Philosophie und Mythos: Ein Kolloquium 9783110862195, 9783110076011


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German Pages 256 [260] Year 1979

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Table of contents :
Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Mythos
Gemeinsame Grundlagen mythischen und philosophischen Denkens
Mythisches Denken. Versuch einer Definition an Hand des griechischen Befundes
Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie
Mythos und Religion: Der Spielraum der Ordnung
Mythische und wissenschaftliche Denkform
Welt, Geschichte, Mythos
Technik als Mythos
Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung
Orte neuer Mythen. Von der Universalpoesie zum Gesamtkunstwerk
Mythos bei Nietzsche
Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer
Dialektik der Aufklärung und neue Mythen. Eine Alternative zur These von Adorno und Horkheimer
Namensregister
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Philosophie und Mythos: Ein Kolloquium
 9783110862195, 9783110076011

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Philosophie und M y t h o s — Ein Kolloquium

Philosophie und Mythos Ein Kolloquium

Herausgegeben von Hans Poser

w DE

G 1979 Walter de Gruyter · Berlin · New York

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Philosophie und Mythos : e. Kolloquium / hrsg. von Hans Poser. — Berlin, New York : de Gruyter, 1979. ISBN 3-11-007601-2 N E : Poser, Hans [Hrsg.]

© 1979 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin

Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Mythos I Ein Philosoph, schrieb Aristoteles, müsse ein philomythos, ein Mythenfreund, sein. Selbst wenn mit mythos zunächst jede Erzählung und mit philosophes jeder nach systematischem Wissen Strebende gemeint ist, wird Aristoteles' Diktum als Begründung dafür gelten können, sich heute mit dem Verhältnis von Philosophie und Mythos auseinanderzusetzen, — jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, daß jener Weg vom Mythos zum Logos, den Nestle beschrieben hat, noch nicht abgeschlossen ist und keineswegs schon hinter uns liegt, so daß seine Untersuchung nicht allein im historischen Rückblick zur heutigen Standortbestimmung beiträgt. Jene allbekannten ,mythenverdächtigen' Schlagworte sind ein Indiz für die ,Gegenwärtigkeit des Mythos', und nicht erst W. S. Otto hat nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß die Sprache durchaus mythisch ist: Formulierungen wie die vom ,Fluch und Segen der Technik', vom ,Maschinenmythos', ja, vom ,Mythos Philosophie' sind nur insofern hervorgehoben, als sie offenkundig auf mythische Restbestände in unserer Sprache und damit in unserem Denken aufmerksam machen. All dies mag ausreichen, zu erklären, wieso die Auseinandersetzung mit dem Mythos nicht nur als Rezeptionsgeschichte des Mythos in den Literaturwissenschaften, als Abgrenzungsproblem in den Religionswissenschaften und als Forschungsgegenstand der Altphilologie und Ethnologie zu sehen ist, sondern auch der Philosophie. Der eben aufgezeigte Problemhorizont — gekennzeichnet durch mythische Restbestände in unserem Sprechen und Denken — verlangt eine Analyse der Wirkungsweise dieser mythischen Elemente, die sicherlich nicht allein Aufgabe der Philosophie ist. Eine Aufgabe jedoch, die ausschließlich der Philosophie zufällt und die zu reflektieren ihr von keiner anderen Disziplin abgenommen werden kann, besteht in der Beantwortung der normativen Frage, welche Funktion mythische Vorstellungen in unserem Denken haben dürfen oder sollen. Nun sind mythische Vorstellungen nicht gebunden an jene gemeinhin als ,Mythen' bezeichneten Erzählungen. Es ist deshalb in einem ersten

VI

Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Mythos

Ansatz sinnvoll, zwischen den einzelnen Mythen und ,dem Mythos' zu unterscheiden. Sind einzelne Mythen Erzählungen und erzählbar, so ist es ,der Mythos' nicht. Für das folgende erscheint es zweckmäßig, ihn als die Gesamtheit der Funktionen aufzufassen, die die mythischen Erzählungen erfüllen; Beispiele hierfür sind die erklärende und die sinngebende Funktion, die beide zusammengefaßt werden können als Orientierungsfunktion. Die Bedeutung mythischer Vorstellungen besteht auf diesem Hintergrund vor allem in der Erfüllung solcher Funktionen. — Der Vorzug der vorgeschlagenen Abgrenzung besteht im übrigen darin, dem Verdacht Lévi-Strauss' entgegenwirken zu können, der Begriff Mythos gerate zum Sammelbecken des Irrationalen; denn dem Irrationalen erklärende oder orientierende Funktion zuschreiben zu wollen, dürfte schwer fallen. Mit Hilfe der eben getroffenen Unterscheidung läßt sich die normative Frage dahingehend präzisieren, ob Funktionen, die der Mythos hat — und die in unserem Denken in Gestalt mythischer Vorstellungen heute noch aufweisbar sind — in dieser Form weiterhin unser Denken bestimmen sollen. Nun ist die Antwort hierauf in 2000jähriger Mythenkritik stets gewesen, im Namen der Vernunft müsse mythisches Denken aufgelöst, substituiert oder allenfalls als schöner Schein — im Wissen um den Schein — geduldet werden: Die Ideologiekritik von Bacons Idolenlehre bis heute hat dies im Grundsatz beibehalten und über den Mythos hinaus angewendet. Hat sich an dieser Aufgabe etwas geändert, ist die Lösung mißlungen, muß sie neu oder anders angegriffen werden? Daß die Frage nach wie vor offen ist, zeigen die Residuen mythischen Denkens, die gerade dort aufweisbar sind, wo man sie am wenigsten erwarten sollte: in rationalistisch erscheinenden Entwürfen, die sich als Utopien auf der Grundlage mythischer Denkfiguren erweisen; in den erkenntnisleitenden Entscheidungen, die unserem wissenschaftlichen Denken zugrundeliegen und deshalb nur scheinbar die Rationalität der auf ihnen aufbauenden Wissenschaften besitzen; schließlich in unserem Verhältnis zur Technik, das instrumenteller Rationalität zu folgen scheint und doch die Technik zur schicksalhaft-mythischen Macht überhöht. O b und wie unsere Frage jedoch weiter zu behandeln ist, das quid juris, hängt seinerseits ab von der Frage des quid facti und der Art seiner Analyse. Wenn sich die mythenkritische Frage heute neu und anders stellt als in der aufklärerischen Tradition, so ist dies nicht zuletzt darin begründet, daß nicht nur das Vertrauen in die Tragfähigkeit vernünftiger Ansätze durch die Geschichte immer wieder Lügen gestraft wurde, sondern vor allem darin, daß gerade in Verfolgung der aufklärerischen Selbstreflexion die Reflexion auf Funktion und Reichweite der praktischen Vernunft systematische Grenzen hat sichtbar werden lassen, die zu überschreiten

Einleitende Ü b e r l e g u n g e n z u m Verhältnis von P h i l o s o p h i e und M y t h o s

VII

kein Weg in Sicht ist: Weder hat sich das Naturrecht noch haben sich allgemeine ethische Prinzipien, Normen oder Werte auf apriorische Erkenntnis gründen lassen, noch können sie, ohne dem naturalistischen Fehlschluß zu erliegen, aus der Erfahrung gewonnen werden. Wenn dennoch verantwortliches Handeln möglich sein soll, kommt es darauf an, dessen Grundlagen in ihrer historischen Kontingenz freizulegen. Sie schlechthin im Irrationalen suchen zu wollen, hieße, den Begriff des Handelns nicht nur der Kontingenz, sondern auch der Unvernunft zu opfern; sollen sie wiederum nicht als bloß kontingente Fakten hingenommen werden, wird man sie als Ausdruck von etwas begreifen müssen, das uns — als in Traditionen stehend — Stränge dieser Traditionen als Sinngebung und Orientierung, schließlich als Möglichkeit des eigenen Selbstverständnisses an die Hand gibt, um ein Leben in der Gemeinschaft in einer gedeuteten Welt zu ermöglichen. Diese Funktion haben die Mythen, hat der Mythos als Sinngebungs- und Orientierungsfunktion in seinen Restbeständen heute noch. Hieraus resultiert die Bedeutung, die einer Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Mythos zukommt.

II ,Die' Definition des Mythos, hat D . S. Kirk betont, gibt es nicht; mehr noch, jede Beschreibung des Mythos, jede Bestimmung dessen, was als zu ihm gehörig angesehen wird, ist nach F. Schupp schon geprägt durch eine philosophische (oder theologische) Theorie. Es wäre darum unangemessen, annehmen zu wollen, die Beiträge dieses Bandes bildeten hiervon eine Ausnahme — sind sie doch von sehr unterschiedlichen Ausgangspunkten her konzipiert. U m so bemerkenswerter ist es, daß sie sich unter dem Gesichtswinkel der eben entwickelten Fragestellung einordnen und einander zuordnen lassen; nur muß deutlich gesagt sein, daß diese Einordnung ein möglicher Ansatz ist, neben dem andere denkbar sind und der vor allem die Vielfalt der angeschnittenen Probleme nicht ausschöpfen kann. Die philosophisch zentrale normative Frage, ob die Orientierungsfunktion des Mythos hinzunehmen oder in bestimmter Weise zu kritisieren oder zu modifizieren ist, setzt (1) eine Bestimmung der Abgrenzung des Mythos und seiner Funktion voraus, sie verlangt (2) die faktische Feststellung, daß Bestände mythischen Denkens auch heute noch für uns bestimmend sind und sie erfordert (3) eine Theorie der Veränderbarkeit des Mythos. Auf diesem Hintergrund läßt sich im letzten und vierten Schritt die normative Frage angehen.

Vili

Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Mythos

Unter dem Gesichtspunkt einer solchen Gliederung lassen sich die Beiträge von W. B U R K E R T und G. B R A N D dem ersten Punkt der Abgrenzung und Funktionsbestimmung zuordnen : Burkert nimmt als Altphilologe vom griechischen Befund ausgehend eine Abgrenzung und Bestimmung des Begriffes Mythos vor und kennzeichnet ihn als tradierte Erzählung, die Sinnstrukturen in Gestalt von biologischen und kulturell vorgegebenen Aktionsprogrammen wiedergibt, so daß die von mythischen Erzählungen dargestellte Wirklichkeit als kollektiv wichtige Wirklichkeit erscheint. Ganz anders geht Brand vor, der in Weiterführung eines Ansatzes der Husserlschen Phänomenologie den Mythos als „die absolute und selbständige Geschichte" bestimmt, als Totalhorizont der Geschichte, die für den Einzelnen immer nur als auf ihn bezogene Erzählung faßbar wird. Trotz des unterschiedlichen Zugangs stimmen beide Analysen darin überein, daß der Mythos der Horizont ist, vor dem Handeln als sinnhaftes Tun verstanden wird. Die zweite Frage des quid facti wird von F. R A P P behandelt, der nachweist, daß das technologische Denken, das doch als zweckrational und objektivierend-distanziert jedem mythischen Denken diametral entgegengerichtet erscheint, in doppelter Hinsicht auch durch mythische Elemente bestimmt ist: Zum einen führen Versuche, technisches Handeln zu rechtfertigen, über Zweckrationalität hinaus und substituieren zur Begründung eine (stillschweigend vorausgesetzte) Fortschritts- qua Heilserwartung, zum anderen erweist sich die Einstellung zur Technik in der heutigen Gesellschaft als mythisch, wenn sie als schicksalhafte Macht begriffen wird, der wir distanzlos ausgeliefert sind. Das dritte Problem, das einer Theorie der Veränderbarkeit des Mythos, wird von F. S C H U P P behandelt, wobei für unsere Frage die Veränderung durch Theoretisierung von besonderer Bedeutung ist: Sie tritt als Folge innerer und äußerer Veränderungen der Gesellschaft ein und besteht in der Ausbildung eines Systems theologischer und metaphysischer Begriffe; diese Begriffssysteme dürfen aber nicht inhaltsleer (oder auch nicht durch Immunisierungsstrategien abgesichert) sein, wenn sie eine handlungsleitende Funktion sollen ausüben können. Dieser Ansatz erlaubt es, in theoretisierten Mythen immer noch den funktionalen Kern auszumachen, der den „Spielraum der Ordnung" bestimmt. Der vierte Schritt, der die normative Problematik zum Inhalt hat, wird in der einen oder anderen Form von allen Beiträgen berührt. E . T O P I T S C H geht davon aus, daß Mythen durch Projektion menschlicher Gegebenheiten in den Kosmos entstanden sind und dann durch Rückprojektion mit Verbindlichkeit ausgestattet werden. Im Prozeß des Fortgangs vom Mythos zur Philosophie wurden aus ihm in einem Rationalisierungsprozeß empirisch prüfbare (und damit falsifizierbare) Anteile abgestoßen.

Einleitende Ü b e r l e g u n g e n z u m Verhältnis von P h i l o s o p h i e und M y t h o s

IX

Der Mythos erscheint damit als etwas, das — auch in seinen philosophischmetaphysischen Restbeständen — grundsätzlich überwunden werden muß, indem die ihm innewohnenden Projektionen und Immunisierungsstrategien freigelegt werden. Nun ist ein solches Programm, so sehr es als Zielvorstellung erhalten bleiben muß, wenn nicht der Irrationalität das Wort geredet werden soll, in der konkreten Durchführung mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden; dies zeigen am historischen Material die Beiträge von H . POSER zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts und von J . SALAQUARDA zu Nietzsches Mythosbegriff. Salaquarda weist nach, daß Nietzsche jede Aussage über Sinn und Bedeutung des Lebens als mythisch verstand; da jedoch kein Mensch auf Dauer ohne ein bestimmtes Verständnis von Sinn leben kann, stellt sich Nietzsche die Frage nach der Zulässigkeit der Mythen, um sich gegen all jene Mythen zu wenden, die einen uneinlösbaren wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch erheben. Damit ist die Frage nach dem Verhältnis von wissenschaftlichem und mythischem Denken aufgeworfen. J . KROIS untersucht sie auf der Folie der Mythos-Analyse Cassirers, derzufolge wissenschaftliches Denken auf systematische Zusammenfassung, mythisches Denken auf Intensivierung der Erfahrung abzielt; beide sind einander also entgegengesetzt. Darüberhinausgehend zeigt K. HÜBNER, daß beide Denkweisen derart inkommensurabel sind, daß wissenschaftliches Denken mythische Vorstellungen gar nicht zu widerlegen vermag, — weder theoretisch (weil die Resultate der Wissenschaften von apriorischen Voraussetzungen ausgehen, die wie der Mythos die Funktion haben, einen Rahmen zur Einordnung wesentlicher Erfahrungen zu bilden), noch mit praktischer Notwendigkeit (weil die tatsächlich vollzogene Entscheidung zugunsten der Wissenschaften und ihrer Normen den Wissenschaften vorausliegt). Die Überlegungen Hübners bedeuten, daß der von Topitsch gezeichnete Weg einer Mythenkritik nie zu einer völligen Lösung von mythischen Beständen führen kann; mehr noch: Da gerade der Bereich der Normen und Werte und damit der der Sinngebung nicht zum Bereich der falsifizierbaren Aussagen gehört, stellt sich mit aller Schärfe die Frage, ob jedweder Mythos zuzulassen sei. Salaquarda hatte sie mit Nietzsche negativ beantwortet, H . G . MEIER weist anhand der Forderung der Romantik nach einem „neuen M y t h o s " die Problematik auf, die mit dem Versuch verbunden ist, in bewußter Setzung — und nicht aus einer gewachsenen, als schlechthin selbstverständlich akzeptierten Tradition heraus — ein Substitut zu finden: denn das Resultat bestand nicht in einem neuen Mythos, sondern in einer Verklärung der leidenden Subjektivität im schönen Schein. — Eine privative Lösung des Problems zeichnen O . MARQUARD und C H . HUBIG. A u s g e h e n d von der Ü b e r l e g u n g ,

daß

X

Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Mythos

etwas nur in einer von uns erzählten Geschichte zum Teil unseres Lebenszusammenhanges zu werden vermag, gelangt Marquard zur These von der „Mythenpflichtigkeit" des Menschen; doch sind nicht alle Mythen gleichermaßen zulässig, abzulehnen sind vielmehr die „ M o n o m y t h e n " , die den Menschen unter Verlust seiner Individualität nur einer einzigen „Geschichte" unterwerfen. — Ähnlich argumentiert in diesem Zusammenhang Hubig. Nach einer Unterscheidung von Mythos als nicht reflexionsfähigem und Ideologie als nicht reflexionswilligem Ordnungssystem entwickelt er eine privative Eingrenzung des Mythos durch ein „negatives Naturrecht", das an die Stelle der dogmatischen Erklärungen des Mythos treten solle. Gegen die Lösungen von Marquard und Hubig mag man einwenden, die Betonung der Individualität oder auch die Bezugnahme auf Instanzen eines negativen Naturrechtes stellten selbst eine Wertsetzung dar, lassen also nach dem Gesagten den Verdacht aufkommen, hier werde mit Mitteln eines vernünftig-normativen Diskurses etwas behauptet, was selbst im Mythos wurzele. Dieser Vorwurf läßt sich aber gerade auf dem Hintergrund der Überlegungen von Topitsch und Schupp ausräumen; denn da ein Monomythos im Sinne Marquards gerade durch seinen Anspruch auf alleinige Zulässigkeit und Wahrheit gekennzeichnet ist, wird seine Genese — im Gegensatz zu Topitschs Forderung — ebensowenig reflektiert wie seine Kontingenz, von der Schupp verlangt, daß sie im theoretisierten Mythos mitzubedenken sei. Wenn auch der Sinngehalt des Mythos grundsätzlich nicht ausschöpfbar ist, wird deshalb doch in jedem Einzelfall die Reflexion über Mittel und Reichweite der Vernunft einerseits und die Rechenschaft über die implizierten mythischen Gehalte andererseits als Aufgabe bestehen bleiben. Ist der Mensch ,mythenpflichtig', so ist er nicht minder ,vernunftpflichtig'; Mythenpflichtigkeit und Vernunftpflichtigkeit zu vermitteln ist deshalb die im Einzelfall je neu zu bewältigende Aufgabe.

III Das Verhältnis von Philosophie und Mythos wurde in den vorausgehenden einleitenden Bemerkungen in einem bestimmten systematischen Zusammenhang gesehen. Diese Überlegungen erfolgten jedoch im Nachhinein und im Versuch, eine Summe aus den Konvergenzen des Forschungskolloquiums des Instituts für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin vom Wintersemester 1977/78 zu skizzieren. Das Kolloquium selbst sollte ein möglichst breites Spektrum von Standpunkten zur Darstellung

Einleitende Überlegungen z u m Verhältnis von Philosophie und M y t h o s

XI

bringen: Nach dem einleitenden, den Problemhorizont umreißenden Vortrag von E. Topitsch kommen neben der Position eines Altphilologen die Sichtweise eines Hermeneutikers, eines Religionsphilosophen, eines Wissenschaftstheoretikers, eines Phänomenologen und eines Technikphilosophen zur Sprache, ergänzt durch die Behandlung zentraler Auseinandersetzungen mit dem Mythosbegriff, wie sie sich in der Aufklärung und Romantik, bei Nietzsche, bei Cassirer und in Horkheimer/Adornos Kritik der Aufklärung finden. In dieser Anordnung — teilweise unter Bewahrung der Vortragsform — sind die überarbeiteten Beiträge hier wiedergegeben. Der Dank des Herausgebers gilt allen Teilnehmern des Kolloquiums, er gilt der Technischen Universität Berlin für dessen Finanzierung und Herrn cand. phil. U. J. Schneider für die Erstellung des Namensregisters. Der de Gruyter-Verlag hat in verständnisvoller Zusammenarbeit eine schnelle und sorgfältige Drucklegung ermöglicht. Hans Poser

Inhalt H A N S P O S E R : Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Mythos

V

E R N S T T O P I T S C H : Gemeinsame Grundlagen mythischen und philosophischen Denkens

1

W A L T E R B U R K E R T : Mythisches Denken. Versuch einer Definition an Hand des griechischen Befundes

16

O D O M A R Q U A R D : Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie

40

F R A N Z S C H U P P : Mythos und Religion: Der Spielraum der Ordnung . .

59

K U R T H Ü B N E R : Mythische und wissenschaftliche Denkform

75

G E R D B R A N D : Welt, Geschichte, Mythos

93

F R I E D R I C H R A P P : Technik als Mythos

110

H A N S P O S E R : Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung 130 H E L M U T G . M E I E R : Orte neuer Mythen. Von der Universalpoesie zum Gesamtkunstwerk 154 J Ö R G S A L A Q U A R D A : Mythos bei Nietzsche

174

J O H N M I C H A E L K R O I S : Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer . . 199 C H R I S T O P H H U B I G : Dialektik der Aufklärung und neue Mythen. Eine Alternative zur These von Adorno und Horkheimer 218 Namensregister

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ERNST TOPITSCH

Gemeinsame Grundlagen mythischen und philosophischen Denkens Wenn wir vom Mythos, von der Philosophie und ihrem gegenseitigen Verhältnis sprechen, so scheint dies vorauszusetzen, daß wir es hier mit zwei in sich einigermaßen homogenen und voneinander historisch und systematisch einigermaßen abgrenzbaren Gruppen geistiger Gebilde zu tun haben. Die beiden Begriffe erscheinen vertraut, gängig und handlich und wir haben wenig Bedenken, uns ihrer zu bedienen. Dazu kommt oft die weitere Überzeugung, der geistige Weg der Menschheit führe vom Mythos zum Logos, ja man könne sogar aufeinanderfolgende Stadien dieses Weges unterscheiden, etwa im Sinne des von Auguste Comte behaupteten Fortschrittsgesetzes. Das alles ist aber wohl nicht einfach falsch, bedarf jedoch sehr wesentlicher Spezifizierungen. Gewiß ist es nicht unzulässig, jene beiden Ausdrücke in erster Annäherung und in einer sehr globalen Weise zu gebrauchen. Aber beim Versuch einer begrifflichen Präzisierung treten sehr erhebliche Schwierigkeiten auf. Es wird nicht leicht sein, einen auch nur einigermaßen klaren Oberbegriff für alles das zu finden, was wir üblicherweise als mythische Vorstellungen bezeichnen. Hierher zählt etwa der Glaube an den als handelndes Wesen fortexistierenden „lebenden Leichnam" oder die chronique scandaleuse der homerischen Götter, die indo-arische Weltordnung Rita und das vom Urvogel gelegte Weltei, die gnostische Lehre von den in die Materie gefallenen Lichtfunken oder die Astrologie, von der Ernst Cassirer gesagt hat, sie sei „rein formal betrachtet, einer der großartigsten Versuche systematisch-konstruktiver Weltbetrachtung, der je vom menschlichen Geiste gewagt wurde" 1 . Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit, die freilich nicht in erster Linie wissenschaftlichen Charakter trägt und heute wohl praktisch weniger Gewicht hat als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. Damals stieß es noch weithin auf erheblichen Widerstand, wenn man auch die Leitvorstellungen der christlichen Religion in den Mythos einordnete — es sei hier nur an die Diskussionen um Rudolf Bultmanns Thesen von der Entmythologisierung erinnert. 1

E. Cassirer: Die Begriffsform im mythischen Denken, Leipzig 1922, S. 35.

2

Ernst Topitsch

N o c h schlimmer steht es jedoch um die Philosophie. Was üblicherweise unter diesem ehrwürdigen Namen aufgetreten ist und noch auftritt, ist völlig disparaten Charakters. Wenn wir uns etwa an dem Inhalt der gängigen Darstellungen der Philosphiegeschichte orientieren, wird es schwer sein, für Konfuzius, Yájñavalkya oder Anaximander auf der einen und Bertrand Russell, Rudolf Carnap oder Karl R . Popper auf der anderen Seite einen gemeinsamen Nenner ausfindig zu machen. Allein schon dadurch stößt auch eine Abgrenzung zwischen Mythos und Philosophie auf erhebliche Schwierigkeiten. Man hat übrigens längst gesehen, daß hier sehr enge Verwandtschaften vorliegen, die einer UnUnterscheidbarkeit zumindest manchmal sehr nahe kommen. Die Geschichte der Metaphysik erscheint geradezu „als der immer neu unternommene, aber niemals zum Abschluß gebrachte Versuch einer logischbegrifflichen Auslegung von urtümlichen Mythen, in denen der Menschheit das Wesen der menschlichen Existenz urbildhaft aufgegangen ist. Der M y t h o s erscheint als der verborgene Quell der Metapyhsik und zwar in einem tiefen inneren Sinn — es scheint, als ob im Mythos selbst der Drang nach einer begrifflichen logischen Auslegung, nach einer spekulativen Schematisierung und Systematisierung liege" 2 . Bei vielen geistesgeschichtlich hochbedeutsamen Erscheinungen, etwa bei der Gnosis, verfließen Ausprägungen, welche man nur als mythisch-magisch bezeichnen kann, mit solchen, die durchaus der Philosophie zuzurechnen wären wie etwa das System des Valentinos 3 . Darüber hinaus ist die Tatsache von entscheidender Wichtigkeit, daß im Bereich des Judentums, des Christentums und des Islam die Deutungen der Welt, der Seele und des Erkennens von religiösen Autoritäten abhängig waren, was auch in dem berühmt-berüchtigten Wort von der Philosophie als ancilla theologiae seinen Niederschlag gefunden hat. Die Verbreitung abweichender Auffassungen wurde durch jene Autoritäten unterbunden oder bestraft. Zumal für das, was an den Universitäten unter dem Titel der Philosophie gelehrt wurde, galten vielerorts bis weit in unser Jahrhundert hinein die bissigen Bemerkungen Schopenhauers: „In Folge hiervon wird, so lange die Kirche besteht, auf den Universitäten stets nur eine solche Philosophie gelehrt werden dürfen, welche, mit durchgängiger Rücksicht auf die Landesreligion abgefaßt, dieser im Wesentlichen parallel läuft und daher stets, — allenfalls kraus figuriert, seltsam verbrämt und dadurch schwer verständlich gemacht, — doch im Grunde und in der Hauptsache nichts anderes als eine Paraphrase und Apologie der Landesreligion ist. Den unter diesen Beschränkungen Lehrenden bleibt sonach 2 3

E. Benz: Adam. Der Mythus vom Urmenschen, München 1955, S. 26f. Zum valentinianischen System vgl. H. J . Krämer: Der Ursprung der 2. Auf., Amsterdam 1967, S. 238ff.

Geistmetaphysik,

Gemeinsame Grundlagen mythischen und philosophischen Denkens

3

nichts anderes übrig, als nach neuen Wendungen und Formen zu suchen, unter welchen sie den in abstrakte Ausdrücke verkleideten und dadurch fade gemachten Inhalt der Landesreligion aufstellen, der alsdann Philosophie heißt" 4 . Daran ändert sich grundsätzlich nichts, wenn an die Stelle der Bevormundung durch konfessionelle Autoritäten eine solche durch politisch-ideologische tritt, wie dies etwa bei der sowjetischen Partei- und Staatsscholastik der Fall ist. Teils innerhalb, öfter aber außerhalb der kirchlichen Orthodoxie hat eine Vorstellungswelt weitergewirkt, welche die Philosophie nicht nur, aber besonders in Deutschland erheblich beeinflußt hat und die auf spätantike Selbstvergottungsmysterien zurückgeht. Es sind dies neuplatonischgnostische, kabbalistische und hermetische Traditionen, deren Bedeutung nicht zuletzt deshalb sehr unterschätzt wird, weil sie im Randbereich mehrerer akademischer Disziplinen liegen und daher von diesen gleichermaßen vernachlässigt oder sogar ignoriert werden. Das zentrale Motiv dieser Lehre ist der Glaube, daß der Mensch sich in ein göttliches oder gottähnliches Wesen verwandeln und dadurch ganz oder teilweise der Vollkommenheiten teilhaftig werden kann, die man der Gottheit zuschreibt: Leidlosigkeit, Unsterblichkeit, Allwissenheit oder sogar Allmacht 5 . Man möchte solche Uberzeugungen nicht nur als mythisch bezeichnen, sondern sie schlechtweg in den Bereich eines absurden Aberglaubens verbannen. Doch sind sie bis weit in das angeblich so aufgeklärte 18. Jahrhundert, ja selbst darüber hinaus, in geistig oder sogar politisch einflußreichen Kreisen allen Ernstes vertreten worden. Beginnend mit dem Rückgriff der Renaissance auf die Spätantike, hat dieses Gedankengut eine untergründige, aber außerordentliche Wirkung erzielt. Leider sind diese Zusammenhänge noch lange nicht ausreichend erforscht, ja zum Teil noch nicht einmal richtig bemerkt worden. Eine verdienstvolle, aber nur Teile des mächtigen Komplexes behandelnde Untersuchung bildet Will-Erich Peuckerts Trilogie „Gabalia", „Pansophie", „Das Rosenkreutz" und später hat Rolf Christian Zimmermann in seinem bemerkenswerten Buch „Das Weltbild des jungen Goethe" die Bedeutung der hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts für die geistige Entwicklung unseres größten Dichters heruszuarbeiten versucht 6 . Solche Uberlieferungen wurden vor allem in den freimaurerischen und rosenkreuzerischen Geheimgesellschaften gepflegt, wo sich die theosophischen und alchemistischen Spekulationen der „Erleuchteten" oft mit 4

5

6

A. Schopenhauer: Uber die Universitäts-Philosophie, Werke, Ausg. Frauenstädt, Bd. V, S. 152 f. Vgl. E. Topitsch: Gottwerdung und Revolution, Pullach b. München 1973.

R. C. Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe, München 1969.

4

Ernst Topitsch

politischen Machtansprüchen verbanden. Zu den Mentoren dieser Kreise zählten Swedenborg und Oetinger, aber wichtige Verbindungen führen auch zur Romantik, zu Schelling und Hegel. Auf die Bedeutung der maurerischen Traditionen für den letzteren hat vor kurzem Jacques D'Hondt in seinem aufschlußreichen Werk „Verborgene Quellen des Hegeischen Denkens" mit Recht hingewiesen7. Es ist im gegebenen Rahmen nicht möglich, das Hegeische System als anspruchsvolle Hochstilisierung zentraler Motive der Selbstvergottungsmysterien näher zu behandeln. Darum mögen hier zwei knappe Hinweise genügen. Der Gedanke, durch spekulatives Einswerden mit dem göttlichen Geist dessen urbildliche Schöpfungsideen erfassen zu können und so der göttlichen Allwissenheit teilhaftig zu werden, findet sich bereits in der Antike. In diesem Sinne präsentierte aber noch Hegel seine „Logik" als „das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens . . . Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist"8. Es entspricht auch völlig den Uberlieferungen der Selbstvergottungsmysterien, wenn Hegel die Ansicht vertritt, der göttliche Urgrund gewinne erst auf dem Wege über seine Verendlichung zur Welt und die — letztlich doch in den Einzelsubjekten erfolgende — Bewußtwerdung dieses Prozesses seine wahre und sich wissende Vollkommenheit und Göttlichkeit. Ohne die Welt ist Gott nicht Gott und das Wissen des göttlichen Geistes von sich selbst vollzieht sich durch die Vermittlung des endlichen Geistes, in dem sich selbst vergöttlichenden Ich des Menschen. Ich habe dieses Beispiel vor allem angeführt, um erstens auf ein äußerst wichtiges Desiderat der geistesgeschichtlichen Forschung hinzuweisen, denn von hier aus könnte sich eine tiefgreifende Umgestaltung des gängigen Bildes der kulturellen Landschaft des 18. Jahrhunderts ergeben. Solange diese Arbeit nicht geleistet ist, sind wir auch nicht in der Lage, das genaue Ausmaß des Einflusses der neuplatonisch-gnostischen, kabbalistischen und hermetischen Traditionen zu bestimmen. Schon jetzt aber läßt sich sagen, daß dieser wesentlich größer war als man gemeinhin annimmt. Zweitens kann man gerade an diesem Beispiel zeigen, wie sehr die philosophische Spekulation — und das Hegeische System gilt ja als hervorragendes Specimen einer solchen — in Gedankenmassen eingebettet und aus ihnen gespeist ist, die man nach dem gängigen Sprachgebrauch durchaus als mythisch bezeichnen muß. 7 8

J. D ' H o n d t : Verborgene Quellen des Hegeischen Denkens, Berlin 1972. G . W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, I. Teil, hrsg. v. G. Lasson, Meiner PhB 56, Hamburg 1963, S. 31.

Gemeinsame Grundlagen mythischen und philosophischen Denkens

5

Natürlich mag man trotzdem versuchen, eine Reihe von Abgrenzungskriterien zwischen Mythos und Philosophie festzulegen — etwa das Verblassen oder Verschwinden anthropomorpher Göttergestalten, das langsame Aufbrechen der in den mythischen Formen der Weltauffassung beschlossenen Schwierigkeiten oder das Auftauchen der Frage, was Erkenntnis sei und wie sie zustande komme. Weit fruchtbarer ist jedoch eine Betrachtungsweise, die zwar die üblichen Ausdrücke Mythos und Philosophie zu einer sehr groben Umschreibung gewisser Gruppen von Gedankengebilden beibehält, aber statt der oft höchst problematischen Abgrenzung die oft verblüffende Ubereinstimmung, Kontinuität und Verflechtung ins Auge faßt. Es ist mehr als ein bloßes Bonmot, wenn man im Anschluß an das berühmte Wort von Clausewitz die Philosophie als Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln bezeichnet hat. Hier machen sich Sachverhalte geltend, die bis in die Grundlagen nicht nur der menschlichen Weltauffassung, sondern überhaupt der praktischen Orientierung der höheren Lebewesen in ihrer Umwelt zurückreichen. Wie die Verhaltensforschung gezeigt hat, beruht die tierische Orientierung in der Welt zu erheblichem Teile auf ererbten Mechanismen, die auf bestimmte lebenswichtige Umweltdaten selektiv ansprechen und zugleich eine der betreffenden Situation angemessene Reaktion auslösen; dazu kommt besonders bei den höheren Tieren noch das Hervorrufen einer entsprechenden Gefühlsaufwallung. So üben diese Steuerungsmechanismen eine dreifache Funktion in einem aus: sie informieren (mit einer gewissen Verläßlichkeit) über das Vorliegen lebensbedeutsamer Gegebenheiten in der Umwelt, sie bewirken ein adäquates Verhalten und sie produzieren gleichzeitig eine damit verbundene emotionale Erregung. Man kann sie daher auch Asplur¡funktionale Führungssysteme bezeichnen9. Schon bei den höheren Tieren werden diese Auslösemechanismen in recht erheblichem Maße durch Erfahrungsbildung und wenigstens ansatzweise durch gruppenspezifische „Traditionen" des Verhaltens ergänzt, beim Menschen aber wird die instinktgebundene Weltorientierung weitgehend durch das Lernen und durch sozial-kulturelle Uberlieferungen ersetzt, doch begegnen wir auch bei ihm wieder plurifunktionalen Führungssystemen. Diese beruhen vor allem auf dem Zusammenwirken von Sprache und gesellschaftlichem Leben. Der wohl vorwiegend soziale und emotionale Charakter des frühmenschlichen Sprechens hat sich wahrscheinlich bis in die Kategorienbildung hinein ausgewirkt: die lebenswichtigsten und gefühls-

9

E. Topitsch: Phylogenetische und emotionale Grundlagen menschlicher Weltauffassung, Torino 1962, neu abgedr. in W. E. Mühlmann - E. W. Müller (Hrsg.): Kulturanthropologie, Köln-Berlin 1966, S. 50ff.

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Ernst Topitsch

mäßig am stärksten ausgezeichneten Sachverhalte — die Beziehungen zu den Mitmenschen — liefern die Ausdrücke, die auch auf bedeutsame belebte und unbelebte Objekte angewendet werden. Die so entwickelten Bezeichnungen für Personen und personifizierte Dinge bilden als urtümliche Gruppe von Substantiven die Grundlage für die spätere Substanzkategorie, während die kaum weniger wichtigen Ausdrücke für menschliche oder den vermenschlichten Gegenständen zugeschriebene Verhaltensweisen, Willenserlebnisse oder Stimmungen samt ihrer Ausdehnung auf sonstige Vorgänge und Veränderungen den Grundstock für die Gruppe der Tätigkeits- und Zeitwörter darstellen. Diese Sprachformen suggerieren die Deutung des Weltgeschehens nach dem Modell sozialer Handlungszusammenhänge. So erscheint schließlich das Universum als großes Sozialgebilde, das nicht nur die menschliche Gesellschaft, sondern auch die soziomorph gedeutete Natur umfaßt, es erscheint als Familie, Sippe, Oikos, Polis oder Staat. Dabei werden aber nicht nur die sozialen Verhältnisse als analogiehafte Modellvorstellungen auf den Kosmos übertragen, sondern in Rückanwendung dieser Projektion auf ihr Urbild wird die irdische Gemeinschaft in die kosmische eingefügt und ihr untergeordnet: der soziale Mikrokosmos gilt nur mehr als Abbild des allumfassenden soziomorphen Makrokosmos. Nun bildet schon die Sprache als solche einen integrierenden Bestandteil der gesellschaftlichen Verhaltenssteuerung. Sie ist ein plurifunktionales Führungssystem, in welchem mit der Benennung und Darstellung der Gegenstände meist auch ein wertender Gefühlston und eine Anweisung verbunden ist, wie man sich zu ihnen verhalten solle. Dabei sind die in der Sprache mitgegebenen werthaft-normativen Elemente natürlich diejenigen, die in der betreffenden Gruppe gebräuchlich sind und als verbindlich gelten. Aber das Individuum ist nicht nur dergestalt der unbewußt wirkenden Steuerungsfunktion der Sprache anheimgegeben, sondern die sozialen Normen treten ihm auch im Bild des Universums gewissermaßen wie in einem Vergrößerungsspiegel mit kosmischer Autorität gegenüber. Ihre Übertretung bedeutet daher nicht bloß eine Durchbrechung der Verhaltensformen einer bestimmten Gruppe von Menschen, sondern eine Verletzung der allumfassenden Weltordnung. Im Rahmen derartig ins Universale gesteigerter Führungssysteme sind neben den erwähnten soziomorphen häufig auch technomorphe Analogien anzutreffen. Bestimmte Gegenstände oder auch die ganze Welt gelten als das Ergebnis eines künstlerisch-handwerklichen Verfertigens nach einem vorgefaßten übermenschlichen Werkentwurf. Wohl schon in vorgeschichtlicher Zeit hat man den Himmel als Mantel oder Zeltdach betrachtet und später wurden vor allem bestimmte Lebensvorgänge — wie die Morphogenese und die Konstanz der Arten — als Verwirklichung vorgegebener Werkpläne der

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„Natur" gedeutet. Solche Vorstellungen lassen sich im Rahmen plurifunktionaler Führungssysteme leicht mit normativem Anspruch auf das Verhalten des Menschen rückübertragen: das irdische Bauwerk soll dem Himmelsgebäude nachgebildet sein, das menschliche Handeln soll dem „Wesen", dem von der „Natur" vorgefaßten Entwurf des Menschen entsprechen usw. Schließlich wäre noch eine weitere Gruppe von Modellvorstellungen zu nennen, die vor allem der Magierekstatik und den Reinigungskulten schamanistischer und verwandter Prägung entstammt. Nach diesen ekstatisch-kathartischen Traditionen kann sich die Seele in gewissen Ausnahmezuständen vom Körper lösen und hat in solchem — aller irdischen Fesseln ledigen — Zustand zauberische Macht und hellseherische Fähigkeiten. Zwar sind diese Vorstellungen an sich moralisch-politisch neutral, lassen sich aber auch den Bedürfnissen institutioneller Menschenführung verfügbar machen. Jedenfalls liegt der Kernbereich der Führungssysteme näher bei jenen Modellen, die aus der Lebens weit des Menschen in das Universum projiziert und von dort mit autoritativem Anspruch auf die menschlichen Verhältnisse rückbezogen werden. Dieser Mechanismus von Projektion und Reflexion liegt übrigens auch der Astrologie zugrunde, die ja in den archaischen Hochkulturen ausgesprochen politischen Charakter trug: nach Analogie des irdischen — und zumal staatlichen — Mikrokosmos wurde der astrale Makrokosmos gedeutet, und aus diesem schloß man auf jenen zurück. Aus solchen Ansätzen hat sich in den Hochkulturen des Alten Orients die imponierende Gesamtdeutung des Universums als einer kosmischen Herrschaftsordnung, eines großen Staates entwickelt, die legitimierend und festigend auf die irdische Herrschaftsordnung zurückwirkte und daher von deren Vertretern nachdrücklich gegen jede Kritik geschützt wurde. In ihren noch nicht durch die Rationalisierung beeinträchtigten Vollformen haben diese eng mit der Sozialstruktur verbundenen Gedankengebilde zunächst die Funktion der Welterklärung. Sie enthalten Informationen über (wirkliche oder vermeintliche) Tatsachenverhältnisse, und zwar besonders über Zusammenhänge zwischen Handlungen und Handlungsfolgen — dies gilt auch für die Astrologie. Die Uberzeugung vom Bestehen solcher Zusammenhänge bildet dann oft die Grundlage von Verhaltensnormen (im Sinne hypothetischer Imperative), etwa wenn man glaubt, durch genaue Beobachtung moralischer oder ritueller Vorschriften Naturkatastrophen abwenden zu können, oder wenn man mit Hilfe astrologischer Therapien Krankheiten zu heilen versucht. Doch können solche Gedankengebilde auch ohne die Annahme derartiger Zusammenhänge eine Funktion der Handlungssteuerung ausüben, indem sie den

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Menschen die Uberzeugung vermitteln, daß die sozialen Normen in der Struktur des Universums verankert und daher für ihn schlechthin gültig sind. Dazu kommt schließlich die emotionale Wirkung, die sich im Sinne einer Welterklärung oder einer Weltüberwindung äußern kann. Für die optimistische Variante ist der Kosmos eine nicht nur gerechte, sondern auch schöne und erhabene Ordnung, in der sich der Mensch geborgen fühlen kann. Für die pessimistische ist das Universum zwar leidvoll, böse, ja mitunter teuflisch, aber es ist keine letzte Wirklichkeit, es hat keine absolute Macht über uns. Unser wahres Selbst, unsere Geistseele, kann es aktiv überwinden oder ihm doch auf einem Heils weg entrinnen. Zunächst sind diese Formen der Weltauffassung aber stark lebenspraktisch orientiert. Sie sollen den Menschen nicht etwa bloß gefühlsmäßige Befriedigung vermitteln, sondern weit Handgreiflicheres: Nahrung, Gesundheit, Sieg. Gerade hier setzt jedoch die Kritik am frühesten ein. Die langsame Erweiterung der Einsichten in die tatsächlichen Kausalbeziehungen läßt die mythischen Annahmen über die Zusammenhänge von Handlungen und Handlungsfolgen unglaubwürdig werden. Man erkennt etwa, daß Naturkatastrophen nicht auf moralische Verfehlungen, sondern auf physische Ursachen zurückzuführen sind. Dadurch tritt der Glaube an die Leistungsfähigkeit dieser Vorstellungen für die Welterklärung stark zurück, während sich die anderen Funktionen in den Vordergrund schieben. Beispielsweise bleibt von der Annahme magischer Wechselwirkungen zwischen Kosmos und Gesellschaft nur die bloß normative Forderung übrig, die menschliche Staats- und Moralordnung soll irgendwie „der Ordnung des Alls" entsprechen, oder lediglich die betrachtende Versenkung in die Schönheit und Harmonie eines verklärten Universums. In ähnlicher Weise schwindet die Uberzeugung von der aktiven Weltüberlegenheit, der Zauberkraft der vom Leibe gelösten Seele, und es bleibt nur der Glaube an die kontemplative Weltüberlegenheit des innersten Wesenskernes des Menschen, seines „wahren Selbst". Dieser Prozeß ist für den Übergang von den archaischen Vollformen des Mythos zu seinen rationalisierten Spätformen in der traditionellen Philosophie charakteristisch. Es handelt sich um einen sehr deutlich ausgeprägten Rückzug aus dem Bereiche falsifizierbarer Behauptungen in denjenigen des nicht Falsifizierbaren, nämlich in die Gebiete ethischpolitischer Handlungsanweisungen oder kontemplativer Formen der Verklärung bzw. Uberwindung der Welt. Diese Immunisierungsstrategie führt zugleich auch zu einem Verblassen der lebendigen Bildhaftigkeit und zu einer Verarmung des konkreten Inhaltes des Mythos. Im Verlaufe solcher Rationalisierungsprozesse werden ferner oft die inneren Widersprüche der mythischen Uberlieferungen bewußt und damit zu Problemen philosophischer Spekulation.

