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German Pages 335 [336] Year 2014
doren wohlleben
Enigmatik – Enigmatik – Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur in Mythos, Philosophie und Literatur
isbn 978-3-8253-6355-0
Enigmatik – Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur in Mythos, Philosophie und Literatur
o, wann und wie wird das Rätsel eingesetzt, um Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen menschlichen Verstehens zu reflektieren? Nach einer Revision der im 20. Jahrhundert überwiegend ludistischlösungsorientierten Ansätze ist das Rätsel hier als eine hermeneutische Grenzfigur konzipiert, die am Anfang philosophischer und poetologischer Standortbestimmungen steht. Auf der Basis gattungsübergreifender Einzelanalysen antiker, frühneuzeitlicher und moderner Texte, die über die Rätselfiguren Sphinx und Turandot aufeinander bezogen sind, wird eine funktional ausdifferenzierte Typologie des Rätsels entwickelt. Sie vermittelt vor dem Horizont einer existentiellen Hermeneutik zwischen Bewegungen der Auflösung sowie der Erlösung und verweist auf die Notwendigkeit alternativer, literaturwissenschaftlicher Deutungsmodelle. Letztere basieren nicht auf der Lösung, sondern auf dem Rat des Rätsels, der sich im literarischen Dialog der Zeiten und Kulturen stets neu und anders bewährt.
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Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur in Mythos, Philosophie und Literatur Antike – Frühe Neuzeit – Moderne
b i b li ot h ek d e r klassisch en a ltertu m swissen sch a f t en Herausgegeben von
j ürg en paul s chwindt Neue Folge · 2. Reihe · Band 146
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Enigmatik – Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur in Mythos, Philosophie und Literatur Antike – Frühe Neuzeit – Moderne
Universitätsverlag
w i n t er Heidelberg
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Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
u m s c hl agb il d : Alexej von Jawlensky, Abstrakter Kopf: Sonne – Farbe – Leben, 1926 N. 109, Öl auf Karton, 52,8 × 46,4 cm, Sammlung Deutsche Bank AG Frankfurt a. M.
i s b n 978- 3-8253-6355-0 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2o14 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de
Danksagung Ein Buch ist, zumal wenn es sich um eine Habilitationsschrift handelt, immer nur ein unzulänglicher, materieller Niederschlag dessen, was diesem an Gebärden und Gesprächen mit Menschen vorangegangen ist, es begleitet sowie beeinflusst hat und als endloses Rätsel fortwirkt. Mein großer Dank gilt Prof. Dr. Christine Lubkoll (Neuere deutsche Literaturgeschichte, Erlangen) und Prof. Dr. Mathias Mayer (Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Augsburg), an deren Lehrstühlen ich seit 2006 in einem wunderbaren kollegialen Umfeld stets vollen Rückhalt und optimale Förderung erfuhr. Das scharfsichtige Drittgutachten von Prof. Dr. Günter Butzer (Vergleichende Literaturwissenschaft/ Europäische Literaturen, Augsburg) verlieh der Arbeit – angenommen von der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg im November 2013 – ihren letzten Schliff. Besonders herzlich danke ich meinem akademischen Lehrer Mathias Mayer für alle vertrauensvollen Gesprächskulturen, die mein Verständnis ,guter‘ Wissenschaft über dreizehn Jahre hinweg vorbildlich prägten. Der Forschungskontext „Ethik der Textkulturen“ (Elitenetzwerk Bayern) ermöglichte mir einen inspirierenden, interdisziplinären Austausch mit Kolleginnen und Kollegen sowie engagierten Studierenden. Eine immense emotionale und intellektuelle Bereicherung bedeutete mir meine DAAD-Gastprofessur an der Hebrew University Jerusalem (Winter/ Frühjahr 2012), für deren Initiierung ich Prof. Dr. Bettina Bannasch (Augsburg) und Prof. Dr. Hanni Mittelmann (Jerusalem, Israel) sehr herzlich danke. Zur internationalen Horizonterweiterung trug die zehnjährige, stets erfreuliche und für mich überaus lehrreiche Zusammenarbeit im Rahmen des „Internationalen Arbeitskreises Hermann Broch“ mit Prof. Dr. Paul Michael Lützeler (St. Louis, USA) maßgeblich bei. Dass diese Habilitationsschrift aus der Neueren und Vergleichenden Literaturwissenschaft dank des 2. Platzes beim „Heidelberger Förderpreis für klassisch-philologische Theoriebildung“ des Universitätsverlags Winter in der „Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften“ platziert werden konnte, empfinde ich als willkommenen Brückenschlag zu Heidelberger Studienzeiten: Dank gebührt Prof. Dr. Jürgen Paul Schwindt (Klassische Philologie, Heidelberg) und Herrn Dr. Andreas Barth (Universitätsverlag Winter). Meinen lieben Eltern und meiner Schwester danke ich von Herzen für ihre Fürsorge, stete Einsatzbereitschaft und liebevolle Unterstützung des kleinen und großen Wohllebens! Ohne die Ermunterung und rätsel-wissbegierigen Fragen meines Mannes wäre wohl auch das Buch ein endloses geblieben. Ihm sei es in Liebe gewidmet. Ein lautes DANKE sage ich meinen beiden Söhnen, die mit dem Buch um die Wette wuchsen und mit ihrem Lebensfrohsinn auch die dunkelsten intellektuellen Rätsel zu erhellen verstanden. Mannheim, im März 2014
INHALTSVERZEICHNIS VORÜBERLEGUNGEN: DAS RÄTSEL ALS HERMENEUTISCHE GRENZFIGUR. LITERATUR(-THEORIE) UND RÄTSEL ..........................................................11 Zur eigenen Positionierung: ,hermeneutische Grenzfigur‘ (S. 11) – Zur Methodik (S. 12) – Zur Textauswahl (S. 13) – Zur Omnipräsenz des Rätsels in Literatur und Kultur (S. 15) – Zum Desiderat eines theoretisch explizierten Rätselbegriffs (S. 18) – Zum Forschungsstand (S. 22)
I
RÄTSEL UND ANFANG: DAS RÄTSEL ALS URZEICHEN DER ANTIKE ...................................31 I.1 Rigveda (1500-1000): Rätsellieder und Schöpfungsakte ..........................31 Der Kosmos als Rätsel: der Anfang der Schöpfung (S. 33) – Das heilige Wort als Rätsel: der Anfang der Sprache (S. 36) – Das religiöse Ritual als Rätselspiel: der Anfang ritueller Handlung (S. 38) I.2 Heraklits Logos als Rätselwort ..................................................................42 Die Rätselsprüche Heraklits (um 500 v. Chr.) als Urdokument hermeneutischer Philosophie (S. 44) – Die Dunkelheit Heraklits: grammatikalische Schwäche, rhetorisches Kalkül, philosophischer Katalysator? (S. 45) – Rätselsprache und Logos (S. 50) I.3 Das Rätsel als Strukturprinzip in Sophokles’ König Ödipus (429-425) .......................................................................................54 Im Auftrag der Musen: Rhapsodie und Rätsel (S. 59) – Das Rätsel zwischen religiöser Divination und intellektueller Kombination (S. 61) – Das Erbe der Sphinx: Rätselhaftes Sprechen auf der Figurenebene (S. 64) – Der handlungsdynamische Effekt des Rätsels (S. 66) I.4 Zusammenfassung und Ausblick: Funktionen des Rätsels ..............................................................................70 (1) Die kosmogonisch-magische Funktion (S. 72) – (2) Die hermetisch-esoterische Funktion (S. 75) – (3) Die utopisch-ethische Funktion (S. 81) – (4) Die hermeneutisch-alteritäre Funktion (S. 86) – (5) Die ludistisch-heuristische Funktion (S. 92)
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A
Inhaltsverzeichnis
FIGUR UND FIGURATION DES RÄTSELS. ERSTER TEIL: SPHINX .......................................................................99 Sphinx: Monument, Mysterium, Mythos (S. 101) – G. W. F. Hegel: Die Geburt des Geistes aus dem Rätsel (S. 106) – Francis Bacon (Sphinx oder die Wissenschaft, 1609): Belehrung und Offenbarung (S. 110) – Edgar Allan Poe (The Sphinx, 1846): Mythisches und enzyklopädisches Wissen (S. 114) – Ingeborg Bachmann (Das Lächeln der Sphinx, 1949): Die Sphinx und die Schatten der Aufklärung (S. 120)
II
RÄTSEL UND OBSCURITAS: DAS RÄTSEL ALS AUFKLÄRERISCHE DUNKELSTELLE ............. 127 II.1 aenigmatica scientia (Nikolaus von Kues): Rätsel-Bilder-Wissenschaft .................................................................... 128 Vom Gleichnis: Das Rätselbild als klare Schau in von Kuesʼ De beryllo (1458) (S. 128) – Das Rätsel als Methode (S. 130) – Verrätselung statt Offenbarung (S. 131) II.2 Rhetorik, Pragmatik und Ästhetik des Rätsels in der Frühen Neuzeit ............................................................................. 133 Das Rätsel als Textsorte und als rhetorische Trope (S. 136) – Das Rätsel als dunklere Allegorie in Quintilians Institutio oratoria (95) und Philipp Melanchthons Elementa Rhetorices (1531) (S. 141) – Vom ainigma zum ainos: Die narrative Rätselstruktur in Iulius C. Scaligers Poetices Libri Septem (1561) (S. 144) II.3 Zwischen obscuritas (Dunkelheit) und curiositas (Neugierde): Mythenallegoresen in Giovanni Boccaccios Genealogie deorum gentilium (1350-67) und Francis Bacons De sapientia veterum (1609) ............... 148 Francesco Petrarca: Von der Nützlichkeit dichterischer Dunkelheit (S. 150) – Giovanni Boccaccio: dichterische Wahrheiten statt göttlicher Wahrheit (S. 151) – Enträtseln als unaufhörlicher Kraftakt (S. 152) – Hermes: Interpret und säkularisierter Mystagoge (S. 154) – Francis Bacon: Die Natur als potentiell lösbares Rätsel (S. 156) – Das Rätsel als frühneuzeitliche Kippfigur zwischen obscuritas und curiositas (S. 157) II.4 Zum Rat des Rätsels: Moses Mendelssohns Reaktion auf den „Wahrheitsforscher“ in seiner Jerusalem-Schrift (1783) und die
Inhaltsverzeichnis
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verlorenen Wahrheitsmünzen in Gotthold Ephraim Lessings Nathan derWeise (1779)......................................................................... 165 Maske des Moses statt aufgedeckten Angesichts in der jüdischen Hermeneutik (S. 166) – Exkurs: Der Rätselengel Raziel in der haggadischen Tradition (S. 169) – Die Demaskierung Moses Mendelssohns durch den „Wahrheitsforscher“ in Das Forschen nach Licht und Recht (1782) (S. 171) – G. E. Lessings Ringparabel: Der Richter als Ratgeber statt Rätsellöser (S. 173)
B
FIGUR UND FIGURATION DES RÄTSELS. ZWEITER TEIL: TURANDOT ........................................................ 181 Turandot: Die Rätselprinzessin jenseits von femme fatale und femme fragile (S. 182) – Nizami (Die Geschichte von den Rätseln der Turandocht, aus: Heft peiker, 1197): Das Rätsel als Zauber- und Liebesakt (S. 186) – Friedrich Schiller (Turandot. Die chinesische Prinzessin. Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi, 1802): Des Rätsels Lösung und die schöne Seele (S. 194) – Giacomo Puccini (Turandot. Dramma lirico in tre atti e cinque quadri, 1926): Das Opfer des guten Endes oder Gegenstimmen zur Siegesgeschichte des Rätsels (S. 208)
III
RÄTSEL UND ANTLITZ: DAS RÄTSEL ALS ERLÖSUNGSPHANTASMA DER MODERNE .. 219 III.1 Das Gesicht als Rätsel – Rätsel als Gesichte bei Friedrich Nietzsche und Franz Rosenzweig ..................................... 221 Gesichtsauflösungen und Erlösungsutopien (S. 221) – Fratzengesicht und Rätsel in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883-85) (S. 229) – Rätsel als Gesichte in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) (S. 232) III.2 Die Suche nach dem verlorenen Gesicht in Hermann Brochs Roman Die Schlafwandler (1931/32) .................... 236 Gesichtsverlust als kulturelle Verlustgeschichte der Moderne (S. 237) – Charaktergemälde, Karikatur, Chimäre: Opazität statt Transparenz (S. 241) – Visage perdu (Salvador Dalí): Fern-Menschliches und Landschaftliches (S. 244) – Abstrakte Köpfe (Alexej Jawlensky): Musik und Antlitz (S. 252)
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Inhaltsverzeichnis III.3 Zur Glut der Gesichte in Leo Perutzʼ Roman Der Meister des Jüngsten Tages (1923)................................................. 261 Perutzʼ doppelter Rätselroman (S. 263): a.) griphos: Rätsel und detektivische Spur, Spiel und Indizien (S. 264) b.) ainigma: Rätsel und Antlitz, Gericht und Gesicht(e) (S. 268) – Die Farbe Drommetenrot und der „Rätselcharakter der Kunstwerke“ (Theodor W. Adorno) (S. 271) III.4 Das zweite Gesicht: Glühende Rätsel und lyrische Schattenworte bei Nelly Sachs .......................................... 276 Hermetik und Enigmatik in der modernen Lyrik (S. 277) – Nelly Sachsʼ Gedichtzyklen Glühende Rätsel (1962-66) (S. 281) – Gedicht I.1 (Diese Nacht) (S. 284) – Exkurs: Die „Farbe Nichts“ als enigmatischer „Urpunkt“ (S. 289) – Gedicht I.5 (Lichterhelle) (S. 292) – Gedicht I.24 (Im verhexten Wald) (S. 293) – Die „Zeichen eingerätselt“ in Nelly Sachsʼ szenischer Dichtung Beryll sieht in der Nacht (1962) (S. 297)
SCHLUSSÜBERLEGUNGEN: ENIGMATIK. VORSCHLÄGE FÜR EINE ENIGMATISCHE METHODE DER LITERATURWISSENSCHAFT ................................................................ 301 Zum binären Methodenbegriff (S. 302) – Zur enigmatischen Methode als triadisch-dynamischem Interpretationsmodell (S. 303) – Zusammenfassung: Enigmatik. Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur (S. 305)
LITERATURVERZEICHNIS............................................................................. 307 BILDNACHWEISE ........................................................................................... 329 NAMENREGISTER .......................................................................................... 331
Vorüberlegungen Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur. Literatur(-theorie) und Rätsel. Zur eigenen Positionierung: ,hermeneutische Grenzfigur‘ – Zur Methodik – Zur Textauswahl – Zur Omnipräsenz des Rätsels in Literatur und Kultur – Zum Desiderat eines theoretisch explizierten Rätselbegriffs – Zum Forschungsstand Zur eigenen Positionierung: ,hermeneutische Grenzfigur‘ Das Rätsel als eine hermeneutische Grenzfigur zu betrachten, die immer wieder an den Anfang philosophischer und poetologischer Standortbestimmungen gestellt, aber bisher weder systematisch noch kulturhistorisch reflektiert worden ist, setzt sich die vorliegende Arbeit zum Ziel. ,Hermeneutisch‘ ist diese Grenzfigur bereits im ursprünglichen Wortsinn, da sich in ihr die beiden Bedeutungsdimensionen von altgriech. ἑρµηνεύειν, ,aussagen‘ und ,auslegen‘, im Wechselspiel entfalten: Das Rätsel sagt in poetischer Sprache aus und liefert den Verweis auf die Möglichkeit einer Auslegung gleich mit. Diese Auslegung macht die Aussage aber nicht hinfällig, sondern lässt deren ästhetischen Mehrwehrt erst erfahren. Jener geht in der Auslegung nie ganz auf und initiiert so eine hermeneutische Differenz. Denn das Rätsel oszilliert zwischen Sinnfestlegung und Sinnaufschub, zwischen der Erscheinungs- und der Entzugsseite der Welt. Eine Grenzfigur ist das Rätsel insofern, als es hermeneutische Verfahren modellhaft vor Augen hält, diese aber zugleich subvertiert oder als defizitär erkennen lässt. Es führt die Hermeneutik an die internen und externen Grenzen: an die hermeneutischen Grenzen des Verstehens, aber auch an die Grenzen der Kunst des Verstehens, sprich der Hermeneutik selbst. Das Ausloten dieser Grenzen sowie das Abarbeiten an denselben findet im Rätsel seine poetologische Form. Denn das Rätsel figuriert Sinn, indem es textuelle, sich dynamisch konstituierende Verstehensordnungen setzt, diese jedoch in einem unaufhörlichen, selbstkritischen Prozess sodann wieder durchbricht – defiguriert. Nicht nur thematisch beschäftigt sich das Rätsel seit jeher mit existentiellen Grenzsituationen. Auch strukturell kommt es sowohl im literarischen als auch im literaturtheoretischen oder philosophischen Diskurs immer dann vor, wenn bestehende Denk- und Wertsysteme einer Verunsicherung unterzogen und deren
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Vorüberlegungen
Grenzen porös werden. Diese kulturhistorischen Wendepunkte können durch eine Beschreibung ihres je spezifischen Umgangs mit dem Rätsel konzeptionell konkretisiert werden: Wo, wann und wie wird das Rätsel eingesetzt, um Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen menschlichen Verstehens poetologisch zu reflektieren? Zur Methodik Als Grenzfigur kann das Rätsel nicht von vornherein auf eine bewährte Methode festgelegt werden. Vielmehr bedarf es einer integrativen Theoriekonzeption, die hermeneutische und transhermeneutische, philosophische und metatheoretische Positionierungen vermittelt und auf ihre existentiellen Grundlagen hin befragt. Theoriebezüge sollen deshalb nicht zu Beginn gesetzt, sondern anhand einer vielfältigen materialen Textbasis prozessual entfaltet werden. Gattungsübergreifende Untersuchungen des Rätsels in mythologischen, philosophischen und literarischen Texten sind dabei primär funktionsanalytisch ausgerichtet, nehmen jedoch auch form- und genrebezügliche Affinitäten in den Blick. Diese dominierende systematische Reflexion wird durch eine historische komplementiert, wobei sich beide nicht immer klar voneinander trennen lassen: Die Makrostruktur bilden drei synchrone, auch isoliert lesbare Großkapitel mit den historischen Schwerpunkten Antike (Kap. I), Frühe Neuzeit (Kap. II) und Moderne (Kap. III). Jene werden über systematische Binnendifferenzierungen von Rätselfunktionen aufeinander bezogen und somit gleichzeitig präsent gehalten. In allen drei Epochen lassen sich bei der Figur des Rätsels hermeneutische und methodische Neupositionierungen feststellen. Für eine historische, synchrone Analyse ausgespart, aber immer wieder in die systematische Theoriediskussion einbezogen, bleiben die Epochen des Mittelalters sowie der Postmoderne. Zum Rätsel im Mittelalter sind bereits einschlägige Monographien erschienen (vgl. Kap. Zum Forschungsstand). Die Postmoderne bedürfte einer eigenständigen Untersuchung, in der dem Verhältnis von Enigmatik und Dekonstruktion weiter nachgegangen wird. Mögliche Richtungen hierfür können in den Methodenreflexionen der vorliegenden Arbeit gewiesen werden (z. B. Kap. I.4, Schlussüberlegungen). Thematisch akzentuiert sind die drei Großkapitel über Diskurse, die das Rätsel als eine hermeneutische, oftmals existentiell ethische Grenzfigur konturieren: über den antiken philosophischpoetologischen Diskurs des Anfangs (Kap. I), über den frühneuzeitlich rhetorischen der obscuritas, der ,Dunkelheit‘ (Kap. II), sowie über den modernen, jüdisch-hermeneutischen Diskurs des Antlitzes (Kap. III). Die drei synchronen Großkapitel werden durch zwei diachrone, kulturhermeneutische Fallstudien von Figuren und Figurationen des Rätsels verbunden. Dabei handelt es sich um thematische Lektüren, die wiederum reziprok aufeinander verweisen: den Mythos Sphinx (Kap. A) sowie den Turandot-Stoff (Kap. B).
Vorüberlegungen
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Die Schlussüberlegungen („Vorschläge für eine enigmatische Methode der Literaturwissenschaft“) korrespondieren mit den Vorüberlegungen („Literatur(theorie) und Rätsel“): Sie gehen allerdings einen Schritt weiter, indem sie das Rätsel nicht mehr nur als Gegenstand der Literatur und Literaturtheorie, sondern auch als mögliche Methode der Literaturwissenschaft fokussieren. Auf mikrostruktureller Ebene sind die drei Großkapitel in je vier, wiederum unabhängig voneinander lesbare Kapitel untergliedert: In ihnen werden in textnahen Lektüren die autoren-, beziehungsweise epochenspezifischen Rätselreflexionen herausgearbeitet und in einen größeren kulturhistorischen Kontext gestellt. Eine wichtige Sonderposition nimmt das letzte Kapitel des ersten Großkapitels ein (Kap. I.4): Hier erfolgt eine Typologie des Rätsels anhand einer systematischen Differenzierung seiner Funktionen, die aus den vorangegangene Textanalysen entwickelt werden. Dieses Kapitel I.4 fasst den ersten Teil zusammen und bildet zugleich die terminologische Basis für alle weiteren Kapitel: Den in der Rätselforschung des 20. und 21. Jahrhunderts dominanten hermeneutischalteritären und ludistisch-heuristischen Rätselfunktionen werden die kosmogonisch-magische, hermetisch-esoterische und utopisch-ethische Rätselfunktion vorangestellt. Neben dieser Ausdifferenzierung in fünf Rätselfunktionen wirkt die Gegenüberstellung einer Hermeneutik der Erlösung mit einer Hermeneutik der Auflösung für den weiteren Argumentationsverlauf der Arbeit strukturbildend. Zur Textauswahl Um das Rätsel diskursgeschichtlich systematisieren zu können, wurden Kulturen und Epochen übergreifende Texte aus der Philosophie, Mythologie und Literatur ausgewählt. Das Gattungsspektrum reicht dabei vom altindischen Opfergesang über antike, aufklärerische und klassische Dramen, orientalische Rätselmärchen, spätantike und frühneuzeitliche Rhetoriken von Quintilian bis Scaliger, Mythenallegoresen der Frühen Neuzeit, philosophische Aphorismen und Essays, literarische Porträts, bis hin zum modernen (Kriminal-) Roman und dem angeblich hermetischen Gedicht der Nachkriegszeit. All diesen Texten ist gemeinsam, dass das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur thematisch und strukturell wirksam wird und am Anfang neuer Denk- und Lektürewege steht. Unentbehrliche Klassiker, bei denen das Rätsel zu einem kulturstiftenden Narrativ geworden ist, welches die Poetiken bis in die (Post-) Moderne hinein bestimmt, finden dabei genauso Berücksichtigung wie bislang marginalisierte Texte, also gewissermaßen Dunkelstellen der Literatur- und Kulturgeschichte. Entscheidend ist in beiden Fällen, dass der hier erstmals systematisch und rezeptionshistorisch nachvollzogene Diskurs der Grenzfigur Rätsel zu einer Neuperspektivierung der (Vor-) Geschichte der Hermeneutik und ihrer (Selbst-) Kritik beizutragen vermag:
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Vorüberlegungen
Zu ersteren gehören beispielsweise die dramatischen Texte von Sophokles (König Ödipus) [Kap. I.3] oder Friedrich Schiller (Turandot) [Kap. B], die Rätselsprüche Heraklits, die bis heute für hermeneutische Selbstpositionierungen herangezogen werden [Kap. I.2], Friedrich Nietzsches Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel“ aus Also sprach Zarathustra, das Martin Heidegger zum Wende- und Knotenpunkt der Metaphysik-Geschichte bestimmt [Kap. III.1], oder auch Theodor W. Adornos für die ästhetischen Theorien des 20. und 21. Jahrhunderts grundlegender Topos vom „Rätselcharakter der Kunstwerke“ [Kap. III.3]. Den in der Parabel- und Hermetik-Forschung fest kategorisierten Texten und Gedichten von G. E. Lessing [Kap. II.4], Ingeborg Bachmann [Kap. A] und Nelly Sachs [Kap. III.4] werden durch die Enigmatik neue Zuordnungs- und Lektüremöglichkeiten eröffnet. Nun zu den unbekannteren Rätsel-Texten, deren Anregungspotential oft auf ihrer Gratwanderung zwischen Philosophie, Theologie und Literatur, zwischen Rhetorik, Poetik und Hermeneutik beruht: Die Mythenallegoresen Giovanni Boccaccios oder Francis Bacons gerieten mangels Nachdrucks oder deutscher Übersetzung – der Text Bacons wurde für die vorliegende Arbeit im lateinischen Originaldruck eingesehen und rezipiert – in Vergessenheit [Kap. II.3], sind aber für eine performative Poetik des Rätsels äußerst aufschlussreich. Auch soll der in der Philologie ignorierten Schrift Über den Beryll von Nikolaus von Kues Beachtung geschenkt werden, die auf die enigmatische Struktur des Gleichnisses verweist [Kap. II.1]: Von Kues’ Wendung einer aenigmatica scientia, einer Rätsel-Bilder-Wissenschaft, mit der er eine methodische Textwissenschaft des Rätsels begründet, dient als Anregung für die hier vorgeschlagene, literaturwissenschaftliche enigmatische Methode. Ebenfalls von methodischem Interesse ist die grammatische Konzeption des Sprachdenkens bei Franz Rosenzweig [Kap. II.4, III.1]. Obgleich letztere unübersehbare Analogien zu poststrukturalistischen Gedanken aufweist, findet sie in der (postmodernen) Literaturtheorie, vermutlich wegen ihrer nach wie vor offenbarungsphilosophischen Verankerung, fast keine Beachtung. Für eine Enigmatik, die auf einem triadisch-dynamischen Interpretationsmodell basiert [Schlussüberlegungen], kann sie jedoch gerade aufgrund ihrer Doppelbewegung zwischen einer horizontal gerichteten Hermeneutik der Auflösung und einer vertikal orientierten Hermeneutik der Erlösung fruchtbar gemacht werden [Kap. I.4]. Um das Rätsel als transkulturelle Denkform zu konturieren, wird auch auf literarische Texte anderer (nicht-) europäischer Kulturen zurückgegriffen: auf die rhythmisch rezitierten Rätsellieder des Rigveda, des ältesten Literaturdenkmals der Menschheit [Kap. I.1], auf das in europäischer Tradition wenig bekannte Rätselmärchen des persischen Dichters Nizami aus dem 12. Jahrhundert, das die narrative Grundform des Turandot-Stoffs bildet [Kap. B], oder auf die selbst in der Anglistik kaum berücksichtigte Sphinx-Erzählung von Edgar Allan Poe [Kap. A]. Poes Mischung aus tale of horror und tale of ratiocination ist für viele Kriminalromane des 20. Jahrhunderts zum Vorbild geworden, was exemplarisch
Vorüberlegungen
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an einem Rätselroman von Leo Perutz aufgezeigt werden wird [Kap. III.3]. Als ergiebig erweisen sich Seitenblicke in die jüdische Mystik und Hermeneutik [Kap. II.4, III.1]: Der haggadische Rätselengel Raziel kann als Sinnbild dienen für die Notwendigkeit der Maske, die, anders als in der christlichen Tradition, gerade kein Gegenmodell zum Antlitz darstellt. Vielmehr ist sie dessen unabdingbare Voraussetzung. An der Jerusalem-Schrift Moses Mendelssohns aus dem 18. Jahrhundert, einem der ersten Zeugnisse der deutsch-jüdischen Moderne [Kap. II.4], lässt sich diese Dialektik nachvollziehen. Dass sich das Spannungsverhältnis von Maske und Antlitz noch bis in die literarischen Porträts der Moderne tradiert, ist an Romanen Hermann Brochs zu beobachten. Sie weisen wiederum Strukturanalogien zu Gesichtsdarstellungen moderner Maler auf – Salvador Dalí und Alexej Jawlensky werden beispielhaft herausgegriffen [Kap. III.2]. Das Rätsel ist dabei – wie bereits in Giacomo Puccinis Oper Turandot, in der es auf theatralischer, musikalischer und textueller Ebene Gegenstimmen zum vermeintlich klaren Handlungsmodell der Suche, der quest, hervorruft [Kap. B], – immer auch Impuls für einen Dialog der Künste, die sich in intermedialen Wechselbeziehungen gegenseitig enigmatisieren. Zur Omnipräsenz des Rätsels in Literatur und Kultur Das Rätsel wird für Ursprungserzählungen mythischer Naturvölker ebenso in Anspruch genommen wie für Wissenschaftsschilderungen im technologischen Zeitalter, wird Kindern gleichermaßen zugeschrieben wie weisen Philosophen. Die Anfänge menschlicher Kultur, von religiösen Riten bis hin zur philosophischen Selbstbewusstwerdung des Menschen, werden mit dem Rätsel in Verbindung gebracht. Gleich ob es sich um das Rätsel Gottes, das Rätsel der Welt oder das Rätsel des Menschen handelt, stets konstituiert es sich in einer dialogischen Wechselbeziehung zum Anderen. Schon in den ersten uns überlieferten Schöpfungsmythen sind der Anfang des Rätsels und das „Rätsel des Anfangs“1 strukturell aufeinander bezogen [vgl. Kap. I.1]. Am Anfang war das Wort – vor allem Anfang das „Rätselwort“.2 Letzteres ist dort, wenn überhaupt, nur bedingt sinnbezogen lösbar und sehr viel häufiger sinnlich erfahrbar.3
1
Gadamer, Hans-Georg, Der Anfang der Philosophie. Aufgrund der Übersetzung aus dem Italienischen von Joachim Schulte, vom Autor revidierte Fassung, Stuttgart 1996, S. 14. 2 Benjamin, Walter, „Über das Rätsel und das Geheimnis“, in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. VI: Fragmente vermischten Inhalts, Autobiographische Schriften, Frankfurt am Main 21986, S. 17 f., hier: S. 17. 3 Eine produktive Fortführung von Walter Benjamins Gedanken findet sich bei: Agamben, Giorgio, „Idee des Rätsels“, in: ders., Idee der Prosa, Titel der italienischen Originalausgabe: Idea della prosa (1985), übersetzt von Dagmar Leupold und Clemens-Carl Härle, Frankfurt am Main 2003, S. 109-113.
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Vorüberlegungen
Die immer auch ästhetische Faszinationskraft des Rätsels beruht seit jeher auf seiner Ambiguität: Einerseits führt das Rätsel als „der reinste und fundamentalste Akt des menschlichen Geistes“4 die Möglichkeiten und Bedingungen hermeneutischer Welterfahrung idealtypisch vor Augen. Andererseits lässt es deren Grenzen und somit die Furcht spüren, dem dunklen Sprechen mit seinem steten Aufschub von Sinn niemals entrinnen zu können, eine Antwort schuldig zu bleiben. Wie wenig es sich bei einer derartigen Furcht um die eines rein intellektuellen Versagens handelt, veranschaulichen die schon in den frühen Anfängen literarischer Überlieferung auftretenden Halslöserätsel, die in Märchen und Mythen bis heute lebendig sind [vgl. Kap. A und B]: Nicht nur der Geist steht auf dem Prüfstein, sondern das Leben selbst. Denn das Rätsel ist immer zugleich „Lebensrätsel“,5 ein Rätsel, das den Menschen zum Thema macht, mitunter auch in Frage stellt. So lautet nicht von ungefähr die am häufigsten benannte Antwort des Ödipus auf das Rätsel der Sphinx: „Der Mensch“ [vgl. Kap. I.3]. Die gleiche Sphinx antwortet Mephisto in Johann Wolfgang Goethes Faust II auf dessen Aufforderung hin, Rätsel aufzugeben: „Sprich nur dich selbst aus, wird schon Rätsel sein“ (V. 7132). Jegliches Lebensrätsel, dessen Aussprache sehr viel schwerer fallen kann als Goethes Sphinx dies leichthin suggeriert, steht wiederum in einem größeren Lebens- und Handlungszusammenhang mit anderen Menschen: Eine falsche Deutung rätselhafter Texte, sei sie bedingt durch Nicht-Wissen oder, gefährlicher, durch vermeintlich gewisses Wissen, kann falsches Handeln zur Folge haben [vgl. Kap. I.1/ I.3]. Die verbale Antwort des Ödipus führt daher nur zu einer temporären Lösung, der Überwindung der in ihrer Rede und Erscheinung vielgestaltigen Sphinx. Das eigentliche Rätsel, das des eigenen Lebens, kann erst in einem langwierigen Prozess des Deutens und Handelns – in Interaktion mit anderen – gelöst werden. Nicht eine wie auch immer geartete metaphysische Wahrheit des Rätsels dient hierbei als Garant, sondern seine lebenspraktische Bewährung, die der moderne Denker Franz Rosenzweig später zur Grundvoraussetzung des ,neuen Denkens‘ macht [vgl. Kap. II.4/ III.1]. Doch ist das Rätsel nicht nur Sinnbild des Lebens, sondern auch der Kunst, als deren Spezifikum Theodor W. Adorno ihren „Rätselcharakter“6 bestimmt [vgl. Kap. III.3]. Schon Martin Heidegger setzt in seinem Nachwort zum Ursprung des Kunstwerks Kunst und Rätsel [vgl. auch Kap. III.1] zueinander in
4
Nabokov, Vladimir, „Schlüssige Beweise“, in: Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie, Reinbek bei Hamburg 32005, S. 444-467, hier: S. 448. 5 Goethes Briefe und Briefe an Goethe, Hamburger Ausgabe in 6 Bänden, hg. v. Karl Robert Mandelkow, Bd. IV (1821-1832), München 31988, S. 264. 6 Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 2003, S. 191.
Vorüberlegungen
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Bezug: „Die vorstehenden Überlegungen gehen das Rätsel der Kunst an, das Rätsel, das die Kunst selbst ist. Der Anspruch liegt fern, das Rätsel zu lösen. Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen“.7 Das Rätsel hat keinen Ursprung, sondern ist selbst ein Ur-Sprung, ein Sprung ins Ungewisse, dessen Zielpunkt nicht bestimmbar ist. In einer solchen Konzeption meint der mit dem Rätsel korrelierte Anfang nicht mehr einen historischen, einmaligen Beginn, sondern eine stete Anfänglichkeit. Sie entfaltet ihre Dynamik in einem unaufhaltsamen und jeder Linearität absagenden Prozess, ohne zwangsläufig zu einer eindeutigen Antwort zu kommen. Dennoch wird die Suche (quest)8 oft durch ein Erlösungsphantasma initiiert, das zumindest die Hoffnung auf eine einstige Lösung wachhält und die Paulinische Antwort durchklingen lässt: „Wir sehen jetzt in einem Spiegel in einem dunkeln Wort“ (1. Kor. 13, 12).9 Im Rätsel schwingt die – wenn auch unerreichbare – uranfängliche Sehnsucht nach Lösung und Erlösung bis heute mit. Insofern oszilliert es stets zwischen Erlösung und Auflösung, zwischen (Sinn-) Figuration und Defiguration, Konstruktion und Destruktion. Sogar im Poststrukturalismus bleibt das Rätsel die einzige rhetorische Figur [vgl. Kap. II.2], der die Dekonstruktivisten nicht misstrauen. Es wird immer dann eingesetzt, wenn auf die Absenz eines Anfangs oder eines Endes verwiesen werden soll. Wo es keine Antwort, vielleicht nicht einmal mehr eine Frage gibt, begegnet als letzte Antwort das Rätsel: Die Nicht-Frage, von der wir sprechen, ist die unangefochtene Gewißheit, daß das Sein eine Grammatik ist; und die Welt ein durchgängiges Kryptogramm, das mit Hilfe einer Einschreibung oder einer poetischen Entzifferung konstituiert werden muß […].10
Wie dem Rätsel – bedingt durch seine ambigue, paradoxe Struktur – von Anbeginn ein dekonstruktivistisches Moment eignet, so wahrt es sich im Gegenzug noch in postmodernen Zeiten seine hermeneutische Bezugnahme auf (Sinn-) Präsenz. Das Rätsel ist zugleich der dekonstruktivistische Stachel der Hermeneutik sowie das hermeneutische Relikt der Dekonstruktion. Es vermittelt, hierin
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Heidegger, Martin, Der Ursprung des Kunstwerks, mit einer Einführung von HansGeorg Gadamer, Stuttgart 2005, S. 83. 8 Das allgemeine Handlungsschema der abenteuerlichen Suche (engl. quest, frz. quête) ist im Erzählgut vieler Kulturen wirksam, vgl. hierzu: Martinez, Matias; Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, München 32002, S. 153-155. 9 1. Kor. 13, 12 (Luther-Übersetzung von 1522); neuere Übertragung: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ 10 Derrida, Jacques, „Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Titel der frz. Originalausgabe: L’écriture et la différence (1967), übersetzt von Rudolphe Gasché, Frankfurt am Main 1972, S. 102-120, hier: S. 118.
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den Sprüchen des „Rätselerfinders“11 Heraklits vergleichbar, zwischen dem Gedanken der Einheit in der Differenz und dem der Differenz in der Einheit [vgl. Kap. I.2]. Seine Identität konstituiert sich durch Alterität, durch die „Nähe des Anderen als eines Anderen“,12 der bei Emmanuel Lévinas das Rätsel schlechthin ist und die Suche nach Sinn und Erkenntnis in der Spur immer schon transzendiert [vgl. Kap. III.3]. Indem das Rätsel das Fremde und Uneigentliche zur Geltung bringt, widersetzt es sich dem in philosophischer Hermeneutik vorherrschenden Primat der Einheit und des prinzipiell möglichen Einverständnisses. Das Rätsel kann daher als eine Grenzfigur verstanden werden: Diesseits der Hermeneutik führt es deren Verfahren und Methoden als literarisches Miniaturmodell vor, jenseits der Hermeneutik hinterfragt und subvertiert es sie und verweist auf die Notwendigkeit alternativer Deutungsmodelle. Zum Desiderat eines theoretisch explizierten Rätselbegriffs Der omnipräsente Rätselbegriff – das sollte bereits dieser kurze kulturhistorische Abriss deutlich machen – stellt seit jeher einen argumentativen Fluchtpunkt dar. Auf ihn steuern viele literarische und philosophische Denkbewegungen unterschiedlichster Provenienz zu, von ihm nehmen zugleich neue in einer petitio principii ihren Ausgang. Umso mehr verwundert es, dass er sich als universeller Passepartout-Begriff bis heute zwar ungebrochener Beliebtheit erfreut, aber weder in der Philosophie noch in der Philologie genauer expliziert worden ist. Der Rätselbegriff erfährt in der Geschichte der philosophischen Hermeneutik kaum eingehende Betrachtung: Obgleich dort schon früh im Zusammenhang mit der antiken rhetorischen Tradition der obscuritas (,Dunkelheit‘) eine implizite Auseinandersetzung mit dem griechischen ainigma-Begriff (,dunkles Wort, Rätsel‘) stattfindet,13 gerät dieser überwiegend in seiner Funktion als rhetorische Trope in den Blick, als eine in der philosophischen Rede zu vermeidende
11 Heraklit, „Fragmente und Zeugnisse“, Nr. 4 (Diog. Laert. 9,6 (DK 22 A 1)), in: Die Vorsokratiker, Bd. 1: Thales, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras und die Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, griechisch-lateinisch-deutsch, Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2007, S. 284-369, hier: S. 287. 12 Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, hg. und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/ München 1983, S. 236-260, hier: S. 254. 13 Neben γρῖφος (griphos), ,Fischernetz‘, ist αἴνιγµα (ainigma), ,dunkle Rede, Andeutung, Anspielung‘, eine der beiden altgriechischen Bezeichnungen für das deutsche Wort ,Rätsel‘. Der einfacheren Lesbarkeit halber werden diese für die vorliegende Arbeit zentralen griechischen Rätselbegriffe in lateinischen Lettern transkribiert und als ainigma und griphos zitiert.
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Derivation von der Doktrin des klaren Sprechens [vgl. Kap. II.2]. Noch bei dem Theologen Johann Conrad Dannhauer (1603-1666), dem Wegbereiter der allgemeinen Auslegungskunst, der sich vermutlich erstmals des Neologismus ,Hermeneutica‘ bediente, sowie bei seinem frühaufklärerischen Nachfolger Johann Martin Chladenius (1710-1759) bilden die dunklen Stellen – quasi als unliebsame Schatten der Aufklärung – den Kritikpunkt ,wahrer‘ Interpretation. Ihr etwaiger heuristischer Nutzen, die Tatsache, dass sie zugleich Ausgangspunkt jener Interpretation sind, wird, anders als noch in mittelalterlicher Tradition,14 in aufklärerischer Verblendung nicht mehr erkannt. Auch im Zusammenhang mit der hermeneutischen Ursituation, dem dialogischen Gespräch, wird auf das Rätsel – eigentlich ein denkbar interessanter Sonderfall des Frage-Antwort-Spiels – nur kurz verwiesen.15 Die archaische Redesituation – der Befragte ist um der Antwort willen zur Selbstaufopferung bereit – als Kontrastfolie für den Sokratischen Dialog, der den Anderen als gleichwertigen Gesprächspartner akzeptiert, bleibt ungenutzt. Ebenso wenig findet in den poststrukturalistischen Werken der letzten Dekaden eine terminologische Reflexion statt, obwohl das (noch) ungelöste Rätsel in seiner semantischen Mehrdimensionalität ein Verweis auf den Aufschub von Sinn ist und im Zeichen der différance steht. Dabei könnte das Rätsel, die Chiffrensprache der Rune,16 durchaus als Denkfigur des Anfangs der Lesbarkeit fungieren, als Schrift, und sei es die des Menetekels [vgl. Kap. III.3], vor jeglicher Schrift. Immerhin in der jüdischen Hermeneutik von Emmanuel Lévinas erfolgt eine Aufwertung, zugleich aber auch eigenwillige Umwertung des Rätselbegriffs, der mit dem für Lévinas zentralen Konzept des Antlitzes korreliert wird. Dieser jüdisch-hermeneutische Antlitz-Gedanke, der sich gegen ein rein bedeutungsbezogenes Sinnverstehen wendet und Anschlussmöglichkeiten an Rätselkonzeptionen beispielsweise Friedrich Nietzsches, Martin Heideggers und Theodor W. Adornos bietet [vgl. Kap. III.1, III.3], kann in einen kritischen Dialog mit der europäisch-christlichen Tradition der Physiognomik gestellt werden [vgl. Kap. III.2]. Dort gelten Gesichter, wenn sie auch die Möglichkeit einer Maskierung oder Verrätselung bieten, als prinzipiell les- und somit lösbar, wohingegen das Antlitz bei Lévinas stets etwas Vor- und Außersprachliches meint.
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Vgl. hierzu auch: Pfeiffer, Jens, „Dunkelheit und Licht. ,Obscuritas‘ als hermeneutisches Problem und poetische Chance“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Bd. 50, 2009, S. 9-42 sowie: Tomasek, Tomas, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994. 15 Vgl. hierzu z. B.: Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 21965, S. 348. 16 Vgl. hierzu: Jolles, André, „Rätsel“, in: ders., Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 61982, S. 126-149, hier: S. 149.
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Die Philologie schenkte dem Rätsel so lange Aufmerksamkeit, wie es als Gattung lebendig war und als ,Einfache Form‘ (André Jolles) zum Kulturbestand menschlicher nicht-literarischer Ausdrucksweisen gezählt werden durfte: Mit dem von linguistischer und literaturwissenschaftlicher Seite spätestens seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder propagierten Ende der Textsorte Rätsel,17 das in deutscher Tradition – übrigens gegenläufig zur angelsächsischen18 – an dem Aufkommen und raschen Verbreiten des Kreuzworträtsels in den Zwanzigern festgemacht wird,19 schwindet auch das philologische Theorieinteresse am Rätsel: Das Rätsel, das – in einer etwas zu einseitigen Lesart der kulturhistorischen Arbeiten Johan Huizingas20 – im 20. Jahrhundert allzu stark auf seine Spielfunktion reduziert worden ist, wird allenfalls noch als ludophiles, witziges ,Sprachereignis‘ wahrgenommen, das sich im „vordergründigen Bereich rationalen Spiels“21 erschöpft. Es sei nach einer semantischen Verschiebung, die um 1800 begann und um 1900 immer deutlicher wurde, in die Nachfolge des metaphysisch weitaus tiefgründigeren Begriffs des Geheimnisses getreten.22 In der Tat verliert mit Anbruch der Moderne die Textsorte Rätsel, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts infolge von Friedrich Schillers Turandot-
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Vgl. z. B. Schupp, Volker, „Nachwort“, in: ders. (Hg.), Deutsches Rätselbuch, Stuttgart 1972, S. 365-432, hier: S. 432: „Im Augenblick sind die Auspizien für das Rätsel nicht günstig, die unliterarischen Varianten sind aber fest verankert“. Etwas hoffnungsvoller äußert sich derselbe 30 Jahre später, vgl.: Schupp, Volker, „Rätsel“, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2002, S. 191-210, hier: S. 208: „Das literarische Rätsel freilich braucht nicht für tot erklärt zu werden, es könnte sich mit einer derzeit erkennbaren Veränderung des lyrischen Stils wieder etablieren“. 18 Vgl. hierzu: Arnot, Michelle, What’s Gnu? A History of the Crossword Puzzle, New York 1996 oder: Blanc, Nero, Corpus de Crossword, New York/ Berkeley 2003. 19 Vgl. hierzu: Wohlleben, Doren, „Rätsel und Literatur. Ethische Perspektiven einer hermeneutischen Grundfigur“, in: Butzer, Günter; Zapf, Hubert (Hg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. IV, Tübingen/ Basel 2009, S. 131-148, hier: S. 142 f. 20 Huizinga, Johan, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 182001, besonders S. 119-132. 21 Fuhrmann, Manfred, „Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarischen Theorie der Antike“, in: Iser, Wolfgang (Hg.), Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966, S. 47-72, hier: S. 53. 22 Vgl. z.B. Hörisch, Jochen, „Vom Geheimnis zum Rätsel. Die offenbar geheimen und profan erleuchteten Namen Walter Benjamins“, in: Assmann, Aleida und Jan (Hg.), Schleier und Schwelle. Bd. 2: Geheimnis und Offenbarung, München 1998, S. 161-178, hier: S. 163. Zu dem Problemhorizont von Geheimnis und Rätsel in der Bibelhermeneutik vgl. Herr, Bertram, „Das Geheimnis des Rätsels. ,Rätsel‘ als biblisch-theologische Größe (inklusive eines Forschungsberichts zu Ri 14,14,18)“, in: Gillmayr-Bucher, Susanne; Giercke, Annett; Nießen, Christina (Hg.), Ein Herz so weit wie der Sand am Ufer des Meeres. Festschrift für Georg Hentschel, Würzburg 2006, S. 165-178, hier: S. 165.
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Inszenierungen sowie der zahlreichen Rätselgesellschaften noch einmal eine letzte Blütezeit erlebt, als einfache Minimalgattung an Relevanz. Doch erstarkt mit Einbruch der Moderne das dunkle Rätsel als ethisch-ästhetische Kategorie [vgl. auch Kap. III.4]. In einer problematischen Dichotomisierung mit dem angeblich seriösen Geheimnis, die von einem Fragment Walter Benjamins ihren Ausgang nimmt,23 wird das Rätsel auf seine in der Rätselgeschichte lediglich fakultativen Definitionsmerkmale des Spiels und der Lösbarkeit reduziert.24 Bei jenem Spielkriterium handelt es sich allerdings nur um eine von zwei Facetten des Rätselbegriffs: Es kann in die Tradition des griechischen griphos-Begriffs (,das Netz, die Falle‘) gestellt werden und wurde erst seit den gesellschaftlichen Rätselspielen in der Barockzeit dominant, als der Gedanke der Dunkelheit (obscuritas) allmählich in den Hintergrund trat [vgl. Kap. I.4, II.2]. Wie virulent jedoch bis heute auch die ainigma-Tradition (,dunkles Wort, Rätsel‘) ist, wird erst dann ersichtlich, wenn man das Rätsel nicht mehr an einer isolierten Textsorte festmacht, sondern dem Rätsel als literarischer Form und literaturwissenschaftlicher Methode in größeren kulturund philosophiehistorischen Kontexten Beachtung schenkt [vgl. Kap. II.1, II.3]. Hierfür bedarf es auf der Basis der bisher zumeist disziplinär, synchron und auf die jeweilige Nationalliteratur ausgerichteten Monographien zum Rätsel, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen, einer diachronen und komparatistischen Betrachtungsweise. Diese muss ihre Erkenntnisse aus kultur-, zeiten- und gattungsübergreifenden Textlektüren beziehen, in denen das Rätsel nicht nur thematisch, sondern immer auch strukturell wirksam ist.
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Benjamin, Walter, „Über das Rätsel und das Geheimnis“, S. 17. Freimut Löser verweist darauf, dass der Begriff der Lösbarkeit in den Definitionen durch mittelalterliche Wörterbücher noch gar keine Rolle spielt: Löser, Freimut, „Rätsel lösen. Zum Singûf-Rumelant-Rätselstreit“, in: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996, hg. v. Joachim Heinzle, L. Peter Johnson und Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1998 (= Wolfram-Studien XV), S. 245-275, hier: S. 248. 24
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Zum Forschungsstand Ein Großteil der jüngeren Studien25 widmet sich der sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Textsortenbestimmung des Rätsels sowie seiner jeweiligen literaturhistorischen (SCHUPP (1972/2002), SCHITTEK (1991), TOMASEK (1994), BISMARK (2007), TUCKER (2011)) oder interkulturellen (HASAN-ROKEM/ SHULMAN (Hg.) (1996)) Relevanz. Hierbei geht es oft um die logische Struktur des Rätsels und dessen Abgrenzung zu Nachbargattungen, aber auch um die kulturelle Matrix,26 innerhalb derer Rätsel situiert sind. In zwei zeitgleich erschienenen, neueren Monographien werden die Parallelen und Differenzen zwischen der einfachen Form des Rätsels, für die im Englischen (riddle) sowie im Französischen (devinette) ein eigener Begriff zur Verfügung steht, und dem weiter gefassten Rätselbegriff (engl. enigma, frz. énigme), der von der rhetorischen Trope bis zur Erzählstruktur reicht, in den Blick genommen (COOK (2006), MASSOL (2006)): Das Rätsel spielt hier einerseits als literarische Minimalform innerhalb größerer narrativer Zusammenhänge eine Rolle, andererseits als ein generelles Strukturprinzip (organisation narrative) oder gar als masterplot. Es wird in der Literaturwissenschaft sowohl von hermeneutischer (MASSOL (2006)) als auch von poststrukturalistischer Seite (PUCCI (1996)) als Folie für einen je spezifischen Umgang mit Sprache und Welt nutzbar gemacht. Der noch weiter gefasste Begriff des Rätselhaften, im Deutschen oft analogisiert mit dem Ausdruck Theodor W. Adornos vom „Rätselcharakter“ des Kunstwerks, steht für eine philosophische oder philologische Grundhaltung schlechthin: Sie ist entweder darauf bedacht, interpretatorische Rätsel zu lösen und den Prozess des Fragens zu beenden (FISCHER (1985/2007)), oder, wie schon in einem aus den vierziger Jahren stammenden Aufsatz HELMUTH PLESSNERS (1943), deren Rätselhaftigkeit zu steigern, um die Dynamik des Fragens erst zu initiieren. Das Rätsel wird gerne dann in Anspruch genommen, wenn es um eine Aufwertung oder Neuperspektivierung der eigenen Fachdisziplin geht, beispielsweise der Textlinguistik (FIX (2000)) oder der Rhetorik (COOK (2006)). Vereinzelt findet, bisher nur in sprachwissenschaftlichen Einzelpublikationen (FIX (1996/2000)), ein Verweis auf den Handlungscharakter der Rätsel statt und somit auf deren ethische und soziale Funktion.
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Der Übersichtlichkeit wegen werden im Folgenden nur die Monographien zum Rätsel aufgeführt, einzelne Artikel (PLESSNER, FIX) nur dann, wenn in der Selbstpositionierung eine Bezugnahme stattfindet. Auf die zahlreichen weiteren Einzelpublikationen zum Rätsel, die, soweit erfasst, in der Gesamtbibliographie aufgeführt sind, wird thematisch in den jeweiligen Kapiteln eingegangen. 26 Hasan-Rokem, Galit; Shulman, David (Hg.), Untying the Knot. On Riddles and Other Enigmatic Modes, New York/ Oxford 1996, vgl..: “[…] our most sustained analyses centered on the systemic, axiological, and existential aspects of the riddle within specific cultural matrices” (S. 4).
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Die rhetorische Funktion des Rätsels wird in der bislang nur auf Englisch erschienenen Studie Enigmas and Riddles in Literature (2006) von ELEANOR COOK eingängig untersucht.27 Cooks Zielsetzung ist eine doppelte: Erstens rückt sie das Rätsel (riddle) als eine in der (Spät-) Antike noch durchaus präsente, heute aber in Vergessenheit geratene rhetorische Figur ins Bewusstsein (Kap. 2), die sie zu dem weiter gefassten Rätselbegriff (enigma) in Bezug setzt, der unter anderem als masterplot verstanden wird (Kap. 3). Cook rekurriert hierbei oft auf Northrop Frye,28 den sie neben Augustinus und Wallace Steven (Kap. 9) als den geistigen Vater ihrer vieljährigen Arbeiten zum Rätsel ansieht. Zweitens möchte sie anhand dieser exemplarischen rhetorischen Figur die Disziplin der Rhetorik als eine Grundlagenwissenschaft für philologische Textarbeit etablieren: “My own interest is rhetorical, because I think rhetorical knowledge is the sine qua non for reading literature” (S. xiii). Dies führt Cook in drei textanalytischen Fallbeispielen vor, die, bis auf eine Modellanalyse zu Dante (Kap. 4), der modernen und zeitgenössischen englischen Literatur entstammen (Kap. 7/9). Die Studie verschränkt die historische Perspektive (der Trope aenigma wird in rhetorischen Schriften von Aristoteles, Cicero, Quintilian, Augustinus und Donatus nachgespürt) mit einer systematischen (eine Typologie des Rätsels (enigma) wird erstellt, die auch einen Seitenblick auf literaturtheoretische Positionen wagt; S. 85-91). In ihrem kurzen Ausblick auf außerliterarische Formen des Rätsels, beispielsweise in der Diplomatensprache oder im Traum (Kap. 10), deutet Eleanor Cook die Möglichkeit an, dem Rätsel als plot eine neue Geltung zu verschaffen. Die Idee, das rhetorische Rätsel als – nun psychoanalytisches – Strukturprinzip nutzbar zu machen, greift BRIAN TUCKER in der jüngsten, englischsprachigen Monographie zum Rätsel auf: Reading Riddles. Rhetorics of Obscurity from Romanticism to Freud (2011).29 Er nimmt die in der vorliegenden Arbeit ausgesparte Epoche der deutschen Romantik in den Blick: Deren Schlüsselwort (“keyword”) sei das Rätsel als ein Schreibmodus der Dunkelheit (obscurity), Schwierigkeit (difficulty) und unterbrochenen Kommunikation (interrupted communication). Tucker fasst es als spezifischen, ästhetischen Code zwischen Zeichen und Zeichennutzer (S. 15). In einem ersten Großkapitel widmet er sich anhand beispielhafter Textlektüren Ludwig Tiecks dem Verhältnis von Rätsel und obscuritas in der Frühromantik (S. 27-106), in einem zweiten der Lesbarkeit
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Cook, Eleanor, Enigmas and Riddles in Literature, Cambridge 2006. Frye, Northrop, Anatomy of Criticism, Princeton 1957, zum ,Rätsel‘ vgl. besonders: S. 300 f. sowie ders., “Charms and Riddles”, in: ders., Spiritus Mundi: Essays on Literature, Myth, and Society, Bloomington 1976, S. 123-147 sowie ders., The Great Code: The Bible and Literature, Toronto 1982. 29 Tucker, Brian, Reading Riddles. Rhetorics of Obscurity from Romanticism to Freud, Lewisberg, Pa. 2011. 28
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der Psyche als menschlichem Rätsel (S. 109-171): Tucker vertritt die These, dass das frühromantische Textmodell des Rätsels die Basis für Sigmund Freuds Bestimmung der Psyche bilde. Neben den, wenn auch knappen Begriffsdifferenzierungen in der Einleitung (Riddle and Enigma/ Riddle and Secret/ Riddle and Joke; S. 15-19) liegt der Gewinn in der Nutzbarmachung der einst rhetorischen obscuritas-Tradition für ein nun psychoanalytisches Strukturmodell des 20. Jahrhunderts. Mit Blick auf eine gattungstheoretische Bestimmung des Rätsels ist die mediävistische Habilitationsschrift Das deutsche Rätsel im Mittelalter (1994) von TOMAS TOMASEK einschlägig.30 Die Anfangsüberlegungen gehen von der Gegenwart aus, wenn Tomasek den „gravierenden Funktionswandel“ (S. 2) des im Mittelalter noch überaus angesehenen Rätsels beschreibt. Im Rückgriff auf gattungshistorische Arbeiten zum Rätsel von Robert Petsch (1917),31 Mathilde Hain (1966)32 und Volker Schupp, dem Herausgeber und kenntnisreichen Kommentator des Deutschen Rätselbuchs (1972),33 setzt er mit einer grundlegenden Reflexion der Probleme einer Gattungsgeschichte des Rätsels an. Deren KorpusErstellung sei ebenso schwierig wie eine exakte terminologische Eingrenzung des Rätselbegriffs. Tomasek bestimmt das Rätsel als eine Gattung, die er als einen dialogisch verschlüsselten Text auffasst, der seiner Illokution nach eine Prüfungsfrage darstellt, aber mittels Merkmalsangaben, die einer geregelten Prüfungsfrage zuwider laufen, einen zu ratenden Lösungsbegriff charakterisiert (S. 53). Hiermit stützt er sich auf Alfred Schönfeldts bis heute grundlegenden Aufsatz „Zur Analyse des Rätsels“ (1978),34 der mit dem Begriff der Verschlüsselung erstmals literatur- und sprachwissenschaftliche Anknüpfungspunkte bot. Methodisch überzeugend ist Tomaseks Aufteilung in historische Konstanten und fakultative Konstituenten des Rätsels (S. 8). Dabei sind, insbesondere mit Blick auf das 20. Jahrhundert, seine Überlegungen zum Problem der Lösbarkeit von Interesse, die seines Erachtens kein diachron konstitutives Gattungsmerkmal ist und erst mit der Dominanz des Spielkriteriums zu einer vermeintlichen Konstante wurde: Anders als Volker Schupp dies in seiner Rezension von Tomaseks Schrift suggeriert,35 taugt die Lösbarkeitskonstituente nicht dazu, das Rätsel als historisches Gattungsphänomen zu definieren (S. 20). Die
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Tomasek, Tomas, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994. Petsch, Robert, Das deutsche Volksrätsel, Strassburg 1917. 32 Hain, Mathilde, Rätsel, Stuttgart 1966. 33 Schupp, Volker, „Nachwort“, in: ders. (Hg.), Deutsches Rätselbuch, Stuttgart 1972, S. 365-432. Vgl. auch: ders., „Rätsel“, in, Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2002, S. 191-210. 34 Schönfeldt, Alfred, „Zur Analyse des Rätsels“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie (97) 1978, S. 60-73. 35 Schupp, Volker, „Tomas Tomaseks Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994“, in: Arbitrium 14 (1996), S. 298-304, hier: S. 300. 31
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Anforderungen an Lösbarkeit seien nämlich erst aufgekommen, als der obscuritas-Gedanke in den Hintergrund trat. Auf der Grundlage von mehr als 150 „rätselgemäßen Texten des deutschen Mittelalters“ zeigt Tomasek die „Literarizität und Sinntiefe“ (S. 344) dieses in der Literaturgeschichte seiner Meinung nach bis heute zu unrecht vernachlässigten Genres auf. Aus Tomaseks akademischem Umfeld hervorgegangen ist HEIKE BISMARKS Dissertationsschrift Rätselbücher. Entstehung und Entwicklung eines frühneuzeitlichen Buchtyps im deutschsprachigen Raum (2007).36 Hier wird die Initiationskraft des Straßburger Rätselbuchs für die humanistische Rätselkultur erarbeitet und eine akribische Bestandsaufnahme der bis 1800 im deutschsprachigen Raum erschienenen deutschen und lateinischen Rätselbücher sowie eine erstmalige Synopse der Ausgaben der Christlichen Rätselbücher geleistet. Die Sprach- und Erkenntnisformen der Rätsel (1991) lautet der Titel der Qualifikationsschrift CLAUDIA SCHITTEKS, die, neben derjenigen Tomas Tomaseks, einen wichtigen Überblick über die Geschichte des Rätsels (S. 10-32) und die Geschichte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Rätsel (S. 32-69) bietet. Rätsel werden einleitend definiert als „diejenigen einfachen, gebundenen, volkstümlichen37 Sprachformen, die sich programmatisch dagegen sperren, klar zu reden und umstandslos und direkt erkannt zu werden“ (S. 3). Schittek wagt einen interdisziplinären Ansatz, indem sie eine heuristische (,Erkenntnis‘) sowie eine existentielle (,Erfahrung‘) Dimension des Rätsels fokussiert und nimmt so eine Mittlerposition ein zwischen der linguistisch-formalistischen sowie der religiös-metaphysischen Tradition des Rätsels: Ihre methodisch stark disparaten theoretischen Gewährsmänner sind der russische Formalist Viktor Šklovskij,38 dessen Begrifflichkeiten ,Verfahren‘ und ,Verfremdung‘ Schittek entlehnt, Sigmund Freud, auf dessen ,Traumarbeit‘ und Reflexionen
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Bismark, Heike, Rätselbücher. Entstehung und Entwicklung eines frühneuzeitlichen Buchtyps im deutschsprachigen Raum. Mit einer Bibliographie der Rätselbücher bis 1800, Tübingen 2007. 37 Zur folkloristischen Tradition des Rätsels vgl. auch: Kaivola-Bregenhøj, Annikki, Riddles. Perspectives on the Use, Function and Change in a Folklore Genre, Helsinki 2001. 38 Šklovskij, Viktor, „Die Kunst als Verfahren“, in: Striedter, Jurij, Russischer Formalismus, München 1971, S. 5-35, besonders: S. 23-31. Zu dem Zusammenhang von Verfremdung und Rätsel vgl. S. 27: „Aber die Verfremdung ist nicht nur ein Verfahren des erotischen Rätsels, des erotischen Euphemismus, sie ist Grundlage und ausschließlicher Sinn aller Rätsel. Jedes Rätsel repräsentiert entweder eine Erzählung von einem Gegenstand mit Worten, die ihn bestimmen und schildern, die man aber normalerweise bei einer Erzählung von diesem Gegenstand nicht verwendet […] oder eine eigenartige lautliche Verfremdung, gleichsam ein Nachäffen.“
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zum ,Witz‘ sie sich bezieht,39 sowie Walter Benjamin, von dem sie den Erfahrungsbegriff aus dem berühmten Erzähler-Essay übernimmt,40 leider ohne die etymologisch eigentlich naheliegende Verbindung des ,Rätsels‘ zu Benjamins Kategorie des ,Rats‘ zu ziehen. Analysen, die sich alle auf die Textsorte Rätsel im engeren Sinn beziehen, beschließen die Arbeit. Eine in ihrer Fragestellung für die eigene Untersuchung relevante, in ihrer Ausführung aber stark essayistische und – anders als der Titel dies erwarten lässt – terminologisch nicht immer trennscharfe Arbeit stellt die gräzistische, bisher nur auf Italienisch verfügbare Monographie PIETRO PUCCIS dar: Enigma. Segreto. Oracolo (1996).41 Gleich zu Beginn konstatiert Pucci die Wesensverwandtschaft und gegenseitige Abhängigkeit seiner drei Titelbegriffe: „Ciascuno dei tre enunciati partecipa attivamente al dispositivo degli altri“ (S. 9). Jedem widmet er in ausführlichen Lektüren altgriechischer Textbeispiele je ein Großkapitel, wobei das ,Rätsel‘ (enigma) die Basis für die beiden folgenden Kapitel zum ,Geheimnis‘ (segreto) und ,Orakel‘ (oracolo) bildet: In Puccis, wenn auch nicht als solcher deklarierten, postmodernen Lesart stellt das Rätsel das Paradigma schlechthin für die irreduzible Zeichenhaftigkeit der Sprache dar, innerhalb derer das Signifikat immer schon in der Position des Signifikanten ist (S. 20). Das Lösbarkeitskriterium sei für die antiken Texte gänzlich irrelevant, denn auch wo eine Lösung gegeben werde, wie im Fall Ödipus, stelle diese lediglich die Ausgangsbasis neuer Rätsel dar. Zudem sei die Lösung nicht fixiert, was Pucci, nicht ganz überzeugend, mit einem neuen Lösungsvorschlag für die Antwort auf das Sphinx-Rätsel zu beweisen versucht, nämlich „das Schiff (barca)“ statt „der Mensch“ (S. 32). Seine postmoderne Lektüre, die inspiriert ist von Giogio Agambens früher Monographie Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur (1977),42 macht Pucci schon an den ersten ,klassischen‘ Rätseln fest, wie dem Homer-Rätsel und dem Sphinx-Rätsel. Er dekonstruiert deren – vor allem infolge Hegels – metaphysische Lesart, welche die intellektuelle Selbstbewusstwerdung des Menschen betont oder gar das Rätsel als Medium zur Wahrheit auffasst (S. 37). Dementsprechend folgert Pucci in
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Freud, Sigmund, „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“, in: ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Bd. IV: Psychologische Schriften, Frankfurt am Main 1970, S. 9-219. 40 Benjamin, Walter, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2: Literarische und ästhetische Essays, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Frankfurt am Main 1977, S. 438-465. 41 Pucci, Pietro, Enigma. Segreto. Oracolo, Pisa/ Rom 1996. 42 Agamben, Giorgio, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, Titel der italienischen Originalausgabe: Stanze. La parola e il fantasma nella cultura occidentale (1977/1993), übersetzt von Eva Zwischenbrugger, Zürich/ Berlin 2005, besonders: S. 209-219.
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seinem Schlusswort: „La cultura antica, attraverso l’enigma, il segreto e l’oracolo ha preferito sottolineare la deficienza della parola a dire la presenza e la verità“ (S. 193). Aus einer hermeneutischen Richtung kommt die Dissertationsschrift CHANTAL MASSOLS aus dem Jahre 1997, die 2006 als überarbeitete, stark gekürzte Version mit dem Titel Une poétique de l’enigme. Le Récit herméneutique balzacien auf Französisch erschienen ist.43 Auch wenn es sich um eine textimmanente, bis auf wenige Exkurse in der Einleitung synchrone Interpretation von Balzacs La Comédie humaine handelt, deren Wesensgleichheit (consubstantialité) mit den nicht weiter voneinander differenzierten Phänomenen Geheimnis (secret), Rätsel (énigme) (S. 11), später auch Mysterium (mystère) betont wird, lässt sich die dort entwickelte strukturalistische Lesart des Rätsels als eines Erzählprinzips (S. 51) auch für die (post-)moderne Literatur weiterdenken: Massol führt den definitorisch vagen Begriff eines récit à énigme ein, der sich von dem geläufigeren Ausdruck récit d’énigme dadurch unterscheidet, dass er sehr viel weiter gefasst und nicht nur in Genres mit klassischen Rätselprinzipien, wie beispielsweise dem Kriminalroman, aufzuspüren ist, sondern eben auch im realistischen Roman (S. 34). So könne der récit d’énigme allenfalls eine mögliche Aktualisierung des récit à énigme darstellen. Letzterer müsse, anders als die von Massol in früheren Schriften gebrauchte und inzwischen verworfene Wendung récit énigmatique dies suggeriert, selbst nicht rätselhaft sein und finde sich daher auch im realistischen Schreiben. Doch sei er zunächst einmal – und hier scheint Massol wieder hinter ihren auf die organisation narrative (S. 33-80) fokussierten Ansatz zurückzufallen – auf die Erzählung eines Rätsel (als Gegenstand der Erzählung) angewiesen: „Un récit à énigme est d’abord le récit d’une énigme“ (S. 34). Das Rätsel (énigme) stelle in Balzacs Romanen aufgrund seiner strukturierenden Funktion (fonction structurante) (S. 51) die beliebteste Erzählform dar und fordere immer zu einer, von Massol nicht konkretisierten hermeneutischen Aktivität (activité herméneutique), gar zu einem interpretatorischen Zwang (compulsion interprétative) heraus (S. 12). DAGMAR FISCHER wählt in zwei literaturwissenschaftlichen Monographien den Begriff „Rätselcharakter“ als Titelschlagwort, der durch Theodor W. Adorno zum Durchbruch gelangte,44 was Fischer aber nicht erwähnt, geschweige denn reflektiert: Der Rätselcharakter der Dichtung Kafkas (1985)45 sowie Der Rätselcharakter Franz Kafkas und Thomas Manns ,Der Zauberberg‘. Textimmanente
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Massol, Chantal, Une poétique de l’énigme. Le Récit herméneutique balzacien, Genève 2006. 44 Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, S. 191. 45 Fischer, Dagmar, Der Rätselcharakter der Dichtung Kafkas, Frankfurt am Main/ Bern/ New York 1985.
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Interpretation (2007).46 Bei beiden handelt es sich, wie der Untertitel der mehr als zwanzig Jahre jüngeren, methodisch aber eng an die Dissertationsschrift (1985) anknüpfenden Arbeit deutlich macht, um textimmanente, oft motivisch ausgerichtete Analysen, welche eine „Dechiffrierung“ (2007, S. XI) unter anderem juristischer, etymologischer, religionshistorischer, chassidischer und astrophysikalischer Zusammenhänge verspricht. In einer für wissenschaftliche Publikationen unüblichen und rührend-naiv anmutenden Ansprache an den Leser beteuert Fischer, dieses Ziel endgültig erreicht zu haben: „Die Dekodierung von Kafkas Rätseln ist eine Sisyphusarbeit gewesen […]. Erst wenn Sie über Kafkas Werk und Leben alles Verfügbare kennen, werden Sie ihn verstehen, ebenso in den Parallelen, wo er sich oft wiederholt“ (2007, S. XV). Nicht wegen ihrer Relevanz für die Rätselforschung werden diese beiden Werke hier angeführt, die sehr bescheiden ist: Lediglich in der zweiten Schrift kommt Fischer eine knappe Seite lang (S. XIIIf.) auf den Rätselbegriff zu sprechen, bei dem sie sich unkritisch auf das inzwischen mehr als 40 Jahre alte Einführungsbändchen Mathilde Hains (1966) bezieht. Und obwohl Fischers Überlegungen zu „Mysterium und Initiation“ (1985, S. 15-39) sowie zu „Orakel und Gericht“ (1985, S. 315-344) spannende Anschlussmöglichkeiten an eine theoretische Explikation des Rätselbegriffs böten, bleibt diese Chance ungenutzt. Interessant ist jedoch die Grundhaltung und Selbstpositionierung der Literaturwissenschaftlerin, die sich als endgültige Rätsellöserin geriert und gegen einen angeblichen akademischen Machtdiskurs opponiert. Neben ihren Lektürelösungen stellt Fischer sogar Lektüreerlösungen in Aussicht: „Doch die Leser von Kafkas Prosa und Thomas Manns ,Zauberberg‘ werden staunen, denn mit der dahinter liegenden Geheimschrift wird oft langweilige Lektüre (Kafkas Romane) erst interessant und bietet den Studenten endlich wieder neue Forschungsansätze“ (2007, XVI). Was sich hier wie ein werbestrategischer Klappentext liest, ist von einer metaphilologischen Perspektive aus, die von der Autorin wohl kaum intendiert war, durchaus frag- und befragungswürdig: (Inwieweit) Kann und will die Literaturwissenschaft ,Lektüreschlüssel‘ bieten, Rätsel lösen? Der Rätselhaftigkeit nicht der Literaturwissenschaft, sondern der Philosophie widmet sich ein in der Rätselforschung bisher leider unberücksichtigter Aufsatz HELMUT PLESSNERS aus dem Jahre 1943: „Über die Rätselhaftigkeit der Philosophie“.47 Lange vor den postmodernen Zertrümmerungsversuchen philosophischen Systemdenkens und eventuell in einem nicht explizierten Seitenblick auf
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Fischer, Dagmar, Der Rätselcharakter der Prosa Franz Kafkas und Thomas Manns ,Zauberberg‘. Textimmanente Interpretation, Frankfurt am Main/ Berlin/ Bern/ Bruxelles/ New York/ Oxford/ Wien 2007. 47 Plessner, Helmuth, „Über die Rätselhaftigkeit der Philosophie“, in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Salvatore Giammusso und Hans-Ulrich Lessing, München 2001, S. 217-230.
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Friedrich Nietzsche plädiert Plessner für die Besinnung der Philosophie, die in neuerer Zeit immer wieder dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt sei, auf ihre ursprüngliche „Frageform“ (S. 218): das Rätsel. Letzteres sei erst durch die sehr viel jüngere Erscheinung des ,Problems‘ verdrängt worden, doch: „Problem ist jünger als Rätsel. Erst war das Rätsel, dann die Wissenschaft mit ihrer Kunst beantwortbaren Fragens. Die Philosophie steht zwischen beiden Arten von Frage“ (S. 219). Am Schluss seiner luziden Überlegungen arbeitet Plessner Parallelen und Differenzen zwischen dem philosophischen Denken und dem Rätseldenken heraus, die in den aktuellen Forschungen zu einer Ästhetik des Fragens wieder an Brisanz gewinnen könnten. Plessner bezieht sich eng auf die in der Literatur- und Kulturwissenschaft heftig diskutierte, aber bis heute einschlägige und viel zitierte Schrift von André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (1930/ 61982).48 Jolles befasst sich mit morphologischen ,Urformen‘, im Goetheschen Sinne, die in ihrer meist anonymen Erscheinungsweise eine Zwischenstellung zwischen volkstümlicher und literarischer Dichtung einnehmen. Diesen Grundformen vorliterarischen Erzählens eignet nach Jolles je eine spezifische Art des poetischen Zugriffs auf die Wirklichkeit. Ihnen ordnet er erstens ,Geistesbeschäftigungen‘ zu, sprich deren jeweilige Auseinandersetzung mit der Welt oder allgemeinste Intention (vergleichbar mit der ,Textillokution‘), und zweitens ,Sprachgebärden‘, also sprachliche Gestaltungsmöglichkeiten, welche die ,einfachen Formen‘ trennen und unterscheiden (vergleichbar mit der ,Textlokution‘).49 Sie bilden die Grundlage seiner Typologie. André Jolles’ Monographie fand in der Sprachwissenschaft und deren Textsortenbestimmungen zum Rätsel bisher wenig Beachtung. Eine Ausnahme stellen zwei Aufsätze von ULLA FIX dar, die mit ihrer textlinguistischen, kulturanalytischen Bezugnahme auf Jolles’ ,einfache Form‘ des Rätsels eine spannende Querverbindung zur literaturwissenschaftlichen Rätselforschung ermöglichen. Während Fix in ihrem ersten Artikel „Was ist aus André Jolles’ ,Einfachen Formen‘ heute geworden? Eine kulturanalytische und textlinguistische Betrachtung“ (1996)50 die Aktualität des Jolleschen Ansatzes im Allgemeinen befragt, widmet
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Jolles, André, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 61982. 49 Vgl. hierzu auch: Fix, Ulla, „Zitier-, Reproduzier- und Mustertextsorten. Die Jollesschen Begriffe Sprachgebärde und Geistesbeschäftigung als Anlass zum Nachdenken über produktiven und rezeptiven Umgang mit Texten“, in: Linke, Angelika; Falke, Helmuth (Hg.), Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt, Tübingen 2009, S. 353-368. 50 Fix, Ulla, „Was ist aus André Jolles’ ,Einfachen Formen‘ heute geworden? Eine kulturanalytische und textlinguistische Betrachtung“, in: Hertel, Volker; Barz, Irmhild; Metzler, Regine; Uhlig, Brigitte (Hg.), Sprache und Kommunikation im Kulturkontext. Beiträge
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sie sich in ihrem zweiten explizit dem Rätsel: „Das Rätsel. Bestand und Wandel einer Textsorte. Oder: Warum sich die Textlinguistik als Querschnittsdisziplin verstehen kann“ (2000).51 Ihr allgemeines Plädoyer für eine überdisziplinäre Textwissenschaft macht Ulla Fix an der ihres Erachtens bis heute lebendigen Textsorte des Rätsels fest, die sie allerdings nur noch jenseits ihres ursprünglich literarischen Mediums, beispielsweise in Funk und Fernsehen oder in der Werbung, vorzufinden glaubt (S. 201-207). Vielleicht hätte es der Aufgabe der literarischen Textform gar nicht bedurft, um ihren innovativen Ansatz plausibel zu machen: Indem Fix auf Hermann Gunkels altes, aber immer noch wirkmächtiges Gattungskonzept vom ,Sitz im Leben‘ (1933)52 zurückgreift, deutet sie implizit auf die Notwendigkeit einer lebensweltlichen Kontextualisierung der meist isoliert betrachteten Textsorte Rätsel hin, deren primäre Funktion sie in ihrem „geistig-ordnenden Zugriff auf die Welt“ (S. 189) sieht. Fix rückt, was auch in der literaturwissenschaftlichen Rätselbetrachtung viel zu kurz kommt, den „Handlungscharakter der Rätseltexte“ (S. 195) in den Mittelpunkt. Sie bestimmt das Rätsel also weniger anhand der viel beachteten Kategorien der Textlokution und Textproposition als an derjenigen der Textillokution, die sie als ein Fragen, das zum Antworten herausfordert, bestimmt. Hierbei seien, in enger Anlehnung an Jolles, der Akt des Lösens sowie das Bedürfnis, den anderen zum Wissen zu bringen, das eigentlich Entscheidende. Wenn man die Textillokution, also die Textfunktion und ihr Interaktionsziel, nicht ausschließlich, wie Ulla Fix dies tut, an der „formale[n] Mindestanforderung“ des Fragesatzes, der die Antwort bereits in sich trägt (S. 196), festmachte, sondern zudem ,Fragehandlungen‘53 gelten ließe, die textsortenübergreifend vorzufinden sind, könnte dem Rätsel auch im literarisch-ästhetischen Feld wieder eine neue Bedeutung zugemessen werden.
zum Ehrenkolloquium aus Anlaß des 60. Geburtstages von Gotthard Lerchner, Frankfurt am Main/ Berlin/ Bern/ Bruxelles/ New York/ Oxford/ Wien 1996, S. 105-120. 51 Fix, Ulla, „Das Rätsel. Bestand und Wandel einer Textsorte. Oder: Warum sich die Textlinguistik als Querschnittsdisziplin verstehen kann“, in: Barz, Irmhild; Fix, Ulla; Schröder, Marianne; Schuppener, Georg (Hg.), Sprachgeschichte als Textsortengeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gotthard Lerchner, Frankfurt am Main/ Berlin/ Bern/ Bruxelles/ New York/ Oxford/ Wien 2000, S. 183-210. 52 Gunkel, Hermann, Einleitung in die Psalmen: Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, Göttingen 1986. 53 Wunderlich, Dieter, Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt am Main 1976, S. 181 f.
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Rätsel und Anfang: Das Rätsel als Urzeichen der Antike
Der Anfang des Rätsels und das Rätsel des Anfangs weisen eine strukturlogische Affinität auf. Beide greifen auf die Vorstellung eines vorausliegenden Dunkels zurück, auf ein Unvordenkliches vor Anfang der Welt. Historisch wie anthropologisch ist das Rätsel immer wieder auf den Anfang menschlicher Denk- und Dichttradition zurückgeführt worden: „Alle Völker auf den ersten Stufen der Bildung sind Liebhaber von Rätseln“, heißt es in Johann Gottfried Herders Vom Geist der ebräischen Poesie (1783), „die Kinder sind es auch und aus demselben Grunde. Ihr Witz und Scharfsinn, ihre Bemerkungs- und Dichtungsgabe äußert sich damit über einzelne Gegenstände auf die leichteste Weise“.1 Dem Anfang des Rätsels wird ein kulturstiftendes Moment zugeschrieben, wobei Kultur und Kult eng aufeinander bezogen sind: So gilt das Rätsel dem Kulturhistoriker Johan Huizinga als ein im religiösen Ritual (im Kult) verwurzelter Wettstreit, aus dem im heiligen Spiel das philosophische Denken (die Kultur) geboren ist.2 I.1
Rigveda (1500-1000): Rätsellieder und Schöpfungsakte
Der Kosmos als Rätsel: der Anfang der Schöpfung – Das heilige Wort als Rätsel: der Anfang der Sprache – Das religiöse Ritual als Rätselspiel: der Anfang ritueller Handlung Beispielhaft hierfür ist eines der ältesten Literaturdenkmäler der Menschheit und das älteste Textdokument Indiens, der Rigveda, eine auf ca. 1500-1000 v. Chr. datierte nordindische Sammlung von Opfergesängen im archaischen Indoarisch (,vedischen Sanskrit‘). Dessen insgesamt 1028 Hymnen, die in zehn Bücher, eigentlich Kreise (mandala), eingeteilt sind,3 sind metrisch streng geformt und
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In: Herder, Johann Gottfried, Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 12, Berlin 1880, S. 192. 2 Vgl. hierzu: Huizinga, Johan, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 182001, S. 119-132. 3 Ursprünglich wurden nur 1017 Hymnen in zehn Bücher eingeteilt, dazu kommen noch einige nachgetragene Hymnen, so dass sich die Zahl von 1028 ergibt. Vgl. hierzu:
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Kapitel I: Rätsel und Anfang
erinnern an eine rein orale Epoche der indischen Geistesgeschichte.4 Sie richten sich an vedische Gottheiten und personifizierte Naturphänomene, mit denen die Priester die Götter zum Opfermahl einluden, sie wohlwollend stimmten und sie gegebenenfalls auch bezwangen, ihre Wirkung zu entfalten. Jeder Opferspruch (bráhman: ,heiliges Wort‘, ,das gesprochene Wort‘) wird auf eine göttliche Offenbarung zurückgeführt, auf eine heilige Rede, die von einem Priester (brahmán) wortgetreu rezitiert werden musste. Nur so glaubte man, die magische Kraft der Lieder erhalten zu können, deren Sprache mit ihrem großen altertümlichen Wortschatz und ihren alten Formen bereits für die Zeitgenossen kompliziert und enigmatisch anmutete.5 Poesie (rig)6 und Wissen (veda)7 sind in der rigvedischen Dichtung noch unlösbar miteinander verbunden. Ihre gemeinsame strukturelle Grundfigur bildet das Rätsel, das neben einer Verstehens- auch eine Lebensform darstellt. Denn in der indischen Philosophie,8
„Kommentar: Der Rig-Veda“, in: Rig-Veda. Das heilige Wissen. Erster und zweiter Liederkreis. Aus dem vedischen Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Michael Witzel und Toshifumi Gotō unter Mitarbeit von Eijirō Dōyama und Mislav Ježić, Frankfurt am Main 2007, S. 425-483, hier: S. 441. Da in dieser neuen Ausgabe (2007) nur die ersten beiden Liederkreise (Buch I und II) enthalten sind, muss bei Verweis auf die späteren Bücher (im Folgenden vor allem Buch VIII und X) auf die alten Ausgaben von 1876/77 zurückgegriffen werden: Rig-Veda. Übersetzt und mit kritischen und erläuternden Anmerkungen versehen von Hermann Grassmann. In zwei Theilen. Erster Theil (2. und 8. Buch), Leipzig 1876; Zweiter Theil (1., 9., 10. Buch), Leipzig 1877. Durch Angabe der Jahreszahl wird jeweils kenntlich gemacht, nach welcher Ausgabe im Folgenden zitiert wird. 4 Inwieweit es bei der Niederschrift zu Änderungen auf der inhaltlichen oder formalen Ebene kam, ist ungewiss. Vgl. hierzu: Desai-Breun, Kiran, Anschauen und Denken, Reden und Schreiben. Zur Struktur philosophischer Tätigkeit in ihren Anfängen in Indien und Europa, Würzburg 2007, S. 60. 5 Vgl. hierzu: „Kommentar: Der Rig-Veda“ (2007), S. 446. 6 Rig leitet sich von dem Wort ṛc für ,Preislied, Strophe, Vers‘ her. 7 Veda bedeutet ,das Wissen‘ und stammt von der Verbalwurzel vedi /vidi, mit der auch das dt. Wort ,wissen‘ verwandt ist. 8 Ob es überhaupt legitim ist, von indischer ,Philosophie‘ zu sprechen, ist strittig: Der Begriff ,Philosophie‘ gilt oft als griechische Errungenschaft und wird auf drei intrinsische Faktoren zurückgeführt: 1. die griechische Sprache, 2. die griechische Schrift (abstrakte Gegenstände statt handelnde Personen; statische Prädikate in der Prosaliteratur statt dynamische in der Epik; erst durch die Schrift wird es möglich, auf die Rede und ihre Strukturen zu reflektieren; die Schrift führt zur Trennung des Wissenden vom Wissen und zur Entdeckung des Selbst) und 3. die griechische Religion/ der Mythos. Die Übertragung der Voraussetzungen griechischer Philosophie auf die indische Denktradition wird in mindestens zwei Punkten problematisch: 1. der Konflikt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit fehlt in Indien, 2. ebenso fehlt der Konflikt zwischen Philosophie und Religion, da die indische Philosophie selbst auf die Frage nach Erlösung hin
Kapitel I: Rätsel und Anfang
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in der es im Gegensatz zur griechisch-antiken Philosophie keine Theorie um ihrer selbst willen gibt, da der Emanzipationsanspruch des Logos vom Mythos nie gegeben war, ist das Endziel nicht nur ein heuristisches, sondern darüber hinaus ein soteriologisches: Statt einer bloßen Lösung des Rätsels wird eine Erlösung durch das Rätsel angestrebt. Auf drei, sich teils überlagernden Ebenen ist das Rätsel von Relevanz: auf einer a.) inhaltlichen (der Kosmos als Rätsel), auf einer b.) formalen (das heilige Wort als Rätsel) sowie auf einer c.) kulturpraktischen (das religiöse Ritual als Rätselspiel). Immer geht es dabei um Konzeptionen des Anfangs, um a.) den Anfang der Schöpfung, um b.) den Anfang der Sprache und um c.) den Anfang ritueller Handlung. Der Kosmos als Rätsel: der Anfang der Schöpfung Die Frage nach dem Anfang der Welt wird am intensivsten im ersten sowie im zehnten Liederkreis verhandelt, bei dem man aufgrund einzelner inhaltlich und sprachlich jüngerer Elemente mutmaßt, dass es sich um ein Nachtragsbuch handelt. Sie wird nicht nur als „ein ungelöstes Räthsel“9, sondern auch in Rätselform dargestellt, in einer paradoxen Sprach- und Erkenntnisform, die ein identitätslogisches Denken suggeriert. Die Grundhaltung der Suche sowie der Gedanke der Einheit verbinden die Schöpfungslieder, die, wie im Lied 164 des ersten Liederkreises, einer Sammlung von Allegorien und Rätselfragen, in den europäischen Übertragungen10 als Rätsellieder (brahmodyāni) bezeichnet werden und im Kontext des Rituals zu verorten sind. Dort wird die Einheit des Göttlichen unter den Begriff des Einen gefasst, der im Rigveda zum ersten Mal vorkommt: Die einzelnen vedischen Götter lösen sich in ihrer individuellen Gestalt auf und gehen ineinander über, bis sie als Eines verstanden und aufgerufen werden. Die Suche nach Einheit wird als die Suche eines Menschen geschildert, der noch unwissend ist, aber nach Weisheit strebt, sich also in einem Zwischenbereich zwischen Nichtwissen und Einsicht befindet. Im vermutlich später hinzugefügten Lied 129 des X. Buches erreicht diese Suche bereits eine höhere Stufe der Abstraktion: Die Erschaffung der Welt
perspektiviert ist. Vgl. hierzu auch: Desai-Breun, Kiran, Anschauen und Denken, Reden und Schreiben, S. 18. 9 Rig-Veda (1877), S. 406 [Kommentar zu X, 129]. 10 Das Sanskrit kennt keinen expliziten Begriff für ,Rätsel‘, vergleichbar dem altgriech. ainigma. Bei der Kategorisierung der brahmodyāni als Rätsellieder handelt es sich um eine externe Zuschreibung. Bráhman meint zunächst einmal das heilige, das gesprochene Wort, das in seiner numinosen Dunkelheit mit heuristischer Leuchtkraft [vgl. Kap. III.3] aber deutliche Parallelen zu der europäischen Tradition des ,Rätselwortes‘ (ainigma) aufweist.
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Kapitel I: Rätsel und Anfang
wird nicht mehr als eine göttliche Handlung betrachtet, sondern als eine abstrakte Schöpfung des Kosmos aus dem Nichts. Das unvordenkliche Dunkel, welches das in Lichtmetaphorik umschriebene Eine („Glut“) verhüllt, ist hier erstmals mit der Unerklärbarkeit des Anfangs in Verbindung gebracht. Unvordenklich ist es deshalb, weil es unserem an Dichotomien gewöhnten (Sprach-) Bewusstsein dermaßen fremd erscheint, dass es immer nur ex negativo und erst retrospektiv, in Relation zur Gegenwart, beschrieben werden kann: X, 129 Entstehung der Welt 1. Zu jener Zeit war weder Sein, noch Nichtsein, nicht war der Lichtraum, noch der Himmel drüber; Was regte sich? und wo? in wessen Obhut? war Wasser da? und gab’s den tiefen Abgrund? 2. Nicht Tod und nicht Unsterblichkeit war damals, nicht gab’s des Tages noch der Nacht Erscheinung; Nur eines hauchte windlos durch sich selber und ausser ihm gab nirgends es ein andres. 3. Nur Dunkel war, verhüllt von Dunkel, anfangs und unerkennbar wogte dieses alles; Vom leeren Raum war zugedeckt die Oede, das Eine war durch Macht der Glut geboren. […]11
Ausgegangen wird von einem Zustand reiner Identität („das Eine“), dem das Denken der Differenz ebenso fehlt wie die Erfahrung der Alterität („und ausser ihm gab nirgends es ein andres“). Beide wären nötig, um die Entstehung der Welt in ein rationales Ordnungsgefüge einzugliedern. Ohne letzteres lässt sich der Anfang des Intelligiblen nicht intelligibel machen. Er bedingt ein narratologisches Problem: Dieses entsteht immer dort, wo der darzustellende Anfang zugleich der Anfang der für die Darstellung benötigten Mittel ist, der Text also auf etwas aufbaut, was laut Text noch nicht vorhanden ist. Heutiges Wissen und damaliges (Noch-)Nicht-Wissen müssen narrativ in einer Form vermittelt werden, welche die hermeneutische Unzulänglichkeit zeigt, ohne sie aufzulösen. Am besten gelingt dies, indem das Wissen selbst zum Thema gemacht und in Frage gestellt wird. So in der letzten Strophe dieses Rigveda-Hymnus, in welcher der Dichter als ein Suchender spricht, der sich der Grenzen des Wissens bewusst ist und Zweifel hat, ob das, was er wissen will, überhaupt gewusst werden kann: 7. Von wannen diese Schöpfung sei gekommen, ob sie geschaffen oder unerschaffen,
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Rig-Veda (1877), S. 406; Hymnus X, 129: Entstehung der Welt [in Auszügen].
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Der auf sie schaut im höchsten Himmelsraume, der weiß allein es, oder weiss ers auch nicht?12
Wissen (veda) bedeutet in dieser archaischen Kultur mehr als Macht, es kommt einer Zaubermacht gleich: „Im Grunde ist für ihn [den frühen Menschen, D. W.] eine jede einzelne Kenntnis heilige Kenntnis, geheimes, zauberkräftiges Wissen. Denn für ihn steht eigentlich jede Kenntnis in direkter Beziehung zur Weltordnung selbst.“13 Gewährleistet werden kann eine göttlich-kosmische Ordnung nur durch die genaue Bewahrung des Wissens, insbesondere durch das Wissen um den kosmischen Ursprung. Dieses Wissen ist verrätselt, der Zugang zu ihm kommt einer Einweihung gleich. Das Rätsel ist also zunächst Medium, um überhaupt zum Wissen und hiermit zur gesellschaftlichen sowie religiösen Macht zu gelangen. Doch beschränkt es sich nicht auf diese Mittlerfunktion: Es geht weder um eine Überwindung noch um eine Lösung des Rätsels. Denn der Initiierte lernt keine wissenschaftliche Theorie, welche die Rätselhaftigkeit kosmischer Phänomene beseitigt. Vielmehr erwirbt er die Fähigkeit, im Ritual mittels bestimmter Rezitationstechniken das Rätselhafte dermaßen zu steigern, dass es für die Hörer als poetisches Ereignis erlebbar wird. Im Idealfall vermag eine derartige, zunächst ästhetische Erfahrung bei der Hörerschaft sogar religiöse oder ethische Handlungen zu initiieren, so beispielsweise eine Fortsetzung der Askese.14 Der Anfang des Wissens besteht – anders als später bei den Vorsokratikern im antiken Griechenland – folglich keinesfalls darin, den rätselhaften Anbeginn der Welt in rationaler Retrospektive auf einen statischen Urgrund, z. B. auf ein Naturelement oder ähnliches, zu reduzieren. Es soll stattdessen eine dynamische, prospektive Anfänglichkeit immer neu spürbar gemacht und zum Staunen verleitet werden. Das Staunen ist nicht, wie bei den alten Griechen, auf das Alltägliche bezogen, das plötzlich unerklärlich wird und zur vorsokratischen Naturspekulation führt, die mit der mythischen Welt bricht. Im Gegenteil nimmt es außermenschliche, kosmische Phänomene in den Blick und eröffnet so einen mythischen Umgang mit dem Kosmos, der eine Grenzziehung zwischen Religion und Philosophie erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht. Der Kosmos muss, will er Gegenstand des Wissens bleiben, als Rätsel konzipiert sein, was allein durch eine spezifische, nur den Priestern eigene Ausdrucksweise gelingen kann. Und diese Rätselhaftigkeit kosmischer Erscheinungen wird im Blitz symbolisiert. Denn dessen Wirkung ist der des bráhman vergleichbar, das in der Kena-Upaniṣad 3, 15 als ,Wunderding‘ (yakṣam) bezeichnet wird, dem man sich mit einem numinosen Gefühl nähert, ohne es je erforschen zu wollen: „Über
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Ebd. Huizinga, Johan, Homo ludens, S. 119. 14 Vgl. hierzu: Desai-Breun, Kiran, Anschauen und Denken, Reden und Schreiben, S. 139. 13
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Kapitel I: Rätsel und Anfang
selbiges [das Brahman] ist diese Unterweisung. Was an dem Blitze das ist, daß es blitzt und man ruft ,ah‘ und schließt die Augen, – dies, daß man ,ah‘ ruft [ist seine Unterweisung] in Bezug auf die Gottheit“ (Kena-Upaniṣad, 4, 29).15 Das heilige Wort als Rätsel: der Anfang der Sprache Die Wissensvermittlung der Opferpriester untereinander, die im geheimen Bund unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, ist an eine literarisch hoch artifizielle Darstellungsform gebunden:16 Nur der gut formulierten poetischen Rede (vāc) wohnt eine übernatürliche Kraft inne. Diese gesprochene Rede, die in einigen Lobeshymnen des X. Buches als anthropomorphe Gottheit, als Göttin Vāc, dargestellt ist (X, 71/ X, 125), ist als eine omnipotente Macht, als Lebensprinzip und Seele des Menschen in die Sphäre des Heiligen gerückt. In der achtstrophigen Hymne 125 des X. Buches preist sie in einer Prosopopöie ihre eigene göttliche Vormacht- und Allmachtstellung: 3. Ich bin die Fürstin, Sammlerin der Güter, zuerst hab’ ich erkannt die heil’gen Götter; Drum haben sie mich überall verbreitet, die ich in vieles dringe und drin weile. 4. Ich bin’s, durch die man Speise isst und athmet, durch die man sieht und das Gesagte höret, Und unbewusst sind sie in meiner Herrschaft; so hört, vernehmt, mein Wort verdienet Glauben. 5. Ich bin es, die ich selber das verkünde, was angenehm bei Göttern ist und Menschen; Wem hold ich bin, den mach’ ich auch gewaltig, zum Priester ihn, zum Dichter und zum Weisen.17
Vāc, die personifizierte Rede, die hier an den Anfang der Welt gesetzt wird, ist zwar allgegenwärtig, erschließt sich aber nicht jedem („Wem hold ich bin“). Ihr Wort ist immer Rätselwort und nur Auserwählten zugänglich. Es zu kennen, bedeutet noch lange nicht, es zu erkennen. So auch in X, 71:
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Zitiert nach: ebd., S. 58. Es handelt sich nicht, wie man vor 150 Jahren in romantischem Überschwang annahm, um einfache Volks- und Naturpoesie, die etwa nach Max Müller (1823-1900) lediglich Naturgeschehnisse in mythologischer Form darstellt, sondern um eine komplizierte, ausgefeilte Dichtung, die den Nachglanz der indoiranischen und indogermanischen Dichtkunst darstellt. Vgl. hierzu: „Kommentar: Der Rig-Veda“, S. 449. 17 Rig-Veda (1877), S. 402 f.; Hymnus X, 125: Die Göttin als personificirte Rede (vāc) preist ihre Macht [in Auszügen]. 16
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4. Manch einer sieht es und durchschaut das Wort nicht, manch einer hört es und vernimmt es doch nicht, Dem andern gibt es willig sich zu eigen, wie liebend dem Gemahl die schöne Gattin.18
Voraussetzung für ein wahres Reden ist ein gutes Leben: „Wer seinen Freund verlässt, den treugesinnten,/ bei dessen Wort ist nimmermehr ein Segen“ (X, 71, 6). Das Dichterwort stellt demnach nicht nur eine heuristische, sondern zugleich eine ethische Form dar; es muss gelebt, ja vorgelebt werden: 10. Die Freunde freun sich alle ihres Freundes, wenn herrlicher als Haupt der Dichter ankommt; Es bessert ihre Fehler, hilft zum Wohlstand und stellt sich selbst bereit zum Sänger-Wettkampf.19
Der Dichter als tugendhaftes Oberhaupt ist kein Sittenrichter, der klare moralische Anweisungen erteilt. Er bedient sich vielmehr einer indirekten Mitteilung, indem er in seinem Wettkampf darauf hindeutet, wie die Heiligkeit der Welt und die Heiligkeit des Wortes unauflösbar miteinander verbunden sind: Am Anfang war das Wort, das Rätselwort, dem eine welt- und gesellschaftsbildende Kraft innewohnt. Dahinter steckt eine indoiranische Vorstellung von einer Macht, die den Kosmos und die Gesellschaft durchdringt: ṛtá, was in seiner ursprünglichen Bedeutung so viel heißt wie ,das Gefügte, richtig Getroffene‘, später auch ,kosmische Regel‘. In den modernen Sprachen gibt es hierfür keine Entsprechung, am ehesten trifft man die Bedeutung mit ,Verwirklichung der Wahrheit, Wahrheitskraft‘.20 Diese ,Wahrheitskraft‘ (ṛtá) wirkt in der Welt und für die Menschen und hält die rechte Ordnung aufrecht. Über sie verfügt dank seiner aus der Versenkung geschöpften Inspiration allein der Dichter (brahmán). Und im Opferspruch (bráhman) findet sie ihren Ausdruck. Die Bedeutung des Begriffes bráhman (urspr.: ,heiliges Wort‘, ,gesprochenes Wort‘) hängt mit dem Glauben zusammen, dem Wort eigne eine magische Kraft und es enthalte das Wesen des Dinges, das es bezeichne. Die Dichter bringen das, was die Welt im Innersten zusammenhält, zum Vorschein und zur heiligen Sprache. Wenn Wort und Ding eine Einheit bilden, meint, etwas benennen zu können, zugleich, es kontrollieren zu können. So weitete sich bráhman zu einem kosmischen Prinzip aus, zu einer
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Rig-Veda (1877), S. 357 f.; Hymnus X, 71: Die Macht des Wortes [in Auszügen]. Ebd., S. 358; Hymnus X, 71: Die Macht des Wortes [in Auszügen]. 20 Deutlicher wird dies, wenn man den Gegenbegriff anschaut: drúh (avest. druj), ,die aktive Verwirklichung von Unwahrheit‘, was mit nhd. ,Trug‘, ,Betrug‘ sprachverwandt ist.
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fremden, äußeren Macht, die ins Weltgeschehen eingreift und sie umgestaltet. Denn die Verfügung über das Wort geht mit einer Verfügung über den Kosmos einher. Der dichterische Sprechakt ist demnach ein Offenbarungsprozess: Er enthüllt die zuvor versteckte kosmische Wahrheit und macht sie gesellschaftlich wirksam. Allerdings kommt er lediglich einer kleinen Auswahl von Brahmanen zu, die zwar durch ihr ,wahres Wirken‘ eine soziale Vorbildfunktion übernehmen, die Grundlage für diese Wahrheitskraft, die Rätselsprache, aber für sich behalten: Die ,normalen‘ Menschen, so die 45. Strophe des Rätsellieds I, 164, verfügten lediglich über ein Viertel der Sprache, die restlichen drei Viertel bildeten die Sondersprache der Priester. Das Wissen um die Wahrheit ist folglich an das von der Öffentlichkeit geheim gehaltene und selbst bei den Priestern untereinander verrätselte Wort und seine Wirkmacht gebunden. Dieses Wort ist ein dichterisches: Allein das ,Preislied‘, ,die Strophe‘, ,der Vers‘ (rig) vermögen dem heiligen Wissen (veda) zur Wahrheitskraft (ṛtá) zu verhelfen. Das religiöse Ritual als Rätselspiel: der Anfang ritueller Handlung Doch die der poetischen Rede (vāc) inhärente Kraft (ṛtá) kann ausschließlich bei einer exakten Rezitation freigesetzt werden. Nur das rhythmisch gesprochene Wort wirkt. Bestimmte Rezitationen ersetzen im Ritual Tätigkeiten, so dass sie selbst als Handlungen angesehen werden. Der Gedanke vom Sprechen als Tätigkeit hat seine Anfänge im Rigveda. Ein Fehler beim Sprechen kommt folglich einer Fehlhandlung gleich. Und auf eine Fehlhandlung beim religiösen Ritual steht – so die zwar nicht historisch belegte, aber legendenhafte Überlieferung21 – die Todesstrafe: Schon bei der geringsten Abweichung von den ritualisierten Regeln, beispielsweise bei der Verwechslung eines einzigen Akzents, läuft der Rezitator Gefahr, seinen Kopf zu verlieren.22 Der spätere Gedanke des Halslöserätsels,23 bei dem der Rätsellöser, trifft er nicht die genaue Antwort, sein Leben auf das Spiel setzt, bezieht in diesem frühen Zeugnis den rezitierenden Rätselsteller mit ein: Auch er riskiert, der Exaktheit des Wortes verpflichtet, seine Existenz. Die sogenannten Rätsellieder (brahmodyāni), von denen Johan Huizinga annimmt, dass sie ein literarischer Niederschlag wirklich abgehaltener Rätselwettstreite sind,24 bleiben demnach erstens auf eine spezifische Rezitationsweise angewiesen sowie zweitens auf einen bestimmten rituellen Kontext, den des Opferfestes. Die ritualisierte Religion des Rigveda ist um das Opfer zentriert, das
21
Vgl. hierzu: „Kommentar: Der Rig-Veda“ (2007), S. 445. Vgl. hierzu auch: ebd., S. 444 f. 23 Vgl. hierzu: Meyer, Hansjörg, Das Halslösungsrätsel, Würzburg 1967. 24 Huizinga, Johan, Homo ludens, S. 121. 22
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zunächst ein Mittel ist, die Götter zu besänftigen und zu versöhnen, dann aber zum Selbstzweck wird und als ein „Sinnbild der Welt“ (I, 164, 34 ff.) fungiert. Die Rätsellieder bilden einen ebenso wichtigen Teil des Opferrituals wie die Opferhandlung selbst.25 Auch wenn das Rätsel sowohl auf der inhaltlichen – der Kosmos als Rätsel und die Frage nach dem Anfang der Schöpfung – als auch auf der formalen Ebene – das heilige Wort als Rätsel und die Frage nach dem Anfang der Sprache – allgegenwärtig ist, erlaubt erst die Verortung im religiösen Ritual von einer Rätselstruktur im engeren Sinne zu sprechen: Denn erst wenn die Priester im „Sänger-Wettkampf“ (X, 71, 10) gegeneinander antreten und sich mit schwierigen Fragen auf die Probe stellen, wird die agonale Struktur der Rätsellieder ersichtlich. Der Handlungscharakter der Rätseltexte tritt im Rätselspiel besonders deutlich zutage, bei dem jeder Mitspieler zu einer Reaktion genötigt wird: Rede fordert Gegenrede – bleibt letztere aus, sind die Rituale hinfällig und deren Teilnehmer disqualifiziert. Die Fragen der Rätsellieder müssen nicht explizite Fragen sein, sondern können ,Fragehandlungen‘26 darstellen, also komplexe poetische Formen, die auf der grammatikalischen Oberfläche keine Frage erkennen lassen, deren Illokution aber deutlich macht, dass sie nach einer Antwort verlangen. Diese Antwort ist dem Fragenden bereits bekannt. Denn hinter dem Rätsel in seiner spielerischen Form steht ein Wissender, nicht, wie bei der Sokratischen Frage, ein Nicht-Wissender. Anders als das hermeneutische Fragegespräch, das, so die bekannteste Definition Hans-Georg Gadamers, ins Offene stellt27 und den Befragten in einem mäeutischen Prozess zu einer eigenständigen Antwort oder, noch besser, zum Weiterfragen animiert, ruft die Rätselfrage seit Priester-Generationen memoriertes, in festen Erzählmustern tradiertes Wissen ab. Auf diese Weise können selbst Gottheiten zum Gegenstand eines Rätselspiels werden: In Hymnus VIII, 29, der, wie auch der Hymnus I, 164, mit An alle Götter überschrieben ist, werden in zehn typischen Rätselfragen die vornehmsten Götter paraphrasiert. Jedesmal muss als Antwort ein Name folgen, z. B. bei der Beschreibung des Sonnengottes in Strophe 1, bei der des Gottes Indra in Strophe 4 oder, in der letzten Strophe, bei der der Angiras, denen sich die Sänger gleichstellen:
25
Desai-Breun, Kiran, Anschauen und Denken, Reden und Schreiben, S. 136 f. „Fragehandlungen sind meistens verbale Handlungen; ihr primäres Ziel ist, eine Fragesituation zu lösen, eine geeignete Antworthandlung zu bewirken“ (Wunderlich, Dieter, Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt am Main 1976, S. 181 f. (Kursivierung im Original)). 27 Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965, S. 345. 26
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Die Form des Rätsels stellt einen geistig-ordnenden Zugriff auf die Welt dar:29 Der Rätsellöser wird in die Gruppe der Wissenden aufgenommen, wenn er in der Bewährungssituation den Nachweis der Ebenbürtigkeit erbringen kann. Dazu bedarf es der genauen Kenntnis der Verschlüsselungsverfahren. Denn nicht nur der Rätselinhalt, sondern auch der Rätselcode ist soziokulturell gebunden und arbiträr: Nur wer mit dem Ritual vertraut ist, ist imstande, die Probe zu bestehen. Die Lösung ist zwar – anders als bei der gänzlich offenen Sokratischen Frage – zumindest andeutungsweise im Rätsel angelegt, bleibt aber auf den Verstehensund Handlungshorizont der Ratenden angewiesen. Kann dieser Horizont, beispielsweise aus historischer Distanz heraus, nicht mehr eruiert werden, wird auch die Lösung ungewiss. So führt der Verlust der rituellen Rahmenbedingungen und des textexternen Vorwissens zu einer neuen Befragbarkeit der Rätsellieder. Die uns heute überlieferten Rätsellieder setzen nicht mehr eine eindeutige Lösung voraus, auch wenn man annehmen kann, dass ihnen im ursprünglichen Rätselspiel eine feste Antwort zukam. Letztere wird lediglich in Ausnahmefällen explizit mitgeteilt: Nur ein einziges Mal werden im Rätsellied I, 164 (An alle Götter), in dem die Wunder des Menschen, der Natur sowie der poetischen Sprache in Rätselfragen gekleidet sind, Lösungen genannt. Hier lässt sich eine klare Frage-Antwort-Struktur erkennen, wobei den Antworten zu entnehmen ist, welch hohe Bedeutung dem religiös-rituellen Kontext des Opfers zukommt, auf den selbstbezüglich verwiesen wird: 34. Ich frage dich nach dem entferntesten Ende der Erde. Ich frage, wo der Nabel der Lebewelt ist. Ich frage dich nach dem Samen des zeugungskräftigen Pferdes. Ich frage nach dem höchsten Himmelsgewölbe der Rede.
28
Rig-Veda (1876), S. 442 f.; Hymnus VIII, 29: An alle Götter [in Auszügen]. Vgl. hierzu auch: Fix, Ulla, „Das Rätsel. Bestand und Wandel einer Textsorte. Oder: Warum sich die Textlinguistik als Querschnittsdisziplin verstehen kann.“, in: Barz, Irmhild; Fix, Ulla; Schröder, Marianne; Schuppener, Georg (Hg.), Sprachgeschichte als Textsortengeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gotthard Lerchner, Frankfurt am Main/ Berlin/ Bern/ Bruxelles/ New York/ Oxford/ Wien 2000, S. 183-210, hier: S. 190.
29
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35. „Dieses Vedi30 ist das entfernteste Ende der Erde.“ „Dieses Opfer ist der Nabel der Lebewelt.“ „Dieser Soma31 ist der Samen des zeugungskräftigen Pferdes.“ „Dieser Brahmanpriester ist das höchste Himmelsgewölbe der Rede.“32
Schon in der übernächsten Strophe weicht die Transparenz des Fragekatalogs, der Parallelen mit einem Katechismus aufweist,33 der Rätselhaftigkeit des Denkens, welche Wissen und zielsichere Gewissheit in Frage stellt: „Ich verstehe nicht, als was ich dieses verwalte./ Innen gerichtet, mit dem Denken ausgerüstet, wandere ich.“ (I, 164, 37).34 Die ludistische Situation des „Sänger-Wettkampfes“ (X, 71, 10) wird immer wieder durchbrochen von unlösbaren Rätselfragen religiös-ernsten Gehalts. Diese gehören genauso zum rituellen Opferkult, der Heiligkeit und Rätselhaftigkeit aufeinander bezieht und den Aufschub von Lösung zelebriert, wie die agonalen Rätselspiele. Bei letzteren bildet das Kriterium der Lösbarkeit eine unabdingbare Voraussetzung für die Entscheidung über den Gewinner und somit auch über die Aufnahme des Initianten in den geheimen Bund. Denn Rätselspiel und Weltweisheit, ludistische Unterhaltung und religiöser Ernst lassen sich in der vedischen Überlieferung nicht separieren: Nur im spielerischen Rätsel findet das Heilige seine adäquate Ausdrucksform. Und dieses Heilige ist immer mit der Frage nach dem Uranfänglichen verknüpft. Eine solche Frage zielt nicht auf einen klaren, logischen Grund, sondern verweist auf einen dunklen, „tiefen Abgrund“ (X, 129, 1), den sie auf enigmatische Weise zur Darstellung zu bringen versucht.
30
Vedi wird im Allgemeinen mit ,Altar‘ wiedergegeben, vgl. „Kommentar: Der RigVeda“ (2007), S. 743. 31 Der Soma ist ein auf indoiranische Zeit zurückgehendes Stimulans, das mit Steinen aus einer Pflanze, vermutlich der Ephedra, herausgepresst wird, vgl. ebd., S. 846. 32 Rig-Veda (2007), S. 295-304, hier: S. 301; Hymnus I, 164: An alle Götter (Rätsellied). 33 Katechismus und Rätsel haben gemeinsam, dass sie sich auf bereits festgelegtes Wissen berufen und den Eintritt zu einer Gemeinschaft ermöglichen. Ist im Katechismus die Antwort erlernt, wird sie beim Rätsel spontan erraten. Vgl. hierzu auch: Jolles, André, „Rätsel“, in: ders., Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1982, S. 134-149, hier: S. 140. 34 Rig-Veda (2007), S. 295-304, hier: S. 301; Hymnus I, 164: An alle Götter (Rätsellied).
42 I.2
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Heraklits Logos als Rätselwort
Die Rätselsprüche Heraklits (um 500 v. Chr.) als Urdokument hermeneutischer Philosophie – Die Dunkelheit Heraklits: grammatikalische Schwäche, rhetorisches Kalkül, philosophischer Katalysator? – Rätselsprache und Logos Wie die Kulturgeschichte des Rätsels auf das mythische Konstrukt des Anfangs angewiesen ist, so kommt eine Philosophie des Anfangs nicht ohne den Rätselbegriff aus: Das deutsche Wort ,Anfang‘ hat dem Denken immer schon Mühe bereitet. So gibt es beispielsweise das Problem des Anfangs der Welt oder der Sprache. Das Rätsel des Anfangs hat viele spekulative Aspekte […].1
Auch in der europäisch hermeneutischen Tradition begründet das Rätsel nicht nur das menschliche Dichten und Deuten, den Anfang der Literatur und Philosophie, sondern auch das naturwissenschaftliche Denken, den Anfang des Wissens.2 Der Rätselbegriff wird allerdings bis heute selten problematisiert. Vielmehr fungiert er als unreflektierter Passepartout-Begriff, sobald die Undarstellbarkeit des Anfangs thematisch wird. Es gibt eine Dichterfigur, die von der Antike bis zur jüngeren HermeneutikForschung immer wieder an dem Beginn der Wahl- und Wesensverwandtschaft von Anfang und Rätsel steht: Heraklit, „der Rätselerfinder“ (αἰνικτής).3 Sie gilt 1
Gadamer, Hans-Georg, Der Anfang der Philosophie. Aufgrund der Übersetzung aus dem Italienischen von Joachim Schulte, vom Autor revidierte Fassung, Stuttgart 1996, S. 14. 2 Vgl. hierzu: ebd. sowie: Gadamer, Hans-Georg, Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999. Im ersten Kapitel „Die Bedeutung des Anfangs“ (S. 9-22) der ursprünglich als Vorlesung 1988 in Neapel unter dem Titel „L’inizio della filosofia occidentale“ gehaltenen, von dem italienischen Professor Vittorio De Cesare 1993 überarbeiteten, von Dr. Joachim Schulte rückübersetzten und von Hans-Georg Gadamer revidierten Schrift Der Anfang der Philosophie taucht mehrfach der Begriff ,Rätsel‘ auf: „Das Rätsel des Anfangs hat viele spekulative Aspekte […]“ (S. 14), „Rätsel der Zeit“ (ebd.), „Die Sprache ist eines der großen Rätsel der Menschheitsgeschichte“ (S. 15), „Rätsel der Sprache“ (ebd.), „Rätsel der griechischen Sprache und der Schrift“ (S. 17), „Rätsel der Einheit des Seins und des Nichts“ (S. 22). 3 Heraklit, Nr. 4, S. 287 (Diog. Laert. 9,6 (DK 22 A 1)). Zitiert wird im Folgenden nach der neuen Ausgabe von M. Laura Gemelli Marciano (Die Vorsokratiker, Bd. 1: Thales, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras und die Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, griechisch-lateinisch-deutsch, Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2007) die im Vergleich zu der alt bewährten, lange Zeit einschlägigen Ausgabe von Hermann Diels und Walther Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1903, 6. Aufl. v. Walther Kranz 1951 f. (seither Nachdrucke)) den Vorzug hat, dass sie die Fragmente Heraklits in ihrem
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zugleich als Initiator des philosophischen Fragens und spekulativen Denkens:4 „Mit Heraklit nimmt die Philosophie daher ihren Anfang. In den verstreuten Resten seines Textes kommt das Denken zum ersten Mal in sein eigenes Element und erfaßt die Idee, die es von nun an leiten wird.“5 Die uns heute überlieferten Fragmente dieses Vorsokratikers, dessen Blütezeit Apollodor auf 504501 v. Chr. datiert, entstammen alle mehr oder weniger verlässlichen Zitaten späterer Autoren. Schon die Konstituierung des Textkorpus stellt eine der größten technisch-philologischen Herausforderungen dar, da, mit Gadamer, „nichts so unzuverlässig ist wie ein aus seinem Zusammenhang gerissenes Zitat“.6 So zählt die Heraklit-Forschung wegen der Ungewissheit der Textüberreste bis heute zu den „hermeneutische[n] Aufgabe[n] von besonderer Art“.7 Sie ähnelt einem philologischen Ratespiel, welches dadurch erschwert wird, dass sämtliche Textbestandteile zunächst fremden Kontexten entnommen und dann zu einem eigenständigen, als ganzen imaginierten, aber zwangsläufig bruchstückhaft bleibenden Korpus zusammengestellt werden müssen. Strittig bleibt, ob es sich denn je um ein Ganzes gehandelt hat oder ob der fragmentarische Charakter, sei es intendiert oder nicht, dem Heraklitischen Werk von Anfang an eignete. Hierin unterscheiden sich auch die philosophischen Deutungsansätze: Nehmen die einen, wie beispielsweise G. W. F. Hegel, eine einst vorhandene und potentiell wieder zu erlangende Sinneinheit an, eine Identität in der Differenz, so betonen die anderen, zum Beispiel Martin Heidegger, die Heterogenität und Dezentrierung, eine Differenz in der Identität.8
Überlieferungskontext wiedergibt. In Klammern wird der Autor, bei dem das jeweilige Fragment überliefert ist, angeführt, sowie die Nummerierung nach der bis heute in der Sekundärliteratur häufig angeführten Ausgabe von Diels/ Kranz (DK). 4 So heißt es bei Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I: „Bei ihm [Heraklit] ist also zuerst die philosophische Idee in ihrer spekulativen Form anzutreffen […]“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: ders., Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832-1845, neu edierte Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 18, Frankfurt am Main 1971, S. 319-343, hier: S. 320). 5 Ruin, Hans, „Einheit in der Differenz – Differenz in der Einheit. Heraklit und die Wahrheit der Hermeneutik.“, in: Figal, Günter; Grondin, Jean; Schmidt, Dennis J. (Hg.), Hermeneutische Wege. Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, Tübingen 2000, S. 87-106, hier: S. 92. 6 Gadamer, Hans-Georg, „Zur Überlieferung Heraklits“, in: ders., Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999, S. 17-33, hier: S. 19. 7 Ebd., S. 39. 8 Vgl. hierzu: Ruin, Hans, „Einheit in der Differenz – Differenz in der Einheit. Heraklit und die Wahrheit der Hermeneutik.“, S. 97.
