für eine Diskussion, die Wolken und Atmosphären als Figuren medialer Übertragung begreift, relevant. Die Stimmung als stärker subjektbezogenes Phänomen weicht hier der Atmosphäre, die sich stärker durch ein ›Zwischen‹ von Subjekt und Objekt beschreiben lässt.78 76 |  Vgl. u.a. den Sammelband von Gannon (Hg.): 2002, der Quellentexte zur Thematik der Transparenz von Colin Rowe, Robert Slutzky, Terence Riley, Gianni Vattimo u.a. enthält. Der Aspekt der Scheinhaftigkeit kommt im Zuge einer Entwicklung, in der das »Vertrauen in die Dingwelt verloren ist«, darin besonders gut zum Tragen. Vgl. Christoph Asendorf: Entgrenzung und Allgegenwart. Die Moderne und das Problem der Distanz, München: Fink, 2005. 77 |  Vgl. Böhme: 1995, S. 33; Fischer-Lichte: 2004, S. 202. 78 |  Eine kurze Übersicht über die Entwicklung der Atmosphärentheorie aus dem Stimmungsdiskurs über Wellbery, von Schmitz bis hin zu Böhme, liefert

Wolken Im Gegensatz zu Böhme soll das Atmosphärische hier nicht nur als das Diffuse, Unbestimmbare, als das »ortlos Ergossene« verstanden werden. Atmosphären sind unterschiedlich wahrnehmbar und in der schrittweisen Annäherung über ihre Wirkung durchaus beschreib- und bestimmbar.79 Sie werden nicht als universelles Medium zur Übermittlung und Teilhabe an unspezifischen Stimmungen inszeniert, sondern erweisen sich gerade durch ihre scheinbare Beiläufigkeit umso stärker als von Codes bestimmt und entfalten so ihre Wirkung.80 Kontextwissen und Adressierung, Perspektive und Organisation der raum-zeitlichen Prozesse spielen dabei eine wesentliche Rolle, wobei sowohl kunstimmanente als auch außerkünstlerische Bezüge auf Alltagsgeschehen, auf politische Konflikte oder gesellschaftliche Umordnungsprozesse sowie Aspekte der Ortsspezifik miteinzubeziehen sind. Solchermaßen hat die Atmosphäre als Herrschaftsinstrument entscheidenden Anteil an einer Aufteilung des Sinnlichen81 und strukturiert den Zugang zu ästhetischer Erfahrung. Inwiefern atmosphärisch gestimmte Räume an der Konstitution von Relationen beteiligt sind, wie sie die Interaktion zwischen den Akteuren (und Zuschauern) beeinflussen und wie umgekehrt die Bewegungen und Handlungen der Akteure an der Produktion des Raumgefüges und einer entsprechend gestimmten Erfahrung dieses Raumes beteiligt sind, wurde bereits am Beispiel von Three Atmospheric Studies gezeigt: wie die kompositorische Gestimmtheit die Organisation des Raumes und die Relationen in ihm respektive Handlungsmöglichkeiten konfiguriert und wie die Involvierung des Betrachters die spezifische Theatralität als Medium hervortreten lässt. Zielt das Atmosphärische als Stimmung auf die Affizierung des Rezipienten, soll im Folgenden diese Wirkungsdimension des Atmosphärischen an architektonische Überlegungen geknüpft werden.82 Ausgegangen wird hierbei von der Annahme, dass Sabine Schouten in der Einleitung zu ihrer Dissertation: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin: Theater der Zeit, 2007, S. 9-33. 79 |  Ilka Becker: »Meteoriten, Metereologie. Die virtuelle Ausdehnung der atmosphärischen Dinge bei Dali und Duchamp«, in: Silke Walther (Hg.): Carte Blanche. Mediale Formate in der Kunst der Moderne, Berlin: Kadmos, 2007, S. 187-199. 80 |  Ebd. 81 |  Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. v. Maria Muhle, Berlin: b_books, 2006. 82 |  Insbesondere seit dem 18. Jahrhundert ist das Atmosphärische auch im architektonischen Diskurs zu finden (u.a. bei Schmarsow und Wölfflin). Architektur wird hier ausgehend von der Axialität des Leibes bzw. in Korrespondenz von Leibkörper und Baukörper als Raumschöpfung verstanden und an Theorien der Einfühlung gebunden. Das kalkulierte Spiel mit der Auflösung von Distanz, das emphatische körperlich-sinnliche Erleben, stellt die Frage danach, wie diese Pa-

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Entwürfe und Gefüge »[i]mmersive Räume [...] ein markanter Teil der Ästhetisierung von Lebenswelten [sind], die unsere heutige Kultur so nachhaltig prägt. Es sind Räume, in denen Welt und Bild sich überblenden und wir buchstäblich dazu eingeladen sind, uns in die Welt des Bildes zu begeben und in ihr zu bewegen. Und: es sind Räume, in denen sich die Wirklichkeit der Welt und die Wirklichkeit des Bildes in der unmittelbaren Wirklichkeit des Körpers konsolidieren.«83

Wie dieses Ineinanderwirken von kinesphärischer Gestimmtheit und atmosphärischer Raumverdichtung funktioniert, soll am Beispiel des Blur-Buildings von Diller & Scofidio gezeigt werden.

5.2 Blurring the Boundaries »To blur is to make indistinct, to dim, to shroud, to make vague, to obfuscate. Blurred Vision is an impairment, it’s vision mediated. A blurry image is typically the fault of a mechanical malfunction in a display or reproduction technology. For our visually obsessed, high-resolution, high-definition culture, that measures satisfaction in pixels per inch, blur is understood as a loss.«84

Der Versuch, mit dem eingangs beschriebenen Blur-Building das Ereignishafte, das Ephemere und die Leichtigkeit, ja gar diesen Verlust, in der eigentlich doch statischen und auf Dauer fixierten Architektur einzufangen, galt seit den ersten Weltausstellungen als Herausforderung der Architektur, genossen doch diese temporären Bauten das Privileg, nicht den alltäglichen Ansprüchen des Funktionalen genügen zu müssen, sondern sie mussten nur für den Moment der Ausstellung überzeugen.85 Von Joseph Paxtons Kristallpalast (Paris 1851) über rameter in ein wirkungsorientiertes Entwurfsdenken einzubinden wären. An den Umwertungen eines solchen Paradigmas lässt sich belegen, wie das Atmosphärische (im Gegensatz zu Gernot Böhme) in seiner Entwicklung über die Erfahrung des Naturschönen, über die Erfahrung moderner Disparatheit, Fragmentierung und Entfremdung und wie es in Montage durchaus historisch zu verorten ist. Vgl. dazu auch Anthony Vidler: UnHEIMlich. Über das Unbehagen in der modernen Architektur, Hamburg: Edition Nautilus, 2001; und ders.: Warped space. Art, Architecture and Anxiety in Modern Culture, Cambridge (MA): MIT Press, 2000. 83 |  Laura Bieger: Ästhetik der Immersion. Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City, Bielefeld: transcript, 2007, S. 9. 84 |  Elizabeth Diller: »Defining Atmosphere«, zitiert in Jonathan Hill: Immaterial Architecture, London/New York (NY): Routledge, 2006, S. 96. 85 |  Darauf verweist auch die etymologische Wurzel des Begriffs Pavillon, altfrz. pavellun < lat. papillo = Zelt, Schmetterling: Barry Bergdoll: »Der Pavillon und die erweiterten Möglichkeiten von Architektur«, in: Peter Cachola Schmal (Hg):

Wolken Mies van der Rohes transparenten Barcelona-Pavillon (1929) bis hin zu Buckminster Fullers Geodesic Dome (1968) auf der Weltausstellung in Montréal86 wurden diese Unterfangen zu einem technologischen Wettstreit der einzelnen Nationen  – nicht nur um die avancierteste Ingenieurskunst und Technologie zu demonstrieren, sondern ebenso um die Grenzen des Architektonischen auszuloten. Jene Ausstellungsprojekte vertraten das Bestreben, um jeden Preis ›modern‹ zu sein – sei es, um eine besondere Art der (ästhetischen) Erfahrung zu ermöglichen, oder sei es, um im Rahmen bestimmter Ökonomien eine spezifische Wirkung zu erzielen (wobei beide Strategien sich keineswegs ausschließen). Das heißt, dass in diesem experimentellen und durch national-ökonomische Interessen geförderten Rahmen nicht nur noch nie zuvor Gesehenes präsentiert werden,87 sondern auch ein künstlerischer Anspruch manifest werden sollte, der zumeist in der engen Verbindung von Architektur und Skulptur aufschien.88 In dieser Reihung spektakulärer Ausstellungsarchitekturen erinnert Blur am ehesten an den vom Künstlerkollektiv E.A.T. – »Experiments in Art and Technology«89 entworfenen Pepsi-Cola-Pavillon zur Weltausstellung 1970 in Osaka, der ebenfalls von einer nebligen Wolke umgeben war. Im Inneren des Pepsi-Cola-Pavillons waren es, ähnlich wie bei Fullers Dome, die projizierten Bildwelten von Charles and Ray Eames, die den Zuschauer die Effekte des Immer-

Der Pavillon. Lust und Polemik in der Architektur, Ostfildern: Hatje Cantz, 2009, S. 12-33, hier S. 13. 86 |  Wobei sich diese Bemühungen um das Leichte in der Architektur bereits mit den Bauten Étienne Louis Boullées beschreiben ließen. Vgl. dazu Susanne von Falkenhausen: KugelbauVisionen. Kulturgeschichte einer Bauform von der Französischen Revolution bis zum Medienzeitalter, Bielefeld: transcript, 2008, S. 17-21. 87 |  Jedoch wurde es gerade auf diesem Experimentierfeld möglich, Erneuerungen anhand jener Architekturen zu verfolgen. Die ephemeren Bauten galten als Modelle für die in den darauf folgenden Jahren sich entwickelnde Stahlkonstruktionen, die wiederum in der Kombination von Stahl und Glas als Vorläufer der Leichtbauweise gelten können, die wiederum mit Buckminster Fuller, Konrad Wachsmann oder Frei Otto ihre Weiterentwicklung fand. 88 |  Vgl. dazu u.a. den Ausstellungskatalog: Markus Bruderlin (Hg.): ArchiSculpture. Dialogues between Architecture and Sculpture from the 18th Century to the Present Day, Ostfildern-Ruit: Hatje-Cantz, 2004. 89 |  Das Künstlerkollektiv E.A.T. wurde 1967 u.a. von Robert Rauschenberg und Billy Klüver gegründet, die bereits 1966 für 9 evenings kollaboriert hatten. Beteiligt an der technischen Umsetzung der Wolke war 1970 beim Pepsi-ColaPavillon wie auch 2002 bei Blur die japanische Ingenieurin Fujiko Nakaya.

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Entwürfe und Gefüge siven spüren ließen.90 Ursprünglich waren auch für Blur Filmprojektionen auf einer changierenden ›Oberfläche‹ der Wolke vorgesehen, die jedoch aus Kostengründen nicht realisiert wurden. In der Blur-Wolke wurden jene Effekte des Eintauchens in den Raum über die Kopplung haptischer, olfaktorischer, kinästhetischer und visueller Reize mit einer Erfahrung der räumlichen Desorientierung aisthetisch vermittelt. Damit knüpfen sie zwar an Schmarsows Forderungen einer Architektur als Raumkunst an und lassen sich zweifelsohne auch über Gernot Böhmes Ansatz einer atmosphärisch gestimmten Architektur beschreiben, ihre spezifische Theatralität jedoch rührt eher aus der kulturhistorischen Konnotation viktorianisch-romantischer Wolkenbeschreibungen, welche das Unheimliche oder Sehnsuchtsvolle assoziieren lässt, wie es Anthony Vidler in seinen Studien zum UnHeimlichen in der modernen Architektur gezeigt hat.91 Zudem führt die Inszenierungsweise von Blur zurück auf grundsätzliche Probleme der Ausstellungsarchitektur, genauer: darauf, wie diese den Blick des Betrachters auf spezifische Art und Weise ›einrichtet‹ und lenkt,92 wie die Begegnungen der Besucher sich gestalten. Dieser Eindruck wird nicht nur evoziert über »die Illusion einer Immersion des Betrachters in ein Bild, wie sie mit den Mitteln des großen Formats, eines möglichst perfekten Mimetismus oder einer Rundumansicht wie im Panorama betrieben worden war, sondern um eine sehr viel physischere Entgrenzung der Raumwahrnehmung, eine wahrnehmungstechnologisch hervorgerufene Destabilisierung der Position und des Raumgefühls beim Betrachter.«93

Innerhalb der historischen Entwicklung solch spektakulärer Architekturen ist für den »Bau eines kollektiven Kulterlebens ein Medienwechsel vom architektonischen zum Medienkörper, vom Baukörper zum Wahrnehmungsraum, von der Konstruktion zur Leichtbaumontage, von der gebauten Wand zur transparenten Projektionshaut« zu verzeichnen.94 Die Auflösung der Relation von Individuum und Kollektiv zwischen Kult und Spektakel macht einen entscheidenden Unterschied zwischen den Kult-Architekturen der Neuzeit und den (post-)modernis 90 |  Beatriz Colomina: »Die Multimedia-Architektur der Eames«, in: Gertrud Koch u.a. (Hg.): Umwidmungen – architektonische und kinematographische Räume. Berlin: Vorwerk 8, 2005, S. 22-35. 91 |  Vgl. Vidler: 2001 [1992]; sowie ders.: 2000. 92 |  Vgl. dazu: Tony Bennett: »Der bürgerliche Blick. Das Museum und die Organisation des Sehens«, in: Dorothea von Hantelmann/Carolin Meister (Hg): Die Ausstellung. Politik eines Rituals, Berlin/Zürich: diaphanes, 2010, S. 47-77. 93 |  Falkenhausen: 2008, S. 135. 94 |  Ebd., S. 155.

Wolken tischen Spektakelarchitekturen der Mediengesellschaft.95 Während im Kult der Einzelne sich nur im Kollektiv erfährt, wird im immersiven Spektakel der Effekt individueller Erfahrung betont; die Fokussierung auf den innerkörperlichen Affektraum vereinzelt den Betrachter sozusagen automatisch. Gleichzeitig fallen für ihn somit eine gewisse »Selbstreferentialität des Mediums und des Subjekts [...] zusammen«.96 Bereits an den zuvor genannten Beispielen wird deutlich, dass in den Ausstellungspavillons die Architektur in ihrer traditionellen Form zunehmend in den Schatten tritt und mehr oder weniger nur noch als Hintergrund für multimediale Figuren dient.97 Die struktive Dimension ebenso wie die protektive Funktion der Architektur werden ausgeblendet, stattdessen rücken die Dimensionen des Szenographischen und eine dementsprechende Theatralisierung des Raumes in den Vordergrund. Architektur fungiert als komplexe Maschinerie der Inszenierung, die auf die Erfahrung des Rezipienten, insbesondere auf seine leibliche Anwesenheit im Raum und mit der Präsenzemphase auf eine Totalität der Erfahrung abhebt – wobei Synchronisation als ein Mittel dient, den Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen herzustellen. In diesem Sinne lässt sich Blur wie folgt einordnen: Zum einen erfüllte die Arbeit den Charakter des Spektakulären, Neuen, Einzigartigen einer Weltausstellungsarchitektur – zum anderen machte die ›Wolke‹ aber auch den Versuch, diese Bestimmungen der Spektakelarchitektur zu unterlaufen, oder vielmehr umzudeuten, wurde doch gerade über die ephemere und unbestimmbare architektonische Form, die sich in einem steten ›Zwischen‹ befand, eine Erfahrung gestaltet, die sich nur in ihrem medialen Charakter angemessen reflektieren lässt. Wie nun lässt sich dieser Raumzusammenhang weiter bestimmen? Er scheint nicht mehr so sehr durch das Zusammenspiel einzelner architektonischer Elemente, wie beispielsweise durch die Erzeugung von Weite oder Höhe organisiert, die der bewegte Betrachter in Beziehung setzt, sondern vielmehr durch 95 |  Mit der Ausdifferenzierung eines globalen Kunstmarktes wurde die Inszenierung des Atmosphärischen zu einer angeblich auch über kulturelle Grenzen hinweg vermittelbaren Aufgabe für Ausstellungsgestaltungen, die von Architekten und Künstlern als Gestaltern immersiver Erfahrungsräume gleichermaßen übernommen wurde. So inszenierten Künstler wie beispielsweise Olafur Eliasson in der Londoner Tate Modern Installationen, die das Atmosphärische in den Mittelpunkt einer Reflexion über das Wahrnehmbare rückten. Auch der Architekt Philippe Rahm präsentiert seine Arbeiten zunehmend im Ausstellungskontext. 96 |  Falkenhausen: 2008, S. 156. 97 |  Vgl. Joachim Krausse im Gespräch in: ARCH+ 149/150, Medienarchitektur, April 2000, S. 26-29, hier S. 26.

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Entwürfe und Gefüge ein viel flüchtigeres Erscheinen und Ergänzen durch das Subjekt. So ist folglich danach zu fragen, was aber genau an die Stelle des traditionell Architektonischen tritt. Die ästhetische Erscheinung lässt sich mit dem Begriff der Montage als Form der Integration näher bestimmen98 – auch wenn eine räumlich gedachte Ordnung im Entwurf nicht nur mit den Mitteln der Montage, sondern in diagrammatischen Bezügen dargestellt wird. Beide zusammen sind in der Lage, zwischen Körpererfahrung und abstrakten, virtuellen Räumlichkeiten zu vermitteln, und definieren somit die Beziehungen zwischen den einzelnen Medien, die den Raumzusammenhang organisieren – und aufgrund derer wir bestimmte Wahrnehmungsmuster ausbilden. »The Making of Nothing« – so war der Ausstellungskatalog von Diller  & Scofidio selbst betitelt.99 Ob dieses »Nichts« jedoch als eine geschickt platzierte Formulierung ein Paradox der Medien-Architektur generell anspricht, ist zu bezweifeln: Der Kunsthistoriker Hubert Damisch plädiert dafür, die Wolke nicht etwa als dieses »Nichts« zu begreifen, sondern sie vielmehr als komplexe »Maschinerie der Absenz« zu interpretieren.100 So kann der Titel eher als Kommentar auf die eigene, zunächst immateriell und ephemer erscheinende Arbeit sowie als Kommentar auf die Mechanismen des Kunstbetriebs, die auch für die Ausstellungsarchitektur gelten, interpretiert werden. Die Architekten-Künstler beschreiben ihre Arbeit nämlich wie folgt: »We do not intend to make a volume of space covered with fog. We intend to make a building of fog with integrated media.«101 Dass die ursprüngliche Vision einer komplexen medialen Gestaltung, die im Sinne eines multimedialen Massenmedien-Panoramas konzipiert war,102 an der Finanzierung scheiterte, hindert jedoch nicht auch die verschiedenen Ebenen der Gestaltung der Wolke selbst als medial zu interpretieren: »We wanted to synthesize architecture and technology in a way that each would exchange the characteristics of the other, that is to say, dematerialize architecture 98 |  Als eine andere Art diesen Zusammenhang zu organisieren beschreibt Krausse die Diagrammatik, die »sowohl nach dem traditionellen Bereich des struktiv Tektonischen und Technischen als auch nach der Seite des Bildnerischen des Ikonischen« reicht und Beziehungen knüpft Joachim Krausse: »Information auf einen Blick. Zur Geschichte der Diagramme«, in: Form + Zweck 16, 1999, S. 4-23. 99 |  Elizabeth Diller/Richard Scofidio: Blur: The Making of Nothing, New York (NY)/London: Abrams, 2002. 100 |  Hubert Damisch: »Blotting out architecture? A Fable in Seven Parts«, in: Log. Observations on Architecture and the Contemporary City 1, Herbst 2003, S. 9-26, hier S. 15. 101 |  Ebd., S. 16. 102 |  Vgl. Philip Ursprung: »Blur, Monolith, Blob, Box. Atmosphären der ArchiSkulptur«, in: Bruderlin (Hg.): 2005, S. 40-47, hier S. 44.

Wolken and to materialize technology. But materialize, not in the sense of hardware, but in the sense of making certain things palpable, that are usually invisible. Like the emissions of certain technologies. So the big project here is the sublime, and the sublime on a level of nature, we’re creating artificial nature sublime, but also on the level of technology, this invisible and fast communication almost beyond our ability to control it, happens. Besides wanting to foil the conventions of heroic Expo and Fair architecture we wanted to delve into the aesthetics of nothing and engage in substance without form.«103

Hier werden verschiedene Aspekte angesprochen: von der Dematerialisierung der Architektur bis zur Erfahrung des »sublime« – des Erhabenen, das gewöhnlich nur mit der Erfahrung des Naturschönen in Verbindung gebracht wird. Die Idee mit den Mitteln der Technologie ein künstliches Erhabenes zu schaffen, das sich durch eine möglichst hohe Durchlässigkeit auszeichnet, genauer: einen Körper zu schaffen, der doch kein Baukörper im herkömmlichen Sinne mehr ist – denn eine ›Wolke‹ kann man nicht bauen, sie entzieht sich jeglicher Formfestschreibung oder Struktur –, wird hier nicht tektonisch, sondern eher epistemologisch im Zusammenspiel von tensegrity/Zugspannung und Luft konzipiert und umgesetzt. So ist die Wolke vorläufiger Höhepunkt einer Dynamisierung der Architektur, oder eher noch im Sinne Buckminster Fullers einer immer weiter fortschreitenden technologischen Ephemerisierung der Architektur,104 103 |  Diller: »Defining Atmosphere«, zitiert in Hill: 2006, S. 95. 104 |  Diese erreicht ihren Höhepunkt bezeichnender Weise in einem Diskurs über die Frage nach dem Klima, an dem auch der Blur-Pavillon partizipiert, und ebenso wie Fuller auch an Debatten um eine nachhaltige Architektur anschließt. So hat sich beispielsweise auch der Architekt Philippe Rahm einer ›meteorologischen Architektur‹ verschrieben. Der Begriff »Immediate Architecture« zeugt von der Überzeugung, Architektur von einem Funktionalismus der Nutzung zu befreien. So bezeichnet Rahm folgerichtig sein Hormonorium als einen »neuen öffentlichen Raum«. Das Verschwinden von physischen Grenzen zwischen Raum und Organismus, erschließe die Welt des Unsichtbaren. Licht, Temperatur und Luftqualität beeinflussen das endokrine und neurovegetative Nervensystem. Das sehr helle Licht, das durch die Leuchtstoffröhren vom Boden abstrahlt, verändert das Hormonsystem des Körpers für die Dauer des Besuchs, es kann zu leichten Störungen des vegetativen Nervensystems, zu Verwirrung, Desorientierung, aber durch Ausschüttung von Endorphinen auch zu leichter Euphorie kommen. Diesbezüglich erscheint das Hormonorium als Prototyp einer atmosphärischen Architektur, in der sich jene atmosphärischen Veränderungen sogar noch in wissenschaftlich messbaren und in den körperlich-psychischen Veränderungen ablesen lassen. Gerade hier jedoch greift die Bezeichnung einer »unmittelbaren Architektur«, wie sie Rahm selbst vorschlägt, am wenigsten. Wie andere Architekten im

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Entwürfe und Gefüge wie sie spätestens mit der Erfindung der Leichtbaukonstruktionen beginnt (im 19. Jahrundert etwa mit Joseph Paxton, später fortgesetzt durch Frei Otto, Konrad Wachsmann), welche das Verhältnis von Bauträger und Hülle umdefiniert und mit den computergenerierten Entwürfen einer fluiden Architektur weiterentwickelt wird.105 Die Wolke fungiert hierbei als Sinnbild nicht nur der Ephemeralität, sondern auch, wie eingangs des Unterkapitels beschrieben, einer Dichte und Verdichtung von Performanz. Ohne definierbares Innen und Außen suggeriert die Inszenierung der blurring effects, die auf die Gestimmtheit des Raumes abzielen, spezifische Verhaltensweisen und Verhältnisse unter den Besuchern.106 Während in Frederic Jamesons Überlegungen zur postmodernen Architektur des Bonaventura-Hotels in Las Vegas die Möglichkeit zur Verortung der eigenen Person durch die zahlreichen Spiegel und Transparenzeffekte der Architektur entzogen wird,107 wird der Effekt der Desorientierung in der Blur-Wolke mit gegenteiligen Mitteln

Rahmen neuer computergenerierter Formgebungsverfahren (CAD) macht er denselben Fehler, einen Raum anzusprechen, »der sich nicht länger auf semantische, kulturelle oder materielle Ebenen bezieht.« – Vgl. Philippe Rahm: »Immediate Architecture«, in: Margitta Buchert/Carl Zillich (Hg): Performativ? Architektur und Kunst, Berlin: Jovis, 2007, S. 105-113, hier S. 106. 105 |  Verbunden wird hier das Bild einer Netz-Topologie mit dem Vokabular der computergenerierten Architekturformen: Begriffe wie ›Blob‹, ›Liquid Design‹, ›Fluidität‹ und das ›Biomorphe‹ beschreiben nicht Brüche, sondern die Falte als geschwungene, weiche Form. Susanne Falkenhausen macht auf die genderspezifischen Konnotationen dieser Formensprache aufmerksam, die gekurvten Formen und weichen Häute implizieren eine weibliche, sinnliche, umhüllende Körperlichkeit, die allerdings hinter der Rede von Rechnerkapazitäten und den Möglichkeiten des Digitalen latent verborgen bleibt; vgl. Falkenhausen: 2008, S.  169. Vergleichbar zeugen auch Greg Lynns Embryological Houses von einem ähnlichen Denken. 106 |  Die Rezeption war nicht so sehr an die vereinzelnde Raumerfahrung, sondern an die mediale Konstruktion gebunden, die durch das Tragen interaktiver Regenmäntel, durch sphärische Musik und die »Angel-Bar« verschiedene Formen der Kommunikation anbot. 107 |  Fredric Jameson: Postmodernism, Or, the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham (NC): Duke Univ. Press, 1991, S.  42f. Der Architekturtheoretiker Charles Jencks spricht in Bezug auf die Moderne gar davon, dass die Architektur als Kommunikation gescheitert sei, selbstbezüglich geworden sei und nicht mehr als semiotische Mitteilung funktioniere.

Wolken erzielt – über den Nebel, der Übergänge und Grenzen aufzulösen scheint108 und eher eine Erfahrung der Entortung produziert. Die Erfahrung der Architektur des Atmosphärischen, der »unbestimmten Stimmung«109, definiert sich nicht mehr über die tatsächliche Raumerfahrung, der Lage des Körpers im Verhältnis zum Raum, sondern über die Immersion in den Raum als einem Affektraum, der ein Reservoir an Imaginationen aktiviert und gleichzeitig individuelle, vereinzelnde Affekte wie Schwindel und Desorientierung hervorruft.110 Die Selbstreferentialität des Mediums und die Selbstreferentialität des Subjekts, das kein Außen mehr hat, erinnern jedoch durchaus an Tendenzen des Gesamtkunstwerks, das in der synästhetischen Erfahrung auch einen totalitären Zug entfalten kann.111 So wird im Blur-Building jede Referenz auf das Äußere im Gang in den Nebel gelöscht – der Besucher nimmt nur noch ein ›weißes Rauschen‹ wahr, die optische Verwischung dominiert die Erfahrung. Nur wenn der Wind sich sehr schnell dreht, wird man für einen kurzen Moment des konstruktiven Aspekts gewahr. Wie Philipp Ursprung es beschreibt, wird mit der »Wolke« ein Raum konkretisiert, der optisch nicht durchquert werden kann und der voller Hindernisse steckt.112 Der transparente, berechen- und kontrollierbare Raum moderner Architektur weicht einer atmosphärischen, materiellen Räumlichkeit, die für 108 |  Das Wolkige, das sich jeglicher Festsetzung entzieht, als einen Angriff auf die Ökonomie des Ausstellungsparadigmas zu verstehen, würde jedoch den spektakulären Charakter der ›Wolke‹ vernachlässigen – gerade aber auch die »Nutzlosigkeit«, wie dies Adorno und Tschumi etwa am Beispiel des Feuerwerks erläutern; vgl. Kap 4. 109 |  Böhme, Gernot: »Architektur und Atmosphäre«, in: ARCH+ 178, Juni 2006, Die Produktion von Präsenz, S. 42-45. 110 |  Vgl. Falkenhausen: 2008, S. 155. 111 |  An dieser Stelle muss auf die in der Architekturtheorie oftmals beschriebene Verwandtschaft zwischen Architektur und Musik verwiesen werden, die sich nicht nur in der distanzierten Reflexion entfaltet, sondern sich auch durch die totale umfassende, körperlich-sinnliche einer unwiederbringlichen Erfahrung auszeichnet, und die jene Künste, wie die Musik, während des direkten Klangerlebnisses schwerer kognitiv erfassbar machen, ihre gleichzeitig raumauflösende Qualität sowie ihre Ephemeralität entsprechen den Qualitäten des Atmosphärischen. Die Architektur unterliegt herkömmlich ähnlichen Kompositionsgesetzen. Vgl. Paul Valéry: Eupalinos oder Der Architekt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 50ff. Valéry spricht sowohl von den Erscheinungen als auch von den Phantomen, die der Erfahrung beider Künste eigen sind und einen einzigartigen »Zusammenhang von Erscheinungen, Übergängen, Widersprüchen, und unbeschreiblichen Ereignissen [ ] erzeugen«, S. 68. 112 |  Ursprung: 2005, S.45.

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Entwürfe und Gefüge den Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn fühlbar, aber nicht rational-visuell durchschaubar ist; der Raum ist hier keinesfalls neutrales oder leeres Medium, sondern vielmehr ein ›undurchsichtiger‹ Akteur und Mitspieler. In diesem Sinne kann Blur auch, so Ursprung weiter, als Kritik an einer Illusion der Transparenz, wie sie mit der Moderne formuliert wird, gelesen werden. Architektur dort anzusetzen, wo die Konstruktion (scheinbar) aufhört, kann als Herausforderung einer (scheinbar) auf Stabilität und Dauerhaftigkeit ausgerichteten Disziplin betrachtet werden; vor allem aber hinterfragt ein Projekt wie die »Wolke« einen Architekturbegriff, der auf dem Zusammenspiel der tektonischen Elemente beruht, und verschiebt den Akzent auf dematerialisierende Effekte wie Luft und Licht, Bewegung und darüber schließlich auch auf die Prozesse der Wahrnehmung und Kommunikation, die durch die Besucher in Gang gesetzt werden.

Abb. 3.5: William Forsythe: Scattered Crowd, © Julian Gabriel Richter.

Auch William Forsythe hat in seinen Installationen den Topos der ›lichten‹, schwebenden Leichtigkeit mehrfach verarbeitet. Diesem Topos der Leichtigkeit, der für den Tanz vor allem im 19. Jahrhundert in der Figur der Ballerina, dem elevé und dem Spitzenschuh seinen Ausdruck fand,113 wird in den Installationen Forsythes eine Architektur entgegengesetzt, die gerade den ungeübten Betrach 113 |  Vgl. dazu Gabriele Brandstetter (Hg.): figurationen 1/3, 2003, leichtigkeit/ lightness, S. 7-12.

Wolken ter, der jener virtuosen Techniken nicht mächtig ist, die Leichtigkeit empfinden lässt. (Abb 3.5 und 3.6) In Scattered Crowd, einer Installation bestehend aus vielen mehr oder weniger mit Gas gefüllten, weißen Luftballons, umfing eine ›Wolke‹ aus weißen Luftballons den Betrachter. Die Besucher gaben ihr wechselnde Formen, um sich selbst neue Zwischenräume zu schaffen. Das White Bouncy Castle, eine riesige weiße Hüpfburg, lud die Besucher ein, das Gefühl der Schwerelosigkeit zu erkunden. Beide Installationen erfüllen hier Anforderungen des Spektakulären, die sie gleichzeitig auch zu hintergehen versuchen. Die von Falkenhausen beschriebene Kultarchitektur wird hier wieder zu einem interaktiven Ereignis hinsichtlich der Relation von Individuum und Kollektiv umgedeutet.

Abb. 3.6: William Forsythe: White Bouncy Castle, © Dominik Mentzos.

Ob die »zerstreute Masse« entsprechend der Übersetzung des Titels der Installation auf die Verteilung der Ballons oder die Dichte der Besucher abzielte, ist weniger von Belang – die ›Wolke‹ aus Luftballons wurde zumeist in öffentlichen

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Entwürfe und Gefüge Gebäuden wie Museumshallen ausgestellt und gab deren Räumlichkeiten so eine neue Funktion. Auch das White Bouncy Castle wurde im Zusammenhang von Festivals im öffentlichen Stadtraum aufgebaut. Beide schaffen neue Erfahrungsräume als Kontrapunkt zum Alltag. Als »Paradigma ›poietischer Prozesse‹ im Gegensatz zu gesellschaftlichen Handlungszwängen«114 erweisen sich – das zeigen die soeben beschriebenen Arbeiten – Erkenntnis- und Erfahrungsprozesse zeitgenössischer Kunst, denen eine bestimmte Offenheit und Polyvalenz eigen ist. Wo Kunst und Spiel das Heraustreten aus zweckrationalen Zwängen ermöglichen und die freie Selbstorientierung und eigene Regelhaftigkeit erlauben, betonen sie die Entwurfsqualität des Spiels, freilich in einem konsequenzverminderten (Kunst-)Raum. Dabei ist eine Zuordnung niemals eindeutig – die Installationen stehen zwischen Experiment, Environment und Happening und mobilisieren so eine Kritikfähigkeit gegenüber sozialen Ordnungen der Alltags. Die aktivierende Konzeption kennzeichnet Architektur hier im weitesten Sinne als Kunst der Organisation gemeinschaftlicher Prozesse. Ob das Atmosphärische in diesem Kontext aber tatsächlich als Teil-Bedingung eines öffentlichen Raumes gelten kann, soll in Kapitel 5 diskutiert werden. Jedoch ist an dieser Stelle festzuhalten, inwieweit hier wirkungstheoretische Aspekte der Architektur, innerhalb derer das Atmosphärische zwar als Kommunikationsmittel dient, jedoch zugleich auch als Herrschaftsinstrument hervortritt und Prozesse der Raumerfahrung organisiert. Hier wird mit fast unsichtbaren Mitteln eine Politik am Körper betrieben, die nicht mehr, wie noch in der Moderne, auf die Reorganisation des Sozialkörpers zielt, sondern den ›realen‹ Körper und seine Wahrnehmung steuert und damit Effekte hervorbringt, die wiederum Affekte steuern. Eine Ästhetik eines ›realen‹ Körpers und seiner Präsenz verwoben in eine transitorische Architektur zeigt auf besondere Art und Weise Forsythe in bzw. mit Clouds after Cranach. Hier verkomplizieren sich die Aspekte auf besondere Weise – durch Störungen in den Übertragungs- und Übersetzungsprozessen. Ob sich eine einfache Opposition, nach der sich eine Ästhetik der Präsenz automatisch mit dem Spektakulären und eine Ästhetik der Abwesenheit sich mit dem Entzug, der Nachträglichkeit und der dekonstruktiven Verschiebung assoziieren lassen, ist hier zu hinterfragen. Zudem soll gezeigt werden, dass die Aktivierung des Zuschauers hier nicht einer präsenz-ästhetischen, sondern vielmehr der Nachträglichkeit und Verschiebung zuzuordnen ist.

114 |  Tanja Wetzel: Lemma »Spiel«, in: Karl-Heinz Barck/Martin Fontius/ Dieter Schlenstedt (Hg): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2003, S. 577-618, hier S. 577.

Wolken

6 Clouds after Cranach 6.1 Variation one Im Vergleich zu Three Atmospheric Studies ist der Raum im ersten Teil Variation One weit weniger durch die ›atmosphärischen Medien‹ Licht und Klang bestimmt; lediglich ein großer quadratischer Scheinwerfer beleuchtet die Bühne.115 Die Synchronisierungen der Bewegungen und Elemente werden vielmehr auch hier – entsprechend der im Vergleich zu Three Atmospheric Studies weitaus geringeren räumlichen Distanz des Publikums – über das präzise cueing der Tänzerinnen und Tänzer untereinander hergestellt. Zu Beginn tritt die ganze Company in einer Reihe von links am hinteren Bühnenrand auf. Ander Zabala und Jone San Martin – die Frau im rosafarbenen Kleid – treten vor mit dem Satz: »This is composition 1, in which my son was arrested.« Der gesamte erste Teil wird durch diesen Satz bestimmt: Es entwickelt sich ein choreographiertes Durcheinander der Gruppe zwischen Stasis und Dynamik: Einzelne Solos und kleine Gruppierungen entstehen, die für einen kurzen Moment in der Pose erstarren. In der vorderen Bühnenhälfte fällt eine Gruppe auf, die neben einer schwer atmenden Tänzerin kniet – die Bewegung friert kurz ein und wird zum Tableau stilisiert. Diese freeze frames wirken wie Momentaufnahmen eines Kriegsgeschehens, sie bebildern eine Szenerie, die sich, wie sich herausstellen wird, auf eine erst im zweiten Teil folgende Erzählung bezieht. Weiter hinten versucht eine zweite Gruppe jemanden in einer fliehenden Bewegung festzuhalten; wie sich später herausstellen wird, handelt es sich hierbei um die Szene einer Verhaftung. Die Szene wird ebenfalls mehrfach wiederholt und eingefroren. Eine andere Szene wird immer wieder nachgestellt, es scheint sich um einen Unfall zu handeln. Der Tänzer – Ander Zabala – hält mitten in der Bewegung inne, stürzt zu Boden, andere Tänzer gruppieren sich um ihn herum zu einem Tableau, eine der Tänzerinnen nimmt seinen Kopf in ihren Schoß – in einer Haltung, die an eine Pietà-Darstellung erinnert, schlägt sie damit wieder einen Bogen zur christlichen Bildtradition des Cranach-Bildes. Immer wieder gibt es in diesem ersten Teil die Geste des Auf-Etwas-Zeigens: Sie ist jedoch nicht etwa auf die einzelnen Tableaux Vivants gerichtet und bleibt somit vorerst unbestimmt – denn worauf genau sollte auch gezeigt werden, wenn sich doch jeder Moment wieder durch stete Bewegung entzieht? Die Punktualität der Geste des Zeigens und die Verwischung in der auflösenden Bewegung versuchen etwas festzuhalten, das nicht zu fassen ist. ›Das da‹ – eine Geste von sich weg auf den oder das andere: Was aber ist es, was in diesem un 115 |  Ich beziehe mich hier auf die Aufführung, die ich am 26.11.2005 im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main gesehen habe.

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Entwürfe und Gefüge bestimmten Zwischenraum erscheint? Oder geht es gerade um den Zwischenraum selbst, der sich für die Ausdeutungen des vorerst Unsagbaren öffnet? Die konstrastierende Rhythmisierung zwischen stark bewegten, schnellen Passagen und den eingefrorenen Bildern tragen zu einer Wahrnehmung bei, die, wie bereits in Three Atmospheric Studies, immer nur nachträglich funktioniert. Zwischen den eingefrorenen Tableaux, die durch das laut hörbare Atmen der Tänzer stets auch das vivant – die Lebendigkeit – suggerieren, lässt die Inszenierung des ersten Teils die Tänzer selbst wie Partikel einer geladenen Wolke erscheinen, die ein mögliches Geschehen nur umkreisen können. Es stellt sich auch hier wieder die Frage, wie dieses zu fassen sein könnte, wie man sich ihm annähern könnte. Vor dem Hintergrund der bereits bekannten Bildquellen und dem politischen Referenzrahmen aus Three Atmospheric Studies wäre dies erneut die Frage danach, wie es möglich wird, angemessen Bericht zu erstatten über etwas, das sich der unmittelbaren Wahrnehmung entzieht.116 Der niedrig gehängte Scheinwerfer fährt hoch, ein einziges kleines Licht scheint am vorderen rechten Bühnenrand. Ander Zabala bleibt in der Mitte und nimmt erneut die Pose des Verhafteten ein. Ein dunkler Tanzboden wird über die Bühne gezogen, der erste Teil ist zu Ende. Die mögliche Bedeutung der Szenen erschließt sich jedoch, wie nun gezeigt werden soll, erst im zweiten Teil.117

6.2 Die Übersetzung als Entsetzung Die folgenden Szenen widmen sich auf mehrfacher Ebene einem Übersetzungsproblem: Die Frau in einem rosafarbenen Kleid, Jone San Martin, die auch in Three Atmospheric Studies eine besondere Rolle innehatte, sitzt vorne links auf einem Stuhl. Ihr Anliegen ist es, ihre Geschichte vom Verlust ihres Sohnes übersetzen zu lassen, sich selbst eine Stimme zu verschaffen. Mithilfe eines Übersetzers – Amancio Gonzales – versucht sie nun ein Schreiben im Arabischen aufzusetzen, das die Situation im Detail rekonstruiert. Der Übersetzer sitzt rechts von ihr an einem Tapeziertisch, hinter ihm ist eine orientalisierend geschmückte Kabine zu sehen, mit vielen Stoffen überhängt. Die Mutter erzählt, dass sie während eines Tumults ihren Sohn verloren hat: »My son was arrested while I was watching my daughter« – »ibnii – son«, fällt ihr der Übersetzer ins Wort, sie versteht nicht direkt, er wiederholt: »ibnii – son«, um zu bedeuten, dass dies die Übersetzung für die Worte »my son« sei. »My son was arrested!«, wiederholt sie wieder und wieder; gesehen habe sie es selbst nicht, da der Rauch 116 |  William Forsythe im Gespräch mit Steve Valk, früherer Dramaturg beim Ballett Frankfurt, Dublin, 18. April 2008. 117 |  Die Aufführungen in Dublin, am 17. und 18. April 2008, zeigen zunächst den ersten Teil aus Clouds after Cranach, als zweiten Teil die Übersetzungspassage und schließlich den zweiten Teil aus Three Atmospheric Studies.

Wolken ihr die Tränen in die Augen trieb – und hier mischen sich die Bildverweise: Die von der trauernden Mutter physisch skizzierte Wolke aus Cranachs Klage korrespondiert mit dem herbeizitierten Rauch aus dem aktuellen Kriegsbericht und der Kriegsphotographie, biblische und profane Leidensdarstellung gehen ineinander über. Immer wieder verlässt der Übersetzer seinen ›neutralen‹ Standpunkt als Vermittler und wird zur dominierenden Figur in diesem Prozess. Zu Beginn versuchen beide so präzise wie möglich vorzugehen, die sich steigernde Entfremdung und Aufregung wird durch eine zweite Ebene noch verstärkt. Denn dazwischen murmelt ein Dritter, David Kern, mit leiser Stimme etwas, das für den Zuschauer noch unverständlich bleibt, dazu führt er Gesten aus, die etwas abzumessen scheinen, sie beschreiben und begleiten seine Worte, indem sie Verhältnisse etablieren. Im Laufe der gesamten Szene ist er auf der Bühne anwesend; während der Übersetzungsversuche scheint es, als spinne er mit einem kaum sichtbaren dünnen Faden ein dichtes Netz zwischen den einzelnen Punkten der Szenerie. Er vermisst dabei den Raum und unterteilt ihn mittels der Fäden in einzelne Segmente, was an die Fluchtpunktlinien der Zentralperspektive erinnert, mit denen die Bildkompositionen Cranachs und der Photographie organisiert sind. Dabei referiert er immer wieder auf das erst später zu sehende Gemälde von Cranach und auf die Kriegsphotographie, die vor ihm auf einem kleinen Tisch liegen. Ähnlich wie bereits im zweiten Teil von Three Atmospheric Studies, in dem er den Metereologen mimte, beschreibt er auch hier, bildet Verknüpfungen, schafft Konstellationen zwischen einer imaginierten Bildlichkeit und dem Bühnenraum. Es entsteht so ein dichtes Netz von Beziehungen, welche die Erzählung der Mutter mit den Szenen aus dem ersten Teil und dem Bildrepertoire des Cranach-Gemäldes und der Photographie verknüpfen. Doch werden die Bilder hier in ihre einzelnen Komponenten zerlegt und fragmentiert, um mögliche andere Neuverknüpfungen zu erstellen. So wie die perspektivische Anordnung einzelne Punkte im Raum verbindet, werden auch hier Korrespondenzen geschaffen. Vergleichbar dem Meteorologenbericht, den David Kern im zweiten Teil von Three Atmospheric Studies übernommen hatte, werden hier Konstellationen beschrieben, die jedes einzelne Element in vielfältige Zusammenhänge setzen (Abb. 3.7). Übersetzung kann hier als Form der Reflexion von Medialität bestimmt werden. Es wird zwischen den verschiedenen Sprachen und Sprachebenen – Englisch und Arabisch –, aber auch zwischen der Bewegung, dem Bildrepertoire und der Meteorologie sowie zwischen der Bewegung, den einzelnen Elementen und den Zuschauern vermittelt. Diese Prozesse bringen je andere Facetten des Geschehens zum Vorschein, bis sich schließlich eine überkomplexe Situation ergibt.