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Es ist im gegebenen Rahmen nicht möglich, im einzelnen auf das Verhältnis zwischen den mythischen und den daraus entwickelten philosophischen Formen der Interpretation des Kosmos, des Individuums und des Erkennens einzugehen. Hier kann nur angedeutet werden, daß schon die frühe griechische Philosophie soziomorphe und technomorphe Modelle in größtem Ausmaße zur Deutung des Universums in seiner Gesamtheit wie auch einzelner Ausschnitte aus diesem verwendet hat, und das gleiche gilt auch für die Interpretation des Individuums und seiner Seele — man denke an den „Seelenstaat" der platonischen Politeia oder an die aristotelische Auffassung der Seele als der Form des Leibes. Große Bedeutung haben auch die ekstatisch-kathartischen Seelenvorstellungen erlangt, die aus der orphisch-pythagoreischen Mysterienreligiösität besonders über Piaton in die philosophische und theologische Tradition des Abendlandes eingeflossen sind. Aus diesen Quellen stammt die Überzeugung, daß das „wahre I c h " des Menschen dem Realitätsdruck — T o d , Leid, Bedürftigkeit, Schuld — grundsätzlich überlegen sei oder doch auf einem Heilsweg entzogen werden könne. Auf dem Boden dieses älteren Uberlieferungsgutes hat sich auch die Beschäftigung mit dem Erkenntnisproblem entwickelt. Während die vorsokratischen Naturphilosophen das Denken und Erkennen meist als eine vom Körper abhängige Leistung des menschlichen Organismus betrachteten und mit Hilfe technomorpher Modelle zu erklären suchten, drangen seit Empedokles auch ekstatisch-kathartische Vorstellungen in die Erkenntnislehre ein: die vom Leibe unabhängige und unsterbliche „höhere Seele" verfügt nach dieser Auffassung auch über ein höheres Erkenntnisvermögen, welches die den bloßen Sinnen unzugänglichen Heilswahrheiten zu erfassen vermag. Seither stehen einander in der abendländischen Tradition zwei erkenntnistheoretische Grundpositionen gegenüber, die man als „Erkenntnisphysik" und „Erkenntnistheologie" bezeichnen könnte. Zur letzteren sind die verschiedenen Lehren vom reinen Nous, vom weltüberlegenen und leidlosen „ G e i s t " zu rechnen, der sich zur Schau der ewigen Ideen aufzuschwingen vermag oder als „tätige Vernunft" über allen bloß empirischen, psychomentalen Denk- und Erkenntnisvorgängen steht. Diese Gedankengänge haben seither eine außerordentlich bedeutsame, freilich noch lange nicht in ihrem ganzen Ausmaß erkannte Rolle gespielt. Die Anagogé, die Emporführung der Geistseele aus den Tiefen der Sinnenwelt in die erhabenen Höhen des Ewigen und Göttlichen, ist weit über den Bereich der Philosophie hinaus zu einem Grundmotiv der Weltauffassung geworden. So begegnen wir anagogischen Vorstellungen in der Symbolik der Kathedrale ebenso wie in Dantes „Divina Commedia", aber auch der indische Kulturraum hat verwandte Kunstwerke hervorgebracht, vor allem den monumentalen javanischen Tempelberg Borobudur, der

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dem gläubigen Pilger den Weg aus der Welt des Leidens und der Wiedergeburt in das Reich der Leidlosigkeit eröffnen soll 1 0 . Für die Philosophie der Spätantike und in weiterer Folge des Christentums, des Judentums und des Islam war vor allem die Ausgestaltung maßgebend, welche der Gedanken der Anagoge in Neuplatonismus erfahren hat. Bei Scotus Eriugena, Bernhard v. Clairvaux, Bonaventura und Meister Eckhart (um nur einige zu nennen) ist die Metaphysik und zumal die Metaphysik des Erkennens ein itinerarium mentis in Deum, ein Weg unseres Geistes zu Gott. Auch nichtchristliche Denker wie Spinoza haben diese Uberlieferungen aufgenommen. D o c h gibt es noch extremere Möglichkeiten: vor allem in Indien hat man das Motiv der Weltüberlegenheit des „wahren Selbst" bis zur Umkehrung des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt emporgesteigert: nicht wir sind von der gegenständlichen Realität abhängig, sondern die Gegenstandswelt vom „ I c h " , da sie von ihm geschaffen und aus ihm hervorgegangen ist. Aufgabe der Erkenntnislehre ist es dann, den Nachweis für die Richtigkeit dieser These zu erbringen. Solche Gedankengänge liegen auch noch der Kantischen Transzendentalphilosophie sowie dem nachkantischen Idealismus zugrunde und finden sich noch bei Husserl 1 1 . Aus den hier skizzierten Voraussetzungen, die aber von den Denkern nicht durchschaut wurden, ist eine ganze Anzahl der „ewigen Probleme" der philosophia perennis hervorgegangen. Eine Reihe davon ergab sich aus der erwähnten Projektion soziomorpher Modelle in das Universum und ihrer Rückbeziehung auf die menschliche Lebenswirklichkeit. Wenn das „kosmische Gesetz" als absoluter Maßstab über dem irdischen steht, was ist dann sein Inhalt? Wenn die göttliche Herrschermacht zur Allmacht und Allursächlichkeit gesteigert wird, wie kann sie dann von der Verantwortlichkeit für das Übel im allgemeinen und für die menschlichen Missetaten im besonderen entlastet werden? Wenn schließlich die göttliche Allmacht folgerichtigerweise auch das menschliche Handeln bewirkt, ist es dann nicht sinnlos, daß sie dem Menschen zugleich moralische Vorschriften macht? Wenn man, um Gott von der Verantwortlichkeit für das Übel und das Böse zu befreien, dieses als ein „Nichtseiendes" bezeichnet, so ist es damit nicht aus der Welt geschafft, und außerdem ist es dann widersinnig, den Menschen für ein „Nichtseiendes" womöglich mit ewiger Höllenpein zu bestrafen. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich in der Seelenlehre. Ist der menschliche Wesenskern aller Schuld entrückt, dann kann er nicht in 10

"

Zur Interpretation des Borobudur A. J . Bernet Kempers: Ageless Borobudur, Wassenaar 1976, bes. S. 151 ff. E . Topitsch: Die Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie. Kant in weltanschauungsanalytischer Beleuchtung, Hamburg 1975.

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der Rolle des Büßers auftreten, ist die Seele unsterblich, dann kann sie nicht die technomorphe „Form des Leibes" bilden, die ja mit der Auflösung des Individuums untergeht. Eine solche „ F o r m " kommt fernerhin nicht als Subjekt der Schuld und Objekt der Vergeltung in Frage. Wenn weiters das „wahre I c h " dem Realitätsdruck entzogen ist, wie verhält es sich dann zu dem leidunterworfenen empirischen Ich des Menschen? In ähnlicher Weise ergibt sich ein Widerspruch zwischen der oft prätendierten Allwissenheit und Allmacht des „höheren Selbst" und der fortbestehenden wirklichen Unwissenheit und Ohnmacht des betreffenden menschlichen Individuums. Wird schließlich die Weltüberlegenheit eines solchen „wahren I c h " oder einer damit verwandten oder identischen „vollkommenen Wesenheit" bis zur absoluten Einheit, Einfachheit und Einzigkeit, zur Uberzeitlichkeit, zur empirischen, sprachlichen und logischen Unfaßbarkeit und in letzter Konsequenz zur Beziehungslosigkeit gegenüber der empirischen Realität emporgesteigert, so resultieren daraus zahlreiche weitere Rätselfragen. Zunächst ergibt sich das Problem oder Scheinproblem des Verhältnisses zwischen jenem Ich und der Vielzahl der menschlichen Individuen oder überhaupt zwischen dem einen göttlichen Urgrund und der vielfältigen W e l t 1 2 . Ferner wird man einer durch die genannten Vollkommenheitsprädikate definierten Wesenheit auch alles Denken, Erkennen, Wollen und Handeln absprechen müssen, da dieses ja Vielheit und Veränderung impliziert. Damit kann sie aber weder in den soziomorphen bzw. technomorphen Funktionen des Vaters, Herrschers, Gesetzgebers und Richters sowie des planmäßig schaffenden Weltschöpfers gedacht werden. Diese Fragen haben auch und besonders die christliche Theologie beschäftigt, die ja versuchen mußte, sehr verschiedene Gottesvorstellungen auf einen Nenner zu bringen: den Herrscher- und Schöpfergott der Bibel, das weder denkende noch handelnde Eine des Neuplatonismus und den denkenden, aber nur sich selbst denkenden Gott des Aristoteles, der in erhabener Selbstgenügsamkeit die Welt ignoriert 1 3 . Dazu kommen dann noch alle Schwierigkeiten, die sich aus der Erhebung Jesu Christi zur zweiten göttlichen Person ergeben 1 4 . Dadurch ist nicht nur die strenge Einheit und Einzigkeit Gottes in Frage gestellt, woran strikte Monotheisten wie Juden und Mohammedaner Anstoß genommen haben. Vielmehr mußte auch der Gedanke, daß Gott von Menschenhand Leid und Tod zugefügt werden 12

Vgl. W . Schulz: Das Problem

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Diese Schwierigkeiten wirken beispielsweise noch bei Hegel deutlich nach, vgl. M. Puder: Hegels Gottesbegriffe, in: G. K. Kaltenbrunner (Hrsg.): Hegel und die Folgen, Freiburg 1970, S. 253 ff. M. Werner: Die Entstehung des christlichen Dogmas, 2. Aufl., Bern-Tübingen o. J. (1954), bes. S. 512ff.

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der absoluten

Reflexion,

Frankfurt/M. 1963.

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könne, einer Auffassung völlig absurd erscheinen, für welche Gott schlechthin über Leid und Tod erhaben ist. Ganz allgemein ergibt sich aus der Tendenz, eine vollkommene Wesenheit unter dem Gesichtspunkt der Weltüberwindung über jede Beziehung zu der leidvollen, befleckenden und beschränkten empirischen Realität emporzuheben, eine entsprechende Einbuße an Bedeutung für die Welterklärung und Handlungssteuerung. Das zeigt sich besonders in der Mystik. Der folgerichtige Mystiker betrachtet das Wissen um die empirische Realität und das Handeln in dieser als gleichermaßen heilsirrelevant. Überdies neigt er sehr häufig zu einer weitgehenden Entwirklichung der Erfahrungswelt. Diese ist für ihn oft ein bloßes Blendwerk oder doch nur eine Realität zweiten Ranges. Freilich bleibt die Welt ungeachtet dieses Verdiktes bestehen, muß daher schließlich doch irgendwie erklärt werden, und der Mystiker kann sich als lebender Mensch nicht alles innerweltlichen Handelns entschlagen. Solche und verwandte Fragen haben die theologisch-philosophische Spekulation durch die Jahrtausende beschäftigt, ohne eine Lösung zu finden, und sie sind tatsächlich unlösbar, solange man ihre Voraussetzungen nicht aufdeckt und sie damit als Scheinprobleme erkennt. Diese Voraussetzungen bestehen eben in der Verwendung einer Anzahl emotional getönter Modellvorstellungen, die miteinander teilweise oder gänzlich unvereinbar sind, zu bestimmten werthaft-praktischen Zwecksetzungen, die einander ebenfalls widersprechen. Häufig hat man diese Vorstellungen und Zielsetzungen einfach nebeneinander herlaufen lassen und der jeweiligen Situation entsprechend behandelt. Wollte man ethischpolitische Handlungsanweisungen legitimieren, so griff man auf das „Naturgesetz" als Norm zurück, wollte man sich über die Widrigkeiten des Lebens erheben, dann versenkte man sich in die unverbrüchliche „Harmonie des K o s m o s " . Erleichterung des Realitätsdruckes versprach auch der Glaube an den „leidlosen Geist", Befriedigung des Verlangens nach „ausgleichender Gerechtigkeit" und wirksame Beeinflussung menschlichen Verhaltens gewährleistete die Lehre von der Vergeltung im Jenseits usw. Erst wenn diese völlig heterogenen Motive und Modelle zu einem geschlossenen System vereinigt werden sollten, wurde offenkundig, daß hier alles allem auf Schritt und Tritt widerspricht. T r o t z solcher prinzipieller Schwierigkeiten hat sich diese Art der Weltauffassung mit der größten Zähigkeit behauptet. Die wohl wichtigste Ursache dafür lag in ihrer engen Verbundenheit mit institutionell verfestigten Führungssystemen, wie sie in den verschiedenen „Scholastiken" einen Höhepunkt erreichte. Aber auch ohne derartige äußere Garantien versprachen diese Gedankengebilde den Menschen so vielfältige emotionale Befriedigungen und oft auch lebenspraktische Vorteile, daß

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man sich kaum bereitfand, sie unter dem Eindruck rein rationaler Argumente fallenzulassen. Dazu kommt, daß sich eine echte Alternative zu diesen Überlieferungen — nämlich die wertfreie Weltauffassung der modernen Wissenschaften — erst sehr spät entwickelt hat. Um diese Traditionen möglichst gegen alle Einwände abzuschirmen, hat man — unbewußt oder bewußt — die verschiedensten Immunisierungsstrategien benützt. Beispielsweise hat man sich schon sehr früh mit bemerkenswertem Geschick gewisser psychologischer Kunstgriffe bedient. So wurden etwa antike Mysterienkulte gegen jede Uberprüfung durch die Behauptung abgedeckt, jeder Versuch einer Entschleierung der göttlichen Geheimnisse würde deren Heilswirksamkeit für den Neugierigen zunichte machen und diesem obendrein Unglück bringen. Der Kritik hat man aber auch vorgebeugt, indem man jeden Zweifel an den zu schützenden Glaubensgehalten als Ausdruck einer Verblendung deutete, in welcher der „gefallene Intellekt" der Verdammten befangen sei. Geradezu ingeniös ist ein Strategem, mit dessen Hilfe man just aus dem Ausbleiben prophezeiter oder versprochener Ereignisse, also aus der Falsifizierung bestimmter Vorhersagen, eine zusätzliche Uberzeugungswirkung zu gewinnen suchte. Man behauptete nämlich, daß nur der unbedingte Glaube an die betreffende Lehre ihre Heilswirksamkeit gewährleiste — wartete der Adept vergeblich auf den verheißenen Erfolg, so konnte die Schuld an dem Fehlschlag nur bei ihm selbst, bei seiner mangelnden Glaubenskraft liegen, nicht aber bei der Lehre als solcher 15 . Anderer Immunisierungsstrategien haben sich schon in archaischer Frühzeit die Orakelpriester und Astrologen bedient, indem sie ihre Prophezeiungen so abfaßten, daß sie mit jeder oder doch fast mit jeder künftigen Gestaltung der Dinge vereinbar waren; eine subtilere Variante dieses Verfahrens bestand darin, daß man mitunter auch falsifizierbare Voraussagen machte, aber zugleich für den Fall des Fehlschlagens eine unüberprüfbare Erklärung des Mißerfolges bereithielt. Derartige Verfahrensweisen sind auch in den zu philosophischtheologischen Spekulationen rationalisierten Mythen sehr häufig anzutreffen. Ja, der zur Philosophie führende Rationalisierungsprozeß bestand im wesentlichen in der Abstoßung der empirisch prüfbaren und daher falsifizierbaren Elemente des Mythos. Gefördert wurde die Tendenz zum Rückzug in den Bereich des Unüberprüfbaren und allgemein zum Gebrauch von Immunisierungsstrategien durch die soziale Form der philosophischen Auseinandersetzung, nämlich die Disputation. Hier kommt es nicht darauf an, kontrollierbare Informationen zu vermitteln, sondern darauf, sich

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Vgl. L. Festinger u. a.: When Prophecy fails, Minneapolis 1956.

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jeder Widerlegung durch den Gegner zu entziehen. So blieb meist siegreich, wer seine Thesen am geschicktesten immunisierte, doch ließen sich gute Erfolge oft auch mit recht simplen Kunstgriffen erzielen. Zu den letzteren zählt beispielsweise die Verwendung von pseudoempirischen oder (häufiger) pseudo-normativen Leerformeln, also von Ausdrücken, die den Eindruck ewiger Wahrheiten bzw. absoluter sittlicher Prinzipien dadurch erwecken, daß sie mit jedem in Frage kommenden Sach- oder Normgehalt vereinbar sind. Hierher gehören etwa die altehrwürdigen Grundsätze des Naturrechts wie suum cuique tribuere, honeste vivere, neminem laedere usw. Obwohl ihre logischen Mängel ohne weiteres erkennbar sind, haben solche Formeln durch viele Jahrhunderte als echte Aussagen bzw. VerhaltensanWeisungen gegolten. D o c h gibt es auch anspruchsvollere Verfahren. Da jede Widerlegung auf einem Widerspruch beruht (sei es nun ein solcher zwischen Aussagen und Aussagen oder — in weiterem Sinne — zwischen Aussagen und Fakten), so mußte sich der Gedanke aufdrängen, Widersprüche wenn schon nicht generell, so doch in den für die Immunisierung bestimmter Lehren relevanten Zusammenhängen zuzulassen. Solche Versuche erfreuten sich auch im Hinblick auf die oben behandelten widersprüchlichen Motive und Modelle des traditionellen philosophisch-theologischen Denkens großer Beliebtheit. Darüber hinaus können beliebige Gedankengebilde gegen jede logische Kritik abgeschirmt werden, indem man die Geltung der Logik bestreitet oder sogar eine „höhere", etwa eine „dialektische" Logik postuliert, nach welcher diese Gebilde einwandfrei sein müssen; zureichende Angaben über die Kontrollierbarkeit dieser „höheren Logik" werden jedoch nicht gemacht. U m bestimmte Doktrinen gegen jede Kritik durch die empirischrationale Wissenschaft abzusichern, ersinnt man häufig auch besondere — „ h ö h e r e " oder „tiefere" — Wahrheits-, Wirklichkeits- und Erkenntnisbegriffe, die dadurch charakterisiert sind, daß die von ihnen behauptete Wahrheit, Wirklichkeit oder Erkenntnis nicht überprüfbar ist. Hierher zählt beispielsweise die Berufung auf einen besonderen „geisteswissenschaftlichen Erkenntnisbegriff", der in einem beziehungsvollen clairobscur gelassen wird und jedenfalls mit den strengen Methoden philologisch-historischer Wahrheitsfindung wenig zu tun hat. Sehr wirksam können gewisse Lehrgehalte gegen alle wissenschaftliche Prüfung geschützt werden, indem man sie als Voraussetzungen, ja als die „wahren Voraussetzungen" aller Wissenschaft hinstellt. Eine weitere beliebte Immunisierungsstrategie ist die Behauptung, daß an den betreffenden Gedankengebilden nur eine „immanente Kritik" zulässig sei, wobei man als immanente Kritik bloß eine solche anerkennt, die keine wesentlichen Punkte in Frage stellt.

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Einer solchen Abschirmung gegen die Kritik ist die traditionelle Philosophie kaum weniger bedürftig als die Astrologie, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer „ewigen Probleme", nämlich der aus dem Mythos ererbten Widersprüche, als auch bezüglich ihrer „ewigen Wahrheiten", der nach Preisgabe der mythischen Inhalte verbleibenden Leerformeln. Wird nämlich Licht in die historischen und systematischen Voraussetzungen der erwähnten Gedankengebilde gebracht, dann lösen sich jene Probleme oft buchstäblich in nichts auf, und es zeigt sich die völlige Gehaltlosigkeit dieser Wahrheiten. Es wird aber auch offenkundig, daß diese leeren Formeln ihren historischen Erfolg gerade ihrer Inhaltslosigkeit verdanken, die es erlaubt, sie in den Dienst jeder beliebigen moralisch-politischen Zielsetzung zu stellen. Dies gilt für das Naturrecht ebenso wie für die Dialektik. Wenn wir das Ergebnis dieser Überlegungen in schlagwortartiger Kürze zusammenfassen wollen, so können wir sagen, daß die mythische Weltauffassung einen Prozeß der Differenzierung erfahren hat und teilweise noch erfährt, in welchem sich aus ihr einerseits ein überprüfbares Wissen entwickelt, das freilich gewisse werthafte Anliegen nicht befriedigt, andererseits aber ein Restbestand stark emotional geladener Motive und Vorstellungen überbleibt, der mittels einer Fülle von Immunisierungsstrategien gegen jede Überprüfung und damit gegen jedes Risiko eines Scheiterns abgesichert wird 1 6 .

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Eine ausführliche Behandlung der hier nur skizzierten Sachverhalte gebe ich in meinem Buch: Erkenntnis und Illusion. Grundstrukturen unserer Weltauffassung, Hamburg 1979.

WALTER BURKERT

Mythisches Denken Versuch einer Definition an Hand des griechischen Befundes 1 ,Mythos' ist ein griechisches Wort; das Phänomen des Mythos jedoch ist ohne Zweifel keine Besonderheit des Griechischen; die einflußreichsten Studien über ,Mythos* in unserem Jahrhundert sind gerade nicht aus dem griechischen Bereich hervorgegangen — ich denke an Franz Boas, Bronislav Malinowski, Claude Lévi-Strauss 2 . In der Gegenwartssprache wird ,Mythos' dabei in einer merkwürdig ambivalenten Weise verwendet: etwas als ,Mythos' zu bezeichnen, eine Meinung oder Einstellung, heißt sie als unwahr, irrational und vielleicht gar gefährlich denunzieren, als ,falsches Bewußtsein': ,der Mythos des Staates', ,Mythen des Alltags' 3 ; zugleich aber hat ,Mythos' einen erlesenen und nostalgischen Klang, etwa im Sinn der Verse Hugo von Hoffmannsthals vom ,Weltgeheimnis' : „Der tiefe Brunnen weiß es wohl; einst aber wußten alle drum; nun zuckt im Kreis ein Traum herum". Mancher erwartet hier die Wegspur zu finden zum Ausbruch aus unserer Wirklichkeit, die als ebenso rational wie absurd erscheint. Die Wissenschaft freilich kann hierzu kaum die Hand reichen. Was Mythos eigentlich ist, läßt sich indessen nicht leicht definieren, und schon gar nicht in unbestrittener Weise. Ich will hier nicht eine Geschichte der wissenschaftlichen Mythologie geben, der rationalen Auseinandersetzung mit dem Mythos, die nun bereits etwa 2500 Jahre andauert, auch nicht eine systematische Auseinandersetzung mit den aktuellen Theorien von Ritualismus, Psychoanalyse und Strukturalismus 4 ; ich möchte eine 1

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Ausführlicher, mit besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zum Ritual und in Anwendung auf Mythenkomplexe der Alten Welt wird diese Position entwickelt in: Structure and History in Greek Mythology and Ritual. Berkeley, Los Angeles: University of California Press. Sather Classical Lectures (im Druck). F. Boas, Tsimshiam Mythology, in: 31st Annual Report of the US Bureau of American Ethnology, Washington 1916, 29—1037; B. Malinowski, Myth in Primitive Psychology, London, New York 1926, wiederabgedruckt in: Magic, Science and Religion and other Essays, Garden City 1954, 93—148; C. Lévi-Strauss, s. Anm. 27. E. Cassirer, Vom Mythus des Staates, Zürich 1949; R. Barthes, Mythologies, Paris 1957, dt. Ubers. : Mythen des Alltags, Frankfurt 1964. J. de Vries, Forschungsgeschichte der Mythologie, München 1961; G. S. Kirk, Myth. Its Meaning and Function in Ancient and Other Cultures, Berkeley, Los Angeles 1970.

Mythisches Denken

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Definition entwickeln und zur Diskussion stellen, der Klarheit halber in Form von vier Thesen, die sich mir bei meiner Arbeit mit griechischen Mythen ergeben hat. Ich setze dabei voraus, daß in die Definition von ,Mythos' die griechischen Mythen eingeschlossen sein müssen, genauer gesagt der Inhalt griechischer Corpora wie Hesiod — Theogonie und Kataloge — , die griechische Tragödie, und die ,Bibliotheke' des sogenannten Apollodor. ,Homer' ist nur zum Teil .mythisch': das heroische Epos hat eine Tendenz zum Realismus, womit sich noch die quasi aufgeklärte und humane Haltung von Ilias- und Odysseedichter kreuzt. Inwiefern der wichtigste Uberlieferungsträger für den griechischen Mythos in der Abendländischen Tradition, Ovid mit den ,Metamorphosen', den Stoff bewahrt, nicht aber den Mythos selbst am Leben erhalten hat, wird sich zeigen. 1

Meine erste These ist, in Ubereinstimmung mit dem Buch ,Myth' von Geoffrey Kirk 5 : Mythos gehört zur allgemeineren Klasse der traditionellen Erzählung oder Volkserzählung, folktale. Dies ist trivial, und meist eilt man den nächsten Schritt zu tun, den ,echten' Mythos abzugrenzen gegenüber weniger edlen Verwandten wie Märchen, Sage, Legende und Fabel. Und doch lohnt es sich, erst einmal die Gemeinsamkeiten zu bedenken; denn hieraus ergeben sich bereits fundamentale Konsequenzen: zum einen ist Mythos als Erzählung ein Phänomen der Sprache, nicht etwa eine Schöpfung neben der Sprache, gleichberechtigt neben Wortsprache und bildender Kunst, wie schon behauptet wurde6; zum anderen sollte die Einordnung als traditionelle Erzählung von vornherein die Frage erledigen, die die wissenschaftliche und romantische Mythologie seit je beherrscht: die Frage nach dem ,Ursprung' des Mythos. Was immer an Mythenschöpfern entdeckt und präsentiert worden ist, inspirierte Dichter oder lügende Dichter, der Volksgeist in Person oder die tief analysierte Psyche, Grundtatsache ist nicht, daß Mythen ,erschaffen' werden, sondern daß sie tradiert werden und erhalten bleiben, anscheinend auch und gerade in Gesellschaften ohne Schriftlichkeit7. Das Entscheidende ist Rezeption 5 6

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Kirk (s. Anm. 4) 3 1 - 4 1 . W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte II, Berlin (1876) 1905 2 , X f „ „eine der Sprache analoge Schöpfung des unbewußt dichtenden Volksgeistes"; vgl. S. Langer, Philosophy in a New Key, Cambridge, Mass. (1942) 1951 2 , 201 f. Allerdings fehlt es an empirischen Nachweisen für die Stabilität mündlicher Tradition; mehr und mehr meldet sich Skepsis: Th. P. van Baaren, The Flexibility of Myth, in: Ex orbe religionum, Studia G. Widengren, Leiden 1972, II 199-206; D. Fehling, Amor und Psyche. Die Schöpfung des Apuleius und ihre Einwirkung auf das Märchen. Eine Kritik der romantischen Märchentheorie, Abh. Mainz 1977, 9.

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und Tradition, nicht kreative Produktion. Auch eine historische .Krise des Mythos' ist eben eine Krise der Tradition, nicht der Kreativität. Geschichten, die ein individueller Autor erfunden oder maßgebend gestaltet hat, können zum Mythos werden, wenn und nur wenn sie traditionell werden — was oft bezeichnende Veränderungen mit sich bringt — ; nicht selten hat auch erst eine einmalige dichterische Gestaltung einer traditionellen Erzählung zur mythischen Wirkung verholfen — die , Antigone' des Sophokles, oder Schillers ,Wilhelm Teil' —. Vorausgesetzt bleibt die Tatsache, daß es traditionelle Erzählungen gibt, nach deren Form und Funktion in menschlicher Gesellschaft zu fragen ist. Was aber ist eine ,Erzählung'? Philologe der ich bin, sehe ich mich hier gezwungen, die Philologie zu transzendieren: ,Erzählung' im Sinn einer traditionellen Erzählung ist nicht ein gegebener Text. Dieselbe Erzählung kann offensichtlich in Gestalt sehr verschiedener Texte erscheinen, bald besser bald schlechter, ausführlicher oder kürzer erzählt, in Dichtung oder in Prosa. Ein bestimmter griechischer Mythos kann auftreten als ein Buch Homer, ein Exkurs bei Pindar, eine Tragödie, ein Exempel im Chorlied, ein paar Sätze bei Apollodor oder in einem Scholion — ganz verschiedene Texte, aber stets derselbe Mythos, wenn auch vielleicht mit Varianten. Erzählungen, einschließlich der Mythen, sind denn auch ohne weiteres übersetzbar, im Gegensatz zum dichterischen Text. Wo aber fassen wir die Erzählung, den Mythos, der zwar in der Sprache, nicht aber im Text gegeben ist? Ich möchte von der Dreiteilung ausgehen, die analytische Philosophie und Linguistik ansetzen, wobei die von den Stoikern und von de Saussure getroffene Unterscheidung von semaînon und semainómenon, signifiant und signifié mit Freges Trennung von Sinn und Bedeutung8, oder Bedeutung und Bezeichnung, Denotation, Referenz — die Terminologie ist leider nicht fest — gekoppelt ist. Vom konkret faßbaren Zeichen also trennen wir einerseits den Sinn (oder auch .Bedeutung', sense, meaning), und die Bezeichnung, d. h. die Beziehung auf außersprachliche Gegebenheiten. Unter diesem Gesichtspunkt gehört Erzählung, einschließlich Mythos — und dies ist die zweite These — zum Bereich von ,Sinn' oder ,Bedeutung', und weder zum konkret gegebenen sprachlichen Ausdruck noch zur Gegenstandsbeziehung. Das Wesen, die Identität einer Erzählung besteht nicht in ihrer Beziehung auf eine bestimmte pragmatische Wirklichkeit9. Dies möchte ich in ganz radikalem 8

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G . Frege, Über Sinn und Bedeutung, Zeitschr. f. Philos, und philos. Kritik 100, 1892, 2 5 - 5 0 wiederabgedruckt in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung, Göttingen 1962, 38—63; vgl. B. Mates, Stoic Logic, Berkeley 1953; A. Graeser, Piatons Ideenlehre. Sprache, Logik, Metaphysik, Bern 1975. Dies gilt allgemein für fiktionale Literatur (vgl. etwa T. Todorov, Introduction à la littérature fantastique, Paris 1970, dt. übers.: Einführung in die phantastische Literatur,

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Sinn festhalten. Erzählung kann gar nicht in unmittelbarer Weise Wirklichkeit bezeichnen, wie dies ein Elementarsatz leistet: dies ist eine Rose, dies ist rot, dies ist eine rote Rose. Eine Erzählung enthält eine zeitliche Abfolge von Begebenheiten, von denen allenfalls die letzte unmittelbar aufweisbar sein kann; normalerweise erscheint die ganze Erzählung in der Vergangenheitsform. Wirklichkeit und Erzählung sind nicht isomorph: Erzählung spiegelt nicht unmittelbar Wirklichkeit, Wirklichkeit bringt nicht unmittelbar eine Erzählung hervor. Selbst eine ,Life' Reportage von einem sportlichen Ereignis, oder die laufende Darstellung eines Entführungsdramas in den Massenmedien kann doch immer nur einen Ausschnitt aus vielerlei gleichzeitig ablaufenden Interaktionen vermitteln; und wenn man das ganze im Nachhinein in Form einer Erzählung rekapituliert, wird diese noch weit selektiver, aber auch wie von selbst strukturierter, mit Höhepunkten und Peripetien; und in dieser Form kann sie wiedererzählt werden. Durchgesetzt hat sich die Sprache, von der die Grundform der Erzählung stammt: die Linearität. Die heutige Krise des Romans — als Erzählung — und der Geschichte — in der hergebrachten Form der Geschichtserzählung — beruht doch wohl darauf, daß uns ganz andere Methoden des Zugriffs auf die Wirklichkeit zur Verfügung stehen, Informationen wie sie der Computer speichern und verarbeiten kann, Statistiken, Kurven, Tendenzen — dies läßt sich nicht, nicht mehr am Faden einer Erzählung auffädeln. Mythos, als Erzählung, ist nicht unmittelbare Spiegelung einer Wirklichkeit — dies entspricht übrigens ganz der griechischen Verwendung des Wortes mythos, gerade im Kontrast zu lògos: lògos, von légein .sammeln', heißt einzelne nachprüfbare Feststellungen zusammenbringen; ,logon geben' heißt Rechenschaft ablegen; mythos ist demgegenüber die Erzählung, für die man keine Verantwortung übernimmt: „nicht von mir stammt der mythos", geht die Redensart 10 . Die Entlastung von Verantwortung versetzt den Mythos, die Erzählung überhaupt in eine Atmosphäre der Entspannung, trotz aller ,Spannung' im Leerlauf: die Gänsehaut im Lehnstuhl . . . Und doch gilt Mythos als etwas Wichtiges, Ernstes, gar Heiliges: wie geht dies zusammen? Seit der Antike gibt es eine Lösung dieses Problems, die unreflektiert noch oft als einzige Lösung des Problems genommen wird, die ich aber als Kurzschluß bezeichnen möchte: man substituiert in der Deutung des Mythos eine Wirklichkeit, als deren direkte Bezeichnung der Mythos verstanden wird; vom Gegenstand kommt ihm seine Würde

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M ü n c h e n 1972), n u r daß bei Literatur im engeren Sinn die einmalige Gestaltung durch die Schrift bewahrt bleibt. Euripides Fr. 484 (A. N a u c k , Tragicorum Graecorum Fragmenta, Leipzig 1889 2 , 511 f. mit Parallelstellen).

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zu, man muß nur die rechte Auflösung finden, χ = a. Am beliebtesten seit der Antike war die Naturdeutung: Apollon ist die Sonne 11 , und wenn er Niobes Kinder erschoß, hat das verderbliche Gestirn die Pest gebracht; Phaethons Absturz im Sonnenwagen ist Sonnenuntergang mit Abendrot, oder, noch spektakulärer, der Ausbruch des Vulkans von Thera im 15. Jh. v. Chr. 1 2 ; Bellerophon erschlug die feuerschnaubende Chimaira in Lykien — siehe da, es gibt ein Erdgasfeuer in Olympos in Lykien 13 , ich habe es selbst gesehen; das Flügelpferd Pegasos und die Ziegen-Löwen-Schlangengestalt der Chimaira ist ,Phantasie'. Diese direkte Art der Deutung ist nicht mehr in Mode; aber daß Attis und Adonis ,die Vegetation' sind, die stirbt und beweint wird, steht in allen Handbüchern. Das 19. Jh. stellte daneben die historische Deutung: die Abenteuer des Herakles spiegeln die Eroberungszüge der Dorier, der Drachenkampf Siegfrieds den Sieg des Arminius — der vielleicht Siegfried oder Sigurt hieß — im Teutoburger Wald 1 4 ; auch direktere Entdeckungen erreichen das O h r des Publikums, so die Identifizierung des ö d i p u s als Pharao Amenophis IV Echnaton 15 . Nicht alles ist dabei verkehrt: gewiß wurden traditionelle Erzählungen mit Bezug auf Naturphänomene und historische Ereignisse erzählt; der Kurzschluß liegt in der Annahme, der Schlüssel χ = a, der vielleicht ein Türchen öffnet, erkläre das ganze, als wäre der Bau des Mythos direkt durch Tatsachen aus Natur oder Geschichte geschaffen worden. De facto müssen alle diese Deutungen zu Prokrustes-Methoden greifen und die Uberschüsse wegschlagen, wie etwa die Flügel des Pegasos; man nennt sie Phantasie. O b der Mythos die Operation überlebt, ist die Frage. Es gibt sehr viel subtilere Deutungsmethoden, die aber m. E. dem gleichen Kurzschluß verfallen: man findet im Mythos nicht direkte Bezeichnung einer empirischen Realität, sondern einer metaphysischen bzw., in modernerer Weise, einer unbewußten seelischen Wirklichkeit. C. G . Jung war so konsequent zu behaupten, diese seelischen Wirklichkeiten seien eben unbewußt und man könne von ihnen nichts weiter wissen als daß sie sich im Mythos offenbaren 16 . Dies läßt sich also nicht widerlegen. 11

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Seit Aischylos Fr. 83 Mette; P. Boyancé, Apollon Solaire, in: Mélanges J. Carcopino, Paris 1966, 149 - 70. C . Robert, in: Hermes 18, 1883, 440 - A. G. Gelanopulos, in: Altertum 14, 1968, 157-61. Ktesias, in: FGrHist 688 F 45e; Realencyclopädie der class. Altertumswissenschaft VIII 318 f. O . Höfler, Siegfried, Arminius und die Symbolik, Heidelberg 1961. I. Velikovsky, Oedipus and Akhnaton, London 1960, dt. Ubers.: Oedipus und Echnaton, Zürich 1966. C . G . Jung, K. Kerényi, Das göttliche Kind, Amsterdam 1940, vgl. Eranos-Jahrhbuch 6, 1938, 4 0 3 - 4 3 ; Man and his symbols, London 1964; J. Jacobi, Komplex, Archetypus, Symbol in der Psychologie C. G. Jungs, Zürich 1957.