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Erstere arbeiten auf eine letztgültige Lösung hin, letztere gehen von einer prinzipiellen Unlösbarkeit und Rätselhaftigkeit aus und beschränken sich auf die Rekonstruktion stets vorläufiger Teillösungen. Die Rätselsprüche Heraklits (um 500 v. Chr.) als Urdokument hermeneutischer Philosophie Im jeweiligen Umgang mit den Rätselsprüchen spiegeln sich die unterschiedlichen hermeneutischen Grundannahmen wider. Die Fragmente Heraklits lassen sich deshalb als ein „Urdokument“9 hermeneutischer Philosophie bezeichnen: Von Schleiermacher,10 Hegel,11 Nietzsche12 über Heidegger13 bis zu Gadamer14 dienen sie als poetologische Selbstbeschreibungsmodelle, mittels derer die Philosophen zugleich sich selbst und ihre Denkvoraussetzungen offenbaren. Stets geht
9
Ebd., S. 90. Schleiermacher, Friedrich, „Herakleitos der dunkle, von Ephesos, dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten“ (1808), in: ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hermann Fischer und Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge. Erste Abteilung. Schriften und Entwürfe. Bd. 6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg. v. Dirk Schmid, Berlin/ New York 1998, S. 101-241. 11 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: ders., Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832-1845, neu edierte Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 18, Frankfurt am Main 1971, S. 319-343. Hegel schreibt: „es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen“ (ebd., S. 320). 12 Nietzsche, Friedrich, „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 799-872, besonders: S. 822-835. 13 Heidegger, Martin, „Heraklit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens. 2. Logik. Heraklits Lehre vom Logos“, in: Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944. Bd. 55: Heraklit, hg. v. Manfred S. Frings, Frankfurt am Main 1979. Sowie: Heidegger, Martin, „Logos (Heraklit, Fragment 50)“, in: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Bd. 7: Vorträge und Aufsätze. Unveränderter Text mit Randbemerkungen des Autors aus seinen Handexemplaren, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main 2000, S. 211-234. 14 Gadamer, Hans-Georg, „Hegel und Heraklit“ (1990), in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 7: Griechische Philosophie III. Plato im Dialog, Tübingen 1991, S. 32-42. Sowie: Gadamer, Hans Georg, „Zur Überlieferung Heraklits“, in: ders., Anfang des Wissens, S. 17-33 (auch abgedruckt unter dem Titel „Vom Anfang bei Heraklit“ (1974) in Gesammelte Werke. Bd. 6, Tübingen 1985, S. 232-241) und Gadamer, Hans-Georg, „HeraklitStudien“, in: ders., Anfang des Wissens, S. 34-100. 10
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es dabei auch um die anthropologische Grundfrage nach der Wesensbestimmung des Menschen, nach dem „Rätsel, das wir als die sterblichen und gleichwohl denkenden Wesen uns sind“.15 Die Grenze, sei es die des Verstehens oder die des Lebens, ist für die Deutung des Werkes Heraklits konstitutiv. Sie, die imaginäre Trennscheide zwischen Sein und Nicht-Sein, Rationalem und Nicht-Rationalem, ist mit dem ,Rätsel‘ eng verknüpft: In Heraklit mag die eigentümliche Grenze der religiösen Erfahrung, die den Griechen eigen ist, durchaus sichtbar sein, aber wenn wir ihn so verstehen dürfen, ist dies eine Erfahrung der Grenze selbst, die er ausspricht, und nicht nur ihre Aufhebung und Verdeckung im Kreisgang des Naturlebens. Diese Grenze bleibt unserem Denken wie Heraklits Denken ein Rätsel. Aber es gibt Rätsel, die ihre Lösung verweigern und dennoch nicht zweifeln lassen, daß sie eine Lösung haben. Man denke etwa an die Werke der Kunst, die solche Rätsel sind und vielleicht sogar viele Auflösungen zulassen, ohne doch die Einheit ihrer Aussage darüber zu verlieren. So dürfen wir mit Hegel sagen, daß Heraklit ,bis auf den heutigen Tag‘ uns selbst ausspricht, indem er uns solche Rätsel aufgibt.16
Denn dem Rätsel ist die oszillierende Bewegung der Grenzüberschreitung inhärent. Im Wechselspiel von Verschleiern und Entbergen, von Verdunkeln und Lichten macht es auf die „Erfahrung der Grenze selbst“ aufmerksam. Eine derartige Grenzerfahrung spielt sich in einem zwielichtigen Bereich ab, in einem Bereich der Ambiguitäten und Mehrdeutigkeiten („viele Lösungen“). Die Kunstwerke zeigen sich ,verhüllt‘ („Rätsel, die ihre Lösung verweigern“), doch diese Hüllen lassen sich beseitigen („nicht zweifeln […], daß sie eine Lösung haben“). Die Dunkelheit Heraklits: grammatikalische Schwäche, rhetorisches Kalkül, philosophischer Katalysator? ,Bedeckt‘, ,verhüllt‘ ist eine Grundbedeutung des lateinischen Adjektivs obscurus (,dunkel‘), das seit der literarischen und rhetorischen Theorie der Antike zu einer poetologischen Kategorie avancierte.17 Dieses ,Dunkle‘ (obscurus) war allerdings nicht nur der Absenz von Licht vorbehalten, konnte also nicht
15
Gadamer, Hans-Georg, „Hegel und Heraklit“, S. 39. Ebd., S. 41 f. 17 Vgl. hierzu: Fuhrmann, Manfred, „Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarischen Theorie der Antike“, in: Iser, Wolfgang (Hg.), Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966, S. 47-72. 16
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allein mit Substantiven wie ,Nacht‘ (nox), ,Schatten‘ (umbra) oder ,Wolke‘ (nubes) kombiniert werden, sondern bezeichnete zudem eine spezifische Charaktereigenschaft des Lichtes (lux): ,dämmrig-fahl‘. Ihm entspricht das griechische Adjektiv σκοτεινόϛ (,dunkel, finster, in Dunkel gehüllt‘), das etymologisch mit dem neuhochdeutschen Substantiv ,Schatten‘ und dem englischen Substantiv ,shadow‘ verwandt ist (got. skadus; ahd. scato). Im übertragenen Sinne heißt σκοτεινόϛ auch ,versteckt‘, ,heimlich‘, ,im Geheimen‘ und kann auf einen verwirrten Geisteszustand bezogen werden. Heraklit erhielt schon in der Antike,18 als seine vermutlich nicht sehr umfangreiche Schrift noch ganz erhalten war, den Beinamen ,der Dunkle‘ (ὁ σκοτεινόϛ). Die Begründungen für dieses überwiegend negativ konnotierte Epitheton sind vielfältig und oft rechtfertigender Natur: Cicero19 deutet, wie auch Diogenes Laertius,20 die Dunkelheit als eine bewusste rhetorische Strategie, um seine philosophischen Erkenntnisse, die so einer elitären Minderheit vorbehalten bleiben, zu verschleiern. Schleiermacher betrachtet sie als eine Folge vernachlässigter Wortfügung der noch frühen, allzu anfänglichen griechischen Sprache: „daß sie nemlich nur eine grammatische gewesen sei, im ersten Anfang der philosophischen Prosa höchst natürlich und verzeihlich“.21 Hegel nimmt eine Mittlerposition zwischen rhetorischer Kritik und sprachphilosophischer Verteidigung ein. Er grenzt sich dezidiert von der rhetorischen Begründung Ciceros ab, hält aber an einer grammatikalischen fest:
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Der vermutlich erste Beleg ist: Arist., De mundo 396b20: „bei dem dunklen Heraklit“ (Aristoteles, Über die Welt, in: ders.: Meteorologie/ Über die Welt, übersetzt von Hans Strohm, Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. Ernst Grumach, fortgeführt von Hellmut Flashar, Bd. 12, Berlin 1979, S. 237-260, hier: S. 250). Die Dunkelheit, die Aristoteles hier meint, ist eine, die durch sprachlich-grammatikalische Mehrdeutigkeiten hervorgerufen wird, wie aus Arist., Rhet. 1407b11ff. ersichtlich wird: „Die Schriften der Heraklit durch Satzzeichen zu untergliedern, ist nämlich eine (schwierige) Aufgabe, weil nicht klar ist, worauf etwas bezogen ist, auf das Nachfolgende oder das Vorhergehende […]“ (Aristoteles, Rhetorik, übersetzt und erläutert von Christof Rapp, Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, hg. v. Hellmut Flashar, Bd. 4, erster Halbband, Darmstadt 2002, S. 137 f.). 19 Cicero, De nat. deorum I, 26 ([…] nec consulto dicis occulte tamquam Heraclitus […])/ III, 14 ([…] qui [Heraclitus] † quoniam quid diceret intellegi noluit † omittamus […]); De fin. II, 5 ([…] sit aliqua culpa eius qui ita loquatur ut non intellegatur. quod duobus modis sine reprensione fit, si aut de industria facias, ut Heraclitus […]). 20 Diogenes Laertius, IX, 6: „Er legte es [das Buch] im Artemistempel nieder, absichtlich, wie einige meinen, in dunkler Sprache gehalten, damit nur die wirklich Berufenen sich mit ihm beschäftigten, während ein zu volkstümlicher Ton seiner Schätzung leicht Eintrag tun könnte.“ (Laertius, Diogenes, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch I-X, aus dem Griechischen übersetzt von Otto Apelt, hg. v. Klaus Reich, Hamburg 21967, S. 161). 21 Schleiermacher, Friedrich, „Herakleitos“, S. 111.
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Seine Dunkelheit, welche ihm auch den Beinamen ,der Dunkle‘ (σκοτεινόϛ) zuzog, ist wohl mehr Folge von vernachlässigter Wortfügung und der unausgebildeten Sprache, was auch Aristoteles meint [Arist., Rhetorik, III, 5]. Er setzt in grammatischer Hinsicht das Dunkle in Mangel an Interpunktion: man wisse nicht, ob ein Wort zum Vorhergehenden oder Nachfolgenden gehöre.22
Kurz darauf wendet er diese allerdings in eine sprachphilosophische, wenn er „[d]as Dunkle dieser Philosophie“ darin begründet sieht, „daß ein tiefer, spekulativer Gedanke in ihr ausgedrückt ist; dieser ist immer schwer, dunkel für den Verstand“.23 Die Dunkelheit wird von Hegel zwar als Wesensmerkmal des Spekulativen konstatiert, aber noch nicht verteidigt. Erst bei Friedrich Nietzsche gewinnt sie eine heuristische Schlag- und Leuchtkraft, indem sie zur conditio sine qua non einer Helligkeit wird, die nicht eine rhetorische Klarheit (claritas, perspicuitas), sondern eine heuristische Erleuchtung meint: Von solchen Unzufriednen rühren auch die zahlreichen Klagen über die Dunkelheit des Heraklitischen Stils her: wahrscheinlich hat nie ein Mensch heller und leuchtender geschrieben. Freilich sehr kurz, und deshalb allerdings für die lesenden Schnellläufer dunkel. Wie aber ein Philosoph undeutlich, mit Absicht schreiben sollte – was man Heraklit nachzusagen pflegt – ist völlig unerklärlich: falls er nicht Grund hat, Gedanken zu verbergen oder Schelm genug ist, seine Gedankenlosigkeit unter Worten zu verstecken. Muß man doch sogar, wie Schopenhauer sagt, in Angelegenheiten des gewöhnlich praktischen Lebens, sorgfältig, durch Deutlichkeit, möglichen Mißverständnissen vorbeugen; wie denn sollte man im schwierigsten, abstrusesten, kaum erreichbaren Gegenstande des Denkens, den Aufgaben der Philosophie, sich unbestimmt, ja räthselhaft ausdrücken dürfen?24
Als „räthselhaft“ wird bei Nietzsche – in antiker Tradition – eine dunkle Ausdrucksweise bezeichnet, die dem rhetorischen Ideal der „Deutlichkeit“ und Klarheit (claritas, perspicuitas) zuwiderläuft. Doch tut sie dies – und hier desavouiert Nietzsche das römisch-antike Verständnis – um einer Leuchtkraft willen, welche die alltagspragmatische Klarheit bei weitem transzendiert. Denn eine derartige paradoxale Denkart hebt sich von den gewöhnlichen Routinemeinungen „lesende[r] Schnellläufer“ ab. Sie fordert gerade wegen ihrer Kürze zum Innehalten auf. Die rätselhaft, aphoristische Sprache wird so zur Voraussetzung für eine
22
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 322 f. 23 Ebd., S. 323. 24 Nietzsche, Friedrich, „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“, S. 832 f.
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höhere Erkenntnis, eine Erkenntnis, die allerdings nur auserwählten philosophischen Denkern offen steht. Martin Heidegger, der sich polemisch gegen die grammatikalischen Erklärungen Ciceros und Hegels wendet,25 steigert die Position des sich gegen (παρα-) die alltäglichen Meinungen (δόξα) richtenden Philosophen noch: Das Dunkel liegt nicht in der unklaren Ausdrucksweise Heraklits, sondern in der ,Philosophie‘ selbst, weil sie in einer Weise denkt, die dem gewöhnlichen Verstand nicht vertraut und deshalb für ihn jederzeit schwierig ist. Dadurch bleibt das philosophische Denken seinem Wesen nach dunkel für den Gesichtskreis des gewöhnlichen Denkens. Dunkel ist die Philosophie also notwendig und immer, sofern sie nämlich aus dem Gesichtskreis des bloßen Verstandes, d. h. des alltäglichen Vorstellens und Meinens, betrachtet wird.26
Für Heidegger bedeutet Dunkelheit „eine wesensnotwendige Weise des Sichverbergens“.27 Sie bildet nicht eine Grenze des „Zu-denkende[n]“, sondern dessen Ursprungsbedingung: „Das Wort des anfänglichen Denkens hütet ,das Dunkle‘“.28 Und dieses unvordenkliche Dunkle, das es zu wahren gilt, ist keine Folgeerscheinung einer allzu leichtsinnigen Wortwahl, sondern dieser vorgängig: Es wählt sich das Wort, um überhaupt in Erscheinung treten zu können. Laut Gadamer erkennt Heidegger als erster, dass die „unauflösliche Einheit und Zweiheit von Entbergung und Verbergung, Helle und Dunkel“29 dem philosophischen Denken eignet, das Heidegger bewusst von dem „gewöhnlichen Denken“30 separiert. Während letzteres der Doktrin der römisch-antiken Rhetorik verhaftet bleibt, die durch Gebrauch der eigentlichen und allgemein üblichen Bezeichnungen auf Klarheit abzielt,31 findet das anfängliche Denken des philosophierenden Menschen in Heraklits Rätselsprüchen seine adäquate Ausdrucksform. Anfänglichsein impliziert, dass etwas weder inhaltlich noch formal zielgerichtet ist, nicht prinzipien- und somit normgeleitet, „nichts Reflektiertes, sondern etwas Unmittelbares“: „für konkrete Erfahrung offen“.32 Der ,Ursprung‘ kann retrospektiv ermittelt und in ein kausales Beziehungsnetz gestellt werden,
25
Heidegger, Martin, „Heraklit“, S. 20 f. Ebd., S. 29. 27 Ebd., S. 32. 28 Ebd. 29 Gadamer, Hans-Georg, „Zur Überlieferung Heraklits“, S. 18. 30 Heidegger, Martin, „Heraklit“, S. 29. 31 Vgl. hierzu: Fuhrmann, Manfred, „Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarischen Theorie der Antike“, besonders S. 55 f. 32 Gadamer, Hans-Georg, „Die Bedeutung des Anfangs“, in: ders., Der Anfang der Philosophie, Stuttgart 1996, S. 9-22, hier: S. 22. 26
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wohingegen es sich bei diesem ,Anfang‘ um etwas Prospektives handelt. Letzterer ist nicht auf ein Ende perspektiviert, sondern lässt in seiner Virtualität, die im Gegensatz zur Potentialität keine konkrete Möglichkeit einer bestimmten realen Wirklichkeit meint, viele Richtungen zu. Folglich ist die Lösung eines solchen anfänglichen Dunkels im selben noch nicht eindeutig angelegt, das Rätselwort an keine spezifische Antwort gebunden. Die Heraklitische Dunkelheit stellt keine absolute dar: Sie schlägt bisweilen, wenn auch nur temporär, in ihr krasses Gegenteil um, in „das Jähe blitzhafter Erhellung, die alles mit einem Schlage sichtbar macht, doch so, daß das Dunkel es gleich wieder verschlingt“.33 Ausgerechnet das Feuer ist dasjenige Element, mit dem Heraklit zufolge alles seinen Anfang nahm. Im Blitz erfährt es seine plötzliche, ephemere Formvollendung. Er durchbricht das Dunkle, macht es dadurch aber erst wahrnehmbar. „All dies steuert der Blitz“ (τὰ δὲ πάντα οἰακίζει κεραυνός)34 lautet ein berühmtes Fragment Heraklits, das Heidegger in seiner Todtnauberger Hütte in eine Borke über den Türsturz ritzte. Die Dunkelheit des Heraklitischen Werkes provoziert demnach einen endlichen Prozess der Erhellung, einen Prozess, der in eine Erkenntnis mündet, die nicht von Dauer ist.35 Dieser Umschlag von Dunkel zu Hell, von vermeintlicher Bedeutungslosigkeit zur Bedeutung, aber auch von Bedeutung zur Umdeutung wird von Heraklit bis in die Wortebene hinein nachvollzogen. So spielt er mit dem Homonym bios, das je nach Akzentuierung ,Leben‘ (βίος) sowie ,Bogen‘ (βιός), also Werkzeug des Todes, meint. Derartige Bedeutungsverschiebungen durch Akzentverlagerung werden einerseits für eine hermeneutische Wahrheit eines vereinigenden Logos in Anspruch genommen,36 bilden andererseits aber auch Anschlussmöglichkeiten an die mit Bedeutungsaufschub spielenden dekonstruktivistischen Ansätze der différance. Dies macht bis heute die Faszination der Rätselsprüche aus: Sie stellen die Möglichkeiten der Sprache zur Schau und führen sie zugleich an ihre Grenze.
33
Gadamer, Hans-Georg, „Zur Überlieferung Heraklits“, S. 17. Heraklit, Nr. 38, S. 307 (Hippol. Ref. 9,10,7 (DK 22 B 64)). 35 Hier lässt sich eine Analogie zum bráhman ziehen, dessen ephemere, aber intensive Erkenntniskraft ebenfalls mit dem Blitz verglichen wird (Kena-Upaniṣad 3,15) [vgl. Kap. I.1]. 36 Vgl. hierzu z. B.: Ruin, Hans, „Einheit in der Differenz – Differenz in der Einheit. Heraklit und die Wahrheit der Hermeneutik.“, S. 103. 34
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Rätselsprache und Logos Denn die Fragmente Heraklits haben alle eine Gemeinsamkeit: Ihr Sinn erschließt sich nicht unmittelbar. Aphoristisch kurz und oft paradox angelegt arbeiten sie mit Bildern, Ambiguitäten und Wortspielen, die nach Deutung verlangen. So trifft auf sie zu, was Heraklit dem Gott des antiken Orakels, Apoll, zuschreibt, dass „der Herr, dessen Orakel in Delphi ist, weder sagt noch verbirgt, sondern andeutet“.37 Gleich ob man sie als Orakelsprüche,38 als Gleichnisse39 oder Prosagnomen40 klassifiziert: Sie durchbrechen jegliche binäre Logik. Dies verwundert umso mehr als sie dichotomisch angelegt sind, weshalb ihre Sprachform mit der avestischer Texte verglichen wurde.41 Während in der persischen Tradition jedoch die Darstellungsweise mit dem Inhalt korreliert, da die Trennung gegensätzlicher Bereiche scharf markiert wird, zielen die Rätselworte Heraklits auf eine Einheit ab, auch wenn diese immer wieder in Differenz umschlägt. Denn deren gedanklichen Mittelpunkt, fast möchte man sagen ihr latentes Lösungswort, bildet der Logos. Programmatisch wird er zu Beginn der Schrift vorangestellt: Für diesen (τοῦδε) Logos da, der ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder bevor sie ihn gehört noch sobald sie ihn gehört haben; denn obwohl alles geschieht, wie es dieser Logos erklärt, gleichen sie Unerfahrenen, auch wenn sie solche Worte und Taten erfahren, wie ich sie darlege, indem ich jedes Einzelne
37
Heraklit, Nr. 7, S. 289 (Plut. De Pyth. or. 404 D (DK 22 B 93)). Gadamer expliziert sie als „orakelgleiche Paradoxe“ (Gadamer, Hans-Georg, „Zur Überlieferung Heraklits“, S. 17). 39 Held wendet sich gegen die Klassifizierung als Orakelsprüche (S. 108) und spricht von der für Heraklit „charakteristischen doppelbödigen Ausdrucksweise (vgl. xynô, homologêin), die der Doppelbödigkeit seiner Gleichnisse entspricht“ (Held, Klaus, Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin/ New York 1980, S. 185). 40 Laut Gigon „hat das Werk Heraklits die noch merkwürdigere Gestalt der Prosagnomen, einer vielleicht auch erst im Laufe der Zeit zusammengekommenen Sammlung knapper pointierter, mit höchster Kunst stilisierter Aussprüche“ (Gigon, Olof, Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides, Basel/ Stuttgart 21968, S. 197). 41 Auch die Achaimeniden-Inschriften und die avestischen Texte sind durch dichotomische Begriffe und Formulierungen charakterisiert, weshalb vermutet wird, dass dieser Stil die Sprache Heraklits beeinflusst habe, weil die Achaimeniden ihre Inschriften in die Sprache der unterworfenen Völker übersetzen zu lassen pflegten. Vgl. zu „lexikalischen Dichotomien“, welche die prinzipielle Differenz der Sphären des Guten und des Bösen auf sprachlicher Ebene präsent halten: Stausberg, Michael, Die Religion Zarathustras. Geschichte-Gegenwart-Rituale, Bd. 1, Stuttgart/ Berlin/ Köln 2002, S. 134 f./169. 38
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entsprechend seinem Ursprung ausdeute (κατὰ φύσιν διαιρέων) und sage, wie es sich verhält.42
Dieser Logos-Begriff macht von Anfang an auf ein anthropologisches und hermeneutisches Grundproblem aufmerksam, auf das menschliche Unvermögen, das schon Offenbarte richtig zu deuten oder gar zu erkennen. Er meint an dieser Stelle nicht, wie in der Rezeptionsgeschichte oft fälschlich angenommen und vermutlich durch den nachträglichen Titel der Schrift Heraklits Über die Natur bedingt, ,die Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen‘, eine Bedeutung, die sich erst später etablierte.43 Vielmehr kann die Logik des Logos (λόγος) mit Heidegger als λέγειν (,reden, sagen, erzählen‘) verstanden werden, als „lesende Lege“44, als ,aussagen‘ (λέγειν) und ,Ausgesagtes‘ (λεγόµενον) zugleich.45 ,Lesen‘ und ,legen‘, so eine Grundbedeutung von λέγειν, der Akt der Deutung und das dem Deutungsakt zugrunde Gelegte, überlagern sich. Heraklits Logos verweist, wie das deiktische τοῦδε anzeigt, nicht auf einen absoluten, fremden Logos, sondern auf den eigenen Prozess des Lesens und (Aus-)Legens. Doch wie selbstexplikativ dieser Logos auch sein mag, er bleibt letztlich auf das Deuten Anderer angewiesen. Nicht von ungefähr verwendet Heraklit an dieser Stelle das Verb διαιρεῖν (,erklären, auslegen, deuten; unterscheiden; entscheiden‘), ein terminus technicus für die Interpretation der Zeichen und für die Traumdeutung.46 Schon im Werkanfang, im Incipit, rückt sich Heraklit so in die Nähe der Orakelsprache. Orakelverkünder und Orakeldeuter bilden hierbei eine unauflösbare Einheit: Rätselwort und Lösungswort sind beide im Heraklitischen Logos impliziert. Er ist einerseits ewig (ἀεί), immer schon da, bedarf andererseits aber stets von Neuem einer lesenden Auslegung. Zugleich bezeichnet Heraklit seinen Adressatenkreis, wenn auch ex negativo: Die unverständigen Menschen (ἀξύνετοι ἄνϑρωποι) werden ausgegrenzt. Auffällig ist, dass er jene mit einem Fachbegriff aus der Mysteriensprache charakterisiert, als ἀξύνετοι: ,NichtInitiierte‘. Die von Heraklit nicht-thematisierten ,Initiierten‘ (σύνετοι, vgl. Pindar O. 2,85) wären demnach seine ideale Hörerschaft.
42
Heraklit, Nr. 16, S. 295 (Sext. Emp. Adv. Math. 7,129 (DK 22 B 1)). Bei Diogenes Laertius (IX, 5) heißt es: „Sein bekanntes Buch handelt im allgemeinen von der Natur, gliedert sich aber in drei Teile, deren erster von dem All, der zweite vom Staat, der dritte von der Gottheit handelt.“ (Laertius, Diogenes, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, S. 161). 44 Heidegger, Martin, „Logos“, S. 221. 45 Ebd., S. 214. 46 Vgl. hierzu: Gemelli Marciano, M. Laura, „Heraklit. Leben und Werk“, in: Die Vorsokratiker, Bd. 1: Thales, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras und die Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, griechisch-lateinisch-deutsch, Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2007, S. 330-344, hier: S. 337 f. 43
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Geht man davon aus, dass dieser Werkanfang erstens wirklich von Heraklit stammt und ihm nicht nachträglich gerade wegen seines esoterischen Gestus zugeschrieben wurde und zweitens zudem am Beginn der Schrift stand, liegt in diesem frühen Zeugnis der griechischen Kultur eine interessante poetologische Standortbestimmung vor: Der Dichter inszeniert sich als ein vates, als Verkünder eines dichterischen, göttlich inspirierten Wortes, das unabhängig davon, ob es gehört wird oder nicht („weder bevor sie ihn [den Logos] gehört haben noch sobald sie ihn gehört haben“), immer schon („ewig“) existiert. Dieser Logos bedarf einer spezifischen Deutung, die mit der Natur im Einklang stehen muss (κατὰ φύσιν), vom vates selbst vorgenommen wird, zugleich aber auf ein Publikum angewiesen bleibt, das mit einer solchen Art von Auslegung bereits vertraut gemacht, initiiert worden ist. Wie die Sprüche der Wahrsager deutet er auf das hin, was eigentlich offen daliegt und dennoch unbemerkt bleibt. Der religiöse Sprachgebrauch Heraklits suggeriert eine Heiligkeit des Wortes, die eine elitäre Grenzziehung zur Folge hat. Letztere wurde schon in der Antike scharfer Kritik unterzogen: „Unter ihnen stand auf Heraklit, der Schreier, der Pöbelverächter, der Rätselerfinder (αἰνικτής)“.47 Die Erfindung von Rätselhaftem – das Adjektiv αἰνικτός (,rätselhaft‘) lässt sich wie das Substantiv αἴνιγµα48 auf das Verb αἰνίσσοµαι zurückführen, was ,in Rätseln reden‘, aber auch ,dunkle Worte sprechen‘, ,andeuten‘ oder ,eröffnen‘ meint – geht in diesem frühen Beleg mit einem sozialen Ausschlussmechanismus einher: Wer dunkel spricht, nimmt, selbst wenn er dies proklamatorisch laut tut, das Volk nicht ernst. Er inszeniert sich als jemand, der sich über die Menge erhaben glaubt. Vor jener Menge versucht er sein heiliges Wort und Wissen zu schützen, indem er es in einem abgegrenzten Bezirk verwahrt: Er legte das Buch im Artemis-Tempel als Weihgeschenk nieder, nachdem er es absichtlich, wie einige meinen, in ziemlich dunkler Sprache verfasst hatte, damit es nur den Begabten zugänglich sei und von der Menge nicht leicht verachtet werden könne.49
Die Furcht des Dichterphilosophen, sein Werk könne vom Volk verspottet werden, korreliert mit seiner eigenen Geringschätzung des Volkes („Pöbelverächter“). Im Artemis-Tempel brachte Heraklit diesen Anekdoten zufolge nicht nur sein Werk in Sicherheit, dort vermittelte er es auch seiner auserwählten Zuhörerschaft: Sein deiktischer Verweis auf die Götterbilder („sie beten zu diesen
47
Heraklit, Nr. 4, S. 287 (Diog. Laert. 9,6 (DK 22 A 1)). Neben γρῖφος, (griphos) ,Fischernetz‘, ist αἴνιγµα (ainigma), ,dunkle Rede, Andeutung, Anspielung‘, eine der beiden griechischen Bezeichnungen für das deutsche Wort ,Rätsel‘. 49 Heraklit, Nr. 2, S. 287 (Diog. Laert. 9,5 (DK 22 A 1)). 48
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Götterbildern hier“50) ist kein belangloses Detail. Er bezeichnet den Ort seiner Verkündung des Logos, welcher für Heraklits eigenes Dichterbild nicht unerheblich ist: Im Tempelbereich, zumal in dem des Artemis-Tempels, waren auch Seher und Wahrsager tätig, in deren Nähe er sich hiermit rückt. Doch der heilige Ort prophetischer Wahr- und Weissagung ist für Heraklit nicht nur ein Rückzugsgebiet philosophisch-ernster Reflexion, sondern auch kindlichen Spiels. Wiederum in einer Anekdote über sein Leben wird bei Diogenes Laertius berichtet, er habe sich, als ihn die Ephesier für die Politik gewinnen wollten, in das Artemis-Heiligtum begeben und dort mit den Kindern Würfel gespielt: „Warum wundert ihr euch, ihr schlechtes Gesindel? Ist das hier nicht eine anständigere Beschäftigung als mit euch die Stadt zu verwalten?“51 Logos und Spiel, seit Ewigkeit prädeterminiertes, heiliges Wort und zufälliges Würfelglück, sind im kultischen Bezirk des Tempels vereint. Heraklit, der „Rätselerfinder“ (αἰνικτής),52 beherrscht beides – beides allerdings auf Kosten sozialer Integration und Anerkennung.
50
Heraklit, Nr. 15, S. 295 (Theosophia 68, H. Erbse, Frag. Griech. Theos. 184 (DK 22 B 5)). 51 Heraklit, Nr. 1, S. 285. 52 Heraklit, Nr. 4, S. 287 (Diog. Laert. 9,6 (DK 22 A 1)).
54 I.3
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Das Rätsel als Strukturprinzip in Sophokles’ König Ödipus
Im Auftrag der Musen: Rhapsodie und Rätsel – Das Rätsel zwischen religiöser Divination und intellektueller Kombination – Das Erbe der Sphinx: Rätselhaftes Sprechen auf der Figurenebene – Der handlungsdynamische Effekt des Rätsels Am Anfang einer dramatischen Auseinandersetzung mit dem Rätsel steht, rezeptionshistorisch betrachtet, der König Ödipus von Sophokles, der ungefähr achtzig Jahre nach Heraklits Rätselsprüchen, zwischen 429 und 425 v. Chr., entstanden ist. Das Rätsel wird hier zu einem Strukturprinzip, zu einem principium, das, indem es eine hermeneutische Aktivität initiiert, einen ,Anfang‘ setzt und eine Handlungsdynamik freisetzt: Als „ein Dunkel, ein Incognito des Anfangs“1 geht es in Form der Prophezeiungen sowie des von Ödipus gelösten Sphinx-Rätsels dem Geschehen voraus, setzt dieses in Gestalt der dunklen Rätselrede des Teiresias in Gang und bringt es durch die Selbstblendung und freiwillige Verdunkelung des Ödipus, „der die berühmten Rätsel löste“2 (V. 1524), an ein (vorläufiges) Ende.3 Das Rätsel bildet folglich auf mehreren, miteinander verschränkten Ebenen den Knotenpunkt des gesamten Stückes: Es wird erstens über das Sphinx-Rätsel in seiner archaischen Variante des Halslöserätsels als eigenständiges Genre thematisch. Zweitens begründet dieses – bei Sophokles allerdings nicht im Wortlaut angeführte – Sphinx-Rätsel, das nach dem Menschen als einem erst vier-, dann zwei-, dann dreibeinigen Geschöpf fragt, die existentielle Dimension des Rätselwesens Mensch, das sich seiner selbst bewusst zu werden versucht [vgl. Kap. A]. Es findet drittens Eingang in die Figurenrede und weist eine strukturelle Verwandtschaft mit dem göttlichen Orakel und somit mit seiner einst religiösmystischen Funktion auf. Viertens prägt es die Struktur der analytischen Tragödie, der es, wie später dem Kriminalroman [vgl. auch Kap. III.3], um das stetige Oszillieren zwischen Enthüllen und Verschleiern geht. Und es bindet fünftens deren Rezipienten in den Prozess der Lösungsfindung ein, der darin mitunter
1
Bloch, Ernst, „Philosophische Ansicht des Detektivromans“, in: Gesamtausgabe, Bd. 9: Literarische Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 242-263, hier: S. 259 (Kursivierung im Original). 2 Zitiert wird im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, nach der Übersetzung von Kurt Steinmann, die auf der Ausgabe von A. C. Pearson (Oxford, repr. 1985) und deren teilweise unsicherer Verszählung beruht (Sophokles, König Ödipus, Übersetzung und Nachwort von Kurt Steinmann, Stuttgart 2002). 3 Der Ödipus auf Kolonos, ebenfalls ein Enthüllungsdrama, das posthum 401 v. Chr. von Sophokles’ gleichnamigem Enkel uraufgeführt wurde, stellt eine Fortsetzung des König Ödipus dar. Ödipus bleibt Spielball der Göttert, so Ismene: „Jetzt heben dich die Götter, die dich stürzten“ (V. 394) (Sophokles, Ödipus auf Kolonos, in: ders.: Tragödien, deutsch von Emil Staiger, Zürich 31962, S. 399-484, hier: S. 423).
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sein eigenes Lebensrätsel reflektiert sieht: „Liegt nicht auch der Leser der Rätselfälle im Dunkel seines immer wieder anfangenden, noch keinem sichtig gewordenen Augenblick-Seins?“4 Die Konfrontation des Ödipus mit der Sphinx, die, wie auch die RätselSzene, in der ägyptischen Sphinx-Tradition gänzlich unbekannt war [vgl. Kap. A], ist bereits seit dem 6. Jhd. v. Chr. in Bildzeugnissen belegt, auf denen Ödipus, zumeist als Wanderer oder Reisender gekleidet, vor der Sphinx sitzt:5 Allerdings finden sich hier, bis auf eine einzige Darstellung, deren antiker Ursprung zudem umstritten ist,6 keine Belege für den in der literarischen Überlieferung verbreiteten Selbstmord der Sphinx nach der Rätsellösung durch Ödipus. Letzterer wird oft mit Waffen dargestellt, was auf einen – vermutlich älteren – Überlieferungsstrang verweist, demzufolge er die Sphinx nicht in einem intellektuellen, sondern in einem körperlichen Zweikampf überwunden haben soll.7 In den Oidipódeia und den Thebais, zwei archaischen, ebenfalls im 6. Jhd. v. Chr. entstandenen Epen, von denen nur wenige Fragmente überliefert sind, gibt es erste Hinweise auf die Figur der Sphinx. Ihre genealogische Abstammung als Tochter der chimärenhaften Schlangenmutter Echidna und ihres Sohnes, des zweiköpfigen Hundes Orthros, wird schon in Hesiods Theogonie (V. 326 ff.) an der Wende vom 8. zum 7. Jhd. v. Chr. beschrieben, wo sie als simples Ungeheuer ohne Intellekt gezeichnet ist. Ödipus bleibt hier jedoch unerwähnt. Seine später sprichwörtlich gewordene „Weisheit“ ist erstmals bei Pindar belegt (Pind. P. 4, 263), wo allerdings noch nicht explizit auf ein Rätsel verwiesen wird.8 Aischylos thematisiert jenes in seiner Tetralogie zum Ödipus-Stoff, aus der nur der dritte Teil, Die Sieben gegen Theben, erhalten ist – Laios und Oidipous, die ersten beiden Stücke der Tetralogie, sind ebenso verloren gegangen wie das abschließende Satyrspiel Sphinx. Das Rätsel der Sphinx und dessen
4
Bloch, Ernst, „Philosophische Ansicht des Detektivromans“, S. 260. Vgl. hierzu: Demisch, Heinz, Die Sphinx. Geschichte ihrer Darstellung von den Anfängen bis zur Gegenwart, mit 640 Abbildungen, Stuttgart 1977, besonders: S. 96-100. 6 Eine Schwefelpaste zeigt Ödipus mit der Lanze in der Rechten, wie er die Sphinx vom Felsen herabstürzen sieht, aber auch hier muss nicht zwingend an den Selbstmord der Sphinx gedacht sein. 7 Lowell Edmunds bezeichnet das Hinzukommen des Rätsels als ,Überdetermination‘: “The riddling of the Sphinx is secondary to the Sphinx’ forthright destruction of her victims. Although it is relatively clear why the Sphinx herself enters the legend, it is not clear why the motif of monster-slaying is thus over-determined by the addition of riddlesolving” (Edmunds, Lowell, The Sphinx in the Oedipus Legend. Königstein/ Ts. 1981, S. 18). 8 Vgl. hierzu ausführlicher: Hühn, Helmut; Vöhler, Martin, „Oidipus“, in: Der Neue Pauly, hg. v. Hubert Cancik, Manfred Landfester, Helmut Schneider, Supplement Bd. 5: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Maria Moog-Grünewald, Stuttgart 2008, S. 500-511. 5
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Überwindung durch Ödipus hat Aischylos bereits gekannt und verwendet. Es ist zwischen 470 und 450 nach Athen gekommen und gehört von da an zum festen Bestandteil des Ödipus-Mythos. Dessen bekannteste Ausgestaltung findet bei Sophokles statt: Seine Tragödie bildet die kanonische Grundlage für fast alle Bearbeitungen der Ödipus-Sphinx-Konstellation in der europäischen Literatur, obgleich die Sphinx als agierende Figur dort gar nicht auftritt.9 Anders als bei der Überlieferung des Ödipus-Mythos in der Bildenden Kunst, bei der die direkte Begegnung des Helden mit dem chimärenhaften Ungeheuer Sphinx den beliebtesten Gegenstand bildet, ist die Sphinx auf der Bühne des Sophokleischen Dramas nämlich nur noch in der Erinnerung, respektive Erzählung präsent und bleibt auch dort überraschend konturlos.10 Leibhaftig in Erscheinung tritt sie nicht. Nicht einmal ihr berühmtes Rätsel ist bei Sophokles in seinem Wortlaut wiedergegeben.11 Die Sphinx wird – im Unterschied zu
9
Vgl. hierzu auch: Voehler, Martin, „Sphinx und Ödipus. Konstellationen ihrer Begegnung bei Sophokles – H. Heine – O. Wilde“, in: Malinowski, Bernadette; Wesche, Jörg; Wohlleben, Doren (Hg.), Fragen an die Sphinx. Kulturhermeneutik einer Chimäre zwischen Mythos und Wissenschaft, Heidelberg 2011, S. 51-69. 10 Über die Gründe dieser Wortkargkeit und die Scheu einer phantastischen Ausschmückung bei Sophokles wurde in der Forschungsliteratur vielfach diskutiert, vgl. hierzu auch: Halter, Thomas, König Ödipus: von Sophokles zu Cocteau, Stuttgart 1998, besonders S. 125 f. In Senecas Tragödie Oedipus wird hingegen das Grässliche pathetisch ausgemalt, wenn von dem blutigen Rachen der Seherin, den von Skeletten weiß schimmernden Boden, von den „Peitschenschlägen“ ihres Schwanzes, ihren Drohungen „dem wilden Löwen gleich“ (saevi leonis more), ihren knirschenden Kinnbacken und ihren Krallen die Rede ist (V. 92-103) (Seneca, L. Annaeus, Oepdius. Lateinisch/ Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Konrad Heldmann, Stuttgart 1992, S. 12 f.). 11 Das Rätsel, das die Sphinx von den Musen gelernt haben soll, ist in Prosa (z. B. Apollodorus. III. v. 8), aber auch in Hexametern überliefert (z. B. Athenaeus 10, 456 b [= Asklepiades FGrH 12 F 7a]). Ödipus soll als erster die Antwort gewusst haben, vgl. z. B. Iokaste in Euripides, Die Phönikerinnen: „Oidipus, mein Sohn,/ ergründete den Spruch der Sphinx“ V. 49 f. (Euripides, Die Phönikerinnen, in: ders.: Tragödien V (Die Troerinnen, die Phoinikerinnen, Orestes), griech. und dt. v. Dietrich Ebener, Berlin 1979, S. 95-207, hier: S. 111), infolge derer sich die Sphinx in den Abgrund stürzte (z. B. Apollodorus III. v. 8). Das Rätsel fragte zunächst nur nach einer Stimme, die vier, zwei und drei Füße besäße und umso schwächer sei, auf je mehr Füßen es ginge (z. B. Athenaeus 10, 456 b [= Asklepiades FGrH 12 F 7a]). Bei Apollodor heißt es: „Das Rätsel war folgendes: ,Was ist es, das eine einzige Stimme hat und bald vierfüßig, bald zweifüßig, bald dreifüßig ist?‘“ (Apollodorus, Götter und Helden der Griechen, griechisch und deutsch, eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Kai Brodersen, Darmstadt 2004, S. 151 (Buch 3, 53-55)). Als übliche Antwort wird ,Der Mensch‘ angenommen, der als Kind krabble, als junger Mann aufwärts gehe und sich als alter Mann auf einen Stock stütze (z. B. Apollodorus III. v. 8). Bei Athenaeus wird noch betont, dass die Sphinx als einziges Wesen im Himmel, auf der Erde und im Meer ihre Natur ändern
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vielen deutschen Übertragungen – weder direkt als ,Rätselsängerin‘ tituliert noch unmittelbar mit dem griechischen Begriff ,Rätsel‘ (αἴνιγµα) in Verbindung gebracht. Geschildert wird die Chimäre aus der Perspektive des Priesters (V. 36), Kreons (V. 130), des Ödipus (V. 391) sowie des Chors (V. 1199 f.) in vier kurzen, über das Stück verteilten Hinweisen: Gleich zu Beginn ist von dem Zoll der ,harten Sängerin (Prophetin, lt. vates)‘ (σκληρᾶς ἀοιδοῦ, V. 36) die Rede, die knapp hundert Verse später zum ersten und einzigen Mal namentlich erwähnt und mit dem Attribut ,bunt singend‘ (ποικιλῳδὸς, V. 130) versehen wird. Sie wird später als ,rhapsodische (wörtlich: ,Gesänge nähende‘) Hündin‘ (ῥαψωδός […] κύων, V. 391) charakterisiert. Ihre äußere Erscheinung findet nur einmal gegen Ende Erwähnung, wenn sie als ,geflügeltes Mädchen mit krummen Klauen‘ (γαµψώνυξ παρϑένος, V. 1199) beschrieben ist, die ,Orakel(sprüche) singt‘ (χρησµωδός, V. 1200). Während ihre äußere Gestalt allenfalls kurz skizziert ist, wird ihre Rolle als Orakelsängerin facettenreich thematisiert. Das Substantiv αἴνιγµα (,dunkle Rede, Rätsel‘, lt. aenigma) ist im Gesamtwerk des Sophokles zweimal belegt, beide Male im König Ödipus: Beim ersten Mal rühmt sich Ödipus selbst, das Rätsel der Sphinx gelöst zu haben (V. 393 f.), das zweite Mal charakterisiert der Chor in seinem Epilog den Protagonisten als denjenigen, „der die berühmten Rätsel (αἰνίγµατʼ)12 löste“ (V. 1525). Vom Rätsel ist explizit also nur von oder im Zusammenhang mit Ödipus die Rede. Es ist bei ihm grundsätzlich mit dem Gedanken der Lösbarkeit verknüpft und wird auf eine hermeneutische Frage-Antwort-Struktur reduziert. Indem Ödipus die allgemeine Antwort errät, das Rätsel löst, verleiht er der Frage der Sphinx eine Zielgerichtetheit und Sinnzentrierung, einen hermeneutischen Horizont. Mit seiner identitätslogischen, selbstbezüglichen Kategorisierung (,Das ist der Mensch‘), die das Fremde, Befremdende der Rätselfrage eliminiert, unterscheidet sich die Antwort des Ödipus grundlegend von der vielgestaltigen Sprache der theriomorphen Sphinx. Strukturelle und performative Momente des Rätsels spielen für Ödipus keine Rolle mehr: Das gesungene präsentische Rätsel,
könne. Später trat die Metapher der Zeit hinzu, die das Leben des Menschen zu einem einzigen Tag macht. So wird heute das Rätsel meist folgendermaßen formuliert: Welches ist das Tier, das am Morgen auf vier Füßen geht, am Mittag auf zweien und auf dreien am Abend? Zur Überlieferung der Rätselrede vgl. auch Flashar, Hellmut, Sophokles. Dichter im demokratischen Athen, München 2000, S. 100-122, besonders: S. 103 f. 12 Hier steht erstaunlicherweise die Pluralform, es kann sich also kaum um einen einzigen fest fixierten Rätselwortlaut gehandelt haben, welcher der Sphinx in den Mund gelegt wurde. Bei Heinz Demisch wird ein zweites, weniger bekanntes kosmisches Rätsel der Sphinx angeführt: „Zwei sind Schwestern, die eine verdankt der andern das Leben, welche geboren, die Mutter, wird selber vom Kinde geboren“ [der (im Griechischen weibliche) Tag und die Nacht] (vgl. Demisch, Heinz, Die Sphinx. Geschichte ihrer Darstellung von den Anfängen bis zur Gegenwart, S. 226).
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welches der Sphinx durch die Musen übermittelt wurde, fällt von nun an auseinander in Frage und Antwort, Signifikant und Signifikat. Deren Differenz wird eigentlich überhaupt erst durch die Lösung des Ödipus wahrnehmbar, der so die Auslegekunst initiiert: Er begründet, indem er als erster eine Antwort gibt, den Dia-log, das Auseinandertreten des Logos. Zugleich erstickt er ihn aber im Keim, indem er das Andere der Sphinx zu erkennen außerstande ist und mit seiner eindeutigen, mono-logischen Einwort-Antwort den kaum begonnenen Frageprozess an sein Ende führt. Ödipus deutet und klärt auf, was die Sphinx im Dunkeln zu verbergen versuchte. Mit seinem zielgewissen Vorsatz „Nun denn, von Beginn (ἐξ ὑπαρχῆς)13 werd ich, abermals, das Dunkel lichten (φανῶ)14“ (V. 132) widersetzt er sich Kreon, der das Dunkle dunkel belassen wollte. Denn König Ödipus akzeptiert das voranfängliche Dunkel nicht. Er begibt sich auf die Suche nach der αρχή, die ,Anfang‘ und ,Herrschaft‘ zugleich meint. Zu ihm spricht Kreon warnend: „Die Rätselsängerin, die Sphinx, brachte uns dazu, was im Verborgnen lag, zu lassen, nur auf das Nächstliegende zu schaun“ (V. 130 f.). Doch gerade dieses Verborgene möchte Ödipus lichten (φανῶ), dem dunklen Vergessen entreißen, zur Wahrheit bringen (ἀ-λήϑεια). Aus der Perspektive des Ödipus, ist die „Kraft der Wahrheit“ (V. 369), von der Teiresias spricht, keine Wahrheitskraft mehr, die sich im Vollzug literarischen Sprechens ereignet, sondern eine die entborgen worden ist. Nicht mehr dem Sagen selbst, sondern dem Gesagten gilt von nun an das Interesse.15
13
Kurt Steinmann übersetzt mit ,von neuem‘, hier wird die wörtliche Übersetzung ,von Beginn an‘ gewählt, um den Bezug zum ,Anfang‘ zu verdeutlichen. 14 Das Verb φαίνω, in der Ödipus-Rede im Futur, kommt im König Ödipus an zwei weiteren Stellen vor (V. 710, V. 1059), beide Male geht es um die Aufklärung der dunklen Vergangenheit des Ödipus, um das Rätsel seiner eigenen Herkunft, um das Rätsel des Anfangs (vgl. auch die Formulierung ἐξ ὑπαρχῆς): Einmal gebraucht es seine Gattin Jokaste, kurz bevor sie Ödipus über den an Laios ergangenen Orakelspruch informiert, das andere Mal Ödipus im Schlagabtausch mit Jokaste, die ihn, das Unheil bereits ahnend, davon abbringen will, über die Orakelsprüche allzu lange zu sinnieren, woraufhin er energisch antwortet: „Das kann nicht sein, dass ich ergreifend/ solche Zeichen, nicht meine Herkunft bring ans Licht!“ (V. 1058 f.). 15 Vgl. hierzu auch: Wohlleben, Doren, „Rätsel und Literatur: Ethische Perspektiven einer hermeneutischen Grundfigur“, in: Butzer, Günter; Zapf, Hubert (Hg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. IV, Tübingen 2009, S. 131-148, besonders: S. 132-136.
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Im Auftrag der Musen: Rhapsodie und Rätsel Doch aus der rezeptionsgeschichtlich fast gänzlich vernachlässigten Perspektive der Sphinx könnte man dies genau andersherum sehen. Als Repräsentantin eines orakelhaften Sprechens bezieht die Sphinx, die im Auftrag der Musen wirkt,16 ihre Wahrheitskraft gerade aus der Dunkelheit, die an eine spezifisch mündliche, vermutlich rhythmisch vorgetragene Darbietung gebunden bleibt: Sie ist Rhapsodin (ῥαψωδός, V. 391), berufsmäßige Sängerin, die aus einem mythischen Fundus schöpft und diesen unter souveräner Beherrschung typischer Formelemente immer wieder variiert, improvisiert. Plato beschreibt in seinem Dialog Ion, der wenige Jahrzehnte nach dem König Ödipus entstand (nach 399 v. Chr.) und als ein erster Hinweis für eine philosophische Auseinandersetzung mit der Hermeneutik gelesen werden kann,17 den Rhapsoden als einen „Vermittler von Vermittlern [Hermeneuten von Hermeneuten‘]“ (ἑρµηνέων ἑρµηνῆς; Plato, Ion, 535a9),18 der sich vom göttlichen Enthusiasmus anstecken lässt. Der Rhapsode verstehe nämlich den Sinn (διάνοια) des Textes, nicht nur dessen Worte (530c) und gebe diesen durch eine angemessene Rezitation an den Zuhörer weiter. Verstehen, aneignen und vermitteln bilden hier noch eine unauflösliche Einheit. Es geht nicht um eine verallgemeinerungsfähige Methode, die benannt oder dargelegt werden kann. Entscheidend ist allein die starke geistig-emotionale Bindung an den Gegenstand und die Wirkung, die im Akt des Vermittelns von diesem ausgeht. Der Gegenstand selbst darf dabei durchaus variieren. Folglich ist es auch nicht zwingend notwendig, dass die Sphinx stets exakt dieselbe Rätselfrage stellt. Im Gegenteil: Sie verfügt über das gesamte Register des Gesangs, dem sie ,bunt schillernd‘ Ausdruck verleiht: ποικιλῳδὸς (V. 130). Dass der Wortlaut des Rätsels bei Sophokles ausgespart, eine Leerstelle bleibt, steigert die Magie ihres Rätsels geradezu: Denn auf die vernichtende Wirkmacht ihrer Rätselrezitation kommt es primär an, nicht auf deren Inhalt, schon gar nicht auf deren Lösung. Das Rätselwort hat hier, anders als im Rigveda, keine weltschaffende Kraft mehr, sondern eine lebenzerstörende. Seine ,Wahrheit‘ ist tödlich, kostet den Kopf. Der Vergleich mit einer Hündin (κύων, V. 391), einem Wächterwesen der Unterwelt, verweist möglicherweise auf die apotropäische
16
z. B. Apollodorus. III. v. 8, Athenaeus 10, 456 b, indirekt: Euripides, Die Phönikerinnen, V. 50, wenn die Sprüche des Ödipus als µούσας wiedergegeben sind. 17 Vgl. hierzu: Greisch, Jean, Hermeneutik und Metaphysik. Eine Problemgeschichte, München 1993, S. 51-65. 18 Wenn nicht anders vermerkt, wird nach folgender Ausgabe (in der Übersetzung Friedrich Schleiermachers) zitiert: Plato, Ion, in: ders., Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 1: Ion, Hippias II, Protagoras, Laches, Charmides, Euthyphron, Lysis, Hippias I, Alkibiades I, bearbeitet von Heinz Hofmann, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1977, S. 1-39.
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Sprachfunktion der Sphinx, die es gerade nicht auf harmonische Verständigung und Dialog anlegt: Sie singt, und sie singt, im Gegensatz zu den Sirenen, schmerzlich dissonant.19 Sie ist die „harte Sängerin“ (V. 36), die abstößt, anstatt anzulocken, zugleich aber über göttliches Wissen und Musengabe verfügt. Und wie sich die Sirenen, als sie vom noch schöneren Gesang des Orpheus übertönt worden waren, ins Meer stürzten und sich in Felsen verwandelten, so wirft sich auch die Orakel singende (χρησµωδός, V. 1200) Sphinx nach der Rätsellösung durch Ödipus in den Abgrund. Ihr Rätselwort nimmt so in einer performativen, rätselhaften Geste sein jähes Ende. Diesmal erfolgt der Sieg allerdings nicht wie bei den Sirenen mittels Gesang, sondern mittels Vernunft und Intellekt, welcher nach Plato der Gabe der Orakelverkündigung entgegen steht: Nämlich nicht durch Kunst (τέχνῃ) bringen sie [die Dichter; D. W.] dieses hervor, sondern durch göttliche Kraft (ϑείᾳ δυνάµει). Denn wenn sie durch Kunst über eins schön zu reden wüßten, würden sie es auch über alles andere. Daher auch der Gott nur, nachdem er ihnen die Vernunft genommen, sie und die Orakelsänger (χρησµῳδοῖς) und die göttlichen Wahrsager zu Dienern gebraucht, damit wir Hörer gewiß wissen mögen, daß nicht diese es sind, welche das sagen, was so viel wert ist, denen ihre Vernunft (νοῦς) ja nicht einwohnt, sondern daß der Gott selbst es ist, der es sagt, und daß er nur durch diese zu uns spricht. (Plato, Ion, 534c,d)
Das Vermögen der Dichter, die, wie die Sphinx bei Sophokles, in die Reihe der Orakelsänger und Wahrsager gestellt werden, beruht Plato zufolge weder auf Wissen (ἐπιστήµη) noch auf Kunst (τέχνη) (541e), sondern auf göttlicher Kraft (ϑεία δύναµις). Letztere ist an den jeweiligen Gegenstand gebunden, von dessen Darbietung es nicht isolierbar ist: Der Sinn des Gedichts vermag nur freigesetzt zu werden, indem das Gedicht selbst freigesetzt wird. Die Auslegungskunst ist mit der Rezitierkunst innig verbunden. Oder, mit Blick auf die Sphinx: Das Deuten des Rätsels fällt mit dem Aussprechen des Rätsels zusammen, eine ,Lösung‘ des Rätsels kann es, losgelöst von seiner Präsentation, gar nicht geben. Denn erst die rhythmische Rezitation des Rätsels hat bedeutungstragende Funktion. Stellt man das Rätsel, was in der Rätselforschung zumeist ignoriert wird, in eine solch rhapsodische, mündliche Tradition, dann weist es Eigenschaften des später vom Rätsel klar separierten Zauberspruchs (engl. charm von lt. carmen (,Lied‘)) auf:20 Es ist ein akustisches, mündliches Klangereignis mit dissoziativer, möglicherweise gar hypnotischer Wirkung. Und als solches kann es weder
19
In den Phönikerinnen von Euripides ist vom ,gräßlichen Sphinxlied‘ (Σφιγγὸς ἀµουσοτάταισι) die Rede (V. 808). 20 Vgl. hierzu: Frye, Northrop, „Charms and Riddles”, in: ders., Spiritus Mundi. Essays on Literature, Myth, and Society, Bloomington/ London 1976, S. 123-147.
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als eine Kunstfertigkeit technisch erwerbbar sein (τέχνη), da es auf die Gunst der Götter angewiesen ist, noch stellt es im Platonischen Verständnis eine philosophische Wissensform dar (ἐπιστήµη), die bei Plato immer an eine Methode gebunden bleibt, mittels derer die Erkenntnis des Wesens des Seienden erlangt werden kann. Die Rhapsodin Sphinx repräsentiert in Sophokles’ König Ödipus also ein vorhermeneutisches Relikt, bei dem Rätselrede und Rätseldeutung noch nicht auseinanderfallen, Sinnlichkeit und Sinn aufeinander angewiesen sind. Mit ihrem Sturz in den Abgrund und dem Sieg des Zweibeiners Ödipus verliert das Rätsel seine musische, präsentische Dimension und wird defizitär: Von nun an bedarf es einer menschlichen Antwort, um als Wort überhaupt noch verstanden zu werden. Das Rätsel zwischen religiöser Divination und intellektueller Kombination Ödipus beharrt darauf, das Sphinx-Rätsel nicht unter Zuhilfenahme von göttlicher Vermittlerfunktion, sondern allein aufgrund seines scharfsinnigen menschlichen Intellekts gelöst zu haben: „weil mit Verstand ich’s traf, von Vögeln nicht belehrt!“ (V. 398). Er sieht sich nicht nur als Überwinder des Halslöserätsels, sondern stellt sich mit dieser Selbstcharakterisierung auch einer Tradition entgegen, welche die Wurzeln des Rätsels in der Mantik, in der „Seherkunst“ (µαντεία, V. 394), sucht. Zunächst assoziiert er also Rätsel (αἴνιγµα) und Mantik (µαντεία), um sie dann in einem zweiten Schritt zu dissoziieren: Die göttliche Vogelschau (µαντεία, lt. divinatio) scheint durch die menschliche Verstandestätigkeit überwunden zu sein, der Intellekt die Religion entbehrlich zu machen. Die Deutung rätselhafter Zeichen, die bisher einem Kreis auserwählter, eingeweihter Weiser vorbehalten blieb, gelingt nun dem „nichts wissende[n] Ödipus“ (V. 397). Die Mantik (lt. Divination) war für die griechische Religion, welche keine heilige Schrift, keinen Stifter, keine organisierte Priesterschaft und somit auch keine Offenbarung kannte, das einzige Medium, durch das eine Kommunikation mit dem Göttlichen praktiziert wurde.21 Sie hatte lange Zeit nicht nur eine religiöse, sondern darüber hinaus eine politisch-juristische Bedeutung: Erst um 500 v. Chr., ausgehend vom damals griechischsprachigen Sizilien, erkannte man die Notwendigkeit einer Reform des materiellen Strafrechts, mit der auch eine Überholung der gültigen Verfahrensordnungen einherging. Bis dahin hatte unter anderem das Orakel als einfacher Beweis gegolten, sprich das göttlich
21
Burkert, Walter, „Mythen um Oedipus: Familienkatastrophe und Orakelsinn“, in: Zimmermann, Bernhard (Hg.), Mythische Wiederkehr. Der Ödipus- und Medea-Mythos im Wandel der Zeit, Freiburg i. Br./ Berlin/ Wien 2009, S. 43-62, besonders: S. 59.
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autorisierte Rätselwort über Leben und Tod der Beschuldigten entschieden. Mit der neuen Urteilsfindung, die auf eingehender Prüfung beruhte, etablierte sich eine Theorie der Rhetorik, zunächst einer Gerichtsrhetorik.22 Auch die Figur des rational ermittelnden ,Detektivs‘ konnte erst aufkommen, als die Lösung eines „Täterrätsels“23 nicht mehr allein der göttlichen Vorsehung oblag. Kollisionen zwischen göttlichen oder von Göttern autorisierten und menschlichen Auslegungen waren nun unvermeidlich. Sophokles’ König Ödipus spiegelt diese Umbruchsituation wider: Die Schuld entlarvenden und schuldig sprechenden Orakel sind nach wie vor strukturbildend und in ihrer ,Rechtsprechung‘ unantastbar. Es gibt aber bereits Stimmen, die deren Autorität bezweifeln, wenn nicht gar als bewusste Irreführung entlarven wollen, wie Jokaste, die zur Unterstützung ihres Gatten die gesamte Wahrsagerei verwirft und für eine eigenständige Indiziensuche plädiert: „So mach dich los von all dem, was du sagst,/ und hör auf mich und lerne, dass es dir/ kein sterblich Wesen gibt, das teilhaftig ist der Seherkunst./ Ich will dafür dir bündige Beweise liefern (φανῶ)“ (V. 707-710). In der Figur des Ödipus kommt es zu einer Konfrontation des alten Beweisregimes, das sich auf die Autorität der göttlichen Orakelsprüche stützt, und des neuen, das auf rationale Ermittlung und Verstandeskraft baut. Einerseits glaubt Ödipus nämlich noch an die Erlösung durch einen wahren Götterspruch, so zu Beginn des Stückes, wenn er Apoll, den „Retter“ und „Heiler“ (V. 150), der sich der unverborgenen Wahrheit (ἀλήϑεια) gewiss ist und alles im Voraus weiß, um Hilfe anfleht: „O Herr Apollon! Käm er [Kreon] doch mit einem/ rettenden Geschick, strahlend (λαµρός) – wie sein Auge!“ (V. 80 f.). Andererseits versucht er sich gerade von dieser mantischen Tradition, die er spätestens mit der Lösung des mit Apolls Orakelsprüchen strukturverwandten Sphinx-Rätsels zu überwunden haben vermeint, zu befreien, wird jedoch immer wieder von der „Kraft der Wahrheit“ (V. 369) göttlicher Rede eingeholt. Ödipus lässt sich folglich keineswegs einseitig als der rein rationalistische, areligiöse Aufklärer betrachten, der die Götterrede von vornherein in Abrede stellt. Er fordert lediglich das (er)lösende, klare (λαµρός) Wort, das er absurderweise ausgerechnet vom Gott der Mantik erbittet.24 Die Wahrheit des Götterwortes wird im Drama zwar immer wieder einer Verunsicherung unterzogen, fundamental angezweifelt wird sie aber nicht. Das göttliche (Voraus-) Wissen bleibt
22
Vgl. hierzu: Daube, David, Die Geburt der Detektivgeschichte aus dem Geiste der Rhetorik, Konstanz 1983. 23 Ebd., S. 24. 24 Das griech. Adjektiv λαµρός (,leuchtend, glänzend, klar, vollkommen‘) meint nicht zwangsläufig, wie hier, ein rettendes Geschick. Es wird aber immer mit Klarheit und Wahrheit assoziiert und tritt oft im Zusammenhang mit dem Orakel auf.
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unantastbar.25 Der blinde Seher Teiresias, nicht der vermeintlich scharf sehende Ödipus wird am Ende Recht behalten. Letztlich setzt sich dasjenige Beweisregime durch, das zu Zeiten des Sophokles, historisch betrachtet, vom liberalisierten, auf Vernunft und Fakten beruhenden Verfahren intellektueller Kombination schon überholt ist:26 Die göttliche Rätselrede gilt nach wie vor als Wahrheitsinstanz, die Divination als deren Medium. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im König Ödipus mindestens zwei verschiedene Wissensformen aufeinander treffen: Erstens das göttliche Wissen, das durch das rhapsodische Wort vermittelt wird und in der Mantik (lt. divinatio), in der Bitte um ,göttlichen Rat‘ (lt. divinare: 1. prophezeien, 2. erraten), seinen Ausdruck findet. Es wird von Figuren wie der Sphinx, aber auch von Teiresias vertreten, die sich einer dunklen, paradoxen Rede bedienen, über die sie nicht bewusst verfügen, da sie als ,Hermeneuten der Hermeneuten‘ agieren, also selbst Mittlerfiguren sind. Das ,eigentliche‘ Götterwort ist immer schon entzogen und verrätselt, kann aber mitunter momenthaft erfahrbar werden. Dieses ,Wissen‘ entbehrt jeglicher rationalistischen Methode. Es würde von Platon nicht als ,Wissen‘, sondern als ein dichterisches Sinnverstehen bezeichnet werden, das er explizit von den philosophischen Wissensformen der Dialektik abgrenzt, da es auf Intuition und Inspiration beruhe. Hier kann auf das ,divinatorische Verfahren‘ wie es Friedrich Schleiermacher (1768-1834), der Vater der allgemeinen Hermeneutik, beschreibt, vorausverwiesen werden, das sich durch ein unmittelbares, intuitives Erfassen dessen auszeichnet, was über das bloße Faktenwissen hinausgeht. Schleiermacher stellt es dem ,komparativen Verfahren‘ gegenüber: Letzteres basiere auf bereits Verstandenem und schreite durch fortwährendes Vergleichen zum weniger Verständlichen voran.27 Dieses ,komparative Verfahren‘ kann mit der zweiten im König Ödipus thematisierten Wissensform verbunden werden, dem intellektuellen Wissen, auf das sich Ödipus und seine Gattin Jokaste im Kampf gegen göttliche Vorsehung und Rechtsprechung zu stützen versuchen. Durch rationale Kombination vermeintlich objektiver Fakten wollen sie Schritt für Schritt zur Wahrheit vordringen.
25
Vgl. hierzu auch: Burkert, Walter, Oedipus, Oracles and Meaning. From Sophocles to Umberto Eco, Toronto 1991, S. 23: “Are oracles true? The play emphatically answers: Yes. It is the confirmation of divine knowledge, of divine prescience, that is enacted in this tragedy.” 26 David Daube spricht in diesem Zusammenhang von einer „Rückkehr zur Frühperiode“: „Sophokles war sich dieser Wirkung selbstverständlich durchaus bewußt: er liebte es, an die zwar unzeitgemäße, doch auch ehrfurchtgebietende Härte vergangener Geschlechter zu gemahnen“ (Daube, David, Die Geburt der Detektivgeschichte aus dem Geiste der Rhetorik, S. 24). 27 Schleiermacher, Friedrich, „Hermeneutik. Einleitung“, in: ders., Schriften, hg. v. Andreas Arndt, Frankfurt am Main 1996, S. 945-991, hier: S. 990 f.
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Das Rätsel (αἴνιγµα) bildet hierbei eine Scharnierstelle: Es ist auf der einen Seite eng verknüpft mit der Inspirationsmantik, der in Orakelsprüchen und Priesterreden Ausdruck verliehen wird, und repräsentiert so das dunkle (Seher-) Wort, das auf die „Kraft der Wahrheit“ (V. 369) göttlicher oder zumindest prophetischer Rede angewiesen ist. Auf der anderen Seite wird es von Ödipus erstmals als semiologisches System wahrgenommen, das eines menschlichen hermeneutischen Aktes bedarf. Letzterer basiert nicht mehr auf einem religiösen Kult wie der Vogelschau, sondern kann jenseits ritueller Praktiken, „außerhalb des Tempels“28 durch reine Verstandeskraft enträtselt werden und erhält so eine epistemologische Dimension. Das Erbe der Sphinx: Rätselhaftes Sprechen auf der Figurenebene Vermeintlich scheint der komparative Rätsel-Begriff den divinatorischen allmählich zu verdrängen. Doch findet letzterer, was im Folgenden gezeigt werden soll, Eingang in die Figurenrede und wirkt dort als eine handlungstreibende ,Kraft‘ (δύναµις) fort. Auffällig ist, dass auch bei Sophokles das Rätsel (αἴνιγµα) in ein Wortfeld eingebettet ist, das seine Herkunft aus dem kulturpraktischen, rituell-religiösen Kontext nicht leugnen kann, obgleich Ödipus letzteren gegenüber Teiresias lediglich ex negativo aktualisiert: Denn komm, sag an: Wo hast du als Seher dich bewährt? Warum hast du, als die Sprüchespinnerin (ἡ ῥαψῳδὸς, lt. carmina texens) hier war, die hündische, für diese Bürger hier kein erlösend Wort (ἐκλυτήριον, lt. solutio) gesprochen? Das Rätsel freilich – es stand nicht in jedes hergelaufnen Mannes Macht, es auszudeuten (διειπεῖν, lt. accurate enarrare), nein, Seherkunst (µαντεία, lt. divinatio) tat Not: Da zeigte es sich klar, dass nicht von Vögeln du sie hast noch von der Götter einem als Erkenntnis. (V. 390-396)
Das Rätsel hätte zu einer Bewährungsprobe seherischer Fähigkeiten werden können. Doch kam gerade hier die Sehergabe des blinden Teiresias nicht zum Einsatz, was Ödipus fälschlicherweise als einen Mangel an Fachkompetenz deutet und ihm nicht nur die Augurenkunst, sondern darüber hinaus sogar die menschliche Weisheit abspricht (V. 395 f.). Teiresias, der mit seinem
28
Vgl. hierzu: Greisch, Jean, Hermeneutik und Metaphysik, S. 62. Jean Greisch setzt sich kritisch mit einer These Vincent Descombes’ auseinander, welche die Hermeneutik nur innerhalb der Grenzen des Tempels, im Herrschaftsbereich des ,heiligen Wortes‘ verortet (Descombes, Vincent, Grammaire d’objets en tous genres, Paris 1983, S. 9-32).
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sprechenden Namen bereits auf das ,(Himmels-) Zeichen‘ verweist (τείρεα, Nebenform zu attisch τέρας: ,himmlisches Zeichen, Götterzeichen, Vorzeichen, Schreckbild, Ungeheuer‘),29 hat Einblick in das, was dem normalen menschlichen Blick verschlossen ist, in das ,Mysterium‘ (altgriech. µυεῖν: ,sich schließen, die Augen schließen‘).30 Noch nie hat er mit einer Lüge die Stadt getäuscht31 und gilt als Repräsentant des wahren Wissens. Dennoch ist Teiresias, dessen Stimme das Zukünftige in die „Gegenwärtigkeit des gesprochenen Worts“32 holt, bei der Lösung des Sphinx-Rätsels nicht ,präsent‘. Die göttliche Gabe der Vorsehung wird ihm nur zuteil, wenn es sich um das Individualschicksal eines einzelnen Menschen handelt,33 nicht wenn es um generalisierende Erkenntnisse über den Menschen schlechthin geht, welche die Sphinx erfragt. Sein Wirkungsbereich ist das mündliche Wort, die „Kraft der Wahrheit“ (τῆς ἀληϑείας σϑένος, V. 369). Eine solche Kraft (σϑένος, lt. vis) bleibt auf eine physische Erscheinungsweise, auf eine performative, iterative Darbietung angewiesen, die sich nicht in einer rein logischen, endgültigen Aussage erschöpft, wie sie Ödipus mit seiner Antwort liefert. Nur in Verbindung mit den göttlichen Mächten, in der Mantik, vermögen seine wahren Worte zur Geltung zu kommen.34 Dies erinnert an das Konzept der ,Wahrheitskraft‘ (ṛta) des altindischen Rigveda-Epos, welches ebenfalls eine religiöse Ritualpraxis mit einer sprachlich spezifischen Darstellungsform verknüpfte [vgl. Kap. I.1]. Diese gesprochene Sprache, die hier wie dort als ein Medium der Vermittlung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen fungiert, ist eine metaphorische, paradoxe, derer sich auch die Sphinx bedient, wenn sie von dem drei-, bzw. vierbeinigen Rätselwesen Mensch singt. Es ist die Sprache des
29
Vgl. hierzu auch: Burkert, Walter, „Mythen um Oedipus: Familienkatastrophe und Orakelsinn“, S. 54. 30 Heinz Demisch stellt die gesamte Ödipodie in die Tradition des Mysterienkultes, als deren wichtigen Bestandteil er den Rätselwettkampf sieht, vgl. hierzu: Demisch, Heinz, Die Sphinx. Geschichte ihrer Darstellung von den Anfängen bis zur Gegenwart, S. 226. 31 Vgl. dessen Charakterisierung durch den Chor in Sophokles’ Antigone: „Daß er der Stadt noch keine Lüge sagte“ (V. 1094) (Sophokles, Antigone, in: in: ders.: Tragödien, deutsch von Emil Staiger, Zürich 31962, S. 215-272, hier: S. 26). 32 Mayer, Mathias, Dialektik der Blindheit und Poetik des Todes. Über literarische Strategien der Erkenntnis, Freiburg i. Br. 1997, S. 58. Mathias Mayer widmet sich in seiner Verschränkung von hermeneutischem Präsenzdenken und dekonstruktivistischer Analyse des Phonozentrismus ausführlich der Forschungs- und Rezeptionsgeschichte des Teiresias-Mythos, vgl. vor allem Teil I: Teiresias und die Dialektik der Blindheit, S. 33-146. 33 Vgl. hierzu auch: Bollack, Jean, Sophokles. König Ödipus, Übersetzung, Text, Kommentar, Frankfurt am Main/ Leipzig 1994, S. 162. 34 Vgl. hierzu: ,Divination‘, in: Der Neue Pauly. Altertum, Bd. 3, hg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Stuttgart/ Weimar 1997, Sp.703-718, besonders: Sp. 709-714.
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Orakels, dessen Schutzherr Apoll ist, der, so heißt es in einem Fragment Heraklits [vgl. Kap. I.2], „weder sagt noch verbirgt, sondern andeutet“.35 Vergleichbar der mündlichen Rätselrede Apolls und der Sphinx spricht auch Teiresias in paradoxen Wortfügungen mit enigmatischer Struktur, wie sie aus Heraklits Fragmenten vertraut sind: „Du hast zwar Augen und siehst doch nicht“ (V. 413), entgegnet der blinde Seher beispielsweise Ödipus, oder „Der heutige Tag wird zeugen dich – und auch vernichten!“ (V. 438). So verwundert es nicht, dass ihn Ödipus mit demselben Attribut charakterisiert, das schon dem „Rätselerfinder“ (αἰνικτής) Heraklit zugeschrieben wurde, wenn er Teiresias’ Sprache als „rätselhaft“ (αἰνικτὰ, V. 439), bezeichnet. Kurz nachdem er sich rühmt, das Rätsel der Sphinx gelöst zu haben, wird Ödipus also erneut mit der Rätselsprache konfrontiert, diesmal aus dem Munde Teiresias’: Wieder geht es um das Eingespanntsein zwischen Leben („zeugen“) und Tod („vernichten“), wieder um die Zeitspanne eines Tages, das Problem der Zeit. Diesmal ist allerdings nicht von einem anonymen Wesen die Rede (,Wer ist das, der […]?‘), sondern Ödipus wird direkt adressiert („wird zeugen dich“). Die explizite Frage, die das Paradoxon zu einem Rätsel mit adressierter Lösungsaufforderung werden lässt, wird von Teiresias nachgeschaltet: „Bist demnach du der Beste nicht, um dies herauszufinden?“ (V. 440). Gegenläufig zum klassischen Halslöserätsel, bei dem das Ausbleiben einer Antwort mit Tod einhergeht, bringt Teiresias die richtige Antwort mit Selbstauslöschung in Verbindung: „Gerade dieser Erfolg indes hat dich vernichtet“ (V. 442). Ausgerechnet der Rätsellösung scheint hier ein suizidäres Moment inhärent zu sein. Doch sieht sich Teiresias, im Gegensatz zur Sphinx, nicht als Richter, sondern lediglich als dessen Vorbote. Apoll persönlich wird diese Aufgabe letztlich zuteil: „Es ist auch nicht dein Los, durch mich zu fallen, denn/ Apollon ist genug, dem daran liegt, dies auszuführen“ (V. 376 f.). Der handlungsdynamische Effekt des Rätsels Das „Dunkel, [das] Incognito des Anfangs“36 wird am Dramenbeginn mit Verweis auf Apoll, den Gott des Lichts, in Szene gesetzt. Dessen Anweisung scheint „klar“ (V. 96) zu sein und muss, so Ödipus’ naive Annahme, lediglich noch mittels detektivischen Spürsinns konkretisiert werden: „Was war das? Denn
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Heraklit, Nr. 7, S. 289 (Plut. De Pyth. or. 404 D (DK 22 B 93)). Zitiert nach der Ausgabe Die Vorsokratiker, Bd. 1: Thales, Anaximander, Anaximenes, Pythagoras und die Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, griechisch-lateinisch-deutsch, Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2007. 36 Bloch, Ernst, „Philosophische Ansicht des Detektivromans“, S. 259 (Kursivierung im Original).
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eines kann wohl vielem auf die Spur verhelfen,/ ergreift unser Verdacht nur den geringsten Anhaltspunkt“ (V. 120 f.). Lösung und Erlösung werden in Aussicht gestellt, die allerdings nicht von Anfang an gegeben sind, sondern in einem Prozess der Dechiffrierung erkannt werden müssen. Einerseits verkörpert Apoll also das Prinzip des vorausbestimmten, vorausgewussten und vorausgesagten Schicksals, das unabwendbar bleibt. Andererseits fordert er zu einer eigenmächtigen Lesart dieses Schicksals heraus, dessen Wendung ins Gute durch menschliche Verstandestätigkeit unterstützt werden soll. Das Rätsel, das Ödipus lösen muss, ist nicht, wie zunächst von ihm selbst vermutet, artistische Klügelei, ein rein sophistisches Spiel, das, einmal gelöst, beendet ist. Im Gegenteil: Mit der Antwort wird der Anfang erst gesetzt, beginnt die Suche nach dem eigenen Lebensrätsel. Nicht nur in die Figurenrede hat das Rätsel Eingang gefunden, das sich bei Sophokles keinesfalls auf eine simple Frage-Antwort-Struktur reduzieren lässt, sondern auch in die Handlungsebene. ,Handlung‘ ist hier im doppelten Sinne zu verstehen, erstens als selbstinitiiertes Ereignis in der Welt (H1) und zweitens als narrative Fabelkomposition (H2).37 Die Rätselrede taucht stets an Knotenpunkten des Handlungsgeschehens auf, wobei die beiden Handlungsbegriffe in ein paradoxes Spannungsverhältnis treten: Einerseits ist der Rätsel- und Schicksalsspruch des Ödipus längst verhängt und wird als etwas dunkles Voranfängliches präsentiert, das seiner Geburt bereits vorangeht. Insofern bedarf er auch keiner Deutung oder gar Lösung mehr, da er einst sowieso in die Wahrheit des Lebens überführt werden wird. Ödipus erscheint in dieser Perspektive wie der Anti-Held eines Märchens, das ebenfalls seinen handlungsorientierten Verlauf nimmt, der vom Protagonisten zwar ausgeführt, aber nicht geführt werden kann. Die Handlung (H1) liegt als fatum, als ausgesprochener (lt. fari), wenn auch für die Menschen verrätselter Zukunftsplan, in der alleinigen Macht der Götter. Andererseits konstituiert sich das Lebensrätsel des Ödipus erst mit der dramatischen Entwicklung, die immer wieder die innere Verschränkung von Deuten, Entscheiden und Handeln des Helden vor Augen führt. Moralische Handlungen (H2) werden dem Helden abverlangt, die auf dem Konsultieren göttlichen und zwischenmenschlichen Rats beruhen. Ethisches Reflektieren und politisches Agieren sind eng aufeinander bezogen und gehen auf ästhetisch komplexe Götteraussagen zurück. Das Wort und seine Deutung sind dem Handeln vorgängig. Und die existentielle Situation des Menschen wird damit begründet: „Das ist menschliches Sein, sich so im Deuten des Vieldeutigen zu verstricken“.38
37
Vgl. hierzu auch: Tengelyi, László, „Narratives Handlungsverständnis“, in: Joisten, Karen (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin 2007, S. 61-73. 38 Gadamer, Hans-Georg, „Dichten und Deuten“, in: ders., Gesammelte Werke. Bd. 8: Ästhetik und Poetik I (Kunst als Aussage), Tübingen 1999, S. 18-24, hier: S. 23.
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Mit den Orakelsprüchen der griechischen Götter nimmt die Geschichte des semantischen Problems überhaupt erst ihren Anfang.39 Bei den antiken orientalischen Völkern hingegen erfolgten die Angaben der Orakelgötter noch präzise und klar. Da sie weder hinterfragt noch (fehl-) gedeutet werden konnten, hatten sie eine fatalistische Haltung ihrer Rezipienten zur Folge. Es ist demnach ein Spezifikum griechischer Religiosität, dass eine menschliche Mitwirkung bei der Auslegung erforderlich ist, deren Ausgang alles andere als gewiss ist: das Handeln hängt von einer Entscheidung, die Entscheidung von Zeichen ab; Zeichen aber können trügen, und Orakelsprüche können sich trotz aller Anstrengung, die man darauf verwandt hat, den richtigen Sinn zu treffen, in paradoxer, gänzlich unvorhergesehener Weise erfüllen.40
Immerhin gab es bei noch mangelndem Verständnis des Orakels die Möglichkeit seiner Neubefragung. Ein Orakel zunächst nicht verstanden zu haben, war an sich nicht schlimm. Tragisch wurde es erst, wenn es, wie im Fall Ödipus, irrtümlicherweise für richtig gedeutet gehalten wurde. Dahinter steckt aber stets die Vorstellung einer prinzipiellen Lösbarkeit dieser prophetischen Sprüche, deren Rätselstrukturen auch im König Ödipus betont werden (vgl. αἰνικτὰ, V. 439). Die scharfe Trennscheide des dunklen, emotionalen Orakels vom spielerischen, rationalen Rätsel, die Manfred Fuhrmann zieht, ist, zumal unter Berücksichtigung der oben thematisierten mantischen Tradition des Rätsels, nicht bedingungslos haltbar: Fuhrmann situiert das Rätsel „außerhalb der religiösen Sphäre“, wo es nicht konkretem Handeln gelte, sondern lediglich „ein allgemeines moralisches oder intellektuelles Problem“ aufgebe, weshalb ein tragisches Verfehlen der Lösung kaum denkbar sei. Denn das Rätsel gehöre „dem vordergründigen Bereich rationalen Spiels“ an, wohingegen die „Dunkelheit des Seherspruchs“ der emotionalen Sphäre entstamme und aus „Inspiration“ erwachse, während das Rätsel auf „klügelnde[r] Artistik“ beruhe.41 Dieser dichotomischen Zweiteilung in ein oberflächlich spielerisches Rätsel und ein pathetisch-ernstes Orakel wurde besonders in der Postmoderne mit der etwas zu einseitigen Lektüre von Johan Huizingas Homo ludens42 Vorschub geleistet. Sie gründet auf den beiden Rätseltraditionen des griphos und des ainigma, deren semantisch klare Trennung allerdings, was häufig missachtet wird, erst im 20. Jahrhundert er39
Vgl. hierzu: Fuhrmann, Manfred, „Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarischen Theorie der Antike“, in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966, S. 47-72, besonders: S. 51. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 53. 42 Huizinga, Johan, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 182001, besonders: S. 119-132.
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folgte. Fuhrmanns ,Rätsel‘-Definition stützt sich überwiegend auf die Tradition des unterhaltsamen, handlungsfernen griphos, die bei ihm auf das ainigma projiziert wird. Im König Ödipus jedoch finden sich Anklänge an eine solche Spielsituation, bei der „ein allgemeines moralisches oder intellektuelles Problem“43 im Mittelpunkt steht, allenfalls noch im Halslöserätsel der Sphinx, das ja aber, wie mehrfach betont, gar nicht mehr explizit Erwähnung findet. Zudem wird es mit dem Begriff ainigma in Erinnerung gerufen und von Ödipus von Anfang an in das semantische Wortfeld der Mantik gestellt, der Tradition des angeblich dunkelernsten Orakels. Zwar realisiert Ödipus dies zunächst nicht, doch gilt seine Rätsellösung durchaus konkretem, individuellem Handeln, ja es setzt die Handlungsdynamik überhaupt erst in Gang. Wie schon bei Heraklit, der einer Anekdote zufolge den Tempelbereich zum Würfelspiel nutzte,44 greifen auch bei Sophokles Ernst und Spiel, religiöse Divination und intellektuelle Kombination ineinander, lässt sich die Hermeneutik nicht auf den Grenzbereich des Tempels beschränken. Vielmehr ist das Rätsel selbst eine Grenzfigur, deren rhapsodische und divinatorische Ursprünge sich gerade dort Geltung verschaffen, wo sie durch kombinatorisches Kalkül bereits überwunden zu sein scheinen.
43
Fuhrmann, Manfred, „Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarischen Theorie der Antike“, S. 53. 44 Vgl. hierzu: Heraklit, Nr. 1, S. 285 (Diog. Laert. 9,1 (DK 22 A1)).
70 I.4
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Zusammenfassung und Ausblick: Funktionen des Rätsels
(1) Die kosmogonisch-magische Funktion – (2) Die hermetisch-esoterische Funktion – (3) Die utopisch-ethische Funktion – (4) Die hermeneutischalteritäre Funktion – (5) Die ludistisch-heuristische Funktion Auf der Basis der drei vorigen Lektüren [Kap. I.1-I.3] sollen im Folgenden fünf Funktionen des Rätsels differenziert werden, die sich gattungsübergreifend auffinden lassen: (1) die kosmogonisch-magische, (2) die hermetisch-esoterische, (3) die utopisch-ethische, (4) die hermeneutisch-alteritäre (5) und die ludistisch-heuristische. Sie können – historisch und kulturell bedingt – einzeln oder, sehr viel häufiger, in variierenden Kombinationen mit je unterschiedlicher Gewichtung auftreten. Die Rätselforschung des 20. und 21. Jahrhunderts konzentriert sich zumeist auf die fünfte, die ludistisch-heuristische, ansatzweise noch auf die vierte Funktion, die hermeneutisch-alteritäre. Sie verkennt hierbei deren historische, aber auch konzeptionelle Verschränkung mit den anderen drei Funktionen, obgleich diese bis in die Literatur und Theorie der (Post-) Moderne hinein nachwirken. Der systematische Zugang erlaubt zugleich einen differenzierten Abgleich mit einigen Nachbarbegriffen des Rätsels: So werden der ,Mythos‘, der ,Zauberspruch‘, das ,Geheimnis‘, der ,Rat‘, das ,Paradoxon‘ und die ,Frage‘ in ihr je spezifisches Verhältnis zum ,Rätsel‘ gesetzt. Die Funktionsanalysen erfolgen im Diagramm zweier Denkbewegungen, die im Folgenden als zwei unterschiedliche, oftmals aufeinander angewiesene Lösungskonzeptionen des Rätsels betrachtet werden sollen: Erstens die vertikal gerichtete ,Hermeneutik der Erlösung‘ und zweitens die horizontal orientierte ,Hermeneutik der Auflösung‘. In dem Moment, in dem sich die Interpretationsrichtung von der Vertikalen in die Horizontale verlagert, was mit der Distanzierung vom Offenbarungsgedanken in der Spätantike einsetzt, wird das nunmehr dynamische Auslegungsgeschehen geschichtlich und führt zu einer historischen Selbstreflexion des Mediums. Die Hermeneutik der Erlösung basiert auf der Vorstellung einer Offenbarung, die von einem Gott, einem Orakel, einer Wahrheitskraft, einer zauberhaften Liebe oder auch nur, wie bei der Losung von Preisrätseln, von einem Zufallsgenerator ausgeht, also von Mächten, die – oft unerwartet – in das Leben eingreifen, dieses verändern und neue Perspektiven eröffnen. Erfahrbar wird sie durch (göttliche) Divination oder (psychologische) Intuition, vorbereitet durch rituelle Praktiken oder gemeinsam gesetzte Rahmenbedingungen. Letztere bilden die
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Voraussetzung für eine Lösung, ohne dass diese in einem Kausalitätsverhältnis hergeleitet werden kann. Denn die Lösung, die mitunter eine glückliche Losung sein kann, ist unhinterfragbar, nicht widerrufbar und auch nicht wiederholbar. Ob sie kommt, bleibt ungewiss, da sie den Suchenden überkommt. Nicht immer kann sie, wie zum Beispiel beim Orakel, sofort erkannt werden. Dennoch ist sie dem Menschen zwar nicht willentlich, aber prinzipiell zugänglich. Anders verhält sich dies bei der Hermeneutik der Auflösung: Die horizontale Bewegungsrichtung bezieht sich zwar noch auf Relikte einer Lösungsvorstellung, entlarvt diese aber als Utopie, wenn nicht gar als Illusion. Vergleichbar der ,Hermeneutik des Verdachts‘1 iteriert sie den Zweifel und initiiert einen unabschließbaren Prozess des Weiterfragens, der gegen jegliches Sinnfeststellungsverfahren aufbegehrt. Mit jeder Rätsellösung entstehen neue Rätsel, wobei die Strategien der Verrätselung immer komplizierter werden. Das ,Erkenne dich selbst‘ wird zu einer unaufhörlichen Suche nach sich selbst, der Stein der Weisen zu einer endlosen Spur der Wissen-Wollenden. Übrig bleibt lediglich die Hoffnung, dass im Widerspruch der temporären Teillösungen so etwas wie Offenbarung aufscheint. Nicht mehr im Inhalt, sondern allenfalls noch in der Bewegungsdynamik kann der (Er-) Lösungsgedanke spürbar werden, bleibt dabei jedoch stetigen Auflösungsprozessen unterworfen. Beiden gemeinsam ist, dass die (Illusion der) Lösung oft sowohl eine religiös-mystische als auch eine kognitiv-epistemische Komponente enthält. Während bei der Hermeneutik der Erlösung irgendwann eine vollkommene Gewissheit gelingt, die häufig durch eine Lichterfahrung metaphorisiert wird, verharrt die Hermeneutik der Auflösung im Zustand der Ambivalenz und der Mehrdeutigkeiten, im grauen Schattenreich. Als eine hermeneutische Grenzfigur verweist das Rätsel jedenfalls, ob lösungsorientiert oder nicht, auf den inneren Zusammenhang von ethischer Lebensperspektive und heuristischer Theorie sowie auf deren, im dreifachen Hegelschen Sinne, ,Aufhebung‘ in der Literatur, an deren Anfang immer wieder das Rätsel gesetzt wird.
1
Ricœur, Paul, „Philosophische und theologische Hermeneutik”, in: ders.; Jüngel, Eberhard, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, S. 24-45, hier: S. 44. Paul Ricœur formuliert ausgehend von Schleiermacher und der Frühromantik eine skeptische Alternative zu einer Hermeneutik des Vertrauens in geschichtliche Kontinuitäten sowie eines Hegelschen Phänomenologie-Ansatzes, der hinter aller Verschiedenheit immer wieder eine tiefer liegende Einheit sucht: Seine radikal ideologiekritische ,Hermeneutik des Verdachts‘ will jede Form einer vermeintlich gemeinschaftsstiftenden Position als eine Form von Dogmatik oder Propaganda entlarven.
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(1) Die kosmogonisch-magische Funktion In den Anfängen des Rätsels, die thematisch stets um das Rätsel des Anfangs kreisen [vgl. Kap. I.1], erscheint eine Funktion als besonders dominant: die kosmogonisch-magische. Sie bleibt jedoch in der Rätselforschung zumeist unberücksichtigt und findet allenfalls im Zusammenhang mit Nachbargattungen, wie zum Beispiel dem Zauberspruch, indirekte Erwähnung. Auch wenn sie überwiegend in frühen literarischen Dokumenten aufzufinden ist und später zunehmend rationalistischeren Rätselformen weicht, lassen sich ihre Spuren noch in modernen Poetiken und ästhetischen Theorien des 20. Jahrhunderts nachvollziehen. In ihnen wird der „Rätselcharakter“ des Kunstwerks, häufig derjenige der Musik, als ein „Entsprungenes“ konzipiert, als ein Relikt dessen, „was einmal magische, dann kultische Funktion ausüben sollte“.2 Unter der kosmogonisch-magischen Funktion wird im Folgenden die Affinität des Rätsels zu einer spezifisch mündlichen Darstellungsform verstanden, der aufgrund ihrer besonderen Prosodie eine magische Wirkung zugesprochen wird. Sie lässt ein vernunftbetontes Verstehen obsolet werden. Diese frühe Rätselform ist primär Klangereignis und weist formale Parallelen zum Zauberspruch auf, von dem sie sich allerdings inhaltlich durch ihre Konzentration auf Fragen nach der Entstehung des Kosmos oder dem menschlichen Sein unterscheidet. Ihre Darbietung, die Teilbestand ritueller Handlungen ist, löst in ihrer Rätselhaftigkeit eine philosophisch-religiöse Grundhaltung aus, die zum Staunen verleitet. Dieses Staunen soll nicht, wie in der vorsokratischen Naturphilosophie, in ein rationales Reflektieren oder gar begriffliches Räsonieren überführt werden, das nach einem Anfang im Sinne eines Urgrundes oder definierbaren Prinzips (lt. principium) sucht. Vielmehr handelt es sich, so auch in den vedischen Rätselliedern [vgl. Kap. I.1], um mythische Deutungsversuche, welche die Rätselhaftigkeit des Anfangs, anstatt sie zu eliminieren, inszenieren und stets von Neuem initiieren. Dies geht mittels einer poetischen Sprache vonstatten, die sich von der gewöhnlichen Ausdrucksweise abhebt, indem sie sich zahlreicher Paradoxa und Metaphern bedient [vgl. Kap. I.2]. Ein derartiges gesprochenes Wort, dem angeblich eine magische Kraft innewohnt, die mit einer „Kraft der Wahrheit“ (Sophokles, König Ödipus, V. 369) einher geht, kündet vom Anbeginn der Welt, der hierdurch immer wieder neu befragbar wird. Anders als der Mythos, welcher die Leerstelle zumindest narrativ zu umkreisen und somit bedingt strukturlogisch dingfest zu machen versucht, stellt das kosmogonische Rätsel alle semantischen Annäherungsversuche in Frage, indem es die Frage selbst explizit und ästhetisch erfahrbar macht. Das eigentliche Rätsel über den Ursprung der Welt, so
2
Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 2003, S. 192.
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beispielsweise in Rigveda X, 129 (Die Entstehung der Welt) [vgl. Kap. I.1], bleibt aber ungelöst. Betont wird lediglich die Ratlosigkeit in Bezug auf die Lösung: Jede Frage bringt einen der Lösung zwar näher, aber sie enthält zugleich eine weitere, tiefere, die sich nicht erschließt. Während der Mythos also Antworten auf die großen Fragen der Menschheit zu geben bestrebt ist, will das kosmogonische Rätsel vermeintliche Antworten in neue Fragen überführen. Hierdurch soll ein Gemeinschaftsgefühl frommen Erschauerns evoziert werden, das ein Innehalten vor dem Unergründlichen und Voranfänglichen zur Folge hat und jedwede Suche nach der Primordialität ad absurdum führt. Es geht nicht, wie bei späteren Rätselfunktionen, um ein blitzhaftes Erkennen von Sinn, sondern um ein Narkotisieren der Sinnsuche im Medium enigmatischer Sprache. Und gerade der sinnliche Aspekt einer solchen Sprache kann im Idealfall eine Wahrheitskraft evozieren. Eine formale Affinität zum Zauberspruch ist dabei unverkennbar: Auch dessen hypnotische Wirkung führt Northrop Frye auf eine ursprünglich magischkultische Funktion zurück, die auf eine Beruhigung des ruhelosen Geistes, also auf ein temporäres Innehalten abzielt. Der Zauberspruch, im Englischen charm von lateinisch carmen (,Lied‘), ist primär klang- und rhythmusorientiert, wohingegen das Rätsel, im Englischen riddle, verwandt mit to read (,lesen‘), Frye zufolge vernunftorientiert ist und gegen eine solche hypnotisierende Wirkung aufbegehrt. So gelangt Frye zu der nur bedingt haltbaren Schlussfolgerung, dass das Rätsel “essentially a charm in reverse”3 sei, was aber auf die frühen Rätselformen mit ihrer kosmogonisch-magischen Funktion gerade nicht zutrifft. Bei ihnen ist vielmehr die Bedeutung dem Klangereignis, der Sinn der Sinnlichkeit nachgeordnet. Nicht auf innovative Lösungsfindungen oder gar letztgültige Antworten kommt es an, sondern auf das stete, metrisch exakte Repetieren formelhafter Rätsellieder. Das Rezitieren selbst gilt als Handlung, falsches Rezitieren folglich als Fehlhandlung. Die Rätsellieder haben nämlich erstens eine kulturstiftende und zweitens eine gesellschaftskonstituierende Funktion: Mit ihnen wird rituelles Wissen memoriert, tradiert und ästhetisch erfahrbar [vgl. Kap I.1]. Hierbei stützen sie sich auf die ästhetischen Strukturen der Wiederholung und Rhythmisierung, die in einem ritualisierten Handlungskontext eingebettet sind und im Sprechakt als Handlung wahrgenommen werden. Der Inhalt des Handelns muss beim nachahmenden Tun also zugleich seine Form sein, die ein „Antwortverhalten“ evoziert und sich durch „Appellwirkung und Verpflichtungsgehalt“ auszeichnet. Denn die Rhythmisierung bildet Arnold Gehlen zufolge die elementarste Form des darstellenden Verhaltens. Bei ihr tritt die Handlung zu sich selbst in ein Verhältnis und erlangt aufgrund ihrer Überprägnanz eine „Symbolfähigkeit“, die zur
3
Frye, Northrop, “Charms and Riddles”, in: ders., Spiritus Mundi. Essays on Literature, Myth, and Society, Bloomington/ London 1976, S. 123-147, hier: S. 137.
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Nachahmung animiert.4 Oder, um die aus den griechischen Mysterien bekannten Begrifflichkeiten aufzugreifen: Dromena (das, was getan wird) und Legomena (das, was gesagt wird) fallen hier noch ineins. Denn die ästhetische und die ethische, respektive gesellschaftlich-politische Dimension greifen bei dieser frühen Rätselvariante eng ineinander: Das Rätsel ist in seinen rituellen Anfängen Darstellungs-, Verstehens- und Lebensform zugleich. Rituelles Handeln und magisches Sprechen lassen sich folglich nicht separieren. Rituale stiften Gemeinschaft, entfalten eine flüchtige und durch Wiederholung dauernd zu erneuernde integrative Kraft. Das geschieht jedoch „nicht über Aussagen oder Informationen, sondern über die gestalthafte Textur leibvermittelten Gemeinschaftshandelns, wozu nicht nur Rhythmisierung und Einklang der Gebärden, sondern auch die prosodischen Figuren der Rede-Rezitation und – nicht zu vergessen – bestimmte situative, häufig theatralische Rahmenbedingungen gehören“.5 Diese müssen nach Dietrich Harth „die konstativen, kommunikativen und strategischen Funktionen gewöhnlichen Sprechens in Richtung des Metaphorischen“6 überschreiten, wofür das frühe Rätsel ein einschlägiges Beispiel sein kann, da es Rituale, sprich performative kulturelle Welten,7 initiiert. Dessen rezitative Sprachmacht geht über einen rein performativen Sprechakt hinaus: Während letzterer nämlich Wirklichkeit ,nur‘ schafft, vermögen die Rätselsprüche mit ihrer Evokation von (göttlicher) Wahrheitskraft in die Wirklichkeit einzugreifen, sie zu verändern. Jan Assmann bezeichnet einen solchen Sprechakt als interventionistisch: Der interventionistische Sprechakt setze eine Welt immanenter Transzendenz voraus, in der das Heilige – anders als beim biblischen Gott, dessen Transzendenz absolut ist – auf verborgene Weise anwesend gedacht werde.8 Magie beruhe nämlich auf der Voraussetzung, dass es einen intimen Zusammenhang zwischen Immanenz und Transzendenz gebe und das Heilige der Welt immanent und durch Rituale zugänglich sei.9
4
Vgl. hierzu: Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956, S. 164 f. 5 Harth, Dietrich, „Handlungstheoretische Aspekte der Ritualdynamik“, in: Harth, Dietrich; Schenk, Gerrit Jasper (Hg.), Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, Heidelberg 2004, S. 95-113, hier: S. 108. 6 Ebd. 7 Vgl. hierzu auch: Wulff, Christoph; Zirfas, Jörg, „Performative Welten. Einführung in die historischen, systematischen und methodischen Dimensionen des Rituals“, in: dies. (Hg.), Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole, München 2004, S. 7-45. 8 Assmann, Jan, „Magie und Religion im Alten Ägypten“, in: ders.; Strohm, Harald (Hg.), Magie und Religion, München 2010, S. 23-43, hier: S. 41. 9 Assmann, Jan, „Zur Einführung: Die biblische Einstellung zur Wahrsagerei und Magie“, in: ders.; Strohm, Harald (Hg.), Magie und Religion, München 2010, S. 11-22, hier: S. 21.
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Die ,Hermeneutik der Erlösung‘ und die ,Hermeneutik der Auflösung‘ spielen bei der kosmogonisch-magischen Funktion des Rätsels auf eigentümliche Weise zusammen: Eine Offenbarung, hier die Erfahrung des Transzendenten im Immanenten, wird prinzipiell als möglich erachtet, kann aber nur durch den Sprechakt selbst erlangt werden. Sie ist damit primär nicht sinn-, sondern sinnlichkeitsorientiert. Und allein eine Strategie unaufhörlicher Verrätselung, eine Iteration des Zweifelns und Fragens, die Lösungen als temporär erscheinen lässt und neuen Auflösungsprozessen unterzieht, schafft die Voraussetzung einer solch erlösenden Offenbarung. Denn das Entschleiern bleibt auf das Verhüllen angewiesen, das Hermetische bedingt das Hermeneutische. (2) Die hermetisch-esoterische Funktion „Was verrätselt wird“, konstatiert André Jolles in seinen Einfachen Form, „wird also von dem Sinn des Abgeschlossenen bestimmt“.10 Dass es sich beim Rätsel um eine esoterische, nur Eingeweihten erschließbare, oder gar um eine hermetische, per se unzugängliche, Kommunikationsform handelt, ist eine Überzeugung, die so alt ist wie das Rätsel selbst und sich bis in die Positionierungsversuche moderner (Nachkriegs-) Lyrik hinein gehalten hat [vgl. Kap. III.4]. Denn die zunächst philosophische Hermetik diffundiert im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in die Lyrik und wird zu einem Schlüsselbegriff europäischer Dichtung nach 1945.11 Sie rückt das Lyrische in die Nähe des Sakralen und korreliert immer wieder ,Rätsel‘ und ,Geheimnis‘:12 Damit wird dieser Kunst auch der Besitz einer Wahrheit in Form eines Geheimnisses zuerkannt. Es ist offenbar die quasi-religiöse Wahrheitsgewißheit in der Verweigerung der Zugänglichkeit, die an der hermetischen Lyrik gesucht wird. Wer Lyrik zur hermetischen erklärt, macht sich dadurch zum Eingeweihten, bezieht daraus Distinktionsgewinn.13
10
Jolles, André, „Rätsel“, in: ders., Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 61982, S. 126-146, hier: S. 138. 11 Vgl. hierzu das Vorwort der Herausgeber in: Kaminski, Nicola; Drügh, Heinz J.; Hermann, Michael (Hg.), unter Mitarbeit von Andreas Beck, Hermetik: literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace, Tübingen 2002, S. VII-X, hier: S. IX. 12 Zu der Differenzierung von ,Rätsel‘ und ,Geheimnis‘ siehe weiter unten in diesem Kapitel. 13 Kurz, Gerhard, „Hermetismus. Zur Verwendung und Funktion eines literaturtheoretischen Begriffs nach 1945“, in: Kaminski, Nicola et al. (Hg.), Hermetik, S. 179-197, hier: S. 195.
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Alles vermag potentiell zum Rätsel zu werden, so noch einmal André Jolles, jedoch nur auf eine bestimmte Weise, die durch Ein- und Ausschlussmechanismen sowie Sakralisierungsstrategien geprägt ist: „Verrätselt kann nur werden, was die Weihe umschließt – das Geheimnis des Bundes, das was in dem Bunde zugleich heimisch und heimlich ist“.14 Lediglich einem kleinen, durch Ritus und Kult initiierten auserwählten Kreis wird Zugang zum Rätsel gewährt, und dieser wiederum muss, will er „das Geheimnis des Bundes“ und die Wirkungskraft des Rätsels schützen, seinen elitären Status wahren. Schon im Rigveda wurde die Göttin Vāc, Lebensprinzip und Personifikation der Dichtung in einem, allein von Auserwählten verstanden, die sich durch eine spezifische religiöse Lebenshaltung auszeichneten [vgl. Kap. I.1]. Letztere kann nicht von jedem Beliebigen erstrebt werden, sondern bedarf der Gunst der Götter: „Wem hold ich bin“ (Rigveda, X, 125, Str. 5). Ebenso verfügt der angebliche „Rätselerfinder“ (αἰνικτής) Heraklit, ,der Dunkle‘ (ὁ σκοτεινόϛ), übertragen auch: der ,versteckt, im Geheimen, heimlich‘ agiert, über einen Zugang zum Logos, welcher den meisten anderen verwehrt ist. Nicht von ungefähr verkündet Heraklit seine Rätselsprüche im Artemis-Tempel, in dem sonst Wahrsager und Priester tätig waren, also in einem abgegrenzten, heiligen Bezirk. Er ist der andere Orakelverkünder, der ,erklärt, auslegt, deutet‘, aber auch ,unter- und entscheidet‘ (altgriech. δι-αἱρεῖν), das heißt bewusste Differenzierungen vornimmt. Sein idealer Adressatenkreis sind die σύνετοι,15 die in Mysterien ,Initiierten‘ [vgl. Kap I.2]. So steht bereits Heraklits Philosophie im Zeichen einer Abhebung von den Massen: Der in der europäischen philosophischen Tradition weit verbreitete Topos des menschenverachtenden und von den Menschen verachteten ,dunklen‘ Philosophen, der sich noch in der im 20. Jahrhundert vielfach kritisierten Heideggerschen Abgrenzung vom ,Man‘ wiederfindet, erfährt hier seine erste Blüte. Der Philosoph, dessen Rätselzuschreibung sowohl eine externe also auch eine interne ist, findet sich, so der bereits bei Plato belegte Mythos (Theaitetos, 174d-175b), in der Alltagswelt nicht zurecht. Ihm ist es stattdessen vorbehalten, diese von außen zu kritisieren und zu enigmatisieren, um sie neu befragbar zu machen. Eine derartige distanzierte Haltung muss sich auch sprachlich niederschlagen: Seine paradoxe Ausdrucksweise nimmt eine Grenzziehung zu herkömmlichen Kommunikationsformen vor, errichtet eine sprachlich-logische Gegenwelt, die leicht als eine separierte, eigene Welt (miss-) verstanden werden kann und dann zur (vermeintlich) hermetischen gerät.
14
Jolles, André, „Rätsel“, S. 138. Heraklit spricht ex negativo von den ἀξύνετοι und verwendet hiermit einen Ausdruck aus der Mysteriensprache. Zum positiven Begriff vgl. Pindar O. 2,85 [vgl. auch Kap. I.2]. 15
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Die Gegenwelt16 ist Heinrich Rombach zufolge das Charakteristikum des Hermetischen17 schlechthin, das Rombach – in einer allzu schlichten Dialektik18 – als das Antihermeneutische begreift und als neue Weltsicht zu rehabilitieren hofft: „Zwischen Hermetik und Hermeneutik besteht nicht nur ein Unterschied, sondern ein Gegensatz, eigentlich der größte Gegensatz, den man sich denken kann, da er den Unterschied von Denkbarkeit und Undenkbarkeit betrifft“.19 Der auf Weltverständnis beruhenden Hermeneutik, die Rombach als „Kunst des Erklärens, Eröffnens, Verstehens“ begreift und im Gott Apoll repräsentiert sieht, stellt er die „Tatsache der Verschlossenheit, Unzugänglichkeit, Unbegreiflichkeit“ gegenüber, für die der Gott Hermes20 steht.21 Während die Hermeneutik „[a]lle Weisen von Grund und Begründung“ erfasse, verlasse die Hermetik dieses Ursprungsdenken gänzlich und widme sich allein dem „Abgrund“.22 Für die Hermetik nimmt Rombach nicht den Begriff des ,Verstehens‘, sondern den des ,Phänomens‘ in Anspruch, das er konkretisiert als die genuin menschliche Fähigkeit, „einen Zauber [zu] erfahren“.23 Hier lässt sich ein Bogen zur ersten Rätselfunktion schlagen: Die kosmogonisch-magische Funktion des Rätsels bedarf mitunter der hermetischen Abgeschlossenheit. Dies wiederum führt zu dem Paradox, dass der Anfang des Kosmos nur dann zur literarischen Darstellung gebracht werden kann, wenn er als Anfang verneint ist, wenn der Grund zum Abgrund wird. In der Negation einer ursprünglichen Sinnbegründung konstituiert sich die stets anfängliche Sinnsuche nach einem rätselhaften letzten Grund. Kein „Aha“, so noch einmal Rombach, rufe der Betrachter im Bestaunen der Rätsel der Schöpfung aus – dies wäre ihm zufolge eine verstehensbezogene, hermeneutische Position – sondern ein „Ah“,24 eine Ansicht, die sich schon bei
16
Vgl. hierzu: Rombach, Heinrich, Welt und Gegenwelt. Umdenken über die Wirklichkeit: Die philosophische Hermetik, Basel 1983. 17 Zur Hermetik-Forschung vgl. auch Kap. II.2 und III.4 sowie die dortigen Sekundärliteraturhinweise. 18 Zu einer Kritik bei gleichzeitiger Wertschätzung dieser Position vgl. auch: Greisch, Jean, Hermeneutik und Metaphysik. Eine Problemgeschichte, München 1993, S. 42-45. 19 Rombach, Heinrich, Der kommende Gott. Hermetik – eine neue Weltsicht, Freiburg 1991, S. 17. 20 Man geht inzwischen davon aus, dass es sich bei der jahrhundertelangen Analogie von ,Hermeneutik‘ und ,Hermes‘ um eine Volksetymologie handelt (vgl. z. B.: Pépin, Jean, „Die frühe Hermeneutik. Worte und Vorstellungen“, in: Bohn, Volker (Hg.), Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt am Main 1988, S. 97-113). Dennoch gilt Hermes bis heute als konzeptioneller Namenspatron der Hermeneutik, vgl. hierzu auch: Greisch, Jean, Hermeneutik und Metaphysik, S. 30-32. 21 Rombach, Heinrich, Der kommende Gott, S. 17. 22 Ebd., S. 18. 23 Ebd., S. 36. 24 Ebd., S. 39.
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den alten Indern findet: „Über selbiges [das Brahman] ist diese Unterweisung. Was an dem Blitze das ist, daß es blitzt und man ruft ,ah‘ und schließt die Augen, – dies, daß man ,ah‘ ruft [ist seine Unterweisung] in Bezug auf die Gottheit“ (Kena-Upaniṣad, 4,29)25 [vgl. Kap. I.1]. Hoffte Heinrich Rombach, eine neue „philosophische Hermetik“ zu begründen, eine „ruhige, vernünftige Rede vom scheinbar Unvernünftigen“,26 so fällt Umberto Ecos Auseinandersetzung mit der Hermetik im Kontext der Grenzen der Interpretation sehr viel nüchterner und historisierender aus. Eco bezieht sich wie Rombach auf die Leitfigur Hermes,27 als dessen große Zeit er das zweite Jahrhundert nach Christus betrachtet [vgl. auch Kap. II.3]. Die Vorstellung einer einzigen, erfahrbaren Wahrheit ist hier obsolet geworden. Die Hermetik dieser Zeit sucht vielmehr nach einer Wahrheit, die sie nicht kennt. Ihre Funken schlagen sich allenfalls noch in Büchern nieder, deren Übereinstimmung erhofft wird, aber nicht mehr gesichert ist, da viele Dinge gleichzeitig wahr sein können, auch wenn sie einander widersprechen. Nur noch in indirekter, dunkler Sprechweise könne approximativ auf sie verwiesen werden [vgl. auch Kap. II.1]. Denn, so fährt Eco fort: „Die Götter sprechen (heute würden wir sagen: Das Sein spricht) in hieroglyphischen und enigmatischen Botschaften“.28 Als wahr gilt nicht mehr, wie im griechischen Rationalismus, dasjenige, was aufgeklärt, erklärt werden kann, sondern das, was stets unlösbar, unnahbar bleibt: „Im Streben nach einem letzten und unerreichbaren Sinn akzeptiert man ein unaufhaltsames Weggleiten des Sinnes“.29 Die Interpretation wird so zu einer unendlichen Aufgabe, allerdings um den Preis, dass das Geheimnis aller Geheimnisse, dem sich das hermetische Denken approximativ zu nähern glaubt, inhaltsleer ist und nur noch in der Aussage ,Alles ist Geheimnis‘ besteht, die in diesem Fall mit einem ,Alles ist Rätsel‘ gleichgesetzt werden kann. Wie nämlich ein gelüftetes Geheimnis kein Geheimnis mehr ist, so kommt die hermetisch-esoterische Funktion dem Rätsel in dem Moment abhanden, in dem dieses auf Antwort hofft, eine dialogische Struktur annimmt, ins Offene stellt [vgl. Funktion (4)]. Beide Traditionsstränge des ,Geheimnisses‘ kommen in der frühen Hermetik zum Tragen und sind miteinander verschränkt. ,Geheimnis‘ (mhd. heimelich: das zum eingefriedeten, inneren Wohnbezirk Gehörende)
25
Zitiert nach: Desai-Breun, Kiran, Anschauen und Denken, Reden und Schreiben. Zur Struktur philosophischer Tätigkeit in ihren Anfängen in Indien und Europa, Würzburg 2007, S. 58. 26 Rombach, Heinrich, Der kommende Gott, S. 19. 27 Eco, Umberto, Die Grenzen der Interpretation, Titel der italienischen Originalausgabe: I limiti dell’ interpretazione (1990), übersetzt von Günter Memmert, München/ Wien 1992, hier: S. 61-63. 28 Ebd., S. 63. 29 Ebd., S. 64.
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bezieht sich erstens auf das, was dem Blick des Menschen, dessen Erkenntnis entzogen ist (lt. mysterium – altgriech. µυεῖν: sich schließen), deutet also auf eine Schwelle zwischen Menschlichem und Übermenschlichem, zwischen Profanem und Sakralen. Zweitens meint Geheimnis dasjenige, was bewusst geheim gehalten wird und Eingeweihte von Außenstehenden absondert (lt. secretum – lt. secernere: trennen, ausscheiden). Denn Geheimnisse grenzen ein und aus: Die durch sie vollzogene Raumorganisation lässt Fragen der Ordnung und Macht aufkommen.30 Zugleich vermögen sie allerdings Strukturen der Ordnung und Macht zu destabilisieren, indem sie „die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren“ aufscheinen lassen, weshalb Georg Simmel sie als „eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit“ rühmt.31 Das Geheimnis verfügt demnach, wie das noch ungelöste oder prinzipiell unlösbare Rätsel, über eine poetogene Kraft und stellt dem Realitätssinn einen (utopischen) Möglichkeitssinn gegenüber [vgl. Funktion (3)]. Erst in der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts wird eine vermeintlich klare terminologische Trennung zwischen ,Rätsel‘ und ,Geheimnis‘ vorgenommen: Dort wird das Rätsel auf sein verspieltes, unsinniges, bisweilen frivoles Moment sowie seine oberflächenbezogene Buchstäblichkeit reduziert, dem das ernste, metaphysisch tiefgründige Geheimnis gegenübergestellt sei. Während das Rätsel ein oft in der Metaphorik des Knotens versinnbildlichtes Sprachereignis darstelle, als dessen Paradigma das delphische Orakel gelten könne, hülle sich das Geheimnis, häufig als Schleier metaphorisiert, in Schweigen, wofür das Redeverbot der Mysterien beispielhaft sei.32 Auch in ihrer soziologischen Struktur unterscheiden sich die beiden: Das Rätsel als Ratespiel steht prinzipiell jedem offen, da es allein durch Intellekt gelöst werden kann, weist also eine aufklärerische, exoterische Dimension auf, wohingegen das Geheimnis Mittlerfiguren bedarf und auf einen kleinen, esoterischen Kreis beschränkt bleiben muss. Doch eine derartige Differenzierung greift nur, solange das Rätsel einseitig in die griphos-Tradition gestellt [vgl. Funktion (5)] und auf das Kriterium der Lösbarkeit fokussiert ist.