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Abb. 3.7: William Forsythe: Clouds after Cranach, © Dominik Mentzos.

Kurz darauf wird die Mutter vom Übersetzer aufgefordert näher zu kommen. »Maybe he confronted them (...) a foreigner (...) not from our neighbourhood«, flüstert sie. – Die Geschichte selbst sowie ihre Darstellungsweise, die Erinnerungen der Mutter wie auch diejenigen der Zuschauer lassen zunehmend mehr Lücken im Textverlauf entstehen, der nur noch fragmentartig hervorgebracht wird. David Kern beschreibt nun vernehmbar die Rauchwolken: »yellow – orange – medium grey – white mist« – als wollten die beschriebenen Rauchwolken das Geschehen und die Erinnerung daran vernebeln. Die (sprachlich und körperlich hervorgebrachten) Bilder wechseln nun immer schneller: »Composition 4: expression of anger«, »Composition 2: clouds – smoke – a crowd running away from the explosion« – »A child on composition 5« – »A bird«. Der Übersetzer entgegnet: »I have no bird. I can give you an aeroplane.« Das Verblassen der Erinnerung und die Verwirrung der Mutter darüber, das stete Scheitern ihrer Erinnerung in passende Worte zu fassen, sowie die Willkür des Übersetzers, die ein Ungleichgewicht zwischen den Sprachen und Inhalten herstellt, machen das Unsagbare somit auch zum Unbeschreibbaren.

Wolken »That’s from composition 4.« Triumphierend hält die Mutter die CranachAbbildung hoch und zeigt sie dem Übersetzer, als könne sie mit dem Verweis auf das historische Bild Evidenz schaffen. Die Verständigung zwischen beiden wird immer aufgeregter und damit schwieriger. Die Worte entgleiten Jone San Martin, sie werden zu einzelnen Silben und Lauten, die aus ihrem Mund hervorquellen, als wären sie ihr selbst fremd. Nach und nach beginnt ihre Stimme sich zu verzerren, die Laute werden extrem in die Höhe gezogen, um sogleich einen tiefen gurgelnden Laut anzuschließen. Mit diesen Schwankungen fängt sie an sich zu bewegen. Die Verzerrung der Sprache setzt sich in den Körperbewegungen fort, die Glieder werden überstreckt, Gelenke ineinander gedreht, die Figur scheint zu kollabieren. Ihre ›Unartikuliertheit‹ entzieht sich der genauen Übersetzung, übersetzbar scheint hier nur das Unwesentliche – die Mitteilung selbst ist vom Rezipienten abhängig. Dieser Zusammenbruch der Figur sowie die überstreckten Glieder erinnern an die fast expressionistisch lang gezogenen Figuren Cranachs, und auch auf inhaltlicher Ebene lässt sich das Bildnis der trauernden Mutter vergleichen. Sicher ließe sich diese Szene innerhalb der Narration psychologisch deuten. Vielmehr aber führt die stete Störung der Übersetzung zu einer Art Entropie. Die Figur kann die einzelnen Elemente des Verlaufs nicht mehr präzise erinnern und zu einem Ganzen zusammenfügen, der Übersetzer kann die auf ihn einstürzenden Informationen nicht verarbeiten – die Szene gerinnt in ein groteskes, montröses, unabgeschlossenes (Körper-)Bild. Die Missverständnisse, die sich aus der Überlagerung der verschiedenen Ebenen ergeben, führen zu Störungen zwischen Sender und Empfänger – die hier durch die Figur des Dritten – David Kern – bereits mit im Spiel ist. Das Wolkige – im Cranach-Gemälde, auf der Photographie und in der Erzählung der Mutter – wird in der Inszenierung Forsythes Sinnbild für das Gestörte, Indirekte, für das, was die klare Sicht vernebelt. Es übermittelt dem Rezipienten in afformativer Weise die Gewalt des Geschehens, ist performative Setzung und afformative Entsetzung zugleich. Dabei fungiert das Afformative als Ellipse, die jede Handlung begleitet, als das, was jenseits der regelhaften Darstellung und des performativen Vollzugs keiner Darstellung zugänglich ist.118 Die Inszenierungen von Three Atmospheric Studies und Clouds after Cranach spielen auf je unterschiedliche Art und Weise auf die medial vermittelten Kriegsgeschehen an, die zwar medial zugänglich, aber dennoch weit entfernt bleiben. Sie sind vor diesem politisch-gewaltvollen Horizont zu lesen. Die Konflikte sind einem mediengeübten Publikum bekannt, jedoch werden sie für gewöhnlich durch ihre mediale Vermitteltheit innerhalb einer Überflutung durch Bildmedien von uns fern gehalten. Dem Bezug auf das Cranach-Gemälde, das westeuropäischen Zuschauern zwar kulturell näher sein mag, dafür aber zeitlich entrückt

118 | Hamacher: 1994, S. 360.

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Entwürfe und Gefüge und in einem heute schwerer nachvollziehbaren religiösen Kontext eingebunden ist, steht das Bild der digitalen Photographie gegenüber. Diese wird zwar über ein technologisch zeitgenössisches Medium vermittelt, entstammt dafür aber einem anderen kulturellen Kontext – zudem bleibt deren medialer Status unsicher. Die Inszenierung wiederum verfährt in den vielfältigen medialen Überlagerungen ebenso heterogen wie anspielungsreich. Die verschiedenen Ebenen stützen sich gegenseitig, im Gegeneinander der verschiedenen Medien entsteht ein dichtes Bild des Geschehens, das sich gerade in dieser Dichte durch seine Fähigkeit zur Affizierung bestimmt. Der involvierte und zugleich »emanzipierte Zuschauer«119 ist hier nicht nur Wahrnehmender, sondern als Rezipient selbst maßgeblich in den Prozess des transformativen Entwerfens mit eingebunden. »Es gibt den Abstand zwischen den Aufführenden und den Zuschauern; aber es gibt auch einen Abstand, der der Aufführung inhärent ist, sofern sie als ›Spektakel‹ zwischen der Vorstellung des Künstlers und dem Gefühl und der Interpretation der Zuschauer/innen steht. Dieses Spektakel ist ein Drittes, auf das sich beide Seiten beziehen können, das aber jede Art von ›gleicher‹ oder ›unverfälschter‹ Übertragung verhindert. Diese Vermittlung zwischen ihnen, die Vermittlung durch ein Drittes ist ein zentraler Aspekt im Vorgang der intellektuellen Emanzipation.«120

So sind die Dynamiken dessen, was (wie) erscheint, essentiell politisch. Sie bestimmen eine Politik am Körper – Effekte, die Affekte steuern. Die Überschüssigkeit dessen, was im Prozess der Übersetzung unübersetzt bleibt, verweist auf die Prozesse des Medialen selbst – und begreift sie als Verfahren, das eine soziale Performanz des Entwurfs als Möglichkeitsraum einschließt. Michel Serres hat in La Legende des Anges auf einem Satellitenbild, das stürmische Wirbel und Wolkenformationen zeigt, mit dem Stift Präpositionen wie »dans, pour, en, avant, hors, vers« usw. verzeichnet, die Relationen bezeichnen.121 Als Linie fungiert ein diagonal das Bild kreuzende »parmi« – »zwischen«, das die diagrammatische Relation verdeutlicht, nach der die Wolke nur in Abhängigkeit zu den sie umgebenden Strukturen existiert und sie (in ihrer Unbestimmtheit) als Zwischending und Mittel zu deuten und imaginativ zu ergänzen ist. Die Frage, wie dieses Vermittelnde diagrammatisch gefasst werden kann, als ein Entwurf, der sich operativ im gleichen Moment wieder durchstreicht und erneut transformiert, wird das folgende Kapitel zu klären suchen. 119 |  Jacques Rancière: »The Emancipated Spectator. Ein Vortrag zur Zuschauerperspektive«, in: Texte zur Kunst 58, 2005, Betrachter/Innen, S. 35-51. 120 |  Ebd., S. 45. 121 |  Michel Serres: Die Legende der Engel, Frankfurt am Main: Insel, 1995, S. 142f.

Kapitel 4 Verzeichnen und Verwischen der Spuren: Diagrammatische Relationen

Abb. 4.1: Peter Welz/William Forsythe: Whenever on on on nohow on/ Airdrawing, study for the right hand (black) left hand (red)/above.

1 Peter Welz und William Forsythe: Whenever on on on nohow on/Airdrawing: Interdependenzen von Zeichnung, Bewegung und Raum Eine kurze Bewegungsfolge, von William Forsythe improvisiert und von Peter Welz gefilmt: Für die Arbeit Airdrawing wurden an den Handgelenken von Forsythe Bleimanschetten befestigt, mit denen er seine Bewegung aufzeichnet. Diese Zeichnungen werden, um neunzig Grad gekippt, auf sogenannte ›fake walls‹ – gebogen aufgestellte Holzwände – projiziert und diese Aufnahmen werden wiederum auf einem transparenten Papier nachgezogen. Als ›architec-

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Entwürfe und Gefüge tural devices‹ strukturieren die ›fake walls‹ in ihrer skulpturalen und gleichzeitig an eine labyrinthische Struktur erinnernde Krümmung die Erfahrung der Bewegung durch den Betrachter. Die Zeichnung und die Bewegung blenden verschiedene Perspektiven der Bewegung im Raum und der Raumerfahrung ineinander. In einer vorangegangenen Arbeit intensivierten Welz und Forsythe dieses Ineinander: Für Whenever on on on nohow on wurden die Bewegungen Forsythes aus fünf Kameraperspektiven aufgenommen. Eine Kamera ist frontal, eine andere seitlich, eine dritte von oben positioniert, die beiden anderen Kameras sind an den Handgelenken des Tänzers befestigt, durch sie wird die Bewegung im Raum aus der Perspektive des sich bewegenden Tänzerkörpers eingefangen. Die Aufnahmen werden simultan auf fünf große Videoscreens projiziert: Durch die räumliche Anordnung der Wechsel stehen die verschiedenen Kameraperspektiven von Innen- und Außenperspektive der Bewegung im Raum direkt nebeneinander und es ergeben sich damit für den Betrachter, der sich zwischen ihnen bewegt und sich die Arbeit im Gang durch die Galerieräume Schritt für Schritt aneignen muss, eigentümliche Raumperspektiven: Sah man eben noch Forsythes Bewegungsfolge seitlich gekippt, schlägt einem, sobald man sich im Raum umdreht, plötzlich ein perspektivisch verkürzter Arm entgegen; der restliche Körper ist nicht zu sehen, die bewegliche Handkamera verzerrt die räumlichen Verhältnisse in anamorphotischer Weise. Hier werden keine Linien der Raumschrift sichtbar nach- oder vorgezeichnet, viel mehr als in anderen Aufzeichnungen aber werden für den Betrachter die eigentümlichen Vorstellungsbilder, mit denen die Forsythe-Tänzer arbeiten, auch für den Außenstehenden ansatzweise vorstellbar: etwa wie die Performer sich die Kinesphäre an einem Ort vorstellen, wo sie nicht ist, und entsprechend ihre Bewegungen transformieren. Forsythes Bewegungsfolge entwickelt sich vom Boden auf die Knie, folgt dem Schwung der Arme und des Rumpfes, vollzieht mehrfache plötzliche Richtungswechsel – schließlich ein Sprung, die Arme dabei weit in die Höhe gereckt – und ein Fall mit dem Gesicht auf den Boden; die begleitende Tonspur des Videos verzeichnet einen krachenden Laut. Dieser Sturz als Scheitern der virtuosen Bewegung spielt an auf den Titel der Arbeit Whenever on on on nohow on – einen Satz aus Worstward Ho, einer späten Erzählung Samuel Becketts (1981). Beckett stellt in dieser Erzählung die Frage, wie man eine Figur ohne Namen, ohne Körper, ohne Adresse beschreiben kann, oder: »Wie kann man einen imaginierten Körper an einem gedachten Ort darstellen?«1 Damit ist er Forsythes Überlegungen zur Vorstellbarkeit und Darstellbarkeit des bewegten 1 | Wiebke Hüster: »Be on. Wie Peter Welz William Forsythe filmt und beide über Beckett stolpern«, in: ballettanz, Jahrbuch 2004, Forsythe. Bill’s Universe, S. 40-43.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren Körpers und den Übertragungsmöglichkeiten im Prozess der Bewegungsfindung (vgl. Kapitel 2) sehr nahe. Ein Zitat aus Becketts Text macht die Schwierigkeiten innerhalb dieser Prozesse deutlich und kann als leitend nicht nur für die Ästhetik des Schriftstellers selbst, sondern auch für eine Forsythe’sche Arbeitshaltung stehen: »Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder Scheitern. Besser Scheitern«2

Ob und inwiefern diese Affinität zum Scheitern das Feld der Darstellbarkeit tangiert, die sich bei Beckett im Bereich von Sagbarem und Unsagbarem, bei Forsythe an den Grenzen des Wahrnehmbaren äußert, soll das folgende Kapitel hinsichtlich der Überlegungen zu zeichnerischem und notationellem Denken im Entwerfen klären – auch in welcher Weise dieses Scheitern, das aufgrund der Kombination komplexer Regeln fast geplant erscheint, mit einer Geste des Verwischens der Aufzeichnung von Bewegungsspuren zusammenhängt. Inwieweit markiert der Sturz nicht nur das Scheitern einer hochkomplexen Bewegungsfolge, sondern auch dasjenige, was sich den Praktiken der Aufzeichnung entzieht oder sie herausfordert? Dies rührt entscheidend die Frage an, wie Bewegung überhaupt entsteht: Ist sie als konzeptuelles Konstrukt präfiguriert und in welchen medialen Konstellationen wird sie gefasst? Gehen diese der Ausführung voraus oder entstehen sie erst mit ihr? Die Absicht, nicht nur die Komplexität der Bewegung selbst, sondern auch die Modi der Darstellung immer wieder an ihre (medialen) Grenzen zu führen und dabei die Sichtbarkeit und Sagbarkeit des Dargestellten zu hinterfragen, steht in enger Verbindung zu den im vorausgegangenen Kapitel behandelten Modi der Übertragung und kann als zentral für Forsythes Arbeiten gelten. Wurden die Modi der Übertragung in Kapitel 3 unter dem Gesichtspunkt der Überlagerungen und Kontaminationen der einzelnen Medien untereinander untersucht und dabei die Störung und die Produktion von Momenten eines infinitesimalen ›Zwischen‹ als konstitutives Merkmal einer Inszenierung des Atmosphärischen hervorgehoben, so ist hier die Übertragung im Rahmen von Zeichnung als Präskript und Werkzeug im Prozess des Entwerfens zu betrachten. Die Spannung zwischen Choreographie als Notation und ihrer Ausführung zwischen der zu schreibenden Spur und deren Verwischung durch die folgende Bewegung wird in den Arbeiten Forsythes (und Welz’) zu einem Kennzeichen einer Aufzeichnung von Ereignissen. Wie 2 | Samuel Beckett: Nohow on und Worstward ho, zitiert in Ebd., S. 41.

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Entwürfe und Gefüge sich das choreographische Raum-Schreiben zwischen Zwei- und Drei-Dimensionalität als eine Art und Weise der Organisation des Raumes entwickelt, die auch den Betrachter mit-choreographiert, wird zu untersuchen sein. Davon ausgehend wird der Frage nachgegangen, wie in diesem Prozess relationale Figuren ausgebildet werden. So soll neben den Ausführungen zum Diagramm in der Arbeit Re-Translation zu Francis Bacons Final Unfinished Portrait gezeigt werden, welche Überkreuzungen von topologischen und topographischen Figuren im Ineinanderwirken von Raum, Video und Bewegung hervorgebracht werden und inwiefern diese über das Zeichnerische hinaus als diagrammatisch bezeichnet werden können. Denn nicht nur stellt das Diagramm als Werkzeug des Entwerfens über die Verbindungen zweier oder mehrerer Punkte auf dem Papier Verhältnisse her, vielmehr bietet es damit eine Weise der Organisation und Struktur, die es ermöglicht, die Fläche in einen Denk- und Handlungsraum zu verwandeln. Das Diagrammatische bringt insofern den Gegenstand, den es beschreibt, in diesem Verlauf erst hervor, entwirft und zerlegt ihn zugleich und diskutiert in diesem Prozess seine einzelnen Komponenten. Für Whenever on on on nohow on baute Welz eine Box aus Tischen, befestigte an den Seiten und oben je eine Kamera und ließ Forsythe in dieser Box, die vorne offen war und von wo aus er ebenfalls gefilmt wurde, seine Choreographie ausführen. Eine einfache Konstruktion, die jedoch die Bewegung durch die verschiedenen Kameraperspektiven vervielfachte und durch die Anordnung der Projektionen im Ausstellungsraum zu einem komplexen Spiel mit der Ineinanderschachtelung von Räumen und der Multiperspektivität werden ließ.3 Denn die Wände, auf welche die Bewegung projiziert wurde, waren nicht nur Untergrund und Projektionsfläche für die zeichnerische Bewegung, sondern zugleich wesentlich daran beteiligt, die Erfahrung des Raumes zu strukturieren – sie bestimmten u.a. wie der Raum geschrieben – wie er choreographiert wurde. So mochte der Betrachter, wenn er sich gerade vor einer Nahaufnahme befand, die den Raum aus der Perspektive der Handkameras aufzeichnete, eine eigenartige Weitung oder Verengung des tatsächlichen Raumes erfahren, in der

3 | Bereits in Kammer/Kammer hatte Forsythe mit beweglichen Wänden verschiedene kleinere Bühnen auf der Bühne entstehen lassen und mit diesen Räumen experimentiert, die ineinander verschiebbar die Sicht auf die Bühne verwehrten und den Zuschauer darüber im Unklaren ließen, was sich gerade hinter der Wand, im einen oder im anderen Raum abspielte. Dieses Geschehen wurde mittels Videoprojektion während des Stücks auf einer Leinwand oberhalb des Bühnengeschehens gezeigt und stellte den Zuschauer wiederum vor die Frage, ob es sich bei dem Material um eine Echtzeitdokumentation oder um die Aufnahme einer vorherigen Szene handelte. Auch hier wurde wie in anderen Stücken Forsythes ein Spiel aus Zeigen und Verbergen inszeniert.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren die perspektivische Verzerrung der Körperglieder Forsythes eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Durch die Verbindung von Tanz, Video und Zeichnung in jenen räumlichen Konstellationen stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Bewegung, Zeichnung, Räumlichkeit und Medialität zueinander stehen: Was geht dem anderen voraus? Wer zeichnet vor, wer zeichnet nach? Welche Bedingungen der Sichtbarkeit und Darstellbarkeit evoziert das eine Medium im Gegensatz zum anderen? Oder haben diese Künste gerade eine besondere Affinität zueinander, bringen sie gegenseitig etwas im anderen Medium hervor, das ohne dieses Zusammenspiel verborgen bliebe? Kann die Zeichnung hier als Notation im Sinne der Aufzeichnung von Bewegung oder als Präskript verstanden werden oder muss dieser Prozess vielmehr in seiner generativen Funktion zwischen Raummodell und Zeichnung beschrieben werden? Insofern kommt auch dem Trägermaterial selbst eine gewichtige Rolle zu: Die plane Fläche gewinnt über die Form des Trägers an körperlich erfahrbarer Materialität. Die Fläche der Zeichnung und der zwischen den Wänden entstehende Raum, in dem sich diese Bewegung entfaltet, lassen danach fragen, was zwischen dem Zwei- und dem Drei-Dimensionalen passiert, welche Übertragungen welche Transformationen mit sich bringen. Denn trotz der Dominanz des Zeichnerischen und der Verwendung des Videos bezeichnet sich Peter Welz als Bildhauer: »C’est ce qui donne au processus graphique une autre portée: la manière dont tu dessines est en fait tridimensionelle. Il n’est pas tant question de dessin, pour moi, que d’une nouvelle forme de sculpture.«4 – Folgt man jener Aussage und betrachtet damit noch einmal die räumliche Konstellation von Whenever on on on nohow, ist die Zeichnung bereits als Komposition im Raum zu denken, als ein Entwurf, der ausgehend von der Linie ein komplexes Beziehungsgefüge im Raum schafft, bestimmte Kraftfelder zwischen dem zeichnenden Tänzer und dem Betrachter entstehen lässt, die durch die Bewegungen und Entscheidungen des Betrachters zu einem diagrammatischen Handlungsfeld werden. Denn je nachdem, von welcher Seite man sich den Videoprojektionen nähert, ist die Perspektive eine jeweils andere, gewinnt die Bewegung an zusätzlichen Dimensionen, verändert sich das Verhältnis zwischen dem Betrachtenden und den anderen Besuchern im Raum, den Wänden und der tänzerischen Bewegung. Im folgenden Abschnitt wird daher zu untersuchen sein, wie das Zeichnerische und die Ebene der räumlichen Gestaltung sich gegenseitig in-formieren und einander zuspielen, wie das Diagrammatische von der Fläche der Zeichnung in 4 | »Figures dans l’espace«, Interview von Marcella Lista (Kuratorin der Ausstellung) mit William Forsythe und Peter Welz im Katalogheft zur Ausstellung »Corps étrangers. Danse, dessin, film«, Paris: Centre Pompidou, 2006.

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Entwürfe und Gefüge den Handlungsraum übertragen wird bzw. wie es in diesen Übertragungen erst entsteht. Wie wird die Organisation des Raumes, die Herstellung einer Situation, auf dem Papier vorgeschrieben und schließlich im Dreidimensionalen verändert? Wie kann das zeichnerische, skulpturale oder architektonische Medium das Ereignishafte der Bewegung in den Entwurf raum-zeitlicher Prozesse integrieren? Damit werden zugleich Fragen nach der Darstellbarkeit und der Notation aufgeworfen. Jenseits der einengenden Goodman’schen Definition von Notation5 soll hier die Frage der Aufzeichnung von Bewegung6 auf die Praxis des Zeichnens selbst ausgedehnt und um die Frage nach dem Dreidimensionalen in der Notation erweitert werden,7 womit in paragonaler Wendung die Frage nach der Aufzeichnung bzw. Darstellbarkeit des Ereignisses, des Lebendigen, Flüchtigen angesprochen ist.

2 Nachzeichnen, aufzeichnen, verzeichnen, vorzeichnen: Möglichkeitsdenken im Entwurf 2.1 Aufzeichnung des Lebendigen oder Verlebendigung? In Whenever on on on nohow on konstituiert der mehrstufige Prozess der Verschiebung von der Bewegung über die Zeichnung über die Aufnahmen und Projektion und Vervielfältigung durch die verschiedenen Kameraperspektiven den Prozess der Bildwerdung. Aber kann man hier überhaupt von einem Bild sprechen? – Ist doch weder das einzelne Videobild zu fassen, noch ist es ohne die Korrespondenzen, welche sich durch die räumliche Anordnung ergeben, zu denken – und sind diese doch nur in der eigenen Bewegung der Augen und des Körpers zu erfahren. Inwiefern wird die Zeichnung, die gewöhnlich als still gestelltes Endprodukt präsentiert wird, hier im Prozess ihrer Animation alteriert? Eine der Ursprungsszenen des Zeichnens – der Mythos von Dibutades und ihrem Geliebten, dessen Schatten sie, im Moment, bevor er sie verlassen wird,

5 | Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, siehe insbes. die Kapitel »Die Theorie der Notation«, S. 125-168; sowie »Partitur, Skizze, Skript«, S. 169-208. 6 | Vgl. dazu: Gabriele Brandstetter/Franck Hofmann/Kirsten Maar (Hg.): Notationen und choreographisches Denken, Freiburg im Breisgau: Rombach, 2010, insbes. die Einleitung, S. 7-26. 7 | So wurden in der 2008 in der Akademie der Künste gezeigten Ausstellung zum Thema »Notation. Kalkül und Form in den Künsten« durchaus viele Modelle als ein Modus von Notation präsentiert.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren an die Wand zeichnen will8 – beschreibt einige künstlerische Paradoxien, die auch für den Prozess des Entwerfens zentral sind: Um ihn zeichnen zu können und so nach dem Abschied wenigstens sein Bild für eine längere Dauer zu konservieren und zu behalten, muss zuallererst der Geliebte selbst in todesähnliche Starre verfallen, zudem muss sie sich von ihm abwenden. Die Anwesenheit ist nur durch den Entzug des Bildes zu haben, die Lebendigkeit des Abbildes nur durch die Stillstellung des Geliebten. Der Mythos verweist auf ein künstlerisches Paradox: auf die Spannung zwischen der dem Gegenstand zu widmenden Aufmerksamkeit und der Rückbesinnung auf das eigene Tun, das sich vom Gegenstand abwenden muss, um ihn darstellen zu können. Nur im Wechsel zwischen diesen beiden – zwischen Innen- und Außen-Perspektive – wird die künstlerische Arbeit möglich. Übertragen auf die choreographisch-zeichnerische Arbeit von Welz/Forsythe wird dies gerade in der Engführung von Zeichnerischem und Choreographischem sichtbar. Die Linien, die Forsythe mit seinen Körperbewegungen zieht, entstehen in einem gleichzeitigen Spüren nach innen und einer nach außen gerichteten Aufmerksamkeit, in einer Haltung, die man auch mit ›kontrollierter Hingabe‹ bezeichnen könnte. Insofern lässt sich der Mythos auch mit einem Topos verbinden, den Derrida mit der »Blindheit des Zeichners« anspricht.9 Der Zeichnende, so Derrida, muss blind sein, er bringt das zu Zeichnende aus einem Bereich hervor, der dem Sehen entzogen ist. So hat denn auch Forsythe während des Zeichenprozesses keinesfalls die Übersicht über die gesamte Fläche, kein kontrollierender Blick hält das Ganze als Komposition innerhalb der Grenzen bestimmter Linienführung fest, zu direkt ist der Körper in das Geschehen involviert. Auch ist nicht die Hand im Verhältnis zum Auge ausführendes Organ der Zeichnung, sondern der ganze Körper befindet sich in einer solchen Nähe zum Trägermaterial, dass das Auge seine kontrollierende Funktion kaum ausüben kann. So befinden sich Objekt und Subjekt der Zeichnung stets in einem Verhältnis der Nachträglichkeit zueinander – zwischen Entzug und Erinnerung – und zeichnerischer Projektion. Der Mythos von Dibutades ist jedoch mit der Zeichnung noch nicht am Ende: Ihr Vater, ein Töpfer, macht aus der Zeichnung ein Relief und verleiht dem 8 | Michael Wetzel: »›Ein Auge zuviel‹. Derridas Urszenen des Ästhetischen«, Nachwort zu Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen, hg. v. Michael Wetzel, München: Fink 1997, S. 129-155, hier S. 133. Vgl. dazu auch Jens Emil Sennewald: »Linien ziehen. Räumlichkeit von Zeichnung und Handlung im Bildprozess«, in: Armen Avanessian/Franck Hofmann (Hg.): Raum in den Künsten. Konstruktion – Bewegung – Politik, München: Fink, 2010, S. 137-146. 9 | Vgl. Derrida: 1997.

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Entwürfe und Gefüge Zweidimensionalen so die dreidimensionale Körperlichkeit, stellt die Künste damit in einen Wettstreit, in dem letztlich die skulpturale Kunst (vergleichbar dem Pygmalion-Mythos) in der Frage nach der Verlebendigungskraft die Oberhand behält. Der zeichnerischen Linie verbleibt es lediglich, ein lebendiges Abbild des Geliebten zu erschaffen. Doch der Vorgang der Verlebendigung ist noch enger an die imaginative Kraft gebunden, an die Idee des Geliebten, die der Künstler im Moment der Zeichnens bzw. der bildhauerischen Tätigkeit immer wieder blind vorstellen muss, um überhaupt eine Figur entwerfen zu können. So bleibt unbestimmt, welche Tätigkeit initiativ für den Entwurf ist: das Schauen, das Imaginieren oder das Ausführen der Figur. Welche entwerfende Kraft der Linienführung jedoch selbst zu eigen ist soll im Folgenden eine Betrachtung klären, die diese im Rahmen der Entwurfstheorie der Renaissance sowie in der Unterscheidung zur Farbgebung betrachtet.

2.2 Das Potential und das Potentielle der Linie zwischen Konzept und Zeichnung, zwischen Präskript und Werkzeug Mit der Linie scheint zunächst die differenzierende, trennende und unterscheidende Funktion im Vordergrund zu stehen. Die erste Linie auf dem weißen Blatt Papier beinhaltet eine grundlegende Entscheidung – sie teilt die Fläche und so auch den bezeichneten Raum in zwei Hälften und trifft damit eine Unterscheidung – George Spencer Brown spricht davon, »to draw a distinction«,10 der Zeichnende nimmt eine Bezeichnung vor, teilt den Raum in den »marked and unmarked space«.11 Der so entstehende Raum ist das Ergebnis einer Grenzziehung – zur Etablierung von Identität –, d.h. er beruht auf Ein- und Ausschließungen, wie z.B. der Aufteilung von öffentlichem und privatem Raum. Die Performanz bestimmter Handlungen kann diese Grenzen wiederum porös machen und gewährleistet die Veränderbarkeit sozialer und kultureller Identität. Die Linie trennt das eine vom anderen, sie teilt das Blatt Papier in zwei voneinander geschiedene Hälften, in oben und unten, links und rechts, und 10 | George Spencer Brown: »Laws of Form« [1969], zitiert in Dirk Baecker: »Vorwort«, in: ders. (Hg.): Kalkül der Form, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 7; sowie in: »Im Tunnel«, S. 12-37. Jede dieser Unterscheidungen zieht eine weitere Unterscheidung nach sich (die erste betrifft den beobachteten Gegenstand, die zweite implizit das Nicht-Beobachtete). Dieses Unbeobachtete, was im unmarked space verbleibt, spielt jedoch bei der Beschreibung des Gegenstandes stets eine wesentliche Rolle. Bei Niklas Luhmann als »re-entry« bezeichnet, ist diese Einfaltung des Unterschiedenen in den weiteren Verlauf des Unterscheidens und Urteilens eingeschrieben, vgl. auch Niklas Luhmann: »Paradoxie der Form«, in: Baecker (Hg.): 1993, S. 197-212. 11 |  Ebd.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren schafft operationale binäre Oppositionen, die im folgenden Prozess weiter wirksam sind. Standen im vorangangenen Kapitel das Diffuse, die unsichtbaren Übergange des Atmosphärischen im Mittelpunkt, denen auf den ersten Blick eher das clair-obscur, das Malerische und damit eine Abkehr von der Unterscheidungskraft der Linie zuzuordnen wäre, soll hier das Medium des Zeichnerischen betrachtet und dabei der Gegensatz zwischen Distinktionskraft und auflösender Tendenz anders akzentuiert werden. Aufgrund ihrer unterscheidenden Eigenschaft nimmt die Zeichnung und mit ihr die Linie in der disegno-Theorie der Renaissance eine entscheidende Funktion ein. Mit ihr wird die Unterscheidung zwischen concetto und disegno in einen Wettstreit zwischen Regel/Konzept/Idee und deren (zeichnerischer/ handwerklicher) Ausführung gestellt, die sich bis heute verfolgen lässt.12 Die Zeichnung nimmt dabei genau jenen Angelpunkt ein, der zwischen Konzept und Ausführung oszilliert: So bedarf der Künstler einerseits der Zeichnung, um sein Konzept entwickeln zu können, gleichzeitig dient die Zeichnung dazu, jene Idee anschaulich werden zu lassen. Martin Kemp hat die Verschiebungen und Umdeutungen, welche der Begriff des disegno im Laufe weniger Jahre erfahren hat, detailliert beschrieben. Noch in Giorgio Vasaris Vite wird der Begriff seltsam oszillierend zwischen einer vorhergehenden Idee und ihrer Ausführung beschrieben: »Der Disegno, der Vater unserer drei Künste [Architektur, Bildhauerei und Malerei, Anmerkung KM], der aus dem Intellekt hervorgeht, schöpft aus vielen Dingen ein Allgemeinurteil (giudizio universale), gleich einer Form oder Idee aller Dinge der Natur, die in ihren Maßen überaus regelmäßig ist. So kommt es, dass der Disegno nicht nur in den menschlichen und tierischen Körpern, sondern auch in den Gebäuden und Bildwerken das Maßverhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen erkennt. Und da aus dieser Erkenntnis ein gewisses Bild und Urteil entsteht, das im Geist die später, mit der Hand gestaltete und dann Zeichnung genannte Sache formt, so darf man schließen, daß der Disegno nichts anderes sei als eine anschauliche Gestaltung und Klarlegung jenes Bildes, das man im Sinne hat und das man im Geist sich vorgestellt und in der Idee hervorbringt.«13

Das kreative Vermögen, aufgrund dessen der Mensch sich eine zweite Natur schafft, wird hier in den Übertragungen von der Natur in die Künste, in die 12 |  Vgl. Martin Kemp: »Disegno. Beiträge zur Geschichte eines Begriffs zwischen 1547 und 1607«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19, 1974, S. 219-240. 13 | Giorgio Vasari: Le Vite (1568), zitiert in Kemp: 1974, S. 226, nach einer Übersetzung Erwin Panofskys.

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Entwürfe und Gefüge Aufteilung in einen imaginativen und einen praktischen Zweig des disegno beschrieben, wobei die Hierarchisierung des geistigen Anteils ins Auge fällt. Disegno wird an anderer Stelle auch als »origine, fondamento und principio« der Malerei, Skulptur und Architektur, als Grundlage und Ursprung der Künste oder Medium bezeichnet. Die scienza delle linée (Vasari) umfasst folglich nicht nur die regelgerechte Naturwiedergabe, sondern beinhaltet auch die Umdeutung des Prinzips, das es aus der reinen Ausführung heraushebt. Das Prinzip wird von der Seite der forma und practice auf concetto oder idea übertragen. Disegno wird hier als geistiges Vermögen und nicht wie vormals als praktische Fähigkeit des Künstlers aufgefasst, jedoch bleibt die Praxisbezogenheit im Akt des Ins-WerkSetzens der Invention erhalten. Weiterhin ist der disegno darauf angewiesen, dass die Hand, »durch jahrelange Übung geschult«,14 die Vollkommenheit des concetto auch erkennen lässt; die Konkretisierung des Geistigen wird in der Ausführung erst evident. Auf dem Gebiet der Choreographie lässt sich eine vergleichbare Verklammerung von Regel und Ausführung feststellen: Inwieweit stellen die Bedingungen einer Bewegungsfolge, wie sie z.B. durch die räumliche Beengtheit in der Box, die Einschränkung der Bewegungsfähigkeit aufgrund der Handkameras und eine der Bewegung zugrunde liegende, eigens gesetzte Struktur, selbst bereits die Choreographie dar? Auch hier ist die Ausführung des Tanzes an Vorgaben und Regeln gebunden, die jedoch gerade in der Brechung erkennbar werden – hier im Sturz, welcher der steten Beschleunigung und damit einhergehenden Komplexitätssteigerung folgt. Die Regelhaftigkeit wird nur durch ihre Überschreitung erkenntlich.15 Das komplexe Zusammenspiel von notationell-zeichnerischem und choreographischem Denken bei Welz und Forsythe ist auch hier Ausgangspunkt für die Frage danach, wie Bewegung überhaupt ins Sein kommt – ob sie vorsprachlich konzipiert wird oder noch im Status ihrer Unbestimmtheit angeeignet wird.16 14 | Ebd. 15 | Gabriele Brandstetter/Hans-Friedrich Bormann/Annemarie Matzke (Hg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis, Bielefeld: transcript, 2010, S. 7-20, hier S. 8f. 16 |  So weist die Tanzwissenschaftlerin Laurence Louppe Versuche sprachlicher Vermittlung von Tanz als reduktiv zurück – der Tanz produziere keine arretierten Figuren, sondern löse durch Kontamination der Zustände Handlungen aus. Der Choreograph trage eine innere Partitur in sich, die vergleichbar einer Relaisfläche zwischen seinem Körper und dem ›Projektionsraum‹ entfaltet werde; siehe Laurence Louppe: »Die Makel im Papier«, in: Hubertus von Amelunxen/ Dieter Appelt/Peter Weibel/Angela Lammert (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten, Ausstellungskatalog Akademie der Künste und ZKM Karlsruhe, Berlin 2008, S. 216-224.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren Dass die differenzierende Qualität der Linie diese zu einem Werkzeug im Prozess des Entwerfens macht, entspricht einer rationalistischen Auffassung, die der Vermessung des visuell bestimmbaren Raumes das entsprechende Instrumentarium zur Verfügung stellt. Innerhalb des aufklärerischen Projekts der Moderne (wenn man sie hier bereits mit der Renaissance ansetzen mag) und der damit verbundenen Konzeption eines homo clausus kann ein Entwurfsdenken entwickelt werden, welches das Subjekt als Autorität instituiert und dem Werk somit gerade jene Unterscheidbarkeit, jene Individualität verleiht, derer es bedarf, um als Kunstwerk gelten zu können. Die (Umriss-) »Linie als zugleich technisches und metaphysisches Prinzip«17 nimmt dabei die entscheidende Funktion der In- und Exklusion ein.18 Mit der Linie wird das Werk umrissen, ihm wird eine Form gegeben, die es vom Außen trennt. Dass in diesem Scheidungsprozess die weitgehende Immaterialität der Linie vorausgesetzt wird, die den Vorschein einer »reinen absoluten Idee verkörpert«,19 stützt die Interpretation des konzeptionellen, geistigen Vermögens der Linie. Dass die Linie zwischen zwei oder mehreren Punkten Verbindungen schafft, weist ihre diagrammatische Operationalität aus, die sie über die Zeichnung auch für die Notation auszeichnet (griech.: diagrammein, »zwischen zwei«).20 So ist sie, wenn man beispielsweise an architektonische Raster, an Notenlinien oder mathematische Koordinatensysteme denkt, überhaupt erst an der Konstituierung des (Zeichen-)Grundes beteiligt. Und ist damit eben in der Tradition des disegno zu verorten: als logische Operation im Medium der Linie als empirisches Ereignis und ›Gedankending‹. Sie verwandelt das Trägermedium, die Fläche des Papiers, wie oben angeführt, in einen Experimentier- und Denkraum, innerhalb dessen manövriert werden kann und Bewegung Bedeutung erhält. Sie prägt nicht nur Skalen, formatiert und stellt Zwischenräumlichkeit her, sondern ist darüber hinaus an der Erschließung des Bildraumes beteiligt, stellt Bedingungen des Handlungsraumes erst her. Als Spur einer Bewegung und Verräumlichung von vergangener Zeit dieser Bewegung überführt sie das Zeitliche ins Räumliche. Die Transfiguration von Anschaulichem in Denkbares und umgekehrt ist die epistemische Grundfunktion der Linie. Bezeichnenderweise 17 | Carolin Meister: »Einleitung«, in: Werner Busch/Oliver Jehle/dies. (Hg.): Randgänge der Zeichnung, München: Fink 2007, S. 7-10, hier S. 7.

18 | Die Umrisslinie trennt im Mythos von Dibutades das Lebendige vom Unlebendigen. 19 |  Werner Busch: »Die Möglichkeiten der nicht-fixierenden Linie. Ein exemplarischer historischer Abriß« in: ders./Oliver Jehle/Carolin Meister (Hg.): 2007, S. 121-141, hier S. 121f. 20 | So sei hier erneut auf die Improvisation Technologies verwiesen, die Bewegung und Vorstellung von Bewegung anhand von gezeichneten Linien darstellen und vorstellen lassen.

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Entwürfe und Gefüge sind es eher logische Operationen und nicht etwa Ausdrucksqualitäten, welche die Linie hier vollzieht. Die Farbe hingegen, so Werner Busch, arbeite an der zufälligen momentanen Erscheinung, konkretisiere, was sich der Konkretisierung letztlich entzieht, und sei bloße Naturnachahmung der veränderbaren Erscheinung der Dinge. Damit arbeite sie der Vollendung des Werkes, der Einlösung des concetto entgegen, stelle folglich geradezu eine Umkehrung des disegno-Prinzips dar. Sie konkretisiert etwas, das sich wie in Kapitel 3 beschrieben letztlich wieder entzieht. Damit ist jedoch nicht nur der Gebrauch der Farbe angesprochen, sondern ebenso eine Art der Linienführung, die sich von der fixierenden zur freien Linie entwickelt.21 Gerade aber deren Potentialität ergänzt jene Operationen um den Bereich des Kontingenten. Im Entwurfsprozess spielen dementsprechend gerade auch »[d]ie Möglichkeiten der nicht-fixierenden Linie«22 eine große Rolle. Nicht nur die rational unterscheidende Kraft der Linie, deren eigene Materialität in diesen Analysen zumeist unberücksichtigt bleibt, sondern vor allem deren Potential, das Unvorhersehbare zu integrieren, kann in einem Prozess, der sich mit der Verarbeitung von Kontingenz befasst, zu einem zentralen Merkmal werden. In dieser Veränderung sind nicht mehr nur die zu fixierenden Formen, sondern gerade auch die Löschungen und Korrekturen, Verwischungen und Abdrücke in ihr Erscheinungsbild integriert. Sie können als Verzeichnungen des Ereignisses gelesen werden. Ebenso wichtig werden hier auch die Intervalle als Zwischenräume, die ein bewegliches Gefüge erst wirksam werden lassen und eine Spur der Kontingenz in die Notation mit eintragen. Doch wie lässt sich eine solche Dynamik der Linie interpretieren? In Human Writes, einer choreographischen Installation, die Forsythe etwa gleichzeitig zu den Kooperationen mit Welz mit der Company entwickelt, werden störende Momente in den Prozess des Zeichnens eingeführt, die eine reibungsfreie Übertragung erschweren und Unvorhersehbares integrieren. Auch die Organisation des räumlichen Gefüges wird durch diese Elemente verändert. Zunehmend gewinnt die spezifische Materialität der Linie, ihre Ausführung an Interesse. Wie wird die Linie gezogen? Gewinnt sie nicht im Prozess des Zeichnens selbst auch eine verräumlichende Qualität? Ist ihr Zittern, ihre Dichte und Duktus nicht schon Verweis auf die ambivalenten psychophysischen Prozesse zwischen Träger und Ausführendem? Verbunden mit dieser Art der Linienführung ist auch eine andere Dimension von Zeitlichkeit. Eine Linie braucht Zeit, um einen Raum zu durchlaufen, sie verändert ihn, teilt ihn, schafft Differenzen, verändert den Raum. Inwiefern diese Linie von verschiedenen Intensitäten, Energien und Dichte geprägt ist, beeinflusst auch ihre Form. Unterbrechungen, das Absetzen von Bewegung, 21 | Busch: 2007, S. 123f. 22 | Ebd.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren kleine motorische Störungen, ein Zögern sowie selbst das Ungeplante werden verzeichnet und verändern den Fortgang der Choreographie.

3 Retranslation/Final Unfinished Portrait (Francis Bacon) 3.1 Das Diagramm Abb. 4.2: Peter Welz/William Forsythe: Retranslation/Final Unfinished Portrait (Francis Bacon), Paris, Louvre, 2006/07, © Musée du Louvre/Angèle Dequier.