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Mir scheint immerhin, daß, soweit Detailbeobachtungen möglich sind, die behauptete Isomorphic von Erzählung und seelischer Wirklichkeit nicht stattfindet; in Träumen von Patienten, deren Psychiater an Mythen sehr interessiert ist, treten gelegentlich Gestalten auf, die an Gestalten des Mythos erinnern — das Kind, die Alte, der Schatten —. Zur Erzählung als solcher ist's noch ein weiter Schritt; sie gehört offenbar zum verbalisierten, bewußten Bereich. Die metaphysische Deutung spielt noch im Streit um die Entmythologisierung ihre Rolle. Mythos wurde von Schniewind definiert als eine „Vorstellungsweise, in der das Unanschauliche als anschaulich erscheint" 17 . Dies geht über Friedrich Creuzer, für den der Mythos „das Göttliche einer höchsten Idee zur unmittelbaren Anschauung bringt" 18 direkt zurück auf die antike Timaios-Interpretation: Piaton habe mit der Einführung von Demiurg und Weltschöpfung — die nicht im wörtlichen Sinne wahr sein kann — das komplexe Ineinander des ewigen Seins und der Seele in der Erzählung zeitlich auseinandergelegt 19 . Dieses Mythenverständnis hängt also an der Setzung einer metaphysischen Realität, wobei der Begriff des anschaulichen Bildes', das der Mythos bringen soll, ein Nebeneinander von Entsprechungen und Verschiedenheiten und damit eine große Freiheit der Interpretation zuläßt. Trotzdem ist bei vorurteilsloser Betrachtung des Gegebenen die Isomorphic von traditionellen Mythen und postuliertem metaphysischem Gehalt meist nur schwer herzustellen; auch hier bedarf es der Prokrustes-Methoden; und wie ließe sich dann der Vorrang der metaphysischen gegenüber den anderen Deutungen und ihren partiellen Erfolgen rechtfertigen? Charakteristisch am Mythos ist anscheinend gerade die Vieldeutigkeit: derselbe Mythos kann auf ganz verschiedene Aspekte der Wirklichkeit bezogen werden und dabei als sinnvoll, ja als faszinierend erscheinen, je nach Empfänglichkeit des Interpreten. Aber eben die schillernde Vielfalt verbietet, ,Wesen' und ,Ursprung' des Mythos in kurzschlüssiger Festlegung zu suchen. 2 Damit läßt sich die zweite These präzisieren: Traditionelle Erzählungen, jenseits des festen Textes und diesseits der konkreten Wirklichkeit, sind Sinnstrukturen. Strukturalismus ist längst zur Mode geworden, und eine kritische Diskussion der strukturalistischen Theorien 20 würde über den 17 18 19 20

J. Schniewind in: H . W. Bartsch, Kerygma und Mythos, Hamburg 1948 (= 1967s) 79. F. Creutzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker, Leipzig (1810) 18192 91. s. A n m . 75. O . Ducrot, T. Todorov, D. Sperber, M. Safonan, F. Wahl, Qu'est-ce que le structuralismeParis 1968; J. Piaget, Le structuralisme, Paris 1968, 1970 4 dt. Ubers .-.DerStruk-

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Rahmen eines Vortrags weit hinausgehen. Doch sei versucht festzustellen, inwieweit strukturalistische Begriffe und Methoden zur Erfassung von traditionellen Erzählungen, einschließlich Mythen, herangezogen werden können, und warum ich zögere, mich dem Strukturalismus als ausschließlicher Methode oder gar als einer Philosophie zu verschreiben. ,Struktur' heißt ein System von definierbaren Relationen zwischen einem Ganzen und seinen Teilen, die bestimmte Transformationen zulassen; Strukturalismus bedeutet die Annahme, daß eben dieses Bündel von Relationen für das Ganze wie für die Teile konstitutiv ist. Im speziellen versteht sich Strukturalismus als eine Theorie der Zeichen 21 , als Semiologie, mit dem entsprechenden Anspruch, daß die Struktur der Zeichen und ihre möglichen Transformationen für ihre Funktion ausschlaggebend sind. Für den Strukturalismus in der Erzählforschung gibt es zwei Hauptansätze, zwei gleichsam klassische Autoren, Vladimir Propp und Claude Lévi-Strauss. Das Buch von Propp, .Morphologie des Märchens', ist 1928 auf russisch erschienen, aber erst 1958 im Westen bekannt geworden 22 . Propp hat aus dem gesamten Corpus der russischen Zaubermärchen eine einzige Struktur destilliert, eine lineare Reihe von 31 ,Funktionen'; Alan Dundes hat den präziseren Terminus ,Motifeme' vorgeschlagen. Die Proppsche Theorie läßt sich in 3 Theoremen zusammenfassen: 1. Die beständigen Elemente der Märchenerzählung, in allen Varianten, sind die .Funktionen' — und nicht Personen oder Einzelmotive - ; 2. Ihre Anzahl ist begrenzt. 3. Ihre Reihenfolge ist unveränderlich. Dies heißt nicht, daß alle 31 Funktionen in jedem Märchen vorkommen, wohl aber, daß alle Funktionen eines gegebenen Märchens in der idealtypischen Reihe zu finden sind, und zwar an der richtigen Stelle. Kann man dies verallgemeinern, so gilt: eine traditionelle Erzählung — einschließlich Mythos — ist eine feste Folge von ,Motifemen'. Die Akteure sind austauschbar. Dies hat, wie bereits bemerkt 2 3 , durchaus Verwandtschaft mit der Definition, die Aristoteles dem Mythos als der ,Seele des Dramas' gibt: Mythos sei eine sy stasispragmáton mit fester Folge von ,Anfang',,Umschlag' und ,Lösung' — nacharistotelisch katastrophé genannt - . Man hat auch schon vor Propp, um viele

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turalismus, Ölten 1973; G. Schiwy, Der französische Strukturalismus, Reinbek 1969; ders., Neue Aspekte des Strukturalismus, Hamburg 1971;H. Naumann, Der moderne Strukturbeg r i f f , Darmstadt 1973 ; E. Leach (ed.), The Structural Study of Myth and Totemism, London 1967. Ducrot (s. Anm. 20) 10: „les sciences du signe, des systèmes de signes". V. J. Propp, Morfologia skaski, Leningrad 1928, 19692, engl. Ubers.: Morphology of the Folktale, Bloomington 1958, dt. Ubers.: Morphologie des Märchens, München 1972, 1975 2 . P. Madsen, in: Orbis Litterarum 25, 1970, 287-99; E. Güttgemanns, in: Linguistica Biblica 23/4, 1973, 5f.

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Varianten eines Mythos übersichtlich zu vergleichen, die gemeinsamen Elemente durchnumeriert; Propps Fortschritt bestand darin, nur ,Funktionen' zuzulassen, nicht Personen, Qualitäten, Einzelzüge, und ein sehr großes Corpus damit zu analysieren. Er hat nicht behauptet, damit die Struktur jeglicher Erzählung gefunden zu haben — obwohl Theoretiker wie A. Greimas, die Propps Ansatz weiterentwickeln, dies gelegentlich vorauszusetzen scheinen 24 — ; zunächst geht es ums Zaubermärchen, verallgemeinert könnte man vom Typ der ,Suche' oder des ,Abenteuers' sprechen, besser englisch: the quest. Dundes 25 hat, indem er Propps Methode auf Indianermythen anwandte, allgemeinere Sequenzen verwendet, .Mangel' und .Beseitigung des Mangels', oder ,Verbot-Übertretung — Folge — Rettungsversuch'. Von den griechischen Mythen her würde ich vor allem auch eine Sequenz ansetzen, die es mit Zeugung und Geburt zu tun hat, die ,Mädchentragödie': wie ein Mädchen das Elternhaus verläßt, zunächst in einer Idylle lebt, dann einem Gott oder Heros anheimfällt, dafür leiden muß bis zur Rettung nach der Geburt des göttlichen Sohns, diese Reihe kehrt in griechischen Mythen dutzendfach wieder; und es gibt auch eine eigentlich tragische Sequenz mit Verschuldung und Tod des Helden und einer irgendwie folgenden Restitution. Die Verwandlung, die Metamorphose dagegen scheint nicht eine eigene Sequenz zu sein, sondern ein vielfach anwendbares Motiv. Propps Ansatz hat seine Fruchtbarkeit in vielen Studien bewiesen. Problematisch allerdings ist zunächst die Segmentierung: welches sind die Einschnitte, die die Motifeme trennen? Wie weit soll man ins Detail gehen oder Verallgemeinerungen suchen? In der Praxis allerdings zeigt der Vergleich paralleler Fassungen leicht die Nahtstellen, an denen die Varianten sich treffen und auseinandergehen. Störender ist für den Theoretiker der Mangel an System: 31 Funktionen, welch häßliche und zufällige Zahl! So erhebt sich die Forderung: From chain to system/26; und hier beginnt die Faszination von Lévi-Strauss 27 . 24

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A. J. Greimas, Sémantique structurale, Paris 1966 nennt (177) „la quête" als Thema von Propps Reihe, entwickelt jedoch daraus „le modèle actantiel mythique" (180) schlechthin. A. Dundes, The Morphology of North American Indian Folktales, Helsinki 1964. P. Madsen, in: Orbis Litterarum 26, 1971, 194. Seine grundlegenden Publikationen sind: The Structurai Study of Myth, Journal of American Folklore 78, 1955, 4 2 8 - 4 4 , auch in: Th. A. Sebeok (ed.), Myth. A Symposium, Bloomington 1955, 81 — 106, frz. Fassung: La structure des mythes, in Anthropologie structurale, Paris 1958, 2 2 7 - 5 5 , dt. Übers.: Die Struktur des Mythos, in: Strukturale Anthropologie, Frankfurt 1967, 226 - 54; La geste d'Asdival, Annuaire de l'Ecole Pratique des Hautes Etudes, Sciences religieuses 1958, 3 - 4 3 , wiederabgedruckt in: Anthropologie structurale deux, Paris 1973, 175-233; Mythologiques I: Le Cru et le Cuit; II: Du miel aux cendres; III: L'origine des manières de table; IV: L'homme nu, Paris 1964—71, dt. Übers.: Mytbologica I-IV, Frankfurt 1971/5.

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Lévi-Strauss behauptet von vornherein, ein Mythos als chaîne syntagmatique sei „privée du sens"28. Die Folge, die zeitliche Abfolge der Erzählung wird also aufgebrochen, und alle Elemente, Personen, Objekte, Eigenschaften, Handlungen werden verfügbar als Terme abstrakter Relationen, meist binärer Oppositionen — arbeitet doch auch der Computer mit einem binären System —. Lévi-Strauss findet in den Mythen mehrere übereinandergelagerte Codes, etwa einen Code der Nahrungsmittel, der Tiere, der Pflanzen, der Farben, des Raumes; sie entschlüsseln sich gegenseitig, wenn jeweils die fundamentale Opposition gefunden wird. So stehen am Ende der Analyse meist zwei Kolumnen von entgegengesetzten Begriffen, zwischen denen eine dritte Kolumne als Vermittlung, médiation steht; und man hat bereits danach den Mythos definiert: seine Funktion sei eben die Vermittlung eines Widerspruchs 29 . Bevorzugte Opposition bei Lévi-Strauss ist die von Natur und Kultur, aber auch Leben und Tod können eintreten. Ich glaube nicht, daß Lévi-Strauss irgend etwas bewiesen hat; er hat gezeigt, was man mit Mythen machen kann, und damit der Interpretation ein neues, weites Feld geistreicher Exerzitien eröffnet, jenseits der abgegrasten historisch-philologischen Ebene, obendrein mit dem Versprechen, Geisteswissenschaft nun endlich zu einer science zu machen. Der nächstliegende Einwand, daß hier Strukturen produziert werden, von denen niemand zuvor eine Ahnung hatte, auch nicht die Tradenten der Mythen selbst, wird ausgeräumt: auch der ,native speaker' kennt die Grammatik der eigenen Sprache nicht explizit und hält sich doch daran 30 . Sollte dies nicht für geistig-kulturelle Erscheinungen als Kommunikationssysteme schlechthin gelten? Also laßt uns die strukturalistischen Spiele mitspielen; ich selbst habe dadurch jedenfalls gelernt, Einzelheiten zu bemerken, die man bisher übersehen oder für völlig belanglos gehalten hatte. Kritik an Lévi-Strauss wird von Pariser Adepten in der Regel mit der Versicherung erwidert, der Kritiker habe Lévi-Strauss mißverstanden 31 . Trotzdem wage ich, in drei Punkten meine Reserven zu formulieren: 1. Mathematische Formulierung der science ist nur sinnvoll, wenn sie allgemein ist, d . h . für mehr als einen Fall gilt, und wenn sie über Banalitäten hinausgeht. Wenn ich einem Physiker erzählen wollte, die Grundformel der Elektrizität sei — 1 + 1 = 0, mit der bemerkenswerten Umkehrung daß auch + 1 — 1 = 0 ist, würde dieser kaum in Begeisterung ausbrechen. Aber ist die Behauptung, Mythos sei eine médiation 28 29

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Mythologiques / , 313. Lévi-Strauss bei Sebeok (1955) (s. Anm. 27) 105: „the purpose of myth is to provide a logical model capable of overcoming a contradiction". Lévi-Strauss, Antropologie structurale (s. Anm. 27) 2 5 - 3 3 . Vgl. M. Detienne, Dionysos mis à mort, Paris 1977, 1 8 - 2 1 gegen Kirk und E. R. Leach.

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zwischen polaren Gegensätzen, wirklich über diesem Niveau? Außerdem gilt sie nicht für alle Mythen, aber sicher für andere Formen von Erzählungen, für Utopie und Witz. Die eigentliche Formel der médiation, die Lévi-Strauss in seinem Aufsatz über die Struktur der Mythen aufgestellt hat, ist kompliziert genug um eigentlich immer falsch gedruckt zu werden, aber wenn man sie richtig anwendet, wie es Köngäs-Maranda getan haben 3 2 , gilt sie auch für Gedichte, Rätsel und vor allem Witze, nicht aber für alle Mythen. 2. Strukturalismus führt am Verstehen vorbei. E s ist bezeichnend, daß Lévi-Strauss von der Phonologie als dem Muster einer science ausgeht: hier ist es gelungen, alle Phoneme einer Sprache in einem binären System zu beschreiben. Aber so interessant dies ist, Phonologie allein würde uns nicht helfen auch nur ein Wort einer Sprache zu verstehen; auch der perfekte Phonologe müßte angesichts einer unbekannten Sprache, in Abwesenheit eines Dolmetschers, ,mit Händen und Füßen' zu reden beginnen, d. h. auf die außersprachliche Realität rekurrieren, um Verständigung zu erzielen. Ein Zeichensystem ist sinnlos, wenn wir nicht wissen, worauf es sich bezieht. Und damit meine ich 3., daß wir nicht darauf verzichten können zu unterscheiden zwischen objektiv gegebenen Strukturen und Projektionen, die vom geistreichen Interpreten entworfen sind. Vielleicht ist eine theoretische Position möglich, wonach es nichts Reales außer Strukturen gibt, Zeichen, die immer nur auf Zeichen verweisen im geschlossenen Kreislauf eines Geistes an sich 3 3 , esprit·, insofern wäre Strukturalismus die letzte Möglichkeit des Idealismus. Mit gleichem Recht wurde gesagt, Strukturalismus sei die Konsequenz der Feststellung, daß Gott tot ist 3 4 : damit fällt die absolute Bedeutung von irgend einem Zeichen, es bleibt nur relationaler, differentieller Sinn. Und gewiß ist Strukturalismus die einzige Methode, auch mit dem Absurden umzugehen. Als Philologe, Historiker und Mensch möchte ich doch daran festhalten, daß es außersprachliche Probleme gibt, die uns auf den Nägeln brennen können; so zieht selbst LéviStrauss Nutzen aus einem der brennenden Probleme unserer Zeit: Natur und Kultur. 3 Zurück zur traditionellen Erzählung, und zum Mythos: nun scheinen wir freilich in einer Sackgasse angelangt zu sein, wenn wir beides ablehnen, 32

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F x ( a ) : F y ( b ) = F x (b):F a -i(y), dazu E. K . Köngäs, P. Maranda, Structural Models in Folklore, Midwest Folklore 12, 1962, 133—92. Dabei ist, zur Bezeichnung der Umkehrung, offensichtlich a — ' = -L gemeint, wird aber praktisch immer als a—1 gedruckt. S o folgert Greimas (s. Anm. 24) 13 aus „le statut privilégié des langues naturelles" alsbald „ l a clôture de l'ensemble linguistique", ja „la clôture de l'univers sémantique". M . Casalis, in: Semiotica 17, 1976, 35f.

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Metaphysik und Strukturalismus. Erzählung, hieß es, ist nicht unmittelbare Bezeichnung einer Wirklichkeit, ein Zeichen aber hat nur Sinn in Beziehung auf eine Wirklichkeit. Wie läßt sich diesem Dilemma entgehen, ohne doch, mit dem Strukturalismus, den zweiten Satz aufzugeben? Mein Vorschlag ist: indem man im Sinngehalt der Sprache zwischen mittelbarem und unmittelbarem, oder potentiellem und aktuellem Wirklichkeitsbezug unterscheidet. Dies führt freilich auf sehr allgemeine Probleme der Semantik, über die alles andere als Einigkeit besteht; und ich kann die Theorien referentieller, operationeller und struktureller Semantik hier nicht diskutieren 35 . Ich gehe davon aus, daß einerseits sinnvolles Sprechen ohne außersprachliche Erfahrung unmöglich ist, daß andererseits die Sprache ein eigenes, traditionelles Regelsystem für ihre Anwendung an die Hand gibt, und daß die Semantik beides, Erfahrung und Anwendungsregel, im Blick behalten muß. Die Erzählstruktur im Sinne Propps erschien als Bedeutungs- oder Sinnstruktur; sie enthält eine Anwendungsregel eben in der Sequenz: jede Funktion ist nur an einer Stelle zulässig; zugleich aber enthalten die ,Funktionen' für sich und im ganzen eine Bedeutungsfülle, die nicht leicht aus binären Oppositionen zu deduzieren ist. Eine ,Suche', ein ,Abenteuer', das bedeutet: man verläßt die Alltagsumgebung, sei es auf Befehl, sei es auf Grund eines ,Mangels'; man durchmißt neue Räume, trifft Partner, die hilfreich oder lästig sein können; man entdeckt das Gesuchte, man eignet es sich an — in zivilisierten Verhältnissen durch Verhandlung und Kauf, im Abenteuer-Kontext eher durch List oder Gewalt; und dann gilt es, das O b j e k t erst noch nach Hause und in Sicherheit zu bringen, und dies kann der spannendste Teil der Serie sein — im Märchen bekannt als die ,magische Flucht' 3 6 —. Roman- und Filmhandlungen, die nach diesem Schema ablaufen, werden jedem einfallen; es sind dies aber auch de facto die Funktionen 8—31 bei Propp. Dies ist sehr viel mehr als eine Opposition ,Mangel' — ,Mangel behoben'; man beachte die Asymmetrie: die Suche vor dem Erfolg ist etwas ganz anderes als die Rückkehr bzw. Flucht danach. Im Mythos führt dies zum Paradox, daß sowohl die Argonauten wie Odysseus für den Rückweg eine ganz neue Route einschlagen müssen. Worauf beruht diese Bedeutungsstruktur? Mir scheint: auf Erfahrung, doch nicht individueller Art. De facto handelt es sich hier um ein grundlegendes biologisches Aktionsprogramm. Ich habe die ,magische Flucht' recht begriffen, als ich in einem Film über Ratten sah, wie schnell 35

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Verwiesen sei auf M. Bunge, Treatise on Basic Philosophy I: Semantics, Dordrecht 1974; A. J . Heringer, Praktische Semantik, Stuttgart 1974; F. R. Palmer, Semantics. A New Outline, Cambridge 1976, dt. Übers.: Semantik. Eine Einführung, München 1977; J . D. Fodor, Semantics. Theories of Meaning in Generative Grammar, Hassocks 1977. A. Aarne, Die magische Flucht, Helsinki 1930.

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eine Ratte, die einen Leckerbissen erwischt hat, rennen muß, weil alle Mit-Ratten sich dann auf sie stürzen. Die Abenteuer-Sequenz beruht auf dem biologischen Programm der Futtersuche. Dies scheint nun allerdings die schlimmste Metábasis eis állo génos zu sein: von den sublimen Höhen des Strukturalismus stürzen wir ab in die Biologie. Und doch ist Sprache, die wir kennen und sprechen, eben die Sprache von Lebewesen; die emotionellen Kräfte, die uns drängen Sprache zu gebrauchen, werden vom Programm des Lebens gesteuert. Die eigentliche Kontaktstelle zwischen Lebenswirklichkeit und Sprache scheint in diesem Fall das Verbum zu sein; und die einfachste Form des Verbums, die Nullform, funktioniert in den verschiedensten Sprachen als Imperativ, besonders schön im Türkischen, aber de facto auch im Lateinischen, Französischen und Deutschen: geh und hol, komm und bring. Basisstruktur der Erzählung im Sinne Propps ist eine verbal auszudrückende Handlung; die primitivste Form, oder Vorform, einer Erzählung wäre demnach eine Folge von Imperativen: geh, such, nimm, komm und bring. Und die Reaktion des Hörers, sein Mitgehen in der Erzählung entspricht dem offenbar: er vollführt, wie geheißen, diese Handlungen mit, wenn auch gleichsam im Leerlauf. Die biologische Perspektive bewährt sich, wenn wir neben der Proppschen Reihe andere Sequenzen ins Auge fassen. Der besonders häufige Typ der Kampf-Erzählung, combat-myth allerdings ist nur eine Spezialform der Abenteuer-Serie; bemerkenswert immerhin, wie oft die begehrenswerte Frau in den Kampf der harten Männer eingeschaltet wird, getreu dem biologischen Sinn der Auslese-Kämpfe. Die vorhin erwähnte Mädchen-Tragödie läßt sich in Einzelheiten auf Pubertätsrituale zurückführen, diese ihrerseits aber akzentuieren die Grundgegebenheiten des Lebensrhythmus mit Pubertät, Defloration, Schwangerschaft und Geburt 3 7 . Andere Sequenzen sind mehr kulturell als biologisch bedingt; ich denke besonders an Rache- und Strafgeschichten. Eine erschöpfende Typologie ist nicht meine Absicht. Meine dritte These wäre demnach: Erzählungen, als Sinnstrukturen, beruhen auf biologisch oder kulturell vorgegebenen Aktionsprogrammen und sind insofern unausrottbar anthropomorph, oder biomorph. Dies bedeutet nicht einen ,Kurzschluß' im vorhin kritisierten Sinn. Die Erzählung wird damit nicht zur direkten Bezeichnung einer Wirklichkeit, sie folgt selbst einem vorgegebenen Programm, einem Prinzip der Synthesis a priori, einer überindividuellen Form der biologisch-kulturellen Tradition. Und eben darum können Erzählungen ,traditionell' werden, 37

S. L. La Fontaine, Ritualization of women's life crises in Bugisu, in: J. S. La Fontaine, The Interpretation of Ritual, London 1972, 159- 86.

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kann der Hörer zum Erzähler werden, können wir uns eine Geschichte mit einmaligem Anhören merken — während wir Schwierigkeiten haben ein einziges kompliziertes Wort einer fremden Sprache nachzusprechen —, weil das Programm im Grunde schon vorgegeben ist; wir merken uns nur, was in dieses gleichsam einrastet. Diese vorgezeichneten Strukturen enthalten Oppositionen, gewiß, doch auch kompliziertere Beziehungen; und während die Realität sich diesen nicht immer leicht fügt, kann die vom direkten Realitätsbezug befreite Erzählung hier bis zum äußersten gehen; dies nennt man gewöhnlich Phantasie, doch könnte es ebensogut Logik der Erzählung heißen. Die Kampf-Erzählung etwa hat in ihrer Grundform einen Helden, der schließlich siegt, und einen Gegner, der unterliegt, entsprechend der verbalen Sequenz: kämpfen-siegen. Nun wäre es alles andere als spannend, zwei Durchschnittsmenschen aufeinander loszulassen; Protagonist und Antagonist werden vielmehr zu Kontrasten in allen verfügbaren ,codes' : ist der eine jung, energisch, tugendhaft, so der andere alt, häßlich und lasterhaft; Licht gegen Dunkel; der Held ist vielleicht eher klein, der Gegner scheinbar überlegen, damit die Peripetie an Wirkung gewinnt. Die perfekte Besetzung der Antagonisten-Rolle liefert der Drache: er ist schlangenhaft, weil die Schlange das gefürchtetste Tier ist; er hat ein Riesenmaul, weil Gefressen-Werden eine Urangst des Lebewesens ist; er speit Feuer, weil dies einst die ärgste zerstörende Energie war, die man kannte — in science fiction hat der Antagonist inzwischen sich auf Atomund Laserstrahlen umgestellt —. Der Drache kann Flügel haben, was ihn noch mächtiger und unangreifbar macht; er hat ein merkwürdiges Interesse für Jungfrauen, damit auch die sexuelle Rivalität ins Spiel kommt. Der Drache wird schließlich immer überwunden, denn dafür ist er da. Wenn wir also den Drachen als Phantasiegeschöpf bezeichnen, so entsprechen doch die Einzelheiten des Bildes der Logik der Kampferzählung, einer biologisch gesteuerten Logik der Aggression. Ja man mag bedauern, daß es den zu bekämpfenden Drachen in dieser Perfektion in unserer Wirklichkeit nicht gibt; wie Kampfpropaganda unversehens immer wieder in die codes des Drachenbildes verfällt, ist evident — womit wir denn bei den Mythen des Alltags angelangt wären. Doch sei dies nicht weiter verfolgt.

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Was aber ist nun ,Mythos' im Bereich der traditionellen Erzählungen, deren dynamische Sinnstrukturen umrissen wurden? Die Abgrenzung gegenüber ,folktale' im allgemeinen, Märchen, Sage, Legende, kann weder in der Struktur noch im Inhalt gefunden werden. Die strukturelle Identität

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ist oft festgestellt worden38 und zeigt sich immer wieder, gleichgültig ob man nach den Methoden von Propp oder Lévi-Strauss vorgeht. Üblich sind inhaltliche Definitionen des Mythos: Mythos sei Erzählung über Götter und göttliche Wesen39, oder aber Erzählung über eine maßgebende Urzeit, Ereignisse ,in ilio tempore' im Sinn von Mircea Eliade40. Gerade am griechischen Befund scheitern diese Definitionen: im einen Fall wäre die Erzählung von ödipus kein Mythos, weil keine Erzählung über Götter — zwar greift das Orakel ein in die Handlung, jedoch in einer Weise, die dem Wirken der Orakel in der realen Welt sehr nahe kommt — ; im anderen Fall bliebe gerade noch der Anfang von Hesiods Theogonie als griechischer ,Mythos' übrig. Die Mehrzahl der griechischen Mythen ist in eine Zeit verlegt, die den Griechen als historisch galt, die Epoche des Troianischen Kriegs. Daß diese damit der ,Traumzeit' im australischen Mythos entspricht, ist eine interessante Feststellung, die aber die Definition nicht erleichtert. Es bleibt eine funktionale Definition. Nach der These der Schule von Cambridge wäre Mythos die mit Ritual verbundene Erzählung41; dies ist zu eng gefaßt. Ich schlage vor — und dies ist meine vierte und letzte These — : Mythos ist eine traditionelle Erzählung, die als Bezeichnung von Wirklichkeit verwendet wird. Mythos ist angewandte Erzählung. Mythos beschreibt bedeutsame, überindividuelle, kollektiv wichtige Wirklichkeit. Ernst und Würde des Mythos stammen von dieser Anwendung; die Handlungs- und Sinnstruktur des Mythos aber ist nicht von dieser Anwendung abgeleitet, sondern vorgegeben durch die Sprache und die Lebensbedingungen der Sprache. Der Wirklichkeitsbezug ist demgegenüber sekundär und partiell; Wirklichkeit und Erzählung sind nicht isomorph. Trotzdem ist Mythos oft die grundlegende, allgemein akzeptierte, oder jedenfalls die erste und älteste Verbalisierung einer komplexen Wirklichkeitserfahrung, die primäre Weise, darüber zu sprechen, so wie ja das Erzählen sich als eine ganz elementare Form der Kommunikation erwiesen hat. ,Wirklichkeiten', über die mythisch, d. h. in Form von Erzählung gesprochen wird, sind zunächst soziale Ordnungen, Institutionen und Ansprüche von Familie, Clan, Stadt und Stamm; Malinowski hat den 38 39 40

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Boas (s. Anm. 2) 880; Dundes (s. Anm. 25) 110. J. Fontenrose, The Ritual Theory of Myth, Berkeley 1966, 54f. M. Eliade, Le mythe de l'éternel retour, Paris 1949; ders., Myth and Reality, New York 1963, 5; H. Baumann, in: Studium Generale 12, 1959, 3; W. R. Bascom, in: Journal of American Folklore 78, 1965, 4. W. R. Smith, Lectures on the Religion of the Semites, London 1889, 18942, dt. Ubers.: Die Religion der Semiten, Tübingen 1899, 13f.; J. E. Harrison, Mythology and Monuments of Ancient Athens, London 1890, XXXIII; S. H. Hooke, Myth and Ritual, Oxford 1933; ders., Myth, Ritual, and Kingship, Oxford 1958; zur Kritik vgl. Fontenrose (s. Anm. 39) und Kirk (s. Anm. 4) 8 - 3 1 .

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Terminus ,charter myths' eingeführt 42 . Die ,Anwendung* kann ebenso gut etabliertes Ritual betreffen wie einmalige Unternehmen und Entscheidungen: Theseus, erzählte man, hat seine Jugend in Troizen verbracht, und so haben die Athener angesichts des Persersturms im Jahr 480 Frauen und Kinder nach Troizen evakuiert 43 . Herakles, hieß es, hat in Sizilien Eryx besiegt, den Eponym der Bergstadt Erice: dementsprechend versuchte der Heraklide Dorieus um 500 v. Chr. Eryx zu erobern, was jedoch mißlang 44 : die vom Mythos vorgezeichnete Hoffnung hat getrogen. Dies eben ist ein bekanntes, äußerliches Indiz, um Mythos und Märchen zu trennen: im Mythos treten Eigennamen auf mit eindeutigem Wirklichkeitsbezug, während der Märchenheld namenlos ist oder einen Allerweltsnamen wie Hans oder Iwan führt. Dies ist es auch, was am griechischen Mythos für Nicht-Spezialisten und oft noch für Spezialisten so verwirrend ist, die Fülle von Namen mit ihrem Verweis auf Familien, Stämme, Städte, örtlichkeiten, Rituale, Feste, Götter und Gräber: nicht irgendein Königssohn, sondern Perseus, Enkel des Akrisios von Argos, Sohn der Danae und des Zeus, Gründer von Mykene, oder Theseus, Enkel des Pittheus von Troizen, Sohn der Aithra und des Poseidon, maßgebender König von Athen. Nicht alle Namen freilich im Mythos sind echte Eigennamen, einige sind Füllsel, die Leerstellen verdecken. Der Drache, den Apollon in Delphi erschlug, ist in der ältesten Quelle namenlos 45 , und wenn er später ,Python' heißt, ist dies keine zusätzliche Information: der Wirklichkeitsbezug war durch ,Apollon' und ,Delphi-Pytho' von Anfang an gegeben. Wie eine Frau entführt und von ihren standhaften' Brüdern, Agamemnon und Mene-laos, zurückgeholt wird, könnte irgendeine Erzählung des Kampf-Typs sein. Mit Agamemnon von Mykene, Menelaos von Sparta, Nestor von Pylos, ,Argivern' oder ,Achäern' als ihren Mannen ist der Bezug auf Griechenland und Griechen gegeben, und die Troer sind dort zuhause, wo im 8. Jh. die Griechen auf die zunächst überlegenen Phryger trafen. So gibt der troianische Krieg das Muster, kraft dessen das Selbstbewußtsein der Griechen sich gegen gleich gewichtige NichtGriechen absetzt: die Lykier von Südkleinasien, die Thraker vom Balkan sind schon in unserer Ilias Alliierte der Troianer; " später angetroffene Konkurrenten werden zu Nachkommen der Troianer stilisiert: die Elymer in Sizilien, die Veneter an der Po-Mündung, die Etrusker, die Römer 4 6 42 43

44 45 46

Malinowski (s. Anm. 2) 1954, 101. Anfang der Themistokles-Inschrift, R. Meiggs, D. Lewis, A Selection of Greek Historical Inscriptions, Oxford 1969, nr. 23; die Frage der Authentizität dieses Dokuments ist hier unerheblich. Herodot 5, 43. Horn. Apollonhymnus 300 - 74; vgl. J. Fontenrose, Python, Berkeley 1959. A. Alföldi, Die Troianischen Urahnen der Römer, Basel 1957; G. K. Galinsky, Aeneas, Sicily, and Rome, Princeton 1969.

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w o immer man ,Barbaren' vorfand, die etwa gleiche Kulturhöhe hatten und mit denen nicht leicht fertig zu werden war, sah man sie in der Optik des Troianischen Kriegs; nicht als ob man allgemein den Iliastext auswendig gelernt hätte, aber man kannte den ,Mythos'; bezeichnend, daß es sich dabei nicht um den typischen Drachenkampf-Mythos handelt mit der Vernichtung des antihumanen Gegners, sondern um einen heroisch-tragischen M y t h o s , der dem Gegner seine Würde gibt und doch den Griechen den Sieg verheißt. Die Definition des Mythos als angewandter Erzählung verlangt freilich noch eine Verdeutlichung und eine Modifikation: es ist damit nicht vorausgesetzt, daß erst die reine Erzählung da war und in einer zweiten Phase, einer neuen historischen Epoche die ,Anwendung' gefunden wurde. ,Erzählung' ist so elementar, daß die .Anwendung' gleich eingeschlossen, ja bereits auslösender Faktor sein kann. Der Osiris-Mythos in Ägypten erscheint in seinen , Anwendungen' auf Königsideologie und Jenseitshoffnung seit der Pyramidenzeit; als zusammenhängende Erzählung liegt er bei Plutarch vor, 2500 Jahre später. Da die angewandte Erzählung nicht auf sich allein angewiesen ist, sondern von der A n w e n dung' mitgetragen wird, kann sie elementarer, rudimentärer sein als die auf sich gestellte, für den Vortrag auskristallisierte Erzählung. ,Ein Mann hatte drei Söhne' ist keine Erzählung, allenfalls der Anfang einer Erzählung; ,Hellen hatte drei Söhne, Doros, Xuthos, Aiolos; Xuthos hatte zwei Söhne, Ion und Achaios', dies ist ein Mythos, wie er in den hesiodeischen Katalogen 4 7 kondifiziert war; er beschreibt die Tatsache, daß verschiedene Stämme von ,Hellenen' nebeneinander stehen, von denen zwei, Ioner und Achaier, einander näher stehen als den anderen, Doriern und Aiolern; dies hat übrigens jetzt auch die Sprachwissenschaft an Hand der Dialekte bestätigt. Darum also sind Ion und Achaios Brüder, Doros und Aiolos nur Onkel. Die Frage nach der ,Wahrheit' dieser Erzählung ist offensichtlich völlig unerheblich. Der Mythos beschreibt die Wirklichkeit; die Genealogie liefert das Ordnungssystem, das dies leistet, so gut wie Logik oder Mengenlehre, ja besser als diese: die Erzählung ist einfach zu merken, und die von ihr vorgezeichnete Rolle des Stammvaters impliziert patriarchalische Autorität. Nicht nur: so ist es, sondern auch: so soll und muß es sein. Mythisches Denken ist demnach nicht spontane Erfindung von Mythen; die nostalgische Idee der Romantiker von einem »mythischen Zeitalter', in dem poetisch begabte Primitive sich in Mythen statt in Alltagssprache äußerten, braucht nicht weiter verfolgt zu werden; sie ist selbst ein Ursprungsmythos. Mythisches Denken herrscht, sofern traditionelle 47

Hesiod Fr. 9.

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Erzählungen die hauptsächliche oder einzige Form allgemeiner Aussagen, allgemeiner Kommunikation und Spekulation vorschreiben — wie es etwa in Griechenland bis ins 5. Jh. der Fall war —. Solches Sprechen und Denken ist anthropomorph, oder biomorph, aber es ist alles andere als simpel. Man kann es .spielerisch' nennen, in dem präzisen Sinn von Piaget 48 , wonach im Spiel die Wirklichkeit der Aktivität des Menschen, nicht die Aktivität der Wirklichkeit angepaßt wird. Mythisches Denken ist trotzdem nicht willkürlich und chaotisch, sondern begrenzt durch die zur Verfügung stehenden Mittel biomorpher Aktionen und den Anwendungsbereich. Mythisches Denken verwendet als Operatoren nicht die Bildung von Klassen oder Mengen und nicht die Dichotomie wahr-falsch, sondern Handlungsfolgen; es arbeitet mit Sequenzen, nicht mit Konsequenz; trotzdem kann es überaus differenziert, subtil und wirksam sein. Oft fügt die Wirklichkeit in ihrem Eigensinn sich nur partiell dem Mythos, der seinerseits in seiner gleichsam archetypischen Evidenz dadurch kaum zu erschüttern ist; und er bietet in jedem Fall eine Synthese 49 , einen Sinnzusammenhang, eine Legitimation. Man hat, mit Recht, oft Mythos und Metapher in Parallele gesetzt 50 . In der Metapher wird ein Stück Wirklichkeit bezeichnet, erklärt und strukturiert, indem ein zunächst nicht hergehöriges Wort eintritt, das mit seinem eigenen Gefolge von Assoziationen eine zusätzliche Sinnstruktur schafft. Man weiß, daß die so gewonnene Beschreibung als uneigentlich, vorläufig, versuchsweise zu nehmen ist, und doch kann sie unerhört erhellend sein. Man könnte den Mythos eine Metapher auf dem Niveau der Erzählung nennen: indem diese ihre eigenen Sinnstrukturen mitbringt, strukturiert sie die Wirklichkeit und gibt ihr den Anschein des Erhellten, Vertrauten. Dies kann, aus unserer Sicht, unrichtig, verführerisch, verhängnisvoll sein; doch kann der Mensch sich der Aufgabe nicht entziehen, mit einem begrenzten Vorrat an Erfahrungen und Begriffen in einer unübersehbar komplizierten Welt sich zurechtzufinden. Der Mythos liefert ein begrenztes System von komplexen Operatoren, die gestatten, Vielheit in einem Allgemeinen aufzuheben; und aus seiner uralten biomorphen Tradition 48

49

50

J . Piaget, La formation du symbole chez l'enfant chez l'enfant, Neuchâtel 1959, dt. Übers.: Nachahmung, Spiel und Traum, Stuttgart 1975 (Ges. Werke V) Teil II. Auch E. Cassirer, Philosophie der Symbolischen Formen II: Das Mythische Denken, Oxford 1954 2 , entwickelt auf der Grundlage der Kantianismus einen Begriff des Mythos als Synthesis a priori. Allerdings befaßt er sich de facto nicht mit Mythen als Erzählungen, sondern mit einem Konstrukt ,Mythisches Denken', das mit magischem Denken und primitiver Mentalität gleichgesetzt wird und nicht den Quellen, sondern den damaligen anthropologischen Theorien entnommen ist. Seit M. Müller, Einleitung in die vergleichenden Religionswissenschaften, Straßburg 1876 2 , 316ff. Mythologie als „die durch die Sprache auf den Gedanken ausgeübte Macht" (317) erklärte; zu einer Theorie der Metapher vgl. P. Ricoeur, La métaphore vive, Paris 1975.

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bringt er die Chance mit, daß diese Mittel dem Sinn und Zweck des Lebens, wenn auch nicht der naturwissenschaftlich-technischen Wirklichkeit adäquat sind. Denn darin unterscheidet sich ja schließlich der Mythos von der Fabel, daß er natürlich, d. h. unabsichtlich gewachsen ist, während die Fabel auf ihre Anwendung hin konstruiert ist und nur in bewußter Verstellung dem sozialen Druck in außermenschliche Bereiche ausweicht 51 .