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Zum Geheimnis vgl. auch: Assmann, Jan und Aleida (Hg.), Schleier und Schwelle. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit, Bd. 2: Geheimnis und Offenbarung, Bd. 3: Geheimnis und Neugierde, München 1997, 1998, 1999 sowie Wohlleben, Doren, „Geheimnis. V. Literaturwissenschaftlich“, in: Wischmeyer, Oda (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009, S. 197-201, hier: S. 200 f. 31 Simmel, Georg, „Das Geheimnis. Eine sozialpsychologische Skizze“, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Bd. II, hg. v. Alessandro Cavalli und Volkhard Krech, Frankfurt am Main 1993, S. 317-323, hier: S. 317. 32 Vgl. hierzu z. B.: Hörisch, Jochen, „Das Leben war ihnen ein Rätsel. Das Rätselmotiv in Goethes Romanen“, in: Euphorion 78 (1984), S. 111-126, besonders S. 115 f.
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Die hermetisch-esoterische Rätselfunktion verweist hingegen gerade auf die Affinität von Rätsel und Geheimnis. Das Geheimnis erscheint hier als die utopische Dimension des noch ungelösten Rätsels, auf die auch Walter Benjamin in seinem Fragment Über das Rätsel und das Geheimnis hindeutet: „Wenn er [der Versuch, einem Vorfall eine geheimnisvolle Seite abzugewinnen; D. W.] deren geheimnisvolle Seite in einer Darstellung einzufangen sucht, welche sich auf sie als das Rätsel auf seine Lösung bezieht, so bricht der Schein des Geheimnisses nur solange nicht, als die Lösung aussteht“.33 Ist letztere da, erweist sich das Geheimnis im Nachhinein als ein nur vermeintliches, als bloßes spielerisches Rätsel. Oder anders formuliert: Das „Rätselwort“, das eine Antwort lediglich in Aussicht stellt, sie aber nie endgültig gibt, bleibt „im Stande des Geheimnisses“:34 Es deutet auf etwas hin, deutet jedoch nicht. Und es steht unter dem Eindruck einer besonderen Bedeutung, schließt diese Bedeutung aber zugleich aus. Das Bewegungsprinzip hat sich im Vergleich zur ersten Rätselfunktion, der kosmogonisch-magischen, verschoben: Waren dort die horizontale und die vertikale Richtung noch beide aufeinander angewiesen, da allein der horizontale Aufschub von Sinn mittels einer rhythmusgetragenen Rätselsprache die vertikale, auf eine (göttliche) Wahrheit ausgerichtete Bewegung garantieren konnte, so verliert diese vertikale Denkrichtung nun an Relevanz. Begründet ist hier eine Tradition, die sich bei den Alchimisten und Kabbalisten weiterentwickelt, im Neuplatonismus ihren zweiten Aufschwung erlebt und sich in Ansätzen noch in literaturtheoretischen Strömungen des Poststrukturalismus erhalten hat: Anstatt der Annahme einer in Ekstase oder durch göttliche Offenbarung erfahrbaren Wahrheit, einer Hermeneutik der Erlösung, gibt es lediglich noch eine Iteration von Hinweisen auf ein Geheimnis, das sich stets entzieht und inhaltlich nicht mehr gefüllt werden darf, eine Hermeneutik der Auflösung. Denn allein in der Nicht-Offenbarung ist ein „Initiationsgeheimnis“ möglich,35 verbirgt sich „die ,Erlösung‘ der versteckten Intention aufs Unlösbare hin“.36
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Benjamin, Walter, „Über das Rätsel und das Geheimnis“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI: Fragmente vermischten Inhalts, Autobiographische Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 21986, S. 17 f., hier: S. 17. 34 Ebd. 35 Eco, Umberto, Die Grenzen der Interpretation, S. 65. 36 Benjamin, Walter, „Über das Rätsel und das Geheimnis“, S. 18.
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(3) Die utopisch-ethische Funktion Die sinnhafte Ausrichtung auf eine Erlösung durch das Rätsel anstatt der Konzentration auf eine Lösung des Rätsels bestimmt auch die dritte Rätselfunktion, die utopisch-ethische. Sie ist von dem Moment an besonders präsent, in dem der Sinnbezug selbst reflektiert und zum lebensweltlichen Problem wird. Ethik als Reflexionstheorie der Moral will diesen Sinnbezug nicht selbst herstellen oder gar vorgeben, sondern dessen Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen thematisieren. Bei der heute alltagssprachlich gewordenen ,Sinnfrage‘ handelt es sich nämlich um ein modernes Phänomen, das mit seiner knapp hundertjährigen Tradition in der philosophischen Begriffsgeschichte noch relativ jung37 und erst durch die Erfahrungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg virulent geworden ist.38 Diese Rätselform ist primär weder sinnlichkeitsorientiert [vgl. Funktion (1)] noch bedeutungsbezogen [vgl. Funktion (4)]. Sie weist vielmehr eine existentielle Dimension auf, die, anders als bei der hermetisch-esoterischen Funktion des Rätsels [vgl. Funktion (2)], jeden Menschen angeht. Das Rätsel wird hier zum „Lebensrätsel“,39 dem sich der Mensch stellen muss und das ihn zum Selbst- und Fremdverstehen aufruft. Denn der Mensch sucht im Rätsel Rat, Rat für sein eigenes Leben oder das eines anderen. Bei dem deutschen, in dieser Form erst seit Luther gebräuchlichen Wort ,Rätsel‘ (oberdt.: ratissa, ratussa, ratisca, ratunga, ratnussa, ratnunga) handelt es sich um eine mit dem -l-s-Suffix (das den Gegenstand der Handlung bezeichnet) gebildete Ableitung von dem Verb ,raten‘ (ahd. ratan). Dessen ursprüngliche Bedeutung war ,(sich etwas) zurechtlegen, (aus)sinnen, Vorsorge treffen‘. Der ,Rat‘, heute noch erkennbar im ,Hausrat‘, bezog sich zunächst lediglich auf die ,(Besorgung der) Mittel, die zum Lebensunterhalt notwendig sind‘,40 war also lebenspraktisch ausgerichtet. Später meinte ,raten‘ auch, ,jemandem nach reiflicher Überlegung einen Rat, Ratschläge zu geben‘. Daraus ergab sich dann die zweite Bedeutungsdimension: ,die richtige Antwort auf eine Frage zu finden versuchen, indem man aus den denkbaren Antworten die wahrscheinlichste auswählt‘. Das Raten geht folglich mit einem inneren Reflexionsprozess einher und ist auf einen Anderen angewiesen, der entweder selbst Rat sucht oder zum Raten, Antworten auffordert. Die Struktur des Rätsels, bei der
37 Vgl. hierzu: Angehrn, Emil, Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen, Tübingen 2010, S. 12. 38 Zum Verhältnis von Kriegserfahrung und der Herausbildung einer (literarischen) Ethik vgl. auch Mayer, Mathias, Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven, München 2010. 39 Goethes Briefe und Briefe an Goethe, Hamburger Ausgabe in 6 Bänden, hg. v. Karl Robert Mandelkow, Bd. IV (1821-1832), München 31988, S. 264. 40 ,Raten‘, in: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim/ Leipzig/ Wien/ Zürich 4 2001, S. 1275.
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sich Sinn und Nicht-Sinn gegenseitig bedingen, wobei der anfängliche NichtSinn das Movens zur Suche nach Sinn bildet und diesem inhärent bleibt, bietet sich hierfür besonders gut an: Im Rätsel wird der Rat nicht in Form einer moralischen Handlungsanweisung erteilt, sondern als indirekte, oft zunächst einmal widersinnig erscheinende Mitteilung. Bevor gehandelt wird, muss – so im antiken Orakel [vgl. Kap. I.3] – erst einmal Rat eingeholt und dieser gedeutet werden. Wie sehr der Rat als Kategorie einer literarischen Ethik auf eine spezifische, narrative Darstellung angewiesen ist, die in der Erfahrung und im ununterbrochenen dialogischen Austausch mit anderen wurzelt, ist spätestens seit Walter Benjamins Erzähler-Essay geläufig. Benjamin macht in seinem Ende der zwanziger Jahre im Wesentlichen konzipierten, wenn auch erst 1937 publizierten Essay die Krise des Erzählens, die für ihn eine anthropologische Krise darstellt, an dem Verlust fest, dass der Erzähler „dem Hörer Rat weiß“.41 Rat meint hier keine Antwort auf eine Frage, sondern das Tradieren und Fortsetzen einer Geschichte durch einen mündlichen Erzähler. Dem in Einsamkeit und nur noch monologisch kommunizierenden Romancier, der seine Geschichten schriftlich fixiert und sie somit ihres Prozesscharakters beraubt, ist Benjamin zufolge die Fähigkeit des ,Ratens‘ abhanden gekommen. Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass in der Gattungsgeschichte des Rätsels das Ende der existentiellen Dimension des Rätsels ausgerechnet in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts gelegt und mit dem Aufkommen des Kreuzworträtsels korreliert wird. Letzteres reduziert das ,Raten‘ auf ein spielerisches ,Erraten‘, das zudem schriftlich und meist in monologischer Einsamkeit festgehalten wird [vgl. Funktion (5)]. ,Raten‘ im ethischen Sinne meint Benjamin zufolge jedoch, mittels literarischer Darstellung, beispielsweise im mündlich tradierten Märchen, eine Tat zu zeigen, anstatt sie im Medium der Schrift moralisch zu kommentieren. Das Aufkommen einer literarischen Ethik in den Romanen dieser Zeit lässt zwar Benjamins Annahme eines Endes des ethischen Erzählens mit der Etablierung des Romanciers als irrig erscheinen. Aber seine Koppelung von Narration und Ethik bewahrt bis heute ihre Gültigkeit und führt in der Moderne zu neuen literarischen Erzählstrategien, die genau diesen Konnex erst ins Bewusstsein rücken müssen. In der ästhetischen Darstellung selbst versuchen sie, mit Hermann Broch, so etwas wie eine „Erkenntnistat“42 zu leisten
41
Benjamin, Walter, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2: Literarische und ästhetische Essays, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 438-465, hier: S. 442. 42 Broch, Hermann, Der Tod des Vergil, Kommentierte Werkausgabe, Bd. 4, hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main 1976, S. 364.
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und sind hiermit von der einst mündlichen Tradition des ,Ratens‘ vielleicht weniger weit entfernt als dies zunächst den Anschein erweckt. Die Aufforderung zur Tat soll sich dabei stets einer eindeutigen Darstellung entziehen und stattdessen versuchen, so Ludwig Wittgenstein, „gegen die Grenzen der Sprache anzurennen“. Die vermeintliche „Unsinnigkeit“, beispielsweise eines Apoll-Orakels oder auch eines paradoxen Heraklitischen Rätselspruchs [vgl. Kap. I.2], ist nämlich die Voraussetzung dafür, „über die Welt – und das heißt: über die sinnvolle Sprache – hinauszugelangen“. In seinem „Vortrag über Ethik“ heißt Ludwig Wittgenstein ein solches Bestreben als „ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein“ gut, betont aber zugleich dessen utopische Vergeblichkeit: „Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aussichtslos. Soweit die Ethik aus dem Wunsch hervorgeht, etwas über den Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann sie keine Wissenschaft sein“.43 Der „Sinn des Lebens“, und hier lassen sich Analogien zur Bewegungsdynamik der zweiten Rätselfunktion ziehen, kann also inhaltlich genauso wenig gefüllt werden wie ein oberster, letzter Wert, nach dem eine solche Sinnsuche strebt. Dennoch muss er, anders als bei der hermetischesoterischen Funktion des Rätsels, bei der er aus dem ,normalen‘ Leben ausgegrenzt war, unaufhörlich von jedem einzelnen aufgespürt werden. Denn das Lebensrätsel fungiert nun als Katalysator der Suche nach Lebenssinn. ,Utopie‘ und ,Paradoxie‘ stellen hierbei dessen konstitutive Strukturmerkmale dar.44 Für die Konjunktur der Denkfigur des Paradoxon in der anbrechenden Moderne kann Sören Kierkegaard reklamiert werden,45 auf den sich auch Wittgenstein bei seinem Konzept des Anrennens gegen die Grenzen der Sprache explizit beruft. Bei Kierkegaard wird das Paradoxon, das schon bei Heraklit in die Nähe des Rätsels gerückt ist, zu einer Kategorie, die gegen spekulative Identitätssysteme des Daseins sowie gegen das Transzendente in dieser Welt aufbegehrt. Die Transzendenz, die bei der ersten Rätselfunktion, der kosmogonischmagischen, noch der Welt immanent war, wird nun als das ,Andere des Verstandes‘ konzipiert, als das, was der Verstand nicht begreifen kann. Das Paradebeispiel hierfür ist der christliche „Gott-Mensch“, die Vereinigung dessen, was sich vermeintlich nicht vereinigen lässt: Er „ist das Paradox, absolut das Paradox; deshalb ist es selbstverständlich, daß der Verstand daran stillstehen muß“.46 Ist die Idee der Philosophie laut Kierkegaard die der Vermittlung, so ist diejenige 43
Wittgenstein, Ludwig, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. und übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1989, S. 9-19, hier: S. 18 f. 44 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Fragen der Ethik“ in: Mayer, Mathias, Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik, S. 32-43. 45 Vgl. hierzu ebd., S. 91-106 sowie S. 165-179. 46 Kierkegaard, Sören, „Einübung im Christentum“, in: ders., Einübung im Christentum. Zwei kurze ethisch-religiöse Abhandlungen. Das Buch Adler oder Der Begriff des Auserwählten, hg. und eingeleitet von Walter Rest, München 1977, S. 49-267, hier: S. 110.
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des Christentums das Paradox. Das Paradox wird – und dies gilt, wie es sich an der kontroversen, bis heute anhaltenden Rezeption ablesen lässt, bereits für den sogenannten „Rätselerfinder“ Heraklit [vgl. Kap. I.2] – zur Herausforderung des abendländischen Denkens,47 indem es jedes geschlossene Systemdenken unterminiert: Es impliziert eine Wahrheit, die über die Logik eines EntwederOder hinausgreift und allein in einem stetigen Auflösungsprozess zur Erscheinung gebracht werden kann. Dem inhaltlichen, logischen Stillstand wird auf formaler Ebene eine sprachliche Dynamik, ein Anrennen, entgegengesetzt. Wenn schon kein Endziel, kein klar definierbarer Lebenssinn mehr angegeben werden kann, so wenigstens eine Richtung, ein ,Richtungssinn‘, der in den romanischen Sprachen noch in der Wendung sens unique aufscheint.48 Auf eine derartige, keineswegs sinnlose Richtungsgebung hin zu einem u-topos, einem Nicht-Ort, begründet sich die utopisch-ethische Funktion des Rätsels. Sören Kierkegaard ist es auch, auf dessen Gotteskonzept sich Emmanuel Lévinas in seinem Kapitel „Das Rätsel und das Phänomen“ in Die Spur des Anderen stützt, dessen Kernstück sein Unterkapitel „Ethik“ bildet.49 Der „kierkegaardsche Gott“, so Lévinas, sei eine „Weise der Wahrheit“,50 die sich weder an der Gewissheit messe noch auf das Phänomen, das Erscheinen, zurückgeführt werde könne, sondern als „formelle Idee eines Sinnes [zu fassen sei], der in einem Sinn verblaßt, eines Sinnes, der schon vorübergegangen ist und verjagt“ und den „Riß der Transzendenz“ darstelle.51 Lévinas radikalisiert Kierkegaards Konzept des ,Anderen des Verstandes‘, das immer noch von einer Gleichzeitigkeit und somit Lévinas zufolge von derselben Ordnung des Einen und des Anderen, der Identität und Differenz ausgehe. Oder anders formuliert: Das Paradoxon basiert auf der Annahme von Lehrmeinungen (altgriech.: δόξα), auf die es sich, wenn auch in leugnender Abgrenzung (παρά-), bezieht. Lévinas’ Idee der „Verwirrung“ will hingegen über die Rede von Nicht-Sinn und „Unverstehen, das bald in Verstehen übergehen wird“ und somit genuiner Teilbestand des Verstehens bleibt, hinaus: „Sie ist vielmehr dadurch möglich, daß in eine gegebene Ordnung eine andere Ordnung eintritt, sich mit der ersten nicht verträgt“.52 Diese „die Ordnung verwirrende Andersheit“ lasse sich nicht auf Differenz zurückführen, sondern sei die anachronistische „Dazwischenkunft“ eines Fremden, die mit
47
Vgl. hierzu: Geyer, Paul; Hagenbüchle, Roland, Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992. 48 Angehrn, Emil, Sinn und Nicht-Sinn, S. 13. 49 Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani, München 1983, S. 236-260, hier besonders S. 246 f. 50 Ebd., S. 246. 51 Ebd., S. 247. 52 Ebd., S. 248.
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der Ordnung breche.53 Eine derartige Verwirrung, die im Akt des Sagens zustande komme, der die Ordnung des Gesagten irritiere, aber nicht zerstöre, bewirke laut Lévinas das Rätsel. Denn das Rätsel, das über die Erkenntnis überhaupt hinausgehe, trage „die Spur des Sagens, das sich aus dem Gesagten schon zurückgezogen hat“.54 Es sei „die Transzendenz selbst, die Nähe des Anderen als eines Anderen“,55 „die Weise des Absoluten“,56 also dessen, was losgelöst (lt. absolvere) ist von jeglicher Verstandesordnung. Nicht die Lösung des Rätsels wird folglich zu dessen konstitutivem Moment, sondern seine Ab-Lösung hin auf eine (utopische) Er-Lösung durch das Antlitz des Anderen: Hier bedarf es, wie wir gesagt haben, jemandes, der nicht mehr mit dem Sein verwachsen ist und der auf eigenes Risiko und auf eigene Gefahr hin dem Rätsel antwortet und die Anspielung aufnimmt: Es bedarf der Subjektivität, die allein ist, einzig, verschwiegen wie Kierkegaard sie geahnt hat.57
Nur noch im Antlitz des Anderen, das sich der Darstellung entzieht, findet das moderne Rätsel seine Formvollendung, die genau genommen auch schon diese Form hinter sich gelassen hat [vgl. Kap. III]. Im Anblick des Antlitzes wird jeder wie vom Zauber gebannt: So löst die magische Wirkung des Turandot-Bildnisses ein „Begehren“ aus, bei dem Liebes- und Todestrieb, eros und thanatos, stärker sind als jegliche Vernunft [vgl. Kap. B], was im Extremfall bis zur Selbstaufgabe durch Opferungsbereitschaft führen kann: „Über seinen Tod hinausgehen heißt, sich opfern. – Die Antwort auf die Vorladung des Rätsels ist die Großmut des Opfers […]“.58 Im Rätsel des Anderen muss sich das eigene Lebensrätsel einer Bewährungsprobe unterziehen, wird jeder auf seine je eigene ethische Existenz zurückgeworfen. Die ethische Dimension des Rätsels ergibt sich, so lassen sich die heterogenen Positionen zusammenfassen, aus einer temporär ordnungsdestabilisierenden Kraft, die den einzelnen in Konfrontation mit dem Anderen zu ,verwirren‘ vermag. Die horizontale Bewegungsdynamik wird zeitweilig irritiert, wenn nicht gar zum Stillstand gebracht. Diese Unterbrechung lässt sich möglicherweise als eine vertikale Stoßrichtung vorstellen, deren Einbruch wie ein entzaubertes Relikt der „Wahrheitskraft“ der magisch-kosmogonischen Rätselfunktion erscheint. Dieses ,Andere‘ kann das schlechthin Unerreichbare, Inkommensurable sein, das von jeder weltimmanenten Logik ,Ab-solute‘. Es kann aber auch den utopischen
53
Ebd., S. 249. Ebd., S. 251. 55 Ebd., S. 254. 56 Ebd., S. 255. 57 Ebd., S. 256 f. 58 Ebd., S. 257. 54
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Ort darstellen, an dem neue Ordnungsstrukturen sichtbar werden und sich eine ,Hermeneutik der Erlösung‘ zu rehabilitieren hofft [vgl. Kap. III.1]. Im ersten Fall wird, vergleichbar mit der zweiten Rätselfunktion, die Differenz fokussiert, der stete Auflösungsprozess einer Lösung, im zweiten Fall die Hoffnung auf Identität, auf einen neuen Logos [vgl. auch Kap. I.2]. Doch auch wo der Aufschub betont wird, bleibt beim Rätsel zumindest die Idee der Möglichkeit einer einstigen Lösung bestehen, die mit Erlösungs- und Einheitsphantasien einhergehen kann, welche wiederum Veränderungswünsche freisetzen und für Kritik am Bestehenden sensibilisieren. Und selbst dort, wo die Identität in den Blickpunkt gerät, widersetzt sich diese, so in der Figur des Paradoxons, jeglichem Sinnfeststellungsverfahren und rennt gegen Grenzen etablierter Rede- und Denkgewohnheiten an. (4) Die hermeneutisch-alteritäre Funktion Die Geschichte der Hermeneutik, die seit über zweitausend Jahren als Auslegungskunst und seit über zweihundert Jahren als Lehre des Verstehens praktiziert wird, könnte auch als eine Geschichte ihres je spezifischen Umgangs mit dem Rätsel gelesen werden [vgl. Kap. I.2]. Letzteres ist allerdings, von eigenwilligen Ausnahmepositionen wie derjenigen des jüdischen Hermeneuten Emmanuel Lévinas abgesehen [vgl. Funktion (3)], noch nicht theoretisch expliziert worden. Das Rätsel bildet gewissermaßen die ,dunkle Stelle‘ der Hermeneutik. Diese ,dunkle Stelle‘ kann zeiten- und kulturabhängig als heuristischer Nachteil oder Nutzen gewertet werden [vgl. Kap. II]. Sie führt die Hermeneutik an ihre interne und externe Grenze: an die hermeneutischen Grenzen des Verstehens, aber auch an die Grenzen der Kunst des Verstehens, sprich der Hermeneutik selbst. Hermeneutik will traditionellerweise das verständlich machen, was nicht offen vor Augen liegt und sich nicht umstandslos verstehen lässt, und weist somit eine strukturelle Gegenläufigkeit zum Rätsel auf, welches das Selbstverständliche zu verschleiern versucht. Ihr geht es dabei, vergleichbar dem Rätsel, weniger um das Aufnehmen und Übermitteln von Sinn als vielmehr – spätestens seit ihrer transzendentalen Wende, die mit Friedrich Schleiermacher (1768-1834) ihren Höhepunkt erfuhr – um die Voraussetzungen und Schwierigkeiten des Verstehens. Verstehen meint zugleich ein Verstehen des Verstehens und wirft in diesem Selbst- und Rückbezug ein Licht auf den Menschen, das verstehende Wesen schlechthin. Denn der Mensch hat es in seiner Lebenspraxis immer auch mit Nicht-Verstehbarem und dem Entzug von Sinn zu tun, vor dessen Horizont sich
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das Verstehen sowie die Sinnsuche erst ereignen [vgl. auch Funktion (2) und (3)].59 Das Verstehen als ein Prozess des Abarbeitens an den Grenzen des Verstehens findet im Rätsel seine poetologische Form. In ihm wird das Vielsinnige, bisweilen auch Widersinnige zur Darstellung gebracht und als fremd erfahren, bis es temporär in Sinn aufgeht und angeeignet werden kann. Das Rätsel zeichnet sich dadurch aus, dass es das Vertraute aus seinen (Alltags-) Kontexten löst, entfremdet und neu befragbar macht. Insofern ist es dem literarischen Verfahren vergleichbar, das ebenfalls mit der perspektivischen Blickvarianz spielt und Distanzierungsstrategien erprobt, die neue Identifizierungsmöglichkeiten eröffnen. Folglich nimmt das Rätsel eine Mittlerposition ein zwischen den beiden Polen absoluter Alterität, der eine Sinnsuche von vornherein versagt bleibt, sowie eines endgültigen dialogischen Ein-Verständnisses, bei dem die Sinnsuche zu einem Stillstand gelangt und sich so rückwirkend selbst auslöscht. Es versucht, das Fremde und das Eigene dynamisch aufeinander zu beziehen, wobei das Dunkle, das dem Verstand als fremd Empfundene, im Eigenen nie ganz aufgehen kann, sprich die Lösung ihren Verweischarakter auf das ehemals Ungelöste bewahrt. Die „Rätselerfahrung“ prägt nämlich, wie einst bei Heraklit [vgl. Kap. I.2], nachhaltig das Denken, „das plötzlich erwacht und das dann wieder ganz ins Dunkel versinkt“.60 Ohne das Fremde, so schon Friedrich Schleiermacher, wäre das Verstehen „mit dem Lesen und Hören zugleich oder vielmehr divinatorisch schon vorher immer gegeben und verstände sich also vollkommen von selbst“,61 woran Wilhelm Dilthey siebzig Jahre später anschließt: Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also. Sie wird überall erfordert, wo etwas fremd ist, das die Kunst des Verstehens zu eigen machen soll.62
Dieses Oszillieren zwischen Fremd und Eigen, Nicht-Sinn und Sinn, Verschleiern und Entbergen eignet auch dem Rätsel, das jene Pole zugleich als heuristische Prinzipien entlarvt, die in Reinform nie vorkommen. So führt es aus dem Vertrauten in das Fremde und – je nach Kultur und Epoche – ins Vertraute 59
Vgl. hierzu auch: Angehrn, Emil, Sinn und Nicht-Sinn, besonders: S. 1-3. Gadamer, Hans-Georg, „Vom Anfang bei Heraklit (1974)“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 6: Griechische Philosophie II, Tübingen 1985, S. 233-241, hier: S. 241. 61 Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt am Main 1977, S. 313 f. 62 Dilthey, Wilhelm, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Band VII, hg. v. Bernhard Groethuysen, Stuttgart/ Göttingen 61973, S. 225. 60
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zurück, das nun aber nicht mehr selbstverständlich ist, sondern dieses Selbst mit dem Blick des Anderen amalgamiert: „Verstehen“, so Helmuth Plessner, „ist nicht das sich Identifizieren mit dem Anderen, wobei die Distanz zu ihm verschwindet, sondern das Vertrautwerden in der Distanz, die das Andere als das Andere und Fremde zugleich sehen läßt“.63 Macht sich das Rätsel das Fremde, mit Wilhelm Dilthey, allzu schnell „zu eigen“, geht es mit einem Akt der Gewalt einher, der dem Rätsel – beispielhaft in der mythisch-archaischen Form des Halslöserätsels – immer schon inhärent ist. Ein Rätsel, das allein auf die einzig richtige Antwort abzielt, bringt nicht nur den gescheiterten Redepartner ums Leben, sondern tilgt sich mit der Lösung selbst. Die eindeutige, statische Antwort lässt den Prozess des (Weiter-) Fragens hinfällig werden und bringt das Wechselspiel zwischen Frage und Antwort zum endgültigen Stillstand. Die philosophische Frage zeichnet sich Hans-Georg Gadamer zufolge jedoch zunächst durch ein „Nichtfestgelegtsein der Antwort“64 aus, durch ein „In-dieSchwebe-bringen“, das „in der Schwebe befindliche Möglichkeiten sehen“65 lässt: „Fragen heißt Offenlegen und ins Offene stellen“.66 Eine derartige hermeneutische Priorität des Fragens ist allerdings auch bei Gadamer auf die methodische Funktion des Fragens beschränkt, wohingegen die erkenntnistheoretische Vorrangstellung nach wie vor der Antwort zufällt. Dies spiegelt sich ebenso in Gadamers Festhalten an einem mit dem Logos konnektierten Wahrheitskonzept wider, das demjenigen Heraklits zu Beginn seiner Rätselsprüche nicht unähnlich ist [vgl. I.2]: „Was in seiner Wahrheit heraustritt“, so Gadamer, „ist der Logos, der weder meiner noch deiner ist und der daher das subjektive Meinen der Gesprächspartner soweit übertrifft, daß auch der Gesprächspartner stets der Nichtwissende bleibt“.67 Dieser Logos, die Antwort jenseits des subjektiven, bloß meinenden ,Wortes‘, bleibt letztlich eine fixe Größe, mittels derer die Dynamik des Fragens innehält und auf den sie von Anfang an gerichtet ist. Denn die Schwebe ist im Gadamerschen Ideal des Dialogs, des Auseinanderstrebens des Logos, nur eine temporäre. Genauso wenig kann das Offene als ein grenzenlos Offenes verstanden werden, da es immer auf einen spezifischen Sinn- und Fragehorizont bezogen bleibt, innerhalb dessen sich ein „Richtungssinn“ [vgl. Funktion (3)] herausbildet: „Sinn ist eben stets Richtungssinn einer möglichen Frage“.68
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Plessner, Helmuth, „Mit anderen Augen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. v. Günter Dux et al., Frankfurt am Main 1983, S. 88-104, hier: S. 102. 64 Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965, S. 345. 65 Ebd., S. 357. 66 Ebd., S. 349. 67 Ebd., S. 350. 68 Ebd., S. 346.
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Darin unterscheidet sich die hermeneutische Frage jedoch grundlegend vom noch ungelösten Rätsel, das sich gerade durch seine Divergenz von Antwortmöglichkeiten charakterisieren lässt. Letztere wollen bewusst in verschiedene, oftmals falsche Richtungen weisen, deren Sinnhorizonte stets von neuem dekonstruiert werden. Der ambivalente Schwebezustand muss hier – wie erst recht beim Paradox, das ihn niemals verlässt [vgl. Funktion (3)] – möglichst lange anhalten. Erst ein gelöstes Rätsel zerfällt nämlich in Frage und Antwort und gewährt, zumindest in hermeneutischer Tradition, der Antwort eine heuristische Vormachtstellung. Zugleich macht es jedoch die Rätselfrage als Frage nichtig. Gadamer spricht dem Rätsel in seiner Auseinandersetzung mit dem ,Einfall‘ die Fragestruktur indirekt ab und assoziiert es allein mit der Lösung: Wie kann es überhaupt zum Nicht-Wissen und zum Fragen kommen? Zunächst halten wir fest, daß es dazu nur so kommen kann, wie einem ein Einfall kommt. Gewiß reden wir von Fragen nicht so sehr im Hinblick auf Fragen als auf Antworten, etwa auf die Lösung von Rätseln, und wir wollen damit festhalten, daß kein methodischer Weg zu dem Gedanken führt, der die Lösung ist. Aber wir wissen zugleich, daß Einfälle doch nicht ganz unvorbereitet kommen. Sie setzen bereits eine Richtung auf einen Bereich des Offenen voraus. Das eigentliche Wesen des Einfalls ist vielleicht weniger, daß einem wie auf ein Rätsel die Lösung einfällt, sondern daß einem die Frage einfällt, die ins Offene vorstößt und dadurch Antwort möglich macht. Jeder Einfall hat die Struktur der Frage.69
Hier knüpft Gadamer an die Tradition des griphos, des spielerischen, lösbaren Rätsels an, das er als einen mehr oder minder langweiligen Sonderfall einer lediglich scheinbaren Frage betrachtet. Die Frage ist in einer solchen Argumentation dem Rätsel übergeordnet, was aber, wie schon betont, nur dann funktioniert, wenn das Rätsel in einer hermeneutischen Perspektivenverengung auf ein FrageAntwort-Modell reduziert wird, wobei die Antwort die Sinnrichtung vorgibt. Die oft betonte Dialogizität des Rätsels70 ist hier nur eine vermeintliche, zumal die Antwort des Rätsels vor Spielbeginn meist feststeht. Gleichwohl kann das Rätsel, gerade wenn man dessen vorige Funktionen in den Blick nimmt [Funktion (1)-(3)], auch als eine Radikalisierung der hermeneutischen Frage und als dieser vorrangig betrachtet werden. Helmuth Plessner könnte hierfür mit seinem bisher wenig beachteten Aufsatz „Über die
69
Ebd., S. 348. Vgl. z. B. Schupp, Volker, „Rätsel“, in: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2002, S. 191-210, hier: S. 191. 70
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Rätselhaftigkeit der Philosophie“71 aus dem Jahre 1943 als Impulsgeber dienen: Plessner betrachtet das Rätsel als die ursprüngliche „Frageform“, die heute zu einem bloß spielerischen Gebrauch degradiert sei, einst aber „die Stärke und de[n] echte[n] Stil des Philosophierens“ ausgemacht habe [vgl. auch Kap. I.1]. Letzterer zeichne sich dadurch aus, dass er „kein begrenztes Offenhalten im Sinne garantierter Beantwortbarkeit durch Zuspitzung auf mehrere Möglichkeiten, unter Umständen auf eine Alternative [dulde], womit jede echte Wissenschaft operiert“.72 Insofern sei sie auch sehr viel älter als die „wissenschaftliche Problematik“, obgleich heutzutage ,Problem‘ und ,Rätsel‘ oft als Synonyme verwandt und seit dem 20. Jahrhundert mit Ernst, respektive Spiel assoziiert würden. Doch, so Helmuth Plessner: „Problem ist jünger als Rätsel. Erst war das Rätsel, dann die Wissenschaft mit ihrer Kunst beantwortbaren Fragens. Die Philosophie steht zwischen beiden Arten von Frage“.73 Plessner lokalisiert die Philosophie folglich zwischen dem Rätsel, das bei ihm, anders als bei Gadamer, gerade nicht auf seine Antwort hin perspektiviert, sondern als eine radikal offene Frageform konzipiert ist, sowie der „Wissenschaft mit ihrer Kunst beantwortbaren Fragens“.74 Die einstige Frageform des Rätsels ist von der Antwort also noch gänzlich entkoppelt. Gadamers doch sehr pauschalisierende These, dass „[d]ie Logik der Geisteswissenschaften“ „eine Logik der Frage“ sei,75 die bei ihm stets auf eine Antwortlogik gerichtet bleibt, wäre dann zumindest partiell zu korrigieren. Denn das hermeneutische Frage-Antwort-Schema funktioniert zwar bei vielen europäischen Denkern ausgesprochen gut, stößt aber bei anderen an seine Grenzen.76 In der Literatur, insbesondere in der des 20. Jahrhunderts, wird es, sei es in der kafkaesken Prosa77 oder in der sogenannten hermetischen Lyrik [vgl. Funktion (2) sowie Kap. III.4], nicht selten ad absurdum geführt, da die Frage jeder Verheißung auf eine Antwort verlustig gegangen ist.
71
Plessner, Helmuth, „Über die Rätselhaftigkeit der Philosophie“, in: ders., Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Salvatore Giammusso und Hans-Ulrich Lessing, München 2001, S. 217-230. 72 Ebd., S. 218. 73 Ebd., S. 219. 74 Ebd. 75 Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, S. 352. 76 Vgl. hierzu auch: Plessner, Helmuth, „Über die Rätselhaftigkeit der Philosophie“, S. 220. 77 Vgl. hierzu auch den in seiner theoretischen Grundlegung einer interrogativen Ästhetik aufschlussreichen Aufsatz von: Malinowski, Bernadette, „,Il trapassar del segno‘. Aspekte ästhetischen Fragens”, in: Butzer, Günter; Zapf, Hubert (Hg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. IV, Tübingen 2009, S. 241-269, besonders: S. 258-269.
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Der „Logik der Frage“78 müsste eine ,Ästhetik und Ethik des Rätsels‘ nebenangestellt werden, die den linearen Richtungssinn der Frage selbst als fragwürdig erscheinen lässt und den zielorientierten Logos-Gedanken unterminiert. Erst in der hermeneutischen Tradition, wenn die Frage-Antwort-Struktur zum Paradigma des Verstehens wird, wird also auch das Rätsel auf dieses alleinige Schema reduziert. Der Gedanke der Alterität wird von nun an dem der Sinneinheit subordiniert, die Multidimensionalität weicht der Richtungsweisung. Gerade dort, wo die Frage-Antwort-Struktur, das Gespräch, als ausschließliches, generelles Muster nicht mehr ausreicht, könnte jedoch die Denkform des Rätsels als Alternativmodell dienen. Sie fokussiert, anders als bei der zweiten Funktion, der hermetisch-esoterischen, nicht das Nicht-Verstehen, sondern verweist auf Verstehensdimensionen jenseits des nur dialogischen Ein-Verständnisses. Während letzteres immer auf einen abstrahierten Logos bezogen bleibt, der in der Horizontverschmelzung die interrogative Differenz aufhebt, verharrt das Rätsel im Status des Fragens oder hinterfragt die Fragestruktur selbst. Das Fragen erschöpft sich aber, anders als in der kosmogonisch-magischen oder der hermetisch-esoterischen Funktion, nicht in einer mythologischen Weltbefragung [vgl. Funktion (1)] oder in einer Selbstbezüglichkeit des Fragens [vgl. Funktion (2)]. Es bleibt vielmehr, hierin am ehesten der utopisch-ethischen Funktion vergleichbar [Funktion (3)], auf ein Du gerichtet, das stets als der Andere erfahren wird: Dabei geht es nicht mehr um eine Antwort, sondern um eine Anrede, einen ,Anspruch‘, bei dem der Angesprochene ,mitspricht‘ oder gar ,Einspruch erhebt‘, ohne dem Sprechenden in einem hermeneutischen Einvernehmen ,entsprechen‘ zu müssen. Bei der hermeneutisch-alteritären Funktion des Rätsels ist ein Umschlag der Bewegungsrichtung festzustellen, die sich historisch recht gut fixieren lässt, da sie in der transzendentalen Wende der Philosophie durch Immanuel Kant kulminiert und in der Frühen Neuzeit vorbereitet wurde [vgl. Kap. II.1]. War bis dahin von einigen Sonderströmungen wie beispielsweise der Hermetik, der Mystik, der Kabbala oder der negativen Theologie abgesehen [vgl. Funktion (2)], die Auslegung eine Angelegenheit der vertikalen Verortung, die sich primär damit begnügte, zu gegebenen Normen, Prinzipien oder Wahrheitskonzepten, die ihnen zugehörigen Fälle, Ableitungen oder Anschauungen zu suchen, so ändert sich dies in der Frühen Neuzeit: Nun findet eine Umstellung der Interpretationsrichtung in die Horizontale statt, welche die bisherige naturwüchsige oder gottgewollte Ordnung in Zweifel zieht und sich auf die unaufhörliche Suche nach neuen Wert- und Orientierungszielen begibt. Die Kasuistik, die sich einst auf die korrekte Ableitungsbeziehung beschränkte, weicht nun einer Heuristik, welche
78
Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, S. 352.
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weit mehr den Erkenntnisprozess als dessen -ziel in den Blick nimmt.79 Für eine Philosophie des Rätsels hat dies weitreichende Auswirkungen: Der Rätselfrage kann, anders als bei der juristischen, bzw. theologischen Frage in der Kasuistik, bzw. in der Dogmatik, keine einmalig festgelegte, richtige Antwort mehr zugewiesen werden, sondern sie zielt, mit Hans-Georg Gadamer, „ins Offene“.80 Dieses Offene wird im Vergleich zur hermeneutisch philosophischen Frage radikalisiert, indem letztlich auch die Sinnrichtung sowie die Horizontverschmelzung durch die Rätselhaftigkeit annulliert werden und die Antwort von der Frage entkoppelt bleibt. Das traditionelle Frage-Antwort-Schema einer Dogmatik oder Kasuistik, das auf der Annahme einer festen Zuordnung von Frage und Antwort basiert, bleibt allerdings als Relikt noch in der spielerischen Form des Rätsels erhalten, die sich spätestens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von der ainigma-Tradition abzweigt und, zum Beispiel in zeitgenössischen Quiz-Shows, eine bis heute anhaltende Konjunktur erfährt. (5) Die ludistisch-heuristische Funktion Als unterhaltende Spielform ist das Rätsel schon in den alten Kulturen präsent, sei es, wie in der griechischen Antike, bei Gastmahlen oder auf öffentlichen Wettkämpfen.81 Hier geht es darum, im Konkurrenzkampf mit den Mitspielern möglichst schnell zur richtigen Lösung zu gelangen. Letztere ist dem Fragesteller zuvor bereits bekannt, dessen Wissensvorsprung mit einer Überlegenheit einhergeht, die, so bei der dem Rätsel verwandten Scherzfrage, mitunter humoristisch bis zynisch ausgespielt wird. Das Rätsel als gesellschaftliches Ritual auf der Hochzeitsfeier, das in der Barockzeit seine Blüte erfährt, wird bereits im Alten Testament thematisch:82 Das hebräische Wort für Rätsel, chidah, kommt im Alten Testament 17 mal vor, mehr als die Hälfte der Belege fallen auf einen einzigen Erzählzusammenhang, die Simsonerzählung (Ri 14, 14). Auch hier liegt eine Wettbewerbssituation vor, die durch einen hohen materiellen Gewinn, den Preis kostbarer Kleider, geschürt wird. Doch schon dieser frühe Rätselbeleg unterminiert die unhinterfragte Zuweisung von Frage und Antwort und
79
Vgl. hierzu auch: Gessmann, Martin, „Zur Zukunft der Hermeneutik“, in: Philosophische Rundschau 57 (2010), S. 125-153, hier besonders: S. 127-130. 80 Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, S. 348. 81 Vgl. hierzu auch: Hain, Mathilde, Rätsel, Stuttgart 1966, S. 1. 82 Zum Rätsel im Alten Testament vgl.: Herr, Bertram, „Das Geheimnis des Rätsels. ,Rätsel‘ als biblisch-theologische Größe (inklusive eines Forschungsberichts zu Ri 14,14,18)“, in: Gillmayr-Bucher, Susanne; Giercke, Annett; Nießen, Christina (Hg.), Ein Herz so weit wie der Sand am Ufer des Meeres. Festschrift für Georg Hentschel, Würzburg 2006, S. 165-178.
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hält die Kontextbedingtheit der Antworten vor Augen. Das Rätsel „Speise ging aus von dem Fresser und Süsses ging aus von dem Starken“ ist im gegebenen Zusammenhang nicht lösbar, weil es auf einen nur Simson selbst bekannten Sachverhalt abzielt, den Honig von Bienen im Kadaver des von Simson erschlagenen Löwen. Der situative Kontext der Hochzeitsfeier legt andere Lösungsmöglichkeiten nahe, die offiziell als falsch gelten, vom Fragenden aber implizit suggeriert werden. Derartige obszöne Rätsel, also absichtlich irreführende Rätsel mit harmloser Lösung, gelangen später im 17. Jahrhundert bei Hochzeitsbräuchen zu großer Beliebtheit.83 Im antiken Griechenland gibt es für den spielerischen Rätseltypus eine eigene Bezeichnung: griphos. Dies bedeutet soviel wie ,Fischernetz, verfängliche Aufgabe‘ und hebt sich von der dunklen, oft unergründlichen Rätseltradition des ainigma ab, von der sie sich allerdings nicht immer strikt unterscheiden lässt [vgl. Kap. I.2]. Die Dichotomie von Spiel und Ernst ist nämlich, wie auch die Bindung des Rätsels an eine prinzipielle Lösungsmöglichkeit, ein neuzeitliches Konstrukt. Sie setzt nach einer jahrhundertelangen Dominanz des obscuritasGedankens mit der Aufwertung der spielerischen Dimension des Rätsels erst in der Barockzeit ein. So ist im 19. Jahrhundert in den Wörterbüchern der deutschen Sprache der Begriff der obscuritas (griech.: ainigma) als Charakteristikum des engeren Rätselbegriffs fast gänzlich verschwunden und dem Spielkriterium gewichen.84 Von nun an wird das Rätsel als einfache Form auf seine lösbaren Strukturen sowie auf seine ludistisch-heuristische Funktion reduziert. Letztere hat häufig eine unterhaltende, gesellige Komponente, auf die Johann Wolfgang Goethe in Alexis und Dora (V. 25-28) verweist: So legt der Dichter ein Rätsel, künstlich mit Worten verschränkt, oft der Versammlung ins Ohr. Jeden freuet die seltne, der zierlichen Bilder Verknüpfung, aber noch fehlet das Wort, das die Bedeutung verwahrt.
Das Rätsel wirkt – beispielhaft in den im 19. Jahrhundert aufkommenden Rätselgesellschaften – gemeinschaftsbildend, appelliert dabei aber am Wettbewerbsund Konkurrenzdenken der Spielteilnehmer. Doch ist die häufig agonistische Spielsituation des griphos üblicherweise als solche markiert und – anders als bei der magisch-kosmogonischen, der utopisch-ethischen oder der hermeneutischalteritären Funktion, die sich eher in die Tradition des ainigma stellen lassen – von der alltäglichen Lebenswelt separiert:
83
Vgl. hierzu auch: Schittek, Claudia, Die Sprach- und Erkenntnisformen der Rätsel, Stuttgart 1991, S. 20. 84 Vgl. hierzu: Tomasek, Tomas, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994, S. 11 f.
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Kapitel I: Rätsel und Anfang Am Anfang allen Wettkampfes steht das Spiel, d.h. eine Abmachung, innerhalb einer räumlichen und zeitlichen Begrenzung nach bestimmten Regeln, in bestimmter Form etwas fertigzubringen, was die Lösung einer Spannung bewirkt und außerhalb des gewöhnlichen Verlaufes des Lebens steht.85
Beim Rätselspiel wird ein beidseitiger, temporärer Pakt eingegangen, der spätestens mit der Rätsellösung wieder aufgehoben wird. Eine solche „Abmachung“ kann prinzipiell jeder eingehen, wobei die Rollen zwischen Rätselsteller und löser vertauschbar sind. Die soziologische Grundstruktur dieser Rätselform ist also, im Gegensatz zur kosmogonisch-magischen oder auch zur hermetischesoterischen, demokratisch. Dies gilt zumindest so lange wie die „bestimmten Regeln“ als Spielregeln bekannt, bewusst und gegebenenfalls auch revidierbar sind. Das in Mythen und Märchen überlieferte Halslöserätsel hat wiederum eine Sonderposition inne: Die aus der Fremde kommenden Freier wissen zumeist um die tödlichen Spielregeln, die sie eingehen und vor denen sie oftmals durch Dritte gewarnt werden [vgl. Kap. A und B]. Dennoch sind sie bereit, das eigene Leben auf das Spiel zu setzen, also dessen „räumliche und zeitliche Begrenzung“ dermaßen weit auszudehnen, dass der „gewöhnliche Verlauf des Lebens“ dem Spiel subordiniert wird. In vollem Bewusstsein lassen sie sich auf die Chancen (die Hochzeit) und Gefahren (den eigenen Tod) des Rätselspiels ein, dem sie sich schon bald nicht mehr entziehen können. Die Lösung des Rätsels korreliert hier mit der Erlösung vor dem Tod und durch die Liebe. Es geht weniger um die Lust am Spiel als um die Aussicht auf die Lust am Gewinn, bei dem es sich zumeist um eine schöne und sozial höher gestellte Frau handelt, die bisher unnahbar war. In der dramatischen Ausgestaltung dieser Rätselmärchen86 wehrt sich die Rätselprinzessin nicht selten gegen einen positiven Spielausgang [vgl. Kap. B] und leugnet so retrospektiv die Regeln des Spiels. Was zunächst Spiel zu sein scheint, wird – bei einer Lösung des Rätsels: für die Prinzessin, bei einer NichtLösung: für den Prinzen – Ernst. Bei einer derartigen Frage-, Antwort-Situation, kommt es, anders als bei der hermeneutisch-alteritären Rätselfunktion, gerade nicht auf den ununterbrochenen Dialog an, sondern auf eine endgültige Entscheidung, die den einen auf Kosten des anderen zum Sieger macht. Als Relikt findet sie sich noch in aktuellen Gesellschaftsspielen, die als ein Spiel um Leben und Tod beworben werden: „Die schicksalsschwangere Frage der Sphinx“, so
85
Huizinga, Johan, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg, 182001, S. 119. 86 Vgl. hierzu: Neumann, Siegfried, ,Rätselmärchen‘, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 11, begründet v. Kurt Ranke, hg. v. Wilhelm Brednich et al., Berlin/ New York 2004, Sp. 280-285.
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Johan Huizinga, „schimmert sozusagen noch immer durch das Spiel hindurch: Im Prinzip bleibt Verwirkung des Lebens der Einsatz“.87 Eingegangen werden Rätselspiele gewöhnlich nur, wenn zumindest Aussicht auf eine Lösung besteht, die in diesem Fall mit einem Gewinn einhergeht. Dieser Gewinn muss kein realgegenständlicher sein, es reicht der heuristische Genuss an sich. Obwohl die Regeln der Spielsituation festgelegt sind, unterliegt die Lösungsfindung selbst keinerlei Regel. Die Antwort auf die Frage wird nicht, wie bei der hermeneutisch-alteritären Rätselfunktion, in einem allmählichen mäeutischen Prozess heraufbeschworen, bei dem der Antwortende – so Gadamers Definition für ,Methode‘ – Schritt für Schritt ,mitgeht‘. Sie kommt entweder unvermittelt, als plötzliche epiphanische Erleuchtung, und stellt als eine solche Erkenntnisform ein modernes Phänomen dar. In diesem Fall ruft das Rätsel, obgleich säkularisiert, alte Vorstellungen der unvorhergesehen einbrechenden „Wahrheitskraft“ in Erinnerung [vgl. Funktion (1) sowie Kap. I.1 und I.2], die sich ebenfalls dem direkten menschlichen Zugriff entzog, aber mittels spezifischer ritueller Rahmenbedingungen evoziert werden konnte. Oder die Antwort wird von vornherein zusammen mit der Frage als Rätselspruch erlernt und soll so besser memoriert werden. Hier spielt weniger die Erkenntnis- als die Gedächtnisfunktion des Rätsels eine Rolle, das sich seit dem Humanismus in Schulbüchern weit verbreitet:88 Aufgrund häufiger formaler Kriterien wie Metaphorisierung, Rhythmisierung und Reim ist das Rätsel als Spielform nämlich auch für pädagogische Zwecke geeignet, indem es bei den Kindern Wissenserwerb mit Sprachwitz verknüpft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt ein neuer wissensorientierter Rätseltypus auf, der weniger auf ,Divination‘ setzt, ein bei Schleiermacher unmittelbares Auffassen oder intuitives Erraten der (richtigen) Textbedeutung, als auf intellektuelle ,Kombination‘, auf das strategisch richtige Anordnen von Teillösungen: das Kreuzworträtsel. Erstmals 1913 in der New York Sunday World erschienen, hat es bereits in den zwanziger Jahren den Markt erobert.89 Die Rätselindustrie, die mit der Massenanfertigung der Scharaden und Rätsel in billigen volkstümlichen Rätselbüchlein schon zur Frühzeit des Buchdrucks im 16./ 17. Jahrhundert anbrach,90 erlebt hiermit einen neuen Aufschwung.91 Allerdings findet diese Spielform nicht mehr im gesellschaftlichen, dialogischen Austausch mit anderen statt, sondern in einsamer Auseinandersetzung mit dem 87
Huizinga, Johan, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, S. 126. Schittek, Claudia, Die Sprach- und Erkenntnisformen der Rätsel, S. 19. 89 Zur Geschichte des Kreuzworträtsels vgl.: Arnot, Michelle, What’s Gnu? A History of the Crossword Puzzle, New York 1996 oder: Blanc, Nero, Corpus de Crossword, New York/ Berkeley 2003. 90 Vgl. Hain, Mathilde, Rätsel, S. 24-32. 91 Vgl. hierzu auch: Schupp, Volker, „Nachwort“, in: Deutsches Rätselbuch, Stuttgart 1972, S. 365-432, hier: S. 428. 88
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Text, der sich auf ein Konglomerat von inhaltlich unzusammenhängenden Wörtern reduziert hat. Das Rätsel, so könnte man in Anlehnung an Walter Benjamin sagen [vgl. Funktion (3)], gibt keinen zwischenmenschlichen Rat mehr und konstituiert auch keine Gemeinschaft der Ratenden, es will nur noch in stiller Lektüre erraten werden. Sein Text beruht nicht, wie bei der kosmogonischmagischen oder auch der hermeneutisch-alteritären Funktion, auf einer oralen Tradition. Vielmehr wird jeder einzelne Buchstabe exponiert und somit die Schrift anstatt der orakelnden Stimme zum Rätsel. Insofern übt das Kreuzworträtsel Kritik am Phonozentrismus und kann, wie in angelsächsischer Tradition mehrfach geschehen, als eine poststrukturalistische Erkenntnis- und Darstellungsform gelesen werden. Während das Kreuzworträtsel in der deutschen Gattungsgeschichte des Rätsels als eine „unliterarische Variante“92 für den Niedergang der einst erfahrungsgesättigten, sozialen Rätselform mitverantwortlich gemacht wird, dient es im anglophonen Bereich als poetologische Denkfigur postmoderner Schreibverfahren. Es stellt ein Analogon zu der in der frankophonen Kultur und in Deutschland sehr viel stärker rezipierten Theorie des Rhizoms dar, der von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelten Idee des Netz- und Wurzelwerkes:93 Das Kreuzworträtsel ist ebenfalls sowohl horizontal als auch vertikal les- und schreibbar und steht für ein offenes, autopoietisches System, wobei die Anfangspunkte frei wählbar sind, sich aber gegenseitig bedingen. Die losen Enden seiner Struktur, sein azentrisches, nicht hierarchisiertes System, die blinden Flecken und schwarzen Löcher seiner Leerstellen, der auf keinen integralen Sinn zentrierbare Inhalt sowie die Kontingenz der jeweiligen Antworten kommen der postmodernen Theoriebildung entgegen. Als epistemologisches Modell integriert das Kreuzworträtsel zwei außerhalb dieses Modells unvereinbare Wahrheitstheorien, die Korrespondenztheorie (Korrespondenz zwischen Frage und Antwort) und die Kohärenztheorie (Kohärenz zwischen einzelnen Antworten).94 Missglückt die Korrespondenz zwischen Frage und Antwort, so ist die Kohärenz der Antworten untereinander nicht mehr gewährleistet. Auch wenn die jeweiligen Antworten kontingent sind, sind sie im Verbund interpendent. Doch trotz formaler Offenheit beruht der abgefragte Inhalt auf fixiertem, enzyklopädischem Wissen: Der Rat muss nicht mehr vom Mitmenschen im je individuellen Dialog eingeholt werden, sondern wird im standardisierten Nachschlagewerk gesucht. Punktuelles Nicht-
92
Ebd., S. 432. Vgl. hierzu: Elsaghe, Yahya, „Das Kreuzworträtsel der Penelope: Zu W. G. Sebalds Austerlitz“, in: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch/ A German Studies Yearbook. 6/2007, Schwerpunkt: W. G. Sebald, hg. v. Paul Michael Lützeler und Stephan K. Schindler, S. 164-184. 94 Vgl. hierzu: Haack, Susan, Evidence and Inquiry. A Pragmatist Reconstruction of Epistemology, New York 22009, besonders: S. 126. 93
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Wissen wird zwar als Lücke sichtbar, kann aber prinzipiell gefüllt und durch das Beantworten benachbarter Fragen buchstabenweise kombiniert und komplettiert werden. Die eindeutige Zuordnungsmöglichkeit von Frage und Antwort bei dem ludistisch-heuristischen Rätseltypus erinnert an eine säkularisierte Variante alter Wissensfragen, wie sie schon im Rigveda oder später im Katechismus vorlagen: Was einst religiös-ritualisiertes Wissen war [vgl. Funktion (1)], ist nun ein prinzipiell für alle erwerbbares Lexikonwissen. Es kann in Preisrätseln oder bei Quiz-Shows zur Schau gestellt werden und macht jeden Teilnehmer zum potentiellen Millionär. Bedeutete bei den Frühformen des Rätsels die „Wahrheitskraft“ eine ideelle Erlösung des Individuums, stellt der ausgesetzte Gewinn zeitgenössischer Rätselspiele eine materielle Erlösung in Aussicht: Die Mitspieler können, so das Versprechen der Medien, durch eine hohe Geldsumme, eine Kreuzfahrt oder ein technisches Meisterstück von den Mühsalen des Alltags befreit werden. Wer ein Rätsel richtig löst, gelangt in die nächste Runde, in den elitären Kreis derjenigen, die ihr Lebensglück auf das (Rätsel-) Spiel setzen.
(A)
Figur und Figuration des Rätsels. Erster Teil: SPHINX
Sphinx: Monument, Mysterium, Mythos – G. W. F. Hegel: Die Geburt des Geistes aus dem Rätsel – Francis Bacon (Sphinx oder die Wissenschaft, 1609): Belehrung und Offenbarung – Edgar Allan Poe (The Sphinx, 1846): Mythisches und enzyklopädisches Wissen – Ingeborg Bachmann (Das Lächeln der Sphinx, 1949): Die Sphinx und die Schatten der Aufklärung „Dass wi r von dieser Sphinx auch unserseits das Fragen lernen? We r ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Wa s in uns will eigentlich ,zur Wahrheit‘?“ Fragen an die Sphinx und an den Leser stellt Friedrich Nietzsche gleich im Ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse: Nicht die Antwort steht gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Disposition, sondern die Frage selbst, eine Frage, deren Zielrichtung nicht mehr vorgegeben ist: „Wir fragten nach dem We r t h e dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: war u m n i c h t l i e b e r Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit?“ Die Sphinx erschüttert bei Nietzsche hermeneutische Grundgewissheiten und bringt dualistische Rollenzuweisungen ins Wanken: „Wer von uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen“.1 Gerade dann, wenn die Sphinx als dramaturgische Figur kaum mehr greifbar ist („We r ist das eigentlich […]?“), erfährt sie als polymorphe Figuration des Rätselwortes eine neue Konjunktur. An ihrer Rezeptionsweise lassen sich die jeweiligen kulturhermeneutischen Paradigmen ablesen, die mit unterschiedlichen Gewichtungen der Rätselfunktionen einhergehen [vgl. Kap. I.4]: In Zeiten des Kulturumbruchs, Wertezerfalls und der Neuorientierung kultureller und geschlechtlicher Identitäten überwiegt das chimärische Moment der rätselhaften Sphinx [Funktionen (1)(3)], in Zeiten der Konsolidierung des eigenen Selbstbewusstseins und der Wahrheitssuche das identitätslogische Moment der enträtselten Sphinx [Funktionen (4)-(5)].
1
Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, München 31993, S. 9-243, hier: S. 15.
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Kapitel A: Figur und Figuration des Rästels: SPHINX
Diese Bandbreite sollen im Folgenden vier exemplarische Analysen von Prosatexten aus dreieinhalb Jahrhunderten ausloten, bei denen die Sphinx jeweils als Schwellenfigur, als Chimäre zwischen Mythos und Wissenschaft, zwischen obscuritas und curiositas [vgl. Kap. II.4] in Erscheinung tritt: Begonnen wird mit G. W. F. Hegel, der die Sphinx in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte sowie in den Vorlesungen über die Ästhetik erstmals an den Anfang der europäischen Geistesgeschichte setzt und sie als Meta-Symbol, gewissermaßen auch als Meta-Mythos interpretiert. Es folgt ein Rückblick auf eine Mythenallegorese Francis Bacons, Sphinx oder die Wissenschaft (1609), die in ihrer Zweiteilung von mythologischer Allegorie und (pseudo-) wissenschaftlicher Allegorese den Prozess des Enträtselns performiert und poetologisch reflektiert. Sowohl Bacon als auch Hegel geht es um eine endgültige Überwindung eines mythischen Zeitalters, wobei die Sphinx eine historische sowie epistemische Grenzfigur darstellt und einen neuen Anfang setzt. Edgar Allan Poe nimmt mit seiner Kurzgeschichte The Sphinx (1846) eine interessante Mittlerposition ein: Auch er führt, wie Francis Bacon, die Decodierung eines symbolischen Textes vor, in diesem Fall die surreal-unheimliche Beschreibung eines angeblich überdimensional großen Ungeheuers, und ,übersetzt‘ diesen in enzyklopädisches Wissen. Doch obwohl Poes Methode der ratiocination letztlich zu einer wissenschaftlich abgesicherten Lösung des Rätsels führt, bleibt der Mythos Sphinx als beunruhigendes Anderes präsent. In Ingeborg Bachmanns früher Erzählung Das Lächeln der Sphinx (1949) gewinnt letzterer endgültig die Oberhand: Die Wissenschaftler vernichten sich bei ihren Rätsellösungsversuchen selbst. Statt des potentiell lösbaren Rätselwortes steht am Ende das rätselhafte Antlitz der entschwindenden Sphinx, ein, mit Nietzsche, „Stelldichein […] von Fragen und Fragezeichen“. Verzichtet wird auf die in anderen Monographien bereits geleistete2 Darstellung der psychoanalytischen3 und gendertheoretischen Tradition der Sphinx als
2
Eine Strukturanalogie zwischen frühromantischem Rätsel und der Psychoanalyse Sigmund Freuds stellt z. B. Brian Tucker her, vgl. Tucker, Brian, Reading Riddles. Rhetorics of Obscurity from Romanticism to Freud, Lewisberg, Pa. 2011 [vgl. Kap. Zum Forschungsstand]. Vgl. auch folgende Beiträge in: Malinowski, Bernadette; Wesche, Jörg; Wohlleben, Doren (Hg.), Fragen an die Sphinx. Kulturhermeneutik einer Chimäre zwischen Mythos und Wissenschaft, Heidelberg 2011: Vöhler, Martin, „Sphinx und Ödipus. Konstellationen ihrer Begegnung bei Sophokles – H. Heine – O. Wilde“, S. 51-69; Müller-Funk, Wolfgang, „Das kulturelle Leben der Sphinx vor und neben dem Fin de Siècle. Romantik – Bachofen – Freud. Mit Anmerkungen zu Borges“, S. 123-143; Stephan, Inge, „Sphinx und Ödipus. Rückblick auf eine mythische Konstellation“, S. 171-191; Schmaus, Marion, „Rätselfragen menschlicher Existenz. Die Sphinx in literarisch-literaturwissenschaftlicher und psychoanalytischer Hermeneutik“, S. 195-209 sowie die Einleitung: Wohlleben, Doren; Malinowski, Bernadette; Wesche, Jörg, „Zur
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femme fatale [vgl. Kap. B]. Sie nahm in der Literatur mit Heinrich Heines programmatischem Gedicht der dritten Auflage seines Buchs der Lieder (1827/1839)3 und in der Bildenden Kunst mit Jean-Auguste-Dominque Ingres’ Oedipe expliquant l’énigme du Sphinx (1808) ihren Anfang und florierte zur Jahrhundertwende.4 In der literaturwissenschaftlichen Rezeption des SphinxMythos steht sie – nicht zuletzt durch Sigmund Freuds Strukturanalogie der Ödipus-Tragödie mit der „Arbeit einer Psychoanalyse“5 in seiner Traumdeutung (1900) – zumeist im Vordergrund.6 Dies führte leider auch dazu, dass die ursprüngliche Hybridität der Sphinx-Figur seit der Romantik in eine binäre Logik (männlich-weiblich, mächtig-ohnmächtig, etc.) gezwungen wurde. Sie reduzierte das Rätsel zumeist auf seine ludistisch-heuristische Funktion [Funktion (5)], auf einen agôn, einen Wettkampf zwischen Rätselstellerin und Rätsellöser. Die anderen Rätselfunktionen [Funktionen (1)-(4)] gerieten dabei in Vergessenheit, obgleich der Mythos Sphinx in seinen außereuropäischen Anfängen noch gar nicht mit dem Rätselspiel in Verbindung gebracht wurde: Ihm gingen das ägyptische Monument und das hierauf projizierte Mysterium voraus. Sphinx: Monument, Mysterium, Mythos Das Rätsel der Sphinx, des Mischwesens zwischen Mensch und Tier, ist ein doppeltes: Das unlösbare Rätsel, das die Sphinx – für die ägyptische Tradition
kulturhermeneutischen Disposition des Sphinx-Mythos. Einleitende Überlegungen“, S. 7-22. 3 Vgl. hierzu: Vogt, Rolf, Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung oder Das Rätsel der Sphinx, Frankfurt am Main u. a. 1986. 4 Beispielhaft bei Oscar Wilde, so in seinem Gedicht The Sphinx (1894) sowie in seiner mysteriösen Erzählung The Sphinx without a Secret. An etching (1887). 5 Vgl. hierzu: Freud, Sigmund, Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Bd. II: Die Traumdeutung, Frankfurt am Main 1972, S. 265-269, hier: S. 266. 6 Eberhardt, Sǿren; Helmes, Günter, „Antikenrezeption und Geschlechterdifferenz. Sphingen bei Helene Böhlau, Else Lasker-Schüler, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke“, in: Scheuer, Helmut; Grisko, Michael (Hg.), Liebe, Lust und Leid: zur Gefühlskultur um 1900, Kassel 1999, S. 257-283 sowie Stephan, Inge, „Im Schatten des Mythos. Zur Ödipus-Sphinx-Konstellation bei Ingeborg Bachmann und Heiner Müller“, in: Berghahn, Klaus L. (Hg.), Responsibility and commitment: ethische Postulate der Kulturvermittlung. Festschrift für Jost Hermand, Frankfurt am Main u. a. 1996, S. 209-223 und auch: Stephan, Inge, „Im Zeichen der Sphinx. Psychoanalytischer und literarischer Diskurs über Weiblichkeit um 1900“, in: dies. (Hg.), Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Köln u. a. 1997, S. 14-36.
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Kapitel A: Figur und Figuration des Rästels: SPHINX
wird üblicherweise von dem Sphinx gesprochen7 – als eine stumme Figur in Gestalt des Steins selbst darstellt (genitivus subiectivus), und das prinzipiell lösbare Rätsel, welches die Sphinx in Form der Rede – so der griechische, mit dem Ödipus-Stoff verschränkte Mythos – dem Menschen stellt (genitivus obiectivus). Das Monument Sphinx ist hierbei dem Mythos Sphinx vorgängig. Am Anfang war der Stein, nicht das Wort. Sinn wird nachträglich figuriert, in das wortlose Rätsel des Steins projiziert. Allein als rekursives Narrativ wird dieser Anfang gestaltbar. Und nur ein mythisierender Anfang macht das historische Monument befragbar, lässt es rätselhaft werden. Erst ca. 1100 Jahre nach der Errichtung des Sphinx von Gizeh (2558-2532), der ältesten ägyptischen Kolossalplastik kanonischen Typs, erfolgt in der 18. Dynastie, bekannt durch namhafte ägyptische Könige wie Echnaton oder Tutanchamun, dessen Mythisierung. Einher mit dieser Mythisierung geht die Mystifizierung.8 Die mediale Präsenz des historischen ägyptischen SphinxObjekts im Alten Reich geht dem (fremd-) kulturellen Semiotisierungsprozess im Neuen Reich voraus:9 Zu diesem Zeitpunkt handelt es sich bei dem ehemaligen Residenzfriedhof der 4. Dynastie um einen Sakralbezirk ohne Kultbetrieb, dessen Architektur – bis auf die drei Pyramiden und den Kopf des Sphinx – versandet war. Gerade die Unkenntnis seiner Geschichte lässt den Sphinx schon im alten Ägypten zu einem „Topos des kulturell Imaginären“10 werden, an dem Vergangenheitskonstruktionen und Zukunftshoffnungen ausphantasiert werden. Die mythologisch hinlänglich bekannten Wurzeln des ägyptischen Königtums, die göttlich vorgestellte Tiefe der eigenen Kultur, finden hier ihren realen Ort: Der Sphinx fungiert als „Imaginationskatalysator“,11 der Mythen schafft und Erinnerung stiftet, also mythopoietisch und mnemotechnisch wirksam ist.
7
Altägyptische, rundplastische Sphingen sind grundsätzlich bezeichnungslos und geschlechtsneutral. Vgl. hierzu: Moers, Walter, „Der Sphinx von Gizeh – Das altägyptische Objekt als Imaginationskatalysator“, in: Malinowski, Bernadette; Wesche, Jörg; Wohlleben, Doren (Hg.), Fragen an die Sphinx, S. 25-50. 8 Exemplarisch hierfür steht die berühmte Sphinxstele, die Amenophis II vermutlich in seinem ersten Regierungsjahr hat errichten lassen und die von einem Geschehnis berichtet, das sich noch vor der Thronbesteigung des späteren Königs zu Füßen des Sphinx abspielt (Moers, Walter, „Der Sphinx von Gizeh“, S. 37 f., S. 41 f.). 9 Das Alte Reich (3.-8. Dynastie) wird datiert auf 2286-2125 v. Chr., das Neue auf 1550-1069 v. Chr. (18.-20. Dynastie): Die ersten Sphingen (vermutlich 2566-2558) entstammen wie auch der Sphinx von Gizeh (2558-2532) der 4. Dynastie, die Sphinxstele Amenophis II. und der -tempel (1427-1400) der 18. Dynastie. Vgl. zur Datierung die Tabelle bei: Moers, Walter, „Der Sphinx von Gizeh“, S. 34. 10 Moers, Walter, „Der Sphinx von Gizeh“, S. 41. 11 Ebd., S. 44.
Kapitel A: Figur und Figuration des Rästels: SPHINX
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Bis heute führt kein akademisch gesicherter Weg von dem originalen Artefakt des Alten Reichs, dem Sphinx von Gizeh, zu den anderskulturellen, geflügelten, weiblichen Sphinx-Bildern. Jener hat weder mit der griechisch-antiken ÖdipusSage noch mit der Rätselfrage der Sphinx direkt etwas zu tun. So rühren auch die Versuche, das griechische Sphinx-Rätsel auf ägyptische Vorstellungen vom Sonnenlauf zurückzuführen,12 vermutlich aus einem monogenetischen Kontinuitätsbedürfnis zwischen dem ägyptischen und der griechischen Sphinx. Es lässt sich wissenschaftshistorisch nicht belegen und resultiert wohl eher aus späteren Kontextualisierungsversuchen. Ebenso war für die pharaonische Gesellschaft die Diskussion um die Geschlechtsidentität des Sphinx irrelevant, die sich aus einem damals noch unbekannten Repräsentationsinteresse und erst im Zuge der Projektionen abendländischer Vorstellungen auf die ägyptischen Artefakte entwickelt hat.13 Mit der Feminisierung der Sphinx-Gestalt in der europäischen Tradition setzt deren Dämonisierung ein: Die Sphinx evoziert nun nicht mehr als Rätsel ein Gefühl ehrfurchtsvoller Erhabenheit, sondern sie wirft mit ihrem Rätsel Fragen der Macht und des Wissens auf. Sie wird zur listig fragenden Gegenspielerin des Ödipus, der sich in früheren Überlieferungen körperlich, in späteren geistig mit ihr messen muss und sie letztlich überwindet. Das intellektuelle Moment unterscheidet die griechische Sphinx von allen anderen ,Monstern‘ der Antike. Doch treffen bei diesem Machtspiel um Wissen mindestens zweierlei Wissensformen in einer paradoxen Gleichzeitigkeit aufeinander: die poetische, meist repräsentiert durch die rätselsprechende oder rhapsodisch singende Sphinx, sowie die intellektuelle, vertreten durch den analytisch rätsellösenden Ödipus. Die Marginalisierung der Sphinx-Figur im Verlaufe ihrer Kulturgeschichte zugunsten der Aufwertung ihres Herausforderers bringt die Dominanz der intellektuellen über die poetische Wissensform mit sich: Was einst von dem ägyptischen SphinxMonument sprachlos dargestellt, dann von der griechischen Sphinx mehrdeutig gesungen wurde, wird von Ödipus eindeutig ausgesagt und somit enträtselt. Spricht man von dem Mythos Sphinx, sollte man von ursprünglich mindestens zwei Mythenkernen ausgehen, einem ägyptischen und einem griechischen, auch wenn sich diese in der Rezeptionsgeschichte vielfach annähern oder
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Heinz Demisch liest auch das griechische Sphinx-Rätsel in einer mystisch-kosmischen Tradition, indem er ihm ein ägyptisches Rätsel über den Sonnengott („Ich bin Chepre am Morgen, Re am Mittag, Atum am Abend“) zugrundelegt. Er geht davon aus, die Antwort habe eigentlich ,die Sonne‘ lauten müssen, indem Ödipus aber die ihm bekannte anthropomorphe Sonnenallegorie der Ägypter auf den Lebenslauf des Menschen projizierte, sei es erstmals „zu einer Aussage über den Menschen [gekommen]: Wiewohl seine Gestalt dahinsinkt, ist er in der Substanz unsterblich“ (Demisch, Heinz, Die Sphinx. Geschichte ihrer Darstellung von den Anfängen bis zur Gegenwart, mit 640 Abbildungen, Stuttgart 1977, S. 225). 13 Vgl. hierzu: Moers, Walter, „Der Sphinx von Gizeh“, S. 26 f.
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Kapitel A: Figur und Figuration des Rästels: SPHINX
gar miteinander verschmelzen: Es ist zumeist der griechische Sphinx-Mythos, um dessen „narrativen Kern“14 sich in der literarischen Rezeptionsgeschichte neue Konstellationen bilden, bzw. Korrekturen vorgenommen werden. Er konstruiert das Erzählraster, durch das hindurch der maskuline stumme ägyptische Sphinx betrachtet wird. Die Rätselthematik der griechischen Sphinx wird nicht selten auf den ägyptischen zurückprojiziert: „Die griechische Sphinx hat dem ägyptischen den Namen und den Schimmer des Rätselhaften verliehen; auf irgendeine Weise klingt bei der Betrachtung des ägyptischen Sphinx in der deutschen Literatur immer die ganze Ödipus-Problematik mit“.15 Das kulturell Andere, das sich der Sagbarkeit widersetzt, wird angeeignet, an den europäischen Logos annektiert. Ähnlich verhält es sich bei der Ödipus-Sphinx-Konstellation: Der kulturhistorisch erst relativ spät mit dem Sphinx-Mythos amalgamierte Ödipus-Stoff stellt alsbald nicht nur dessen festen Kernbestand dar, sondern marginalisiert bis ins 19. Jahrhundert hinein die Sphinx-Figur. Indem Ödipus das Rätsel löst, löst er zugleich die Rätselstellerin in ihrer Machtposition ab, die ihre Wirkungskraft aus der Vielgestaltigkeit von Körper und Gesang bezogen hat [vgl. Kap. I.3]. Mit Ödipus tritt die Sphinx-Figur in eine symbolische Ordnung ein, welcher der ägyptische Sphinx noch nicht angehörte. Letzterer wirkt allein durch seine Materialität und Monumentalität, kurzum durch seine stumme Präsenz. Er gleicht einem Signifikanten, bevor es Zeichen geworden ist, und übt gerade deshalb eine irritierende Faszination aus. Ödipus stellt nun erstmals eine Verbindung her zwischen dem Signifikanten, der Gestalt oder dem Gesang der Sphinx, und dem Signifikaten, deren Bedeutung. Das Unheimliche, das durch eine intellektuelle Verunsicherung zustande kommen kann, wird in dem Moment eliminiert, in dem die ursprüngliche Weise des Sagens auf ein Gesagtes reduziert und das Rätsel ausschließlich auf seine Lösung hin perspektiviert wird [vgl. auch die ethisch-utopische Rätselfunktion, Kap. I.4]. Die Spaltung von Zeichen sowie deren selbstbezügliches Spiel wiederholen sich von nun an permanent.16 Diese
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Hans Blumenberg definiert in seiner Arbeit am Mythos, im Rückgriff auf Aristoteles, Mythen als „Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsmöglichkeit“ (Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1996, S. 40). Die Bestimmung des Mythenkerns als ,narrativ‘ meint nicht den von Religionswissenschaftlern und Anthropologen im 19. Jahrhundert zu Recht kritisierten Urmythos, aus dem alle späteren Mythenvarianten entsprungen sind, sondern einen narrativen und semantischen konstanten Bestandteil der mythischen Fabel. Vgl. hierzu auch: Seidensticker, Bernd, „Mythenkorrekturen“, in: Zimmermann, Bernhard (Hg.), Mythische Wiederkehr. Der Ödipus- und Medea-Mythos im Wandel der Zeiten, Freiburg i. Br. u. a. 2009, S. 17-40. 15 Ebd., S. 85. 16 Vgl. hierzu auch: Simons, Oliver, „Rilkes Sphinx“, in: Malinowski, Bernadette; Wesche, Jörg; Wohlleben, Doren (Hg.), Fragen an die Sphinx, S. 211-228.
Kapitel A: Figur und Figuration des Rästels: SPHINX
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Erfahrung des Bruchs der Präsenz ist beispielhaft im Mythologem der Sphinx versinnbildlicht. Mit ihr sei Giorgio Agamben zufolge, der sich, wie knapp zehn Jahre zuvor Jacques Derrida in Le Puits et la pyramide. Introduction à la sémiologie de Hegel (1968/71), kritisch auf Hegels Semiotik bezieht, der Grundstein der europäischen Philosophie gelegt: Einzig und allein weil die Präsenz geteilt und auseinandergefallen ist, ist etwas wie ein ,Bedeuten‘ [siginificare] überhaupt möglich; und einzig darum, weil am Ursprung nicht Fülle, sondern Differenz und Aufschub steht (gleich ob man diese als Opposition von Sein und Schein, als Harmonie der Gegensätze oder als ontologische Differenz von Sein und Seiendem deutet), entsteht das Bedürfnis zu philosophieren.17
G. W. F. Hegel (1770-1831) setzt erstmals die Sphinx mit der Geburtsstunde aufgeklärter Philosophie gleich und greift sowohl in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte18 als auch in seinen Vorlesungen über die Ästhetik auf dieses Mythologem zurück. Bei ihm verweist die Sphinx auf eine Bruchlinie innerhalb der linear fortschreitenden Genese des Weltgeistes, nämlich auf die zwischen Ägypten, die Hegel – mit seinem überaus fragwürdig eurozentristischen Blick – als welthistorische Vorstufe betrachtet, und Griechenland. Einerseits garantiert, in Hegelscher Logik, die Sphinx als Übergangsfigur, als missing-link zwischen Orient und Okzident, geschichtliche Kontinuität und verweist letztlich auf eine kulturelle Einheit in der Vielheit. Andererseits, so Derridas dekonstruktivistische Lektüre der Hegelschen Passagen, repräsentiert sie, mit Giorgio Agamben, „Differenz und Aufschub“ und steht für eine ursprüngliche Vieldeutigkeit, die strukturell mit derjenigen der Hieroglyphen vergleichbar sei. In den Worten Derridas: Cette polysémie est si essentielle, elle appartient si nécessairement à la structure du hiéroglyphe, que la difficulté du déchiffrement ne tient pas à notre situation et à notre retard. Elle a dû limiter, précise Hegel, la lecture des Egyptiens euxmêmes. Dès lors, le passage de l’Egypte à la Grèce, c’est le déchiffrement, la
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Agamben, Giorgio, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, Titel der ital. Originalausgabe: Stanze. La parola e il fantasma nella cultura occidentale (1977/1993), Zürich/ Berlin 2005, S. 212. 18 Zitiert wird im Folgenden nach der Theorie-Ausgabe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Werke in zwanzig Bänden, auf der Grundlage der Werke von 1831-45 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1969-71 mit Angabe von Band und Seitenzahl in Klammer direkt im Fließtext (Kursivierungen im Original).
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Kapitel A: Figur und Figuration des Rästels: SPHINX déconstitution du hiéroglyphe, de sa structure proprement symbolique, telle qu’elle symbolise elle-même dans la figure de Sphinx.19
Hegels Ägypten-Bild markiert in der Ägypten-Rezeption des 18. und 19. Jahrhunderts einen Umschlagpunkt von der Ägypten-Romantik hin zur Ägypten-Wissenschaft. Dem Philosophen war die durch Jean Franҫois Champollion schon 1822 gelungene Entschlüsselung der Hieroglyphenschrift sehr wahrscheinlich nicht bekannt:20 Er deutet Ägypten als ein Land des Symbols, das sich der geistigen Aufgabe der Selbstentzifferung des Geistes zwar stellt, letztlich aber an ihr scheitert. Für Hegels Argumentation ist dies allerdings nicht weiter relevant, da es bei seinem nüchtern historischen Blick nicht mehr, wie noch bei Novalis oder auch bei Mozart,21 um eine (Re-) Mythisierung einer fremden, rätselhaften Welt geht, sondern um eine Aneignung und Vereinnahmung des Fremden zugunsten einer Konsolidierung europäischen Selbstbewusstseins. Hegel steht demnach an einer Wegscheide, bei der frühneuzeitliche Aufklärungs- und Offenbarungshoffnungen kulminieren, aber zugleich die Voraussetzungen für eine ,Dialektik der Aufklärung‘ geschaffen werden, die im 20. Jahrhundert gerade diese Hegelsche Fortschrittsgläubigkeit unterminieren. G. W. F. Hegel: Die Geburt des Geistes aus dem Rätsel Die Überwindung der Sphinx durch Ödipus stellt für Hegel eine Urszene seiner Geistphilosophie dar, an deren Anfang auch er das Rätsel setzt: Sie bezeichnet den „geschichtliche[n] Übergang“ (12, 273) zwischen persischer und griechischer Welt. Doch interessiert Hegel nicht das Rätsel an sich, sondern allein dessen rein geistige Lösung. Die ,Hermeneutik der Erlösung‘ [vgl. Kap. I.4] bedeutet hier eine Hermeneutik der Selbsterlösung, welche mit einem Akt der Selbsterkenntnis einhergeht. Hegel verortet sie innerhalb einer Hell-Dunkel-Dialektik: „In der ägyptischen Neith [der verborgenen nächtlichen Gottheit; D. W.] ist die Wahrheit noch verschlossen, der griechische Apoll [der Gott des Lichts; D. W.] ist die Lösung; sein Ausspruch ist: Mensch erkenne dich selbst“ (12, 272). Nicht das Staunen oder die Verwunderung machen, wie bei der kosmogonischmagischen oder auch der hermetisch-esoterischen Rätselfunktion [vgl. Kap. I.4], die philosophische Grundhaltung aus. Vielmehr kommt es auf die heuristische Durchdringung und Durchleuchtung des dunklen Rätsels an, das die Natur dem
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Derrida, Jacques, Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 116. Zur Sphinx vgl. innerhalb des Kapitels „Le puits et la pyramide“ (S. 79-127) besonders S. 113-117. 20 Vgl. hierzu: Wagner, Frank Dietrich, „Das Rätsel der Sphinx. Hegels Ägypten“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 113, H. 2 (1994), S. 246-263. 21 Vgl. ebd., S. 248-252.
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Menschen aufgibt. Die Bedeutung muss sich erst von der sinnlichen Gestalt emanzipieren, um klar aufscheinen zu können: Die rätsellose Klarheit des aus sich selbst sich adäquat gestaltenden Geistes, welche das Ziel der symbolischen Kunst ist, kann nur dadurch erreicht werden, daß zunächst die Bedeutung für sich, abgetrennt von der gesamten erscheinenden Welt, ins Bewußtsein tritt (13, 466).
Hegel kontrastiert die „Bedeutung“ mit dem „Mythus“, wobei erstere, „der eigentliche Gehalt“, von der „sinnlichen Gestaltung“ des Mythus zu befreien sei (20, 501). Daher bedürfe die Mythologie stets einer „Erklärung“, um die „sinnlichen Gestaltungen“ „in geistige, in Gedanken-Verhältnisse“ zu „übersetzen“ (20, 502). Denn dem Mythus komme es nicht darauf an, „Philosopheme“ zu „verhüllen, sondern vielmehr sie deutlicher, vorstelliger zu machen“ (20, 499) und sodann zu einem Akt der Enträtselung aufzufordern. Folglich übt Hegel heftige Kritik an der Vorstellung, dass „die Welt dem Menschen als ein Rätsel vorgelegt und dies sein letztes Verhältnis zu ihr“ (20, 501) sei. Denn das Rätsel gehört innerhalb des Hegelschen Welt- und Geschichtsbildes einer vorsubjektiven, vorkulturellen Zeit an: einer Zeit des Noch-Nicht. Allein in der ägyptischen Kunst, bei der Geist und Gestalt noch nicht vermittelt sind, hat es eine Daseinsberechtigung. Als eine symbolische Kunstform, eine Art Vorkunst, findet es zwar Akzeptanz, gilt aber als geschichtsphilosophisch längst überwunden. Für den, mit Theodor W. Adorno, „Rätselcharakter“ der Kunst bleibt in einer solchen Philosophie der Transparenz und Einsichtigkeit kein Platz: „Das allererste ist und bleibt die unmittelbare Verständlichkeit“ (13, 355), die Hegel als eine Errungenschaft der – durch Ödipus repräsentierten – alten Griechen betrachtet [vgl. hierzu auch Kap. I.2]. ,Die‘ ägyptische Sphinx verkörpert die Vorstufe eines solch verständigen Zeitalters, eines „Aufgang[s] geistiger Klarheit“ (12, 272). Auf sie laufen alle Reflexionen über Rätsel und Symbol zu: Die Werke der ägyptischen Kunst in ihrer geheimnisvollen Symbolik sind deshalb Rätsel, das objektive Rätsel selbst. Als Symbol für diese eigentliche Bedeutung des ägyptischen Geistes können wir die Sphinx bezeichnen. Sie ist das Symbol gleichsam des Symbolischen selber. (13, 465)
Das Symbol meint bei Hegel ein sinnliches, bildhaftes Zeichen, bei dem eine partiale Differenz zwischen Form und Inhalt bestehen bleibt, eine „mangelhafte Vereinigung“, ein „Kampf“ zwischen Ausdruck und Bedeutung (13, 411). Aufgrund dieses ihm inhärenten „Widerspruchs“ (13, 412) gilt es Hegel, wie das stumme Sphinx-Monument, als unauflösbar, worin es sich von dem Rätsel, Subkategorie und Sonderfall des Symbols, abhebt:
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Kapitel A: Figur und Figuration des Rästels: SPHINX Das Rätsel aber gehört der bewußten Symbolik an und unterscheidet sich von dem eigentlichen Symbol sogleich dadurch, daß die Bedeutung von dem Erfinder des Rätsels klar und vollständig gewußt und die verhüllende Gestalt, durch welche sie erraten werden soll, daher absichtlich zu dieser halben Verhüllung auserwählt ist. Die eigentlichen Symbole sind vor- und nachher unaufgelöste Aufgaben, das Rätsel dagegen ist an und für sich gelöst, weshalb denn auch Sancho Pansa ganz richtig sagt: er habe es viel lieber, wenn ihm erst das Auflösungswort und dann das Rätsel gegeben werde. (13, 509 f.)
Das lösbare Rätsel, das die griechische Sphinx Ödipus stellt, ist somit in Hegelscher Terminologie Rätsel (bewusste Symbolik), das unlösbare, das die ägyptische Sphinx darstellt, Symbol (eigentliche Symbolik). Dem Rätsel eignet immer auch ein Moment der Selbstdestruktivität, da es die eigenen Darstellungsweisen, die zum Erraten des Rätselhaften führen, zerstört. Es ist nach Hegel eine späte Wissensform der Frühform Symbol: Beim Rätsel handelt es sich um ein historisches Übergangsphänomen, das aus dem „Morgenland, in die Zwischenzeit und Übergangsperiode von der dumpferen Symbolik zu bewußterer Weisheit und Allgemeinheit“ gelangt ist. Einst von hermeneutischlebensweltlicher Bedeutung sei es im 19. Jahrhundert auf seine ludistischheuristische Funktion reduziert [vgl. Kap. I.4] und „mehr zur Unterhaltung und zum bloß gesellschaftlichen Witz und Spaß heruntergesunken“ (13, 510 f.). Die Sphinx, „das Symbol […] des Symbolischen selber“ (13, 465), inkorporiert als Zwitterwesen zwischen Mensch und Tier diesen temporären Zustand zwischen „eigentliche[m] Symbol“ und „bewusster Symbolik“, zwischen Natur und Geist: Aus der dumpfen Stärke und Kraft des Tierischen will der menschliche Geist sich hervordrängen, ohne zur vollendeten Darstellung seiner eigenen Freiheit und bewegten Gestalt zu kommen, da er noch vermischt und vergesellschaftet mit dem Anderen seiner selber bleiben muß (13, 465).
Erst Ödipus gelingt die „Enträtselung des Symbols“ (13, 466) und somit auch die Befreiung vom Anderen des Menschen, dem Tier, das bei Hegel immer für „das Unbegreifliche“, das „schlechthin Fremdartige“ (12, 261) steht. Deshalb disqualifiziert Hegel den ägyptischen Tierdienst auch als eine „Religion des Rätsels“ (16, 409), die dann erst bei den Griechen mit deren anthropomorphen Gottesvorstellungen überwunden werde. Der Sieg des Ödipus über die polymorphe Sphinx geht mit der Bewältigung von deren polysemer Sprache einher: Die poetische Bildersprache wird abgelöst durch eine philosophische Begriffssprache. „Der Mensch“ erschafft sich mit selbiger Antwort neu: Er hat sich der Natur und ihrer Vielgestaltigkeit nun ein für allemal entledigt und sich dem Geist zugewandt. Die Geburt des Geistes aus dem Rätsel entspricht einer zweiten Geburt des Menschen, die im Entstehungsprozess der Selbstbewusstwerdung des Geistes mit einer neuen, höheren Erkenntnis- und zugleich Freiheitsstufe einhergeht: Der
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Mensch, der Augustin zufolge geschaffen wurde, damit ein Anfang sei (hoc [initium] ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit; Aug., De civitate Dei, XII, 21),22 vermag nach der Rätsellösung bewusst handelnd in die Welt einzugreifen. Zwar ist diese bei Ödipus zunächst noch mit „Greueln aus Unwissenheit gepaart“, die „bürgerliche[r] Gesetze und politische[r] Freiheit“ bedürfen, doch steht von nun an der Versöhnung „zum schönen Geist“ (12, 272) nichts mehr entgegen. Ein neues, wissenschaftliches Zeitalter „geistiger Klarheit“ (12, 272) ist eingeleitet. Innerhalb einer solchen Fortschrittslogik, bei der Hegel Rätsel und Tragödie strikt separiert, stellt „das einfache Entzifferungswort“ (13, 466) des Ödipus einen ungebrochen positiv bewerteten weltgeschichtlichen Wendepunkt dar. Wohl zum letzten Mal in der Geschichte der Metaphysik erstrahlt bei Hegel das Rätsel im unüberschatteten Licht der Aufklärung als eine endgültig überwundene dunkle Denk- und Daseinsform. Wurzeln einer solchen Rätselkonzeption, bei der die Sphinx als Schwellenfigur ein neues, wissenschaftliches Zeitalter „geistiger Klarheit“ (12, 272) einleitet, finden sich schon mehr als drei Jahrhunderte vorher in den Mythenallegoresen des englischen Lordkanzlers und Philosophen Francis Bacon (1561-1626), der die Sphinx ebenfalls an einer historischen und zugleich epistemischen Grenze ansiedelt.
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Augustinus, Aurelius, De civitate Dei, libri XXII, Vol. I (lib. I-XIII), recogn. Bernardus Dombart et Alfonsus Kalb, Stuttgart 1981, S. 548.
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Francis Bacon (Sphinx oder die Wissenschaft, 1609): Belehrung und Offenbarung Francis Bacons Mythenallegoresen De sapientia veterum (1609, dt.: Die Weisheit der Alten)23 können als eine Meta-Poetik des Rätsels gelesen werden [vgl. Kap. II.3]. Sie sind zunächst auf Lateinisch, dann, noch zu Lebzeiten Bacons, auf Englisch erschienenen; die lateinische Fassung ist bis heute weder nachgedruckt noch neu ediert. Einunddreißig Kapitel widmen sich je in einem ersten Abschnitt der literarischen Darstellung einer antiken mythologischen Gestalt, darunter der Sphinx (Kap. XXVIII), und nehmen in einem zweiten eine allegorische24 und zugleich entmythisierende Deutung dieser Figur vor. Hier wird bereits praktiziert, was Hegel später von der Mythologie einfordert: eine Übersetzung sinnlicher in geistige Gestalt, wobei die sinnliche Anschauung erhalten bleiben soll (20, 499-502). Schon für Bacon, bei dem mit Ernst Cassirer der Mythos „zum Vehikel der logischen Denkbarkeit“ und Wissen allegorisch darstellbar geworden ist,25 stellt nämlich jeder Mythos die Verschlüsselung einer naturphilosophischen oder ethischen ,Weisheit‘ dar, die mittels einer verständigen Lektüre entziffert werden muss, um zur, so noch einmal Hegel, „Offenbarung“ des „geistige[n] Universum[s]“ (20, 501) zu gelangen: „Denn wie die Hieroglyphen vor den Buchstaben kamen, so kamen die Parabeln vor den Beweisen (argumentis)“ (Nam ut Hieroglyphica Literis, ita Parabolae Argumentis erant antiquiora) (S. 13). Die Option einer aufklärenden Lösung, nicht die Dunkelheit (obscuritas) konstituiert von nun an, anders als noch im Mittelalter, das Rätsel. Die ,Hermeneutik der Erlösung‘ erscheint in ihrem klarsten, aber, wie es besonders das 20. Jahrhundert zeigen wird, vergänglichen und schattenreichen Licht.
23
Bacon, Francis, Weisheit der Alten, hg. und mit einem Essay von Philipp Rippel, aus dem Lateinischen und Englischen übertragen und mit Anmerkungen versehen von Marina Münkler, Frankfurt am Main 1990. Auf diese Ausgabe beziehen sich die Seitenangaben im Fließtext. Die kursiv in Klammer angeführten lateinischen Zitate sind der von der Autorin eingesehenen Erstausgabe von 1609 De sapientia veterum (seither kein Nachdruck, keine Neuedition!) entnommen: Francisci Baconi equitis aurati, procuratoris secundi, Iacobi Regis Magnae Britanniae, De sapientia veterum liber, London 1609. Die nicht kursiv gesetzten lateinischen Begriffe führt bereits Philipp Rippel in seiner deutschen Übersetzung an. 24 Vgl. hierzu auch: Kurz, Gerhard, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 62009, besonders: S. 64 f. 25 Cassirer, Ernst, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1963, S. 85.
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Deutlich wird dies in Francis Bacons Mythenallegorese Nr. XXVIII (Sphinx oder die Wissenschaft, S. 72-75), deren Gegenstand die von Ödipus überwundenen dunklen und verwickelten Rätsel (Aenigmata quadam obscura & perplexa) der Sphinx im Verhältnis zur Wissenschaft (scientia) sind.26 Die Sphinx initiiert, wie später bei Hegel, ein neues Zeitalter, das zugleich den Umschlagpunkt des metaphorisch dunklen in ein philosophisch klares Sprechen markiert. Bacon setzt den Sphinx-Mythos an den Anfang des wissenschaftlichen Denkens: Mit ihm werde das dritte, das wissenschaftliche Zeitalter, initiiert das an das erste, das mythische anknüpfe, von dem es durch das von Bacon wegen seines spekulativen Wahrheitsbegriffs disqualifizierte metaphysische Zeitalter getrennt sei. Das Rätsel spielt in Sphinx oder die Wissenschaft nicht nur auf der inhaltlichen Ebene eine Rolle (die Rätselstellerin Sphinx wird von Ödipus überwunden), sondern zudem auf der formalen (die rätselhafte, mythische Bildersprache der Antike wird von Bacon in ein klares, wissenschaftliches Denken der Neuzeit übersetzt). Bacon stellt demnach eine Art zweiten Ödipus dar: Der antike Ödipus gibt auf das Rätsel, das die Sphinx stellt, die Antwort ,Der Mensch‘ und enthüllt im Verlauf der Tragödie sein Individualschicksal, dem er selbst ohnmächtig ausgeliefert ist. Bacon, der moderne Ödipus, beantwortet das Rätsel, das die Sphinx darstellt, mit der allegorischen Auflösung in „Wissenschaft, insbesondere in ihrem Bezug zur Praxis“ (S. 73) und erhebt das Rätsel so zu einem Instrumentarium der Macht, welches „die Herrschaft über die Natur und die Herrschaft über den Menschen“ ermöglicht (S. 74). Dem Rätsel schreibt Bacon, hierin dem späteren Hegel vergleichbar, eine Schwellenfunktion zu: von den Musen zur Sphinx, von der rein intellektuellen Erkenntnis zur handlungsorientierten Praxis. Solange das Rätsel dem dichterisch-denkerischen Bereich zugehörig ist, wird es als harmlos, gar als lustvoll erfahren. Seine existentiell bedrohliche Dimension erlangt es erst in der praktischen Anwendung: Auch gibt die Sphinx dem Menschen eine Reihe schwerer Fragen und Rätsel auf, die sie von den Musen empfangen hat. Solange sie bei den Musen verbleiben, mag in ihnen keine Grausamkeit liegen, denn solange das Ziel der Betrachtung und Untersuchung nichts anderes als die Erkenntnis ist, wird der Verstand (intellectus) weder bedrängt noch in die Enge getrieben, sondern schweift umher und dehnt sich aus und findet selbst an Zweifeln und an Unbeständigkeit eine gewisse Freude und Unterhaltung. Sobald sie aber von den Musen auf die Sphinx, d. h. auf die Praxis übergegangen sind, die zum Handeln, zur Wahl und zur Entscheidung reizt und drängt, beginnen die Rätsel beschwerlich und grausam zu
26
Vgl. auch: Wohlleben, Doren, „Obscuritas und Curiositas. Das Rätsel als neuzeitliche Denkform mit Blick auf Francis Bacons Die Weisheit der Alten (De sapientia veterum, 1609)“, in: Variations (Literaturzeitschrift der Universität Zürich) 18 (2010): Rätsel/ Énigmes/ Riddles, S. 15-27.
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Kapitel A: Figur und Figuration des Rästels: SPHINX werden, und solange sie nicht gelöst und entschlüsselt sind, quälen und verwirren sie den menschlichen Geist auf wundersame Weise, stürzen ihn in Zweifel und zerreißen ihn völlig. (S. 73 f.)
Das Rätsel wird einerseits als ein poetisches, andererseits als ein pragmatisches Phänomen betrachtet: Im ersten Stadium wird die ambivalente und paradoxe Struktur betont, die unabhängig von einem konkreten Ziel ist. Im zweiten Stadium kippt dieser dynamische Prozesscharakter in eine statische Lösungsfindung, die zur endgültigen Entscheidung nötigt. Kann eine solche Entscheidung nicht gefällt werden, weil die Lösung (noch) aussteht, wird sie durch Mord gewaltsam herbeigeführt: „Überdies ist an die Rätsel der Sphinx immer eine zweifache Bedingung geknüpft: Zerfleischung für diejenigen, die sie nicht lösen, ein Königreich für diejenigen, die sie lösen“ (S. 74). Die ludistische Dimension des Rätsels ist hier endgültig abhanden gekommen; es geht um Leben und Tod. Bei dieser archaischen Form des Rätsels, dem Halslöserätsel, stellt der Fragesteller nicht, wie in hermeneutischer Tradition, einen Mäeuten dar, der einen Denkanstoß gibt und eine dialogische Situation initiiert. Vielmehr nötigt er den Anderen zu einer ihm selbst bereits bekannten Rätsellösung, um dessen Ebenbürtigkeit zu prüfen. Wissensvorsprung bedeutet zugleich Machtmehrheit. Nur wer die klare, eindeutige Antwort kennt und explizit zu machen versteht, ist des Überlebens fähig [vgl. Kap. 1.4, Funktion (5)]. Doch wertet Bacon den Wissens- und Machtvorsprung des Fragenden keineswegs negativ: Er plädiert sogar implizit für eine Reaktivierung dieses praktischempirischen Wissens des mythischen Zeitalters, das er im metaphysischen Zeitalter unterdrückt sah. Bacon drängt regelrecht nach einer Enträtselung und Lösung, als deren Belohnung er die universale Herrschaft betrachtet. Welch großer Stellenwert der Rätsellösung beigemessen ist, wird bereits aus der ausführlichen Schilderung des Sphinx-Rätsels in der Baconschen Nacherzählung ersichtlich: Diese nimmt ein Drittel des Gesamtumfangs ein und verweilt – im Gegensatz zu der antiken Vorlage, dem König Ödipus von Sophokles, in der das Rätsel erwähnt, aber nicht spezifiziert, geschweige denn expliziert wird [vgl. Kap. I.3] – lange bei dem Wortlaut des Rätsels, dessen ,uneigentlichen‘ Sinn in den ,eigentlichen‘ zu übersetzen Bacon bestrebt ist: Zuversichtlich und guter Dinge trat er [Ödipus] ihr [der Sphinx] gegenüber, und als sie ihn fragte, welches Tier das sei, das vierfüßig geboren wird, dann zweifüßig, danach dreifüßig und zuletzt wieder vierfüßig wird, antwortet er geistesgegenwärtig: der Mensch, der bei seiner Geburt und als kleines Kind sich auf allen vieren fortbewegt und zunächst zu kriechen versucht, wenig später auf beiden Beinen aufrecht geht und schließlich als altersschwacher Greis kraftlos auf alle viere zurücksinkt und an das Bett gefesselt ist. (S. 72)
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Doch lässt es Ödipus, obwohl er „mit dieser richtigen Antwort den Sieg errungen hatte“ (S. 72), nicht bei seiner intellektuellen Überlegenheit bewenden, sondern erschlägt die Sphinx und stellt deren auf einen Esel gebundenen Leichnam zur Schau. Ödipus, der in der Antike spätestens seit Pindar Sinnbild des Intellektuellen und mit seiner Verstandeskraft sogar Odysseus überlegen ist, bedient sich bei Bacon eines Akts der Gewalt, der auf eine sehr frühe, vorsophokleische Mythenversion zurückverweist. Die Kombination von intellektueller und physischer Überlegenheit, von einer Lösung des Halslöserätsels mit anschließendem Mord ist ungewöhnlich. Dass sie ausgerechnet von dem neuzeitlichen Mythenaufklärer Francis Bacon aktualisiert wird, irritiert: Nachdem der Mythos in Aufklärung überführt worden ist, schlägt diese wieder in Gewalt um. So ist der Aufklärung die Dialektik bereits in ihrem mythischen Gründungsakt inhärent. Das Rätsel ist dabei das Medium, dessen sich der neuzeitliche Mensch bemächtigt, um sich aus der Gewalt der hybriden Natur („Die Sphinx […] war ein vielgestaltiges Monster“, S. 72) zu befreien. Zugleich ist es dasjenige Medium, das Gewalt nach sich zieht („erschlug er die Sphinx“, S. 72). Denn das Rätsel symbolisiert den Umschlagpunkt zwischen Verschleiern und Enthüllen, zwischen poetischem und praktischem Wissen, zwischen mythischer und wissenschaftlicher Welt. Es steht am Beginn einer neuzeitlichen Denkform, die mit ihrer Zielgerichtetheit auf eine Lösung ihre paradoxe Struktur zwar immer wieder zu kaschieren versucht, sich ihrer letztlich aber nicht entledigt und gerade dort dem archaischem Dunkel verfällt, wo sie sich fortschrittlich, aufklärerisch wähnt.
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Edgar Allan Poe (The Sphinx, 1846): Mythisches und enzyklopädisches Wissen Zwischen Mythos und Wissenschaft changiert auch die in der Forschung wenig beachtete27 Kurzgeschichte The Sphinx (1846) von Edgar Allan Poe (1809-1849).28 Sie ist im Zuge amerikanischer, von Poe nicht selten ironisierter Ägyptomanie entstanden und steht am Anfang einer Konjunktur der Sphinx-Figur in der American Renaissance (ca. 1845-1855).29 Die Sphinx fungiert, wie bei Bacon, als Schwellenfigur zwischen der, mit Hegel, „dumpferen Symbolik“ und der „bewußtere[n] Weisheit und Allgemeinheit“ (13, 510): Der Leser wird am Ende in die Welt wissenschaftlicher Rationalität entlassen, das Rätsel aufgeklärt. Und dennoch bleibt in dieser Erzählung, die tale of horror und tale of ratiocination zugleich ist, die dunkle Symbolik präsent, präsenter womöglich als deren Auflösung in eine bewusste Allgemeinheit. Die Sphinx verweist, woran Sigmund Freud mehr als ein halbes Jahrhundert später anknüpfen kann,30 als monströses Untier mit Sexualsymbolen wie dem gigantischen
27
Es gibt wenige Aufsätze, sie sich ausschließlich mit der Erzählung Die Sphinx befassen, hierunter: Schenkel, Elmar, “Disease and Vision: Perspective on Poe’s ‘The Sphinx’”, in: Studies in American Fiction, 13:1 (1985), S. 97-102. Marks, William S., “The Art of Corrective Vision in Poe’s ‘The Sphinx’”, in: Pacific Coast Philology, Vol. 22, No. 1/2 (Nov. 1987), S. 46-51. 28 Poe, Edgar Allan, “The Sphinx”, in: ders., The Complete Works, vol. VI, edited by James A. Harrison, New York 1965, S. 238-244. Die Seitenangaben werden nach dieser englischen Ausgabe direkt im Fließtext angeführt. Als deutsche Übersetzung empfiehlt sich: Poe, Edgar Allan, „Die Sphinx“, in: ders., Werke, hg. v. Kuno Schuhmann und Hans Dieter Müller, Bd. 1: Erste Erzählungen, Grotesken, Arabesken, Detektivgeschichten, deutsch von Arno Schmidt und Hans Wollschläger Olten/ Freiburg i. Br. 1966, S. 699-705. 29 Vgl. hierzu: Redling, Erik, „‘Say on, sweet Sphinx!’ Die Ausstrahlung des SphinxMythos in der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Malinowski, Bernadette; Wesche, Jörg; Wohlleben, Doren (Hg.), Fragen an die Sphinx. Kulturhermeneutik einer Chimäre zwischen Mythos und Wissenschaft, Heidelberg 2011, S. 103-121, besonders: S. 105 f. 30 Mythos und Psychoanalyse verhalten sich bei Sigmund Freud komplementär. In der Traumdeutung (1900) interpretiert Sigmund Freud Ödipus im Rückgriff auf die beiden großen Tabus der Menschheitsentwicklung, Vatermord und Mutterinzest, als Erfüllung eines verdrängten urzeitlichen Kinderwunsches. Zu einer psychoanalytischen Deutung des Sphinx-Mythos vgl.: Stephan, Inge, „Im Zeichen der Sphinx. Psychoanalytischer und literarischer Diskurs über Weiblichkeit um 1900“, in: dies., Musen & Medusen: Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Köln/ Weimar/ Wien 1997, S. 14-36 sowie Schmaus, Marion, „Rätselfragen menschlicher Existenz. Die Sphinx in literarisch-literaturwissenschaftlicher und psychoanalytischer Hermeneutik“, in: Malinowski, Bernadette; Wesche, Jörg; Wohlleben, Doren (Hg.), Fragen an die Sphinx, S. 195-209.
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Rüssel, den Stoßzähnen und einem kristallenen Pfahl, auf das Un- und Unterbewusste. Explizit findet die titelgebende Sphinx in der Erzählung zwar nur als Bezeichnung einer Insektenart Erwähnung. Aber sowohl der ägyptische als auch der griechische Sphinx-Mythos bilden den Horizont, vor dem sich beim Leser die surrealen Phantasien des Ich-Erzählers ereignen. Letzterer flieht vor der 1832 in New York wütenden Cholera31 zu einem Landhaus eines Verwandten am Ufer des Hudson. Dort erscheint ihm vor dem Fenster ein Ungetüm (“some living monster of hideous conformation”, S. 240), das er als üble Vorbedeutung, als Omen interpretiert und das seine Denk- und Seinsordnung fundamental erschüttert [vgl. utopisch-ethische Rätselfunktion, Kap. I.4]. Er schildert es als ein hybrides Wesen, das theriomorph, anthropomorph und artifiziell zugleich ist. Sein nüchterner Gastgeber identifiziert das vermeintlich fremde Wesen als harmlosen Nachtfalter aus der Gattung der Schwärmer (Sphingidae). Es sei lediglich durch eine optische Täuschung32 so ungeheuer groß erschienen. Was aus einer gänzlich anderen Welt zu stammen schien, entpuppt sich als natürlicher Bestandteil nordamerikanischer Fauna; das Unheimliche wird mittels Klassifizierung heimisch. Allein eine Fehleinschätzung der Distanz, ein Perspektivenfehler, sei also Grund für das Phantasma gewesen. Der Mythos (die Sphinx als phantastisches Untier) wird in Wissenschaft (die Sphinx als Genus-Bezeichnung für eine Insektenart) überführt, die alptraumhafte Beschreibung des Erzählers durch enzyklopädisches Schulwissen ersetzt: “‘[…] The Death’s-headed Sphinx has occasioned much terror among the vulgar, at times, by the melancholy kind of cry which it utters, and the insignia of death which it wears upon its corsletʼ” (S. 243). Doch enthält auch dieser naturwissenschaftliche Lexikoneintrag mythische Interpretamente: Es ist vom Schrecken im Volke (“terror among the vulgar”) die Rede, der an die Thebaner und deren Angst vor der Pest gemahnt, vom schwermütigen Schrei (“the melancholy kind of cry”), welcher die dissonant singende Sphinx in Erinnerung ruft und vom Abzeichen des Todes (“insignia of death”), das durch die männermordende Sphinx-Figur vertraut ist. Erst die Messdaten versichern eine
31
Sowohl im Jahr 1832, der Spielzeit der Erzählung, als auch im Jahr 1846, deren Produktionszeit, wütete in New York die Cholera. Edgar Allan Poes Frau Virginia erkrankte daran und starb 1847. 32 Von einer optischen Täuschung, diesmal der Kurzsichtigkeit, handelt auch Edgar Allan Poes burleske Erzählung Die Brille (The Spectacles, 1844), bei der es nicht um das Erleben des Grauens, sondern um das der Schönheit geht, in: Werke, hg. v. Kuno Schuhmann und Hans Dieter Müller, Bd. 1: Erste Erzählungen, Grotesken, Arabesken, Detektivgeschichten, deutsch von Arno Schmidt und Hans Wollschläger Olten/ Freiburg i. Br. 1966, S. 315-352. Vgl. hierzu auch: Link, Franz H., Edgar Allan Poe. Ein Dichter zwischen Romantik und Moderne, Frankfurt am Main/ Bonn 1968, S. 269 f., darin zur Erzählung Die Sphinx: S. 267-269.
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angebliche Quantifizierbarkeit und somit auch Identifizierbarkeit dessen, was zuvor noch als unheimlich erschien: “Still, it is by no means so large or so distant as you imagined it; for the fact is that, as it wriggles its way up this thread, which some spider has wrought along the window-sash, I find it to be about the sixteenth of an inch in its extreme length, and also about the sixteenth of an inch distant from the pupil of my eye”. (S. 244)
Die Distanz zu den Dingen und der verfremdete Blick auf das scheinbar Vertraute sind der poetologische Kern dieser Sphinx-Erzählung, die mit der rezeptionsästhetischen Erwartungshaltung des Lesers spielt: Sie erweist sich hierdurch zugleich als Rätsel-Erzählung. Auch Rätsel beschreiben nämlich Gegenstände, welche der alltäglichen menschlichen Erfahrungswelt entstammen, auf dermaßen eigentümliche Weise, dass sie erst wieder entschlüsselt werden müssen. Zwar chiffriert Poes Erzähler nicht willentlich, lädt aber mit seinen surrealen Schilderungen eines gewöhnlichen Nachtfalters seinen intradiegetischen Dialogpartner – sowie indirekt den Leser – zu einer Decodierung ein. Letztere wird durch den Lexikoneintrag verifiziert: Er bringt das Vieldeutige auf einen Begriff, der sich eindeutig kategorisieren und klassifizieren lässt: “In the first place, let me read to you a school-boy account of the genus Sphinx, of the family Crepuscularia, of the order Lepidoptera, of the class of Insecta – or insects” (S. 243). Die Identität der Dinge, die zuvor durch die kafkaeske Alteritätserfahrung radikal in Frage gestellt worden ist, wird neu erkannt. Ein für die Sprach- und Erkenntnisform des Rätsels33 spezifisches Verfahren hat Anwendung gefunden: Das Einzelne ist aus seinem herkömmlichen Zusammenhang herausgelöst und neu kontextualisiert worden. Wissen wird auf umwegige Weise angstfrei verfügbar gemacht, eine Ordnung der Welt (“order”) wieder hergestellt. Die epigrammatische Überschrift34 der Rätselerzählung weist in eine andere Richtung als die meisten Leser anfangs vermuten: Nicht die mythologische Figur, sondern eine nach ihr benannte Insektenart wird hiermit bezeichnet. Diese Sphinx ist gerade kein hybrides Wesen, das sich jeglicher Klassifizierungsmöglichkeit entzieht. Vielmehr dient sie als Beispiel für eine funktionierende Wissensordnung, die über Lehr- und Schulbücher vermittelbar ist. Der Leser hat, wenn auch nach literarisch eindrucksvollen
33
Vgl. hierzu: Schittek, Claudia, Die Sprach- und Erkenntnisform der Rätsel, Stuttgart 1991. 34 Zum Verhältnis von Epigramm und Rätsel vgl. Tomasek, Tomas, „Epigramm und Rätsel. Zum Verhältnis zweier Sprachspiele“, in: Hennings, Thordis; Niesner, Manuela; Roth, Christoph; Schneider, Christian (Hg.), Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Festschrift für Fritz Knapp zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 315-323.
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Exkursen, sein enzyklopädisches Wissen erweitert, die teleologische RätselErzählung ihre heuristische Funktion erfüllt. Das Rätselspiel (griphos) zwischen Gast und Gastgeber, Erzähler und Leser ist gelöst. Nichtsdestotrotz: Zwar erleichtert das aufklärerische Ende den Leser – die physikalische Erklärung einer optischen Täuschung verhindert die Annahme eines unzuverlässigen Erzählers, der aus anderen Poe-Erzählungen bekannt ist35 –, aber es befriedigt ihn nicht: Der bedrohliche Eindruck, den die phantastische Sphinx hinterlassen hat, bleibt bis zum Schluss präsent.36 Der selbstbewusste Gestus des Gastgebers wirkt aufgesetzt, erst recht, wenn man dessen anfängliche Schilderung durch den Erzähler in Erinnerung ruft: My host was of a less excitable temperament, and, although greatly depressed in spirits, exerted himself to sustain my own. His richly philosophical intellect was not at any time affected by unrealities. To the substance of terror he was sufficiently alive, but of its shadows he had no apprehension. (S. 238)
Die Schatten der Wirklichkeit deuten, wie später bei Ingeborg Bachmann, auf die dunkle Dimension des Rätsels, die ainigma-Tradition, die seit jeher mit dem orakelhaften Sprechen und dem Verlangen nach Wahrheit (“truth”) [vgl. Kap.I.1I.3] in Verbindung steht: A favorite topic with me was the popular belief in omens – a belief which, at this one epoch of my life, I was almost seriously disposed to defend. On this subject we had long and animated discussions – he maintaining the utter groundlessness of faith in such matters – I contending that a popular sentiment arising with absolutely spontaneity – that is to say, without apparent traces of suggestion – had in itself the unmistakable elements of truth, and was entitled to much respect. (S. 239)
Schon in Sophokles’ Tragödie König Ödipus stehen sich Ödipus mit seinem Orakelglauben und Jokaste mit ihrer Konzentration auf beweisbare Fakten gegenüber [vgl. Kap. I.3]. Ähnlich werden bei Edgar Allan Poe zwei Charaktere, der namenlose Gastgeber und der gleichfalls namenlose Gast und Erzähler, konfrontiert, deren hermeneutische Weltzugänge diametral entgegengesetzt sind. Sie
35
Beispielhaft hierfür ist der unzuverlässige Erzähler in The Tell-Tale Heart (1843), der sich gerade durch seine Wahrheitsbeteuerungen zunehmend verdächtig macht und letztlich als der Mörder des Mannes angenommen werden kann, dessen totes Herz er unter den Bohlen des Fußbodens schlagen zu hören glaubt. 36 Dieser Eindruck verstärkt sich bei einem Seitenblick auf die ungefähr zeitgleich entstandene Erzählung The Masque of the Red Death (1842) Edgar Allan Poes, in der es ebenfalls um eine Flucht vor dem allegorisch in Erscheinung tretenden Pest-Tod geht.