2006, Paris, Louvre, Galerie de la Melpomène: Peter Welz und William Forsythe haben sich der Transkription des wahrscheinlich letzten Portraits, das man im Atelier von Francis Bacon fand, angenommen. Eine Zeichnung, überlagert von einem Ölbild – ohne vorbereitende Skizze auf die Leinwand geworfen –, zusätzlich eine rote Kontur, die an den Umriss eines anderen Körpers erinnert; so liegen verschiedene Silhouetten palimpsestartig neben- und übereinander. Die Arbeit von Welz und Forsythe kann folglich – so beide in einem Interview – als ein Versuch gelten, »de mettre en présence«,23 wobei jeweils das eine oder andere bildliche Element in den Vordergrund rückt, ein Spiel aus Zeigen und Verbergen sich entspinnt. Wieder sind Bleimanschetten an den Hand- und Fußgelenken Forsythes befestigt. Die Aufzeichnungen dieser Bewegungen aus drei 23 | Vgl. das Begleitheft zur Ausstellung »Corps étrangers. Danse, dessin, film«, Paris: Centre Pompidou, 2006, ohne Seitenangabe.

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Entwürfe und Gefüge verschiedenen Kameraansichten werden in einer Anordnung zueinander aufgestellt, die stets zugleich eine andere Perspektive ins Sichtfeld rückt. Ob man sich dem Bacon’schen Portrait retrospektiv auf dem Weg über die Aufzeichnung Forsythes und die Kameraaufzeichnungen von Forsythes Bewegungsstudien nähert, oder umgekehrt, den Weg mit dem Portrait beginnt und den Produktionsvorgang so nachvollziehen möchte, ist dem Betrachter selbst überlassen – gibt es doch keine ›richtige‹ Reihenfolge, wenn es, wie Forsythe betont, um das Kreis-Werden geht, also um einen Prozess ohne Anfang und ohne Ende. Die Arbeit wird im Saal der antiken Skulpturen gezeigt und in Korrespondenz gesetzt zu Zeichnungen des menschlichen Körpers in Bewegung und Videoarbeiten der 1960er- und 1970er-Jahre: Unter dem Titel »Champs de Bataille« werden Edgar Degas und Sonia Andrade vereint, unter »Plis« treffen Kazuo Ohno und Eugène Delacroix aufeinander, unter »Chutes« Bruce Nauman und Charles Le Brun und schließlich unter »Effacements« Georges Seurat, Johann Heinrich Füssli und Géricault sowie Samuel Becketts Film mit Buster Keaton. Die Zeichnungen, Filme und Videos werden jedoch räumlich entfernt in den Salles Mollien ausgestellt. Die Korrespondenzen ergeben sich so nicht auf direktem Wege, sondern nur in der Nachträglichkeit. Sie alle zeigen den Körper in Bewegung an den Grenzen des ihm Möglichen, treiben ihn an die Grenzen oder beschreiben, wo seine Möglichkeiten beschnitten werden. Im Scheitern, in der unaufhörlichen Wiederholung bis hin zur Erschöpfung, im Sturz, wird der Körper in seiner Durchlässigkeit und Fragilität gezeigt. Die Titel »Champs de Bataille« – »Plis« – »Perméabilité« – »Chutes« – »Effacements« und »Disparition« gliedern das Ausstellungskonzept und zeigen, in welchen Kräftefeldern die Kuratoren die Arbeit von Welz und Forsythe verortet sehen wollen. Auch die Idee der Faltung und der Durchlässigkeit tauchen hier wieder auf, vor allem aber sollen uns im Folgenden die Geste des Durchstreichens und des Verwischens interessieren.

3.2 Das Verwischen der Spuren Das ›unvollendete‹ Portrait Bacons24 dient zwar in gewisser Weise als notationelles Präskript, dessen Transkription entwickelt jedoch im Prozess eine eigene Dynamik. Die Zeichnung Forsythes ahmt nicht etwa das Vor-Bild nach, es handelt sich nicht um ein ›re-enactment‹ als »einfache Wiederholung«25 im Modus des Choreographischen. Der Titel der Arbeit Re-Translation bezeichnet 24 | Die Unvollendetheit kann im Zusammenhang zum Choreographischen und zu den Fragen der Notation als geradezu paradigmatisch für die Prozesse der Übertragung in ihrer Unabschließbarkeit gedeutet werden. 25 | Der Begriff der einfachen oder mechanischen Wiederholung reduziert diese auf ein bloßes Abbilden. Gilles Deleuze entwickelt etwa ein Konzept der kom-

Verzeichnen und Verwischen der Spuren bereits, dass es hier um eine Rückübersetzung geht, welche die eigenen Hinzufügungen und Auslassungen einschließt und ein Neues aus dem Alten heraus entwickelt: »Pas d’illustration de la réalité mais créer des images qui sont une concentration de la réalité et une sténographie de la sensation.«26 Eine »Aufzeichnung der sinnlichen Erfahrung« – diese Aussage lässt nach den gestalterischen Möglichkeiten im Verhältnis von Zeichnung, Sinneswahrnehmungen und notationellem Denken im Entwurfsprozess fragen. Forsythe äußerte sich im Interview indirekt zu diesem Thema: »Je dessine beaucoup, depuis longtemps, et j’ai réalisé une bonne partie de ma danse à travers le dessin. Lorsque je dessine, j’essaie d’observer ce qui se produit entre mon corps et le médium, fusain ou mine de plomb... Parfois j’essayais de délimiter la figure en me remémorant l’emplacement de la tête, etc. Par exemple, le cercle qui est au centre de l’autoportrait de Bacon, on le retrouve dans le dessin que j’ai fait au sol. J’ai essayé de devenir ce cercle. J’ai du combiner différentes dimensions et penser ces courbes en plusieurs plans.«27

Abb. 4.3: William Forsythe/Peter Welz: Etudes pour Retranslation/Final Unfinished Portrait (Francis Bacon), © Peter Welz. plexen Wiederholung, das auf Verschiebungen und Verkleidungen beruht; siehe Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München: Fink, 1997. 26 | William Forsythe im Interview mit Marcella Lista im Begleitheft zur Ausstellung »Corps étrangers. Danse, dessin, film«, Paris: Centre Pompidou, 2006, ohne Seitenangabe. 27 | Ebd.

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Entwürfe und Gefüge Wie aber wird man zu diesem Kreis? Mittels welcher Techniken und Vorstellungen, auf die Forsythe hier nur allgemein verweist, ist eine solche Transfiguration zu bewerkstelligen? In den zwischen Körper und Figuration vermittelnden Momenten scheinen vielfältige Möglichkeiten in diesem Prozess des Werdens auf. Weniger ist es dabei die optische Qualität des Körpers, sondern die ›tiefe Oberfläche‹, der Eindruck des Ineinander-Übergehens von Tänzer und Kreis, von Bacons und Forsythes Linien und verschwimmender Flächen, der diesen Eindruck der kontinuierlichen Veränderung erzeugt. Der Verweis von Peter Welz auf Marcel Duchamps trois stoppages étalon ist hier hilfreich,28 denn er bindet damit den Prozess des Zeichnens nicht an eine präzise Vermessung des Raumes; stattdessen zielt Duchamp mit seiner Arbeit gerade auf die Relativität und Variabilität des Maßes. Welz sagt dazu: »Je ne suis pas interessé par l’idée de la forme d’un point de vue objectif, mais plutôt par ce qui est une sensation, un processus de formation, lorsque le corps évolue constamment d’un état à l’autre.«29 Auch hier finden wir, wie bereits im Zusammenhang mit der imaginativen Vorstellung von Bewegungsfiguren in Kapitel 2, wieder das Interesse – weniger an der genauen Vermessbarkeit des Raumes, sondern an seiner Erkundung durch die Nahsinne, durch Taktilität und Kinästhese. Die imaginative Vorstellung des Kreises als Bewegungsbild führt zu seiner vorläufigen, im kontinuierlichen Wandel begriffenen Gestaltung, zu einer sich entwickelnden ›Trans-Formation‹ von einem Zustand in den anderen: Wie in den Airdrawings steht auch in Retranslation/Final Unfinished Portrait die Linie in ihrer Verschiedenartigkeit, ihrer Ausführung und Auflösung, ihren Tempi, ihrer Unschärfe, ihrer Körperlichkeit im Mittelpunkt der Arbeit, wobei das Zeichnen hier in der Gegenüberstellung zu Bacons Final Unfinished Portrait nochmals an Materialität gewinnt.30 So treten die Möglichkeiten der Verwischung oder des Abdrucks mit dieser Art des körperlichen, taktilen Zeichnens in den Vordergrund. Insofern ist auch die Bezugnahme auf Bacon in diesem Zusammenhang keinesfalls zufällig, steht doch gerade er an der Grenze von

28 | Ebd. 29 | Ebd. 30 | Der Titel des Portraits mag hier auch für die choreographische Arbeit leitend sein: als ein Prozess, der nie beendet wird. Der Kreis, welcher dem Portrait eine Art Rahmung verleiht, steht für diese Bewegung ohne Anfang und Ende, ebenso laufen die Bilder geloopt in einer endlosen Bewegung. Die folgende Arbeit Figure inscribing a circle von Peter Welz und Christopher Roman – einem Tänzer der Forsythe Company –, gesehen in Berlin im Sommer 2008, befasste sich mit der Schwierigkeit einen Kreis als perfekte geometrische Figur aus dem Handgelenk zu zeichnen.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren Figuration und Defiguration, wie es Deleuze in seiner Studie zum »Maler der Sensationen« beschrieben hat.31 Carolin Meister hat für die späten Portraits Bacons die Nähe von Ähnlichkeit und Berührung, von Sichtbarkeit und Berührbarkeit nachgewiesen:32 »Jede Pinselspur ist eine Handgreiflichkeit, mit der der Maler seinen Figuren zu Leibe rückt und den distanzierten Blick zugunsten einer Nähe aufgibt, die den Tastsinn privilegiert.«33 Wie im Final Unfinished Portrait die weiße Kinnlinie eher einer Berührung als einem Pinselstrich nahe kommt, so sind auch die Spuren der Aufzeichnung durch die Körperlichkeit der Bewegung Forsythes verändert. Weit weniger ist nur die visuelle, als vielmehr eine haptische, taktile Dimension angesprochen, die auch beim Betrachter eine, wenn auch nur ungefähre Erinnerung an die entsprechende eigene Erfahrung wachruft. In ähnlicher Weise scheinen in der Videoinstallation die Bewegungen Forsythes auf dem weißen raumlosen Hintergrund des Videos oftmals fast aus dem Bildrahmen herauszutreten, hie und da schlägt dem Betrachter ein Fuß oder ein anderes Körperteil in der Rhythmisierung der Bewegung entgegen. Deleuze beschreibt die Malerei Bacons in seinem Essay an einer Stelle als: »[e]ine hysterische Szene. Die ganze Reihe von Spasmen bei Bacon entspricht diesem Typus; Liebe, Erbrechen, Ausscheidung, stets der Körper, der durch eines seiner Organe zu entkommen versucht, um sich mit der Farbfläche, der materiellen Struktur zu vereinen.«34 Doch es ist nicht nur das Abgebildete, was sich in dieser Weise zeigt, sondern vor allem der Malakt selbst, der sich im Bild 31 | Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation, München: Fink, 1994. 32 | Carolin Meister: »Bacons Paradox: Figuration, Abstraktion, Emotion«, in: Anke Hennig/Brigitte Obermayr/Antje Wessel/Marie-Christin Wilm (Hg.): Bewegte Erfahrungen, Berlin/Zürich: diaphanes, 2008, S. 159-174; sowie dies.: »Athletik der Entstellung. Zum symptomalen Realismus bei Francis Bacon und Georges Bataille«, in: Nicola Suthor/Erika Fischer Lichte (Hg.): Verklärte Körper. Ästhetiken der Transfiguration, München: Fink, 2006, S. 249-259. 33 | Meister: 2008, S. 170. 34 | Deleuze: 1994, S. 17. Hier geht es weder um direkten Ausdruck noch um Abstraktion. Es wäre jedoch wenig hilfreich, im Hinblick auf die Arbeiten Forsythes mit der Idee des organlosen Körpers von Deleuze und Guattari zu argumentieren, denn es findet keine Auflösung statt; vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve, 1991, insbes. Kap. 6: »28. November 1946 – Wie schafft man sich einen organlosen Körper?«, S. 205-228. Im genannten Zitat ist dieser Ausdruck formuliert als eine Richtung, an anderer Stelle wird er als Metapher verwendet. Jedoch kann im Falle Forsythes (und auch im Falle vieler anderer zeitgenössischer Tanzformen) nicht von einer tatsächlichen Auflösung der Körpergrenzen die Rede sein; diese findet höchstens in der Wahrnehmung des Zuschauers statt.

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Entwürfe und Gefüge wieder findet. Ein »fragiles Gewebe aus Gesten und Bewegungen, Blicken und Berührungen, Figur und Spur« (des Malers im Bild) lässt sich durch »Verwischungen, Spritzer, Farbflecken und Pinselhiebe« beschreiben. Und mit dieser Betonung geht die Erinnerung an motorische und taktile Empfindungen auch in den Prozess der ästhetischen Erfahrung mit ein. Stärker noch als die Handzeichnung integriert das Zeichnen mit dem ganzen Körper jene Momente des Ereignishaften, in denen der Körper einem Impuls von außen folgen muss und so die unwillkürliche Bewegung in das Zeichnen integriert. Die Spuren, die von diesen Ereignissen zeugen, entwickeln eine eigene Materialität und Dynamik: eine Linienführung, die mal intensiv, mal schwächer, mal expansiv in die Fläche bzw. den Raum vorstößt, dann wieder auf dem Punkt verharrt, die sich selbst durchstreicht und schließlich auch durch die Bewegung des Körpers verwischt wird. Anders als in der intentionalen Kopplung von Auge und Hand, die Zeichnung als Ausführung eines Konzepts versteht,35 kann die Zeichnung gerade in ihrer Gebundenheit an den Körper eine eigene Kraft entwickeln: So dienen die Bleistiftmanschetten nicht dazu, eine präzise Linienführung zu ermöglichen, stattdessen ist es der Körper, der sich in der Annäherung an das Portrait bewegt, der über die Rhythmisierung des Zeichenaktes an der Figuration und ihrer Verwischung zugleich arbeitet. Gerade in der Konzentration auf den physischen Vorgang der Notation von Prozessen, der in der Kunst der Avantgarde eine wichtige Rolle spielt, erweist sich die Geste des Zeichnens als zentrales Moment einer improvisatorischen Kunst; es wird der Kontingenz ein entscheidender Anteil am Entwurfsprozess zugewiesen. Die Verknüpfung von Auge und Hand, Auge und Intellekt wird in diesen Zeichnungsprozessen absichtsvoll unterbrochen; keine psychomotorische Vervollkommnung, nicht die Umsetzung des mentalen Bildes vom Kopf in die Hand, sondern gerade der Zufall, der überraschende Moment, das NochNicht-Wissen werden hier als Werkzeuge eingesetzt, die über den teilweisen Entzug von Kontrolle operieren. Dies bringt uns wieder zur Frage, wie Bewegung überhaupt entsteht. Wenn es hier nicht allein um das Sichtbare geht, kann dann der Körper in Bewegung eine andere Art des Sehens und Wissens entwickeln? »Es gilt zu verstehen, dass das Sichtbare selbst eine Nicht-Sichtbarkeit enthält. Blindheit des Bewusstseins: Was es nicht sieht, sieht es aus prinzipiellen Gründen nicht, weil es Bewusstsein ist. Was es nicht sieht, ist das, wodurch sich das Sehen des übrigen in ihm vorbereitet (wie die Netzhaut an dem Punkt blind ist, von woher sich die Fasern ausbreiten, die schließlich das Sehen ermöglichen). Es sieht das nicht, was bewirkt, dass es sieht, und das ist seine Bindung an das Sein,

35 | Allerdings ist zu beachten, inwieweit die Anordnung hier bereits als Konzept zu verstehen ist.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren seine Leiblichkeit, die Existentialien, durch die die Welt sichtbar wird, das ist das Fleisch, in dem das Objekt entsteht.«36

Kann diese Überlegung Merleau-Pontys helfen, das Verhältnis zwischen einem konzeptuellen und einem ausführenden Anteil von Bewegungsfindung zu klären? Bringen auch hier Konzept und Ausführung sich gegenseitig hervor? Denn keinesfalls sind die Momente des Zeichnens bei Forsythe unkontrolliert. Innerhalb seiner Choreographie werden Steuerung und Störung in einem präzisen Wechselverhältnis eingesetzt. Bewegung wird in einem Kulminationspunkt zu ihrem Scheitern, oder wie in Whenever on on on nohow on/Airdrawing zum Sturz getrieben, wobei dieser Vorgang bei genauem Hinsehen zwischen einem antizipativen Anteil und dem Umgang mit situativen Bedingungen oszilliert. Einerseits wird mit dem Gewicht des Körpers in der Bewegung und der Schwerkraft gerechnet, dabei aber wird durch die stete Komplexitätssteigerung dieser Elemente der Augenblick des in gewisser Weise noch Unvorhersehbaren erzwungen, der Moment, in dem der Körper sich nicht mehr auf seine Koordination, seine Gewohnheiten verlassen kann, und stattdessen ein Moment des Unkontrollierbaren eintritt, der dem Ganzen eine andere Wendung gibt. So sind in dieser Kopplung die Geste des Auf-etwas-Zeigens und das intensive Bei-sich-Sein, auf die Impulse des eigenen Körpers zu hören, mit dem Nachaußen-Verweisen vereint.37 Zwischen diesen Polen entwickelt sich ein spezifischer Rhythmus der Zeichnung: eine Pause, ein Innehalten, ein Impuls, der jedoch wieder in ein Rahmendes gefügt wird, welches wiederum dem gesamten Vorgang erst seine Möglichkeiten eröffnet, sich jedoch beständig zwischen Konstruktion und Dekonstruktion bewegt. In diesem Oszillieren zwischen dem Anwesen und Abwesen, zwischen Zeigen und Verbergen, Sichtbarem und Unsichtbarem wird eine zentrale Eigenschaft dieser Zeichnungen erst deutlich: »Da die Spur kein Anwesen (présence) ist, sondern das Simulacrum eines Anwesens, das sich loslöst und verschreibt, in einen Verweisungszusammenhang tritt und sich eigentlich nicht ereignet, gehört die Tilgung zu ihrer Struktur. Nicht nur die Tilgung, der sie immer schon ausgesetzt bleiben muss – wäre sie doch sonst unzerstörbare und monumentale Substanz, sondern auch die Tilgung, die von Anfang an zur Spur macht, sie einer ständigen Verlegung und Verlagerung unter-

36 | Maurice Merleau-Ponty: »Blindheit (punctum caenum) des ›Bewußtseins«, Mai 1960, Arbeitsnotizen, in: ders.: Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. v. Claude Lefort, München: Fink, 21994, S. 313. 37 | Die Kinesphäre spielt in diesem Prozess wiederum die wichtige Rolle, diese Prozesse zu rahmen.

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Entwürfe und Gefüge wirft, sie zum Verschwinden bringt, wo sie erscheint, und sie an ihrem Standort aus sich heraustreten lässt (sortir de soi en sa position).«38

Als dynamisches Gefüge lässt sich der Zeichenprozess als diagrammatische Operation – durch etwas hindurch – beschreiben. So bedeutet das griechische Verb diagrammein nicht nur, etwas als eine Figur zu entwerfen, sondern zugleich auch den Akt des Durchstreichens.39 Der Entwurf als ekstatische Öffnung, als Anfang, enthält hier paradoxerweise zugleich das Element des Verschwindens, das jedoch selbst wiederum in dieser doppelten Struktur angelegt ist, wie Alexander Garcia Düttmann es beschreibt: »Dass das Verschwinden des Getilgten oder Ausgelöschten dessen Allgegenwart zur Folge hat.«40 »Was verwischt wird, droht in der Ungestalt eines Gespenstes zu überleben und fortzubestehen. Dieses Fortbestehen, dieses gespenstige Überleben wirkt umso beunruhigender, als das Gespenst keinen lesbaren Namen trägt, keine eindeutigen Spuren hinterlässt und zwangsläufig ungreifbar bleibt.«41

Düttmann beschreibt das Verwischen als »reinen Gebrauch ohne Aneignung«,42 ohne einen Stil auszubilden und stattdessen Diskontinuitäten zu produzieren.43 Der Akt der Verwischung der eben noch hinterlassenen Spur produziert als seine Doppelgänger die vielfachen Möglichkeiten seiner Vergangenheit. Aber selbst wenn man diese fast gespenstische Dimension beiseite lässt, werden hier Verhältnisse, Beziehungsgefüge zwischen einzelnen Elementen aufgespannt, die sich nicht nur auf der Fläche des Papiers bzw. der Videoscreens und darüber im Raum, sondern auch in der zeitlichen Dimension entfalten. 38 | Jacques Derrida: »Die différance«, in: ders.: Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen, 1988, S. 29-52. 39 | Alexander Garcia Düttmann: »Das Verwischen der Spuren«, in: ders.: Das Verwischen der Spuren, Berlin/Zürich: diaphanes, 2005, S. 57-68. 40 | Ebd., S. 59. 41 | Ebd. 42 | Ebd., S. 60. 43 | Mit dem Verweis auf Walter Benjamins Aufsatz zu »Erfahrung und Armut«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg.  v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band II.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 213-219, und Bertolt Brechts »Aus dem Lesebuch für Städtebewohner«, in: ders.: Werke. Große und kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 11, Gedichte 1. Sammlungen 1918–1938, hg.  v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und KlausDetlef Müller, Berlin/Weimar/Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S.  155-165, beschreibt Düttmann diese Geste als einen Entschluss, sich vom allzu Vertrauten zu verabschieden.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren

3.3 Zur Operationalität des Diagramms Das Diagramm hat aber auch die Fähigkeit, disparate Phänomene, wie z.B. ein sich veränderndes Gebilde, in einem Zusammenhang zu zeigen, der gerade aus jener Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen resultieren mag. Als Organisationsinstrument verbindet das Diagramm Darstellung und Analyse des Entwurfsprozesses, als nicht-diskursiver Modus der Reflexion, als epistemisches Modell stellt es relationale und relative, veränderliche Gefüge dar – und her. Räumlichkeit wird hier zur Matrix für Denkprozesse, gleichzeitig wird ein semantischer Überschuss produziert, der das zu Sehende nie in einer einzigen Lesart aufgehen lässt. Deleuze bezeichnet das Diagramm als Werkzeug und gleichzeitig als Mittel, den Fallstricken der Darstellung zu entgehen. In den Arbeiten von Francis Bacon, die er in seinem Essay beschreibt, wird die Bewegung durch Verwischungen, aber auch durch Pfeile und Vektoren wiedergegeben, oftmals auch durch Gerüste, oder wie hier durch den Kreis, der eine Art Rahmung der Figur beschreibt. Jenes entstehende Diagramm, so Deleuze weiter in seinem Bacon-Aufsatz, beschreibe das Chaos, sei aber zugleich auch Anfang von Struktur und Rhythmus, es beende die vorbereitende Arbeit und leite den Malakt ein – und ist damit paradigmatisch für den Entwurfsprozess. Die operative Gesamtheit der Linien und Zonen, der a-signifikanten Striche und Flächen mache schließlich das Diagramm aus, welches jedoch der steten Überprüfung bedürfe: »die Markierungen sind gemacht, und man überprüft sie dann, wie man es bei den Kurven eines Diagramms tun würde. Und in diesem Diagramm sind die verschiedensten Möglichkeiten enthalten.«44 Es gehe hier, so Deleuze, nicht um bloße Transformation, die der Figuration verhaftet bliebe, sondern darum, faktische Möglichkeiten zu schaffen, Ebenen und Fluchtlinien zu ziehen und produktiv werden zu lassen. So werden die Kräfte des Außen (und des Innen) sichtbar und defigurativ wirksam – als Karte der instabilen Kräfte und Verhältnisse, welche die Figur konstituieren – eine Figur, die sich nicht durch eine feste Form, sondern durch die Beziehungen der Kräfte auszeichnet –, die im steten Prozess des Werdens ist. Besonders deutlich wird dies in der Gegenseitigkeit, in der Forsythes Zeichenakt und die Sichtbarwerdung des Baconportraits zueinander stehen. Den Malakt und insbesondere den Wendepunkt des Gemäldes beschreibt Deleuze als Extension des Diagramms auf die räumliche und zeitliche Gesamtheit des Gemäldes, die eine Verschiebung des ›zuvor‹ und ›danach‹ bewirkt, als Aufgabe jeder visuellen Souveränität und sogar aller visuellen Kontrolle auf dem entstehenden Bild, vergleichbar Derridas Rede von der »Blindheit des Malers«.

44 | Die Bezeichnung »Diagramm« stammt von Francis Bacon selbst, zitiert in Deleuze: 1994, S. 62.

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Entwürfe und Gefüge Als Erzeugung von »Linien, die mehr als Linien« seien, von »Flächen, die mehr als Flächen« oder umgekehrt von »Volumina, die weniger als Volumina« seien,45 werden die Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Dimensionen obsolet, die Fläche, die Linie werden körperlich, sie treten aus dem Bild heraus. An anderer Stelle heißt es: »Das Zufalls-Diagramm hat die intentionale figurative Form (den Vogel) verwischt: Es zwingt informelle Flecke und Striche auf, die nur als Merkmalszüge von Vogel- und Tiersein fungieren. Und aus diesen nicht-figurativen Zügen tritt wie aus einer Pfütze die erlangte Gesamtheit hervor, die über die Figuration hinaus, die dieser Gesamtheit ihrerseits zukommt, von jenen Zügen zur Potenz einer reinen Figur erhoben wird. Das Diagramm wurde also wirksam, indem es eine Zone der Ununterscheidbarkeit oder objektiven Unbestimmbarkeit zwischen zwei Formen erzwungen hat, von denen die eine schon nicht mehr, die andere noch nicht war: Es zerstört die Figuration der einen und neutralisiert die der anderen.«46

Es »hat im gesamten Gemälde informelle Kräfte eingeführt oder verteilt, mit denen die deformierten Partien notwendig in Beziehung stehen oder denen sie eben als ›Schauplätze‹ dienen.«47 Dabei gibt es für Bacon nichts Wichtigeres als die Kontur zu retten. Eine Linie, die nichts begrenzt, hat dennoch selbst eine Kontur: Für Bacon besteht der Malakt, so Deleuze, darin: »zufällige Markierungen setzen (Linien-Züge); einzelne Stellen oder Zonen säubern, ausbürsten oder verwischen (Farb-Flecke), Farbe aus unterschiedlichen Winkeln und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit hinwerfen.«48 Das Diagramm darf also nicht das ganze Gemälde »anfressen«, sondern muss räumlich und zeitlich begrenzt bleiben. Es muss operativ und kontrolliert bleiben. Das Diagramm ist eine faktische Möglichkeit, sie ist nicht das Faktum selbst. Das Wesentliche des Diagramms liegt jedoch darin, »dass etwas aus ihm hervorgeht, und es misslingt, wenn nichts aus ihm hervorgeht«, dass über sich selbst hinaus verweist und eine Operationalität jenseits der Zeichnung in diagrammatischen Relationen weiter entfaltet. Das Diagramm als heuristisches Instrument des Be-Zeichnens lässt zwischen Bild und der Zeichnung des Körpers neue Zusammenhänge entstehen. Als Ort und Verfahren des Denkens im Bild und in der Choreo-graphie als Raum-Schrift,49 beschreibt es nicht ein bestimmtes Objekt, sondern ein beweg 45 | Ebd., S. 66. 46 | Ebd., S. 96. 47 | Ebd. 48 | Ebd., S. 62. 49 | Vgl. zum Verhältnis von Bild und Schrift im Diagramm: Petra Gehring/ Thomas Keutner/Jörg F. Maas/Wolfgang Maria Uedig: »Einleitung«, in: dies. (Hg.):

Verzeichnen und Verwischen der Spuren liches Gefüge. Zwischen Zeichnung und Praxis, und über beide hinausgehend, kann es modellhafte Züge entwickeln, wie zum Ende des Kapitels am Beispiel von Forsythes Human Writes gezeigt werden soll.50 Im Folgenden soll das Verzeichnen der Ereignisse im Bereich des Architektonischen betrachtet werden, um in einem abschließenden Teil dieses Kapitels am Beispiel von Human Writes die choreographischen, zeichnerischen und raumbildenden Prozesse aufeinander zu beziehen. In den folgenden der Architektur gewidmeten Passagen sollen tatsächlich Diagrammzeichnungen betrachtet werden, die aber darüber hinaus diagrammatische Relationen innerhalb der zu entwerfenden Strukturen anlegen. Der architektonische Entwurf choreo-graphiert Bewegungsflüsse und schreibt sie vor, er hält Handlungsanweisungen bereit, eröffnet Möglichkeiten, grenzt aber andere auch ein. Welche Strategien des räumlichen Entwurfs, welches Denken von Architektur erlauben es, den Entwurf als eine Handlungsanweisung zu lesen? Welche Bedeutung haben die Linien, Spuren, Verwischungen, Korrekturen, die Leerstellen und die Materialität des Papiers für die Sinngenese und die ästhetische Erfahrung einer solchen Zeichnung? Wie werden mittels der Segmentierungen und Sequenzialisierungen zeitliche Verläufe in die räumlichen Abläufe eingetragen und inwiefern wirken diese regulierend bzw. disziplinierend? Diagrammatik und Philosophie. Akten des 1. interdisziplinären Kolloquiums der Forschergruppe Philosophische Diagrammatik, Amsterdam: Rodopi, 1992, S. 7-12; sowie Petra Gehring: »Paradigma einer Methode. Der Begriff des Diagramms im Strukturdenken von M. Foucault und M. Serres«, in: dies./Keutner/Maas/Uedig (Hg.): 1992, S. 89-106, hier S. 89. 50 | An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass Deleuze den Begriff des Diagramms von Foucault übernimmt. Dessen Analyse des Diagramms in Überwachen und Strafen macht am Beispiel des Disziplinarapparates des Bentham’schen Panopticons die Verteilung und Verknüpfung von Machtbeziehungen als Organisation von Wissen und Ordnungslogik lesbar. Diese Beschreibung einer Kräftekonstellation, ihre Archäologie oder Kartographie setzt sich bei Deleuze fort, der das Interesse an der Verteilung und Spannung von Kräfteverhältnissen innerhalb der Bildkomposition und -rezeption teilt, sowie das Bestreben, Ereignisse konstellativ zu beschreiben und zu verzeichnen. Diese Deleuze’schen Ereignisse gehen jedoch über den Bereich des Notationellen, Kartographischen und Malerischen hinaus. Siehe dazu: Gilles Deleuze: Foucault. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992; sowie ders.: »Kein Schriftsteller: Ein neuer Kartograph« in: Gilles Deleuze/Michel Foucault: Der Faden ist gerissen, Berlin: Merve 1977, S. 100-135; sowie Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977.

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Entwürfe und Gefüge Die Frage, wie sich Struktur und Organisation im Medium des Architekturentwurfs konzipieren und darstellen lassen, soll anknüpfen an den bereits behandelten Zusammenhang von concetto und disegno.

4 Verräumlichung: Konstellative Werkzeuge des Entwerfens 4.1 Architekturzeichnung und Diagramm »Architekten bauen nicht, sie zeichnen«,51 so schreibt der Architekturtheoretiker Robin Evans. Zeichnungen dienen nicht nur als wichtigstes Mittel in der Kommunikation zwischen Bauherren und Architekten, sie visualisieren nicht nur bestimmte Funktionen, sondern auch die Fiktion des noch zu Bauenden. Sie begünstigen die Herausbildung eines Repertoires und einer theoretischen Debatte gleichermaßen, und kein Architekt versäumt es, in seinen Äußerungen zu Arbeitsprozessen auf die besondere Qualität und Bedeutung der Handzeichnung hinzuweisen,52 auch wenn sie inzwischen vielfach durch computergenerierte Entwurfsverfahren ersetzt wurde. Das Zeichnen gilt hier nicht nur als Ausdruck des Denkens, es entwickelt eine eigene Sprache: Räumliche Ideen – ob es sich um topographische oder um topologische Verhältnisbestimmungen handelt – kommen gerade in der Zeichnung am Entschiedensten zum Tragen. Ziel ist nicht nur die Verwirklichung, auch die Genese eines Projekts wird in den übereinander gelagerten Schichten ablesbar. Technik, Darstellungsart, Ausschnitt, Format, Duktus veranschaulichen die konzeptionelle Absicht. In 51 |  Robin Evans: Translations from Drawing to Building and Other Essays, Cambridge (MA): MIT Press 1997, S. 6. Auch Vittorio Lampugnani weist darauf hin, dass Architekturvermittlung durch Worte, Photographien, Zeichnungen stattfinde. Als Argument für die Zeichnung führt er an, dass der Unterschied zwischen Ausgeführtem und Unausgeführtem aufgehoben werde, Ziel sei nicht zwangsläufig die Verwirklichung (hier nennt er Boullées Newton-Denkmal, Mies van der Rohes Glashochhaus und die Utopien der 1960er-Jahre); siehe Vittorio Lampugnani: »Fragmente einer Geschichte der Architekturzeichnung im 20. Jahrhundert«, in: ders.: Architektur unseres Jahrhunderts in Zeichnungen. Utopie und Realität, Stuttgart: Hatje, 1982, insbes. die »Einleitung«, S. 7-17. 52 | Vgl. z.B. Horst Bredekamp: »Frank Gehry and the Art of Drawing«, in: Mark Rappolt/Robert Violette (Hg.): Gehry draws, Cambridge (MA): MIT Press, 2004, S. 11-28; oder Elia Zenghelis/Jeffrey Kipnis/Terence Riley/Museum of Modern Art (Hg.): Perfect Acts of Architecture, New York (NY): Museum of Modern Art, 2002, wobei hier die Zeichnungen selbst als »Endprodukt«, als »Werk« betrachtet werden.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren dieser Verknüpfung verschiedener Herangehensweisen liegt ein wesentlicher Effekt darin, dass Konzept und Zeichnung nicht hierarchisch gegeneinander ausgespielt werden, sondern sich gegenseitig hervorbringen.53 Oft wird gerade das Prozesshafte in diesen Zeichnungen betont: Skizzen können, anders als die späteren Präsentationszeichnungen, die bestimmte Aspekte des Entwurfs besonders deutlich veranschaulichen sollen, als Ideen in Rohform, als tastende Versuche gelesen werden. Dabei ist aber auch hier das Zeichnen nie nur als rationaler, vom Auge kontrollierter Akt zu verstehen, er wird ebenso von der Physik, von psycho-physiologischen Prozessen sowie vom Unterbewussten beeinflusst. Das Tastende im Entwurf, dessen ›Objekt‹ noch nicht da ist und dessen Ursprünge sich im Dunkeln befinden, setzt voraus, das ›Dazwischen‹ so lange wie möglich zu verlängern, herauszuzögern und zu vertiefen, um zu einer komplexen, vielschichtigen und offenen Lösung zu gelangen. Dazu ist insbesondere das Diagramm in der Lage. Explizit wähle ich hier deshalb nicht etwa die Zeichnungen Frank Gehrys, die auf den ersten Blick einen dem Ansatz Forsythes vergleichbaren Modus des Zeichnerischen in der Architektur beschreiben.54 Denn weniger soll es um eine Analogie in der Produktionsweise gehen, als vielmehr darum, wie ein Verfahren es ermöglicht, das Ereignishafte und Unvorhersehbare in den Entwurfsprozess zu integrieren. In diesem Prozess kann das Diagramm verschiedene Zwecke im Entwurfsprozess verbinden. Es ist keine Skizze, es evoziert nichts und es zeigt auch auf nichts.55 Es bietet die Möglichkeit, einen Komplex an visuellen, programmatischen, materiellen und immateriellen Wünschen und Rahmenbedingungen in einem Bild oder einer Serie von Bildern derart zusammenzufassen und zu gestalten, dass eine neue Qualität entsteht. Als Hilfsmittel zur Systematisierung mathematischer und statistischer Daten kann es diese retrospektiv analysieren, doch als Instrument, das innerhalb des Virtuellen operiert, ist es zugleich ein strukturell projektives Entwurfswerkzeug.

53 Das Zeichnen wird durch die Praxis des Modells ergänzt, das zumeist aus den Linien der Entwurfszeichnung abgeleitet wird. Jedoch verdeutlichen die Übertragungen jeweils medienspezifische Unterschiede, welche die Prozesse zwischen Zeichnung und Modell nach Evans als »insivisible nature of architecture« auszeichnen, vgl. Evans: 1997, S. 7. 54 |  Vgl. Bredekamp: 2004. 55 | Anthony Vidler: »Diagramme der Utopie«, in: daidalos 74, Januar 2000, Diagrammanie, S.  6-13, hier S.  6; zur Geschichte und den verschiedenen Funktionen der Diagramme: Joachim Krausse: »Information auf einen Blick – zur Geschichte der Diagramme«, in: form und zweck 16, 1999, Markierungen/William Morris II, S. 4-23.

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Entwürfe und Gefüge Wie auch in den Überlegungen zum Final Unfinished Portrait bereits erörtert, verweist das griechische Verb diagrammein auch in diesem Zusammenhang nicht nur darauf einen Plan, eine Figur zu erstellen, sondern auch auf das Durchstreichen: der Entwurf als Öffnung, als Anfang, wie es auch der griechische Begriff der arché in der Architektur deutet, und als paradoxe Struktur des Verschwindens. Ordnung und Umordnung sowie die damit einhergehende Destabilisierung sind also im Werkzeug selbst angelegt und tragen zu seinem ambivalenten Zug bei. Der so entstehende Raum ist das Ergebnis einer Grenzziehung – zur Etablierung von Identität, d.h. er beruht auf Ein- und Ausschließungen wie z.B. der Einteilung von öffentlichem und privatem Raum. Die Performanz bestimmter Handlungen kann diese Grenzen wiederum porös werden lassen und gewährleistet die Veränderbarkeit sozialer und kultureller Identität. Wie aber kann über die transformative Komponente des Diagramms jenes Unvorhersehbare, ein improvisatorischer Aspekt in den Entwurf eingetragen, ja sogar geplant werden?

4.2 Das Diagrammatische im und über den zeichnerischen Entwurf hinaus – Cedric Price: Utopische Potenziale der Architektur »Das Diagramm oder die abstrakte Maschine haben Fluchtlinien, die primär sind, die in einem Gefüge keine Phänomene des Widerstands oder des Gegenangriffs sind, sondern Punkte der Schöpfung und Deterritorialisierung.«56

Wurde im ersten Kapitel Buckminster Fullers Entwurfsdenken als Beispiel einer alternativen, Handlungsräume eröffnenden Architekturpraxis herangezogen, so sollen hier die Entwurfspraktiken der 1960er-Jahre als eine Weiterentwicklung im Aufbrechen traditioneller Verfahren im Anschluss an technologische und medientechnische Veränderungen herangezogen werden. Sie stellten einen Angriff auf die reduzierten, funktionalistischen Planungsstrategien der Moderne dar und veränderten damit auch ihr Entwurfsdenken: Neben Buckminster Fuller versuchte bereits in den 1950er-Jahren das Team 10 um Alison und Peter Smithson Parameter wie Wandel und Wachstum in die Architekturentwürfe zu integrieren.57 In den 1960er-Jahren war nicht nur durch wissenschaftliche und politische Umwälzungen Ungewissheit zu einer zentralen Kategorie des Denkens und Planens geworden. Eine Architektur, die diesen Bedingungen 56 | Deleuze/Guattari: 1991, S. 194, Anmerkung 37. 57 |  Dirk van den Heuvel: »Die Diagramme des Team 10«, in: daidalos 74, Januar 2000, Diagrammanie, S. 40-51.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren standhalten sollte, musste flexibel sein und Elemente aufweisen, die leicht bewegt und immer wieder ausgewechselt werden konnten. Buckminster Fullers Dymaxion-Entwürfe, die ein ganzes Programm vom Auto bis zur Wohneinheit und zur Weltkarte umfassen, waren Vorläufer eines solchen Denkens.58 Diese Umwälzungen mussten notwendigerweise, wie schon im ersten Kapitel am Beispiel von Fuller gezeigt, auch den Entwurfsprozess selbst verändern. Architektenteams wie Superstudio oder Archigram integrierten Comics, FilmStills, Werbungsgraphiken und Elemente der Pop-Art in ihre Entwürfe. Damit fand nicht nur eine Entgrenzung zwischen den einzelnen Künsten statt, sondern vor allem zwischen Kunst und Pop, Kunst und Alltag. Insbesondere wurde es den Architekten dadurch möglich, Kontexte direkter in die Planung zu integrieren und dadurch Strategien der Raumaneignung, wie sie beispielsweise von den Situationisten oder von Bewegungen wie As-found oder Non-Plan, die sich innerhalb Großbritanniens entwickelten, vorgeschlagen wurden, in traditionelle Entwurfsverfahren zu integrieren. Auch wenn seine Entwürfe gerade nicht jenen aus unterschiedlichsten Materialien collagierten Charakter aufweisen, kann der britische Architekt Cedric Price als einer der prominenten Vertreter dieser architektonischen Entwurfspraxis gelten. Seine utopischen Skizzen und Diagramme reichen vom Fun-Palace, einem flexiblen Theaterbau (1963–1967),59 über den Potteries Thinkbelt (1965), einer beweglichen Universität auf Schienen, bis hin zum Generator Projekt, das eine intelligente Wohneinheit darstellt, welche sich den Bedürfnissen ihrer Bewohner anpassen sollte. Auch wenn diese Entwürfe nicht verwirklicht wurden – denn sie bringen explizit architektonische Absichten nur ungenau zum Ausdruck, sondern widmen sich eher den Funktionen des zu konzipierenden Gebäudes –, gelten sie zahlreichen zeitgenössischen Architekten, wie Rem Koolhaas oder Arata Isozaki als Inspiration, denn Price denkt »architecture as that

58 | Vgl. auch Christoph Asendorf: Entgrenzung und Allgegenwart. Die Moderne und das Problem der Distanz, München: Fink, 2005; ders.: Super Constellation, Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien/New York (NY): Springer, 1997. 59 | Fun-Palace war von den Ideen der Theaterdirektorin Joan Littlewood inspiriert, die wiederum in diesem Projekt eng mit Gordon Pask, einem Kybernetiker zusammenarbeitete, der ebenfalls zahlreiche Diagramme für die Funktionen des Theaters entwarf. Richard Rogers und Renzo Piano nahmen Fun-Palace zum Vorbild für das Centre Pompidou, vernachlässigten dabei jedoch den zentralen Punkt, dass zwischen den Disziplinen keine Grenzen sein sollten. Vgl. dazu HansUlrich Obrist: »Shifts, Expansions and Uncertainties: The Example of Cedric Price«, in: Liam Gillick/Maria Lind (Hg.): Curating with Light Luggage, Frankfurt am Main: revolver, 2005, S. 62-75.