5 Zu bewähren hat sich die gewonnene Definition noch in zwei Bereichen, die mit dem ,Mythos' in besonderer Weise verschränkt sind, Religion und Philosophie. Was das Verhältnis des Mythos zur Religion betrifft, so sei von der empirischen Feststellung ausgegangen, daß es Mythen auch außerhalb religiöser Kontexte gibt und daß es Religionen ohne oder zumindest nahezu ohne Mythen gibt — ich denke an die Religion des republikanischen Roms oder an den Islam. Dies besagt, daß Religion und Mythos prinzipiell unabhängig voneinander und nicht unter allen Umständen aufeinander angewiesen sind. Und doch gibt es ohne Zweifel einen großen und wichtigen Bereich religiöser Mythen; gerade im griechischen Bereich konnte es lange Zeit so scheinen, als seien Religion und Mythologie identisch; und wenn nicht alle Mythen religiös sind, wird man doch den umgekehrten Satz kaum bestreiten: Erzählungen über Götter sind Mythen. ,Religion' freilich ist wiederum nicht leicht zu definieren. Die gängigen, von der Phänomenologie herkommenden Definitionen 5 2 als ,Erlebnis des Heiligen' oder ,des Transzendenten' oder ,des Numinosen' übersehen geflissentlich, daß das ,Erlebnis' nicht spontan gegeben, sondern stets durch Institutionen vorgeprägt und vermittelt ist. Unabdingbar gehört zu Religion, soweit ich sehe, auf psychischem Niveau der Bezug zu Angst und Angstüberwindung oder Angstverlagerung, und im Bereich des Verhaltens die fixierten Handlungen mit symbolischem', d. h. mit Mitteilungscharakter, die wir Rituale nennen 5 3 . Mythos im religiösen Bereich läßt sich daher weithin als die auf Rituale angewandte Erzählung verstehen. Dies entspricht der Ritualtheorie des Mythos, die die ,Schule von Cambridge' 5 4 vertrat, nur daß ,Mythos' noch darüber hinausreicht, auch

K. Meuli, Herkunft und Wesen der Fabel, Basel 1954. R. Otto, Das Heilige, München 1917, 1936 25 ; G. Mensching: Die Religion, Stuttgart 1959, 18 f. ; 129 f. ; F. Heiler: Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart 1961. « Vgl. W. Burkert, Homo Necans, Berlin 1972, 3 1 - 4 5 . S 4 s. Anm. 41. 51

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nicht durchweg ,heilige' Erzählung ist; auch bei Völkern, die terminologisch klar trennen zwischen .heiligen' und ,profanen' Geschichten — was die Griechen im Wort ,Mythos' gerade nicht taten —, lassen sich de facto die gleichen Erzählungen in beiden Gruppen finden 55 . Trotzdem werden die religiösen Mythen besonders wichtig, indem sie an der .Heiligkeit' der Religion partizipieren. Verehrung eines überlegenen Gegenübers kann im religiösen Ritual selbst ohne Worte signalisiert werden, und der Gott kann mit einem Namen benannt und angerufen werden auch ohne Erzählung. Wenn diese jedoch dazutritt, wird der Gott in dieser zum Akteur, und dann liefert der Mythos auch hier und hier erst recht Synthese, Sinnzusammenhang, einsehbare Legitimation. So gibt es etwa, bezeugt seit dem Paläolithikum, das Ritual der Versenkungsopfer 56 : man versenkt Gaben, auch eßbare Tiere, in Quelle, See, Fluß, Moor und Meer; inmitten von Armut und Hunger macht sich der Primitive so noch ärmer. Dies zu erklären ist hier nicht unsere Aufgabe. Die Geschichte, die sich damit bei den Griechen immer wieder verbindet, ist die, wie ein Mensch an eben dieser Stelle sich in die Tiefe stürzte, in Todesnot, Verzweiflung, Wahnsinn oder Heroismus, und so nicht nur Ruhe, sondern Ehre, ja Göttlichkeit gewann: Leukothea die Weiße Göttin, oder Glaukos der grüngraue Meermann, oder Persephone die Herrin der Toten an der Kyanequelle bei Syrakus, wo die Versenkungsopfer fortdauerten 57 . Mit der Erzählung hat der zwangshafte Akt des Wegwerfens eine humane Dimension angenommen, es gibt ein Vorbild des Vollzugs, ein Gegenüber für die Gabe. Verbreitet in Europa sind oder waren Feuerfeste 58 , bei denen man auch eine menschengestaltige Puppe verbrannte — ein bedenklich grausames Schauspiel, besonders solange Ketzerverbrennung und Hexenverbrennung daneben stand. Nun, man nannte die Puppe Judas' und gewann damit den Erzählungs- und Sinnzusammenhang des Christentums, das ärgste Verbrechen als Legitimation der Rache. Nach dem Matthaeusevangelium hat sich Judas freilich erhängt; aber für die mythische Funktion genügt die partielle Koinzidenz. In England nennt man seit der ,Pulververschwörung' von 1623 die Puppe Guy Fawkes und hat damit den gleichen Sinnzusammen-

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57 58

Vgl. Boas (s. Anm. 2) 565; Malinowski (s. Abn. 2) 1954, 1 0 1 - 6 ; H. Baumann, in: Studium Generale 12, 1959, 1 5 f . ; Kirk (s. Anm. 4) 20. A . Closs, Das Versenkungsopfer, in: Kultur und Sprache. Wiener Beiträge zu Kulturgeschichte und Linguistik 9, 1952, 6 6 - 1 0 7 ; H. Jankuhn (ed.): Vorgeschichtliche Heiligtümer und Opferplätze, Göttingen 1970. Diodor 5, 4. W . Mannhardt, Wald- und Feldkulte I, Berlin (1875) 1905 2 , 4 9 7 - 5 6 6 ; Judas' 504f.; 522; zu G u y Fawkes Fontenrose (s. Anm. 39) 19f.

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hang von Verbrechen und Strafe aus einem historischen Mythos — daß der historische Terrorist Guy Fawkes geköpft und nicht etwa verbrannt wurde, stört dabei nicht. In Zürich verbrennt man beim Frühlingsfest einen Schneemann und zieht damit den aufgeklärten Naturmythos heran vom Kampf von Sommer und Winter; der Schneemann heißt aber ,Böög', ein Wort für den ,Maskierten'; das ist sehr viel geheimnisvoller, aber ich kenne keinen Mythos dazu. Im Himmel-Erde-Trennungsmythos bei den Hethitern und bei H e s i o d 5 9 ist der Akt der Kastration mit dem Sichelmesser sicher ein Ritual, wie es an Opfertieren vollzogen wurde; rituell ist insbesondere, wenn Kronos die abgeschnittenen Genitalien rückwärts über seine Schulter ins Meer wirft 6 0 . Eine .Anwendung' der Erzählung auf anderer Ebene ist zugleich, wenn das Opfer der ,Vater Himmel' ist, der durch den perversen Akt nun gerade erhöht und befestigt wird. Der Mythos leistet eine Synthese von Ritualhandlung und Kosmos, er gibt dem Opfer einen unerhört geweiteten, überhöhten Status und bezieht zugleich den Kosmos in die fundamentale religiöse Handlung ein. Auch losgelöst vom Ritual bleibt dann dem Mythos seine Bedeutungsfülle, indem die anthropomorphe Vater-Sohn-Katastrophe in ihrer kosmischen Anwendung Vorgeschichte und Grundlage für die Herrschaft des herrschenden Wettergottes ist. Ein System religiöser Mythen, eine Mythologie kann zu einer sehr wirksamen, nahezu verbindlichen, jedenfalls traditionell fixierten Form religiöser Kommunikation werden und insofern eine Religion durchaus beherrschen. Dies beruht nicht nur darauf, daß die Heiligkeit der Religion in die Erzählung gleichsam diffundiert, sondern mehr noch darauf, daß der , archetypischen' Funktion der Erzählung die identische Wiederholbarkeit des Rituals perfekt entspricht. Nirgends freilich in den mythologischen Religionen, zu denen ja alle alten Religionen Vorderasiens und des Mittelmeerraums vor dem Aufgang der Weltreligionen zählen, ist der Mythos wirklich dogmatisch fixiert worden, nicht einmal in Ägypten; in Indien wurde der Text des Veda fixiert und auswendig gelernt, aber die vedische Mythologie ist ein phantastisches Chaos. Staunen bewirkt der Mythos, Verwunderung, nicht Glaubensmut, wohl aber Nachdenken, spielerisch, grüblerisch, oder auch in kühner Spekulation.

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J. B. Pritchard, Ancient Near Eastern Texts relating to the Old Testament, Princeton 1955 2 , 121 f.; Hesiod Theog. 154-210; G. Steiner, Der Sukzessionsmythos in Hesiods ,Theogonie' und ihren orientalischen Parallelen, Diss. Hamburg 1958; A. Lesky, Gesammelte Schriften, Bern 1966, 356-71; P. Walcot, Hesiod and the Near East, Cardiff 1966; Kirk (s. Anm. 4) 213-20. Burkert (s. Anm. 52) 84.

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6 Daß die Philosophie in ihrem Anfang bei den Griechen aus dem Mythos herauswächst und von ihm geprägt ist, ist seit Francis Macdonald Cornford 61 wohl anerkannt. Auch die Umkehrung, daß der Mythos eine Vorwegnahme der Philosophie62, von philosophischer Spekulation und Einsicht sei, findet geneigtes Gehör. Doch möchte ich hier nicht die große Synthese umkreisen, sondern eher analytisch differenzieren. Zum einen ist davor zu warnen, daß das Interesse des Geisteshistorikers die Perspektive verschiebt: ihn interessieren kosmologische Mythen, Ursprungsmythen, insbesondere also die mythische Kosmogonie; und die Bedeutung des babylonischen Weltschöpfungsepos in Verbindung mit dem babylonischen Neujahrsfest63 ist inzwischen gebührend bekannt geworden. Tatsächlich aber stellen kosmogonische Mythen nur einen kleinen Bruchteil mythologischer Corpora dar; Hesiod hat sich übers ,Chaos' anscheinend weiter keine Gedanken gemacht, erst Epikur sah hier ein großes Problem und wurde darob zum Philosophen64. Zum andern ist nicht zu übersehen, daß die griechischen Naturphilosophen, beginnend mit Anaximandros, in einem offensichtlichen Gegensatz zur poetisch-mythischen Tradition stehen, schon indem sie Prosa schreiben. Was sie zu vermeiden trachten, ist eben der Anthropomorphismus, der doch die Struktur des Mythos bestimmt. Schon bei Anaximandros65 dominieren die Neutra: tò ápeiron, tó theton, tà ónta·, bei Anaxagoras ist noch deutlicher, wie er sich bemüht, Passivformen zu verwenden, gelegentlich sogar ohne explizites Subjekt: apokrinetai66, irgendetwas sondert sich ab, Absonderung findet statt. Trotzdem bleibt diesen Versuchen, ,Seiendes' direkt auszusagen, ein Grundbestand anthropomorpher Operatoren, worin der mythische Hintergrund ihrer Spekulation durchscheint. Schon ,werden', gignesthai, ist im Griechischen vom biologischen Zeugen und Gebären, das eben im Stamm gen- ausgedrückt ist, unabtrennbar; die Alternative, von hand61

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F. M. Cornford, From Religion to Philosophy, London 1912; ders., Principium Sapientiae, Cambridge 1952; U. Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie, Hermes 81, 1953, 2 5 7 - 7 7 ; 385-418, wiederabgedruckt in: ders., Anfängliches Fragen, Göttingen 1968, 9 - 8 9 . Vgl. z. B. O. Gigon, Der Ursprung der griechischen Philosophie von Hesiod bis Parmenides, Basel 1945. Ancient Near Eastern Texts (s. Anm. 58) 6 0 - 7 2 und 3 3 1 - 4 ; Cornford (s. Anm. 60) 1952, 2 2 5 - 4 9 . Diog. Laert. 10,2. Ch. H. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, New York 1960; H. Diels, W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker (VS), Berlin 1951«, 12 A 9/B 1, A 15. VS 59 Β 12, II 38,15.

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werklichem Herstellen, von ,Schöpfung' auszugehen, wird allerdings weniger durch die mythische Tradition als durch die Konsequenz des Anti-Anthropomorphismus verboten: wie könnte vor dem Werden des ,Alls' einer als Person vorhanden und tätig sein? Vom ,Schöpfer' kann nur negativ die Rede sein: „diesen Kosmos hat weder ein Gott noch ein Mensch gemacht" 67 . Wie aber läßt sich dann Entfaltung und Differenzierung eines komplexen Systems anders beschreiben als mit der traditionellen, mythischen Denkform der Genealogie? Wenn auch nicht mehr ein Gott oder Mensch einen Sohn ,zeugt', so ,zeugt' doch eines das andere; und indem die Wechselwirkung des so Entstandenen ,Mischung' genannt wird, ist nie davon abzusehen, daß ,sich mischen' im Griechischen ein ganz normaler Ausdruck für die sexuelle Vereinigung ist. Die äußere Form der Darstellung ist die Vergangenheitserzählung — eine just-so-story, würden moderne methodenkritische Anthropologen 68 spotten — ; hierin zeigt sich die Abhängigkeit vom Mythos am augenfälligsten. Noch immer ist die Erzählung die zunächst gegebene, vorzüglichste Weise, über Wirklichkeit zu sprechen, auch wenn diese explizit ein sachliches, neutrales ,Seiendes' sein soll. Das Ineinander von Alt und Neu tritt am deutlichsten in zweitrangigen Zeugnissen in Erscheinung, etwa im Papyrus von Derveni: seit 1965 haben wir in diesem Bruchstücke eines vorsokratischen Kommentars zu einem orphischen Gedicht 6 9 . Was im mythischen Gedicht etwa ein Sexualakt des Gottes war, wird umgedeutet auf das ,Sich-Mischen' von ,kleinverteilten Partikeln' ; und doch wird dieses wie ein einmaliges Ereignis in der Vergangenheit erzählt, das Ordnung und Harmonie stiftete, gleich der Hochzeit eines Gottes. Der wenig bekannte Naturphilosoph Hippon, von dem Aristoteles sehr wenig hielt, schrieb, am Anfang sei das ,Feuchte' da gewesen; dann sei ,das Warme aus dem Wasser gezeugt worden, und es habe die Macht des Erzeugers besiegt und die Welt gebildet" 70 . Hier ist der kosmogonische Vatermord-Mythos noch explizit erzählt — ganz ähnlich hat im babylonischen Weltschöpfungsepos der Gott Ea Vater Apsu, die Wassertiefe, getötet und seinen Palast darauf gebaut 71 — ; nur sind es nicht Götter, sondern ,das Feuchte' und ,das Warme', die agieren wie zuvor. Weit konsequenter ist, selbstverständlich, Parmenides. Bei ihm 67 68 69

70 71

Heraklit VS 22 Β 30 = 51 Marcovich. Ε. E. Evans-Pritchard, Theories of Primitive Religion, Oxford 1965. S. G . Kapsomenos, in: Archaiologikon Deltion 19, 1964, 17-25; R. Merkelbach, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 1, 1967, 21—32; W. Burkert, in: Antike und Abendland 14, 1968, 9 3 - 1 1 4 ; P. Boyancé, in: Revue des Etudes Grecques 87, 1974, 9 1 - 1 1 0 ; hier Kol. 17. VS 38 A 3. Ancient Near Eastern Texts (s. Anm. 58) 61.

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wird die direkt aussagbare Wahrheit so radikal gereinigt, daß nur noch die Gewißheit des éstin übrig bleibt. Traditionelle Kosmogonie im Stil des Anaximandros wird als ,Doxa' abgewertet und eben damit in den alten Mythos geradezu rückverwandelt: da ist eine ,Göttin', die alles lenkt, die Männliches dem Weiblichen zusendet, daß es sich ,mische' 72 ; auch die Vergangenheitsform taucht hier auf, die für éstin verboten wurde. Vorbau des ganzen aber ist ein Proömium, die Wagenfahrt zur Göttin, in der eine Grundform mythischer Erzählung rein sich zeigt, das ,Abenteuer' im Schema Vladimir Propps: der Held verläßt das Haus, erhält das Zaubermittel, trifft Helfer, findet den Besitzer des Gesuchten: die Göttin, die jenseits der Bahnen von Nacht und Tag die Wahrheit des Seins bewahrt73. Piatons nun schon raffiniertes Spiel mit Mythos und Logos kann hier nicht einmal angedeutet werden74. Den antiken Piatoninterpreten erschien vor allem die zeitliche Schöpfung im ,Timaios' als nicht akzeptabel im wörtlichen Sinn und damit als ,Mythos'; Mythos wurde von daher definiert als eine Redeweise, die erzählend in der Zeit auseinanderlegt, was im zeitlosen Sein untrennbar ist 75 . Dies wirkt bis in modernste Definitionen von ,Mythos' hinein. Mir will scheinen, daß es in der Philosophie Piatons und derer, die von ihm lernten, noch wichtigere, wenn auch versteckte anthropomorphe Operatoren gibt, ungetilgte Spuren mythischen Denkens: arché .Anfang', ,Prinzip', und krateîn ,Kraft ausüben' sind vom Vollzug menschlicher Herrschaft her genommen und bewahren von hier ihre Funktion: der ,Anfang' ist darum so wichtig, weil er zugleich das ,Herrschende' ist; wer mit der höchsten Macht ins reine gekommen ist, sie vielleicht gar lieben kann, der ist von Gefahr und Angst befreit wie niemand sonst. Der hierarchische Aufbau der Ontologie und der religiöse Anspruch der Philosophie überhaupt sind gebunden an diese Auffassung; erstarrt und zugleich doch bewahrt ist darin der alte Kampfmythos, der Sieg des Überlegenen, Einen über den Drachen des Chaos. Von Aristoteles bis zur Mengenlehre beruht die Logik auf dem Verhältnis von Element und Klasse, auf einem Elementarsatz der Form S ist P. Sokrates hat den Mythos zerstört, wie Nietzsche sagte; Sokrates hatte mit besonderer Eindringlichkeit die Frage gestellt: tí estin, ,was ist' das, wovon wir reden 76 . Vom éstin aus hatte bereits Parmenides den Grund 72 73

74

75 76

VS 28 Β 12/13. W. Burkert, Das Proömium des Parmenides und die Katabasis des Pythagoras, in: Pbronesis 14, 1969, 1 - 3 0 . P. Frutiger, Les mythes de Platon, Alean 1930; P. Stöcklein, Uber die philosophische Bedeutung von Piatons Mythen, Leipzig 1937; W. Hirsch, Piatons Weg zum Mythos, Berlin 1971. Plotin 3, 5, 9; Proklos, In Plat. Remp. I 74f. Kroll, s. Anm. 17/18. Hierzu R. Robinson, Plato's earlier dialectic, Oxford 1953 2 , 4 9 - 6 0 .

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gelegt für die begriffliche, nicht-mythische Philosophie der Griechen. Der Mythos hat andere, anthropomorphe Operatoren und läßt sich nicht zurückführen auf einen ist-Satz. Er sucht ein menschliches Begreifen der Welt, das freilich immer nur partiell und vorläufig bleibt; er entwirft dabei eine Uberwelt, die doch nicht sein einziger Gegenstand ist. Der logischwissenschaftliche Zugriff auf die Wirklichkeit, die ,seinsadäquate' Beherrschung der Welt hat sich demgegenüber mehr und mehr bewährt, in einer Weise, daß dadurch heute in mehr als einer Hinsicht der Mensch aus dieser Welt hinauskatapultiert zu werden droht. Daher wohl die nostalgische Faszination des Mythos, der sich doch kaum wiedergewinnen läßt. Vielleicht kann die Analyse wenigstens verhindern, daß wir unversehens und unreflektiert in Kampfmythen zurückfallen; da würde es so wenig Sieger geben, wie es Drachen gibt.

O D O MARQUARD

Lob des Polytheismus Uber Monomythie und Polymythie Das Bewußtsein der hohen Ehre, die mir widerfährt durch die Einladung, in Ihrem Mythenkolloquium zu sprechen, verbindet sich bei mir mit einer heftigen Furcht und einer zaghaften Hoffnung. Ich fürchte, Sie haben mich eingeladen, weil Sie bei mir mythologiephilosophische Kompetenz vermuten. Das wäre ein glatter Irrtum: ich habe keine. Wohl aber habe ich etwas anderes, nämlich die eben erwähnte zaghafte Hoffnung, daß Sie mich ganz im Gegenteil — um diese meine mythologiephilosophische Inkompetenz mehr als mir lieb sein kann wissend — aus zwei sehr anderen Gründen eingeladen haben, entweder aus dem einen, oder aus dem anderen, oder sogar aus beiden. Der eine Grund wäre dieser: Sie lassen mich nicht nur trotz sondern gerade wegen meiner mythologiephilosophischen Inkompetenz sprechen: weil man hier in diesem Kolloquium — sagen wir einmal: aus Paritätsgründen - einen Nichtsachverständigen Vertreter zu Wort kommen lassen will mit einer paradigmatisch inkompetenten Äußerung; nur einen zwar (schließlich haben alle Paritätsregelungen einmal klein angefangen), aber immerhin wenigstens einen; und in diesem Fall ist es ganz plausibel, daß man, wenn schon nicht notwendigerweise mich, so doch jedenfalls einen Auswärtigen chartert: wer will schon eine Untat verrichten und dann am Tatort bleiben müssen? Der andere Grund wäre dieser: Sie haben erfahren, daß ich der Philosophie „Inkompetenzkompensationskompetenz" zuspreche; wenn das — so mögen Sie folgern — generell zutreffen soll, muß es auch im speziellen Fall — also für das Thema Mythos — zutreffen; und dann soll eben der Urheber dieser philosophiebezüglich halbüblen Nachrede einmal zeigen, was er einschlägig zu bieten hat. Wohlan denn, ich biete: und zwar ein Lob des Polytheismus. Und ich trage damit natürlich sozusagen Eulen nach Athen, nach Spree-Athen; denn es handelt sich um Überlegungen, die sich — und zwar keineswegs zufällig — mit Gedanken berühren, welche — ungleich länger als ich — an Ihrem hiesigen Konkurrenzbetrieb Michael Landmann 1 zu hegen pflegt 1

M . Landmann, Polytheismus, in: ders., Pluralität und Antinomie, München/Basel 1963, 104—150; vgl. ders., Pluralistische Endzeit, in: ders., Das Ende des Individuums, Anthropologische Skizzen, Stuttgart 1971, 147ff.

Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie

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und mehrfach publiziert hat: wie oft bei ihm am pointiertesten in „Plurali tat und Antinomie". Was ich — und ich gehe dabei nicht weiter als Landmann, sondern nur (vermutlich) zu weit — nun meinerseits hierzu einschlägig sagen möchte, sage ich in folgenden vier Abschnitten: 1. Zweifel am Striptease; 2. Monomythie und Polymythie; 3. Das Unbehagen am Monomythos; 4. Plädoyer für aufgeklärte Polymythie. Und ich beginne — ganz konventionell — mit Abschnitt: 1. (Zweifel am Striptease). — Der Mythos ist gegenwärtig polymorph kontrovers. Aber man darf dabei ruhig simplifizieren; und sollte man es nicht dürfen: ich tue es trotzdem. Es gibt — meine ich — zunächst zwei Grundpositionen, zu denen alsbald eine dritte sich gesellt. Die beiden ersten haben eine gemeinsame Prämisse. Wilhelm Nestles Erfolgstitel „ V o m Mythos zum L o g o s " 2 , der für Griechisches erfunden wurde, scheint über das von ihm Gemeinte hinaus den Gang der Weltgeschichte des Bewußtseins in ihrem späten Stadium insgesamt zu charakterisieren: als Aufklärung ist sie — scheint es: und es ist dabei egal, ob dies präzis dem Sinn der Bultmannschen Formel entspricht oder nicht — der große Prozeß der Entmythologisierung. Mythos — was immer er sonst noch sein mag ist dann jedenfalls dies: etwas, was wir im Begriff sind, hinter uns zu haben; und daß das so ist: das ist entweder — Position 1 — gut oder — Position 2 — schlimm. Diese beiden Positionen — das mehr oder weniger freudige J a zum Untergang des Mythos: von Comte bis HorkheimerAdorno und Topitsch; das mehr oder weniger energisch warnende Nein dazu: von Vico bis zur Heideggerschule — sind einigermaßen unvermeidlich im Spiel, wenn die Weltgeschichte des Bewußtseins zumindest in ihrem späten Stadium — als Aufklärung — dieses sein soll: der Prozeß der Entmythologisierung. Aber ist sie das wirklich? Diese Geschichte des Prozesses der Entmythologisierung ist — meine ich — selber ein Mythos; und daß so der Tod des Mythos selber zum Mythos wird, beweist ein wenig des Mythos relative Unsterblichkeit. Es ist zumindest ein Indiz dafür, daß wir ohne Mythen nicht auskommen. Auch diese Meinung — Position 3 — ist keineswegs neu: bei Lévi-Strauss ist sie impliziert und — wenn ich es richtig sehe — bei Hans Blumenberg auch; ausdrücklich vertreten wurde sie von Kolakowski 3 . Ich mache mir 2

3

W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940. C . Lévi-Strauss, Das wilde Denken (1962), Frankfurt 1973, bes. 302ff.; zur Grundfigur des Arguments bei Lévi-Strauss — was der moderne Mensch nicht sein will, stilisiert er zum Anderen, zur fernen „Natur" und zum „Wilden": dadurch hört er aber nicht auf, es zu sein - vgl. ders., Rasse und Geschichte (1952), Frankfurt 1972, bes. 16ff.; exemplarische Anwendung: ders., Das Ende des Totemismus (1962), Frankfurt 1965; vgl.

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hier — ohne in jedem Fall die angebotene Begründung zu übernehmen — diese dritte Meinung zu eigen. Die Menschen können ohne Mythen nicht leben; und das sollte nicht verwunderlich sein, denn was sind Mythen? Ein „mythophilos" — Aristoteles bezeichnet sich so — ist einer, der gern Geschichten hört: den täglichen Klatsch, Legenden, Fabeln, Sagen, Epen, Reiseerzählungen, Märchen, Kriminalromane, und was es an Geschichten sonst noch gibt. Mythen sind — ganz elementar — justament dieses: Geschichten. Man mag sagen: ein Mythos ist fiktiver als eine „history" und realer als eine „ s t o r y " ; aber das ändert nichts am Grundbefund: Mythen sind Geschichten. Wer den Mythos verabschieden will, muß also die Geschichten verabschieden, und das geht nicht; denn: „wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt", meint Wilhelm Schapp; „die Geschichte steht für den Mann" 4 , schreibt er und meint damit jeden Menschen und hat recht. Es ist diese unsere unvermeidliche Verstrickung in Geschichten, die uns zum Erzählen dieser und anderer Geschichten zwingt; das ist bei dem, was uns widerfährt, zuweilen die einzige Freiheit, die uns bleibt: das an den Geschichten, was wir nicht ändern können, wenigstens zu erzählen und umzuerzählen. Wir tun das auch dann, wenn dabei fast unkenntlich wird, daß es sich um eine Geschichte handelt; Prometheus: hier steht der Mann für die Geschichte, die für den Mann steht. Natürlich ist die Frage interessant, wann Mythen so ultrakurz sein dürfen und wann sie — wie Hans Blumenberg das nennt — „mythische Umständlichkeit" 5 entwickeln müssen; aber so oder so: es handelt sich um Geschichten. Und wichtig ist sicher auch, ob Geschichten — wie Gehlen6 meint — dann zu Mythen werden, wenn sie gewissermaßen ,ungesättigt' bleiben dadurch, daß die empirische Identifizierbarkeit ihres Personals suspendiert ist: imgrunde agieren dann dort Platzhalter in einer „Erzählung an sich", die erst bei der insges. ders., Mythologica (1964ff.), bes. IV, 2 (Der nackte Mensch), Frankfurt 1976, bes. 765 ff. : der Mythos kann nicht sterben, ohne zugleich in der Musik wiederaufzuerstehen. — H . Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos-, in: M. Fuhrmann ( H r s g . ) , Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik IV), München 1971, 11—66, vgl. 527ff. — L. Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 2 1974. 4

W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Hamburg 1953, 1 und 103; zur gegenwärtigen Aufnahme dieses Ansatzes vgl. H . Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, bes. 145 ff., 168 ff., der zugleich den primären und dominanten Widerfahrnischarakter der Geschichten (bes. 54ff.) und ihre Verfassung als „Kontingenzerfahrungsk u l t u r " (269ff.) betont.

5

Blumenberg a. a. O . 43 ff. A . Gehlen, Urmensch und Spätkultur, furt/Bonn 1964, bes. 222.

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Philosophische

Ergebnisse

und Aussagen,

Frank-

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Rezeption konkret besetzt wird: so steht die Geschichte für jedermann; aber doch eben: eine Geschichte. Und selbst, wenn es scheint, daß der Kern dieser Geschichte ein „semiologisches System" 7 ist und gleichsam maskierte Mathematik, handelt es sich dann um Mythen nicht deswegen, weil diese Geschichten Mathematik, sondern deswegen, weil diese Mathematik Geschichten sind. All das differenziert zwar, aber zugleich bestätigt es den Grundbefund: Mythen sind Geschichten. Freilich: ist es nicht so, daß das Erzählen von Geschichten aufhört, sobald man wirklich weiß? Müssen nicht dort, wo die Wahrheit auftritt, die Mythen verschwinden? Doch gerade das ist — scheint mir — ganz und gar ein Irrtum. Ich bestreite nicht, daß Mythen in die noch leere Stelle der Wahrheit faktisch eingetreten sind, wo die Menschen noch nicht wußten; aber das ist eine Zweckentfremdung. Denn Mythen sind, wo sie nicht kontermythisch umfunktioniert werden, eben keine Vorstufen und Prothesen der Wahrheit, sondern die mythische Technik — das Erzählen von Geschichten — ist wesentlich etwas anderes, nämlich die Kunst, die (nicht etwa fehlende, sondern) vorhandene Wahrheit in die Reichweite unserer Lebensbegabung zu bringen. Da ist nämlich die Wahrheit in der Regel noch nicht, wenn sie entweder — wie etwa die Resultate exakter Wissenschaft ζ. B . als Formeln — noch unbeziehbar abstrakt oder — wie etwa die Wahrheit über das Leben: der Tod — unlebbar grausam ist: da dürfen dann nicht nur, da müssen die Geschichten — die Mythen — herbei, um diese Wahrheiten in unserer Lebenswelt hereinzuerzählen oder um sie in unserer Lebenswelt in jene Distanz zu erzählen, in der wir es mit ihnen aushalten. Dafür haben wir nämlich — letztenendes — nichts anderes als die Geschichten, insbesondere, wenn das gilt, was Schelling sagte: „die Sprache selbst sei nur die verblichene Mythologie!" 8 . Eines ist die Wahrheit, ein anderes, wie sich mit der Wahrheit leben läßt: für jene ist — kognitiv — das Wissen, für dieses sind — vital — die Geschichten da. Denn das Wissen hat es mit Wahrheit und Irrtum zu tun, die Geschichten mit Glück und Unglück: ihr Pensum ist nicht die Wahrheit, sondern der modus vivendi mit der Wahrheit (darum — nota bene — ist es tröstlich, von den Dichtern zu wissen, daß sie wenigstens lügen können). So dürfen also dort, wo die Wahrheit auftritt, die Geschichten — die Mythen — nicht aufhören, denn gerade dort müssen sie ganz im Gegenteil allererst 7 8

R. Barthes, Mythen des Alltags (1957), Frankfurt "1976, 88. Schelling, Philosophie der Mythologie (1820ff.), Sämtliche Werke (K. F. A. Schelling) XI 52. Die Rolle des Mythos ist dabei also nicht nur, Fremdes zum Vertrauten umzuerzählen, sondern ebensosehr, Schreckliches zu distanzieren; Formulierungen zu finden zur Charakteristik des Mythos als Distanzierungs- und Ersparungsverfahren habe ich versucht in meiner Zusammenfassung der Thesen von H. Blumenberg in M. Fuhrmann, Terror und Spiel, 5 2 7 - 5 3 0 .

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anfangen: das Wissen ist nicht das Grab, sondern das Startloch der Mythologie. Denn wir brauchen zwar die „besprochene", aber wir leben in der „erzählten Welt" 9 . Drum eben gilt: es geht nicht ohne Mythen: narrare necesse est. Deshalb können wir die Mythen nicht einfach ablegen wie Kleider, obwohl ja auch das Ablegen von Kleidern zuweilen nicht ganz einfach ist. „Meine Identität ist mein Anzug", sagte Gottfried Benn. Der eine der großen Zürcher Textilmetaphoriker, Gottfried Keller, schrieb: „Kleider machen Leute"; und wenn es doch — „die Geschichte steht für den Mann" — so ist, daß Geschichten Leute machen, haben offenbar Kleider, die Leute machen, etwas zu tun mit Geschichten, die Leute machen; drum auch schrieb der andere der großen Zürcher Textilmetaphoriker, Max Frisch, in seinem „Gantenbein": „Ich probiere Geschichten an wie Kleider" 1 0 . Aber aus Gantenbeins Qual der Wahl angesichts des Reichtums seiner Mythengarderobe ist eben nicht zu folgern, daß er er selbst ist erst dann, wenn er keine Geschichte mehr anhat; und so stimmt es auch nicht, daß die Weltgeschichte des Bewußtseins das ist, als was man sie — wie ich eingangs sagte — sehen will: ein Fortschritt genannter Striptease, bei dem die Menschheit nach und nach — mehr oder weniger elegant — ihre Mythen ablegt und schließlich — sozusagen mit nichts als sich selber am Leibe — mythisch nackt dasteht: ganz nur noch bloße Menschheit. Dieses Bild ist nicht frivol, sondern hält sich streng im Rahmen der von Blumenberg untersuchten Metaphorik der „nackten Wahrheit" 11 . Emil Lask sprach vom „logisch Nackten"; so darf man auch vom mythisch Nackten sprechen: das ist im menschlichen Fundamentalbereich jenes Nackte, das es nicht gibt. Der Mythonudismus erstrebt Unmögliches; denn — so scheint es mir — jede Entmythologisierung ist ein wohlkompensierter Vorgang: je mehr Mythen einer auszieht, desto mehr Mythen behält er an. Darum eben habe ich Zweifel am Striptease: Zweifel — genauer gesagt — an der Vorstellung der spätweltgeschichtlichen Aufklärung als Mythen-Striptease. Diese Vorstellung — sagte ich — ist selber ein Mythos; so ist es fällig, dazu einen Gegenmythos zu finden. Sie alle kennen Andersens sozialpsychologisches Märchen „von des Kaisers neuen Kleidern" und erinnern sich: da hatten clevere Manager der Branche zur Produktion und zum Vertrieb jener Kleider, welche Leute machen, der herrschenden Klasse die Nullgarderobe aufgeschwatzt; die Sache funktionierte, bis ein zeitkritischer Dreikäsehoch ausrief: die haben ja nichts an! (das war zu jener Zeit, als das Kritisieren 9

10 11

H . Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt (1964), Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 2 1971. M . Frisch, Mein Name sei Gantenhein (1964), Hamburg 1968, 19. H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, 47—58.

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noch geholfen hat). Beim jetzt, in unserer Zeit, gesuchten Gegenmythos — Überschrift etwa: „der Striptease, der keiner w a r " — muß es umgekehrt sein: da ist die mythische Nullgarderobe gerade das ausdrücklich proklamierte Ziel, da strebt die wissenschaftliche und emanzipatorische Avantgarde nach mythischer Nudität und glaubt, sie zu haben; und hier — scheint mir — funktioniert die Sache vielleicht ebenfalls nur so lange, bis ein phänomenologisch-hermeneutischer Dreikäsehoch auftritt und per naivitatem institutam et per doctam ignorantiam etwa ausruft: Sie da, der Herr aus dem späten Wiener Kreis, Sie haben ja immer noch Mythen an!: was dem Betreffenden sicher gleichfalls sehr peinlich ist, selbst wenn er — denkt man ζ. B. an Ernst Topitsch — ein echtes Erzähltalent ist: welch pralle Mythen enthält doch sein „Naturgeschichte der Illusion" unterbetiteltes Buch 1 2 ; und auch das verbindet ihn mit den alten Mythologen, daß er immer wieder dasselbe erzählt. Ich räume ein: ein Philosoph, der jenen vermeintlichen Striptease als tatsächlichen Mummenschanz durchschaut, muß schon über sensible Methoden verfügen; so etwas Halbes wie etwa die Semi-Otik reicht da keineswegs aus, da muß schon jemand holotisch ein Hermeneutiker sein, um so zu intervenieren. Aber recht — scheint mir — hätte er ja wohl: wir können die Geschichten — die Mythen — nicht loswerden; wer es trotzdem glaubt, betrügt sich selber. Menschen sind mythenpflichtig; ein mythisch nacktes Leben ohne Geschichten ist nicht möglich. Die Mythen abzuschaffen: das ist aussichtslos. 2. (Monomythie und Polymythie). — Durch diesen einleitenden Hinweis wollte ich — dem ersten Anschein entgegen — nicht dartun, daß die Aufklärung arbeitslos wird, daß das Pensum der Mythenkritik entfällt. Denn: wenn es aussichtslos ist, die Mythen abzuschaffen, so folgt daraus nicht, daß es am Mythos nichts mehr zu kritisieren gibt; ganz im Gegenteil: erst jetzt bekommt das Aufklärungspensum der Mythenkritik präzise Konturen. Nicht wahr: wer angesichts von avancierten Knollenblätterpilzen die Forderung erhebt, man solle das Essen gänzlich bleibenlassen, der geht — scheint mir — einfach zu weit und wird nichts ausrichten; ein Ideologiekritiker könnte entlarvungsbeflissen schließen, so einer habe Interesse am Verhungern der anderen. Die vernünftige Maßnahme ist hierbei doch die, die längst erfolgreich ergriffen wurde: eine genaue Unterscheidung des Eßbaren und Giftigen. Just so beim Mythos: angesichts der Mythenpflichtigkeit der Menschen wird die Mythenkritik sinnvoll und vernünftig genau dann, wenn man die Mythen nicht mehr pauschal abwehrt, sondern wenn man bekömmliche und schädliche 12

E. Topitsch, Mythos — Philosophie - Politik. Zur Naturgeschichte der Illusion, Freiburg 1969.

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Mythensorten zu unterscheiden versucht und gegen die schädlichen antritt. Es gibt giftige Mythen, und ich will hier zu sagen versuchen, welche das sind. Meine These — eine Arbeitshypothese — ist diese: gefährlich ist immer und mindestens der Monomythos; ungefährlich hingegen sind die Polymythen. Man muß viele Mythen — viele Geschichten — haben dürfen, darauf kommt es an; wer — zusammen mit allen anderen Menschen — nur einen Mythos — nur eine einzige Geschichte — hat und haben darf, ist schlimm dran. Darum eben gilt: bekömmlich ist Polymythie, schädlich ist Monomythie. Wer polymythisch - durch Leben und Erzählen - an vielen Geschichten teilnimmt, hat durch die jeweils eine Geschichte Freiheit von der jeweils anderen et vice versa und durch weitere Interferenzen vielfach überkreuz; wer monomythisch — durch Leben und Erzählen — nur an einer einzigen Geschichte teilnehmen darf und muß, hat diese Freiheit nicht: er ist ganz und gar — sozusagen durch eine monomythische Verstricktseinsgleichschaltung — mit Haut und Haaren von ihr besessen. Wegen dieses Zwangs zur restlosen Identität mit dieser Alleingeschichte verfällt er narrativer Atrophie und gerät in das, was man nennen kann: die Unfreiheit der Identität aus Mangel an Nichtidentität. Den Freiheitsspielraum der Nichtidentitäten, der beim Monomythos fehlt, gewährt hingegen die polymythische Geschichtenvielfalt. Sie ist Gewaltenteilung13 : sie teilt die Gewalt der Geschichte in viele Geschichten; und just dadurch — divide et impera oder divide et fuga, jedenfalls: befreie dich, indem du teilst d. h. dafür sorgst, daß die Gewalten, die die Geschichten sind, sich beim Zugriff auf dich wechselseitig in Schach halten und so diesen Zugriff limitieren — just dadurch erhält der Mensch die Freiheitschance, eine je eigene Vielfalt zu haben, d. h. ein Einzelner zu sein. Diese Chance hat er nicht, sobald die Gewalt einer einzigen Geschichte ihn ungeteilt beherrscht; dort — beim Monomythos — muß er die Nichtidentitätsverfassung seiner Geschichtenvielfalt vor dieser Monogeschichte auslöschen; er unterwirft sich dem absoluten Alleinmythos im Singular, der keine anderen Mythen neben sich duldet, weil er gebietet: ich bin deine einzige Geschichte, du sollst keine anderen Geschichten haben neben mir. Ich meine nun — denn als Opfer der Hochschuldidaktik weiß ich ja: um verständlich zu reden, soll man Beispiele bringen; aber ich bringe hier nicht nur ein Beispiel, sondern gleich das einschlägige Zentral-, Hauptund Endspiel — ich meine also: von dieser monomythischen Art ist der erfolgreichste Mythos der modernen Welt: der Mythos des unaufhalt13

Vgl. H . Schelsky, Systemüberwindung 1973, bes. 55ff.