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sind als die zwei Seelen des Autors gedeutet worden: “Poe’s emotional and imaginative side versus the coldly intellectual and analytical side of his complex nature”.37 Man könnte sie auch mit zwei unterschiedlichen Rätsellösungsstrategien, der intuitiv-ganzheitlichen und der kombinatorisch-analytischen, bzw. mit zwei Rätseltraditionen, der des ainigma und der des griphos, verbinden. Bei ihnen sind die beiden Fähigkeiten aufgespalten, die Poe im Helden seiner Detektivgeschichten, M. Dupin, vereint sieht: “the creative and the resolvent”.38 Der Erzähler baut auf das epiphanische (Wahrheits-) Moment seiner enigmatischen Erfahrungen: Er spricht von einem unerklärlichen Erlebnis (“an incident so entirely inexplicable”, S. 239), von einer Erscheinung (“phenomenon”, “apparition”, S. 242) und einer Vision, die vollkommen unvermittelt über ihn hereinbricht, genauso schnell wieder verschwindet und eine Zukunftsdeutung impliziert: “for I considered the vision either as an omen of my death, or, worse, as the forerunner of an attack of mania” (S. 242). Sein Gastgeber hingegen verlässt sich auf detailgetreue Beschreibungen, die er genau kombiniert und in Faktenwissen überführt: “‘But for your exceeding minuteness’, he said, ‘in describing the monster, I might never have had it in my power to demonstrate to you what it was’” (S. 243). Mit dem Poeschen Begriff der ratiocination lässt sich dessen Verfahren treffend bezeichnen: Dieser meint einen analytischen, aufklärerischen Zielfindungsprozess, eine Methode des Erschließens durch logische Schlussfolgerung, den Poe in seinen Detektivgeschichten auch ästhetisch produktiv macht39 und als Wesensbestimmung der Gattung Prosa, in Abgrenzung zur Poesie, bestimmt: “But Truth is often, and in very great degree, the aim of the tale. Some of the finest tales are tales of ratiocination”.40 Die tale of ratiocination überlagert in The Sphinx die tale of horror, deren Gegenstand das Imaginäre, Unheimliche ist, das sich gerade nicht rational-teleologisch auflösen lässt.
37
Marks, William S., “The Art of Corrective Vision in Poe’s ‘The Sphinx’”, S. 48. Poe, Edgar Allan, “The Murders in the Rue Morgue”, in: The Complete Works, vol. IV, edited by James A. Harrison, New York 1965, S. 146-192, hier: S. 152. 39 Vgl. hierzu: Creswell, Catherine J., “Poe’s Philosophy of Aesthetics and Ratiocination: Composition of Death in ‘The Murders in the Rue Morgue’”, in: Walker, Ronald G.; Frazer, June M., The Cunning Craft. Original Essays on Detective Fiction and Contemporary Literary Theory, Macomb 1990, S. 38-54. Ratiocination wird hier treffend als eine ästhetisch-hermeneutische Kategorie gefasst, die vom Imaginären nie gänzlich getrennt werden kann: “In truth, ratiocination lies not in the system of logic but in the aesthetics of interpretation” (S. 42). 40 Poe, Edgar Allan, “Twice-Told Tales. By Nathaniel Hawthorne”, in: Thompson, Gary R., The Selected Writings of Edgar Allan Poe: authoritative texts, backgrounds and context, criticism, New York/ London 2004, S. 645-650, hier: S. 647. 38
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Erneut ist die Sphinx Bindeglied, zwischen imagination und ratiocination, zwischen Mythos und Wissenschaft: Sie ist zunächst „Imaginationskatalysator“41 und setzt verdrängte Ängste frei, gilt dann aber als Paradebeispiel neuzeitlichen, enzyklopädischen Wissens, das klar vermessen werden kann. Der Gastgeber, der gerne über verschiedene Punkte spekulativer Philosophie (“various points of speculative philosophy”, S. 242) spricht, womit auf eine Tradition verwiesen wird, die bei Heraklit ansetzt und bei Hegel ihren Höhepunkt erfährt,42 enträtselt den Mythos: Der Name Sphinx wird letztlich reduziert auf die 1758 von Linnaeus identifizierte Insektengattung Sphinx ligustri. Doch selbst in dieser lexikalischen Beschreibung impliziert die Sphinx eine symbolische Zeichenhaftigkeit, stellt ein Abzeichen des Todes dar. Lesbar ist sie allein vor dem Horizont mythischen Wissens, eines Wissens, das sich allen Klassifizierungs- und Identifizierungsversuchen zum Trotz von der dunklen ainigma-Tradition nie gänzlich emanzipiert hat und zur ratiocination nur dort imstande ist, wo imagination vorausgesetzt werden kann.
41
Moers, Walter, „Der Sphinx von Gizeh“, S. 44. Gadamer parallelisiert den Logos des Rätselerfinders Heraklits mit dem Begriff des Spekulativen bei Hegel: Gadamer, Hans-Georg, „ Zur Überlieferung Heraklits“, in: ders., Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999, S. 17-33, hier: S. 17. 42
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Ingeborg Bachmann (Das Lächeln der Sphinx, 1949): Die Sphinx und die Schatten der Aufklärung Vor dem Horizont der Sphinx-Rezeptionen Bacons, Hegels und Poes liest sich Ingeborg Bachmanns (1926-1973) frühe Erzählung Das Lächeln der Sphinx43 (1949), die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in der Wiener Tageszeitung, dem politischen Zentralorgan der Österreichischen Volkspartei, erschienen ist, wie der Versuch einer Remythisierung. Publikationsort und -zeit legen es nahe, die Erzählung als eine literarische Reaktion auf den Nationalsozialismus zu lesen, was in der erst spät einsetzenden, aber seitdem kontinuierlichen Forschungsliteratur durchweg geschehen ist.44 Die geschichtsphilosophische Kontextualisierung fällt dabei unterschiedlich aus: Während Sigrid Weigel das „rationalitätskritische Deutungsmuster“45 von Max Horkheimers und Theodor W. Adornos 1947 in Amsterdam veröffentlichter Dialektik der Aufklärung wiederzuerkennen glaubt, wendet sich Joachim Eberhardt, der in Bachmanns Bibliotheksbestand diesen Band nicht ausfindig machen und auch für die Wiener Österreichische Nationalbibliothek zu jener Zeit nicht eindeutig nachweisen konnte,46 gegen Weigels These einer oppositionellen Haltung Bachmanns im Fahrwasser der Kritischen Theorie. Er vertritt im Gegenteil die Ansicht, Bachmann greife ein „,zeitgeistiges‘ Deutungsmuster des Nationalsozialismus literarisch“ auf und stünde eher unter dem Einfluss konservativer Philosophen wie Dempf und Gabriel, bei denen die 23-Jährige zu dieser Zeit studierte.47
43
Bachmann, Ingeborg, „Das Lächeln der Sphinx“, in: dies.: Werke, Bd. 2: Erzählungen, hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, München/ Zürich 51993, S. 19-22. Die Seitenangaben werden nach dieser Ausgabe direkt im Fließtext angegeben. 44 Im Septemberheft der schweizerischen Kulturzeitschrift du des Jahres 1994, das sogar nach ihr benannt ist, wird die Erzählung wiederveröffentlicht und von Sigrid Weigel interpretiert. Zuvor ist sie, wie die anderen Erzählungen aus der Serie für die Wiener Tageszeitung, weitgehend unbeachtet geblieben, vgl. hierzu: Eberhardt, Joachim, „Es gibt für mich keine Zitate“. Intertextualität im dichterischen Werk Ingeborg Bachmanns, Tübingen 2002, S. 91-104, hier S. 91 (zu den wenigen Ausnahmen dort Fußnote 29). 45 Weigel, Sigrid, „Am Anfang eines langen Weges. Urszene einer Poetologie“, in: du 641. 9 (1994). THEMA: Ingeborg Bachmann. Das Lächeln der Sphinx, S. 20-23, hier S. 23. Vgl. auch dies., „,Kein philosophisches Staunen‘ – ,Schreiben im Staunen‘. Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur nach 1945: Benjamin, Adorno, Bachmann“, in: DVjs 70 (1996), S. 120-137, hier: S. 133. sowie dies., Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999, besonders S. 74-81. 46 Eberhardt, Joachim, „Es gibt für mich keine Zitate“, S. 101. 47 Ebd., S. 104.
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Auch in ihrem Gleichnischarakter wird Bachmanns immer wieder als Parabel kategorisierte Erzählung unterschiedlich bewertet: Empfinden die einen das Gleichnishafte als übertrieben und bemüht,48 so rühmen andere die klare „Botschaft der parabolischen Erzählung“,49 die als Herrschaftskritik entschlüsselt wird. Oft wird auf der Darstellungsebene der Erzählung folglich das beobachtet, wogegen diese sich auf der Inhaltsebene sträubt: das Suggerieren klarer hermeneutischer Lösungsangebote. Letztere werden in eindeutige geschichtsphilosophische oder geisteshistorische Aussagen ,übersetzt‘, in eine, mit Bacon, „Belehrung und Offenbarung“ (docendi ratio), worin sie dem mythenallegorischen Verfahren Bacons nicht unähnlich sind. Mit der Rätselerzählung über die Sphinx wird folglich ähnlich verfahren wie mit dem Rätsel der Sphinx: Sie wird auf ihre hermeneutisch-alteritäre oder ludistisch-heuristische Dimension [Kap. I.4, Funktionen (4) und (5)] reduziert. Das Rätsel, das die Sphinx als eine hermeneutische Grenzfigur mit poetologischen und metamythologischen Implikationen selbst darstellt und dadurch möglicherweise auf andere, frühere Rätselfunktionen zurückverweist [Kap. I.4, Funktionen (1)-(3)], bleibt zumeist unberücksichtigt.50 Dabei könnte ein wesentlicher Reiz der Erzählung gerade darin liegen, dass es sich bei der Bachmannschen Sphinx nicht, wie noch bei Hegel, um einen Symbolträger handelt, bei dem Zeichen und Bezeichnetes eindeutig voneinander separiert werden können. Letzteres suggeriert allerdings die literaturwissenschaftliche Zuweisung der Erzählung zur Parabel, „eine[r] ,hermeneutische[n]‘ Gattung“:51 Sie hält ein „hermeneutisches Verfahren aufrecht […], in dem mit der vehementen Sinnforderung als dominantem Vorurteil des Lesers der Widerstand der Texte rigoros gebrochen wird“.52 Selbst die moderne Parabel treibe nämlich, so Theo Elm, lediglich ein Spiel mit ihrer „vermeintlichen
48
Vgl. z. B. Albrecht, Monika; Göttsche, Dirk (Hg.), Bachmann Handbuch. Leben-WerkWirkung, Stuttgart 2002, S. 107 f. 49 Eberhardt, Joachim, „Es gibt für mich keine Zitate“, S. 100. 50 Sigrid Weigel betont immerhin, dass „die Erzählung das Muster einer Parabel überschreitet“ und verweist auf den „mythische[n] Rest“, kommt aber dennoch zu dem klaren Fazit, dass es sich um „ein Stück literarischer Zivilisationskritik“ handle, „also [um] eine Aufklärung über die Aufklärung“ (Weigel, Sigrid, „,Kein philosophisches Staunen‘ – ,Schreiben im Staunen‘“, S. 134/ 135). Eine Ausnahme ist der Aufsatz von Lubkoll, Christine, „Schattenrätsel. Mythos als Aufklärung in Ingeborg Bachmanns Das Lächeln der Sphinx“, in: Malinowski, Bernadette; Wesche, Jörg; Wohlleben, Doren (Hg.), Fragen an die Sphinx, S. 229-239. Lubkoll interpretiert die Sphinx als „Garantin des mythischen Erzählens in der Moderne“ (S. 236) und verweist gerade auf die Dunkelstellen im Text, „die das Fragen provozieren und die im Text aber als Aporien bestehen bleiben“ (S. 237). 51 Vgl. das Kapitel „Parabel – eine hermeneutische Gattung“ in: Elm, Theo, Die moderne Parabel. Parabel und Parabolik in Theorie und Geschichte, München 1991, S. 82-90. 52 Ebd., S. 8.
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Rätselhaftigkeit“: „denn auch die heutige literaturwissenschaftliche Parabelforschung zeigt jedenfalls, daß die moderne Parabel immer noch mit dem von ihrer traditionellen Vorform repräsentierten Verstehensmodus rezipiert wird“.53 Ingeborg Bachmanns Das Lächeln der Sphinx dekonstruiert hingegen eine solch hermeneutische Parabelstruktur mit „Sinnfindungszwang“:54 An Schlüsselstellen entschlüsselt sie nicht – sie verrätselt neu. Anstatt eine klare Antwort zu liefern, inszeniert die Sphinx mit ihren Fragen die Fragwürdigkeit des Fragens poetisch. Nicht das Rätsel der Sphinx behält, wie der Titel und der Schlussabsatz zeigen, das erste und letzte Wort, sondern ihr sich jeglicher Hermeneutik widersetzendes, vorlogisches Antlitz: Das Lächeln der Sphinx.55 Daher soll im Folgenden auf diejenigen dunklen Stellen des Textes eingegangen werden, die Bedeutungsschichten des Rätsels erahnen lassen, welche gerade nicht auf das an der Textoberfläche zwischen der Sphinx und dem Herrscher verhandelte Frage-Antwort-Spiel zurückführbar sind. Weniger das griphos, das verfängliche Netz, auf dessen Tradition möglicherweise mit der Wendung „eine Falle in der Formulierung des Rätsels“ (S. 20) angespielt und das mit dem, allerdings allzu frühzeitigen „Triumph“ des Herrschers (S. 21) ausgespielt wird, steht demnach im Mittelpunkt, sondern vielmehr das ainigma, das zu einer Textstrategie wird, welche der hermeneutischen Falle des griphos selbst eine Falle stellt. Dieses ,Dunkle‘, altgriech. σκοτεινόϛ, etymologisch verwandt mit nhd. ,Schatten‘ [vgl. Kap. I.2], das keineswegs ein bloßer Gegenpol zum Hellen ist, sondern letzteres mitunter erst wahrnehmbar macht, wird in Bachmanns Erzählung gleich zu Beginn durch das Bild des Schattens thematisch. Nicht die Negativität und Defizienz des Schattens stehen hier im Vordergrund, eine in der europäischen, lichtzentrierten Geistesgeschichte dominierende Perspektive, sondern seine erkenntnisstiftende und phantasiefördernde Funktion, die den Übertritt in eine imaginäre Positivität erst ermöglicht. Denn der Schatten, eine der beliebtesten Metaphern der Nachkriegsjahre, vollzieht eine Kippbewegung zwischen Realem und Imaginärem: Er irrealisiert das Reale, indem er einen Gegenstand in eine flüchtige zweidimensionale Figur übersetzt, und realisiert zugleich das Imaginäre, dadurch dass er die Lichtquelle, die ansonsten zwar präsent ist, sich aber nicht zeigt, ins Bewusstsein rückt. Der Herrscher, der selbst ein von Angst Beherrschter ist („die Bedrohung kam von oben, von unausgesprochenen Forderungen und Weisungen, denen er folgen zu müssen glaubte und die er nicht
53
Ebd., S. 84. Ebd., S. 8. 55 Vgl. hierzu auch: Wohlleben, Doren, „Rätsel und Literatur. Ethische Perspektiven einer hermeneutischen Grundfigur“, in: Butzer, Günter; Zapf, Hubert (Hg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. IV, Tübingen/ Basel 2009, S. 131-148, besonders S. 143-148. 54
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kannte“, S. 19), wird von einem ihn beunruhigenden, aber für ihn zunächst unsichtbaren Schatten in Kenntnis gesetzt. Um diesen „bekämpfen zu können“, so meint er, müsse er ihn „anrufen und ins Leben zwingen“ (S. 19), sprich Imaginäres realisieren. Mittels der rituellen Kulturpraxis einer Anrufung will er den Schatten präsentifizieren, ins Leben zwingen, was an die kosmogonischmagische Rätselfunktion [vgl. Kap. I.4, Funktion (1)] erinnert: In einem, mit Jan Assmann, interventionistischen Sprechakt, der Wirklichkeit nicht nur schafft, sondern verändernd in sie eingreift, denkt der Herrscher das Transzendente – in diesem Fall eine unheilvolle, als Bedrohung empfundene Schattenmacht – auf verborgene Weise anwesend.56 Wie schon bei Bacon, erscheint die Sphinx als säkularisierte Nachfolgerin antiker Musen, die ihre inspirierende Wirkung ebenfalls erst zu entfalten vermögen, nachdem sie angesprochen worden sind. Medium der Magie des Herrschers ist auch hier die mündliche Sprache, die Anrufung eines Gegenübers, das erst durch die Anrede vergegenwärtigt und zum Dialogpartner wird. Doch entzieht sich letzterer zunächst einer analytischen Identifizierung, begegnet als Rätsel. Und dieses Rätsel lässt sich eben nicht, wie noch bei Hegel, als fraglose Einheit von Zeichen und Bezeichnetem begreifen. Denn vom Schatten, dem Zeichen, kann zunächst keineswegs auf die Gestalt, das Bezeichnete, geschlussfolgert werden: „es war schwer, von ihm [dem Schatten, D. W.] auf die Gestalt zu schließen, die ihn vorausschickte, weil er zu groß war, um mit einem Mal ins Auge treten zu können“ (S. 19). Der amorphe Schatten verweigert sich aufgrund seiner Monumentalität dem rationalistischen Blick: Er wird erfahren, tritt aber nicht ins Auge, bleibt also reiner Signifikant. In seinem Wahrnehmungsprozess muss der Herrscher dieselben Stadien durchlaufen, die Hegel als historische Stufen des Geistes beschrieb: vom „ungeheuren Tier“ zu einem anthropomorphisierten Wesen mit „platte[m], breite[m] Gesicht“ (S. 19), bis hin zur geistig durchdrungenen Figur der Sphinx: „Der König hatte die furchteinflößende, seltsame Sphinx erkannt […]“ (S. 19). Kurz darauf fordert er sie mit einer Gebärde – nicht mit Worten – zum Fragen heraus: „Er öffnete also zuerst den Mund und forderte sie heraus, ihn herauszufordern“ (S. 19). Die Bachmannsche Sphinx stellt, anders als die thebanische [vgl. Kap. I.3] und in Analogie zu den Rätselmärchen, z. B. zum Hirtenbüblein der Brüder Grimm (KHM Nr. 152), drei Fragen, wobei grammatikalisch bei den ersten beiden gar keine Fragen, sondern allenfalls Fragehandlungen vorliegen. Inhaltlich handelt es sich bei allen dreien um kosmologisch-anthropologische Wissensfragen, die das zu erforschen auffordern, was ,in‘, ,auf‘ und ,über‘ der Erde, respektive ,im‘ Menschen ist. „Die Antworten“, so Eberhardt, „beruhen folgerichtig auf Strategien der Wissensproduktion, die als positivistisch-empiristische charakteri-
56
Assmann, Jan, „Magie und Religion im Alten Ägypten“, in: ders.; Strohm, Harald (Hg.), Magie und Religion, München 2010, S. 23-43, hier: S. 41.
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siert sind, als Messen, Formeln Erstellen usw.“.57 Doch selbst wenn dies auf die Antworten zutreffen mag, entstammen die Fragen der Sphinx in ihrer bildhaften Rede einer vorrationalistischen, voraufklärerischen Zeit: „Das Innere der Erde ist unserem Blick verschlossen“ (S. 19), lauten die ersten Worte der Sphinx, die an ein Mysterium (griech. µυεῖν: ,sich schließen‘) denken lassen, was durch den späteren Begriff der „Geheimnisse“ (S. 20) noch unterstützt wird. Auch die durch Alliteration poetisch stilisierte Formulierung des „Feuers“ und der „Festigkeit“ der Erde (S. 20) erinnert eher an die vorsokratische Naturphilosophie, wenn nicht gar an Schöpfungslieder [vgl. Kap. I.1, I.2], als an neuzeitliche „Strategien der Wissensproduktion“. Zwar ruft die Sphinx explizit den Herrscher dazu auf, „hinein[zu]sehen“ und die Dinge zu entbergen (S. 20), knüpft aber implizit durch ihren mystischen Wortgebrauch an die hermetisch-esoterische Rätselfunktion an, bei der sich „[d]as Innere“ ebenfalls unserem „Blick“ entzieht [vgl. Kap. I.4, Funktion (2)]. Ihrer magischen Dimension geht die Fragestellerin Sphinx auch dann nicht verlustig, wenn sie durch wissenschaftlich akribische, perfekt anmutende Antworten vermeintlich überführt wird, bleibt sie doch „das [nur!] beinahe entzauberte Ungeheuer“ (S. 20). Ihre zweite Frage, die von der Erzählerstimme lediglich indirekt wiedergegeben wird, lässt formal jegliche Rätselhaftigkeit vermissen („unmißverständlich und einfach im Wortlaut“, S. 20), kann aber inhaltlich, indem sie nach der „Erde“ und ihren „Sphären“ fragt, wiederum als kosmologisch klassifiziert werden. Sowohl die kosmologisch-magische als auch die hermetisch-esoterische Rätselfunktion bilden demnach wichtige Bedeutungsdimensionen des Textes [vgl. Kap. I.4, (1), (2)]. Und sie sind keinesfalls allein auf der Seite der Sphinx zu verorten: Der Herrscher, der bereits die Sphinx in einem rituell magischen Sprechakt herbei beschworen hat, versteht sich zudem auf esoterische Praktiken, wenn er auf die dritte und letzte Frage der Sphinx hin, was in den Menschen sei, die er beherrsche, „in geheimen Sitzungen Gedanken unterbreitete, deren Inhalt niemand weiter mitgeteilt wurde“ (S. 21). Wo der antike Ödipus in einem, mit Hegel, Akt der Selbstbewusstwerdung die klare Antwort „Der Mensch“ gibt und die Menschheit damit von ihrem tierisch unbewussten, vorgeistigen Dasein erlöst, bedient sich der moderne Herrscher Verschleierungstechniken, die auf den „Inhalt“ lediglich noch verweisen, ihn erfahrbar („wenngleich alle alsbald von den Auswirkungen betroffen wurden“, S. 21), aber nicht mehr begrifflich greifbar machen. Zwar hält auch er vermeintlich an der Idee einer „Offenbarung“ (S. 22), also an einer ,Hermeneutik der Erlösung‘ [vgl. Kap. I.4], fest, die er durch Tilgung jeglicher Fragemöglichkeit sowie durch eine letztgültige Lösung zu erlangen hofft („[a]uch dem König schien es ausgeschlossen, daß noch etwas zu fragen blieb“, S. 20). Doch überführt er diese Sehnsucht nach Erlösung in die grausame Realität einer Endlösung: „er zögerte
57
Eberhardt, Joachim, „Es gibt für mich keine Zitate“, S. 96.
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dennoch nicht, um der Vollständigkeit und Vollkommenheit willen auch die restlichen Männer, die ihm bei der Organisation und der Aufstellung der Guillotinen nützlich waren, zu veranlassen, sich den Maschinen zur übergeben, um die Lösung des Rätsels nicht zu gefährden“ (S. 22). Wie Ödipus bei Francis Bacon seinen intellektuellen Triumph durch einen Gewaltakt, den Mord der Sphinx, überbietet [s.o.], so gibt sich auch der bei Bachmann namenlose König nicht mit der „Lösung des Rätsels“ zufrieden, sondern opfert in einem Vernichtungsakt seine gesamte Gefolgschaft. Die jeglicher endgültigen Lösung inhärente Gewalt wird nirgends so offensichtlich wie in dieser Endlösung. Damit wird die zwangsläufige Antwortlogik von (Rätsel-) Fragen einer radikalen Kritik unterzogen: Die Sphinx verweigert die Annahme seiner Antwort und somit auch alle hermeneutischen Deutungsangebote. Stattdessen „bedeutet [sie] ihm durch eine Gebärde“ (S. 22), eine Gebärde, bei der nicht mehr der Logos, sondern das Antlitz spricht [vgl. Kap. I.4, Funktion (3)]: „Über ihr Gesicht trat eine Welle, aus einem Meer von Geheimnissen geworfen. Sodann lächelte sie und entfernte sich, und als der König sich aller Ereignisse besann, hatte sie die Grenzen überschritten und sein Reich verlassen“ (S. 22). Das „Gesicht“ deutet hier gerade nicht auf eine in der europäisch-physiognomischen Tradition dominante Vorstellung von der Lesbarkeit des Anderen. Es bleibt hermeneutisch unzulänglich, lässt sich nicht enträtseln und wurde zuvor schon als „blicklos“ bezeichnet: „Schloß die Sphinx die Lider oder war sie überhaupt blicklos? Vorsichtig suchte der Herrscher in ihren Mienen zu lesen“ (S. 21). Ein Blickaustausch suggeriert immer auch gegenseitiges Verständnis sowie Analysierbarkeit. Schon bei dem ägyptischen Sphinx gilt der blicklose Blick als Zeichen seiner Unnahbarkeit und Undurchschaubarkeit.58 Ein blickloses Gesicht ist ein Antlitz, weder ein Ich noch ein Du, sondern ein Ille, der beunruhigt, indem er sich jeder Erkenntnis entzieht und vorüberzieht [vgl. Kap. III.1, III.3].59 Denn das Lächeln meint kein komplizenhaftes Augenzwinkern, das für gegenseitiges Verständnis einsteht, sondern schreibt die Rätselhaftigkeit in das Gesicht ein, welches dadurch zum Antlitz wird. Jenes Antlitz ist in Erscheinung getreten, ohne, im Sinne eines Phänomens, zu erscheinen. Es war vor seinem Auftauchen als „unausgesprochene Forderung und Weisung“ (S. 19) ebenso gegenwärtig wie nach seinem Verschwinden: Diese temporäre Destabilisierung von routinierten Verhaltens- und Denkweisen („Als sie aber an
58
Vgl. hierzu auch: Botschev, Claudia, „Schizophrenie, die Sphinx der psychischen Erkrankungen. Exkurs über die Rätselhaftigkeit einer Krankheit und deren Hintergründe aus heutiger Sicht“, in: Malinowski, Bernadette; Wesche, Jörg; Wohlleben, Doren (Hg.), Fragen an die Sphinx, S. 261-279. 59 Vgl. hierzu: Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, hg. und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/ München 1983, S. 236-260, hier besonders: S. 251.
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ihrem Mund ein leises Zucken wahrnahmen, erstarrten sie, ohne daß sie zu sagen gewußt hätten, warum“, S. 21), der Einbruch des Anderen, deutet auf eine ethisch-utopische Rätselfunktion, die weit über eine rein hermeneutisch-alteritäre oder gar ludistisch-heuristische hinausweist. Die Grenzüberschreiterin, die zu Beginn der Erzählung als Schatten aus dem Bereich des Imaginären ins Leben gezwungen, realisiert worden ist, wird am Ende wieder irrealisiert: War anfangs ein diffuser Schatten wahrnehmbar, so nun ein sich jeglicher eindeutigen Lösung entziehendes Lächeln. Und wie der Schatten zunächst nicht auf einen Gegenstand angewiesen war, scheint das Lächeln keines Gesichts zu bedürfen: Als ein irritierendes, beunruhigendes Anderes – darauf verweist schon der Titel – bleibt es präsent, auch wenn die Sphinx bereits verschwunden ist und das Reich (des Textes) verlassen hat. Nicht mehr das Sprechen, sondern das Antlitz selbst ist hier zum Rätsel geworden, zu einer Signatur der Moderne, die sich ihrer Signifizierbarkeit längst entledigt hat [vgl. Kap. III].
II
Rätsel und obscuritas: Das Rätsel als aufklärerische Dunkelstelle
Während im Mittelalter das Augustinische Erkenntnismodell mit seiner Hoffnung auf die unmittelbare Evidenz einer transzendentalen Wirklichkeit und somit auf die einstige Enträtselung der Welt1 weithin trägt, gerät es zum Beginn der Frühen Neuzeit in eine Krise und rückt die Rätselhaftigkeit der Zeichen selbst ins Bewusstsein. Hierdurch kommt es zu einer Dynamisierung des Rätsels, dessen Prozesscharakter die Bezogenheit auf eine Anfänglichkeit wie auch auf eine Endgültigkeit, sei es eine kosmogonische oder eine eschatologische, in den Hintergrund treten lässt. Die Bewegungsrichtung des Rätsels beginnt sich von einer Vertikalen (,Hermeneutik der Erlösung‘) hin zu einer Horizontalen (,Hermeneutik der Auflösung‘) zu verlagern [vgl. Kap. I.4]: Weniger die Offenbarung als vielmehr deren stetige Verrätselung bildet von nun an den Fokus der Aufmerksamkeit. Hierbei erhält die einst rhetorische Kategorie der obscuritas, der Dunkelheit, als deren Extremform das Rätsel (lt. aenigma) gilt und die im Anschluss an Paulus, vor allem aber an Augustin (354-430) zu einem Begriff der christlichen Bibelexegese avancierte, eine autonome Qualität. Sie bezeichnet schon in der Antike keine absolute ,Dunkelheit‘, sondern eine dämmrig-fahle Erscheinung, die einen endlichen Prozess der Erhellung und Aufklärung provoziert [vgl. Kap. I.2]. In der Philosophie der Frühen Neuzeit gewinnt sie als hermeneutisches Verfahren an Bedeutung und wird unter anderem in mythenallegorischen Schriften literaturästhetisch fruchtbar gemacht. Die obscuritas wird von der Auslegung heiliger Schriften auf die Dichtung übertragen und verteidigt, wofür die Mythenallegoresen Giovanni Boccaccios (1313-1375) oder Francis Bacons (1561-1626) einschlägige Beispiele sind [vgl. Kap. II.3]. Anstatt die (göttliche) Wahrheit direkt aufzusuchen, gilt es, mit Nikolaus von Kues, eine aenigmatica scientia zu entwickeln, die einen endlosen Weg zu ihr bahnt. Das Rätsel ist hier nicht mehr lediglich Mittel zum Zweck einer menschlichen oder gar gottähnlichen Erkenntnis, sondern wird zur wissenschaftlichen Methode und
1
Dies bedeutet nicht, dass sich die mittelalterliche Literatur auf ein „transzendentales Signifikat“, auf einen „grundlegenden Einheitssinn“ reduzieren ließe, vgl. hierzu: Pfeiffer, Jens, „Dunkelheit und Licht. ,Obscuritas‘ als hermeneutisches Problem und poetische Chance“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 50 (2009), S. 9-42, hier S. 13 f.
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zugleich zur metaphysischen und hermeneutischen Bewährungsprobe. Anders gesagt: Die Hermeneutik selbst wird enigmatisch, indem sich das Verstehen in einem iterativen Prozess oder rationalen Begründungsregress an seine eigenen Grenzen führt. II.1
aenigmatica scientia (Nikolaus von Kues): Rätsel-Bilder-Wissenschaft
Vom Gleichnis: Das Rätselbild als klare Schau in von Kuesʼ De beryllo (1458) – Das Rätsel als Methode – Verrätselung statt Offenbarung An der Scharnierstelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit steht Nikolaus von Kues (1401-1464), auch Cusanus genannt. Er hält einerseits noch an der mittelalterlichen Endlichkeitsdemut fest und steht in der aristotelischen Tradition2 einer philosophischen Suche nach dem absoluten Anfang (absolutum primum principium, De ber. 9, 17),3 dessen Negativität er betont und als dunkel (obscurum) bezeichnet (De ber. 53, 11). Andererseits anerkennt er aber die nicht mehr beschränkbare Dynamik des menschlichen Wissensdranges, eines Wissens, das sich der Unerreichbarkeit seines Erkenntniszieles bewusst ist und die Nicht-Wissbarkeit (docta ignorantia) göttlicher Wahrheit zum Inhalt hat. Letztere sei, so von Kues in Anlehnung an das Paulus-Zitat aus dem 1. Korintherbrief 13, 12, nur noch durch den Spiegel in einem gleichnishaften Rätsel-Bild (per speculum in aenigmate, De ber. 9, 16) präsent. Das Gleichnis, das bei von Kues zum Vehikel der enigmatischen Methode wird, bildet eine Grundstruktur des spekulativen Erkennens: „Die Erfahrung des Gleichnisseins und das Hervorbringen der Rätselbilder sind die Substanz der spekulativen Philosophie. Die Erfindung von Gleichnissen als anschaulichen Leitfäden gehört zum Spiel der spekulativen Darstellung“.4 Vom Gleichnis: Das Rätselbild als klare Schau in von Kuesʼ De beryllo (1458) Die Idealform von Rätselbildern sieht Nikolaus von Kues in mathematischen Figuren verkörpert: An diesen geistimmanenten Gebilden, die bei ihm zum Nichtseienden werden, sei ein Erscheinen der Wahrheit noch möglich. Nur
2
Vgl. z. B. Arist., Met. 982b 7-9. Cusa, Nicolai de, De beryllo/ Über den Beryll, lt./dt., hg. v. Karl Bormann, Hamburg 1977. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden mit dem Kürzel De ber. direkt im Fließtext unter Angabe der Abschnittsnummer und Zeilenzahl zitiert. 4 Jaspers, Karl, Nikolaus Cusanus, München 1964, S. 46. 3
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medio aenigmatico (Idiota de sap. 47, 4),5 mittels sinnlicher Rätselbilder, komme es in dieser Welt zu einer Schau Gottes, der sein Geheimnis den Menschen in sinnfälliger Gestalt mitteile. Ex aenigmate ad visionem (De ber. 1, 14), vom Rätselbild zur Schau, ist die Bewegungsrichtung, die von Kues weist. Denn das Universum göttlicher Schöpfung werde durch das Universum menschlicher Konzeption überhaupt erst zugänglich gemacht. Schon in der Leser-Anrede im ersten Satz der Schrift De beryllo steht das vermeintliche Oxymoron, dass durch die dunkle Rätselrede klar (clare) gesprochen werde. Dieser die antike Rhetorik, in der die perspicuitas/ claritas und die obscuritas diametrale Pole darstellen, desavouierende Topos wiederholt sich im Folgenden mehrfach:6 Damit ich dem Leser möglichst klar einen Begriff hiervon vermittle, will ich daher einen Spiegel und ein Rätselbild an die Hand geben, mit dem sich die schwache Vernunft eines jeden an der äußersten Grenze des Wißbaren helfen und leiten kann. (Unde ut quam clare legenti conceptum depromam, speculum et aenigma subiciam, quo se infirmus cuiusque intellectus in ultimo scicilium iuvet et dirigat […].) (De ber. 1, 4-7)
Die veranschaulichende Kunst, sei es die mathematische oder die philosophischpoetische, ahmt im Rätselgleichnis die Natur nach, kann aber niemals zu deren Genauigkeit vordringen. Nichtsdestotrotz bleibt sie der einzige Weg dorthin. Zu Beginn seines Spätwerks De beryllo (1458), das von Kues für didaktische Zwecke an seine Mönchsfreunde vom Tegernsee schrieb, um ihnen zentrale Konzepte seiner philosophischen Werke zu veranschaulichen, führt er im titelgebenden Gleichnis die Funktionsweise des Gleichnisses performativ vor. Über den Beryll heißt es dort: Der Beryll ist ein glänzender, weißer und durchsichtiger Stein. Ihm wird eine zugleich konkave und konvexe Form verliehen, und wer durch ihn hindurchsieht, berührt zuvor Unsichtbares. (Beryllus lapis est lucidus, albus et transparens. Cui datur forma concava pariter et convexa, et per ipsum videns attingit prius invisibile.) (De ber. 3, 1-3)
Der Beryll dient als eine Art Brille, durch deren konkav-maximale und konvexminimale Form man bislang Unsichtbares sieht. Er stellt ein enigmatisches Sinn-
5
Cusa, Nicolai de, Idiota de sapientia/ Der Laie über die Weisheit, lt./ dt., hg. v. Renate Steiger, Hamburg 1988, unter Angabe der Abschnittsnummer und Zeilenzahl. 6 Z. B. auch De ber. 13, 14 f.: et quaeque circa hoc vides clare in aenigmate figurari (und alles diesbezügliche siehst du klar im Rätselbild dargestellt).
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bild für die Koinzidenzmethode7 dar, die von Kues in all seinen Schriften seit 1438 unter dem Leitbegriff der coincidentia oppositorum entwickelt hat. Und diese Koinzidenzbrille wird zum Medium, mit Hilfe dessen der Mensch in den gleichnishaften Rätseln (aenigmata) deren geistiges Urbild ersehen kann. Das Rätsel als Methode Das auf Gleichnisse zurückgreifende Rätsel (aenigma) wird bei Nikolaus von Kues also zur Methode, zum menschlichen Erkenntnisvollzug. Infolge dessen versteht sich die Philosophie als ein „Rätselraten“8 und vollzieht sich als aenigmatica scientia (De ber. 7, 13), als Rätselbilderwissenschaft:9 Sie versucht, die sinnenfällig offenbare Wirklichkeit der Welt gleich einem Rätsel zu entschlüsseln, indem sie das darin verborgene Geheimnis des göttlichen Geistes entdeckt. Anders als Plato, auf dessen Gleichnismethode von Kues explizit rekurriert (De ber. 27, 1-7), betont er die Disproportionalität (improportionabilitas) der Wahrheit zu ihren gleichnishaften Vermittlungsgestalten; auch ist entgegen des Platonischen Sonnengleichnis-Modells ein Ende der Rätselgleichnisse nicht absehbar (aenigmatum nullus est finis; Trialogus de possest, 58, 3).10 Denn kein Rätselgleichnis (aenigma) trifft so nahe zu, dass es nicht immer noch ein näheres gibt, so dass die Geheimnishaftigkeit des Geoffenbarten stets bestehen bleibt. Nur mittels des Rätsels findet also eine Annäherung an die Wahrheit statt, die durch das Rätsel zugleich verunmöglicht wird: Das Rätsel ist ein Rätsel der Wahrheit, einer Wahrheit, die – so die zunächst paradox erscheinende Denkform – in keinem Rätselbild darstellbar ist. Und genau dies sei das Wesen der aenigmatica scientia, der Rätselbilderwissenschaft: Und das ist die Wissenschaft, die sich des Rätselbildes bedient. Er [der Mensch, D. W.] hat aber einen sehr scharfen Blick, mit dem er sieht, daß das Rätselbild ein
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Die Koinzidenzmethode, der Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum), ist ein neuartiges Verfahren, nicht nur ein theologischer Gegenstand. Sie besteht darin, von jeder Größe das Maximum und das Minimum zu bilden und beide – durch die Winkelbetrachtung geleitet – so lange gedanklich zu verfolgen, bis das Maximum mit dem Minimum zusammenfällt und das Prinzip durch diesen Zusammenfall hindurch betrachtet werden kann. 8 Thurner, Martin, Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues, Berlin 2001, S. 188. 9 Zur aenigmatica scientia vgl. ebd., S. 163-188, zum Übersetzungsvorschlag ,Rätselbilderwissenschaft’, S. 164. 10 Cusa, Nicolai de, Trialogus de possest/ Dreiergespräch über das Können-Ist, lt./ dt., hg. v. Renate Steiger, Hamburg 1991 unter Angabe der Abschnittsnummer und Zeilenzahl.
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Rätselbild der Wahrheit ist, so daß er weiß, daß dies die Wahrheit ist, die nicht in irgendeinem Rätselbild darstellbar ist. (Et haec est aenigmatica scientia. Habet autem visum subtilissimus, per quem videt aenigma esse veritatis aenigma, ut sciat hanc esse veritatem, quae non est figurabilis in aliquo aenigmate.) (De ber. 7, 13-16)
Der „Geist der Wahrheit“ stamme nämlich nicht von dieser Welt, so schreibt von Kues an einen jungen Mönch namens Nikolaus Albergati 1463, ein Jahr vor seinem Tod: Bedenke, daß wir in dieser Welt durch Gleichnisse und Rätselbilder wandeln, weil der Geist der Wahrheit nicht von dieser Welt ist, und auch nur insofern von ihr gefaßt werden kann, als wir durch Gleichnisse und Symbole, die wir als solche erkennen, zum Unerkannten emporgerissen werden.11
Verrätselung statt Offenbarung Die mit Gleichnisbildern operierende aenigmatica scientia ist bei von Kues demnach zunächst einmal offenbarungsphilosophisch konzipiert. Sie ist eine Weise menschlicher Gotteserkenntnis, welche die inkommensurable Differenz Gottes, der allein im enigmatischen Wesen des Seienden erkennbar wird, zu dem endlichen Erkenntnisvermögen des Menschen bewusst hält. Doch kehrt von Kues die christliche Rede von der ,geheimen Offenbarung‘ in ein ,offenbares Geheimnis‘ um12 und verschiebt so die Gewichtung weg von der Offenbarung hin zum Geheimnis. Dem Rätsel weist er hierbei eine ganz entscheidende Rolle zu: In ihm offenbart sich das wesenhafte Geheimnis Gottes als solches. So integriert von Kues die platonische Tradition der Gleichnisspekulation in die enigmatische Methode der Gotteserkenntnis und erweitert sie zugleich um die in dieser Welt stets anhaltende Geheimnishaftigkeit des Offenbarten. Einerseits steht von Kues also noch in einer Tradition der ,Hermeneutik der Erlösung‘, indem er die Rätsellösung, die er mit Wahrheit gleichsetzt, im göttlichen Jenseits verortet, auf die im Diesseits nur hingearbeitet werden kann. Der Text als Offenbarungsgeschehen bleibt als Relikt in der Rede von der Wahrheit erkennbar. Andererseits legt er elementare Grundsteine für eine ,Hermeneutik der Auflösung‘, da er das Rätsel nicht mehr mit dem (göttlichen) Text selbst
11
Brief an Nikolaus Albergati nebst der Predigt in Montoliveto (1463), hg. und im Zusammenhang mit dem Gesamtwerk erläutert von Gerda von Bredow, Heidelberg 1955, S. 48. 12 Vgl. Thurner, Martin, Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues, S. 16.
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gleichsetzt, sondern als menschliche Methode, als Textwissenschaft entwirft: Diese Textwissenschaft hat Rätselreden nicht nur zum Gegenstand, sondern muss sich ihrer selbst bedienen. Nur im Verrätselungsgeschehen, bei der jede Deutung als Deutung selbst fragwürdig wird, hat der Text Bestand. Die Erkenntnis ist immer schon in der Erkenntnis der Erkenntnis aufgehoben und verbietet jegliche Endgültigkeit. Alles was gesagt werden kann – und das gilt für die Kabbala-Tradition des 11. Jahrhunderts gleichermaßen wie für zentrale Positionen des Poststrukturalismus – ist nur noch im Rätsel, als Spur möglich. Dies trifft auch auf das Gleichnis zu, das bei von Kues, so Karl Jaspers in seiner Monographie Nikolaus Cusanus (1964), zu einer allumfassenden Denkform avanciert. Beinahe glaubt man Franz Kafkas Gleichnis Von den Gleichnissen (vermutl. 1922/23) mit herauszuhören, wenn die Rede vom Gleichnis nur noch im Gleichnis möglich ist: Nun aber der letzte Schritt, den Cusanus nicht ausdrücklich mitteilt: Daß wir, das spekulative Denken und das Erscheinen der Dinge deutend, von Gleichnissen sprechen, das ist selber ein Gleichnis. Wir können uns nicht entziehen: Wenn alles, was ist, und was wir vorstellen und denken, ein Gleichnis ist, dann ist diese Aussage wieder ein Gleichnis. Erst dieses das gesamte Gleichnisdenken recht erfassende Denken, das nicht im Wissen des Gleichnisses sich verfestigt, bringt in die vollendete Schwebe, in der wir uns frei in allen Weisen des Gleichnisseins bewegen. Solange aber gesprochen wird, bleibt ,Gleichnis‘ ein letztes Wort.13
Das „Am Anfang war das Wort“ (Joh. 1,1) wird hier zu einem ,Am Ende war das Rätselwort‘ transponiert. Das aenigma – versinnbildlicht im Gleichnis – stellt im Cusanischen, noch stets theozentrischen Denken einen Weg dar, der sich in einem iterativen Prozess selbst zum Ziel wird.
13
Jaspers, Karl, Nikolaus Cusanus, S. 47.
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II.2
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Rhetorik, Pragmatik und Ästhetik des Rätsels in der Frühen Neuzeit
Das Rätsel als Textsorte und als rhetorische Trope – Das Rätsel als dunklere Allegorie in Quintilians Institutio oratoria (95) und Philipp Melanchthons Elementa Rhetorices (1531) – Vom ainigma zum ainos: Die narrative Rätselstruktur in Iulius C. Scaligers Poetices Libri Septem (1561) Das Methodenbewusstsein, das in der aenigmatica scientia des Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert zu beobachten war, erstarkt im 17. Jahrhundert. Infolgedessen nimmt die Hermeneutik wissenschaftstheoretisch immer seltener Bezug auf die Rhetorik.1 Zwar bildet die Rhetorik als Kunst des guten Sprechens (ars bene dicendi) nach wie vor das Vorbild der Auslegung von Texten, der Kunst des guten Lesens (ars bene legendi), wird aber zunehmend auf diese Hilfsfunktion reduziert. Philipp Melanchthon (1497-1560), der „Urheber einer p h i l o l o g i sc h e n P h i l o s o p h i e “,2 ist hierfür beispielhaft. Wilhelm Dilthey charakterisiert ihn als „Mittelglied“, „welches die alten Philosophen und deren Tradition in den mittelalterlichen Schriftstellern verbindet mit dem natürlichen System des 17. Jahrhunderts“.3 Indem er „das wiederentdeckte Altertum und die wiederverstandene Offenbarungsreligion“ aufeinander beziehe, bereite er „die geschichtliche Erfassung ihres Verhältnisses in Leibniz und Lessing“ vor.4 Melanchthon betont die allgemeine Nützlichkeit der Rhetorik, Dunkles zu erhellen. Seine eigentliche Aufmerksamkeit gilt nun jedoch der Lesekunst und der hierfür nötigen „Methode“, der Auslegungskunst: Denn niemand ist in der Lage, längere Ausführungen und komplizierte Disputationen geistig zu erfassen, wenn er nicht durch eine Art Kunst unterstützt wird, die ihm die Anordnung der Teile und die Gliederung sowie die Absichten
1
Vgl. hierzu: Gadamer, Hans Georg, Rhetorik und Hermeneutik. Als öffentlicher Vortrag der Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften gehalten am 22.6.1976 in Hamburg, Göttingen 1976. Gadamer zeichnet diese Entwicklung nach und stellt am Beispiel Johann Conrad Dannhauer die neue Bedeutung der Logik (statt bislang der Rhetorik) heraus. Er warnt jedoch davor, die „logische Orientierung der Hermeneutik als die eigentliche Erfüllung der Idee der Hermeneutik anzupreisen“ (S. 15). 2 Dilthey, Wilhelm, „Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert“, in: ders., Gesammelte Schriften. II. Bd.: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, hg. v. Georg Misch, Stuttgart 81969, S. 90-245, darin zu Philipp Melanchthon: S. 162-201, hier: S. 187 (Hervorhebung im Original). 3 Ebd., S. 162. 4 Ebd., S. 170.
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Kapitel II: Rätsel und obscuritas der Sprecher und eine Methode vermittelt, dunkle Dinge auseinanderzulegen und klarzumachen.5
Anhand des Rätsels (lt. aenigma) lässt sich eine derartige Verlagerung von der Rhetorik hin zur Hermeneutik besonders gut aufzeigen. In den frühneuzeitlichen Poetiken ist das Rätsel zunächst lediglich als rhetorische Trope von Relevanz, die wegen ihrer Dunkelheit zu meiden sei. Allmählich gewinnt es als narrativer Modus Bedeutung: Hierdurch erfährt es eine ästhetische Aufwertung, wird aber auch zu einer hermeneutischen Herausforderung. Diese Entwicklung von einer a.) Rhetorik des Rätsels,6 über dessen b.) Pragmatik bis zu einer c.) Ästhetik des Rätsels in der Frühen Neuzeit soll im Folgenden nachgezeichnet werden. a.) Die rhetorischen Bestimmungen des Rätsels basieren im Wesentlichen auf Quintilians antikem Rhetorikhandbuch Institutio oratoria (95 n. Chr.), das 1416 wiederentdeckt und schnell in die frühneuzeitliche rhetorische Methodik und Praxis integriert wurde: Quintilian ordnet das aenigma der antiken Trope der Allegorie (allegoria) zu und wirft ihm – im Gegensatz zum strukturverwandten, aber aufgrund impliziter Deutungshinweise dem rhetorischen Gebot der Klarheit (perspicuitas) gehorchenden Gleichnis (similitudo) – eine allzu übersteigerte obscuritas vor. An jenen antiken rhetorischen Rätselbegriff knüpft noch die Regelpoetik des Barock an, die – vermittelt über Nikolaus Reusners Rätselsammlung Aenigmatographia (1599/1602) – erstmals seit dem Mittelalter wieder ein theoretisches Interesse am Rätsel zeigt. Aus der frühneuzeitlichen Rhetorik beginnt sich alsbald eine neue hermeneutische Tradition zu entwickeln: So sieht Philipp Melanchthon (1497-1560) den eigentlichen Nutzen der Rhetorik, der klassischen ars bene dicendi, im Textverständnis, in der ars bene legendi, wobei sich „die Übermittlung und Aneignung der in den Texten zugänglichen religiösen Wahrheiten vor das humanistische Ideal der Imitation“7 stellt. In der Poetik Iulius C. Scaligers (1484-1558) spielt das Rätsel (aenigma) weniger als rhetorische Trope eine Rolle als ein allegorisches, in fiktionale Strukturen eingebettetes Verfahren. Letzteres benennt Scaliger mit ,Rätselspruch, Gleichnis‘ (ainos) und verweist so stärker auf eine hermeneutische Gattung als auf eine rhetorische Trope. Zugleich macht er, in
5
Corpus Reformatorum, Melanchthon Opera XIII, S. 417 f, zitiert nach: Gadamer, Hans Georg, Rhetorik und Hermeneutik, S. 9. 6 Zu einer Rhetorik der Trope Rätsel vgl. die umfassende und mit vielen Primärzitaten belegte Studie Eleanor Cooks, Enigmas and Riddles in Literature, Cambridge 2006, die zugleich eine Geschichte der Trope Rätsel von der Antike bis in die Neuzeit leistet (S. 27-63), welche hier nur angedeutet werden kann. 7 Gadamer, Hans Georg, Rhetorik und Hermeneutik, S. 8.
Kapitel II: Rätsel und obscuritas
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einer Parallelisierung mit dem griphos, das spielerische Moment des Rätsels, seine ludistisch-heuristische Funktion, stark. b.) Eine Pragmatik des Rätsels lässt sich dort beobachten, wo das Rätsel als Medium für die Geheimhaltung von Wissen oder auch als soziokultureller Ausschlussmechanismus eingesetzt wird: Es transportiert kulturelles Wissen, das unmittelbar weder dargestellt werden kann noch soll. „Verständnisabwehr und Verständnisaufschluss“8 greifen so auch beim Rätsel ineinander. Eine derartige Rätselpraxis ist eng mit dem Hermetismus verwandt, der in der Frühen Neuzeit zu einem zentralen Feld avanciert, „auf dem sich das Selbstverständnis der frühneuzeitlichen Literatur, ihre religiös imprägnierte Metapoetik und ihr wissenshistorisches Fundament erschließen lassen“.9 Die in der jüngeren Forschung ausgiebig untersuchte Hermetik,10 als deren Medium und literaturpraktische Umsetzung die Allegorie betrachtet wird,11 spielt in eine Enigmatik mit hinein, sobald das Rätsel mit Formen des Geheimnisses, dem mysterium oder secretum,
8
Kleinschmidt, Erich, „Denkform im geschichtlichen Prozeß. Zum Funktionswandel der Allegorie in der frühen Neuzeit“, in: Haug, Walter (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, S. 388-404, hier: S. 393. 9 Alt, Peter-André, Imaginäres Geheimwissen. Untersuchungen zum Hermetismus in literarischen Texten der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012, S. 13. 10 Vgl. zur Forschungslage den Forschungsbericht: Neugebauer-Wölk, Monika, „Aufklärung – Esoterik – Wissen. Transformationen des Religiösen im Säkularisierungsprozess. Eine Einführung“, in: dies. unter Mitarbeit v. Rudolph, André (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2009, S. 5-28 sowie Alt, Peter-André, „Hermetismus und frühneuzeitliche Literatur. Zur Forschungslage“, in: ders., Imaginäres Geheimwissen, S. 11-24. Besonders hervorzuheben sind die Studien, die Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle in den letzten 30 Jahren vorlegten und die den Hermetismus sozialgeschichtlich, aber auch rezeptionsästhetisch explizierten, z. B. Telle, Joachim, „Paracelsus im Gedicht. Materialien zur Wirkungsgeschichte Theophrasts von Hohenheim im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Keil, Gundolf (Hg.), Fachprosa-Studien. Beiträge zur mittelalterlichen Wissenschafts- und Geistesgeschichte, Berlin 1982, S. 552573 oder ders., „Der ,Sermo Philosophicus‘. Eine deutsche Lehrdichtung des 16. Jahrhunderts über den Mercurius Philosophorum, in: Friedrich, Christoph; Bernschneider-Reif, Sabine (Hg.), Beiträge zur Pharmazie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Peter Dilg zum 65. Geburtstag, Eschborn 2003, S. 285-309. Sowie Kühlmann, Wilhelm, „Der ,Hermetismus‘ als literarische Formation. Grundzüge seiner Rezeption in Deutschland“, in: Scientia Poetica 3 (1999), S. 145-157 oder ders., „Paracelsismus und Hermetismus: Doxographische und soziale Positionen alternativer Wissenschaft im postreformatorischen Deutschland“, in: Trepp, Anne-Charlott; Lehmann, Hartmut (Hg.), Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2001, S. 11-39. 11 Vgl. hierzu: Alt, Peter-André, Imaginäres Geheimwissen, S. 105-124.
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analogisiert wird.12 In der Figur des Hermes (Trismegistos), der in der Frühen Neuzeit mit dem antiken Übersetzer- und Decodierungsgott Hermes, aber auch mit dem ägyptischen Thot und Mystagogen gleichgesetzt wird, überlagern sich die hermetisch-esoterische und die hermeneutisch-alteritäre Rätselfunktion [vgl. Kap. I.4]. Obscuritas (Dunkelheit) – enger mit dem aenigma verbunden – und curiositas (Neugierde) – stärker mit dem mysterium assoziiert – stehen mit Beginn der Aufklärung, in der das Rätsel zunehmend aus dem religiösmystischen in den kognitiv-epistemischen Bereich übertragen wird, in einem Spannungsverhältnis: Die curiositas entwickelt sich dabei allmählich zur neuen philosophischen Leitkategorie und ,legitimiert‘ die Neuzeit.13 c.) Von einer Ästhetik des Rätsels kann die Rede sein, wenn der literaturästhetische Mehrwert der einst diskreditierten rhetorischen Trope erkannt und der dynamische Wechsel von Verschleiern und Enthüllen spielerisch eingesetzt wird. Die obscuritas ist nun, anders als bei Quintilian, kein rhetorisches Laster (vitium) mehr, sondern ein poetologisches Instrumentarium, das den Leser oder Hörer in der Rolle eines Dialogpartners in den Prozess der Textkonstitution mit einbindet. Als ein modus dicendi löst sich das Rätsel von seiner rein tropischen oder bibelhermeneutischen Verwendung. Es gilt als beispielhaft für ein uneigentliches Sprechen, wobei seine Abgrenzung zum Mythos, zur Fabel, zum Gleichnis oder zur Parabel immer wieder neu verhandelt wird.14 So bildet es eine narrative Struktur, die einerseits noch an traditionell allegorische Ver- und Enträtselungsverfahren anknüpft, andererseits aber den fiktionalen Eigencharakter der Literatur betont. Das Rätsel ist nicht mehr auf einen bloßen abstrakten Begriff, ein einfaches Lösungswort, zurückübersetzbar. Es erzählt vielmehr Geschichten „mit zugleich ästhetischem und weltdeutendem Anspruch“,15 die sich über das Rätsel überhaupt erst konstituieren. Das Rätsel als Textsorte und als rhetorische Trope In zweierlei Kontexten findet der Rätselbegriff in der Frühen Neuzeit Beachtung, erstens als Textsorte, bei der das Lösbarkeitskriterium und damit auch die spielerische Komponente zunehmend an Dominanz gewinnt, sowie zweitens als
12
Zum Verhältnis von aenigma und mysterium vgl. auch: Cook, Eleanor, Enigmas and Riddles in Literature, S. 42. 13 Blumenberg, Hans, Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, dritter Teil, Frankfurt am Main 1973. 14 Vgl. z. B. Zymner, Rüdiger, Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn 1991. 15 Vgl. Kleinschmidt, Erich, „Denkform im geschichtlichen Prozeß“, S. 397.
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rhetorische Trope und narrative Struktur, die an den obscuritas-Diskurs der Antike anschließt und diesen literaturästhetisch nutzbar macht. (1) Als Textsorte und unterhaltsames „Gesprächsspiel“16 erfährt das Rätsel im Barock eine Blüte und wird Teilbestand des „kunstvoll arrangierte[n] Gespräch[s] als Inbegriff elitär-kultivierter Geselligkeit“:17 So erscheint es bereits im ersten Teil von Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächsspiele (1644), der „Keimzelle der Gesellschaft“, wo es heißt, dass derjenige, der die Rätsel „wol aufgelöst“ hat, in der dialogischen Kommunikationssituation von „seiner Einsamkeit entbunden“ werde.18 Harsdörffers gesamtes Werk ist von einer poetologischen Rätseltheorie durchzogen, die es erst noch systematisch zu entdecken gilt.19 Er nimmt schon im siebten Teil des zweiten Bandes seiner Schauplatz-Anthologie, dem Grossen Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte (1650) eine Typologisierung des Rätsels vor: Weil wir diesen siebenden Teil dieses Schauplatzes mit Rähtseln schmücken wollen/ müssen wir bey dem Eingang melden/ daß die Hispanier und Italiener/ welche Gedichte oder Mähren (Novelas) geschrieben/ zu ende derselben jedenmals ein Rähtsel oder tunkle Frage beygesetzet/ deß Lesers Verstand zuüben/ denen wir in diesen/ wie vielen andren Sachen gefolget. Es sind aber der Rähtsel vielerley Arten/ und werden hergenommen: I. Von den Geschichten/ wie Simsons Rähtsel/ und diese sind die schwersten/ benamt Geschicht-Rähtsel. II. Von versetzten Buchstaben/ und diese sind auch nicht leichtlich aufzulesen; Buchstaben Rähtsel genennet.
16
Dieser Ausdruck geht auf Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658) zurück (Harsdörffer, Georg Philipp, Frauenzimmer Gesprächsspiele, I. Teil, hg. v. Irmgard Böttcher, Tübingen 1968), vgl. hierzu auch Tomasek, Tomas, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, S. 13. 17 Kühlmann, Wilhelm, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982, S. 384. 18 Harsdörffer, Georg Philipp, Frauenzimmer Gesprächsspiele, S. 186 f. (bzw. S. 208 f. in neuer Paginierung), vgl. hierzu auch: Schupp, Volker, „Nachwort“, in: ders. (Hg.), Deutsches Rätselbuch, Stuttgart 1972, S. 365-442, besonders S. 412. 19 Werkimmanent ließe sich hier die vielschichtige Überlagerung von aenigma und griphos sowie die allmähliche Verlagerung hin zur heuristisch-ludistischen Rätselfunktion aufzeigen. Wichtige mögliche Ansätze hierfür zeigt auf: Jakob, Hans-Joachim, „,Damit der räthselliebende Leser sich so viel leichter darein finden könne‘. Harsdörffers Rätseltheorie in den Paratexten von Nathan und Jotham“, in: Jakob, Hans-Joachim; Korte, Hermann (Hg.), Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005, Frankfurt am Main 2006, S. 214-226.
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Kapitel II: Rätsel und obscuritas III. Von verblümten Gleichnissen/ Gleichnis-Rähtsel. IV. Von einer tunklen Beschreibung oder gemeine Rähtsel […].20
Harsdörffer reflektiert das Rätsel als Worträtsel, als rhetorische Trope sowie als narrativen Modus und betont jeweils dessen Erkenntnisdimension („deß Lesers Verstand zu üben“). In seinen späteren, mit zahlreichen Rätseln durchsetzten Lehrgedichten Nathan und Jotham (1650/51), in denen die alttestamentliche enigmatische Simson-Figur, die für den poeta doctus Harsdörffer eine Identifikationsfigur darstellt,21 als Bindeglied zwischen dem geistlichen Parabelerzähler Nathan (2. Sam. 12) sowie dem weltlichen Parabelerzähler Jotham (Ri. 9, 7-21) inszeniert wird, unterscheidet Harsdörffer nur noch zwischen zwei Arten von Rätseln: Die ersten zielen auf verborgene Weisheit/ c. s. v. s. und davon sagt das Buch der Weisheit/ daß sie sich verstehe auf verdeckte Wort/ und wisse die Rähtsel aufzulösen/ wie die Probe zu sehen I. Kön. 10. V.3. Davon dann König Salomon gerühmet wird/ daß er die Rähtsel der Königin vom Reich Arabien aufgelöset/ und wird dergleichen von keinem König gelesen/ als von disem/ der von Gott mit der grössten Weisheit begabet worden.22
Und über die zweite Kategorie von Rätseln, die Harsdörffer selbst zu einem wesentlichen poetologischen Bestandteil seiner Werke macht, heißt es: Die andere Art der Rähtsel sind zu erfreulichem Schertze/ und nutzlicher Unterredung erfunden/ den Verstand der Jugend dadurch zu üben; sind also ein Antheil der Gesprächspiele/ wie an seinem Ort sattsam beygebracht worden. Dergleichen nun ist auch im nachgesetzten Anhang befindlich/ und jede Rähtsel durchgehend in vierzeiligen Reimen verfasset.23
20
Harsdörffer, Georg Philipp, Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte. Das Erstehundert, Frankfurt 31653 [Originaldruck eingesehen], S. 183 f. 21 Die Aufwertung Simsons, der seit Augustin als typologische Präfiguration Christi gilt, in den Paratexten Harsdörffers nimmt immer mehr zu und kulminiert im Titelkupfer von Nathan und Jotham, in dem die Simson-Figur vermutlich mit den Gesichtszügen Harsdörffers dargestellt wird, vgl. hierzu: Jakob, Hans-Joachim, „,Damit der räthselliebende Leser sich so viel leichter darein finden könne‘. Harsdörffers Rätseltheorie in den Paratexten von Nathan und Jotham“, S. 222. 22 Harsdörffer, Georg Philipp, Nathan und Jotham: das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte, 2 Bde., Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1659, hg. und eingeleitet von Guillaume van Gemert, Bd. II, Frankfurt am Main 1991, S. 398. 23 Ebd.
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Bei beiden „Arten“ wird das Rätsel als Frage- und Antwortspiel wahrgenommen, bei dem das Lösbarkeitskriterium zum entscheidenden Merkmal wird. Denn das Rätsel knüpft in der Frühen Neuzeit eng an die griphos-Tradition der Antike an, die bereits ein altes Gattungsbewusstsein für das Rätsel als (ungeregelte) Prüfungsfrage erkennen ließ.24 Verbreitung fand es schon mit dem Ausgang des Mittelalters, wenn europaweit die ersten Rätselsammlungen (z. B. Straßburger Rätselbuch, ca.1509, Demaundes joyeuses en manière de quodlibetz, ca. 1500, Book of merry Riddles, ca. 1560) entstehen. Sie sind, angelehnt an humanistische Bildungsideale, zunächst didaktisch orientiert.25 Die Frühzeit des Buchdrucks brachte Auflagen billiger kleiner Rätselhefte mit sich, die der Unterhaltung breiterer Volksschichten dienten. Doch erst im Barock, in dem das Rätselgedicht zu einer geistreichen Programmeinlage bei Hochzeits- und Festgesellschaften wird, gewinnt dieses Unterhaltungs- und Spiel-Kriterium die bis heute anhaltende Dominanz. Es verdrängt allmählich den Gedanken der Dunkelheit (obscuritas), der bis in das späte Mittelalter hinein Signum der Rätseldefinitionsversuche war. Die in der Romantik gegründeten Rätselgesellschaften und die Welle neuer Rätseldichtungen im 19. Jahrhundert, zum Beispiel Friedrich Schillers Parabeln und Räthsel (1803), Johann Wolfgang Goethes Sonett Charade (1807, aus der Sammlung von 1827) oder Friedrich Schleiermachers Räthsel und Charaden (1874), schließen hier an. Von nun an wird die Lösbarkeit anstatt der Dunkelheit zum gattungskonstituierenden Merkmal.26 Im Kontext einer Enigmatik soll dieser in der Forschung am ausführlichsten besprochene didaktische, ludistische und heuristische Strang der Rätselgeschichte nur marginal verfolgt werden. Denn die Enigmatik widmet sich gerade den hermeneutischen Dunkelstellen, also der seit der griechischen Antike27 virulenten obscuritas-Tradition, die nach einer mehrjahrhundertjährigen
24
Die griphos-Tradition lässt sich von der ainigma-Tradition nicht fein säuberlich trennen, soll aber auch nicht mit ihr amalgamiert werden, was in der Renaissance-Poetik beides versucht wurde. Als heuristisches Konstrukt und unterschiedlich perspektivierter Zugriff auf das Rätsel-Phänomen ist diese Differenzierung jedoch durchaus hilfreich, vgl. hierzu kritisch Tomasek, Tomas, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, S. 10 sowie S. 74 f. 25 Zum Rätselbuch vgl. die einschlägige Arbeit von Bismarck, Heike, Rätselbücher. Entstehung und Entwicklung eines frühneuzeitlichen Buchtyps im deutschsprachigen Raum. Mit einer Bibliographie der Rätselbücher bis 1800, Tübingen 2007. 26 Vgl. hierzu: Wohlleben, Doren, „Rätsel“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, hg. v. Friedrich Jaeger, Stuttgart/ Weimar 2009, Sp. 639-642. 27 Vgl. hierzu: Fuhrmann, Manfred, „Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literaturästhetischen Theorie der Antike“, in: Iser, Wolfgang (Hg.), Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966, S. 47-72.
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Latenzperiode bis in den Hermetismus des 20. Jahrhunderts hinein wirksam bleibt [vgl. Kap. III.4].28 (2) Im hiesigen Zusammenhang von sehr viel größerem Interesse ist daher die schon in der Antike reflektierte Bedeutung des Rätsels als rhetorischer Trope, die sich später hin zu einer narrativen Struktur entwickelt. Sie wurde durch Paulus und Augustin zu einem Begriff christlicher Bibelexegese erweitert, offenbarungsphilosophisch verankert und – verschränkt mit dem hermetischen Diskurs der Frühen Neuzeit und dessen Vorstellung eines imaginären Geheimwissens29 – im Sinne von mysterium verwendet: An diesen antiken Tropenkatalog schließt die Regelpoetik des Barock an, die das spätantike rhetorische Konzept der obscuritas, der stilistischen Dunkelheit, fortführt und ein neues theoretisches Interesse am aenigma zeigt. Hierbei wird das Rätsel im Zusammenhang uneigentlicher Rede oder dunklen Sprechens in die strukturelle Nachbarschaft zur Allegorie, zur Parabel oder zum Gleichnis gerückt, erfährt als eigenständige Trope aber wenig Wertschätzung. Während letztere auch in ihrer hermeneutischen Funktion wahrgenommen werden,30 findet das Rätsel meist lediglich als extremer Sonderfall Erwähnung: Es gilt entweder – wegen übergesteigerter
28
Der Begriff des Hermetischen gewinnt nach einer fast zweihundertjährigen Vernachlässigung im literarischen Diskurs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Bedeutung und wird nun auf die ,dunkle‘ Lyrik der Moderne seit Baudelaire bezogen (vgl. hierzu auch Alt, Peter-André, Imaginäres Geheimwissen, S. 23). Das Wort ,hermetisch‘ als Bezeichnung moderner Lyrik findet erstmals in den 1930er Jahren im Kontext der Croce-Schule Erwähnung und wird dort auf das Werk Ungarettis angewandt. Theodor W. Adorno analogisiert in seiner Ästhetischen Theorie (1970) das Hermetische mit literarischer Modernität, definiert es als „[d]ie Abdichtung des Kunstwerks gegen empirische Realität“ (Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 2003, S. 475) und stellt es in die obscuritas-Tradition. Mallarmé gilt ihm als Initiator, Paul Celan als zeitgenössisches Paradebeispiel (ebd., S. 476 f.). In den Lyrikdebatten der 1950er und 1960er wird es, vermittelt durch Hugo Friedrich und Walter Höllerer, zu einem terminus technicus für die Erfassung der literarischen Moderne (zwischen 1890 und 1960). Die Kafka-Rezeption der 50er, 60er Jahre verhalf dem Begriff des ,Hermetismus‘ zur Karriere, vgl. hierzu: Kurz, Gerhard, „Hermetismus. Zur Verwendung und Funktion eines literaturtheoretischen Begriffs nach 1945“, in: Kaminski, Nicola; Drügh, Heinz J.; Hermann, Michael (Hg.), unter Mitarbeit von Andreas Beck, Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyperspace, Tübingen 2002, S. 179-197 [vgl. auch Kap. III.4]. 29 Vgl. hierzu: Alt, Peter-André, Imaginäres Geheimwissen. Untersuchungen zum Hermetismus in literarischen Texten der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012. 30 Vgl. z. B. Elm, Theo, Die moderne Parabel. Parabel und Parabolik in Theorie und Geschichte, Paderborn 1982, S. 82-90 (Kap. „Die Parabel – eine hermeneutische Gattung“).
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obscuritas – als gar nicht oder – wegen der gleich mitgelieferten Antwort – als eindeutig lösbar und somit als rhetorisch wie hermeneutisch uninteressant.31 Das Rätsel als dunklere Allegorie in Quintilians Institutio oratoria (95) und Philipp Melanchthons Elementa Rhetorices (1531) Basisbildend für die frühneuzeitlichen Definitionsversuche des aenigma ist die antike Rhetorik Quintilians, die Institutio oratoria (95 n. Chr.),32 die in ihrer Differenziertheit auch Züge einer literaturästhetischen Schrift aufweist. Quinitilian (35-96) zufolge entsteht das Rätsel aus einer dunklen, zur Unverständlichkeit übersteigerten Allegorie. Die Allegorie, als metaphora continua lediglich quantitativ von der Metapher separiert, charakterisiert Quintilian durch eine Inversionstechnik (inversio) sowie durch eine Diskrepanz (aliud… aliud) zwischen Wortlaut (verba) und Sinn (sensus): Άλληγορία quam inversionem interpretantur, aut aliud verbis, aliud sensu ostendit, aut etiam interim contrarium (VIII, 6, 44). Von der Allegorie, unter die Quintilian im letzten Teil seiner Definition (aut etiam interim contrarium) auch die Ironie subsumiert (vgl. VIII, 6, 54 ff.), unterscheidet sich das Rätsel nur graduell: allegoria, quae est obscurior, ,aenigma‘ dicitur (VIII, 6, 52). Mit einem derartigen aenigma geht Quintilian scharf ins Gericht (vitium meo quidem iudicio, VIII, 6, 52), da es die rhetorischen Ideale von aptum und perspicuitas, von Angemessenheit und Klarheit, verletze. Es gehöre dem Bereich der von Quintilian ausschließlich rhetorisch perspektivierten obscuritas an, der er in seinem Kapitel De perspicuitate zwei Absätze (VIII 2, 12 ff.) widmet: Die rhetorisch als lasterhaft (vgl. vitium) disqualifizierte dunkle Ausdrucksweise, die Quintilian im literaturästhetischen Bereich immerhin begrenzt gelten lässt (IV 2, 45/ VIII 3, 82), führt er auf stilistische und syntaktische Mäkel wie Archaismen, Provinzialismen, Fachtermini und Homonyme oder auch auf historische Distanz (VIII, 6, 53) zurück.33 All diese seien unter dem Gebot der perspicuitas, der begrifflichen Transparenz, die sich der ,eigentlichen‘ Wortbedeutung (propria verba, VIII 2, 22) verpflichte, jedoch dringend erklärungsbedürftig. Immerhin gesteht er zu, dass es Hörer gebe, die einen heuristischen Gefallen an der Enträtselung fänden, nach deren Erfolg sie sich nicht wie Rezipienten, sondern wie Produzenten fühlten (sed auditoribus 31
Vgl. hierzu noch: Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen 21965, S. 348. 32 Quintiliani, M. Fabi Institutionis oratoriae I+II, libri XII, edidit Ludwig Radermacher, Lipsiae 1959. Zitiert wird nach dieser lateinischen Teubner-Ausgabe unter Angabe des Buches (römische Ziffer), des Kapitels und des Abschnittes direkt im Fließtext. 33 Vgl. At obscuritas fit verbis iam ab usu remotis, ut si commentarios quis pontificum et vetustissima foedera et exoletos scrutatus auctores id ipsum petat ex his, quae inde contraxerit, quod non intelleguntur (Quint., Inst. or. VIII, 2, 12).
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etiam nonnullis grata sunt haec, quae cum intellexerunt, acumine suo delectantur et gaudent, non quasi audierint, sed quasi invenerint, VIII 2, 21). Am kritikwürdigsten findet Quintilian Formulierungen, deren Sinn bewusst verborgen ist, ohne dass Deutungshinweise mitgeliefert würden: quae verbis aperta occultos sensus habent (VIII, 2, 20). Hierauf nimmt er später bei der Behandlung der Figuren und Tropen (VIII, 6/ IX) erneut Bezug, wenn er das Rätsel in eine Reihe mit dem Gleichnis und der Allegorie stellt. Kurz davor bietet er eine Differenzierung in zwei Allegorieformen (VIII, 6, 48 ff.), die im Kontext der obscuritas von Bedeutung ist und in den BarockRhetoriken fortwirkt: die Unterscheidung in die allegoria tota sowie in die allegoria permixta. Die allegoria tota, die jeder Erläuterung oder Selbstauslegung entbehrt und allein den uneigentlichen Wortlaut performiert, überblendet Sache und Zeichen und amalgamiert sie zu einer ästhetischen Einheit, die rational nicht oder nur schwer entschlüsselbar ist. Ist deren Zusammenhang gänzlich dunkel, liegt ein aenigma vor. Die Nähe zur obscuritas ist besonders dann gegeben, wenn die Kontextualisierung in kultur- und zeitspezifische Wissensfelder nicht mehr gelingt.34 Die allegoria permixta hingegen kommentiert die Differenz von Sache und Zeichen und reflektiert ihre Relation. Ihr eignet aufgrund ihrer Selbstexplikation stets ein Aufklärungsmoment, so dass sie prinzipiell dem perspicuitas-Ideal treu bleibt. So gelingt es der allegoria permixta, metaphorische Schönheit (species), die von den entlehnten Worten (ex arcessitis verbis) stammt, und Verständlichkeit (intellectus), die sich allein auf die eigentliche Wortbedeutung (ex propriis [verbis]) stützt, zusammenzubringen (VIII 6, 48). Quintilian suggeriert eine Strukturanalogie zwischen der allegoria permixta und dem Gleichnis (similitudo), ohne eine dezidierte Trennung zwischen beiden Formen vorzunehmen, was noch in den Dichtungstheorien des 18. Jahrhunderts Anlass für zahlreiche Kontroversen bietet.35 Das Gleichnis grenzt Quintilian dadurch von der Allegorie ab, dass es den Vergleichspunkt, das tertium comparationis, expliziert, während die Allegorie – und hier geht Quintilian offensichtlich wieder von der allegoria tota aus – diesen verschweigt. Aufgabe des Gleichnisses sei es, aufzuklären und alles Dunkle zu vermeiden: quo in genere id est praecipue custodiendum, ne id, quod similitudinis gratia adscivimus, aut obscurum si taut ignotum: debet enim quod inlustrandae alterius rei gratia adsumitur, ipsum esse clarius eo, quod inluminat (VIII, 3,73). Quintilian wendet sich in erster Linie gegen Formen affektierter Dunkelheit, wie sie in der rhetorischen Schulbildung der Kaiserzeit kultiviert wurden und die er grundsätzlich als vitium, als Fehler, disqualifiziert. Diese moralische, nicht nur rhetorische Diskreditierung überträgt er dann generell auf Tropen und Figuren,
34
Vgl. hierzu auch: Alt, Peter-André, Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995, S. 46. 35 Vgl. ebd.
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die mit der obscuritas spielen, allen voran auf das Rätsel. Immerhin räumt er der Dunkelheit – was für ein Rhetorikhandbuch nicht selbstverständlich ist – in literaturästhetischen Kontexten eine Daseinsberechtigung ein. Präferiert werden allerdings eindeutig diejenigen Tropen, die textimmanent einen Hinweis für Deutungsmöglichkeiten mitliefern, so dass die vom Autor rhetorisch inszenierte obscuritas, die eben gerade keine totale ist, im Rezeptionsvorgang des Lesers in perspicuitas umschlagen kann. Denn Rätsel sollen, auch wenn sie mitunter auf einen Interpreten angewiesen sind, stets rational verstehbar sein: aenigmata sunt tamen: nam cetera si quis interpretetur, intellegas (VIII, 6,53). Philipp Melanchthon (1497-1560), der schon von Wilhelm Dilthey, später von Hans-Georg Gadamer an den Beginn einer neuen Hermeneutik-Tradition gesetzt wurde,36 knüpft in seinen Elementa Rhetorices (1531), einer für das 16. Jahrhundert einschlägigen Rhetorik, mit seiner Allegorie-Definition (Άλληγορία non est in verbo sed in sententia, cum aliqua res significatur similitudine quadam […], S. 466)37 explizit an Quintilian und dessen Bestimmung einer perpetua metaphora an. Dessen Warnung vor übermäßigem allegorischem Gebrauch, der eine Rede dunkel und wirr mache (reddet orationem obscuram et ineptam, ebd.), folgt er. Einerseits nutzt er die Allegorie für eine scharfe Polemik gegen den vierfachen Schriftsinn in der Heiligen Schrift, den er als fehlerhaft diskreditiert, da er die Rede aufgrund allzu zahlreicher, allein dem menschlichen Verstand entsprungener Aufschlüsselungen (discerpta in tot sententias, ebd.) ungewiss mache. In der Folge des Lutherischen Konzepts der sola scriptura äußert Melanchthon starke reformatorische Vorbehalte gegen die scholastische Allegorese-Praxis. Denn für die biblischen Worte – und hier stellt sich Melanchthon in eine Offenbarungs-Tradition, in eine ,Hermeneutik der Erlösung‘ [vgl. Kap. I.1 und I.2] – treffe das für die Allegorie konstitutive Auseinanderfallen von verba et res gerade nicht zu. Sie dürften nicht rhetorisch spitzfindig zerlegt werden, da der göttliche Logos als Ganzes Geltung beanspruche und sich allen rhetorischen Wirkungsmechanismen und Analysemethoden entziehe. Die schon aus der Antike vertrauten zwei Wissensformen und -praktiken [vgl. Kap. I.3 und Kap. A], erstens die intellektuelle Kombination (hier das rhetorische Argumentationswissen) und zweitens die religiöse Divination (hier der Empfang des göttlichen, ungeteilten Logos, bei dem Zeichen
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Dilthey, Wilhelm, „Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert“, darin zu Melanchthon: S. 162-201 sowie Gadamer, Hans Georg, Rhetorik und Hermeneutik, S. 10. 37 Zitiert wird im Folgenden nach dem teilweisen Abdruck der Elementorum Rhetorices libri duo Philipp Melanchthons in Knape, Joachim, Philipp Melanchthons ,Rhetorik‘, Tübingen 1993, S. 117-165 unter Angabe der Originalseitenzahlen der Erstausgabe (S. 443-506).
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und Ding, Handeln und (rhapsodisches) Sprechen [vgl. Kap. I.1] eine Einheit bilden) lassen sich noch erahnen. Andererseits findet die Allegorie aus poetologischer Perspektive bei Melanchthon Akzeptanz und gewinnt außerhalb des bibelhermeneutischen Kontextes einen neuen Stellenwert. Auch Melanchthon bildet, was seit der Ars minor des Donatus aus dem 4. Jahrhundert üblich ist,38 Subgenera der Allegorie. Das erste ist wiederum das Rätsel, dem er, wie Quintilian, die Ironie, dann aber auch noch den Sarkasmus, die Nachahmung und das Sprichwort beiordnet. Das Verhältnis von Allegorie und Rätsel (αἴνιγµα) wird erneut über eine graduelle Differenz der Dunkelheit (obscurior) bestimmt (S. 472). Es tritt an die Stelle der allegoria tota Quintilians, wobei Melanchthon auf die binäre Differenzierung in allegoria tota und allegoria permixta verzichtet. Für die rhetorische Rede wird das Rätsel als unstatthaft disqualifiziert (non decet), bei den Dichtern aber gebilligt: Paradigmatisch führt Melanchthon ein griechisches Rätsel aus Hesiods Werke und Tage (I, 40) an, das im 16. Jahrhundert oft und gerne zitiert wird, wobei meist, anders als bei Melanchthon, auf dessen Rezeption und Exegese in Platons Gesetze (III, 690 e) verwiesen wird. Hesiods Ausspruch, die Hälfte sei oft mehr als das Ganze, bei Melanchthon zitiert als dimidium plus toto, ist eigentlich eher ein Sprichwort (proverbium) als ein Rätsel (aenigma). Gleichwohl gilt es den frühneuzeitlichen Rhetorikern gerade wegen des von Plato behaupteten impliziten ,Rats‘ als Paradebeispiel für das Rätsel. Vom ainigma zum ainos: Die narrative Rätselstruktur in Iulius C. Scaligers Poetices Libri Septem (1561) Der Konnex von Rätsel und Spruch oder Rat wird in der Frühen Neuzeit mit der Wiederentdeckung des Griechischen häufiger gebildet, da das αἴνιγµα (ainigma) etymologisch auf αἶνος (ainos), ,sinnreiche (Gleichnis-)Rede, (Tier-) Fabel, Sprichwort, Rat‘ und in der Zweitbedeutung auch ,Lob‘, zurückgeführt wird. In einer weiteren Bedeutung meint αἶνος jede längere narrative, oft fiktionale Struktur im Sinne von ,Geschichte‘ oder ,Erzählung‘ und wird quasi zu µῦϑος (mythos), lt. fabula, synonym verwandt. Dies führt dazu, dass das Rätsel als Trope oder, in Assoziation mit der Metapher, auch als rhetorische Figur verlagert wird hin zu einer allgemeinen enigmatischen Textstruktur.
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Vgl. hierzu: Cook, Eleanor, Enigmas and Riddles in Literature, S. 31.
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Am Beispiel von Iulius C. Scaligers Poetices Libri Septem (1561),39 die für die deutschen Barock-Poetiken, so für Georg Philipp Harsdörffers Poetischen Trichter (1648-53) oder für Daniel Georg Morhofs Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (1682) basisbildend wirkte,40 kann dies verdeutlicht werden: Das 83. Kapitel des 3. Buches widmet Scaliger der „vierte[n] Gattung der Figuren, die die Sache anders zum Ausdruck bringen, als sie beschaffen ist“ (S. 529543). Zu dieser Gattung zählt er, mit Rückgriff auf die Etymologie (ἄλλο: ,anders‘ und ἀγορεύν: ,sprechen‘), die Allegorie, „eine Figur, die etwas aussagt, aber etwas anderes, ähnliches meint“ (figura aliud dicens, aliud intellegens simile, S. 528) und die er mit allusio (wörtlich ,Anspielung‘) ins Lateinische überträgt. Die Allegorie unterteilt er in vier Unterarten, in die Fabel (ἀπόλογος), die Tierfabel (αἶνος), die Erzählung (µῦϑος) und das Sprichwort (παροιµία). Die Tierfabel (αἶνος) fasst er mit der Erzählung (µῦϑος) zu der Fabel (ἀπόλογος) zusammen, so dass er letztlich nur noch zwei Subgenera der Allegorie hat, die Fabel (ἀπόλογος) und das Sprichwort (παροιµία). Dennoch geht Scaliger ausführlich auf die Tierfabel (αἶνος) ein: Sie war bislang erstens über ein psychagogisches (überzeugendes) und paränetisches (aufforderndes) Element von der Erzählung (µῦϑος) geschieden sowie zweitens über die Zielgruppe – die Tierfabel richtete sich an Erwachsene, die mythische Erzählung an Kinder. Tierfabel (αἶνος) und Erzählung (µῦϑος) will Scaliger synonym verstanden wissen, wobei der erste Begriff lediglich älter und daher nicht mehr so geläufig sei. Als gemeinsame Definition schlägt er für den Überbegriff Fabel (ἀπόλογος) „eine erfundene Erzählung“ vor, „die sich auf die Wahrheit bezieht“ (Narratio ficta relata ad veritatem erit fabula, S. 532). Den Wahrheitsbegriff spricht er den griechischen Autoren in der Tradition der Platonischen Fiktionskritik ab (Veritatis namque Graecis cura nulla, S. 534). Ihnen wirft er vor, dass sie sogar die natürlichen Dinge – unnötigerweise, so ließe sich ergänzen – hinter einem Schleier verbärgen (involucris contectae, S. 534), wozu er auch den „Hieroglyphenunfug“ (hieroglyphon nugae, S. 534) rechnet. Vertretbar ist das allegorische Verfahren also dann – so ließe sich Scaligers aufgrund zahlreicher terminologischer Gleichsetzungen nicht immer klare Position paraphrasieren –, wenn eine Wahrheit ans Licht gebracht wird, die anders nicht darstellbar ist. Handelt es sich hingegen um bloße rhetorische Verrätselungsmechanismen, die längst bekannte Dinge oder Begriffe 39
Zitiert wird im Folgenden nach der zweisprachigen Ausgabe: Scaliger, Iulius Caesar, Poetices libri septem/ Sieben Bücher über die Dichtkunst, Bd. II: Buch 3, Kap. 1-94, hg. v. Luc Deitz und Gregor Vogt-Spira unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann, StuttgartBad Cannstatt 1994 unter Angabe der Seitenzahl des lateinischen Originaltextes direkt im Fließtext. 40 Vgl. hierzu auch: Schupp, Volker, „Nachwort“, S. 414. Diese beiden rekurrieren wiederum auf den Jesuiten und Lehrer der Rhetorik und Poetik zu Köln, auf Jakob Masen(ius) (1606-81).
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spaßeshalber verschleiern, äußert er sich nach wie vor abschätzig. Bei seiner etymologischen Erläuterung zum αἶνος geht Scaliger auch auf das zu seiner Zeit oft als Synonym gebrauchte αἴνιγµα ein: Als Erstbedeutung von αἶνος gibt er die lexikalische Zweitbedeutung ,Lob‘ an (S. 530), die er dann aber wieder mit der lexikalischen Erstbedeutung verschränkt, indem er argumentiert, dass das Lob nur demjenigen Spruch zukomme, „der wegen seiner Dunkelheit allein den Weisen verständlich war“ (sed id tantum, quod propter obscuritatem solis sapientibus notum esset, S. 530/ 532). Der seit Heraklit geläufige Topos vom dunklen Rätselsprucherfinder, der sich nur einem auserwählten Kreis verständlich macht [vgl. Kap. I.2], taucht hier wieder auf. Das aenigma definiert Scaliger klassisch als „eine dunkle Rede, die eine bekannte Sache, die sie bezeichnet, mit Hilfe einer Umschreibung verhüllt“ (Est autem aenigma oratio obscura rem notam quam significat ambagibus tegens, S. 532). Es werde häufig mit dem griphus41 parallelisiert, das seinen Namen von den labyrinthisch verschlungenen Fischernetzen erhalten habe und auf antiken Gastmählern erzählt worden sei. Das ludistische, in diesem Kontext oft humoristische, bisweilen auch lächerliche Element des Rätsels (vgl. ridiculus; iocosus; iocularis, S. 532) wird von Scaliger, anders als bei den anderen Rhetorikern, mit reflektiert. Zugleich wirkt es auf den aenigma-Begriff zurück, dessen Unterhaltungsaspekt nun ebenfalls betont wird. Scaliger wird in der Rätselforschung mit dem zunächst überzeugenden Argument übergangen, dass er zum rhetorischen Rätselbegriff wenig Neues beigetragen habe.42 Nichtsdestotrotz lassen sich bei ihm für die Frühe Neuzeit spezifische Bedeutungsverschiebungen erkennen, die auf einen Funktionswandel des Rätselbegriffs hindeuten: 1.) Die Verlagerung vom αἴνιγµα zum αἶνος. Die einst der Allegorie untergeordnete rhetorische Trope Rätsel wird zu einem Rätselspruch ausgeweitet, der ein paränetisches, ein aufforderndes, Element enthalten kann und einen ,Rat‘ impliziert, den der Rezipient selbst erst mittels Allegorese-Techniken enthüllen muss. 2.) Die Gleichsetzung von αἶνος und µῦϑος. Der Rätsel-Rat, der lange Zeit nur an Erwachsene adressiert schien, lässt sich von den nur vermeintlich an Kinder gerichteten antiken Fabeln und Mythen allenfalls noch über das Wahrheitskriterium unterscheiden. Doch deutet sich hier bereits das Konzept einer fiktionalen Wahrheit an, das auch diese Grenzziehung unterminiert. Auf jeden Fall lässt sich der ,Rat‘ – anders als bei Melanchthons metaphora continua, die ein
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Scaliger latinisiert die Endung des griechischen griphos-Begriffs. Vgl. z. B. Cook, Eleanor, Enigmas and Riddles in Literature, S. 53: “There is nothing innovative here, though Scaliger’s learning is impressive, and his gathering of interrelated terms is valuable”. 42
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Abstraktum im Bild sinnfällig macht – nicht mehr auf einen Begriff reduzieren, sondern wird über die Narration selbst vermittelt. 3.) Die Unterordnung des αἶνος unter den ἀπόλογος. Das Rätsel ist nun als allegorisches Verfahren eingebettet in fiktionale Erzählstrukturen und kann gattungsübergreifend überall dort auftauchen, wo eine ,Fabel‘ und eine Erklärung (explicatio) zu dieser ,Fabel‘, ein µῦϑος (Mythos) und ein περιµύϑιον (Um-denMythos-herum), zusammenkommen. Quintilians Auffassung einer allegoria permixta klingt zwar noch an, doch lässt sich die explicatio, das Lösungswort, nicht mehr vom Text isolieren, sondern ist diesem inhärent. Die im christlichen Mittelalter verbreitete Fiktionskritik wird dadurch stark relativiert, dass sich der Rätsel-Rat im Prozess der Ver- und Enträtselns überhaupt erst konstituiert. 4.) Die Nebeneinanderstellung von aenigma und griphus. Indem Scaliger den griechisch-antiken griphos-Begriff anführt, verweist er auf die gesellschaftliche sowie die ludistisch-heuristische Bedeutung des Rätsels als einfacher Form, das oft nur der Gelehrsamkeit oder Unterhaltung diene. Dessen mitunter humoristische Oberflächlichkeit überträgt Scaliger auch auf den aenigma-Begriff. Dies ist womöglich ein Grund, weshalb er sich bei seinen Subgenera der Allegorie lieber auf den αἶνος-Begriff verlegt. Letzterer ist nämlich nicht an eine konkrete Textsorte gebunden, sondern kann als spezifischer Erzählmodus uneigentlichen Sprechens überall auftauchen, wo eine paradoxe Gleichzeitigkeit von Enthüllen und Verschleiern vorliegt, die auf eine höhere Wahrheit zielt. Hier zeichnet sich bereits ab, dass das aenigma, amalgamiert mit dem griphus, gegen Ende der Frühen Neuzeit und bis ins 19. Jahrhundert hinein in Misskredit gerät. Es tritt in den Schatten der nach wie vor metaphysisch-ernsten Geheimnis-Begriffe wie mysterium oder secretum, die mit dem aufklärerischen curiositas-Konzept [vgl. Kap. II.3] sehr viel kompatibler zu sein scheinen.
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Zwischen obscuritas und curiositas: Mythenallegoresen in Giovanni Boccaccios Genealogie deorum gentilium (1350-67) und Francis Bacons De sapientia veterum (1609)
Francesco Petrarca: Von der Nützlichkeit dichterischer Dunkelheit – Giovanni Boccaccio: dichterische Wahrheiten statt göttlicher Wahrheit – Enträtseln als unaufhörlicher Kraftakt – Hermes: Interpret und säkularisierter Mystagoge – Francis Bacon: Die Natur als potentiell lösbares Rätsel – Das Rätsel als frühneuzeitliche Kippfigur zwischen obscuritas und curiositas Mit der Akzeptanz des aenigma als hermeneutischer Methode oder narrativer Struktur ist die Voraussetzung für eine Aufwertung der obscuritas geschaffen, die nun nicht allein auf die heiligen, sondern auch auf die dichterischen Schriften bezogen werden kann. Hierfür werden die schon bei Augustinus (354-430) thematisierten biblischen Dunkelstellen argumentativ nutzbar gemacht. Dunkelheit gilt bereits im Mittelalter nicht länger als hermeneutisches Problem, sondern als poetische Chance.1 Im Rekurs auf bibelexegetische Verfahren wird die obscuritas für die Dichtung funktionalisiert, poetologisch instrumentalisiert und erhält eine autonome Qualität. Der Schleier (velamen) wird, in einer Emanzipationsbestrebung von der Bibelexegese, mit der dichterischen Form (locutio) gleichgesetzt und das dunkle, uneigentliche Sprechen somit ästhetisiert. Hierbei gilt die mythische Erzählung einerseits als Inbegriff für die dunkle, dichterische Rede, wird aber andererseits allegorisch gedeutet und, strukturanalog zum (biblischen) Gleichnis, enträtselt. Dies kann wiederum nur – mit Nikolaus von Kues – medio aenigmatico, mittels mythisch-dunkler Rede, gelingen: Sie tritt mit aufklärendem, enzyklopädisch-wissenschaftlichem Anspruch auf, bedient sich hierbei aber neuer literarischer Verrätselungsstrategien.2 So werden Allegorie und Allegorese, die oft mit Parabel (parabola) oder Gleichnis (similitudo) benannt und mit dem Rätsel (aenigma) in Verbindung gesetzt werden [vgl. Kap. II.2],3 zu einer beliebten frühneuzeitlichen Denkform,4 bei der
1
Vgl. hierzu auch: Pfeiffer, Jens, „Dunkelheit und Licht. ,Obscuritas‘ als hermeneutisches Problem und poetische Chance“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Bd. 50, 2009, S. 9-42 sowie die hierfür einschlägige Monographie Tomasek, Tomas, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994. 2 Vgl. hierzu: Videmus enim divini voluminis verba ab ipsa lucida, certa ac immobili veritate prolata, etiam si aliquando tecta sint tenui figurationis velo, in tot interpretationes distrahi, quot ad illa devenere lectores (Bocc., I Proh., 43). 3 In Metapher, Allegorie, Symbol (1982, 62009) kommt Gerhard Kurz nur am Rande auf das Rätsel zu sprechen, berücksichtigt aber als einer von wenigen die Differenzierung des Rätsel-Begriffs in aenigma, das er als solches benennt und im Verweis auf Quintilian synonym zur Textform der Allegorie verwendet („,aenigma‘: gemeint ist vor allem die obskure, undeutbare Allegorie“, S. 38) und griphos, von ihm nicht so genannt, aber im
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sich „Textform“ und „Interpretationsform“5 in einer permanenten Wechselbewegung zwischen Entschleiern und Verhüllen gegenseitig bedingen und bisweilen aufheben. Giovanni Boccaccios Genealogie deorum gentilium (1350-1367) und Francis Bacons De sapientia deorum (1609) sind hierbei wichtige, wenn auch viel zu wenig beachtete Wegbereiter.6 Sowohl Boccaccio als auch Bacon hinterlassen nicht nur ein mythographisches Werk, sondern rechtfertigen dies in klarer Stoßrichtung gegen den in der Frühen Neuzeit aufkommenden szientistischrationalistischen Zeitgeist. Die Wiedergabe der Mythen, ihre Deutung und Verteidigung stehen in einem engen literarischen Verweisungszusammenhang und dienen dem Zweck, die Weisheit (sapientia)7 der heidnischen Dichter zu begründen und den Vorwurf ihrer Dunkelheit (obscuritas) und somit angeblichen
Gattungsverweis vermutlich impliziert („Das Rätsel, jetzt als Gattung genommen, kann eine allegorische Struktur haben, muß es aber nicht“, S. 38), vgl. hierzu: Kurz, Gerhard, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 62009. Vgl. hierin auch das Kap. 8 („Allegorische Gattungsformen“), in dem Kurz das Gleichnis (als Übersetzung für das griechische parabole) zur allegorischen Form in Bezug setzt (S. 55). 4 Vgl. hierzu: Kleinschmidt, Erich, „Denkform im geschichtlichen Prozeß. Zum Funktionswandel der Allegorie in der frühen Neuzeit“, in: Haug, Walter (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, S. 388-404. 5 Vgl. hierzu: Kurz, Gerhard, „Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie“, in: Haug, Walter (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, S. 12-21, hier: S. 21. 6 Giovanni Boccaccios Genealogie deorum gentilium ist 2011 auf Englisch erschienen. In deutscher Übersetzung mit altphilologischem Kommentar liegt bislang nur das 14. Buch vor (Hege, Brigitte, Boccaccios Apologie der heidnischen Dichtung in den ,Genealogie deorum gentilium‘, Buch XIV, Text, Übersetzung, Kommentar und Abhandlung, Tübingen 1997 – zu den modernen Übersetzungen und Kommentaren vgl. dort S. 2). Francis Bacon beeindruckte mit seinen Mythenallegoresen De sapientia veterum zeitgenössische Leser, enttäuschte aber die Mythenforscher: Kuno Fischer, sonst ein Bewunderer Bacons, sah in dessen Mytheninterpretationen nicht mehr als ein Phantasieprodukt (Fischer, Kuno, Francis Bacon und seine Schule/ Entwicklungsgeschichte der Erfahrungsphilosophie, Heidelberg 1856, 41923). Charles W. Lemmi beklagt Bacons weitreichende Abhängigkeit von italienischen Renaissance-Mythologen, allen voran von Boccaccio (Lemmi, Charles W., The Classical Deities in Bacon/ A Study in Mythological Symbolism, Baltimore 1933). Erst Klaus Heinrich wagt 1966 eine Rehabilitierung und betont die Eigenständigkeit Bacons (Heinrich, Klaus, „Mytheninterpretation bei Francis Bacon“, in: ders., Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Frankfurt am Main 1966, S. 29-60). Dennoch ließ die deutsche und inzwischen schon wieder vergriffene Ausgabe noch bis 1990 auf sich warten (Bacon, Francis, Weisheit der Alten, hg. und mit einem Essay von Philipp Rippel, Frankfurt am Main 1990). Der lateinische Text ist bis heute nicht nachgedruckt. Er wurde für die vorliegende Arbeit in der Originalausgabe eingesehen und daraus zitiert. 7 Vgl. hierzu Boccaccio, I Proh. I, 44 u. 45 sowie Bacon, Praefatio.
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Unwissenschaftlichkeit außer Kraft zu setzen. Das Ansehen der Parabeln (honor parabolarum) theoretisch zu rehabilitieren, machen sie sich explizit zum Ziel. Zugleich führen sie Rätselpraktiken performativ vor: In mythischen Nacherzählungen verhüllen sie zunächst bewusst, um dann in allegorischen Deutungsangeboten eine ratio docendi freizulegen. Francesco Petrarca: Von der Nützlichkeit dichterischer Dunkelheit Eine frühe dichtungstheoretische Rechtfertigung der obscuritas findet sich bei Francesco Petrarca (1304-1374), die Giovanni Boccaccio zu einem argumentativen Angelpunkt seiner Verteidigung mythischer Rede macht. Petrarca verteidigt im dritten Buch seiner Streitschrift gegen einen Arzt (Invective contra medicum, 1355) die dichterische Dunkelheit und verweist dabei auf den antiken Rätselerfinder, den dunklen (ὁ σκοτεινόϛ) Heraklit [vgl. Kap. I.2]. Er zitiert in zwei kurzen, dichten Kapiteln8 mehrfach den Kirchenvater und Gewährsmann biblischer Dunkelheit Augustinus sowie einmal die Moralia des Gregorius Magnus, um den Nutzen (utilitas) der Dunkelheit (obscuritas) aufzuzeigen. Dabei nimmt Petrarca Strukturanalogien zwischen der theologischen, philosophischen sowie literarischen dunklen Rede vor: Die obscuritas versucht er aus ihrem angestammten zunächst rhetorischen, dann, seit Augustinus, bibelexegetischen Bereich zu entkontextualisieren und dichtungstheoretisch fruchtbar zu machen. Seine Apologie der Dichtung richtet sich in der Topik der antiken Streitrede gegen die schlichte Dialektik des scholastischen Aristotelismus sowie gegen die spätantike Doktrin klaren Sprechens. Petrarca betont die das reflexive Denken stimulierende Wirkung, die gerade von der Dunkelheit ausgehe und zu weiteren Studien animiere (intentioris animi stimulus, et exercitii nobilioris occasio; Inv. III, 132). Dieses heuristische Argument des Denkimpulses verschränkt er mit dem hermeneutischen der Deutungspluralität: Denn die Dunkelheit (obscuritas), die, wie schon bei von Kues, nicht kontrastiv, sondern komplementär mit dem Licht (lux) verbunden ist, verhindere nicht die Wahrheit – und hier schließt Petrarca mit einem direkten Zitat an das elfte Buch des Gottesstaates (De civitate Dei, 413-426) von Augustinus an (XI, 19) –, sondern pluralisiere sie: „Die Dunkelheit des göttlichen Wortes“, so heißt es bei Augustinus, „ist auch insofern nutzbringend, als sie mehrere wahre Auffassungen hervorruft und ins Licht der Erkenntnis treten lässt, da der eine es so, der andere anders versteht“9 (Divini sermonis obscuritas etiam ad hoc est utilis, quod plures sententias veritatis parit
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Petrarca, Francesco, Invectives, Text lateinisch und englisch, edited and translated by David Marsh, Cambridge, Mass. 2003, III, 132 f. 9 Augustinus, Aurelius, Vom Gottesstaat, Bd. II, vollständige Ausgabe eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme, Zürich 1955, S. 34.
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et in lucem notitie producit, dum alius eum sic, alius sic intellegit). Sodann bringt Petrarca ein praktisches Argument, das als Topos des ,dunklen Philosophen‘ seit Heraklit geläufig ist [vgl. Kap. I.2] und nun in einem Abgleich mit dem Bibeltext auf die Dichtung übertragen wird: Bereits die biblische Verhüllung der tiefen Wahrheit über Gott wirke der Gefahr der Profanierung entgegen, was bei der Poesie, die sich im Gegensatz zur Bibel nur an wenige gelehrte Leser wende (vgl. Pauci autem docti; Kap. III. 136), in noch stärkerem Maße der Fall sei. Petrarca greift also argumentativ auf kirchliche Autoritäten und bekannte Bibelstellen zurück, um sich von diesen zugleich zu emanzipieren und der dunklen Dichtung eine eigene Daseinsberechtigung zuzusprechen. Giovanni Boccaccio: dichterische Wahrheiten statt göttlicher Wahrheit Ganz ähnlich verfährt Giovanni Boccaccio in seiner zwischen 1350 und 1367 entstandenen und in den Siebzigern verbreiteten Genealogie deorum gentilium, die zwei Jahrhunderte lang europaweit als maßgebliches Handbuch der griechischen und römischen Mythologie galt.10 Sie umfasst insgesamt fünfzehn Bücher. Die dreizehn ersten Bücher sammeln die von Boccaccio genealogisch geordneten Mythen und deuten sie allegorisch, obgleich Boccaccio vorgibt, dass er nur Vorgefundenes wiedergebe, dessen Erörterung aber den Philosophen überlasse (satis enim michi erit comperta rescribere et disputationes phylosophantibus linquere, Bocc. I. Prohem. I, 49). Die Schwellenposition des mythographischen Werkes zwischen Mittelalter und Frührenaissance wird methodisch ersichtlich: Boccaccios Zitierweise, die antike und mittelalterliche Quellen unkritisch rezipiert, aber immerhin markiert, ist noch mittelalterlich verankert. Sein interpretatorischer Zugang hingegen weist klare frühneuzeitliche Züge auf: Er wendet keine christliche Allegorese mehr an, sondern beschränkt sich auf naturallegorische, moralische und historische Deutungen. Auf der einen Seite sieht er sich selbst als den durch rationale Allegorese enträtselnden Dichter-Demagogen, der einen hermeneutisch-heuristischen Zugang schafft [vgl. Rätselfunktion (4) und (5), Kap. I.4]. Auf der anderen Seite hält er an antiken und/oder mittelalterlichen Theoremen fest, die seinen Aufklärungsbestrebungen zunächst zuwiderlaufen: Der Anfang der Dichtung falle mit den frühesten sakralen Handlungen der
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In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verlor das Werk seine zentrale Bedeutung und wurde durch die mythographischen Standardwerke von Lilio Gregorio Gyraldi, Natalis Conti und Vincenzo Cartari ersetzt, die aufgrund des neu zugänglichen griechischen Quellenmaterials eine völlig andere Wissensbasis erhielten. Vgl. hierzu auch: Hege, Brigitte, Boccaccios Apologie der heidnischen Dichtung in den ,Genealogie deorum gentilium‘. Buch XIV. Text, Übersetzung, Kommentar und Abhandlung, Tübingen 1997, S. 1.
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Menschen zusammen [vgl. Kap. I.1], der Dichter (vates) stehe im Dienst Gottes und die Verhüllung seiner Geheimnisse sei religiös begründet, da sie vor Profanierung schütze – eine Argumentationslinie, die sich vom Rigveda, über Heraklit bis zu Petrarca nachvollziehen lässt und die kosmogonisch-magische sowie die hermetisch-esoterische Rätselfunktion stark macht [vgl. Funktion (1) und (2), Kap. I.4]. Neu und geradezu ,modern‘ ist, dass Boccaccio nicht mehr von einer göttlichen Wahrheit, sondern von mehreren dichterischen ausgeht, was er nicht als Verlust, sondern als hermeneutischen Mehrwert betrachtet: Dunkelstellen, die er metaphorisch als zarten Schleier (tenuis velum) einer literarischen Figuration (figuratio) beschreibt, erachtet Boccaccio bereits in seiner Vorrede nicht als defizitär, sondern erst recht als Beleg dafür, dass sich dahinter eine nicht mehr greifbare Wahrheit verberge, deren Interpretationsmöglichkeiten so zahlreich seien wie ihre Interpreten (Videmus enim divini voluminis verba ab ipsa lucida, certa ac immobili veritate prolata, etiam si aliquando tecta sint tenui figurationis velo, in tot interpretationes distrahi, quot ad illa devenere lectores; Bocc. I., Prohem. I, 43). In seinen beiden letzten Büchern leistet Boccaccio dann eine Apologie der Dichtung (Buch XIV), beziehungsweise des eigenen dichterischen Schaffens (Buch XV), wobei ,Mythos‘ und ,Dichtung‘ quasi gleichwertig sind: µῦθος (lt. fabula) gebraucht Boccaccio im Sinne von ,mythischer Erzählung‘, die er mit ,Dichtung‘ (poesis) gleichsetzt, da sie deren Wesenselement sei. Seine Dichtungsverteidigung wendet sich so immer auch gegen die mit den Vorsokratikern virulent gewordene Mythenkritik. Letztere wird seit der Antike durch eine allegorische Deutung zu mindern versucht, die der Dichtung einen Tiefensinn (altgriech. ὑπόνοια) zuspricht, der durch den Mythos nur verdunkelt sei. Im 14. Jhd. – und Giovanni Boccaccio ist hierfür ein treffendes Beispiel – tritt neben die im Mittelalter dominante und auf dem Tridentiner Konzil (1545-1563) später offiziell verbotene Transfermethode, die den Mythos als Vorform christlicher Heilsaussagen betrachtet, die Verortung des Mythos im wertfreien Bereich der Poesie.11 Enträtseln als unaufhörlicher Kraftakt Im Kontext der obscuritas ist das zwölfte Kapitel des 14. Buches am aufschlussreichsten, dem Boccaccio den programmatischen Titel Die Dunkelheit der Dichter ist nicht zu verurteilen (Damnanda non est obscuritas poetarum) verleiht. Er geht hier, obgleich nicht mit derselben argumentativen Stringenz und Dichte, ähnlich vor wie Francesco Petrarca, wenn er die Dunkelheit der Philosophie, der Bibel und der Dichtung – ebenfalls in vielfachem Rückgriff auf
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Vgl. hierzu auch: ebd., S. 4-7.
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Augustinus – als strukturanalog betrachtet und resümierend feststellt: „Ich wünsche nicht, daß diese Menschen es überdrüssig werden zu hören, daß ich die Dunkelheit der Dichter ebenso verstanden wissen will wie Augustin die göttlichen Geheimnisse“ ([…] nolo fastidium ducant hi audire, quoniam idem velim de obscuritatibus poetarum sentiri, quod de divinis ab Augustino sentitur) (Bocc., Gen. XIV, 12, 12). Literarische Figurationen werden mit göttlichen Geheimnissen strukturell analogisiert und somit indirekt die dichterische Rede funktional in den Rang einer göttlichen erhoben. Die Dichter seien – zu Unrecht – nur deshalb alleinige Zielscheibe der Angriffslust, weil sie sich schlechter zu verteidigen wüssten und Strafe zwar auf Gottes-, aber nicht auf Dichterlästerung stünde. Vehementer als Petrarca in seiner Invektive greift Boccaccio die Kritiker der Dichtung an: Dunkel seien sehr häufig, sagen diese Spötter, die Dichtungen und das sei der Fehler der Dichter, denen es darum ginge, Verworrenes kunstvoller abgefaßt erscheinen zu lassen; sie hätten dies mit Absicht getan, die alte Regel der Redner mißachtend, nach der festgesetzt sei, daß die Rede verständlich und klar sein müsse. Welch Urteil eines verkehrten Sinnes! (Obscura aiunt cavillatores hi esse persepe poemata, et hoc poetarum vicio, id agentium ut, quod inextracibile est, artificiosius videatur esse compositum, idque egisse volunt, immemores veteris oratorum iussus, quo cavetur planam atque lucidam orationem esse debere. O perverse mentis iudicium!) (Bocc., Gen. XIV, Kap. XII, 1f.).
Den Grammatikern, denen er Unzeitgemäßheit vorwirft, da sie sich an einer vollkommen überholten rhetorischen Norm orientierten, rät Boccaccio in moralisierendem Duktus: „Sie sollen sich vornehmen, den alten Verstand abzulegen, einen neuen und edlen anzuziehen“ (Agant ut, exuto veteri, novum atque generosum ingenium induant) (Bocc., Gen. XIV, 12, 14). Seine frühneuzeitliche Aufbruchsstimmung, die mit einem neuen hermeneutischen Selbstbewusstsein einhergeht, infolgedessen die Dunkelheit als konstitutiv für die Dichtung erachtet wird und der Leser in den Vorgang der Textkonstitution mit einbezogen wird, ist dabei unverkennbar. Verstehen meint bei Boccaccio keine einmalige Rätsellösung, sondern einen unaufhörlichen Kraftakt, der mit Ambiguitäten, anstatt sie zu eliminieren, umzugehen weiß. In der Knotenmetaphorik des Rätsels beschreibt er dies folgendermaßen: Ich wiederhole: Wer verstehen und die zweideutigen Verflechtungen entknoten will, muß lesen, sich Mühe geben, wach sein, fragen und auf jede Weise die Kräfte des Gehirns anstrengen. Und wenn einer nicht auf dem beabsichtigten Weg ans Ziel gelangt, soll er einen anderen gehen; wenn sich ihm Hindernisse entgegenstellen, soll er schnell einen dritten Weg wählen, wenn er die Kraft hat, solange bis sich ihm klar zeigt, was zuerst dunkel schien.
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Erlösung im Sinne einer offenbarungsphilosophischen Erleuchtung scheint am Ende zwar noch durch (lucidum […] appareat), Enträtselung meint aber weit mehr als das und setzt sehr viel früher an: Sie bezieht sich auf einen hermeneutischen Prozess, der sich seiner Deutungsschwierigkeiten und Hindernisse (obstent obices) genauso bewusst ist wie der Pluralität von Wegen (non una via) und Methoden (altgriech. µέϑοδος ,Weg, Gang der Untersuchung‘) [vgl. auch Kap. Schlussüberlegungen]. Hermes: Interpret und säkularisierter Mystagoge Boccaccio oszilliert zwischen Hermetik und Hermeneutik, zwischen spätantikmittelalterlichen esoterischen Wissensidealen und frühneuzeitlichen Aufklärungsbestrebungen. Dies wird bei seiner Rezeption der Hermes-Figur deutlich, der er im dritten Buch (Kap. 20) unter der Überschrift Merkur, der fünfte Sohn des Himmels (De Mercurio Vo Celi filio) nach Apollo und vor Hermaphroditus ein Kapitel widmet.12 Seiner mehrseitigen Allegorese stellt er eine knappe, wenige Zeilen umfassende Charakterisierung Merkurs voran, in der er Cicero, Theodontius und Valerius Martial zitiert. Hierbei erwähnt er Merkurs angebliche Genealogie, seinen Vater Himmel und seine Mutter Tag, sowie dessen wichtigstes Attribut, den schlangenumwundenen Stab, den Boccaccio mit Theodontius auf die Ägypter zurückführt. Seine Exegese leitet Boccaccio nicht, wie bei den christlichen Allegoresen üblich, mit einem Verweis auf die Wahrheit (veritas), sondern auf den Sinn des Textes ein (His premissis, quid sensisse veteres fictionibus voluerint exquiramus; Bocc. Gen., III, 20, 2). Sinn (sensum) impliziert Dissens, weshalb sich Boccaccio in einer Art Forschungsabriss von anderen Interpretationen erst einmal abgrenzt: Den naturwissenschaftlichrationalistischen Deutungsversuch des Leontius, der Merkurs Herkunft vom Himmel dadurch erklärt, dass er ihn mit dem nach ihm benannten Planeten gleichsetzt, weist Boccaccio von sich (que quoniam frivola visa sunt eis omissis […]; ebd.). Stattdessen greift er auf eine etymologische Begründung für Merkurs himmlischen Ursprung zurück, die Merkur, griechisch Hermes, als den größten ,Interpreten‘ (altgriech. ἑρµηνεύς ,Ausleger, Dolmetscher‘) göttlicher Angele-
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In: Boccaccio, Giovanni, Genealogy of the Pagan Gods, Volume 1 (books I-IV), edited and translated by Jon Solomon, Cambridge, Mass./ London 2011, p. 368-375.
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genheiten (maximu[s] divinarum rerum interpre[s], ebd.) und somit als eine Art Urvater der Hermeneutik inthronisiert. Doch exterritorisiert er Hermes – über eine Inzest-Geschichte, die ihm den Ruhm im eigenen Land verwehre (seine leiblichen Eltern seien der Arkadische Philo, der ihn mit seiner Tochter Proserpina gezeugt habe) – nach Ägypten, also in das Land rätselhafter Zeichen und Wissenssysteme. Dort sei Hermes bald schon Experte in Arithmetik, Geometrie und Astrologie und dermaßen berühmt geworden, dass man ihn wegen seiner astrologischen Vorhersagen Merkur genannt und wegen seiner Medizinkenntnisse sogar mit Apoll verwechselt und mit ,Sohn des Himmels‘ tituliert habe. Als Himmelsgesandter wird er, beinahe als Erlöser-Figur, christologisch überhöht (quasi a celo missus et in diei luce factus conspicuus; Bocc. Gen., III, 20, 3). Boccaccio setzt den griechischen Gott Hermes mit der ägyptischen Figur des Hermes Trismegistos gleich, der seit der Spätantike mit dem Gott Thot parallelisiert wurde, dem Gott der Schrift, der Wissenschaften, der Künste und geheimen Weisheiten.13 Hermes Trismegistos sei der Enkel des Gottes Hermes gewesen, dem er Heilkräfte über den Tod hinaus nachsagte. Boccaccio beendet seine Allegorese mit einer Deutung von Merkurs Attributen: die Mütze sei ein Verweis auf den Himmel, die geflügelten Sandalen Zeichen für seine stete medizinische Einsatzbereitschaft. Es fällt auf, dass Boccaccio die antike Hauptfunktion Merkurs, seine Götterbotendienste, gänzlich ausspart. Nur indirekt kommt er mit Verweis auf seine Interpretationen göttlicher Angelegenheiten sowie auf seine Himmelgesandtschaft darauf zu sprechen, säkularisiert diese Fähigkeit aber sogleich, indem er Merkur als berühmten Wissenschaftler inszeniert und den einst griechischrömischen Mythos über die Figur des Hermes Trismegistos, des Dreimalgrößten, nach Ägypten, in das Land der Hieroglyphen,14 verlegt. Einerseits enträtselt und rationalisiert Boccaccio also den Mythos und funktionalisiert Hermes als den Hermeneuten. Andererseits fügt er Mythologeme, die Schaulust und den Inzest Philons sowie das ägyptische Mysterienwissen, zum griechisch-antiken Mythos hinzu und erzeugt so neue Dunkelstellen, die den Hermes als Hermetiker inszenieren. Hermes erscheint als ein säkularisierter Mystagoge, der zwischen unterschiedlichen Wissensbereichen vermittelt, ohne anderen Einblick in diese geheimen Künste zu gewähren. Insofern überschreitet er als Interpret Grenzen und vermittelt horizontal, zieht mittels seiner hermetisch-esoterischen Methoden 13
Vgl. hierzu: Ebeling, Florian, Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus von der Antike bis zur Neuzeit, mit einem Vorwort von Jan Assmann, München 2005. 14 Die Hieroglyphen erfüllten in der Vorstellung der Hermetiker drei Funktionen: die der Arkanisierung, der sprachunabhängigen Ideennotation und der unmittelbaren Signifikation, vgl. hierzu: Assmann, Jan, „Vorwort“, in: Ebeling, Florian, Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus von der Antike bis zur Neuzeit, S. 7-15, hier: S. 12.