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Entwürfe und Gefüge which sets up the conditions for interaction as opposed to imposing formal will on a place«.60 Weniger wird hier der Akzent auf eine bestimmte Form der visuellen Kommunikation gesetzt (wie es beispielsweise in den bunten Comic-artigen Strips von Archigram durchaus üblich war), vielmehr sind Zeit, Geschwindigkeit, Bewegung und Veränderung die Stichworte, unter denen Price über eine Architektur nachdenkt, die noch während der Nutzung ununterbrochen veränderund anpassbar ist. Ähnlich wie bei Fuller waren seine Entwürfe getragen von eher ingenieurstechnischen Lösungsfindungen. Der Architekt sollte sich nicht als Designer einer festgelegten ›Hardware‹ verstehen, sondern eine größere Verantwortung für die zu entwerfenden ›Programme‹ übernehmen und darüber nachdenken, wie Handlungsoptionen in den Entwurf integriert werden konnten. Die Multifunktionalität endet jedoch nicht mit dem Entwurf, sondern Price denkt Architektur als etwas, das erst durch den Gebrauch entsteht. So war der Fun Palace, konzipiert als Modell einer interdisziplinären Kulturinstitution, gedacht als »a large temporary (twenty years approximately) community toy and learning machine«,61 als ein Gebäude, das selbst den Keim der stetigen Veränderung in sich tragen sollte.62 Die notationelle ›Choreographie‹ der verschiedenen Raumfunktionen erinnert somit auch eher an Schaltpläne, die verschiedene Funktionen miteinander verknüpfen. Das Diagramm bietet Price dabei das Werkzeug dialektischer Darstellung, die Wechselwirkungen zwischen Gebäude und Nutzer, Gebäudestruktur und Kontext, Bewegungsflüssen und Umwelt oder Infrastruktur in einer Offenheit zu entwerfen, die verschiedene Lösungsmöglichkeiten gleichzeitig im Auge behält.63 (Abb. 4.4)

60 | Cedric Price in: ebd., S. 67. 61 | Cedric Price: »Cedric Price’s Non-Plan Diary«, in: Jonathan Hughes/Simon Sadler (Hg.): Non-plan. Essays on Freedom Participation and Change in Modern Architecture and Urbanism, Oxford: Architectural Press, 2000, S. 22-31, hier S. 23. 62 | Marie-Lou Lobsinger: »Cedric Price. Eine Architektur der Performanz«, in: daidalos 74, Januar 2000, Diagrammanie, S. 22-29, hier S. 23. 63 | Maddalena Scimemi: »Die ungeschriebene Geschichte einer anderen Moderne. Architektur in England in den 50er und 60er Jahren«, in: daidalos 74, Januar 2000, Diagrammanie, S. 14-21, hier S. 15.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren

Abb. 4.4: Cedric Price Propositions: The City as an Egg (Ausschnitt).

Mittels eines dreiteiligen Verfahrens: der nicht-architektonischen Analyse der Situation, der Übersetzung in ein architektonisches Programm und schließlich der architektonischen Synthese kann diese zergliedernde Entwurfsstrategie verhindern, dass wichtige Erfordernisse einem überkomplexen, ganzheitlichen Plan geopfert werden. Vor allem aber zeigt sich, wie Konflikte, die dem Übergang von verschiedenen Einzellösungen zum Entwurf, der sie integrieren soll, innewohnen, produktiv werden können. Über die Zerlegbarkeit und Analyse einzelner Abschnitte kann ein besseres Verständnis der möglichen Bewegungen erzielt werden.64 Die Entwürfe zum Potteries Thinkbelt sind zu komplex, um sie hier adäquat abzubilden; sie werden in einzelne Bewegungsabläufe zergliedert, einzelne Funktionen werden gebündelt, wobei sich Überschneidungen und Än 64 | Hiermit rückt der Bereich der Funktionalität ins Blickfeld des Diagramms, denn Notationen von Bewegung finden in vielen Bereichen – über den künstlerischen Bereich hinaus – ihre funktionale Anwendung, so u.a. in Konstruktionsplänen für Maschinen, Ablaufskizzen von Konstruktions-/Produktionsprozessen; sie dienen im tayloristisch-fordistischen Sinne der Optimierung von Bewegung.

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Entwürfe und Gefüge derungen ergeben, oder es werden Listen erstellt, die einzelne Funktionen der »Transfer Areas« analysieren, deren »static structure« und »temporary structures« sowie deren »social exchange zones« und »variable exclosures« bemessen. Diese Zergliederung des Entwurfsprozesses erlaubt es zudem, die Frage nach den Arbeitsprozessen, nach den Bedingungen des Entwerfens zu stellen: Wie werden die Diagramme operativ, wie werden sie zum Instrument und Medium von Übertragungsprozessen? Die De-Automatisierung der eigenen kognitiven Instrumente sowie die Dekonstruktion des perspektivischen Raums durch die Praxis des Zeichnens, die Differenzierung der Funktionen oder andere hybride Verfahren sind längst aus der Kunst in die Praxis der Architektur eingewandert und belegen, dass der ›kreative‹ Akt zugleich eine Erfahrung der paradoxen Beziehung zu seinem Objekt in Gang setzen kann, der den Prozess selbst motiviert und aufrechterhält. So wird es möglich, Methoden der Regelverletzung, der Kombinatorik und Aleatorik ins Spiel zu bringen. Aber auch scheinbare Zwänge, Auflagen und ökonomische Fragen können als Gelegenheit wahrgenommen werden, wenn Kreativität nicht als freie Erfindung neuer Formen missverstanden, sondern als Reformulierung existierender Beschränkungen aufgefasst wird. Eher im Sinne der Unterlassung kreativen Schöpfungswahns – ein doing less, wie es Fuller in seiner Idee der Ephemerisierung vorsieht als »doing more with less and less«, ein Unsichtbarwerden von Technologie mit den Mitteln neuester Technologie, wie sie sich nach dem 2. Weltkrieg rasant entwickelte,65 ist in diesem Fall aber nicht zu vergleichen mit einem modernistischen less is more, das lediglich eine Reduktion formaler Details vorsieht. Wie aber wären jene Effekte des Prozessualen in der Wahrnehmung durch den künftigen Nutzer offen zu halten? Die architektonischen Objekte Prices waren als solche nicht mehr identifizierbar, sondern nur als mögliche Interpretation, deren Struktur und Wirkung sich erst durch die Lektüre herausbildet. Dies setzt die Sensibilisierung des Rezipienten für solche Umsetzungen voraus, und diese Kompetenz lässt sich nur durch Wiederholung und Gewohnheiten erreichen. Auch hier wird das Zusammenwirken materialer und zeichenhafter Disziplinarmacht mitgedacht, Price ist sich des Potentials der Architektur auf dieser Ebene Macht aufzuteilen und zu verteilen voll bewusst, arbeitet aber an den Öffnungen für mögliche subversive Umverteilungen. Seine architektonischen Vorschläge können als Modelle eines Nachdenkens über die Forderungen eines öffentlichen Raumes gelesen werden, die Hinweise auf partizipatorische Ansätze enthalten, indem sie sowohl den Betrachter als auch die Display-Struktur der Architektur in Bewegung versetzen.66 Insofern 65 | Zu einer Kritik des technokratischen Denken Fullers siehe Felicity D. Scott: Architecture or Techno-Utopia. Politics after Modernism, Cambridge (MA): MIT Press, 2007. 66 | Obrist: 2005.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren ist er auch nicht als utopischer Architekt zu bezeichnen, sondern eher als Pragmatiker. Jenseits der bunten Phantasien seiner Zeitgenossen schlug er, ähnlich wie Buckminster Fuller, zweckhafte und ingenieurstechnische Lösungen vor, die es erlaubten, Architektur als mobil zu denken, und sie mit wenigen Mitteln jederzeit herstellen und an die Bedürfnisse ihrer Nutzer anpassen zu können.

4.3 Bernard Tschumis ›Ereignisse‹ »There is no way to perform architecture in a book. Words and drawings can only produce paper space, not the experience of real space. By definition, paper space is imaginary: it is an image.«67

Bernard Tschumi positioniert sich wenige Jahre später mit den Advertissements for architecture in gewisser Weise als Erbe dieser Idee von Architektur als Anregung von Alternativen.68 So wurden die Advertissements als »notational devices to trigger the desire for architecture« konzipiert,69 dieses unbestimmte, zu begehrende ›Etwas‹ sollte jenseits des Bildes oder der Form liegen (Abb. 4.5). »By replacing conventional architectural drawings with other notational systems (here photographs and texts), that trigger or open a space for a possible architectural experience, Advertissements for Architeture throws into difficulty the sorting through of the relays between author, objects, performance, audience, and so forth.«70

Weder reale Projekte noch reine Phantasie, extrahieren die Advertissements aus einer Momentaufnahme ein Ereignis, das sich in seinen Konsequenzen durch die architektonische Erfahrung und die imaginativ ergänzende Lektüre des Rezipienten konstituiert.

67 | Bernard Tschumi: Advertissements for Architecture, 1976-77, unter: http:// www.tschumi.com/projects/19/# (letzter Zugriff: 11.11.2018).

68 | Ebenso könnten hier auch Rem Koolhaas’ frühe Zeichnungen genannt werden, der mit dem Schreiben von Filmscripts seine Architektenkarriere begann. Daniel Libeskind und Peter Eisenman hingegen sind, auch wenn sie der gleichen Generation angehören, weniger daran interessiert, Alltagskontexte in ihre Architekturentwürfe zu integrieren, oder es geschieht auf eher formaler Ebene, wie z.B. die Entwürfe zum Wexner Centre von Eisenman zeigen. 69 | K.  Michael Hays: Architecture’s Desire. Reading the Late Avantgarde, Cambridge (MA): MIT Press, 2010, insbes. das Kapitel: »Spacing«, S. 135-169, hier S. 144. 70 | Ebd.

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Entwürfe und Gefüge Abb. 4.5: Bernard Tschumi: Advertissements for Architecture (Ausschnitt), 1976–77; »Architecture only survives where it negates the form that society expects of it. Where it negates itself by transgressing the limits that history has set for it«.

Indem Tschumi beispielsweise ein bereits verfallenes Gebäude Le Corbusiers abbildet und den Umgang mit ihm thematisiert, wird die Frage der Autorschaft (s.o.) in den Hintergrund gerückt und stattdessen (nebst der impliziten Kritik an der funktionalistischen Moderne) nach der Nutzung gefragt, die gerade in den Abweichungen vom Gewöhnlichen Zusammenhänge sichtbar werden lässt, die sonst verborgen blieben. Die gezeigten ›Objekte‹ sind ohne ihre ›Verwendung‹ oder Aneignung wertlos, die sich nur in der Erfahrung des jeweiligen Betrachters oder Nutzers einstellen. »Architecture only survives where it negates the form, society expects of it, where it negates itself by transgressing that history has set for it«, lautet der Untertitel eines dieser Advertissements. »It is not the clash between fragments of architecture that counts, but the invisible movement between them. Desire« untertitelt ein anderes der Advertissements. Dieses imaginäre Andere, das evoziert wird, unterliegt steten Widersprüchlichkeiten und Verschiebungen. Nicht Identifikation ist es, die Tschumi interessiert, sondern die Diskrepanz und Spannung, welche sich in der Architektur erfahren lassen. Architektur ist in dieser Hinsicht einerseits als konzeptuelle und entmaterialisierende Disziplin und andererseits als ästhetische Erfahrung und Praxis des Raumes zu verstehen, die sich durch ein räumliches punctum mitteilt, welches (im Sinne Roland Barthes’) der exakten Analyse und eindeutigen Bestimmung widersteht. Dieser Bruch

Verzeichnen und Verwischen der Spuren zwischen Architektur als phänomenalem Ereignis und ihrer semiotischen Ebene liegt, so Tschumi, in den Konsequenzen der Trennung von Struktur und Oberfläche begründet, wie sie sich mit den Leichtbauprinzipien seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten. Bild, Struktur und Konstruktion, die vorher eng verbunden waren, fielen nun auseinander, Fassaden wurden zu unkörperlichen Häuten einer rein visuellen Erscheinung, zum fiktionalen Konzept. Eine mögliche Strategie, mit dieser Entwicklung umzugehen, liegt in der Verfremdung, aus den Bedingungen technologischer Entwicklung, wie z.B. der Fragmentierung, einen Vorteil zu ziehen und sie gegen sich selbst zu kehren.71 Dies wird auch im folgenden Zitat deutlich, mit dem ich zu einem anderen frühen Projekt Tschumis überleiten möchte:

»To really appreciate architecture you might even need to commit a murder.« Auch die Manhattan Transcripts (1976–1981) unterscheiden sich von anderen Architekturzeichnungen insofern, als sie weder utopische noch zu realisierende Entwürfe liefern, sondern stattdessen eine architektonische Interpretation der Realität zu transkribieren suchen (Abb. 4.6).

Abb. 4.6: Bernard Tschumi: Manhattan Transcripts (Ausschnitt).

In einer zu Beginn meist dreiteiligen Struktur, die an eine klassische musikalische Notationsform der verschiedenen Stimmen erinnert, löst sich diese Form nach und nach auf, die einzelnen Ebenen verbinden sich zu einem dichten 71 | Bernhard Tschumi: »Six concepts«, in: Alan Read (Hg.): Architecturally Speaking. Practices of Art, Architecture and the Everyday, London/New York (NY): Routledge, 2000, S. 155-176.

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Entwürfe und Gefüge Ganzen. Gleichzeitig beschreiben die Pläne, Sektionen und Diagramme Räume und Bewegungen der Protagonisten im Rahmen des architektonischen Bühnenraums. Die Bewegungen sind normalerweise aus der architektonischen Repräsentation ausgeschlossen und thematisieren den Gebrauch von und den Umgang mit diesen Räumen. Die Manhattan Transcripts widmen sich einer gewöhnlichen Mordgeschichte und definieren die Architektur – genauer »the park, the street, the tower and the block« – als ihren Schauplatz. Sie brechen die einzelnen Segmente der Narration auseinander und mittels der Trennung von Nutzung, Form und sozialen Aspekten, dem Auseinanderdriften von Bedeutung und Sein, Bewegung und Raum, bieten sie alternative Möglichkeiten, die einzelnen Teile zueinander in Beziehung zu setzen und so eine eigene Dramaturgie zu entwickeln. Unter den architektonischen Detailaufnahmen werden Notationen räumlicher Konfigurationen gesetzt, in der untersten Zeile sind einzelne Bewegungsfiguren zu sehen. Wie sich der Bezug zwischen den einzelnen Zeilen herstellt, bleibt dem Betrachter überlassen. Die beiden Sequenzen oben links scheinen durch einen Rahmen verbunden, der zusammengesetzte Charakter wird jedoch gerade in der mittleren, halb flächig, halb räumlich wirkenden architektonischen Struktur deutlich; die untere Bildreihe wiederholt die Figur des Seiltänzers aus der ersten Abbildung gleich drei mal, wobei er immer weiter im Bildsegment nach oben rückt, das vierte Bildsegment ist nur noch angeschnitten, das fünfte fehlt – welche Fortsetzung der Bewegung sich anbietet, bleibt offen. Die gezeigten Arbeiten Tschumis sind nicht, wie Prices Skizzen, direkt als Diagramme lesbar, jedoch erfüllen sie jenen Übergang vom Diagramm zum Diagrammatischen, sie konstruieren die Bedingungen für einen relationalen Möglichkeitsraum, in dem der Übergang von der bloßen Darstellung eines Bewegungs- und Handlungszusammenhangs zu einer Umsetzung und Ausführung graphisch kommentiert wird. Während traditionelle Mittel der Architekturdarstellung wie Perspektive, Schnitt, Plan oder Axonometrie je verschiedene Grenzen haben (und sich daher gegenseitig ergänzen müssen), versucht Tschumi über die Diagramme, wie er sie selbst nennt, eine räumliche Abstraktion einzuführen, um freier mit den einzelnen Elementen umgehen zu können.72 Mit dem Begriff cross-programming, der eine vollständige Austauschbarkeit von Form und Funktion ermöglicht, versucht Tschumi das Ereignis und Raumdenken in die Architektur zu implantieren. Dadurch wird eine Verräumlichung erlangt, Zwischenräume, die Platz schaffen für das sich dort Ereignende. Etwa für das Feuerwerk, das er im Juni 1992 im Parc de la Villette in Paris inszeniert: »Das Feuerwerk ist die perfekteste Form der Kunst, da sich das Bild

72 | Tschumi, zitiert in Hays: 2010, S. 152.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren im Moment seiner höchsten Vollendung dem Betrachter wieder entzieht.«73 Mit jener Bemerkung Theodor W. Adornos betont er, dass die Aufgabe des Architekten in der perfekten Inszenierung und Choreographie von Augenblicken liegt. Das Feuerwerk sei (ebenso im Anschluss an Adorno) nicht Ware, sondern symbolisiere erhabene Nutzlosigkeit und könne so als kreative soziale Kraft wirken  – was allerdings angesichts der situationistischen Spuren in seinen Arbeiten zu unterstreichen wäre und dem Begriff des Spektakels, wie es der mit den Situationisten anfänglich eng verbundene Guy Debord kritisiert, entgegenläuft.74 Dennoch ist das Ereignis nicht nur als ein möglicher Wendepunkt zu verstehen, es kehrt die gewöhnlichen Relationen und Hierarchien von Subjekt und Objekt um, wobei es strukturelle Gesichtspunkte gibt, die den unterschiedlichen Ereignissen gemeinsam sind: Ihre Singularität, die Virtualität, die Ebene der Zeitbrechung, ihr Symbolcharakter sowie ihr Potential zur Sinnstiftung und Wirklichkeitsverfremdung. Die Folies selbst, die er als einzelne Punkte der Unterbrechung im Parc de la Villette gesetzt hatte, mögen als Gebäude unbefriedigend sein, umso zwingender aber sind sie als Architektur – als »porous, impure, ghostly red things haunted by traces of failed utopias and uncertain futures«.75 »Wenn das Werk Tschumis genau eine Architektur des Ereignisses beschreibt, so nicht allein, um Orte zu konstruieren, in denen etwas passieren muß, noch allein, damit die Konstruktion selbst dort, wie man sagt, Ereignis wird. Das Wesentliche ist nicht dort. Die ereignishafte Dimension sieht sich gerade in der Struktur des zur Architektur gehörenden Dispositivs miteinbegriffen: als Sequenz, offene Serialität, Narrativik, Kinematik, Dramaturgie und Choreographie.«76

73 | Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute« [1965], in: ders.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Bd.  10.1, Kulturkritik und Gesellschaft I, hg.  v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 375-395, zitiert in Hays: 2010, S. 137. 74 |  Vgl.: Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels [1967], Berlin: Tiamat 1996. Zwischen 1976 und 1981 sowie während seines New York-Aufenthalts studierte Tschumi sowohl die früheren Situationisten als auch die Schriften von Bataille, Derrida und Foucault. Er arbeitete mit Techniken des Filmschnitts, antiheldischen Narrativen, wie bei Godard, zudem waren seine Arbeiten von Archigram, Cedric Price u.a inspiriert, vor allem aber auch durch die zentralen Konzepte der dérive (des Umherschweifens), der Psychogeographie und des détournements (der Zweckentfremdung überkommener Strukturen) bei den Situationisten. 75 | Hays: 2010, S. 162. 76 | Jacques Derrida: »Am Nullpunkt der Verrücktheit – Jetzt die Architektur«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim: VCH, 1988, S. 215-232, hier S. 216f.

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Entwürfe und Gefüge Tschumis Denken wird zumeist in der Dekonstruktion verortet;77 seine Dialoge mit Derrida, in denen Stichworte wie Zersplitterung und Verschiebung als wesentliche Charakteristika gelten, belegen dies. Jedoch ist sein Denken zu einem großen Teil auch von den utopischen Architekturentwürfen der 1960er-Jahre und dem Situationismus inspiriert. Die Manhattan Transcripts können vor dem Hintergrund von Guy Debords Naked City Map von 1957 anders gelesen werden.78 Die subversive Umdeutung eines städtischen Kontextes wird in Kapitel 5 am Beispiel von Forsythes choreographischen Installationen im öffentlichen Raum und im Rekurs auf die Ansätze Michel de Certeaus noch näher zu bestimmen sein. Price und Tschumi führen Aspekte des Ereignishaften und der Potentialität in die architektonischen Notationen und in Entwurfsverfahren ein. Wo Price nach projektiven, kombinierbaren Einzellösungen unterschiedlicher Probleme sucht und in der transformativen Zusammenführung eine Potentialität findet, welche die Nutzer aktivieren soll (wobei die notationelle Kombination und Rekombination in der Ausführung nicht nur die mögliche Brechung einer Vorgabe oder Regel, sondern auch ein Scheitern des aufgesetzten Systems zur Folge haben können), versucht Tschumi durch die Einführung eines fiktiven Alltagskontextes bzw. von Handlungsschemata und Narrationen eine Kette von Begehren zu knüpfen, die Überraschungen und neue Muster hervorbringen können. Als choreographisches Werkzeug, das die (möglichen) Bewegungen im architektonischen Raum bzw. im Stadtraum verzeichnet, dient das Diagramm auch der Formfindung – nur dass dieser Prozess hier eher als Bewegungsfindung im Prozess des Choreographischen funktioniert, der gerade nicht linear verläuft, sondern sich durch ein stetes Vor-und-wieder-Zurück, durch gegen 77 | Gertrud Koch beispielsweise schreibt hierzu, »dass die Dekonstruktion als spezifisch textuelles Verfahren die Kinetisierung der Architektur als Schrift, als deren Zug in den öffentlichen Raum hinein denkt. Mit dem Bild der Schrift, in das die Architektur und der Film gestellt werden, kommt auch die Narrativität ins Spiel«; Gertrud Koch: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Umwidmungen – architektonische und kinematographische Räume. Berlin: Vorwerk 8, 2005, S. 7-20, hier S. 19. »Es ist gerade dieser Raum eines möglichen anderen Blicks auf das subjektiv In-den-Blick-Genommene, aus dem das narrative Potential film/architektonischer Raumverbindungen sich aufbaut«; ebd., S. 11. 78 | Hays macht darauf aufmerksam, dass auch Naked City eine Aneignung des gleichnamigen Film Noir von Jules Dassin (USA 1948) über einen Mord in Manhattan war, und der Film wiederum sich auf ein Buch mit Photographien von Verbrechen von Weegee – Arthur Felling – bezog, der sich in den 1930er-Jahren auf die Dokumentation von Verkehrsunfällen, Bränden und Gewaltverbrechen spezialisierte; siehe Hays: 2010, S. 152. Die Filmbilder konstruieren in ihrer fragmentarisierenden Schnitttechnik ebenfalls eine mobile map New Yorks.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren läufige Bewegungen, durch Ausprobieren, Verwerfen und Neu-Anfangen auszeichnet.

5 Human Writes 5.1 Entwurf einer diagrammatischen Konstellation Stand bislang das Verhältnis von Zeichnung, Entwurf und Ausführung im Mittelpunkt, so soll dieses Verhältnis hier auf einen besonderen Aspekt hin befragt werden, der schließlich zum letzten Kapitel überleitet, das die Organisation des Raumes unter den Gesichtpunkten zu entwerfender Handlungsmöglichkeiten diskutiert. Haben wir bei Cedric Price und Bernard Tschumi Möglichkeitsszenarien betrachtet, die an der Aufzeichnung von Ereignissen und damit an der »Planung des Unvorhersehbaren«79 arbeiteten, so soll in den folgenden Betrachtungen wie auch im letzten Kapitel gerade dieser Aspekt in Forsythes Arbeiten in den Vordergrund rücken. Es soll dabei erneut um jene Arbeiten gehen, die sich explizit mit dem Verhältnis von Konzept und Ausführung von notationeller VorSchrift und deren performativer Brechung auseinandersetzen. Wie bereits in den Arbeiten mit Peter Welz ansatzweise gezeigt, werden die Zuschauer zunehmend zu Akteuren, die nicht nur die Wahl haben, einen bestimmten Bildausschnitt zu fokussieren, sondern sie bewegen sich selbst durch die ›Ausstellung‹ bzw. durch die Aufführung und verändern diese damit. In den Interaktionen mit den Performern wird nach und nach deutlich, welche Regeln für mögliche Bewegungen die Choreographie bereithält, und wie einerseits die Architektur des Raumes und andererseits die Architektur der choreographierten Bewegungen die Begegnungen steuern und sich in komplexen diagrammatischen Gefügen entfalten. In der Halle des Bockenheimer Depots stehen vier Reihen von Tischen, auf denen weiße Papiere befestigt sind,80 an den Längsseiten der Halle hängen in drei Reihen übereinander schon beschriebene Papiere. Es handelt sich hierbei um die Texte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, welche auf den Tischen 79 | Vgl. Kapitel 5 sowie Nikolaus Hirsch: »Die Planung des Unvorhersehbaren«, in: ders.: On Boundaries, New York (NY): Sternberg, 2007, S. 173-184. 80 | Ich beziehe mich auf die Aufführung, die ich am 4. November 2006 im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main gesehen habe, die Uraufführung fand 2005 in Zürich statt; eine weitere Aufführung habe ich am 27. August 2010 im Rahmen des Festivals Tanz im August in der Halle des Berliner Radialsystems gesehen.

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Entwürfe und Gefüge in verschiedenen Sprachen hauchdünn vorgeschrieben sind. Die Tänzer sind aufgefordert, den Gesetzestext nachzuschreiben. Das Schreiben muss jedoch mit einer gleichzeitigen Behinderung dessen einhergehen (Abb. 4.7). Kein Buchstabe darf direkt entstehen.81 Die Vorschrift der Indirektheit, die an die bereits erwähnten Körpertechniken des shearing u.a. erinnert (vgl. Kapitel 2), lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was sich zwischen der Schrift und dem Schreibakt, der sonst als automatisierte Körpertechnik funktioniert, ereignet. Zur Verfügung stehen den Schreibenden Kohlestücke und Bleistifte, später auch Seile, mit denen sie sich selbst oder auch das Zeichenwerkzeug festbinden können. Aus diesen Vorgaben ergeben sich verschiedene Schreib- und Zeichentechniken. Das Schreiben als Akt der Übertragung wird über Gesten und Anweisungen vermittelt, die wieder und wieder in andere mediale Verknüpfungen übertragen werden. Die Zuschauer bewegen sich zwischen den Tänzern, wobei der Verlust des Ordnungsrahmens, den die klassische Guckkastenbühne bereitstellt und die Forsythe bereits vielfach vorgeführt und dekonstruiert hatte, jede Begegnung zwischen professionellen Tänzern und den weniger bewegungserfahrenen Zuschauern zu einem singulären Ereignis macht.

Abb. 4.7: William Forsythe: Human Writes, TAT, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main, © Dominik Mentzos.

81 |  Vgl. Programmheft Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main, 4.11.2006.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren Einige zeichnen mit den Zehen oder mit dem Mund, mit links, mit links und rechts gleichzeitig, spiegelverkehrt, blind, hinter sich, nach Anweisung und Übersetzung, über Zeichen von Dritten – das sind anfangs noch die leichtesten Übungen. Nach und nach jedoch werden immer komplexere Anordnungen erfunden. Die Tische werden in andere Positionen gebracht, eine Tänzerin schreibt unter dem Tisch liegend, den sie sich mit der Kraft ihrer Beine vom Leib hält, eine andere fängt den gekippten Tisch, der zu fallen droht, immer wieder nach blitzschnellen Drehungen mit der brechenden Kohle auf und versucht dennoch aus dem Gekritzel eine lesbare Schrift herzustellen. Plötzlich fällt direkt hinter mir ein Tisch krachend zu Boden – ich erschrecke – niemand ist verletzt, aber sogleich wird die Konstellation verändert, ein Zuschauer wird um Hilfe gebeten, die angefangene Schrift auf dem umgekippten Tisch unter dementsprechend veränderten Bedingungen weiterzuverfolgen. So bitten die Performer das Publikum immer wieder um Hilfe, aktiv an dieser Schreibarbeit mitzuwirken. Ich selbst werde zu Beginn von Dana Caspersen aufgefordert ihr zu helfen: Ich soll den Bleistift hinter meinem Rücken halten, eine weitere Zuschauerin gibt Dana Caspersen Zeichen, sie wiederum übersetzt mit Vokabeln der Richtungsanweisung wie »rechts, links, nach vorne, nach hinten...« Zwischen meinem Zögern, um möglichst genau zu sein, und dem Gefühl, dass, wenn meine Bewegung zu zaghaft sei, das gemeinsame Schreiben misslänge, verfehle ich das gute Mittelmass. Später fordert mich eine andere Tänzerin – Yoko Ando – auf. Ihr Fußgelenk ist mit einem Seil umschlungen, in der Mitte des Seils, dessen anderes Ende ich so halten soll, dass sich eine Spannung ergibt, ist ein Kohlestück festgebunden. Durch die Spannung soll eine möglichst gleichmäßige, rhythmische Bewegung in Schrift übertragen werden. Was von außen zuerst leicht aussah, erweist sich als größere Herausforderung: Anfangs fehlt mir die notwendige Geduld, zudem verleitet mich die Angst, ihr weh zu tun, wenn ich das Seil zu straff ziehe, dazu, es zu locker zu halten, sodass die Kohle lose zwischen uns baumelt, und die Übung ihren Zweck verfehlt. Erst nach und nach stelle ich mich auf die Bewegungen der Tänzerin ein, und so entsteht schließlich für einen Moment ein ungefähr entzifferbarer Buchstabe. Mit jeder neuen Bewegung wird der Schrift ein kleines Stück hinzugefügt, ein Punkt, ein winziges Vor oder Zurück einer Linie, die jedoch mit der nächsten Bewegung wieder verwischt oder durchgestrichen wird, sodass kaum je ein Wort wirklich entzifferbar wird. Das Schreiben ist ein einziges Zittern und Stottern, es geschieht oft in quälender Langsamkeit und scheint zunächst fern jeglicher kalligraphischer Perfektion oder Geübtheit. Doch gerade durch die Ungeübtheit der mitwirkenden Zuschauer wird es den Tänzern möglich, jenseits ihrer eigenen durch jahrelanges Training erworbenen Virtuosität auf andere Weise als mittels bisher beschriebener Techniken zu entkommen. Denn die Kunst liegt hier vielmehr im gemeinsamen Schreiben bzw. im gemeinsamen Aushandeln

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Entwürfe und Gefüge des Schreibprozesses. Wie in keiner der anderen choreographischen Installationen Forsythes ist das Publikum aufgefordert, an der Ausführung des Stückes in Interaktion mit den Tänzern mitzuwirken. Nicht nur bewegt sich der Zuschauer inmitten der Performer und wirkt schon dadurch mit an der Choreographie, an dem Schreiben des Raumes – je nachdem, inwieweit er oder sie sich auf die Interaktionen einlässt (und das kann oft schon die Entscheidung sein, einer Schreibszene längere Aufmerksamkeit zu widmen, und so in den gemeinsamen Prozess involviert zu werden), wird er oder sie zum Mitwirkenden im Entwurf. Denn was entsteht, sind nicht nur die Schriftzüge, sondern ein Prozess des Miteinanders. Doch welcher Art ist dieses Miteinander? Wird tatsächlich so etwas wie eine (kurzfristige) Gemeinschaft gestiftet?82 Und wie wäre diese zu beschreiben?

5.2 Ephemere Komplizenschaften Sicher kann das Gemeinschaftliche hier nicht im Sinne eines identitätsstiftenden Modells verstanden werden. Alles, was die Zuschauer und Tänzer für die Dauer der Aufführung verbindet, ist das Ziel, die Gesetzesschrift lesbar werden zu lassen. Doch ist es gerade diese Kopplung von Regel (die choreographischen Regeln des Stücks: z.B. dass das Schreiben mit einer Behinderung einhergehen muss usw.) und Gesetz (die Menschenrechte), die den individuellen Körper in die Allgemeinheit aufhebt. Zwischen dem Individuum, seinen subjektiven Erfahrungen und Empfindungen und einem über dem Einzelnen stehenden Anspruch der Allgemeinheit stellt sich die Frage, wie es möglich werden kann, »die Differenz zu erhalten, ohne den Anspruch des Allgemeinen aufzugeben.«83 Dies wird in Human Writes nach und nach erforscht. Angesichts einer solch paradox anmutenden Figur ließe sich das Miteinander von Performern und Zuschauern (die hier eher als Akteure zu bezeichnen sind) am ehesten über die von Jean-Luc Nancy vorgeschlagene Definition 82 | Die viel beschworene theatrale Gemeinschaft (vgl. u.a. Erika FischerLichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, darin insbes. Kapitel 3: »Die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern«, vor allem aber 3.2.: »Gemeinschaft«, S. 82-100) sieht in der Versammlung des Theaterraums jedoch anders aus als in solchen installativen Anordnungen: Sie ließe sich im Rückgriff auf die in Kap. 2 entwickelten Überlegungen zur Ausdehnung der Körper auch unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen ineinander greifenden Konzeptionen von Kinesphäre: Dynamosphäre, Atmosphäre und der Sphäre des Öffentlichen diskutieren, vgl. dazu Kap. 5. 83 | Gerald Siegmund: »Recht als Distanz: Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes«, in: Forum Neues Theater 22/1, 2007, S. 75-93, hier S. 77.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren von Gemeinschaft beschreiben – »deren Mitglieder die Tatsache teilen, dass es nichts zu teilen gibt, und dass sie Nichts gemein haben.«84 Diese Gemeinschaft wird nicht als ein Kollektiv-Körper gedacht, wie es im Tanz der 1930er-Jahre bei Laban u.a. durchaus intendiert war, ebenso wenig als ein gegenseitiges intersubjektives Erkennen, das letztlich auf die Bestätigung der eigenen Identität zielt, sie ist kein Modus des Seins oder des Tuns, des individuellen Subjekts, sondern entsteht nur im Prozess des aus sich selbst Heraustretens, der Alteration. Nicht in der Stabilität des Eigenen, sondern gerade im Verlust, der Entziehung und Abtrennung. Nancys dekonstruktive Theorie der Gemeinschaft widersteht jeglichem Wunsch nach dauerhafter Präsenz, sie zielt nicht auf ein abschließbares gemeinsames Ziel oder Werk und lässt sich somit für jene beschriebenen relationalen Kunstformen der choreographischen Installationen nutzbar machen, die sich nur für die Dauer der geteilten Zeit der Aufführung realisieren. Sie ist nicht identitätsstiftendes Organ, sondern im Gegenteil übt sie sowohl Kritik am (neo-) liberalen Modell (Nancy weist eine liberale Subjektvorstellung zurück; er denkt Sein immer als Mit-Sein85) als auch an den Implikationen einer kommunitaristischen Idealisierung.86 Stattdessen schlägt Nancy eine differenztheoretische, relationale Konzeption von Gemeinschaft vor. Gemeinschaft wird nicht erzeugt oder hergestellt, sie ist keine konkrete Gemeinschaft, sondern gerade konstitutive Offenheit. Nicht Ursprünglichkeit noch Vollendung, existiert sie nur in der Mit-Teilung87 – als das stets Entzogene, Unvollendete, Kommende, Undarstellbare und Offene.88 Die vergangenen Kapitel haben gezeigt, wie es über die Idee, Bewegung als Zustand zu betrachten, der den Körper durchwandert, und an der Ausdehnung des Körpers über die Grenzen der Kinesphäre oder der Haut hinaus zu arbeiten, gelingt, eine enge Verbundenheit mit dem Raum und den Bewegungen der anderen in ihm herzustellen.89 Dass diese Idee auch dazu beiträgt jene offene

84 | Jean-Luc Nancy: singulär plural sein, Berlin/Zürich: diaphanes 2004, S. 23. 85 | Ebd. 86 | Vgl. Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Schwarz, 1988; der Titel wird oftmals auch als die »entwerkte« Gemeinschaft übersetzt; vgl. im frz. Original: La communauté désœuvrée, Paris: Bourgois, 1986. 87 |  Nancy: 2004, S. 77. 88 | Hier sei verwiesen auf vergleichbare Konzeptionen der Gemeinschaft, die Nancys Ansatz folgen: Maurice Blanchot: Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin: Matthes & Seitz, 1987; Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve, 2003; und Roberto Esposito: Communitas, Berlin: diaphanes, 2004. 89 | Ein singulär-plurales Sein, wie es sich aus dem Ausgedehnt-Sein des Körpers auf einer zur Interaktion auffordernden Umgebung entfaltet, ist hier mitgedacht.

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Entwürfe und Gefüge Form von Gemeinschaft zu ermöglichen,90 ist jedoch vor allem der besonderen Sensibilität der Tänzer zu verdanken, die nur auf der Basis einer lang andauernden Zusammenarbeit zu verwirklichen ist, welche die notwendige Form von Vertrautheit und Gewohnheit überhaupt erst herstellt. Elizabeth Waterhouse, eine der Tänzerinnen der Forsythe-Company, beschreibt die Relationen innerhalb der Company als »a collective of people, who live, dance, and perform meaningful spatial relationships. The intertwining of these categories gives the company’s work compelling force.«91 Die Formen dieser kollektiven Kreativität bezeichnet sie als ein »admidst«, womit sie sich auf das inmitten der Anderen bezieht, in der sowohl das Zulassen und Einräumen als auch die Anerkennung des Anderen mitschwingen. »To dance admidst implies in the middle of (space) and during (time). Admidst space imbricates space with people (culture), objects (tools), buildings (architecture), and history (events in time). It entails an embodied perspective of meaning through engagement with the world.«92

Dies setzt nicht nur die gemeinsame Kenntnis von Bewegungsmaterial und Arbeitsweisen voraus, die Prozesse der Selbstenteignung und der Aneignung von Fremdem implizieren – es betrifft sowohl die Ebene des Bewegungsmaterials als auch die über lange Zeiträume geteilten Arbeitsprozesse. Die Relationen von Körper und Geist sind dabei ebenso zentral zu reflektieren, wie das Verhältnis des Selbst zur Welt.93 Entsprechend sind es sowohl Körper-Räume, Arbeitsräume und imaginäre Räumlichkeiten, welche die Arbeit informieren. Diese bezeichnet Waterhouse als »spaces of involvement« und fährt fort: »My activity 90 | Rudolf von Labans Idee des Mitschwingens (siehe Kap. 1), als Möglichkeit eine Form von Gemeinschaft zu generieren, ist jedoch unbedingt von diesen Ansätzen zu unterscheiden. Das Kollektive lässt bei Laban gerade nicht jene Vielfältigkeit und Differenz zu, die bei Forsythe über synkopierte Kontrapunktik erreicht werden, sondern zielt vielmehr auf einen Kollektivkörper. 91 | Elizabeth Waterhouse: »Dancing Admidst The Forsythe Company. Space, Enactment and Living Repertory«, in: Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias. Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin: Alexander Verlag, 2010, S.  153-181, hier S. 153. 92 | Ebd., S. 163. Innerhalb des Körpers existieren Räume als »internal loci or fields. Such spaces may be felt concepts, such as the anatomical positions of organs never seen.« – Der Körper ist dabei Objekt und Subjekt zugleich, siehe ebd., S. 155. 93 | Ich beziehe mich hier auf ein Gespräch mit Elizabeth Waterhouse im September 2009 sowie auf Waterhouse: 2010.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren in space moves beyond the banal view of space as a medium between organisms, objects, and architectures. Space is a relational field, that enables people to connect to each other and to things in their environment. Space, as such is a context [...].«94 Der »intimate and familiar context« innerhalb der Company ermögliche wiederum einen »communal space« – »as a venue for dialogue and individualization«.95 William Forsythe selbst beschreibt an anderer Stelle die Arbeitsweise der Company in ähnlicher Weise: »There is a kind of Collaboration where people work on different aspects of one project to create the whole, there is the kind where someone organises the seminal parameters of an event and enables the others to move in this field to find their own version of it, and then there is the kind of collaboration, which is the coming together of two or more minds with the intent to carry out the difficult and lovely work of letting something take root and form in the expanded and complex space of minds thinking together about one task.«96

Er legt dabei den Fokus jedoch ebenso auf die Ermöglichungsstruktur, die Voraussetzungen einer solchen engen Zusammenarbeit schafft. Dies ist in Bezug auf die Arbeit der gesamten Company sicher seine eigene Person, kann aber in einzelnen Kollaborationen jeweils auch differieren. Gesa Ziemer schlägt für diese Art der Zusammenarbeit den Begriff der Komplizenschaft vor. Auch wenn sie ihren Ansatz im Kontext der Reflexion über kritische Arbeitsformen im PostOperaismus entwickelt, so entwirft auch sie »Komplizenschaft [als] ein Konzept von Gemeinschaft ohne fixierten Ort«.97 Komplizen agieren gemeinsam, mit den anderen, in engen Verflechtungen (vgl. lat.: complectere). Komplizenschaft ist nicht strategisch, sondern ihr Handeln ist geprägt von Taktiken: »Als Kunst der Anordnung und Aufstellung (auf dem Schlachtfeld)«98 ist es die Fähigkeit 94 | Waterhouse: 2010, S. 157. 95 | Ebd., S. 159. 96 | William Forsythe, in einem Fax an Steven Spier vom 13. Juli 1997, zitiert in Steven Spier: »Inside the Knot that two bodies Make«, in: Dance Research Journal 39/1, Sommer 2007, S.  49-59, hier S.  50. Diese drei unterschiedlichen und doch miteinander verbundenen Aspekte choreographischer Zusammenarbeit, die Forsythe im Interview mit dem Architekten Steven Spier beschreibt, liegen zwischen kollektiver Arbeit, die durch einen ›Ermöglicher‹ geschaffen wird, und beruht darauf, dass es einen geschützten Raum des Vertrauens gibt, in dem experimentelles Handeln ohne Verlust möglich wird. 97 | Gesa Ziemer: »Komplizenschaft. Eine Taktik und Ästhetik der Kritik?«, in: Jörg Huber/Philipp Stoellger/dies./Simon Zumsteg (Hg.): Ästhetik der Kritik. Oder: Verdeckte Ermittlung, Zürich: Voldemeer, 2007: S. 75-81, hier S. 80. 98 | Ebd., S. 79.

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Entwürfe und Gefüge des Taktikers, die »vorhandenen Kräfte, Qualitäten und Effekte schnell und situativ (an-) zu ordnen. [...] Komplizen stehen in einem Verhältnis zum anderen, ohne diesen vollständig erfassen zu können und ohne ihn auf Distanz halten zu können.«99 Damit wird das vorab beschriebene Konzept einer offenen Gemeinschaft noch einmal auf eine weitere Ebene hin geöffnet – auf die der temporären, taktischen Anordnung. Doch was ermöglicht ein solch offener Begriff der Gemeinschaft und was schließt er aus? Es ginge also nicht um einen utopischen, sozialen Zustand oder eine Lebensform, die zu erreichen wäre. Gemeinschaft ist nur über eine nichtrealisierbare Zielvorgabe, nur als Horizont erkennbar, soll aber gerade nicht institutionalisierbar sein. Offen und unabschließbar, und als solche nie »ins Werk gesetzt« (Nancy), kann sie als Denk-Figur ihr Potential entfalten und einen Denk- und Handlungsraum eröffnen.100 Die choreographischen Installationen Forsythes thematisieren diese Eingebundenheit des Einzelnen in einer solchen Situation; sie fordern nicht nur die Aufmerksamkeit des Betrachters heraus, sondern ermöglichen die eigene Positionierung innerhalb eines Prozesses und stellen ihn in die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, zu handeln, selbst die Linien innerhalb des stattfindenden Ereignisses zu ziehen. Damit wird schließlich deutlich, wie sich die Schreibpraxis selbst und das Miteinander in Human Writes zu einem komplexen diagrammatischen Gefüge verbinden. Wenn am Ende die Spur des individuellen Schreibens kaum noch sichtbar ist, hat sich der Text in den vielfachen Übertragungen verändert, es ist ein unabschließbarer Text geworden. Das gemeinschaftliche Verfassen des Gesetzes-Textes – ein Nachschreiben als performative Praxis. Der Prozess des Schreibens, welcher die Schrift als eine »Geschichte der Übersetzungen, der Verfehlungen, Verletzungen dieses körperpolitischen Grundrecht-Textes«101 in Szene setzt, reflektiert dessen Entstellung, Verfälschung und Unvollständigkeit und damit auch seine eigene Medialität – die Störungen im Prozess des Schreibaktes treten als produktive Widerstände hervor, die Behinderungen der Schreibbewegung werden in der gemeinsamen Anstrengung zu einem generativen Moment. Jenseits des geschriebenen Textes wendet sich Human Writes

99 | Ebd.; sowie mit Verweis auf Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve, 1988, S. 23; vgl. dazu auch Kap. 5.4. der vorliegenden Studie.