— Demokratie

— Gewaltenteilung,

München

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samen weltgeschichtlichen Fortschritts zur Freiheit in Gestalt der Geschichtsphilosophie der revolutionären Emanzipation. Das — LéviStrauss nennt ihn den „Mythos der Französischen Revolution" 1 4 — ist ein Monomythos: er duldet — antihistoristisch — keine Geschichten neben dieser einen emanzipatorischen Weltgeschichte. Hier zeigt sich: man kann zwar die Mythen — die Geschichten — nicht abschaffen, aber man kann sie durch Etablierung eines Monopolmythos zentralisieren und dadurch entpkoalisieren. Das geschieht hier: in der Mitte des 18. Jahrhunderts — Reinhart Koselleck hat hat das durch seine begriffsgeschichtlichen Untersuchungen gezeigt 1 5 — proklamiert die Geschichtsphilosophie, die dort entsteht und ihren Namen bekommt, gegen den bisherigen Plural der Geschichten „ d i e " Geschichte. Seither - seit diesem „Zeitalter der Singularisierungen" 1 6 , in dem aus den Fortschritten „ d e r " Fortschritt, aus den Freiheiten „ d i e " Freiheit, aus den Revolutionen „ d i e " Revolution und eben aus den Geschichten „ d i e " Geschichte wird — darf die Menschheit sich nicht mehr in Sondergeschichten verzetteln, indem sie multiindividuell oder multikulturell je eigene Wege zur Humanität geht, sondern sie hat fortan zielstrebig diese eine einzige Fortschrittsgeschichte zu durcheilen als einzig möglichen Weg zum Ziel der Menschheit: durch diese hohle Gasse muß sie kommen: es führt kein andrer Weg zur Freiheit, hier vollend't sie's, die Notwendigkeit ist mit ihr: wenigstens scheint das so. Wer sich dieser einen Emanzipationsgeschichte in Eigengeschichten entzieht, wird fortan zum Häretiker, zum Geschichtsverräter, zum Menschheitsfeind: bestenfalls ist er ein Reaktionär. So führt dieser Monomythos jener Geschichte, die nicht mehr „eine", sondern „ d i e " Geschichte zu sein beansprucht, zum Ende der Polymythie; ich möchte es nennen: das zweite Ende der Polymythie. Denn dieses zweite Ende der Polymythie ist ein später Effekt und von langher vorbereitet durch das, was man — entsprechend — nennen kann: das erste Ende der Polymythie. Das war das Ende des Polytheismus. Der Polytheismus nämlich war sozusagen die Klassik der Polymythie. Die Geschichte steht nicht nur für den Menschen, sie steht auch für den Gott: so gab es im Polytheismus deswegen viele Mythen, weil es dort viele 14

15

16

C . Lévi-Strauss, Das wilde Denken, 292; vgl. ders., Strukturale Anthropologie (1958), Frankfurt 1971, 230: „ N i c h t s ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie. In unserer heutigen Gesellschaft hat diese möglicherweise jenes nur ersetzt". Jetzt zusammenfassend: R. Koselleck, Art. Geschichte, Historie, in: O . Brunner/ W. C o n z e / R . Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch sozialen Sprache in Deutschland II, Stuttgart 1975, bes. 658ff. R. Koselleck, Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: H . Braun/M. Riedel (Hrsg.), Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, 265.

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Götter gab, die in vielen Geschichten vorkommen und von denen viele Geschichten erzählt werden konnten und mußten. Jene Gewaltenteilung im Absoluten, die der Polytheismus war — eine Gewaltenteilung durch Kampf und noch nicht durch Rechtsregeln — brauchte und brachte die Gewaltenteilung der Geschichten durch Polymythie. Das Ende des Polytheismus ist der Monotheismus; er ist das erste Ende der Polymythie: er ist eine ganz besonders transzendentale — nämlich historische — Bedingung der Möglichkeit der Monomythie. Im Monotheismus negiert der eine G o t t — eben durch seine Einzigkeit — die vielen Götter. Damit liquidiert er zugleich die vielen Geschichten dieser vielen Götter zugunsten der einzigen Geschichte, die nottut: der Heilsgeschichte; er entmythologisiert die Welt. Das geschieht epochal im Monotheismus der Bibel und des Christentums. Zwar pflegen hier die zuständigen Theologen — unter Hinweis etwa auf die Trinitätslehre — zu protestieren: das Christentum sei — anders als ζ. B . der Islam — gar kein „richtiger" Monotheismus. Aber es genügt für den Zusammenhang, der hier beschäftigt, daß das Christentum jedenfalls „als" Monotheismus „wirkte". Der christliche Alleingott bringt das Heil, indem er die Geschichte exklusiv an sich reißt. Er verlangt das sacrificium mythorum 1 7 schon bevor Gott innerhalb der Philosophiegeschichte des Christentums schließlich — zum Ausgang des Mittelalters — seiner heilsgeschichtlichen Macht das Image einer gegenweltlichen Willkürherrschaft gab. W o dann diese — nominalistisch — von der Welt auch noch das sacrificium essentiae und vom Menschen auch noch das sacrificium intellectus verlangte, trieb dies Mensch und Welt in die Emanzipation: der Kopf optiert fürs Profane, wenn dem Menschen theologisch zugemutet wird, vor Gott auch den Kopf abzunehmen; und wo die Heilsgeschichte gegenweltlich wird, muß sich — schon aus Notwehr — die Welt gegengeschichtlich formieren: die Welt wird so — indirekt durch den Monotheismus selber — zur Geschichtslosigkeit 18 gezwungen. Sie formiert sich neuzeitlich durch Absage auch noch an die letzte, die Heilsgeschichte, 17

Zweifellos rückt diese stark simplifizierende Darstellung Monomythos und christliche Heilsgeschichte zu nahe aneinander: die christliche Heilsgeschichte — dies soll hier eben dadurch angedeutet werden, daß das Christentum kein „richtiger" Monotheismus sei und als Monotheismus nur „wirkte" — blieb oder wurde eine vergleichsweise liberale Alleingeschichte, die Nebengeschichten — und insofern Polymythie - sehr wohl tolerierte oder gar inspirierte. Aber auch noch in der radikalsten und abweisendsten Monomythie bleibt — scheint mir — die Polymythie inoffiziell präsent: die Rache der monomythisch verdrängten Polymythie am Monomythos ist der Witz.

18

Zum Begriff der „Geschichtslosigkeit" der modernen Gesellschaft vgl. J. Ritter, Hegel und die französische Revolution (1957), in: ders., Metaphysik und Politik, Frankfurt 1969, bes. 227; J. Ritter, Subjektivität und industrielle Gesellschaft (1961), in: ders., Subjektivität, Frankfurt 1974, bes. 27, und J. Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft (1963), a. a. O., bes. 130 ff.

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und also antigeschichtlich: als exakte Wissenschaftswelt und als System der Bedürfnisse; sie versachlicht sich zur Welt der bloßen Sachen. Die Geschichten werden generell verdächtigt: die Mythen als Aberglaube, die Traditionen als Vorurteile, die Historien als Vehikel des Ablenkungsgeistes der bloßen Bildung. Das Ende des Polytheismus, der Monotheismus, entmythologisiert — im Effekt - die Welt zur Geschichtslosigkeit. 3. (Das Unbehagen am Monomythos). — Aber die Menschen sind mythenpflichtig: wenn das — wie ich eingangs sagte — gilt, ist diese Geschichtslosigkeit der modernen Sachlichkeitswelt kein Gewinn, sondern ein Verlust, und zwar einer, der nicht ausgehalten und nicht durchgehalten werden kann. Darum hat die moderne Welt die Mythen und Geschichten nicht überwunden, sondern sie hat faktisch nur ein Geschichtsdefizit erzeugt: eine Leerstelle, eine Vakanz. In diese vakante Stelle tritt jetzt — scheinbar unwiderstehlich — der nachmonotheistische Monomythos ein: die durch die Geschichtsphilosophie zu „ d e r " Geschichte im Singular ausgerufene revolutionäre Emanzipationsgeschichte der Menschheit (sie mag nun per Utopie als Kurzgeschichte traktiert werden oder per Dialektik mythische Umständlichkeit gewinnen). Das ist — nachdem Gott sich auf dem Weg über seine Einzigkeit aus der Welt schließlich in sein Ende zurückzog — die Fortsetzung der Heilsgeschichte unter Verwendung halb-anderer Mittel: dieser Mythenbeendigungsmythos bleibt — wie die Heilsgeschichte: nicht als deren Säkularisation, sondern als das Mißlingen ihrer Säkularisation — die Alleingeschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht zur Erlösung der Menschheit. Zugleich aber ist dieser Monomythos ,Emanzipationsgeschichte' von der christlichen Heilsgeschichte durch das Ende des Monotheismus getrennt als ihre profane Kopie: er ist also historisch ganz spät und ein moderner Tatbestand; er gehört nicht zur alten, sondern zur ganz neuen Mythologie. Der Ausdruck „neue Mythologie" entstand kurz vor 1800. „Wir müssen eine neue Mythologie haben", „eine Mythologie der Vernunft": dies meinte 1796 der Urheber des sogenannten „Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus" 19 ; ich gehöre zu denen, die der zuerst von Rosenzweig und zuletzt von Tilliette vertretenen Meinung anhängen, daß das Schelling gewesen sei 20 . Aber Schelling, der so die „neue Mytho19

20

In: R. Bubner (Hrsg.), Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus (Hegel-Studien, Beiheft 9), Bonn 1973 , 265. F. Rosenzweig, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philos.-Histor. Klasse, Jahrgang 1917; X. Tilliette, Schelling als Verfasser des Systemprogramms? in: R. Bubner a. a. O . 3 5 - 5 2 .

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logie" proklamierte, -wurde — und das scheint mir bemerkenswert — nicht der Philosoph der neuen, sondern der Philosoph der ganz alten Mythologie. Zwar gilt das noch nicht vom Identitätssystem; dort — in der Kunstphilosophie: darauf hat besonders energisch Peter Szondi 2 1 hingewiesen — gelten vorübergehend noch „berufene Dichter" und „jedes wahrhaft schöpferische Individuum" als interimistische Agenten der neuen Mythologie: jeder soll „von dieser noch im Werden begriffenen (mythologischen) Welt . . . sich seine Mythologie schaffen" 2 2 . Aber dann - nach dem Ende des Identitätssystems — wird diese Forderung der neuen Mythologie für Schelling offenbar problematisch und schließlich suspekt: mit ihr verbindet sich nun bei Schelling — scheint es — die Erfahrung, daß wir die neue Mythologie nicht erst haben müssen, weil wir sie längst schon in ungutem Ubermaß haben. Denn — das zeigt sich jetzt und bis in unsere Zeit — die neue Mythologie wurde erfolgreich als Mythologie des N e u e n : im Mythos des Fortschritts, der Revolution, der Weltveränderung, des kommenden Reichs, des Generalstreiks 23 , des letzten Gefechts und der letzten Klasse, etc. Allemal handelt es sich dabei um Totalorientierung durch die Alleingeschichte der Ermächtigung einer Alleinmacht; das ist eben diejenige Gestalt des Monomythos, die nach dem Christentum möglich und gefährlich wird: der absolute Alleinmythos im Singular, der — als das zweite Ende der Polymythie — die Pluralität der Geschichten verbietet, weil er nur noch eine einzige Geschichte erlaubt: den Monomythos der alleinseligmachenden Revolutionsgeschichte. Wo diese neue Mythologie die gegenwärtige Welt ergreift, wird gerade das liquidiert, was an der Mythologie doch Freiheit war: die Pluralität der Geschichten, die Gewaltenteilung im Absoluten, das große humane Prinzip des Polytheismus. Das Christentum verdrängte ihn aus dem Sonntag der modernen Welt, die neue Mythologie will ihn auch aus ihrem Alltag verdrängen. Darum gehört — wo sie aus Forderung Wirklichkeit wird und wo dies, wie beim späten Schelling, Erfahrung zu werden beginnt — zur neuen Mythologie das Unbehagen an der neuen Mythologie. Die Spätwerke Schellings sind — scheint mir — bereits Reaktion auf dieses Unbehagen: sie nehmen — wörtlich gemeint — Abstand von der neuen Mythologie. Darum kümmert sich Schellings „Philosophie der Mythologie" gerade nicht um die neue, sondern um die ganz alte Mythologie; und darum macht Schellings „Philosophie der Offenbarung" den Versuch, die neue Mythologie in

21

22 23

P. Szondi, Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit (1961-70), in: ders., Poetik und Geschichtsphilosophie / , Frankfurt 1974, bes. 238f., vgl. 225ff. Vgl. dazu auch P. Szondi in: M. Fuhrmann, a . a . O . 639/40. Schelling, Philosophie der Kunst (1802-1805), Sämtliche Werke V 4 4 4 - 4 4 6 . G . Sorel, Über die Gewalt (1906), Frankfurt 1969, bes. 141 ff.

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ihrem ältesten Zustand anzuhalten und so als Position zu haben 24 ; denn die christliche Offenbarung: das ist die älteste neue Mythologie. Schellings Abkehr von der neuen Mythologie durch Zuwendung zur ganz alten ist repräsentativ für das Schicksal des Mytheninteresses der modernen Welt insgesamt. Es ist geprägt durch das Unbehagen am Monomythos. Schon gleich, als dieser moderne Monomythos durch die Kreation des Singularbegriffs „die" Geschichte entstand, schon in der von Koselleck so getauften „Sattelzeit" kurz nach 1750 formiert sich repräsentativ bei Christian Gottlob Heyne — im Gegenzug das affirmative Interesse an der Polymythie der alten und immer älteren Mythologie 25 . W o — vorbereitet durch den Monotheismus und vollstreckt durch den Monomythos der Fortschrittsgeschichte - nach dem Polytheismus auch die Polymythie aus unserer Welt zu verschwinden droht, sucht man sie — durch eine mythologische Wende zum Exotischen — außerhalb ihrer: diachronisch in der Vorzeit oder synchronisch in der Fremde, am besten in der fremden Vorzeit. Solch nostalgische Wende zur exotischen Polymythie vollzieht die von Carl Otlieb Müller so genannte „Morgenländerei" der Altertumskunde: die Mythenforschung geht zurück vor die griechische Klassik auf deren orientalische Prämissen; das ist sozusagen der frühe und verdeckte Versuch einer Mythologie der dritten Welt. Sie hat — meine ich — mindestens drei Stadien: zunächst die mythologische Nachtseitenforschung der klassischen Philologie von Heyne und Zoëga über Görres und Creuzer bis Bachofen; dann das — immanent exotische — Morgenländereisurrogat einer Zuwendung zur germanischen Mythologie etwa bei Wagner; schließlich — nach der Konversion sozusagen von Odin zu Mao — die sinologische Linksmorgenländerei unseres Jahrhunderts, die immer noch — trotz des Schritts von Hafis zu H o — der Devise des West-östlichen Divan folgt: „flüchte du, im reinen Osten Patriarchenluft zu kosten" 2 6 ; diese mythologische Morgenländerei zerfällt heute in Maoismus und Tourismus. Ihre seriöse Uberbietungsgestalt ist die Strukturale 24

25

26

Schelling, Philosophie der Mythologie (1820ff.), Philosophie der Offenbarung (1827ff.); von der hier angedeuteten Interpretation hoffe ich, daß sie kompatibel ist mit W. Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart 1955, bes. 304-306. Vgl. zum Folgenden: K. Gründer, Einleitung zu: J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, Hildesheim/New York 1970, VI ff.; E. Howald (Hrsg.), Der Kampf um Creuzers Symbolik. Eine Auswahl von Dokumenten, Tübingen 1926, 1 - 2 8 (Einleitung des Herausgebers); A. Baeumler, Bachofen der Mythologe der Romantik, Einleitung zu: M. Schroeter (Hrsg.), Der Mythos von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt aus den Werken von ]. J. Bachofen, München 21956, X X I I - C C X C I V ; K. Kerényi (Hrsg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch, Darmstadt 1967. Goethe, West-östlicher Divan (1819), Hegire 3/4.

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Ethnologie: der Versuch insbesondere von Lévi-Strauss, vom neuen Monomythos des Neuen dadurch Distanz zu gewinnen, daß man ihn der Konkurrenz fremder - polymythischer - Mythologien aussetzt und dadurch relativiert 27 . Hier rumort — Henning Ritter hat das für LéviStrauss gezeigt 28 — allüberall das Rousseau-Interesse am guten Wilden. Und es genügt dann nicht, daß er in der Vorzeit oder den traurigen Tropen lebt: die Nostalgie transportiert ihn — per Zitat: denn die Menschen sind zitierende Lebewesen — in die gegenwärtigste Gegenwart. Als der Bruch mit dem Etablierten durch Kleidungssitten demonstriert werden sollte, verfiel man nicht zufällig auf den Savage-look: was da — zottig und bärtig — unter uns weilte und weilt, repräsentiert (auf der Spitze der Modernität) den bon sauvage; es ist nicht so, wie der Irrtum der Älteren es suggerieren wollte: da trotten nicht ungepflegte Menschen, sondern gepflegte Zitate: Rousseau-Zitate. Was hier vor sich geht — die Verwandlung des Ältesten ins Modernste, die Promotion des Archaischen zum Avantgardistischen — kann man auch an anderen einschlägigen Vorgängen beobachten, etwa: was — durchaus im Kontext der mythologischen Morgenländerei - Hegels Ästhetik als die Kunst vor den Verehrungs-, den Reverenzobjekten beim Streit zwischen „Alten" und „Modernen" — vor der „klassischen" und der „romantischen Kunstform" also — identifizierte, die im Anschluß an Creuzers Terminologie so genannte „symbolische Kunstform" der — wie Hegel sagte — „abstrakten" Kunst 2 9 , wird spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts zur Losung der Avantgarde. Innerhalb der Ästhetik der „Kunstformen" wird sie sozusagen aus dem ersten Abschnitt zum letzten: aus der frühesten zur fortgeschrittensten Kunst. Auch sie bekommt diesen Avantgarde-Appeal freilich nur, indem sie mit dem Monomythos des Fortschritts paktiert und — als ancilla progressus — in seine Dienste tritt: er beherrscht das Feld der Gegenwart — scheint es - so sehr, daß auf diesem Felde nur noch leben darf, was sich ihm anpaßt und unterwirft. Das Gesamtschicksal dieser mytheninteressierten Gegenbewegung gegen den neuen Monomythos ist also offenbar nicht glücklich: weil der Monomythos der Fortschritts-Alleingeschichte die moderne Welt unbehaglich beherrscht, suchen ihre Zeitgenossen die verlorene Polymythie in der exotischen Mythologie der Vorzeit und Fremde. Weil das — offenbar — nicht genügt, kommt es zum Versuch ihrer Verwandlung in Gegenwart; dabei 27

C . Lévi-Strauss, Traurige Tropen (1955), Köln 1970, 363: „so verschaffen wir uns wenigstens die Mittel, uns von der unseren zu lösen, nicht weil diese als einzige absolut schlecht wäre, sondern weil sie die einzige ist, zu der wir Distanz gewinnen müssen".

28

H . Ritter, Claude Lévi-Strauss als Leser Rousseaus, wilden Denkens, Frankfurt 1970, 1 1 3 - 1 5 9 .

29

H e g e l , Vorlesungen

über die Ästhetik

in: W . Lepenies/H. Ritter, Orte

des

( 1 8 1 8 f f . ) , Theorie Werkausgabe X I I I 1 0 7 f f . , 389ff.

Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie

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jedoch hört diese alte Mythologie auf, das zu sein, um dessentwillen man sie suchte: sie verliert ihren polymythischen Charakter durch Unterwerfung unter den Monomythos des Neuen; so bestätigt sie schließlich nur dessen Macht. Es wird also hier die Gegenmaßnahme überdauert durch das, was sie auslöste: durch das Unbehagen am Monomythos. Daraus — scheint mir — folgt: das Interesse an der exotischen — der alten und der fremden — Mythologie ist ein Symptom, aber keine Lösung. 4. (Plädoyer für aufgeklärte Polymythie). — Es müssen daher — um zu einer Lösung zu kommen — alternative Gegenmaßnahmen erwogen werden. Ich will auch das hier nur in der Form einer kurzen Skizze tun. Dabei verlasse ich das Themenfeld Mythos nicht, ich vergrößere nur den Aktionsradius der mythenbetreffenden Aufmerksamkeit; denn die Aufmerksamkeit nur auf die exotische — die alte und die fremde — Mythologie birgt die Gefahr, die Aufmerksamkeit auf einschlägig moderne Phänomene zu blockieren. Das führt dann zu einer künstlich halbierten Charakteristik der Gegenwart, bei der nur das gesehen wird, was ich bisher angesprochen hatte: die moderne Versachlichung, die Geschichtslosigkeit ist, und deren — dann unwiderstehlich scheinende — Kompensation durch den neuen Monomythos. Aber zur Gegenwart gehört mehr und mythologisch jedenfalls nicht nur die Monomythie; denn — das ist hier meine mythenbetreffende Abschlußthese — es gibt auch eine Polymythie, die spezifisch der modernen Welt zugehört: auf sie muß man setzen, um das Unbehagen am Monomythos ins Produktive zu wenden. Denn es gilt nicht nur dies: die monotheistische Entmythologisierung ist die indirekte Ermächtigung des neuen Monomythos; es gilt nämlich ebenso dies: die monotheistische Entmythologisierung lanciert gerade modern das, was sie liquidieren wollte: die Polymythie. Wie geht das zu? Vielleicht so: der Monotheismus hat den Polytheismus und mit ihm die Polymythie entzaubert und negiert. Die moderne Welt aber beginnt - im früher angedeuteten Sinn — damit, daß sich Gott aus der Welt in sein Ende zurückzieht: also mit dem Ende des Monotheismus. Dieses Ende des Monotheismus verschafft — wie auch anderen Phänomenen, die der Monotheismus scheinbar bezwang: etwa dem Fatum — dem Polytheismus und der Polymythie eine neue Chance: es läßt — sozusagen — ihre Entzauberung bestehen, aber es negiert ihre Negation. Mit anderen Worten: gerade in der modernen Welt können Polytheismus und Polymythie — entzaubert — wiederkehren: als aufgeklärter Polytheismus und als aufgeklärte Polymythie. Ich möchte auf drei Tatbestände hinweisen, die in diesen Kontext gehören. Da ist erstens die entzauberte Wiederkehr des Polytheismus. Der moderne — profane, innerweltliche - Aggregatzustand des Polytheismus ist die

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politische Gewaltenteilung: sie ist aufgeklärter — säkularisierter — Polytheismus. Sie beginnt nicht erst bei Montesquieu, bei Locke oder bei Aristoteles, sie beginnt schon im Polytheismus: als Gewaltenteilung im Absoluten durch Pluralismus der Götter. Es war der Monotheismus, der ihnen den Himmel verbot und damit auch die Erde streitig machte. Weil sich aber der christlich eine Gott, der die vielen Götter negierte, zu Beginn der Neuzeit aus der Welt in sein Ende zurückzog, liquidierte er nicht nur den Himmel; denn er machte dadurch zugleich die Erde — die Diesseitswelt — frei für eine — nun freilich entzauberte, entgöttlichte — Wiederkehr der vielen Götter. Indem der biblische Monotheismus sie aus dem Himmel vertrieb, wies er sie im Effekt nur aus auf die Erde: dort richten sie sich ein als die zu Institutionen entgöttlichten Götter Legislative, Exekutive, Jurisdiktion; als institutionalisierter Streit der Organisationen zur politischen Willensbildung; als Föderalismus; als Konkurrenz der wirtschaftlichen Mächte am Markt; als unendlicher Dissens der Theorien, der Weltsichten und maßgebenden Werte: „Die alten vielen Götter" - schreibt Max Weber - , „entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf." 3 0 Da ist zweitens die Genesis des Individuums: es lebt von dieser Gewaltenteilung 31 . Das Individuum entsteht gegen den Monotheismus. Solange — im Polytheismus — viele Götter mächtig waren, hatte der Einzelne — wo er nicht durch politische Monopolgewalt bedroht war — ohne viel Aufhebens seinen Spielraum dadurch, daß er jedem Gott gegenüber immer gerade durch den Dienst für einen anderen entschuldigt und somit 30

31

M. Weber, Wissenschaft als Beruf, Berlin s 1967 28; vgl. M. Landmann, Pluralität und Antinomie, 129-132. Vgl. Schelsky a . a . O . 57: „was dieses Prinzip Gewaltenteilung für die Situation und das Verhalten der einzelnen Menschen . . . bewirkt . . . ist ein . . . Schutz des einzelnen gegenüber allen Machtkonstellationen . . . Die Lebensinteressen des einzelnen . . . werden in ihrer Vielfältigkeit, Widersprüchlichkeit und Individualisierung vor allem dadurch geschützt, daß der einzelne für die verschiedensten Bereiche seines Lebens politische Vertreter und Schutzpatrone findet, die seine jeweiligen Interessen sachlich, mit Engagement und ohne Rücksicht darauf vertreten, ob er zur Mehrheit oder zur Minderheit der Wähler der jeweiligen politischen Herrschaft gehört, welcher Partei er angehört oder für welche er votiert hat. Konkret: Meine Freiheit als einzelner besteht darin, daß ich mit meinem Votum als Bundestags- oder Landtagswähler nicht auch meine Interessenvertretung als Arbeitnehmer oder Beamter, als Elternteil oder Rundfunkhörer, als Hausbesitzer oder Sparer entschieden habe und in allen diesen Lebensbereichen auf politisch gleich vorprogrammierte Entscheidungs- und Verwaltungsinstanzen treffe. Die Vielfalt der in eigener .politischer' Verantwortung entscheidenden Institutionen einer Gesellschaft, die institutionelle Pluralisierung der Macht, bietet die entscheidende Garantie für die Freiheit des einzelnen, seine vielfältigen Interessen und Lebensansprüche verhältnismäßig ,herrschaftsfrei' verfolgen zu können."

L o b des Polytheismus. Uber Monomythie und Polymythie

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temperiert unerreichbar sein konnte: es braucht ein gewisses Maß an Schlamperei, die durch die Kollision der regierenden Gewalten entsteht, um diesen Freiraum zu haben; ein Minimum an Chaos ist die Bedingung der Möglichkeit der Individualität. Sobald aber — im Monotheismus — nur mehr ein einziger Gott regiert mit einem einzigen Heilsplan, muß der Mensch in dessen totalen Dienst treten und total parieren: da muß er sich ausdrücklich als Einzelner konstituieren und sich die Innerlichkeit erschaffen, um hier standzuhalten; die Allmacht konterkariert er durch Ineffabilität. Darum hat nicht der Polytheismus den Einzelnen erfunden: er brauchte es nicht, weil noch kein Monotheismus da war, der den Einzelnen extrem bedrohte. Der Monotheismus seinerseits aber hat nicht selber den Einzelnen entdeckt, sondern er — freilich gerade er — hat die Entdeckung des Einzelnen nur provoziert, weil zuerst er — der Monotheismus — dem Einzelnen wirklich gefährlich wurde. Darum konnte erst nachmonotheistisch der Einzelne offen hervortreten und — unter der Bedingung des säkularisierten Polytheismus der Gewaltenteilung — erst modern die wirkliche Freiheit haben, ein Individuum zu sein. Diese Freiheit riskiert er, wo er sich — monomythisch — einer neuen Monopolgewalt unterwirft. Fasziniert durch den neuen Mythos der Alleingeschichte bleibt er dann auf jener Strecke, die nur vermeintlich die Strecke zum Himmel auf Erden ist, in Wirklichkeit aber die zur irdischen Identität von Himmel und Hölle: zur integrierten Gesamtewigkeit. Darum braucht der Einzelne drittens die entzauberte Wiederkehr der Polymythie, um hier erneut standzuhalten: um seine unausweichliche Mythenpflichtigkeit nicht — monomorph progressiv — durch eine absolute Alleingeschichte, sondern — polymorph transgressiv — durch viele relative Geschichten zu absolvieren. Es gibt — sagte ich — eine Polymythie, die spezifisch der modernen Welt zugehört. Man muß das eigens betonen: die übliche Abwehr einer Definition der Mythen als Geschichten — die man gleichermaßen findet bei Roland Barthes und Alfred Baeumler32 — ist nur der Kunstgriff, mit dem man die Mythen aufs Exotische beschränkt und ausschließt, daß auch die Gegenwart ihre Mythen produziert. Je mehr hingegen die Mythen als Geschichten begriffen werden, um so mehr kann man sehen: es gibt eine spezifisch moderne Polymythie. Von ihren Gestalten nenne ich hier zwei: die Geschichtswissenschaft und das ästhe32

R . Barthes, Mythen des Alltags, 141: „ D e r Mythos entzieht dem Objekt, von dem er spricht, jede Geschichte. Die Geschichte verflüchtigt sich aus i h m " : Barthes will damit begründen, daß „der M y t h o s " , „statistisch gesehen . . . rechts" ist (138), was ich bezweifle und was von Barthes auch nur durch einen Hilfsirrtum gestützt werden kann: „der linke Mythos ist nicht essentiell": 136; A. Baeumler, a . a . O . (siehe Anm. 23), X C I : „ D e r Mythos ist schlechterdings ungeschichtlich."

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tische Genus Roman. Sie sind spezifisch moderne Phänomene 33 , und sie erforschen oder erfinden, und jedenfalls erzählen sie viele Geschichten. Durch den Monotheismus werden aus den Geschichten die vielen Götter, durch sein Ende wird auch noch der eine Gott aus ihnen als handelnde Zentralfigur getilgt: so — entzaubert — tun die Mythen modern in jeglicher Beziehung den Schritt in die Prosa: aus dem Kult in the Bibliothek. Dort sind die Geschichtswerke und die Romane präsent als die Polymythen der modernen Welt: auch das ist aufgeklärter Polytheismus. Das Aufgeklärte an ihnen ist unter anderem, daß sich Fiktion und Realität verschiedener Genera suchen, wenn es auch in den Realgeschichten der Historiker — wo sie Historiker bleiben d. h. Geschichte erzählend schreiben — unvermeidliche Fiktionsreste gibt und in den Fiktionen der Romanciers — auch und gerade nach der modernen Entzauberung des Epos zur „Epopöe der gottverlassenen W e l t " 3 4 — die fundamenta in re. Historien und Romane sind die — aufgeklärten — Polymythen der modernen Welt 3 5 . Den Umgang mit ihnen muß man suchen, um aus jener

33

Für den historischen Sinn zeigen dies J . Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, Subjektivität, bes. 120ff., und H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, bes. 304ff.; für den Roman erläutert seine „Zugehörigkeit . . . zum (sc. neuzeitlichen) Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz" H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: H. R. Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion, München 1964, 9—27.

34

G. Lukacs, Die Theorie des Romans (1920), Neuwied/Berlin 1971, 77. Zur Korrelation Mythos-Geschichtsschreibung vgl. C. Lévi-Strauss, Mythologica I (Das Rohe und das Gekochte), Frankfurt 1976, 27: es „wird eine scharfblickende Geschichtswissenschaft zugeben, daß sie niemals völlig der Natur des Mythos entgeht"; zur Korrelation MythosRoman vgl. ders., Mythologica III (Der Ursprung der Tischsitten), Frankfurt 1976, bes. 134 f. C . Lévi-Strauss bezieht hier zentral die Musik ein, vgl. Mythologica IV, 2, 765ff., und bevorzugt — vorbereitet durch die „Ouverture" in Mythologica I, bes. 29 ff. — folgende These: in „der modernen Zeit, in der die Formen des mythischen Denkens ihren Einfluß zugunsten des entstehenden wissenschaftlichen Denkens lockern und neuen Formen des literarischen Ausdrucks Platz machen . . . übernimmt die Musik die Strukturen des mythischen Denkens in dem Augenblick, da die literarische Erzählung, die von einer mythischen zu einer romanesken geworden ist, sie ausräumt. Der Mythos mußte folglich als solcher sterben, damit seine Form ihm entwich wie die Seele dem Körper unu von der Musik das Mittel einer erneuten Verkörperung forderte. Alles in allem sieht es so aus, als ob die Musik und die Literatur sich das Erbe des Mythos geteilt hätten. Die Musik, die mit Frescobaldi, dann mit Bach modern wurde, hat sich seiner Form bedient, während der Roman, der ungefähr zur selben Zeit entstand, sich der entformalisierten Reste des Mythos bediente und, von den Zwängen der Symmetrie emanzipiert, das Mittel fand, als freie Erzählung aufzutreten. So könnten wir den komplementären Charakter der Musik und der Romanliteratur vom 17. und 18. Jahrhundert bis heute besser verstehen"; generell gilt: „Wenn der Mythos stirbt, wird die Musik auf dieselbe Weise mythisch, wie die Kunstwerke, wenn die Religion stirbt, aufhören, einfach nur schön zu sein, und heilig

35

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„nützlichen Idiotie", zu der das ignorierensleitende Ignoranzinteresse der monomythisch inspirierten direkten utopischen Aktion verführt, in die besonnene Vorsicht der Bildung zurückzufinden: jener Bildung, die Chancengleichheit für die Geschichten — die Polymythen - gewährt: für die Historie, die nichtengagierte, und für die Literatur, die nichtengagierte, deren Liquidierung jenes Vakuum erzeugt, in das der Monomythos eindringt. Es ist fällig, gegenüber der schlechten Fortsetzung des Monotheismus durch Monomythie einzutreten für die modernen Geschichten im Plural — die historischen und die ästhetischen — und in diesem Sinn für einen aufgeklärten Polytheismus, der die individuellen Freiheiten schützt durch die Teilung auch noch jener Gewalten, die die Geschichten sind. Es könnte — erlauben Sie mir diese Schlußbemerkung — sein, daß all das nicht ohne Konsequenzen bleibt auch für die Philosophie. Es scheint mir ebenfalls fällig, daß sie ihre Kollaboration mit dem Monomythos beendet und Distanz gewinnt auch zu all dem, was in ihr selber zu dieser Kollaboration disponiert. Das ist insbesondere das Konzept der Philosophie als orthologischer Mono-Logos: als das Singularisierungsunternehmen der Ermächtigung einer Alleinvernunft durch Dissensverbote, bei dem — als unverbesserliche Störenfriede — die Geschichten a priori nicht zugelassen sind: weil man da erzählt, statt sich zu einigen. Mir scheint, es wäre gut, zu solcher Orthologie jenes lockere Verhältnis wiederzugewinnen, das in Bezug auf die Orthographie Mark Twain empfahl als er sagte: ich bedauere jeden, der nicht die Phantasie hat, ein Wort mal so, mal so zu schreiben. Jede Philosophie ist eine traurige Wissenschaft, die es nicht vermag, über dieselbe Sache mal dies, mal das zu denken und jenen dieses und diesen jenes denken und weiterdenken zu lassen. In diesem Sinne ist selbst der Einfall suspekt: es lebe der Vielfall. Die Geschichten müssen wieder zugelassen werden: gut gedacht ist halb erzählt; wer noch besser denken will, sollte vielleicht ganz erzählen: die Philosophie muß wieder erzählen dürfen und dafür — natürlich — den Preis zahlen: das Anerkennen und Ertragen der eigenen Kontingenz. Aber da ahnt man schon die Entsetzensschreie der Innung und ihre empörten Warnungen: daß das Relativismus bedeute — mit den bekannten Widersinnskonsequenzen und fallacies — und bös enden müsse oder gar im Skeptizismus. Es war einmal ein Skeptiker, der hörte dies und empfand es nicht als Einwand: was meinen die wohl — murmelte er, als er merkte, daß diese Warnung an ihn selber adressiert war: aber vorsichtshalber murmelte er w e r d e n " (765f.): das ist bei Wagner bewußt geworden (767); so gilt „zumindest für jene Periode der westlichen Zivilisation", „daß die Musik auf ihre Weise eine Rolle vergleichbar der der Mythologie erfüllt" als „ M y t h o s , der in Tönen statt in Worten codiert i s t " (774).

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nur — was meinen die wohl, warum ich ein Skeptiker bin? I like fallacy. Hier stehe ich und kann auch immer noch anders: ich erzähle — als eine Art Scheherazade, die freilich anerzählen muß jetzt gegen die eigene Tödlichkeit — ich erzähle, also bin ich noch; und so — just so — erzähle ich denn: Geschichten und spekulative Kurzgeschichten und andere Philosophiegeschichten und Philosophie als Geschichten und weitere Geschichten und — wo es den Mythos betrifft — Geschichten über Geschichten; und wenn ich nicht gestorben bin, dann lebe ich noch heute.

FRANZ SCHUPP

Mythos und Religion: Der Spielraum der Ordnung Wird im folgenden von „ M y t h o s " gesprochen, so soll dies im Zusammenhang des gestellten Themas im Sinn jener Gruppe von Phänomenen geschehen, die unter dieser Bezeichnung in der Ethnologie und in der Religionsgeschichte behandelt werden. Es handelt sich dabei also um Vorstellungskomplexe, die sprachlich, aber nicht notwendigerweise schriftlich organisiert und fixiert sind, wie sie etwa von M. Eliade in „Die Religionen und das Heilige", von G . van der Leeuw in der „Phänomenologie der Religion" oder von K . Kerényi in „Die Mythologie der Griechen" behanhandelt werden (um nur einige bekannte Beispiele zu nennen), ohne daß damit schon der bei diesen vorliegende Begriff von „Mythos" übernommen werden soll. Ein solcher extensionaler und vom theoretischen Interpretationsmodell des jeweiligen Forschers abhebbarer Ausgangspunkt ist möglich, da unter „ M y t h o s " in dem Sinn, in dem er hier diskutiert werden soll, jedenfalls seit dem 19. Jahrhundert (d. h. seit etwa seit D . Fr. Strauß auch die biblisch-christliche Tradition unter dem Stichwort „ M y t h o s " analysiert wurde) eine Gruppe von Phänomenen zusammengefaßt erscheint, die mindestens innerhalb der Ethnologie und Religionsgeschichte als Gruppe kaum in Frage gestellt wurde. Diese Gruppe stellte also ein vorgegebenes Corpus der Forschung dar, das zwar durch weitere empirische ethnologische Forschung erweitert werden konnte und auch in sehr großem Umfang tatsächlich erweitert wurde und wird, in das aber durch einen weitgehenden Konsensus der (bei sehr verschiedenem theotischem Ausgangspunkt) beteiligten Forscher auch durch solche Erweiterungen bestimmte Kennzeichen der in Frage kommenden Phänomene selbst und so die Merkmale der Gruppe kaum wesentlich verändert wurden. Ein so umschriebener Ausgangspunkt stellt eine bewußte Einschränkung der Thematik dar. Es gibt darüber hinaus Begriffe des „ M y t h o s " , in denen dieser funktional formalisiert wird und dann auf Grund eines solchen formalen Begriffs Phänomene unter den Begriff des „ M y t h o s " fallen, die außerhalb jenes Bereiches liegen, der von der Ethnologie oder der Religionsgeschichte erfaßt wird. So wird bei Horkheimer und Adorno die Aufklärung in ihrer Form als Positivismus selbst als „ M y t h o s " bezeichnet, oder es werden etwa bei R . Barthes Phänomene bestimmter Art aus dem Alltagsbereich als moderne Mythen bezeichnet, oder

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es wird wie bei Nietzsche der Mythos zum Schlüsselbegriff einer gesamten Kultur- und Geschichtsphilosophie, wie dies in anderer Form auch bei Cassirer der Fall ist. Solche ohne Zweifel sehr interessante und weiterführende Analysen und Überlegungen seien jedoch hier nicht diskutiert. Diese Einschränkung gewährleistet dafür einen allgemeiner akzeptablen und relativ wenig umstrittenen Ausgangspunkt.