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aber zugleich neue und hält an hermetischen Idealen wie dem Geheimnis, der Einweihung und der vertikal gerichteten Offenbarung fest. Francis Bacon: Die Natur als potentiell lösbares Rätsel Auch Francis Bacon (1561-1626) wählt sich Hermes als Identifikationsfigur, wenn er sich als Pseudonym für seine fiktive Kommentator-Rolle des 1603 niedergeschriebenen, aber erst nach seinem Tod 1734 veröffentlichten Valerius Terminus den allegorischen Namen Hermes Stella zulegt.15 Das erste Kapitel dieses Fragments ist mit Grenzen und Ziel der Erkenntnis (Of the limits and end of knowledge)16 übertitelt und analogisiert zwei Ereignisse, den Fall der Engel, die – zur reinen Anschauung göttlicher Wahrheit bestimmt und befähigt – nach Macht streben, sowie den Fall der Menschen, die – mächtig über die Natur und all ihre Kreaturen – nach den göttlichen Geheimnissen trachten. Letztere beinhalten allein das moralische Wissen, die Unterscheidung von Gut und Böse, die sich die Menschen frevelhafterweise anmaßen. Nur weil sie sich diesen, der Religion vorbehaltenen Bereich der Moral zueigen gemacht hätten, nicht wegen der Erkenntnis an sich, seien sie aus dem Paradies verbannt worden. Von nun an sei es Auftrag der Menschen, die Natur zu erforschen, um die verlorene Herrschaft des Paradieses zurückzugewinnen. Die Natur wird bei Bacon zu einem außermoralischen Forschungsgegenstand, deren Dunkelheit (obscuritas) er lichten soll, ohne die himmlische anzutasten (“[…] the sense of man ressembles the sun, which openeth and revealeth the terrestrial globe, but obscureth and concealeth the celestial”17). Bei Nikolaus von Kues war der Mensch auf den Beryll, die Brille angewiesen, deren konkav-maximale und konvex-minimale Form zum Sinnbild für die Koinzidenzmethode wurde [vgl. Kap. II.1]. Bei Bacon bedarf er keines enigmatischen Hilfsmittels mehr: Sein Verstand selbst sei Spiegel genug, da er das Bild der ganzen Welt zu reflektieren vermöge (“that God hath framed the mind of man as a glass capable of the image of the universal world”18). Bacon, der Theologie (Moral) und Wissenschaft (Natur) strikt separiert (“That all knowledge is to be limited by religion, and to be referred to use and action”19), schließt die theologische Dimension aus der Natur aus, die 15
Bacon, Francis, „Valerius Terminus on the Interpretation of Nature with the Annotations of Hermes Stella”, in: The Works of Francis Bacon. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Speeding, Ellis und Health, London 1857-1874, Bd. 3, StuttgartBad Cannstatt 1963, S. 215. 16 Ebd., S. 217-224. 17 Ebd. , S. 218 (Kursivierung im Original). 18 Ebd., S. 220. 19 Ebd., S. 218 (Kursivierung im Original).
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Augustinus noch als Offenbarungsbuch galt: Anders als für die spätmittelalterlichen Nominalisten, die von einem Weltversteckspiel des in der Natur stets verborgenen Gottes ausgingen, anders auch als für Nikolaus von Kues, der mit seiner enigmatischen Methode die unaufhebbare Differenz zwischen menschlicher und göttlicher Erkenntnis erfahrbar machen wollte, stellt für Francis Bacon die Natur ein potentiell lösbares Rätsel dar: In einem unschuldigen Kinderspiel verberge Gott seine Werke vor den Menschen, um einen größeren Anreiz für die Rätsellösung zu schaffen. Das Rätsel wird hier, eindeutiger als je zuvor, auf seine ludistisch-heuristische Funktion festgelegt. Dies exemplifiziert Bacon, in Allusion auf das alttestamentarische Sprichwort 25,2,20 am Beispiel des Königs Salomon, den er wiederholt als heiligen Philosophen oder als den prototypischen wissenschaftlichen Menschen der Zukunft bezeichnet:21 Nay, the same Salomon the king affirmeth directly that the glory of God is to conceal a thing, but the glory of the king is to find it out, as if according to the innocent play of children the divine Majesty took delight to hide his works, to the end to have them found out.22
Das Rätsel ist von nun an keine Seinsbestimmung Gottes mehr, sondern dessen spielerische Strategie: Sie soll die Erkenntnis des Menschen fördern, indem sie dessen Neugierde (curiositas) weckt. Das Rätsel als frühneuzeitliche Kippfigur zwischen obscuritas und curiositas Geheimnisse, allen voran die Naturgeheimnisse – Immanuel Kant (1724-1804) nimmt später eine systematische Dreiteilung vor in arcana (Geheimnisse, die (noch) nicht bekannt sind, z. B. die Verborgenheit der Natur), secreta (Geheimnisse, die nicht bekannt sein sollen, z. B. die Geheimhaltung der Politik) und mysteria (heilige Geheimnisse der Religion)23 – werden in der frühneuzeitlichen Naturphilosophie zu einem beliebten Gegenstand des Staunens und der
20
„Gott wird geehrt für das, was er verborgen hält; Könige werden geehrt für das, was sie aufdecken“. 21 Zu der Bedeutung Salomons im Baconschen Werk vgl.: Rippel, Philipp, „Francis Bacons allegorische Revolution des Wissens“, in: Bacon, Francis, Weisheit der Alten, hg. und mit einem Essay von Philipp Rippel, Frankfurt am Main 1990, S. 93-127, hier besonders: S. 108 f. 22 Bacon, Francis, „Valerius Terminus of the Interpretation of Nature with the Annotations of Hermes Stella”, S. 220 (Kursivierung im Original). 23 Vgl. hierzu auch: ,Geheimnis‘, in: Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, hg. v. Oda Wischmeyer, Berlin 2009, S. 197–201.
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Neugierde (curiositas).24 Nach Jahrhunderten ihrer Abwertung etabliert sich die curiositas gegen Ende des 16., zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu einer philosophischen Leidenschaft, und zwar nicht mehr in Form einer ,naiven Neugierde‘, bei der es sich um eine Grundkonstante des Menschseins, ja sogar des Tierseins handelt, sondern in Form einer ,reflektierten Neugierde‘, die sich aus der ,naiven Neugierde‘ entwickelt und neuzeitliches Denken initiiert.25 Die reflektierte, selbstbewusste Neugierde setzt eine eigene „Psychologie des Fragens und Forschens“26 in Gang. So wird die gedankenvolle Bewunderung über ein verwundertes Staunen hin zur geschäftigen Neugierde gesteigert, welche die Rätsel der Natur zu lösen bestrebt ist: Aus der obscuritas, der Anerkennung einer dunklen Sinnhaftigkeit hinter den Dingen, die traditionell mit dem Rätsel (aenigma) verbunden war, erwächst mit Anbruch der Frühen Neuzeit die curiositas, die Begierde, hinter diese Dinge schauen zu dürfen und deren Geheimnis (mysterium) in einem Decodierungsprozess der Natur, einem wissenschaftlichen Enträtselungsverfahren, zu lüften. Die curiositas, ein von Augustinus gegen die antike Philosophie eingeführter terminus technicus, der zum Zeichen neuzeitlicher Emanzipation wird, stellt bis ins 16. Jahrhundert eine Untugend dar, eine ziellose Leidenschaft, die sich um belanglose Dinge kümmert und darüber die Suche nach dem Seelenheil vergisst. Denn Augustinus zufolge ist nur so viel von dieser Welt zu wissen nötig, als es zur selbstvergessenen Anschauung Gottes in der vita beata bedarf.27 Francis Bacon gilt gemeinhin als einer der ersten progressiven Vertreter der Neugierde,28 da er in der Untersuchung all dessen, was neu, selten und ungewöhnlich ist, ein Mittel sieht, die scholastische Naturphilosophie nicht nur zu erweitern, sondern zu reformieren: Für ihn steht, so heißt es mit Rückgriff auf seine Praefatio im Novum Organum (1620), die curiositas gegen die voreilige Behauptung der Wissensgrenzen und das Stagnieren einer Theorie, die sich mit der passiven Anschauung der sich selbst darbietenden Dinge begnügt anstatt experimentelle
24 Vgl. hierzu auch: Wohlleben, Doren, „Obscuritas und Curiositas. Das Rätsel als neuzeitliche Denkform mit Blick auf Francis Bacons Die Weisheit der Alten (De sapientia veterum, 1609)“, in: Variations (Literaturzeitschrift der Universität Zürich) 18 (2010): Rätsel/ Énigmes/ Riddles, S. 15-27. 25 Vgl. hierzu auch: Blumenberg, Hans, Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, dritter Teil, Frankfurt am Main 1973, besonders S. 12-19. 26 Daston, Lorraine, „Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft“, in: Krüger, Klaus (Hg.), Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit, Göttingen 2002, S. 147-175, hier: S. 158. 27 Aug., Conf., V, 3, 4; X, 35, 55. 28 Vgl. hierzu auch: Daston, Lorraine, „Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft“, S. 160.
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Veränderungen vorzunehmen. Die theoretische Neugierde,29 bei der die naive Neugierde zur selbstbewussten übergeht, wird bei Bacon zu einem methodischen Begriff. Dennoch lässt sich Francis Bacon nicht so eindeutig auf Seiten einer fortschrittsgläubigen, emanzipatorischen Aufklärung verorten, welche die curiositas zweifelsfrei gutheißt und die mittelalterliche obscuritas zu überwinden versucht. In seinen lange Zeit ignorierten, dann kritisierten und bis heute viel zu wenig rezipierten Mythenallegoresen De sapientia veterum (1609), die meist allzu einseitig als die dialektische Überführung des Mythos in die Aufklärung gelesen werden, blickt er janusköpfig nach hinten und nach vorn: Wo er eine „Rationalisierung des Irrationalen im Selbstverständnis der Rationalität“30 vornimmt, deutet sich immer auch eine Irrationalisierung des Rationalen, ein Umschlag ins Mythische an. So gibt es nach wie vor Tabuzonen, gegen deren Entschleierung sich Bacon verwehrt: Nicht jedes Geheimnis, schon gar nicht das göttliche, darf enthüllt werden. Vielmehr müssen der menschlichen curiositas Grenzen gesetzt sein. Bacon schwankt folglich zwischen einer noch mittelalterlich verankerten Abwehr der curiositas, verbunden mit einer Verteidigung der obscuritas, die das Rätsel Rätsel sein lässt, und einer von aufklärerischem Wissensdurst und Machtwillen getriebenen Neugierde (curiositas), welche die Rätsel der Natur und des Menschen zu lösen bestrebt ist. Paradigmatisch hierfür ist, neben der Sphinx-Mythe [vgl. Kap. A], die zehnte Mythenallegorese aus Francis Bacons De sapientia veterum (1609): Actaeon und Pentheus oder die Neugierde (S. 33 f.),31 deren Gegenstand die menschliche Neugierde (curiositas humana) im Verhältnis zu den göttlichen Geheimnissen (secreta divina/ Mysteria divina) ist. Den Mythos, dessen Grundlage die auf einer verlorenen Tragödie des Aischylos basierenden Bakchen des Euripides bilden, gibt Francis Bacon knapp und ohne jegliche literarische Stilisierung wieder, wobei er ihn merkwürdig verkürzt und verharmlost:32
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Vgl. hierzu: Blumenberg, Hans, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 17. Ebd., S. 185. 31 Bacon, Francis, Weisheit der Alten, hg. und mit einem Essay von Philipp Rippel, aus dem Lateinischen und Englischen übertragen und mit Anmerkungen versehen von Marina Münkler, Frankfurt am Main 1990. Auf diese Ausgabe beziehen sich die Seitenangaben im Fließtext. Die kursiv in Klammer angeführten lateinischen Zitaten sind der eingesehenen Erstausgabe von 1609 De sapientia veterum (seither kein Nachdruck, keine Neuedition) entnommen: Francisci Baconi equitis aurati, procuratoris secundi, Iacobi Regis Magnae Britanniae, De sapientia veterum liber, London, 1609. Die nicht kursiv gesetzten lateinischen Begriffe führt bereits Philipp Rippel in seiner deutschen Übersetzung an. 32 In der antiken Vorlage will Pentheus seine Mutter und deren Schwestern davon abhalten, am Bacchus-Opfer teilzunehmen, was ihm misslingt. Er beobachtet selbst die gehei30
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Kapitel II: Rätsel und obscuritas Die Neugier des Menschen, Geheimnisse zu erforschen und das berüchtigte ungesunde Verlangen, sie zu ergründen, wird von den Alten an zwei Beispielen vorgeführt: das eine ist Actaeon, das andere Pentheus. Actaeon, der Diana zufällig und nichtsahnend nackt erblickt hatte, wurde in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden in Stücke gerissen. Pentheus, der auf einen Baum kletterte, um die geheimen Bacchusopfer zu beobachten, wurde mit Wahnsinn geschlagen. Er sah fortan alles doppelt: Er sah zwei Sonnen und auch seine Heimatstadt Theben sah er doppelt, so daß er, als er sich nach Theben begeben wollte, hinter sich ein zweites Theben sah und umkehrte und so unablässig hin- und herlief, ohne jemals anzukommen. (33)
Bacon beginnt mit einer moralischen, sentenzartigen Deutung der antiken Mythen: Die Neugier (curiositas), Geheimnisse (hier: secreta) zu erkunden, wird als ein typisch menschliches, aber unheilsames Bestreben (appetitus) negativ gewertet. Im ersten Fall, bei Actaeon, geht es um eine Verletzung von Intimität, um die Grenzüberschreitung eines eigentlich privaten Bereichs (secretum – lt. secernere: ,trennen, ausscheiden‘). Das Geheimnis ist hier, wie später im 20. Jahrhundert, in Körper- und Geschlechtskategorien kodiert. Auch im zweiten Fall, bei Pentheus, zieht das Geheimnis eine spezifische Raumorganisation nach sich, mittels derer Eingeweihte, die Priester der Bacchusopfer, von Außenstehenden separiert werden (secernere). Diese zunächst räumliche, zwischenmenschliche Grenzverletzung wird ins Metaphysische transzendiert und auf das Verhältnis Mensch – Gott bezogen: Denn die Strafe für diejenigen, die mit unüberlegter Frechheit, ihre Sterblichkeit vergessend, danach trachten, von den Gipfeln der Natur und der Philosophie – als ob sie auf einen Baum geklettert wären – in die göttlichen Mysterien einzudringen, ist immerwährende Unbeständigkeit, unzuverlässiges und verworrenes Urteil. Denn das Licht der Natur (lumen naturae) ist etwas anderes als das göttliche Licht (lumen divinum), und so sehen sie gleichsam zwei Sonnen. (33 f.)
Hier ist nun nicht mehr vom secretum, sondern vom mysterium die Rede, von dem, was dem menschlichen Auge verschlossen ist (griech. µύειν: ,sich schließen‘). Dieses mysterium erinnert an die Rätsel-Konzeption des Mittelalters, an die auch Luther mit seinem retzel-Begriff anknüpft. Bei ihr sind Erkenntnis und (Er-)Lösung zwar prinzipiell möglich, aber zumeist auf das von Menschen unergründbare Jenseits ausgerichtet.
men Riten und wird von seiner in bacchantischen Rausch versetzten Mutter und ihren Schwestern entdeckt und in Stücke gerissen.
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Naturphilosophie und Religion werden, wie schon in dem Hermes Stella zugeschriebenen Kapitel über Grenzen und Ziel der Erkenntnis (Of the limits and end of knowledge), von Bacon strikt getrennt. Die Geheimnisse ersterer – in der späteren Terminologie Immanuel Kants: die arcana und secreta – können und müssen vom Menschen gelöst werden, die letzterer – bei Kant wären dies die mysteria – nicht. Wer diese Ebenen vertauscht, verharrt in einem Stadium „immerwährende[r] Unbeständigkeit“ (S. 34) und läuft, wie Pentheus, zwischen zwei Heimatstädten (zwei Sonnen) hin und her, ohne jemals anzukommen. Die curiositas muss sich nämlich auf die erhellende wissenschaftliche Beobachtung beschränken (lumen naturae) und darf nicht in die religiöse Sphäre eindringen, die allein dem Glauben vorbehalten ist und somit in anderem Licht erstrahlt (lumen divinum). Eine Vermengung dieser beiden Erkenntnisweisen führt zu einer starken Beeinträchtigung des praktischen Lebens (actiones vitae). Denn Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit müssen Bacon zufolge zielstrebig ein einziges Erkenntnisziel, eine definitive Lösung verfolgen. Im Bereich der Praxis und Politik sind ihm die Mehrdeutigkeiten oder gar Paradoxa göttlicher Mysterien (Mysteria divina) suspekt. Das Ineinandergreifen von zweierlei Sinnebenen sei hier fehl am Platz, denn der Weg müsse, anders als bei Boccaccio, zielsicher, nicht „unschlüssig (incerti) und schwankend (fluctuantes)“ verfolgt werden (S. 34). Dies lässt sich auch auf Bacons eigene Methode übertragen: Nicht auf den allegorischen Doppelsinn (vis gemina/ duplex sententia)33 kommt es ihm an, sondern auf den Umschlagpunkt des metaphorisch dunklen in ein philosophisch klares Sprechen [vgl. hierzu auch Bacons Sphinx-Allegorese, Kap A]. Bacons Mythenallegoresen Weisheit der Alten (De sapientia veterum, 1609) sind hierfür ein einschlägiges Beispiel. Es handelt sich um insgesamt einunddreißig zunächst auf Lateinisch, dann, noch zu Lebzeiten Francis Bacons (1561-1626), auf Englisch erschienene Kapitel, die sich je in einem ersten Abschnitt der literarischen Darstellung einer antiken mythologischen Gestalt widmen und in einem zweiten eine allegorische und zugleich entmythisierende Deutung dieser Figur vornehmen. Für Bacon, bei dem mit Ernst Cassirer der Mythos „zum Vehikel der logischen Denkbarkeit“ und Wissen allegorisch darstellbar geworden ist,34 stellt jeder Mythos die Verschlüsselung einer naturphilosophischen oder ethischen ,Weisheit‘ dar, die es mittels einer verstän33
Die Zweideutigkeit der Allegorie, deren Bedeutung auf der wörtlichen und zugleich auf der allegorischen Ebene liegt, gilt als Unterscheidungskriterium zur Metapher, bei der die ,wörtliche‘ Bedeutung das Medium ist, durch das sich die metaphorische Bedeutung vollzieht, vgl. hierzu: Kurz, Gerhard, „Zu einer Hermeneutik der literarischen Allegorie“, in: Haug, Walter (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, S. 12-21, hier: S. 16. 34 Cassirer, Ernst, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1963, S. 85.
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digen Lektüre zu entziffern gilt. Zur Beschreibung eines solch paradoxen Schreibverfahrens, das verhüllt und verdeutlicht zugleich, gebraucht Bacon in seiner Vorrede (Praefatio) verschiedene, von ihm synonym gebrauchte Begriffe (S. 12): Mythen (Fabulae), Rätsel (Aenigmata), Parabeln (Parabolae) und Gleichnisse (Similitudines). Ihnen ist Bacon zufolge gemein, dass sie sich jeweils einer bildlichen, vieldeutigen Ausdrucksweise bedienen, die es in logische Rede zu übersetzen gilt, ohne dass deren Bildlichkeit dadurch hinfällig wird. Es handelt sich also weder um rhetorische Figuren noch um literarische Gattungen, sondern um eine spezifische narrative Form, einen modus dicendi. Mythen seien Sinnbilder die dem Verstand das zur Darstellung brächten, was anders nicht darstellbar sei. Zwar argumentiert Bacon, wie später G. W. F. Hegel [vgl. Kap. I.2 sowie Kap. A], dass es sich dabei um eine historische Vorstufe handle, auf die man jedoch bei einem „neuen Gegenstand“ noch immer zurückgreife: Denn wie die Hieroglyphen vor den Buchstaben kamen, so kamen die Parabeln vor den Beweisen (Nam ut Hieroglyphica Literis, ita Parabolae Argumentis erant antiquiora). Und selbst wenn heute jemand die Absicht hätte, dem menschlichen Verstand einen neuen Gegenstand zu erhellen, und dies ohne Widerstand und Zwang tun wollte, so müßte er denselben Weg einschlagen und zu einem ähnlichen Hilfsmittel Zuflucht nehmen. (S. 13)
Dies erinnert an die Cusanische Argumentation [vgl. Kap. II.1], die nun nicht mehr offenbarungsphilosophisch, sondern erkenntnistheoretisch konzipiert ist. Auch hier stellt die Dunkelheit keinen Gegenpol zur Klarheit, sondern deren „Hilfsmittel“ dar. Das Gleichnis wird zur paradoxen Denkform der Frühen Neuzeit: „Denn Parabeln dienen ebenso dazu, die Bedeutung zu verhüllen und zu verschleiern, wie sie zu erhellen und zu verdeutlichen“ (Faciunt Parabolae ad Inuacrum & Velum; faciunt etiá ad Lumen & Illustrationem) (S. 12). Den Zeitpunkt einer solchen unzweideutigen Übertragung („daß niemand ernsthaft bestreiten kann“, S. 10) sieht Bacon im wissenschaftlichen Zeitalter gekommen, an dessen Beginn er sich wähnt. Dieses überwinde das ihm vorausgehende metaphysische, das Bacon wegen seines Wahrheitsbegriffs reiner Wesensbestimmung als leere Spekulation disqualifiziert. Es knüpfe wieder an das empiristisch-praktische Erfahrungswissen des mythischen Zeitalters an.35 Die Mythen leisteten einen Brückenschlag zwischen dem „Schweigen und Vergessen“ (S. 10) einer anfänglichen Dunkelheit, von der allein noch die Heilige Schrift zu berichten wisse, und der schriftlichen Überlieferung, welche Varianten der einst mündlichen Mythen („geheiligte Relikte“, S. 11) widerspiegle. Diese Mythen seien allerdings noch dunkel und verhüllt – Bacon bestimmt den
35
Vgl. hierzu: Rippel, Philipp, „Francis Bacons allegorische Revolution des Wissens“, S. 112 f.
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,Mythos‘ (fabula) als ,Schleier‘ (velum) und ,Schatten‘ (umbra) (S. 10) – und müssten in einem Interpretationsakt, in der Allegorese, erst zutage gefördert werden. Francis Bacon nimmt sowohl die Rezipienten- als auch die Produzentenseite in den Blick, wenn er das Verhältnis von Allegorie und Allegorese, von Textform und Interpretationsform reflektiert: Auf Seiten der Rezeption sieht er die Gefahr, dass ein Sinn hineingelegt wird, der dort nicht angelegt ist (S. 9). Und auf Seiten der Produktion spekuliert er, ob dieser angelegte Sinn ein intendierter ist oder nicht: Die Weisheit der frühen Zeitalter war entweder groß oder glücklich – groß, wenn sie wußten, was sie taten, und diese Gestalten oder Tropen erfanden; glücklich, wenn sie, ohne es zu wollen oder zu beabsichtigen, über einen Gegenstand stolperten, der Gelegenheit zu solch fruchtbaren Überlegungen bietet. (S. 13)
Er selbst spricht sich für die erste Variante einer ,großen Weisheit‘ aus und stellt die These auf, dass in den Mythen „von Anfang an eine Allegorie (Allegoria) und ein Geheimnis (Mysterium) verborgen (subesse) war“ (S. 10) und sie „eine dunkle und verborgene Bedeutung besitzen“ (S. 11). Begründet wird dies mit der Implausibilität antiker Mythen, die häufig „so unsinnig und geschmacklos erscheinen“ (ebd.), dass sie keineswegs zur bloßen Unterhaltung hätten erfunden werden können. Ihnen muss demnach ein ,tieferer Sinn‘ inhärent sein, den Bacon als ein Geheimnis (Mysterium) (S. 10) charakterisiert, also als – analog zu den göttlichen Geheimnissen – etwas Verborgenes, dessen Existenz man sich bewusst ist, dessen Wesen aber verhüllt und dem Menschenverstand unkenntlich oder nur teilweise kenntlich ist. War ein solches Geheimnis lange Zeit ein Privileg der Bibel, so wird es bei Bacon als Bedingung der Möglichkeit allegorischen Textverstehens schlechthin konzipiert. Dessen Dunkelheit (obscuritas) bewertet Bacon – wie Augustinus, Petrarca und Boccaccio – keineswegs negativ. Vielmehr betont er, in mittelalterlicher Tradition, deren heuristische Schlagkraft („Offenlegen der Bedeutung“ (docendi ratio), S. 12) und didaktischen Nutzen: „denn der menschliche Geist (hominum ingenium) war zu dieser Zeit noch roh und unfähig, subtilere Gegenstände zu erfassen als das, was den Sinnen unmittelbar gegeben war“ (S. 12 f.). Folglich nimmt Francis Bacon hier eine interessante Mittlerposition ein: Einerseits ist er einer erst im 19. Jahrhundert mit Hegel vollends zur Geltung kommenden und von Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung (1947) angeprangerten Fortschrittsgläubigkeit sowie der Idee eines andauernden Rationalisierungsprozesses verhaftet. Andererseits hält er an der Erkenntniskraft bildlicher, vorlogischer Rede fest, deren Dunkelheit er – entgegen späterer aufklärerischer Tendenzen und in Vorwegnahme moderner Positionen – als conditio sine qua non und gerade nicht als ein Defizit
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wissenschaftlichen Denkens betrachtet. Letztendlich plädiert er allerdings – hierin ganz Aufklärer – für eine Erhellung und Entschleierung: Es ist die Tiefe der europäischen Aufklärung, daß sie den Schicksalszusammenhang der Natur im Namen der Schöpfung durchbricht. Die Mytheninterpretation Francis Bacons erscheint wie eine Allegorie dieses Durchbrechens. Ihr sind die Mythen nicht bloß aufklärbar (so wie das Rätsel für den, der des Rätsels Lösung kennt), sondern der Stoff, aus dem sie gemacht sind, ist Aufklärung. Von Anfang an – das hat Bacon betont – ist ihnen der parabelhafte Charakter eigen.36
Dennoch lassen sich diese Mythenallegoresen Francis Bacons, den Horkheimer und Adorno als einen Vater der experimentellen Philosophie an den Beginn einer neuzeitlichen ,Dialektik der Aufklärung‘ setzen,37 nicht auf das auf Max Weber zurückgehende Schlagwort von der „Entzauberung der Welt“ reduzieren, in der es „kein Geheimnis“ gebe, „aber auch nicht den Wunsch seiner Offenbarung“.38 Denn es geht Bacon in diesem Horkheimer und Adorno vermutlich unbekannten Zeugnis nicht nur um die ,bloße‘ Enträtselung der antiken Welt – zumal er diese mittels sinnlicher Mythennacherzählungen in ihrer Rätselhaftigkeit darstellt und somit ästhetisch erfahrbar macht –, sondern zugleich um die Sichtbarmachung des hermeneutischen Prozesses einer solchen Enträtselung. Als mythische Rede bleibt das Rätsel (in der Darstellungsform der Allegorie) auch dann erhalten, wenn die entmythisierende Lösung (in der Interpretationsform der Allegorese) bereits erfolgt ist. Entmythisierung und Mythologisierung bedingen sich in diesem frühen Entstehungsprozess der Moderne nämlich gegenseitig. Nichtsdestotrotz ist bei Bacon eine klare Hierarchisierung feststellbar: Das Rätsel ist lediglich Mittel zum Zweck, eine Lösung herbeizuführen, die zugleich als eine Erlösung der Menschheit aus einem dunklen vorwissenschaftlichen Stadium verstanden wird. Es wird folglich von der Lösung, von dem hellen Ende des Rätsels, nicht mehr, wie noch in der griechischen Antike, von seiner dunklen Anfänglichkeit her gedacht. Die Option einer aufklärenden Lösung, nicht die Dunkelheit (obscuritas) konstituiert, anders als noch im Mittelalter, das Rätsel – die ludistisch-heuristische Rätselfunktion tritt ihren Siegeszug an. Von nun an begründet die curiositas (Neugierde), nicht mehr die obscuritas (Dunkelheit) die ,Legitimität der Neuzeit‘.39 36
Heinrich, Klaus, „Mytheninterpretation bei Francis Bacon“, in: ders., Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Frankfurt am Main 1966, S. 29-60, hier: S. 58. 37 Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 13. 38 Ebd., S. 15. 39 Blumenberg, Hans, Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, dritter Teil, Frankfurt am Main 1973.
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Zum Rat des Rätsels: Moses Mendelssohns Reaktion auf den „Wahrheitsforscher“ in seiner Jerusalem-Schrift (1783) und die verlorenen Wahrheitsmünzen in Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise (1779)
Maske des Moses statt aufgedeckten Angesichts in der jüdischen Hermeneutik – Exkurs: Der Rätselengel Raziel in der haggadischen Tradition – Die Demaskierung Moses Mendelssohns durch den „Wahrheitsforscher“ in Das Forschen nach Licht und Recht (1782) – G. E. Lessings Ringparabel: Der Richter als Ratgeber statt Rätsellöser Das einst (bibel-) hermeneutische, später poetologische Wechselspiel von Verhüllen und Entschleiern schlägt im Verlauf der Frühen Neuzeit – Francis Bacon ist hierfür ein einschlägiges Beispiel [vgl. Kap. II.2] – immer häufiger zur Seite des Entbergens aus. Hier wird die Wahrheit verortet, die nicht mehr, wie noch in Nikolaus von Kuesʼ aenigmatica scientia dynamisch, sondern zunehmend statisch gedacht ist. Sie erscheint, wie Gotthold Ephraim Lessing seinen Nathan den Weisen im gleichnamigen Stück 1779 ironisch bemerken lässt, als bare Münze, die es gewinn- und machtorientiert rational zu erwirtschaften gilt. Nicht mehr der Prozess des Enträtselns, sondern dessen Produkt, die (angeblich) wahre Antwort, steht im Mittelpunkt einer (vermeintlichen) Aufklärung. Deren „Wahrheitsforscher“ setzen auf „Licht und Recht“ und versuchen die letzten enigmatischen Dunkelstellen zu eliminieren. Paradoxerweise entlarvt eine derartige Aufklärung gerade durch ihre Lichtzentrierung die Schattenseite und ihre, mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, immanente Dialektik [vgl. hierzu auch Kap. A]. Indem sie auf das „Subjekt“, die „Einheit“, das „System“, kurzum die „Berechenbarkeit der Welt“ baut, ist sie ganz auf die eindeutige Antwort, die endgültige Auflösung, fixiert. Die pluralistischen Funktionen und Motivationen des Rätsels [vgl. Kap. I.4] geraten dabei in Vergessenheit: Die Antwort des Ödipus auf das Rätsel der Sphinx: „Es ist der Mensch“ wird als stereotype Auskunft der Aufklärung unterschiedslos wiederholt, gleichgültig ob dieser ein Stück objektiven Sinnes, die Umrisse einer Ordnung, die Angst vor bösen Mächten oder die Hoffnung auf Erlösung vor Augen steht.1
Doch provoziert eine derartig lichtzentrierte Geistesgeschichte Gegenlektüren, die auf alternative Narrative zurückgreifen, was sich an den in der Aufklärung zunehmend polarisierten biblischen Leitmetaphern der Maske des Moses und des aufgedeckten Angesichts zeigen lässt. Hier stoßen zwei zunächst fundamental
1
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S. 17.
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verschiedene Repräsentationsordnungen einer universalen Wahrheit aufeinander, diejenige des Judentums, die auf Unerkennbarkeit, Maskiertheit und Rätselhaftigkeit basiert, sowie diejenige des Christentums, die im 18. Jahrhundert2 auf Erkennung, Entschleierung und Enträtselung setzt.3 Als explizite neutestamentarische Abgrenzung von der alttestamentarischen Maskenmetapher lässt sich der zweite Korintherbrief lesen. In der Luther-Übersetzung: Weil wir nun solche Hoffnung haben, sind wir voller großer Zuversicht, und tun nicht wie Mose, der die Decke vor sein Angesicht hing, damit die Kinder Israels nicht sehen sollten das Ende dessen, was da aufhört. Aber ihre Sinne wurden verstockt. Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke unaufgedeckt über dem alten Testament, wenn sie es lesen, weil sie nur in Christus abgetan wird. Doch bis auf den heutigen Tag, wenn Mose gelesen wird, hängt die Decke vor ihrem Herzen. Wenn Israel aber sich bekennt zu dem Herrn, so wird die Decke abgetan. Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, ist Freiheit. Nun aber spiegelt sich bei uns allen die Herrlichkeit des Herrn in unserm aufgedeckten Angesicht, und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur anderen von dem Herrn, der der Geist ist. (2. Kor. 3, 12-18)
Dieser Korintherbrief wird im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in den interreligiösen Kontroversen aktualisiert, wobei das immer wieder mit dem Rätsel korrelierte ,Angesicht‘ zum hermeneutischen Brenn- und Streitpunkt wird. Maske des Moses statt aufgedeckten Angesichts in der jüdischen Hermeneutik Noch in der gegenwärtigen jüdischen Hermeneutik steht der christlichen Leitmetapher vom aufgedeckten Angesicht das alttestamentarische Narrativ der Maske des Moses4 entgegen, die dessen Zuhörer vor Gottes gleißendem Licht schützt. Die Maske (hebr. masswe) impliziert hier nicht die Dialektik Verhüllen und Entschleiern, die erst mit den Christentum einsetzte und in der Antike so nicht angelegt war: Das Altgriechische (πρόσωπον) sowie das Lateinische (persona) kannten nämlich nur einen einzigen Begriff für ,Maske‘ und ,Gesicht/ Person‘.5 Die Maske verbirgt also nicht das ,wahre‘ Gesicht und 2
Dass dies kein generelles, zeitenübergreifendes Merkmal des Christentums ist, konnte exemplarisch bereits im Kapitel über Nikolaus von Kues [II.1] gezeigt werden. 3 Vgl. hierzu: Hilfrich, Carola, „Lebendige Schrift“. Repräsentation und Idolatrie in Moses Mendelssohns Philosophie und Exegese des Judentums, München 2000, S. 49 f. 4 Vgl. hierzu: Bruckstein, Almut Sh., Die Maske des Moses. Studien zur jüdischen Hermeneutik, Berlin/ Wien 22007. 5 Vgl. hierzu: Weihe, Richard, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004.
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verhindert so die Offenbarung, sie ermöglicht sie im Gegenteil erst. Denn die Maske der jüdischen Hermeneutik enträtselt nicht, sondern verrätselt neu und kann so zumindest eine Ahnung von einem Rätsel geben, dessen endgültige Schau (noch) nicht möglich, bzw. nur Auserwählten vorbehalten ist. Die ,dunkle‘ Sprache, sei es die religiöse oder die dichterische Rätselrede, erfüllt dabei immer wieder die Funktion einer Maske: Ihr Trennendes wird zur Bedingung des Verstehens. Kann sie Wahrheit auch nicht selbst erzeugen, ist sie doch deren reflektierendes Medium. Die Maske des Moses, der „Antlitz zu Antlitz“ (2. Mose/ Ex. 33, 11) mit Gott spricht, dient im Judentum und im Christentum auf je unterschiedliche Weise zur hermeneutischen Selbstpositionierung. Die Frage nach der (Un-) Möglichkeit der Les- und Lösbarkeit von verrätselten Gesichtern nimmt hier ihren Anfang [vgl. Kap. III.1, III.2]. Während die christliche Tradition in der erst durch Jesus Christus möglich gewordenen Enthüllung des göttlichen Angesichts die Wahrheit sucht („Denn das Gesetz wurde durch Moses gegeben, die Gnade und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus“; Joh. 1, 17), ist es in der jüdischen Hermeneutik wichtig, dass nicht einmal Moses auf die Bitte hin, Gott möge ihm sein wahres Wesen kundtun (2. Mose/ Ex. 33, 18), das Antlitz Gottes zu sehen vermochte: „Mein Antlitz kannst du nicht sehen, denn nicht sieht mich der Mensch und lebt“ (2. Mose/ Ex. 33, 20). Moses bedarf vielmehr der verhüllenden, vor göttlichem Licht schützenden Maske, um das göttliche Geheimnis überhaupt tradieren zu können. Nur in der direkten Unterredung mit Gott, die ihm als dem einzigen Propheten „von Mund zu Mund“ (hebr. pe el pe adabber bo, 4. Mose/ Nu. 12, 8) zusteht – alle anderen Propheten kommunizieren mit Gott nur durch einen verdunkelten Spiegel (vgl. hierzu auch 1. Kor. 13, 12-13), in Rätseln –, legt Moses den Schleier ab. In der Übersetzung Martin Bubers und Franz Rosenzweigs:6 da, die Haut seines Antlitzes strahlte, und sie fürchteten sich, zu ihm hin zu treten. Mosche rief ihnen zu, so kehrten sich zu ihm Aharon und alle Fürsten in der Gemeinschaft, und Mosche redete zu ihnen. […]. Als aber Mosche geendet hatte, mit ihnen zu reden, gab er auf sein Antlitz einen Schleier. Wann Mosche kam vor IHN, mit ihm zu reden, tat er den Schleier ab, bis er hinausging. Kam er heraus und redete zu den Söhnen Jiſsraels, wozu er entboten war,
6
Die Schrift, Bd. 1: Die fünf Bücher der Weisung, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Heidelberg 1987.
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Kapitel II: Rätsel und obscuritas sahen die Söhne Jiſsraels Mosches Antlitz, daß die Haut des Antlitzes strahlte; dann aber legte Mosche den Schleier wieder über sein Antlitz, bis er kam, mit ihm zu reden. (2. Mose/ Ex. 34, 30-35).
Solange sich Moses mit den Söhnen Israels unterhält, bedarf er keiner Maske. Die Sprache selbst tritt als Maske, respektive Schleier (hebr. masswe) dazwischen. Doch hat sie dabei keine störende, sondern eine schützende Funktion, indem sie Aharon und die anderen Söhne Israels vor dem beunruhigend, schmerzhaft leuchtenden Antlitz bewahrt, das von der unmittelbaren Begegnung Moses mit Gott zeugt. In einer rabbinischen Erklärung7 wird die Maske zu den siebzig Gesichtern der Tora in Bezug gesetzt, den verschiedenen, letztlich unendlichen Auslegungsmöglichkeiten, nach denen Tora gelernt, gelehrt und übersetzt wird. Diese verdecken die Nacktheit der Schrift genauso wie die Maske des Moses sein durch die Gottesunterredung leuchtendes Antlitz. So widersprüchlich sie auch sein mögen, sind sie doch alle Ausdruck des göttlichen Wortes, das ohne sie nicht erfahrbar wäre: Offenlegen der Schrift kann nur durch Auslegen von statten gehen, das per se ein erneutes Verhüllen impliziert (vgl. engl. re-velation). Dabei sind in der jüdischen Hermeneutik die schriftliche und die mündliche Tora gleichursprünglich, so dass es Schriftbezug nicht unmittelbar, sondern immer nur vermittelt durch die Tradition (Masoret) geben kann. Letztere macht ein ,Rückwärtslesen‘ vom Kommentar zur Schrift, von der Enträtselung zum Rätsel erforderlich und unabdingbar.8 Gottes Wort muss also durch Deutungs- und Übersetzungsprozesse immer neu verrätselt werden, denn das nackte Wort Gottes erschlägt die Israeliten regelrecht. Der Midrasch (hebr. darash: ,suchen, sich nach etwas erkunden, erforschen, anfragen‘), der biblische Texte befragt, indem er sie in neue Narrative übersetzt und durch bestimmte Weisen des Lesens und Interpretierens den Schlüssel zum Geheimnis Gottes liefert,9 berichtet Folgendes: Die Israeliten
7
Saba, Abraham, Zeror haMor zu Ex, 34, 40, Warschau 1879, S. 56, zitiert nach: Bruckstein, Almut Sh., Die Maske des Moses, S. 108. 8 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Jüdische Hermeneutik“ in: Gelhard, Dorothee, Spuren des Sagens. Studien zur jüdischen Hermeneutik in der Literatur, Frankfurt am Main 2004, S. 20-32, hier: S. 24. 9 Beispielhaft hierfür ist folgender Midrasch, der sich selbst befragt und so über das Wesen des Midraschs poetologisch reflektiert: „Eines Tages kamen die Völker der Welt zu Gott und fragten ihn: ,Was hast Du mit den Juden, daß Du sie so beliebäugelst. Kannst Du uns nicht mitteilen, was es da zu lernen gibt?‘ Da erhielten sie zur Antwort: ,Die Kinder Israels kennen den Schlüssel zu meinem Geheimnis‘. ,Und was ist dieses Geheimnis?‘ Antwort: ,Das Geheimnis ist Mischnah [Midrasch], … heʼach lidrosch, wörtlich ,wie man liest‘, ,wie man interpretiert‘.“ Zitiert nach: Bruckstein, Almut Sh., Die Maske des Moses, S. 71.
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seien am Berge Sinai durch die Worte Gottes bewusstlos geworden, obgleich er dunkel und durch Wolken hindurch gesprochen habe. Von da an verlangten sie nach einem Hermeneuten, einem Dolmetscher, der das göttliche Wort maskiere und somit verfremde, um es ins Eigene zurückzuholen. Sie bitten Moses: „rede du mit uns, wir wollen hören, aber nimmer rede mit uns Gott, sonst müssen wir sterben“ (2. Mose/ Ex. 20, 19). Exkurs: Der Rätselengel Raziel in der haggadischen Tradition Selbst die Engel hören Gottes Wort nur in Übersetzung und sehen sein Antlitz nicht. So wird es zumindest in The Legends of the Jews (1909) berichtet, einer mehrbändigen, von Louis Ginzberg kompilierten, chronologisch geordneten, ursprünglich deutschsprachigen, aber nur auf Englisch publizierten Sammlung der Haggada (,Erzählung, Sage‘),10 also der erzählenden und nicht halachischen (gesetzlichen) Überlieferungen in Talmud und Midrasch. Einem einzigen Engel ist es hier vergönnt, vor dem Vorhang zu stehen, der den Thron Gottes und dessen Worte umhüllt: Raziel, von Hebräisch raz ,Rätsel, Geheimnis‘, wörtlich: ,mein Geheimnis [ist] Gott‘ oder ,der die Geheimnisse Gottes kennt‘: As he [Moses] passed on he met the angel Gallizur, also called Raziel. He it is who reveals the teachings of his Maker, and makes known in the world what is decreed by God. For he stands behind the curtains that are drawn before the Throne of God, and sees and hears everything. Elijah and Horeb hear that which Raziel calls down into the world, and passes his knowledge on.11
Zu Raziel vorzudringen, der von Heerscharen von Engeln abgeschirmt wird, die wiederum von Erzengeln überwacht werden (“Then he [Moses] met Kemuel, the porter, the angel who is in charge of twelve thousand angels of destruction, who are posted at the portals of the firmament”12), verlangt Furchtlosigkeit, vor allem aber Gottes Geheiß: “Moses answered: ‘Not of my own impulse do I come here, but with the permission of the Holy One, to receive the Torah and bear it down to Israel’”.13
10
Aggada, bzw. Haggada bedeutet ,das Erzählte‘ und bezeichnet einen wesentlichen Teil der rabbinischen Tradition, nämlich die erzählende, nichtgesetzliche Literatur im Gegenüber zur gesetzlichen Literatur, der Halacha. 11 Ginzberg, Louis, The Legends of the Jews, translated from the German Manuscript by Paul Radin, Bd. III: Bible Times and Characters. From the Exodus to the Death of Moses, Philadelphia 51968, S. 112. 12 Ebd., S. 109. 13 Ebd., S. 109 f.
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Auch bei der einzigen weiteren, früheren Passage in den Legends of the Jews, in der vom Rätsel-Engel Raziel die Rede ist, ist dessen hermetisch-esoterisches Wissen von Bedeutung. Hier übergibt er Adam nach dessen frommem Schuldbekenntnis und Gebet ein Buch, The Book of Raziel,14 das allein Adam zugänglich ist. In ihm sind alles Wissen, alle Geheimnisse und darüber hinaus sogar die Fähigkeit, Engel anzurufen und deren Fragen zu beantworten, erklärt: “It is the book out of which all things worth knowing can be learnt, and all mysteries, and it teaches also how to call upon the angels and make them appear before men, and answer all their questions”.15 Der hebräische Engel Raziel ist also keineswegs wie sein griechischer ,Bruder‘ Hermes, der in Folge von Platons Pseudo-Etymologie im Kratylos-Dialog (407e-408b) im gesamten Altertum und teilweise bis heute als Schutzpatron der Hermeneuten gilt [vgl. Kap. II.3],16 auf eine generelle Vermittlung zwischen sakraler und säkularer Welt bedacht. Während der Götterbote und Kommunikationsgott Hermes – wenn auch mitunter bewusst irreführende – Spuren legt,17 denen prinzipiell jeder folgen kann, tritt
14
Ginzberg, Louis, The Legends of the Jews, translated from the German Manuscript by Henrietta Szold, Bd. I: Bible Times and Characters. From the Creation to Jakob, Philadelphia 131937, S. 90-93. 15 Ebd., S. 92. 16 Plato machte in seinem Kratylos-Dialog (407e-408b) aus dem Gott Hermes einen hermeneus und stellt hiermit eine etymologische Verbindung zwischen dem griechischen Verb hermeneuein und dem Namen des Gottes her, an die das gesamte Altertum glaubte. Bis heute gehen die Begriffe Hermetik und Hermeneutik (pseudo-) etymologisch auf Hermes zurück, auch wenn zeitgenössische Philologen diese Beziehung bezweifeln. Jean Pépin weist darauf hin, dass der griechische Begriff hermeneia durch die lateinische Übersetzung in interpretatio eine Bedeutungsverengung erlitt, in deren Folge er dann meist einseitig mit ,Exegese‘ oder ,Vermittlung‘ (inter-, etwas, das sich dazwischenschiebt) wiedergegeben wurde. Hierbei handelt es sich jedoch sicher nur um „eine der semantischen Möglichkeiten von hermeneia, und zwar weder die wichtigste noch wahrscheinlich die ursprünglichste“ (S. 110). Die ursprüngliche Konnotation von hermeneuein, die unter der Auslegung späterer Hermeneuten zunehmend in Vergessenheit geriet, ist jedoch fast die gegenteilige: Es bedeutet etwas kundzutun, etwas auszusprechen, geistige Inhalte, die an sich stumm sind, mit Hilfe verbaler oder klanglicher Mittel nach außen zu bringen. Die Bedeutungen ,etwas erklären, auslegen oder übersetzen‘ gibt es zwar ebenfalls, sie nahmen aber ursprünglich nicht den Rang ein, den ihnen spätere Hermeneuten verliehen. Die hermeneutike kann, wie Plato das schon betonte (Plat., Epinomis, 975c), also nur für das stehen, was gesagt worden ist, aber nicht dafür, ob es wahr ist (Vgl. hierzu: Pépin, Jean, „Die frühe Hermeneutik. Worte und Vorstellungen“, in: Bohn, Volker (Hg.), Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt am Main 1988, S. 97-113). 17 Zu „Hermes als Erzähler- und Denkfigur“ vgl. Wohlleben, Doren, Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in Poetik-Vorlesungen und Romanen der Gegenwart, Freiburg i. Br./ Berlin 2005, S. 167-177.
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der Rätsel-Engel, der über kosmogonisch-göttliches Wissen verfügt, nur Auserwählten in Erscheinung. Er zeugt von dem, was abgetrennt, maskiert, verborgen, also ,heilig‘ ist (hebr. kadosch: ,das Abgetrennte, Verborgene, streng Bewachte, Umgrenzte‘). Das Hermetische wird in dieser volkstümlichen Legende zur Grundvoraussetzung für das Hermeneutische, das Trennende zur Bedingung des Verstehens [vgl. Kap. I.4]. Und das Rätsel, das sich auch hier konzeptionell vom Geheimnis im Sinne von mysterium kaum unterscheidet, stellt erneut eine Grenzfigur dar: Es wird zu dem Antlitz Gottes in Bezug gesetzt, das im Leben niemals geschaut werden darf, sondern allenfalls mehrfach vermittelt und neu verrätselt – als Stimme oder in Schriftzeichen – erfahrbar ist. Die Demaskierung Moses Mendelssohns durch den „Wahrheitsforscher“ in Das Forschen nach Licht und Recht (1782) Besonders offensichtlich wird diese Dichotomisierung in Maske und aufgedecktes Angesicht in den (vermeintlich) aufklärerischen Säkularisationsbewegungen, deren Hintergrund nach wie vor christliche Missionsbestrebungen bilden. Beispielhaft hierfür ist die an Moses Mendelssohn (1729-1786) adressierte, im September 1782 in Berlin erschienene Schrift Das Forschen nach Licht und Recht in einem Schreiben an Herrn Moses Mendelssohn auf Veranlassung seiner merkwürdigen Vorrede zu Menasseh Ben Israel.18 Der anonyme Verfasser rekurriert auf das alttestamentarische Narrativ des maskierten Moses (2. Mose/ Ex. 32-34) sowie dessen Christianisierung durch die neutestamentarische Rede vom „aufgedeckten Angesicht“ (2. Kor. 3, 18), wenn er Mendelssohn auffordert, sich „ganz zu zeigen“ (S. 75) und sich von nun an stärker dem Christentum zu assimilieren. Er knüpft hiermit – wenn auch aufgrund des österreichischen Toleranzediktes von 1781 unter neuen historischen Vorzeichen – an die für Mendelssohn traumatische Lavater-Affäre der späten 1760er Jahre an. Die Zukunft des Judentums wird auf diese Weise vehement in Frage gestellt. Der anonyme ,Forscher‘ legt ein alarmierendes Zeugnis ab für die „Krise der Andersartigkeit im deutsch-jüdischen Dialog der Moderne“,19 die sich in der Antlitz-Thematik bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts kristallisiert. Der Verfasser von Das Forschen nach Licht und Recht assoziiert den in säkularer Aufklärung und jüdischer Tradition gleichermaßen verwurzelten Moses
18
In: Mendelssohn, Moses, Gesammelte Schriften, Bd. 8: Schriften zum Judentum II, bearbeitet v. Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 73-87. Die Seitenzahlen werden im Folgenden nach dieser Ausgabe direkt im Fließtext angeführt. 19 Hilfrich, Carola, „Lebendige Schrift“. Repräsentation und Idolatrie in Moses Mendelssohns Philosophie und Exegese des Judentums, S. 42.
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Mendelssohn mit dem biblischen Moses, dessen jüdische Maske er ihn abzunehmen auffordert: Während der Mendelssohn der Lavater-Affäre noch „eine Dekke vor [sein] Angesicht“ genommen und „ihm hinter einem Vorhang“ geantwortet habe, sei er nun in seiner Vorrede zu Mennaseh Ben Israel Rettung der Juden „hinter dem Vorhange mit einem glänzenden Wahrheitsblikke einen Augenblick ohne Maske hervorgetreten“ und habe dem „Wahrheitsforschenden Publikum Erwartung gegeben“ (S. 76). Doch sei diese Erwartung bislang nicht eingelöst worden, weshalb der Forscher Mendelssohn zu einer Nachrede und, wenn auch nicht zum Übertritt zum Christentum, doch wenigstens zu einem klaren Bekenntnis zu animieren versucht: Jezt, mein lieber Herr Mendelssohn, iezt, da sie angefangen haben, den ersten Schrit freiwillig zu thun, iezt müssen Sie den zweiten Schrit, sich ganz zu zeigen, nicht schuldig bleiben. Sie haben uns mit einer Vorrede beschenkt, die wie Blitzeshelle durchs Dunkle fuhr; lassen sie uns iezt einen vollständige Nachrede von Ihnen lesen und mit derselben die Morgenröte der Wahrheit zu einem schönen Tage hervorbrechen, um das Wandeln im Licht bei denen zu befördern, die Freunde des Lichts sind und von der Hand der Wahrheit geleitet, so gern gewisse Tritte thun mögen. (S. 76)
Denn mit dem Neuen Testament, so der christliche „Wahrheitsforscher“ (S. 75), sei das noch enigmatische Alte Testament enträtselt und ans Licht gebracht worden. Wie ein halbes Jahrhundert später G. W. F. Hegel (1770-1831) die ägyptische Zeit mit dem Rätsel in Verbindung bringt, die er durch den Anbruch der griechischen Aufklärung ein für allemal überwunden glaubt [vgl. Kap. A], greift auch der ebenfalls fortschrittsgläubige Verfasser des Schreibens Das Forschen nach Recht und Licht auf die Metapher der Hieroglyphen zurück, die einer vergangenen, überholten Zeit sowie alten Repräsentationsordnung eines „zur Abgötterey geneigten Volkes“ (S. 84) angehörten:20 und daß eine andere Zeit kam, wo man schärfer in die helle Sonne zu blikken sich wagte und sich stark genug glaubte, mit der Sprache reiner herauszugehen, die Dekke abzuwerfen und unmaskiert zu lehren, was sonst nur in Hieroglyphen kleidete, und in figürlichen Vorstellungsarten mehr als zur Hälfte verhülte. (S. 75)
Moses Mendelssohn reagiert hierauf mit seiner ein Jahr später erschienenen Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783). Das nach religiöser und kultureller Einheit zielende Bestreben des nach „Wahrheit“ – ein
20
Die Hieroglyphen gelten im 18. Jahrhundert als beliebtes Beispiel für Idolatrie. Zum Verhältnis von Idolatrie und Repräsentation im Denken bei Moses Mendelssohn, vgl. ebd., S. 119-126.
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Begriff, der in der anonymen Schrift immerhin 24mal auftaucht – verlangenden Forschers sieht er als Symptom einer Krise kultureller Andersartigkeit. Mendelssohns Antwort fällt weder polemisch noch selbstkritisch aus, vielmehr entwickelt er eine Theorie der Schrift, in der er bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Krise der Repräsentation thematisiert. Mit seinem Plädoyer für eine „lebendige Schrift“ präfiguriert er nachmetaphysische Konzepte,21 die vor einer totalitären Hermeneutik warnen, indem sie sich für die Differenz statt für die Identität, für die Partikularität statt für die Universalität und für das Verhüllen statt für das Entschleiern einsetzen. G. E. Lessings Ringparabel: Der Richter als Ratgeber statt Rätsellöser Moses Mendelssohn galt als Sokrates des 18. Jahrhunderts, dem der Ruf vorauseilte, dass seine Schriften nur noch durch seinen Charakter übertroffen worden seien. Bekanntlich war er das Vorbild für Nathan den Weisen in Lessings gleichnamigem „dramatischem Gedicht in fünf Aufzügen“ aus dem Jahr 1779, das er als einer der ersten kritisch gegenlas. Als Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) zwei Jahre später starb, schildert Mendelssohn den fast gleichaltrigen Lessing, mit dem ihn ein knapp 30-jähriger Gedankenaustausch verband, in einem Brief an Johann Gottfried Herder vom 15. März 1781 als seinen „Freund und Wohlthäter“.22 Seine eigene Haltung charakterisiert Mendelssohn in jenem Brief mit der Gewohnheit, christlichen Freunden gegenüber „erst leise anzupochen und zu lauschen, ob nicht auch innerlich eine Veränderung vorgegangen, oder wenigstens zum Scheine vorgenommen werden muß“.23 Hiermit greift er, bewusst oder unbewusst, ein Bild auf, das Lessing seinem Protagonisten in dem berühmten Reflexionsmonolog (III.6) kurz vor der Ringparabel in den Mund legt, wo es heißt: „Man pocht doch, hört/ Doch erst, wenn man als Freund sich naht. – Ich muss/ behutsam gehn!“ (V. 1882-1884). In einem anderen Brief an den Bruder Karl Gotthelf Lessing vom Februar 1781 schreibt Moses Mendelssohn, dass der gerade verstorbene Gotthold Ephraim Lessing seine Seele gebildet habe und dass er ihn sich auch in Zukunft bei jeder Handlung, jeder Zeile als seinen „Freund und Richter“ vorstelle.24 Der im Handeln und Denken Rat erteilende Richter tritt auch in der Ringparabel in der Mitte von Lessings dramatischem Gedicht Nathan der Weise (1779)
21
Vgl. ebd., besonders S. 105-135. Moses Mendelssohn an Johann Gottfried Herder, 15. März 1781, in: Mendelssohn, Moses, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Briefwechsel III, bearbeitet v. Alexander Altmann Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 10-12, hier: S. 11. 23 Ebd. 24 Moses Mendelssohn an Karl Gotthelf Lessing im Februar 1781, in: ebd., S. 6. 22
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auf (III.7). Nathan lässt den Richter dort an seiner Statt sprechen und auf jeglichen Urteils- und Schiedsspruch verzichten. Wo der Sultan Saladin Beweise und Argumente fordert, antwortet Nathan in Parabeln und Rätseln, die eine (Er-) Lösung zwar in Aussicht stellen, aber nicht mehr – oder noch nicht? – einlösen. Lessings Ringparabel soll daher im Folgenden gerade nicht als Paradigma einer epistemologisch unbefangenen, neuzeitlichen Parabeltradition gelesen werden.25 Vielmehr werden hier, was bereits auf das parabolische Erzählen der Moderne vorausverweist, die Grenzen hermeneutisch eindeutiger Urteile mit reflektiert, wenn die gegenwärtige Möglichkeit eines letztgültigen Richtspruchs bestritten wird. Statt in Erkenntnis, die der Sultan Saladin vom Juden Nathan einfordert („Einsicht, Gründe“, V. 1848), mündet die Rätselrede in gegenseitige Anerkennung („Freund“, V. 2060). Auch lässt sie sich nicht paraphrasieren, denn Saladin, der es bereut, dass er seine Schwester Sittah nicht hat mit horchen lassen, beklagt: „Wie soll ich alles das ihr nun erzählen?“ (V. 2110). Allein im dialogischen, literarisierten Sprechakt („gut erzählt“; V. 1907) und Akt des Zuhörens („Du hörst doch, Sultan?“/ „Ich hör, ich höre!“; V. 1955 f.), nicht in der nachträglichen Wiedergabe oder gar Deutung, erzeugt die Parabel ihre Wirk- und Wahrheitskraft [vgl. hierzu auch Kap. I.1]. Der Jude Nathan windet sich aus den „Fallen“ (V. 1739), „Schlinge[n]“ (V. 1751), „Stricke[n]“ (V. 1758) und „Netze[n]“ (V. 1759) des Sultans, kurzum aus dem griphos, bei dem es, wie bei einem Halslöserätsel, um „Leib und Leben! Gut und Blut“ (V. 1899) geht, indem er ein enigmatisches „Geschichtchen“ (V. 1905), die Ringparabel, erzählt. Die Fangfrage Saladins „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz/ Hat dir am meisten eingeleuchtet?“ (V. 1840 f.) wird für Nathan zum Erzählanlass eines ainigma, das sich der Antwort genauso entzieht wie der dichotomischen Rollenverteilung in Sieger und Verlierer. In diesem ainigma ist wiederum ein vermeintliches griphos, die Rätselfrage nach dem wahren Ring, enthalten. Aus Sicht der drei Brüder, die sich alle für den einzig rechtmäßigen Erben halten, scheint diese Frage prinzipiell eindeutig beantwortbar. Die untereinander zerstrittenen Brüder fordern – wie zuvor Saladin den Juden Nathan mit seiner Frage nach den drei Weltreligionen – einen Richter auf, einen endgültigen „Spruch“ (V. 2030) zu liefern, den dieser jedoch – wie Nathan – verweigert: „Denkt ihr, dass ich Rätsel/ Zu lösen da bin?“ (V. 2012 f.). Stattdessen begnügt sich der Richter bescheiden mit einem „Rat“ (V. 2030/31) zur guten Tat, mit der Aufforderung zur lebens-
25
Vgl. zu diesem aufklärerischen, lösungsorientierten Parabelverständnis z. B. Weiler, Gershon, Philosophische Parabeln, Wien 1988: „Vom Anfang menschlicher Bemühungen um abstraktes Denken an wurden Parabeln verwendet, um philosophische Probleme und deren Lösungen zu veranschaulichen und verständlich zu machen“ (S. 9). Zur Affinität von Parabel und Rätsel vgl.: Wäsche, Erwin, Die verrätselte Welt. Ursprung der Parabel. Lessing – Dostojewskij – Kafka, Meisenheim am Glan 1976.
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praktischen Bewährung statt der Forderung nach metaphysischer Wahrheit. Die erlösende Rätsellösung, den letzten Urteilsspruch, verschiebt er auf den jüngsten Tag: „So lad ich über tausend tausend Jahre/ Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird/ Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen,/ Als ich; und sprechen“ (V. 2050-2053). Der ,Fall‘ endet nicht mit einem Spruch, sondern mit dem Sprechen, nicht mit der Rätsellösung, sondern mit dem Rat. Während in einer rationalistischen Parabel der Witz aus der überraschenden Lösung des Richters resultieren würde, die basisbildend für die erkenntnisvermittelnde Pointierung der Parabel wäre, verweigert Lessings Parabel dieses Witz-Ideal. Sie weist – hierin der modernen Parabel vergleichbar – eine Appellstruktur auf, eine Aufforderung an die Verantwortung des einzelnen und an das Selbstdenken. Die Suche (quest) nach dem alten Zauberring bleibt der mythische Rest, der das „Märchen“ (V. 1890) Nathans durchzieht, an dessen Ende nicht die (Er-) Lösung, sondern allenfalls ein utopischer Verweis auf sie steht. Das eschatologisch-utopische Ende der Ringparabel wird durch die märchenhafte Redefloskel zu deren Beginn komplementär ergänzt, die anstatt in die weite Zukunft in die ferne Vergangenheit weist: „Vor grauen Jahren lebtʼ ein Mann in Osten“ (V. 1911). Sie berichtet von einem „Ring von unschätzbarem Wertʼ“ (V. 1912), der „die geheime Kraft, vor Gott/ Und Menschen angenehm zu machen“ (V. 1915 f.) besitzt. Von Generation zu Generation je an den liebsten Sohn vererbt, gerät der Zauberring an einen Vater, der ihn, um Missgunst unter den drei, von ihm gleichermaßen geliebten Söhnen zu vermeiden, „geheim zu einem Künstler [sendet],/ Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes,/ Zwei andere bestellt, und weder Kosten/ Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich,/ Vollkommen gleich zu machen“ (V. 1945-1949). Der Homo faber hat die Plagiate dermaßen perfekt erschaffen, dass „selbst der Vater seinen Musterring/ Nicht unterscheiden“ (V. 1951 f.) kann: „der rechte Ring war nicht/ Erweislich“ (V. 1962 f.). Hier hält Nathan inne und erwartet „des Sultans Antwort“, also eine eigenständige Übertragung des Gleichnisses auf dessen religiöse Ausgangsfrage. Doch diese bleibt aus – Nathan der Weise muss sie selbst liefern: „Fast so unerweislich, als/ Uns itzt – der rechte Glaube“ (V. 1964 f.). Saladin reagiert unwirsch: „Wie? das soll/ Die Antwort sein auf meine Frage? ...“ (V. 1965 f.). Empört ist er offensichtlich weniger über den Inhalt der Rede als über deren indirekte Ausdrucksweise. Mit seinem Einwurf „Spiele nicht mit mir!“ (V. 1970) gibt Saladin zu erkennen, dass sich die ursprüngliche Machtkonstellation – Saladin als Rätselsteller, Nathan als Rätsellöser – verkehrt hat: Nicht mehr der Jude Nathan, von dem der Sultan Saladin Geld zu erzwingen erhofft, ist die „Schachfigur“ im politisch-ökonomischen Machtspiel, sondern
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der Herrscher selbst wird plötzlich zur Spielfigur einer für ihn intransparenten, verunsichernden Erzählstrategie – eines literarischen Rätselspiels.26 Dass die klaren, dichotomischen Spiel- und Rollenverhältnisse, die Welt des agôn, Erschütterungen unterzogen werden, deutet sich bereits im ersten Auftritt des zweiten Aufzugs, beim Schachspiel Saladins mit seiner Schwester Sittah im Sultanspalast an. Aus der politisch und wirtschaftlich instabilen Realität Jerusalems zur Zeit der Kreuzzüge – der Waffenstillstand mit den Christen ist aufgehoben, und die Gelder aus Ägypten lassen auf sich warten – flüchtet sich das Geschwisterpaar in die regelbasierte Welt des Schachs, die sie zugleich durch gegenseitige geschwisterliche Hilfeleistungen unterminieren. Saladin ist an diesem Tag „nicht so ganz beim Spiele“, ist „zerstreut“ (V. 838) und erbittet mehrfach eine Beendigung des Spiels: „Mach ein Ende!“ (V. 819). Sittah gewährt ihm dies mit einem dreifachen „Schach! – und Schach! – und Schach!“ (V. 833), ein wenig enttäuscht über seine mangelnde Spiellust („Wenn werden wir so fleißig wieder spielen!“, V. 850). Als Grund für seine Motivationslosigkeit am siegesorientierten Schachspiel führt Saladin zunächst dessen fehlende hermeneutische und mnemonische Tiefendimension an: „Und dann: wer gibt uns denn die glatten Steine/ Beständig? die an nichts erinnern, nichts/ Bezeichnen“ (V. 838-840). Die „glatten Steine“ – eingeführt von strengen Mohammedanern, um die im Islam verbotenen Abbildungen zu vermeiden – tragen Wertbezeichnungen, stellen aber keine menschlichen Figuren mehr dar. Sie sind Zeichen, ohne – außerhalb des Zeichensystems des Spiels – zu bezeichnen, Signifikant ohne Signifikat, auf ihre bloße strategische Funktion reduziert. Doch sei dies nur ein „Vorwand“ für den „Verlust“ (V. 842), so Saladin: „Nicht/ Die ungeformten Steine, Sittah, sind’s/ Die mich verlieren machten: deine Kunst,/ Dein ruhiger und schneller Blick…“ (V. 842-845). Von den Gesichtszügen des Anderen geht also erneut die Irritation aus, nicht von dessen strategischen Spielzügen [vgl. auch Kap. B]. Das schwarz-weiße Spiel gelingt als Spiel nur so lange, solange Saladin sich ganz auf dessen regelgeleitete heuristisch-ludistische Funktion einlässt und siegen will. In dem Moment, in dem er nach dem hermeneutischen Mehrwert des Spiels fragt und den MitSpieler, einst ,Gegner‘, in den Blick nimmt, beginnt er, – wie Nathan später über Saladin zu Al-Hafi sagt – „mit dem Spiele [zu] spielen“ (V. 1473). Ein derartiges Spiel mit dem Spiel setzt jedoch das Schachspiel und mit ihm das dichotomische Machtdenken matt (arab. mât schâh: ,Der König ist tot‘). Den schwarz-weißen „glatten Steinen“ des logischen Schachspiels stellt Nathan nun in seiner Ringparabel den „Opal, der hundert schöne Farben spielte“ (V. 1914) des enigmatischen Erzählens gegenüber. Nathan ,spielt‘ mit
26
Zum Verhältnis von „Schachgesellen und Erzählern“ vgl. auch Angelika Overath in: Toleranz. Drei Lesarten zu Lessings Märchen vom Ring im Jahre 2003 von Angelika Overath, Navid Kermani, Robert Schindel, Göttingen 2003, S. 21-31, hier: S. 23.
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dem griphos, mit der vermeintlich klaren Frage-Antwort-Struktur, mit der (End-) Logik des dialogischen Schach-Matt-Setzens. Wo Saladin das Ende einfordert („Komm mit deinem Märchen/ Nur bald zu Ende. – Wird’s?“; V. 1956 f.), behauptet es Nathan zunächst dreist und suggeriert hermeneutische Gewissheit: „Ich bin zu Ende./ Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst“ (V. 1957 f.). Was folgt, folgt eben nicht „von selbst“, sondern als klare explicatio in Form rhetorischer Fragen, die Nathan an Saladin richtet. Nathans Ausführungen enden allerdings nicht, wie man dies bei einer aufklärerischen, auf epistemologische Transparenz bauenden Parabel zunächst erwarten könnte, mit der explicatio. Vielmehr kehrt Nathan zur narratio zurück und greift sein „Märchen“ von den Ringen wieder auf, das inzwischen die Neugierde des Sultans geweckt hat: „Und nun, der Richter? – Mich verlangt zu hören,/ Was du den Richter sagen lässest. Sprich!“ (V. 2008 f.). Raffiniert macht Nathan der Weise den Richter zu seinem Sprachrohr und lässt das von Saladin eingeforderte Ende utopisch werden („über tausend tausend Jahre“; V. 2050). In einem zweiten, nicht minder gewitzten Schritt parallelisiert er den Sultan mit dem vom Richter messianisch in Aussicht gestellten letzten Richter: „Saladin,/ Wenn du dich fühlest, dieser weisere/ Versprochne Mann zu sein:…“ (V. 2054-2056). Doch spätestens jetzt schreckt Saladin vor jedem Machtanspruch („Ich Staub? Ich Nichts?“; 2056) und Richtspruch („Sein Richterstuhl ist nicht/ Der meine“; V. 2059 f.) zurück. Nathans strategischer Vorsatz, den er in seinem Reflexionsmonolog kurz vor der Begegnung mit Saladin fasste („Man pocht doch, hört/ Doch erst, wenn man als Freund sich naht“; V. 1882 f.), geht in Erfüllung: Er wird als „Freund“ (V. 2060) entlassen, ist gehört worden. Doch tritt er nicht ab, ohne den in Finanznöten steckenden Saladin noch generös Geld anzubieten („Fast hab ich/ Des baren Gelds zu viel“, V. 2067 f.). Damit zeigt er, dass er auch den ökonomischen Hintergedanken der religiösen Fangfrage längst durchschaut hat. Über das Geld wird erneut ein Bogen zum Parabel-Prolog, zum Monolog Nathans (III.6), geschlagen, wo es hieß: Hm! hm! – wunderlich! – Wie ist Mir denn? – Was will der Sultan? was? – Ich bin Auf Geld gefasst; und er will – Wahrheit, Wahrheit! Und will sie so, – so bar, so blank, – als ob Die Wahrheit Münze wäre! – Ja, wenn noch Uralte Münze, die gewogen ward! – Das ginge noch! Allein so neue Münze, Die nur der Stempel macht, die man aufs Brett Nur zählen darf, das ist sie doch nun nicht! Wie Geld in Sack, so striche man in Kopf Auch Wahrheit ein? Wer ist denn hier der Jude? (V. 1865-1875)
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Kapitel II: Rätsel und obscuritas
Die Wahrheit ist seit der Neuzeit eben keine Münze mehr, die gewogen und in ihrem Wert eindeutig bestimmt werden kann. Neue Entitäten – wie hier der Stempel – kommen hinzu: Substanz und Wort können nicht mehr, als seien sie zwei Seiten einer Münze, gekoppelt werden. Es wird mit Werten gerechnet, die in der Natur keine Verankerung mehr haben, keinen materiellen Gegenwert, wie einst die bare Goldmünze, aufweisen. Sie können gezählt, erzählt werden – berechenbar im Sinne einer von vornherein festgelegten Schlusskalkulation sind sie nicht. Saladins gegenüber Nathan geäußerte Wendung „Nie die Wahrheit zu/ Verhehlen! für sie alles auf das Spiel/ Zu setzen! Leib und Leben! Gut und Blut!“ (V. 1897-1899) erfährt retrospektiv eine ironische Wendung: Die Wahrheit als ontologische Kategorie wird von Nathan auf das (Rätsel-) Spiel gesetzt, indem er sie jeder endpunkthaften Festlegung entzieht und allein in der Dynamik des (theatralischen) Spielens performativ erfahrbar macht. Franz Rosenzweig (1886-1929), der sein Leben und Werk, wie vor ihm wohl nur Moses Mendelssohn, dem philosophischen deutsch-jüdischen Dialog verschreibt, notiert 1919 in „Zu Lessings Denkstil“: Lessing ist der wenigst Verstandene unter den großen Männern der deutschen Klassik. Er war ein so durchaus mündlicher Mensch, daß, um seine wahre Meinung zu erkennen, man sich bei jeder Äußerung jeweils ihren Ort in dem jeweiligen Gespräch vergegenwärtigen muß, in das sie für Lessing selbst gehörte. Erst daraus ergibt sich, ob Lessing selbst das Ganze mit einem Ausrufungszeichen oder mit einem Fragezeichen meinte oder auch mit einem Gedankenstrich. Mit einem Punkt meint er es sehr selten, denn der Punkt ist der Tod des Gesprächs.27
So verwundert es nicht, dass sich Rosenzweig in seinen fragmentarischen, kaum beachteten Notizen „Lessings Nathan“, welche – kurz nach der Fertigstellung seiner Arbeit am Stern der Erlösung – die Grundlage zu einem Doppelvortrag in Kassel Ende Dezember 1919 bildeten, bevorzugt auf das ,punktlose‘ Ende der Ringparabel und nicht auf das glückliche, geschlossene Ende des Dramas bezieht. Mehr als zwei Jahrzehnte bevor der barbarische Ausspruch des Patriarchen „Der Jude wird verbrannt“ (V. 2559) grausame Wirklichkeit geworden ist und eine deutsch-jüdische Rezeptionsgeschichte von Lessings Drama einsetzt, die den Eintritt des am Ende verwandtschafts- und kinderlosen Juden in die deutsche Literatur zugleich als den Anfang einer jüdischen Verlustgeschichte begreift,28 initiiert Rosenzweig eine kritische Lektüre von Nathans Ende. Weder wählt er
27
Rosenzweig, Franz, „Zu Lessings Denkstil“, in: ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. 3: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, S. 455. 28 Vgl. hierzu auch die auf die Ringparabel Lessings rekurrierende Einleitung in: Hessing, Jakob, Verlorene Gleichnisse: Heine, Kafka, Celan, Göttingen 2011.
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hierbei den Weg der Lessingschen utopischen Vollendung (der vormodernen Erlösung) noch den des tragischen Endes durch Nathans Tod, das George Tabori 1991 auf die Bühne bringt (der nachmodernen Auflösung).29 Mehr als eine wie auch immer geartete Lösung des Rätsels interessiert ihn, hierin dem Richter der Ringparabel vergleichbar, der Rat des Rätsels. Letzterer ist keine moralische Anweisung, sondern ein Verweis auf eigenständige Reflexion. Rosenzweig schließt seine Vortragsnotizen dementsprechend mit einem appellativen „Seien Sie selbst der Sultan“, dem er folgende Anmerkungen vorausschickt: […] Verteilung von Licht und Schatten. Nathan als Jude. Die Wendung der Ringgeschichte. Überwindung des bloßen Toleranzgedankens, vor allem der Indifferenz durch die blutige Forderung der „tausend tausend Jahre“. Der messianische Ausblick des Schlusses. Keine Kinder. Widerlegt eigentlich schon durch die Gebetserzählung des IV. Aktes (die man nur anzusehen braucht, um über den lächerlichen Streit über Lessings „Determinismus“ hinauszusehen). „Von mir zu mir“. „Verkennen“. Wir stehen im IV. Akt nicht im V., der nicht zufällig blutleer geraten ist. […].30
Mit dem „blutleer[en]“ fünften Akt und dem „bloßen Toleranzgedanken“31 übt Rosenzweig ein Jahr nach Beendigung des Ersten Weltkriegs Kritik an der in seiner Zeit erschütterten „Basis der gemeinsamen Abstraktion“, an der „kühlen fischblütigen Geschwisterlichkeit“32, welche „die urmenschliche Verschiedenheit“ leugne und sich allein auf den religiös unbehausten „nackte[n] Mensch[en]“33 konzentriere. Er hält an der spezifischen Identität von Jude und Christ fest, an dem gemeinsamen Menschsein, das er – im fundamentalen Unterschied zu Lessing – nicht voraussetzt, sondern als eschatologische Zielperspektive dem Menschen als Auftrag erteilt: „Menschen zu machen, nicht uns zu erinnern, daß wir Menschen sind“.34 Rosenzweigs Wahrheitsprüfung findet also – analog zum Rat des Richters in Nathans Ringparabel – nicht im theoretischen Beweis, sondern im lebensprakti-
29
Vgl. hierzu auch: Fischer, Barbara, Nathans Ende? Von Lessing bis Tabori. Zur deutsch-jüdischen Rezeption von ,Nathan der Weise‘, Göttingen 2000. 30 Rosenzweig, Franz, „Lessings Nathan“, in: ders., Der Mensch und sein Werk, S. 449-453, hier: S. 452 f. 31 Zum Toleranzgedanken bei Lessing aus theologischer Perspektive vgl.: Surall, Frank, Juden und Christen – Toleranz in neuer Perspektive: der Denkweg Franz Rosenzweigs in seinen Bezügen zu Lessing, Harnack, Baeck und Rosenstock-Huessy, Gütersloh 2003. 32 Rosenzweig, Franz, „Lessings Nathan“, in: ders., Der Mensch und sein Werk, S. 449-453, hier: S. 451. 33 Ebd., S. 450. 34 Ebd.
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Kapitel II: Rätsel und obscuritas
schen Tun statt: „daß noch Bewährung vor uns liegt“.35 Und für diese Bewährung, nicht für die Wahrheit steht das ainigma ein, dessen Prozesshaftigkeit (das Urteilen) wichtiger ist als das Produkt (das Urteil). Seine Orientierung erhält es jedoch nach wie vor – und da knüpft Rosenzweig an eine frühneuzeitliche Tradition an, die Lessing bereits überwunden hatte – von der Offenbarung her. Das ,neue Denken‘ Franz Rosenzweigs ist demnach doppelt gerichtet: zum einen in die dynamische Horizontale, zum anderen in die Vertikale, die jene mitunter arretiert und irritiert [vgl. Kap. III.1]. Dabei bleibt es stets – hierin wieder Lessings Ringparabel vergleichbar – auf einen Hörer gerichtet. Denn sie konstituiert sich allein in einer wechselseitigen Anerkennungsbeziehung im ,Und‘ sowie ,Für‘ [vgl. hierzu auch die Schlussüberlegungen]: Noch in der Wahrheit selber, der letzten, die nur eine sein kann, muß ein Und stecken; sie muß, anders als die Wahrheit der Philosophen, die nur sich selber kennen darf, Wahrheit für jemanden sein. Soll sie dann gleichwohl die eine sein, so kann sie es nur für den Einen sein. Und damit wird es zur Notwendigkeit, daß unsre Wahrheit vielfältig wird und daß ,die‘ Wahrheit sich in unsre Wahrheit wandelt. Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ,ist‘, und wird das, was als wahr – bewährt werden will.36
35
Ebd., S. 451. Rosenzweig, Franz, „Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung“, in: ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. 3: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, S. 139-161, hier: S. 158.
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(B)
Figur und Figuration des Rätsels. Zweiter Teil: TURANDOT
Turandot: Die Rätselprinzessin jenseits von femme fatale und femme fragile – Nizami (Die Geschichte von den Rätseln der Turandocht, aus: Heft peiker, 1197): Das Rätsel als Zauber- und Liebesakt – Friedrich Schiller (Turandot. Die chinesische Prinzessin. Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi, 1802): Des Rätsels Lösung und die schöne Seele – Giacomo Puccini (Turandot. Dramma lirico in tre atti e cinque quadri, 1926): Das Opfer des guten Endes oder Gegenstimmen zur Siegesgeschichte des Rätsels Die Dramen Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise (1779) und Friedrich Schillers Turandot (1802) stellt Johann Wolfgang Goethe in seiner Schrift Weimarisches Hoftheater (1802) unmittelbar nebeneinander. Er lobt, obgleich er die aktuellen Weimarer Inszenierungen kritisiert, deren „schöne Wirkung“, die „manches auf[zu]regen [vermag], was in der teutschen Natur schläft“.1 Der Zuschauer werde aufgefordert, sich „wie einen Reisenden [zu] betrachten, der in fremden Orten und Gegenden, die er zu seiner Belehrung und Ergötzung besucht, nicht alle Bequemlichkeit findet, die er, zu Hause, seiner Individualität anzupassen Gelegenheit hatte“.2 Der Turandot-Stoff gilt als anregend, aufregend, unbequem und, im wahrsten Sinn des Wortes, befremdlich. Daran dürfte sich, obzwar die Exotik des Ortes heute nicht mehr so empfunden wird, bis hin zu den dramaturgischen und musikalischen (Neu-) Bearbeitungen im 20. und 21. Jahrhundert kaum etwas geändert haben. Verwunderlich ist dies deshalb, weil die eigentliche quest des Märchens mit ihrem prototypischen Spannungsaufbau und ihrer Handlungsstringenz – Auszug, Rätselprüfung (später mit Gegenrätsel), (Er-) Lösung – wie ein Relikt aus alten Zeiten anmutet.3 Unruhe
1
Goethe, Johann Wolfgang, „Weimarisches Hoftheater“, in: ders., Ästhetische Schriften 1771-1805, hg. v. Friedmar Apel, Frankfurt am Main 1998, S. 842-850, hier: S. 850. 2 Ebd., S. 848. 3 Das allgemeine Handlungsschema der abenteuerlichen Suche (engl. quest, frz. quête) ist im Erzählgut vieler Kulturen wirksam. Es prägt Märchen, Sagen, aber auch AvantgardeRomane und Filme, vgl. hierzu: Martinez, Matias; Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, München 32002, S. 153-155.
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stiften allein, auch nach ihrer vermeintlichen Lösung, die Rätsel: „Rätsel vertreten hier die Stelle der Scylla und Charybdis“.4 Und diese Rätsel lassen sich nicht, wie in den folgenden drei Textlektüren aus einem Zeitraum von fast 800 Jahren gezeigt werden soll, auf die PlotSituation, den eigentlichen Rätselwettkampf zwischen Mann und Frau, reduzieren. Ebenso wenig sind sie, wie die gendertheoretischen Ansätze dies gerne suggerieren, im „Rätsel-Weib“ Turandot allein zu verorten.5 Sie spielen sich vielmehr auf unterschiedlichen inter- und intrapersonellen Ebenen ab. Die heuristisch-ludistischen Rätsel, deren Inhalte oft kosmogonischer Natur sind, bilden zwar den dramatischen Höhepunkt, fußen letztlich aber auf der ethischutopischen Rätselfunktion, die ihre existentielle Bewährungsprobe in der Liebe zum oder im Tod des Anderen erfährt. Turandot: Die Rätselprinzessin jenseits von femme fatale und femme fragile Zunächst zum Stoff: Turandot, das Mädchen (pers. Dokht) aus Turkestan (pers. Turan), ist eine vermutlich aus dem persischen Sprachraum stammende Märchenprinzessin, deren erstes literarisches, uns heute überliefertes Zeugnis aus dem 12. Jahrhundert stammt. Sie ist bezaubernd schön und klug, verwehrt sich jedoch jedem Mann. Unter Drängen ihres Vaters erklärt sie sich schließlich bereit, denjenigen zu heiraten, der ihre Rätselprüfungen besteht; alle anderen bestraft sie gnadenlos mit dem Tod. Wie in der Sphinx-Mythe [vgl. Kap. A], werden auch hier Männer, die der Antwort schuldig bleiben, grausam enthauptet, bis eines Tages der Prinz aus der Fremde kommt, der ihre Rätsel zu lösen weiß. Der Wunsch, sich den Rätselprüfungen zu unterziehen, wird durch ein Bildnis der Prinzessin ausgelöst, das den Prinzen magisch in Bann zieht, bevor er die Prinzessin selbst überhaupt erblickt. Ein Idealbild, ein jeglichen Willen des Betrachters außer Kraft setzendes, gemaltes Antlitz, geht dem realen Gesicht voraus. Das Rätsel des Anderen bricht ein, bevor es überhaupt zu einer Begegnung mit dem Anderen kommt. Alterität und Exteriorität sind demnach zwei wichtige Komponenten des in seinen Anfängen noch stark magisch-kosmogonisch verankerten TurandotStoffes, der sich im Europa des 18. Jahrhunderts infolge der Orient-Begeisterung neuer Beliebtheit erfreut. In dieser Zeit beginnt auch die Verlegung des Schauplatzes in das exotisch konnotierte Asien, das im eurozentristischen Blick als
4
Goethe, Johann Wolfgang, „Weimarisches Hoftheater“, S. 850. Vgl. hierzu: Hilmes, Carola, Die femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur, Stuttgart 1990, S. 1-13. Vom „Weib“ als „Räthsel“ ist schon in dem Kapitel „Von alten und jungen Weiblein“ in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (KSA 4, S. 84) die Rede. 5
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Kontinent männlicher Despotie galt, wo sich die politisch unterdrückte Frau erst behaupten musste.6 Turandot, deren neues Selbstbewusstsein sich in und mit der Aufklärung konstituiert („frei nur will ich leben“, Schiller, V. 775), gerät in der Moderne zu einer Chimäre („Turandot non esiste!“, Puccini, I. Akt). Voreilig wird diese Chimäre mit dem „ästhetische[n] Typus“7 der femme fatale identifiziert, einem „Rätsel-Weib“, das erst durch den Mann ge- und erlöst werden kann. Die femme fatale stellt eine „dämonische Verführerin“ und „geheimnisvolle, nicht in Besitz zu nehmende Frau [dar], die durch ihre ,Aura‘ fesselt“ und in einer „Übermächtigungssituation“8 schließlich vom Mann bezwungen wird. Das gute Ende sei somit beglaubigt. Hierbei wird vernachlässigt, dass dieser ziel- und lösungsorientierte Rätselplot fiktionsintern schon in Friedrich Schillers Turandot. Die chinesische Prinzessin. Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi (1802) und erst recht in Giacomo Puccinis Oper Turandot. Dramma lirico in tre atti e cinque quadri (1926) durch Maskenfiguren konterkariert, oft sogar ironisiert wird. Der Siegesgeschichte des Rätselspiels (griphos) bleibt vielmehr eine Enigmatik eingeschrieben, die sich jeglicher Figuren-Stereotypisierung und Dichotomisierung entzieht. Erst im dynamischen Wechselspiel der Figuren untereinander, scheint, wie bei Schiller, die Idee einer ,schönen Seele‘ in beidseitiger Liebe auf oder wird, wie bei Puccini, dadurch desillusioniert, dass eine andere Frau, Liù, für diese Liebe ihr Leben lässt. Mit der Opferfigur führt Puccini eine femme fragile, den „Inbegriff der reinen Seele“,9 in den Turandot-Stoff ein. Dramaturgisch betrachtet, verhilft sie der Protagonistin Turandot zum Sieg. Ethisch gesehen, stellt sie diesen Sieg jedoch auf den Prüfstand und wird selbst zur Rätselfigur, deren Antlitz auch nach ihrem Tod präsent bleibt. So entwickeln sich gerade in den Nebenhandlungen Gegenlektüren zur erfolgsbasierten Rätselgeschichte. In ihnen kommen diejenigen Rätselfunktionen zum Tragen, die in der – Gozzi und Schiller vermutlich unbekannten – persischen Vorlage Nizamis aus dem 12. Jahrhundert bereits angelegt sind. Denn das orientalische Märchen wird bis heute für „die Liebesgeschichte par excellence“10 gehalten: Es betrachtet den Weg zur Rätsellösung als genauso wichtig wie das Ziel, indem es den Akt der (An-) Erkennung der Liebenden als
6
Vgl. hierzu: Osterhammel, Jürgen, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jhd., München 1998. 7 Hilmes, Carola, Die femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur, S. 3. 8 Ebd., S. X. 9 Ebd., S. 30. 10 Gobrecht, Barbara, „Die schöne Zauberin. Sind Märchen Liebesgeschichten?“ in: Heindrichs, Ursula und Heinz-Albert (Hg.) im Auftrag der Europäischen Märchengesellschaft, Zauber Märchen. Forschungsberichte aus der Welt der Märchen, München 1998, S. 200-215, hier: S. 207.
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Prozess gestaltet. Die Figuren halten zwar an Idealen fest, entziehen sich selbst aber jeglicher stereotypisierenden Idealisierung. Aus diesem Grund stellen noch in der iranischen Gegenwartskunst Nizamis Frauengestalten beliebte Identifikationsfiguren dar, so zuletzt in der Oper Neda – Der Ruf Nader Mashayekhis (geb. 1958 in Teheran), der ersten Uraufführung einer iranischen Oper in Deutschland (Osnabrück/ Theater am Domhof, 13. März 2010).11 Die beiden Librettistinnen Nadja Kayali und Angelika Messner begründen die Wahl ihrer mittelalterlichen literarischen Vorlage folgendermaßen: Wie erklärt man die Faszination eines Dichters des islamischen Mittelalters auf zwei moderne Frauen des 21. Jahrhunderts? Wer einmal Bekanntschaft mit den weiblichen Figuren in Nizamis Epen gemacht hat, wird uns verstehen. Schirin, Nushabe, Fitna, Turandot sind Frauen mit Charakter, mit einem Willen zu einem selbstbestimmten Leben und einer Vision für die Welt.12
Turandot wird hier erneut eine Stimme verliehen (pers. Neda: ,Ruf, Stimme‘), eine Stimme, bei der sowohl Friedrich Schillers Drama mit seinem Freiheitsgedanken als auch Giacomo Puccinis Oper mit ihrer Idee des Traumas und der Frauenschändung mitschwingen, wenn Turandot im dritten und letzten Opern-Akt Mashayekhis singt: Ich schreie den Schrei den stummen Schrei meiner Ahnin aller Frauen aller Zeiten überall auf der Welt niedergeworfen geschändet von einem Mann vor tausend Jahren und heute…
11
Sie soll an die Iranerin Neda Agha-Soltan erinnern, eine Studentin, die nach Augenzeugenberichten bei den Protesten nach der iranischen Präsidentschaftswahl im Juni 2009 durch den Pistolenschuss eines Mitglieds der paramilitärischen Basij-Milizen getötet wurde. 12 Kayali, Nadja und Messner, Angelika: „Nizami – eine Liebeserklärung“ (Originalbeitrag) im Programmheft des Theaters Osnabrück, Spielzeit 2009/10, Heft 57. Herausgeber Städtische Bühnen Osnabrück, Redaktion Dorit Schleissing. Diesem Programmheft ist auch der dort abgedruckte Libretto-Text entnommen.
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Und Stille dann und dann Vergessen.
Sowie im Schillerschen Gestus wenig später: „Ich wollte frei sein“. Die Resignation wird besonders im Epilog spürbar, in dem Nuschabe, Fitna und Turandot aus der Szene heraustreten und zu Spiegelbildern heutiger Frauen werden: „Den Mann,/ der die Rätsel löst,/ nie gefunden“. Anders als bei Nizami, Carlo Gozzi, Friedrich Schiller, Giacomo Puccini, Bertolt Brecht13 und auch Wolfgang Hildesheimer14 bleibt ein geschlossenes, glückliches Ende in Form einer Heirat bei diesem Schluss aus, der mit der offenen Frage Fitnas in eine allenfalls utopische Richtungsweisung mündet: „Wohin gehen?/ Wohin?“
13
Vgl. hierzu: Alberti, Elisa, Wandlungen einer Frauenfigur. Vergleichende Untersuchungen zu den ,Turandot‘-Bearbeitungen von Gozzi, Schiller, Puccini, Brecht, Frankfurt am Main 2012, S. 207-233. 14 Wolfgang Hildesheimers mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden (1955) ausgezeichnete Komödie aus dem Jahre 1954, die mit der Einführung des ,falschen Prinzen‘ eine geistreiche Persiflage leistet, müsste – gerade vor dem Horizont einer Ironisierung der quest – dringend untersucht werden: Hildesheimer, Wolfgang, Die Eroberung der Prinzessin Turandot. Komödie in zwei Akten, in: Pörtner, Paul (Hg.), modernes deutsches theater 1, Neuwied am Rhein 1961, S. 73-158.
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Nizami (Die Geschichte von den Rätseln der Turandocht, aus: Heft peiker, 1197): Das Rätsel als Zauber- und Liebesakt Eine Rätselprinzessin, die ihren Herausforderer nicht in Rätselworten, sondern in Rätselhandlungen auf die Probe stellt und so in ihr eigenes esoterisches Wissen initiiert, entwirft gegen Ende des 12. Jahrhunderts der persische Dichter Nizami (gespr. Nesamí) (1140-1202). Sie ist zwar in der altpersischen Originalfassung, anders als in der deutschen Übersetzung, nicht namentlich als Turandocht bezeichnet,15 gilt aber als die erste überlieferte, in ihrer faszinierenden Mischung aus Sinnlichkeit und Geistigkeit bis heute unübertroffene literarische Bearbeitung des Turandot-Stoffes. Die Verbindung von Antlitz und Rätsel [vgl. Kap. III] ist hier bereits angelegt: Ein von der Prinzessin selbst gemaltes Zauberbildnis zieht trotz warnender Unterschrift auch die vernünftigsten Männer in seinen Bann. Beim Versuch, die klug errichtete und durch Magie geschützte Burgfeste der Prinzessin zu erklimmen, werden alle Werber vernichtet. Erst derjenige Prinz, der sich in stiller Einsamkeit von einem weisen Einsiedler in das kosmogonisch-magische Geheimwissen der schönen und klugen Prinzessin einweisen lässt und dort „die Antworten auf die schwierigsten Rätsel“ (S. 143) lernt, vermag sie zu erobern. Doch kommt es in der eigentlichen Rätselprobe nicht auf angelerntes, verbales Wissen an. Die Rätsel der Prinzessin sind, anders als in allen späteren Bearbeitungen, keine intellektuellen Sprachspiele, legomena, sondern werden allein durch die rituelle Interaktion zweier Liebespartner, durch dromena, gelöst [vgl. auch Kap. I.4, Funktion (1), (2)]. Nicht um ein rationales Verständnis geht es, sondern um ein rituelles Einverständnis. In dieser Rätselhandlung, die am Ende im Prozess ihrer Versprachlichung und vermeintlichen Auflösung erst recht zu einem Meta-Rätsel wird, (an-) erkennen sich die Liebenden. Nizami, von Zeitgenossen als ,Spiegel des Unsichtbaren‘ tituliert, gilt als der Schöpfer des persischen Liebesromans, der neben dem Heldenepos und dem lehrhaft-erbaulichen Epos eine der drei großen epischen Gattungen in der altpersischen Literatur darstellt. Die Geschichte von den Rätseln der Turandocht ist die vierte der Sieben Geschichten der sieben Prinzessinnen, die wiederum das Mittel- und Kernstück des Epos Heft Peiker (Die sieben Bildnisse, 1197) bilden. Dieser novellenartige Zyklus umfasst quantitativ mehr als die Hälfte des Epos.
15
Nizami selbst hat den damals wohl schon mit der Figur assoziierten Namen Turandot nicht verwendet, den erst Rudolf Gelpke in seiner deutschen Übersetzung aus dem Jahre 1959 in der Form Turandocht „der größeren Anschaulichkeit wegen“ einfügt, vgl. hierzu: Nizami, Die sieben Geschichten der sieben Prinzessinnen, Titel der persischen Originalausgabe: Heft peiker (1197), übersetzt und mit einem Nachwort von Rudolf Gelpke, Zürich 2007, S. 292. Nach dieser deutschen Ausgabe wird unter Angabe der Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert.
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Die andere Hälfte nehmen die Schicksale des Königs Behram ein, eines altpersischen Fürsten aus dem 5. Jahrhundert nach Christus, der zugleich auch der Protagonist der Rahmenerzählungen der sieben Geschichten ist. In einem für ihn erbauten Lustschloss, so die Rahmenhandlung, entdeckt Behram eines Tages einen Raum, dessen Wände mit den Bildnissen von sieben Prinzessinnen aus sieben Reichen geschmückt ist. In der Mitte findet er sein eigenes Bild, darunter die Inschrift, dass er sich, wenn er einst zur Herrschaft gelange, diese sieben Schönen zu Gattinnen nehmen solle. Denn dies sei der Wille der damals bekannten sieben Planeten und des allmächtigen Gottes. So geschieht es, und Behram lässt einen Palast mit sieben Kuppeln bauen, in denen ihn an jedem Wochentag eine Prinzessin mit einer Einschlafgeschichte unterhält, die jeweils eine Facette der Liebe sowie einen Aspekt des irdischen Schicksals beleuchtet. Am Ende fügen sich alle zu einem Kosmos der Gesetzmäßigkeiten, denen der Mensch unterworfen ist.16 Das dunkle Rätsel sowie der geheimnisvolle Schleier („Schleier vor den Welträtseln“, S. 108) und die menschliche Begierde, ihn zu lüften, bilden von Anfang an eine handlungstreibende Kraft der Liebesgeschichten. Der in der klassischen und modernen persischen Literatur vielfach erwähnte und auch bei Nizami leitmotivisch immer wieder auftauchende Wunder- und Zaubervogel Simorgh (S. 12, S. 29, S. 31, S. 142) ist hierfür ein Emblem:17 Umgeben ist er von hunderttausend Schleiern von Licht und Finsternis. Der Name dieses Königs der Vögel gilt in mystischer Tradition als unaussprechbar. Die erste, von schwarzer Farbsymbolik durchzogene Geschichte handelt von einer unerfüllten Liebe, von leidenschaftlicher Ungeduld und erzwungener Enthaltsamkeit. Sie hat das Spannungsverhältnis von Dunkelheit und Neugier, von obscuritas und curiositas, zum Thema: Es ist von einem König die Rede, der aus „Sucht [s]einer Neugier“ (S. 28) einst danach strebte, „alles zu kennen und von allem zu hören, was Menschen in dieser Welt nur immer erleben“ (S. 11). Eines Tages verlässt er Thron und Reich und kehrt nach längerer Zeit schwarz gekleidet und ernst zurück. Erst auf die Nachfrage einer Dame, die ihn bittet, sein „Geheimnis“ zu „offenbar[en]“ (S. 14), berichtet er von dem Verlust seines Paradieses: Nach einer Reise nach China in die „Stadt der Umnachteten“ (S. 24)
16
Saturn (Samstag)/ indische Prinzessin; Sonne (Sonntag)/ griechische Prinzessin; Mond (Montag)/ maurische Prinzessin; Mars (Dienstag)/ russische Prinzessin; Merkur (Mittwoch)/ charezmische Prinzessin; Jupiter (Donnerstag)/ chinesische Prinzessin; Venus (Freitag)/ persische Prinzessin. 17 Zur Bildersprache allgemein bei Nizami vgl. auch: Ritter, Hellmut, Über die Bildersprache Nizāmīs, Berlin/ Leipzig 1927. Ritter, der sich als einer der ersten der ästhetischen Wirkung Nizamis auf Europäer widmet, betont, dass der dichterische Vergleich, der in der arabischen Literatur eine große Rolle spielt, bei Nizami zugunsten des unmittelbaren bildlichen Ausdrucks, der Metapher (isti’āra), bzw. des Gleichnisses verdrängt sei: „dafür beherrscht die Metapher die ganze Dichtersprache in einem Maße, wie wir es aus keiner europäischen noch vorderasiatischen Literatur kennen“ (S. 4).
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muss er bitter erfahren, dass das „Rätsel des Schwarzen“ (S. 18), das er ergründen will, nur am eigenen Leib erfahrbar ist. Allein durch Selbstverhüllung kann das Geheimnis entschleiert werden: „Es gibt auf deine Frage keine Antwort, für niemand, es sei denn, er trage selbst auch dieses schwarze Kleid…“ (S. 16 f.). Die Offenbarung geht folglich nur durch die eigene Tat, nicht durch das fremde Wort vonstatten. Und sie geschieht in finsterster Nacht: „,Wenn du wirklich erfahren willst, was der Sinn unseres Schweigens und unserer schwarzen Gewänder ist – so mußt du eine Weile Platz nehmen in diesem Korb und dich von ihm tragen lassen zwischen Himmel und Erde‘“ (S. 26). Der Korb zieht ihn auf magische Weise zunächst zu jenem Wunder- und Zaubervogel, sodann in ein Paradies, in dem ihm eine begehrenswerte Frau erwartet, die sich ihm, wie das Geheimnis der Schwärze, stets von Neuem entzieht. Und gerade als er es, beziehungsweise sie endgültig zu enthüllen hofft, verschwindet sie. Er bleibt in „lichterlose[r] Finsternis“ (S. 62) zurück und kehrt als „Schah der Schwarzmäntel“ (S. 63) für immer verbittert zurück in sein Reich. Wird das Verlangen „ein Rätsel zu lösen“ (S. 63) hier bestraft, so weist es in der vierten Geschichte, der Geschichte von den Rätseln der Turandocht (S. 129-157) den Weg ins beidseitige Glück. Allerdings versteht sich hier der Prinz zu gedulden und arbeitet sich „lange, lange Zeit“ (S. 143) mit Hilfe eines Einsiedlers in die geheimen Künste und Wissenschaften der Rätselprinzessin ein. Letzere ist „ebenso schön […] wie klug“ (S. 129), „es ist, als wären ihre Eltern Sonne und Mond oder als hätte sie von Mutter Venus die Schönheit geerbt und von Vater Merkur den Verstand“ (S. 130). Der höchste Beweis ihrer Klugheit ist ihr Mysterienwissen, ihre „verborgenen Kenntnisse“ und ihr „Zugang zu jenen Geheimnissen […], welche diejenigen, die sie besitzen, den vielen Dummen nicht weitersagen“ (S. 130). Die kosmogonischmagische und die hermetisch-esoterische Rätselfunktion spielen hier ineinander [vgl. Kap. I.4]: Sich Weltwissen zu verschaffen, dieses aber zugleich vor der Mit-, insbesondere der Männerwelt geheim zu halten, ist oberstes Gebot der die Ehe verachtenden Rätselprinzessin. Dieses Bedürfnis spiegelt sich auch architektonisch wider: Die an Dornröschen erinnernde Prinzessin bittet ihren Vater auf einem „Berggipfel“, der „hoch zum Himmel“ (S. 131) ragt, um eine „unzugängliche Bergfeste“ (S. 132). Dort in solipsistischer Erhabenheit will die Sternenkundige dem „Menschenschicksal“ entrinnen. Allerdings scheint sie insgeheim zu hoffen, dass diese Mauern einst überwunden werden, wenn sie kurz darauf „ihr eigenes lebensgroßes Bildnis“ (S. 136) malt, um dessen verführerische Kraft sie weiß: erstens muß er vornehm sein und schön; zweitens den Schwertzauber lösen, der ihm den Weg versperrt; drittens – gelingt ihm dies – das Tor finden, das ihn zu mir führt, denn ich will keinen sehen, der übers Dach bei mir einsteigt; und viertens endlich, wenn er soweit gelangt ist, muß er die Rätsel lösen, die ich ihm stellen werde im Palast und in Anwesenheit meines Vaters. (S. 136)
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Der Ratende, der sich der Prinzessin ebenbürtig erweisen will, soll sich also über die magischen Kenntnisse hinaus („Schwertzauber lösen“) ethisch-sittlich qualifizieren („vornehm“) und so den – auch moralisch – rechten Weg zu ihr finden. Daher verwundert es nicht, dass der später siegreiche Kandidat, der, wie die Prinzessin, als „schön“ und „klug“ (S. 139) eingeführt wird, erst einmal Umwege einschlagen und seelisch und intellektuell reifen muss. Anders als seine scheiternden Vorgänger reflektiert dieser Jüngling, in dem „herzverwirrende Leidenschaft“ und „wacher Verstand“ im Widerstreit stehen (S. 140), seine gefährliche Situation. In einem psychologisch feinsinnigen inneren Monolog, der deutlich dramatische Züge aufweist (S. 139-141), gewährt Nizami dem Leser Einblick in dessen zerrissenes Seelenleben. Die quest des Helden beginnt mit einer Hinterfragung derselben. Und sie kulminiert in der Metaphorik des Rätsels: „Wie war der Knoten zu entwirren? Dieses Schloß öffnete welcher Schlüssel?“ (S. 141). Die Lösung des Rätsels, so realisiert er bald, bedarf des Rats eines anderen, einer Helferfigur: „er fand keine Lösung. Wenn es eine solche überhaupt gab, dann konnte er allein jedenfalls nicht darauf kommen, dann mußten ihm dabei andere helfen“ (S. 142). Diese anderen müssen aber erst einmal gefunden werden, und dies gelingt wiederum nur in einer quest, die – als eine Art mise en abyme – der eigentlichen quest vorgeschaltet ist. Durch das maximale Auseinanderklaffen von Erzählzeit und erzählter Zeit sowie die direkte Ansprache an den Leser, der das Ende des Rätselplots zu erraten aufgefordert wird, hat sie für einen kurzen Moment eine illusionsbrechende, vielleicht sogar humorvolle Wirkung: „Er kroch durch Schluchten, durchquerte Wüsten, erklomm Berge – und endlich fand er den Weltweisen auch. Aber wo? Rate!“ (S. 142). Dieser Weltweise hat sich, wie einst die Rätselprinzessin, von der Gesellschaft isoliert und ist als „Einsiedler“ (S. 143) in die Wüste gezogen. Der Prinz geht bei ihm „als sein Schüler und Diener“ (S. 143) lange in die Lehre, bis er ihn dann auf seine aporetische Situation, auf die „Zauberkunst“ Turandochts anspricht: „Nachdem der Alte das alles vernommen und wohl überdacht hatte, teilte er dem Königssohn seine geheimsten Kenntnisse mit und verriet ihm die Antworten auf die schwierigsten Rätsel“ (S. 143). Die spätere Rätsellösung, die Erfüllung der quest, gelingt dem Rätselprinzen also nicht mittels eines plötzlichen, genialen Einfalls. Vielmehr ist sie Folge jahrelangen Studiums bei einem Weisen, dessen Wissen wiederum über Jahrzehnte gewachsen ist. Vermittelbar wird es erst, nachdem die Vertrauensbasis dafür geschaffen worden ist und der Prinz sein persönliches Schicksal offenbart hat. Zeit (die allmähliche Aneignung tradierten Wissens) und Dialog (der lebendige Austausch im persönlichen Gespräch) sind hierfür hermeneutische Grundvoraussetzungen. Die „geheimsten Kenntnisse“ haben eine hermetisch-esoterische Dimension und sind zugleich in größere kosmologisch-astrologische Zusammenhänge eingebunden:
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Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT Mit Umsicht bereitete er dort seinen Gang zur Prinzessin vor. Zuerst befragte er die Sterne, stellte das Horoskop und setzte den für sein Vorhaben günstigsten Tag fest. Darnach [sic] überlegte er sich die Mittel, die er nach seiner Lehrzeit beim Einsiedler nunmehr besaß, um die gefährlichen Zauberschwerter aufzufinden und sie der Reihe nach lahmzulegen. Auch suchte er alle Asketen und Gottsucher auf, die er außerdem noch kannte, und bat sie, ihn durch die geistige Kraft ihres Gedenkens und ihrer Gebete zu unterstützen. (S. 143 f.)
Selbst nach seiner ausführlichen, pflichtbewussten Lehre ist der junge Mann, dessen Haltung mit dem römischen Tugendbegriff der pietas, der rechtschaffenen Frömmigkeit, gut umschrieben wäre,18 nicht auf sich allein gestellt, sondern braucht günstige rituelle Rahmenbedingungen sowie den geistig-religiösen Beistand anderer. Diese für die persische Variante unabdingbare Vorgeschichte des eigentlichen Akts der Rätsellösung spielt in der literarischen Rezeptionsgeschichte des Nizami-Märchens später keine Rolle mehr. Dort steht vielmehr die Erfolgsgeschichte des Individuums im Vordergrund, das veni, vidi, vici des einsamen Helden. Nicht selten gerät er gerade deshalb zu einer komischen Figur, die im Rätselwettkampf mehr oder minder seriöse Rätselfragen leichter Hand löst und dafür als bisweilen übertrieben erscheinende Gegenleistung Frau und Königreich erhält. Nizamis Rätselspiel hingegen fügt sich gerade nicht in ein ludistisches Frage-Antwort-Schema. Im Gegenteil wird ein solches gleich zu Beginn desavouiert: „Vor Spannung atemlos erwarteten die Anwesenden die erste Frage. Aber kein Laut zerstörte die Stille. Die schöne Turandocht schwieg“ (S. 151). Das Schweigen Turandochts stellt – hierin schon beinahe dem Schweigen der Sirenen Franz Kafkas oder dem Lächeln der Sphinx Ingeborg Bachmanns [vgl. Kap. A] vergleichbar – die erste, vielleicht sogar größte Herausforderung dar, der sich der Rätsellöser stellen muss. Und dieses Schweigen wird nicht in Sprechen, sondern in Handeln überführt, ein Handeln, das stets über eine Mittlerfigur vonstatten geht. Die beiden Herausforderer stehen sich nämlich gerade nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber, sondern sind durch einen dünnen Schleier voneinander getrennt: Stattdessen zog sie in aller Ruhe ihre Ohrgehänge aus, brach aus dem Schmuck zwei kleine gleichartige Perlen, und indem sie diese einer neben ihr stehenden Dienerin überreichte, sprach sie endlich: „Bring sie unserm Gast und erwarte seine Antwort darauf!“
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Hierzu passt auch sein frommes Bedürfnis, die als Trophäen missbrauchte Köpfe seiner Vorgänger zu bestatten: „Dann kamen die Schädel an die Reihe. Auch sie schnitt der Jüngling von den Seilen, an denen sie aufgereiht hingen, und ließ sie bei den Leibern der Unglücklichen bestatten“ (S. 147).
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Der Jüngling nahm die Perlchen, betrachtete sie, und nachdem er eine Waage verlangt und sie gewogen hatte, legte er zu den zweien drei weitere von genau demselben Gewicht und sandte alle fünf der Prinzessin zurück. (S. 151)
Die „Antwort“ des Jünglings besteht aus einer Fortführung der von der Prinzessin initiierten Interaktionskette, einem vermittelten Austausch symbolischer Gegenstände und deren ritueller Verarbeitung: Die Perlen werden zermahlen, mit Zucker vermengt und in Milch aufgelöst, die von Turandocht getrunken wird, wobei der Perlenstaub, „nicht schwerer und nicht leichter als zuvor“ (S. 152) zurückbleibt. Der Jüngling steckt den ihm übersandten Ring an seinen Finger und lässt der Prinzessin eine Perle überreichen, die jene mit einer vollkommen gleichartigen aus ihrer Halskette zusammenbindet und zurücksendet: „[…] aber welche war wem? Er konnte die zwei Perlen, wie sehr er sich auch anstrengte, nicht voneinander unterscheiden“ (S. 153). So reagiert er mit einer blauen Glasmurmel, welche die Prinzessin glückselig in Empfang nimmt und ihre Rätsel mit dem Anlegen des Schmucks ein für allemal für beendet erklärt: „,Bereite unsere Hochzeit vor, Vater“, rief sie, „und schau dir mein Glück an! Ich habe meinen Gatten gefunden, und er hat auf dieser Welt nicht seinesgleichen‘“ (S. 153). Die Rätsellösung („,Auch ich kenne und verstehe ja manches, gewiß, aber seine Weisheit steht hoch über der meinen‘“, S. 153) wird von Turandocht – anders als bei der Sphinx [vgl. Kap. A] – nicht als Niederlage empfunden. Denn die ,Antworten‘ des Rätselprinzen machen ihre ,Fragen‘ ja nicht überflüssig, sondern transformieren sie in einem steten, gleichwertigen Wechselspiel: Jede Antwort, jede Aktion, evoziert eine neue Frage, eine Reaktion, und umgekehrt. Die eigene Gabe wird durch eine Gegengabe bereichert und kehrt verwandelt zurück. Dieser geheimnisvolle Austausch ist für den Vater nicht nachvollziehbar. Des Rätsels Lösung wird ihm erst recht zum Rätsel: „aber zuerst erkläre mir doch, was hier eigentlich zwischen euch beiden geschah! Du mußt nämlich wissen, daß ich nichts davon begriffen habe: weder deine Fragen noch auch seine Antworten“ (S. 153 f.). Die Tochter gibt eine „Erklärung“ (S. 155), die jeden Handlungsschritt in einen klaren Frage-, bzw. Antwortsatz übersetzt, die dromena also in legomena überführt: Das stoische Carpe diem („nütze die Zeit!“, S. 154) wird beschworen, die Leidenschaft verpönt und die Weisheit gerühmt. Diese Deutung erleichtert den Vater und fügt sich zunächst einmal harmonisch in den kosmologisch-philosophischen Gesamtkontext der Geschichte. Zugleich provoziert sie beim Leser – zumal wenn dieser mit der persischen Bildersprache vertraut ist19 – gerade in ihrer parodistischen Keuschheit eine sexuelle Lesart und spielt mit der Doppelbödigkeit des Hochzeitsrätsels.20 Folglich wird die Lösung des Rätsels für den Nicht-Eingeweihten erneut zum
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Vgl. hierzu: Ritter, Hellmut, Über die Bildersprache Nizāmīs, Berlin/ Leipzig 1927. Zum Hochzeitsrätsel vgl. auch Hain, Mathilde, Rätsel, Stuttgart 1966, S. 53 f.
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Rätsel und hält wiederum vor Augen, dass die Rätselfrage nicht grundsätzlich die Lösung mittransportiert, wie die rein ludistisch orientierte Rätseltheorie suggeriert. Vielmehr können die Auflösungen adressatenbezogen und abhängig vom Kontextwissen sein. Bereits Nizamis Märchen, das oft an den Anfang des Rätselmärchens gesetzt wird, spielt also mit dessen hermeneutischen Grenzen. Das Märchen, in manchen Mundarten und Sprachen auch als ,Rätsel‘ bezeichnet,21 stellt seinen inkommensurablen Rest textimmanent zur Schau. Denn nur vermeintlich lassen sich seine Zauberhandlungen in Textauslegungen transferieren.22 In der Nizami-Rätselforschung des 20. Jahrhunderts wird nun ein solcher Transfer erzwungen, indem das Rätsel allein auf „Sexualbeziehungen“ reduziert wird, die – angeblich – peinlich genau aufgeschlüsselt werden können.23 Der Reiz der hermetischen Zauberhandlung zweier Liebenden kommt durch die Fixierung auf eine hermeneutisch eindeutige Lösungslogik, wie sie vielen europäisch-neuzeitlichen Rätselformen eignet, abhanden. Dabei ist eine derartige Decodierung nicht einmal besonders raffiniert, da das persische Märchen selbst die sexuelle Komponente offenlegt: Anders als europäische (Rätsel-) Märchen
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Röhrich, Lutz, „,Wer sind die Zwei mit zehn Füssen, drei Augen und einem Schwanz?‘ Erzählfunktion des Rätsels in Mythos, Märchen und Witz“, in: Heindrichs, Ursula und Heinz-Albert (Hg.) im Auftrag der Europäischen Märchengesellschaft, Zauber Märchen. Forschungsberichte aus der Welt der Märchen, München 1998, S. 216-235. Vgl. im selben Band auch den Beitrag von Gobrecht, Barbara, „Die schöne Zauberin. Sind Märchen Liebesgeschichten?“, S. 200-215, der sich u. a. mit dem Turandot-Stoff beschäftigt. 22 Albert Wesselski vermutet, dass Nizami die Anregung für sein Handlungsrätsel aus der islamischen Sage von dem Sinnbilderstreit Alexander des Großen mit dem indischen Philosophen erhalten hat, die er folgendermaßen paraphrasiert: „Alexander schickt dem Weisen ein bis zum Rande mit Butter gefülltes Gefäß, der Weise schickt es zurück, nachdem er tausend Nadeln hineingesteckt hat. Alexander läßt die Nadeln schmelzen und aus ihnen eine Kugel verfertigen. Aus dieser macht der Weise einen Spiegel, und den erhält er in einem mit Wasser gefüllten Becken zurück; da läßt er aus dem Spiegel einen Becher machen und legt ihn so in das Becken, daß er auf dem Wasser schwimmt. Aber Alexander füllt ihn mit Erde, und nun bekennt sich der Weise als besiegt“ (Wesselski, Albert, „Quellen und Nachwirkungen der ,Haft paikar‘“, in: Islam 22 (1935), S. 106-119, hier: S. 115). 23 „Es handelt sich um Sexualbeziehungen. Sie meint mit den 2 Perlen („2 Tagen“) die beiden Schamlippen. Er meint mit den 3 Perlen, die er hinzufügt („3 Tagen“) das männliche Glied (Penis und Hoden). Der Zucker, den wiederum sie hinzufügt, bedeutet die weibliche und allgemein die Liebeslust. Die Milch, die er hineingießt oder in die hinein er Zucker und Perle streut […], bedeutet den Samen, in dem und mit dessen Wirkung sich die Lust auflöst“ (Meier, Fritz, „Nachtrag zu Turandot in Persien“, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, hg. v. Helmut Scheel, Bd. 95, Leipzig 1941, S. 415-421, hier: S. 417).