100 | In der Vorläufigkeit wird jedoch ein allzu idealistisches Bild entworfen, kann doch die Utopie ebenso totalitäre Züge annehmen, wenn sie die möglichen Gefahren und Risiken einer Gemeinschaft sowie den notwendigen Konflikt ausblendet. 101 |  Gabriele Brandstetter: »Notationen im Tanz. Dance Scripts und Übertragung von Bewegung«, in: dies./Hofmann/Maar (Hg.): 2010, S. 87-108, hier S. 101.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren damit gegen die politische, ökonomische, juristische und medienbestimmte Verfügbarkeit des Körpers.102 Auch hier wird, wie ich bereits an Decreation zu zeigen versucht habe, eine Praxis des Entwerfens gegen ihre teleologische Richtung gewendet und somit zum Akt der Entschöpfung. In der differenziellen Bewegung des Schreibens und des Löschens wird sie zum »Ent-Schreiben«,103 gerade im (scheinbaren) Scheitern erfüllt sie sich: Während die Schrift selbst in ihrer Entstellung, Verfälschung und Unvollständigkeit ›misslingt‹, entwirft sich im Miteinander der Zuschauer und Performer eine Umschrift des Textes jenseits der Schriftzüge auf dem Papier.104 Das Diagrammatische geht hier jedoch weit über die reine Praxis des zeichnerischen oder kalligraphischen Könnens hinaus – vielmehr geht es um ein Experimentieren mit den gegebenen Regeln und architektonischen Parametern, darum zu erlernen, wie man Räume entwirft, die sich nicht anhand eines bereits existierenden Modells nachzeichnen oder aufgrund vorhandener Parameter vermessen lassen. Dabei tragen sowohl die Kopplung von Regel und Gesetzestext als auch eine bestimmende räumliche Anordnung und Umordnung der Tische, Performer und Zuschauer, deren Konstellationen sich stets wieder verändern, dazu bei, eine diagrammatisch verfasste Organisation des Raumes als auch seine Umordnung – mitzugestalten.105 Auch wenn die Regeln und Partituren, nach denen die Tänzer verfahren und in die die Zuschauer alsbald eingebunden werden, diesen zunächst unbekannt 102 | Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, insbes. Kapitel 2 zur HabeasCorpus-Akte, S.135ff.; zitiert in Brandstetter: 2010, S. 105f. 103 | Vgl. dazu Peter M. Boehnisch: »Ent-körpern, Ent-schreiben, Ent-schöpfen. Wie sich die Tanztheorie von Forsythes ›Decreation‹ zur Dekonstruktion der Diskurse über das Ballett verleiten ließ«, in: ballettanz, Jahrbuch 2004, Forsythe. Bill’s Universe, S. 56-61. 104 |  Man könnte – um an die Argumentation des 2. Kapitels anzuschließen – folgern, dass tänzerische Virtuosität hier im Sinne Paolo Virnos umgedeutet wird zu einem Tun, das nicht in seiner abgeschlossenen Werkhaftigkeit besticht, sondern das sich in gemeinschaftlicher ›Praxis‹ erfüllt. 105 | So unterschieden sich die Aufführungen im Frankfurter Bockenheimer Depot wesentlich von der in den engeren Räumlichkeiten des Radialsystems. Auch die Aufmerksamkeit der Zuschauer, die während des Festivals Tanz im August der Performance weniger konzentriert folgten, ließ die Berliner Aufführung gegenüber der Frankfurter eher als ein ›Event‹ anmuten, währenddessen sich viele Zuschauer zwar gut unterhielten, der Fokus jedoch nicht ausreichend auf das gemeinsame Tun gerichtet war, um eine gemeinsame Spannung und eine Ausrichtung auf das gemeinschaftliche Tun aufzubauen.

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Entwürfe und Gefüge sind, vermitteln sie sich doch im eigenen Tun sehr schnell. Damit wird ein offener Arbeitszusammenhang formuliert, der verschiedene Modi der Zugänglichkeit für alle Beteiligten bietet und damit den engen Zusammenhang von partition, partage und participation veranschaulicht.106 Die französischen und englischen Begriffe konnotieren dabei die Nähe von partage als teilen und verteilen und partition – Partitur – als einen Modus, diese Teilhabe bzw. Verteilung im Sinne von Rancières »partage du sensible« zu arrangieren – eine ästhetische Erfahrung zu ermöglichen. Die Operativität des Diagrammatischen liegt hier darin, etwas zu entwerfen und zugleich seine vielfältigen anderen Möglichkeiten gleichzeitig zu artikulieren, d.h. auch im gleichen Moment an seiner Durchstreichung bzw. seiner Umdeutung zu arbeiten. Das Verwischen der Schrift durch die Bewegungen der Körper stellt dabei nur eine weitere Ebene dessen dar, was der Körper gegen ein Gesetz zu tun imstande ist. Human Writes entwirft ein solch doppeltes diagrammatisches Gefüge. Diagrammatik wird nicht als eine Logik des Folgens und Schließens, sondern als das »Erfinden eines eigenen Denkstils«107 eingeführt (hier müsste man ergänzen: Denk- und Bewegungsstils), der mit den Ereignissen verknüpft ist, in der Art eines erfinderischen Paradoxons im Handeln und Denken.108 Notation wird so zu einer Art und Weise der »experimentellen Forschung«109, sie ist nicht einfach als bestehender Code zu lesen, sondern in ihrer diagrammatischen Operationalität von verbindenden und trennenden Linien zu denken. Die Praxis Linien zu ziehen statt Punkte festzulegen110 erlaubt eine Öffnung hin zu räumlicher Praxis, welche auch die Verhältnisse von Aktivität und dem Sich-bestimmen-Lassen stets in Bewegung hält. Zwei Ebenen des Diagrammatischen greifen hier eng ineinander: Zum einen ist es die der Spannung zwischen Figuration und Defiguration, wie sie Deleuze in seinem Bacon-Aufsatz beschreibt (vgl. Kap.  4.3.3.). So werden die einzelnen Lettern zu Zeichnungen im Prozess, werden die Schriftzüge auf den Tischen zu Diagrammen, die nicht nur Prozesse abbilden, sondern in denen sich die Beziehungen der Kräfte, in denen der Körper jenseits seiner Intention agiert, abbilden. Zugleich aber entfaltet sich auch die zweite Ebene des Diagrammatischen, die Deleuze in Foucaults Texten zu den Dispositiven bzw. den 106 | Petra Sabisch: »A little inventory of scores«, in: Maska. Performing Arts Journal XX., Herbst-Winter 2005, Open Work, hg. v. Bojana Cvejic, S. 30-35, hier S. 35. 107 | John Rajchman im Anschluss an Deleuze in: »Die Kunst der Notation«, in: Amelunxen/Appelt/Weibel (Hg.): 2008, S. 68-76, hier: S. 70. 108 | Ebd. 109 | Ebd. 110 |  Ebd.

Verzeichnen und Verwischen der Spuren Gefügen der Macht beschrieben sieht. Foucaults Praxis des Kartographierens eines historisch-politischen Feldes erlaube es, so Deleuze, Zukunft überhaupt kritisch zu reformulieren; jenes analytische Denken (jenseits ideologischer oder programmatischer Zwänge) eröffne einen Horizont des Zukünftigen, indem verschiedene Schichten eines Gefüges derart ineinandergreifen, dass Minoritäres als etwas niemals sich Verfestigendes hervortrete, als ein stetes Werden bzw. Anders-Werden, das sich in seiner nicht-identitären, offenen Konzeption einer Idee von Gemeinschaft, wie sie bei Nancy gefasst wird, anschließen lässt. Am Ende des Stücks, nach etwa drei Stunden, macht sich Erschöpfung breit: Hatten sich zu Beginn immer mehr Tänzer und Zuschauer zu kleinen Gruppen zusammengefunden, vereinzeln die Aktionen nun wieder, einzelne Gruppen bestehen, andere pausieren, die Organisation des Raumes durch die Anordnung der Tische hat sich längst aufgelöst und neu sortiert. Die Choreographie regt an darüber nachzudenken, was es bedeutet, mittels Partituren und Regeln zu denken und zu entwerfen – als einer alternativen Art und Weise Raum zu organisieren, die aus sich selbst heraus die Möglichkeiten entwickelt, jene Regeln innerhalb der Produktion wieder zu verändern und selbst-emergente Prozesse zu generieren. Choreographisches Denken ist in dieser Hinsicht stets damit befasst, Alternativen zu einem linearen und kohärenten Denken hervorzubringen. So sind hier verschiedene Ansätze prozesshafter Interaktionen zu beobachten: Sowohl in der Hinsicht, dass die Arbeit selbst auf einem komplizenhaften Arbeitsprozess beruht, als auch dahingehend, dass sie andere Beziehungen zum Publikum (im Sinne einer kritischen Involvierung) etabliert oder Praktiken einführt, die die Regeln ihrer eigenen Herstellung subvertieren. Diese Verfahren eröffnen eine performative Architektur, innerhalb derer die Aufteilungen zwischen Performern und Betrachtern erst verhandelt werden.

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Kapitel 5 Installationen choreographieren: Zur Handlungsmacht des choreographischen Objekts und zur Organisation des Raumes 1 1 Heterotopia: Vom Anders-Werden des Raumes Die Bühne, die ich mit etwa einhundertdreißig anderen Zuschauern betrete,2 ist in ihrer Aufteilung in Vorder- und Hinterbühne, die durch eine dünne Wand voneinander getrennt sind, Schauplatz einer installativ angelegten Übersetzungsarbeit. Bereits beim Eintreten in den hohen, relativ dunklen Raum empfängt mich ein eigenartiges Szenario: Im vorderen großen Bühnenraum sind etwa sechzig tischähnliche Bühnenelemente aufgestellt, teilweise senkrecht ineinander verkantet (siehe Abb. 5.1). Auf diesen sind zwei oder drei Tänzer stetig damit beschäftigt Buchstaben umzugruppieren, während ein anderer unverständliche Laute in eine lautsprecherartige, halbkugelförmige Glasschüssel stöhnt. Fast alle Performer im vorderen Raum geben merkwürdige, manchmal fast tierhafte Geräusche von sich, die zudem technisch verfremdeten Stimmen verbinden sich mit einer Toncollage bestehend aus verschiedenartigen Geräuschen, Sounds und einem unbestimmbaren Stimmgewirr. Ebenso wie die Gruppierungen der Buchstaben erinnern auch ihre Lautfolgen an vertraute Sprachbilder oder Sprachmuster, werden jedoch wieder fremd, ohne dass man sie letztlich verstehen würde. Sowohl auf als auch unter den Tischen entfalten sich Bewegungen, die diesen Raum nach und nach erkunden und aneignen. Ab und zu schnellt ein Tänzer von unten nach oben, oder es verschwindet umgekehrt eine Tänzerin unter den Tischen. Erst im Herumgehen um das Arrangement der Tische, und indem ich mich selbst bewege, um den Blick in die untere ›Etage‹ zu richten, werde ich allmählich gewahr, wie durch die Verkantung der Tische und mittels 1 | Eine erste Teilstudie zu den in diesem Kapitel erörterten Fragen liegt vor in: Kirsten Maar: »Unheimliche Verbindungen: William Forsythes choreographische Installationen«, in: Erika Fischer-Lichte/Benjamin Wihstutz (Hg.): Politik des Raumes. Theater und Topologie, München: Fink, 2010, S. 163-176. 2 | Ich beziehe mich auf die Aufführungen, die ich am 26. und 27. Juni 2008 in Montpellier gesehen habe.

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Entwürfe und Gefüge eingefügter Spiegel die untere Ebene zu einem labyrinthartigen Bau umgestaltet wurde.

Abb. 5.1: William Forsythe: Heterotopia, © Dominik Mentzos.

Wie schon in anderen Stücken (Artifact, Kammer/Kammer, Endless House) wird auch hier wieder ein Spiel von Zeigen und Verbergen inszeniert, das nicht nur in der Entscheidung des Zuschauers für den Blick in die untere oder obere Ebene liegt, sondern auch durch die Trennung in Vorder- und Hinterbühne gedoppelt wird: Immer wieder spalten sich kleine Gruppen von bis zu drei Tänzern ab, um auf der Hinterbühne kleine, intime Szenen zu proben. Auf noch nicht zu bestimmende Art und Weise scheinen die beiden Räume miteinander in Verbindung zu stehen.3 William Forsythe läuft mit Kopfhörern und einem Mikrophon, von dem aus er einzelne Anweisungen gibt, zwischen beiden Bühnen hin und her. Auch die Zuschauer sind frei sich zu bewegen, den Ausschnitt selbst zu wählen, dem sie gerade folgen wollen, die vielen anderen Möglichkeiten müssen sie dabei ausblenden, um so nach und nach ihr eigenes Narrativ zu kreieren. So führt der Weg früher oder später auf die bis auf ein Klavier leere Hinterbühne, die nur durch zwei Öffnungen an den Seiten der Bühne zu erreichen ist. Herrschte auf der Vorderbühne fröhliche und laute Betriebsamkeit, so sind die Szenen auf der Rückseite durch eine kontrastive Ruhe und eine fast düstere Stimmung gekennzeichnet. Hier sind kurze Episoden mit nur wenigen 3 | Die beiden Räume als Sender und Empfänger sind – ein wenig banal  – durch zwei gläserne Klangschüsseln verbunden; vgl. Eva-Elisabeth Fischer: »Urmensch trifft Dada«, in: Süddeutsche Zeitung, 28. Oktober 2006, S. 7.

Installationen choreographieren Tänzern zu sehen. Amancio Gonzales, der nicht in Trainingskleidung wie die anderen, sondern im Anzug zwischen beiden Räumen wandelt, scheint eine zentrale Figur der Vermittlung zu sein. In einer Szene steht er vor zwei am Boden sitzenden Tänzern, die ihm wie Schüler lauschen, und bewegt zu den von der Vorderbühne erklingenden Lauten stumm die Lippen. Was jedoch der Inhalt des Gesagten sein könnte, erschließt sich weder über seine Lippenbewegungen noch über die Reaktionen der Lauschenden. Das Auseinanderklaffen von Klang und Bewegung, akustischem und visuellem Reiz, Klang- und Bildraum wird ähnlich wie in Three Atmospheric Studies bewusst eingesetzt. Die Stimmen dehnen sich wie körperlose Objekte im Raum aus, wie die Buchstaben werden sie zu einer rätselhaften Lautfolge, die immer nur fast zu verstehen ist, sich letztlich der Bedeutungszuschreibung aber wieder entzieht. Was der Inhalt der Vermittlung ist, bleibt gerade auf der Hinterbühne ein Rätsel, der Prozess des Tuns selbst steht im Vordergrund und vermittelt sich vielleicht gerade, indem dieses Rätsel erhalten bleibt. Das Nicht-Übersetzbare scheint sich zu verselbstständigen und die Verwandlung des Raumes als »Anderen Raum«4 hervorzutreiben. Ein Jahr nach der Aufführung von Human Writes betreibt Heterotopia Ursachenforschung der Voraussetzungen warum es – so die Kritikerin Eva-Elisabeth Fischer – »unmöglich ist die ›Human Rights‹ über deren Niederschrift hinaus in die Tat umzusetzen«.5 Die Problematik der Übersetzung und der Übertragung und deren Widerständigkeiten zieht sich wie ein roter Faden durch viele der Forsythe’schen Arbeiten, wie z.B. Clouds after Cranach oder Human Writes. So liegt auch die Sprache, die hier erklingt, jenseits des direkten Verstehens. Das Programmheft beschreibt es wie folgt: »Das Stück entfaltet sich in zwei obskuren Topographien unformulierten Begehrens. Die eine ist ein lärmendes, übernatürliches Oratorium, das sich unfassbarer, aber verständlicher Sprachen bedient. Sie ist das Begleitorchester für die andere: eine merkwürdige Ansammlung lauschender Gestalten, deren Versuche, die verwirrende Musik zu begreifen, auf noch befremdlicherere Handlungen hinauslaufen.«6

Jene Übersetzungsarbeit, die im Titel anklingt – bedeutet doch hetero topos auch das unvermeidliche Sich-Unterscheiden der Wiedergabe einer Textstelle vom 4 | Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karl-Heinz Barck u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam, 1990, S. 34-46. 5 | Fischer: o.D. 6 | Forsythe Company: Heterotopia, Programmheft der Uraufführung, 25.10.2006, Schauspielhaus Zürich, Schiffbauhalle.

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Entwürfe und Gefüge Original7 –, lässt danach fragen, inwiefern dieser sprachliche Aspekt des Heterotopos hier eng mit der Übertragung zwischen den verschiedenen Räumlichkeiten verknüpft ist und wie diese zu ›Anderen Räumen‹ werden. Das Verhältnis von Sprache und Raum, das für gewöhnlich die Bestimmungen und Begrenzungen des Miteinanders in einem Verhandlungs-Raum festlegt, wird hier ausgehebelt. Verständigung (und deren Grenze) findet jenseits der Sprache statt; was verhandelt wird, ist eine Frage von Übersetzungen, die sich stets als mehrdeutig erweisen, und verschiedenartiger Artikulationsformen, die sich aus den Übertragungen zwischen Bild und Klang, Laut und Bewegung ergeben. Auch ist zu fragen, was sich durch die Übertragungsbewegungen zwischen beiden Räumen herstellt. Welche Erfahrungen machen die Zuschauer in diesen ›Zwischen-Räumen‹? Was unterscheidet diese Räume im Sinne von Foucaults Idee der Heterotopien grundlegend von anderen (Bühnen-)Räumen? Und vor allem: Wie geschieht das Anders-Werden des Raumes und wie hängen diese Prozesse von der Vervielfältigung der je anderen Räume in horizontaler und vertikaler Ebene, Vorder- und Rückseite ab? Handelte Human Writes von der Unerfüllbarkeit der Utopie der Menschenrechte, spielt Heterotopia nicht den utopischen, sondern den ›anderen Ort‹ an, der als Widerlager zu dem normativen Ort steht. Doch wie werden jene ›anderen Orte‹, denen sowohl Realität wie auch ein imaginäres, utopisches Moment innewohnt, zu Räumen ästhetischer Erfahrung, die Prozesse der Alterität, des Fremdwerdens und der Neukonstitution ermöglichen? Wie verändern sich die Qualitäten der Räume durch die Handlungen der Zuschauer und Performer? Wurde in Human Writes der Akzent auf die Aktionen der Zuschauer gelegt, so wird dies hier teilweise wieder zurückgenommen. Die Besucher sind hier nicht aufgefordert aktiv zu partizipieren, doch allein die freie Bewegung schafft Situationen des Unvorhersehbaren, auch wenn die Herstellung dieser Situationen hier im Vergleich zu Human Writes zum größten Teil wieder den Tänzern überantwortet wird. Markiert der Theaterraum die historische Aufteilung zwischen Schauspielern und Zuschauern, wird durch die Aufteilung der Bühne in vorne und hinten, oben und unten eine spezifische Konstellation von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit geschaffen, die wiederum andere Ein- und Ausschließungen produziert, in denen der Zuschauer sich verorten muss, innerhalb derer Wissen und Nicht-Wissen eine Rolle spielen. Welche Situationen diese choreographierte Organisation des Raumes produziert, soll in diesem letzten Kapitel am Beispiel der choreographischen Installationen untersucht werden.

7 | Rainer Warning: »Einleitung: Heterotopie und Epiphanie«, in: ders.: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München: Fink, 2009, S. 11-41, hier S. 12.

Installationen choreographieren Seit einigen Jahren arbeitet William Forsythe zunehmend an spezifischen räumlichen Anordnungen, welche die Rezeptionshaltung der Zuschauer auf besondere Art und Weise herausfordern: So konnten die Besucher im White Bouncy Castle, einer riesigen weißen Hüpfburg, gemeinsam mit den anderen das Gefühl der eigenen Bewegungslust erfahren, in City of Abstracts, einer Videoinstallation im öffentlichen Stadtraum, wurden die Bewegungen der Passanten aufgenommen und verzerrt auf einem großen Screen gezeigt, sodass sie ihre Bewegungen explizit darauf ausrichten und damit spielen konnten, und in der atmosphärischen Installation Scattered Crowd bestimmten mit Helium gefüllte weiße Luftballons den Bewegungsraum der Zuschauer. In Human Writes wirkten die Besucher mit an der Nachschrift der Menschenrechte. Die Aktivierung des Zuschauers und seine Teilhabe am choreographischen Prozess der Verhandlung von Räumlichkeit wird daher auch nun zu untersuchen sein. Im Anschluss an die Beschreibungen der choreographischen Installationen wird in diesem Kapitel danach gefragt, welche spezifische Einrichtung eines Raumes durch choreographische Praxis möglich wird. Stärker noch als in den bisher erwähnten Arbeiten wird die Aufteilung des Raumes in Zuschauerraum und Szene in den choreographischen Installationen aufgelöst zugunsten eines Ineinander, welches dem Betrachter verschiedene Rollen zuweist, dabei vor allem aber sein Involviert-Sein unterstreicht. Nicht als unbeteiligter Beobachter, sondern als potentiell Handelnder wird er eingebunden in diese ›Architekturen‹, die sich erst durch die Anverwandlung und Aneignung derjenigen ergeben, die zu Mitgestaltern der künstlerischen Arbeit werden, wodurch eine Spannung zwischen einzelnen Akten der Raumkonstitution entsteht. Inwieweit eine Öffnung dieser potentiellen (Ver-)Handlungsräume bestimmte Formen von Öffentlichkeit generiert, ist im Folgenden zu zeigen. In den vorangegangenen Kapiteln konnte veranschaulicht werden, inwiefern – ausgehend von den Relationen der Körperteile innerhalb ihrer Kinesphäre – die Tänzer eine besondere Sensibilität für die Verhältnisse von innen und außen entwickeln, die wiederum Interaktionen zwischen ihnen erst ermöglicht, und wie deren spezifische Qualität wiederum den Zuschauer (kinästhetisch) affiziert. So soll nun dieses Kapitel abschließend zeigen, wie auch Objekte und architektonische Elemente daran teilhaben, den Raum zu schreiben. Zu fragen ist nicht allein, wie die Kunstformen der Choreographie und der Installation in diesen Arbeiten ineinandergreifen, wie sowohl die architektonische Struktur dieser Räume als auch die choreographischen Regeln eine eindeutige Trennung zwischen Subjekt und Objekt verunmöglichen, sondern auch danach, welche Handlungsmacht den Objekten zukommt, wie diese zu »choreographischen Objekten«8 werden und welche Umgestaltungen des Architektonischen 8 | Vgl. William Forsythe: »Choreographische Objekte«, in: Suspense, hg.  v. der Ursula Blickle Stiftung/Markus Weisbeck, Zürich: Ringier, 2008, S. 8-11.

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Entwürfe und Gefüge damit einhergehen. Die Frage, inwiefern diese Formen der Raumorganisation Verhandlungsräume des Öffentlichen generieren, bildet den Abschluss des letzten Kapitels. Selten wird in den Programmheften zu Forsythes Stücken ein dramaturgischer Hintergrund oder ein Ansatz zu einer möglichen Interpretation geliefert; so ist der Verweis auf Michel Foucaults Text von besonderer Bedeutung: In seinem Aufsatz »Andere Räume« bzw. in der ihm zugrunde liegenden ersten Fassung »Die Heterotopien« definiert Foucault das 20. Jahrhundert als eine »Epoche des Raumes«.9 Auch seine anderen Texte, von der Ordnung der Dinge über Überwachen und Strafen bis hin zu den späteren Schriften zur Biopolitik,10 adressieren sowohl phänomenologische Fragen als auch solche nach der sozialen Produktion des Raumes sowie nach dem Verhältnis von Körper und Politik. Der Vortrag »Die Heterotopien« wurde erstmals 1967 vor dem Cercle d’études architecturales gehalten und erst 1984 veröffentlicht – bemerkenswerter Weise gemeinsam mit einem anderen Aufsatz: »Der utopische Körper«.11 Als Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, sind die Heterotopien gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, obwohl sie tatsächlich geortet werden können. Sie stehen in Beziehung zu anderen Räumen, bezeichnen, reflektieren die normative Ordnung, indem sie sie »suspendieren, neutralisieren oder umkehren«.12 Hier wird bereits die gegenseitige Abhängigkeit von Normativem und Abweichendem benannt und damit das Potential und Wirkungsfeld der Heterotopien abgesteckt. Foucault benennt sechs Eigenschaften der Heterotopien: Es handelt sich dabei um Räume, die einem kulturell historischen Wandel unterliegen. Er nennt die Krisenheterotopien – Räume der Geburt, des Alterns, des Sterbens – oder Abweichungsheterotopien, wie die Psychiatrie oder das Gefängnis. Sie können aufgrund kultureller Rahmungen umfunktioniert werden und sie eröffnen darüber hinaus die Möglichkeit an einem Ort mehrere Orte nebeneinander zu platzieren oder erscheinen zu lassen, wie es z.B. im Theater oder im Garten der Fall ist. Sie sind gebunden an eine Diskontinuitätserfahrung (›Heterochronien‹), als Beispiele 9 | Foucault: 1990, S. 34. 10 | Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978–79, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, S. 435-444; aber auch ders.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 161-179. 11 |  Michel Foucault: Die Heterotopien und Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005. 12 |  Foucault: 1990, S. 38. Er differenziert hier jedoch nicht genauer zwischen Raum und Ort, wie es z.B. bei Heidegger oder de Certeau der Fall ist.

Installationen choreographieren gelten Foucault etwa Museen als Orte der spezifischen Zeitakkumulation. Sie bedingen eine Öffnung und Schließung, wie es in Initiationsriten oder bestimmten Schwellenerfahrungen der Fall ist, und sie können binär bestimmt werden – als Orte undurchschauter Illusion oder reflektierter Kompensation. Foucault nennt exemplarisch die Kolonie und das Schiff als die »Heterotopie par excellence«,13 als größtes Imaginationsarsenal. Im Zusammenhang mit den installativen Arbeiten sind hier vor allem die Diskontinuitätserfahrung sowie das Vermögen, an einem Ort mehrere Orte erscheinen zu lassen, und das Moment des Öffnens und Schließens von Bedeutung. Aber auch das Umfunktionieren kultureller Rahmungen scheint im Sinne einer Erfahrung des displacements wesentlich zu sein. Foucault beschreibt kulturelle, historisch wandelbare Gefüge; jedoch vernachlässigt er die Tätigkeiten, Bewegungen, Riten und Diskurse, welche sie im Einzelnen hervorbringen. Wie geht das Anders-Werden der Räume im Einzelnen vor sich? Wie werden jene Heterotopien zu Räumen ästhetischer Erfahrung? Welchen Anteil hat gerade die Praxis der Grenzziehung an jener raumzeitlichen Dynamik des Ereignisses, die bei Foucault nur in der Verbindung von Heterotopie und Heterochronie kurz angesprochen wird? Sowohl in der ursprünglichen Fassung »Die Heterotopien« als auch in dem später geringfügig abgewandelten Text »Andere Räume« beschreibt Foucault andere, verbotene, besondere und heilige Orte innerhalb der Gesellschaft, Räume des Übergangs, der Krise oder Abweichung. Sie beschreiben Einfaltungen des Außen ins Innen, Blasen, wie sie vor allem in der romantisierenden Vorstellung des Schiffs aufscheinen.14 Jedoch ist genau diese Grenze zwischen Innen und Außen bei Foucault nur unzureichend bestimmt.15 Dies eröffnet zwar die Möglichkeit, die Liste der genannten Heterotopien vom Garten über das Bordell, das Asyl oder das Theater fast endlos zu erweitern – so ließen sich beispielsweise die »Nicht-Orte« Marc Augés,16 wie Flughäfen, Hotelhallen und Supermärkte integrieren –, wenn aber durch diese Multiplizierung das Außen fast ununterscheidbar vom Innen wird, sich kein System von Differenzen etablieren lässt, verunmöglicht es, Grenzen des Innen-Raums anzugeben. Dann bleibt zu fragen, inwiefern diese partikularen Abweichungsorte tatsächlich als Inversion

13 | Ebd., S. 46. 14 | Vgl. ebd.: »In Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.« 15 | Oliver Marchart: »Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en). Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie« [1999], unter: http://eipcp.net/transversal/0102/marchart/ de (letzter Zugriff: 15.08.2018). 16 | Marc Augé: Orte und Nicht Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, München: Beck, 1994.

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Entwürfe und Gefüge des bürgerlichen Öffentlichen beschrieben werden können17 oder inwiefern sie als Orte einer Verhandlung einer Gegen-Öffentlichkeit fungieren. Umgekehrt lässt sich fragen: Welchen Status haben dann jene ›konsequenzverminderten‹ Kunsträume gegenüber anderen? So ließe sich für Forsythes Inszenierung den Fragen nachgehen, welche ›Arrangements‹ zwischen den Tänzern und Zuschauern hier in Kraft treten und welche Rolle die Aufteilung des Raumes im Hinblick auf die ästhetische Erfahrung spielt. In welchem Maße ist die Imagination des Betrachters daran beteiligt, jene Räume erst entstehen zu lassen? Jene ›anderen Räume‹, denen einerseits eine Realität innewohnt, werden andererseits durch ein imaginäres, utopisches Moment bestimmt, welches Prozesse der Alterität, des Fremdwerdens und der Neukonstitution ermöglicht. Durch die spielerischen Akte des Fingierens, die zum einen auf einen referentiellen Pol und zum anderen auf ein dynamisch zu konstruierendes Imaginäres hin gerichtet sind,18 wird nicht mehr das Gegenüber von Fiktion und Wirklichkeit betont, sondern Fiktives, Imaginäres und Reales werden sowohl als Akt wie auch als Produkt verstanden. Das Imaginäre als Schaffung eines kohärenten Vorstellungsraumes und Produkt der Vorstellungskraft ist ebenso ein Akt des Hervorbringens. So eröffnet sich ein breites Spektrum von Interaktionsmöglichkeiten im Rahmen imaginärer Szenarien und einer damit verbundenen Intensitätserfahrung. Im Prozessieren der einzelnen Momente werden intensive Räume und Begegnungen ermöglicht.19 Auch die Platzierungen, die sich auf andere Orte beziehen, die Verweise und Bestimmungen des Raumes reflektieren und umkehren, sind an diesen Umordnungen und Alterationen beteiligt. Weniger sind es aber die Orte allein, als vielmehr minoritäre Praktiken, die sich einer Festschreibung oder Angleichung widersetzen und die eine dominante Eigenschaft eines Ortes neutralisieren oder umkehren können. Sie können die Spezifik eines Ortes herausarbeiten, indem sie z.B. mit dem Hier und Jetzt der Geschichte eines Ortes spielen, sie können mittels bestimmter Choreographien 17 | Marchart: 1999. 18 | Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991. 19 | Vgl. dazu auch Benjamin Wihstutz: »Heterotopie der Sinne. Überlegungen zur Einbildungskraft des Zuschauers«, in: Stefan Tigges/Katharina Pewny/ Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance, Bielefeld: transcript, 2010, S. 316329. Wihstutz beschreibt, wie »die Einbildungskraft des Zuschauers als eine Art zweiter ›metteur en scène‹ eine Überlagerung des Bühnenraums mit Räumen des Imaginären konstituiert, und wie zum anderen das Imaginative selbst als Zwischenraum zu verstehen ist, der dichotome Wahrnehmungsmuster und -kategorien, wie Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Reales und Imaginäres in Frage zu stellen vermag«, hier S. 316.

Installationen choreographieren die Architektur des Ortes infrage stellen, neue Anordnungen schaffen und sie können in kollektiven Arbeiten das Verhältnis von Zuschauern und Akteuren auf den Kopf stellen. In welcher Weise subversive Taktiken die Lücke zwischen dem Sichtbaren und dem Imaginären nutzen, und innerhalb dieser Architekturen Choreographien des Sozialen oder der Verhandlung von Öffentlichkeit entwerfen, soll im Laufe dieses Kapitels gezeigt werden. Gerald Siegmund macht darauf aufmerksam, in welch enger Verbindung Foucaults Vortrag »Die Heterotopien« zu dem anderen Vortrag »Der Utopische Körper« steht.20 Dabei spielt der in beiden Texten wiederkehrende Topos des Spiegels als utopischer Ort eine zentrale Rolle: »Als Ort ohne Ort, der mich zeigt, wo ich nicht bin, an einem utopischen, virtuellen Ort, verbindet er mich doch zugleich mit dem Umraum.«21 So ist der Spiegel eine »Mittelerfahrung, die Utopie und Heterotopie verbindet«.22 Zum einen dient er der Stillstellung des Körpers, indem er ihn an einen Ort projiziert, zum anderen aber wird der Körper im Spiegel gleichzeitig zu einem heterotopen Körper, denn der Blick in den Spiegel, der zurückblickt, lässt den Körper erst als erfahrenden Körper hervortreten. Diese Spaltung der Körper bei Forsythe ist auch tanzhistorisch einzuordnen. Der utopische körperlose Körper, als dessen Idealbild auch der Körper des Balletts gelten kann, dient dazu, den realen Körper zum Verschwinden zu bringen. »Sich genau an jenem Ort zu entwerfen, wo ich nicht sein kann«:23 Dies ist eine der Strategien Forsythe’scher Ästhetik – und sogar eine eigene Technik, wie in Kapitel 2 am Beispiel des imaginierten Doppelkörpers gezeigt wurde. Diese Alteritätserfahrungen, die befremdliche Transformation des Eigenen, wurden bereits mehrfach beschrieben (sowohl für die Tänzer [Kapitel 2] als auch für die Zuschauer [Kapitel 3]). Sicher sind auch die Platzierungen, die sich auf andere beziehen, die Verweise und Bestimmungen des Raumes reflektieren und umkehren, an diesen Umordnungen und Alterationen beteiligt. Weniger sind es aber die Orte allein, als vielmehr Bewegungen und minoritäre Praktiken, die sich einer Festschreibung, einer Angleichung widersetzen und die eine dominante Eigenschaft eines Ortes umkehren oder neutralisieren können. Wenn 20 | Gerald Siegmund: »Körper, Heterotopie und der begehrende Blick. William Forsythes Preisgabe des Fluchtpunkts«, in: Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias. Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin: Alexander Verlag, 2010, S. 130-151. 21 | Bezeichnenderweise, darauf macht Gerald Siegmund aufmerksam, fehlt diese Spiegelpassage im früheren Radiovortrag, ist jedoch im Text über den utopischen Körper zu finden; vgl. ebd., S. 138. 22 | Ebd. 23 | Ebd., S. 141.

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Entwürfe und Gefüge also die Lauschenden auf der Hinterbühne sich dem Akt der überprüfbaren Übersetzung widersetzen, wenn Sie hören, ohne dass man gewahr würde, dass sie auch verstehen, wenn wir selbst vergeblich versuchen, die Lautreihen oder Buchstabenreihen in eine bedeutungsvolle Reihenfolge zu integrieren, wird uns schließlich bewusst, dass unser Hin- und Her zwischen Vorder- und Hinterbühne zwar einerseits vergebliches Unterfangen bleibt, da immer etwas unsichtbar und unverständlich bleibt, jedoch andererseits zugleich auch konstitutiver Akt einer Raumkonstitution ist, in der Imaginäres und Reales ineinander spielen. In dieser Bezugnahme auf jene anderen Orte wird deutlich, wie Architekturen sich durch Handlungsanweisungen bestimmen. Die Anweisungen, die Forsythe über das Mikrophon übermittelt, sind dabei nur Abwandlungen oder Ergänzungen eines bestehenden scores, den der Betrachter auch ohne ihn zu kennen, als eine strukturbildende Regel wahrnimmt, wobei jene Regeln sich jedoch vor allem an ihren Brüchen ablesen lassen.24 Insofern ist Foucaults Ansatz im Folgenden durch Michel de Certeaus Kunst des Handelns zu ergänzen, in deren drittem Teil er eine handlungstheoretische Unterscheidung zwischen Räumen und Orten trifft und die minoritären, subversiven Praktiken der Raumaneignung genauer beschreibt.25 Doch um zu analysieren, womit wir es hier genau zu tun haben, und um die Andersartigkeit der Räume in Heterotopia angemessen beurteilen zu können, soll zuvor ein Blick auf die Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen Installation und Choreographie geworfen werden.

2 Installieren/choreographieren 2.1 Zwischen Choreographie und Installation Seit den 1960er-Jahren lässt sich eine zunehmende Entgrenzung der Künste beobachten. So wurden vielfach andere räumliche Formate für Performances oder choreographische Arbeiten gesucht: In der Aufsprengung des traditionellen Theaterraumes oder durch Aufführungen in anderen Räumlichkeiten bzw. an öffentlichen Orten wurde das Verhältnis von Bühnenraum und Zuschauerraum, von Akteuren und Betrachtern neu erprobt. Jene ›anderen Räume‹ ebenso wie die ihnen eingeschriebenen Choreographien schaffen eine Neu-Aufteilung des Raumes und der Verhältnisse in ihm – sie definieren Möglichkeiten des Zugangs zu einer spezifischen ästhetischen 24 | Dabei kann es für den Zuschauer nicht darum gehen, diese Regeln in Gänze zu kennen oder abzulesen, vielmehr vermittelt sich lediglich der Eindruck, dass es sich um eine bestimmte Form der Übertragung handelt, ohne diese genau beschreiben zu können. 25 | Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve, 1988.

Installationen choreographieren Erfahrung, die sich sowohl als kinästhetische Erfahrung als auch als spezifische Erfahrung des Flüchtigen auszeichnet, innerhalb derer die Konfigurationen im Raum immer wieder neu gesetzt werden müssen und sich somit auch stets neue Bedeutungszusammenhänge ergeben. Insbesondere haben die Choreographen der Judson Church in den 1960erJahren die Entgrenzung zwischen den bildenden Künsten und dem Choreographischen vorangetrieben. Wenn Trisha Brown ihre Tänzer auf den Dächern New Yorks, im Central Park oder in Museumsräumen performen ließ, oder wenn Simone Forti, Yvonne Rainer und Robert Morris in minimalistisch anmutenden Versuchsanordnungen erprobten, welche Kombinationen von Objekten und tasks welche Choreographie generierten, wenn Steve Paxton mit Alltagsbewegungen oder Trisha Brown mit seriellen Bewegungsfolgen experimentierten, standen Fragen im Zentrum, die auch umgekehrt für die Installationen von Robert Morris oder die Arbeiten Robert Rauschenbergs von Bedeutung waren: Was heißt es einen Raum einzurichten und eine Entscheidung für ein spezifisches Arrangement von bewegten und unbewegten Körpern zu treffen? Und inwiefern sind alternative Produktionsverfahren, wie sie im 2. Kapitel unter dem Stichwort Decreation beschrieben wurden, daran geknüpft? Der Begriff der Installation, der sich aus dem Altgermanischen herleiten lässt und soviel wie Stall, Standort, Stelle, aber auch Gestell, Rahmenwerk bedeutet,26 hat seit diesen Anfängen in den 1960er-Jahren eine stete Wandlung erfahren:27 Von der vermeintlichen ›Neutralität‹ der Ausstellungen im white cube28 zu den Environments von Allan Kaprow oder Claes Oldenburg wandelte sich die Auffassung, wie ein Objekt im Verhältnis zu seiner Umgebung zu positionieren sei. Galt das Interesse einer intensiven und oft immersiven Raumerfahrung, wie sie z.B. bei James Turrell in Szene gesetzt wird, oder umgekehrt einer Erfahrung, in welcher der Zuschauer der Ungleichheit zwischen sich und seiner Umgebung gewahr wurde und die seine erhöhte Aufmerksamkeit erforderte, wurde zunehmend mit spektakulären Inszenierungen eine Kunstform etabliert, die dem markttauglichen Event entsprach und ihre Wirkung durch Überwältigungseffekte erzielte, wie z.B. Olafur Eliassons Weather-Project in der Tate Modern. Das phänomenologische Gewahrwerden des Raumes stand in vielen Fällen einer (aktiven) Partizipation am Ereignis entgegen. 26 | Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 242f. 27 |  Vgl. dazu Rebentisch: 2003; Claire Bishop: Installation Art, New York (NY): Routledge, 2005; Julie H. Reiss: From Margin to Center. The Spaces of Installation Art, Cambridge (MA), MIT Press, 1999. 28 | Brian O’Doherty: In der weißen Zelle/Inside the white cube, Berlin: Merve, 1996.

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Entwürfe und Gefüge So ergaben sich Spannungen im Verständnis der verschiedenen Raumauffassungen, die in diesen Konzepten aufeinander trafen. Insbesondere die Bedeutungsverschiebung, welche der Begriff der site-specifity dabei innerhalb weniger Jahre erfuhr, ist auch für die installativen Arbeiten signifikant. Denn bereits nach kurzer Zeit war die Spezifik nicht mehr nur auf einen Ort gerichtet, sondern wurde zum Modus eines inhaltlichen Bezugs auf ein außerästhetisches Anderswo,29 mittels dessen nicht mehr nur das Hier und Jetzt der spezifischen Erfahrung befragt, sondern auch die Normen institutioneller Ausstellungskunst herausgefordert wurden. So ließ sich nicht nur die Intervention im öffentlichen Raum, sondern gerade die Installation besonders gut mit Ansätzen der Site-Specific-Art verbinden, denn der ästhetisch ›eingeräumte‹ Raum arbeitete immer auch gegen die signifikanten Zusammenhänge. So schrieb Richard Serra 1984: »I am interested in work where the artist is a maker of an anti-environment, which takes over its own place or makes its own situation or divides or declares its own area.«30 Jene raumtheoretischen Überlegungen verbanden sich mit institutioneller Kritik gegen den white cube sowie gegen das Museum als Machtfaktor im System Kunst und gegen das ökonomische Getriebe des Kunstmarkts. Gleichzeitig führte die Reflexion der Bedingungen der Rezeption von Kunstwerken auch zur Wendung gegen den falschen Schein einer Kontextabhängigkeit, der ein kritischer Zug implizit war, welcher als Problematisierung einer vermeintlich interesselosen Kunstbetrachtung die Arbeiten in einen politischen Zusammenhang integrierte.31 Diese Verschiebungen sind vor dem Hintergrund der Entwicklungen von der Minimal Art zur Conceptual Art zu verstehen. Von einem phänomenologischen zu einem sozial- und institutionskritischen hin zu einem diskursiv geprägten Verständnis wurde somit die öffentliche Rolle der Kunst – vom Werk – zum Prozess – zur Situation bzw. Partizipation – je neu definiert. Mit dem Schlagwort der relational aesthetics beschreibt Nicholas Bourriaud in den 1990er-Jahren eine Wendung zum partizipatorischen Kunstwerk, in dem Situationen der intersubjektiven Begegnung im Mittelpunkt stehen.32 Wie jene Konfigurationen jedoch im Einzelnen hergestellt werden, wie deren jeweilige Form sich generiert, welche Handlungen diese herausfordert und welche Erfah 29 | Vgl. Erika Suderburg (Hg.): Space Site Intervention: Situating Installation Art, Minneapolis (MN)/London: Univ. of Minnesota Press, 2000; darin insbes. Miwon Kwon: »One Place After Another: Notes on Site-Specifity«, S. 38-63; sowie James Meyer: »The Functional Site, or: The Transformation of Site-Specifity«, S. 23-37. 30 | Richard Serra, zitiert in Rebentisch: 2003, S. 262. 31 |  Ebd., S. 273. 32 | Nicholas Bourriaud: Esthétique relationelle, Dijon: Les presses du réel, 2001.