I. Jeder Mythos stellt ein Ordnungssystem dar Die griechische Philosophie hatte zu ihrer Legitimation das Gegensatzpaar „Mythos" — „Logos" aufgestellt und dieses als geschichtstheoretische Konzeption zur Geltung gebracht. Wenngleich die sachliche Berechtigung einer solchen Geschichtstheorie mit guten Gründen bezweifelt werden kann 1 , so ändert dies doch nichts an der Wirksamkeit sowohl dieses Gegensatzpaares selbst wie der daran geknüpften Geschichtskonstruktion in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht. Der so aufgestellte Gegensatz verlieh dem Mythos das Prädikat des Nicht-Logischen, sei dies nun in bloß privativem oder in konträrem Sinn, d. h. es wurde damit behauptet, der Mythos sei entweder „außerhalb" des Bereichs der Vernunft, er sei bestenfalls „vor" der Vernunft, oder er sei sogar „gegen" die Vernunft. Mit wenigen Ausnahmen (z. b. Vico, Schelling, Cassirer) konnte so der Mythos auch kein echter Gegenstand philosophischen, sich als Vernunfterkenntnis verstehenden Denkens werden. Wenn auch nicht immer in so vereinfachender Form wie bei Comte, stellte der Mythos doch vielfach wie bei diesem das Stadium der „Fiktionen" dar, ein Stadium, in dem der Mensch „den einfachsten wissenschaftlichen Problemen noch nicht gewachsen ist" 2 . Im günstigsten Fall wurden mythische Vorstellungen wie bei Lévy-Bruhl als „prä-logische" Betätigungen des Geistes angesehen, die jedoch ganz anders geartet sind als unsere heutigen Tätigkeiten des Geistes, da diese ersteren „dem logischen Gesetz des Widerspruchs gleichgültig gegenüberstehen" 3 . Was Lévy-Bruhl nur zugestehen wollte, war, daß das Studium solcher Vorstellungen uns gute Dienste leisten könne, da ja auch die „höheren Typen" geistiger Betätigung aus ihnen entspringen: 1

2 3

Vgl. H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik IV), München 1971, S. 11—66, z. B. S. 65: „Das Schema der Ablösung des Mythos durch den Logos entstammt weitgehend der Selbstauffassung der Philosophie von ihrer eigenen Geschichte und Leistung." — Bei Homer noch etwa besteht die eigentliche Gegenübersetzung in „Mythos" und „Ergon", beide aber sind durchaus mit „Logos" vereinbar. Vgl. F. Jesi, Mito, Milano 1973, S. 19. A. Comte, Rede über den Positivismus, Ausg. Meiner, Hamburg 1956, S. 7. L. Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, Wien 2 1926, S. 323.

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„Hier öffnet sich ein weites Feld der Betätigung für die positiven Erforschungen der geistigen Funktionen in den verschiedenen Gesellschaften und selbst für die Darstellung unserer Logik." 4 Innerhalb der Optik „prälogisch" - „logisch" war jedoch der Fragerahmen so festgelegt, daß auch das Ergebnis immer nur sein konnte, der Mythos sei eben „prälogisch", er folge in seinen Vorstellungsverknüpfungen nicht einmal dem logischen Gesetz des Widerspruchs, also der Grundregel logischen Denkens. Der Spielraum der Ordnung des Mythos ist nach dieser Auffassung nach den Regeln der Partizipation (Beziehung von Ungleichartigem) und des Mystischen (Kräftewirkungen zwischen solchem Ungleichartigem) strukturiert5, welche Ordnung sich nicht in ein System wissenschaftlicher Abstraktionsbegriffe übersetzen läßt6. Die chinesischen Enzyklopädien ζ. B. zeigen, wie solche aus mythischem Denken hervorgegangene Ordnungssysteme „funktionieren". So zeigt es sich, daß dort „alle Gegenstände der Natur . . . in dieselben Klassen eingeteilt sind oder ursprünglich eingeteilt waren wie die Mitglieder des sozialen Verbandes."7 Auch ein so „neutrales" Element wie die Zahl übt als Ordnungselement mythischen Denkens eine Funktion komplexer mystischer Natur aus, die nach LévyBruhl mit unserem heutigen Denken unvergleichbar ist. So heißt es ζ. B.: „Unter diesen Elementen findet sich mit inbegriffen die Zahl Vier als Vehikel einer mystischen Partizipation, die eine der wichtigsten Rollen spielt und die sich das logische Denken gar nicht begreiflich machen kann, während sie von der prälogischen Geistesart unmöglich entbehrt werden kann." 8 Bevor nun schon ein neues Interesse am Mythos durch den Verdacht hervorgerufen wurde, der neuzeitliche Vernunftsbegriff habe gegenüber dem Anspruch, mit dem er — gerade gegenüber dem Mythos — aufgetreten war, versagt9, und der Mythos bringe so möglicherweise gerade das von solchem Vernunftbegriff und Vernunftanspruch Vergessene oder Unterdrückte zur Sprache, hatten Ethnologen gesehen, daß durch einen normativ vorausgesetzten Begriff von Vernunft und Logik das Spezifische

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Ebd. Ebd. Lévy-Bruhls frühe Theorie ist hier nur paradigmatisch gebraucht. In den posthum veröffentlichten Carnets de Lévy-Bruhl, Paris 1949, S. 60, vertrat er die Auffassung, der Ausdruck „prélogique" solle überhaupt aufgegeben werden. Lévy-Bruhl scheint später eine komplexe, aber variable Einheit von mythischem und logischem Denken vertreten zu haben. Vgl. G. Gusdorf, Mythe et métaphysique, Paris 1953, S. 173. L. Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, a.a.O., S. 104. Ebd. S. 184. Vgl. z. B. G. Plumpe, Das Interesse am Mythos, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976) S. 2 3 6 - 2 5 3 , bes. S. 249.

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der Regelsysteme des Mythos nicht erfaßt werden konnte 10 . Im vorliegenden Zusammenhang, der nicht mehr sein kann als der Versuch, den Hinweis auf einige wichtige Ergebnisse zu liefern, sollen zwei Hypothesen neuerer Ethnologie hervorgehoben werden. 1. Der Mythos kennt sehr wohl den Gegensatz, die Art und Weise, in der aber im mythischen Vorstellungsraum, der durch solche Gegensätze geradezu strukturiert ist, mit dem Gegensatz gearbeitet wird, ist jedoch verschieden von einem System der klassischen zweiwertigen Logik, wie dieses etwa im aristotelischen Diskurs vorausgesetzt wird 11 . Es führt daher auch nicht weiter, zu fragen, ob der im Mythos zur Sprache kommende Gegensatz nun „eigentlich" kontradiktorisch oder konträr sei. Schon die Bedeutung und Funktion logischer Konstanten ist ja nicht unabhängig von der Sprache, in der sie zur Anwendung kommen. Entscheidend für die Behauptung einer „Logik" ist nur, daß gezeigt werden kann, daß ein Regelsystem vorliegt (eine bestimmte Sprache L), in der Satzverbindungen einem konstanten Gebrauch unterliegen. Die Gegensätze, durch die der Mythos strukturiert ist, sind auch als solche in erster Linie semantisch und nicht syntaktisch bestimmt. So ist z. B. ein Gegensatz „zeitlich" — „ewig" überhaupt nur in bestimmten Sprachen Li, L2 . . . aussagbar, während es durchaus möglich ist, daß in einer Sprache La eine Zusammensetzung wie „ewige Zeit" durchaus sinnvoll sein kann und keinerlei Gegensatz oder Widerspruch ausdrückt. Worauf es daher im Zusammenhang der Analyse des Mythos zunächst nur ankommt ist, zu sehen, daß er ein Ordnungssystem darstellt, d. h. ein System, das bestimmte Vorstellungen nach bestimmten Regeln in bestimmte Beziehungen setzt, wobei es für den Einsatzpunkt der Analyse solcher Regelsysteme entscheidend ist, daß die Bipolarität nicht nur ein Strukturelement unter anderen darstellt, sondern daß — worauf Lévi-Strauss wiederholt hingewiesen hat — „das mythische Denken ausgeht von der Bewußtmachung bestimmter Gegensätze und hinführt zu ihrer allmählichen Ausgleichung"12. Die Semantik solcher Regelsysteme arbeitet daher weithin mit Relationen kontinuierlicher Art der Form „mehr als", „weniger als", während nur an den in den meisten Fällen semantisch gar nicht faßbaren oder nur inadäquat symbolisierbaren Extremen der Polarität einander ausschließende Bestim-

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Es ist interessant, daß für M. Foucault gerade diese völlige Verschiedenheit der Ordnungssysteme der chinesischen Enzyklopädien einen entscheidenden Anstoß für die Erforschung der (heute in unserem Bereich als einzig maßgebend erachteten) Ordnungssysteme seit dem Beginn der Neuzeit gegeben haben. Vgl. M. Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966, S. 8 - 1 6 . Vgl. G. Durand, Les structures anthropologiques de l'imaginaire, Paris-Bruxelles-Montréal 4 1973, S. 479. Cl. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, Frankfurt 1967, S. 247.

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mungen stehen (vgl. z.B. das „Chaos" am Beginn des Textes des Alten Testaments, das zwar der Gegenbegriff der Schöpfung als geordneter Welt ist, das aber nicht schon das „Nichts" der mittelalterlichen Schöpfungstheologie darstellt). Die „Ausgleichung", die der Mythos leistet, ist daher im Normalfall auch nicht einfach mit hegelscher „Vermittlung" zu interpretieren. Die „Lösung", die der Mythos erstellt, kann nämlich in vielen Fällen schon darin bestehen, einfach „alle vorstellbaren Modalitäten des Ubergangs von der Dualität zur Einheit auszuschöpfen"13, sie erreicht aber auch in jenen Fällen, in denen eine „Vermittlung" geschieht, keine wirkliche Synthese 14 , sondern nur eine Einheit, die die Dualität in sich behält 15 , und so über eine organisierte Zweideutigkeit nicht hinausgelangen kann 16 . Die Liste jener Beispiele, bei denen eine solche Ausgleichsfunktion des Mythos schon an der Oberfläche der Vorstellungswelt liegt, wäre sehr lang. Es genügt, ζ. B. auf die griechische Vorstellung des androgynen Urmenschen hinzuweisen oder auf die christliche Vorstellung vom Gottmenschen. Es stellt sich jedoch die Frage: Wozu ein solcher Ausgleich, der doch an der „faktischen Wirklichkeit" nichts ändert? Um einer möglichen Antwort näher zu kommen, ist daher zu fragen, welche „Wirklichkeit" der Mythos überhaupt zum Ausdruck bringen will. 2. Der Mythos stellt ein Wert- und Handlungsmodell dar. Viele Fehldeutungen des Mythos kamen einfach daher, daß man in ihm bloß eine Vorform wissenschaftlicher oder metaphysischer Welt-Erklärung sehen wollte 17 . Nun ist zwar ein solches Erklärungsmoment im Mythos auch enthalten, es steht jedoch primär im Zusammenhang einer Wert- und Handlungsorientierung. Auf eine solche sehr komplexe Struktur der mythischen Denk- und Vorstellungsform hat E. Cassirer zu Recht und mit aller Deutlichkeit hingewiesen: Religion, Kunst und Wissenschaft haben im Mythos noch keine klar abgegrenzte Gestalt 18 . Der Mensch lebt im Mythos vor solchen Unterscheidungen, die erst das Resultat späterer kultureller Ausdifferenzierungen sind; ursprünglich leitet der Mythos den 13 14

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Ebd. S. 249. K. O . L. Burridge, Lévi-Strauss und der Mythos, in: E. Leach, Mythos und Totemismus, Frankfurt 1973, S. 135f. stellt zu Recht eine Abhängigkeit Lévi-Strauss'von Hegel fest, die er jedoch überschätzt, wie es schon die vorhergegangenen Zitate von Lévi-Strauss zeigen. Die Behauptung Burridges S. 137 „Seine (sc. Lévi-Strauss') ,Natur' entspricht tatsächlich im letzten Hegels ,Gott' " beruht jedenfalls auf einer Fehlinterpretation Hegels. CI. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, a. a. O . S. 249. G. Durand, Les structures anthropologiques de l'imaginaire, a. a. O. S. 479f. Diese Fehldeutung wirkt noch heute dort nach, wo der Mythos dadurch kritisiert werden soll, daß er als nicht-falifizierbar analysiert wird. Dieser Deutung liegt eine einseitige durch eine lange Deutungsgeschichte nur scheinbar bestätigte - Verkürzung des Mythos auf ein System von Erklärungssätzen zugrunde. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, Darmstadt 5 1969, S. IX.

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Menschen in seiner gesamten Vorstellungs- und Handlungswelt, ohne zwischen solchen „Welten" oder „Weltbereichen" zu unterscheiden. Der Mythos ist aber auch nicht ein Phänomen individueller Wert- und Handlungsorientierung (eine solche gibt es vermutlich überhaupt nur in sehr eingeschränktem Sinn), sondern steht jeweils in Korrelation zu einer bestimmten Gesellschaft und deren Struktur. Der Mythos ist also eine „kollektive Axiologie" 1 9 . Er vermittelt ein Ordnungssystem, das normierend für Vorstellung und Handlung wirkt. Dieser Zusammenhang kann deutlich gesehen werden an der engen Beziehung, die zwischen Mythos und Kult besteht (wobei hier eine — falls es überhaupt eine solche gibt — Entscheidung bezüglich der sachlichen, jedenfalls nicht zeitlichen Priorität des einen oder des anderen offen gelassen werden kann). In beiden wirkt ein Vorstellungskomplex als „Paradigma" 20 , das im Mythos in sprachlicher Form, im Kultus in Handlungsform vermittelt wird, das aber in jedem Fall den Handlungs- und Erfahrungsraum strukturiert, so jedoch, daß dieser nicht schon in seinen Elementen vorher vorhanden wäre, sondern erst durch dieses Paradigma konstituiert wird 21 . In dieser Hinsicht könnte man von einer „Unhintergehbarkeit" des Mythos als Ordnungssystem sprechen 22 . Bei genauerer Analyse dieses Ordnungssystems zeigt es sich, daß sich die reiche Vorstellungswelt des Mythos gewöhnlich auf eine relativ geringe Anzahl von Gegensatzpaaren zurückführen läßt, die als Organisationsprinzipien wirken 23 , die den physischen wie den gesellschaftlichen Lebens-

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A. J . Greimas, Sémiotique et sciences sociales, Paris 1976, S. 180f. Auf die Paradigma-Funktion des Mythos hat ausdrücklich M. Eliade hingewiesen: Der Mythos ist „beispielhafte Geschichte". Vgl. M. Eliade, Die Religionen und das Heilige, Darmstadt 1966, S. 487—489. Diese Paradigma-Funktion ist unabhängig von der damit oft verbundenen Behauptung, es handle sich dabei um Archetypen im Sinne C . G . Jungs. — Demgegenüber könnte der durchaus historisch konzipierte ParadigmaBegriff, wie ihn Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1973, verwendet — ausgeweitet auf eine gesamte Kultur — eine heuristische Funktion im vorliegenden Kontext aufweisen. Vgl. P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt 1976, S. 229: „Durch die Praxis aufeinanderfolgender Generationen innerhalb eines bestimmten Typs von Existenzbedingungen geschaffen, funktionieren diese Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die durch die Praxis erworben und in praktischem Zustand ins Werk gesetzt werden, gewissermaßen wie praktische Operatoren, vermittels derer die objektiven Strukturen, deren Produkte sie sind, sich zu reproduzieren trachten. Die praktischen Taxonomien: Werkzeuge der Erkenntnis und der Kommunikation, die die Hervorbringung des Sinns und die Herstellung des Konsensus über ihn bedingen, können nur strukturbildend werden, insofern sie selbst strukturiert sind." Vgl. dazu in noch allgemeinerem Sinn M. Foucault, Les mots et les choses, a. a. O. S. l l f . Vgl. P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, a . a . O . S. 262.

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räum strukturieren 24 , wobei diese Unterscheidung — wie schon aus dem vorher Gesagten deutlich ist — eben prinzipiell inadäquat für die Beschreibung des durch den Mythos organisierten Lebensraums ist, da die mythische Sprache eine Unterscheidung von Beschreibungssätzen und Normsätzen bzw. Wertaussagen nicht zuläßt, daher auch keinen Unterschied zwischen „natürlichen Tatsachen" und „gesellschaftlichen Normen und Werten" ansetzt. Primär sind diese Gegensatzpaare wertender Art, innerhalb solcher primärer Wertungsfunktion können sie jedoch verschiedene Richtungen der Intention aufweisen. Sie können entweder bestimmte vorhandene Gegensätze legitimieren (was der häufigere Fall ist) oder sie können bestimmte vorhandene Gegensätze problematisieren25. Diese beiden Typen können auch gemeinsam — bezogen jedoch auf jeweils verschiedene Gegensätze — auftreten. So steht ζ. B. bei Deuterojesaia der Schöpfungsmythos (d. h. die Vorstellung des einen Gottes als Schöpfers der Welt und so als Herrn aller Völker) im Kontext der Legitimierung (d. h. hier in pragmatischer Hinsicht: der Entlastung) des Lebens des jüdischen Volkes in der Verbannung (Gegensatz: auserwähltes Volk Beherrschtsein durch die Nicht-Auserwähl ten), er dient aber gleichzeitig (mit Rückgriff auf den älteren Mythos des Exodus aus Ägypten) als Problematisierung dieses aktuellen Gegensatzes durch die Vorhersage (geschichtliche Projektion) eines zweiten Exodus. Die Ausgleichung der Gegensätze geschieht dabei dadurch, daß auch der fremde Herrscher — Kyros — zum Werkzeug der Rückkehr werden kann, also auch er — obzwar in zweideutiger Weise — „auserwählt" wird, was eben nur möglich ist durch die im Schöpfungsmythos geschehene Ausgleichung des Gegensatzes „Volk Jahwes" — „Völker, die mit Jahwe nichts zu tun haben" durch die Vorstellung: „Jahwe = Herr aller Völker". Strukturell sind die beiden Typen legitimierender und problematisierender mythischer Komplexe gleich, da auch im letzteren Fall eine Legitimierung geschieht, allerdings die von Gegensätzen, die gegenüber der unmittelbaren Erfahrung alternativ sind. Gleichzeitig damit werden so auch Ausgleichsversuche der alternativen Gegensätze vorgenommen. Im

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Vgl. N. Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt 1977, S. 94. Die legitimierende Funktion ist nach M. Eliade die vorherrschende. Vgl. M. Eliade, Die Religionen und das Heilige, a. a. O . S. 488: „Die Geschichte, wie sie im Ursprung war, muß sich wiederholen". Aber auch diese archäologisch-aitiologisch rückgewendete Sicht gibt, begründet nochmals durch diese, doch auch die Möglichkeit einer Problematisierung des Gegenwärtigen, vgl. ebd. 481: „Das Bedürfnis, das der Mensch fühlt, von Zeit zu Zeit seine differenzierte und festgelegte Verfassung aufzuheben, um eine urzeitliche Ganzheit wiederzufinden, erklärt sich genau so wie das Bedürfnis nach .Orgien', die periodisch alle Formen desintegrieren, damit das ,ΑΙΙ-Eine' der Zeit vor der Schöpfung wiedererlangt werde."

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letzteren Fall spielt dann oft auch der Zeitfaktor eine wichtige Rolle, sei es als Projektion einer Rückkehr zur erinnerten Urzeit, in der diese Gegensätze noch nicht bestanden haben, sei es als Vorgriff auf eine erhoffte Endzeit, in der diese Gegensätze nicht mehr bestehen werden. Ein solcher Vorgriff liegt etwa im biblischen Mythos des zukünftigen Reiches Gottes vor, der u. a. davon spricht, daß dort die Gegensätze „ a r m " — „reich", „ M a n n " — „ F r a u " , „Sklave" — „ H e r r " nicht mehr gelten werden, sondern nur mehr der grundlegende von „gerettet" und „verdammt". Im Rahmen heutiger Diskussion rücken diese beiden Typen des Mythos in die Nähe jener Vorstellungs- und Sprachstrukturen, die als „ideologisch" und „utopisch" bezeichnet werden 2 6 . Im allgemeinen werden mehr die Ähnlichkeiten der Vorstellungs- und Sprachstrukturen von Mythos und Ideologie hervorgehoben, was auch seine Berechtigung hat, insofern es beiden eigentümlich ist, vorhandene Gegensätze verbal auszugleichen und ein System zu erstellen, in dem die geschichtlich gewordenen Wertkomplexe als „naturhaft" erscheinen und so unkritisierbar werden 2 7 . Es wäre jedoch unrichtig, daraus abzuleiten, daß die Vorstellung eines „Geschichtsmythos" nicht möglich sei. Eschatologische Vorstellungen sind nicht schon deshalb, weil sie „geschichtliches Denken" enthalten, unoder sogar antimythisch. Der „Spielraum der Ordnung" des Mythos kann sich ebenso auf die Geschichte erstrecken 2 8 , wobei entweder eine Symmetrie oder eine Asymmetrie von Urzeit und Endzeit besteht. Gerade letztere sind charakteristisch utopische Vorstellungen, die aber nicht schon deshalb unmythisch sind.

II. Jeder Mythos stellt sich in vielfachen Transformationen dar Bei dem Versuch der Interpretation des Mythos war in der Vergangenheit viel Mühe darauf verwendet worden, den „ursprünglichen" Mythos aufzufinden, d. h. die ursprüngliche Form oder wenigstens den ursprünglichen Gehalt des jeweiligen Mythos. Die Voraussetzung dieser Bemühung war, in diesem „ursprünglichen" Gehalt das „Authentische", den „ K e r n " des Mythos anzutreffen. Der Anstoß für solche Versuche kam von der 26

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Schon „Ideologie" und „Utopie" sind jedoch nicht als einfach entgegengesetzte Begriffe zu verstehen. Vgl. dazu A. Neusiiss, Utopie, Neuwied-Berlin 1968, S. 1 4 - 3 0 . Noch viel weniger leicht ist es, in jedem Fall genau anzugeben, wann ein Mythos ideologisch und wann er utopisch funktioniert, bzw. welche Elemente eines Mythos in dem einen und welche in dem anderen Sinn funktionieren. Vgl. z. B. R. Barthes, Mythologies, Paris 1970, S. 2 2 9 - 2 3 3 . Vgl. z. B. die Kritik solcher Ordnungsprinzipien der Geschichte bei K. R. Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 2 1969 und Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., Bern 2 1970.

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offensichtlichen Tatsache, daß jeder Mythos in einer Vielzahl mündlich oder schriftlich tradierter Formen und Varianten anzutreffen ist. Demgegenüber hat Lévi-Strauss zu Recht vorgeschlagen, den Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren 29 . Diesem Vorschlag liegt die richtige Einsicht zu Grunde, daß der Gehalt des Mythos sich gerade dadurch zeigt, daß er in den verschiedensten Transformationen „durchgespielt" wird. Lévi-Strauss sieht hier eine Strukturbeziehung der Form des Mythos und jener der Musik 3 0 , vor allem der Fuge 3 1 . Damit soll ausgedrückt werden, daß es dem Mythos eigen ist, in (beinahe) unendlichen Transformationen variiert werden zu können, ohne daß dabei das „ T h e m a " verlorenginge. Ebenso soll dadurch ausgedrückt werden, daß diese Transformationen alles andere als beliebig sind, d. h. sich an bestimmte Transformationsgesetzlichkeiten zu halten haben. Diese Transformationen können nun — und dies ist der häufigere Fall — in kontinuierlicher Weise vor sich gehen, d. h. so, daß die Organisation des Ganzen erhalten bleibt, oder sie können eine bestimmte Diskontinuität aufweisen. Für eine solche Diskontinuität, die gleichzeitig eine Reorganisation des Ganzen erfordert, sind immer äußere Anlässe erfordert, d. h. sie steht in Korrelation mit anderen Veränderungen, die die Gesellschaft betreffen, deren Wahrnehmungs- und Handlungsraum durch den Mythos strukturiert ist 3 2 . Eine solche Diskontinuität liegt z. B . der im vorhin genannten Beispiel angeführten Veränderung zu Grunde: Aus dem Gott des auserwählten Volkes (bei dem die Relation zu anderen Völkern entweder überhaupt nicht ins Blickfeld tritt oder ungeklärt bleibt) wird der universale Gott, der Herr aller Völker. Der Anlaß dieser Transformation ist die Aufhebung der Einheit „ V o l k " - „ L a n d " (welche Einheit das Ziel des ersten Exodus gewesen war, was die zentrale Funktion des ExodusMythos begründet hatte). Die Neuorganisation besteht darin, daß nun der Schöpfungsmythos eine zentrale, begründende und strukturierende Bedeutung erhält, die für die Gegenwart auch den Gegensatz „ V o l k " — „kein (eigenes) Land" überbrücken kann und gleichzeitig die Begründung einer adäquateren Ausgleichung in der Zukunft liefert („zweiter Exodus"). Eine solche Transformation in Diskontinuität läßt sich auch z. B. beim Ubergang von der mythischen Form der synoptischen Evangelien zu jener 29 30

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CI. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, a.a.O., S. 238f. Die Strukturbeziehung von Mythos und Musik ist besonders seit Nietzsches Geburt der Tragödie ein öfters verwendeter Topos. Vgl. z. B. K. Kerényi, Humanistische Seelenforschung, München-Wien 1966, S. 153-155. Kerényi meint, daß diese Beziehung historisch-genetisch gerechtfertigt ist. Vgl. K. Kerényi, Auf Spuren des Mythos, Darmstadt 1967, S. 11. CI. Lévi-Strauss, Mythologica IV: Der nackte Mensch, Frankfurt 1967, S. 765. Ebd. S. 794.

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des Johannesevangeliums sehen, dem eine Veränderung der gesellschaftlichen Struktur korrespondiert, schematisiert gesagt der Ubergang von einer „ o f f e n e n " zu einer „geschlossenen", gnostizierenden Gemeinde. Insofern solche Diskontinuität in Korrelation zu äußeren, oft (aber nicht immer — es können auch etwa Naturkatastrophen der Anlaß sein) gesellschaftlichen Bedingungen steht, ist es auch möglich, durch gesellschaftliche Determination die theoretisch unbegrenzten Möglichkeiten der Transformation des Mythos einzuschränken, d. h. also die Grenzen des Möglichen von Transformationsprozessen zu determinieren 33 . Eine solche Determination lag z. B. vor bei der Begrenzung von „Offenbarung" durch die katholische Kirche, ausdrücklich normativ auf dem Konzil von Trient, wodurch ein „ K a n o n " definiert wurde, d. h. eine gesellschaftliche Determination dem mythopoietischen Prozeß möglicher unbegrenzter Transformation gegenübergestellt wurde 3 4 . Interessanterweise wurde jedoch auch dem Transformationsprozeß dadurch Rechenschaft getragen, daß der „Tradition" ihre den „ K a n o n " interpretierende Rolle gelassen wurde, so allerdings, daß auch diese unter die gesellschaftliche Autorität gestellt wurde, eine Grenze möglicher Transformation des Mythos also in jedem Fall sichergestellt wurde. Solche Vorgänge zeigen, daß es durchaus möglich sein kann, daß durch faktisch entstehende oder bewußt gesteuerte neue Determinationen ein mythischer Vorstellungskomplex, der etwa zunächst auf Problematisierung bestimmter Gegensätze angelegt war, d. h. die Legitimation eines alternativen Modells anvisiert hatte, zur einfachen Legitimation bestimmter Bedingungen werden kann, so wie auch das Umgekehrte der Fall sein kann. In anderer Terminologie: Ein Mythos utopischer Struktur kann zur Ideologie werden, ebenso wie ein ideologischer Mythos zur Utopie werden kann. Solche Vorgänge stellen die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Transformation mythischer Systeme, eine Frage, die auch für eine Theorie der Religion in der Gegenwart von entscheidender Bedeutung ist. III. Möglichkeit und Grenzen der Transformation der in Religion enthaltenen mythologischen Ordnungssysteme Ein entscheidender Faktor, durch den Grenzen der Transformation mythischer Vorstellungskomplexe eingeführt werden, ist in der Theoreti33 34

E b d . S. 795. In klassischer theologischer Terminologie heißt dies die Verhältnisbestimmung von „ A m t " und „ W o r t " . Vgl. dazu z. B. J . Ratzinger, Ein Versuch zur Frage des Traditionsbegriffs, in: K . Rahner — J . Ratzinger, Offenbarung und Uberlieferung (Quaestiones Disputatae 25), Freiburg 1965, S. 25 - 6 9 , bes. S. 28.

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sierung des Mythos gegeben. Theoretisierung setzt dort ein, wo ein Mythos (gleich ob er inhaltlich legitimierend oder problematisierend ist) strukturell problematisch wird. Eine solche Problematisierung kann gesellschaftliche Ursachen innerhalb oder außerhalb der dem Mythos korrelativen Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppen haben. Im ersten Fall wird eine unübersehbare diskontinuierliche, nur von einem Teil der Gesellschaft aufgestellte Transformation des Mythos entworfen (der Fall der „Häretiker"), im zweiten Fall wird der Mythos durch die unübersehbare Präsenz alternativer mythischer Komplexe oder alternativer totaler Wirklichkeitsbestimmungen (die sich vielleicht auch als ausdrücklich nicht- oder antimythisch verstehen) problematisiert und so herausgefordert, sich theoretisch abzustützen 3 5 . Durch solche Theoretisierung wird der Mythos auf eine höhere Ebene der Abstraktion und der Generalisierung gehoben. Aus einem Komplex nun kanonisch verstandener Mythologie wird ein System abstrakter theologischer oder metaphysischer Begriffe, wobei sich theologische und metaphysische Begriffe nur graduell in ihrer Abstraktionsstufe und gleichzeitig damit in ihrer Semantik unterscheiden 3 6 . Erkauft wird dies allerdings dadurch, daß die Transformationsbreite des Mythos auf dieser Ebene höher generalisierter Symbole eingeschränkt wird 3 7 . Während früher der Mythos selbst auf Herausforderungen durch neue Situationen durch Transformationsprozesse des mythischen Vorstellungsgebildes reagierte (ζ. B. durch Einführung eines neuen Dämons oder durch Steigerung oder Minderung der Macht und Stellung eines Dämons oder Gottes bei Eintreffen eines unvorhergesehenen Ereignisses), so fällt jetzt diese Aufgabe auf die Interpretation der höher generalisierten Symbole zurück 3 8 . Dabei ist jedoch dieser Interpretation auf der nun erreichten Abstraktionsstufe der semantischen Ebene eine deutliche Grenze gezogen. Die Theoretisierung des Mythos bedingt in Wirklichkeit keine geringere, sondern eine größere Abhängigkeit von den unmittelbaren mythischen Bedeutungsträgern (signifiants). Im ursprünglichen Mythos sind Bedeutetes (signifié) und Bedeutendes (signifiant) relativ locker verbunden, jedenfalls weniger streng als in der Alltagssprache 3 9 . Der bewußte Theoretisierungs- und Abstraktionsprozeß verbindet nun viel enger als früher kanonisierten Mythos und dogmati35

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Vgl. P. Berger — Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1969, S. 112-117. Ebd. 119. Vgl. N. Luhmann, Funktion der Religion, a . a . O . S. 109. Ebd. 89. CI. Lévi-Strauss, Mythologica IV: Der nackte Mensch, a . a . O . S. 759. Vgl. auch ders., Strukturale Anthropologie, a . a . O . S. 231: „Der Mythos ist Sprache; aber eine Sprache, die auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn, wenn man so sagen darf, sich vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag."

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sierte Abstraktion. Die mythischen Bedeutungsträger werden faktisch definiert (was sie früher nicht waren), indem sie zu einem theoretischen System und einer entsprechenden Begrifflichkeit in Bezug gesetzt werden 4 0 . Dies bedeutet, daß die Substitution früherer Bedeutungsträger durch neue nur noch in einem sehr eingeschränkten Sinn möglich ist. U m ein extremes Beispiel zu nehmen: Der Bedeutungsträger „ G o t t " (bzw. „ G ö t t e r " ) kann im Mythos in vielfachen Variationen auftreten. Es gibt einen „gütigen", „zornigen" usw. Gott, oder es gibt einen Gott A, der „ g ü t i g " ist, einen Gott B, der „zornig" ist usw. Durch solche Identifizierungen kann so gut wie alles „erklärt" werden, wodurch der Mensch sich in seinen Handlungen orientiert glaubt, da er ja in Antizipation erwarteter Reaktionen handelt. Auf der nun erreichten Abstraktionsstufe sind die Möglichkeiten der Transformation begrenzt. Dies kann in der Gegenwart gut beobachtet werden. Immer wieder neue Kennzeichnungen bewegen sich in einem semantisch sehr engen Bereich: aus dem früheren „ersten Beweger" oder dem „absoluten Sein" wird nun „die letzte Wirklichkeit", „die absolute Zukunft", „das mich unbedingt Angehende" u. ä . 4 1 Wie Luhmann es scharf formuliert hat, hat eine Religion auf höher generalisierter Ebene jedoch nicht die Möglichkeit, wenn „ G o t t " einmal nicht mehr geht, es mit „ G e l d " zu versuchen, um dem als universale Macht Erfahrenen einen Namen zu geben 42 . Der noch nicht theoretisierte Mythos wäre bei einer solchen Transformation freier. Dort wo der Mythos noch wirksamer gegeben ist oder dort, wo seine Vertreter trotz dogmatisierter Generalisierungen sich nicht an deren Regeln halten, wird dann auch ohne Umstände vom „Dämon G e l d " gesprochen. Falls die Problematisierung des theoretisierten und nun semantisch eingeschränkten Mythos durch alternative Konzeptionen jedoch vorhanden und wirksam bleibt, kann die theoretische Stützung des abstrakt gewordenen Mythos jene Stufe erreichen, auf der er „mit jeder aktuellen Welt kompatibel w i r d " 4 3 . Der Verlust realer Interpretation von „Welt" und so der Verlust der im Mythos geleisteten Handlungs- und Erfahrungsorientierung muß daher nun durch eine nachträgliche „Respezifikation" gesichert werden, die jedoch auf dieser Ebene der Abstraktion gewöhnlich nicht mehr als theoretischer Okkasionalismus ist 4 4 . Die mit jeder mög40

41 42 43

Dieser Vorgang bedeutet natürlich, daß sich ein Spannungsverhältnis zwischen Mythos und dogmatisierter Abstraktion einstellt, das eine mehr oder weniger permanente Konfliktsituation hervorruft. Vgl. H . Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und 'Wirkungspotential des Mythos, a. a. O . S. 57, der von dem „Potential der Mythologie, zum Ausdrucksmittel des Vorbehalts gegenüber den Absolutismen eine theologische Metaphysik zu werden" spricht. Vgl. W. Kamiah - P. Lorenzen, Logische Propädeutik, Mannheim 1967, S. 105f. N . Luhmann, Funktion der Religion, a. a. O . S. 85. 4 4 E b d . S. 89, 120. E b d . S. 148 .

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liehen Welt kompatibel gewordene Abstraktion dient dann selbstverständlich oft (soweit sie überhaupt zu gesellschaftlicher Funktion herangezogen wird, woran ihre Vertreter jedoch vital interessiert sind) einfach zur Legitimation der faktisch bestehenden Wertordnung 4 5 . Betrachtet man solche mögliche extreme Formen von Transformationen des Mythos, so stellt sich die Frage, ob damit nicht eine grundsätzliche Unmöglichkeit der Kritik eines Mythos ausgesagt wird, wie dies auch vorher mit dem Stichwort einer bestimmten „Unhintergehbarkeit" des M y t h o s angedeutet worden war. Zunächst ist dazu zu sagen, daß ein Mythos, der als Handlungs- und Wertmodell analysiert wurde, nur auf dieser Ebene, also als Axiologie kritisiert werden kann. Dies bringt natürlich all die Schwierigkeiten ins Spiel, die eine Kritik von Wertaussagen aufwirft. Dies ist jedoch nicht eine für den Mythos spezifische Problematik, die daher auch in dem vorliegenden Zusammenhang offen gelassen werden kann. Ein Mythos kann jedoch durch den eben geschilderten Mechanismus so „entleert" werden, daß er praktisch unkritisierbar wird (ein Vorgang, der manchmal als „Immunisierungsstrategie" bezeichnet wird). Dadurch ergibt sich jedoch eine faktische Kritik, die gerade mit der Struktur des Mythos als Handlungs- und Wertmodell zusammenhängt. Ein Mythos, der aufgrund seiner erreichten Generalisierungsstufe universelle Kompatibilität erlangt hat, kann seine Funktion als Handlungsorientierung nicht mehr ausüben. Er wird damit nicht in Hinsicht auf seinen „Gehalt", aber jedenfalls in Hinsicht auf seine Funktion faktisch, d. h. in seiner pragmatischen Dimension, kritisiert, er wird, weil funktionslos, hinfällig. Tillich nennt einen solchen Vorgang „Zerfall" 4 6 . Der Transformationsmöglichkeit eines Mythos ist daher möglicherweise nicht durch rationale Kritik, sondern durch Verlust der Funktion, durch „ A b sterben" eine Grenze gezogen.

IV. Möglichkeit und Grenzen der Transformation des Verhältnisses von Religion und Mythos Die Problematisierung des Christentums durch alternative Bestimmungen von Mensch und Welt, die sich ausdrücklich als nicht-mythologisch verstehen, führten Vertreter des Christentums zu der Frage, ob eine nicht45

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Ebd. S. 120: „Und es bleibt die Funktion, die Wertgrundlage der gesellschaftlich dominanten Erwartungsstrukturen zu stützen und zu ihrer Konsolidierung beizutragen." Luhmann fügt allerdings hinzu: „Es wäre unsinnig, diese Funktion als solche schon zu kritisieren und zu verwerfen. Sie wird jedoch suspekt und angreifbar, nachdem ihr enger Zusammenhang mit der Deutung und Aufhebung von ,Kosten', Strukturbrüchen und Dysfunktionen der eingesetzten Strukturen abgerissen ist." P. Tillich, Gesammelte Werke V, Stuttgart 1964, S. 196f.

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mythologische Interpretation desselben möglich wäre. In den letzten Jahrzehnten wurde dieses Problem (das im übrigen so alt ist wie das Christentum selbst, wie es die Lehre von den „Pistikern" und „Gnostikern" und die des mehrfachen Schriftsinnes zeigt, die schon bei den Kirchenvätern zu finden ist) in aller Schärfe im Zusammenhang des Entmythologisierungsprogramms Bultmanns diskutiert. In dieser Diskussion wurde der Eindruck erweckt, als sei es tatsächlich möglich, das Verhältnis von (biblischer) Religion und Mythos bis zu einem Punkt zu transformieren, wo eine nicht-mythologische Interpretation von „Religion" oder sogar eine nicht-religiöse Interpretation von „Glaube" möglich wäre. Die Grenzen dieses Programms sind jedoch deutlich sichtbar. Durch die Tatsache, daß mit der nicht-mythologischen Interpretation auch gleichzeitig eine nichtreligiöse Interpretation von „Glaube" gefordert wurde 4 7 , wurde jedenfalls die enge (oder untrennbare?) Zusammengehörigkeit von Religion und Mythos anerkannt. Bei genauerer Analyse zeigt sich aber, daß diese Zusammengehörigkeit auch das Entmythologisierungsprogramm selbst übergreift, daß also die Trennung von „Glaube" auf der einen Seite und „ M y t h o s " und „Religion" auf der anderen Seite nicht gelungen ist. Was sich als nicht-mythologische Interpretation vorstellte, war in Wirklichkeit nur die auf eine hohe Abstraktions- und Generalisierungsstufe gehobene F o r m eines bestimmten Mythos, d. h. des im Existentialismus formalisierten gnostischen Mythos 4 8 . U b e r dieses Beispiel hinausgehend könnte jedoch die prinzipielle Frage nach der Ablösbarkeit der Religion vom Mythos gestellt werden. Angesichts der Tatsache, daß es keine allgemein anerkannten Begriffe von „ M y t h o s " und (noch weniger) von „Religion" gibt, läßt sich nun aber auch nicht allgemein die Frage beantworten, ob eine Transformation des Verhältnisses in formaler und materialer Hinsicht von Mythos und Religion möglich ist, die diese beiden Komplexe als voneinander ablösbar erscheinen ließe. Schon die offensichtlich apologetische Absicht solcher Trennungsversuche kann daran zweifeln lassen. Es dürfte sich bei solchen Versuchen eher um Vorgänge handeln, die vorher als Theoretisierungs-, Abstraktions- und Generalisierungsprozesse beschrieben worden waren. Mythos und Theoretisierung desselben in religiösen Systemen haben zwar einen ziemlich großen Spielraum ihrer Ordnungsbildung (durch unmittelbare Erweiterung ihrer Variationen im Mythos, durch höhere Generali47

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Vgl. z. B. G. Ebeling, Die „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe", in: Wort und Glaube I, Tübingen 2 1962, S. 9 0 - 1 6 0 . Vgl. dazu H. Jonas, Gnosis, Existentialismus und Nihilismus, in: Zwischen Nichts und Ewigkeit, Göttingen 1963, S. 5—25. Dort werden bei der Interpretation des gnostischen Mythos wie bei der des Existentialismus die gleichen fundamentalen Gegensätze aufgedeckt: „Mensch - Welt", „Welt - Gott".