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endet es nämlich nicht mit dem Hochzeitsfest, sondern schließt eine orientalisch bilderreiche Schilderung der Hochzeitsnacht an: Da bedeckte der Jüngling das Gesicht der Geliebten mit Küssen, koste[te] das einemal die Granatapfelbrüste und dann wieder kostete er die Süßigkeit von den Datteln der Lippen. Am Ende gewann im Liebeskampf der Diamant über die Perle die Oberhand, und auf der Brust des Fasans thronte der Falke. Er sah unter sich ihr Augenpaar trunken von Liebe zu ihm und an ihrer Hand seine blaue Glasmurmel schimmern – und da hob er das Siegel vom verborgenen Schatz. (S. 156)
Darauf folgen poetische Ausführungen zur Farbsymbolik Rot, der „Farbe seines Glücks“ (S. 156), die zur Rahmenerzählung, der russischen Prinzessin und dem König Behram überleiten. Mit ihrer Geschichte von der Rätseln der Turandocht gelingt es der Prinzessin den König durch Worte für sich einzunehmen, so wie einst die Turandocht den Prinzen durch ihr selbstgemaltes Bildnis: So beendete die russische Prinzessin ihre Geschichte, und es war, als schwebten ihre Worte selbst wie der Duft roter Rosen im Raum. Von ihrem Widerschein strahlte auch wie rosenfarbener Wein das Antlitz König Behrams, und er streckte die Hand aus nach der Purpurrose und zog sie zu süßem Schlummer an seine Brust.
Das Märchen endet also nicht mit der Entsiegelung des Schatzes, der endgültigen Entschleierung, sondern, in der Rahmengeschichte, mit neuen Rätseln, die sich – diesmal durch Worte, nicht durch Handlungen – zwischen Antlitz und Antlitz zu ereignen beginnen.
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Friedrich Schiller (Turandot. Die chinesische Prinzessin. Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi, 1802): Des Rätsels Lösung und die schöne Seele Mit seiner Turandot. Die chinesische Prinzessin. Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi legt Friedrich Schiller (1759-1805) eine Bearbeitung24 des Märchendramas Turandot, fiaba chinese teatrale tragicomica in cinque atti (1762) von Carlo Gozzi (1720-1806) vor. Letzerem war der Stoff über François Pétis de la Croixʼ Märchen Histoire du prince Calaf et de la princesse de la Chine aus der französischen Sammlung Mille et un Jours (1710-1712)25 geläufig, die sich ihrerseits als Übersetzung einer persischen Märchensammlung gibt, deren Urtext verloren ist.26 Bei Pétis de la Croix liegt, wie erstmals in der 1228 verfassten Prosaversion des Persers Mohammed ‘Aufi, dem Nizami wahrscheinlich bekannt war,27 ein zweiter Höhepunkt vor, der durch das Gegenrätsel des Freiers erzeugt wird. Die Rätselprobe ist nun, anders als bei Nizami, rein verbaler Natur. Eine rituelle, vorbereitende Einweisung des Prinzen findet nicht statt, auch ist kein Handlungswissen vonnöten, um zur Prinzessin vorzudringen. Letztere sucht bei Pétis de la Croix nicht den ihrem Intellekt ebenbürtigen Mann, sondern findet Männer generell verachtungswürdig. Sie reduziert ihre Prüfung auf drei Rätselfragen: Wer diese nicht löst, ist des Todes. Die Rätsellösung empfindet sie nicht als beidseitige Errungenschaft, sondern als persönliche Niederlage, die sie mit Selbstmord büßen will. Nur um dies zu verhindern, setzt Calaf in Mille et un Jours sein eigenes Leben aufs Spiel und stellt die Gegenfrage nach seiner Identität. Das Rätsel wird so zum Ausdrucksmittel des dichotomischen Geschlechterkampfes und zum Strukturprinzip einer erfolgsorientierten quest. Seiner kosmogonisch-magischen, hermetisch-esoterischen, utopisch-ethischen sowie hermeneutisch-alteritären Funktionen, die bei Nizami alle ineinander greifen, geht es dabei verlustig. Der kosmogonische Ernst, der noch in den Weltordnungsfragen anklingt,28 verlagert sich in Carlo Gozzis tragikomischem
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Zwei Neufassungen des Märchens, die Friedrich Schiller vermutlich nicht herangezogen hat, existierten bereits in Deutschland: Johann Friedrich Schmidts Hermanide, oder: Die Rätsel. Ein altfränkisches Märchen in 5 Abteilungen nach Gozzis Turandot (1777) sowie Friedrich Rambachs Die drei Rätsel. Tragikomödie in fünf Aufzügen, nach Carlo Gozzi (1799). 25 Sie war neben der zwölfbändigen, von Antoine Galland aus dem Arabischen ins Französische übersetzten und herausgegebenen Sammlung Les mille et une nuits (1704-1712) im 18. Jahrhundert Zeichen der europäischen Orientbegeisterung. 26 Vgl. hierzu: Meier, Fritz, „Turandot in Persien“, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, hg. v. Helmut Scheel, Bd. 95, Leipzig 1941, S. 1-27. 27 Vgl. ebd., S. 6 und 27. 28 Vgl. hierzu: Hentze, Carl, „Religiöse und mythische Hintergründe zu ,Turandot‘“, in: Antaios, hg. v. Mircea Eliade und Ernst Jünger, Bd. 1, Nr. 1 (1960), S. 21-41.
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Märchenstück hin zum heuristischen Spiel. Dies wird zur Herausforderung für Friedrich Schiller, der, ohne die orientalischen Vorlagen zu kennen, ein Bedürfnis nach einer erneuten ethischen Verankerung des Rätselmärchens verspürt und diese auf der Personenebene umsetzt. Zugleich entdeckt Schiller in seiner Turandot für die deutsche Bühne das interaktive Kommunikationspotential des Rätsels und verhilft dem Rätsel als Textsorte zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Blüte. Goethes Kompliment, dass die Rätsel „entzückte Anschauungen des Gegenstandes enthalten, worauf man fast eine neue Dichtungsart gründen könnte“ (Brief Goethes an Schiller vom 2.2.1802, NA 14.2, S. 297),29 förderte dies noch. Da es das Weimarer Publikum genoss, die von der Prinzessin gestellten Rätsel mit zu raten, fügte Schiller bei jeder Aufführung neue Rätsel ein,30 von denen insgesamt 15 erhalten sind, davon eines von Goethe. Von Gozzi übernahm Schiller das alte Jahresrätsel vom Baum mit den hellen und dunklen Blättern,31 auf dessen andere beiden Rätsel, die nach dem Grab und der Sonne fragen, alludiert er lediglich indirekt: So lässt Schiller die komische Maskenfigur Pantalon ein „Rätsel aus dem Kinderfreund“ (V. 686) mit dem unausgesprochenen Lösungswort Grab zitieren und Turandot in ihrem von ihm eingefügten Monolog auf die Freiheit der Sonne verweisen (V. 799). Die Austauschbarkeit der Rätsel macht deutlich, dass sie nicht inhaltlich (mit Blick auf ihre kosmogonische Erkenntnis), sondern formal (mit Blick auf ihre dialogische Kommunikationssituation) von Bedeutung sind und primär als dramatisches Spannungselement funktionalisiert werden. Deshalb von einem bloßen „Bühneneffekt“ zu sprechen und Schiller vorzuwerfen, dass er „den archetypalen Stoff“ „vergewaltigt“ habe,32 greift jedoch zu kurz. Schiller geht es nämlich gerade nicht um eine rein oberflächliche Darstellung eines antagonistischen Rätselwettkampfes. Vielmehr lässt er im dialogischen Wechselspiel die Idee einer schönen Seele erahnen. Auch wenn er in seiner angeblichen „Bühnenbearbeitung“ die eigentliche Handlung quasi unverändert lässt und nur kleine Veränderungen in den Personengestaltungen vornimmt, führen diese zu einer Idealisierung des Rätselstoffes, der inner- und interpersonell eine Eigendynamik entwickelt.
29
Schillers Werke. Nationalausgabe. 14. Bd.: Bühnenbearbeitungen, zweiter Teil, hg. v. Hans Heinrich Borcherdt, Weimar 1949. Im Folgenden wird die Nationalausgabe mit NA zitiert, dann folgen in arabischen Ziffern Band sowie – durch einen Punkt abgetrennt – Teil und Seitenangabe. 30 Die in der Druckversion aufgeführten Rätsel vom Jahr, vom Auge und vom Pflug sind die ältesten. Die heute noch überlieferten Rätsel der Turandot finden sich in der NA 14.2, S. 139-146. 31 Zu den mythischen Hintergründen dieses Rätsels vgl.: Hentze, Carl, „Religiöse und mythische Hintergründe zu ,Turandot‘“, besonders S. 22-24. 32 Hentze, Carl, „Religiöse und mythische Hintergründe zu ,Turandot‘“, S. 33.
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Geplant war eine solche Neuakzentuierung zu Beginn wohl kaum. Es war Goethe, der Schiller ursprünglich anregte, Carlo Gozzi, der damals in einem Zuge mit William Shakespeare genannt wurde (NA 14.2, S. 277), für das deutsche Theater zugänglich zu machen. Schiller betrachtet seine Arbeit, die sich zwischen die beiden Dramen Maria Stuart (1800) und Die Jungfrau von Orleans (1801) sowie Die Braut von Messina (1802) schiebt, zunächst als für die Weimarer Bühne wohltätige Nebenbeschäftigung in einer kreativen Schaffenspause: „So geschieht doch etwas, und ich verliere die Zeit nicht ganz, indem ich zu einem neuen Werk [er dachte damals noch an den Warbeck] mich stimme und sammle. Auch wird dadurch für die deutsche Bühne ein neues und interessantes Theaterstück gewonnen“ (Brief an Körner vom 2.11.1801, NA 14.2, S. 290). Rückblickend gesteht Schiller, dass ihm das Stück – von den ökonomischen Vorteilen („einträglich“) abgesehen – „ein gewißes Gefühl von Selbstthätigkeit und Kunstfertigkeit“ vermittelt und „Freude“ gemacht habe (Brief an Körner vom 21.1.1802, NA 31, S. 89).33 Die literaturhistorische Wertung dieses Dramas, das bereits nach seiner Uraufführung wie kein anderes Werk Schillers für Kontroversen sorgte, fällt bis heute jedoch sehr unterschiedlich aus: Betonen die einen die „eigenständige dramatische Leistung“34 Schillers und die „Sonderstellung“ des Stückes, das es eigentlich verdiene, „zu seinen originalen Dramen gezählt zu werden“,35 berufen sich die anderen auf die Selbsteinschätzung Schillers „als ein[es] lustige[n] Intermezzo[s] […], das unter den vielen Versuchen, die man gemacht auch
33 Schillers Werke. Nationalausgabe. 31. Bd.: Briefwechsel. Schillers Briefe 1.1.180131.12.1802, hg. v. Stefan Ormanns, Weimar 1985. 34 Vgl. hierzu: Guthke, Karl S., „Schillers ,Turandot‘ als eigenständige dramatische Leistung“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 3. Jg. 1959, S. 118-141 sowie die jüngste Dissertationsschrift von Elisa Alberti, die ihre These für eine „eigenständige dramatische Fassung des Stoffes“ (S. 77) dadurch stützt, dass sie erstmals die von ihr recherchierten Materialien wie Theaterzettel, Rollenhefte und Illustrationen sowie die rekonstruierte Bühnenmusik hinzuzieht: „Durch die vorliegende Untersuchung konnte folglich aufgezeigt und belegt werden, dass auch die bühnenmäßige Umsetzung, wie sie in Schillers Theatertext festgeschrieben ist und durch die Theaterpraxis auf den verschiedenen Bühnen bedingt war, eine wichtige Rolle für die Gesamtbeurteilung des Dramas Turandot spielt. Schiller erweitert das Stück durch präzise Regiebemerkungen und legt besonderen Wert auf die Auswahl der Kostüme und Schauspieler“ (Alberti, Elisa, Wandlungen einer Frauenfigur. Vergleichende Untersuchungen zu den ,Turandot‘Bearbeitungen von Gozzi, Schiller, Puccini, Brecht, Frankfurt am Main 2012, S. 127). 35 Guthke, Karl S., „Nachwort“, in: Schiller, Friedrich, Turandot. Prinzessin von China. Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi, Stuttgart 2006, S. 89-91, hier: S. 89.
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einmal mitlaufen konnte“ (NA 32, S. 32),36 aber in seinem literarischen (Neu-) Wert nicht weiter ernst zu nehmen sei.37 Ein Anlass für die bereits nach der Uraufführung vehement geäußerte Kritik waren die unterschiedlichen Vorstellungen, wie ein italienisches Märchenstück mit komischen Maskenfiguren zu spielen sei, ohne seine tragische Ernsthaftigkeit einzubüßen, und damit die grundsätzliche Frage nach dessen „tragikomischer“ Umsetzung. Schiller behält Gozzis Gattungszuweisung „tragikomisches Märchen“ (ital. fiaba tragicomica) bei und verweist so auf eine Dramatisierung des Rätselmärchens, das sich der Bewährungsprobe unterziehen muss, tragischen Ernst und komisches Spiel zu vereinen. Nur bedingt konnte Schiller sich hierbei auf die vier Jahrzehnte ältere Vorlage stützen: Als literarischer und politischer Gegenspieler des aufklärerischen Carlo Goldoni (17071793),38 wollte der Graf Carlo Gozzi die im Rationalismus verloren geglaubte Welt des Märchens in satirischer Überzeichnung wieder lebendig machen. Das Rätselmärchen erscheint ihm dafür besonders geeignet, da es von vornherein einen dramatischen Spannungsaufbau impliziert. So heißt es in Gozzis Vorrede zur Turandot, in der er seine dramaturgischen Ideen poetologisch rechtfertigt: […] Ich wollte, daß drei Rätsel dieser chinesischen Prinzessin, in eine künstliche und tragische Situation verflochten, mir Stoff zu zwei Aufzügen gäben und daß die Schwierigkeit und die Wichtigkeit, von welcher es sein würde, zwei Namen zu erraten, mir den Inhalt zu drei geben sollten, um ein ernsthaft komisches Drama in fünf Akten zu Stand zu bringen. Drei Rätsel und zwei Namen sind ohnstreitig eine mächtige Basis, ein theatralisches Werk darauf zu bauen, ein kultiviertes Auditorium drei Stunden lang auf die
36 Schillers Werke. Nationalausgabe. 32. Bd.: Briefwechsel. Schillers Briefe 1.1.18039.5.1805, hg. v. Axel Gellhaus, Weimar 1984. 37 So auch Helmut Koopmann: „Grundsätzliche Veränderungen gegenüber Gozzi finden sich jedoch nicht, auch die komischen Figuren sind gegenüber dem Original nicht umgeformt. Schiller dachte von seiner Bearbeitung nicht sehr hoch“ (Koopmann, Helmut, „Turandot“, in: ders. (Hg.), Schiller-Handbuch, Stuttgart 1998, S. 738 f., hier S. 739) sowie, nach einer differenzierten, ausführlichen Besprechung, Peter-André Alt: „Auf diese Weise verlagert Schiller die Kraftprobe der Protagonisten vom Schauplatz der italienischen Komödie mit exotischem Kulissenzauber auf ein düsteres Terrain, wo der Krieg der Geschlechter tobt. Der enge Rahmen der Vorlage erlaubt jedoch keinen psychologischen Spielraum, wie ihn Kleist, dessen Penthesilea hier vorgezeichnet scheint, später entschieden für seine szenische Anatomie der Rollendifferenz genutzt hat“ (Alt, Peter-André, Schiller. Leben – Werk – Zeit, zweiter Band, München 2000, S. 488-490, hier: S. 490). 38 Zum Verhältnis von Carlo Gozzi und Carlo Goldoni vgl.: Volpers, Wolfgang, Giacomo Puccinis ,Turandot‘. Untersuchungen zum Text und zur musikalischen Dramaturgie, Laaber 1994, S. 12-22.
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Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT Bühne zu heften und in einer dem Inhalt selbst so wenig anpassenden Ernsthaftigkeit zu unterhalten.39
In seiner Fiaba chinese teatrale tragicomica (1762) verzichtet Carlo Gozzi – anders als in seinen bisherigen, vom Publikum begeistert gefeierten Stücken – auf das Eingreifen höherer Zaubermächte. Er baut allein auf die dem Stoff eignende quest und die psychologische Eigengesetzlichkeit seiner Figuren, um den tragischen Konflikt zu entwickeln, den er – ganz in der Tradition der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts – letztendlich durch ,Rührung‘ löst (vgl. 5. Akt, 2. Szene). Die komische Wirkung erzeugt Gozzi mittels eines Rückgriffs auf die nach festen Mustern agierenden Charaktermasken der commedia dellʼarte, die er, wenn auch nur in den Nebenrollen, wiederbelebt. Es handelt sich hierbei um Alltagsgestalten und Publikumslieblinge, die ihre Rollen nach den nur vom Regisseur vorgegebenen Szenen improvisieren und, anders als die in Elfsilblern rezitierenden aristokratischen Figuren, in urwüchsiger italienischer (Tartaglia) oder venezianischer (Pantalone und Brighella) Prosa sprechen. Schiller, der des Italienischen nicht mächtig war, rezipierte Gozzi allerdings nicht im Original, sondern in der deutschen Übersetzung von Friedrich August Clemens Werthes (Theatralische Werke von Carlo Gozzi, 1777-1779). Sie verzerrte, was Schiller nicht wissen konnte, den Charakter der commedia dellʼarte-Figuren durch eine jambische Versifizierung im schwülstigen Hochdeutsch und nahm ihnen auf diese Weise viel von ihrer natürlichen Komik. Jenes allein der Übersetzung, nicht dem Original anhaftende Defizit verspürte Schiller, auch ohne den Grund hierfür zu kennen: „Die Figuren sehen wie Marionetten aus, die am Draht bewegt werden; eine gewiße pedantische Steifigkeit herrscht durch das Ganze, die überwunden werden muß“ (Brief an Körner vom 16.11.1801, NA 31, S. 71). Doch welcher Strategien der Überwindung und poetischen Verlebendigung bedient sich Schiller? Es gibt einen in der Sekundärliteratur zur Turandot kaum beachteten Auftritt,40 den ersten des zweiten Aufzugs, der hier in zweierlei Hinsicht von Interesse ist: Erstens zählt er in seiner dramaturgischen Ausarbeitung zu den Neuerfindungen Schillers, denn Gozzi fügt an dieser Stelle lediglich ein – auch in der Übersetzung Werthesʼ nur skizzenhaft notiertes41 – intermezzo
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Zitiert nach (in der ital. Unterrichtsfassung, hg. v. G. Locella, Leipzig 1879, leider nicht enthalten): NA 14.2, S. 308. 40 Elisa Alberti kommt in ihren Wandlungen einer Frauenfigur immerhin kurz darauf zu sprechen, S. 99 f. 41 Vgl. z. B. den Schlagabtausch zwischen Brigella und Truffaldin in der Mitte der ersten Szene (V. 394-403): „BRIGELLA. Er spreche wie ein luftiger Kastrat usw. Alle Kastraten hassen den Ehestand usw. TRUFFALDIN hitzig. Darum hassʼ er den Ehestand, weil er allemal fürchte, es kommʼ ein Brigella heraus. BRIGELLA aufgebracht. Er sei ein ehrlicher Kerl usw. Seine Maximen seien schlecht, er wäre nicht geboren, wenn seine Mutter nicht geheiratet hätte. TRUFFALDIN. Das lögʼ er in seinen
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comico ein, das der Improvisation der Masken dient und als bloß unterhaltende Episode mit dem Handlungsstrang nicht weiter verbunden ist. Und zweitens übernimmt er eine ironisierende Rahmenfunktion, die im Hinblick auf den weiteren Handlungsverlauf eine spezifische, fast schon könnte man sagen moderne Leserlenkung vornimmt. Denn das romantische Rätselmärchen selbst wird mitsamt seiner Helden parodiert und in seiner einstigen Erlösungsteleologie desillusioniert. Der Aufseher der Verschnittenen, der Eunuch Truffaldin, spricht „gravitätisch“ zum Hauptmann der Wache, Brigella, der an Turandots grausamen Rätseltechniken Kritik übt: Mitnichten, Freund! Das ist ein prächtiger, Exzellenter Einfall! – Werben kann ein jeder, Es ist nichts leichter als aufs Freien reisen. Man lebt auf fremde Kosten, tut sich gütlich, Legt sich dem künft’gen Schwäher in das Haus, Und mancher jüngre Sohn und Krippenreiter, Der alle seine Staaten mit sich führt Im Mantelsack, lebt bloß vom Körbeholen. Es war nicht anders hier als wie ein großes Wirtshaus von Prinzen und von Abenteurern, Die um die reiche Kaisertochter freiten, Denn auch der Schlechtste dünkt sich gut genug, Die Hände nach der Schönsten auszustrecken. Es war wie eine Freikomödie, Wo alles kommt, bis meine Königin Auf den scharmanten Einfall kam, das Haus In vierundzwanzig Stunden rein zu machen. – Eine andre hätte ihre Liebeswerber Auf blutig schwere Abenteuer ausGesendet, sich mit Riesen ’rum zu schlagen, Dem Schach zu Babel, wenn er Tafel hält, Drei Backenzähne höflich auszuziehen, Das tanzende Wasser und den singenden Baum Zu holen und den Vogel, welcher redet – Nichts von dem allen! Rätsel haben ihr
Hals hinein. Seine Mutter habe sich nie geheiratet, und er sei glücklich ans Tageslicht gekommen. […]“ (NA 14.2, S. 27). In der italienischen Originalfassung: „BRIGH. (Che parla da uomo inutile ec. Che odia il matrimonio, ec.). TRUFF. (Collerico; che odia i matrimonj.) BRIGH. (Irritato; ch’è un galantuomo ec. Che le dre non sie fosse maritata, non sarebbe nato.)“ (Gozzi, Carlo, Turandot. Principessa chinese, fiaba tragica, für den Unterricht im Italienischen hg. v. G. Locella, II. Bändchen, Leipzig 1879, S. 22).
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Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT Beliebt! Drei zierlich wohlgesetzte Fragen! Man kann dabei bequem und säuberlich In warmer Stube sitzen, und kein Schuh Wird naß! Der Degen kommt nicht aus der Scheide, Der Witz, der Scharfsinn aber muß heraus. Brigella, die versteht’s! die hat’s gefunden, Wie man die Narren sich vom Leibe hält! (V. 461-492)
Die Rätselprüfung stellt hier lediglich einen müden Abklatsch der einstigen, echt männlichen aventiure dar, bei der es im Zweikampf mit Riesen noch um Leben und Tod ging und lebensgefährliche Taten begangen werden mussten. Der „Liebeswerber“ einer quest in Worten wird hingegen als ein (post-) moderner intellektueller Antiheld belächelt, dessen Degen in der Scheide bleibt. Zwar attestiert man ihm noch „Witz“ und „Scharfsinn“, doch dienen diese nicht mehr der Eroberung einer Frau, sondern nur noch dem selbstgefälligen „Spiel“ (V. 528), der reinen Unterhaltung: Wer fürchtet sich vor Rätseln? Rätsel sind’s Gerad, was man fürs Leben gern mag hören. Das hieß den Köder statt des Popanz’s brauchen. Und wäre man auch wegen der Prinzessin Und ihres vielen Geldes daheim geblieben, So würde man der Rätsel wegen kommen. Denn jedem ist sein Scharfsinn und sein Witz Am Ende lieber als die schöne Frau. (V. 520-527)
Die neuzeitliche Reduktion auf die bloße ludistisch-heuristische Rätselfunktion, welche die kosmogonisch-magische („[d]as tanzende Wasser und den singenden Baum“, V. 483) oder auch die hermeneutisch-alteritäre, die Liebe einer in der Fremde eroberten „schöne[n] Frau“ (V. 527), nur noch als mythisches Relikt erkennen lässt [vgl. Kap. I.4], wird nirgendwo so humorvoll in Szene gesetzt wie hier. Schiller parodiert also das Rätselmärchen, bevor er es überhaupt inszeniert. Und die auf der quest-Struktur basierende Morphologie des Märchens erfährt in der Rahmengeschichte gleich zu Beginn des zweiten Akts eine ironische Umkehr: Denn der Held muss erst gar nicht ausziehen, sondern bleibt trockenen Fußes „in warmer Stube“ (V. 488) sitzen. Statt einer burlesken Buffonerie der commedia dell’arte bedient sich Friedrich Schiller folglich einer romantischen Ironie, die von Anfang an eine ästhetische Distanz aufbaut, das Spiel – ganz im Einklang mit Goethes Ansichten über das Weimarische Hoftheater – als Spiel erkennen lässt: „allein wir finden auch solche Stücke höchst nötig, durch welche der Zuschauer erinnert wird: daß das ganze theatralische Wesen nur ein Spiel sei,
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über das er, wenn es ihm ästhetisch, ja moralisch, nutzen soll, erhoben stehen muß, ohne deshalb weniger Genuß daran zu finden“.42 Die komischen Masken bei Schiller unterbrechen nämlich nicht die Haupthandlung, sondern konterkarieren sie von einem „erhoben[en]“ Standpunkt aus, weisen also schon auf eine Kommentatoren-Funktion hin, die Giacomo Puccini mehr als hundert Jahre später perfektionieren wird. Diese (post-) moderne Rahmung und interaktive Ausweitung des Rätselmärchens steht zunächst in einem eigentümlichen Kontrast zu der Haupthandlung, die in ihrer psychologischen Vertiefung der Protagonisten sowie in ihrer Versgestaltung einen genuin klassischen Stil aufweist. Obgleich Schiller an der Gozzischen Vorlage wenig ändert, wollte er dem Stück „durch eine poetische Nachhülfe bei der Ausführung einen höheren Werth“ geben (Brief an Körner vom 16.11.1801, NA 31, S. 71), was in erster Linie durch einen Eingriff in die Charakterzeichnung geschieht. Turandot, die bei Carlo Gozzi den Typus der bösen Märchenfigur ungebrochen repräsentiert, erfährt im vierten Auftritt des zweiten Aufzugs durch 22 von Schiller eingefügte Verse (V. 780-802) eine Neuakzentuierung: Ihr Handeln wird nun nicht mehr aus einer weiblichen Laune und märchenhaften Boshaftigkeit, sondern aus emanzipatorisch-politischer Überzeugung heraus motiviert: Ich sehe durch ganz Asien das Weib Erniedrigt und zum Sklavenjoch verdammt, Und rächen will ich mein beleidigtes Geschlecht An diesem stolzen Männervolke, dem Kein anderer Vorzug vor dem zärtern Weibe Als rohe Stärke war. Zur Waffe gab Natur mir den erfindenden Verstand Und Scharfsinn, meine Freiheit zu beschützen. (V. 780-787)
Die Schillersche Turandot verwehrt sich explizit gegen den Vorwurf einer märchenhaften Stereotypisierung zur grausamen Frau: „Ich bin nicht grausam, frei nur will ich leben“ (V. 775). Diesen in der Original-Vorlage noch nicht thematisierten Freiheitsgedanken verknüpft Schiller in der Turandot-Figur mit einem Schönheitskonzept, dem, anders als bei Carlo Gozzi, neben der ästhetischen eine ethische Dimension eignet: Muß denn die Schönheit eine Beute sein Für einen? Sie ist frei so wie die Sonne,43
42
Goethe, Johann Wolfgang, „Weimarisches Hoftheater“, S. 849. Über den Sonnenvergleich holt Schiller raffiniert das erste Rätsel Carlo Gozzis zurück, dessen Lösung die Sonne ist und das Schiller in seiner Bearbeitung durch das Jahres-
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Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT Die allbeglückend herrliche am Himmel, Der Quell des Lichts, die Freude aller Augen, Doch keines Sklavin und Leibeigentum. (V. 798-802)
Auch in seiner Schrift Über Anmut und Würde (1793)44 versucht Schiller in kritischer Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790) sowohl die Idee der Freiheit, die nach Kant in der Welt der Erscheinungen keine Entsprechung hat, als auch diejenige des ,ganzen Menschen‘ zu begründen. Bei letzterem stehen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Natur und Vernunft nicht, wie bei Kant, in einem dichotomischen, sondern in einem harmonischen Verhältnis.45 Im Konzept der ,schönen Seele‘ spielen beide Ideen ineinander:46 Sie tut aus Neigung, was die Sittlichkeit von ihr verlangt, und gehorcht aus freien Stücken der Vernunft: Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leistung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. […] In einer schönen Seele ist es also, wo Sittlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung. Nur im Dienst einer schönen Seele kann die Natur zugleich Freiheit besitzen und ihre Form
Rätsel ersetzt. In Gozzis Turandot lautet dieses (2. Akt, 5. Szene): „ TUR. (in tuono accademico): Dimmi, stranier: chi è la creatura/ D’ogni città, d’ogni castello e terra,/ Per ogni loco, ed è sempre sicura/ Tra gli sconfitti e tra i vincenti in Guerra?/ Notissima ad ogn’uomo è sua figura;/ Ch’ella è amica di tutti in sulla terra./ Chi eguagliarla vollesse, è in gran follia./ Tu l’hai presente, e non saprai chi sia. (Siede).“ (Gozzi, Carlo, Turandot, S. 33). 44 Vgl. hierzu: Brittnacher, Hans R., „Über Anmut und Würde“, in: Helmut Koopmann (Hg.), Schiller-Handbuch, Darmstadt 1998, S. 587-609. 45 Vgl. hierzu: Lubkoll, Christine, „Die ,schöne Seele‘: anthropologisches Modell oder pädagogisches Konzept?“ in: Fuchs, Brigitta; Koch, Lutz (Hg.), Schillers ästhetischpolitischer Humanismus, Würzburg 2006, S. 63-78. 46 Vgl. zur Begriffsgeschichte: Konersmann, Ralf, „Die schöne Seele. Zu einer Gedankenfigur des Antimodernismus“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, begründet von Erich Rothacker, im Auftrag der Kommission für Philosophie und Begriffsgeschichte der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, hg. in Verbindung mit HansGeorg Gadamer und Karlfried Gründer von Günter Scholtz, Bd. XXXVI, Bonn 1993, S. 144-173.
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bewahren, da sie erstere unter der Herrschaft eines strengen Gemüts, letztere unter der Anarchie der Sittlichkeit einbüßt.47
Schiller stellt im Argumentationsprozess einer „mehrfache[n] Zurücknahme“48 jedoch zugleich den utopischen Charakter der schönen Seele heraus, die ihm als „Siegel der vollendeten Menschheit“ (S. 468) gilt: „Aber diese Charakterschönheit, die reifste Frucht seiner Humanität, ist bloß eine Idee, welcher gemäß zu werden er [der Mensch] mit anhaltender Wachsamkeit streben, aber die er bei aller Anstrengung nie ganz erreichen kann“ (S. 470). In seinem Märchenstück Turandot, so die im Folgenden ausgeführte These, versucht Schiller durch zunächst unscheinbare, aber raffinierte Eingriffe in die Gozzi-Vorlage eine dramatische Umsetzung einer solchen Idee der schönen Seele. Und zwar nicht in dem Sinne, dass er „Anmut und Würde, jene noch durch architektonische Schönheit, diese durch Kraft unterstützt, in derselben Person“ – in diesem Fall: in Turandot – „vereinigt“ sieht,49 zumal dann „der Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet“ (S. 481) wäre. Vielmehr leuchtet die Idee der schönen Seele im dynamischen Wechselspiel der beiden Protagonisten Turandot und Kalaf auf, das mit dem Akt des alternierenden Rätselstellens und -lösens parallelisiert wird. Zwar sind beide bereits von Anfang an äußerlich als „schön“ bezeichnet, bedürfen aber des jeweils anderen, um diese Schönheit in eine „Charakterschönheit“ zu verwandeln, die als „Frucht [d]er Humanität“ Bestand hat. Dieser alteritäre Prozess wird in Schillers „Märchen“ dynamisch auf die Bühne gebracht, das damit – anders als bei Carlo Gozzi, der an der statischen Figurenstereotypisierung festhält und auf die plötzliche märchenhafte Verwandlung seiner Prinzessin baut – seine eigenen Gattungsgrenzen überschreitet. Bei dieser psychologischen Charakterentwicklung ist eine chiastische Bewegung feststellbar: Kalaf, der von Anfang an über ,Anmut‘ verfügt, aber – in einem Übermaß an Sinnlichkeit – Turandots mächtiger Schönheit (V. 737) zunächst unter Preisgabe seiner Freiheit unterliegt, erlangt im Akt des Rätsellösens und erst recht in seiner Rolle als Rätselsteller zunehmend ,Würde‘. Turandot wiederum, die zu Beginn durch stolze ,Würde‘ gekennzeichnet ist und in übertriebenem Maße an ihrer Sittlichkeit festhält, lässt allmählich ihre ,Anmut‘ offenbar werden und bekennt sich zu ihrem „eignen Herzen“ (V. 2515). Sinnlichkeit und Sittlichkeit sind in Schillers Bearbeitung beiden Charakteren von
47
Schiller, Friedrich, „Über Anmut und Würde“, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Wolfgang Riedel, Bd. V: Erzählungen – Theoretische Schriften, München 2004, S. 433-488, hier: S. 468 f. Die ästhetisch-politische Schrift wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert (Seitenangabe direkt im Fließtext). 48 Lubkoll, Christine, „Die ,schöne Seele‘: anthropologisches Modell oder pädagogisches Konzept?“, besonders S. 67 f. 49 Alle Hervorhebungen innerhalb der Zitate entstammen dem Original.
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Anfang an eigen, müssen jedoch erst in ein harmonisches Wechselverhältnis gebracht werden. So ist es wohl kaum Zufall, dass Schiller seine Turandot nicht nur mit „Tiger“ (V. 260), „Furie“ (V. 385) oder „Schlange“ (V. 607) tituliert, sondern auch mit „Sphinx“ (V. 235), obgleich in der deutschen Gozzi-Übersetzung lediglich von „Tyrannin“ die Rede ist: Denn Sinnlichkeit (Löwenleib) und Sittlichkeit (Mädchenantlitz) sind in diesem Mischwesen vereint [vgl. Kap. A]. Turandots „Stolz“ (V. 263), der bei Gozzi durch „Ruhmsucht“ intensiviert wird, wird bei Schiller gleich zu Beginn dadurch relativiert, dass er von einer potentiellen Güte begleitet ist: „Ein Tiger ist sie, diese Turandot,/ Doch gegen Männer nur, die um sie werben./ Sonst ist sie gütig gegen alle Welt:/ Stolz ist das einz’ge Laster, das sie schändet“ (V. 259-262). Allein der Liebende ist in der Lage, die anmutigen Mädchenzüge dieser Sphinx zu erkennen, die von allen anderen nur als „Löwin“ (V. 367) wahrgenommen wird: „– In diesen holden Augen, dieser süßen/ Gestalt, in diesen sanften Zügen kann/ Das harte Herz, wovon du sprichst, nicht wohnen!“ (V. 332-334). Sowohl die Ideal- als auch die Fehlformen von Anmut und Würde finden in Schillers „tragikomischem“ Stück ihre Umsetzung: Der „höchste Grad der Anmut […] das Bezaubernde“ Turandots wirkt auf Kalaf, infolge dessen er den „höchste[n] Grad der Würde die Majestät“ zu erlangen strebt (S. 486). Doch auch den lächerlichen Formen, der „affektierten Anmut Ziererei“ sowie die „affektierten Würde steife Feierlichkeit und Gravität“ (ebd.) können sich die Protagonisten nicht entziehen. Dies wird immer dann besonders offensichtlich, wenn sie mit den komischen Nebenfiguren, dem Vater Altoum oder den Masken, interagieren. So greifen „blut’ge[s] Spiel“ (V. 218), „heiliges Gesetz“ (V. 223) und „der Liebe Narrenspiel“ (V. 326) im tragikomischen Rätselmärchen Schillers ineinander. Das Rätsel ist in seiner ethisch-utopischen Dimension einerseits Voraussetzung dafür, dass sich das Konzept einer ,schönen Seele‘ überhaupt entwickeln kann. Andererseits konterkariert es dieses immer wieder, wenn es mit seiner ludistisch-heuristischen Funktion auf den komischen oder, unter Einbezug des Publikums, interaktiven, illusionsbrechenden Bühneneffekt zielt. Bereits bei seinem ersten Anblick des Bildnisses von Turandot spricht Kalaf von „himmlische[r] Anmut“ (V. 345) – bei Gozzi stehen an dieser Stelle lediglich die himmlischen „Rosenwangen“, also eine rein äußerliche, erotische Beschreibung. Als „Anmut“ definiert Schiller in seiner ästhetisch-politischen Schrift „die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit“ (S. 446). Eingeführt wird Turandot von Barak, dem ehemaligen Hofmeister Kalafs, als „[d]urch ihren Geist berühmt und ihre Schönheit“ (V. 159). Letzterer ist bei Schiller, anders als bei Gozzi, der „Geist“ vorrangig, der kurz darauf durch seinen Freiheitsdrang spezifiziert wird. Turandots Schönheit ist also von Anfang an nicht nur ästhetisch konnotiert, zumal sie sich jeglicher Darstellbarkeit entzieht: „Die keines Malers Pinsel noch erreicht“ (V. 160). Sie weist vielmehr eine
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utopische Dimension auf, die dadurch noch verstärkt wird, dass Kalaf die ihm bereits bekannte Schilderung der Prinzessin zunächst als „Märchen“ (V. 166) klassifiziert, das bei ihm wegen seines (vermeintlich) irrealen Charakters einst sogar eine komische Wirkung erzeugte: „Das alte Märchen/ Vernahm ich schon am Hofe Keikobads/ Und lachte drob“ (V. 165-167), und wenig später: „Das abgeschmackte Märchen/ Habʼ ich schon oft belacht“ (V. 195 f.). Die zunächst ironisch distanzierte Einstellung Kalafs zur märchenhaften Schönheit Turandot verstärkt fiktionsintern die magische Wirkung von deren Bildnis, die selbst den literarisch vorgebildeten und somit vorgewarnten Kalaf gleich beim ersten Anblick ergreift: „– Ich muß auf einen Zug die schönste Frau/ Der Erde und ein Kaisertum mit ihr/ Gewinnen, oder dies verhaßte Leben/ Auf einen Zug verlieren […]“ (V. 351-354). Durch sein Verlangen, „[d]as Urbild selbst von diesen Reizen [zu] sehn“ (V. 360), ist er zum „Opfer“ (V. 356) bereit, beschwört die „dunkle Macht“, die ihn „geheimnisvoll, unwiderstehlich“ in die „tödliche Gesellschaft“ (V. 370 f.) der ermordeten Jünglinge zieht. Diese „dunkle Macht“ präzisiert er später als „der Schönheit Macht“ (V. 737). In der vielfach wiederholten Floskel „Tod oder Turandot“ (V. 671/ 705/ 728/ 838/ 945) kulminiert die aporetische Situation des Halslöserätsels, bei der Kalaf seine Freiheit preisgibt: „Ich habe hier kein Wählen und kein Wollen!/ Unwiderstehlich zwingend reißt es mich/ Von hinnen, es ist mächtiger als ich“ (V. 746-748). In Schillers Über Anmut und Würde wird der „höchste Grad der Anmut“ als „das Bezaubernde“ beschrieben, und auch Kalaf spricht später vom „Götterbild/ Das uns bezaubert und uns selbst entrückt“ (V. 662 f.): „Bei den Bezaubernden verlieren wir uns gleichsam selbst und fließen hinüber in den Gegenstand. Der höchste Genuß der Freiheit grenzt an den völligen Verlust derselben, und die Trunkenheit des Geistes an den Taumel der Sinnenlust“ (S. 486). Doch diesen „Taumel der Sinnenlust“ gilt es für Kalaf zu überwinden. Die drei Rätsel Turandots stellen hierfür die erste Bewährungsprobe dar, die er zunächst selbstbewusst besteht: „Zürnt nicht, erhabne Schöne, daß ich mich/ Erdreiste, Eure Rätsel aufzulösen“ (V. 902 f.). Nicht die Rätsel irritieren ihn, sondern das Antlitz der Rätselstellerin, die vor dem dritten Rätsel ihren Schleier abreißt. Während sie bei Gozzi hiermit ihre dämonisch-erhabene Macht ausspielt, inszeniert die Schillersche Turandot diesen Akt der Selbstentblößung als neue Herausforderung für Kalaf. Beinahe ist ein Unterton der Anerkennung von Seiten Turandots für die bislang bestandenen Prüfungen herauszuhören: „Sieh her und bleibe deiner Sinne Meister!“ (V. 961). Hierauf reagiert Kalaf nach kurzem Zögern „gefaßt“ und „mit einem ruhigen Lächeln gegen Turandot“: Nur Eure Schönheit, himmlische Prinzessin, Die mich auf einmal überraschend, blendend Umleuchtete, hat mir auf Augenblicke Den Sinn geraubt. Ich bin nicht überwunden. (V. 974-977)
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Kalaf stellt seine Standhaftigkeit und damit zugleich seine Sittlichkeit unter Beweis. Nachdem er auch das dritte Rätsel gelöst hat, heißt es bei Schiller, die Gozzi-Vorlage erweiternd: „der schöne Prinz hat überwunden“ (V. 997). Doch eine Überwindung, die von der Überwundenen als Niederlage empfunden wird, zählt für Kalaf nicht: „Ich werde nie dein Gatte sein aus Zwang“ (V. 1054). Er stellt freiwillig ein Gegenrätsel, das nach seinem Namen und seinem Stamm fragt: „Nennt Ihr/ Die Namen mir, so mag mein Haupt zum Opfer fallen“ (V. 1077 f.). War zuvor seine Sinnlichkeit dafür verantwortlich, dass er sein Leben zu opfern bereit war, so ist dies nun seine Sittlichkeit. In der Terminologie von Schillers Schrift Über Anmut und Würde könnte man sagen, Turandots „Macht“ hat sich hin zur „Majestät“ verlagert: Die bloße Macht, sei sie auch noch so furchtbar und grenzenlos, kann nie Majestät verleihen. Macht imponiert nur dem Sinnenwesen, die Majestät muß dem Geist seine Freiheit nehmen. Ein Mensch, der mir das Todesurteil schreiben kann, hat darum noch keine Majestät für mich, sobald ich selbst nur bin, was ich sein soll. Sein Vorteil über mich ist aus, sobald ich will. Wer mir aber in seiner Person den reinen Willen darstellt, vor dem werde ich mich, wenn’s möglich ist, auch noch in künftigen Welten beugen. (S. 486)
Gozzi lässt seine Turandot ihre Niederlage eingestehen und am Ende Reue empfinden mit der beinahe schon grotesken Schlussbemerkung: „Sappia questo gentil popol de’maschi,/ Ch’io gli amo tutti. Al pentimento mio/ Deh qualche segno di perdon si faccia”.50 Bei Schiller hingegen findet kein unvermittelter Machtwechsel im generalisierenden Geschlechterkampf statt, zumal sich die Macht in Majestät gewandelt hat. Denn die Erlösung vollzieht sich nicht im Akt der Rätsellösung, sondern setzt, so das retrospektive Geständnis Turandots, sehr viel früher bei der ersten Begegnung der beiden ein: Um meinem eignen Herzen zu gehorchen, Schenkʼ ich mich Euch – Ach, es war Euer, gleich Im ersten Augenblick, da ich Euch sah! (V. 2515-2517)
Nicht der verbale Schlagabtausch von Weltordnungsrätseln, auch nicht die Frage nach der Identität Kalafs im Gegenrätsel, sondern die Alterität, der Blick des Anderen, wird retrospektiv zur Kernszene von Schillers dramatischem Märchen. Das Glück der frei und würdig Liebenden, ihr „schöne[s] Herz“ (V. 2559), erhält am Ende eine politische Dimension: Auf Initiative Kalafs hin – bei Carlo Gozzi
50
Gozzi, Carlos, Turandot, S. 95. In der Werthes-Übersetzung: „Diese ganze gefällige Anzahl des männlichen Geschlechts sei versichert, daß ich sie alle liebe“ (NA 14.2., S. 135)
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klagt die intrigante Gegenspielerin dies selbst ein – wird der Sklavin Turandots und einstigen tartarischen Prinzessin Adelma durch den Vater Altoum und „fabelhaften Kaiser von China“ die Freiheit geschenkt: […] – Gütiger Monarch, Wenn meine heißen Bitten was vermögen, So haben sie die Freiheit zum Geschenk, Und unsers Glückes Unterpfand Sei eine Glückliche! (V. 2561-2565)
Damit nimmt nicht nur die psychische, sondern auch die politische Tyrannei ein glückliches Ende, ein Ende, welches das Ideal der ,schönen Seele‘ gesellschaftsfähig51 zu machen und darüber hinaus – wenn auch nur im utopischen Rahmen eines Märchens – vom Menschen auf die Menschheit zu transferieren versucht.
51
Zum „Konnex von Anthropologie und ästhetisch-politischem Denken“ vgl. Lubkoll, Christine, „Die ,Schöne Seele‘: anthropologisches Modell oder pädagogisches Konzept?“, S. 66.
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Giacomo Puccini (Turandot. Dramma lirico in tre atti e cinque quadri, 1926): Das Opfer des guten Endes oder Gegenstimmen zur Siegesgeschichte des Rätsels In Giacomo Puccinis (1858-1924) letzter, am 25. April 1926 in Mailand posthum uraufgeführter und Fragment gebliebener Oper Turandot52 wird das Ende zu einem werkgeschichtlichen53 und operngeschichtlichen54 Problem, das die Strukturlogik des traditionellen, auf einen glücklichen Ausgang ausgerichteten Rätselmärchens an seine Grenzen führt. So strahlend glorreich die Auflösung, die beidseitige Erlösung des Liebespaares, im nachträglich von Franco Alfano ergänzten Schluss inszeniert wird, so aufgesetzt wirkt sie. Zwar scheint die idealistische Vorstellung einer harmonischen Vereinigung zweier Liebenden, wie sie bei Friedrich Schiller gegeben ist, im Libretto-Text von Giuseppe Adami und Renato Simoni noch durch, in dem eine euphorische Menge das neue Glück bejubelt („L’infinita nostra felicità!“, III.2, S. 90). Auch wird sie durch die musikalisch-triumphale Gestaltung des Endes durch Franco Alfano besiegelt. Aber sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das vermeintlich ,gute‘ Ende der Oper durch Gewalt herbeigeführt wird und eine junge, selbstlos liebende Frau hierfür ihr Leben lässt. Die Lösung der quest hat ein Opfer gefordert, ein unschuldiges Menschenopfer: Liù. Diese Liù-Episoden provozieren – neben denjenigen der komischen Kommentatoren Ping, Pong und Pang – eine subversive Gegenlektüre zur lichtzentrierten Siegesgeschichte des Rätsels.55 Giacomo Puccini führt die Sklavin Liù, die jene drei komischen, intrigierenden Sklavinnen Adelma, Zelima und Schirina aus Carlo Gozzis Turandot (1762) ersetzt, neu in den Turandot-Stoff ein. Diese ,eroina pucciniana‘ inspirierte den Komponisten wie keine andere Figur. Obgleich sie dramaturgisch der Titelheldin nachgeordnet ist, wird sie zur heimlichen Protagonistin und publikumswirksamen Sympathieträgerin der Oper, die dieser femme fragile ihre schönsten musikalischen Partien verdankt. Zugleich verhindert Liù jedoch deren bruchlose, märchenlogische Vollendung, die Puccini zunächst fest im Blick behielt: „Und darauf die Schlußszene? Letzten Endes halte ich es nicht für gut, sich
52
Zitiert wird unter Angabe von Akt und Bild mit Seitenzahl nach folgender zweisprachiger Ausgabe: Puccini, Giacomo, Turandot. Dramma lirico in tre atti e cinque quadri. Operndrama in drei Akten und fünf Bildern. Textbuch Italienisch/ Deutsch. Libretto von Giuseppe Adami und Renato Simoni. Übersetzt und herausgegeben von Henning Mehnert, Stuttgart 2006. 53 Vgl. hierzu: Maehder, Jürgen, „Studien zum Fragmentcharakter von Giacomo Puccini’s Turandot“, in: Analecta Musicologica. Veröffentlichungen der musikgeschichtlichen Abteilung des deutschen historischen Instituts in Rom, Bd. 22 (1984), S. 297-379. 54 Vgl. hierzu die einschlägige Publikation: Ashbrook, William und Powers, Harold, Puccini’s ,Turandot‘. The End of the Great Tradition, Princeton 1991. 55 Wichtige opernhistorische Hinweise und Anregungen verdankt dieses Kapitel Dorit Schleissing (Stadttheater Osnabrück).
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nach den Rätseln noch zu lange aufzuhalten. Für mich sind sie die Lösung“.56 Liù steht, dramaturgisch betrachtet, dem überirdischen Liebesduett Turandots und Calafs im Wege, auf das Puccini mit zahlreichen Tristan-und-IsoldeReminiszenzen von Anfang an hinarbeitet und über das er noch am 16. November 1924, knapp zwei Wochen vor seinem Tod, in einem Brief an Adami schreibt: „Es muß ein großes Duett sein. Die beiden sozusagen außerirdischen Wesen vereinen sich durch ihre Liebe mit den Menschen, und diese Liebe muß alle auf der Bühne ergreifen in einem abschließenden Aufschwung des Orchesters“.57 Die Rührung, die letztlich Liù bewirkt, war zunächst für die Turandot-Calaf-Szene vorgesehen, zu deren Konzeption sich Puccini, ebenfalls in einem Brief an seinen Librettisten Adami, im Sommer 1921 äußert: Sie müssen das Letzte an Gefühl und Rührung herausholen. Es ist notwendig, für den Schluß etwas Rührendes zu haben – und Sie können die rechten Verse finden! Nicht zu viel Rhetorik! – Und der Liebesausbruch muß wie ein leuchtender Meteorstein unter die rufende Volksmenge fallen, die mit gespannten Nerven (wie die Saiten eines seufzenden Cellos) das Fluidum der Liebe begeistert aufnimmt.58
Liùs Funktion geht jedoch weit darüber hinaus, dass sie als ein anachronistisch romantisches Wesen in einer sonst stark symbolistisch überhöhten Oper den Zuschauer rührt. Denn sie ist, was die Rätsellogik betrifft, eine paradoxe – und hierin durchaus moderne – Figur, die einerseits die quest des Prinzen unter Selbstaufopferung zwanghaft zu einem glücklichen Ende führen will und andererseits mit ihrem Tod auf die Schattenseite und Unauflösbarkeit einer solch licht- und siegesorientierten Rätselgeschichte verweist. Liù wird zum Teilbestand einer Zwischenwelt der obscuritas, eines Schattenreiches, das als Gegenwirklichkeit das strahlend glorreiche Ende der besiegten Rätselprinzessin konterkariert. Insofern ist gerade sie – nicht Turandot – die enigmatische Frau, die, wie die Sphinx bei Ingeborg Bachmann [vgl. Kap. A], selbst nach ihrem Verschwinden noch eine Gefahr darzustellen scheint, eine Gefahr, die bedrohlicher ist als die männermordende Turandot. Als Vampir und Rachegeist, so fürchtet die abergläubische Menge, könne ihr beunruhigender Schatten jederzeit wiederkehren: „Ombra dolente, non farci del male!/ Ombra sdegnosa, perdona, perdona!“ (III.1, S. 80). Auch musikalisch bleibt sie, vergleichbar den von Puccini ebenfalls neu eingeführten drei Masken Ping, Pong und Pang, das exotische Element der Oper: Ihre Partie ist durchgängig pentatonisch gestaltet,
56
Brief Puccinis an Adami im Sommer 1921, in: Puccini, Giacomo, Briefe des Meisters, hg. v. Giuseppe Adami, Lindau 1948, S. 224 f. 57 Ebd., S. 256. 58 Ebd., S. 222.
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was zur Zeit Puccinis als typisch chinesisches Klangbild empfunden wurde.59 Die fremde Figur und Figur aus der Fremde – Puccini verlegt Liù, treue Begleiterin des entthronten Königs Timur, Vaters Calafs, ins tartarische Lager – wird eingeführt als eine Frau, deren Identität erst erfragt werden muss. Letztere stützt sich allein auf den Schatten eines Lächelns („l’ombra d’ un sorriso“, I.1, S. 30), das ihr Calaf einst zuteil werden ließ: CALAF. Liù… chi sei? LIÙ (umilmente). Nulla sono… una schiava, Mio Signore… CALAF. E perché tanta angoscia hai diviso? LIÙ (con dolcezza estatica). Perché und dì, nella reggia, m’hai sorriso! (I.1, S. 12)
Ist es traditionell Calaf, der vom Antlitz Turandots dermaßen bezaubert ist, dass er sein Leben zu opfern bereit ist, so begibt sich hier die von einem Lächeln berückte Liù selbstlos in dessen, bzw. seines Vaters Dienste. Doch Calaf zeigt sich von diesem Lächeln wenig beeindruckt und fordert Liù, das junge Mädchen („fanciulla“), lediglich auf, seinem Vater weiterhin treu zur Seite zu stehen, wenn er einmal nicht mehr da sein wird. CALAF (avvincinandosele, con commozione). Non piangere, Liù! Se in lontano giorno io t’ho sorriso, Per quel sorriso, dolce mia fanciulla, m’ascolta: Il tuo signore sarà domani, forse, solo al mondo… Non lo lasciare, portalo via con te! (I.1, S. 30)
Dass sie ihm, um ihm einen weiteren Sieg zu ermöglichen, mit ihrem Liebesopfer zuvor kommt, erfolgt als dramatische Wendung im dritten Akt auch für den Zuschauer höchst unerwartet: „Prima di questa aurora io chiudo stanca gli occhi,/ Perché egli vinca ancora…“ (III.1, S. 78). Aus den ehemaligen LiùEpisoden im ersten und zweiten Akt ist ein eigener Handlungsstrang geworden, der als subversive Gegenlektüre zum Rätselmärchen gelesen werden kann.
59
Vgl. hierzu: Korfmacher, Peter, Exotismus in Giacomo Puccinis Turandot, KölnRheinkassel 1993, besonders: S. 69-95. Nur die tatsächlich chinesischen Protagonisten werden bei Puccini mit chinesischen Melodien ausgestattet. Drei Funktionen exotischer Stilmittel sind erkennbar, die alle mit Rätselfiguren oder -handlungen in Zusammenhang stehen: die Maskenszenen, die Partie der Liù sowie die Schilderung von Zeremonien im Umfeld des Halslöserätsels.
Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT
211
Turandots Erlösung wird also nicht, wie bislang, allein durch ein dualistisches Rätselspiel zwischen Prinz und Prinzessin erlangt. Es bedarf vielmehr des unter Gewaltdrohung einer hetzerischen Menge herbeigeführten Todes einer dritten Figur, der Sklavin Liù: Sie opfert ihr Leben – anders als im klassischen Halslöserätsel – nicht dafür, dass sie die Lösung des Rätsels, in diesem Fall den Namen des Prinzen, nicht kennt, sondern dafür, dass sie ihn kennt, aber verschweigt, um dessen Leben sowie seine bislang unerwiderte Liebe zu Turandot zu retten. Erst der Tod dieser jungen Frau, nicht Calafs Hingabe, soll, so Puccini in einem Brief vom 3. November 1922 an Adami, „einen starken Einfluß auf die Verwandlung der kaltherzigen Prinzessin ausüben“,60 eine Möglichkeit, die Puccini letztlich ungenutzt ließ, da allein die körperliche Berührung („[i]l contatto incredibile“, III.1, S. 84) zur Wandlung führt. Mit Liùs Tod und damit vor der beidseitigen Erlösung des Liebespaares endet die seit 1920 im Entstehen begriffene und von Renato Simoni initiierte Partiturniederschrift61 des im November 1924 seinem Krebsleiden erliegenden Komponisten. Bei dieser Partitur handelt es sich – im Gegensatz zu den meisten anderen unvollendeten Werken der Musikgeschichte – um eine bis zu jenem Punkt endgültige, von Puccini selbst frei gegebene Fassung. Der nach dem Tod Puccinis beauftragte Schluss Franco Alfanos, der vom Dirigenten der Uraufführung, Arturo Toscanini,62 um 109 Takte gekürzt worden ist und in dieser dramaturgisch und musikalisch problematischen Version bis heute die traditionelle Schlussfassung bildet, wurde vielfach kritisiert. Nicht nur kommt es aufgrund der Kürzungen zu einem Bruch in der psychologischen Entwicklung beider Figuren. Mehr noch widerspricht der Höreindruck der Ergänzungen Alfanos den von Puccini intendierten Klangvorstellungen, zumindest soweit sich diese den immerhin 30-seitigen Skizzen Puccinis entnehmen lassen, von denen Alfano in seiner Erstfassung lediglich drei, in seiner Zweitfassung vier berücksichtigte. Alfano beugt sich – stärker noch in der Zweitfassung, in der ein 30-taktiger, dem Zögern Turandots gewidmeter Abschnitt den Streichungen Toscaninis zum Opfer fiel63 – den strukturellen Zwängen des von den Librettisten vorgegebenen glorreichen Happy End, an dem Puccini sich nicht von ungefähr vielfach versuchte und scheiterte: Nur wenige Sekunden nach Liùs Selbstmord läuft Calaf Turandot hinterher, als hätte es ein Opfer nie gegeben. Fünf Schläge oder genau zweieinhalb Takte später küsst er sie und verwandelt
60
Puccini, Giacomo, Briefe des Meisters, S. 237. Partitur Ricordi, Nuova edizione riveduta e coretta, Mailand 1958, S. 401, vgl. hierzu: Maehder, Jürgen, „Studien zum Fragmentcharakter“, S. 297. 62 Bei der Uraufführung legte Toscanini, der danach die Turandot-Oper nie wieder dirigierte, nach dem Tod der Liù und dem anschließenden Lamento den Taktstock mit den Worten nieder: „Hier endet die Oper, weil der Maestro an dieser Stelle verstorben ist“. 63 Vgl. hierzu: Maehder, Jürgen, „Studien zum Fragmentcharakter“, S. 348 f. 61
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Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT
die bislang eiserne Prinzessin in eine willensschwache Frau: „Turandot – sotto tanto impeto – non ha più resistenza“, heißt es in der Regieanweisung, „non ha più voce, non ha più forza, non ha più volontà. Il contatto incredibile l’ha trasfigurata“ (III.1, S. 84). Die märchenhafte Erlösung (engl. disenchantment: ,Rückverzauberung‘) und allein durch Körperkontakt erfolgte Transfiguration Turandots beendet schlagartig die tapfere quest des Helden. Dessen ehemaliges Rätsel („mistero“), das dunkle Geheimnis seines Namens, das er in seiner berühmten Arie Nessun dorma (III.1) besingt, wird in einem musikalischen Erinnerungsmotiv64 zitiert: Was einst im geheimen Inneren des Liebenden verschlossen war („è chiuso in me“), wird nun an das grelle, glorreiche Licht weltweiter Öffentlichkeit gebracht („Luce del mondo“): CALAF. Nessun dorma! Nessun dorma! Tu pure, o Principessa, Nella tua fredda stanza guardi le stelle Che tremano d’amore e di speranza! Ma il mio mistero è chiuso in me, Il nome mio nessun saprà! (III.1, S. 64/66) ---------------------------------------------------LA FOLLA. Amor! O sole! Vita! Eternità! Luce del mondo e amore! Ride e canta nel sole L’infinita nostra felicità! Gloria a te! Gloria a te. (III.2, S. 90)
Dass die Oper im Franco-Alfano-Schluss mit einem jubelnden Chor endet, erscheint zunächst insofern stimmig, als sie auch mit einer Massenszene einsetzt, bei der sich Giacomo Puccini, ein begeisterter Kinogänger, moderner filmtechnischer Mittel bedient: Anders als in der traditionellen Oper gibt es, besonders im ersten Akt, keine logische Szenenfolge, sondern eine Sequenz im filmischen Gegenschnitt. Gezeigt wird die nach dem Henker brüllende Menge („Muoia, Sì muoia!“ I.1, S. 8), in der ersten Regieanweisung beschrieben als „una pittoresca folla cinese, immobile“ (I.1, S. 6). Es folgt ein – filmtechnisch gesprochen – Zoom auf die Wiedererkennungsszene zwischen dem gestürzten Timur, seinem Sohn Calaf und der nach Erbarmen rufenden Liù („Pietà!“). Daraufhin gerät abermals die aggressive Menge in den Blick, die in wildem Rausch schreit („ha un urlo di ebbrezza feroce“ I.1, S. 10). Sie interagiert wenig, hat auch keine beobachtende oder, wie im antiken Chor, gar kommentierende Funktion, sondern
64
Zu den Leit- und Erinnerungsmotiven bei Giacomo Puccini vgl. Volpers, Wolfgang, Giacomo Puccinis ,Turandot‘, S. 115-126.
Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT
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evoziert eine bedrohliche Gesamtatmosphäre.65 Dieser blutrünstige Massenwahn treibt letztlich auch Liù in den Tod, wenn mit dem Schlachtruf „Pu-Tin-Pao“ (wörtlich: ,mitleidlos, unerbittlich‘) nach Folter („tortura“), Henker („boia“) und dem Namensgeständnis („Il nome!“) gebrüllt wird (III.1, S. 76/78). Wenn dieselbe Masse am Ende in militanter Musik im Fortissimo die Sonne („O sole!“), das Leben („Vita!“) und die Ewigkeit („Eternita!“) bejubelt, erscheint dies, obgleich von Alfano wohl kaum so beabsichtigt, mehr als grotesk. Dass sich dieses Ende auf der Opernbühne Jahrzehnte bewährte und bis heute bewährt, lässt sich letztlich nur mit der genrebedingten Erwartungshaltung des Publikums begründen: Die Erzähllogik führt, wie im Hollywood-Kino seit Beginn der zwanziger Jahre vorgeführt, zum Happy End. Dieses soll ein affirmatives Ende sein, das auf den Idealen und Moralvorstellungen des Publikums gründet und das Bestehende glorifiziert:66 Der Kaiser wird angerufen („Diecimila anni al nostro Imperatore!“ III.2, S. 90), die Liebe besungen, und das aufklärerische Sonnenlicht lässt alle Schatten schwinden. Ein deutlich moderneres Ende, das Zweifel gelten lässt und das Dunkle und Fremde musikalisch nicht gänzlich eliminiert, schrieb im Jahr 2001 Luciano Berio (1925-2003). Er komponierte im Auftrag des Musikfestivals der Kanarischen Inseln ein zwanzig-minütiges67 neues Finale, das 2002 in Las Palmas uraufgeführt wurde. Von den ungefähr dreißig von Puccini hinterlassenen Skizzen verwandte er immerhin zwanzig. Berio bringt das Fragment so zu Ende, wie er glaubt, dass es Puccini getan hätte, wenn er sich mutiger zu seiner Modernität bekannt hätte:68 65
Diese fasziniert gerade den späten Puccini besonders, der hierfür, zu Unrecht, immer wieder präfaschistischer Tendenzen bezichtigt wurde. Während in seinen früheren Opern mit Libretto-Texten von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa noch heftige Kritik an den ihre Macht missbrauchenden Repräsentanten des Geldes und des Staates geübt wurde, wird nun, so bei Kalaf, der heldische, oft gewaltsame Einzelne glorifiziert, der sich einer leicht erregbaren wie verführbaren Masse gegenüberstellt. Dennoch gibt es, wie oben an den Figuren Liù sowie Ping, Pong und Pang aufgezeigt, publikumswirksame Gegenstimmen zu den gewaltglorifizierenden vermeintlichen Hauptstimmen. 66 Vgl. hierzu: Lang, Fritz, „Und wenn sie nicht gestorben sind…“ (Originaltitel: “Happily Ever After”, in: The Penguin Film Review, Nr. 5, 1948), in: montage/av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation. 12/2/2003: Anfänge und Enden, S. 149-154, hier besonders: S. 146. 67 Dasjenige von Franco Alfano dauert in seiner gekürzten Fassung nur knapp 4 Minuten. 68 Mehr als in allen anderen Puccini-Opern macht sich in der Turandot der Einfluss der zeitgenössischen Musik bemerkbar: Debussy, Ravel, Richard Strauss, Strawinsky und Mahler standen Pate, vgl. hierzu: Henning Mehnert, „Nachwort“, in: Puccini, Giacomo, Turandot. Dramma lirico in tre atti e cinque quadri. Operndrama in drei Akten und fünf Bildern. Textbuch Italienisch/ Deutsch. Libretto von Giuseppe Adami und Renato Simoni. Übersetzt und herausgegeben von Henning Mehnert, Stuttgart 2006, S. 96-111, hier: S. 98.
214
Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT Es gibt ungefähr dreißig Skizzen Puccinis, die sich auf den Schluss beziehen. Dort kann man die Quellen seiner Inspiration erkennen, gleichzeitig auch seine Modernität. Er experimentierte darin sogar mit der Zwölftonmusik, mit Phrasen, die aus den zwölf Noten der chromatischen Skala bestehen.69
Sowohl dramaturgisch als auch musikalisch ergeben sich, gerade mit Blick auf das Rätsel, nicht unerhebliche Verlagerungen: Die Strukturlogik der erfolgreich vollendeten quest wird zwar auch bei Berio nicht außer Kraft gesetzt, aber der beidseitigen Erlösung des Liebespaares gehen musikalische Verzögerungs- und Auflösungsprozesse voraus. Diese schaffen zumindest ein Bewusstsein für die Nicht-Selbstverständlichkeit des Happy End. Die Kuss-Szene dauert hier nicht, wie bei Alfano, zweieinhalb Takte, sondern, in einem längeren orchestralen Zwischenspiel, 53, wobei davon 20 Takte dem eigentlichen Kuss vorausgehen, der dissonant erklingt. Berio integriert außerdem, anders als Alfano, der seine Erinnerungsmotive aus den Rätselszenen Turandot und Calaf, bzw. aus der Kaiserhymne bezieht, Passagen aus der Liù-Musik und hält so die Erinnerungen an das Fremde, Exotische und an das Opfer wach. Auch in dem auf den ersten Blick nur vermeintlich identischen Libretto-Text70 sind kleine, aber bedeutsame Nuancen zu beobachten: Die Licht-Metaphorik ist zwar vorhanden, aber weniger allumfassend als im Alfano-Schluss. Das Motiv der zwielichtigen Morgendämmerung („l’alba“), dem Zwischenreich zwischen Nacht und Tag, das im ersten Bild des dritten Aktes eng mit der Opferfigur der Liù verbunden ist (III.1, S. 80), wird nochmals zitiert. Das ,gute‘ Ende ist also nicht per se gut, sondern entwickelt sich prozessual und wird ethisch problematisiert,71 wobei ihm das nicht-gute, tragische Ende eingeschrieben bleibt. Dieses zögerliche Moment findet auch in der Dynamik des BerioSchlusses seinen Ausdruck, die sich konträr zu derjenigen Alfanos verhält: [In meinem Finale] ist weniger Rhetorik […] verpackt. Ich wollte kein jubelndes, sondern ein orientalisches Finale schreiben, weniger explizit und bestimmt, vorsichtiger, stiller. Das entspricht auch Puccinis eigenen Ideen: Ich habe einen Mann
69
Berio, Luciano, Ausschnitt aus einem Interview mit Derek Weber, Programmheft der Salzburger Festspiele 2002. 70 Auf folgende Fußnotenbemerkung in der neuesten reclam-Ausgabe (2006), die immerhin den Libretto-Text der Ergänzung des dritten Aktes durch Luciano Berio abdruckt, hätte man daher besser verzichtet: „Der Text bleibt aus Platzgründen unübersetzt und auch deshalb, weil er weitestgehend dem Text von Franco Alfanos gekürzter Schlussfassung entspricht“ (S. 92, Fußnote 7). 71 Zur ethischen Perspektivierung der Oper vgl.: Mayer, Mathias, „Wie ,gut‘ ist die Oper? Fragen an Die Zauberflöte, Otello und Wozzek aus ethischer Perspektive“, in: Wort und Ton, hg. von Günter Schnitzler und Achim Aurnhammer, Freiburg i. Br. 2011, S. 447-461.
Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT
215
kennengelernt, dessen Vater mit Puccini in seinen letzten Lebensjahren befreundet war. Ihm hat Puccini in seinem Haus in Torre del Lago einmal quasi improvisierend das Ende von Turandot am Klavier vorgespielt und hinzugefügt: Turandot endet im Pianissimo.72
Am Ende hält sich das liebende Paar lange in den Armen. Nach den letzten Worten „È Amore, è Amore, è Amore!“ (III.2, S. 95) folgt eine ,perorazione orchestrale‘, ein längeres Orchesternachspiel in Form einer Nachtmusik. Anstatt wie bei Alfano im plötzlichen Licht des Ruhms („Gloria a te!“) zu erstrahlen, verdunkelt sich die Bühne ganz allmählich: „A poco a poco buio totale“ (ebd.). Neben der Liù-Figur gibt es eine weitere Neuerfindung Giacomo Puccinis, die eine kritische – in diesem Fall komische, nicht tragische – Kommentierung der Rätselhandlung bewirkt: die Einführung der drei chinesischen Minister Ping, Pang und Pong. Sie sind ein, wenn auch stark von Puccini verändertes Relikt aus Carlo Gozzis tragikomischem Märchen Turandot (1762).73 Dort stehen den seriösen und in gehobener Sprache sprechenden Figuren, den Aristokraten, die sich im venezianischen Dialekt unterhaltenden Dienerinnen und Diener gegenüber, Nachfahren der commedia dell’arte. Diesen Kontrast hoben die vorherigen Turandot-Projekte von Max Reinhardt (Berlin, 1911), Ferrucio Busoni (Zürich, 1917) und Jewgenij B. Wachtangow (Moskau, 1922) auf,74 die den aristokratischen Figuren jeglichen Respekt vewehrten.75 Mit ihnen setzte nach einer ungefähr 30-jährigen Pause des bis dahin ununterbrochen rezipierten TurandotStoffes76 eine neue Konjunktur der nicht selten ironisierten Märchenprinzessin 72
Berio, Luciano, Ausschnitt aus einem Interview mit Derek Weber, Programmheft der Salzburger Festspiele 2002. 73 Puccini war über seinen Librettisten Renato Simoni auf Carlo Gozzis Turandot aufmerksam gemacht worden, der ihm die Adaption, die Friedrich Schiller 1802 für das Weimarer Hoftheater erstellt hatte, in der italienischen Übersetzung von Andrea Maffei organisierte: Die Sprache der Nebenfiguren ist hier versifiziert und, anders als ursprünglich bei Gozzi, nicht mehr standestypisch dialektal, die Handlung der Hauptfiguren heroisiert. 74 Vgl. hierzu Volpers, Wolfgang, Giacomo Puccinis ,Turandot‘, S. 53-60. 75 So führt Wachtangows ,Theater-im-Theater‘-Konzeption zu einer spielerischen Konzeption der Kalaf-Rolle. Bei Reinhard ist Turandot keine Freiheitskämpferin wie bei Schiller, sondern ein launischer Trotzkopf, und Busoni bricht die ritualisierten Zeremonien, indem er den Kaiser Altoum sich tölpelhaft benehmen lässt, vgl. hierzu: Volpers, Wolfgang, Giacomo Puccinis ,Turandot‘, S. 53-60 sowie S. 69. 76 1887 reißt die bis dahin ununterbrochene Kette von Turandot-Opern mit einer Komödie Theobald Rehbaums für fast drei Jahrzehnte ab (vgl. hierzu auch: Cerha, Friedrich, Der Turandotstoff in der deutschen Literatur, Diss. Wien 1949 (masch.-sch.), besonders S. 295 und S. 298). Diese 30 Jahre umfassen das Gründungsjahrzehnt des Verismus sowie die von realistischeren Opernkonzeptionen geprägten Jahrzehnte, in denen sich die stark symbolistische Turandot-Figur, die Wolfgang Volpers gar mit „Protagonistin des
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Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT
ein. Giacomo Puccini und seine Librettisten Giuseppe Adami und Renato Simoni verfahren allerdings gegenläufig zu diesen oft komödiantischen Bearbeitungen: Anstatt die seriösen Figuren in komische umzuschreiben, machen sie aus den komischen die tragikomischen eines Melodramas, die als Stimme der Vernunft das Handlungsgeschehen kommentieren. So Puccini in einem Interview im Winter 1923: Die Turandot birgt ein komisches Element. Anstatt der üblichen Masken habe ich chinesische Masken eingeführt. Dieser Exotizismus soll auch die Aufgabe rechtfertigen, die ich diesen Gestalten übertragen habe. Sie verkörpern in der Oper die Vernunft. Dem Prinzen scheinen sie sagen zu wollen: ,Weshalb willst du ausgerechnet diese Frau heiraten? Es gibt so viele Frauen auf der Welt…‘.77
Nur einmal vorher gab es in der Operngeschichte komische Kommentatoren, nämlich die Buffa-Gruppe in Richard Strauss’ Oper Ariadne auf Naxos (1912/ 1916):78 Die Interpolationen dieser buffonesken Figuren setzen „die Tragödie Ariadnes, die mit einem lieto fine schließt, auf der Werkebene der Oper selbst in ästhetische Distanz“.79 Allerdings bleiben hier die verschiedenen, durch spezifisch musikalische Stilmittel markierten Ebenen separiert und wechselseitig gebrochen. Ein solcher Bruch findet bei Puccini gerade nicht statt, wo die Masken vielmehr die Integrität der Illusion wahren, ja sie sogar maßgeblich vorantreiben. Ping, Pong und Pang sind in der Regieanweisung explizit als Rätselfiguren („tre misteriose figure“, I, S. 20) tituliert, als groteske Masken („tre maschere grottesche“, I, S. 20), deren Erscheinen direkt nach der Hinrichtung des jungen Prinzen von Persien zu einer größeren Verunsicherung führt als dessen gewaltsamer Tod: „Calaf arretra. Timur e Liù stringono insieme, paurosamente, nell’ombra. Il gong s’è oscurato” (I, S. 20/22). Sie sind, wie Liù, metaphorisch mit dem Dunklen, dem Schatten verbunden („ombra”, „oscurato”) und stehen somit in der ainigma-Tradition. Musikalisch werden sie vom chinesischen Gong
Antinaturalismus“ tituliert (S. 53), nicht durchsetzen konnte. Mit dem Operndrama Turandot stellte sich Giacomo Puccini erstmals wieder nach seiner ersten Oper Le Villi (1884), die ebenfalls märchenhafte Züge aufwies, der Herausforderung, eine eher symbolistische Thematik in Musik umzusetzen. 77 Zit. nach: Volpers, Wolfgang, Giacomo Puccinis ,Turandot‘, S. 70. 78 Auf sie nimmt Puccini in einem Brief vom 8. Oktober 1924 an Adami explizit Bezug, in dem er sich wegen der Inszenierung der Masken-Szenen Gedanken macht: „Ich drücke mich wohl nicht deutlich aus, aber ich weiß, daß in der Ariadne von Strauß in Wien mit den italienischen Masken etwas Ähnliches gemacht worden ist“ (Puccini, Giacomo, Briefe des Meisters, S. 254). 79 Danuser, Hermann, Die Musik des 20. Jahrhunderts. Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 7, Laaber 1984, S. 83.
Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT
217
begleitet, dem exotischen Instrument schlechthin in Puccinis Turandot, bekommen also auch kompositorisch chinesische Masken übergezogen.80 Einerseits interagieren sie mit dem Protagonisten Calaf, der sich mehrfach einen Durchgang zwischen ihnen zu erkämpfen versucht („Lasciatemi passare“, I, S. 22/24) und tragen als „[m]inistri del buio“ (II.1, S. 38), als Minister der Henkers, zu den Gräueltaten bei. Andererseits nehmen sie mit ihrem höhnischen Gelächter („sghignazzano“, I, S. 24) und ihrer selbstkritischen Erkenntnis („A che siamo mai ridotti?“, II.1, S. 38) eine stark ironische Haltung zum Geschehen ein und sind Erzählfigur und (kommentierender) Erzähler in einem. Ausgerechnet den Masken ist es vorbehalten, den tragischen Helden Calaf zu einer komischen Figur zu machen: Guardalo, Pong! Guardalo, Ping! Guardalo, Pang! È insordito! Intontito! Allucinato! (I, S. 26)
Das existentielle Halslöserätsel, in dem die Grenze zwischen Spiel und Leben verwischt ist, reduzieren sie auf ein bloßes Rätselspiel: So ist aus ihrem Mund im Zusammenhang mit den Turandot-Rätseln nicht, wie bei allen anderen, vom „enigma“ (griech. ainigma), sondern vom „indovinello“ (griech. griphos) (II.1, S. 38) die Rede. Nicht nur dementieren sie die lebensbedrohliche Situation der Rätsel, auch die Existenz der Rätselstellerin Turandot selbst ziehen sie in Frage und präsentieren sie als Chimäre: „Turandot non esiste!“ (I, S. 28). Allein das Tao, das Nichts, hat für sie Existenz („Non esiste che il Tao!“ ebd.). Und dennoch haben sie keine illusionsbrechende Rolle inne, sondern fiktionsintern sogar eine illusionsgenerierende und verweisen so auf die ethisch-utopische Rätselfunktion [vgl. Kap. I.4]: Sie träumen von ihrem Haus, ihrem Wald, ihrem See in ländlicher Idylle, von einer Gegenwirklichkeit zu den Unheil bringenden heiligen Rätselbüchern (II.1, S. 40). Zudem reagieren einzig die Masken nach dem Tod Liùs als Menschen. In ihren Herzen vollzieht sich die innere Wandlung, die Puccini ursprünglich für die Rätselprinzessin Turandot vorsah: PING, PONG, PANG. Svegliato s’è qui dentro il vecchio ordigno, Il cuore, e mi tormenta! Ah, per la prima volta Al vedere la morte non sogghigno!
80
Vgl. hierzu: Korfmacher, Peter, Exotismus in Giacomo Puccinis Turandot, S. 84 f.
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Kapitel B:Figur und Figuration des Rätsels: TURANDOT Quella fanciulla spenta pesa Sopra il mio cuor come un macigno! (III.1, S. 82)
Dass sich die Masken mit diesem menschlichen Bekenntnis selbst demaskieren und die Bühne verlassen, ist nur konsequent: Nachdem ihnen das Lachen vergangen ist, haben sie als komisch-kritische Kommentatoren in einem Happy End keine Funktion mehr. Die strahlende (Auf-) Lösung lässt die „misteriose figure“ (I.1, S. 20) am Ende überflüssig werden. Letztere, gewissermaßen durch die Hintertür der Theaterbühne, zurückzuholen, gehört zu den großen Herausforderungen zeitgenössischer Inszenierungen, deren Publikumslieblinge bis heute gerade die Schatten- und Rätselfiguren sind: Ping, Pong und Pang sowie Liù. Sie stellen musikalisch und dramaturgisch das in Frage, was auf der Ebene des Libretto-Textes und im Alfano-, weniger im Berio-Schluss, so fraglos erscheint. Ihnen und möglicherweise dem Umstand, dass die Puccini-Oper Fragment geblieben ist und über ihr Ende nur gemutmaßt werden kann, ist zu verdanken, dass sich das Rätselmärchen des 18. und 19. Jahrhunderts auch in der (Post-) Moderne als überlebensfähig erwies: mehr jedoch als ainigma (der Nebenfiguren), weniger als griphos (der Protagonisten). Insofern ist Puccini nolens volens vielleicht doch gelungen, was ihm mitunter abgesprochen wird: Dem „Gozzi […] eine moderne, fesselnde, vielgestaltige Form“81 gegeben und so den Turandot-Stoff in das 20. Jahrhundert hinübergerettet zu haben, indem er neue, paradoxe Figuren und (musikalische) Figurationen des Rätsels schuf.
81
Giacomo Puccini in einem Brief an Adami vom 7. Februar 1920 in: Puccini, Giacomo, Briefe des Meisters, S. 213.
III
Rätsel und Antlitz: Das Rätsel als Erlösungsphantasma der Moderne
„Einem Menschen begegnen, heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden“,1 schreibt Emmanuel Lévinas (1906-1995) und knüpft mit seinem Korrelat von Rätsel und Antlitz an eine Tradition an, die in der Philosophie des Judentums der deutsch-jüdischen Moderne mit Moses Mendelssohn (1729-1786) ihren historischen Anfang und mit Franz Rosenzweig (1886-1929) einen Höhepunkt erfuhr [vgl. Kap. II.4]. Das Menschengesicht, das oft als Ebenbild Gottes gilt, zeugt für den Einbruch des Anderen, der die eigene Ordnung destabilisiert. Es wird zu Gesichten eines neuen Denkens, das in der Moderne – Friedrich Nietzsches Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel“ in Also sprach Zarathustra (1883-85) ist hierfür programmatisch – nach neuen Darstellungsformen sucht, die sich immer wieder des Rätsels in seiner Doppeldeutigkeit von ainigma und griphos bedienen. Nicht mehr die Erkenntnis des Selbst ist, wie noch in Sophokles’ König Ödipus [vgl. Kap. I.3], Gegenstand dieses Rätsels, auch nicht die in der Frühen Neuzeit beispielsweise von Francis Bacon eingeforderte Les- und Entzifferbarkeit der Welt [vgl. Kap. II.3], sondern die Begegnung mit dem Anderen, die sich in der Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht kristallisiert. Was in G. W. F. Hegels fortschrittsorientierter Philosophiegeschichte durch die Rätsellösung ein für allemal überwunden zu sein scheint, nämlich dass der menschliche Geist „noch vermischt und vergesellschaftet mit dem Anderen seiner selber“2 sei [vgl. Kap. A], stellt zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Grundbedingung des Rätsels als hermeneutischer Grenzfigur dar. Allein dieser Andere vermag das Eigene überhaupt erst „wach[zu]halten“. Der hermeneutische Richtungssinn des Rätsels ist demnach weder, wie bei der Antwort des Ödipus („Der Mensch“), selbstbezüglich noch, wie in den aufklärerischen Parabeln, in denen „die Wahrheit Münze“ (G. E. Lessing, Nathan der Weise, V. 1869) zunächst
1
Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/ München 1981, S. 120. 2 Hegel, G. W. F., Werke in zwanzig Bänden, auf der Grundlage der Werke von 1832-45 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt am Main 1970, S. 465.
220
Kapitel III: Rätsel und Antlitz
noch verhandelbar zu sein scheint [vgl. Kap. II.4], sach- und wissensbezogen. Es findet vielmehr eine zwischenmenschliche, oftmals vor-logische, ethische Beziehung statt. Von einem, mit Theodor W. Adorno, perspektivisch übergeordneten „Standpunkt der Erlösung“3 aus, also vom Ende her, wird das Andere nun in den Blick genommen und ermöglicht so mitunter einen Neuanfang. Es wird erfahrbar weder im Wort, das nach Antwort verlangt, noch in der bildlichen Anschauung, die in Sprache übersetzt werden will, sondern im Antlitz, das als beunruhigende „Dazwischenkunft“4 eines Fremden das Eigene existentiell hinterfragt. Anstatt das Rätsel in eine statische, monologische Lösung zu überführen und es somit aufzulösen, wahrt das Antlitz dessen verunsichernde Dynamik und dialogischen Bezug zum Anderen. In Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) ist mit der „Macht des Blicks“ der Lévinassche Antlitz-Gedanke bereits angelegt: Die Macht des Blicks aber vergeht nicht mit dem Augenblick. Ein Wort vergißt sich und soll vergessen werden, es will in der Antwort vergehen. Aber ein Blick erlischt nicht. Ein Auge, das uns einmal angeblickt hat, blickt auf uns, so lange wir leben. (SE, S. 414 f.)5
Das Antlitz bleibt, wie das Lächeln der Sphinx [vgl. Kap. A] oder das Bildnis der Märchenprinzessin Turandot [vgl. Kap. B], gegenwärtig, auch wenn sich das dazugehörige physische Gesicht oder Augenpaar längst entzogen hat. Es ist kategorial von der Phänomenologie eines beschreibbaren Gesichts unterschieden und hat „sich der Form zu entledigen“6 versucht.
3 Adorno, Theodor W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951, S. 333. 4 Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen, S. 249. 5 Rosenzweig, Franz, Der Stern der Erlösung, mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem [seitenidentisch mit der 1976 erschienenen vierten Auflage, die den Text der Erstausgabe aus dem Jahre 1921 unverändert wiedergibt], Frankfurt am Main 1988. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle SE und Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert. 6 Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen, S. 221.
Kapitel III: Rätsel und Antlitz
III.1
221
Das Gesicht als Rätsel – Rätsel als Gesichte bei Friedrich Nietzsche und Franz Rosenzweig
Gesichtsauflösungen und Erlösungsutopien – Fratzengesicht und Rätsel in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883-85) – Rätsel als Gesichte in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) Indem sich das Antlitz von einer gestalthaften Fixierung befreit wissen will, stellt es zunächst einen Gegenpol zur Maske7 dar, die sich gerade über ihre festgelegte Oberflächenstruktur und Darstellbarkeit definiert. Beide, Antlitz wie Maske, werden bei hermeneutischen Selbstpositionierungsversuchen auf je unterschiedliche Weise zum Rätsel in Bezug gesetzt. Denn nirgendwo stellt sich die Frage nach der (Un-) Möglichkeit des Dechiffrierens prekärer als im menschlichen Gesicht.8 Gilt dieses menschliche Gesicht in der durch Johann Caspar Lavater wesentlich initiierten physiognomischen Tradition als ein nach bestimmten Strukturmerkmalen les- und lösbares Rätsel (als eine Art griphos), so verweist es in der jüdischen Hermeneutik wie auch in der (nach-) modernen Ästhetik auf das vor- und außersprachliche, inkommensurable Rätsel des Anderen (vergleichbar dem ainigma) [vgl. Kap. II.4]. In der Moderne wird das Menschengesicht, das lange Zeit Sinnbild für die Ebenbildlichkeit Gottes und somit für menschliche Ganzheitlichkeit war,9 radikalen Auflösungsprozessen unterzogen. Und dennoch scheinen immer wieder Erlösungsutopien durch, die eine neue Suche (quest) nach dem verlorenen oder erst noch zu schauenden Gesicht initiieren [vgl. Kap. III.2]. Gesichtsauflösungen und Erlösungsutopien An zwei Werken soll dieses Junktim von Rätsel und Gesicht(e) im Diagramm der beiden Denkbewegungen ,Hermeneutik der Auflösung‘ und ,Hermeneutik der Erlösung‘ [vgl. Kap. I.4] nachgezeichnet werden: an Friedrich Nietzsches
7
Vgl. hierzu auch: Weihe, Richard, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004. 8 Zur literaturhistorischen Perspektive vgl.: Matt, Peter von, … fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, Erstauflage: München/ Wien 1983, München 2000. 9 Zur Klage über den Ganzheitsverlust vgl. die theologisch-christologische Studie, die sich allerdings der Rassenideologie nicht entzieht und somit die gefährliche Nähe von Totalität und Totalitarismus aufzeigt: Picard, Max, Das Menschengesicht, München 1929, S. 25: „Aber heute, heute ist es manchmal, als würde das Menschengesicht auseinanderfallen, wenn die Ewigkeit es berührt, so wie ein Gespenst auseinanderfällt, wenn die heilige Wirklichkeit es berührt“.
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Kapitel III: Rätsel und Antlitz
Also sprach Zarathustra (1883-1885) und Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) sowie seinen „nachträgliche[n] Bemerkungen“ hierzu in „Das neue Denken“ (1925). Deren theologisch-philosophische Stoßrichtung scheint zunächst einmal diametral entgegengesetzt: Verkündet Nietzsches Zarathustra gleich zu Beginn, „dass Go t t t o d t ist“ (KSA 4, S. 14),10 endet Rosenzweigs Stern der Erlösung damit, „einfältig [zu] wandeln mit […] Gott“ (SE, S. 471). Doch bildet das zwischen Auflösungsprozessen und Erlösungsutopien changierende Rätsel, wie im Folgenden gezeigt werden soll, eine Brücke – eine Metapher übrigens, auf die sowohl Nietzsche als auch Rosenzweig gerne zurückgreifen. Friedrich Nietzsche (1844-1900) nennt sein Buch einen „Dithyrambus auf die Einsamkeit“ (KSA 6, S. 276). Er verbindet mit dem von Zarathustra praktizierten Einzelgängertum die Notwendigkeit zur Verstellung, zur Maske, die dem freien Geist Schutz vor Mediokrität und Missverständnis biete. Als ästhetische Konsequenz hieraus ergibt sich für Nietzsche die „monologische Kunst“ (KSA 3, S. 616), die Zarathustra in der Unterredung mit seiner Seele vorführt: „so wirst du s i n g en müssen, oh meine Seele!“ (KSA 4, S. 280). Doch selbst der einsame Monolog gleicht einer Maskerade, da die Sprache mit ihren Wörtern als Masken der Gedanken keine Gegenstände mehr abzubilden vermag, sondern nur noch auf sich selbst referiert. Jede „Artistenmetaphysik“ (KSA 1, S. 17) – dies die Bezeichnung Nietzsches in seiner Vorrede (1886) zum Frühwerk Die Geburt der Tragödie (1872) für ein herakliteisches (Sprach-) Spiel, bei dem „nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint“ (KSA 1, S. 152) – stößt am Ende an ihre Grenze, und Gott löst sich in der paradoxen Kunst auf. Franz Rosenzweig (1886-1929) hingegen plädiert im dritten und letzten Teil seines Stern der Erlösung für die Gemeinschaft und die „Liebestat“ (SE, S. 262) und legt die für Emmanuel Lévinas später fundamentalen Grundsteine eines dialogischen Alteritätskonzepts. Das ,Ich‘ Nietzsches, mit dem Zarathustra – beispielsweise in seiner vierten Vorrede – anaphorisch jeden Satz einleitet, ist bei Rosenzweig in ein liturgisches ,Wir‘ überführt: „Das Wir ist stets ,Wir alle‘. Jedenfalls: ,Wir alle, die wir hier beisammen sind‘“ (SE, S. 263). Und wenig später: Das Wir hingegen ist die aus dem Dual entwickelte Allheit, die – anders als die nur erweiterbare Singularität des Ichs und seines Gefährten, des Du, – nicht zu erweitern, nur zu verengern ist. Im Wir also hebt die Schlußstrophe des Gesangs
10
Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 82002. Zitate aus Nietzsches Werken werden im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Band- und Seitenangabe direkt im Fließtext angeführt.
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der Erlösung an; im Kohortativ hatte er mit dem Aufruf des Einzelnen, die aus dem Chor hervortraten, und den Responsen des Chors darauf begonnen; im Dual ging es in einem zweistimmigen Fugato, an dem sich immer neue Instrumente beteiligten fort; im Wir endlich sammelt sich alles zum choralmäßig gleichen Takt des vielstimmigen Schlußgesangs. Alle Stimmen sind hier selbständig geworden, jede singt die Worte nach der eigenen Weise ihrer Seele, doch alle Weisen fügen sich dem gleichen Rhythmus und binden sich zur einen Harmonie. Doch immer noch sind es Worte, ist es Wort, auf was sich die Stimmen der beseelten Welt einen. Das Wort, das sie singen, ist Wir. Als Gesang wäre es ein letztes, ein voller Schlußakkord. Aber als Wort kann es so wenig wie irgend ein Wort letztes sein. Das Wort ist nie letztes, ist nie bloß Gesprochenes, sondern immer ist es auch Sprechendes. Das ist ja das eigentliche Geheimnis der Sprache, dieses ihr eigenes Leben: das Wort spricht. (SE, S. 264)
In seinem berühmtesten Aufsatz „Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung“11 (1925) kontrastiert Franz Rosenzweig das alte, logische Denken mit dem neuen grammatischen, dem „Sprachdenken“. Letzteres zeigt eine über die ,bloße‘ Paradoxie, wie sie von Heraklit über Friedrich Nietzsche bis Theodor W. Adorno12 billigend in Kauf genommen wird, hinausgehende Alternative im Dialog auf: Es lebt überhaupt vom Leben des anderen, mag der nun der Hörer der Erzählung sein oder der Antwortende des Zwiegesprächs oder der Mitsprecher des Chors; während Denken immer einsam ist, mag es auch gemeinsam zwischen mehreren ,Symphilosophierenden‘ geschehen: auch dann macht der andre mir nur die Einwände, die ich mir eigentlich selbst machen müßte, – worauf ja die Langeweile der meisten philosophischen Dialoge, auch des überwiegenden Teils der platonischen, beruht. Im wirklichen Gespräch geschieht eben etwas; ich weiß nicht vorher, was mir der andre sagen wird, weil ich nämlich auch noch nicht einmal weiß, was ich selber sagen werde; ja vielleicht noch nicht einmal, daß ich
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Rosenzweig, Franz, „Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung“, in: ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. 3: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, S. 139-161. Zitate aus diesem Aufsatz werden im Folgenden unter Angabe der Sigle ND und mit Seitenangabe direkt im Fließtext angeführt. 12 Zu Analogien und Divergenzen von Franz Rosenzweig und Theodor W. Adorno, vgl.: Flickinger, Hans-Georg, „Zur Ästhetik des Erkennens“, in: Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929). Internationaler Kongreß – Kassel 1986. Bd. II: Das neue Denken und seine Dimensionen, Freiburg/ München 1988, S. 913-921.
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Kapitel III: Rätsel und Antlitz überhaupt etwas sagen werde; es könnte ja sein, daß der andre anfängt, ja es wird sogar im echten Gespräch meist so sein […]. (ND, S. 151)
Der Methode des monologischen, zeitlosen Denkens – oder, mit Rückblick auf Nietzsche, des überzeitlichen,13 hymnischen Gesangs der einsamen Seele – stellt Rosenzweig die Methode des dialogischen, zeitlichen Sprechens zur Seite. Wie Friedrich Nietzsche und fast zeitgleich auch Martin Heidegger14 fragt er nach der Möglichkeit einer Philosophie diesseits oder jenseits des Platonismus.15 Doch schlägt er einen anderen, positiven Weg ein als jene beiden, die mit dem Platonismus die Metaphysik und mit dieser die Philosophie verwerfen: Das „Sprachdenken“, wie Rosenzweig diese neue Methode bezeichnet, kommt aus dem Leben und meint ein Erkennen, das sich in der Zeit und vom Partner her konstituiert. Beider bedarf es, um im Alltag in Form des gesunden Menschenverstands16 zu bestehen, denn Wahrheit gibt es für Rosenzweig nicht in Sätzen und Aussagen, sondern allein im dynamischen, dialogischen Miteinander. Die Erkenntnis der Unmöglichkeit, allgemein verbindliche Wahrheit philosophisch oder gar terminologisch zu erreichen, die Rosenzweig mit Schopenhauer und Nietzsche teilt, überführt er, anders als Nietzsche, nicht in eine Rhetorik, sondern in eine Ethik der Wahrheit, die sich im Akt des Sprechens immer neu „bewähren“17 und somit bewahrheiten muss. Nicht mehr die Maske, bei Nietzsche
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Vgl. hierzu: „Oh meine Seele, ich lehrte dich ,Heute‘ sagen wie ,Einst‘ und ,Ehemals‘ und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen“ (KSA 4, S. 278). 14 Ob Rosenzweig Heideggers Sein und Zeit (1927) gelesen hat, ist äußerst ungewiss. Erwähnung findet es in den Briefen und Texten aus den Jahren 1927-29 jedenfalls nicht. Nur in „Vertauschte Fronten“, einem kurzen Artikel, der auf die philosophische Debatte reagiert, die vom 17. März bis zum 6. April 1929 anlässlich der zweiten Davoser Hochschulkurse zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger stattgefunden hat, von denen Rosenzweig über einen Artikel der Frankfurter Zeitung erfahren hat, erwähnt er Heidegger. Vgl. hierzu: Mosès, Stéphane, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, mit einem Vorwort von Emmanuel Lévinas, aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1985, S. 225-230. 15 Hermann Cohen übte diesbezüglich einen großen Einfluss auf Franz Rosenzweig auf, vgl. hierzu auch: Wiehl, Reiner, „Logik und Metalogik bei Cohen und Rosenzweig“, in: Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929), S. 623-642. 16 Vgl. hierzu auch: Rosenzweig, Franz, Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, herausgegeben und eingeleitet von Nahum Norbert Glatzer, Düsseldorf 1964. 17 Die linguistische Verfahrensweise, die Rosenzweig im Stern der Erlösung verwendet, verweist mit ihrer Wortzerlegung, wovon Jacques Derrida später extensiven Gebrauch macht, auf die latente Bedeutung der Wortbestandteile, bevor Martin Heidegger diesen Stil der (pseudo-)etymologischen Methode nutzt, die in Sein und Zeit noch kaum entwickelt ist. Die Stellung der Sprache als Sprechen bei Rosenzweig und als Rede bei
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Garant der Wahrheit, sondern das Antlitz zeugt nun für die sprachliche Begegnung. Zwar fasst auch Rosenzweig zunächst die „Erlösung als ästhetische Kategorie“,18 doch wird sie am Ende hin zu einer ethischen Kategorie verschoben. Durch das „Tor“, dies der Name des letzten Kapitels, führt der Weg über das Menschengesicht zum Gottesantlitz, aus der Kunst heraus ins Leben, das bei Rosenzweig stets von der Transzendenz ausgeht und einen Übergang zum Anderen bezeichnet: [……] Einfältig wandeln mit deinem Gott – die Worte stehen über dem Tor, dem Tor, das aus dem geheimnisvoll-wunderbaren Leuchten des göttlichen Heiligtums, darin kein Mensch leben Bleiben kann, herausführt. Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben. (S. 472)
Mit seinem Vorstoß in die Lebenspraxis überführt Rosenzweig seine Metaphysik-Kritik in eine Ethik des dialogischen Miteinanders und wagt sich hiermit einerseits einen Schritt weiter als Nietzsche, der diesen Schwenk ins Positive bewusst vermeidet. Andererseits unterliegt Rosenzweig mit seiner Konzeption einer unmittelbaren Schau am Ende doch einer von ihm zuvor tunlichst vermiedenen Totalisierungsgefahr.19 Er fällt, indem er der Mystik das letzte, schweigende Wort erteilt, wieder hinter Nietzsches Sprachkritik, aber auch hinter Moses Mendelssohns Konzeption einer ,lebendigen Schrift‘ zurück [vgl. Kap. II.4],20 die Schauen und Handeln, Theorie und Praxis aufeinander zu beziehen versuchte. Friedrich Nietzsche und Franz Rosenzweig haben jedenfalls beide die Unmöglichkeit, allgemeinverbindliche Wahrheit philosophisch fassen zu können,
Heidegger ist zentrales Element von Rosenzweigs und Heideggers Existenzanalyse. Vgl. hierzu: Mosès, Stéphane, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, besonders S. 228 f. 18 So lautet die Überschrift von Kapitel 238 (SE, S. 270). 19 Emmanuel Lévinas weist ausdrücklich auf den Differenzdenker Franz Rosenzweig hin, dem es in erster Linie um den Bruch und die Aufspaltung der Totalität geht, die auf der Grundlage der Sterblichkeit des Menschen bestritten wird. Vgl. hierzu: Lévinas, Emmanuel, „Vorwort“, in: Mosès, Stéphane, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, S. 9-18, hier: S. 15. 20 Vgl. hierzu auch: Hilfrich, Carola, „Lebendige Schrift“. Repräsentation und Idolatrie in Moses Mendelssohns Philosophie und Exegese des Judentums, München 2000, besonders S. 170-172.
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sowie den idealistischen Selbstbetrug, den Glauben an die Autonomie der menschlichen Vernunft, erkannt. Nietzsche reagiert darauf, indem er als Zerstörer des Systemdenkens die fragmentierte Wahrheit als „bewegliches Heer von Metaphern“, als „Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“ (KSA 1, S. 880 f.) entlarvt. Rosenzweig hält mit seinem Entwurf eines neuen, offenen Systems an dem Glauben fest, dass in der Erlösung aus der Welt des Bruchs einst die Welt der Wiederherstellung entstehe und „ein im ästhetischen Sinn Fertiges, Abschließendes zustande kommt“ (SE, S. 270). Diese Welt dringt bei Rosenzweig im Schauen des „Weltgleichnisses im Gottesantlitz“ (ND, S. 160) zur einen Wahrheit21 vor, worauf das Menschengesicht, in das der Stern der Erlösung eingeschrieben ist, hindeutet. Nietzsches Zarathustra hingegen findet „den Menschen zertrümmert […] und zerstreuet“, „Bruchstücke und Gliedmaassen und grause Zufälle – aber keine Menschen“ (KSA 4, S. 178 f.). Während Nietzsche zunächst im Zeichen der Auflösung steht, so Rosenzweig in dem der Erlösung. Nichtsdestotrotz lassen sich an exponierten Stellen ihrer Werke jeweils Gegenbewegungen feststellen: Dort greift Nietzsche auf Erlösungskonzeptionen zurück, bei denen sich in gleichnisartiger Zukunftsschau noch einmal alles zusammenfügt: „Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage […]“ (KSA 4, S. 178). Und Rosenzweig lässt, kaum scheint er die „endgültige Lösung“ (ND, S. 160) in der göttlichen Erlösung philosophisch pointiert zu haben, einen hermeneutischen Auflösungsprozess folgen, der – im Rückgriff auf den diabolischen Mephisto – „manches Rätsel knüpft“ (ND, S. 161) und in einem unendlichen Regress neue unlösbare Rätsel generiert. Beide rekurrieren dabei auf den Rätsel-Begriff, der die Scharnierstelle zwischen metaphysischem und nachmetaphysischem Denken bildet. Und das Gesicht – bei Nietzsche in Überblendung mit der teuflischen Fratze, bei Rosenzweig als Vorverweis auf das göttliche Antlitz – wird zum Schauplatz ihres neuen Denkens. Das zentrale Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel“ (KSA 4, S. 197-202) in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883-1885) bestimmt Martin Heidegger in seinem Vortrag „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“ (1953)22 nicht nur als enigmatischen Knotenpunkt des Zarathustra, sondern auch als denjenigen von Nietzsches Werk, ja sogar der „abendländischen Metaphysik“ (WNZ, S. 125) schlechthin. Heidegger rückt Nietzsches
21
Vgl.: „Nur bei Gott selber steht da die Bewährung, nur vor ihm ist die Wahrheit Eine“ (ND, S. 159). 22 Heidegger, Martin, „Wer ist Nietzsches Zarathustra?“ [Vortrag gehalten am 8. Mai 1953 im Club zu Bremen], in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze, I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt am Main 2000, S. 99-124. Belege werden mit der Sigle WNZ direkt im Fließtext angeführt.
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Zarathustra, was vielfach kritisiert wurde,23 in eine rein seinsgeschichtliche Perspektive und will das Werk als „Stadium der Vollendung der Metaphysik“ (WNZ, S. 121) verstanden wissen. Nichtsdestotrotz zeugt gerade sein Nachtrag, die „Anmerkung über die ewige Wiederkehr des Gleichen“ (WNZ, S. 125 f.), von einer vorsichtigen Zurücknahme: Dort markiert Heidegger nolens volens den metaphysischen Höhepunkt zugleich als einen hermeneutischen Grenzpunkt, der sich dem metaphysischen Denken entzieht. Heißt es zu Beginn der „Anmerkung“ in hermeneutischer Zielstrebigkeit: Nietzsche selber wußte, daß sein „abgründlichster Gedanke“ ein Rätsel bleibt. Um so weniger dürfen wir meinen, das Rätsel lösen zu können. Das Dunkle dieses letzten Gedankens der abendländischen Metaphysik darf uns nicht dazu verleiten, ihm durch Ausflüchte auszuweichen. (WNZ, S. 123)
So beendet Heidegger seinen Aufsatz mit einer Bemerkung, die ein Oszillieren zwischen Hermeneutik und Hermetik erkennen lässt und das (metaphysische) Denken transgrediert: Daß Nietzsche seinen abgründlichsten Gedanken vom Dionysischen her deutete und erfährt, spricht nur dafür, daß er ihn noch metaphysisch und nur so denken mußte. Es spricht aber nicht dagegen, daß dieser abgründlichste Gedanke etwas Ungedachtes verbirgt, was sich dem metaphysischen Denken zugleich verschließt. (WNZ, S. 124)
Das Rätsel gilt Heidegger als das „Ungedachte“, das Nicht-mehr-zu-Denkende oder Noch-nicht-Gedachte und wird an der Trennscheide zwischen Metaphysik und Nach-Metaphysik lokalisiert. In Franz Rosenzweigs Hauptwerk, dem Stern der Erlösung (1921), spielt das Rätsel explizit relativ selten24 eine Rolle. Umso erstaunlicher ist es, dass
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Vgl. hierzu auch: Martínez, Roberto S., „Wer ist Zarathustras Adler? Zur Interpretationsgeschichte einer Figuration“, in: Mayer, Mathias (Hg.), Also wie sprach Zarathustra? West-östliche Spiegelungen im kulturgeschichtlichen Vergleich, Würzburg 2006, S. 155-171, hier besonders: S. 157. 24 Insgesamt kommt das Rätsel in Rosenzweigs Stern der Erlösung 15mal vor, davon achtmal in der Zusammensetzung „rätselhaft“ (SE, S. 38, 85, 104, 183, 224, 226, 367 (zweimal)): einmal ist auf den Ödipus-Mythos alludiert, wobei betont wird, dass dessen Lebensrätsel ungelöst bleibt (SE, S. 85), zweimal ist vom „Welträtsel“ die Rede, das mit dem „Fragwürdigen“ verbunden ist (SE, S. 149, 154). Immer steht das Rätsel in Beziehung zu der für den Stern der Erlösung zentralen Begriffstrias Schöpfung – Offenbarung – Erlösung (SE, S. 126, 287, 454), wobei am Ende im Kontext jüdischer Mystik das „Gesetz“ als „der Schlüssel zu jenen Rätseln der Welt“ gepriesen wird, das die
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Rosenzweig seinen Aufsatz „Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung“ (1925) mit einem Rätsel-Zitat aus der Walpurgisnacht-Szene in Johann Wolfgang Goethes Faust I (V. 4040 f.) beendet: „Und dieses [hat] der größte Dichter der Deutschen [gewusst], dessen Mephisto dem begierigen Ruf Faustens; ,dort muß sich manches Rätsel lösen‘ erwidert: ,Doch manches Rätsel knüpft sich auch‘“ (ND, S. 161). Bei Rosenzweig wird das Rätsel jenseits des metaphysischen, logozentrischen Denkens als eine Grenzfigur hermeneutischer (Selbst-) Auslegung gefasst, die dem Leser die Lektüre zu erleichtern vorgibt, sie letztlich aber erschwert. Das Verlangen des Lesers nach Schlag- und Lösungsworten von Seiten des Autors, die sein Werk aufschlüsseln, könne nämlich nicht befriedigt werden: Denn was er [der Leser] verlangt, und schließlich auch verlangen darf, grade das wurde ihm nicht gegeben: die schlagworthafte Bezeichnung, unter der er das nun etwa über das neue Denken in Erfahrung Gebrachte auf dem Friedhof seiner Allgemeinbildung beisetzen könnte. Daß ich ihm dies Schlagwort nicht gegeben habe, war nicht böser Wille von mir, sondern ich weiß wirklich keins. (ND, S. 160)
Das Rätsel, so ließe sich Rosenzweig weiterdenken, ist nämlich „in allen drei Bezirken, der Vorwelt des Begriffs, der Welt der Wirklichkeit, der Überwelt der Wahrheit“ zugleich beheimatet und kann somit nicht terminologisch gefasst, sondern nur lebenspraktisch „erfahren“ und letztlich als Gesichte geschaut werden (ND, S. 161). Ihm ist jedenfalls, wie in Heideggers Nietzsche-Lektüre, nicht durch einen faustisch-wissenschaftlichen, hermeneutischen Lösungsakt beizukommen. Es bleibt, mit Heidegger, dunkel oder wird, mit Rosenzweig, unaufhörlich neu geknüpft. Was Heidegger in seinem Nietzsche-Buch über den Zarathustra schreibt, kann gleichermaßen auch für Rosenzweig gelten: Aber das Rätsel und das Erraten des Rätsels wären hier gründlich mißverstanden, wollten wir meinen, es handle sich um das Treffen einer Lösung, mit der sich alles Fragwürdige auflöste. Das Erraten dieses Rätsels soll vielmehr erfahren, daß es als das Rätsel nicht auf die Seite gebracht werden kann.25
neuzeitlich-szientistische Rede vom „Buch der Natur“ [vgl. Kap. II.3] ersetze (SE, S. 454 f.). 25 Heidegger, Martin, Nietzsche, 2 Bände, Bd. 1, Stuttgart 1961, fotomechanische Wiedergabe 72008, S. 257.
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Fratzengesicht und Rätsel in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883-85) In „Vom Gesicht und Räthsel“ (KSA 4, S. 197-202), dem zweiten Kapitel des dritten Teils, das die architektonische Mitte von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883-85) bildet, geht es um ein Fratzengesicht im Wechselspiel von messianischer Hoffnung und deren nihilistischer Destruktion: „Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze?“ (KSA 4, S. 201). Gesicht und Gesichte werden hier über das Rätsel, das Ratespiel (griphos) und Rätselschau (ainigma) zugleich meint, aufeinander bezogen: Ihr Räthsel-Frohen! So rathet mir doch das Räthsel, das ich damals schaute, so deutet mir doch das Gesicht des Einsamsten! Denn ein Gesicht war’s und ein Vorhersehn; – w a s sah ich damals im Gleichnisse? Und w e r ist, der einst noch kommen muss? (KSA 4, S. 202)
Zarathustra, der sich gerade des Geists der Schwere, eines lästigen Zwerges, entledigt hat, sieht das surreal verfremdete Gesicht eines Hirten, aus dessen Mund sich eine Schlange windet. Er suggeriert, dass dieses geschaute Rätsel lösbar sei, und animiert seine Zuhörer, die „Räthsel-Trunkenen“ und „ZwielichtFrohen“, die den roten Faden rationalen Erschließens verloren hätten, es zu „er ra t h e n “ (KSA 4, S. 197). Gegenstand des Rätsels ist ein Gesicht, das sich zugleich auf prophetische Gesichte bezieht („ein Vorhersehn“), also auf ein zukünftiges, messianisches Antlitz vorausverweist („we r ist, der einst noch kommen muss?“). Indem Zarathustra auf die Gattung „Gleichnis“ anspielt, die mit ihrer metaphorischen, oft verschlüsselten Botschaft, strukturanalog zum Rätsel, am Anfang aller Literarisierung steht, stellt er sich zunächst in biblische Tradition. Doch die Zeit, in der Gleichnisse per se eine (Er-) Lösung implizieren, ist vorbei, die Selbst-Verständlichkeit des Gleichnisses abhanden gekommen [vgl. Kap. II.4]. Die Frage nach dem Menschen („We r ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwärzeste in den Schlund kriechen wird?“ KSA 4, S. 202) ist nicht mehr die der Sphinx nach der Zeitlichkeit des Lebens („Wer ist das, der morgens auf zwei Beinen […]“, [vgl. Kap. A]), auch nicht die Gottes nach dem Ort des schuldig gewordenen Menschen („Adam, wo bist du?“ Gen. 3,9). Sie ist diejenige nach einem Verwandelten, „[n]icht mehr Hirt, nicht mehr Mensch“ (KSA 4, S. 202), der einer Schlange, Uranfang des Sündenfalls, den Kopf abbeißt. Das Rätsel ,löst‘ sich allenfalls noch im Lachen des Umleuchteten, ein Lachen das bei Zarathustra eine Erlösungssehnsucht weckt, der er kaum standzuhalten vermag: „Meine Sehnsucht nach diesem Lachen frisst an mir: o wie ertrage ich noch zu leben! Und wie ertrüge ichʼs, jetzt zu sterben! –“ (KSA 4, S. 202). Diese Formulierung erinnert an einen Ausspruch Zarathustras
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im zweiten Teil aus dem Kapitel „Von der Erlösung“ (KSA 4, S. 177-182), in dem Gesicht und Rätsel ebenfalls eng aufeinander bezogen sind: Ich wandle unter Menschen als den Bruchstücken der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue. Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall. Und wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Rätselrather und der Erlöser des Zufalls wäre! (KSA 4, S. 179)
„Bruchstücke der Zukunft“ ist der Mensch deshalb, weil er über kein ganzheitliches Menschengesicht, sondern nur noch über dessen karikaturistisch übersteigerte Einzelteile verfügt: „,das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross wie ein Mensch!‘ Ich sah noch besser hin: und wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas, das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig war“ (KSA 4, S. 178). Das Ohr wird vom Volk für einen großen Menschen, ein Genie, gehalten, bleibt für Zarathustra aber ein „umgekehrte[r] Krüppel“ (ebd.). Als „Bruchstück“ ist es „Räthsel“, entkontextualisiert und ästhetisch verfremdet. Er allein, so behauptet Zarathustra, der sich später selbst mit „Räthselrather“ tituliert (KSA 4, S. 248), seinen Jüngern gegenüber, sei noch zu einer Enträtselung imstande: zu einer Zukunftsschau, bei der sich alles wieder zusammenfüge, eine Erlösung vom Zufall stattfinde. Doch scheint er insgeheim diesen Ganzheitsglauben schon verloren zu haben, wenn es ganz am Ende heißt: „Aber warum redet Zarathustra anders zu seinen Schülern – als zu sich selber?“ (KSA 4, S. 182). Zerrissen zwischen Höhe und Tiefe, am schwindelerregenden „Abhang, wo der Blick hinunter stürzt und die Hand hinauf greift“, leidet Zarathustra an „[s]eines Herzens doppelten Willen“ (KSA 4, S. 183) und strebt zum Menschen und zum Übermenschen zugleich. Allein im Halbschlaf („Vielmehr lag er still, mit geschlossenen Augen, einem Schlafenden ähnlich, ob er schon nicht schlief: denn er unterredete sich eben mit seiner Seele“, KSA 4, S. 277) ist ihm der Traum „Von der grossen Sehnsucht“ (KSA 4, S. 278-281) noch vergönnt: „Oh, meine Seele, ich erlöste dich von allen Winkeln, ich kehrte Staub, Spinnen und Zwielicht von dir ab“ (KSA 4, S. 278). Und die obscuritas, das fahle Dämmer- und Zwielicht, weicht für die Länge eines Tagtraums – in christlich-offenbarungsphilosophischer Metaphorik – dem „offne[n] Himmel“ und „Licht“ (KSA 4, S. 278). Das komplexe Ineinandergreifen von Auflösung und Erlösung lässt sich folglich an Nietzsches Also sprach Zarathustra besonders gut aufzeigen. Die Doppeldeutigkeit des Wortes Gesicht als sehendes und gesehenes Gesicht, als Gesicht und Gesichte, visage und vision wird hier produktiv gemacht. Gleich ob das Werk, wie von Martin Heidegger, an den Höhe- und Endpunkt der metaphysischen oder, wie im Poststrukturalismus, an den Anfang der nachmetaphysischen Tradition gestellt wird, das Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel“ (KSA 4, S. 197-202) bildet spätestens seit Heideggers Vortrag „Wer ist Nietzsches
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Zarathustra?“ (1953) eine wichtige Referenz.26 „[I]n der Gestalt Zarathustras“ zeige sich nämlich, so Heidegger, „das Gesicht des Rätsels“ (WNZ, S. 117). Die „Gestalt Zarathustras“ meint hierbei keine dem Leser plastisch vor Augen stehende literarische Figur, zumal sie sich, einem Schatten oder einer Erscheinung vergleichbar,27 immer wieder entzieht. Vielmehr bleibt sie Name eines Prinzips, abstrakter Sprecher, mit Heidegger „Fürsprecher“ (WNZ, S. 101) und lehrt28 ein Zweifaches, was in sich zusammengehört, die ewige Wiederkunft29 sowie den Übermenschen: „Nach dieser Hinsicht bleibt auch er [Zarathustra] ein Rätsel, das wir noch kaum zu Gesicht bekommen haben“ (WNZ, S. 122), das er aber weiter tradiert: „daß, was er lehrt, ein Gesicht bleibt und ein Rätsel“ (WNZ, S. 117). Denn was „sich logisch oder empirisch weder beweisen noch widerlegen“ lasse – und dies gelte „von jedem wesentlichen Gedanken jedes Denkers“ – sei „Gesichtetes, aber Rätsel – frag-würdig“ (WNZ, S. 118). Zarathustra, dessen „Sehnsucht“ dem „Rätselvolle[n]“ gilt (WNZ, S. 118), stellt demnach das Rätsel selbst dar und gibt es zugleich auf. Er ist Figur und Figuration (lt. figura) des Rätsels, ,Gestalt‘ und ,Gesicht(etes)‘. Allerdings bleibt er dabei „er-dacht“ (WNZ, S. 122), und denkt sein Gedachtes „für Alle und Keinen“, in stiller Einsamkeit. Sogar seine Tiere verlassen ihn, wenn er seine Selbsterlösung – im Monolog – vollzieht: „Die Schlange aber und der Adler, als sie ihn solchermassen schweigsam fanden, ehrten die grosse Stille um ihn und machten sich behutsam davon“ (KSA 4, S. 277). Nur wo er schweigt, erhebt sich der hymnische Gesang seiner Seele: „Dass ich dich singen hiess, sprich nun, sprich: we r von uns hat jetzt – zu danken? – Besser aber noch: singe mir, singe, 26
Vgl. hierzu auch: Villwock, Peter (Hg.), Nietzsches ,Also sprach Zarathustra‘. 20. Silser Nietzsche-Kolloquium 2000, Basel 2001, besonders die Beiträge: „Vom Gesicht und Räthsel. Vorschläge zur Lektüre“ von Niklaus Peter, Daniel Müller Nielaba und Barbara Naumann (S. 35-54) sowie den Beitrag „Die Rätselstruktur des Zarathustra. Über Nietzsches Begriff-Sinnlichkeit“ (S. 91-124) von Peter André Bloch, die beide, anders als die Titel vermuten lassen, den Rätselbegriff nur streifen oder ihn, wie Bloch, in der Rede vom „Entschlüsseln des Welten-Rätsels“ auf seine heuristische Funktion reduzieren (S. 94). 27 Vgl. hierzu: Wohlleben, Doren, „Friedrich Nietzsches Zarathustra im poetologischen Spannungsfeld von Schatten und Erscheinung“, in: Mayer, Mathias (Hg.), Also wie sprach Zarathustra?, S. 125-138. 28 Vgl. hierzu: Figal, Günter, „Zarathustra als erfundener Lehrer“ in: Mayer, Mathias (Hg.), Also wie sprach Zarathustra?, S. 49-57. 29 Roberto S. Martínez greift den wichtigen Kommentar Martin Heideggers auf, dass Zarathustra selbst den Gedanken der ewigen Wiederkunft nie lehrt, sondern hierzu lediglich von seinen Tieren, dem Adler und der Schlange, aufgefordert wird, und treibt ihn ins Extrem: „Was ich damit natürlich in Frage stelle ist, ob es den Lehrer der ewigen Wiederkunft im Zarathustra, im Text, überhaupt gibt. Vielleicht handelt es sich eher um eine Erfindung der Interpreten“ (Martínez, Roberto S., „Wer ist Zarathustras Adler? Zur Interpretationsgeschichte einer Figuration“, S. 160 (dort Fußnote 15)).