Installationen choreographieren rungen sie produziert, bleibt in Bourriauds Theorie, so etwa in der kritischen Auseinandersetzung Claire Bishops mit Bourriaud, ungeklärt. Zentral jedoch scheint Bishop in den meisten dieser Ansätze, dass es sich um unabgeschlossene Werke handelt, die in einer Spannung oder einem Antagonismus zu ihrer Umgebung agieren und so mit einer Form institutioneller Kritik verbunden werden können.33 Doch auch bei Bishop bleibt über einzelne Beispiele hinaus offen, wie diese Konflikte gestaltet werden, welche Funktionen sie jeweils einnehmen, oder wie das Ethische oder Politische in ihnen zu beschreiben wäre. In Erwiderung dessen und im Anschluss an Jacques Rancière argumentiert daher die Theaterwissenschaftlerin Sandra Umathum, dass die Kunstwerke keine kompensatorische Funktion für fehlende Sozialprojekte oder fehlende öffentliche Auseinandersetzung im Alltag annehmen können34 und dass ihre politische Dimension erst in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun aufscheint. Auch Barbara Gronau legt in ihrer Studie Theaterinstallationen35 den Schwerpunkt auf eine Analyse der Performativität jener Arbeiten, in denen der Charakter einer wie auch immer gearteten Partizipation betont wird. Sie beschreibt dabei mit Hans-Thies Lehmann das postdramatische Theater als einen Effekt jahrelanger Annäherung von Theater und Performance, von Installation und New-Media.36 Im Eintreten in eine Situation, in ein relationales Feld, das von architektonischen Elementen, Objekten, Performern und Zuschauern gleichermaßen bestimmt wird, werden unterschiedlichste Raumkonzeptionen, von der Idee eines phänomenologisch erfahrbaren Raumes, über einen in sozialen Interaktionen herzustellenden Raum, bis hin zu virtuellen und imaginären Räumen zusammengeführt. Bei diesen Experimentalanordnungen, innerhalb derer die ästhetische Autonomie über eine Kontextualisierung (oder auch Totalisierung) aufgehoben werden soll,37 handelt es sich um flüchtige Konstellationen, deren Materialität, Körperbezogenheit und Handlungsdynamik zu erfassen aus der Perspektive der Tanzwissenschaft unbedingt auch eine Analyse von Bewegung integrieren muss. Der Raum selbst ist in seiner Heterogenität performativ und situativ; als Schauplatz strukturiert er Handlungsvollzüge sowie die strukturelle und diskursive Formung der Körper, die sich in ihm bewegen. Doch was kann innerhalb 33 | Claire Bishop: »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: October 110, Herbst 2004, S. 51-79. 34 | Sandra Umathum: »Der Museumsbesucher als Erfahrungsgestalter«, in: Karin Gludovatz/Dorothea von Hantelmann/Michael Lüthy/Bernhard Schieder (Hg.): Kunsthandeln, Berlin/Zürich: diaphanes, 2010, S. 59-72, hier S. 70. 35 | Barbara Gronau: Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München: Fink, 2010. 36 | Ebd., S. 16. 37 | Ebd., S. 27.

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Entwürfe und Gefüge dieser Situationen überhaupt als Handlung gelten? Wo beginnt und wo endet sie? Mit welchen Dynamiken und Intensitäten werden die Handlungen ausgeführt? Wie werden Rahmen und Rollen durch bestimmte Handlungsanweisungen im Spiel aufgebaut oder durchbrochen? Welche Wirkungen haben die Aktionen auf die Zuschauer und durch welche Handlungen wirken diese auf das Spiel zurück?38 Der Handlungsvollzug ist dabei jedoch nicht an das Subjekt gebunden, sondern darüber hinaus vermögen, wie zu zeigen sein wird, auch die Dinge auf der Bühne39 die Situationen zu verändern. Innerhalb einer spezifischen Konstellation von unterschiedlichen Aktanten, die wiederum als dynamisches Gefüge beschrieben werden kann, können diese nur Ereignisse in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft bestimmen, sind also durch ihre Relation zueinander determiniert, können diese Determinierung aber auch unterlaufen.40 Was aber wäre nun das Spezifische einer zu betrachtenden choreographischen Installation? – Vor allem wenn man im Anschluss an die bisherigen Überlegungen davon ausgeht, dass Tanz als relationale Kunstform per se betrachtet werden kann?41 So stellen auch Forsythes Installationen Situationen der Relationalität, der Begegnung in den Mittelpunkt, jedoch lassen sie den Zuschauern stets die Möglichkeit sich in eine Situation des Betrachtens zurückzuziehen, erlauben eine partielle Distanznahme; die Teilhabe ist nicht an das Mitmachen gebunden. In den beschriebenen Inszenierungen Human Writes und Heterotopia, wie auch in den choreographischen Installationen, wird die Situation des klassischen Guckkastentheaters aufgegeben. Ohne Fluchtpunkt und Perspektive, die unsere Wahrnehmung sonst so stark organisieren, wird das Gefühl der Desorientierung, das wir in diesen instabilen Situationen erfahren, in denen wir uns zwischen den Tänzern bewegen, bestimmend. Die Unsicherheit darüber, wie wir uns verhalten sollen, fordert, wie schon beschrieben, auch von den Zuschauern eine besondere Aufmerksamkeit für das Außen, aber auch – und das kommt in den choreographischen Installationen neu hinzu – eine nach innen gerichtete Konzentration sowie eine Aktivierung unserer inneren Navigations 38 | Ebd., S. 38. 39 | Ich wähle an dieser Stelle explizit den Begriff des Dings statt den des Objekts und verlasse damit ein binäres Subjekt-Objekt-Verhältnis, in dem beide nur in gegenseitiger Abhängigkeit bzw. Unterwerfung existieren. Im Anschluss an die Actor-Network-Theory Bruno Latours sowie an eine Kritik des Anthropozäns wird hier die Handlungspotentialität der Dinge betont. 40 | Vgl. Ilka Becker/Michael Cuntz/Astrid Kusser (Hg.): Unmenge. Wie verteilt sich Handlungsmacht? München: Fink, 2008, insbes. deren Einleitung, S. 7-34. 41 | Vgl. Pirkko Husemann: Choreographie als kritische Praxis, Bielefeld: transcript, 2009, S.  17; sowie Petra Sabisch: Choreographing Relations. Practical Philosophy And Contemporary Choreography, München: epodium, 2010, S. 11.

Installationen choreographieren und Orientierungssysteme. Diese kinästhetische Gegenwärtigkeit, die in der Lage ist Bewegungen zu antizipieren, wird für gewöhnlich nur bei den Tänzern vorausgesetzt. In den installativen Situationen entwickeln aber auch die Zuschauer eine Ahnung dieser Sensibilität, welche die Tänzer in jahrelangem Training erwerben, die für die Zuschauer jedoch zumeist eine eher ungewohnte, fremde Situation bedeutet. Diese Situation spielt sich folglich nicht nur in einem Regime des Sichtbaren ab – ihre Wirkungsebene liegt zu einem großen Teil unterhalb der Schwelle dessen, was man sieht und was sich aus einer Sichtbarkeit und Vermessbarkeit des Raumes ergäbe. Zwar sieht man – wenn auch nicht alles gleichzeitig –, doch wird die Kopplung von Sehen und Verstehen hier umkodiert. Die Aufteilungen des Raumes ergeben sich sowohl aus den Regeln der räumlichen Ordnung – der Bühnenarchitektur, der Enge und Weite des Raumes, der Anordnung der Tische, den Entfernungen zwischen Vorder- und Hinterbühne, dem Abstand zwischen den Tischen und dem Bühnenrand, an dem sich die Zuschauer sammeln – als auch aus den Anweisungen, die die Tänzer nicht nur über das Mikrophon, sondern auch über die der Choreographie immanenten Regeln (scores) erhalten. In diesen Überkreuzungen verschiedener Raumkonzepte stellt sich die Frage danach, welche Vor-schriften (Graphien) und Regeln den Raum lesbar machen und wie die Relationen, die sich durch die Interaktionen zwischen den Tänzern bzw. zwischen Tänzern und Zuschauern entfalten, die diese Vorschriften auslegen und interpretieren, diese ihrerseits verändern. Doch wohin führt es, wenn wir nun die Arbeiten von Heterotopia und Human Writes über Nowhere and Everywhere at the same time bis hin zum White Bouncy Castle oder Scattered Scrowd als Installationen bezeichnen – dient doch der Begriff mittlerweile zur »Auflösung zwischen Material, Technik und Genre«.42 Wie keine andere zeitgenössische Kunstform beschreibt die Installation eine Entgrenzung zwischen den Künsten, die Raum- und Zeitkunst gleichermaßen umfassen kann.43 Jenseits jeglicher Medienspezifik, so kritisiert es Rosalind Krauss,44 ist gerade die Installation diejenige Kunstform, die Kunst abgelöst von 42 | Simon Baier: »Installation als Form«, in: Marc Jongen (Hg.): Philosophie des Raumes. Standortbestimmungen ästhetischer und politischer Theorie, München: Fink, 2008, S. 129-139. 43 | Bereits frühe Texte der Minimal Artists, von Donald Judd oder Robert Morris bis hin zu Michael Frieds kritischer Betrachtung, haben teilweise Schwierigkeiten, das ›Spezifische‹ ihrer Objekte zu situieren. 44 | Auch Krauss bezeichnet gerade die Kunstform der Installation als diejenige, die an der Auflösung der Medienspezifik größten Anteil hat; vgl. Rosalind Krauss: A Voyage on the North Sea. Art in the Age of the Post-Medium Condition, London: Thames & Hudson, 1999, insbes. »Introduction: On Installation and Site Specificity«, S. 1ff. sowie auch Kap. 6. »How the Land Gained Site«, S. 130ff.

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Entwürfe und Gefüge einer spezifischen Art der Produktion in Szene setzt und eine Indifferenz gegenüber der Technik, mit der sie hervorgebracht wird, entwickelt.45 Gerade jedoch wenn man auf die Installation als spezifischen Erfahrungsraum abhebt, kann diese nicht ohne ihre Produktionsweisen betrachtet werden. Dies wird umso wichtiger, wenn die Künste im Wechselspiel miteinander etwas sonst nicht Gegebenes erscheinen lassen und sehr wohl ihre medieneigene Dimension miteinbringen. Inwieweit Choreographie als die Kunst den ›Raum zu schreiben‹ an diesen Strategien der jeweiligen Neu-Konfiguration beteiligt ist, soll im kurzen Rückgriff auf Martin Heidegger betrachtet werden, der auf den ersten Blick aufgrund einer ontologisierenden Perspektive für die Betrachtung ephemerer Phänomene unpassend erscheinen mag, sich jedoch im Hinblick auf ein spezifisch architektonisches Denken, das den Raum in Bezug auf den (sich bewegenden) Körper betrachtet, als durchaus hilfreich erweist.

2.2 Aufstellen und herstellen: Das Gestell Um die Gegebenheiten jener Relationen von Körper, Bewegung und Raum bzw. Ort zu klären, mag es hilfreich sein, zunächst einen Blick auf Heideggers Ausführungen zu einem spezifisch ästhetischen Ineinander von Kunst und Raum zu werfen, wie er sie in seinem Aufsatz »Die Kunst und der Raum« entfaltet.46 Ihm zufolge ist der Raum den Orten nicht vorgängig, sondern erschließt sich erst durch die Orte – mittels einer lebensweltlichen Praxis. Demnach empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus dem mathematisch-abstrakten Raum. »Die Räume, die wir alltäglich durchgehen, sind von Orten eingeräumt, deren Wesen gründet in Dingen von der Art der Bauten. Achten wir auf diese Beziehungen zwischen Ort und Räumen, zwischen Räumen und Raum, dann gewinnen wir einen Anhalt, um das Verhältnis von Mensch und Raum zu bedenken.«47

45 | Baier: 2008, S. 130; S. 136f. Berechtigterweise kritisiert Baier in diesem Zusammenhang auch die unhistorische Betrachtungsweise Erika Suderburgs, für die der Begriff der Installation bereits bei Stonehenge greife; vgl. Erika Suderburg: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): 2000, S. 129-139. 46 |  Ich beziehe mich hier vor allem auf folgende Texte: Martin Heidegger: Die Kunst und der Raum/L’art et l’espace, St. Gallen: Erker, 1969; ders.: »Bauen, Wohnen, Denken«, in: ders: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske, 1954a, S. 139-156; ders.: »Der Ursprung des Kunstwerks« in: ders.: Holzwege, Frankfurt am Main: Klostermann, 1950, S. 1-74. 47 | Heidegger: 1954a, S. 148.

Installationen choreographieren So ist der Raum konstitutiv von Bedeutung durchzogen. Wesentlich ist für Heidegger in diesem Zusammenhang die doppelte Bedeutung des »Einräumens«, das nicht nur als die einseitige Einrichtung von Verweisungszusammenhängen, sondern zugleich als »Zulassen von Offenem«48 verstanden werden muss, wodurch die im Prozess der ästhetischen Erfahrung sich vollziehende Einrichtung von bedeutungshaften Zusammenhängen notwendig auf einen Prozess bezogen wird, in dem diese immer wieder aufgelöst werden und der ästhetisch eingeräumte Raum nicht einfach in einer »unauffälligen Vertrautheit« verschwindet, sondern in seinem Darstellungspotential hervortritt.49 Diese Logik, nach der eine künstlerische Arbeit ihre Umgebung semantisch auflädt, ohne dass sie ihr Verstehen jedoch endgültig sichern könnte, macht auf einen Moment von Kunst aufmerksam, die ihr kritisches Potential erst in der Korrespondenz zwischen Werk und Betrachter öffnet.50 Die Dinge existieren also nicht an gegeneinander gleichgültigen Stellen im neutralen Raum, sondern als »Praxis und Lebensform«. Die Beziehungen innerhalb eines Platzes zeichnen sich durch Nähe und Ferne aus und schaffen dadurch Mannigfaltigkeiten mit beliebig vielen Dimensionen. In den Gedanken zum Verhältnis von Skulptur und Raum wird der Raum als Zwischenraum gefasst – aber nicht nur: »Die Leere ist nicht nichts. Sie ist auch kein Mangel. In der plastischen Verkörperung spielt die Leere in der Weise des suchend-entwerfenden Stiftens von Orten.«51 Setzt man diese Aussage in Beziehung zu den choreographischen Arbeiten Forsythes, so wird deutlich, wie die raumzeitlichen Intervalle mannigfaltige Relationen ermöglichen, die Verantwortung für den Entwurf dieser Relationen liegt letztlich bei den Zuschauern. Die Grenzen des Raumes werden bei Heidegger als dasjenige bestimmt, von woher etwas sein Wesen beginnt.52 Der Raum wird durch das Ereignis mit Temporalität gleichsam aufgeladen. Dabei gelten Heidegger Poetik und Technik als Formen der Entbergung, die er als ein Hervorbringen oder Zum-VorscheinBringen – vom Nicht-Anwesenden ins Anwesende – versteht. Diese bestimmte Form der Erkenntnis kann sich beispielsweise im Experiment oder auch im cho 48 | Ebd. 49 | Vgl. Rebentisch: 2003, S. 235-262. 50 | Ebd., S. 244; vgl. außerdem im Kontext der Theaterwissenschaft: Erika Fischer-Lichte: Die Erfindung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen: Francke, 1997; dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen: Francke, 2001; dies.: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004. 51 | Heidegger: 1969, S. 12. Martin Heidegger bezieht sich hier auf die Skulpturen Eduardo Chillidas, anhand derer er das Verhältnis von Skulptur und Umraum analysiert. 52 | Heidegger: 1954a, S. 155.

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Entwürfe und Gefüge reographischen Spiel von Zeigen und Verbergen, wie wir es häufig bei Forsythe vorfinden, ereignen. Präsenz wäre somit immer nur in der Spannung von Absenz und Präsenz zu denken. In dieser Spanne ereignet sich das Ent-bergen der Wahrheit – aletheia –, das Erkenntnis produzierend wirkt und gebunden ist an eine Weise des Wissens: der Episteme. In diesem Gefüge – und dies scheint der für die Diskussion der Installation zentrale Punkt zu sein – ist der Begriff des Gestells mit dem Herstellen – poiesis – verbunden. Auch wenn Heidegger hiermit eher auf ein abgeschlossenes Kunstwerk zielt, und insofern seine Theorie für eine Kunstform des Flüchtigen sicher nur ansatzweise anwendbar ist, ist doch eine Verzeitlichung darin angelegt, und die Spannung zwischen dem Verbergen und Entbergen erscheint als ein produktiver Gedanke, will man eine Art und Weise des choreographischen Einrichtens des Raumes und der Relationen in ihm untersuchen. Die Fokussierung auf den Wahrheitsbegriff ist nicht zwangsläufig an einen statischen Werkbegriff zu koppeln, nicht notwendigerweise an poiesis, sondern wäre in der Übertragung aus dem Heidegger’schen Kontext auf ein Konzept der Ortsspezifik ebenfalls mit dem Modus der praxis zu verbinden. Das »Gestell« wäre somit als spezifisch ästhetische Seinsweise des ›Werks‹ zu begreifen – als »Gegeneinander von Aufstellung einer Welt und Herstellung einer Erde«53 – und als Prozess, der die ästhetische Form oder Gestalt als in steter Veränderung konstituiert. Damit ist die ›Erde‹ nicht nur Umgebung des Kunstwerks, sondern Materialität des Kunstwerks schlechthin.54 Juliane Rebentisch hat diese Überlegungen Heideggers unter dem Stichwort »Ortsspezifik« gefasst und sie neben den Begriffen »Theatralität« und »Intermedialität« für eine Betrachtung der Installationen als unabdinglich beschrieben.55 Innerhalb ihrer Argumentation wird gerade im Anschluss an Miwon Kwons Überlegungen zum Wandel des Begriff der Site-Specificity56 deutlich, wie sehr die Deutungen Heideggers – das Einräumen und Zulassen sowie das Verhältnis von Welt und Erde – dynamisch zu denken sind und sich durchaus für die hier unter den Gesichtspunkten der Bewegung (die sowohl die Bewegung der Objekte als auch der Akteure [Performer und Zuschauer] einbezieht)

53 | Heidegger bezeichnet mit dem Begriff »Welt« den Erkenntnishorizont und mit dem der »Erde« die Gesamtheit des Seienden. Beide stehen im Streit miteinander und durchdringen sich gleichwohl gegenseitig; Martin Heidegger: »Die Frage nach der Technik«, in ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart: Neske, 1954b, S. 9-40, hier S. 23. 54 | Heidegger: 1954a, S. 157. 55 | Rebentisch: 2003, Inhaltsverzeichnis. 56 | Miwon Kwon: »One Place after another. Notes on Site-Specificity«, in Erika Suderburg (Hg.): Space, Site, Intervention: Situating Installation Art, Minneapolis (MN) Univ. of Minnesota Press, 2000, S. 38-63.

Installationen choreographieren und der Choreographie des Raumes zu betrachtenden Arbeiten anführen lassen. Die Spannung zwischen Skulptur/Objekt und Umgebung wird hier als dynamisch beschrieben, denn der Zwischenraum ist »nicht nichts« – er bringt Bedeutungen erst hervor. Er ist nicht nur zwischen Skulptur/Objekt und Tänzern stets neu herzustellen und zu definieren, sondern darüber hinaus affiziert diese Spannung auch den Zuschauer, hält die Sinnzuschreibungen in der Schwebe: Präsenz und Absenz werden als sich gegenseitig bedingend und hervorbringend verstanden. Entsprechend kann Raum hier nie als Behälterraum oder absoluter Raum, sondern immer nur als ein Raum, der sich erst aus der performativen Interaktion ergibt, verstanden werden; er wird nicht auf eine zu fixierende Form hin entworfen, sondern je neu gestaltet. Dazu bedarf es aber auch der Zeugen, die diesen Prozess mitgestalten, die den Herausforderungen durch die choreographischen Objekte begegnen und die installativ-choreographischen Rahmungen mit hervorbringen, die nicht nur in spezifischen Konstellationen bestehen, sondern darüber hinaus für die Dauer der Aufführung auch eine ephemere Gemeinschaft generieren.

3 You made me a Monster 3.1 Unheimliche Verbindungen zwischen Objekt und Subjekt Gemeinsam mit anderen Zuschauern betrete ich die Bühne im Haus der Berliner Festspiele. Wie schon bei Heterotopia sind auch hier Tische über den gesamten Raum verteilt, auf ihnen stehen Papp-Skulpturen aus vorgefertigten Bastelbögen: bizarre, filigrane Skelette nicht existenter Wesen, deren Bau scheinbar keiner bekannten Gelenkstruktur folgt. Das Publikum ist laut den ausgelegten Handzetteln zur Bricolage eingeladen, und so sind bald alle Teilnehmer darin vertieft, die verschiedenen Knochenteile irgendwie zusammenzustecken: Ein Fußgelenk steckt am Oberschenkelknochen, Halswirbel zwischen Rippenbögen verlängern diese zu unbekannten orthopädischen Formationen. Diese Montagen heben die bekannte Organisation von Körpern auf, es wird dabei unklar, was Oben und Unten, Hinten oder Vorn ist.57 Erst nach einiger Zeit bemerke ich das Video-Display am vorderen Bühnenrand, über das Teile von Sätzen ziehen, die fragmentarisch von Aliens und fremdartigen Wesen erzählen. Etwas später schieben sich die Tänzer David Kern, Nicole Peisl und Christopher Roman zwischen die Podeste – ihre Körper sind ähnlich den gefertigten Skulpturen in grotesk anmutenden Verdrehungen ge 57 | Ich beziehe mich auf die Aufführung, die ich am 26. August 2005 im Haus der Berliner Festspiele im Rahmen von Tanz im August gesehen habe.

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Entwürfe und Gefüge wunden. Die Bewegungsimpulse scheinen sich geradezu aus den Verrenkungen der Konstruktionen abzuleiten, ihre Bewegungen übersetzen die Asynchronizität der sich drehenden und gegeneinander verschiebenden Gelenke. Über ein Mikrofon und Lautsprecher verstärkt quellen transformierte Laute aus Christopher Romans Mund hervor: röchelnde, stöhnende Schreie, die das Innere gleichsam nach außen zu kehren und darüber den wuchernden Skeletten auf den Podesten – auf akustischer Ebene – zu entsprechen scheinen.58

Abb. 5.2: William Forsythe: You made me a Monster, © Marion Rossi.

Am Rand der Podeste finde ich ausgelegte Texte und realisiere, dass sie nicht nur die Satzfragmente des Displays wiederholen, sondern den Ausgangspunkt der gesamten Installation bilden: Sie schildern die Geschichte von Forsythes verstorbener Frau Tracy-Kai Maier, die 1994 einem Krebsleiden erlag und deren Tod den Ausgangspunkt für You Made Me a Monster bildet. In wenigen Sätzen erzählt Forsythe über die Entdeckung der Krankheit, ihren Verlauf und den Tod seiner Frau, berichtet von Ereignissen, die in unheimlicher Nähe zu jenem Stück stehen, an dem er damals arbeitete: Alie/NA(c)Tion. Im Probenprozess hatte seine Frau, dem Thema des Fremden im Eigenen entsprechend, eine Bewegungsimprovisation mit dem Namen »Krebs« entwickelt59 – kurz darauf wurde die Krankheit bei ihr diagnostiziert. 58 | Vgl. dazu Susanne Foellmer: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript, 2009, S. 309-312. 59 | Bezeichnenderweise bedeutet die Figur des Krebses eine doppelte Umkehrung in der Kontrapunktik der Fugenkompositionslehre. Im Hinblick darauf,

Installationen choreographieren Durch diese plötzliche Offenbarung der so privaten Geschichte fühle ich mich bedrängt, die Dinge, die Geschichte, der Raum rücken mir zu nahe und dieses unangenehme Gefühl steigert sich noch, als die Tänzer hinzukommen. Die anfänglich noch unverfängliche Bastelarbeit an den Skeletten offenbart sich plötzlich darin, dass ich an der Fabrikation und an der Ausstellung des Todes mitarbeite. Durch diese vielfältigen Überlagerungen und die sich daraus ergebende Ambivalenz entspinnt sich eine Atmosphäre des Unheimlichen, und wir realisieren, dass auch wir – das eigentliche Publikum – die ganze Zeit über an der Wucherung der Geschwüre mitgebastelt haben. Darüber hinaus berichtet der ausgelegte Text, dass Forsythes Familie kurz vor dem Tod seiner Frau von einem Freund ein Weihnachtsgeschenk bekam: ein Pappskelett zum SelbstZusammenbauen. Erst viel später fiel dem Choreographen das unheimliche Geschenk wieder in die Hände. Ohne die Anleitung zu benutzen, »[…] bog, faltete und verband ich die verschiedenen filigranen Teile, bis ich ein Modell hatte, das ich verstand. Es war ein Modell der Trauer.«60 Diese vervielfältigten Modelle dienen nun als Partituren für die Bewegungen der Tänzer, ohne dass jedoch der Betrachter den Modus der Übertragung im Einzelnen erkennen, nachvollziehen könnte. You Made Me a Monster zeigt die Durchdringung von Fremdem und Eigenem als in die Betrachter eindringende atmosphärische Gefährdung, zeigt, wie ein unheimliches Fremdes das Eigene von innen heraus zerstört und schließlich zur Löschung des körperlichen Subjekts führt.61 Die Wucherungen, so Susanne Foellmer, verlängern sich dabei in den Raum des Zuschauers hinein: Sie basteln an der Verfremdung mit, bauen, zerlegen, verdrehen und rekombinieren die Teile zu unheimlichen Monstrositäten, werden zu Mitproduzenten eines dynamischen Gefüges, das zwischen Tänzern und Zuschauern, zwischen den Skulpturen im Bühnenraum neu entsteht und schließlich die Frage danach stellt, wer hier eigentlich das Monster ist: die ungestalten Skelette, die verzerrten Tänzerkörper, die Aliens, von denen die Geschichte erzählt, oder ich selbst? You Made Me a Monster eignet sich nicht nur, die sich aus der spezifischen Anordnung entspinnenden Interaktionen zwischen den Zuschauern zu untersuchen, sondern ebenso diese im Verhältnis zu den Bewegungssequenzen der drei Tänzer zu analysieren, die Bewegungen der Nicht-Tänzer in Beziehung zu jenen der professionellen Tänzer zu setzen und gleichzeitig das räumliche Arrangement miteinzubeziehen. Die unvorhersehbaren Konfigurationen, die dass Forsythe diese Arbeit später auch als Installation mit nur einem Tänzer aufführen ließ und dabei den Charakter der Partitur mehr und mehr in den Vordergrund stellte, ist dies von Bedeutung für das Ineinandergreifen der verschiedenen Ebenen innerhalb dieses Gefüges. 60 |  Auszug aus dem ausgelegten Text. 61 |  Foellmer: 2009, S. 309f.

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Entwürfe und Gefüge sich je nach Interaktion verschieben und neu gestalten lassen, entstehen nicht lediglich als Ausführung einer zu gestaltenden Struktur, sondern sind ebenso von den choreographischen Arrangements und einem körperlichen Wissen inspiriert. Denn die besondere Qualität wird gerade auch durch die schwer fassbaren Bewegungen, die den Betrachter affizieren, erreicht. Während die Skulpturen gefertigt werden, entbergen sie erst nach und nach in der Tätigkeit des Herstellens ihren Sinn. Doch sie entziehen sich zugleich wieder jenem Sinn und verbergen ihn: in den fremdartigen Figurationen und den Verbindungen der verschiedenen Ebenen Skulptur, Tanz, Klang, Geräusch und Text sowie den Überlagerungen durch das Narrativ, die Bewegungen der Tänzer und des Klangs. In diesem Widerstreit von entbergen und verbergen entspinnt sich das Potential – der Möglichkeitssinn dieser choreographischen Installation. In welcher Verbindung stehen die filigranen Skulpturen zu den Bewegungen der Tänzer, den Abständen zwischen den Tischen; was erlauben, was verbieten diese Arrangements? Welche Form von Handlungsmacht kann dabei den Skelettskulpturen in Forsythes Installationen zugeschrieben werden und welches Potential entfalten sie innerhalb des spezifischen Arrangements? Wie werden sie letztlich zu »choreographischen Objekten«62 und wie sind sie daran beteiligt, eine dialogische, relationale Struktur des Kunstwerks zu schaffen bzw. einen Raum zu entwerfen, in dem sich Zuschauer und Performer auf alternative Art und Weise miteinander auseinandersetzen? Dazu soll im Folgenden den noch zu erläuternden ›choreographischen Objekten‹ eine Form von Agency oder Handlungsmacht nachgewiesen werden. Doch wie wäre diese Form von Handlungsmacht hier zu definieren, sind doch die Bedingungen dazu – wenn wir Choreographie bei Forsythe in der Spannung zwischen einem bestimmten Regelsystem (Notationssystem) und dessen improvisatorischer Ausführung begreifen – weder in einem explizit politischsozialen Kontext zu verorten, wie es der Begriff sonst nahe legt, noch ist Handlung hier im Sinne einer theatralen Narration und Handlung zu begreifen.

62 | Den Begriff übernehme ich von Forsythe: 2008, S. 8-11, sowie von Erin Manning, die jene ›choreographischen Objekte‹ im Zusammenhang mit Forsythes choreographischen Arbeiten wählt, siehe Erin Manning: »Propositions for the Verge. William Forsythe’s Choreographic Objects«, Dezember 2008, unter: http:// www.inflexions.org/n2_manninghtml.html (letzter Zugriff: 15.08.2018).

Installationen choreographieren

3.2 Zur Handlungsmacht des choreographischen Objekts »Choreography sets the stage for an ecology of movement events. [...] Objects are not stable: they forecast the time of an event [...].«63 »The choreographic object: it is a model of potential transition from one state to another in any imaginable space.«64

In Forsythes Arbeit spielen Vorschläge, Aufgaben und Regeln eine wesentliche Rolle. Sie entwerfen ein je neu zu konfigurierendes Umfeld. Und so sind auch die Objekte jener Arrangements daran beteiligt, Zwischenräume zu schaffen, in dem das Unvorhersehbare sich ereignen kann. Sie strukturieren die interne Organisation des Geschehens, indem sie Teil eines Regelsystems werden und dieses von innen her immer wieder neu gestalten. Ich möchte hier eine Lesart vorschlagen, die diesen Objekten selbst bereits eine Handlungsmacht zuschreibt und sie damit in Anlehnung an Bruno Latours Vorstellung einer Dingpolitik verortet.65 Jenseits einer bloßen Ansammlung von Dingen beschreibt diese auch eine Versammlung, die Bedingungen für weitere Aktionen schafft. Damit wird zugleich eine herkömmliche Verbindung von Handlungsmacht und Herrschaft, und damit auch von rein intentionaler, zweck-orientierter Handlung, infrage gestellt.66 Indem Forsythe in seinen Installationen die Fluchtpunktperspektive des klassischen Guckkastentheaters aufgibt, welche die Wahrnehmung des Zuschauers auf so einflussreiche Art und Weise organisiert, müssen auch die Zuschauer neue Taktiken finden, um mit diesen neuen Kontexten umzugehen. Das Gefühl der Desorientierung, das wir in diesen instabilen Situationen erfahren, erfordert es jenseits unserer Gewohnheiten zu agieren; die Situationen schärfen unsere Aufmerksamkeit für das Außen wie auch für unser eigenes inneres Navigations-System. Wenn wir beispielsweise in Monster die unheimliche Geschichte und jenen Akt des Bastelns einander gegenüberstellen und diesen Bruch zwischen dem gewöhnlichen Akt des Bastelns und der unangenehmen Situation in Bezug zueinander setzen, verlieren wir unsere Selbstverständlich 63 | Ebd., S. 2 der pdf-Version des Textes. 64 | Forsythe: 2008, S. 5-7, hier S. 6 (dt. S. 8-11). 65 | Bruno Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik oder Wie man Dinge öffentlich macht, Berlin: Merve, 2005; sowie ders./Peter Weibel (Hg.): Making Things Public: Atmospheres of Democracy, Ausstellungskatalog ZKM Karlsruhe, Cambridge (MA): MIT Press, 2005. 66 | Becker/Cuntz/Kusser (Hg.): 2008, S. 7.

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Entwürfe und Gefüge keit, die wir für gewöhnlich voraussetzen. Hier können wir erproben, die Balance zwischen aktivem Handeln und einer Fremdbestimmtheit auszutarieren. Diese Sensibilisierung für unsere Umgebung schärft auch die Aufmerksamkeit für die Objekte in unserer Umgebung und verändert die Prozesse, innerhalb derer wir uns zu ihnen in Bezug setzen, wie wir zwischen und mit ihnen handeln. Etwa die Art und Weise, auf welche die Dinge in Bewegung gesetzt werden, wie sie aus- und dargestellt werden, in welchen Beziehungen sie zu uns sprechen, macht uns aufmerksam darauf, inwiefern wir überhaupt erst aufgrund ihrer Gegenwärtigkeit zu handeln in der Lage sind. Ob es sich nun um die Tische in One Flat Thing Reproduced, in Human Writes oder Heterotopia, um die Pendel in Nowhere and Everywhere at the Same Time oder um die Pappskelette in You made me a Monster handelt: »The objects are in fact propositions co-constituted by the environments they make possible. They urge participation.«67 Sie schaffen, so Erin Manning weiter, einen zeitlichen Zwischenraum, da sie die Rolle, die Objekte in unserer Erfahrung spielen – und ihre Widerständigkeit –, zur Sprache bringen.68 Sie sind damit wesentlicher Bestandteil dessen, was die Partitur bzw. den score erst ausmacht, und sind zudem an den Regeln der Choreographie beteiligt.69 Forsythe selbst schreibt dazu: »Eine Partitur repräsentiert das Potenzial von Plänen der Wahrnehmung, eine Handlung einzuleiten, wobei das Endergebnis von einem anderen Sinn wahrgenommen wird: Eine Übertragung, durch den Körper, vom Visuellen ins Auditive.«70 So ist das choreographische Objekt kein Ersatz für den Körper, sondern alternativer Schauplatz der Organisation von Handlungen. »Choreographie umschreibt als Begriff eine Kategorie von Ideen: in diesem Fall könnte die Idee ein Gedanke oder ein Vorschlag für einen möglichen Handlungs-

67 | Manning: 2008, S. 3. 68 | Vom 15.–21. Juni 2009 veranstaltete das Haus der Kulturen der Welt unter dem Titel: »Widerstand des Objekts« das Intransit-Festival, kuratiert von André Lepecki. Dort ging es jedoch zum großen Teil um den prekären Status zwischen Objekt und Subjekt, darum, wie Subjekte zu Objekten werden. So muss auch in Tanzperformances dieses Objekt nicht notwendigerweise ein Gegenstand sein, auch ein Körperteil eines anderen Tänzers kann zu diesem Objekt der Manipulation werden, das sich in diesem Falle gleichwohl durch eine andere Widerständigkeit auszeichnet. 69 | Zur genaueren Unterscheidung zwischen Partitur und score siehe z.B. Petra Sabisch: »A little inventory of scores«, in: maska XX, Herbst-Winter 2005, open work, S. 30-35. Sabisch unterscheidet hier genau zwischen cues, instructions, scripts, notation und scores. Im Falle Forsythes bestehen sie aus den Anweisungen, die jedoch stets mit einer dinghaften Seite verbunden sind. 70 | Forsythe: 2008, S. 9.

Installationen choreographieren ablauf sein. [...] sie lockt Handlung aus Handlung hervor: ein Umfeld grammatikalischer Regeln, die von der Ausnahme geleitet werden.«71

Forsythe versteht Choreographie und Tanz als »zwei getrennte und sehr unterschiedliche Praktiken«72 und stellt entsprechend die Frage danach, wie Choreographie jenseits einer Vorstellung, die diese immer noch ausschließlich an den Körper bindet, und damit jenseits »roher Sinnlichkeit«73 zu fassen wäre. Dies gelingt ihm mithilfe einer Definition des choreographischen Objekts: »Es liegt in der Natur des choreographischen Objekts, also der Partitur oder Notation, offen für die gesamte Palette phänomenologischer Antriebe zu sein, da es von einem Körper ausgeht, der dazu ausgebildet ist, beständig jedes Signal aus seiner Umgebung zu lesen.«74 Das choreographische Objekt »als Modell einer potenziellen Übertragung von einem Zustand in einen anderen in jedem vorstellbaren Raum«75 zu denken, erlaubt es gerade, jene Verwandlung, jenes Anders-Werden des Raumes vorzustellen, wie wir es in Heterotopia beschrieben haben. Es setzt das Verhältnis von Sprache und Bewegung in Bewegung und ermöglicht es, in den Übertragungen neue Spielräume zu erschließen. Erin Manning wiederum beschreibt darüber hinaus, dass »[t]he object has to be immanent to the event and active in its unfolding«76 und schlägt dafür den Begriff des objectils vor. Wie ein Projektil entfaltet das Objekt seine Kraft in der Bewegung auf einen anderen Gegenstand oder eine Person hin; es trifft diese(n) und verändert ihn oder sie. Das Objekt muss folglich als über seine eigentliche, körperliche Begrenzung hinaus ausgedehnt, als das Verhältnis zu einem anderen Ding oder Akteur verstanden werden, das die potentiellen Möglichkeiten zu handeln erst eröffnet und einen Vorschlag macht, wie es etwa die Konstellation der Skelette in You made me a Monster in der Eröffnung zur Möglichkeit der Bricolage tut.77 Die Objekte verändern ihre Bedeutung und damit ihre potentiellen Handlungsanweisungen entsprechend des sich verändernden Kontextes. Gemäß die 71 | Ebd., S. 8. 72 | Ebd., S. 9. 73 | Ebd. 74 |  Ebd. 75 | Ebd. 76 | Manning: 2008, S. 3. 77 | Das Objekt schafft in seiner Ausgedehntheit einen Zwischenraum, in dem das Unvorhersehbare sich ereignen kann, das über die Antizipation hinaus geht, denn diese umfasst im Rahmen vieler improvisatorischer Techniken immer nur das Wahrscheinliche. Auf diese Weise wird schließlich ein flexibles Gefüge geschaffen, welches herkömmliche Strategien des ›Displays‹ bzw. der Verteilung der Gegenstände im Raum infrage stellt.

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Entwürfe und Gefüge ser Transitorik lassen uns diese Objekte spüren, was wir oftmals im ersten Moment der Begegnung mit einem Gegenstand noch nicht direkt artikulieren können, was sich dem Sagbaren entzieht und zumeist nur als etwas Unbestimmtes erfasst wird78 – insbesondere, wenn uns dieser Gegenstand in einer so ambivalenten Situation wie in You made me a Monster begegnet. Die Objekte verweisen auf die verschiedenen Aspekte eines Verhältnisses und auf dessen Eigenschaften: Handelt es sich einerseits um eine Weise, eine Situation zu teilen, wie z.B. im Akt der Bricolage, den ich gemeinsam mit den anderen Besuchern vollziehe, wird andererseits auch das Moment der Verbindung der einzelnen Teile der Skelette sowie des Zusammenfügens der disparaten Elemente innerhalb der Anordnung betont. Ebenso wird eine Trennung durch die räumliche Anordnung der einzelnen Elemente auf der Bühne vorgenommen und ein Prozess der Unterscheidung in Gang gesetzt, in dem ich das Verhältnis der Dinge zu der erzählten Geschichte in Bezug setzen und beurteilen muss. Doch mittels welcher Eigenschaften agieren die Objekte? Wie tragen ihre materialen Eigenschaften und ihre mediale Verfasstheit dazu bei, eine Situation zu verändern? Dies geschieht wiederum nur durch eine bestimmte Art und Weise der Nachbarschaft zu anderen Objekten und der entsprechenden Kontextualisierung. Erst innerhalb dieses beweglichen Gefüges entfalten die Objekte eine bestimmte Energie, welche die räumliche Situation transformiert und im Betrachter imaginäre, kognitive und sensorisch-kinästhetische Fähigkeiten gleichzeitig herausfordert. So etwa, wenn wir die räumliche und die narrative Situation in You made me a Monster zueinander in Bezug setzen – die papiernen Skelette, die engen Zwischenräume zwischen den Tischen, das Halbdunkel auf der Hinterbühne –, wenn wir nach und nach gewahr werden, wie die Atmosphäre der Verunsicherung, im abgedunkelten Raum der Theaterbühne, durch die Anordnung der Tische und die zusammengebastelten, wuchernden Skelettskulpturen sowie durch die unheimliche Geschichte vom Tod der Ehefrau Forsythes, unsere Unsicherheit verstärkt, wie wir mit den Performern, den Bastelbögen, den Regeln umzugehen haben. Diese Situationen involvieren uns als Betrachter, doch müssen wir hier nochmals zwischen verschiedenen Formen des Involviert-Seins unterscheiden: Der Betrachter wird nicht atmosphärisch, immersiv isoliert, und auf die eigene phänomenale Erfahrung zurückgeworfen,

78 | Unter Bezugnahme auf Helmut Draxler: Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin: b_books, 2007; siehe dazu Johannes Porsch: »T.O.«, in: ders./Daniela Zyman (Hg.): Transitory Objects, Ausstellungskatalog der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary, Köln: Walther König, 2009, S.  30-40, hier S. 31f.

Installationen choreographieren sondern der Modus der Affizierung setzt ihn in ein Verhältnis, das ihn zum Handeln oder zumindest zur eigenen Positionierung animiert.79 Hiermit erschließt sich eine weitere Ebene des Potentials der choreographischen Installationen: Denn eine solche Auffassung des Objekts stellt herkömmliche Modelle von Handlungsmacht infrage,80 bei denen es sich um die gerichtete, zweckhaft intentionale Aktivität eines Subjekts handelt, die zudem meist auf eine unidirektionale Manipulation von Objekten durch das Subjekt zielt. Diese Auffassung des Objekts führt stattdessen eine Form der FremdBestimmtheit ein, die zu den bereits beschriebenen Situationen der Ambivalenz und des Unvorhersehbaren entscheidend beiträgt.81 Die Verschaltung von Subjekt und Welt, die für gewöhnlich den Dingen und Objekten eine Zweckhaftigkeit zuschreibt und ihnen nur in gespenstischen oder surrealen Zusammenhängen eine eigene, quasi übernatürliche Macht zugesteht, wird hier in Formen von Handlungsmacht überführt, die nicht nur nicht im Regime des Sichtbaren aufgehen, sondern darüber hinaus sich auch dem Regime einer linearen Logik entziehen und die produktive, aktivierende Einbildungskraft des Betrachters herausfordern. Handlungsgefüge sind hier im Sinne eines potentiellen Geschehens wahrzunehmen, sie aktivieren die Einbildungskraft des Betrachters und tragen dazu bei, die Verhältnisse von Herrschaft (als Handlungsmacht) und Handeln neu zu überdenken.82

79 | Die Situation der Affizierung wird bestimmt durch eine chiastische Relation. Wie in Kapitel 1 gezeigt wurde, geht der Punkt, an dem Merleau-Ponty und Deleuzes Falte übereinstimmen, über Husserls Idee einer kinästhetischen Intentionalität als phänomenale Erfahrung, die Subjekt und Objekt noch stärker voneinander trennt, hinaus. Der späte Husserl reflektiert diesen Mangel durchaus, ich kann an dieser Stelle jedoch keine ausführliche Diskussion dessen leisten. 80 | Vgl. Becker/Cuntz/Kusser (Hg.): 2008. 81 |  Im Zusammenhang mit den von den Tänzern verwendeten Techniken wurde in Kapitel 2 bereits die Fähigkeit, sich einem Zustand zu überlassen, unterstrichen, da die nicht nur aktive Intentionalität einer Bewegungshandlung ausgeführt wird, sondern sich gerade in den pathischen Dimensionen des Handelns erfüllt. In vergleichbaren Zusammenhängen könnte auch von pathos, Schwäche oder von der Optionalität des Scheiterns als einer Form der Fremddeterminiertheit gesprochen werden. 82 | Doch bleibt zu fragen: Wo findet Handlungsmacht eigentlich statt? Wenn wir Choreographie in der Spannung zwischen einem (notationellen) Regelsystem und dessen Ausführung verstehen, so ist Handlungsmacht weder im Rahmen sozialer oder politischer Ansätze zu verorten, noch zu reduzieren auf einen Begriff theatraler Handlung oder eines Rollenspiels. Stattdessen führt es die Kategorie der Bewegung, raum-zeitlicher Relationen und ihren Bedingungen ein.