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sierung in theoretischen Abstraktionen mythologischer Systeme), sie können Transformationen in Korrelation zu gesellschaftlichen Veränderungen in großer Breite leisten, sie stoßen jedoch an eine Grenze: sie reflektieren ihre eigene Kontingenz nicht 4 9 . Diese Grenze ist in den meisten Fällen systematisch eingebaut als das metatheoretische Axiom von „Offenbarung", das nur bestenfalls zuläßt, eine „Schale" (bestimmte Formen von Bedeutungsträgern) als kontingent anzusetzen, das jedoch fordert, den „ K e r n " (die „eigentliche" Bedeutung) von solcher Kontingenz prinzipiell auszunehmen. Cassirer hatte die Auffassung vertreten, Religion könne und müsse zu einem Bewußtsein um die in ihr verwendeten Bilder (die Bedeutungsträger und Bedeutung umfassen) gelangen. Die Inhalte von Mythos und Religion wären dieselben, die Form, d. h. die Stellungnahme des Bewußtseins gegenüber den mythischen Bildern und so deren erkenntnistheoretische Qualifikation und Einordnung wäre jedoch in der Religion eine dem Mythos als Erkenntnisform gegenüber veränderte. „Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als s o l c h e . " 5 0 Und doch weiß auch Cassirer um eine Grenze dieses Bewußtseins, die erst von der Kunst überschritten wird. „Erst wenn wir von der mythischen Bilderwelt und von der Welt des religiösen Sinnes auf die Sphäre der Kunst und des künstlerischen Ausdrucks herüberblicken, zeigt sich der Gegensatz, der die Entwicklung des religiösen Bewußtseins beherrscht, wenn nicht aufgehoben, so doch gewissermaßen beruhigt und beschwichtigt. Denn eben dies bezeichnet die Grundrichtung des Ästhetischen, daß hier das Bild rein als solches anerkannt bleibt, daß es, um seine Funktion zu erfüllen, nichts von sich selbst und seinem Gehalt aufzugeben braucht." 5 1 Gerade die Reflexion darauf, daß es sich bei den mythischen wie bei den abstrakten religiösen Vorstellungen um autonome Schöpfungen des menschlichen Geistes, wenn auch geschichtlich-gesellschaftlich kontingenter Art handelt (andere gibt es überhaupt nicht), scheint die nicht erreichbare (oder jedenfalls verbotene) Reflexionsgrenze von Religion darzustellen. Faktisch jedenfalls wurde in der Geschichte bisher von den Vertretern von Religion oder von Glaube eine solche Reflexion der eigenen Kontingenz von Mythos, Religion und Glaube als ganzer (nicht 49

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N . Luhmann, Theorie der Religion, a. a. O. S. 87: „Die Richtung, in der sie (sc. die Dogmatik) ihre eigene Leistung steigern kann und in der Folge gesellschaftlicher Evolution verändert, liegt demnach nicht in der Reflexion ihrer eigenen Kontingenz; sie liegt in höheren Freiheitsgraden im Umgang mit Erfahrungen und Texten." E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, Darmstadt 5 1969, S. 286. Ebd. S. 311.

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einzelner Momente, deren Kontingenz — jedenfalls in späteren Stufen — immer zugegeben wurde) immer als a-religiös oder ungläubig bezeichnet. D a ß diese Grenze nicht nur faktisch, sondern prinzipiell von Religion im bisherigen Sinn her unüberwindbar sein könnte, legt u. a. zum Beispiel die (sicher von keinerlei religiös-apologetischen Absicht getragene) Feststellung von Lévi-Strauss nahe, daß der Diskurs der strukturalen Analyse des Mythos selbst mythisch sei, er also einen „Mythos der Mythologie" darstelle 5 2 . Wenn Luhmann daher die Frage stellt, ob nicht an die Stelle von Interpretation und Reinterpretation von Mythos und dessen abstrakteren Formulierungen als Offenbarung Reflexion der Kontingenz derselben treten müßte, soll Religion noch eine Funktion ausüben 53 , so muß dem sicher prinzipiell zugestimmt werden, es muß ihm aber skeptisch entgegengehalten werden, daß solche Reflexion eine Transformation des Verhältnisses von Religion und Mythos beinhalten müßte, die eine solche Transformation des Begriffes von „Religion" enthielte, daß dem bis jetzt jedenfalls kein gesellschaftlicher O r t zugestanden wird, der, sei es von Vertretern der Religion, sei es von den sich als nicht-religiös verstehenden Vertretern der Gesellschaft noch als Reflexion von „Religion" anerkannt wird 5 4 .

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CI. Lévi-Strauss, Mythologica I: Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt 1976, S. 26. Vgl. dazu G . Plumpe, Das Interesse am Mythos, a. a. O . S. 251 f. N. Luhmann, Theorie der Religion, a. a. O . S. 180. Eine solche Reflexion von Religion wird von den offiziellen Vertretern von Religion als „exoterische" Reflexion zuweilen anerkannt, die jedoch, um das „Eigentliche" von Religion zu erfassen, durch eine „esoterische" Reflexion ergänzt werden müßte. Damit ist die genannte Grenze wieder aufgestellt. — Daß an die Stelle einer Unterscheidung von „exoterischer" und „esoterischer" Betrachtung endlich die viel wichtigere (und von Glaubens-Prämissen unabhängige) Unterscheidung von Genese und Geltung treten sollte, die es ermöglichen könnte, das Problem der Religion im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Kulturwissenschaften zu behandeln, um zu sehen, welche Geltungsansprüche religiöse Aussagen unter strenger Berücksichtigung der Reflexion deren Kontingenz erlangen können, wird weithin noch nicht als die entscheidende Aufgabe anerkannt.

KURT HÜBNER

Mythische und Wissenschaftliche Denkformen Die Wissenschaftstheorie beherrscht heute weitgehend die philosophische Szene. Gewiß nicht zu Unrecht, wenn man bedenkt, daß die Wissenschaft ihrerseits wieder weitgehend uns beherrscht. Auf der anderen Seite aber scheint es mir gerade deswegen so naheliegend, ohne die üblichen überheblichen und feindseligen, aber ebenso ohne alle schwärmerischen Vorurteile, auch jenen Formen der Welt und Wirklichkeitsbetrachtung wieder stärkere Beachtung zu schenken, die von der Wissenschaft weitgehend verdrängt worden sind. Darin aber nimmt zweifellos das Mythische eine hervorragende Stellung ein. Man kann in der Beschäftigung mit dem Mythos geradezu einen Bestandteil der Beschäftigung mit der Wissenschaft sehen, wie das schon Cassirer in Klarheit erkannt hat; denn erst im Vergleich, in der gegenseitigen Abgrenzung wird das eine wie das andere deutlich, zeigen sich hier wie dort Stärken und Schwächen, findet man im nötigen Abstand ein abgewogenes Urteil. Man kann in der Beschäftigung mit dem Mythos aber auch den Versuch sehen, berechtigte Zweifel daran, ob es weise ist, der Wissenschaft jene übermächtige Stellung zu geben, die sie heute einnimmt, in sachliche Bahnen zu lenken. Nicht zufällig hat daher die Mythosforschung in den letzten Jahrzehnten so starke und weithin wirkende Anstöße erfahren, wie es besonders die Arbeiten Cassirers, Gronbechs, Eliades, Lévi-Strauss' und vieler anderer zeigen. Die meisten Forscher haben sich nun dabei besonders mit fernen und manchmal für uns rätselvollen Eingeborenenkulten beschäftigt. Aber wenn auch die Nützlichkeit ihrer Ergebnisse außer Frage steht, so scheint mir dennoch, daß es im gegebenen Zusammenhang zweckmäßiger ist, sich dem Mythos der Griechen zuzuwenden. Dies hat folgende Gründe: Erstens hat die Wissenschaft ihren Ursprung in der Auseinandersetzung gerade mit diesem; zweitens ist er uns immer noch ziemlich vertraut, so daß wir einen leichteren Zugang zu ihm finden können; und drittens vermögen wir ihm gegenüber jenen gebotenen Abstand aufzubringen, der uns zum Beispiel bei den mythischen Formen des christlichen Glaubens fehlt, denn dieser steht uns zu nahe. Der Mythos der Griechen dient mir also nur als ein — allerdings besonders geeignetes — Beispiel, an dem ich im folgenden die allgemeinen Grundformen mythischer Welt- und Wirklichkeitsdeutung darstellen und mit denjenigen der Wissenschaft — wie gesagt sine ira et studio — vergleichen möchte.

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Hierzu bedarf es jedoch einer kurzen Vorbemerkung. Ich weiß sehr wohl, daß dieser Mythos genauso wenig einheitlich die griechische Wirklichkeit beherrscht hat, wie heute die Wissenschaft die unsere, ja, daß er selbst keineswegs eine einheitliche Gestalt hatte. So unterscheidet sich besonders der vorhomerische vom homerischen Mythos in mancherlei Hinsicht, auch wenn der ältere, eher „dionysische", im jüngeren, mehr „apollonischen" fortlebt. Wenn man vom Inhaltlichen absieht, das nichts mit Strukturelementen zu tun hat, so liegen die Unterschiede unter anderem darin, daß das „Dionysische" mehr die verschmelzende Einheit, das „Apollinische" mehr die klar trennende Vielheit des Göttlichen betont und daß die vorhomerischen Götter weniger deutlich einen personalen Charakter haben als die homerischen. Polytheismus gab es indessen hier wie dort und selbst wenn Gaia und Uranos keine klare Gestalt haben wie später Hera oder Zeus, die man mit ihnen vergleichen kann, so haben sie doch Kinder gezeugt und Uranos hat Geschlechtsteile gehabt, die ihm Kronos abschnitt. Individualität zumindest ist selbst dort gemeint, wo wir es mit scheinbar vorhandenen „Begriffsgöttern" zu tun haben wie Nyx, Eos, Eirene usf. Daher können die erwähnten Unterschiede vernachlässigt werden, wo es, wie hier, nur darum geht, aus den mannigfaltigen und verstreuten Erscheinungen die verbindende Einheit hervorzuheben und nach den übergreifenden Strukturen, den grundlegenden Denkformen zu suchen. Worin also bestehen die Grundformen der Welt- und Wirklichkeitsdeutung im griechischen Mythos? Dieser Mythos besteht aus einer Reihe von Geschichten, die von der Geburt und den Taten der Götter erzählen und damit ihr Wesen zum Ausdruck bringen. Auf Götter wird alles zurückgeführt. Der Wurf einer Lanze, das Aufkommen von Sturm und Wind, die Bewegung der Wolken, des Meeres, der Gestirne — überall äußern sich Kräfte der Götter. Sie sind aber auch im Wandel der Jahreszeiten tätig, im Ausbrechen einer Krankheit, in der Erleuchtung, in der Weisheit, im Einfall, in der Selbstbeherrschung, in der Verblendung und im Leiden. Kein Gott ist indessen dabei für Beliebiges verantwortlich, sondern entsprechend jenem Wesen, das in seiner Geschichte zum Ausdruck kommt. Helios wirkt in der Ortsbewegung der Sonne; Athene ruft praktische Intelligenz und klugen Rat hervor; Apollo dagegen verdankt man fernblickende Weitsicht und musikalische Entrücktheit; Aphrodite schenkt Liebe und Liebreiz, Hermes macht Scherz und Schabernack usf. Götter sind demnach Urgestalten, Urmächte und Urqualitäten, die in allen bedeutenden Erscheinungen wirksam werden. Diese Urqualitäten sind jedoch von jenen eher abstrakten Grundelementen zu unterscheiden, aus denen der später aufkommende Rationalismus die Welt aufbaute, wie

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zum Beispiel das Feuchte, Trockene, Warme, Kalte, Erde, Feuer, Wasser, Luft usf. (obgleich nicht daran gezweifelt werden kann, daß solche Grundelemente den Versuch einer wissenschaftlichen Interpretation der mythischen Urqualitäten darstellen und aus ihnen hervorgegangen sind)1. Der Unterschied ergibt sich eben daraus, daß die mythischen Urqualitäten als Götter personalisiert sind, eine lebendige Mannigfaltigkeit und damit eine personale Substanz darstellen. (Wobei ich den feineren Unterschied von personal und halbpersonal, der den homerischen vom vorhomerischen Mythos trennt, aus den schon angegebenen Gründen hier unbeachtet lassen kann.) Hier nimmt alles sogleich eine körperlich-individuelle Gestalt an. Selbst in unseren Augen Ideelles, wie Ordnung, Weisheit, Maß, Gerechtigkeit, Liebe usf. wird auch zu etwas Materiellem. Umgekehrt ist in unseren Augen Materielles, wie die Erde, der Himmel, das Meer und die Sonne mythisch immer zugleich etwas Ideelles, nämlich eben eine Substanz, die zugleich Person ist. Im Mythos kann sich alles Geistige materialisieren und uns als individuelle Gestalt entgegentreten, wie umgekehrt etwas Ideelles jederzeit materielle Züge anzunehmen vermag. Diese Substanzialität der Götter macht uns aber ihre Wirkungsweise überhaupt erst näher deutlich. Wenn zum Beispiel in Hesiods Theogonie die Nacht den Schlaf, den Tod, den Traum usf. hervorbringt, dann fließt etwas von ihrer Substanz, eben ein Dunkles und Nächtliches in diese mythischen Gestalten. Das Gleiche gilt, wenn sich Himmel und Erde vereinigen, um Titanen und Götter oder zum Beispiel die Hören, Eunomia, Dike und Eirene zu zeugen (Ordnung, Recht und Frieden) — denn in ihnen allen ist Himmels- und Erdsubstanz vereinigt. Ganz entsprechend ist überall dort appolinische Substanz, wo fernblickende Weisheit, Maß und Ordnung walten, ist aphrodisische Substanz, wo Schönheit und Liebreiz die Menschen verzaubern. Das aber bedeutet, da ja hier Materielles und Ideelles nie getrennt werden und diese Substanz zugleich immer Person ist, daß in allen genannten Fällen auch der Gott selber anwesend ist. So kann man begreifen, wie ein Gott an vielen Stellen zugleich sein kann. Aber selbst wenn man zu ihm gehen muß, weil er nur an einem bestimmten heiligen Ort, an einem Temenos, wie es griechisch heißt, gegenwärtig ist, ändert es daran nichts, daß seine Wirkung unlöslich an seine persönliche Nähe gebunden bleibt2. 1 2

Vgl. hierzu F. M . Cornford, From Religion to Philosophy, N e w York 1957. D i e lange die Wissenschaft beherrschende Vorstellung, daß eine Ursache immer Kontaktursache sein müsse, also auf die Entfernung nicht wirken könne, dürfte hier ihre mythische Wurzel haben. D e m widerspricht es nicht, wenn nach gleichfalls im Mythischen wurzelnden magischen Vorstellungen zum Beispiel über eine Person dadurch Macht ausgeübt werden kann, daß man sich ihrer Besitztümer, ihres Bildes oder dergleichen bemächtigt. Denn nach eben diesen Vorstellungen besteht dann zwischen der

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Die Wirkungsweise der Gottheit besteht also darin, daß sie mit ihrer Substanzialität in die Erscheinungen einfließt. So wird auch die Feststellung nicht verwundern, daß der Ursprung des Wortes „Einfluß" aus der mythischen Vorstellungswelt etymologisch nachgewiesen ist. Noch Piaton beschreibt in seinem „ I o n " die dichterische Mania als eine göttliche Kraft im Menschen, vergleichbar vielleicht mit einem Magneten, weil sie sich von der Muse auf den Dichter und über den Rhapsoden auf die Zuhörer überträgt; und noch Euripides bringt Ähnliches zum Ausdruck, wenn er Hippolytos sagen läßt: „Ich täusch' mich nicht. / Ich atme Götternähe. Ist des Wehs auch viel. / Dich spür ich gleich, ich spür das Wehen Deines Trosts. / Du bist's, D u heiligst diese Stätte, Artemis" 3 . Der Mensch ist in dieser Sicht so sehr der Schauplatz göttlicher Wirksamkeit und göttlichen Einflusses, daß sein Ich als selbständig handelnde Person fast völlig verschwindet. Die Götter verleihen oder entziehen ihm all seine Fertigkeiten und Fähigkeiten, seine Aretai, wie die Griechen sagen oder seinen N o o s , ja sie führen sie geradezu für ihn aus, leiten dabei seine Hand, geben ihm seine Gedanken ein. Nichts kann ohne sie gelingen, ob es der Wurf einer Lanze ist, das Pflanzen eines Ölbaumes, das Zähmen eines Pferdes oder was immer. Die göttliche Substanz kann dabei so tief in einen Menschen eindringen, daß beide nicht mehr unterscheidbar werden und der Gott gänzlich die Gestalt eines Menschen annimmt (Zeus wird Amphitryon, Athene wird Mentor, Ares Akamas usf.). H o m e r spricht daher in sich immer gleich bleibenden Floskeln davon, daß die Götter Gedanken, Taten, Gefühle, Stimmungen in die Menschen „eingießen", „hineinwerfen" und „hineinlegen" 4 . Dies ist wieder sowohl ideell als auch materiell gemeint, wie der Ort bezeugt, an dem solches geschieht: Denn er ist nicht etwa die Seele oder der Geist, sondern das Zwerchfell (Phren), die Brust (Sthetos) und das Herz des Menschen (Kradie), die alle zusammen, in dieser ihrer Leiblichkeit zugleich das Leben, der Thymos des Menschen sind. Und weil der Mensch so sehr von göttlicher Substanz erfüllt ist, spricht zum Beispiel gar nicht Alkinoos zum Person und solchen Gegenständen eine Identität in der mythischen Substanz. Wenn man den Mythos auch nicht mit Magie verwechseln darf, so ist doch selbst ihm der Gedanke nicht fremd, wie noch gezeigt werden wird, daß der Ruhm eines Sippengliedes den R u h m der anderen vermehrt und daß entsprechend die Verletzung eines Sippengliedes auch sogleich alle anderen verletzt, wo immer sie sein mögen. Mit dem späteren Gedanken der Kontaktursache konnte dies dennoch in Ubereinstimmung gebracht werden, weil auch hier wieder das Entfernte dasselbe ist wie das Anwesende, während eine Fernursache im eigentlichen Sinne erst dann vorläge, wenn das Bewirkte auf keine denkbare Weise in die Nachbarschaft des Wirkenden zu bringen wäre. 3

4

H i p p o l y t o s , übers, v. L. Wolde, in: Eurypides, S. 175.

βάλλειν, εμβαλλέιν, ιέναι, πνέειν usf.

Tragödien und Fragmente,

Wiesbaden 1949,

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Herold, sondern seine göttliche Kraft, also sein Menos spricht zu diesem, wie es in der Odysse heißt, und nicht er erhebt sich in der Frühe vom Lager, sondern ebenfalls sein Menos tut es. Wie aber damit das Ich beinahe verschwindet, so auch der Unterschied zwischen der Innen- und Außenwelt. Das Substanzielle, das den Menschen erfüllt, strömt ja nicht nur in ihn ein, es strömt auch aus ihm heraus. Wenn er zum Beispiel göttlichen Kydos erwirbt, was man nur äußerst ungenau mit unserem heute eher schal klingenden Wort „ R u h m " übersetzen könnte, dann dringt dieser Kydos auch in eine ganze Stadt, in ihre Häuser und Paläste und erwärmt und erhebt die Herzen der Verwandten, Freunde und Mitbürger 5 . Aber der Kydos steckt ebenso in der Rüstung des Helden, weswegen es einer Katastrophe gleichkommt, wenn sie ihm geraubt wird. Denn damit verliert er buchstäblich einen Teil seines Wesens. Oder wenn Achilleus bei seinem Skeptron schwört und es zur Bekräftigung seines Schwurs zu Boden wirft, dann hat er damit seine Häuptlingswürde, seine Time und schließlich sich selbst zum Pfand gegeben. Uberhaupt lebt der Mensch, wo er von mythischer Substanz erfüllt ist, zugleich in seinem Besitz, so wie wir ja noch heute sagen, ohne uns freilich noch des ursprünglichen Sinnes darin bewußt zu sein: Ich hänge an dieser Sache. Dies ist auch der Grund dafür, daß man den Toten etwas von ihrer Habe mitgab, die Kterea nämlich, worunter gerade der persönliche Besitz verstanden wurde, also dasjenige, was mit dem Wesen eines Menschen aufs engste verbunden war; nicht aber hegte man dabei die zumindest den homerischen Griechen fremde Vorstellung, man bedürfe derlei Dinge, um etwa im Jenseits ein dem hiesigen ähnliches Leben zu führen. Der homerische Ausdruck für „eine Totenfeier veranstalten" lautet geradezu: Kterea ktereizein, was soviel heißt wie „den Besitz als Eigentum bestatten"; und solange man dies nicht getan hatte, konnte der Tote die Menschen stören; noch war ja ein Teil von ihm zurückgeblieben. Diese mythische Bedeutung von Kydos und diese mythische Bedeutung des Besitzes machen es begreiflich, warum für die Griechen die biologischen Bande der Sippe nicht notwendig einen höheren Rang einnehmen müssen, wie diejenigen der Freundschaft. Denn die Menschen können genauso gut durch einen gemeinsamen Kydos zusammengehören, etwa durch gemeinsame Taten, wie durch den Austausch von Gastgeschenken, zum Beispiel von Waffen. In beiden Fällen durchdringt man sich wechselseitig mit gemeinsamer mythischer Substanz. Wenn Freundschaften auf dem Austausch von Geschenken beruhen, nennt man sie Xeinoi Patroioi; Patroa aber sind der Sippenbesitz, in dem die Substanz der 5

Dies kommt besonders in Pindars Oden zum Ausdruck.

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Sippe fortlebt (wozu Waffen oder Schmuck der Ahnen oder dergleichen gehören kann). So kommt es, daß sich die Grenzen zwischen Verwandten und Vertrauten verwischen, und Kedeioi sowohl das eine wie das andere bedeuten kann. Das ändert freilich nichts daran, daß sich der Mensch meistens vor allem in der Sippe wiederfindet, mit der er durch den gemeinsamen Kydos, die gemeinsamen Patroa und den gemeinsamen, am Herd, der Hestia, waltenden göttlichen Ursprung verbunden ist. Daher fühlt sich der einzelne mit der Sippe, wie Cassirer bemerkt, geradezu identisch. „Die Seelen der Voreltern sind nicht gestorben; sie bestehen und sind, um sich in den Enkeln wieder zu verkörpern, um sich in den neugeborenen Geschlechtern selbst ständig zu erneuern" 6 . Der Unterschied von Innen- und Außenwelt wird aber mythisch vielleicht am eindrucksvollsten im Worte „philos" aufgehoben. Philos ist nämlich homerisch nicht nur der Freund, sondern philos ist auch das Haus und der Besitz, der einem gehört, ist die Heimat, ja sind die Glieder des Körpers. Verwendete man dafür das Wort „lieb" und übersetzte: „Er bewegte seine lieben Hände, schlug seine lieben Lider auf, fühlte seine liebe Brust oder sein liebes Herz", so läge darin eine Niedlichkeit, die dem Griechen fremd ist; gebrauchte man aber einfach das Wort „eigen", spräche man von seinen eigenen Lidern, seinen eigenen Händen usf., dann schwänge darin nicht jene Fülle mit, die den Freund und den eigenen Leib in einem Ausdruck verschmelzen läßt. Mit den bisherigen Betrachtungen ist aber das Wesen mythischer Substanz und göttlicher Wirksamkeit noch keineswegs hinreichend bestimmt. Hierzu gehört vielmehr eine weitere und wohl überhaupt die wichtigste Grundvorstellung, nämlich jene, die mit dem Begriff der Arche unlöslich verknüpft ist. Eine Arche ist zunächst eine der schon erwähnten heiligen Geschichten, durch welche das Wesen einer Gottheit zum Ausdruck kommt. Aber Arche heißt auch Ursprung. Und das bedeutet: Die Geschichte, die man sich von der Gottheit erzählt, hat sich ursprünglich einmal zuerst in unvordenklicher Zeit zugetragen, aber sie ist auch Ursprung und Ursache unzähliger Erscheinungen und zwar dadurch, daß sie sich in und an ihnen beständig von neuem wiederholt. Die Gottheit wirkt also nicht einfach nur dadurch, daß sie Kraft ihres Wesens in diesem oder jenem Augenblick die Erscheinung bestimmt, den Wind aufkommen läßt, das Schwert des Helden führt, die Leidenschaften aufstachelt usf., sondern auch dadurch, daß sich der Wesensvorgang einer ihrer Geschichten wieder und wieder abspielt. So hat zum Beispiel Athene einmal den Menschen zuerst gezeigt, wie man Ölbäume anpflanzt und sie hat einmal zuerst die Pandrosos gelehrt, 6

E. Cassirer, Symbolische Formen, zweiter Teil, Darmstadt 1955, S. 210.

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Wolle zu verfertigen; aber sie hat auch dem Erechthonios zuerst beigebracht, die Pferde zu zähmen, vor den Wagen zu spannen und damit einen Wettkampf zu veranstalten. In Eleusis, auf dem rarischen Acker und in Athen am Fuße der Akropolis lag das heilige Feld, befand sich die heilige Dreschtenne, w o das erste Getreide gewachsen und den Menschen gegeben worden ist; und hier wurde auch das erste Rind geschlachtet. All dies gehört zur Arche einer Gottheit, alle diese Tätigkeiten hat sie einmal zuerst ausgeführt und dieses Urgeschehen, dieses göttliche Ereignis wiederholt sich nun beständig, wo Menschen unter Anrufung der Gottheit solches tun. Kein Werk kann ohne ihren Beistand, ohne ihre Anwesenheit gelingen. Mit Recht sagt daher Eliade, daß die wichtigste Aufgabe des Mythos darin bestehe, Urbilder „ f ü r alle menschlichen Rituale und alle bedeutsamen Tätigkeiten zu offenbaren . . ." 7 . Aber der Mythos bezieht sich ja nicht nur auf den Menschen, von dem bisher hauptsächlich gesprochen wurde, sondern er bezieht sich ebenso auf die Natur. Und so sehen wir die Gottheit in der Weise einer sich beständig wiederholenden Arche nicht nur menschliche Tätigkeiten, sondern auch den Ablauf von Naturereignissen hervorbringen. Nach Hesiod gebar einst die Erde das Meer und dies hatte der Grieche immer vor Augen, wenn er sah, wie die Quellen aus den Felsen springen, zu Flüssen werden und sich in die offene See ergießen; auch die Geburt des Tages aus der Nacht, die von Erebos befruchtet wurde, wiederholt sich dauernd, es ist immer wieder dieselbe „ambrosische" Nacht, die allmorgendlich den „heiligen" Tag hervorbringt, so daß noch Aischylos dichten kann: „ D i e heut* gebar das Licht, in dieser Nacht geschah's" 8 ; Helios hat einmal zuerst seinen Posten bezogen und zieht nun ewig die gleiche Bahn; und der Rhythmus der Jahreszeiten hat seinen Ursprung im Raub der Proserpina, die seither ständig die eine Hälfte des Jahres (nämlich Herbst und Winter) im Hades, die andere in der Oberwelt verbringt. Auch wenn es immer wieder neue Blüten sind, die im Frühling sprießen, so wirkt doch darin immer das gleiche göttliche Ereignis; es ist deswegen mythisch immer derselbe Frühling, dem man zujubelt und dessen Wiederkehr man festlich begeht. „Uberall sahen die Menschen, wie sich die Erde aus ihrem Todesschlummer erhob", schreibt Gr0nbech, „wie sie neugeboren zur Freude der Sterblichen Früchte zu tragen begann" 9 . Uberall waren die Menschen „Zeitgenossen des großen Urgeschehens und es ist diese Gleichzeitigkeit, die dem kleinen Wort proton, zuerst, und 7 8 9

M. Eliade, Myth and Reality, New York 1968, S. 8. Agamemnon, Vers 279, in der Ubersetzung durch O . Werner, (Heimeran, München). V. Grenbech, Götter und Menschen, übers, v. V. Brandström, Reinbek b. Hamburg 1967, S. 172.

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dem etwas ausführlicheren ex arches, von Anbeginn an, das in allen Sagen auftaucht, Sinn gibt." 1 0 Man könnte eine Arche, sie wirke in den menschlichen Tätigkeiten oder in der Natur, mit einem Stempel vergleichen, der seinen Ursprung in unvordenklicher Zeit hat. Aber der Stempel ist kein starres Bild, kein Eidos, sondern der Ablauf einer bestimmten heiligen Geschichte, die zum wesenhaften Verhalten der Gottheit gehört. In immer erneuter Wiederholung ist er Ursprung immer neuer Wirklichkeiten, erhält Einzelnes durch ihn die Prägung, den Typos, so daß es damit verschmilzt. Wir müssen diese Wiederholung ganz wörtlich nehmen, in ihr wird die Vergangenheit wirklich in die Gegenwart zurückgebracht. Der Begriff der Arche ist daher auch mit einer von der unseren ganz verschiedenen Zeitvorstellung verbunden. Was eine Arche bedeutet und worin die mythische Zeitvorstellung liegt, das kommt am deutlichsten in der sogenannten „Festzeit" (zatheos chronos) zum Ausdruck, in der eine Arche kultisches Ereignis wurde. Es wäre ein Irrtum, wollten wir unsere Vorstellungswelt hierauf übertragen und beispielsweise das Panathenäenfest in Athen oder die dargebotene Tötung der Python-Schlange in Delphi für eine Art Theateraufführung halten, in der die betreffenden Ereignisse, die in Urzeiten spielten, nur nachgeahmt werden sollten. Ganz im Gegenteil bedeutete dies für den Zuschauer eine göttliche Epiphanie, ein Erscheinen des Gottes, wodurch ein uraltes Geschehen in die Gegenwart zurückgeholt wurde. Cassirer hat dies sehr treffend folgendermaßen beschrieben: „Es ist kein bloßes Schaustück und Schauspiel, das der Tänzer, der in einem mythischen Drama mitwirkt, aufführt; sondern der Tänzer ist der Gott, wird zum Gott . . . Was . . . in den meisten Mysterienkulten vorgeht — das ist keine bloß nachahmende Darstellung eines Vorganges, sondern es ist der Vorgang selbst und sein unmittelbarer Vollzug·, es ist ein δρώμενον als ein reales, wirkliches, weil durch und durch wirksames Geschehen . . ," 1 1 „Wo wir ein Verhältnis der bloßen ,Repräsentation' sehen, da besteht für den Mythos . . . vielmehr ein Verhältnis realer Identität; das ,Bild' stellt die Sache nicht dar — es ist die Sache . . . In allem mythischen Tun gibt es einen Moment, in dem sich eine wahrhafte Transsubstantiation — eine Verwandlung des Subjektes dieses Tuns in den Gott oder Dämon, den es darstellt, vollzieht." 12 Daß sich in der Arche auch eine bestimmte Zeitvorstellung ausdrückt, die für das Mythische überhaupt grundlegend ist, darüber scheint bei den 10 11 12

V. Grenbech, a . a . O . , S. 171. E. Cassirer, a . a . O . , S. 52. E. Cassirer, a . a . O . , S. 51.

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heutigen Mythos-Forschern vollkommene Einigkeit zu herrschen. Eliade zum Beispiel bemerkt, daß in mythischer Erfahrung die schöpferischen Taten der Unsterblichen wiederholt werden und der Mensch ihr Zeuge werde: „Man hört auf, in der täglichen Welt zu existieren und tritt in eine transfigurierte . . . Welt ein, die durch die Gegenwart der Götter geprägt ist. Es handelt sich dabei nicht um ein Gedächtnis mythischer Ereignisse, sondern um ihre Wiederholung. Die Protagonisten des Mythos werden gegenwärtig, man wird ihr Zeitgenosse. Das schließt ein, daß man nicht mehr in einer chronologischen Zeit lebt, sondern in einer Urzeit, der Zeit, in welcher das Ereignis zuerst stattfand . . ." 1 3 . „Hier liegt der größte Unterschied zwischen dem archaischen und dem modernen Menschen: Die Unumkehrbarkeit der Ereignisse ist eine besondere Eigenschaft der Geschichte für den letzteren, jedoch keine Tatsache für den ersteren." 14 Bei den mythischen Riten der australischen Eingeborenen ist es nicht anders, wie Lévi-Strauss feststellt. „Von mythischen Heroen kann man wahrhaft sagen", schreibt er, „daß sie wiederkehren" 15 . „Die Gedächtnisriten und die Begräbnisriten setzen voraus, daß zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ein Ubergang möglich ist." 1 6 In ganz besonders eindrucksvoller Weise hat aber vor allem Grenbech den Sachverhalt beschrieben. Er schreibt: „Wir denken unwillkürlich die Zeit als einen Strom, der aus einem Unbekannten . . . kommt und unaufhaltsam einer ebenso unbekannten Zukunft entgegenfließt."17 Aber für den Griechen war mythische Zeit kein Raum für Geschehnisse, sondern sie war diese Geschehnisse selbst. „In unseren Augen lebt der Grieche auf zwei Ebenen. Die Festzeit ist nicht im Strom der Zeit enthalten, sondern liegt außerhalb, wie eine Hochebene, von der die Flüsse in das Tiefland des Augenblicks herabströmen. Aus dieser Arche entrollt sich die Zeit; hier, an dem heiligen Orte . . . wird gewirkt, was im Alltag zu fortschrittsreicher Arbeit wird." 1 8 Und in der Tat: Die Heiligkeit und Altehrwürdigkeit der Archai liegt einerseits gerade darin, daß ihr Ursprung in undatierbarer Vor-Zeit liegt; aber ihre Ewigkeit und Macht zeigt sich andererseits daran, daß sie zugleich unverändert gegenwärtig zu sein vermögen und nicht in den Strom der Zeit eingeordnet werden können. Eine Arche ist insofern, in ihrer Heiligkeit, ein ewiges Ereignis, das stets identisch wiederkehrt. Nur die Sterblichen, die Brotoi, wie der Grieche sagt, leben in der Zeit mit 13 14 15 16 17 18

M. Eliade, a.a.O., S. 19. M. Eliade, a . a . O . , S. 13. L. Lévi-Strauss, La pensée sauvage, Paris 1962, S. 314. L. Lévi-Strauss, a.a.O., S. 315. V. Gr0nbech, a.a.O., S. 169. V. Grenbech, a.a.O., S. 170.

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ihren immer neuen, abzählbaren Einheiten, worin Vergangenes unwiederbringlich verschwindet. Aber diese Zeit der Sterblichen hat Löcher, durch die Urereignisse leuchten und alles in Bewegung setzen. Die Menschen werden damit „Zeitgenossen des großen Urgeschehens" ; die Wirkkräfte ihrer Welt stammen sozusagen aus einer anderen Dimension. Hier sei kurz noch auf einen weiteren, bisher noch nicht erwähnten Unterschied zwischen dem „Dionysischen" und dem „Apollinischen" hingewiesen. Cornford zum Beispiel hat in seinem Buch „From Religion to Philosophy" (vgl. Fußnote 1) gesagt, jenes betone die Zeit, dieses den Raum. Er meint damit, daß das Dionysische Urerlebnis die zeitliche Aufeinanderfolge von Geburt, Tod und Auferstehung betrifft, wie sie sich auch in der Natur und im Kosmos, gedacht als eine große, allumfassende Lebensmacht ereignen, während der homerische Polytheismus mehr das Nebeneinander göttlicher Wirkungsfelder in den Räumen der Luft, des Himmels, der Erde und des Wassers zum Gegenstande hat. Auch hier handelt es sich jedoch höchstens um Gradunterschiede, soferne ja, wie schon erwähnt, auch im vorhomerischen Mythos nicht schlechthin von einem Monotheismus geredet werden kann und soferne ja vor allem, wie sich aus den vorangegangenen Ausführungen ergibt, auch die in den göttlichen Räumen waltenden Archai der homerischen Götter Ereignisse und damit Zeitabläufe darstellen. Das Prinzip der auch zeitlichen Arche wirkt also hier wie dort. Bisher wurde nur das Allerwichtigste über das Mythische gesagt. Gleichwohl muß es hier genügen. Denn es soll ja zum einen noch das Mythische mit dem heutigen wissenschaftlichen Denken verglichen und dann zum anderen eines gegen das andere abgewogen werden. Vergleichen wir also zunächst. Wie die leitende Idee des Mythos die Arche, so ist die leitende Idee der Wissenschaft das Gesetz oder die Regel. Beide dienen dazu, Tatsachen zu erklären. Die in den Naturabläufen wirkenden Archai entsprechen daher den Gesetzen in den Naturwissenschaften; andere dagegen entsprechen jenen Regeln menschlicher Tätigkeiten, von denen die Geschichts- und Sozialwissenschaften handeln. Im folgenden werde ich jedoch den Unterschied von Gesetz und Regel vernachlässigen und vereinfachend nur Arche und Gesetz einander gegenüberstellen. Eine Arche ist ein singuläres Ereignis, das sich identisch wiederholt. Ein Gesetz dagegen drückt gerade nicht ein singuläres Ereignis aus, sondern eine allgemeine Regel. Insofern kann man sagen, eine Arche sei etwas Konkretes, ein Gesetz dagegen, wegen dieser seiner Loslösung von einer Person und vom Einzelnen, sei etwas Abstraktes. Das mythische Denken läßt mit dem Begriff der Arche das Allgemeine und Besondere miteinander verschmelzen. Denn einerseits wirkt die Arche

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ja überall und insofern allgemein, andererseits aber wirkt mit ihr immer das identisch gleiche singulare Ereignis und dieselbe Person 19 . Das wissenschaftliche Denken dagegen trennt das Allgemeine und Besondere. Das zeigt sich vornehmlich darin, daß es das Besondere wie Variable betrachtet, die zueinander in der Beziehung einer Funktion stehen. Hier wird das Abstrakte des Gesetzes besonders deutlich. Diese explizite Form des wissenschaftlichen Gesetzes als Funktion ist freilich erst in der Neuzeit zum Durchbruch gekommen. Sie ist aber bis heute verbindlich geblieben und nur mit den Grundformen heutiger Wissenschaft werden die Grundformen des Mythos hier verglichen. Lediglich am Rande sei daher erwähnt, daß die in der Antike aufkommende und bis zur Neuzeit geübte Wissenschaft das abstrakt Allgemeine zuerst hauptsächlich als logische Regel erfaßt hat und zwar als Metaregel, mit der mehr oder weniger mythische Inhalte nur geordnet, klassifiziert, miteinander in Zusammenhang gebracht und von Widersprüchen gesäubert werden, im übrigen aber unangetastet bleiben. Das Gesetz als Objektregel dagegen, als Inhalt der Wirklichkeit, tritt nur verstreut auf, findet sich aber wohl in bedeutenden Ansätzen bereits überall dort, wo Einflüsse der Pythagoräer und Atomisten festgestellt werden können. Besonders zu erwähnen sind ferner Archimedes und die ersten theoretischen „Techniker" der Antike, Ktesibios und Heron von Alexandria. Im allgemeinen jedoch arbeitete die antike und mittelalterliche Technik ohne jede wissenschaftlichen Hilfsmittel. Sie stützte sich nur auf Tradition und Erfahrung, ja auf die Intuition der Handwerker und Meister. Von einer Verwendung von Funktionsgesetzen im heutigen Sinne findet sich dort kaum eine Spur 20 . Wenn man überhaupt in einer Arche ein Gesetz sehen will, dann ist es Nomos. Nomos aber kommt von nemein, aufteilen, zuteilen. So schildert zum Beispiel eine Arche, wie die Welt unter den Söhnen des Kronos, nämlich unter Zeus, Poseidon und Hades aufgeteilt wurde. Zeus erhielt die Wirksphäre Himmel und Erde, Poseidon das Meer und Hades die Unterwelt. Damit zeigt eines jeden Arche auch eines jeden Nomos. Der 19

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A u c h hier sei noch einmal hervorgehoben, daß es für den vorliegenden strukturellen Zusammenhang ohne Bedeutung ist, ob es sich mythisch bei einem Gott ausdrücklich um eine Person oder um ein „personenhaftes" Individuum handelt. Cornford, der diesen Unterschied besonders überbetont, spricht dennoch von der vorhomerischen entpersönlichten mythischen Substanz, an welche die spätere Philosophie angeknüpft hat, als „ a substance which is also Soul and G o d " (a. a. O . , S. 123). U n d er zitiert an derselben Stelle zur Verdeutlichung des Gemeinten Gilberts Bemerkung, „ . . . als lebend und persönlich gedachtes Wesen bewegt er sich; der Stoff ist die Gottheit selbst, welche, in ihm waltend, eins ist mit i h m . " Somit ist sogar für Cornford die Grenze zwischen persönlichem und unpersönlichem Gott verschwommener, als es scheinen mag. Vgl. hierzu auch K . Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg 1978, Kapitel X I V .