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Kapitel III: Rätsel und Antlitz
oh meine Seele! Und mich lass danken! –“ (KSA 4, S. 281). Zarathustra ist ein Meister des (Mono-) Logos, des paradoxen, aphoristischen, herakliteischen [vgl. Kap. I.2] Rätselwortes, eines Wortes allerdings, das der Ant-Wort des Anderen nicht bedarf. Rätsel als Gesichte in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) Während bei Nietzsche das Antlitz in eine verzerrte Maske dekonstruiert ist, findet sich im letzten Kapitel „Das Tor“ von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) eine gegenläufige Bewegungsrichtung. Diesmal wird „die starre Maske des Menschen“ (SE, S. 470) symbolisch übersteigert, als Davidsstern gelesen und in das ganzheitliche Antlitz Gottes und dessen Wahrheit hinübergeführt: Es ist deshalb kein Menschenwahn, wenn die Schrift von Gottes Antlitz und selbst seinen einzelnen Teilen redet. Die Wahrheit lässt sich gar nicht anders aussprechen. Erst indem wir den Stern als Antlitz schauen, sind wir ganz über alle Möglichkeit von Möglichkeiten hinweg und schauen einfach. (SE, S. 470)
Diese Schau, die höchste mystische Erfahrung überhaupt, setzt den Logos außer Kraft, macht das Rätselwort zu Gesichten und lässt es schweigen („schweigt das Wort“; SE, S 465). Den Weg dorthin bahnt notwendigerweise das Erscheinen des Menschengesichts, also die Wirklichkeit der menschlichen Erfahrung. Allein im menschlichen Antlitz offenbart sich die göttliche Wahrheit, denn die mystische Struktur Gottes bleibt, wie auch in kabbalistischer Tradition üblich, auf die Kategorien des menschlichen Körpers angewiesen.30 Die Lesbarkeit des Menschengesichts ist somit conditio sine qua non für die Schau des göttlichen Antlitzes, auf die sie in einem symbolischen Zeichen, in der Figur des Sechssterns, verweist: Rosenzweig teilt, analog zu dem aus zwei spiegelverkehrt übereinander gelegten Dreiecken im Davidstern, „die Organe des Antlitzes in zwei Schichten“ (SE, S. 470): Das erste wird vom Mittelpunkt der Stirn, der die Ohren zugerechnet werden, und dem Mittelpunkt der Wangen, zu denen die Nase gehört, gebildet, das zweite von Augen und Mund, die das erste beleben. Das Einzelteil ist hier, anders als bei Nietzsche, pars pro toto und wird zum Ganzen harmonisch in Bezug gesetzt. So gilt Rosenzweig der Mund als „der Vollender und Vollbringer allen Ausdrucks, dessen das Antlitz fähig ist“ (SE, S. 471). Doch fungiert er nicht als hermeneutisches Sprachrohr, das ausdrückt, indem es sich öffnet, sondern indem es versiegelt, nämlich „im Schweigen, hinter dem die
30
Vgl. hierzu: Mosès, Stéphane, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, S. 220-223.
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233
Rede zurücksank: im Kuß“ (SE, S. 471). Rosenzweig knüpft zwar an die mystische Tradition („Schweigen“) an, erweitert sie aber um eine ethische Dimension, hin zum Nächsten („Kuß“). Der Mystiker, Nachfolger des einsamen und stummen tragischen Helden, sei ein weltloser Mensch (SE, S. 231), dessen Beziehung zu der von ihm verleugneten Welt „grundunsittlich“ ist. Der neue und „ganze Mensch“, der „Heilige“, der sich im modernen Helden erahnen lasse, teile mit ihm zwar das Grunderlebnis ontologischer Unvollkommenheit, sei aber der Alterität gegenüber aufgeschlossen. Nicht mehr in der Selbstbesinnung, der zurückgezogenen, innerlichen Gottesschau (SE, S. 231), erst im zwischenmenschlichen, liebenden Fremdbezug erhält das Antlitz seine volle Bedeutung. Explizit analogisiert Rosenzweig den Kuss, den Gott Moses gab, nachdem er das Gelobte Land schaute, aber nicht betreten durfte, mit dem Kuss der Menschen untereinander. Denn „mitten im Leben“ (SE, S. 471) geht die Erlösung vonstatten, die Rosenzweig innerhalb seines triadischen Bezugssystems Gott – Mensch – Welt zunächst als die Relation zwischen Mensch und Welt betrachtet. Erlösung besteht Rosenzweig zufolge darin, die noch unvollendete Welt in der menschlichen Tat zu vollenden. Die Unvollendung wird als ein Noch-Nicht, als ein Zustand der Erwartung gedeutet, der die Welt als ein „Geheimnis“ erfahren lässt: „[Die Welt ist] geheimnisvoll, weil sie sich offenbart, ehe ihr Wesen da ist“ (SE, S. 245). Das Bedürfnis, dieses Geheimnis einst zu lüften und die Welt vollendet zu sehen, geht mit einer Erlösungssehnsucht einher, wobei sich die Erlösung durch einen doppelten Zeitbezug auszeichnet: Sie wird einerseits als eine Utopie in die ferne Zukunft projiziert, andererseits als unmittelbar bevorstehend, geradezu gegenwärtig erlebt: „Ewigkeit ist nicht eine sehr lange Zeit, sondern ein Morgen, das ebensogut Heute sein könnte. Ewigkeit ist eine Zukunft, die, ohne aufzuhören, Zukunft zu sein, dennoch gegenwärtig ist“ (SE, S. 250). Und diese Gegenwärtigkeit wird immer wieder durch das Rätsel des Anderen spürbar. Denn Erlösung, so zitiert Emmanuel Lévinas Franz Rosenzweig, meint, zu einem ,Er‘ ,Du‘ zu sagen31 – von einem Rätsel wachgehalten zu werden. Ein derartiges Rätsel verzerrt nicht, wie bei Friedrich Nietzsche, das Gesicht zur Fratze. Es konstituiert – im Angesicht des Anderen – überhaupt erst das eigene Gesicht. Rosenzweig schreibt in seinem im Sommer 1921 entstandenen Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand: Wo ich einem Menschen begegne, mag mein Gesicht in seines tauchen, bis seine Züge sich auf meinem malen; ja wo ein Gleichnis nur von Antlitz mich anblickt, aus stummem Klageblick des Tiers, aus schweigendem Auge uralter Göttersteine, da steige mein Auge hinein, verschmelze seinen Blick mit ihrem, bis auch hier mir Wesen ward, was je gewest. Der Erde Rund umkreisend find ich so mich
31
Lévinas, Emmanuel, „Vorwort“, in: Mosès, Stéphane, System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, S. 17.
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Kapitel III: Rätsel und Antlitz selbst. Die hundert Masken meiner, eurer hundert Augenblicke, sie seien mein Gesicht.32
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl bei Friedrich Nietzsche als auch bei Franz Rosenzweig das Menschengesicht, das zugleich dunkler Spiegel (ainigma) eines nicht-(mehr)-menschlichen Gesichts ist, an prominenter Stelle steht: einmal als Angelpunkt des Zarathustra, einmal als Schlusspunkt des Stern der Erlösung. Der Wahrheitsbegriff bleibt bei beiden ein prekärer Bezugspunkt: Friedrich Nietzsche und Franz Rosenzweig rekurrieren – einmal rhetorisch-monologisch, einmal ethisch-dialogisch – auf ihn, wenn sie vom Menschengesicht, dem Kristallisationspunkt des Rätsels, sprechen. Zwischen der mystischen Rede vom Angesicht Gottes, das als Schau der Wahrheit gilt (bei Franz Rosenzweig), und dem Maskenspiel, das zum rätselhaften Fratzengesicht erstarrt und jede Einheitsschau unterminiert (bei Friedrich Nietzsche), wird das Gesicht zur hermeneutischen Bewährungsprobe. Friedrich Nietzsche hält, in herakliteischer Tradition, stärker am Logos im Sinne eines paradoxen Rätselwortes fest und zelebriert in Monologen seiner erdachten Zarathustra-Figur eine fulminante Rhetorik des Rätsels, die, mit Ludwig Wittgenstein, gegen die Grenzen der Sprache anrennt [vgl. Kap. I.4, Funktion (3)]. Seine auf Heraklit zurückgehende Blitz-Metaphorik [vgl. Kap. I.2] findet sich im 20. Jahrhundert auch in Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie (1970) wieder, der im Phänomen des Feuerwerks als „aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen läßt“33 die einzig mögliche Wahrheitserfahrung sieht. Denn Wahrheit kann bei Adorno in der Theorie, sofern diese selbst ästhetisch wird, zwar noch aufscheinen, aber nicht mehr in Begriffen repräsentiert werden. Sie findet daher ihren zentralen Ort in der Kunst der Moderne, insbesondere in derjenigen, die, wie die Musik, teils auch die Literatur, die hermeneutische Sinnstiftung desavouiert [vgl. Kap. III.3]. Franz Rosenzweig versucht hingegen mit seiner dialogischen Konzeption des ,Sprachdenkens‘ einen Ausweg aus dieser von Heraklit, Nietzsche, später auch von Adorno34 bewusst in Kauf genommenen Paradoxie aufzuzeigen: In der Offenbarung, die bei Rosenzweig immer den Prozess des gemeinsamen ZurSprache-Bringens, die Genese des Wissens in der Sprache meint, wird die Illu-
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Rosenzweig, Franz, Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, S. 85. Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 2003, S. 125. 34 Vgl. hierzu Theodor W. Adorno: „[…] und gerade jene Paradoxie [dass ein Gemachtes um seiner selbst willen sein soll, D. W.] ist der Lebensnerv neuer Kunst“ (ebd., S. 41). Zu Analogien und Divergenzen von Franz Rosenzweig und Theodor W. Adorno, vgl.: Flickinger, Hans-Georg, „Zur Ästhetik des Erkennens“, in: Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929), S. 913-921.
33
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sion eines souverän-autonomen Erkenntnissubjekts entlarvt. Die Möglichkeit eines gegenseitigen In-Beziehung-Tretens wird dabei nicht preisgegeben, das durch „die Sprache oder die Gesellschaftlichkeit oder die Liebe“35 das Nichtzusammenfügbare zu verbinden vermöge. Beide wenden sich von der Ontologie ab und sehen allein in der, so Rosenzweig im Rückgriff auf Schelling, „erzählenden Philosophie“ (ND, S. 148) eine adäquate Ausdrucksform des neuen Denkens. Dieses stützt sich statt auf Begriffe auf Metaphern und Gleichnisse: auf die literarische Rätselrede. Nietzsche und Rosenzweig legen jeweils ein, wie Emmanuel Lévinas über Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung schreibt, „lyrisches Buch“ vor: „oft dunkel und andeutungshaft“.36 Das Ungedachte, das noch nicht oder nicht mehr zu Denkende, ist dessen konstitutiver Bestandteil. Es schlägt sich bei Nietzsche, wie später bei Adorno, in der ästhetischen, bei Rosenzweig in der mystischen Erfahrung nieder und wird mit Rätsel und Gesicht(e) in Verbindung gebracht. Denn die Welt gerät in der Moderne, mit Rosenzweig, zum „sichtbaren Rätsel“: Und wo man glaubt, „manches Rätsel lösen“ zu können, da knüpft sich „manches Rätsel […] auch“ (ND, S. 161).
35 36
Lévinas, Emmanuel, „Vorwort“, in: Mosès, Stéphane, System und Offenbarung, S. 14. Ebd.
236 III.2
Kapitel III: Rätsel und Antlitz
Die Suche nach dem verlorenen Gesicht in Hermann Brochs Roman Die Schlafwandler (1931/32)
Gesichtsverlust als kulturelle Verlustgeschichte der Moderne – Charaktergemälde, Karikatur, Chimäre: Opazität statt Transparenz – Visage perdu (Salvador Dalí): Fern-Menschliches und Landschaftliches – Abstrakte Köpfe (Alexej Jawlensky): Musik und Antlitz Das enigmatische Gesicht, sei es in Gestalt einer maskenhaften Fratze oder eines ins Religiöse transzendierten Antlitzes [vgl. Kap. III.1], wirft mit Beginn des 20. Jahrhunderts die grundsätzliche Frage nach Darstellbarkeit auf. Wenn die mimetische Wiedergabe von Physiognomien als nicht mehr zeitgemäß oder wegen ihrer Reproduktion von Stereotypen gar als kitschverdächtig und somit ethisch verwerflich gilt, setzt deren (mytho-) poietische Verwandlung ein. Das Gesicht stellt eine „hohle Form“ dar, die sich, abgelöst vom menschlichen Individuum, zu verselbständigen beginnt und sich als ,Antlitz der Zeit‘1 auf die endlose Suche nach neuen Sinn- und Wertgehalten begibt. Beispielhaft hierfür ist eine Szene in Rainer Maria Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), wo das Gesicht zur austauschbaren Maske und das verlorene Gesicht zum Stigma des modernen Menschen wird: Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht. Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist
1
So der Titel des berühmten Fotobandes von 1929, der die Gesichter des modernen Menschen festzuhalten versucht: Sander, August, Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts, mit einer Einleitung von Alfred Döblin, München 1929.
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an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum. Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein. Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.2
Dieses moderne Gesicht lässt sich nicht mehr in der binären, metaphysischen Opposition von Maske und ,wahrem‘ Gesicht beschreiben. Die klassisch hermeneutische Vorstellung von Oberfläche und Tiefsinn wird, wie jede physiognomische ,Lesart‘, desavouiert. Denn die Oberfläche selbst wird plötzlich zur dreidimensionalen „hohle[n] Form“. Ihr ,Dahinter‘ ist keine lesbare Seele, sondern eine sichtbare Wunde, die den Betrachter zum Hinschauen nötigt und ihn zugleich existentiell an seine Grenzen führt. Ein derartiges Gesicht ist keine Grenzfläche zwischen Außen und Innen, Zeichen und Bezeichnetem: Es verweist auf ein Drittes, die Verletzlichkeit des Menschen, indem es statt der ,Wahrheit‘ die Wunde offenlegt. Und diese Wunde zieht den Anderen, den stummen Beobachter oder den Leser selbst, in die Verantwortung mit ein. Gesichtsverlust als kulturelle Verlustgeschichte der Moderne Das beschriebene Gesicht, das seit dem 18. Jahrhundert3 die Identität und Individualität eines Menschen bezeugte, weist zu Beginn des 20. Jahrhunderts
2
Rilke, Rainer Maria, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6: Malte Laurids Brigge, Prosa 1906-1926, hg. v. Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt am Main 1966, S. 705-946, hier: S. 711 f. 3 Bis ins 18. Jahrhundert waren die Figuren noch stereotype Funktionsträger der Handlung, auf die sich die Erzählkunst konzentrierte. Auf eine detaillierte Visualisierung der Erzählwelt wurde verzichtet, was sich mit dem Aufkommen der ,visuellen Revolution‘ und der neuen Faszination an Beschreibungen schlagartig änderte. Vgl. hierzu: Wolf, Werner, „Gesichter in der Erzählkunst. Zur Wahrnehmung von Physiognomien und Metawahrnehmung von Physiognomiebeschreibungen aus
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Züge einer Chimäre auf, eines zwitterhaften Wahngebildes, das herkömmliche Grenzziehungen ins Wanken bringt. Wo sich Kulturbrüche andeuten, werden literarische Gesichtsbeschreibungen rätselhaft und stellen Wahrnehmungs-, aber auch kulturelle und moralische Deutungsmuster in Frage. Denn literarische Physiognomien gehen nie ohne ethische Implikationen vonstatten. An ihnen können die Wertvorstellungen einer Gesellschaft abgelesen und zugleich subvertiert werden. Sie dienen nicht nur zur Widerspiegelung moralischer Sittengefüge einer Kultur, sondern auch zur epistemologischen sowie poetologischen Verortung von Texten. Bei den Romanen Hermann Brochs (1886-1951) fällt diese Verortung nicht leicht, denn hier treffen verschiedene Traditionen aufeinander, die – wie so oft bei Broch – eine Spartenzuweisung schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen: Er changiert zwischen der romantisierenden Sehnsucht nach der zeichenhaften Identifikation eines Gesichts und der (post-)modernen Einsicht in die Notwendigkeit einer Auflösung physiognomischer Lektüren in etwas, so der Schlusssatz des Tod des Vergil (1945), was „unerfaßlich, unaussprechbar […] jenseits der Sprache“ (KW 4, S. 454)4 ist. Das Besondere der literarischen Porträts Brochs besteht darin, dass er deren Grenzen auslotet, indem er sie in einen Dialog mit unterschiedlichen Künsten stellt. Die Bannbreite reicht, dies soll in exemplarischen Stationen aus dem ersten Teil der SchlafwandlerTrilogie (1931/32) gezeigt werden, vom filmischen Slapstick, über die Landschaftsmalerei – Hermann Brochs Gesichtsdarstellungen, die er in Landschaftsvisionen überführt, lassen sich mit Entwicklungen in der zeitgenössischen Malerei parallelisieren, was an zwei Vergleichen mit Salvador Dalí (1904-1989) und Alexej Jawlensky (1864-1941) veranschaulicht wird – bis hin zur kirchlichen Choralmusik. Hierbei ist eine Verschiebung weg vom les- und deutbaren Gesicht hin zum nur noch enigmatisch erfahrbaren Antlitz zu beobachten.5 „[I]m Gesichte selber war das Rätsel gelegen“ (KW 1, S. 119). Dieses Fazit, das Hermann Broch seinen Protagonisten Joachim in den Schlafwandlern (1931/32) ziehen lässt, könnte genauso gut als Motto sämtlicher
theoretischer und historischer Sicht am Beispiel englischsprachiger Texte des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. Jg. XXXIII/2002, S. 301-325. 4 In der Folge werden Hermann Brochs Werke direkt im Fließtext zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe (KW), hg. v. Paul Michael Lützeler, mit Bandnummer und Seitenzahl. 5 Dieses Kapitel stellt eine Überarbeitung und Erweiterung folgenden Aufsatzes dar: Wohlleben, Doren, „,Verlöschen der Gesichter in der Landschaft‘: Porträts in Hermann Brochs Die Schlafwandler“, in: Stašková, Alice; Lützeler, Paul Michael (Hg.), Hermann Broch und die Künste, Berlin/ New York 2009, S. 39-54.
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literarischen Porträts6 gelten, die vor allem im ersten Romanteil 1888 – Pasenow oder die Romantik zahlreich sind. Diese greifen die philosophische RätselGesichts-Thematik auf und stellen sie in einen intermedialen Diskurs, wobei eine Dynamik von der szenisch-theatralischen, über die visuell-imaginative bis hin zur auditiv-rhythmischen Kunst zu beobachten ist. Dem im Roman fortschreitenden ,Zerfall der Werte‘, einer Leitidee des essayistischen wie literarischen Werks Hermann Brochs, korrespondiert der zunehmende Erosionsprozess des menschlichen Gesichts, das von Anfang an – hierin Friedrich Nietzsches Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel“ in Also sprach Zarathustra (1883-85) vergleichbar [vgl. Kap. III.1] – groteske, chimärenhafte Züge trägt. Allmählich begeben sich die Protagonisten auf die Suche nach dem verlorenen Gesicht, dies der Titel eines im Entstehungszeitraum der Schlafwandler gemalten Bildes Salvador Dalís, mit dessen gemalten Körpermetamorphosen Hermann Brochs literarische Gesichtsdarstellungen streckenweise vergleichbar sind.7 Wo sie es kurzzeitig zu finden glauben, erscheint es als „das entmenschlichte Antlitz“ (KW 1, S. 157) oder „höhere Antlitz“, das – hierin der Erlösungsphilosophie Franz Rosenzweigs nicht unähnlich [vgl. Kap. III.1] – eine „Gewißheit des göttlichen Lebens“ verheißt (S. 130). So erahnen die Schlafwandelnden in einer Madonnenwahrnehmung ein Antlitz, das auf den Tod vorausverweist und sich dabei der Maske entblößt („die Maske von dem Antlitz fällt“; KW 1, S. 159). Das Menschengesicht deutet – wie bei dem Philosophen Franz Rosenzweig, der ihm den Davidstern einschreibt, oder dem Maler Alexej Jawlensky, der in seinen zeitgleich entstanden Abstrakten Köpfen die menschliche Physiognomie in ein Christuskreuz überführt – hierauf hin. Doch löst es sich bei Hermann Broch immer wieder auf, da – anders als bei Rosenzweig oder Jawlensky – die (religiöse) Begegnung mit dem Anderen ausbleibt. Denn der Mensch verharrt in den Schlafwandlern in seiner Einsamkeit und sucht dort vergebens die Erfüllung: „Er hofft auf Erfüllung […]. Erfüllung und Erkennen in der Einsamkeit und
6
Mit ,Porträt‘ ist im Folgenden nicht die literarische Gattung gemeint, sondern, im ursprünglichen Sinn, die literarische Gesichtszeichnung. Zu den ethischen Implikationen eines weiter gefassten Porträt-Begriffs und dessen Affinitäten zum Essay vgl. Niefanger, Dirk, „Denkmöglichkeiten. Zum Verhältnis von Essay und Portrait in Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler“, in: Euphorion 102/2 (2008), S. 241-270. 7 Explizit verachtete Hermann Broch – vermutlich beeinflusst von Clement Greenberg, dem an der amerikanischen Ostküste anerkannten Kunstkritiker und Verteidiger der abstrakten Moderne – Salvador Dalí, dem er in einem Vortrag von 1950 sogar vorwarf, im „Kitsch-System“ (KW 9/2, S. 170) zu agieren. Dennoch vereint die beiden die Vorstellung von einer Metamorphose des menschlichen Körpers in Landschaft, obgleich ungewiss ist, ob Broch die entsprechenden Bilder Dalís überhaupt kannte. Vgl. zu Broch im Kontext zeitgenössischer Maler: Lützeler, Paul Michael, „Hermann Broch und die Maler: Biographie, Ekphrasis, Kulturtheorie“, in: Stašková, Alice; Lützeler, Paul Michael (Hg.), Hermann Broch und die Künste, S. 11-38, besonders: S. 33-35.
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Fremdheit“ (KW 1, S. 160). Der Gesichtsverlust geht einher mit dem Verfall ethischer Orientierungshilfen und fester sozialer Gefüge. Die Erlösungshoffnung auf eine neue Zeit, in der vision und visage, Gesichte und Gesicht miteinander verschränkt sind, besteht jedoch fort. Obgleich Broch 1888 – Pasenow oder die Romantik in seinem Nachwort als eine „harmlose Erzählung von gleichmäßigem Tempogefälle und fast ungebrochener naturalistischer Färbung“ (KW 1, S. 724) charakterisiert, erweisen sich die Figurenzeichnungen keineswegs als harmlose naturalistische Gemälde. Vielmehr unterliegen die dargestellten Gesichter, parallel zu dem im Roman fortschreitenden Zerfall der Werte, einem Erosionsprozess. Sie dekonstruieren das, wofür sie im 19. Jahrhundert einstanden: den Glauben an die Les- und Lösbarkeit des Rätsels Mensch. Charaktergemälde, Karikatur, Chimäre: Opazität statt Transparenz Gleich im ersten Satz des ersten Romans 1888 – Pasenow oder die Romantik der Trilogie Die Schlafwandler findet sich ein ausführliches Porträt des siebzigjährigen Herrn v. Pasenow, des Vaters des Titelhelden. Der traditionelle physiognomische Diskurs wird aufgerufen, der an die semiotische Transparenz von Gesichtern glaubt und von der äußeren Gestalt auf das Innere schließt: „und es gab Menschen“, wie es dort mit einer Erzählerstimme aus dem Off generalisierend heißt, „die ein merkwürdiges und unerklärliches Gefühl der Abneigung verspürten, wenn sie ihn über die Straßen Berlins daherkommen sahen, ja, die in ihrer Abneigung sogar behaupteten, daß dies ein böser alter Mann sein müsse“ (KW 1, S. 11). Allerdings geschieht dies in konjunktivischer Distanz des Erzählers („sein müsse“), dessen eigene Position zunächst verborgen bleibt. Das indirekte Charaktergemälde Herrn v. Pasenows spiegelt gesellschaftliche Moralvorstellungen wider. Dabei bleibt das Individuum eingebettet in ein festes Wertsystem, das sich in einer unreflektierten, allgemein akzeptierten Physiognomik widerspiegelt: Noch glaubt man zu wissen, wie gute von bösen Menschen zu unterscheiden sind. Noch scheint der Zerfall der Werte nicht eingesetzt zu haben. Zwar wahrt der Erzähler im Folgenden seine relativierende Außenbeobachterposition („Mochte dies stimmen oder nicht“; KW 1, S. 11), lässt es sich aber nicht nehmen, selbst eine Wertung vorzunehmen und sich dem moralischen Urteil des ,Man‘ anzuschließen: Auch ist die Meinung von Söhnen oft subjektiv, und es wäre leicht, ihnen Ungerechtigkeit und Befangenheit vorzuwerfen, trotz des etwas unbehaglichen Gefühls, das einen selber beim Anblick des Herrn v. Pasenow überkommen mag, merkwürdiges Unbehagen, das sich noch steigert, wenn Herr v. Pasenow vorbeigegangen ist und man ihm zufällig nachschaut. (KW 1, S. 11)
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Von nun an ähnelt der Blick des Erzählers dem Auge einer Kamera. Herrn v. Pasenows „Gangart“ wird in minutiösen Schilderungen wie in einem Filmvorspann zur Schau gestellt, als handle es sich um einen Gegenpart zur humorvollen Charlie-Chaplin-Figur. Der abstoßende Ausdruck seiner Gebärden steht dem seines Gesichts in nichts nach. An einen Slapstick erinnert folgende Szene: Der Stock geht taktmäßig, hebt sich fast bis zur Kniehöhe, verweilt mit einem kleinen harten Aufschlag am Boden und hebt sich wieder, und die Füße gehen daneben. Und auch diese heben sich mehr als sonst üblich, die Fußspitze geht etwas zu weit nach aufwärts, als wollte sie in Verachtung der Entgegenkommenden ihnen die Schuhsohle zeigen […]. (KW 1, S. 12)
Syntaktisch wird mit dem alternierenden, monotonen Wechsel von ,gehen‘ und ,heben‘ die Stupidität des Ganges nachvollzogen, „mit liebevollem Haß zergliedert“ (KW 1, S. 13), wie der Erzähler selbstironisch gegen Ende der Szene sein Beschreibungsverfahren charakterisiert. Doch als sei diese analytische, von Georg Lukàcs in seinem Essay „Erzählen oder beschreiben?“ als „unmenschlich“ disqualifizierte Methode8 nicht genug, bedient sich der Erzähler eines Mittels, von dem in beinahe allen Brochschen Romanporträts Gebrauch gemacht wird. Es sei hier mit dem filmischen Vokabular der ,Überblendung‘ bezeichnet, einem graduellen Ineinanderfließen von Bildern: Er analogisiert Herrn v. Pasenow zunächst mit einem Pferd, dann sogar mit einem Teufel, wobei nur die PferdeAssoziation durch ein Fiktionssignal markiert ist („und nun taucht die Vorstellung auf, daß der Mann, wäre er als Pferd zu Welt gekommen, ein Paßgänger geworden wäre“; KW 1, S. 12). Die Teufelsvision jedoch wird als plötzliche, erschreckende „Erkenntnis“ (KW 1, S. 12) formuliert und unterminiert das Menschen-Porträt. Bereits die erste Beschreibung eines Menschen ist demnach nur oberflächlich von – so Hermann Brochs (bewusst?) irreführender Selbstkommentar – „ungebrochen naturalistischer Färbung“ (KW 1, S. 724). Sie stößt trotz – oder
8
Georg Lukàcs beschuldigt – und hierin konvergiert er mit Brochs Kritik am späten 19. Jahrhundert – „die beschreibend malerischen Bestrebungen des Naturalismus“, „die Menschen der Literatur zu Bestandteilen von Stillleben“ zu erniedrigen und beklagt das Abhandenkommen eines „erhöhten sinnlichen Ausdrucks“. Von einem „Wetteifern der Poesie mit den bildenden Künsten“ rät er dringend ab, denn „[n]ur die Malerei selbst besitzt die Mittel, die körperlichen Eigenschaften des Menschen unmittelbar zum Ausdrucksmittel seiner tiefsten menschlichen Charaktereigenschaften zu machen“. Physiognomie, so lässt sich Lukàcsʼ Position paraphrasieren, gelingt nur im Medium der bildenden Kunst, nicht im Medium der Dichtung. Vgl. hierzu: Lukàcs, Georg, „Erzählen oder beschreiben? Zur Diskussion über den Naturalismus und Formalismus“, aus: ders., Essays über Realismus, in: Probleme des Realismus I, Bd. 4, Georg Lukàcs Werke, Neuwied/ Berlin 1971, S. 197-242, hier: S. 224-226.
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vielleicht muss man sogar sagen wegen – ihrer Detailliertheit an ihre Grenzen. Das von (selbst-) ironischen9 Kommentaren des Erzählers immer wieder durchsetzte Charaktergemälde gleitet zunehmend in das Karikaturistische ab und verdichtet sich in grotesken Wahngebilden. Schon in dieser kurzen Szene von theatralischer, wenn nicht gar filmischer Qualität ist ein Umschlag vom „Naturalismus ins Abstrakt-Stilistische“ (KW 9/2, S. 60) festzustellen, wie ihn Broch in seiner kurzen Abhandlung zur „Erneuerung des Theaters?“ einfordert. Denn während dem „Nur-Naturalismus“ der „Aufstieg zum Problematischen“ misslingt, wird hier „über das hic et nunc des Gesagten, Getanen und Geschriebenen hinaus[ge]führt“ (KW 9/2, S. 60). Mittels einer Analogisierung zum Tierischen werden die porösen Grenzen des Humanen und somit die Brüchigkeit ethischer Orientierungsmaßstäbe aufgezeigt. Das Groteske ist in der epiphanischen Teufelsfratze, die erneut an Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra erinnert, symbolisiert. Es bricht als ein Medium des kulturellen Wandels10 dort durch, wo sich ein Kulturbruch abzuzeichnen beginnt, wo sich „diese Geradlinigkeit und dieses Vorwärtsstreben“ (KW 1, S. 12) als „ein geradliniges Zickzackgehen“ (KW 1, S. 13) entlarvt: „auf das Nichts gerichtet!“ (KW 1, S. 12). Die prekäre Nähe naturalistischer Detailtreue zur karikaturistischen Verfremdung führt Hermann Broch in seinem zweiten Porträt der Schlafwandler vor, das sich unmittelbar an das erste anschließt, nun allerdings aus der personalen Erzählperspektive Joachim v. Pasenows geschildert wird, des Sohnes des zuvor porträtierten Herrn v. Pasenow: Als müssten bestimmte Beschreibungsstrategien erst einmal an einer, wie es heißt, „nebensächliche[n] Figur“ (KW 1, S. 13) erprobt werden, hat dieses Porträt einen Menschen zum Gegenstand, der für das weitere Geschehen irrelevant ist, den Schaffer Jan. Als erinnertes „Bild“ wird die Figur in Szene gesetzt, das „sich vor alle anderen Bilder schob“ (KW 1, S. 13), also unwillkürlich auftaucht und einen Reflexionsprozess initiiert („[s]tundenlang konnte man ihm zuschauen und darüber nachdenken“; KW 1, S. 13). War das vorige Porträt eher szenisch geprägt und erinnerte an die Film-, eventuell auch an die (absurde) Theaterkunst, so ist dieses statisch und weist Analogien zur Bildenden Kunst auf. Das „menschliche Wesen“ beginnt, sich „hinter der struppigen Landschaft voll undurchdringlichen, wenn auch weichen
9 Zur Ironie des Werkes und Ironie im Werk – Ironie wird hier als ein „Spiel mit Lesererwartungen“ (S. 142) bestimmt – vgl.: Guilhamon, Elizabeth, „Pasenows Ironie in Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie“, in: Bartram, Graham; Lützeler, Paul Michael (Hg.), Hermann Brochs ,Schlafwandler‘-Trilogie. Neue Interpretationen. Das Lancaster-Symposium von 2009, Tübingen 2012, S. 141-156. 10 Vgl. hierzu: Fuß, Peter, Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels, Köln 2001. Das Groteske, so die These von Peter Fuß, liquidiert den dichotomischen Aufbau symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen und ersetzt deren Antagonismen durch Ambiguität.
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Gebüsches“ (KW 1, S. 13) zu verflüchtigen. Die Landschaft führt zu einer allmählichen Auslöschung des Gesichts. Das Charakteristische des Menschengesichts: der Bart im Gesicht, wird ins Karikaturistische überführt: das Gesicht als Bart, und durch die Landschaftsanalogie ins Groteske verzerrt: der Bart als Gebüsch. Diese Überblendung zweier Bilder, Gesicht und Landschaft, verhindert eine eindeutige Identifizierung („ebensowohl hätte es ein anderer sein können“; KW 1, S. 13) und lässt den Bart zu einem rätselhaften Element werden: Es hat sich, wie das Ohr in Nietzsches Zarathustra [vgl. Kap. III.1], aus seinem ursprünglichen Kontext gelöst und erfährt eine verfremdende Eigendynamik. Eine derartige Verschleierung („wie hinter einem Vorhang“; KW 1, S. 13) geht mit Unverständlichkeit einher („Selbst wenn Jan sprach – aber er sprach nicht viel –, war man dessen nicht sicher“; KW 1, S. 13). Die Lesbarkeit des Gesichts, im 19. Jahrhundert noch conditio sine qua non, ist spätestens hier endgültig aufgegeben: Opazität statt Transparenz lautet das Credo, wobei die Opazität noch durch humorvoll-satirische Einlagen, wie beispielsweise die Beschreibung des Gähnens Jans, aufgehellt wird. Einerseits weist das Porträt auf den karikaturistischen Romanauftakt zurück, andererseits deutet es auf eine der Schlüsselszenen des ersten Romanteils voraus, in der aus derselben Erzählperspektive das „Antlitz“ Elisabeths dekonstruiert wird und sich die Grenzen zwischen der „Landschaft des Gesichtes“ und „dem Gesicht der Landschaft“ (KW 1, S. 119) aufzulösen beginnen. Diese Entdifferenzierung von Mensch und Natur führt die physiognomische Beschreibung ad absurdum und macht das Gesicht zum Tableau des Enigmatischen: „und es nützte nichts, im Antlitz Elisabeths nach der Lösung zu fahnden; im Gesichte selber war das Rätsel gelegen“ (KW 1, S. 119). Die „Lösung“ und Lesbarkeit des Menschen kann also nicht in dem von Broch in „Das Weltbild des Romans“ angeprangerten „Photographennaturalismus“ gesucht werden, ein „Hypernaturalismus“, der mit naivem Mimesis-Glauben „Realitätsvokabeln“ unreflektiert aneinanderreiht. Vielmehr praktiziert Broch einen „erweiterte[n] Realismus“, „eine Sphäre der traumhaft erhöhten Realität, die nicht mehr in den Vokabeln begründet liegt“ (KW 9/2, S. 105). Diese „Sphäre der traumhaft erhöhten Realität“ deutet sich in den Szenen mit Bertrand an, der rätselhaftesten Romanfigur der Schlafwandler. Nicht von ungefähr wird ausgerechnet sie für die teils faszinierenden, teils beängstigenden Landschaftsvisionen, die „Hirngespinste“ (KW 1, S. 78) des Romantikers Joachim v. Pasenow verantwortlich gemacht. Spätestens mit Bertrands Auftritt bricht endgültig die Moderne in Pasenows ,romantische‘ Welt ein und unterzieht jene einer fundamentalen Verunsicherung.11 Bertrand als die mephistophelische
11
Vgl. hierzu: Lützeler, Paul Michael, „Hermann Brochs ,Pasenow oder die Romantik‘ und Carl Schmitts ,Politische Romantik‘“, in: Wohlleben, Doren; Lützeler, Paul Michael (Hg.), Hermann Broch und die Romantik, Berlin/ Boston 2014, S. 107-126.
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Figur des Zwischen veranlasst die Überblendungen und Verschiebungen von Gesichtern, die Auflösung des Einen im Anderen, die jegliche Identität hinfällig macht und der eine destruktiv-diabolische Kraft innewohnt. Über ihn heißt es: „es war der Leibhaftige, dessen Gesicht und Gestalt den Schatten eines Gebirgszuges dort an die Wand warf“ (KW 1, S. 176). Dies ist im Kontext der Gesichtsdarstellungen besonders brisant, da der Schattenriss an der Wand als der Ursprung der Malerei gilt.12 Bertrand wird nicht als Mensch mit einem Individualschicksal eingeführt, sondern als „Zeichen des Dämons und des Bösen“ (KW 1, S. 176), als eine mythische Figur, die einer Chimäre ähnelt („Spuk und Hirngespinst“; KW 1, S. 177) und selbst gesichtslos bleibt. Denn nicht physiologisch greifbar soll Bertrand sein, sondern philosophisch begreifbar – abstrakt, nicht konkret. Was Martin Heidegger über Friedrich Nietzsches Zarathustra-Figur schreibt [vgl. Kap. III.1], die ebenfalls zwischen Schatten und Erscheinung oszilliert,13 trifft auch auf Bertrand zu: Er bleibt er-dacht, gesichtetes Rätsel ohne (Menschen-) Gesicht. Visage perdu (Salvador Dalí): Fern-Menschliches und Landschaftliches Anstatt selbst betrachtet zu werden, betrachtet Bertrand – und dies aus der Sicht des wertfreien Ästheten. Nur ihm gelingt es mit einem zerlegenden, analysierenden Blick, der von Elisabeth als unangenehm empfunden wird, eine detaillierte physiognomische Beschreibung von ihr abzuliefern: „Sie ist eigentlich nicht schön, sagte sich Bertrand, da er Elisabeth am Klavier betrachtete, der Mund ist zu groß und diese Lippen sind von einer merkwürdig weichen und fast bösen Sinnlichkeit“ (KW 1, S. 104).14 Er ist der Porträtist, der sich mit dem
12
In Plinius’ Naturkunde (Naturalis historiae) heißt es im Kapitel über den „Urspung der Malerei“ (XXXV, 15), die Malerei „habe den Schatten eines Menschen mit Linien nachgezogen“ (Plinius Secundus d.Ä., C., Naturalis historiae/ Naturkunde, Lateinischdeutsch, Buch XXXV: Farben – Malerei – Plastik, hg. und übersetzt v. Roderich König, in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, Darmstadt, 1978, S. 21). 13 Vgl. hierzu: Wohlleben, Doren, „Friedrich Nietzsches Zarathustra im poetologischen Spannungsfeld von Schatten und Erscheinung“, in: Mayer, Mathias (Hg.), Also wie sprach Zarathustra? West-östliche Spiegelungen im kulturgeschichtlichen Vergleich, Würzburg 2006, S. 125-138. 14 Bertrand geht es um die Erscheinung des Gesichts, nicht um das, was sich – in physiognomischer Tradition – hinter der Erscheinung verbirgt. Hier lässt sich eine Parallele zu der Position Georg Simmels feststellen, der sich mit der „ästhetische[n] Bedeutung des Gesichts“ auseinandersetzt (vgl.: Simmel, Georg, „Die ästhetische Bedeutung des Gesichts“, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I., hg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und
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,Phänomen‘ Gesicht auseinandersetzt, das er rational analysieren und philosophisch kategorisieren zu können glaubt, dabei aber keinerlei Affinität zu der ethischen Dimension des Antlitzes als Enigma aufweist. So bildet Bertrand einen Gegenpol zu dem Protagonisten Joachim, für den Gesichter, insbesondere dann, wenn sie sich durch „Unschönheit“ auszeichnen (KW 1, S. 105), immer wieder einen Ort der Beunruhigung und Reflexion darstellen, wie in folgender Kernszene (KW 1, S. 119 f.): Joachim befindet sich nach dem Tod seines Bruders und der Distanzierung von seinem ihm gegenüber mit Hass erfüllten Vater in einer Krise, an einem Wendepunkt seines Lebens, und hat erstmals Zeit zur Besinnung. Initiiert wird letztere nicht in einsamer Abgeschiedenheit, sondern durch die Konfrontation mit einer Frau, sogar mit der (von der Gesellschaft) für ihn bestimmten Frau, Elisabeth. Vom Anderen geht also die Beunruhigung aus, tritt ein „unlösbares Problem“ (KW 1, S. 119), das eigene Lebensrätsel, ins Bewusstsein. Doch verwandelt sich jener Andere/ jene Andere alsbald in das Andere, wird „fern-menschlich und landschaftlich“ (KW 1, S. 120). Dies wird aus der personalen Perspektive Joachims in einer surrealen, raschen Bilderfolge geschildert, die beim Leser die Imagination eines Gesichtes erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht. Die Entgrenzung von Figur und Hintergrund wird mit dem Rätsel des Anfangs verknüpft und in die eigene vorbewusste Kindheit mythisierend zurückprojiziert. In einem Akt der Innerlichkeit („[e]r schloß ein wenig die Augen“), im Tagtraum, wird der Anblick des Gesichts (visage) zu Gesichten (vision): Er schloß ein wenig die Augen und schaute durch den Spalt über die Landschaft des hingebreiteten Gesichtes. Da verfloß es mit dem Gesicht der Landschaft selber, der Waldessaum der Haare setzte sich fort in dem gelblichen Gelaube des Forstes und die Glaskugeln, die die Rosenstöcke des Vorgartens zierten, glitzerten gemeinsam mit dem Stein, der im Schatten der Wange – ach, war es noch eine Wange – als Ohrgehänge sonst blitzte. Es war erschreckend und beruhigend zugleich und wenn der Blick das Getrennte in so seltsam Einheitliches und nicht mehr Unterscheidbares verschmolz, fühlte man sich sonderbar an irgend etwas gemahnt, in irgend etwas versetzt, das außerhalb aller Konvention fernab im Kindlichen lag, und die ungelöste Frage war wie etwas, das aus der Erinnerung emporgetaucht war wie eine Mahnung. (KW 1, S. 119 f.)
Vergleichbar mit der Teufelsvision bei der Beschreibung Herrn v. Pasenows gleitet auch das Porträt Elisabeths in das Chimärenhafte ab. Erneut handelt es sich um ein Symbol des Bösen, diesmal das der Schlange, die an das Fratzengesicht Nietzsches gemahnt [vgl. Kap. III.1]: „denn eigentlich war es kein richtiges
Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1995, S. 36-42. Vgl. auch: Simmel, Georg, „Aesthetik des Porträts“, in: ebd., S. 321-332).
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Gesicht mehr, sondern bloß ein Teil des Halses, sah aus dem Hals hervor, sehr entfernt an das Gesicht einer Schlange erinnernd“ (KW 1, S. 119). Diese Tierassoziation wird sofort überführt in die Schilderung einer Landschaft, die zuvor mit „herbstlich“ charakterisiert wurde: […] hügelartig sprang das Kinn vor und dahinter lag die Landschaft des Gesichtes. Weich lagen die Ränder des Mundkraters, dunkel die Höhle der Nase, geteilt durch eine weiße Säule. Wie ein kleiner Bart sproß der Hain der Augenbrauen und hinter der Lichtung der Stirne, die durch dünne Ackerfurchen geteilt war, war Waldesrand. (KW 1, S. 119)
Mit ganz ähnlichen pathetischen Metaphern arbeitet auch ein anderer moderner, mit Hermann Broch vertrauter Autor,15 Stefan Zweig. In seiner 1920 erschienenen Essaysammlung Drei Meister zeichnet Zweig im Kapitel „Das Antlitz“ ein Porträt Fjodor M. Dostojewskis: Sein Antlitz scheint zuerst das eines Bauern. Lehmfarben, fast schmutzig falten sich die eingesunkenen Wangen, zerpflügt von vieljährigem Leid, dürstend und versengt spannt sich mit vielen Sprüngen die rissige Haut, der jener Vampir zwanzigjährigen Siechtums Blut und Farbe entzogen. Rechts und links starren, zwei mächtige Steinblöcke, die slawischen Backenknochen heraus, den herben Mund, das brüchige Kinn überwuchert wirrer Busch von Bart. Erde, Fels und Wald, eine tragische elementare Landschaft, das sind die Tiefen von Dostojewskis Gesicht.16
Bis heute gilt die Überblendung von Gesicht und Landschaft als ein in der Literatur beliebtes Sujet,17 das besonders in der Moderne mit der Angstlust des Gesichtsverlustes korreliert. Noch geläufiger ist eine derartige Verfremdung des menschlichen Gesichts, das seine Individualität aufgibt zugunsten einer Auflösung im „[F]ern-menschlich[en]“ (KW 1, S. 120) einer Landschaft, in der modernen Malerei: Denn die Porträtkunst der Jahrhundertwende ist geprägt von Konturverwischungen, sei dies die impressionistische Entkonturierung, die kubistische Fragmentierung oder die expressionistische Absolutsetzung von Farben und Formen. Die Entdifferenzierung von Figur und Hintergrund, Gesicht und Landschaft ist besonders im Surrealismus eine beliebte Verfahrensweise. Salvador Dalís Visage perdu
15
Vgl. hierzu: Lützeler, Paul Michael, Hermann Broch. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1988, S. 159-161. 16 Zweig, Stefan, Drei Meister, Leipzig 1920, S. 95 f. 17 Vgl. hierzu auch: Baumgart, Reinhard, „Antlitz, Maske und Visage“, in: ZEIT online 36/1995, S. 64.
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(Das verlorene Gesicht, um 1930), ein im Entstehungszeitraum der Schlafwandler gemaltes Pastell, auf dem eine Düne dargestellt ist, in deren Sand noch Spuren eines schon ins Zeichenhafte abstrahierten Gesichtes zu erahnen sind, könnte hierfür titelgebend sein.
Salvador Dalí: Visage perdu (Das verlorene Gesicht), 1930. Pastell 48,5 x 31 cm
1931, im Publikationsjahr der Schlafwandler, erschienen mehrere Gemälde Salvador Dalís, die alle mit dem Enigma des menschlichen, meist weiblichen Gesichts und dessen Auflösung in eine weitläufige, einsame (Traum-)Landschaft
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spielen.18 Das ,Rätsel‘ wird in Dalís Werk mehrfach explizit als Titel gewählt, so bei den Ölbildern L’Énigme du désir (Das Rätsel der Begierde, 1929) oder L’Énigme sans fin (Das endlose Rätsel, 1938), bei dem sechs Bilder übereinander geblendet sind, wodurch Hintergrund und Gegenstand nicht mehr klar zu differenzieren sind. Auch wenn es wahrscheinlich ist, dass Hermann Broch diese Gemälde Salvador Dalís nicht kannte, und sie vermutlich nicht einmal für gut befunden hätte – galt ihm doch Dalí in seinen „Bemerkungen zum Problem des Kitsches“ als Meister des Kitsches, der im „Imitationssystem“ der Kunst, also im Kitsch, dem „Böse[n] im Wertsystem der Kunst“ (KW 9/2, S. 170) verhaftet bleibe –, hat Brochs Wechselspiel von der „Landschaft des Gesichtes“ und dem „Gesicht der Landschaft“ (KW 1, S. 119) in den surrealen Gemälden Dalís ein künstlerisches Pendant. Die für die Schlafwandler charakteristische Ambivalenz, zum einen die – im Liebesakt mit Ruzena – anklingende Faszination einer Metamorphose des Frauengesichts in Natur, zum anderen die Angstvision – in den Szenen mit Elisabeth – vor einer Auflösung des Weiblichen in den „fern-menschlichen“ (KW 1, S. 120) Landschaftszügen einer morbiden, letzten Welt, findet sich auch im Werk Salvador Dalís: So erweckt die Symbiose de la tête aux coquillages (Symbiose von Kopf und Muscheln, 1931), die Darstellung eines weiblichen Oberkörpers mit muschelbedecktem Kopf zwischen Felsen am Strand, einerseits die Sehnsucht nach einer Harmonie von Mensch und Natur, andererseits aber auch die Furcht vor einer Auflösung des menschlichen Wesens in Stein und vor der Allgegenwart des Todes. Die Zeitlosigkeit des (ewigen?) Schlafs korrespondiert mit der Weitläufigkeit der surrealen Traumlandschaften: Sind bei Broch die Figuren noch von einer ziellosen Ruhelosigkeit besessen, eben Schlafwandler, erscheinen sie bei Dalí in steinerner Statik.
18 Z. B. Solitude (Einsamkeit, 1931); Symbiose de la tête aux coquillages (Symbiose von Kopf und Muscheln, 1931); Remords ou Sphinx enlisé (Reue oder die versumpfende Sphinx, 1931); Femme dormant dans un paysage (Schlafende in einer Landschaft, 1931); Gradiva retrouve les ruines anthropomorphes (Gradiva findet die anthropomorphen Ruinen wieder, 1931).
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Salvador Dalí: Femme dormant dans un paysage (Schlafende in einer Landschaft), 1931. Öl auf Leinwand, 27 x 34 cm
Salvador Dalís 1931 entstandenes Ölgemälde Femme dormant dans un paysage (Schlafende in einer Landschaft) setzt Schlaf und Landschaft schon im Titel zueinander in Bezug: Dargestellt ist ein weiblicher Frauentorso mit Muschelkopf, der von rechts ins Bild ragt, wobei eine Hand mit einem Seil an einem dürren Ast in karger Felslandschaft hängt, die einen Gewaltakt nicht ausschließt. Die Metamorphose der Menschengestalt in Landschaft, die in den Gemälden Salvador Dalís zumeist bedrohlich anmutet, kennt in der Literatur der Moderne ihren idyllischen Gegenpart: Für das Motiv der harmonischen Rückverwandlung in die Natur, wie es bei Hermann Broch in Joachims Liebesszenen mit Ruzena immer wieder anklingt,19 mag eine weltberühmte literarische Frauenfigur Pate gestanden haben, die ,Albertine endormie‘ in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913-1927). Mit letzterem verglich Edwin Muir Die Schlafwandler „in ihrer großen Wahrhaftigkeit und psychologischen Subtilität“.20 Über Albertine heißt es bei Marcel Proust:
19
Die Parallelen dieser Szene zum Vitalismus zeigt Friedrich Vollhardt auf, vgl. Vollhardt, Friedrich, „Romantische Mythologie und der Raum der Moderne: Transformationen im Werk von Hermann Broch“, in: Wohlleben, Doren; Lützeler, Paul Michael (Hg.), Hermann Broch und die Romantik, Berlin/ Boston 2014, S. 53-68. 20 Zitiert nach: Lützeler, Paul Michael, Hermann Broch. Eine Biographie, S. 133.
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Kapitel III: Rätsel und Antlitz Et en effet, dès qu’elle dormait un peu profondément, elle cessait d’être seulement la plante qu’elle avait été, son sommeil, au bord duquel je rêvais avec une fraîche volupté dont je ne me fusse jamais lassé et que j’eusse pu goûter indéfinement, c’était pour moi tout un paysage. Son sommeil mettait à mes côtés quelque chose d’aussi calme, d’aussi sensuellement délicieux que ces nuits de pleine lune, dans la baie de Balbec devenue douce comme un lac, où le branches bougent à peine; où étendu sur le sable, l’on ecouterait sans fin se briser le reflux.21 (Tatsächlich aber hörte sie, sobald sie tiefer schlief, sogar auf, auch nur die Pflanze zu sein, die sie gewesen war; ihr Schlaf, an dessen Gestade ich mit immer neuer Lust träumte, so daß ich nicht müde wurde, sie immer wieder zu kosten, war eine ganze Landschaft für mich. Ihr Schlaf rückte etwas so Ruhevolles, so sinnlich Köstliches dicht an meine Seite wie etwa die Vollmondnächte in der Bucht von Balbec, die friedlich geworden war wie ein See, über den sich die Zweige kaum regen, und wo man, im Sand ausgestreckt, ewig die Brandung sich brechen hört.)22
Theodor W. Adorno kommentiert diese Proustsche Szene folgendermaßen: „Sich lösend ins Amorphe, gewinnt sie [Albertine, D. W.] die Gestalt ihres unsterblichen Teils, an welche Liebe sich heftet: die blickloser, bildloser Schönheit“.23 Einerseits wird mit diesem Übermächtigwerden der Natur auf die Porosität kultureller Darstellungsmuster verwiesen, andererseits auf die Sich-SelbstInfragestellung des Porträts in der Liebe. Das identifizierbare und individuelle Gesicht wird ins Unbestimmte aufgelöst und transzendiert zum übermenschlichen Antlitz, welches den hiesigen Zeitkategorien enthoben ist („ewig“). Auch über die erste Liebesbegegnung zwischen Joachim und Ruzena, dem „Wesen aus einer fremden Welt“ (KW 1, S. 57), das gerade wegen seiner Andersartigkeit fasziniert, heißt es: „[…], da beugten sich ihre Antlitze ineinander, mündeten und vergingen ineinander, ruhend und fließend wie der Fluß, verloren und uneinbringlich, immer wieder gefunden und im Zeitlosen untergetaucht“ (KW 1, S. 44). Der Zustand des jungen Liebespaares wird als „schlafwandelnd“ (KW 1, S. 44) charakterisiert, entzieht sich also dem rationalen Zugriff. Die sich kurz darauf anschließende Szene liest sich – übrigens auch in ihrer peinlichen Affinität zum Kitsch, den Broch bei Dalí anprangert
21
Proust, Marcel, À la recherche du temps perdu, III, édition publiée sous la direction de Jean-Yves Tadié avec, pour ce volume, la colloboration d’ Antoine Compagnon et de Pierre-Edmond Robert, Paris 2000, p. 578 f. 22 Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, deutsch von Eva RechelMertens, Bd. 3, Frankfurt am Main 2000, S. 2852. 23 Adorno, Theodor W., „Kleine Proust-Kommentare“, in: ders., Noten zur Literatur II, Frankfurt am Main 1965, S. 95-109, hier: S. 106 f.
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(KW 9/2, S. 170) – wie eine Versprachlichung, wohl auch idyllisierende Verharmlosung eines surrealen Gemäldes Salvador Dalís: Im Dunkel sah er Ruzenas Gesicht, doch wie dahingleitend war es, gleitend zwischen den dunkleren Ufergebüschen der Locken, und seine Hand mußte es suchen, sich vergewissern, daß es da sei, fand die Stirn und die Lider, unter denen hart der Augapfel ruht, fand die beglückende Rundung der Wange und die Linie des Mundes zum Kusse geöffnet. Welle des Sehnens schlug gegen Welle, hingezogen von der Strömung fand sein Kuß den ihren, und während die Weiden des Flusses emporwuchsen und von Ufer zu Ufer sich spannten, sie umschlossen wie eine selige Höhle, in deren befriedeter Ruhe die Stille des ewigen Sees ruht, war es, so leise er es sagte, erstickt und nicht mehr atmend, bloß ihren Atem noch suchend, war es wie ein Schrei, den sie vernahm: ,Ich liebe dich‘, sie aufschloß, so daß wie eine Muschel im See sie sich aufschloß und er in ihr ertrinkend versank. (KW 1, S. 45)
In einer späteren Szene kippt die hier noch romantisierte, kitschverdächtige Alleinheitssehnsucht in die für die Moderne spezifische existentielle Angst vor der Gesichtslosigkeit, die wiederum mit dem „Dämon“, der Teufelsfratze Bertrands, assoziiert wird (KW 1, S. 128). Nur für einen ephemeren Moment, im Liebesakt mit Ruzena, empfindet Joachim den Verlust eines physiognomisch greifbaren Gesichts als befreiend, realisiert allerdings schon kurz darauf die Unmenschlichkeit eines solchen Bildverlustes: Wenn er ihr dann lang in die Augen schaute und mit sanft tastendem Finger über ihre Lider strich und sie es für Liebe nahm, so versank er oftmals in ein angstvolles Spiel und er ließ dieses Antlitz ins Unbestimmte verdämmern, bis hart an die Grenze, wo es ins Unmenschliche umzukippen drohte und das Gesicht gesichtslos wurde. Vieles war eine Melodie geworden, die man nicht vergessen zu können meint, und aus der man doch herausgleitet, um sie stets aufs neue schmerzlich suchen zu müssen. (KW 1, S. 127 f.)
Wo das Bildhafte an seine Grenzen stößt, „das Gesicht gesichtslos“ wird, beginnt die Wirkmacht der Musik. Die „metaphysische Notwendigkeit“, der sich Broch zufolge alle Kunst verschreiben muss, „stuft sich dabei allerdings mit den verschiedenen Kunstmedien ab“ (KW 9/1, S. 122), wobei die Malerei eine Mittelstellung zwischen der Dichtung und der Musik einnimmt. Während das Gesicht den (sprachlich oder bildnerisch) darstellenden Künsten zugewiesen werden kann, ist das immer stärker abstrahierte, bis ins (Ur-) Symbolische aufgelöste Antlitz dem Kunstmedium Musik zugehörig.
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Abstrakte Köpfe (Alexej Jawlensky): Musik und Antlitz Auch für diese Dynamik lassen sich Parallelen in der zeitgenössischen Malerei ausmachen: Beispielhaft für eine Abwendung vom Physiologischen und eine – in ihrer Bewegungsrichtung mit Hermann Broch vergleichbare – Überhöhung ins Religiös-Mystische sind die ungefähr zeitgleich mit den Schlafwandlern entstandenen Abstrakten Köpfe von Alexej von Jawlensky (1864-1941). Deren Grundschema wird immer weiter zu einem christlichen Kreuz abstrahiert. Vorläufer zu diesen Gesichtsdarstellungen waren Jawlenskys Variationen über ein landschaftliches Thema, die er nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Exil am Genfer See zwischen 1914 und 1917 malte. Während deren Entstehungsprozess suchte er einen „neuen Weg in der Kunst“, der nicht mehr abbildlich war: Ich verstand, daß ich nicht das malen mußte, was ich sah, sogar nicht das, was ich fühlte, sondern nur das, was in mir, in meiner Seele lebte. Bildlich gesagt, es ist so: Ich fühlte in mir, in meiner Brust eine Orgel, und die mußte ich zum Tönen bringen. Und die Natur, die vor mir war, soufflierte mir nur. Und das war ein Schlüssel, der diese Orgel aufschloß und zum Tönen brachte.24
Allerdings bahnt bei Jawlensky die Landschaftsmalerei, die hier, wie schon im Titel angedeutet („Variation“, „Thema“), ins Medium der Musik überführt wird, lediglich den Weg zu den Gesichtsdarstellungen – miteinander korreliert werden beide nicht. Doch ist in ihnen die Gesichtsform latent angelegt, die ab 1917 Jawlenskys Mystische Köpfe und Heilandsgesichte prägen wird. Der in den Variationen über ein landschaftliches Thema ausgebildete Abstraktionsgrad wird in diesen Serien, welche die Suche nach dem verlorenen Gesicht durch stetige Neuentwürfe einer utopischen Idealform performativ in Szene setzen,25 weiter gesteigert. Schon die frühen Porträts Jawlenskys sind symbolträchtig und oft maskenhaft-dämonisch – ein im Rätselkontext sehr treffendes Beispiel ist seine „Turandot II“ (1912),26 deren katzenhaft-emotionsloser Blick ins Nirgendwo schaut.
24
Zitiert nach: Petzinger, Renate, „Jawlensky: Meine liebe Galka! Museum Wiesbaden 23. Oktober 2004 – 13. März 2005“, in: Hessisches Ärzteblatt 11/2004, S. 636. 25 Itzhak Goldberg stellt interessante Überlegungen zur der „Serie als Questio“ – als unaufhörliche Suche nach dem verlorenen Gesicht – an und nimmt dabei Bezug auf den Psalm 27: „Darum suche ich auch, HERR, Dein Antlitz“, der keine sehnsuchtsvoll erwartete Gewissheit, sondern eine Questio, eine immer weiter gestellte Frage, verheiße (Goldberg, Itzhak, „Die Religion des Gesichts“, in: Stephan, Erik (Hg.), „Ich arbeite für mich, nur für mich und meinen Gott“. Alexej von Jawlensky. Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen, Jena 2012, S. 27-39, hier: S. 38). 26 Vgl. hierzu: Stephan, Erik, „Turandot“, in: ders. (Hg.), „Ich arbeite für mich, nur für mich und meinen Gott“, S. 95-97.
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In den Mystischen Köpfen vollzieht sich eine weitere Reduktion: Die einst enigmatisch leeren Augen sind nun geschlossen und der Blick somit nach innen gewendet. Der Nasenrücken wird zur mittig gesetzten Linie, der Mund aus Strichelementen zusammengesetzt. So sind in den Abstrakten Köpfen (1925-1933), deren Urform bis in das Jahr 1918 zurückreicht, die Gesichter gänzlich entindividualisiert und geometrisiert, das Innere Schauen perfektioniert. Ihr Ausdruck wird allein über die Farbigkeit und Flächigkeit vermittelt, die harmonisch, wenn nicht gar dialogisch aufeinander bezogen sind und das Gesicht transzendieren. Gesicht und Zeichen (das Kreuz) verweisen in einem ununterbrochenen Dialog aufeinander; das Gesicht wird zu religiösen Gesichten: „Ich habe viele Jahre Gesichte gemalt. […] Mir war genug, wenn ich mich selbst vertiefte, betete und meine Seele vorbereitete in einen religiösen Zustand“.27 In einem Gespräch mit Clemens Weiler äußert sich Jawlensky folgendermaßen: „Sagen Sie jedem, daß das kein Gesicht ist. Es ist das nach unten sich Abschließende, das nach oben sich Öffnende, das in der Mitte sich Begegnende“.28 Und außerdem, was an Franz Rosenzweigs Überhöhung des Menschengesichts hin zum göttlichen Antlitz im Sechsstern zwischen Schöpfung, Offenbarung, Erlösung sowie Gott, Mensch und Welt erinnert [vgl. Kap. III.1]: „Das Gesicht ist für mich nicht ein Gesicht, sondern der ganze Kosmos. Im Gesicht offenbart sich der ganze Kosmos“.29
27
Weiler, Clemens, Alexej Jawlensky, Köpfe, Gesichte, Meditationen, Hanau 1970, S. 68. Ebd., S. 66. 29 Ebd., S. 62. 28
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Alexej Jawlensky: Turandot II, 1912. Öl auf Pappe, 53,9 x 49,5 cm
Die „Religion des Gesichts“30 des russisch-orthodoxen Alexej von Jawlensky findet im Austausch mit der Theosophie, dem östlichen Symbolismus sowie der sakralen Geometrie statt. Letztere geht davon aus, dass die Geometrie nicht nur ein stilistischer Effekt sei, sondern die Wiedereinführung des Heiligen ermögliche. Einen theoretischen Hintergrund bildet die 1872 von Peter Lenz verfasste Schrift Zur Ästhetik der Beuroner Kunstschule (Paris 1905), deren Doktrin auf der Überzeugung beruht, dass sich die Regeln des Gregorianischen Gesangs auf die bildenden Künste übertragen ließen, um die Linienführung und Farbtöne der Malerei zu vereinfachen. Jawlensky wurde 1907 mit dieser ästhetischen Theorie
30
Vgl. hierzu: Goldberg, Itzhak, „Die Religion des Gesichts“, S. 27 sowie: ders., Jawlensky ou le visage promis, Paris/ Montreal 1998.
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vertraut gemacht, die er fünfzehn Jahre später in seinen Abstrakten Köpfen künstlerisch umsetzt. In ihnen schließt er sich der Vorstellung einer ,heiligen‘ Kunst an, wobei er Musik und Antlitz immer wieder aufeinander bezieht. Beispielhaft hierfür ist das Porträt Herbstlicher Klang (1928), bei dem die Musik zum ideellen Fluchtpunkt eines von seinen konkreten physiognomischen Zügen befreiten Gesichts wird.
Alexej Jawlensky: Herbstlicher Klang, 1928. Öl/ Leinwandkarton, 43 x 33,5 cm
Hermann Broch bringt im dritten Buch der Schlafwandler die allmähliche Erosion eines Porträts ebenfalls mit Herbst und Musik in Verbindung, wenn er das „milde Gesicht“ des Arztes Dr. Kessel zunächst in eine „Herbstlandschaft in Erwartung des Schnees“ (KW 1, S. 631), sodann in reine Musikerfahrung – Kessel spielt Brahms Cellosonate e-moll op. 38 – auflösen lässt. Was Jawlensky und Broch verbindet, ist ihr Plädoyer für den – in der Musik am ehesten erfüllten – „Abstraktionismus“, in welchem sich nach Brochscher Definition „der Ausdruck […] in immer geringerem Maße auf das jeweils gegebene
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Vokabularium stützt, so dass von diesem letztlich nur wenige Ursymbole verbleiben und der Ausdruck sich in zunehmendem Maße nur der Syntax bedient“ (KW 9/2, S. 213). Nicht mehr die Abbildlichkeit zählt, sondern die neuen Möglichkeiten abstrakter Darstellbarkeit. Letztere darf nicht „einem Symbolsystem reiner Konvenüs“, sprich einem „Imitationssystem“ (KW 9/2, S. 170) verhaftet sein, sondern muss den Blick auf das Markante einer Zeit, deren „Ursymbole“ (KW 9/2, S. 213) freigeben. Das Bedürfnis nach einer Rückkehr zum Uranfänglichen, das im allerersten geschauten Gesicht, dem göttlichen Antlitz, geweckt wird, ist demnach Alexej Jawlensky und Hermann Broch gemeinsam: Jawlensky löst seine zuweilen mit „Urform“31 betitelten Gesichter in das christliche Ursymbol des Kreuzes auf („Kunst ist eine Sehnsucht zu Gott“32). Und Broch lässt die Erinnerung an ein Heiligenbild bei Joachim zu einem epiphanischen Erlebnis werden. In Joachims Imagination des Madonnenbildes auf der silbernen Wolke33 findet wiederum eine Verschränkung von dem „Verlöschen der Gesichter in der Landschaft“ (KW 1, S. 130) und der Musik, in diesem Fall der „Melodie des Chorals“ (KW 1, S. 129 f.), statt. „[I]m Wir endlich sammelt sich alles zum choralmäßig gleichen Takt des vielstimmigen Schlußgesangs“ – Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung sei noch einmal in Erinnerung gerufen: „Alle Stimmen sind hier selbständig geworden, jede singt die Worte nach der eigenen Weise ihrer Seele, doch alle Weisen fügen sich dem gleichen Rhythmus und binden sich zur einen Harmonie“ (SE, S. 264). Hermann Brochs Umgang mit dem „Gesang der Erlösung“ (SE, S. 264) – er spricht von der „Ahnung kommender Gnade“ (KW 1, S. 130) – scheint durch die ironischen Erzählerkommentare, die Katholizismus und Protestantismus gegeneinander ausspielen, von geringerer Ernsthaftigkeit als derjenige Rosenzweigs im Schlusskapitel. Nichtsdestotrotz kommt es auch hier zu einem Konnex von Auflösung des Menschengesichts und Erlösung durch das göttliche Antlitz, das in einer von Musik begleiteten Schau „[i]ns Leben“ (SE, S. 472) führt. Die Gesichtslosigkeit wird bei Broch nicht als sinnliche Verlusterfahrung, sondern vielmehr als Steigerung der Wahrnehmungsfähigkeit empfunden. Denn wo das Phänomen an seine Grenzen gelangt – und hier kann auf Emmanuel Lévinas, der an Franz Rosenzweig anschließt [vgl. Kap. III.1], vorausverwiesen werden34 – beginnt das Rätsel: Was erscheint, sich rational
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Weiler, Clemens, Alexej Jawlensky, Köpfe, Gesichte, Meditationen, S. 48. Ebd., S. 50. 33 Vgl. zu dieser Szene auch: Lützeler, Paul Michael, Kulturbruch und Glaubenskrise. Brochs ,Schlafwandler‘ und Grünewalds ,Isenheimer Altar‘, Tübingen/ Basel 2001, S. 28-43 sowie Eicher, Thomas, Erzählte Visualität. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Hermann Brochs Romantrilogie ,Die Schlafwandler‘, Frankfurt am Main 1993, S. 56-59. 34 Vgl. das Kapitel „Rätsel und Phänomen“ in: Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, 32
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erkennen und sprachlich ordnen lässt, schreibt Lévinas der Seite des Phänomens, dem immanenten Bereich zu. Dem steht der transzendente Bereich des Rätsels gegenüber, das Lévinas als prinzipiell unlösbar gilt. Ihm wird das Antlitz zugewiesen, welches sich entgegen dem Gesicht, das physiognomisch deutbar, hermeneutisch lesbar und visuell abbildbar ist, jeder Deut- und Darstellbarkeit entzieht, indem es die Form hinter sich lässt. Dieser Prozess wird durch Musik initiiert, die das äußere Sehen in ein inneres Schauen verlegt: Und in dem Verfließen der Formen, Verfließen, das so sanft war wie das Rieseln des Wassers und der Nebel an einem regnerischen Frühlingsabend, wurde ihm klar, daß der so gefürchtete Zerfall des menschlichen Antlitzes zu einem Nichts von bewegten Erhöhungen und Vertiefungen die Vorstufe sein soll für eine neue und lichtere Einheit im seligen, wolkigen Verband, nicht Abklatsch mehr des irdischen Gesichtes, sondern zur Verheißung des Ebenbildes, kristallener Tropfen, der singend aus der Wolke fällt. Und selbst wenn dieses höhere Antlitz nicht von irdischer Schönheit und Vertrautheit sein würde, fürs erste wohl fremd und erschreckend, vielleicht noch erschreckender als das Verlöschen der Gesichter in der Landschaft, so war eben dies der erste Schritt gewesen, Vorahnung des göttlichen Grausens, dennoch Gewißheit des göttlichen Lebens […]. (KW 1, S. 130)
Verklingt die Musik, verblasst das Bild: „der Choral ging zu Ende und Joachim glaubte zu erkennen, daß manche der jungen Männer gleich ihm zuversichtlich und mit entschlossener Inbrunst zum Himmel schauten“ (KW 1, S. 131). Der Choral verdeutlicht die Perspektive der Transzendenz. Denn die Musik gilt als etwas Jenseitiges, das „rein und klar über allem schwebte wie auf einer Silberwolke“ (KW 1, S. 104). Sie verkehrt das (menschliche) Gesicht in einer AllEinheitsschau ins (göttliche) Antlitz, in „eine neue und lichtere Einheit […] zur Verheißung des Ebenbildes“ (KW 1, S. 130). Antlitz, Musik und die Aufhebung von Zeit bedingen einander und werden in dieser triadischen Beziehung auch in der oben bereits erwähnten Szene im dritten Buch der Schlafwandler aufgegriffen, wenn der Arzt Dr. Kessel die Cellosonate e-moll op. 38 von Brahms spielt: Sein mildes Gesicht war seltsam nach innen gekehrt, der graue Schnurrbart über den eingezogenen Lippen war kein Schnurrbart mehr, sondern ein grauer Schatten, die Falten der Wangen hatten sich anders gelagert, es war kein Gesicht mehr, fast unsichtbar war es, vielleicht eine graue Herbstlandschaft in Erwartung des Schnees. […] denn die lärmende Stummheit dieser Zeit, ihres Getöses stummer und undurchdringlicher Schall, aufgerichtet zwischen Mensch und Mensch, eine Wand, durch die des Menschen Stimme nicht hinüber, nicht herüber mehr dringt,
herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang N. Krewani, Freiburg/ München 1983, S. 236-260.
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Kapitel III: Rätsel und Antlitz so daß er erbeben muß, – aufgehoben war die entsetzliche Stummheit der Zeit, es war die Zeit selber aufgehoben und sie hatte sich zum Raum geformt, der sie alle umschloß, da nun Kessels Cello erklang, aufsteigend der Ton, den Raum aufbauend, den Raum erfüllend, sie selber erfüllend. (KW 1, S. 631 f.)
Hier kulminieren fast alle Aspekte der im ersten Buch der Schlafwandler so dominanten, im zweiten und dritten dann kaum noch reflektierten Gesichtsthematik: das milde, nach innen gewendete Gesicht, der verrätselte Schnurrbart, die Auflösung des Gesichts in eine Herbstlandschaft, die Zeitlosigkeit und der von Musik erfüllte Raum. Diese im Vergleich zu der Madonnenwahrnehmung weniger stark christologisch geprägte Episode wirkt wie ein Vorbote des eineinhalb Jahrzehnte später entstandenen Tod des Vergil (1945), in dem das Amorphe zudem auf der Darstellungsebene, in der vielfach ineinander gleitenden syntaktischen Struktur, literarisch ausgestaltet wird. In diesem mit einer „Symphonie“ (KW 4, S. 475) verglichenen Experiment versucht Hermann Broch sich endgültig von dem ,Phänomen‘, das immer an das Bild, die plastische und stumme Form, gebunden bleibt, zu lösen, und wendet sich der, mit Emmanuel Lévinas, „Epiphanie des Antlitzes“35 zu: Plotia, umgeben vom „Sternenglanz“ (der Erlösung?) (KW 4, S. 430), erscheint nicht mehr als Bild, sondern nur noch als „Echo“ und „ätherisches Klingen“ (KW 4, S. 432), nicht mehr als Gesicht, sondern als Antlitz, das visuell nicht mehr wahrnehmbar, philosophisch noch nicht fassbar, aber als musikalisch-rhythmisches Ereignis doch schon spürbar ist: […] unbeschadet ihres Liebreizes vermochte er sie kaum mehr als Frau zu sehen, wohl aber erschaute er sie von innen her, erschaute sie von ihrem innersten Eigenschaftsgrund her, und er erschaute sie kaum mehr als Leib, wohl aber als durchsichtigste Wesenheit, nicht mehr als Frau, nicht mehr als Jungfrau, wohl aber als das Lächeln, das alles Menschliche belebt, als das zum Lächeln geöffnete Menschenantlitz […]. Und doch war das sehnsüchtige Hinaufweisen zugleich auch schon Erfüllung. Denn die durchsichtige Dämmerschicht, die zwischen dem Oben und Unten gespannt ist und, undurchdringlich für alles Irdische, dem Lied der irdischen Sehnsucht das Eindringen in die unendlichen Sphären verwehrt, so daß es an solcher Undurchdringlichkeit zum Echo wird, zum Echo der Seele, zum freilich unvollkommenen Außen-Echo des stummen Innen-Gesichtes und noch unvollkommeneren des ersehnten Sphärengesanges, diese trennende Echowand löst sich auf und verschwindet, wenn das Wunder des Unirdischen sich vollzieht, wenn Außen und Innen ineinander übergehen, Ich und All miteinander vereinend, und so wie es dann keines irdischen Liedes, keines der Sehnsucht, keines der Liebe, und vielleicht nicht einmal mehr eines Hinaufweisens bedarf, weil die
35
Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen, S. 221.
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Sehnsucht erfüllt ist und der Sphärengesang innen und außen zugleich ertönt, so war hier Plotias innerste Wesenheit zur Eigenschaft des Alls geworden, zu jener all-einschließenden Gültigkeit […] – und hold und furchtbar vor Wahrheit, so war die heitere Stille des Morgens, unmeßbares Echo des Sternenantlitzes, des Menschenantlitzes, des Tierantlitzes, des Pflanzenantlitzes, maßlos. (KW 4, S. 432 f.)
Auch hier mündet alles in eine Schau, die sich dem Bereich des Phänomens entzogen hat: Das „Schauen war wie ein Schauen von Schönheit – freilich bereits jenseits der Schönheit“ (KW 4, S. 436). Sogar die Körpermetamorphose in das „[F]ern-Menschliche und [L]andschaftliche“ (KW 1, S. 120) wird erneut aufgegriffen. Die damals noch physisch-erotische Liebesszene mit Ruzena in den Schlafwandlern (1931/32) klingt in der nunmehr metaphysischen Plotia-Szene im Schluss des Tod des Vergil (1945) noch einmal an: Indes, im Schlafe noch weitererkennend spürte er das unverlöschliche Andauern der Verschmolzenheit und das spiegelnde Eingleiten der Plotia in sein Selbst,36 in all die Bestandteile, welche diese Selbst ausmachen, das Eingleiten ins Fühlbare und Unfühlbare, eingleitend Ganzheit in Ganzheit seines Lebens, in die knochige Felsigkeit des Gerippes, ins wurzelige Erdgebundene, ins Pflanzenhafte […]. (KW 4, S. 437)
Der in der Erlösung sich vollziehende Auflösungsprozess ergreift nicht nur die Grenzen des menschlichen Körpers, sondern auch die der Zeit, wenn am Ende die, mit Friedrich Nietzsche, ,Wiederkehr des Gleichen‘ eintritt: „denn der Ring der Zeit hatte sich geschlossen, und das Ende war der Anfang“ (KW 4, S. 453). An diesem Anfang war erneut der Logos, „das reine Wort“, „unerfaßlich unaussprechbar“, „jenseits der Sprache“ (KW 4, S. 454). Und dieses Wort, „erhaben über alle Verständigung und Bedeutung“ (KW 4, S. 453), erfüllt jenseits der Hermeneutik eine kosmogonisch-magische Funktion [vgl. Kap. I.4 (1)]. Ihre Wirk- und Wahrheitskraft erhält sie im „flutenden Klang“ (KW 4, S. 454), in dem Musik und Antlitz ineinander übergehen. Folglich wird das Gesicht in der Moderne enigmatisiert und zu deren krisenhaftem Kristallisationspunkt: zur Krise des Individuums, das dissoziiert wird im Tier oder in der Landschaft, sowie zur Krise der Repräsentation, der visuellen und/ oder sprachlichen Darstellbarkeit. Es verweist allenfalls noch ironisch auf die Les- und Lösbarkeit des Gesichts in Form eines Ratespiels (griphos), konterkariert und karikiert die physiognomische Tradition. Die teils minutiösen Detailbeschreibungen im Sinne einer ,hohen Auflösung‘ dienen nicht mehr einer
36
Der in der Psychoanalyse geschulte Hermann Broch hält, worin er sich fundamental von Franz Rosenzweig unterscheidet [vgl. Kap. III.1], an dem Begriff des Selbst fest und somit letztlich auch an einem der Alterität vorgeordneten Identitätskonzept.
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Mimesis von Wirklichkeit, sondern einer Übersteigerung ins Enigmatische, einer symbolhaften Poiesis: Je ausführlicher sie ausfallen, desto rätselhafter wird ihr Produkt, das zur dunklen Andeutung gerät (ainigma). Anstatt für Individualität einzustehen, lösen sich die Gesichter im Abstrakt-Symbolischen auf – bis hin zum Christuskreuz bei Alexej Jawlensky oder zum Davidstern bei Franz Rosenzweig [vgl. Kap. III.1]. Nichtsdestotrotz initiiert gerade dieser Auflösungsprozess eine neue Erlösungssehnsucht, begeben sich die Figuren auf die Suche nach dem verlorenen Gesicht. Letzteres ist jedoch weder als (Ur-) Bild oder Logos fassbar, sondern kann nur noch in einem dynamischen Prozess, in einer, so bei Jawlensky, seriellen quest gesucht werden. Hierbei wird das Gesicht zu Gesichten überhöht, werden Antlitz und Musik als Inbegriff küntlerischer ,apparition‘ und des „Rätselcharakters der Kunstwerke“37 [vgl. Kap. III.3] miteinander korreliert. Diese hermeneutische Prozessualität der Komposition und Dekomposition von Gesichtern vermag die Literatur in Szene zu setzen. Sie demaskiert, indem sie zwischen Auflösungs- und Erlösungsverfahren oszilliert, das Gesicht als Garant von Deutung und Bedeutung, denn: „im Gesichte selber war das Rätsel gelegen“ (KW 1, S. 119).
37
Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 2003, S. 182.
Kapitel III: Rätsel und Antlitz
III.3
261
Zur Glut der Gesichte in Leo Perutzʼ Roman Der Meister des jüngsten Tages (1923)
Perutzʼ doppelter Rätselroman: a.) griphos: Rätsel und detektivische Spur, Spiel und Indizien b.) ainigma: Rätsel und Antlitz, Gericht und Gesicht(e) – Die Farbe Drommetenrot und der „Rätselcharakter der Kunstwerke“ (Theodor W. Adorno) Leo Perutzʼ (1882-1957) historischer Roman Der Marques de Bolibar (1920) wurde bereits in seinem Erscheinungsjahr in der Wiener „Illustrierten Zeitschrift für Kunst, Literatur und Mode“ Moderne Welt von Hermann Broch (1886-1951), der damals noch nicht als Literat, sondern überwiegend als Autor philosophischkulturkritischer Essays hervorgetreten war, rezensiert (KW 9/1, S. 360 f.).1 Frühzeitig und feinsinnig erkennt Broch dessen ästhetische und ethische Qualität. Er schreibt von Anfang an gegen den Vorwurf einer professionellen Unterhaltungsliteratur an, der die literaturwissenschaftliche Rezeption der Werke von Leo Perutz für mehr als ein halbes Jahrhundert bestimmen wird.2 Denn dass das Buch zunächst „,nur‘ ein ,spannendes‘“ sei, schließe Broch zufolge den „Ausblick auf den Sinn des Lebens“ (KW 9/1, S. 361) nicht aus. Ebenso interessant wie die ethische Rechtfertigung ist Hermann Brochs scharfer Blick auf die für Leo Perutz spezifische Affinität von Erzähltechnik und Phantastik:3 „Es ist eine Phantasie der Notwendigkeit, […] eine Logik des Wunderbaren, die die dramatische Handlung und ihre Begründung zu jener Geschlossenheit bringt, die das Wesen des Künstlerischen ausmacht“ (ebd.). Die von Broch konstatierte formale „Geschlossenheit“ erzeugt eine noch in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft für das Gesamtwerk von Leo Perutz betonte „Aura der Zeitlosigkeit […], die
1
In der Folge werden Hermann Brochs Werke direkt im Fließtext zitiert nach der zwischen 1974 und 1981 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt am Main erschienenen Kommentierten Werkausgabe (KW), hg. v. Paul Michael Lützeler, mit Bandnummer und Seitenzahl. 2 Die Wiederentdeckung in den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts verdankt Leo Perutz hauptsächlich dem Germanisten Hans-Harald Müller, der seine Werke bei dtv herausgab und 1989 in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bibliothek in Frankfurt eine Ausstellung mit Begleitkatalog arrangierte: Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der deutschen Bibliothek Frankfurt am Main, Wien/ Darmstadt 1989. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte auch: Eichner, Hans, „Leo Perutz, Meister des Erzählens: Bemerkungen aus Anlaß seiner Wiederentdeckung“, in: The German Quarterly, Vol. 67, No. 4, 1994, S. 493-499. 3 Die Literaturwissenschaft machte diese erst sehr viel später zum Gegenstand ihrer Forschung, vgl. hierzu: Lüth, Reinhard, Drommentenrot und Azurblau. Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander LernetHolenia, Meitingen 1988.
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seine Texte nicht nur dem 20., sondern auch ganz gut dem 19. Jahrhundert zuordenbar macht“.4 Hermann Broch und Leo Perutz, moderne deutschsprachige Autoren jüdischer Herkunft, greifen beide auf Konzepte des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Romantik, zurück: Während Broch diese jedoch in seinen philosophischen Essays explizit kritisiert und in seinen Romanen durch eine Kontrastierung mit modernen Erzählverfahren bricht und öffnet,5 scheint Perutz sie zunächst stilistisch und erzähltechnisch zu reproduzieren. Sein Werk weist zudem, anders als das der meisten modernen Literaten, keine autobiographischen oder theoretischen Schriften auf. Die fehlenden poetologischen Selbstkommentare mögen auch ein Grund dafür sein, dass die Romane von Leo Perutz bis heute gängigen (Unterhaltungs-) Genres des 19. Jahrhunderts zugewiesen werden, sei es dem historischen, dem phantastischen, dem Detektiv- oder Kriminalroman. Übergangen wird dabei die Ambiguität und Komplexität seiner impliziten Poetik, die (post-) moderne Essayisten und Literaten wie Siegfried Kracauer, Jorges Luis Borges und Umberto Eco nicht von ungefähr faszinierte und inspirierte: Basisbildend in den Romanen von Leo Perutz ist nämlich nicht nur die narrative Affektstruktur der Spannung, sondern, zumal in den fiktionalen Paratexten, die der Neugier (curiositas):6 Sie reflektiert ihren eigenen, immer wieder durch Dunkelheit (obscuritas) verunsicherten Entstehungsprozess – ihre enigmatische Methode – mit. Das Rätsel bildet bei Leo Perutz sowohl auf struktureller als auch auf thematischer Ebene einen zentralen Knotenpunkt: Einerseits konstituiert es die Erzählordnung, bei der sich die mit Edgar Allan Poe tale of ratiocination und die tale of horror [vgl. Kap. A] in einer „Logik des Wunderbaren“ ergänzen. Perutz nimmt dabei intradiegetische Querverweise auf (romantische) Kriminalgeschichten von Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffmann und Edgar
4
Schmidt-Dengler, Wendelin, „Der Autor Leo Perutz im Kontext der Literatur der Zwischenkriegszeit“, in: Forster, Brigitte; Müller, Hans-Harald (Hg.), Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 9-21, hier: S. 10. 5 Vgl. hierzu: Wohlleben, Doren; Lützeler, Paul Michael (Hg.), Hermann Broch und die Romantik, Berlin/ Boston 2014. Zu Perutzʼ Bezügen zu der Romantik, insbesondere zu E. T. A. Hoffmann vgl. z. B.: Cothran, Bettina F., „Der ,Einbruch der E. T. A. Hoffmannschen Welt‘ in den Werken von Leo Perutz“, in: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft Bamberg, Bd. 36, 1990, S. 36-47. 6 In der Kognitionspsychologie werden drei Typen von Affektstrukturen unterschieden: Überraschung, Spannung, Neugier. Während die Erwartungshaltung des Lesers bei spannenden Geschichten endorientiert ist, ist sie bei den auf einem wichtigen Geheimnis basierenden Neugier-Geschichten ursprungsorientiert und lässt sich auch als Wie-Spannung bezeichnen, vgl. hierzu: Martinez, Matias; Scheffel, Michael, Einführung in die Erzähltheorie, München 32002, S. 151-153.
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Allen Poe vor und inszeniert das Dunkle und Unheimliche, das im Ambiguen verharrt. Andererseits destabilisiert das Rätsel diese ,logische‘ Ordnung, in die es in der (modernen) epiphanischen Struktur des Antlitzes, als „Glut der Gesichte“7 unerwartet einbricht. Leo Perutz benennt letztere wortschöpferisch mit der phantastischen Farbe „Drommetenrot“, die Theodor W. Adorno in seiner posthum publizierten Ästhetischen Theorie (1970) im Kontext der „apparition“8 symbolisch aufgreift und zum Rätselbild des (modernen) Kunstwerks werden lässt. Perutzʼ doppelter Rätselroman Eine „typische Struktur“, welche die oft unscharfen Gattungszuweisungen überschreite und dem Gesamtwerk von Leo Perutz zugrunde liege, ist Matías Martínez zufolge der ,proleptische Rätselroman‘.9 Letzterer zeichne sich dadurch aus, dass „analytisch10 in Form einer spezifischen, proleptischen Rätselstruktur erzählt“ werde, wobei der Leser „zu Beginn des Textes, in der Erzählgegenwart des Vorwortes, mit einem erklärungsheischenden Sachverhalt konfrontiert [ist], der durch die nachfolgend mitgeteilte Handlung genetisch erklärt wird“.11 Sieben der zwölf Romane von Leo Perutz weisen einen solchen Erzählrahmen in Form eines (fiktionalen) Vorwortes auf, in dem das Ende der Hauptgeschichte vorweggenommen, aber zugleich auch „als erklärungsheischendes Rätsel präsentiert“12 wird.
7
Perutz, Leo, Der Meister des jüngsten Tages. Roman, München 52008, S. 171. Die Seitenangaben werden im Folgenden nach dieser Ausgabe direkt im Fließtext angeführt. 8 Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 2003, S. 125-131. Die Seitenangaben werden nach dieser Ausgabe mit dem Kürzel ÄT direkt im Fließtext angeführt. 9 Martínez, Matías, „Proleptische Rätselromane. Erzählrahmen und Leserlenkung bei Leo Perutz“, in: Forster, Brigitte; Müller, Hans-Harald (Hg.), Leo Perutz. Unruhige Träume – Abgründige Konstruktionen. Dimensionen des Werks, Stationen der Wirkung, Wien 2002, S. 107-129, hier: S. 107. 10 Matías Martínez bezieht sich hier auf Dietrich Webers Theorie der analytischen Erzählung, die das dritte Großkapitel der Mitteilungskonstruktion im Zusammenhang mit dem „rhetorischen Rätsel“ widmet: Weber, Dietrich, Theorie der analytischen Erzählung, München 1975, S. 42-82. 11 Ebd., S. 116 f. 12 Ebd., S. 116.
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Ein ,Rätselroman‘ ist der oft als Kriminal- und Künstlerroman13 klassifizierte Meister des Jüngsten Tages (1923) von Leo Perutz gleich im doppelten Sinn: als griphos und als ainigma. Zum einen, wie von Matías Martínez treffend benannt, narratologisch: die kriminalistische quest als stets dekonstruiertes Rätselspiel (griphos) (a.). Zum anderen, was bislang wenig Beachtung fand und die erzählstrukturelle Lesart komplementiert,14 mitunter auch irritiert und durchkreuzt, philosophisch-poetologisch: das Antlitz des Anderen als dunkles Rätsel (ainigma) (b.). a.) griphos: Rätsel und detektivische Spur, Spiel und Indizien In Perutzʼ fünftem und erfolgreichstem15 Roman Der Meister des jüngsten Tages liegen drei zeitliche und erzähllogische Ebenen vor. Sie legen teils widersprüchliche Spuren eines Rätselspiels (griphos), in das immer wieder das ainigma einbricht. Zunächst die in der erzählten Zeit fünf Tage umfassende, in Wien im September 1909 spielende Hauptgeschichte (S. 12-194): Sie handelt von einer Reihe rätselhafter Selbstmorde, deren Fährte den offensichtlich – aus Schuldbewusstsein? – stark verunsicherten und immer wieder unzuverlässig16 erscheinenden
13
Vgl. hierzu auch: Wohlleben, Doren, „Die Gewalt der Gesichte. Zur Affinität von Kunst und Kriminalität am Beispiel von Leo Perutz’ Der Meister des jüngsten Tages“, in: Baßler, Moritz; Giaobazzi, Cesare; Waldow, Stephanie (Hg.), (Be-)Richten und Erzählen. Literatur als gewaltfreier Diskurs?, München 2011, S. 169-179. 14 Zum Verhältnis von Struktur und Bedeutung im Kontext einer „strukturalistisch informierten Hermeneutik“ vgl.: Kindt, Tom; Meister, Jan Christoph, Leo Perutzʼ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Mit einem Erstabdruck der Novelle ,Von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto‘, Tübingen 2007, S. 9. 15 Der Meister des Jüngsten Tages wurde einer der größten Erfolge von Perutz: Noch in den zwanziger Jahren erschienen englische, amerikanische, finnische, russische und tschechische Ausgaben des Romans, vgl. hierzu: Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der deutschen Bibliothek Frankfurt am Main, Wien/ Darmstadt 1989, S. 127. 16 Das unzuverlässige Erzählen expliziert Ansgar Nünning als ein relationales, bzw. interaktionales Phänomen, bei dem die Informationen und Strukturen des Textes sowie das vom Rezipienten an den Text herangetragene Weltwissen und Werte- und Normensystem gleichermaßen die Vertrauenswürdigkeit des Erzählers auf den Prüfstand stellen, vgl. hierzu: Nünning, Ansgar (Hg.), Unreliable Narration: Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998, besonders: S. 3-39. Dem unzuverlässigen Erzählen bei Leo Perutz widmete sich jüngst Markus Fleckinger in seiner Dissertation (Fleckinger, Markus, Der unzuverlässige Erzähler bei Leo Perutz. Eine Strukturanalyse unzuverlässigen Erzählens, Saarbrücken 2009). Leider fällt seine Definition („Unzuverlässiges Erzählen handelt von der Funktion der Abweichung der Erzählerrede von der im und anhand des Textes feststellbaren
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Ich-Erzähler Gottfried Adalbert Freiherr von Yosch letztlich zum Titelhelden, dem Meister des jüngsten Tages, führt. Letzterer ist, anders als zunächst angenommen, kein menschlicher Mörder, sondern, wie in Umberto Ecos postmodernem Roman Der Name der Rose (1980), ein alter Foliant. Darin ist das Geheimwissen des frühneuzeitlichen Arztes und Alchimisten Salimbeni enthalten, das Rezept für eine Droge, die von der Inspiration verlassenen Künstlern zu einer neuen Kraft visionären Sehens verhilft. Diese „von der grauenvolle[n] Farbe Drommetenrot“ (S. 178) begleiteten Gesichte, die „dem Ende aller Dinge“ leuchten (S. 188), gehen mit einer Schau des Jüngsten Gerichts einher und treiben Schuldbeladene bis in den Suizid. Der Ich-Erzähler, der den Pfeifenrest des ersten Opfers, des erfolglosen Schauspielers Eugen Bischoffs, dessen Freundin Dina einst seine Geliebte war, aus Neugier zu Ende raucht, erleidet durch diese Droge selbst die „Gewalt [d]er Gesichte“ (S. 178). Er kann nur durch einen Faustschlag ins Gesicht gerettet werden. Für die Chimären findet der Arzt Doktor Gorski eine „physiologische Erklärung“, indem er das „rätselhafte Drommetenrot“ als das physikalische Infrarot identifiziert, zu dessen Sicht die Droge temporär befähige (S. 192). Obgleich er seine zunächst eindeutige Antwort relativiert („Das Phänomen läßt mehrere Deutungen zu“, S. 192), beruhigt sie mit ihrem Rationalismus seine Zuhörer – und den aufklärungsbedürftigen Leser. In der Haupthandlung steht am Ende – vergleichbar der knapp sechzig Jahre vorher erschienenen Sphinx-Erzählung von Edgar Allan Poe [vgl. Kap. A] – eine (pseudo-) naturwissenschaftliche Erklärung für die zuvor nur phantastisch oder psychoanalytisch deutbare, unheimliche Chimäre. Damit scheint das Rätsel (griphos) sowohl der Geschichte als auch der Gesichten endgültig gelöst. Umso irritierender ist es, dass ein von dem Ich-Erzähler der Haupthandlung zwischen 1909 und 1914 verfasstes Vorwort dieses Ende zwar vorwegnimmt, es aber als dunkles Rätsel, als unergründliches ainigma präsentiert: Auf der Innenseite des Buchdeckels habe ich zwischen den Namen der früheren Besitzer eine halberloschene Unterschrift entdeckt. Habe ich sie recht gedeutet? Sollte auch Heinrich von Kleist – –? Nein, es hat keinen Sinn, zu suchen und zu raten und die Namen der großen Toten zu beschwören. Nebelwolken verhüllen ihr Bild. Die Vergangenheit bleibt stumm. Niemals wird aus dem Dunkel eine Antwort kommen. (S. 8)
Sowohl einem hermeneutischen („Habe ich sie recht gedeutet?“) als auch einem heuristischen („es hat keinen Sinn, zu suchen und zu raten“) Zugang zum Rätsel
Enzyklopädie“, S. 209) hinter diejenige Nünnings zurück, da er mit fixierten enzyklopädischen Wissensbeständen operiert, die weder eine Differenzierung von realen und imaginierten Sachverhalten zulassen noch die Dynamik einer ethischen Urteilsbildung berücksichtigen.
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wird von Anfang an eine Absage erteilt. Die quest, die in der Hauptgeschichte dann minutiös entfaltet und an ein kausallogisches Ziel geführt wird, ist im fiktionalen „Vorwort statt eines Nachworts“ (S. 5-11) als ein „tragischer Spuk“ (S. 7) ins Phantastische überhöht und in ihrer existentiellen Bedrohlichkeit in Szene gesetzt: Vom 26. bis zum 30. September, nicht länger also als fünf Tage, hat dieser tragische Spuk gewährt. Fünf Tage dauerte die abenteuerliche Jagd, die Verfolgung eines unsichtbaren Feindes, der nicht von Fleisch und Blut war, sondern ein furchtbarer Revenant aus vergangenen Jahrhunderten. – Wir fanden eine blutige Spur und gingen ihr nach. Schweigend öffnete sich das Tor der Zeiten. Keiner von uns ahnte, wohin der Weg ging, und es ist mir heute, als hätten wir uns mühsam, Schritt für Schritt, durch einen langen dunkeln Gang getastet, an dessen Ende ein Unhold mit erhobener Keule uns erwartete… Die Keule sauste nieder, zweimal, dreimal, ihr letzter Schlag traf mich, und ich wäre verloren gewesen, ich hätte Eugen Bischoffs und Solgrubs furchtbares Geschick geteilt, wenn mich nicht im letzten Augenblick ein rascher Griff zurück ins Leben gerissen hätte. (S. 7 f.)
Die „Spur“ ist hier keine bloße Signifikantenkette, bei der ein Zeichen auf das nächste verweist, bis sich die Indizien „Schritt für Schritt“ zu einem Ergebnis formieren. Sie ist vielmehr „blutig“ [vgl. auch Kap. III.4] und nimmt ihr jähes Ende statt in geistiger Erkenntnis in körperlicher Gewalt. Der „Weg“ hat kein methodisches Endziel, vielmehr ein existentielles („furchtbares Geschick“) von mythischer Unheimlichkeit („ein Unhold mit erhobener Keule“). Nur wo er gewaltsam abgebrochen wird, führt er „zurück ins Leben“. Die dritte, in der erzählten Zeit nach 1914 zu verortende Ebene bilden die fiktionalen „Schlußbemerkungen des Herausgebers“ (S. 195-197), eines namentlich nicht genannten Regimentskameraden des Freiherrn von Yosch, der nach dessen Tod zu Beginn des Ersten Weltkriegs die nachgelassenen Schriften über einen Schwadronskommandanten erhalten hat. Sie stellen sowohl die Rätselgeschichte samt ihrer aufklärenden Lösung der Haupthandlung als auch deren Reinszenierung als dunkles Rätsel im Vorwort grundsätzlich in Frage. Beide werden „als lügenhafte Darstellung zur gezielten Täuschung des Lesers oder als Entlastungsphantasie eines Psychopathen, jedenfalls als irreführende[r] Bericht eines unzuverlässigen Erzählers“17 markiert. Der Leser wird aufgrund dieses weiteren Erzählrahmens, der das bislang Gelesene neu kontextualisiert, zu einer Relektüre genötigt: Da der Freiherr den leicht beeinflussbaren Hofschauspieler Bischoff in den Selbstmord getrieben habe, sei er zu einem falschen Ehrenwort geflüchtet, was in eine ehrengerichtliche Verurteilung des Freiherrn mündete: „Das ist der wahre Sachverhalt. Alles weitere, das Eingreifen des Ingenieurs, die
17
Fleckinger, Markus, Der unzuverlässige Erzähler bei Leo Perutz, S. 113.
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Jagd nach dem ,Monstrum‘, das geheimnisvolle Präparat, die Visionen – alles das ist abenteuerliche Erfindung“ (S. 196). Indem der Herausgeber die „abenteuerliche Erfindung“ auf den „wahre[n] Sachverhalt“ reduziert, nimmt er erst einmal eine juristische und psychologische Entfiktionalisierung der quest vor: „Erfahrene Kriminalisten geben Antwort auf diese Frage [nach dem Zweck der Darstellung; D. W.]. Sie verweisen auf das ,Spiel mit Indizien‘, auf jenen bei vielen Verurteilten beobachteten selbstquälerischen Drang, die Indizien ihrer Tat gewaltsam umzudeuten […]“ (S. 197). Damit löst sich die kriminalistische quest retrospektiv in einem psychologischen Roman auf: Sie diente allein dazu, einem moralischen Einzelvergehen durch Erzeugung einer Handlungskette und Serienlogik narrative Kohärenz, gesellschaftliche Akzeptanz und argumentative Folgerichtigkeit zu verleihen. Das dunkle Rätsel der Schuld soll auf diese Weise eine „gewaltsam“ gedeutete hermeneutische Sinnrichtung erhalten. Doch anstatt die „Schlußbemerkungen“ und somit den Roman mit dieser psychoanalytischen Aufklärung enden zu lassen, baut Perutz auch hier noch einmal „eine jähe Wendung“ (S. 196) ein. Er transferiert das psychologisch und juristisch gelöste Rätsel auf die Ebene eines poetologischen Metarätsels, indem er den fiktiven Herausgeber die Frage nach dem „Ursprung aller Kunst“ (S. 197) stellen lässt. Diese wiederum führt zurück zu „der wunderlichen Farbe Drommetenrot“ (S. 197), die als rätselhafte „Glut der Gesichte“ (S. 171) „dem Ende aller Dinge“ (S. 188) leuchtet – und damit an den Anfang des Romans. In einer horizontalen Bewegungsrichtung, einer ,Hermeneutik der Auflösung‘, nimmt Leo Perutz folglich eine „Dynamisierung und Auflösung fester Strukturen“18 vor, indem er in postmodernem Gestus die quest stets von neuem dekonstruiert. Auch wenn die eindeutige Lösung dieses (Rätsel-) „Spiel[s] mit Indizien“ (S. 197) durch neue Erzählrahmen und Verstehenshorizonte immer wieder aufgeschoben wird, bleibt die Idee einer Lösung präsent, ohne die der Roman als „Spannungsroman“ (ÄT, S. 129) nicht funktionieren könnte. Und obgleich das hermetisch-esoterische Geheimwissen des frühneuzeitlichen Alchimisten Salimbeni durch die Vernichtung des Rezepts seines vorletzten Opfers Solgrub nicht tradiert wird, scheint ein prinzipieller Zugriff nicht ausgeschlossen: „Aber ist es denn gewiß, daß jenes Pergament das einzige seiner Art gewesen ist?“ (S. 9). Zwar sind die hermeneutisch-alteritären und die heuristisch-ludistischen Rätselfunktionen bereits im Vorwort Zweifeln unterzogen. Letztere werden aber in der kriminalistischen Haupthandlung, die mit dem Strukturmodell des griphos spielt, alsbald fiktional überwunden. Auf eine Lösung – und sei sie auch noch so pseudorational wie die Infrarot-Theorie des Doktor Gorski – strebt die Erzähllogik des Endes zu.
18
Müller, Hans-Harald, „Drommetenrot!“ in: Perutz, Leo, Der Meister des Jüngsten Tages. Roman, München 52008, S. 200-207, hier: S. 207.
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Gleichwohl findet sich in Perutzʼ Rätselroman auch eine vertikale Denkbewegung, eine ,Hermeneutik der Erlösung‘: Diese scheint auf allen drei Erzählebenen unvermittelt und unerwartet in der Farbe Drommetenrot auf. Das ainigma wird in der gewaltigen Kraft dieser Farbe, die auf das Jüngste Gericht nicht verweist, sondern es in ihrem Erscheinen unmittelbar vollzieht,19 in seiner kosmogonisch-magischen Rätselfunktion erfahrbar. Und in der durch die Droge ausgelösten halluzinatorischen Begegnung mit Gesichtern, denen gegenüber sich der Phantasierende in (schuldiger) Verantwortung fühlt, bricht die ethischutopische Rätselfunktion ein. Sie arretiert für einen kurzen Moment die lösungsorientierte Linearität und narrative Erzähllogik des griphos. b.) ainigma: Rätsel und Antlitz, Gericht und Gesicht(e) Insofern kann der Meister des jüngsten Tages auch in einem zweiten Sinn als Rätselroman bezeichnet werden, nämlich als literarische Inszenierung des ainigma: Im halluzinierten Jüngsten Gericht wird das Rätsel zu Gesichten. Dessen Schatten bleibt selbst nach dem Erlöschen der „Glut der Gesichte“ (S. 171) als Spur erfahrbar: „Niemals mehr habʼ ich seit jenem Tag das grauenvolle Drommetenrot gesehen. Aber die Schatten sind da, sie kommen immer wieder, sie haben mich umstellt, sie greifen nach mir – werden sie niemals aus meinem Leben verschwinden?“ (S. 9). Und in den Gesichten, die wie eine Vorwegnahme von Emmanuel Lévinasʼ Kategorie des Antlitzes (frz. visage) erscheinen, das von einer unumkehrbaren Vergangenheit ausgeht und, indem es Besitz ergreift, Verwirrung (frz. dérangement) stiftet, vollzieht sich die „Spur des Anderen“20. Sie ist gerade nicht – wie im „Spiel mit den Indizien“ (S. 197) – detektivisch deduzierbar, sondern „zeichnet sich ab in dem Abdruck dessen, der seine Spur hat auslöschen wollen, etwa in der Absicht das perfekte Verbrechen zu begehen“.21 Wenn die Spur aber nur noch auf die Spur eines Verschwindens verweist, „zerbricht die Linearität der Deduktion, auf die jedes Beweisverfahren angewiesen ist, das sich auf Indizien stützt“.22 Ihr geht es weder um die Identifikation eines Verbrechers, also um die Frage, ob der Freiherr von Yosch am Tod Eugen Bischoffs schuldig ist oder nicht.23 Noch geht es ihr um die Rekonstruktion eines vergangenen, 19
Vgl. ebd., S. 200. Vgl. Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/ München 1983. 21 Ebd., S. 231. 22 Ebd., S. 78. 23 Auf die Parallelen der ,Spur‘ und des ,Anderen‘ bei Emmanuel Lévinas zum ,Symptom‘ und dem ,Unbewussten‘ bei Sigmund Freud verweist Birgit R. Erdle (Erdle, Birgit R., 20
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ursprünglichen Ereignisses, eines Kriminalfalls, sprich um die Herstellung einer kohärenten quest. Vielmehr wird in der Spur des Anderen Alterität erfahrbar, die das identitätslogische Denken in Frage stellt: „Die Nacktheit des Antlitzes, das mir entgegentritt, sich ausdrückt: Sie unterbricht die Ordnung“ (SA, S. 244). Und im Blick (frz. viser), der den Angeblickten heimsucht (,Heimsuchung‘: frz. visitation), kristallisiert sich dieses Antlitz (frz. visage) – hierzu noch einmal Franz Rosenzweig: Die Macht des Blicks aber vergeht nicht mit dem Augenblick. Ein Wort vergißt sich und soll vergessen werden, es will in der Antwort vergehen. Aber ein Blick erlischt nicht. Ein Auge, das uns einmal angeblickt hat, blickt auf uns, so lange wir leben.24
„Die Macht des Blicks“ ist es auch, die den Ich-Erzähler Yosch aus seiner wohl konstruierten Erzählordnung hinauswirft. Sie ängstigt und irritiert ihn, wogegen er selbstsuggestiv ankämpft: „Ich habe keinen Blick zu scheuen. Ich darf ruhig meinen Weg gehen, ich kann den Leuten ins Gesicht sehen so ruhig wie gestern, so ruhig wie alle Tage“ (S. 91).25 „Ein Auge, das uns einmal angeblickt hat, blickt auf uns, so lange wir leben“ (Franz Rosenzweig): Dies ist besonders dann der Fall, wenn die bei Emmanuel Lévinas genuin ethische Situation des VonAngesicht-zu-Angesicht mit existentiellen Grenzerfahrungen wie derjenigen des Todes einhergeht. Dem Blick des sterbenden Eugen Bischoff, von dem es schon zu dessen Lebzeiten heißt „Dieser Blick ist mir unbehaglich, ich weiß nicht recht warum“ (S. 25), kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu:
Antlitz – Mord – Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas, Wien 1994, S. 78 f.). 24 Rosenzweig, Franz, Der Stern der Erlösung, mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem [seitenidentisch mit der 1976 erschienenen vierten Auflage, die den Text der Erstausgabe aus dem Jahre 1921 unverändert wiedergibt], Frankfurt am Main 1988, S. 414 f. 25 Das Andere ist nicht zwingendermaßen an eine konkrete menschliche Physiognomie gebunden, sondern kann, wie Jacques Derrida Emmanuel Lévinas weiterdenkt (vgl. Derrida, Jacques, „Antlitz und erste Gewalt. Ein Gespräch über Phänomenologie und Ethik“, in: Spuren Nr. 20 (Sept. 1987), S. 29-34, hier: S. 32 f.), ebenso von einem Ding ausgehen. Der Anblick des anthropomorphisierten Revolvers löst im Meister des Jüngsten Tages den ersten physischen und psychischen Zusammenbruch des Ich-Erzählers aus, den er rückblickend als „Sinnestäuschung“ (S. 70) herunterzuspielen versucht: „Ich hörte das alles, aber ich war mit meinen Gedanken bei der dunklen Mündung des Revolvers, der auf dem Tische lag. Ich sah sie mit zwei großen, runden Augen in die meinen starren, sie kam näher und näher, sie wurde größer und größer, sie verschlang den Raum, ich sah nichts als sie allein“ (S. 69).
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Kapitel III: Rätsel und Antlitz Aber nur einen kurzen Augenblick trugen seine Züge jenen rätselhaften Ausdruck einer grenzenlosen Verwunderung. Dann verzerrten sie sich zu einer Grimasse wütenden Hasses. Und dieser Blick voll Haß blieb in seinem Gesicht, blieb auf mich geheftet und ließ mich nicht los. Mir galt dieser Blick, mir allein, und ich konnte ihn nicht deuten, ich begriff nicht, was er mir sagen sollte. Und ich verstand mich selbst nicht, es war mir unerklärlich, daß ich, einem Sterbenden gegenüberstehend, nicht Schrecken empfand, nicht Furcht und nicht Erschütterung, sondern nur ein leises Unbehagen vor seinem Blick und eine Scheu, mit dem Blutfleck auf dem Teppich in Berührung zu kommen, der größer und größer wurde. Doktor Gorski erhob sich. Eugen Bischoffs einst so bewegliches Gesicht war zu einer bleichen, starren, schweigenden Maske geworden. (S. 40)
„Das Antlitz ist exponiert, bedroht, als würde es uns zu einem Akt der Gewalt einladen“, heißt es bei Emmanuel Lévinas,26 „zugleich ist das Antlitz das, was uns verbietet zu töten“. Und: „Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann […]“27 – es „blickt auf uns, so lange wir leben“. So zieht der Blick Bischoffs den möglicherweise mitschuldigen Freiherrn noch in der Erinnerung an den verstorbenen Hofschauspieler zur Rechenschaft: „aber die starren Augen in dem fahlen, verzerrten Gesicht, die blieben, die wollten nicht verschwinden“ (S. 85). Die hier nur indirekt angedeutete Schuld wird bei dem Ingenieur Solgrub expliziert: Im russisch-japanischen Krieg hat der Deutschbalte am Fluss Munho fünfhundert Japaner durch Hochspannungsströme getötet und wird seitdem von den „verzerrten gelben Gesichtern“ heimgesucht:28 „So etwas bleibt, so etwas vergißt man nicht“ (S. 54). Dennoch behauptet Solgrub, dass deren „Entsetzen […] nichts gegen den Ausdruck auf Eugen Bischoffs Gesicht“ gewesen sei: „Er hat Angst gehabt, irrsinnige Angst, vor etwas, was uns verborgen ist“ und wenig später: „Sie müßten sein Gesicht gesehen haben, erklären läßt sich das nicht“ (S. 55). Solgrub, dem auf der Ebene der Kriminalhandlung die Rolle des mit der Methode der ratiocination („erraten“, „Schlüssel“, [m]ethodische Überlegung“, S. 147) ermittelnden Detektivs zukommt [vgl. Kap. A], verweist hier auf die alttestamentarische Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht: „,Sie standen einander gegenüber‘, sagte er langsam und sah mich dabei an. ,Augʼ in 26
Lévinas, Emmanuel, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, frz. Originaltitel: Éthique et Infini. Dialogues avec Philippe Nemo (1982), übersetzt v. Dorothea Schmidt, Wien 1996, S. 65. 27 Lévinas, Emmanuel, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, frz. Originaltitel: Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre (1991), übersetzt v. Frank Miething, München 1995, S. 66. 28 Die „Heimsuchung“ wird in der Binnengeschichte des Meisters Salimbeni explizit mit dem „Meister des Jüngsten Tages“ in Verbindung gebracht (S. 179).
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Augʼ standen sie, wie bei einem Duell.‘ Mich überlief es kalt, als ich ihn mit solcher Sicherheit, als wäre er dabei gewesen, von der Sache sprechen hörte“ (S. 57). Dass Solgrub sich später selbst nach Einnahme der Droge, der er sich als Rationalist zu widersetzen können hoffte, in seinem Jüngsten Gericht Augʼ in Augʼ mit seinen fünfhundert Opfern konfrontiert sieht, ist eine ironische, von dem Erzähler Yosch raffiniert erdachte Wendung des Romans. Ein Widerstand gegenüber der „Gewalt [d]er Gesichte“, so heißt es schon in der Binnengeschichte über den Meister der Jüngsten Tages, sei unmöglich: „Er ist verloren, denn die Gesichte der Nacht haben Gewalt über ihn bekommen“ (S. 178). Das Antlitz als „Spur des Anderen“ und „Gesichte der Nacht“ lässt sich, im Gegensatz zu dem „Spiel mit Indizien“, weder erzählerisch bewältigen noch „gewaltsam umdeuten“ (S. 197): Es geht als ainigma dem Logos voraus und bildet als „ferne Ahnung der großen Vision“ – als Erlösungsphantasma – womöglich den „Ursprung aller Kunst“ (S. 197). Die Farbe Drommetenrot und der „Rätselcharakter der Kunstwerke“ (Theodor W. Adorno) Die Farbe Drommetenrot, eine Wortschöpfung von Leo Perutz, hat über die posthum publizierte Ästhetische Theorie (1970) Theodor W. Adornos, der sich von dem „Spannungsroman“ Der Meister des Jüngsten Tages beeindruckt zeigt, Eingang in die Symboltheorien der Gegenwart genommen.29 In der Ästhetischen Theorie wird das Drommetenrot im Kontext des Nichtseienden angeführt: Ihr Telos haben die Kunstwerke an einer Sprache, deren Worte das Spektrum nicht kennt, die nicht von prästabilierter Allgemeinheit eingefangen sind. Ein bedeutender Spannungsroman von Leo Perutz handelt von der Farbe Drommetenrot; unkünstlerische Gattungen wie die science fiction hängen dem stoffgläubig und deshalb ohnmächtig an. Mag immer in den Kunstwerken das Nichtseiende jäh aufgehen, sie bemächtigen sich seiner nicht leibhaft mit einem Zauberschlag. Das Nichtseiende ist ihnen vermittelt durch die Bruchstücke des Seienden, die sie zur apparition versammeln. Nicht ist es an der Kunst, durch ihre Existenz darüber zu entscheiden, ob jenes erscheinende Nichtseiende als Erscheinendes doch existiert oder im Schein verharrt. (ÄT, S. 128 f.)