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Entwürfe und Gefüge Objekte haben, wie die Zuschauer in You made me a Monster erfahren konnten, ein Resonanzverhältnis zur Vergangenheit, das im Modus des Kontrasts wirksam wird. Sie schaffen nicht nur Relationen zu einem mittelbaren Handeln, sondern verorten dieses im Feld unserer Erinnerungen und daraus resultierenden Antizipationen. Die Erfahrungen, die der Zuschauer innerhalb der Installationen macht, sind durch die »pastness of the present«83 aufgeladen. Alfred Whitehead, auf den sich Erin Manning hier bezieht, beschreibt, dass wir nicht von Sinn zu Sinn wahrnehmen, sondern von einer Relation zur anderen: »The present moment is constituted by the influx of the other into that selfidentity which is the continued life of the immediate past within the immediacy of the present.«84 Manning fährt fort: »It is not the past as such or the object as such we perceive in the here-and now. It is the activity of relation between different thresholds of spacetime. It is the object from the past in the configuration of the present. The then-with.«85 Diese zeitliche Ausdehnung der Objekte korrespondiert mit ihrer räumlichen Ausdehnung und lässt sich mit dem in Kapitel 2 bereits angesprochenen Körperkonzept des Ausgedehnt-Seins, wie es bei Gil und bei Nancy formuliert wird, verbinden. Dieses Ausgedehnt-Sein, Außer-Sich-Sein von Objekt-Körper und den Körpern der Tänzer, aber auch die nach außen gerichtete Aufmerksamkeit der Zuschauer86 eröffnen Zwischenräume – und diese Intervalle implizieren wiederum eine Öffnung auf das Unvorhersehbare. 83 | Manning: 2008, S. 4. An dieser Erfahrung beteiligt ist auch die bereits im ersten Kapitel beschriebene Form des entrainment: hier geht es um die raumzeitlichen Beziehungen zwischen den Tänzern. Die Aufspaltung zwischen zwei Ereignissen, das Ineinanderfalten von präsentischer und zukünftiger Handlung, der zwischen zwei oder mehreren Körpern mithilfe eines anderen, körperlichen Wissens entstehende, sich ständig verschiebende Zwischenraum, sind zeitlich bestimmt. Die beschriebenen Techniken erfordern Fähigkeiten, die eine andere Art und Weise der Orientierung einschließen. 84 | Alfred North Whitehead: Adventures of Ideas, New York (NY): Macmillan, 1933, S. 181, zitiert in Manning: 2008, S. 5. 85 | Manning: 2008, S. 5. 86 | Während für Tänzer das Bewusstsein des Verhältnisses der einzelnen Körperteile zueinander und die nach außen gerichtete Aufmerksamkeit es dem Körper erlauben, auf angemessene Art und Weise zu re-agieren und eine besondere Sensibilität für die räumliche Ausdehnung zu entwickeln, ist dies für den untrainierten Zuschauer ein durchaus ungewöhnlicher Zustand. Die Tatsache, dass unsere Interaktionen auf einem Modell kinästhetischer Gegenwärtigkeit beruhen, erlaubt es zwar eine spezifische Sensibilität (›Durchlässigkeit‹) zu entwickeln, jedoch ist damit noch nicht die Ausgedehntheit zu erklären, die vielmehr auf einer Verbindung von Körper-spüren und Imaginieren beruht.

Installationen choreographieren Elizabeth Waterhouse hat aus ihrer Perspektive als Tänzerin beschrieben (siehe Kapitel 4), wie verschiedene raum-zeitlich bedingte Gefüge sich zueinander verhalten: Innerhalb des Körpers existieren Räume als »internal loci or fields. Such spaces may be felt concepts, such as the anatomical positions of organs never seen«.87 Der Körper ist dabei Objekt und Subjekt zugleich. Doch wie werden verschiedene Räumlichkeiten – jene des Tänzers, des Betrachters, des Objekts, architektonische Räume, erinnerte und imaginäre Räume und deren je spezifische Zeitlichkeit – zueinander in Beziehung gesetzt? Waterhouse schreibt weiter: »My activity in space moves beyond the banal view of space as a medium between organisms, objects, and architectures. Space is a relational field, that enables people to connect to each other and to things in their environment. Space, as such is a context.«88 Dieser »intimate and familiar context« innerhalb der Company ermöglicht es, vor allem in den Installationen, den Zuschauer derart in das Geschehen miteinzubeziehen, dass ein »communal space«, ein Raum »as a venue for dialogue and individualization« entsteht.

4 Spielerische Verhandlungsräume des Öffentlichen 4.1 White Bouncy Castle und City of Abstracts Mit seinen Installationen im öffentlichen Raum entwirft Forsythe ein alternatives Modell der Verteilung von Handlungsmacht, das sich von den bereits beschriebenen Arbeiten unterscheidet. Die Installation White Bouncy Castle89, die bereits in Hinsicht auf ihr atmosphärisches Potential kurz beschrieben wurde, soll in diesem Zusammenhang noch einmal aus anderer Perspektive betrachtet werden. In dieser riesigen Hüpfburg, die an unterschiedlichen Orten im öffentlichen Raum aufgestellt wurde, wurden die Besucher zu Akteuren, indem sie die Lust an der Bewegung mit den anderen teilten und gemeinsam das Gefühl von spielerischer Freude, Leichtigkeit und unerwarteten Begegnungen erleben konnten. Das Gefühl, den festen Grund unter den Füßen zu verlieren, diesen Verlust jedoch nicht als solchen zu empfinden, sondern als spielerisches Austesten einer ungewohnten Bewegungsmöglichkeit, in der sie mit anderen interagieren, 87 |  Elizabeth Waterhouse: »Dancing Admidst The Forsythe Company. Space Enactment and Living Repertory«, in: Brandstetter/Wiens (Hg.): 2010, S. 153-181, hier S. 155. 88 | Ebd., S. 157. 89 | White Bouncy Castle, Installation von William Forsythe, Dana Caspersen und Joel Ryan, Hamburg: Deichtorhallen, 12. August–12. September 2010.

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Entwürfe und Gefüge mag zunächst sehr einfach erscheinen. Die Erfahrung des Spielerischen, Experimentellen enthebt den Besucher jeglichen Zeitgefühls. Im Spiel – mit den anderen – wird er sich seiner selbst bewusst, nicht nur durch die Erinnerung an die kindlich-spielerische Freude, sondern gerade auch im Moment des Teilens jener Situation, denn wie auch die anderen nehmen sie den Körper wieder als ihren eigenen Körper wahr, sie realisieren, wozu ihr Körper jenseits seiner kognitiven Fähigkeiten in der Lage ist. Die unterschiedlichen Bewegungsqualitäten des Hüpfens, des Springens, des Schwebens, des Sich-Erhebens werden hier für den Rezipienten selbst erfahrbar. »Tanz« als eine Bewegungskunst, die nicht zweckgerichtet ist, kann hier gerade in seiner Entbundenheit zum »Paradigma ›poietischer Prozesse‹ im Gegensatz zu gesellschaftlichen Handlungszwängen« werden.90 Wo Kunst und Spiel das Heraustreten aus zweckrationalen Zwängen und dabei die freie Selbstorientierung und eigene Regelhaftigkeit ermöglichen, betonen sie die Entwurfsqualität des Spiels.91 So schafft der Kunstrahmen einen konsequenzverminderten Raum, innerhalb dessen sich Erkenntnis- und Erfahrungsprozesse in ihrer Offenheit und Polyvalenz erweisen. Im interaktiven Regelspiel, im Entwerfen und in der Deutung bestimmter Konstellationen, wird das Spiel zu einem Medium, in dem sich eine gegen die zweckrationale Nutzbarkeit absetzende Vorstellung von Werden darstellt – es entsteht ein ›ZeitSpiel-Raum‹, der das Moment des experimentellen ›Zwischen‹ betont. Dabei ist das Spielerische hier im Rahmen einer aktivierenden Konzeption zu verstehen, die es ermöglicht, eine Kritikfähigkeit gegenüber der sozialen Ordnung der Alltagswelt zu mobilisieren. Die Architektur des White Bouncy Castle ist hier folglich nicht nur mit der Gummihülle des Kinderschlosses zu lokalisieren, sondern ist vielmehr als Prozessualität und Performanz, als Kunst der Organisation gemeinschaftlich auszuhandelnder Prozesse zu verstehen. In City of Abstracts92 werden die Bewegungen der Passanten von einer Kamera aufgenommen, und nachdem sie durch ein Computerprogramm bearbeitet wurden, das die Körper, teilweise wie für die choreographischen Arbeiten beschrieben, verzerrt, die Glieder verlängert, staucht oder verdreht, werden sie mit kurzer zeitlicher Verzögerung wieder auf einem Screen im Stadtraum projiziert. Die Betrachter versuchen auf ihre verzerrt ›gespiegelten‹ Bewegungen zu reagieren und gleichzeitig die eigenen mit den Bewegungen der anderen Passan 90 | Tanja Wetzel: »Spiel«, in: Karl-Heinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd.  5, Stuttgart: Metzler, 2010, S. 577-618, hier S. 608. 91 | Ebd., S. 578. 92 | City of Abstracts, Installation im Rahmen der Ausstellung Proliferation and Perfect Disorder, München: Pinakothek der Moderne, Mai 2006; ebenso besucht in Berlin: Potsdamer Platz, Innenhof des Sony Centers, im Rahmen des Tanzkongresses Wissen in Bewegung im April 2006.

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Abb. 5.3: William Forsythe: City of Abstracts, © Julian Gabriel Richter.

ten zu koordinieren. Ihre Bemühungen zeigen, wie schwer es ist, gleichzeitig in einem virtuellen und realen Raum zu agieren, und welch hohe Aufmerksamkeit für die anderen ›Mitspieler‹ es erfordert. Dabei werden sie zu Performern im öffentlichen Raum bzw. im Stadtraum, denn die Blicke der anderen Passanten sind ihnen sicher. So hatte City of Abstracts im institutionalisierten und geschützten Raum des Münchner Museums eine ganz andere Wirkung93 als im Stadt-Raum, wo der Betrachter gleichzeitig in einem realen Umfeld voller Widersprüche und in einem virtuellen Raum zu agieren hatte. Die visuelle Anordnung reißt ihn selbst aus den festgefahrenen Wahrnehmungsmustern einer alltäglichen Stadterfahrung, aber vor allem auch die umstehenden Passanten reagieren erstaunt, sobald die Betrachter anfangen sich in eigentümlichen Bewegungen denen des Videos anzupassen und Choreographien aufzuführen, die den gewöhnlichen Bewegungen im Stadtraum nicht entsprechen, ja ihnen gar widersprechen. Hier gewinnen die Bewegungen der einzelnen Akteure, die »Äußerungen der Passanten«, von denen de Certeau spricht, besondere Bedeutung. Wie er schreibt, entfalten die »Rhetoriken des Gehens«94 ihre Wirkung prozesshaft: »Die Spiele der Schritte« als Gestaltung von Räumen95 bilden Netze von Relationen zwischen den einzelnen Orten und ihren Eigenschaften. Das Gehen als Raum der Äußerung impliziert eine besondere Zeitlichkeit, die das Gegenwär 93 | Im Museum stand vielmehr der Aspekt des Displays im Vordergrund. 94 | De Certeau: 1988, S. 192. 95 | Ebd., S. 188.

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Entwürfe und Gefüge tige, Diskontinuierliche und Phatische96 verbindet, es spielt mit der Raumaufteilung und erzeugt Zweideutigkeit. So ist City of Abstracts zwar an einen Ort gebunden – dieser ist jedoch in einer spezifischen Korrespondenz von Bild und Stadtraum mehrdeutig angelegt, und so findet sich der Passant schnell zwischen der Rolle als Betrachter und Gestalter jener Situation. Aber auch ein anderer Aspekt wird bei den Aufführungen im Stadtraum stärker spürbar: Die Aufnahmen der Körper erinnern uns daran, wie oft wir täglich ohne es zu bemerken von Überwachungskameras gefilmt werden. Deren Technologie jedoch vernachlässigt den grundsätzlichen Aspekt, dass Bewegung an sich schwer wahrzunehmen ist.97 Aufgrund ihrer Flüchtigkeit wird sie zwangsläufig durch unsere eigenen Imaginationen ergänzt. So schwer es ist, eine einzelne Bewegung sofort und eindeutig zu ›lesen‹, umso komplexer gestaltet es sich, die kommunikativen Prozesse der Interaktion und die Bewegung von Gruppen, Schwärmen oder Massen zu lesen, zu interpretieren und einzuordnen.98 Darüber hinaus kann auch im Alltag eine Bewegung keineswegs einfach als Ausdruck einer bestimmten Intention interpretiert werden, vielmehr ist zu differenzieren zwischen habituellen Bewegungen und inszenatorischer Geübtheit, die gerade in der Interaktion gestört werden. Hinzu kommen die Zufälle, die der Bewegung von außen zustoßen – die notwendigen, sich daraus ergebenden Reaktionen spielen eine wesentliche Rolle, zwingen sie doch zu improvisatorischem Handeln und können damit auch an der Umstrukturierung der Umgebung beteiligt sein. Diese Aspekte werden in City of Abstracts offensichtlich. Doch fragt die Installation auch weiter danach, welche Körperbewegungen auf welche Transformationen eines Überwachungsapparates zurückzuführen sind. Wie haben wir unseren Körper und unsere Bewegungen nach der Produktion von Bildern, die mit dem Regime der Sichtbarkeit visueller Medien verknüpft sind, ausgerichtet? Welche Kontrollmechanismen haben wir längst internalisiert? Und wie wären diese Internalisierungen wiederum zu unterlaufen? Das »Regieren im Bildraum«99 setzt voraus, dass »[...] der kommunikative Gebrauch von Bildern und Bildlichkeit – das heißt: von einzelnen visuellen Produkten und von den Apparaten und Infrastrukturen, die die-

96 | Ebd., S. 192. 97 |  Die folgenden Überlegungen zu Performances im Stadtraum sind ausgeführt in einem nicht veröffentlichten Beitrag zum Festival play! Leipzig: Kirsten Maar: »The Production of Suspicious Bodies und die Choreographien des Öffentlichen«, Juli 2010. 98 | Vgl. dazu Gabriele Brandstetter/Kai van Eikels/Bettina Brandl-Risi (Hg.): Schwarm(E)motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg im Breisgau: Rombach, 2007. 99 | Vgl. Tom Holert: Regieren im Bildraum, Berlin: b_books, 2008.

Installationen choreographieren se erzeugen, auswählen, zusammenstellen und veröffentlichen – ein Raum politischen Handelns und Verhaltens ist. Die Umgebung formiert und informiert, aber ihre konstitutive Instabilität und Veränderlichkeit macht aus ihr auch einen Raum transformierender Kritik und Aktion. Der Bildraum ist unmittelbar in das Soziale eingelassen. Er bestimmt diesen entscheidend und wird von diesem bestimmt.«100

Wenn aber dieser »kommunikative Gebrauch von Bildlichkeit« einen »Raum politischen Handelns und Verhaltens« markiert, muss vorerst danach gefragt werden, welche Choreographien des Alltags, des öffentlichen Raumes innerhalb dieser medialen Geflechte hervorgebracht werden. Betrachtet man mit Henri Lefèbvre den Raum als soziales Produkt, als einen von Produktionsweisen und -verhältnissen abhängigen Prozess, innerhalb dessen Raumpraxis als Akt der Aneignung beschrieben wird, ergeben sich vielfältige mögliche Relationen.101 Lefèbvres triadische Dialektik der Raumbeschreibung, die den wahrgenommenen Raum (espace perçu), den konzipierten Raum (espace conçu) und den gelebten Raum (espace vécu) aufeinander bezieht, und damit impliziert, dass Raum erst durch die Handlungen in ihm hervorgebracht wird, macht deutlich, dass unsere Umwelt nicht nur durch die gebaute Architektur und ihre Technologien gestaltet wird; sie kann sowohl als gebaute Umgebung wie auch als performative Handlungsmacht bzw. als deren Wechselverhältnis wirksam werden; je nachdem, welche Begehren und Bedürfnisse sie produziert, welche Lücken sie lässt, schafft sie Freiräume, die handlungsermächtigend wirken.102

4.2 Publikum und situatives Handeln Im Stadtraum sind die Formen der Auseinandersetzung von Akteuren und Zuschauern sowohl durch die Architektur als auch durch die performativen Äu-

100 | Ebd., S. 17, Herv. im Original. 101 | Henri Lefèbvre: La production de l’espace, Paris: Éd. Anthropos, 1974. Die räumliche Praxis (pratique spatiale) entspricht dem wahrgenommenen Raum (espace perçu) und umfasst Produktion und Reproduktion; sie ist bestimmt durch Kompetenz und Performanz und stellt so eine bestimmte Kontinuität her. Die Raumrepräsentationen (représentations de l’espace) entsprechen dem konzipierten Raum (espace conçu); sie beschreiben eine Ordnung, die sich aus den Produktionsverhältnissen ergibt. Die Repräsentationsräume (espaces de représentation) entsprechen dem gelebten Raum (espace vécu); sie umfassen bestimmte Symbolisierungen und verweisen somit auf die Sphäre der Kunst. 102 | Vgl. auch Ludger Schwarte: Philosophie der Architektur, München: Fink, 2009.

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Entwürfe und Gefüge ßerungen gewährleistet.103 Der internalisierte Blick eines sichtbar-unsichtbaren Publikums schafft disziplinierende Regeln, wie man sich im öffentlichen Raum zu verhalten hat. Aus diesen entwickeln sich die Verfestigungen bestimmter Abläufe, die jedoch immer wieder neu verhandelt werden können. Die Aufteilung dieser Räume bestimmt Modi der Teilhabe und möglicher Aktion,104 wie sie das Theater als »Schauraum« verhandelt.105 Nicht umsonst umfasste das antike theatron mehr Plätze als es stimmfähige Bürger gab. Auch Frauen, Sklaven und Fremde waren hier eingeschlossen und partizipierten an den gesellschaftlichen Prozessen – es stellte somit einen Ort der Öffentlichkeit und der Teilhabe dar, an dem andere Regeln galten als in der polis – bzw. an dem diese erst erprobt oder neu bestimmt werden konnten.106 Als Ort, an dem das Publikum sich seiner selbst bewusst wird, an dem es sich selbst aufführt und (Geschmacks-)Urteile bildet, stellt das Theater eine Ansammlung als mögliche Versammlung dar, in der Akteure und Zuschauer gegenseitig aufeinander bezogen sind. Aber nicht nur die spezifische Theaterarchitektur bietet diese Möglichkeit der Auseinandersetzung und der Urteilsbildung, sondern ebenso sind die städtischen Plätze als Orte des Öffentlichen geeignet jenen Prozessen der Auseinandersetzung eine Bühne zu eröffnen. Zu fragen ist vielmehr, inwiefern das Theater oder die theatrale Situation im öffentlichen Raum tatsächlich als Gegenorte funktionieren, wie es Foucault in seinem HeterotopienAufsatz unterstreicht. Hier ist die Differenzierung zwischen Ort und Raum entscheidend, die Michel de Certeau in seiner Kunst des Handelns vornimmt: Sie setzt unter handlungsperspektivischen Vorzeichen und zunächst fern des Kunstraumes an: Während sich der Ort aus Konstellationen von festen Punkten zusammensetzt, ist der Raum »ein Ort, mit dem man etwas macht, ein Geflecht von bewegli 103 | Mit der Überwachungstechnologie wird wiederum ein Schnitt, eine Trennung vollzogen, die beide Parteien wieder voneinander isoliert. Der Betrachter verschwindet hinter der Apparatur – nicht ohne dass jedoch die Situation des Sehens und Gesehen-Werdens als solche – nur durch die mediale Vorrichtung gedoppelt – bestehen bliebe. 104 | Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. v. Maria Muhle, Berlin: b_books, 2006. Ludger Schwarte macht darauf aufmerksam, dass die Konstituierung eines öffentlichen Raumes jedoch auch ihrer Gegenorte bedarf – den Orten des Privaten, Heimlichen, Abgeschlossenen, an denen das zu Verhandelnde sich erst herausbildet; Schwarte: 2009, S. 147ff. 105 | Helmar Schramm: »Schauraum – Datenraum«, in: ders. u.a. (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin: Dahlem Univ. Press, 2003, S. 9-27. 106 | Schwarte: 2009, S. 149ff., insbes. S. 151f.

Installationen choreographieren chen Elementen«.107 De Certeaus Konzept ist nur unter den Prämissen einer Raumwissenschaft, wie sie bei Michel Foucault entfaltet wird, denkbar – in der Spannung von Macht-Dispositiven, die dennoch oder gerade subversive Handlung möglich machen. Gegenüber einer visuellen Aufteilung des Ortes, welche durch (architektonische) Planung, Programmierung, Vermessung und Aufzeichnung ermöglicht wird (so bei Foucault), kann der körperlich, in der Bewegung erfahrene Raum der potentiellen Machtausübung entgehen und das Raster, mittels dessen der Raum strategisch gegliedert wird, unterlaufen. Indem de Certeau Taktiken statt Strategien, Handlungen des Sich-Verirrens, ja fast schon der situationistischen dérive vorschlägt (er spricht vom Stadtraum, »den sie [die Passanten, KM] schreiben, ohne ihn lesen zu können, diese Stadtbenutzer spielen mit unsichtbaren Räumen, in denen sie sich ebenso blind auskennen, wie sich die Körper von Liebenden verstehen«108), wird das Verhältnis von Körperbewegung und Stadtraum zu einem offenen Entwurf. Jene situativ gebundenen Navigationsverfahren, welche Unbestimmtheit und Desorientierung mit einschließen, charakterisieren Handlungen als einzigartig, vielgestaltig und erweisen sich gegenüber vorgezeichneten Spuren, Gebrauchsweisen und Codes als resistent und subversiv gestalterisch. Als Prozesse der Aneignung und Transformation stellen sie schließlich eine Verhandelbarkeit erst her, in der die jeweiligen Rahmungen von Interaktion differenziert werden können. Dieser Umgang mit Situationen, in denen das Sich-Verirren, die Desorientierung im Umgang mit etwas Unerwartetem zum konstitutiven Moment einer Erfahrung wird, öffnet eine Sichtweise, die für choreographische Verfahren, die wie Forsythes Arbeiten auf einer regelbasierten Improvisation, d.h. auf der Basis von scores oder tasks beruhen, wesentlich sind. Das Potential der choreographic objects, ein choreographisches Denken auf andere Felder auszudehnen und zu übertragen, ist dabei von der jeweiligen Konstellation abhängig. Wie die unterschiedlichen – verhaltenen oder enthusiastischen – Reaktionen auf die projizierten Screenbilder in City of Abstracts deutlich vorführten, setzt sich diese nicht nur aus der Projektion und der räumlichen Anordnung zusammen, son 107 | De Certeau: 1988, S. 218. Heidegger wie auch de Certeau beschreiben eine relationale Struktur der Beziehungen, die innerhalb des Raumes gestiftet werden. Jedoch setzt de Certeau jene Bewegungen in der Alltagserfahrung und ihrer subversiven Umordnung an, während Heidegger explizit den ästhetischen Kontext betrachtet und die ontologische Frage nach dem Wahrheitsbezug der Kunst stellt. Damit ist implizit ein je unterschiedliches Verständnis einer Politik oder Ethik des Kunstwerks gegeben. Bei Heidegger wird die Kontextabhängigkeit im Streit zwischen Erde und Welt beschrieben, in der stets sich erneuernden Sinnzuschreibung, bei de Certeau ist die Bezugnahme auf ein Außerästhetisches an das Alltagswissen gebunden, sie entkräftet darüber den Autonomiegedanken. 108 | Ebd., S. 182.

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Entwürfe und Gefüge dern vor allem auch aus der spezifischen Mentalität des jeweiligen kulturellen Kontextes in Nord- oder Süd-Europa, den USA, oder asiatischen Megacities, wo die Arbeit bislang gezeigt wurde. Dabei ist das Verhältnis von Kunst und öffentlichem Raum, Performance und spezifischem Ort durchaus kritisch zu betrachten: Die Kunsthistorikerin Miwon Kwon beschreibt einen dreiteiligen Wandlungsprozess im Verhältnis von site-specifity und criticality.109 Während die Anfänge ortsspezifischer Kunst den realen Ort und die Erfahrung des Hier und Jetzt in den Vordergrund stellten110 und damit bereits die Konventionen institutioneller Kunst und ihrer Ausstellungsnormen herausforderten,111 wurde mit der Proklamierung einer DeMaterialisierung des Kunstobjektes (Lucy Lippard) und im Zuge der Institutionskritik der Ort nicht mehr räumlich strukturiert, sondern als Möglichkeit betrachtet, verschiedene institutionelle oder soziale Fragestellungen zu verhandeln. Eine weitere Verschiebung lässt sich mit der zunehmenden Diskursivierung der Kunst markieren, die in der engen Verbindung von Kunst und Theorie das Kunstwerk erst entstehen lässt. Der ›Ort des Kunstwerks‹ ist somit keine Voraussetzung mehr, sondern wird durch die jeweilige künstlerische Arbeit erst hergestellt. Aus diesem Grund wird der künstlerische oder kuratorische Kommentar zum Kunstwerk immer wichtiger. Die Erläuterung des Diskurses, auf den Bezug genommen wird, und die Beziehung des Künstlers zu dem spezifischen Ort, er selbst und dessen Präsenz, verleihen dem Kunstwerk die notwendige Authentizität. Damit ist die Beziehung zum Kunstwerk nun nicht mehr räumlich strukturiert, sondern vielmehr intertextuell, durch verschiedene aktuelle Diskurse determiniert. Von einem phänomenologischen zu einem sozial und institutionskritisch hin zu einem diskursiv geprägten Verständnis wird somit die öffentliche Rolle der Kunst je neu definiert. Doch im Zuge von Gentrifizierungsprozessen wird Kunst im öffentlichen Raum inzwischen vielfach als Aufwertung städtischer Identität und kulturellen Kapitals im Rahmen eines erfolgreichen Stadtmarketings gefördert. In einem so undefinierten Raum, in dem die Zuordnungen verschwimmen, wird es zunehmend schwieriger, eine kritische Position zur Geschichte oder zur Entwicklung eines bestimmten Ortes in der Stadt zu beziehen, sich auf sie einzulassen, 109 | Vgl. Kwon: 2000. 110 |  Diese Verschiebungen sind vor allem vor dem Hintergrund der Entwicklung von der Minimal Art zur Conceptual Art zu verstehen. 111 |  Wie es insbesondere von Robert Smithson in der Unterscheidung von site, als dem spezifischen Ort und non-site (Galerie oder Kunst-Raum) akzentuiert wurde – eine Definition, die dazu beitrug, die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst mehr und mehr verschwimmen zu lassen; vgl. hierzu auch Kwon: 2000.

Installationen choreographieren denn die heterotopen Qualitäten eines Ortes werden – so kritisieren es beispielsweise Frederic Jameson oder Hal Foster – von konsumistischer Bildpraxis durchdrungen. Jedoch ist diesem Faktum nicht mit Entzug und Negation allein zu begegnen. So kann ein subversiver und produktiver Umgang nicht nur in einer Haltung liegen, die sich dem Massenkonsum und dessen Kopplung mit den Maschinerien der Bildlichkeit verweigern möchte. Nicht nur aus der bloßen Distanzierung, sondern gerade im Involviert-Sein, einer Position zwischen der Immersion und distanzierender Reflexion, lässt sich eine Ästhetik der Kritik112 entwickeln, die den Stadtraum wieder zum öffentlichen Raum der Auseinandersetzung werden lässt. Wenn also der Choreograph im Stadtraum operiert, ist zu fragen, inwiefern die choreographischen Installationen oder Interventionen andere Erfahrungen und Situationen als die bildenden Künste ermöglichen. Von der objektzentrierten Kunst im öffentlichen Raum über flüchtige Prozesse und Ereignisse, in denen Kunst als öffentlicher Raum benutzt wird, bis hin zu einer Kunst, die im öffentlichen Interesse partizipatorische Projekte als Ersatz für angemessene Sozialpolitik nimmt, ist seit den 1960er-Jahren und vor allem mit Bourriauds relational aesthetics eine zunehmende Einbeziehung und Aktivierung des Betrachters113 und eine (scheinbare) Demokratisierung der Kunst intendiert.114 Wenn jedoch die Positionen von Darstellern und Zuschauern, von Schauen und Handeln nicht mehr getrennt, sondern alle Beteiligten zu einer Gemeinschaft von Teilnehmern werden, wird eine Distanzierung für den Einzelnen zu einer größeren Herausforderung. Dennoch machen die potentiellen Ereignisse solch situativer Anordnungen bestimmte Formen der Auseinandersetzung notwendig und befördern so den Dialog, der allerdings keineswegs zwingend in einem konsensuellen Einverständnis münden muss.115 Die politische Funktion der 112 | Vgl. Jörg Huber/Philipp Stoellger/Gesa Ziemer/Simon Zumsteg (Hg.): Ästhetik der Kritik. Oder: Verdeckte Ermittlung, Zürich: Voldemeer/Wien: Springer, 2007. 113 | In dieser Hinsicht kann insgesamt von einer Theatralisierung auch der anderen Künste gesprochen werden. 114 | Diese verfolgt jedoch ein bestimmtes pädagogisches Programm. 115 | In Anlehnung an Oliver Marchart: »Kunst, Raum und Öffentlichkeiten. Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie, 1999, unter: http://eipcp.net/transversal/0102/marchart/de (letzter Zugriff: 18.11.2018) geht auch dieser Text nicht von einem konsensuellen Verständnis von Demokratie aus, wie es Jürgen Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 beschreibt, das die (diskursive) kommunikative Vernunft zu seinem Maß macht, sondern eher von einem Modell, wie es Ernesto Laclau und Chantal Mouffe beschreiben, das dort

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Entwürfe und Gefüge Kunst, so Sandra Umathum, wäre somit nicht darauf zu reduzieren, dass sie auf die »defizitäre Struktur von Kommunikationszonen im urbanen Raum hinweist oder ihre kritische Distanz aufgibt und nicht mehr Abstand hält zur gesellschaftlichen Arbeit«.116 Kunst sei nicht dann politisch, wenn sie versuche zu kompensieren und eine Ersatzfunktion übernehme. So führt auch Umathum Bernhard Waldenfels’ diastatisches Moment ein, in dem das, »was unterschieden wird, erst entsteht«.117 Die politische Dimension solch situativer Arbeiten liege demnach nicht allein darin, »dass sie zu einem Handeln einladen, welches nicht Selbstzweck ist, und sich nicht in sich selbst erschöpft«. Indem der Rezipient selbst als »Erfahrungsgestalter auftritt«, liege die politische Dimension vielmehr darin, was durch dieses Handeln hervorgerufen oder erfahrbar wird: dass diese Zusammenhänge Erfahrungen ermöglichen, welche das eigene Tun und Handeln infrage stellen.118 Die Herstellung einer zu verhandelnden Situation kann durch spielerische Taktiken, durch das Sich-Einlassen auf das Unvorhersehbare bestehende, machtvolle Strategien der Raumplanungspolitik unterlaufen, die traditionell auf statischen Architekturen, auf strategischer Planung als Akt der Vermessung und der Kontrolle beruhen. Hierbei sind die Bewegungen der einzelnen Akteure von besonderer Bedeutung. Wie eingangs beschrieben, schafft die Tatsache, dass Bewegungen schwer wahrnehmbar und einzuordnen sind, eine besondere Ambivalenz. Sie schaffen mannigfaltige Möglichkeiten, die ihrer Aktualisierungen harren. Damit wird nicht ein Raum, sondern Räumlichkeit geschaffen, wobei die Flüchtigkeit der Bewegung die Verzeitlichung des Raums befördert. Damit wird im Gegeneinander von gebauter Umwelt und performativen Handlungsvollzügen eine Architektur geschaffen, die den Entwurf nicht als eine abgeschlossene Lösung versteht, sondern als ein Problem formuliert, das von den Nutzern in Auseinandersetzung erst gelöst werden muss – und so Öffentlichkeit immer wieder neu hergestellt wird.

ansetzt, wo der Konsens zusammenbricht, in: Hegemonie und radikale Demokratie, Wien: Passagen, 1991; sowie Chantal Mouffe: The Return of the Political, London / NewYork (NY): Verso 1993, beide zitiert in Marchart. 116 | Umathum: 2010, S. 70. 117 | Ebd., S. 71. 118 | Ebd.

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5 Architektur als »Planung des Unvorhersehbaren« 119 5.1 Choreographien des Alltäglichen Die Eingangshalle des Frankfurter Theaters am Turm ist in dicken Filz gehüllt, alle Konturen, Kanten und Ecken verschwinden unter dem weichen grauen Material. Während eines begrenzten Zeitraumes hatten der Architekt Nikolaus Hirsch und William Forsythe das Foyer zu einem öffentlichen Raum umgestaltet:120 Als Treffpunkt und Spielplatz stand die Halle, die sonst nur für die Vorstellungen geöffnet wurde, auch während des Tages Nachbarn, Anwohnern, Kindern zur Verfügung. Sie konnten darin entspannen, spielen, diskutieren, es gab nachbarschaftlich initiierte Projekte – und dieser Raum wurde bereitwillig angenommen und genutzt. Die Raummodule aus Filz schaffen einen weichen Raum, was Einfluss auf Positionen und Haltungen hat, die so viel mehr auf den Boden hin orientiert, statt wie sonst üblich durch Wände strukturiert sind.121 Durch die Qualität des Materials ergeben sich Möglichkeiten der Umformung und steten Neuanordnung, sodass formale und informale Räume in ihrer Größe veränderlich sind, d.h. sie können proportional schrumpfen und expandieren, entsprechend der kinesphärischen Motilität sich verwandeln und anpassen. Ziel war es, so Hirsch und Forsythe, »räumliche Proportionen und Größen zu entwickeln, die nicht spezifische Positionen determinieren, sondern unvorhersehbare Körperhaltungen erlauben.«122 Die Nutzer sollten ihren Körper nicht in Bezug auf die Situation, sondern umgekehrt die Situation in Bezug auf ihren Körper arrangieren und verändern.123 Ausgehend von den Fragen: Was ist ein Körper im öffentlichen Raum? Und was könnte ein Körper in einem kaum definierten Raum sein,124 geht es jenen Neukonfigurationen, innerhalb derer Architektur als Pro-

119 | Nikolaus Hirsch: »Die Planung des Unvorhersehbaren«, in: ders.: On Boundaries, hg. v. April Lamm, Berlin/New York (NY): Lukas & Sternberg, 2007, S. 173-184. 120 | Der Umbau des Bockenheimer Depots wurde von Nikolaus Hirsch und Michael Müller in Zusammenarbeit mit William Forsythe im Herbst 2003 gestaltet. 121 | Ebd., S. 173. 122 | Ebd., S. 174. 123 | Ebd. 124 |  Ebd., S. 175.

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Entwürfe und Gefüge zess verstanden wird, darum, Möglichkeiten für Nutzer zu entwerfen, einen nicht-standardisierten Raum zu schaffen.125 Wie jede Choreographie eine Reihe von Regeln und Parametern der Bewegung entwirft, den ›Raum schreibt‹, so stellt auch die Architektur des Raumes solche latenten Vorgaben bereit. Sie legen mögliche Aktualisierungen von Bewegung an, wobei jedoch offen bleibt, welche der Möglichkeiten schließlich aktualisiert wird. Dies ist eine besondere Eigenschaft des Entwurfs, kann es doch keinesfalls als selbstverständlich gefasst werden, dass dieser hinter der Form zurücktritt – oder wie Hirsch es ausdrückt: »[w]ie etwas, das wir geplant haben, die Fähigkeit hat, als Design zu verschwinden«,126 wie »ein Oszillieren zwischen etwas Geplantem und etwas sich Entwickelndem« entsteht127 – oder wie sich ein beweglicher Raum entwerfen lässt. Welche Konsequenzen dies für die Nutzer hat, beschreibt Forsythe im Gespräch mit Hirsch als Arbeit »an einem Zustand, der zwischen Determiniertheit und Indeterminiertheit oszilliert.«128 Jene unvorhersehbaren Konfigurationen, die sich je nach Interaktion verschieben und neu gestalten lassen, bilden eine Architektur, die nicht lediglich nach der gestalteten Struktur entsteht, sondern ebenso von den choreographischen Arrangements und einem körperlichen (Alltags-)Wissen inspiriert ist. In der Aufsprengung der gegebenen Räumlichkeiten wird das Verhältnis von Bühnenraum und Zuschauerraum neu erprobt. Sowohl jene Räume als auch die Choreographien, die sie hervorbringen, schaffen eine »Aufteilung des Sinnlichen«.129 Was die Sphäre des Einzelnen in diesen Konstellationen ausmacht, lässt sich nur in Verhandlungen mit den Raummodulen und den anderen Besuchern herausfinden.

125 |  Ebd., S. 174. 126 |  Ebd., S. 177. 127 | Ebd. 128 |  Ebd., S. 173. 129 |  Vgl. Rancière: 2006, S. 25: »›Aufteilung des Sinnlichen‹ nenne ich jenes System sinnlicher Evidenzen, das zugleich die Existenz eines Gemeinsamen aufzeigt wie auch die Unterteilungen, durch die innerhalb des Gemeinsamen die jeweiligen Orte und Anteile bestimmt werden. Eine Aufteilung des Sinnlichen legt sowohl ein Gemeinsames, das geteilt wird, fest als auch Teile, die exklusiv bleiben.«

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5.2 Architektur als Modell »The model acquires the status of an installation, always on the edge, between a decontextualized speculation and a political inhabitation.«130

Nikolaus Hirsch befragt mit seiner Arbeit immer wieder die Grenzen architektonischen Arbeitens, so z.B auch im Rahmen kuratorischer Projekte wie unitednationsplaza oder European Kunsthalle. Architektur wird dabei als theoretisches Modell einerseits und real gebauter Umgebung andererseits verstanden. Als Gedankengebäude, als Konzept, als tragende Struktur und als physischer Raum für das Sich-Entwickelnde wirkt sie mit an der Form des Institution-Building, das einen Rahmen für weitere Projekte markiert: »Dabei ist der Begriff der Kulturproduktion essentiell. Die Produktion, das Ausstellen und Archivieren von Bilderbibliotheken, Texten, Weblogs und akustischem Material wird nicht von der Struktur des Gebäudes getrennt. Das Gebäude ist Display.«131 Mit dem Cybermohalla Hub, das Hirsch auf eine Initiative des SARAI-Instituts innerhalb eines kollaborativen Projekts in New-Delhi entwickelte (Abb. 5.4), lässt sich ein weiteres Projekt beschreiben, welches Konzepte des Öffentlichen verhandelt.132 Ausgehend vom Begriff Mohalla, der in Hindi und Urdu als Bezeichnung für ein nachbarschaftliches Verhältnis steht und als eine Art offenes Netzwerk funktioniert, fragt Hirsch danach, wie die Institution zum Medium der Arbeit werden kann. Die Bedeutung von Mohalla »in its sense of alleys and corners, of relatedness and concreteness as a means for talking about one’s place in the city«133 bietet Anlass diese Beziehungsbildungen zu erforschen. Innerhalb eines kollaborativen Workshops entwickelten Nikolaus Hirsch und Michel Müller sowie die weiteren am Projekt Beteiligten das Cybermohalla Hub, einen kleinen, drei mal sechs Meter großen Raum aus unterschiedlich großen hölzernen Regalsystemen, die ineinander verschachtelt verschiedene Funktionen erfüllen sollten: Als Modell sollte das Konstrukt die verschiedenen 130 | Nikolaus Hirsch: »Model Worlds«, in: Monika Szewczyk (Hg.): Meaning Liam Gillick, Cambridge (MA): MIT Press, 2009, S. 132-146, hier S. 143. 131 | »United Nations Plaza: Wissen bauen – Markus Miessen im Gespräch mit Nikolaus Hirsch«, in: Hirsch: 2007, S. 205-215, hier S. 214. 132 | Cybermohalla selbst wurde als Netzwerk von fünf in Delhi situierten Institutionen initiiert, zu denen unter anderen die NGO Ankur – Alternatives in Education und das SARAI Media Lab gehörten, das sich mit Medienfragen im Kontext zeitgenössischer Urbanismusforschung auseinandersetzt. 133 | Unter: http://sarai.net/category/projects/cybermohalla/ (letzter Zugriff am 20. August 2018); sowie unter: http://www.sternberg-press.com/index. php?pageId=1363&l=en&bookId=258 (letzter Zugriff: 20.08.2018).

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Entwürfe und Gefüge

Abb. 5.4: Nikolaus Hirsch/Michel Müller: Cybermohalla-Hub, Delhi.

Aufgaben des kollaborativen Projekts, das zugleich Schule, Archiv, Galerie und Gemeinschaftszentrum war, vermitteln. Die Konstruktion stand ähnlich wie das umfunktionierte Bockenheimer Depot für das in den verschiedenen Workshops sich entwickelnde Hybrid aus Schule, Archiv, Galerie und Gemeinschaftszentrum. Wie Spielzeug funktionierten diese Einzelteile in einem Spiel der ReKombinationen. Die Idee des nachbarschaftlichen Gefüges wurde so von einem räumlichen Arrangement architektonischer Elemente und Objekte auf eine soziale Dimension übertragbar. Es eröffnete unendliche Möglichkeiten, die sich im Gebrauch entfalten. Die Regalwand wird zur Zwischen- oder Übergangszone, in der alle Aktivitäten verhandelt werden müssen. Sowohl von innen als auch von außen gehen Elemente und Raumfunktionen, die für gewöhnlich explizit voneinander getrennt werden, beständig ineinander über. Elemente der Innenausstattung werden nicht als zusätzliche räumliche Elemente eingefügt, sondern sind direkt integriert und erinnern im Umgang mit den Phasenübergängen, wie bereits die Umgestaltung des TAT-Foyers, stark an Friedrich Kieslers Idee des Endless House und dessen Idee des Korrealismus, die für zahlreiche Kuratoren im Zusammenhang instituitonskritischer Ausstellungspraxis erneut an Bedeutung

Installationen choreographieren gewinnt.134 Zwar sind es hier keine organischen Formen, die ineinander zu verschwimmen scheinen, sondern variable einzelne Teile, die jedoch weit mehr als jene Rundungen, die sich in der computer-generierten Architektur finden, den Vorteil haben, dass sie als solche erkannt und benutzt werden können. Die so entstehenden Nachbarschaften entsprechen einem Konzept der Falte, indem hier Innen und Außen als reversible Elemente behandelt werden und indem das Modell vieles impliziert sowie schließlich Komplizenschaften ermöglicht.135 Damit wird anschaulich, dass die Bestimmung der Raumfunktionen niemals abgeschlossen ist, sondern es stattdessen notwendig wird, alle möglichen Aktivitäten zu verhandeln. Die Idee eines nachbarschaftlichen Gefüges wird so von einer räumlichen Anordnung auf die soziale Dimension – den Prozess der Verhandlung zwischen den Nutzern – übertragen. Die damit erst entstehende Institution wächst mit der Produktion von Texten, Dokumenten, Videos und Objekten: Mit jedem Regal ändert sich die Struktur des Display-Systems; je nachdem was hier in Nachbarschaft gebracht wird, ergeben sich neue Zusammenhänge, wird die Konstellation anders lesbar.136 Als ein Modell für Prozesse, die sich auf institutioneller Ebene abspielen, aber noch im Entwurf befindlich sind, schafft das Cybermohalla Hub ein nachbarschaftliches Gefüge, das endlose Re-Kombinationen ermöglicht und sich damit immer 134 | Insbesondere wird Kiesler in diesem Feld aber auch in Bezug auf seine vielfältigen Ausstellungsgestaltungen herangezogen, in denen er die Entwicklung damals neuer Displaystrukturen erprobte und in denen performative Aspekte eine wichtige Rolle spielten. So trugen flexible frei schwebende Konstruktionen dazu bei, die Besucher durch die Ausstellung zu choreographieren und bisherige Ausstellungserfahrungen zu relativieren. Für die Gestaltung der legendären Ausstellung Art of This Century (1942), mit der ihn Peggy Guggenheim beauftragt hatte, ließ er in der Surrealistischen Galerie die Bilder scheinbar frei im Raum schweben, für die Abstrakte Galerie entwickelte er ein System von verspannten Raumelementen sowie die Kinetische Galerie, in denen Marcel Duchamp und Paul Klee mittels speziell entwickelter Betrachtungsapparate erfahren werden konnten. Vgl. dazu das Kapitel »Autonomic Vision: The Galleries«, in: Stephen J. Philips: Elastic Architecture. Frederick Kiesler and Design Research in the First Age of Robototic Culture, Cambridge (MA): MIT-Press, 2017, S. 165-214. 135 | Vgl. hierzu Kap. 1.6.1. sowie Rajchman: 1995. Gesa Ziemer beschreibt mit der Idee der Komplizenschaft kurzfristige Interessensgemeinschaften, vgl. Ziemer: 2007, S. 75-81. 136 | Ich kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf die institutionelle Dimension des Projektes, die Form des Institution-Building via Internet eingehen. Vgl. dazu: Nikolaus Hirsch/Shveta Sarda (Hg.): Cybermohalla Hub, Berlin/ NewYork (NY): Sternberg, 2012, oder unter: http://sarai.net/category/projects/ cybermohalla.

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Entwürfe und Gefüge wieder neu erfinden kann. Insofern stellt das Mohalla Hub kein stabiles Gebäude dar, sondern es stellt Situationen her. Dass diese Anordnung ebenso gut als »choreographical encounter« beschrieben werden könnte, lässt sich mit Hirschs Kommentar zur Umgestaltung des TAT-Foyers auch für das Mohalla Hub behaupten. Es beinhaltet die von Foucault benannten Qualitäten der Heterotopie (Öffnung und Schließung, Aspekte der Heterochronie, die Möglichkeit der Unfunktionierung aufgrund kultureller Rahmungen, die binäre Bestimmung) und funktioniert sehr wohl im Sinne Marcharts als Gegenöffentlichkeit. Hier wird deutlich, inwieweit Choreographie und Architektur die Kapazität teilen, utopische und heterotopische (aber im Zweifelsfall auch dystopische) Räume herzustellen, in denen nicht nur bestimmte Situationen geteilt werden, sondern die darüber hinaus auch soziale Interaktionen ermöglichen (je nachdem wie die raum-zeitlichen Vorgaben gesetzt und transformiert werden). Ähnlich wie in Forsythes Arbeiten Regeln und Aufgaben eine zentrale Rolle spielen, sind auch die architektonischen Elemente in diesen Konstellationen nicht statisch, sondern sie entwickeln den Status von Vorschlägen, welche die Umgebung, die sie konstituieren, gleichzeitig erst herstellen. Sie dienen als ›Modelle möglicher Übergänge in andere Zustände‹, indem sie die jeweilige Situation verändern. Mittels dieser Verschiebungen organisieren sie den Raum und schaffen, wie bereits die Umgestaltung des TAT-Foyers, eine Struktur der Teilhabe, die jedoch nicht zur Partizipation zwingt. In verschiedener Hinsicht stellt ihr Zusammenspiel eine architektonische Struktur her, die wiederum zu improvisatorischem Handeln auffordert. Indem eine alternative Konzeption von Architektur als performatives Modell Räume potentieller Handlungsmacht eröffnet, werden herkömmliche Strategien der Ordnung infrage gestellt. Hier wird deutlich, dass ein architektonisches Arrangement oder Gefüge, wie es am Beispiel der Arbeiten von Nikolaus Hirsch beschrieben wurde, als ein öffentlicher Raum nie allein Produkt der Planung eines Architekten sein kann, sondern aus kollektiven Interaktionen hervorgeht. Dies beinhaltet auch jene Antagonismen miteinzubeziehen, die nicht an der identitätsstiftenden Konsensbildung oder Gemeinschaftsbildung orientiert sind, sondern an der konfliktiven Auseinandersetzung. Dass diese jedoch nicht nur über den diskursiven Austausch von sprachlich verfassten Argumenten, sondern auch in anderen Formen der Entäußerung und ›Veröffentlichung‹ der Teilhabenden statthat, wird in vielen Öffentlichkeitstheorien vernachlässigt.137 So ist z.B. Kritik als Funktion der Öffentlichkeit bei Jürgen Habermas an sprachliche Äußerungen 137 | So z.B. bei Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990.

Installationen choreographieren gebunden, die bestimmte Sachverhalte des Öffentlichen zur Diskussion stellen. Damit bestimmt er zwar Regeln der Zugänglichkeit, übersieht jedoch, dass ein großer Teil gerade durch architektonische Entwürfe, körperliche Praktiken und andere machtvolle Formen des Ausdrucks oder der Mitteilbarkeit Verhandlungen generiert, die im Unsagbaren verbleiben. Die Regime des Sichtbaren und Sagbaren sind keinesfalls deckungsgleich, sondern produzieren je eigene Ein- und Ausschlüsse. Die Akte der ›Veröffentlichung‹ haben ihre Aufgabe darin, diese Öffnungen und Schließungen beweglich zu halten und dadurch Verschiebungen eines gesellschaftlichen Gefüges zu ermöglichen – wobei das Verhältnis von Akteuren, Medien und Räumen durchaus von bestimmten architektonischen Gestaltungen und Eingriffen abhängig ist138 und darüber hinaus der Raum selbst ein Akteur ist, der Öffentlichkeit ins Spiel bringt.139 Wo das Öffentliche bestimmte Formalisierungen seiner performativen Aufführung erhält – beispielsweise durch Rhythmisierungen, Prozesse der Individuation oder Separation etc. – lässt sich dieses demonstrative Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewegung und Sprache als Theatralität beschreiben.140 Entsprechend bezeichnet die Theatrokratie nicht die (pseudo-) demokratische Struktur der politischen Sphäre, sondern die Öffentlichkeitsherrschaft, in welcher das Publikum sich selbst ermächtigt und Regeln und Gesetze als veränderbar begreift. Öffentlichkeit wird hier als das der Demokratie inbegriffene Pendant zur politischen Sphäre begriffen.141 Zu fragen bleibt, ob die Öffentlichkeit ein Teil der Allgemeinheit ist,142 ob sie, wie es das griechische theatron vorsieht, als Versammlung von Menschen wie auch als Ort der Versammlung die 138 | Schwarte: 2009, S. 149. 139 | Ebd., S. 150. 140 | Helmar Schramm: »Theatralität«, in: Karl-Heinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6, Stuttgart: Metzler, 2005, S. 48-73. 141 |  Christoph Menke: »›Ästhetisierung‹. Zur Einleitung«, in: Ilka Brombach/Dirk Setton/Cornelia Temesvari (Hg.): »Ästhetisierung«. Grenzgänge des Ästhetischen in Politik, Religion und Erkenntnis, Berlin/Zürich: diaphanes, 2010, S. 17-22. 142 | Die Allgemeinheit ist nicht mit einer geschlossenen Gemeinschaft gleichzusetzen (vgl. Kapitel 4, Human Writes). Ebenso ist das Öffentliche streng vom Gemeinsamen abzugrenzen. Schwarte kritisiert hier das Habermas’sche Öffentlichkeitsmodell, das genau diese beiden Termini engführt, siehe Schwarte: 2009, S.150. Die Idee des choros ist allein nicht ausreichend, einen Ort der Verhandlung zu beschreiben, eher repräsentiert sie den Platz eines kulturellen Rituals, das dazu beitragen mag, einen gemeinschaftlichen Sinn zu entwickeln, die Beteiligten in einem Kollektivkörper aufgehen zu lassen, es also gerade die antagonistischen Tendenzen verwischt.

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Entwürfe und Gefüge Verschränkung von menschlicher Interaktion und Raum auch des Einzelnen gewährleisten kann. Mit der Anlehnung an einen Leitsatz des amerikanischen Präsidenten Dwight Eisenhower, »[p]lans are nothing, planning is everything«, stellt sich Nikolaus Hirsch in die Tradition der Architektur als einer Kunst (bzw. eines spezifischen Handwerks, das bestimmte Techniken beinhaltet), die daraufhin angelegt ist, Zukunft zu prognostizieren und damit auch zu kontrollieren.143 In der Architektur, die als Chiffre für das Entwerfen von Weltmodellen steht, gehe es insofern weniger darum, ein bestimmtes Objekt zu entwerfen, sondern die Verbindungen zwischen räumlicher und sozialer Ordnung, das Wissen um die räumliche Organisation fortzuschreiben und weiterzuentwickeln. Jedoch ist Architektur ein langsames Medium: Zwischen Planung und Fertigstellung vergehen meist Jahre – wobei die Kohärenz innerhalb dieses Planungsprozesses gewahrt bleiben muss. Zwischen der Idee und der Repräsentation liegen Prozesse der Modifikation und Übersetzung, innerhalb derer bestimmte Fehler entdeckt und korrigiert werden können. In einer Art »spatialized time management«144 kann eine Form von Kritik eingeführt werden, die es ermöglicht, die in einem Planungsprozess voneinander unabhängigen Aktivitäten zu verbinden, die für den Entwurfsprozess zentral sind, sich jedoch auf den ersten Blick nicht zu berühren scheinen, und von der sinnlichen Erfahrung der späteren Architektur oftmals ebenso weit entfernt sind. Eine der beschriebenen Strategien, mit der man dem unvermeidlichen Augenblick der Vollendung eines Projekts begegnen wollte, war, wie bereits in Kapitel 4 erwähnt, die Strategie des Non-Plan. Inspiriert von den Ideen des Situationismus wurden bestimmte ereignisbasierte Taktiken, die als heterogen, offen, subversiv galten, in die Architektur integriert. Solch temporäre und zeitliche Taktiken, die sich z.B. der Aneignung bereits bestehender Territorien oder ungenutzter Räume bedienen, betreiben jedoch, ähnlich wie bereits für die Kunst im öffentlichen Raum beschrieben, nur eine Ausweitung systemischer Grenzen. Jedoch geht es hier weniger um die subversive Infiltration, als vielmehr um einen raffinierten Versuch der Integration, der die Ideen von Foucault, Deleuze und de Certeau bereits absorbiert hat. Stattdessen schlägt Hirsch vor, Design als modus operandi zu begreifen und fragt, ob ein Modell nicht mehr sein kann als ein Instrument der Entfremdung, das der Warenform unterliege – und zwischen Prozess und Form, Konzeptualisierung und Kontextualisierung Werkzeugcharakter erlangen kann.145 Den 143 | Hirsch: 2009, S. 133-144, hier: S.133. 144 | Ebd. 145 | Die Einführung computergenerierter Entwurfsverfahren (CAD) erlaubt ständige Rückkopplungen zwischen den computergenerierten 3D-Modellen und dem physikalischen Modell. Die daraus resultierende Geschwindigkeit in der Über-

Installationen choreographieren ambivalenten Charakter des Modells als einem ›Zwischen‹-Stadium beschreibt er im Rückgriff auf Alberti als einen durchlässigen Körper, der in der Lage ist, die verschiedenen Aspekte in ein mentales Konstrukt zu übertragen und dabei nicht nur eine Wirklichkeit zu antizipieren, sondern auch die Vergangenheit neu zu beleuchten und damit die zeitliche (lineare) Logik des Entwurfsprozesses zu hinterfragen. Dabei schwebt ihm die hybride Kondition eines Modells vor, innerhalb dessen man sich bewegen kann, das ›lebt‹ und sich immer wieder an veränderte Bedingungen anpasst. Dieses gilt ihm als ein Medium »in which political metaphor und physical manifestation collapse into one phenomenon«.146 Das Modell wird so zu einem ›Ort‹ (site), an dem Kompromisse verhandelt werden können. Als Projekt und Projektion kann dieses ›World Model‹ Verbindungen von sozialen und politischen Versprechen entwerfen. Wo es Forsythe darum geht, die Choreographie von ihrem engen Bezug zum Körper abzulösen, fragt Hirsch für die Architektur danach, »[if ] a physical construct [can] maintain a discourse [ ]«.147 »A physical construct« – das meint für ihn ein Ding, das einen zu verändernden Charakter aufweist und als res publica immer neu verhandelt werden muss – trägt insofern im Sinne Latours zu einer Versammlung (assembly/assemblage) bei, innerhalb derer den Dingen selbst eigene Handlungsmacht zukommt.

setzung macht es zu einem aktiven Agenten innerhalb des Entwurfsprozesses, in dem Tabellen, Statistiken, statische Informationen und andere Daten mit einfließen. 146 | Hirsch 2009, S. 144. 147 |  Ebd.

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Schluss und Ausblick: Choreographie als die Kunst, ein bewegliches Gefüge zu entwerfen

Der vorliegende Band beschreibt Choreographie als einen Prozess, der Körper, Objekte und Zuschauer im Raum organisiert – als eine Praxis, die nicht ein abgeschlossenes Werk hervorbringt, sondern aus verschiedenartigen Formen von Relationalität Handlungsräume und -möglichkeiten entwirft. Ausgehend von kinästhetischen Empfindungen, die jedoch nicht auf den einzelnen Körper reduzierbar sind, sondern in relationalen Verflechtungen und chiastischen Einfaltungen des Außen ins Innen erscheinen, werden Interaktionen zwischen den Tänzern entworfen, welche wiederum auch die Zuschauer affizieren. Die Ausdehnung des Körpers oder des Objektes sind in diesem Aufeinander-bezogen-Sein nicht nur phänomenologisch oder im Rahmen eines Atmosphäre-Diskurses zu verstehen, sondern darüber hinausgehend als eine Konzeption, die sich auf den oder das Andere(n) hin öffnet. In Konsequenz ergeben sich daraus Entwürfe als Prozesse, die sich in Relation zu etwas anderem stets weiter entwickeln. Dieses Gefüge als ein relationales Gebilde, als agencement, das verschiedenartige Relationen ausbildet, kann Unvorhersehbares aufnehmen und transformativ integrieren. Choreographie wird so zu einem unabschließbaren Prozess, der in seiner konstellativen Offenheit immer wieder andere Elemente adaptieren bzw. sich auf einen neuen Zusammenhang beziehen kann. Diese Sichtweise auf Choreographie als relationale und im Kern regelbasierte, improvisatorische Praxis wurde am Beispiel der Arbeiten William Forsythes entwickelt. Explizit wurden diese Arbeiten (insbesondere seit Decreation, 2003) gewählt, weil an ihnen eine zeitgenössische Tanzästhetik, die vor allem auch eine spezifische Bewegungssprache entwickelt, betrachtet werden konnte. Der Körper entwirft, indem er sich in Beziehung zu anderen oder zu imaginären Körpern setzt und so bestimmte Zustände produziert oder Handlungszusammenhänge eingeht, die wiederum den Körper selbst auch verändern. Dieses Entwerfen ist damit jedoch nicht so sehr an bestimmte Körperbilder oder -konzepte gebunden, es entwirft nicht eine bestimmte Bewegungsform, sondern

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Entwürfe und Gefüge ist vielmehr daran orientiert »[w]hat a body can do«.1 In dieser eigentümlichen Instabilität des Körpers liegt Potential für jene Situationen der Ambivalenz, die Positionierungen und Entscheidungen (auch des Betrachters) notwendig machen, eine Offenheit und zugleich ein Risiko, die hierarchische Modelle der Raumorganisation außer Kraft setzen können. Doch sind die hier ausgeführten Überlegungen durchaus übertragbar auf andere choreographische Verfahren, die jenseits einer alleinigen Konzentration auf den Tänzerkörper operieren – entwirft doch Forsythe mit den choreographic objects eine Sichtweise auf das Verständnis von Choreographie, welches von dem herkömmlichen Setzen der Schritte und der Komposition von Tänzen abweicht und choreographisches Denken auf verschiedene Felder erweitert. Dabei geht er auf ein Verständnis von Choreographie als Praxis des Raum-Schreibens zurück, das, versteht man Choreographie in der Spannung zwischen Notation und Aufführung – zwischen bestimmten Regeln, Aufgaben und ihrer Ausführung, die oftmals gerade zu ihrer Brechung oder Veränderung führen –, die je spezifischen Aufteilungen des Raumes generiert. Damit ist die Choreographie als eine Praxis der Übertragung von Verfahren zu beschreiben, die, so Forsythe, nicht nur auf ein körperliches Geschehen reduziert bleiben, sondern Partitur für vielfältige Prozesse sind, die Körper, Objekte und Zuschauer im Raum organisieren. Im Programmheft zu Nowhere and Everywhere at the Same Time nennt William Forsythe zwei Figuren, die ihn wesentlich zu diesem eingangs beschriebenen Stück inspiriert haben: der blinde Widerstandkämpfer Jacques Lusseyran, der über einen inneren Sehsinn Formen und Gedanken manipulieren, der Topographien sehen und strategische Bewegungen von größeren Menschengruppen projizieren konnte, und der ebenfalls blinde Mathematiker Bernard Morin, der den Prozess der Umstülpung einer Sphäre in ähnlicher Weise als einen Prozess beschreibt, der zugleich nirgendwo und überall stattfindet. Beide Beispiele dienen Forsythe dazu sein Modell des choreographischen Objekts als »model of potential transition from one state to the other, in any imaginable space«2 zu entfalten. Lusseyran und Morin sind ebenso wie die Forsythe-Tänzer in der Lage Formationsprozesse zu antizipieren und diese strategisch zu projizieren.3 Morin beschreibt mit der Umstülpung einer Sphäre eine topologische Figur. Dabei tritt die Visualität einer spezifischen Form in den Hintergrund, entwickelt wird nicht eine stabile Form, sondern ein steter Übergang von einem Zustand 1 |  Erin Manning: »Introduction. Atypical Expression and Political Intervention«, in: dies.: Politics of Touch. Sense, Movement, Sovereignity, Minneapolis (MN)/ London: Univ. of Minnesota Press, 2006, S. XI-XXIII. 2 |  William Forsythe: »Choreographische Objekte«, in: Suspense, hg. v. der Ursula Blickle Stiftung/Markus Weisbeck, Zürich: Ringier, 2008, S. 8-11, hier S. 9. 3 |  Vgl. hierzu auch Dana Caspersen in Kap. 2.

Schluss und Ausblick in den nächsten, ein Prozess, der Innen und Außen in Beziehung setzt. Jene Körpertechniken, die die Tänzer einsetzen, um Bewegung zu generieren, mit der sie sich selbst überraschen können, zielen darauf, im Oszillieren zwischen aktiver und passiver Kraft bestimmte Zustände und ihre Übergänge erfahrbar zu machen. So geht es Forsythe darum Choreographie, die historisch untrennbar von den Bewegungen des menschlichen Körpers verstanden wurde, von diesem zwar nicht vollkommen abzulösen, aber doch zu erweitern auf ein Feld, in dem ein choreographisches Denken sich auf andere Künste oder Alltagshandlungen übertragen lässt. In diesem Zusammenhang ist Choreographie als ein Prozess zu begreifen, der verschiedene mediale Ebenen ineinander fügt und die Übertragung von Verfahren aus anderen künstlerischen und außerkünstlerischen Praktiken zum eigenen Prinzip macht. Eine solche Beschreibung choreographischen Entwerfens, die auf stete Neubestimmungen und -konstellationen zielt, findet sich jedoch auch in den Arbeiten anderer zeitgenössischer Choreographinnen und Choreographen. So lässt sich in den vergangenen Jahren ein verstärktes Interesse an Themenfeldern finden, die mit den Übertragungen von Verfahren aus dem Bereich dessen arbeiten, was hier als ›das Architektonische‹ beschrieben wird. So kann etwa Xavier Le Roys Projekt E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. (1999–2002) vor dem Hintergrund der Erprobung kollaborativer Arbeitsweisen als Recherche über das gemeinschaftlich entgrenzende Spiel und dessen Regeln gelesen werden. Weitere Arbeiten, die sich explizit in anderen Räumen und Kontexten situieren, wie z.B. This Situation von Tino Sehgal, nehmen Neubestimmungen des Choreographischen vor. Tanzhistorisch wären diese choreographischen Arbeitsweisen insbesondere in Bezug auf die Generation der Judson-Church-Choreographen wie Yvonne Rainer, Trisha Brown, Steve Paxton, Simone Forti, Lucinda Childs, David Gordon u.a. zu perspektivieren, markieren doch deren Arbeitsweisen den Umbruch zum Postmodern Dance und stellen bis heute einen zentralen Bezugspunkt für die Arbeiten zeitgenössischer Choreographen dar, die sich mit dem Verhältnis von Choreographie und den anderen Künsten sowie mit Choreographie als einem Modell für Alltagshandlungen auseinandersetzen. Mit der Entgrenzung der Künste sowie der Entgrenzung zwischen Kunst und Alltag, wie sie insbesondere seit den 1960er-Jahren zu beobachten ist, werden mit dem Bezug auf Judson verschiedene Veränderungen in den Produktions- bzw. Entwurfsverfahren aufgerufen – von der Einbeziehung von Alltags- oder minimalen, seriellen Bewegungen über die Zusammenarbeit mit nicht-professionellen Tänzern, über kollaborative Arbeitsweisen, ortsspezifische Ansätze bis hin zur engen Verbindung von Theorie und Praxis. Dies betrifft im Kontext dieser Arbeit jedoch vor allem den Umgang mit scores und task-basierten Improvisationen. Als

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Entwürfe und Gefüge Partitur oder zeichnerische Notation, als Anweisung oder Regelset bestimmen sie die Organisation des Raumes, schaffen eine spezifische Architektonik, innerhalb derer die Beziehungen zwischen den Beteiligten geregelt werden und bestimmen damit auch den Zugang zu einer spezifischen ästhetischen Erfahrung – denn die scores sind im Sinne der englischen bzw. französischen Begriffe ›partition/partage‹ als ein Modell der Teilhabe zu verstehen, das ›parts‹ – Teile eines Ganzen – als Verhandlungsmenge operabel macht. Das Choreographieren ließe sich hier zwischen einer Bestimmung als Praxis der Raum-Organisation und einer Definition als Kunst der Improvisation situieren, denn die Regeln werden in Kombination mit zufallsbasierten Operationen angewendet, in welchen die einzelnen Elemente stets neu konstelliert werden. So wurde die choreographische Praxis bereits in den 1960er-Jahren auf installative Arbeiten, environmental settings oder happenings, oder aber ortsspezifische Arbeiten ausgedehnt – wie z.B. in Trisha Browns Roof Pieces oder Lucinda Childs’ Street Dance (vgl. Kap. 5), die ebenso mit den Praktiken der Aufteilung operieren und auf eine veränderte Wahrnehmung und damit auch auf veränderbare Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Stadtraumes zielen. Diese Entwicklungen vollzogen sich parallel zum Übergang von der Minimal zur Conceptual Art. Betonte die Minimal Art vor allem die phänomenologische Erfahrung des Betrachters im Gegenüber zum spezifischen Objekt, so wurden später bestimmte konzeptionelle Überlegungen vorformuliert und so eine Veränderung von Produktionsverfahren eingeleitet. Hier überkreuzen sich die An-Ordnung, die durch das ›spezifische‹ oder ›choreographische‹ Objekt vorgegeben wird, und die Anordnung, die durch den score vorgeschlagen wird. Diese beiden raum-organisierenden Verfahren überlappen sich und lassen sich ebenso unter den Paradigmen eines choreographischen wie auch eines architektonischen Denkens betrachten. Choreographische Verfahren unter den Aspekten einer performativ verstandenen Architektur zu betrachten und umgekehrt auch choreographisches Denken in den Bereich des Architektonischen zu übertragen, ist ein zentrales Anliegen der vorliegenden Studie. Dabei wurde der Bezug zum Architektonischen innerhalb der vorliegenden Arbeit oft auf einer Meta-Ebene situiert, die es erlaubte, das Architektonische als einen Analysebegriff in das Denken über Choreographie einzuführen. Ebenso scheint es umgekehrt hilfreich, den Begriff des Choreographischen für die Architektur, die erst seit Kurzem aus der Blickrichtung des Performativen betrachtet wird,4 in den Blick zu nehmen. Auch hier scheint sich die spezifische Korrespondenz beider raumschöpfenden Künste in der Spannung zwischen Notation, Regel, Zeichnung, Modell und deren Ausführung zu entfalten. So ließ sich in der Betrachtung der Korrespondenzen von Architektur und Choreographie das Spiel mit verschiedenen Formen

4 | Vgl. Ludger Schwarte: Philosophie der Architektur, München: Fink, 2009.

Schluss und Ausblick von Notationen verfolgen (Kap.  4), die nicht auf eine Eindeutigkeit im Sinne Nelson Goodmans, sondern auf eine diagrammatische Öffnung hin angelegt sind, welche schließlich den Blick auf das lenkt, was sich zwischen den Akteuren und Zuschauer als potentiellen Akteuren ereignen könnte. Insofern waren die angeführten Beispiele des Architektonischen hier nicht auf eine stabilisierende Funktion hin ausgerichtet, sondern darauf, gebräuchliche Funktionsbestimmungen zu unterlaufen und neu zu bestimmen. Ebenso wie die Choreographie ist somit auch das Architektonische offen für die Übertragungen in andere Künste und entfaltet darin seinen Möglichkeitssinn.

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Dank

Das Intervall zwischen einer Idee zu einem Projekt und dessen Ausführung ist groß. Ebenso groß ist die Spanne zwischen anregenden Diskussionen und dem einsamen Schreiben, dem Weiterentwickeln und Überprüfen einer Idee. Bis sich alles zu einem dynamischen und trotzdem weiterhin offenen Ensemble fügt, müssen Situationen neu konstelliert werden. Und es beginnen Wurzeln, manchmal im Augenblick selbst fast unbemerkt, ihre Sprossen zu treiben, sich zu entwickeln und sich zu verzweigen. Gedanken, die später dem eigenen Einfallsreichtum zugeschrieben werden, sind recht eigentlich Produkte des Austauschs oder nur beiläufiger Anmerkungen, wobei eben diese Verschiebungen einen wesentlichen Punkt im Entwerfen eines kohärenten Gefüges markieren. Der vorliegende Band ist die nur leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, wie ich sie im Januar 2012 an der Freien Universität Berlin eingereicht habe. Sie ist entstanden im Rahmen des SFB 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«; der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen dort war mir eine unermessliche Bereicherung, ohne die diese Arbeit anders aussähe. Auf dem langen Weg dorthin haben mich viele Menschen begleitet, denen ich hier danken möchte. Zuallererst danke ich Gabriele Brandstetter für die vielen anregenden Hinweise und Gespräche, für Ermutigungen, für Ihre kontinuierliche Unterstützung und die Möglichkeit, die sie mir eröffnet hat, acht Jahre im Sonderforschungsbereich zu arbeiten, zu recherchieren, mich austauschen und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Ebenso sei Gertrud Koch gedankt, die mir als Sprecherin des Sonderforschungsbereichs, in den Arbeitsgruppen zur Medialität sowie zur generischen Form eine Inspiration war. Insbesondere möchte ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen im Teilprojekt »Topographien des Flüchtigen«, das von Gabriele Brandstetter geleitet wurde, danken: Franck Hofmann für seine inspirierende Denkweise, landschaftliches mit choreographischem Denken zu verbinden, und dies mit einer beflügelnden Leichtigkeit zu tun. Mariama Diagne danke ich für ihre Leichtfüßigkeit zwischen Theorie und Praxis zu springen sowie Maren Butte, die in gemeinsamen Diskussionen in der zweiten Phase des SFB das bereits beendete Dissertationsprojekt auf die Überschneidungen zum neuen Forschungsprojekt hin geprüft hat. Ebenso sei Fiona McGovern gedankt, insbesondere für ihre kunstwissen-

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Entwürfe und Gefüge schaftliche Perspektivierung vieler Gedanken: Mit ihr konnte ich das gemeinsame Arbeiten und Reflektieren zwischen den Künsten mehrfach direkt erproben und der Austausch mit ihr ist mir nach wie vor eine große Bereicherung. Dank gebührt ebenso Helmar Schramm, der die Arbeit in ihren Anfängen betreut hat, und ohne dessen inspirierende Art und Weise Theatraliät je neu zu perspektivieren ich nicht weiter theaterwissenschaftlich gearbeitet hätte. Damit verbunden ist auch ein Dank an Ludger Schwarte, dessen lange zurückliegendes Seminar zu Leibniz und Deleuze einen der Ausgangspunkte für die Arbeit bildete, ebenso wie sein Band zur Philosophie der Architektur mir eine wichtige Anregung und Stütze in der Konzeption der vorliegenden Studie war. Susanne Foellmer und Benjamin Wihstutz sei gedankt für ihre Diskussionsbereitschaft vor allem innerhalb der gemeinsam gegebenen Seminare sowie den vor- und nachbereitenden Gesprächen. Wegweisend und eine große Bereicherung war der Austausch mit den Tänzerinnen und Tänzern der Forsythe Company bzw. des ehemaligen Ballett Frankfurt: Prue Lang, Nik Haffner und vor allem Elizabeth Waterhouse. Besonderer Dank geht auch an die Forsythe Company, insbesondere an Freya Vass-Rhee und Mechthild Rühl, für die Ermöglichung bei einzelnen Proben anwesend sein zu können. Großer Dank geht darüber hinaus an den Künstler Peter Welz sowie an die Photographinnen und Photographen, allen voran Dominik Mentzos, Julian Gabriel Richter, Spencer Finch und Marion Rossi, Julieta Cervantes-Ladd sowie an das ZKM Karlsruhe, das Tanzarchiv und die Ohio State University, die mir großzügig ihr Bildmaterial zur Verfügung gestellt haben. Ganz wesentlich hat mir zu Beginn der Arbeit eine Gruppe von Tanzwissenschaftlerinnen geholfen, meine Arbeit auf den Weg zu bringen, Gedanken auszutauschen und sie in einer freundschaftlichen Atmosphäre zu überprüfen und weiter zu entwickeln. Der ›Tanzkreis‹ mit Yvonne Hardt, Christiane Berger, Maren Witte, Pirkko Husemann, Annamira Jochim u.a. war ein erstes Experiment des gemeinsamen Lesens und Schreibens. Sabine Huschka gebührt Dank, mich an einzelnen Stellen durch kleine Nachfragen immer wieder auf die richtige Spur gesetzt zu haben. Wichtig waren darüber hinaus die Besuche bei pro qm, wo ich mich regelmäßig mit aktuellen Architekturdiskursen versorgen konnte, an dieser Stelle sei Ursula Tax gedankt, die durch ihr Interesse, ihre Nachfragen und Ermutigungen mich bei der Stange gehalten hat. Darüber hinaus war der langjährige Austausch mit Paul Gazzola, mit dem ich gemeinsam verschiedene angrenzende Architekturprojekte durchdenken konnte, die zwar oftmals im Entwurfsstadium verblieben, aber als ein wichtiger Ort des gemeinsamen Denkens und Entwerfens eine wesentliche Schnittstelle zwischen choreographischem und architektonischem, theoretischem und praktischem Entwerfen besetzten. Genannt seien in diesem Zusammenhang auch Nathalie Bredella und Michael Steinbusch, deren Expertise aus dem Bereich der

Dank Architektur(-theorie) mir eine wichtige Rückversicherung war als ursprünglich Fachfremde in Sachen Architekturtheorie nicht falschen Fährten zu folgen. Ganz herzlich möchte ich den beiden Herausgeberinnen der Reihe Tanzscripte, Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein, für die freundliche Aufnahme in dieselbe danken, sowie Gero Wierichs, der das Publikationsprojekt so geduldig und wohlwollend betreut hat. Abschließend sei vor allem Vito Pinto gedankt für sein präzises und umsichtiges Lektorat, aber auch für seine unermüdliche Geduld und sein Vermögen, das richtige Maß an anspornenden und beruhigenden Worten zu finden. Und zuallerletzt, aber eigentlich am wichtigsten: Der ganz private Dank geht an meine Eltern – für ihre wunderbare Unterstützung in all den Jahren – sowie an Werner für die Geduld, seine guten Nerven, die beruhigenden Momente und sein Ansporn zur ›Leichtigkeit‹. Nicht zuletzt für die Vermittlung der Einsicht, dass es auch noch andere Dinge gibt und die Arbeit in bestimmten Zeiten nicht zu schwer wurde und mir stattdessen Inspiration und Freude war.

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Besuchte Vorstellungen der Forsythe Company

The Loss of Small Detail (UA: 4. April 1987, Oper Frankfurt) 16. Juni 2005, Schauspielhaus Dresden 3-tägige Probenbesuche zur Wiederaufnahme in Frankfurt am Main Limb’s Theorem (UA: 17. März 1990, Oper Frankfurt) 14. Mai 2006, Haus der Berliner Festspiele Eidos:Telos (UA: 28. Januar 1995, Oper Frankfurt) 26.–29. Oktober 2000, Schillertheater, Berlin 3., 5., 7., 8. April 2004, Oper Frankfurt One Flat Thing, Reproduced (UA: 02. Februar 2000, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main) 8. Februar 2006, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main Kammer/Kammer (UA: 8. Dezember 2000, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main) 17. Dezember 2000, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main Decreation (UA: 27. April 2003, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main) 4. Mai 2003, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main 24., 25. Mai 2007, Kunstenfestival, Théatre National, Brüssel 21. Januar 2009, Haus der Berliner Festspiele Three Atmospheric Studies (UA: 2. Februar 2006, spielzeiteuropa, Haus der Berliner Festspiele) 6. Mai 2005, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main 21., 22. Oktober 2006, Haus der Berliner Festspiele 17., 18. April 2008, Dublin Dance Festival, Abbey Theatre, Dublin Clouds after Cranach (UA: 26. November 2005, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main) 4. April 2009, Festspielhaus Hellerau

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Entwürfe und Gefüge You made me a Monster (UA: 25. August 2005, Tanz im August, Haus der Berliner Festspiele) 25., 28. August 2005, im Rahmen von Tanz im August, Haus der Berliner Festspiele Human Writes (UA: 23. Oktober 2005, Schaupielhaus Zürich, Schiffbauhalle 1) 14. November 2006, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main 27. August 2010, im Rahmen von Tanz im August, Radialsystem, Berlin Heterotopia (UA: 25. Oktober 2006, Schauspielhaus Zürich) 26., 27. Juni 2008, im Rahmen von Montpellier danse, Le Corum, Montpellier Whenever on on on nohow on/Airdrawing (William Forsythe/Peter Welz) 2004, Galerie Markus Richter, Berlin Retranslation Final Unfinished Portrait (Francis Bacon) (William Forsythe/Peter Welz) 11. Dezember 2006, anlässlich der Ausstellung Corps étrangers, Louvre, Paris Figure inscribing a circle (Christopher Roman/Peter Welz) 12.1.–10.3.2007, Showroom ENBW, Schiffbauerdamm 1, Berlin I don’t believe in Outer Space (UA: 20. November 2008, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main) 14.–17. Mai 2010, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main Angoloscuro/Camerascura (UA: 3. Mai 2007, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main) 3.–7. Mai 2007, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main Nowhere and everywhere at the same time (UA: 16. November 2007, Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main) 12. September 2009, Festspielhaus Hellerau City of Abstracts (Choreographic Object, UA: 24. November 2000, Opernplatz/Hauptwache, Frankfurt am Main) 20.4.–23.4.2006, im Rahmen vom Tanzkongress Deutschland, »Wissen in Bewegung«, Potsdamer Platz, Innenhof des Sony Centers, Berlin

Besuchte Vorstellungen 26.4.–4.6.2006, im Rahmen der Ausstellung Proliferation and Perfect Disorder, Pinakothek der Moderne, München White Bouncy Castle (orig. Tight Roaring Circle, Dana Caspersen/William Forsythe/Joel Ryan) (UA: 26. März 1997, The Roundhouse, London) 12.8.–12.9.2010, Deichtorhallen, Hamburg Scattered Crowd (UA: 15. März 2002, Messe Frankfurt, Halle 7, Frankfurt am Main) 25. Juni 2005, Deutsches Hygienemuseum, Dresden Vorstellung des Projekts Synchronous Objects 8. April 2009, Uferhallen, Berlin

Die Besuche von Enemy in the Figure (1989), Of Any If And (1995), Quintett (1993), The The (1995), N.N.N.N. (2002), Ricerar (2003), We live here (2004), Yes we can’t (2008) und Theatrical Arsenal (2007) wurden, insofern sie keine Erwähnung innerhalb der vorliegenden Arbeit finden, nicht in diese Liste aufgenommen. Dennoch sind sie relevant für das Hintergrundwissen hinsichtlich der sich über viele Jahre herausbildenden Ästhetik Forsythes. Ebenso sind andere – ältere – Stücke bzw. Ausschnitte mir nur über Video/DVD/CD-RomSichtungen bekannt: Artifact (1984), Alien/a©tion (1992) und One Flat Thing reproduced (Thierry de Mey, 2000/2007).

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Abbildungsverzeichnis

Bei den Abbildungen handelt es sich zum einen um Photographien von choreographischen Arbeiten der Forsythe Company, zum anderen um Photographien aus Katalogen oder Screenshots, die den Status eines Zitats haben.

Einleitung Abb. E.1: William Forsythe: Nowhere and Everywhere at the same time, © Dominik Mentzos.

Kapitel 1 Abb. 1.1: William Forsythe/Chris Ziegler: Improvisation Technologies, A Tool for the Analytical Dance Eye, CD-Rom, hg. v. ZKM Karlsruhe und Deutsches Tanzarchiv Köln, Ostfildern: Hatje Cantz, 1999, Screendesign: Christian Ziegler, William Forsythe, © ZKM Karlsruhe und William Forsythe. Abb. 1.2: Rudolf von Laban: Neigungen der A-Skala und der B-Skala, in: ders.: Choreographie, Jena: Diederichs, 1926; S. 30; 31; 33. Abb. 1.3: Rudolf von Laban: Tänzerin im Ikosaeder, in: Suzanne Perottet: Ein bewegtes Leben, Weinheim/Berlin: Beltz Quadriga, 1995, S. 243. Abb. 1.4: R. Buckminster Fuller (im Folgenden: RBF): Arbeit an frühen geodätischen Strukturen, Black Mountain College 1947–50, in: Joachim Krausse/ Claude Lichtenstein (Hg.): R. Buckminster Fuller. Your private Sky: Design als Kunst einer Wissenschaft; Baden: Lars Müller, 2001a, S. 327. Abb. 1.5: RBF: Skizze zu Lightful Houses (1928), in: Krausse/Lichtenstein (Hg.): 2001a, S. 83. Abb. 1.6: Rudolf von Laban: Zeichnung der drei Schwungkreise (Hoch-tief-Kreis, Seit-Kreis, Vor-rück-Kreis), in die der Ikosaeder eingeschrieben ist, in: Gabriele Brandstetter: »Intervalle. Raum, Zeit und Körper im Tanz des 20. Jahrhunderts«, in: Martin Bergelt/Hortensia Völckers (Hg.): Zeit-Räume. Zeiträume – Raumzeiten – Zeitträume, München/Wien: Hanser, 1991, S. 225-278, S. 273. Abb 1.7: RBF: Skizze zur Jitterbug Transformation (1948), in: Krausse/Lichtenstein (Hg.): 2001a, S. 287.

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Entwürfe und Gefüge Abb. 1.8: RBF: Geodesic Dome Montreal 1967, in: K. Michael Hays/Dana Miller (Hg.): Buckminster Fuller Starting with the Universe, Ausstellungskatalog Whitney Museum, New Haven (CT): Yale Univ. Press, 2009, S. 156. Abb. 1.9: RBF: 4 Weltsichten der Dymaxion Map, 1942, in: Krausse/Lichtenstein (Hg.): 2001a, S. 262f. Abb. 1.10: RBF: Früheste Übersichtstafel zur energetisch-synergetischen Geometrie 1944, in: Krausse/Lichtenstein: 2001b, S.170f. Abb. 1.11: RBF: Tensegrity Modell, Black Mountain College 1949, in: Krausse/Lichtenstein: 2001a, S. 406. Abb. 1.12: RBF: Necklace Dome, geodätische, faltbare Struktur, 1950, in: Krausse/ Lichtenstein: 2001a, S. 341. Abb. 1.13: Greg Lynn: Embryological Houses, 2000, unter: http://ci.columbia.edu/ ci/subjects/profiles/arch_profile0.html (letzter Zugriff: 11.02.2019). Abb. 1.14: Lars Spuybroek/NOX.: Water-Pavillon, unter: https://www.archdaily. com/795388/when-droplets-create-space-a-look-at-liquid-architecture (letzter Zugriff: 11.02.2019). Abb. 1.15: Friedrich Kiesler: Skizzen und Modelle zum Endless House, in: Stephen J. Philips: Elastic Architecture. Frederick Kiesler and Design Research in the First Age of Robotic Culture, Cambridge (MA): MIT-Press, 2017, S. 261. Abb. 1.16 u. Abb. 1.17: William Forsythe: Synchronous Objects, Form Flow und 3D-Alignment Animation, © Synchronous Objects Project, The Ohio State University and The Forsythe Company, unter: http://synchronousobjects. osu.edu/ (letzter Zugriff: 12.12.2011).

Kapitel 2 Abb. 2.1: William Forsythe: Decreation, © Dominik Mentzos. Abb. 2.2: William Forsythe: Decreation, © Julieta Cervantes-Ladd.

Kapitel 3 Abb. 3.1: Cranach der Ältere: Die Klage unterm Kreuz (1503, Alte Pinakothek München). Abb. 3.2: Photo: Agentur Reuters, © Athar Hussain (15.11.2005), beide Abbildungen im Programmzettel der Aufführung. Abb. 3.3: Elizabeth Diller & Ricardo Scofidio: Blur-Building, EXPO 2002, Yverdonles-Bains, unter: https://dsrny.com/project/blur-building (letzter Zugriff: 20.11.2018). Abb. 3.4: William Forsythe: Three Atmospheric Studies, © Spencer Finch. Abb. 3.5: William Forsythe: Scattered Crowd, © Julian Gabriel Richter.

Abbildungsverzeichnis Abb. 3.6: William Forsythe: White Bouncy Castle, Installation von Dana Caspersen, William Forsythe und Joel Ryan, © Dominik Mentzos. Abb. 3.7: William Forsythe: Clouds after Cranach, © Dominik Mentzos.

Kapitel 4 Abb. 4.1: Peter Welz/William Forsythe: Whenever on on on nohow on/Airdrawing, study for the right hand (black) left hand (red)/above, video projection onto drawing, paper, pencil, permanent marker, 30 min. DVD loop; 61 cm x 86 cm, 2003, Courtesy Galleria Fumagalli, Milano. Abb. 4.2: Peter Welz/William Forsythe: Retranslation/Final Unfinished Portrait (Francis Bacon), Paris, Louvre 2006/07, Installation view Musée du Louvre; Courtesy Goetz Collection, Photo: © Musée du Louvre/Angèle Dequier.  Abb. 4.3: William Forsythe/Peter Welz: Etudes pour Retranslation/Final Unfinished Portrait (Francis Bacon), William Forsythe re-translating the unfinished portrait by Francis Bacon final unfinished portrait (Francis Bacon, SelfPortrait, 1991–92), © Peter Welz, © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved. DACS 2017. Image courtesy of Dublin City Gallery The Hugh Lane, Courtesy Goetz Collection. Abb. 4.4: Cedric Price Propositions: The City as an Egg (Ausschnitt), in: Tanja Herdt: The City and the Architecture of Change: The Work and Radical Visions of Cedric Price, Zürich: Park Books, 2017, S. 88. Abb. 4.5: Bernard Tschumi: Advertissements for Architecture (1976-–77), unter: http://www.tschumi.com/projects/19/. Abb. 4.6: Bernard Tschumi: Manhattan Transcripts (Ausschnitt), in: Elia Zenghelis/Jeffrey Kipnis/Terence Riley (Hg.): Perfect Acts of Architecture, Ausstellungskatalog, Museum of Modern Art, New York. 2002, S. 96. Abb. 4.7: William Forsythe: Human Writes, © Dominik Mentzos.

Kapitel 5 Abb. 5.1: William Forsythe: Heterotopia, © Dominik Mentzos. Abb. 5.2: William Forsythe: You made me a Monster, © Marion Rossi. Abb. 5.3: William Forsythe: City of Abstracts, © Julian Gabriel Richter. Abb. 5.4: Nikolaus Hirsch/Michel Müller: Cyber-Mohalla-Hub, © Michel Müller.

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Theater- und Tanzwissenschaft Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

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