Adorno greift mit dem „Spektrum“ die pseudonaturwissenschaftliche Erklärung des Doktor Gorski auf („Vielleicht war das rätselhafte Drommetenrot jene außerhalb des Sonnenspektrums liegende, uns unsichtbare Farbe, die der Physiker das ,Infrarot‘ nennt“, S. 192). Zugleich transferiert er sie ins
29
Vgl. hierzu auch: Müller, Hans-Harald, „Drommetenrot!“, S. 200.
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Sprachphilosophische: Wie das Drommetenrot außerhalb der wahrnehmbaren Farbskala liege, so überschreite die Sprache des Kunstwerks die im Vorfeld im Allgemeinen verfestigte, bei Adorno meist pejorativ gebrauchte Kommunikation. Als „apparition“ – als Erscheinung, nicht als Abbild – seien Kunstwerke Bilder. Sie stellten den paradoxen Versuch dar, das Allerflüchtigste, das in der „apparition“ – Perutz würde sagen in der „Glut der Gesichte“ (S. 171) – kurzfristig aufleuchte, zu bannen. Dass dies nicht dauerhaft „mit einem Zauberschlag“ gelinge, da sich das „Nichtseiende“ immer wieder entziehe, macht Adorno unmissverständlich klar. Offen lässt er den ontologischen Status des Nichtseienden, der für die Kunst selbst, deren Aufgabe sich auf die Reflexion, nicht die Zitation des Nichtseienden ins Dasein beschränke, irrelevant sei (ÄT, S. 129). Entscheidend sei allein die, mit Adorno, „Sehnsucht nach der Erfüllung des Versprochenen“ (ÄT, S. 128) oder die, mit Perutz, „ferne Ahnung der großen Vision, die den Meister für eine kurze Weile über die Wirrnis seiner Schuld und Qual emporgetragen hat“ (S. 197): „Ob die Verheißung Täuschung ist“, heißt es bei Theodor W. Adorno im Zusammenhang mit dem Wahrheitsgehalt der Kunstwerke, „das ist das Rätsel“ (ÄT, S. 193). Mit dem auf mehreren Seiten (ÄT, S. 125-131) explizierten Begriff der „apparition“, der in der Ästhetischen Theorie im Perutzschen „Drommetenrot“ sein gleichnisartiges Rätsel-Bild findet [vgl. Kap. II.1], rekurriert Theodor W. Adorno auf ein Naturphänomen und nimmt so eine Analogiebildung zwischen dem Naturschönen und dem Kunstschönen vor: „Am nächsten kommt dem Kunstwerk als Erscheinung die apparition, die Himmelserscheinung“ (ÄT, S. 125). Prototypisch hierfür sei das Feuerwerk, das wiederum an das durch künstliche Drogen evozierte „ungeheure Feuerzeichen […] am Himmel“ (S. 177), an die Farbe Drommetenrot in Der Meister des Jüngsten Tages erinnert: Es ist apparition κατʼ ἐξοχήν: empirisch Erscheinendes, befreit von der Last der Empirie als einer der Dauer, Himmelszeichen und hergestellt in eins, Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen läßt. (ÄT, S. 125)
Über das „Enigmatische ihrer Sprache“ (ÄT, S. 114) sind bei Adorno das Naturund das Kunstschöne aufeinander bezogen. Schon zuvor beschreibt er das Naturschöne mit dem später für den „Rätselcharakter der Kunstwerke“ (ÄT, S. 182) proklamierten „Doppelcharakter“ im Begriffsfeld des Rätsels: „Wahrgenommen wird es ebenso als zwingend Verbindliches wie als Unverständliches, das seine Auflösung fragend erwartet“. Oder kurz darauf: „Es wächst an mit der allegorischen Intention, die es bekundet, ohne sie zu entschlüsseln“ (ÄT, S. 111). Unterschieden seien beide jedoch darin, dass Kunst die für die „apparition“ entscheidende Flüchtigkeit ins Bild banne und zudem das „Enigmatische in der Kunst sich reflektiere“. Kunstwerke näherten sich nämlich
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dem Begrifflichen an und verwischten die für das Naturschöne charakteristische „Spur des Nichtidentischen“ (ÄT, S. 114): So seien sie letztlich „neutralisierte und dadurch qualitativ veränderte Epiphanien“ (ÄT, S. 125). Der unablässige Versuch und dessen Scheitern, das ephemere Drommetenrot bildlich festzuhalten, wird in der Binnengeschichte über den Meister des Jüngsten Tages beschrieben, der mit einem Schlag „aus der Gewalt seiner Gesichte erlöst“ (S. 178) wird. Von da an malt er „verstörten Sinnes“, „aber wahrhaft groß in seinen Entwürfen“ „nur dieses eine, immer wieder das gleiche“, das Jüngste Gericht mit dem „Chor der Erlösten“ sowie den „vielgestaltigen Dämonen der Hölle und den feurigen Pfuhl“ (S. 179). Die Wirkung seines Bildes beschreibt der Ich-Erzähler Pompeo die Bene im Jahr 1532 wie folgt: „und das alles war mit solcher Wahrheit dargestellt, daß mich ein Schauer des Entsetzens überlief“ (S. 180). Mit der „Wahrheit“ und dem „Schauer“ sind bei Leo Perutz zwei Voraussetzungen für die ästhetische Erfahrung literarisiert, die Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie sowohl mit der „apparition“, den Gesichten, als auch mit dem Rätsel in Verbindung bringt. Wo „der Akzent auf das Unwirkliche ihrer eigenen Wirklichkeit fällt“, würden Kunstwerke zur Erscheinung eines Anderen und gingen mit dem „Gefühl des Überfallen-Werdens“ einher (ÄT, S. 123): „Insofern sind sie wahrhaft Nachbilder des vorweltlichen Schauers im Zeitalter der Vergegenständlichung“ (ÄT, S. 124). Die Kunstwerke objektivierten den Schauer, der, obgleich er vergangen sei, in deren Nachbildern überlebte. Indem sie den „in der magischen Vorwelt“ (ÄT, S. 124) inkommensurablen, erinnerten Schauer kommensurabel zu machen versuchten, oszillierten sie zwischen Schauer und Aufklärung. Von einem derartigen vorweltlichen Schauer, der im Roman von Leo Perutz allerdings inkommensurabel bleibt („Es war nicht Furcht oder Angst oder Grauen, es war tausendmal mehr als das, es war ein Gefühl, für das es keine Worte gibt!“, S. 191), berichtet der Ich-Erzähler Yosch nach der ,apparition‘ des Drommetenrots und erhält daraufhin die ,aufklärerische‘ Antwort des Doktor Gorski, der „manches verständlich“ (S. 190) zu machen bestrebt ist: Aber was Sie vorher als Furcht erlebt haben, war nur ein schwacher Widerschein eines Gefühls, das seit Jahrtausenden in uns erloschen ist. Die wahre Furcht, die echte Furcht, die Furcht, die den Urmenschen überfiel, wenn er aus dem Schein seines Feuers ins Dunkle trat, wenn aus den Sümpfen her der Schrei des Vorweltsauriers ertönte, die Urweltangst der einsamen Kreatur – keiner von uns Menschen kennt sie, keiner wäre fähig, sie zu ertragen. Aber der Nerv, der sie ins uns hervorzurufen vermag, ist nicht tot, er lebt […]. (S. 192)
Das Feuerwerk, abgeschwächt auch das Kunstwerk trifft diesen „Nerv“ und macht so Wahrheit, die bei Adorno eine Absenz gesellschaftlicher Herrschaft meint und sowohl dem Natur- als auch dem Kunstschönen eignet, ästhetisch
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erfahrbar. Einen derartigen „Wahrheitsgehalt“ (ÄT, S. 192/ 193) reklamiert Adorno auch für den „Rätselcharakter der Kunstwerke“, den er im zweiten Drittel seiner Ästhetischen Theorie näher ausführt und in Strukturanalogie zur ästhetischen Erfahrung setzt.30 Einerseits sei die ästhetische Erfahrung als eine Verschränkung von begriffsloser Versenkung (der außerkünstlerischen Erfahrung) und der Erfassung des geistigen Gehalts (der philosophischen Reflexion) stets durch den Rätselcharakter bedroht. Andererseits präformiere der Rätselcharakter sie und lasse die Frage, was Kunst sei, aber auch „Ist es denn wahr?“ (ÄT, S. 192) überhaupt erst aufkommen: In oberster Instanz sind die Kunstwerke rätselhaft nicht ihrer Komposition, sondern ihrem Wahrheitsgehalt nach. […]. Die letzte Auskunft diskursiven Denkens bleibt das Tabu über die Antwort. Als mimetisches sich Sträuben gegen das Tabu sucht Kunst die Antwort zu erteilen, und erteilt sie, als urteilslose, doch nicht; dadurch wird sie rätselhaft wie das Grauen der Vorwelt, das sich verwandelt, nicht verschwindet; alle Kunst bleibt dessen Seismogramm. (ÄT, S. 192 f.)
Da Kunst stets aporetisch die Lösung ihres unlösbaren Rätsels vorschlage, bezeichnet Adorno sie als „negative Epiphanie der Utopie“ (ÄT, S. 196). In der Kunst wie im Rätsel werde „die Antwort verschwiegen und durch die Struktur erzwungen“ (ÄT, S. 188), wobei der Rätselcharakter proportional zur Rationalität, nicht zur Irrationalität der Struktur zunehme: „je planvoller sie [die Kunstwerke] beherrscht werden, desto mehr gewinnt er [der Rätselcharakter] Relief“ (ÄT, S. 182). Die „immanente Logizität“, die „dem diskursiven Denken entgegen“ komme, dieses aber zugleich immer wieder enttäusche (ÄT, S. 205), lasse sich in denjenigen Kunstwerken am idealtypischsten aufzeigen, die ihre „konsequenzlogische Dimension“ der Mathematik entlehnten – und hier kann wiederum an den Versicherungsmathematiker Leo Perutz gedacht werden, dessen Romane in der Literaturwissenschaft, beinahe topisch, wegen ihrer (vermeintlich) lösungsorientierten quest als mathematisch präzise konstruiert beschrieben werden. Anders als die Mathematik wirke die Kunst dieser Konsequenzlogik jedoch zugleich entgegen, indem sie deren Lösungen eine viel größere Variationsbreite entgegensetze. Hierin sei sie der „Traumlogik“ verwandt, „in der ebenfalls das Gefühl des zwingend Folgerechten mit einem Moment von Zufälligkeit sich verbindet“ (ÄT, S. 206).31
30
Vgl. hierzu auch: Kleimann, Bernd, Der Rätselcharakter der Kunst: Untersuchungen zur einem Topos der philosophischen Ästhetik, Berlin/ Bern/ New York/ Paris/ Wien 1996, besonders: S. 77-138. 31 Besonders eindrücklich ist die Mischung aus Kausalität und Kontingenz im Handlungskonzept des späteren Romans Wohin rollst du Äpfelchen (1928) von Leo Perutz gestaltet, vgl. hierzu: Wohlleben, Doren, „Dramatische Phantasie. Handeln und Handlung bei Leo
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Theodor W. Adorno reklamiert in einem ersten Schritt für die Kunstwerke Logos und Lösung und subvertiert diese in einem zweiten Schritt: „Nicht minder strikt sind die Kunstwerke Rätsel. Sie enthalten potentiell die Lösung, nicht ist sie objektiv gesetzt“ (ÄT, S. 184). „Verstehen im obersten Sinn“ als „die Auflösung des Rätselcharakters“ (ÄT, S. 185) sei somit nur scheinbar möglich. Jede Hermeneutik der Auflösung – und dies erinnert stark an Walter Benjamins Fragment „Über das Rätsel und das Geheimnis“32 [vgl. Kap. I.4] – strebt bei Adorno einer Hermeneutik der Erlösung zu: Durchs Verstehen jedoch ist der Rätselcharakter nicht ausgelöscht. Noch das glücklich interpretierte Werk möchte weiterhin verstanden werden, als wartete es auf das lösende Wort, vor dem seine konstitutive Verdunkelung zerginge. Die Imagination der Kunstwerke ist das vollkommenste und trügerischste Surrogat des Verstehens, freilich auch eine Stufe dazu. (ÄT, S. 185)
Das Rätsel wird in Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie mehrfach als hermeneutische Grenzfigur markiert. Es ist die conditio sine qua non des Verstehens, das es zugleich an seine Grenzen führt: „Verstehen selbst ist angesichts des Rätselcharakters eine problematische Kategorie“ (ÄT, S. 184). Mittels „Verdunkelung“ (vgl. ainigma) konstituiert es das Kunstwerk und bleibt als Erlösungsphantasma auch dort bestehen, wo es bereits aufgeklärt worden zu sein scheint. Denn das „glücklich interpretierte Werk“ ist nicht dasjenige, das in einer endgültigen Antwort „ohne Rest“ (ÄT, S. 184) aufgeht und so zum Stillstand kommt. Vielmehr „wartet“ es in einem utopischen Richtungsnehmen weiterhin auf das „lösende Wort“, von dem her es sich stets neu bestimmt. Als Metapher für den dynamischen Wechselbezug zwischen personifiziertem Kunstwerk und Betrachter steht bei Theodor W. Adorno, wie schon bei Franz Rosenzweig und Emmanuel Lévinas [vgl. Kap. III.1], der menschliche Blick: „der leere und fragende Blick ist von der Erfahrung und Deutung der Werke aufzunehmen“ (ÄT, S. 183) oder, noch prägnanter: „Das Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Unlösbarkeit angeben: der Blick, mit dem die Kunstwerke den Betrachter anschauen“ (ÄT, S. 185). Rätsel und Antlitz werden auch hier in der „Glut der Gesichte“, in der apparition des Kunstwerks, zusammengedacht. Sie deuten auf das, was geschaut, angeschaut, vorausgeschaut, aber niemals durchschaut werden kann: auf das zweite Gesicht [vgl. Kap. III.4].
Perutz und Hermann Broch“, in: Bartram, Graham; Lützeler, Paul Michael (Hg.), Hermann Brochs ,Die Schlafwandler‘, Tübingen 2012, S. 51-66. 32 Benjamin, Walter, „Über das Rätsel und das Geheimnis“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI: Fragmente vermischten Inhalts, Autobiographische Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 21986, S. 17 f.
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Das zweite Gesicht: Glühende Rätsel und lyrische Schattenworte bei Nelly Sachs
Hermetik und Enigmatik in der modernen Lyrik – Nelly Sachsʼ Gedichtzyklen Glühende Rätsel (1962-66) – Gedicht I.1 (Diese Nacht) – Exkurs: Das „Nichts“ als enigmatischer „Urpunkt“ – Gedicht I.5 (Lichterhelle) – Gedicht I.24 (Der verhexte Wald) – Die „Zeichen eingerätselt“ in Nelly Sachs’ szenischer Dichtung Beryll sieht in der Nacht (1962) Theodor W. Adorno erklärt in seiner Ästhetischen Theorie (1970) die „Abdichtung des Kunstwerks gegen die empirische Realität“ zum „ausdrücklichen Programm […] in der hermetischen Dichtung“ (ÄT, S. 475)1 und führt Paul Celan (1920-1970) als den „bedeutendsten Repräsentanten hermetischer Dichtung der zeitgenössischen deutschen Lyrik“ (ÄT, S. 477) an. Zwar stellt er bezogen auf die „Gebilde von Qualität“ gleich zu Beginn die „Frage […], wieweit sie tatsächlich hermetisch sind“ und beruft sich auf eine Bemerkung Peter Szondis, der vor einer Ineinssetzung von „Abgeschlossenheit“ mit „Unverständlichkeit“ warnt (ÄT, S. 475). Auf den von ihm hier indirekt geleugneten Vorwurf der Unverständlichkeit geht Adorno aber nicht näher ein. Stattdessen nimmt er im Kontext seiner negativen Dialektik die „Kommunikation“ in den Blick, eine „pseudowissenschaftliche Ideologie“, gegen die Kunst „durch den Schock“ angehen müsse: „Kunst ihrerseits ist integer einzig, wo sie bei der Kommunikation nicht mitspielt“ (ÄT, S. 476). Diese Kommunikationslosigkeit, die offensichtlich keine Unverständlichkeit meint, sei bei Paul Celan bis zum „Verschweigen“ gesteigert, durch die der „Wahrheitsgehalt“ der Kunst „ein Negatives“ werde (ÄT, S. 477). Ausdruck fände er in einer „Sprache des Leblosen“, „des Toten von Stein und Stern“: Denn Paul Celan transportiere – und hier sei an Hermann Brochs Gesichtsmetamorphosen erinnert [vgl. Kap. III.2] – „die Entgegenständlichung der Landschaft, die sie Anorganischem nähert, in sprachliche Vorgänge“ (ÄT, S. 477). Diese enge Assoziation von Hermetik mit moderner Lyrik ist ein im Folgenden zu hinterfragender Topos, der die Literaturgeschichten seit Mitte der fünfziger Jahre bestimmt.
1
Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 2003. Die Seitenangaben werden nach dieser Ausgabe mit dem Kürzel ÄT direkt im Fließtext angeführt.
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Hermetik und Enigmatik in der modernen Lyrik Die „Dunkelheit“, so Hugo Friedrich in seiner 1956 erschienenen, stetig erfolgreichen und bis heute immer wieder neu aufgelegten literaturwissenschaftlichen Monographie Die Struktur der modernen Lyrik, sei „zum vorherrschenden ästhetischen Prinzip“ der Lyrik der Moderne geworden. Diese nötige „die Sprache zu der paradoxen Aufgabe, einen Sinn gleichzeitig auszusagen wie zu verbergen“.2 In der Überschrift seines dem modernen italienischen Lyriker Giuseppe Ungaretti gewidmeten Kapitels3 parallelisiert der Romanist Dunkelheit (lt. obscuritas) mit dem von ihm – noch distanzierend – in einfache Anführungsstriche gesetzten ,Hermetismus‘. Letzteren beschreibt er als „festen Begriff der [dreißig Jahre zuvor in Italien aufkommenden] Kritik“, „die damit einen Wesenszug modernen Dichtens akzeptiert hat“.4 Den Begriff des Hermetismus, der sich in der Renaissance auf zwei Offenbarungsquellen, erstens die heilige Schrift sowie zweitens die Natur als Buch bezog [vgl. Kap. II.2], expliziert Gerhard Kurz in seinem grundlegenden Aufsatz „Hermetismus. Zur Verwendung und Funktion eines literaturtheoretischen Begriffs nach 1945“ wie folgt: Der säkularisierte, metaphorische und der moderne ,exmetaphorische‘ Gebrauch von ,hermetisch‘ bzw. ,Hermetismus‘ zielt daher auf mehr als auf eine geheime, verschlüsselte, dunkle, daher prinzipiell entschlüsselbare, erhellbare Bedeutung. Ein hermetischer Text wäre dann ein Text, der auf eine Bedeutung verweist, aber jeden Versuch, sie zu fassen, abprallen läßt.5
Akzeptanz fand diese Terminologie allerdings, was Hugo Friedrich noch nicht thematisiert, worauf Gerhard Kurz aber ausdrücklich hinweist, sehr viel stärker auf Seiten der Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker als auf Seiten der Literaten: Letztere verwehrten sich stets – allen voran der vermeintlich hierfür paradigmatische Paul Celan6 – einer Zuweisung ihrer Werke zum Hermetismus,
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Friedrich, Hugo, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts (Erstauflage: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Reinbek bei Hamburg 1956), Reinbek bei Hamburg (Neuausgabe) 2006, S. 178. 3 Ebd., S. 178-182. 4 Ebd., S. 180. 5 Kurz, Gerhard, „Hermetismus. Zur Verwendung und Funktion eines literaturtheoretischen Begriffs nach 1945“, in: Kaminski, Nicola; Drügh, Heinz J.; Herrmann, Michael (Hg.), unter Mitarbeit von Andreas Beck, Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace, Tübingen 2002, S. 179-197, hier: S. 182. 6 Vgl. hierzu z. B. das Kapitel „Anti-realistische Lyrik: Die hermetische Lyrik Eichs und Celans“ in: Lamping, Dieter, Das lyrische Gedicht. Definitionen zur Theorie und
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wie sie in der philosophischen Hermeneutik, nicht zuletzt von Hans Georg Gadamer,7 vorgenommen wurde. Gerhard Kurz konnte aufzeigen, dass auch in den literarischen und kulturellen Zeitschriften nach 1945 eine ästhetische Verwendung der Begriffe ,hermetisch‘, bzw. ,Hermetismus‘ kaum stattfand, wohingegen „verwandte Begriffe wie Verrätselung, Dunkelheit, Verschlüsselung, Geheimnis, Aussparung, Askese, Chiffre, Hieroglyphe, Magie“8 gehäuft vorkamen. Obgleich bei diesen „verwandte[n] Begriffen“ das Wortfeld ,Rätsel‘ das dominanteste ist, bleibt in der Literaturwissenschaft dessen Fruchtbarmachung aus. So führt es auch Hugo Friedrich in seinem Sachregister – anders als das ,Geheimnis‘ [vgl. Kap. I.4] – kein einziges Mal an. Doch weshalb ist das Rätsel als terminus technicus im literaturwissenschaftlichen Diskurs dermaßen selten verbreitet? Es bleibt dort offensichtlich bis heute – im Gegensatz zur literarischen Verwendung, die mit Einbruch der Moderne eng an die ainigma-Tradition anknüpft – stark an zwei (früh-) neuzeitliche Kriterien gebunden, die seit der Jahrhundertwende nicht mehr operabel sind: an das heuristische Konzept der Lösbarkeit sowie an das hermeneutische Ideal der Verständlichkeit und Übersetzbarkeit, kurzum an die vierte und fünfte Rätselfunktion [Kap. I.4]. Beispielhaft aufzeigen lässt sich dies an einem Aufsatz von Gotthart Wunberg, der den Begriff der ,Enigmatik‘ (bei ihm in der alten Rechtschreibform „Änigmatik“) literaturwissenschaftlich gebraucht und als Bindeglied zwischen ,Hermetik‘ und ,Aphasie‘, in konzeptioneller Nähe zu Theodor W.
Geschichte der Gattung, Göttingen 1989, S. 236-245 oder das Kapitel „Hermetische Lyrik: Paul Celan, Ernst Meister“ in: Barner, Wilfried (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage, München 2006, S. 217-222. Gegen eine hermetische Lesart im Horizont einer philosophischen Hermeneutik wandte sich jüngst wieder Gerhard Buhr: Buhr, Gerhard, „Zu Gadamers Gespräch mit Gedichten Paul Celans“, in: Dutt, Carsten (Hg.), Gadamers philosophische Hermeneutik und die Literaturwissenschaft, Heidelberg 2012, S. 285-304. 7 Hans Georg Gadamer charakterisiert Celans Gedichte als „hermetisch verschlüsselt“, vgl. z. B. Gadamer, Hans Georg, „Wer bin ich und wer bist Du?“ Kommentar zu Celans Gedichtfolge ,Atemkristall‘“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9: Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug, Tübingen 1993, S. 383-451, hier: S. 383. 8 Untersucht wurden die Zeitschriften Der Ruf, Horizont, März, Die Literatur, Neue Literarische Welt, Wort in der Zeit, Karussell, Das Lot, Die Horen, Lyrische Hefte, Sinn und Form, Text und Zeichen, Neue Deutsche Hefte, Die Wandlung, Neue Rundschau, Frankfurter Hefte, Merkur und Akzente. Vgl. hierzu: Kurz, Gerhard, „Hermetismus. Zur Verwendung und Funktion eines literaturtheoretischen Begriffs nach 1945“, in: Kaminski, Nicola; Drügh, Heinz J.; Herrmann, Michael (Hg.), unter Mitarbeit von Andreas Beck, Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace, Tübingen 2002, S. 179-197, hier: S. 182 f.
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Adorno [vgl. Kap. III.3], sogar im Titel führt.9 Obgleich er mit dem Terminus ,Änigmatik‘ explizit auf das ainigma rekurriert, wird dieses mit Charaktermerkmalen des griphos be- und überschrieben: Die Aufkündigung eines auf äußere Abbildbarkeit zielenden Mimesis-Gebotes führt notwendig in den Bereich der Hermetik. Nur noch der Konstrukteur des hermetischen, also abgeschlossenen, verriegelten Gebäudes selbst besitzt allenfalls den Schlüssel für die poetische Architektur, die er entworfen hat. […]. In diesem Tatbestand gewinnt der hermetische Text der Lyrik seit der Jahrhundertwende bereits änigmatischen Charakter; er wird also zum Rätsel. Nur noch der Erfinder des Rätsels ,Text‘ kennt auch die Auflösung. Er wird sie – wenn überhaupt – separat mitteilen (so T.S. Eliot zum „Waste Land“, 1922); sie ist nicht Bestandteil des Textes. Sie wird es erst im Vollzug des Verstehens, das die Lösungsangebote einbeziehen muß, um Unverständlichkeit zu verhindern. Immerhin tendiert der Rätselcharakter von Kunst noch auf ein Publikum, das dieses Rätsel löst, und hat damit noch einen gewissen Öffentlichkeitscharakter […].10
Auffällig ist, dass der „hermetische Text“ sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch perspektiviert wird: Einerseits scheinen allein der „Konstrukteur“ und „Erfinder“ noch im Besitz des „Schlüssel[s]“ zu sein, andererseits ist dieser nur „im Vollzug des Verstehens“ erwerbbar. Dass es überhaupt einen hermeneutischen „Schlüssel“ gibt, der dem hermetisch-esoterischen Konzept ja zunächst zuwiderläuft [vgl. Kap. I.4, Funktion (2)], wird bei diesem 1989 erstmals publizierten Aufsatz11 ebenso wenig angezweifelt wie die potentielle Lösbarkeit des Rätsels durch ein öffentliches und somit generalisiertes „Publikum“. Der angeblich „kategoriale Unterschied zwischen Hermetik und Änigmatik“, nämlich dass der Hermetiker dem Konsens einiger weniger folgt, denen er zugehört, und deshalb auch akzeptiert, daß diese wenigen die clavis hermetica zu dem verschlossenen Gebäude besitzen; während der Änigmatiker die Lösung des Rätsels ,Text‘ den Vermutungen potentiell aller überläßt12
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Vgl. das Kapitel „Hermetik – Änigmatik – Aphasie. Thesen zur Unverständlichkeit der Lyrik in der Moderne“ in: Wunberg, Gotthart, Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Zum 70. Geburtstag des Autors herausgegeben von Stephan Dietrich, Tübingen 2001, S. 46-54. 10 Ebd., S. 50. 11 Der Aufsatz von Gotthart Wunberg ist zuerst erschienen unter dem Titel „Hermetik – Änigmatik – Aphasie. Zur Lyrik der Moderne“ in: Borchmeyer, Dieter (Hg.), Poetik und Geschichte. Victor Žmegač zum 60. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 241-249. 12 Gotthart, Wunberg, Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne, S. 50.
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ist bei Wunberg de facto nur ein gradueller: Verhält sich der Hermetiker tendenziell esoterisch, so der Enigmatiker exoterisch. Im Hintergrund einer derartigen Argumentation steht jedoch nach wie vor das beiden gemeinsame Dechiffrierungsverfahren: Der Text wird als kommunikative Mitteilung aufgefasst, die der Rezipient entschlüsseln soll. Er ist primär Informationsträger, seine Funktion beschränkt sich auf die Ver- und Entschlüsselung dieser Information. Rätseltheoretisch wird diese Position durch Alfred Schönfeldt vertreten, der die Rätsellösung als „Bestätigung“ dafür sieht, „dass die Bedingungen für diese Kommunikation eingehalten worden sind, d.h. dass die Kommunikation stattgefunden hat“.13 Auch Schönfeldt reduziert den Rätseltext auf „eine einzige Funktion“, „nämlich einen Begriff oder ein Wort als Text so zu verschlüsseln, daß einem anderen die Entschlüsselung möglich ist“,14 wobei der Text selbst, sobald die Decodierung geglückt ist, an Relevanz verliert. Dialogisch ist das Rätsel nur insofern, als es einer Antwortlogik gehorcht, der sich ein anderer stellen soll und muss. Ist die „clavis hermetica“ gefunden, kommt der Dialog zum Stillstand. Wird sie nicht gefunden, ist der Interpret durch die Kategorienzuweisung zur Hermetik seiner Deutungspflicht enthoben und somit ebenfalls aus dem Gespräch entlassen. Zurecht mahnt Wilfried Barner, obzwar er selbst nach wie vor eine problematische Zuordnung Paul Celans zur hermetischen Lyrik vornimmt, in seiner Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart: „So ist im Terminus ,hermetische Lyrik‘ auch ein Stück Bequemlichkeit und vielleicht sogar die Weigerung gelegen, über die Bedingungen neuerer Lyrik näher nachzudenken, zu denen u.a. gehört, daß die Sprache bereit ist, ,durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten hindurchzugehen‘“15. Mit dem Zitat aus Paul Celans Büchner-Preisrede (1960) deutet Barner an, dass die „Antwortlosigkeiten“ nicht zwangsläufig das Scheitern eines Dialogs zur Schau stellen, sondern vielmehr zu einer anderen literaturwissenschaftlichen ,Methode‘ („hindurchzugehen“) auffordern. Dieser neue Weg könnte dem Dia- des Logos eher gerecht werden als eine allein auf eine sichere Antwort fixierte Fragelogik. Denn letztere verharrt in einem identitätslogischen – mit Franz Rosenzweig ,alten‘ [vgl. Kap. III.1] – Denken, indem sie letztlich immer nur auf sich selbst verweist: „Auf die Frage nach dem Wesen gibt es nur tautologische Antworten. Gott ist nur göttlich, der Mensch nur menschlich, die Welt nur weltlich; man kann so tiefe Schächte in sie
13 Schönfeldt, Alfred, „Zur Analyse des Rätsels“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 97, Heft 1 (1978), S. 60-73, hier: S. 66. 14 Ebd., S. 69. 15 Barner, Wilfried (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage, München 2006, S. 218.
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vortreiben, wie man will, man findet immer nur wieder sie selber“.16 Ein, nochmals Rosenzweig, ,Sprachdenken‘ [vgl. Kap. III.1], das sich prozessual (in der Zeit) und relational (im Zwischen) konstituiert, steht einem Hermetismus entgegen: Dieser zielt nämlich entweder auf eine spezifische, esoterische Lösung, die dem Gespräch, unabhängig vom Dialogpartner, präexistent ist, oder bricht den Lösungsfindungsprozess mit dem Verweis auf die Unlösbarkeit radikal ab. Hermetisch – Rosenzweig gebraucht diesen Begriff nicht, bedient sich aber ähnlicher Metaphern („verbirgt“, „verschließt“) – erscheinen Gott, der Mensch und die Welt dann, wenn sie sich ihrer dynamischen Beziehungen untereinander nicht mehr bewusst sind: „Gott selber, wenn wir ihn begreifen wollen, verbirgt sich, der Mensch, unser Selbst, verschließt sich, die Welt wird zum sichtbaren Rätsel. Nur in ihren Beziehungen, nur in Schöpfung, Offenbarung, Erlösung, tun sie sich auf“.17 Nelly Sachsʼ Gedichtzyklen Glühende Rätsel (1962-66) Eine Poetik, die zwischen dem Geheimnis der (Wort-) Schöpfung, der Offenbarung und der Erlösung verläuft, letzere aber nicht ontologisch, sondern sprachdenkerisch, mit Rosenzweig: grammatisch zu fassen versucht, durchzieht das gesamte Werk der deutsch-jüdischen, 1966 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Schriftstellerin Nelly Sachs (1891-1970). In der bis heute eher spärlichen Sekundärliteratur18 findet gerade in jüngerer Zeit vereinzelt das an Franz Rosenzweig und Emmanuel Lévinas erinnernde dialogische Prinzip ihrer Lyrik Erwähnung.19 Doch überwiegend wird sie entweder, so in der Forschung bis
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Rosenzweig, Franz, „Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung“, in: ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. 3: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, S. 139-161, hier: S. 145. 17 Ebd., S. 150. 18 Vgl. hierzu: Braun, Michael, „Phasen, Probleme und Perspektiven der Nelly-SachsRezeption. Forschungsbericht und Bibliographie“, in: Kessler, Michael; Wertheimer, Jürgen (Hg.), Nelly Sachs. Neue Interpretationen, Tübingen 1994, S. 375-393. Zu einer aktuelleren Bibliographie (mit Schwerpunkt auf den Glühenden Rätseln) vgl. auch: Schauerte, Gesine, „Glühende Rätsel äugen sich an“. Nelly Sachs und Heinz Holliger, Heidelberg 2007, S. 857-872. 19 Erdle, Birgit R., „,sagen‘ war verboten. Sprache, Gewalt und Alterität bei Nelly Sachs“, in: Kessler, Michael; Wertheimer, Jürgen (Hg.), Nelly Sachs. Neue Interpretationen, S. 69-75 sowie Schauerte, Gesine, „Glühende Rätsel äugen sich an“. Nelly Sachs und Heinz Holliger, S. 105-145.
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1970,20 in der jüdischen Mystik verortet oder ist, seit 1970, in linguistischsemantischen oder stilistisch-motivischen Untersuchungen vor dem Horizont einer Dechiffrierungstheorie gelesen worden: als „ein Geheimsystem von Verschlüsselungen und assoziativen Verweisungen mit werkimmanentem Emblemcharakter“.21 Im ersten Fall wird die Lyrik von Nelly Sachs auf ein sich jedem hermeneutischen Zugriff entziehendes mystisches ,Schweigen‘22 reduziert, das der Interpret, indem er es repetiert und nicht selten als „hermetisch“23 kategorisiert, seiner Deutungspflicht enthebt [vgl. Kap. I.4, Funktion (2)]. Im zweiten Fall dient die Suche nach werkimmanenten ,Schlüsselmotiven‘ und „privaten Chiffren“24 einer die Einzellektüre vernachlässigenden Decodierung, die, mit Franz Rosenzweig, das „in Erfahrung Gebrachte“ durch „schlagworthafte Bezeichnung“ „auf dem Friedhof [d]er Allgemeinbildung beisetz[t]“.25 Einen eleganten Mittelweg schlug schon 1963 Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) ein, der seit 1960 die Herausgabe des Werkes von Nelly Sachs bei Suhrkamp betreute. Neben Alfred Andersch, dessen Hörspielfassung von Eli 1958 produziert wurde, Horst Bienek, Hilde Domin, Peter Hamm und Karl Krolow machte er in Deutschland auf die 1940 dank der Unterstützung Selma Lagerlöfs nach Schweden emigrierte und in dortigen Zeitschriften bereits seit den fünfziger Jahren präsente Lyrikerin aufmerksam. Im Nachwort seiner Gedichtauswahl wählt Enzensberger das Rätsel zur poetologischen Leitkategorie. Seine Überlegungen lässt Enzensberger in den Gedichtanfang „Diese Kette von Rätseln/ Um den Hals der Nacht gelegt“ (KA II, 149) münden, der zugleich als Motto ihres Gesamtwerks gelten könnte. Er spielt mit der Kategorie des „offenbaren Geheimnisses“, das er gerade nicht in seiner mystisch-hermetischen, sondern vielmehr in seiner alteritären Dimension wahrnimmt: Sie [Nelly Sachs] tritt ein für die andern und deren Sache; aus ihrem Mund spricht mehr als sie selbst. Jene Sache ist aber namenlos, nicht ausgemacht. Damit hat das
20 Vgl. hierzu auch Kessler, Michael; Wertheimer, Jürgen, „Vorwort“, in: dies. (Hg.), Nelly Sachs. Neue Interpretationen, S. IX-XVIII. 21 Kersten, Paul, Die Metaphorik in der Lyrik von Nelly Sachs. Mit einer WortKonkordanz und einer Nelly Sachs-Bibliographie, Hamburg 1970, S. 236. 22 Zur Poetik des Schweigens vgl. zuletzt: Martin, Elaine, Nelly Sachs. The Poetics of Silence and the Limits of Representation, Berlin/ Boston 2011. 23 Bermann, Russell A., „,Der begrabenen Blitze Wohnstatt‘: Trennung, Heimkehr und Sehnsucht in der Lyrik von Nelly Sachs“, in: Grimm, Gunter E.; Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.), Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, Königstein/Ts. 1985, S. 280-292, hier: S. 280. 24 Vaerst, Christa, Dichtungs- und Sprachreflexion im Werk von Nelly Sachs, Frankfurt am Main/ Bern/ Las Vegas 1977, S. 161. 25 Rosenzweig, Franz, „Das neue Denken“, S. 160.
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Geheimnis dieses Werkes zu tun, das stets, mit Gottes Wort, ein offenbares Geheimnis ist, ohne Vergleich mit Mystifikation und trüber Tiefe. Von solcher Art sind die Gedichte der Nelly Sachs: hart, aber durchsichtig. Sie lösen sich nicht in der Lauge der Deutungen auf. Leicht, auf Anhieb, sind sie nicht zu lesen. Daß sie schwierig sei, pflegt man der modernen Poesie insgesamt und gleichsam unbesehen nachzusagen, und zwar gern im Ton des Vorwurfs, als läge es nur an den Autoren, ein wenig entgegenkommender sich auszudrücken. Darüber wird leicht vergessen, wo die Schwierigkeit liegt. Bei Nelly Sachs ist sie niemals technischer Herkunft; sie hat weder Verfremdung noch Kalkül im Sinn, ihre Poesie ist weder Codeschrift noch Vexierbild; wir haben es hier mit Rätseln zu tun, die in ihrer Lösung nicht aufgehen, sondern einen Rest behalten – und auf diesen Rest kommt es an. Da kommt Interpretation leicht zu früh. Das Werk fordert vom Leser weniger Scharfsinn als Bescheidenheit; es will nicht dingfest gemacht, nicht übersetzt sein, sondern geduldig und genau erfahren werden. Nicht, was es bedeutet, wäre also hier zu sagen; wir können uns allenfalls Hinweise, Vorschläge erlauben, um die Lektüre auf den Weg – auf einen möglichen Weg – zu bringen.26
Hans Magnus Enzensberger grenzt sich implizit gegen Vorwürfe ab, die seit Heraklit [vgl. Kap. I.2] im Zusammenhang mit dem ,dunklen Sprechen‘ und dem ,Rätsel‘ immer wieder vorgebracht wurden: - gegen die Gleichsetzung des schon von Nikolaus von Kues im Kontext einer aenigmatica scientia reflektierten „offenbare[n] Geheimnis[ses]“ [vgl. Kap. II.1] mit nur artifiziell erzeugtem metaphysischem Tiefsinn („trübe Tiefe“), und, wie er kurz zuvor schrieb, „exklusiv[em]“ Hermetismus - gegen den an die dunklen Dichter, nicht Philosophen, gerichteten „Vorwurf“, ihre Unverständlichkeit beruhe auf grammatikalischem Unvermögen („technischer Herkunft“) oder gar rhetorischem „Kalkül“, um sich vom gemeinen Volk abzuheben - gegen eine Chiffrierungstheorie („Codeschrift“), die den lyrischen Schreibprozess im Rückgriff auf ein allzu schlichtes Kommunikationsmodell auf eine bloß heuristisch-ludistische Funktion [vgl. Kap. I.4, Funktion (5)] reduziert - sowie gegen einen hermeneutischen Gewaltakt, der in einer Antwortlogik Ergebnisse „dingfest“ zu machen versucht („was es bedeutet“), indem er die lyrische Ausdruckweise in eine scharfsinnige Wissenschaftssprache „übersetzt“ und damit annulliert.
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Enzensberger, Hans Magnus, „Nachwort“, in: Sachs, Nelly, Ausgewählte Gedichte, hg. v. Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1963, S. 85-92, hier: S. 85 f.
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Stattdessen skizziert Enzensberger einen Rätselbegriff, der die ainigma-Tradition in die Poetik moderner Lyrik hinein fortschreibt, ohne sich auf den bequemen Standpunkt einer hermetischen Feststellung zurückzuziehen: Denn nicht die „Lösung“ sei entscheidend, sondern der „Weg“ dorthin, also die enigmatische ,Methode‘ selbst [vgl. Kap. II.1]. Und diese werde nicht nur intellektuell vollzogen, er-dacht, sondern in einer beinahe an religiöse Demut gemahnende „Bescheidenheit“ – und hier kann die kosmogonisch-magische Rätselfunktion in Erinnerung gerufen werden [vgl. Kap. I.1, I.4 sowie Kap. B (Nizami)] – „geduldig und genau erfahren“. Einen derartigen „möglichen Weg“ beschreitet auch das poetologisch programmatische Eröffnungsgedicht von Nelly Sachsʼ vierteiligem Gedicht-Zyklus Glühende Rätsel, dessen erster Zyklus 1963 von Hans Magnus Enzensberger zusammengestellt worden ist. Der letzte wurde in die Sammlung Suche nach Lebenden aufgenommen, die das mit Nelly Sachs befreundete Ehepaar Holmquist im Jahr nach ihrem Tod herausgab. Entstanden sind die Gedichte alle zwischen 1962 und 1966, in einer instabilen Lebensphase, in der Nelly Sachs unter schweren Angstzuständen litt und mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken verbrachte. In diese Zeit fiel auch der enge Kontakt mit dem Dichter und Kritiker Gunnar Ekelöf (1907-1968), dessen Gedichte Sachs bereits seit 1947 für Zeitschriften und Anthologien ins Deutsche übersetzt hatte und in einer Auswahl in dem Band Poesie 1962 zusammenstellte. Die vier Gedichtkränze gelten als der Höhe- und Wendepunkt ihres Werkes: Der prophetische Tonfall der unter dem intensiven Eindruck jüdischer Mystik stehenden kosmischexpansiven Gedichte der frühen fünfziger Jahre weicht nun einem Stil, der mit scheinbar schlichten Mitteln den Übergang in eine andere, enigmatische Welt weist. Diese Welt liegt zumeist im Dunkeln, wobei die Dunkelheit (lt. obscuritas) nicht ausschließlich negativ konnotiert ist, sondern den Funken für das Glühen der Rätsel immer schon enthält. Gedicht I.1 (Diese Nacht) So auch im ersten, im Frühjahr 1962 entstanden Gedicht der Glühenden Rätsel (KA II, 153-185),27, das Nelly Sachs im September desselben Jahres in einer Bleistiftkopie dem schwedischen Dichter, Kritiker und damaligen Feuilletonchef von Dagens Nyheter, Olof Lagercrantz und seiner Frau Martina widmet (KA II, 155):
27
Sachs, Nelly, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden (KA), hg. v. Aris Fioretos, Bd. II: Gedichte. 1951-1970, hg. v. Ariane Huml und Matthias Weichelt, Berlin 2010, S. 155. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden direkt im Fließtext zitiert mit Bandangabe in römischen Zahlen und Seitenzahl.
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Diese Nacht ging ich eine dunkle Nebenstraße um die Ecke Da legte sich mein Schatten in meinen Arm Dieses ermüdete Kleidungsstück wollte getragen werden und die Farbe Nichts sprach mich an: Du bist jenseits!
Als Phase der Übergänge und Verwandlungen von Wirklichkeiten ist die „Nacht“ für Nelly Sachs zentral (vgl. Kommentar in KA II, 352) und in weiteren Gedichten28 sowie Prosafragmenten29 titelgebend. Doch geht es hier nicht um die Nacht im Allgemeinen, sondern um eine spezifische Nacht, die in einem deiktischen Verweis vermeintlich konkret bezeichnet wird („Diese“). Im zweiten Vers meldet sich das lyrische Ich zu Wort, das diesen demonstrativen Gestus vollzogen hat und sich auf dem Weg befindet („ging“), auf einem Seiten-, vielleicht auch Abweg („Nebenstraße“). Identifiziert und zugleich unkenntlich gemacht wird diese unbestimmte („eine“) Straße durch das Attribut ,dunkel‘, das die obscuritas-Metaphorik der Nacht erneut aufgreift. Die „Nebenstraße“ gibt nur vermeintlich die zielorientierte Bewegungsrichtung des lyrischen Ich vor, das im dritten Vers „um die Ecke“ geht, also einen neuen Weg einschlägt. Die ersten drei Verse, die sich weder syntaktisch noch metrisch von einem Prosasatz unterscheiden, geben allein durch die Enjambements sowie ihren fehlende Interpunktion am Satzende ihre Poetizität preis.30 Der Leser vollzieht im Zeilenumbruch die Wegbiegungen des lyrischen Ich mit, kommt aber zu keinem Schlusspunkt. Die „Nebenstraße“ ist nicht nur „dunkel“, sondern führt das lyrische Ich zusammen mit dem Leser letztlich in das zeichenlose Nichts. Durch eine Majuskel setzt sich der im vierten Vers anhebende zweite Satz vom unpunktierten ersten ab. Er bringt eine neue Dynamik, indem er ein plötzliches Ereignis („Da“) schildert, das zu einer Surrealisierung des bislang Beschriebenen führt: Ein „Schatten“, der sich zunächst in den Bildbereich der obscuritas fügt, taucht auf. Indirekt verweist der hier dem lyrischen Ich zugehörige Schatten („mein“) auf eine im Gedicht nicht explizierte Lichtquelle und initiiert ein Kippspiel zwischen Realem und Imaginärem: Er irrealisiert das
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z. B. die Gedichte „Du in der Nacht“, KA II, 122 (in Fahrt ins Staublose) und „Nacht der Nächte“, KA II, 149 (in Noch feiert Tod das Leben). 29 z. B. Briefe aus der Nacht (KA IV, 36-59). 30 Vgl. hierzu auch Schauerte, Gesine, „Glühende Rätsel äugen sich an“. Nelly Sachs und Heinz Holliger, S. 157.
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Reale, indem er als Handlungssubjekt auftritt („legte sich“) und das lyrische Ich, das bei seinem Spaziergang durch die „Nebenstraße“ zunächst noch realgegenständlich vorgestellt werden konnte, in eine eigentümliche Passivität versetzt. Zugleich ermöglicht der in der lichtzentrierten europäischen Geistesgeschichte häufig mit Negativität und Defizienz konnotierte Schatten [vgl. Kap. A] überhaupt erst den Übergang in eine imaginäre Positivität, in das „Jenseits“ des letzten Verses. Der ,Schatten‘, etymologisch verwandt mit dem ,Dunklen‘ (altgriech. σκοτεινόϛ), heißt im Altgriechischen σκιά, was auch ,Spur‘ meint [vgl. auch Kap. I.2]. Diese imaginäre Spur führt zirkulär zum lyrischen Ich zurück, dessen „Arm“ der Flucht- und Zielpunkt des Schattens ist. Der Vers „in meinen Arm“ (V. 5) bildet die Mitte und zugleich den ruhenden Schwerpunkt des Gedichts. Erneut wird auf Interpunktion verzichtet, ins Offene und Leere gestellt. Im dritten, ebenfalls durch eine Majuskel abgesetzten Satz wird dieses irreale Handlungssubjekt verdinglicht („Kleidungsstück“) und auf die realgegenständliche Vorstellungsebene zurückgeholt, zugleich aber durch eine Personifikation („ermüdet“) wieder verfremdet: „Dieses ermüdete Kleidungsstück“ (V. 6). Es erlangt durch die Demetaphorisierung (,Kleidung tragen‘) einen Eigensinn: „wollte getragen werden“ (V. 7). Der Schatten erscheint als schutzbedürftig, fordert diesen Schutz vom lyrischen Ich allerdings aktiv ein. Beide verweisen im paradoxen Wechselspiel von Handlungsträger und ,Getragenem‘ aufeinander und heben sich – im dreifachen Hegelschen Sinne – zugleich auf. In dieser Situation widerfährt dem Ich eine Du-Anrede, die den Handlungsdialog zwischen Ich und Schatten unterbricht: Die „Farbe Nichts“ erhebt das Wort und ändert abrupt die Sinnrichtung von der Horizontalen in die Vertikale: „Du bist jenseits!“ (V. 9). Die hermeneutische (Denk-) Bewegung des Gedichts gleicht der eines ainigma: Sie beginnt im Finsteren, gerät auf Nebenwege, denkt um die Ecke, gelangt aber in der Horizontalen an keinen Zielpunkt. In der Begegnung mit dem Anderen wird sie in einem zirkulären Kreisschluss auf sich selbst zurückgeworfen, dabei einem steten Auflösungsprozess und einer Verunsicherung des Ich durch das Andere unterzogen, bis dann im Gestus einer vertikal gerichteten Offenbarung im Verweis auf das Jenseits die Erlösung folgt: Durch Kursivierung und Markierung mit einem Exklamationszeichen hebt sich diese letzte Aussage von allen anderen ab. So entsteht eine Differenz zwischen dem ,Sagen‘ (der direkten Du-Anrede) und dem ,Gesagten‘ (der bisherigen Aussageform des Gedichts). Der poetologische Weg führt über die Hermeneutik der Auflösung hin zu der einer Erlösung. Mit Emmanuel Lévinas:31 Die „Ordnung verwirrende Andersheit“ wird literarisch durch die anachronistische „Dazwischenkunft“ eines
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Zu Analogien der Poetik von Nelly Sachs mit der Ethik von Emmanuel Lévinas vgl.: Erdle, Birgit R., „,sagen‘ war verboten. Sprache, Gewalt und Alterität bei Nelly Sachs“, S. 69-75.
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Fremden – bei Sachs zunächst die Erscheinung des Schattens, dann die der sprechenden Farbe Nichts – inszeniert. Dieser bricht mit der Ordnung32 und verweist wie das Rätsel auf „die Transzendenz selbst, die Nähe des Anderen als eines Anderen“,33 auf „die Weise des Absoluten“,34 die losgelöst ist von jeglicher Verstandesordnung: „Du bist Jenseits!“. Das Gedicht wurde in der Forschungsliteratur philosophiehistorisch verortet, wobei die Querverbindungen zu Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883-85), darin erneut das Kapitel Vom Gesicht und Räthsel [vgl. Kap. III.1],35 sowie zur jüdischen Mystik, insbesondere dem Buch Sohar aus der spanischen Kabbala des 13. Jahrhunderts,36 Eckpunkte des interpretatorischen Spannungsfeldes bildeten. Sprachrhythmisch und atmosphärisch erinnert das erste Gedicht der Glühenden Rätsel an das Kapitel Vom Gesicht und Räthsel aus Friedrich Nietzsches Zarathustra, wo das Ich ebenfalls einen Weg durch die Dunkelheit zurücklegt: „Düster ging ich jüngst durch leichenfarbene Dämmerung“ (KSA 4, 198).37 Auch kommt es zu einer Konfrontation des Ich mit dem Anderen, zu einem Kräftemessen, bei Nietzsche nicht in der Gestalt eines Schattens, sondern in derjenigen eines Zwerges. Schon dort spielt das Motiv des Tragens, diesmal eines „abgründlichen Gedanken[s]“, eine Rolle: „Halt! Zwerg! sprach ich. Ich! Oder du! Ich aber bin der Stärkere von uns Beiden –: du kennst meinen abgründlichen Gedanken nicht! De n – könntest du nicht tragen!“ (KSA 4, 199). Die Vereinigung von Ich und alter ego, die bei Nelly Sachs in der Geste der Umarmung stattfindet, bleibt bei Nietzsche allerdings aus: Hier springt der Zwerg von der Schulter, hockt sich am „Thorweg“ als Gegenüber des Ich auf einen Stein und lässt das Ich letztlich alleine zurück: „Wohin war jetzt Zwerg?“ (KSA 4, 201). Nietzsches (Er-) Lösungsangebot durch Lachen [vgl. Kap. III.1] ist bei
32 Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani, München 1983, S. 249. 33 Ebd., S. 254. 34 Ebd., S. 255. 35 Vgl. hierzu: Delbrück, Hansgerd, „Nelly Sachs und das Mitleid. Der Zyklus Glühende Rätsel vor der Folie von Nietzsches Geburt der Tragödie und Ovids Metamorphosen“, in: Kessler, Michael; Wertheimer, Jürgen (Hg.), Nelly Sachs. Neue Interpretationen, S. 93-108, besonders: S. 94 f. 36 Zu der mystischen Tradition in Nelly Sachsʼ Werk vgl.: Bahr, Ehrhard, Nelly Sachs, München 1980, S. 87-97 (Kap. „Jüdische Mystik: Chassidismus und Kabbala“); Michel, Peter, Mystische und literarische Quellen in der Dichtung von Nelly Sachs, Freiburg i. Br. 1981; Schauerte, Gesine, „Glühende Rätsel äugen sich an“. Nelly Sachs und Heinz Holliger, S. 53-145 sowie die dort angegebene Forschungsliteratur. 37 Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 82002. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden mit Band- und Seitenangabe direkt im Fließtext zitiert.
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Kapitel III: Rätsel und Antlitz
Sachs genauso wenig zu finden wie das gleißende Licht, in dem Zarathustra am Ende erstrahlt: „Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt“ (KSA 4, 408). Im Rätselgedicht von Nelly Sachs glüht am Schluss keine aufgehende Morgensonne, die das Dunkel hinter sich lässt. Vielmehr erscheint die aus der Finsternis geborene „Farbe Nichts“. Dieses Sachssche Nichts hat, wie die Gewandmetapher („Kleidungsstück“), die das kabbalistische Motiv des Zelem in Erinnerung ruft,38 seine Wurzeln in der jüdischen Mystik. Auf sie wurde Nelly Sachs über Gershom Scholems Geheimnisse der Schöpfung (1935) aufmerksam, der darin das erste Kapitel des Sohar übersetzt hatte. Sachs hat die Kabbala nie systematisch oder gar terminologisch in Poesie übertragen. Vielmehr machte sie diese in einer Analogisierung des mystischen Schöpfungsprozesses mit dem dichterischen Schaffensprozess poetologisch fruchtbar und wählte sie als „Urpunkt“ (vgl. Kommentar, GW IV, 542-544) für ihren persönlichen, auf die Erlösung hin perspektivierten Leidensweg. In einem Brief an Erik Lindegren (1910-1968) vom 30.7.1963 schreibt sie: „Sie [die Sohargedichte] waren wieder in eine andere innere Dimension versetzt worden. Mein Verstand ist so arm, daß ich nicht alles aufgreifen kann, was der Buchstabe sagt – ich muß es umwandeln auf meine Weise, durch tiefe Erlebnisse im Leiden kam ich dorthin“.39 Die Erfahrung, dass die jüdische Mystik nicht als intellektuelles Rätsel gelöst, sondern nur prozessual – und darin dem ,neuen Denken‘ Franz Rosenzweigs nicht unähnlich [vgl. Kap. III.1] – anverwandelt und erlitten werden kann, wird zu einem poetologischen Kerngedanken ihrer Lyrik. In dem 1961 geschriebenen Gedicht „Diese Kette von Rätseln“ (KA II, 149 f.) heißt es in der letzten Strophe: denn es muß ausgelitten werden das Lesbare und Sterben gelernt im Geduldigsein –
38
Auf die Verbindung der Gewandmetapher zum kabbalistischen Motiv des Zelems wurde in der Forschungsliteratur vielfach hingewiesen: Er wird im Sohar als ein präexistentes himmlisches Gewand vorgestellt, mit dem die Seele, in ihrem vorgeburtlichen paradiesischen Dasein bekleidet sei. Vgl. hierzu: Schauerte, Gesine, „Glühende Rätsel äugen sich an“. Nelly Sachs und Heinz Holliger, S. 173. 39 Briefe der Nelly Sachs, hg. v. Ruth Dinesen und Helmut Müssener, Frankfurt am Main 1984, S. 294.
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Exkurs: Die „Farbe Nichts“ als enigmatischer „Urpunkt“ Auf diesem Leidens- und Lektüreweg ist das „Nichts“, dessen „Farbe“ im ersten Rätselgedicht in einem synästhetischen Akt „sprach“, kein statischer End-, sondern ein dynamischer Anfangspunkt: „Nichts – eine Sucht nach Etwas“,40 zitiert Sachs, in ihrem ungefähr zwei Jahre vor den Glühenden Rätseln verfassten fragmentarischen „Urpunkt. Notizen für ,Wendepunkt‘“ (KA IV, 88-92) gleich im ersten Satz den christlichen Mystiker Jakob Böhme (1547-1624), mit dem sie sich in ihrer Krise zu Beginn der sechziger Jahre intensiv beschäftigte.41 In Gershom Scholems Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1967) wird das Nichts als etwas beschrieben, aus dem „alles entsprungen, keine bloße Negation, nur von uns aus entzieht es sich allen Bestimmungen, weil es der intellektuellen Erkenntnis entrückt ist, ein Nichts voll mystischer Fülle, wenn auch in keinen menschlichen Bestimmungen fassbar“.42 Verschärft findet sich der Gedanke eines initiativen Nichts, das – gegenläufig zur negativen Theologie, gegenläufig auch zu einem existentialistischen Nihilismus – überhaupt erst zum Etwas führt, im ersten Buch (Kap. 14-19) von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1925) [vgl. Kap. III.1]. Rosenzweig rekurriert vor der kontrastiven Folie von Nietzsches „Atheismus“43 explizit auf Ekhart, Böhme und Schelling (SE, S. 28) sowie die jüdische Mystik, geht aber über diese hinaus, indem er sich von deren Konzeption eines „,dunkle[n] Grund[s]“ sowie der eines „irgend mit […] Worten Benennbares“ (S. 28) abgrenzt. Denn das Nichts „ist nicht im Anfang [Kursivierung D. W.]“ – sonst müsste es bejaht werden können –, sondern „ist nur der virtuelle Ort für den Anfang unsres Wissens“ (SE, S. 28). In Anlehnung an Hermann Cohen gründet Rosenzweig einen „neuen Begriff des Nichts“: Anstelle des „einen und allgemeinen Nichts, das gleich der Null wirklich nichts weiter sein durfte als ,nichts‘“ setzt er „das besondere Nichts, das
40
Böhme, Jakob, Mysterium Pansophicum oder Gründlicher Bericht von dem Irdischen und Himmlischen Mysterio (1620), in: ders., Sämtliche Schriften, Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730, hg. v. Will-Erich Peuckert, Stuttgart 1957, Bd. 4, 1. Text. Vgl. auch Kommentar, KA IV, 545. 41 Vgl. hierzu: Ostmeier, Dorothee, Sprache des Dramas – Drama der Sprache. Zur Poetik der Nelly Sachs, Tübingen 1997, S. 91-99. 42 Scholem, Gershom, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main 1967, S. 27. 43 Über Nietzsche schreibt Rosenzweig: „Der erste wirkliche Mensch unter den Philosophen war auch der erste, der Gott von Angesicht zu Angesicht sah – wenn auch nur, um ihn zu leugnen. Denn jener Satz ist die erste philosophische Gottesleugnung, in der Gott nicht mit der Welt unlöslich verbunden ist“ (Rosenzweig, Franz, Der Stern der Erlösung (SE), mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem, Frankfurt am Main 1988, S. 20 f. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden mit Seitenzahlangabe direkt im Fließtext zitiert.).
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fruchtbar in die Wirklichkeiten“ bricht (SE, S. 23). Er geht mit Cohen davon aus, „daß dem Denken, wenn es auszog, um ,rein zu erzeugen‘, nicht das Sein entgegentrat, sondern – Nichts“ (S. 24). Dieses Nichts wird bei Rosenzweig zum dynamischen ,Prinzip‘ (lt. principium: ,Anfang‘) seines ,neuen Denkens‘. Es ergänzt komplementär das bei ihm statisch gedachte Sein: Together with the Sein of philosophy, Nichts is the fundamental principle of Rosenzweig’s new thinking. In contrast to Sein, it is particular rather than general, contingent rather than necessary, and active rather than passive. If it were not for nothing there would only be static, eternal concepts. With nothing there is a vital world of concrete living entities that change and have options, move and are free.44
Auch dem „Nichts“ von Nelly Sachs eignet ein initiatives Moment, und es wird dem Sein vorausgesetzt (vgl. SE, S. 22): Doch ist es bei Sachs, die hier ganz in kabbalistischer Tradition steht, nicht, wie bei Rosenzweig, die „Mathematik“, die diesen „Gang aber von einem Nichts zu seinem Etwas“ (SE, S. 22) vollzieht, sondern der sprachschöpferische Akt des Benennens: „Das Unbenannte“, heißt es im „Urpunkt“, „hat keine Kraft darum: Ich werde sein – der heilige Name aus dem – Nichts – (Sohar) Erste Sefira das Hervortreten aus dem Ungrund – eigentlich nur ein Ruck aus dem Nichts Aura das tiefste aller Lichter“ (KA IV, 89). Durch das Stilmittel der Synästhesie verbindet Sachs das „Nichts“ in ihrem Rätselgedicht sowohl mit der „Farbe“, die wiederum an die Hell-DunkelMetaphorik des Schattens anschließt, als auch mit dem Sprech-, vielleicht auch Schöpfungsakt („sprach“), der an ein konkretes Du adressiert ist („mich an“). In ihren „Notizen für den ,Wendepunkt‘“ kommt Nelly Sachs kurz nach dem Böhme-Zitat („Nichts – eine Sucht nach Etwas“) auf die Farben zu sprechen: Denn das Feuer ist aller Farben Zusammenfassung darin keine besteht als die weiße (Glast v.G. Maj. [Glanz von Göttlicher Majestät; D. W.]) Die schwarze Farbe gehört nicht ins Mysterium – ist der Deckel der Finsternis darin alles verborgen ist. […]. Finsternis ist ein schwarzes Feuer – stark in der Farbe – ein rotes Feuer, stark in der Erscheinung – ein grünes Feuer – stark in der Form – ein weißes Feuer – das
44
Samuelson, Norbert M., “The Concept of ‘Nichts’ in Rosenzweig’s Star of Redemption”, in: Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich, Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886-1929), Internationaler Kongreß – Kassel 1986, Bd. II: Das neue Denken und seine Dimensionen, Freiburg/ München 1988, S. 643-656, hier: S. 655 f.
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ist die Farbe die alles umfaßt. Finsternis ist das stärkste aller Feuer. […]. (KA IV, 88)
Das Bild vom schwarzen und weißen Feuer,45 das möglicherweise auch in die Metaphorik der ,glühenden Rätsel‘ mit hinein spielt, geht – wie Gershom Scholem, den Nelly Sachs explizit zitiert (KA IV, 91), herausgearbeitet hat – auf Rabbi Isaak zurück, einen Kabbalisten des späten 13. oder frühen 14. Jahrhunderts: Die Gestalt der schriftlichen Tora habe die Farbe des weißen Feuers, die Form der mündlichen Tora die des schwarzen Feuers. Dahinter steht das talmudische Postulat von der unendlichen Bedeutungsfülle der Tora, die als präexistente Schrift vor der Schöpfung gedacht wird: und zwar in Form einer Tätowierung (schwarzes Feuer) auf dem Körper Gottes (weißes Feuer), weshalb die Leerstellen (weißes Feuer) – das Nichts zwischen den Zeichen – als kostbarer angesehen werden als die schwarzen Lettern selbst.46 Das Wesen des weißen Lichts, der Raum der letztere umgibt, wird mit dem Strahlen verglichen, das vom göttlichen Gewand ausgeht (vgl. Ps. 104,2: „Wer sich mit Licht wie mit einem Gewand kleidet“). Nelly Sachs durchkreuzt eine solche Schwarz-WeißMetaphorik, indem sie diese in der „Farbe Nichts“ auflöst, die sowohl mit absoluter Helle als auch mit absoluter Dunkelheit assoziiert werden kann. In einer handschriftlichen Zeichnung von Nelly Sachs, die vermutlich während ihrer Arbeit an der dramatischen Szene Beryll sieht in der Nacht (1962) entstanden ist, steht oben mittig „Farbe Nichts“ und rechts davon, leicht nach unten versetzt, „Offenbarung“. In der zweiten und dritten Zeile folgen, ebenfalls zentriert und durch eine Schlangenlinie verbunden, „weiß Auffahrt“ sowie „blau Himmel“ – die Notiz endet in der siebten und achten Zeile mit „rot Feuer“ sowie „Nacht Kaos“.47 Interessant ist, dass auch bei dieser Skizze das „Nichts“ oben und am Anfang steht und eine durch die Schlangenlinie visualisierte Dynamik nach unten, hin zur „Nacht“ initiiert. Es ist nicht Letztes, sondern Erstes: „Sprungbrett“48 zum neuen Denken, dass in der Du-Anrede performativ vollzogen wird.
45
Vgl. Hierzu: Idel, Moshe, „,Schwarzes Feuer auf weißem Feuerʻ. Text und Lektüre in der jüdischen Tradition“, in: Assmann, Aleida (Hg.), Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 29-45. 46 Vgl. hierzu auch: Assmann, Aleida, „Einleitung“, in: dies. (Hg.), Texte und Lektüren, S. 7-26, hier: S. 20. 47 Fioretos, Aris, Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/ Stockholm 2010, S. 164, Abb. 8, zweites Blatt. 48 Rosenzweig, Franz, Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, herausgegeben und eingeleitet von Nahum Norbert Glatzer, Düsseldorf 1964, S. 71.
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Gedicht I.5 (Lichterhelle) In einem weiteren im September 1962 entstandenen Gedicht, dem fünften des ersten Zyklus der Glühenden Rätsel (KA II, 156), findet eine gegenläufige Bewegungsdynamik zum ersten Gedicht statt: Die vertikal vorstellbare Hermeneutik der Erlösung geht hier über in eine horizontal gerichtete Hermeneutik der Auflösung, wobei das „Verstehn“ selbst auf den hermeneutischen Prüfstand gestellt wird: Lichterhelle kehrt ein in den dunklen Vers weht mit der Fahne Verstehn Ich soll im Grauen suchen gehen Finden ist woanders –
Der erste Vers des vierzeiligen Gedichts hebt an mit der offenbarungsphilosophischen Erleuchtungsmetaphorik und endet im „dunklen Vers“, im ainigma. Letzteres scheint zunächst aufgeklärt zu sein durch die „Lichterhelle“, die einkehrt: Diese Einkehr kann als eine Wiederkehr, vielleicht auch Heimkehr oder gar Heimsuchung des einst dem dunklen Vers innewohnenden Lichts verstanden werden, aber auch als eine neue Verinnerlichung dessen, was zuvor draußen, „woanders“ war. Im zweiten Vers erscheint die Metapher einer wehenden „Fahne“, die ihre Dynamik von der „Lichterhelle“ erhält. Diese Fahne wird mit „Verstehn“ bezeichnet, das im ursprünglichen Manuskript noch durch Anführungszeichen abgesetzt ist (vgl. Kommentar, KA II, 354). Die gehisste Fahne dient gemeinhin zur Identifikation, als von weither sichtbar eindeutiges Zeichen. So ist der hier gänzlich entpersonalisierte hermeneutische Prozess am Schluss der ersten Gedichthälfte zu einem vorläufigen Endpunkt gelangt; der Akt des Bezeichnens scheint abgeschlossen. Zu Beginn des dritten Verses kommt dann jedoch ein in Majuskel geschriebenes „Ich“ ins Spiel. Und dieses Ich ist alles andere als am Ziel: Es ist, wie schon im ersten Gedicht, im „[G]ehen“ begriffen, auf der Suche: „Ich soll im Grauen suchen gehen“. Im Zwischenbereich von Schwarz und Weiß, von Dunkel und Hell, im ,fahlen Dämmerlicht‘ (lt. obscuritas) [vgl. Kap. I.2] geht diese Suche vonstatten, die offensichtlich nicht in Eigeninitiative, sondern in Form eines moralischen Imperativs geschieht: „soll“. Doch hat sie kein Ziel vor Augen. Die quest (lt. quaerere: ,suchen, fragen‘) kommt an kein Ende, findet im Hier und Jetzt keine Antwort: „Finden ist woanders –“ (V. 4). Auch diesmal endet das Gedicht mit einer Hinwendung zur, mit Lévinas, „Weise des Absoluten“49 – zuvor zum „Jenseits“, jetzt zum „[W]oanders“. Die Bewegungsrichtung geht diesmal allerdings nicht von oben nach unten, sondern setzt sich horizontal ins
49
Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen, S. 255.
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Unendliche fort. Bei „Du bist Jenseits!“ unterstrich das bei Nelly Sachs äußerst seltene50 Exklamationszeichen die neue, feste Situierung des Ich („bist“) an einem anderen Ort, an einem Ort des Anderen. Der lediglich von Leere gefolgte Gedankenstrich am Ende dieses Gedichts weist hingegen auf die Unabschließbarkeit des Deutungsprozesses, auf eine Hermeneutik der Auflösung. Nicht mehr das Ich, sondern das „Finden“ selbst ist nun Handlungssubjekt. Die enigmatische Methode, die aenigmatica scientia [vgl. Kap. II.1 sowie die Schlussüberlegungen], wird in einer unentwegt gleitenden Suche performativ vor Augen geführt. Gedicht I.24 (Im verhexten Wald) Dem ebenfalls im September 1962 verfassten vierundzwanzigsten Rätselgedicht des ersten Zyklus (KA II, 160 f.) kommt eine besondere Bedeutung zu, da es im vierten Vers die Wendung „glühende Rätsel“ enthält, die für alle vier Zyklen titelgebend ist. Das Rätsel wird in Beziehung gesetzt zur Spur („Fußspuren“), zum wechselseitigen Blick („äugen sich an“) und zu Gesichten („das zweite Gesicht“): Im verhexten Wald mit der abgeschälten Rinde des Daseins wo Fußspuren bluten glühende Rätsel äugen sich an fangen Mitteilungen auf aus Grabkammern – Hinter ihnen das zweite Gesicht erscheint Der Geheimbund ist geschlossen –
Im Vergleich zur Bewegungsdynamik der beiden anderen Gedichte erscheint dieses Gedicht eigentümlich statisch. Vor der Epiphanie des „zweite[n] Gesicht[s]“, die, wie der Einbruch der „Farbe Nichts“ (KA II, 155), als eine vertikale Stoßrichtung vorstellbar ist, findet lediglich eine zaghafte dialogische Pendelbewegung („äugen sich an“/ „fangen Mitteilungen auf“) der Rätsel untereinander statt. Ein Ich tritt nicht auf, stattdessen agieren die Rätsel selbst.
50
Lediglich ein anderes Gedicht der Zyklen, das Gedicht Diese Jahrtausende (KA II, 183 f.), weist bei einem Hilferuf („H i l f e !“, KA II, 184) ein Exklamationszeichen auf, vgl. zur Interpunktion in den Glühenden Rätseln: Delbrück, Hansgerd, „Nelly Sachs und das Mitleid“, S. 104.
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Situiert wird das Gedicht gleich zu Beginn „[i]m verhexten Wald“ (V. 1), der die Welt der Zauber- und Rätselmärchen heraufbeschwört. Der Wald, Bereich des Zwielichtigen, Dunklen, ist durch Magie in einen anderen Zustand versetzt: „verhext“. Dieser abgesonderte Bezirk des Walds wird im zweiten Vers aufgenommen und gebrochen zugleich: Die „Rinde“ greift den Bildbereich des Walds wieder auf, das Genitivobjekt „des Daseins“ führt jedoch ins AbstraktPhilosophische über ihn hinaus und verlässt die Märchenwelt. Durch das Adjektiv „abgeschält“ wird ein menschlicher Eingriff suggeriert, der eine Nutzbarmachung des Walds, vielleicht auch dessen existentielle Gefährdung nach sich zieht. Denn ohne die vor der Umwelt schützenden Rinde ist ein Baum nicht überlebensfähig. Diese lebensbedrohliche Gefahrensituation wird durch das Verb „bluten“ im dritten Vers intensiviert. Die Rede ist von „Fußspuren“, die durch ihr Blut offenbar auch auf eine Schmerzensspur hindeuten. Leidens- und Lektüreweg werden ineinander übergeführt, hieß es doch schon in dem Gedicht „Eine Kette von Rätseln“: „denn es muß ausgelitten werden/ das Lesbare“ (KA II, 150). Jede Spur, so Emmanuel Lévinas in seinem Werk Die Spur des Anderen, in dem er ,Spur‘ und ,Rätsel‘ zusammen denkt, ist Zeichen von etwas, das es zugleich verbirgt.51 Doch die Spur ist bei Nelly Sachs mehr als bloß Zeichen: Ihr Blut verweist auf das Leben und zugleich auf den Tod. Die präsentische Verbform „bluten“ beschreibt den Akt des Spurenlegens nicht als etwas Vergangenes, sondern als gegenwärtigen, andauernden Prozess, der weniger interpretiert als – in der Gedichtform und ihrer Lektüre – (aufge-)lesen werden will. So schreibt Nelly Sachs in einem Brief an Carl Seelig vom 1. Oktober 1946: „Aber es muss doch eine Stimme erklingen und einer muss doch die blutigen Fußspuren Israels aus dem Sande sammeln und sie der Menschheit aufweisen können. Nicht nur in Protokollform!“.52 Gleich ob man die Spur, wie in dem Briefauszug, auf die historische Situation des jüdischen Volkes, auf die Märchen „Aschenputtel“ oder „Dornröschen“ der Brüder Grimm (vgl. Kommentar KA II, 358 f.), auf den antiken Mythos von Apoll und Daphne53 oder die christliche Passionsgeschichte bezieht (1. Petrus 2, V. 21/ 24),54 entscheidend ist weniger, wohin die intertextuellen Spuren führen, als dass sie als textuelle Spuren zwischen Leben und Tod verlaufen. Die existentiell gefährliche Halslöserätsel-Situation wird im folgenden Vers evoziert: „glühende Rätsel
51
Lévinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen, S. 236-260. Zitiert nach: Schauerte, Gesine, „Glühende Rätsel äugen sich an“. Nelly Sachs und Heinz Holliger, S. 238. 53 Zu den vermuteten Bezügen von Nelly Sachs zu Ovids Metamorphosen vgl. Delbrück, Hansgerd, „Nelly Sachs und das Mitleid“. 54 Vgl. hierzu Schauerte, Gesine, „Glühende Rätsel äugen sich an“. Nelly Sachs und Heinz Holliger, S. 238. 52
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äugen sich an“ (V. 4). Die Glut steht am Anfang oder am Ende des Feuers, im Zwischenstadium von neuem Aufflammen und endgültigem Erlöschen. Hier kommt es zum eigentlichen Ereignis (,ereignen‘ als neuere Form von ,eräugen‘55), zum wechselseitigen Äugen der Rätsel, die bis in die metrische Struktur hinein dialogisch aufeinander verweisen.56 Das ,Äugen‘, das ein oft von kritischer Distanz oder Skepsis geprägtes ,suchendes Blicken‘ bezeichnet, bezieht sich in einem laut Grimm ursprünglicheren Sinn auch auf den Spürhund, der die Spur zeigt.57 Doch gibt es bei Sachs keinen Jäger und Gejagten, keinen Rätselsteller und Rätselbeantworter. In einem reziproken Blickwechsel verweist das eine – bei Nelly Sachs personifizierte – Rätsel immer schon auf das andere und umgekehrt. Der nonverbale (Blick-) Austausch schlägt im folgenden Vers durch den funktechnischen Begriff der „Mitteilungen“ zunächst in ein auf Sender und Empfänger reduziertes Kommunikationsmodell um: „fangen Mitteilungen auf“ (V. 5). Mitteilungen sind gemeinhin untereinander teil- und vermittelbar und stellen so, anders als das Rätsel, einen hermeneutischen Idealfall dar. Letzterer wird im nächsten Vers mit dem Verweis auf deren Herkunft jedoch irritiert: „aus Grabkammern –“ (V. 6). Weder die Mitteilung selbst noch der Mitteilende, sondern allein der Ort des Mitteilens findet Erwähnung, ein Ort, der als Schutzraum der Toten dient: Sie sollen von dort aus in ein anderes Leben übertreten, senden zuvor aber offenbar Zeichen an die Nach- und Überlebenden. Dieser für Lebendige unbetretbare Raum des Übergangs führt nach einem Gedankenstrich, der – möglicherweise als Brücke – ins weiße Nichts verweist, und einer Leerzeile zur zweiten, mit einer Majuskel beginnenden Strophe, die das Bisherige transzendiert und einen neuen metaphysischen Raum öffnet: „Hinter ihnen“ (V. 7). Der Blick wird, wie bei der „Farbe Nichts“ (KA II, 155), ins Vertikale zu einer Erscheinung gerichtet, die mit „das zweite Gesicht“ (V. 8) benannt ist. Das zweite Gesicht, die Vision, transzendiert das erste Gesicht, das bloß (physiognomische) Phänomen, und gilt als Rätselerscheinung [vgl. auch Kap. III.1/ III.3]. Es hat die Fähigkeit, Ereignisse zu sehen, die an einem entfernten Ort, „[w]oanders“ (KA II, 156), oder zu einer anderen Zeit stattfinden. Oft wird es – Friedrich Nietzsches Vom Gesicht und Räthsel aus Also sprach Zarathustra ist dafür nur ein Beispiel unter vielen [vgl. Kap. III.1] – mit der glühenden Morgensonne oder dem blitzenden Feuer in Verbindung gebracht
55
Vgl. hierzu das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm: „desto häufiger herrscht das verderbte ereignen für eräugen, eräugnen, ereugen, ereugnen, und der gedanke an auge ist uns dabei entfremdet“ (Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, 1. Bd., Leipzig 1854, Sp. 801). 56 Dasselbe metrische Kolon wird nach einer Zäsur noch einmal wiederholt, kann also als Echo oder Antwort verstanden werden: ´x v v ´x x I ´x v v ´x, vgl. hierzu auch Schauerte, Gesine, „Glühende Rätsel äugen sich an“. Nelly Sachs und Heinz Holliger, S. 239 (dort Fußnote 1120) sowie S. 240 (dort Fußnote 1129). 57 Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, 1. Bd., Sp. 802.
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[vgl. auch III.3]. Auch führt das zweite Gesicht (das Rätsel – mit Lévinas: das Transzendente, das ,Sagen‘) zu einer Enigmatisierung des ersten (dem Phänomen – dem Immanenten, dem ,Gesagten‘). Mitunter kann es sogar zu einer Re-Vision des bislang Gesichteten führen. Wie ein Resultat mutet zunächst der letzte Vers des Gedichts an, der einen, bis auf den fehlenden Schlusspunkt, syntaktisch vollständigen Satz umfasst: „Der Geheimbund“, möglicherweise der Nichtmehr-Lebenden und (zugleich) Noch-nicht-Toten, „ist geschlossen –“ (V. 9). Offen bleibt jedoch die Frage, wer zu den Ein- und wer zu den Ausgeschlossenen gehört, wem sich das Geheimnis des Bundes offenbart, wem nicht. Nicht ein verriegelnder und versiegelnder Punkt steht am Ende, sondern ein Gedankenstrich, der Brücke und Bruch zugleich meinen kann und das Hermetische ins Enigmatische wendet. Verschiedene Rätselfunktionen [vgl. Kap. I.4] greifen in diesem Gedicht ineinander, komplementieren und konterkarieren sich gegenseitig: Die ursprünglichste Rätselfunktion, die magisch-kosmogonische, eröffnet den Gedichtraum im „verhexten Wald“. Die ethisch-utopische Funktion wird im Blick des Anderen aktualisiert. Im Kommunikationsmodell des Mitteilens klingt die hermeneutisch-alteritäre Funktion an. Und die hermetisch-esoterische lässt das Gedicht in den „Geheimbund“ münden. Die ludistisch-heuristische, die in den literaturwissenschaftlichen Dechiffrierungstheorien meist in den Mittelpunkt gerückt wird, spielt fast keine58 Rolle. Denn die glühenden Rätsel wollen nicht entziffert werden, geben das Gesagte nie preis. Sie binden den Leser vielmehr in den Akt des Sagens ein, funktionieren dabei aber gerade nicht über sinnbezogene, identitätslogische Ein- und Ausschlussmechanismen, sondern entwickeln eine prozessuale, oft sinnlichkeitsorientierte Beziehungsdynamik. Diese bleibt rückgebunden an synästhetische – beispielsweise das Sprechen der Farbe Nichts – Erfahrungen der Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, die alte Traditionen des ainigma revitalisieren. Im Gegensatz zur Hermetik, die sich meist ex negativo, über das Anti-Hermeneutische definiert [vgl. Kap. I.4, Funktion (2)] oder „ihren Wahrheitsgehalt“ bei Theodor W. Adorno als „ein Negatives“ bestimmt (ÄT, S. 477) [vgl. Kap. III.3], positiviert die Enigmatik die Rätselrede: Im Vollzug des Sprechens, aber auch des Pausierens (in Leerzeilen und Gedankenstrichen) wird sie immer wieder neu erfahrbar gemacht.
58
Allenfalls das gegenseitige Anäugen könnte man – im Kontexte des Halslöserätsels – auf eine antagonistische Spielform zurückführen, die aber mit Verweis auf das gemeinsame Auffangen von Mitteilungen schon nicht mehr greift.
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Die „Zeichen eingerätselt“ in Nelly Sachs’ szenischer Dichtung Beryll sieht in der Nacht (1962) Eine Steigerung der Synästhesie – Nelly Sachs kündigt ihrem Lektor Hans Magnus Enzensberger in einem Brief vom 30. April 1961 ein „Licht-FarbenMimik-Musik-Wort-Spiel“ (Kommentar KA III, 584) an – und eine theatralische „Inszenierung des Änigmas“,59 das sich jeglicher alltagskommunikativen Rätsellösung widersetzt, stellt die zeitgleich mit den Glühenden Rätseln entstandene szenische Dichtung dar Beryll sieht in der Nacht oder Das verlorene und wieder gerettete Alphabet. Einige Szenen aus der Leidensgeschichte der Erde (1962) (KA III, 227-241), auf die abschließend kurz verwiesen sei.60 Die „St i m me d e r Na c h t “ eröffnet dort das Geschehen mit den Worten „Offen der Deckel der Finsternis/ für den Blinden“ (KA III, 229) und greift mehrfach das antike Motiv des blinden Sehers auf [vgl. Kap. I.3], das radikalisiert wird, indem die Finsternis (obscuritas) sprachperformativ in Szene gesetzt ist. Diese Stimme der Nacht spricht gegen die „St i m m e d e s F er n s e h k o m me n t a t o r s “, also den mitteilungsorientierten ,Sender‘ an, der „[d]es Rätsels Lösung“ (KA III, 234) propagiert. Wenig später antwortet hierauf die „Na ch t “ (KA III, 235), ganz in der ainigma-Tradition: Und die Erde baut leise auf den Traumwegen der Worte die Zeichen eingerätselt in der Locke des Propheten […]
Später „streut [dieselbe Nacht] Buchstaben in die Luft“ (KA III, 238). Azraela, die weibliche Form des arabischen Azrael, des Engels des Todes, der im Volksglauben die Namen der Neugeborenen aufschreibt und die der Toten durchstreicht, „fängt Buchstaben auf“ und spricht daraufhin Netzach an, die siebte Urpotenz des sogenannten Sefirotbaumes in der Kabbala (KA III, 238): Netzach – dein Name heißt Sieg Ertrunkenes Nichts aus Nichts werfe ich dir zu schnappt nicht mehr nach Nichts Mach was daraus!
Netzach nutzt die Initiativkraft des Nichts („Mach was daraus!“), „fügt die Buchstaben zusammen, sie leuchten“ und lässt als Antwort das Böhme-Zitat
59
Ostmeier, Dorothee, Sprache des Dramas – Drama der Sprache. Zur Poetik der Nelly Sachs, S. 74. 60 Ausführlicher hierzu vgl. ebd., S. 74-99.
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Kapitel III: Rätsel und Antlitz
folgen: „Nichts – ist die Sucht nach Etwas“ (KA III, 238). In den beiden Schlussversen der szenischen Dichtung greift dieses Zitat der Zungenbaum,61 einer der beiden Protagonisten, erneut auf und erweitert es: „Aus Nichts sind wir die Sucht nach Etwas gewesen/ im dunklen Stoff der Nacht“ (KA III, 241). Eingeführt wurde der Zungenbaum gleich im dritten Vers zusammen mit der Figur Beryll (KA III, 229), einem der sechsunddreißig geheimen Gottesknechte: Obwohl oder besser weil er blind ist, hat er Visionen und „sieht in der Nacht“. Bei Nikolaus von Kues (1401-1464), der bei Sachs allerdings keine Erwähnung findet, ist der Beryll ein „weißer und durchsichtiger Stein“, dem „eine zugleich konkave und konvexe Form verliehen“62 ist und der Unsichtbares sichtbar macht. Nach ihm benennt von Kues seine Schrift und macht ihn zum Sinnbild für die Rätsel-Bilder-Wissenschaft, die aenigmatica scientia [vgl. Kap. II.1]. Nelly Sachs lässt den personifizierten Beryll lesend, in einer existentiellen Gefahrensituation die Bühne betreten: Der Zungenbaum singt mit seinen Blättern aus Meer Beryll liest im Ertrinken – und Farben schon der Dämmerung angetraut So fließt das Wort in seinen Leib aus Stern Vorbedeutung schon mit dem Finger der Seher begriffen wie Gesicht des Wassers […].
In dieser, durch die „Sti mm e d er Na c h t “ artikulierten, synästhetischen Anfangsszene, während derer, so die Regieanweisung, „[a]m Horizont […] aus Nebel die Arche mit den Überlebenden nach der letzten Sintflut auf[taucht]“ (KA III, 229), kristallisiert sich alles in der „Vorbedeutung“ und dem „Gesicht des Wassers“. Letzteres ist, zumal im Kontext mit dem „Seher“, immer auch Gesichtetes. Der Bedeutung, dem Logos, wird mit Verweis auf das, was diesem vorausgeht, das „Gesicht des Wassers“,63 von vornherein abgeschworen. Zwar werden auch bei Nelly Sachs Schöpfungsgeschichte und Sprachgeschichte zusammen gedacht, aber ihr „Wort“ ist weder identitätslogisch noch bedeutungsbezogen: Es „singt“ und „fließt“ – hierin womöglich den 61
Das Motiv des Zungenbaums entlehnt Nelly Sachs Jakob Böhme, vgl. hierzu: ebd., S. 91. 62 Cusa, Nicolai de, De beryllo/ Über den Beryll, lt./dt., hg. v. Karl Bormann, Hamburg 1977, Abschn. 3, Z. 1-3. 63 Die Wendung geht vermutlich auf die Genesis-Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig zurück, die Nelly Sachs in der Ausgabe von 1956 besaß. Dort ist vom „Antlitz der Wasser“ die Rede (vgl. „Das Buch Im Anfang“, in: Die fünf Bücher der Weisung, übersetzt von Martin Buber und Franz Rosenzweig, Heidelberg 1981, S. 9).
Kapitel III: Rätsel und Antlitz
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allerersten Rätselliedern und Schöpfungsakten der Rigveda vergleichbar [vgl. Kap. I.1]. Seinen adäquaten Ausdruck findet es allein im ainigma, „im dunklen Stoff der Nacht“ (KA III, 241).
Schlussüberlegungen: Enigmatik Vorschläge für eine enigmatische Methode der Literaturwissenschaft Zum binären Methodenbegriff – Zur enigmatischen Methode als triadischdynamischem Interpretationsmodell – Zusammenfassung: Enigmatik. Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur Eine Enigmatik widmet sich sowohl den poetischen Formen des Rätsels als auch deren philosophisch-poetologischen Reflexionen und will Gegenlektüren zu einer licht- und lösungsorientierten Geistes- und Kulturgeschichte initiieren. Gattungsübergreifend kommt sie dann vor, wenn das Rätsel – sei es das Rätsel Gottes, das Rätsel der Welt oder das Rätsel des Menschen – thematisch, strukturell und methodisch von Bedeutung ist. Ein Rätsel, das zwar thematisiert, aber nicht ästhetisch umgesetzt wird, ist Motiv, Metapher, Symbol.1 Eine Rätselstruktur ohne inhaltliche oder poetologische Bezugnahme auf das Rätsel bleibt bloße quest, Erzählmodus.2 Der Rätseltext muss folglich an sich selbst darstellen, wovon er redet, und so das ainigma (wörtl.: ,dunkle Andeutung‘), das sich vom griphos (wörtl.: ,Netz, Falle‘) nie feinsäuberlich trennen lässt, durch neue Denkund Lektürewege methodisch erfahrbar machen. Zwei Extrempositionen, die man als methodische Radikalisierungen der altgriechischen Rätselbegriffe griphos und ainigma betrachten kann, sind dabei zu meiden: Erstens das Rätsel der Literatur in einem Dechiffrierungsverfahren endgültig zu lösen und somit die Literatur ihrer ästhetischen Spezifität, sprich Literarizität und Unübersetzbarkeit zu berauben. Denn eine ,enigmatische‘ Methode ohne ainigma zerstört sich, wie die Sphinx nach der Rätsellösung [Kap. A], selbst. Zweitens das Rätsel der Literatur durch eine Enigmatisierung der Literaturwissenschaft künstlich zu reproduzieren. Eine enigmatische ,Methode‘, die keinen eigenen (Lösungs-) Weg – und sei dies einer der Auflösung – weist, trägt ihren Namen nämlich ebenfalls zu unrecht.
1
Zu denken wäre zum Beispiel an die rhetorische Rede vom ,Rätsel der Wissenschaft‘ im naturwissenschaftlichen Feuilleton. 2 Hier fiele beispielsweise jeder Spannungsroman darunter, vor allem der unterhaltsame Kriminalroman.
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Schlussüberlegungen
Zum binären Methodenbegriff Die Methode (altgriech.: ἡ µέϑοδος), wörtlich ,das Nachgehen‘, meint gemeinhin einen ,Weg, etwas zu erreichen‘, übertragen auch den ,Weg oder Gang der Untersuchung‘.3 Sie ist mit der geläufigen, hier zu kritisierenden Vorstellung verbunden, dass ein Ausgangspunkt A sowie ein Endpunkt B gesetzt sind, und ein mehr oder minder linearer ,Weg‘ von A nach B gebahnt wird. A und B liegen dabei stets außerhalb dieser Methode. Oft werden sie als unabhängig voneinander existierende, statische, mit sich selbst identische Entitäten aufgefasst, wobei A in dem Moment, in dem B erreicht ist, an Relevanz verliert. Der methodische Gang verläuft entweder in einer vorgefertigten Bahn, die es nur noch ,nachzugehen‘ gilt, oder er schlägt sich ziel- und lösungsorientiert seine eigene Schneise. Unberücksichtigt bleiben bei diesen Konzeptionen sowohl das ,Und‘ als auch das ,Für‘ dieser immer schon dynamischen Beziehung von A und B.4 Letztere sind nämlich nicht vor der Methode, sondern überhaupt erst durch die Methode als getrennt und doch vereint bestimmt. Nur im ,Und‘ von A und B ist eine Wegsamkeit möglich, die in einer – mit der Von-Angesicht-zuAngesicht-Situation vergleichbaren [II.4, III.1-2, Kap. B] – wechselseitigen Bezugnahme dem Punkt B ermöglicht, ,für‘ A, B zu sein und dem Punkt A, ,für‘ B, A zu sein.
3
Wichtige Anregungen verdanken die folgenden Ausführungen zum Methoden-Begriff dem Vorlesungsskript von Gerhard Buhr, archiviert in der Bibliothek des Germanistischen Seminars der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg [L 56,01]: Buhr, Gerhard, Methodologie, Ringvorlesung WS 1992/93, Einführung in die Literaturwissenschaft, 25. November 1992. 4 Zur Betonung des Und sowie des Für vgl. Rosenzweig, Franz, „Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum Stern der Erlösung“, in: ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. 3: Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. v. Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, S. 139-161, hier: S. 158: „Noch in der Wahrheit selber, der letzten, die nur eine sein kann, muß ein Und stecken; sie muß, anders als die Wahrheit der Philosophen, die nur sich selber kennen darf, Wahrheit für jemanden sein. Soll sie dann gleichwohl die eine sein, so kann sie es nur für den Einen sein“ [vgl. Kap. II.4]. Und in der jüngeren Philologie hierzu Werner Hamacher, der in seinem Aufsatz „Für – die Philologie“ die Frage nach der philologischen Frage stellt und zuvor auch auf die quest sowie das „rätselhafte Phänomen“ (S. 22) zu sprechen kommt: „Wirken und sprechen kann es [das Wort] nicht als in sich abgeschlossene und beziehungslose Einheit, sondern allein wenn es für etwas spricht und für es wirkt: für Anderes, ob dies Andere nun dem Bereich der Sprache angehört oder nicht. Erst in seinem Für spricht das Wort, und spricht also nur als von sich Unterschiedenes und aus seiner Entfernung von sich“ (Hamacher, Werner, „Für – die Philologie“, in: Schwindt, Paul Jürgen (Hg.), Was ist eine philologische Frage? Beiträge zur Erkundung einer theoretischen Einstellung, Frankfurt am Main 2009, S. 21-60, hier: S. 52 f.).
Schlussüberlegungen
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Zur enigmatischen Methode als triadisch-dynamischem Interpretationsmodell Bei der enigmatischen Methode kommt nun eine dritte Größe C hinzu, die im Verlauf der Kulturgeschichte unterschiedlich benannt worden ist: zum Beispiel als Wahrheitskraft [I.1], als Logos [I.2], als Orakel [I.3], als Gotteswort [II.1] oder als Gesichte [III.1-4]. Aufgrund ihrer epiphanischen – bei religiösen Denkern oft offenbarungstheologisch konzipierten – Struktur ist sie nicht willentlich, durch ein im traditionell philosophischen Sinne ,methodisches‘ Vorwärtsschreiten herleitbar. Vielmehr unterbricht sie die horizontale Bewegung zwischen A und B durch eine unerwartete vertikale Einwirkung. Dies führt zu einer temporären Arretierung der horizontalen Dynamik, zu einer, mit Emmanuel Lévinas, Verwirrung (frz. dérangement), welche die linear verlaufende (Erzähl-) Ordnung destabilisiert. Als ästhetische Erfahrung mit übersteigerten Sinneswahrnehmungen, die vom rhythmisch-musikalischen Erleben (Rigveda), über die Körperberührung (Giacomo Puccinis Turandot) bis hin zum Drommetenrot (Leo Perutz) reichen, erschüttert sie den Glauben an eine hermeneutische Sinnrichtung, ohne ihn gänzlich zu eliminieren: Im Gegenteil initiiert sie auf einer Metaebene eine neue Suche (quest) [III.3] und damit ein stetes Wechselspiel zwischen griphos und ainigma. Die enigmatische Methode führt so verschiedene philosophische Methoden zusammen, die sich im Umgang mit Literatur isoliert jeweils als defizitär erweisen können. Beispielhaft werden drei herausgegriffen, die analytische, die phänomenologische und die dialektische: - mit der analytischen Methode, die den Gegenstand als in Elemente zerlegbar sowie zu einem Ganzen rekombinierbar konzipiert, teilt die enigmatische Methode den griphos-Gedanken und damit die Vorstellung von Lösbarkeit durch ratiocination (Edgar Allan Poe) [als Denkbewegung im triadischen Modell: das stete Vorankommen von A nach B oder umgekehrt] - mit der phänomenologischen Methode hat sie die Hoffnung auf die evidente Schau eines Gegenstandes nach Enthüllen desselben gemein – theologisch präfiguriert im „Wir sehen jetzt in einem Spiegel in einem dunkeln Wort [ainigma], dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1. Kor. 13, 12) [als Denkbewegung im triadischen Modell: das unerwartete Einbrechen von C] - wie die dialektische Methode geht auch die enigmatische Methode von einem Wechselbezug zwischen zwei Polen aus, die sich jeweils durch den anderen konstituieren: jeder kann das, was er ist, nur sein, indem er sich
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Schlussüberlegungen
gegen das Andere abgrenzt und in dieser Abgrenzung auf das Andere als Anderes bezogen bleibt [als Denkbewegung im triadischen Modell: das unaufhörliche Oszillieren zwischen A und B] Doch geht die sowohl horizontal als auch vertikal gerichtete enigmatische Methode jeweils über diese philosophischen Methoden hinaus: Die auflösungsorientierte, auf intellektuellem Wissen basierende Bewegung des griphos komplementiert die enigmatische Methode durch ein oft erlösungsgerichtetes poetisches, divinatorisches oder intuitives Wissen [Kap. A]. Dieses Wissen ist dabei stets ein „Beziehungswissen“ (Franz Rosenzweig) [II.4, III.1]: Erst in der steten Wechselwirkung der dynamischen, flexiblen Pole A, B und C hat es Bestand. Daher wird auch, anders als bei der phänomenologischen Methode, nicht von einem von der Methode absoluten, d. h. losgelösten Gegenstand ausgegangen, der sich selbst zeigen und erscheinen kann. Allein im enigmatischen Prozess kommt das Rätsel zur Darstellung und bleibt dabei gleichermaßen auf Momente des Sinns und der Sinnlichkeit angewiesen [I.1, I.3]. Die enigmatische Methode teilt mit der phänomenologischen nämlich die bei der analytischen Methode unberücksichtigte Annahme einer Phänomenalität von Kunst und Literatur in der ästhetischen Erfahrung [III.3]. Letztere wird bei der dialektischen Methode stets in Abgrenzung zum Anderen erzeugt. Im unaufhörlichen Pendeln von These und Antithese, Meinung (δόξα) und Gegenmeinung (παράδοξον) wird ein Denken in Bewegung generiert,5 das jedoch – im Unterschied zur enigmatischen Methode – bipolar in der Horizontalen verläuft. Insofern ist die Dialektik, die hierin mit der Hermetik vergleichbar ist,6 entgegen ihrer ursprünglichen Intention, immer der Gefahr eines Stillstands in der Dynamik ausgesetzt, einer Beruhigung der durch logische Unvereinbarkeit gekennzeichneten Sinnstrukturen. Sie bleibt nach wie vor, wenn auch ex negativo, auf einen Ganzheitsgedanken bezogen. Irritiert wird dieser erst durch das Einwirken einer dritten Größe C in die bislang ununterbrochen oszillierende Pendelbewegung zwischen A und B. Daher kann das Rätsel auch als ein positiviertes, radikalisiertes, triadisch geöffnetes Paradoxon betrachtet werden. Aufgrund dieser Öffnung ist es aber nicht mehr hermetisch [III.4], sondern zieht das und den Anderen in die dynamische Wechselbeziehung mit ein, die damit immer auch zum „Lebensrätsel“ (Johann Wolfgang Goethe)
5
Zur literarischen Strategie des Paradoxen als „ethische[r] Indizierung“ vgl. das Kapitel III.8 „Die Strategie des Paradoxen“ in Mayer, Mathias, Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik. Historische und systematische Perspektiven, München 2010, S. 165179, hier: S. 165. 6 Vgl. zum Zusammenhang von Paradoxie und Hermetismus: Alt, Peter-André, Imaginäres Geheimwissen. Untersuchungen zum Hermetismus in literarischen Texten der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012, besonders S. 181-211.
Schlussüberlegungen
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wird: Es initiiert ein „neues Denken“ (Franz Rosenzweig) [III.1], einen neuen ,Weg‘ [III.4], dessen Spur für denjenigen, der sich auf den Prozesscharakter des Rätsels einlässt, mitunter „blutig“ verläuft [III.3-4]. Die Schwäche der Literaturwissenschaft, das Rätsel nur methodisch, als Grenzfigur zwischen Sinnfixierung und Sinnentzug fassen zu können, ist daher zugleich ihre Stärke: Wo sie sich der eindeutigen Antwort widersetzt, „entwortet“7 sie das Wort, um es dann neu und anders ins Wort zu setzen. Nicht auf ein Endziel ist ihre quest gerichtet, sondern auf einen stets anfänglichen Vollzug in einer dialogischen Anerkennungsbeziehung: „glühende Rätsel äugen sich an“ (Nelly Sachs). Dies geschieht in Verantwortung einem Anderen gegenüber, der als Hörer oder Leser der enigmatischen Methode ,nachzugehen‘ versucht. Dabei erfährt er aber unwillkürlich den Einbruch des Anderen, was dem zunächst binären logischen Weg eine existentielle Dimension verleiht. Mag er am Ende vom Weg abkommen, mit seinem Schatten um die Ecke biegen, seine eigene „Kette von Rätseln“ (Nelly Sachs) knüpfen [III.4] oder zum Anfang zurückkehren, eine Sinnsuche hat er allemal initiiert: eine Suche allerdings, die als und im Rätsel ihren dunklen Grund und „tiefen Abgrund“ (Rigveda, X, 129, 1) im Hier und Jetzt wohl nie erreicht [I.1]. Denn, noch einmal Nelly Sachs: „Ich soll im Grauen suchen gehen/ Finden ist woanders –“. Zusammenfassung: Enigmatik. Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur Das Rätsel wurde anhand diachroner, komparatistischer Lektüren als eine Literatur stiftende, hermeneutische Grenzfigur konturiert, die menschliches Verstehen und Handeln auf den Prüfstein stellt. In Weiterführung des Konzepts einer aenigmatica scientia von Nikolaus von Kues konnte es für eine literaturwissenschaftliche Enigmatik fruchtbar gemacht werden. Bei ihr treten zwei Lösungsstrategien des Rätsels, die der horizontal orientierten Auflösung und die der vertikal gerichteten Erlösung, in eine dynamische Wechselbeziehung. Um diese Doppelbewegung historisch und systematisch beschreiben zu können, wurden fünf Rätselfunktionen vorgeschlagen, die kosmogonischmagische (1), die hermetisch-esoterische (2), die utopisch-ethische (3), die hermeneutisch-alteritäre (4) sowie die ludistisch-heuristische (5). Die bis heute in der Literaturwissenschaft – nicht in der Literatur – anhaltende Überbewertung
7
Paul Celan gebraucht diese mit dem „Für“ assoziierte Wendung in einem auf den 28. Juli 1968 datierten Gedicht, das als poetische Antwort auf die intensive Beschäftigung mit den Schriften von Walter Benjamin gelesen werden kann: „UND WIE DIE GEWALT/ entwaltet, um zu wirken:// gegenbilderts im/ Hier, es entwortet im Für […]“ (Celan, Paul, Die Gedichte aus dem Nachlaß, hg. v. Bertrand Badiou, Jean-Claude Rambach, Barbara Wiedemann, Frankfurt am Main 1997, S. 214).
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Schlussüberlegungen
der sinn- und lösungszentrierten Rätselfunktionen (4+5) ist, so die These, auf eine in der Frühen Neuzeit einsetzende Überlagerung des ainigma-Rätselbegriffs durch den Spielbegriff des griphos zurückzuführen. Das im Kontext einer Enigmatik immer auch prozessual und relational konzipierte Rätsel zielt jedoch nicht allein in einem schlichten Frage-Antwort-Spiel, bei dem die heuristische Vorrangstellung der Antwort zufällt, auf einen eindeutigen Sinn ab. Vielmehr initiiert es, indem es das bisherige Auslegungsgeschehen enigmatisch werden lässt, ein neues Methodenbewusstsein. In der Literatur finden sich – wie in drei synchronen Stationen, der Antike, der Frühen Neuzeit und der Moderne, aufgezeigt wurde – Momente methodologischer Verunsicherung seit jeher: Bereits im Rigveda sind die Wissensfragen selbst fragwürdig und werden performativ als Rätsellieder inszeniert [I.1]. Und im König Ödipus von Sophokles treffen verschiedene Rätsel-Methoden aufeinander, die mit alternativen Lösungskonzeptionen einhergehen [I.3]. Systematisch als Methode reflektiert wird das Rätsel (ainigma) aber erst in der Frühen Neuzeit, nachdem es sich aus seinem angestammten rhetorischen Bereich [II.2] bereits als poetologische Kategorie und ,Rat‘ erteilender, narrativer Modus (ainos) emanzipiert hat [II.3]. Mit Nikolaus von Kues dynamisiert sich im 15. Jahrhundert der menschliche Wissensdrang, der ein unerreichbares Erkenntnisziel sowie die Nicht-Wissbarkeit (docta ignorantia) göttlicher Wahrheit impliziert. Von Kues setzt das Rätsel nicht mehr mit dem (göttlichen) Logos gleich, sondern entwirft es als (menschliche) Methode, als Textwissenschaft [II.1]. Auch die jüdische Hermeneutik rekurriert – als Gegenbewegung zur Aufklärung bereits im 18. Jahrhundert [II.4] – auf die Vorstellung eines dunklen, verhüllten Rätsels (ainigma). Denker wie Franz Rosenzweig [III.1], Theodor W. Adorno [III.3] oder Emmanuel Lévinas [I.4, III.3] machen dieses im 20. Jahrhundert ethisch und ästhetisch produktiv. Oft korrelieren sie es mit dem (maskierten) Gesicht, das mit Beginn der Moderne – Friedrich Nietzsche ist hierfür beispielhaft [III.1] – immer auch auf die Gesichte, die Spur des Anderen, verweist [III.1, III.4]. Auflösungs- und Erlösungsprozesse greifen erneut ineinander, irritieren, arretieren und dynamisieren sich gegenseitig. Das Rätsel markiert dabei die Grenzscheide zwischen der (vermeintlich) lösungsorientierten Oberfläche und dem, was letztere fremdartig und unerwartet durchbricht. Als dekonstruktivistischer Stachel der Hermeneutik und hermeneutisches Relikt der Dekonstruktion bildet es die Dunkelstelle einer lichtzentrierten Geistesgeschichte. Nicht auf die Lösung, sondern auf den Rat setzt das Rätsel, ein Rat, der sich im literarischen Dialog der Zeiten und Kulturen stets neu und anders bewährt.
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Bildnachweise Alexej Jawlensky: Abstrakter Kopf: Sonne-Farbe-Leben, April 1926 N. 109, Öl auf Karton, 52,8 x 46,4 cm, Sammlung Deutsche Bank. In: Jawlensky. Meine liebe Galka! Museum Wiesbaden 2004, S. 192. [Coverbild] Salvador Dalí: Visage perdu, um 1930 (Das verlorene Gesicht), Pastell, 48,5 x 31 cm, Galerie Beyeler, Basel. In: Salvador Dalí. Retrospektive 1920-1980. Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Objekte, Filme, Schriften. München 1993, S. 148. Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/ VG Bild-Kunst, Bonn 2014. [S. 247] Salvador Dalí: Femme dormant dans un paysage, 1931 (Schlafende in einer Landschaft), Öl auf Leinwand, 27 x 34 cm, Sammlung Peggy Guggenheim, Venedig. In: Salvador Dalí. Retrospektive 1920-1980. Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Objekte, Filme, Schriften. München 1993, S. 166. Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/ VG Bild-Kunst, Bonn 2014. [S. 249] Alexej Jawlensky: Turandot II, 1912, Öl/ Pappe, 53,9 x 49,5 cm, Kunstmuseum Hannover mit Sammlung Sprengel. In: Alexej Jawlensky. 1864-1941, hg. v. Armin Zweite, München 1983, S. 104. [S. 254] Alexej Jawlensky: Herbstlicher Klang, 1928, Öl/ Leinwandkarton, 43 x 33,5 cm, Privatsammlung Schweiz. In: Alexej Jawlensky. 1864-1941, hg. v. Armin Zweite, München 1983, S. 278. [S. 255]
Namenregister Adami, Giuseppe 208, 209, 211, 216, 218 Adorno, Theodor W. 14, 16, 19, 22, 27, 107, 120, 140, 163-165, 220, 223, 234, 235, 250, 260, 261, 263, 271-276, 279, 296, 306 Agamben, Giorgio 15, 26, 105 Aischylos 55, 56, 159 Alfano, Franco 208, 211-215, 218 Andersch, Alfred 282 Apoll 500, 62, 66, 67, 77, 83, 106, 153, 155, 293 Apollodor 43, 56, 59 Aristoteles 23, 46, 47, 104 ‘Aufi, Mohammed 194 Augustin(us) 23, 109, 127, 138, 140, 148, 150, 153, 157, 158, 163 Azrael/a 297 Bachmann, Ingeborg 14, 100, 101, 117, 120-123, 125, 190, 209 Bacon, Francis 14, 99, 100, 109, 110-114, 120, 121, 123, 125, 127, 148, 149, 156-165, 219 Benjamin, Walter 15, 20, 21, 26, 80, 82, 96, 120, 275, 305 Berio, Luciano 213-215, 218 Bienek, Horst 282
Bloch, Ernst 54, 55, 66 Blumenberg, Hans 104, 136, 158, 159, 164 Boccaccio, Giovanni 14, 127, 147155, 161, 163 Böhme, Jakob 289, 290, 297, 298 Borges, Jorges Luis 100, 262 Brahms, Johannes 255, 257 Broch, Hermann 15, 18, 23, 41, 82, 236, 238-243, 246, 248-252, 255, 256, 258, 259, 261, 262, 275, 276 Buber, Martin 167, 298 Busoni, Ferrucio 215 Cassirer, Ernst 110, 161, 224 Celan, Paul 140, 178, 276-278, 280, 305 Champollion, Jean Franҫois 106 Chaplin, Charlie 241 Chladenius, Johann Martin 19 Cicero, Marcus Tullius 23, 46, 48, 154 Cohen, Hermann 224, 289, 290 Cusanus, vgl. Kues, Nikolaus von Dalí, Salvador 15, 238, 239, 244, 246-251, 329
332
Namenregister
Dannhauer, Johann Conrad 19, 133 Dante Alighieri 23 Deleuze, Gilles 96 Derrida, Jacques 17, 105, 106, 234, 269
Grimm, Jacob und Wilhelm 123, 294, 295 Guattari, Félix 96 Gunkel, Hermann 30
Dilthey, Wilhelm 87, 88, 133, 143
Hamm, Peter 282
Domin, Hilde 282
Harsdörffer, Georg Philipp 137, 138, 145
Donatus, Tiberius Claudius 23, 144 Dostojewski, Fjodor M. 246 Echnaton 102 Eco, Umberto 63, 78, 80, 262, 265 Ekelöf, Gunnar 284 Enzensberger, Hans Magnus 282284, 297 Euripides 56, 59, 60, 159
Hegel, G. W. F. 26, 43-48, 71, 99, 100, 105-111, 114, 119-121, 123, 124, 162, 163, 172, 219, 286 Heidegger, Martin 14, 16, 17, 19, 43, 44, 48, 49, 51, 76, 224-231, 244 Heine, Heinrich 56, 100, 101, 178 Heraklit 14, 18, 42-54, 66, 69, 76, 83, 84, 87, 88, 119, 146, 150-152, 222, 223, 232, 234, 283 Herder, Johann Gottfried 31, 173
Freud, Sigmund 23-26, 100, 101, 114, 268
Hermes/ Hermes Trismegistos 77, 78, 136, 148, 154, 155, 157, 161, 170
Frye, Northrop 23, 60, 73
Hesiod 50, 55, 144 Hoffmann, E. T. A. 262
Gadamer, Hans-Georg 15, 17, 19, 39, 42-45, 48-50, 67, 87-92, 95, 119, 133, 134, 141, 143, 202, 278 Gehlen, Arnold 73, 74 Ginzberg, Louis 169, 170 Goethe, Johann Wolfgang 16, 29, 79, 81, 93, 139, 181, 182, 195, 196, 200, 201, 228, 304 Goldoni, Carlo 197 Gozzi, Carlo 183, 185, 194-199, 201-206, 208, 215, 218
Homer 26 Horkheimer, Max 120, 163-165 Huizinga, Johan 20, 31, 35, 38, 68, 94, 95 Ingres, Jean-Auguste-Dominque 101 Jaspers, Karl 128, 132
Namenregister
Jawlensky, Alexej 15, 236-239, 252-256, 260, 329 Jolles, André 19, 20, 29, 30, 41, 75, 76 Kafka, Franz 27, 28, 90, 115, 132, 140, 174, 178, 190 Kant, Immanuel 91, 157, 161, 202 Kierkegaard, Sören 83-85 Kleist, Heinrich von 197, 262, 265 Kracauer, Siegfried 262 Krolow, Karl 282 Kues, Nikolaus von/ Cusanus 14, 127-133, 148, 150, 156, 157, 165, 166, 283, 298, 305, 306 Laertius, Diogenes 46, 51, 53 Lagerlöf, Selma 282 Lagercrantz, Olof 284 Lavater, Johann Caspar 171, 172, 221 Lenz, Peter 254 Leontius 154 Lessing, Gotthold Ephraim 14, 165, 173-181, 219, 312, 325, 326 Lessing, Karl Gotthelf 173 Lévinas, Emmanuel 18, 19, 84-86, 125, 219, 220, 222, 224, 233, 235, 257, 258, 268-270, 275, 281, 286, 287, 292, 294, 296, 303, 306 Lindegren, Erik 288 Lukàcs, Georg 241
333
Luther, Martin 17, 81, 143, 160, 166 Magnus, Gregorius 150 Mann, Thomas 27, 28 Martial, Valerius 154 Mashayekhi, Nader 184 Melanchthon, Philipp 133, 134, 141-146 Mendelssohn, Moses 18, 165, 166, 171-173, 178, 219, 225 Merkur, vgl. auch Hermes 154, 155, 187, 188 Morhof, Daniel Georg 145 Moses 166-171 Nabokov, Vladimir 16 Nietzsche, Friedrich 14, 19, 29, 44, 47, 99, 100, 182, 219, 221-235, 239, 242-245, 259, 287, 289, 295, 306 Nizami 14, 181-194, 284 Ödipus 14, 16, 26, 54-69, 72, 100114, 117, 124, 125, 165, 219, 227, 306 Paulus 127, 128, 140 Perutz, Leo 15, 261-275, 303 Pétis de la Croix, François 194 Petrarca, Francesco 148, 150-153, 163
334
Namenregister
Picard, Max 221 Pindar 51, 55, 76, 113 Plato 44, 59, 60, 61, 63, 76, 130, 131, 144, 145, 170, 223, 224 Plessner, Helmuth 22, 28, 29, 88-90 Plinius, Secundus d.Ä., C. 243 Poe, Edgar Allan 14, 99, 100, 114120, 262, 263, 265, 303 Proust, Marcel 249, 250 Puccini, Giacomo 15, 181-185, 196, 197, 201, 208-218, 303 Quinitlian 13, 23, 133, 134, 136, 141, 142, 143, 147, 148
Schiller, Friedrich 14, 20, 139, 142,181, 183-185, 194-208, 215 Schleiermacher, Friedrich 44, 46, 59, 63, 71, 86, 87, 95, 139 Scholem, Gershom 26, 220, 269, 288, 289, 301 Schopenhauer, Arthur 47, 224 Seelig, Carl 294 Seneca, L. Annaeus 56 Shakespeare, William 196 Simmel. Georg 79, 244, 245 Simoni, Renato 208, 211, 213, 215, 216 Simorgh 187 Simson 92, 93, 137, 138
Rambach, Friedrich 194
Šklovskij, Viktor 25
Raziel 15, 165, 169, 170
Sokrates 173
Rehbaum, Theobald 215
Sophokles 14, 54-69, 72, 100, 112, 117, 219, 306
Reinhardt, Max 215 Reusner, Nikolaus 134 Ricœur, Paul 71 Rilke, Rainer Maria 101, 104, 236, 237 Rosenzweig, Franz 14, 16, 167, 178-180, 219-235, 239, 253, 256, 259, 260, 269, 275, 280-282, 288, 290, 291, 298, 302, 304-306
Sphinx 12, 14, 16, 26, 54-69, 94, 99-126, 159, 161, 165, 182, 190, 191, 204, 209, 220, 229, 248, 265, 301 Steven, Wallace 23 Strauss, Richard 213, 216 Tabori, George 179 Teiresias 54, 58, 63-66
Sachs, Nelly 14, 276-299, 305
Theodontius 154
Salomon 138, 157
Thot, vgl. Hermes Trismegistos 136, 155
Scaliger, Iulius C. 13, 133, 134, 144-147
Tieck, Ludwig 23
Namenregister
Toscanini, Arturo 211 Turandot 12, 14, 15, 20, 85, 181218, 220, 252, 254, 303 Tutanchamun 102 Ungaretti, Giuseppe 140, 277 Vāc 36, 38, 76 Wachtangow, Jewgenij B. 215 Weber, Max 164 Werthes, Friedrich August Clemens 198, 206 Wittgenstein, Ludwig 83, 234 Zweig, Stefan 246, 250
335