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N o m o s drückt also mit der Wirksphäre eines Gottes seinen persönlichen Besitz, sein persönliches Wesen und seine persönliche Substanz aus und läßt daher dieses Einzelne und Besondere gerade nicht wie in einem allgemeinen Funktionsgesetz als unbestimmte Variable offen. Dieser Nomos ist übrigens identisch mit der Moira, wie es aus dem 15. Buch der Ilias, 185ff. klar hervorgeht, wo Poseidon Zeus an seine Schranken erinnert und schließlich ausruft: . . . μενέτω τριτάτη evi μοίρη (195); „möge er in seinem dritten Teil (Moira) verbleiben!" Es ist dieser Zusammenhang von Nomos und Moira, der die frühen Griechen die Naturordnung für gerecht halten ließ und der ihre ständige Gleichsetzung von „Naturgesetz" und „Moral" — für uns heute so schwer verständlich und gerade durch die soeben verwendeten deutschen Begriffe noch verwirrender gemacht — überhaupt erst begreiflich werden läßt 21 . Aber mit Arche und Gesetz treten auch verschiedene Zeitvorstellungen in Mythos und Wissenschaft einander gegenüber. Wie sich zeigte, ist eine Arche ein Ereignis, das nicht in der Zeit spielt, in dem vielmehr Zeit und Zeitinhalt unlöslich miteinander verknüpft sind. Ein Gesetz dagegen trennt nicht nur das Allgemeine vom Besonderen, sondern es trennt auch noch beide von der Zeit. Das wissenschaftliche Denken unterscheidet also erstens das Gesetz, zweitens die einzelnen Ereignisse, die darunter fallen und drittens die Zeit, in welche diese Ereignisse mittels des Gesetzes hinsichtlich ihrer Aufeinanderfolge eingeordnet werden. Daß dabei auch noch die Ereignisse und die Zeit selbst in einer gesetzmäßigen Beziehung zueinander stehen und damit funktional voneinander abhängen können, ändert daran nichts; denn auch dann werden sie begrifflich unterschieden. So aber ist nicht nur das Gesetz, sondern auch die mit ihm verbundene Zeitvorstellung in ihrem Für-sich-bestehen etwas Abstraktes; diejenige des Mythos dagegen, zusammen mit der Arche, von der sie nicht gelöst werden kann, ist etwas Konkretes. Im Begriff der Arche und der mit ihrem Inhalt zur Einheit verschmolzenen Zeitvorstellung liegt gleichsam die Grundfigur mythischen Denkens; im Begriff des Gesetzes und der von allem Inhalt unterschiedenen Zeitvorstellung liegt diejenige wissenschaftlichen Denkens. Mit beiden sind aber unmittelbar auch verschiedene Bestimmungen des Menschen gegeben. Der Gott, Gestalt geworden in der Arche, erfüllt den Menschen mit seiner Substanz und bringt ihn geradezu zum Verschwinden. Und weil diese Substanz personal ist, also ideell und materiell zugleich, kann sie nicht nur in das Ich einfließen, sondern auch aus ihm herausströmen, so daß Innen- und Außenwelt zu einer Einheit werden können. Mythisch

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Vgl. hierzu auch F. M. Cornford, a . a . O . , S. 13 — 17.

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sieht sich der Mensch identisch in vielem, ja nicht nur in anderen Menschen, sondern auch in anderen Dingen. In dem Augenblick nun und dort, wo der Mensch in wissenschaftlicher Sicht nicht durch göttliche Personen beherrscht wird, sondern durch entpersönlichte Gesetze, kann er überhaupt erst selbst als Person zum Vorschein kommen. Und damit verkehrt sich seine Lage förmlich in ihr Gegenteil: Jetzt wird es denkbar, daß der Mensch sich als Person auch selbst Gesetze gibt. Hier ist der Mensch nicht mehr mythisch Schauplatz göttlicher Ereignisse, sondern hier kann er uns in seiner Freiheit entgegentreten. Bestimmtsein durch entpersönlichte Gesetze und Selbstbestimmung durch Freiheit widersprechen sich dabei nicht notwendig. Denn niemand wird leugnen, daß der Mensch nur im Rahmen jener Notwendigkeiten frei sein kann, denen er durch seine Natur unterworfen ist. Indessen, mit der freien Person tritt auch der Unterschied von Innen und Außen, von Ideellem und Materiellem in die Welt. Denn nur durch diese Innensphäre, die zugleich als das Ideelle verstanden wird, vermag sich die Person in ihrer Eigenständigkeit und Besonderheit von allem anderen abzugrenzen, das äußerlich zugleich als das Materielle erscheint. So werden mythisch selbst der Mensch und seine Umwelt durchgängig ganzheitlich gesehen, alles verschmilzt in einheitlichen Gestalten, während das wissenschaftliche Denken hier ebenfalls trennend vorgeht und alles in Elemente auflöst; auch der Mensch erscheint mythisch in dieser seiner geistigen Körperlichkeit und körperlichen Geistigkeit als etwas durchaus Konkretes, während das wissenschaftlich gedeutete Ich in seiner verinnerlichten Geistigkeit, als Pol internationaler Akte, wie die Philosophen es zu deuten suchten oder als Einheit der transzendentalen Apperzeption, wieder etwas eigentümlich Abstraktes darstellt. Nach dieser Klärung einiger grundlegender Unterschiede zwischen Mythos und Wissenschaft sei nun das eine gegen das andere abgewogen. Vielleicht frage ich gleich am besten so: hat die Wissenschaft das Mythische schon im Prinzip als Märchen oder Traum enthüllt, oder anders ausgedrückt, ist die bezeichnete wissenschaftliche Grundfigur wahr, die mythische aber falsch? Dabei sehe ich von den Besonderheiten des griechischen oder irgendeines anderen Mythos ebenso ab, wie ich von denen einzelner Gesetze oder Theorien in der Wissenschaft absehe. Sondern es geht nur um die mythische oder wissenschaftliche Grundfigur überhaupt, es geht um die, wenn man so will, damit bestimmte jeweilige „Ontologie". Aber welches Recht haben wir, die wissenschaftliche Ontologie als wahr, diejenige des Mythos jedoch als falsch anzusehen? Im ersten Drittel dieses Jahrhunderts beunruhigte die Wissenschaftstheoretiker zunehmend die Fragwürdigkeit, von der Wahrheit wissenschaftlicher Gesetze sprechen

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zu können. Denn erstens bestehen sie ja aus allgemeinen Aussagen, die für praktisch unendlich viele Ereignisse gelten sollen, während wir vergleichsweise immer nur einige wenige dieser Ereignisse kennen; und zweitens beweist die Wahrheit von Tatsachen, die Gesetze bestätigen könnten, weil sie mit ihnen übereinstimmen und das heißt, weil sie aus ihnen abgeleitet werden können, nicht auch die Wahrheit dieser Gesetze; denn es ist logisch möglich, daß Wahres auch aus Falschem gefolgert wurde. Nehmen wir zum Beispiel an, daß wir uns den Gang einer Uhr als nach mechanischen Gesetzen ablaufend vorstellen. Dann können wir daraus eine Reihe von Tatsachen über ihren Gang ableiten, die durchaus wahr sind; und doch wäre es denkbar, daß unsere Annahme falsch gewesen ist, weil die Uhr nicht nach Gesetzen der Mechanik, sondern der Elektrizität abläuft. So hätten wir in der Tat streng logisch Wahres aus falschen Prämissen gewonnen. Freilich, eine Uhr können wir öffnen, um zu prüfen, wie sie eigentlich arbeitet. Aber die Wirklichkeit können wir nicht öffnen, um herauszubekommen, welche Gesetze ihr zugrunde liegen, sondern hier sind wir nur auf jene fragwürdigen Rückschlüsse aus verstreuten Einzeltatsachen angewiesen. — Aus all dem folgt, daß die Wirklichkeit, daß der wissenschaftliche Erfolg, er mag so überwältigend sein, wie er wolle, niemals die Wahrheit von Gesetzen beweist, sondern daß er höchstens ihre Geltung nicht ausschließt. Nachdem dies klar geworden war, hofften die Wissenschaftstheoretiker, daß wenigstens die Falschheit von Gesetzen feststellbar sei. Aber auch dies wurde ihnen bald fragwürdig. In den Naturwissenschaften zum Beispiel ist eine Tatsache, die Gesetze widerlegen könnte, oft das Ergebnis einer Messung. Damit hängt sie aber von der Geltung der Gesetze ab, nach denen man sich das Funktionieren der Meßinstrumente vorstellt. Wenn wir zum Beispiel mithilfe eines Maßstabes Entfernungen messen, so setzen wir dabei voraus, daß er sich nicht verändert, während wir ihn parallel zu sich selbst durch den Raum verschieben; wir unterstellen ihm also unter anderem ein Verhalten, das mit den Gesetzen eines euklidischen Raumes bestimmt ist. Die soeben geschilderte Fragwürdigkeit der Wahrheit von Gesetzen überträgt sich somit auf die Fragwürdigkeit der Wahrheit der von ihnen abhängigen Tatsachen; und mit der Fragwürdigkeit von Tatsachen, die Gesetze widerlegen sollen, wird schließlich ebenso der Beweis der Falschheit von Gesetzen zweifelhaft, wie derjenige ihrer Wahrheit. Das bedeutet nun allerdings keineswegs, daß es überhaupt keinen Sinn mehr habe, von wissenschaftlicher Wahrheit oder Falschheit zu sprechen, wie manche voreilig behaupteten, die nun meinten, in den Wissenschaften nur noch ein Feld sehen zu können, auf dem am Ende private oder öffentliche Interessen allein den Ton angeben. Ganz im Gegenteil. Unverändert gibt es die Erfahrung von Wirklichkeit und damit die Erfahrung von

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Wahrem und Falschem, nur daß sie überhaupt erst dann möglich ist, wenn wir schon bestimmte Gesetze a priori vorausgesetzt haben. Nimmt man zum Beispiel a priori an, daß der Weltraum euklidisch ist, daß Meßinstrumente bestimmten Gesetzen unterliegen und setzt man ebenso a priori bestimmte Regeln dafür fest, wann eine Aussage für bestätigt, wann für widerlegt zu halten ist, dann kann nur Erfahrung zeigen, daß es Gravitationskräfte gibt; gehen wir aber a priori von anderen Voraussetzungen aus, ergibt, wie die Relativitätstheorie gezeigt hat, die Erfahrung ein anderes Bild. Es ist also in der Tat empirisch wahr, daß unter den einen Voraussetzungen Gravitationskräfte, unter den anderen aber keine Gravitationskräfte wirken. Wenn das Eine, so das Andere; das ist eine empirische Tatsache. Nicht aber sind die Voraussetzungen an sich oder die Gravitationskräfte an sich wahr. Gesetze sind somit etwas Apriorisches, weil sie einerseits, wie das Beispiel zeigt, Erfahrung erst ermöglichen, aber andererseits nicht durch Erfahrung bewiesen werden können. Was für Gesetze gilt, das trifft auch für die Zeit zu. Denn entweder sie fließt unabhängig von allem dahin, wie es zum Beispiel Newton dachte und ist somit ein abstraktes Kontinuum, das für sich und selbständig besteht, dann ist sie etwas Absolutes und damit jeder Erfahrung entzogen; oder sie wird als eine Funktion von Ereignissen aufgefaßt, also durch Gesetze bestimmt, dann wird mit diesen auch ihre Wahrheit fragwürdig. Die wissenschaftliche Grundfigur ist somit nichts als ein apriorischer Rahmen, in den wir alle Erfahrung hineinstellen, sozusagen das Koordinatensystem, worauf wir alles beziehen. Und daher ist selbst das Bild, das sich die Wissenschaft vom Menschen macht, ja auch sein Selbstverständnis, das er aus diesem Bild gewinnt, nicht etwa das Abbild eines gar nicht an sich gegebenen Urbildes, sondern nur eine Funktion wissenschaftlicher Denkformen a priori. Damit aber komme ich zu dem entscheidenden Punkt: Wenn die wissenschaftliche Grundfigur nicht wahr ist, dann kann sie auch die mythische Grundfigur nicht widerlegen. Andererseits aber hat die mythische Grundfigur die gleiche apriorische Funktion wie die wissenschaftliche, sie ist daher ebenso wie diese ein apriorischer Rahmen, in den alle Erfahrungen hineingestellt, in dem alle Erfahrungen erst möglich und Tatsachen erklärbar werden. Die in den Archai zum Ausdruck kommenden Götter als Urgestalten und Urmächte waren für den Griechen, mit Kant zu sprechen, genauso das Alphabet, das ihm half, seine einzelnen Erfahrungen zu buchstabieren, wie es für den modernen Menschen die Grundformen Gesetz, Zeit und Ereignisvariable sind. Indem der Grieche von den Göttern ausging, sah er sie überall wirksam, und im Rahmen ihrer personalisierten Typik, ihrer Ordnung, ihrer Tätigkeiten und Wirksam-

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keiten, im Rahmen ihrer Sphärenaufteilung erfuhr er die Welt und sich selbst. Er, der tief in seiner mythischen Welt verwurzelt war, konnte eine Arche wirksam sehen, ja vielleicht sogar dem Gott unmittelbar begegnen. Berichte hierfür gibt es genug und es ist das blanke Vorurteil, sie für bloße Lügengeschichten zu halten. So sonderbar es also für manche Ohren klingen mag: Ich sehe keine theoretische Möglichkeit, zwischen Mythos und Wissenschaft zu entscheiden und etwa zu sagen, der Grieche lebte im Irrtum, wir aber seien in der Wahrheit. Es gibt nicht die erkennbare Wirklichkeit als das Tertium Comparationis zwischen beiden, und so leben wir immer nur in einer schon gedeuteten Welt, mag dies mythisch oder wissenschaftlich geschehen. Wenn aber keine theoretische Entscheidung zwischen mythischen und wissenschaftlichen Denkformen möglich ist, was hat dann die Menschen bewogen, sich vom Mythischen ab und der Wissenschaft zuzuwenden? Man könnte versucht sein, dies mit den bekannten Vorteilen zu begründen, welche die Wissenschaft gebracht hat. Nur durch das Abstrakte ihrer Grundfigur ermöglichte sie nämlich die Bildung aus allgemeinen Prinzipien herleitbarer und damit durchgängiger Zusammenhänge, während dazu die mythische Grundfigur gerade wegen ihrer Konkretheit und Singularität nicht imstande war. Und nur so konnte die Wissenschaft zu jenen Erfolgen in der Beherrschung der Natur gelangen, die schließlich die ganze Welt in ihren Bann gezogen haben. Viele freilich werden noch mehr auf die Idee menschlicher Freiheit verweisen, die mit der Wissenschaft so überaus gefördert wurde, obgleich auf der anderen Seite nicht zu verkennen ist, daß Freiheit durch das strenge Gesetzesdenken innerhalb der Wissenschaft auch wieder oft genug in Frage gestellt worden ist. Und doch könnte mit all dem der Triumph der Wissenschaft über den Mythos nicht für unvermeidbar angesehen werden. Den Alten, aber auch den Menschen des Mittelalters, wäre ein solches Ausmaß an Naturbeherrschung keineswegs erstrebenswert, sondern als blanke Hybris erschienen und in einer nach allgemeinen Prinzipien gedeuteten Welt hätten sie nur deren Verarmung erblickt. Auch die Freiheit des Menschen wäre ihnen damit zu hoch bezahlt gewesen, daß sie zugleich zum Verluste göttlicher Gegenwart und des Numinosen führte. Es gibt keine absoluten Gründe, das wollen zu müssen, was die Wissenschaft geleistet hat. Und so folgt: Der Untergang des Mythischen war nicht nur theoretisch, sondern ebenso wenig praktich eine Notwendigkeit. Vor allem kann man ihn nicht wissenschaftlich erklären. Denn dazu müßte man ihn mithilfe von Gesetzen und Regeln ableiten, also die Geltung der wissenschaftlichen Grundfigur auch auf das mythische Zeitalter extrapolieren und selbst dort für wirksam und gültig ansehen. Aber

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die Wissenschaft darf sich das Recht hierzu nicht geben. Denn es ist nicht nur ihr Wesen, alles andere infrage zu stellen, sondern ebenso sich selbst. Und eben dies ist ja in der gegenwärtigen Theorie der Wissenschaft geschehen, und zwar mit dem Ergebnis, daß sie dem Mythischen nicht mehr jede Berechtigung absprechen kann. So können wir uns den Ubergang vom Mythos zur Wissenschaft zwar begreiflicher machen, indem wir die Geschichte der letzten Jahrtausende erzählen, wie lückenhaft und bruchstückhaft sie auch überliefert sein mag; aber die größte geistige Revolution, die je stattgefunden hat, bleibt dennoch letztlich — gerade wissenschaftlich gesehen — ein nicht weiter erklärbares Ereignis und damit ein Geschick22. Die Einsicht, daß die Wissenschaft nicht auf einem unerschütterlichen Felsengrund steht, wie so viele in unserem sogenannten wissenschaftlichen Zeitalter gemeint haben, sollte niemanden dazu verführen, sich jenen Dunkelmännern anzuschließen, die heute, offen oder verschleiert, die Wissenschaft und ihr vielleicht liebstes Kind, die Technik, am besten abschaffen würden. Aber diese Einsicht erlaubt ebenso wenig, in bornierter Überheblichkeit den größten Teil unserer Kulturgeschichte zu ver22

Das erwähnte Buch von F. M. Cornford „From Religion to Philosophy" könnte vielleicht den Eindruck erwecken, als wäre der Ubergang vom Mythos zur Philosophie doch erklärbar. Diesem Irrtum entgegenzutreten ist hier nicht der Raum, doch soll der Sachverhalt wenigstens angedeutet werden. Auf S. 125 schreibt Cornford: „Rather they (er meint die Philosophen) seem merely to sift and refine the material it gives them, distinguishing factors in it which at first were confused, and, in that progress toward clearness and complexity, discovering latent contradictions and antinomies, which force them to accept one alternative and reject another. The work of philosophy thus appears as the elucidation and clarifying of religious, or even pre-religious, material. It does not create its new conceptual tools; it rather discovers them by ever subtiler analysis and closer definition of the elements confused in its original datum. " (Unterstreichungen vom Verfasser). Oder an anderer Stelle S. 46 : „. . . the only difference is that for Hesiod it had been a matter of faith, while for Anaximander it is a theory." (Unterstreichung vom Verfasser.) Cornford ist sicher recht zu geben, nur: warum beginnt man nun plötzlich „to sift", „to refine", „to distinguish", „to progress toward clearness and complexity", „to discover latent contradictions and antinomies", warum sucht man eine „elucidation and clarification", „analysis" und „definition", kurz, warum versucht man in diesem Sinn so etwas wie eine Theorie? Wenn man behauptete, diese neue Haltung mußte kommen, so behauptete man wieder, daß auch der mythische Mensch sie hatte, sie nur nicht erkannte und erfaßte; er befand sich also auf einer „niedrigeren Reflexstufe". Aber nicht nur, daß wir uns dann wundern müßten, warum er für vermutlich Jahrtausende hindurch unfähig war zu begreifen, was doch quasi in der Sache lag, sondern man müßte auch fragen, mit welchem Recht wir die neue Stufe als wahrer, besser, höher usf. bewerten. Dieses Recht haben wir, wie gezeigt werden sollte, weder in einer theoretisch noch praktisch zwingenden Weise. Im übrigen wird so manches im Mythos erst dann widersprüchlich und unklar, wenn man es auf das Prokrustesbett der neuen Theorie preßt. So erklärt Cornford gar nicht das Aufkommen der Philosophie, sondern er konstatiert nur zutreffend, daß sie in dem Versuch bestand, den Mythos wissenschaftlich zu interpretieren.

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leugnen, indem man Mythisches schlechthin wie einen Aberglauben behandelt. Gewiß wird Mythisches nicht mehr in den Formen wiederkehren, die seit langem untergegangen sind; denn wir können nicht einfach in eine Welt zurückschlüpfen, die unsere Erfahrungen nicht kannte. Aber es gibt, wie man sagen könnte, noch allenthalben mythische „Potentiale". Sie verdienen es, daß man über sie nachdenkt. Diese Potentiale sind nur verdeckt und verdrängt, nicht aber erloschen. So wenig nämlich der homerische Mensch nur mythisch gelebt haben mag, so wenig denken wir heute auschließlich in wissenschaftlichen Formen. Ja, man kann sagen, daß dies gerade bei allen entscheidenden Ereignissen unseres Lebens nicht der Fall ist. Wir können es drehen und wenden wie wir wollen — die Geburt, die Liebe, den Tod, die Natur, erleben wir auch außerhalb der Kunst und der Religion ganz anders, als es unser modernes Bewußtsein zugeben will. Alle Festlichkeiten und Feierlichkeiten sind letztlich mythisch. Auch sagen wir immer noch, „die Nacht kommt" und nicht „eine Nacht kommt", „der Tag bricht an" und nicht „ein Tag bricht an", „der Morgen graut" und nicht „ein Morgen graut", „der Frühling, Sommer, Herbst, Winter ist da" und nicht „ein Frühling, Sommer, Herbst und Winter". Wir könen es auch nicht vermeiden, das Meer, einen Berg, ein Tal, einen Fluß wie eine einheitliche Gestalt, wie ein Wesen zu sehen. Und da, wo wir sagen, hier fühle ich mich zuhause, da erfahren wir nicht nur, daß wir Teil unserer Umwelt, der Familie, der Freunde, eines Sprach- und Kulturraumes mitsamt seiner Geschichte sind, sondern da erfahren wir auch, daß dies alles umgekehrt ebenso einen Teil unseres Wesens enthält. Unser ganzes Leben ist voll von Beispielen, die unsere mythischen Erfahrungsweisen bezeugen, auch wenn wir sie zu entkräften suchen, indem wir sie der wissenschaftlichen Ontologie einordnen und ihnen das Etikett „subjektiv", also nur ideell, nicht „wirklich", aufkleben. Niemand weiß, ob und wie diese Schizophrenie des modernen Menschen einmal behoben werden kann, die Mythos und Wissenschaft in seiner Brust neben- und gegeneinander bestehen läßt. Wir leben zwar im Zeitalter einer neuen Aufklärung, aber gerade in dieser entscheidenden Frage sind wir ratlos. Dies kommt nicht zuletzt daher, daß wir unter Aufklärung wie selbstverständlich immer nur Aufklärung durch die Wissenschaft, aber nicht auch über die Wissenschaft verstehen. So gleichen wir den Kyklopen: Wir können zwar, wie diese, gewaltige Waffen schmieden, Riesenbauten ausführen und technische Wunderwerke vollbringen, aber wir sind zugleich einäugig, nämlich blind für jene Humanität, die im Mythischen wurzelt.

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Welt, Geschichte, Mythos 1. Die Vorlesung gliedert sich in zwei große Teile. Thema des ersten Teils ist der Versuch, auf die wichtigsten Grundlagen der Phänomenologie Edmund Husserls hinzuweisen. Diese beruhen nicht nur auf seinen veröffentlichten Schriften, sondern auch auf Nachlaßmanuskripten. Der zweite Teil geht von diesen Grundlagen aus weiter, geht über sie hinaus und skizziert eine phänomenologische Analyse der mythologischen Seinsweise des Menschen.

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2. Das Problem des Anfangs ist eines der schwierigsten Probleme der Philosophie. Nach dem Anfang suchen heißt, irgendwie nach einem Ersten suchen, nach dem, was zuerst ist. Jedoch gibt es das Erste nicht für sich allein. Es gibt nur ein Erstes, weil ein Zweites und Weiteres folgt. Der Anfang ist also nicht ohne das, was aus ihm hervorgeht. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, daß wir nicht ohne schon Hervorgegangenes den Anfang finden können. Der Anfang ist Zugang zu dem, worin wir schon sind.

Abkürzungen der zitierten Werke Edmund Husserls: I: Zur Phänomenologie der InterSubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Erster Teil. 1905— 1920. Herausgegeben von Iso Kern, Den Haag 1973. II: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Zweiter Teil. 1921-1928. Herausgeeben von Iso Kern, Den Haag 1973. III: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil. 1929-1933. Herausgegeben von Iso Kern, Den Haag 1973. E. Ph. II: Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Herausgegeben von Rudolf Boehm, Den Haag 1959. FTL: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft. Mit ergänzenden Texten herausgegeben von Paul Janssen, Den Haag 1974. PS: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten. 1918— 1926. Herausgegeben von Margot Fleischer, Den Haag 1966. Im April 1978 ist bei Walter de Gruyter von mir ein Buch veröffentlicht worden mit dem Titel: Welt, Geschichte, Mythos und Politik, das weit über den hier gedruckten Vortrag hinausgeht.

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Die Lösung des Anfangsproblems besteht also darin, daß wir eine letzte Begründung finden für das, worin wir schon sind, für das unausdrückliche Vorverständnis alles Seienden. Also eine Begründung, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden kann, eine letzte Voraussetzung, die sich selbst als solche zeigt. Das ist der Anfang der Philosophie. Diese letzte Voraussetzung hat Edmund Husserl entdeckt. Es handelt sich um etwas so Frag-loses, so normal Akzeptiertes, daß bis zu Husserl die Frage danach gar nicht gestellt wurde: nämlich, daß wir in der Welt leben, daß wir ein Ich-in-der-Welt sind und daß damit die Welt eben die letzte Voraussetzung ist. Welt heißt aber hier nicht einfach Welt, denn wir sind ja in der Welt, so daß das Letztbegründende unser Welterfahren, unser ursprüngliches Welterfahren ist. Wie Sie wissen, ist das In-der-Welt-sein die Grundlage der gesamten modernen Phänomenologie geworden, insbesondere die Grundlage der Philosophie des bekanntesten Husserl-Schülers: Martin Heidegger. „Vor aller Theorie ist die Welt gegeben. Alle Meinungen, rechtmäßige und unrechtmäßige, populäre, abergläubische, wissenschaftliche, alle beziehen sich auf die schon vorgegebene Welt. Wie gibt sich mir die Welt, was kann ich von ihr unmittelbar aussagen, in allgemeiner Weise unmittelbar beschreibend als was sie sich gibt, was sie ihrem Ursprungssinn nach ist, so wie er sich in der .unmittelbaren' Wahrnehmung und Erfahrung gibt als sich selbst? ( . . . ) Ich mache mir klar, daß Wissenschaft und Philosophie über die Welt Aussagen machen, aber daß Ausgangspunkt und Grundlage für all das die E r f a h r u n g ist." (I, S. 196f.) Die Philosophie hat somit die erste Aussage über die Welt zu liefern. Dabei aber erkennen wir gleich, daß diese Erst-Aussage selbst schon ein Zweites ist gegenüber dem konkreten Welterfahren, gegenüber dem konkreten Leben. Wenn wir nun festgestellt haben, daß die Welt unser letzter Boden und damit auch der Boden der Wahrheit ist, so müssen wir doch ihre Wahrheit noch artikulieren. Die Phänomenologie fordert, daß alle Aussagen über die Welt, alle Begriffe aus dem Erfahren geschöpft werden, das unser Welterfahren ist. Hierin liegt der eigentliche Sinn der Forderung nach Voraussetzungslosigkeit. In der Tat, wenn wir von Voraussetzungslosigkeit sprechen, dann meinen wir damit in Wirklichkeit eine Voraussetzung, die allem anderen vorausgeht, die also Anfang und Begründung ist. Hier wird das Erfahren, das Sehen der Welt vorausgesetzt, und es wird vorausgesetzt, daß wir Wissen nur aus diesem Erfahren, aus diesem Sehen selbst erlangen können. In dieser Voraussetzung liegt die Voraussetzungslosigkeit der Phänomenologie. Das heißt, daß sie ihre eigenen Voraussetzungen enthält und klärt. 3. Stellen wir nun die Frage : was ist das Kernstück der Vorgegebenheit der Welt? Wie gelangen wir dazu, die Welt zu thematisieren, sie bewußt zu

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machen? Das Kernstück, der Ausgangspunkt ist die Spannung zwischen Gegebenheit und Mitgegebenheit. J e d e Erfahrung, was immer sie zu Gesicht bekommt, enthält ein Mit- und Vorwissen dessen, was dem Erfahrenen zugehört, ohne dieses dabei schon zu Gesicht zu bekommen. „Bewußtseinsmäßig endet das Wahrgenommene nicht da, wo das Wahrnehmen sein Ende hat." (E. Ph. II, S. 147) Versuchen wir auf die „reine Wahrnehmung" eines Gegenstandes zu reduzieren, so sagen wir z. B . : wir sehen jetzt nur die Vorderseite des Buches. Aber das heißt doch, daß wir sie in ihrem „ H o r i z o n t " wahrnehmen, eben als eine Seite des Gegenstandes; wir sehen nicht nur eine Seite, sondern „ v o n " dem Buch den Vorderdeckel, wir sehen in Wirklichkeit das ganze Buch, und das Buch wiederum hat seinen weiteren Horizont. Jedes Gegebene führt als Gegebenes ein plus ultra mit sich als seinen Horizont. Alles, was mir bekannt ist, hat einen Horizont, hat ein „ H i n a u s " und darum ist es letzten Endes Inexistenz in einem Worin, in einem „Totalhoriz o n t " . U n d dieser Totalhorizont ist die Welt. Die Welt ist keine Synthese der Horizonte, sie ist über sie hinaus. Deswegen ist sie sowohl Boden wie auch Ziel unserer Erfahrung. Diese Eigenheit der Welt bezeichnet Husserl als „Transzendenz". 4. D a das Ich ein in der Welt Seiendes ist, müssen wir kurz die Verwobenheit von Ich und Welt und deren Einheit andeuten. Das Seiende in seiner Horizonthaftigkeit verweist in seiner Gegebenheit von sich aus auf die Vermöglichkeit des Ich, es auszulegen. Das gehört zu seinem gegebenen Seinssinn. Und zu seinem Seinssinn gehört die Weltgeltung, die also gleichfalls auf eine Vermöglichkeit des Ich verweist. In der Verwobenheit von Ich und Welt liegt auch die Verwobenheit ständiger Korrekturen mit der damit ständigen Einheit des Weltverfahrens. Das Ich „ h a t " die Welt als Boden für alles Seiende, und diese Habe ist ein „Ich kann". In der Welt-Habe sagen wir: ich kann das und das verstehen, und zwar so und so, ich kann es immer weiter bestimmen, eventuell erscheinen Unstimmigkeiten, aber in der Einheit der Welt kann ich meine Erfahrungen immer wieder korrigieren und zur Übereinstimmung bringen. Die Welt als Totalhorizont ist mir gewiß als Antizipation endgültiger Einstimmigkeit. Dies aber ist eine unendliche Idee, weil ich die Welt nie vollkommen erkennen, sie nie voll bestimmen kann. Denn ich kann ja ständig Neues über sie ausmachen. Ohne diese Idee wäre die Welt ein chaotischer Haufen, gäbe es keine geordnete und korrigierbare Erfahrung. Daß wir die Welt haben als ein „Ich-kann", das erweist sich im Tun selbst, in der Betätigung des Vermögens, die Welt auszulegen. 5. Wir haben das Gegebene in seiner Horizonthaftigkeit und schließlich in seiner Welthaftigkeit aufgedeckt. Alles Gegebene weist immer über sich hinaus. Jede erreichte Evidenz verweist immer auf weitere Evidenz. Darum

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kann kein Einzelnes in totaler, in absoluter, in sogenannter apodiktischer Evidenz erkannt werden. Jede selbstgebene Erfahrung weist über sich hinaus, ist Erwartung ihrer selbst. Zu Erwartungen gehört wesensmäßig, daß sie auch enttäuscht werden können. Zu den Evidenzen gehört also, daß sie über sich hinausweisen, daß sie enttäuscht werden können, aber ebenso, und das ist sehr wichtig, daß sie nur durch neue Evidenzen ersetzt werden können. (Vgl. FTL, S. 139f.) Ich sehe jetzt, daß etwas n i c h t so ist; wie ich es zuerst erfaßte. Doch dieses Nicht-so-sein, dieses Nichtsein, weist eben auf anderes Sein oder Seiendes hin. „ A l l e s N i c h t s e i n s e t z t ein Sein v o r a u s . Ist etwas nicht, so ist etwas, mit dessen Sein das Nichtseiende streitet". (II, S. 103). Bestrittene Evidenz weist auf neue Evidenz. Damit haben wir eine wichtige Einsicht gewonnen, die wir nun ausdrücklich formulieren müssen: die einzige unbezweifelbare apodiktische Erkenntnis, die wir haben, ist diejenige über das welterfahrende Leben, über das Ich-in-der-Welt, über die Welthaftigkeit alles Einzelnen. Damit sehen wir gleichzeitig, daß die Lösung des Problems der Wahrheit und der Evidenz in der Welt liegt. Die Apodiktizität kommt der Welt, dem welterfahrenden Leben zu, das sich selbst erfährt, und zwar als solches. Die Apodiktizität aber kann nicht adäquat sein, wie Husserl sagt: „Selbst das Ich-denke ist, wenn auch apodiktisch erkennbar — nämlich als Erfahrung jederzeit auf die Gestalt einer apodiktischen Seinssetzung zu bringen —, nicht adäquat erkennbar". (E. Ph. II, S. 396 f.) Keine Apodiktizität von einzelnen Erkenntnissen ist von sich aus apodiktisch, sondern hat nur Teil an dieser einen und einzigen Apodiktizität. Die Welt in ihrer Apodiktizität ist das einzige, das wahr ist. Auf dem umfassenden Boden der Wahrheit der Welt enthält alle Evidenz, alle Selbstgebung und ihre Erfassung nun ihren eigentlichen Charakter und ihren ausdrücklichen Namen. Er ist nicht der der Wahrheit, sondern der B e w a h r h e i t u n g . (Vgl. PS, S. 201) Jede Einzelerfahrung ist eine eingeschränkte Erfahrung auf dem Grunde der Totalgeltung der Welt, eine Erfahrung, die besondert und heraushebt, eben aus der Welt. Damit tritt jedes Neue, jede neue Erfahrung als eine Besonderung auf. Jedes Erfahrene hat die Form einer Besonderung innerhalb der vorgegebenen Welt. (Vgl. III, S. 620f.) So ist eben alles Erfahrene Neues und Besondertes im Totalhorizont der Welt. Und das Erreichen des Erfahrenen ist Bewahrheitung, eine Bewahrheitung, die immer weitergeführt werden kann auf dem Einstimmigkeitsgrund der wahren Welt. Die Apodiktizität, die der Bewahrheitung zukommt, ist eine relative, sie bezieht sich auf die Apodiktizität der Welt, des Welterfahrens. So kommt Husserl zu der auf den ersten Blick widerspruchsvoll anmutenden Bezeichnung: „relative Apodiktizität". (Vgl. E. Ph. II, S. 406) Die relative Apodiktizität ist also das, was das Gegebene qualifiziert, wenn wir es als Besonderung an oder in der Welt zur Bewahrheitung bringen.

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6. In-der-Welt-sein ist Verstehen, ist Sich-auf-die-Welt-im-ganzen verstehen. Das Verstehen hat zwei Aspekte. Im Sich-auf-die-Welt Verstehen beschäftigen wir uns mit allem Möglichen, ohne es im einzelnen zu thematisieren, zu besondern. Wir haben also Verstehen als Geradehin-Verstehen und als auslegendes, entfaltendes Verstehen. Beides gehört zusammen. Wir haben nicht nur das umfassende, nicht-thematisierte Welt-Verstehen, in dem wir auf die Dinge geradehin leben, sondern immer auch schon ausgelegtes Verstehen. Dieses auslegende Verstehen ist das, was wir Besondern genannt haben. Die Frage ist also nun, wie wir etwas in seinem Horizont auslegen, wie wir etwas thematisieren, wie wir es als Einzelnes bewußt machen, wie wir es besondern aus dem Welt-Verstehen heraus. 7. Wir wenden uns vom Geradehin-Verstehen, vom Geradehin-Verstandenen ab und machen es uns als Objekt, als besondertes Objekt bewußt. Das wichtigste dabei ist, daß das, was wir nun betrachten und beschreiben wollen, zu einem besonderten Gegebenen wird durch innerliche oder äußerliche Aussage. Durch die Aussage machen wir das Thematisierte, wie Husserl dies ausdrücklich nennt, zum Substrat. Wenn ich jetzt mit Husserl von Substrat und Bestimmung rede, dann lege ich darauf besonderen Wert, weil es die entscheidende Grundlage für eine Parallelanalyse im zweiten Teil der Vorlesung ist. Objekt oder Substrat ist der erste und ursprünglichste Begriff von Realität, über die wir etwas aussagen können, deren Erfahrung wir ausdrücklich entfalten können. Das Objekt wird gerade durch unsere Aussage zum Substrat. Jede Erfahrung ist Erfahrung eines Substrats, oder deutlicher sie ist auf ein Substrat bezogen. Der Gegenstand, den ich wahrnehme, ist der Gegenstand-worüber, nämlich der, über den ich Aussagen mache, über den ich urteile, der, den ich in Sondererfahrungen auslege. Zum erfahrenen Auslegen des Horizonts eines Gegenstandes gehört das Bestimmen seines Soseins, seiner Merkmale und Eigenschaften. Dieses Auslegen enthält somit auf alle Fälle den Unterschied des Worüber und dessen, was ich darüber in Sondererfahrungen bestimme, also die Unterscheidung von Substrat und Bestimmung. Nun kann ich aber das Sosein selbst wieder zum Thema machen, um es weiter zu explizieren. Damit erhält das, was ursprünglich eine Bestimmung war, jetzt selbst Substratscharakter. Ich substratisiere oder nominalisiere eine Bestimmung. Substrate, die keiner Substratisierung entsprungen sind, nennt Husserl „absolute" Substrate. Ein absolutes Substrat ist das, was schlicht und geradehin erfaßbar ist. Ich kann auch mehrere schlicht gegebene Wahrneh-

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mungskörper ζ. B. in einer raumzeitlichen Zusammenstellung selber unmittelbar erfassen. Womit diese also ebenfalls absolutes Substrat ist. Unter „absoluten" Bestimmungen verstehen wir solche, die nur durch Nominalisierung oder Substratisierung zum Substrat werden können. Mit dem Unterschied von Substrat und Bestimmung zeigt Husserl, wie wir den Horizont eines Gegebenen notwendig auslegen. 8. Die sogenannten absoluten Substrate sind zwar schlicht erfahrbar, zunächst, aber sie befinden sich in Verweisungszusammenhängen miteinander. Damit zeigt sich auch wieder, daß sie in Horizonten und in einem umfassenden Totalhorizont stehen, dem der Welt. Wegen ihrer Verwiesenheit und ihrer Worinbefindlichkeit sind die absoluten Substrate nicht selbständig. Sie befinden sich in einem umfassenden Substrat, wie Husserl sagt, nämlich dem der Welt. Wir können uns auch auf die Welt richten als auf ein Ganzes, als auf ein Erfahrungsthema. Dabei müssen wir allerdings feststellen, daß sie nicht substrathaft erfahren ist, in schlichter Erfassung. Hier müssen wir nun etwas ausdrücklich machen, was Husserl nicht ausdrücklich gesagt hat. Wenn wir vom absoluten, schlicht erfahrbaren Substrat zum absoluten und selbständigen Substrat, also zur Welt übergehen, dann ändert das Substrat seine Funktion. Es wird vom Worüber zum Worin. Und wenn wir dieses Worin zu unserem Thema machen, dann ist es zwar auch ein Worüber, aber eben ein anderes als das übliche Substrat. Gleichwohl ist die Welt nun aufgedeckt als das absolute und selbständige Substrat. Und damit ist sie das Absolute schlechthin. Alle absoluten Substrate befinden sich In-etwas, sie haben die Bestimmbarkeit von In-etwassein. Die Welt aber ist nicht ihrerseits in etwas. Sie ist das All-etwas. Absolutes Substrat im Sinne der absoluten Selbständigkeit ist also nur die Welt. 9. Vielleicht eine der wichtigsten Einsichten, die wir inzwischen gewonnen haben, ist die Einsicht in den Unterschied zwischen Geradehin-erfahren und Thematisieren. Wenn wir in die Welt hinein leben, dann leben wir nicht so hinein, als wenn wir sie thematisierten, als wenn sie unser Thema wäre. Und selbst, wenn wir uns auf Einzelnes, sei es Reales oder Personales, richten, dann thematisieren wir dabei zunächst nicht seine Umwelt, seine Horizonte, in denen es uns gegeben ist. Hinsichtlich des Thematisierens müssen wir uns eines merken, was die phänomenologische Enthüllung betrifft. Wir müssen es gewissermaßen an die Wand schreiben, damit wir es nie vergessen, wozu nämlich jeder neigt, der reflektiert und theoretisiert. Was ich durch eine thematisierende Einstellungsänderung finde, ist nicht mehr das, was es ursprünglich war: wie es geradehin erfahren, geradehin erlebt wurde. Es ist dasselbe und doch eben anders, oder Anderes. Mit aller phänomenologischen Enthüllung können wir immer nur auf das konkret

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gelebte Leben, auf die konkrete Erfahrung verweisen, die als solche, in ihrem unmittelbar Gelebt- und Erfahrensein letztlich unaussagbar bleibt. Aussagen gibt es über sie nur als Rückverweisungen. 10. Ausgegangen waren wir vom Grundproblem der Phänomenologie, dem Gegebenen in der Spannung des Mitgemeinten, also dem Gegebenen und seiner Auslegung. Angelangt sind wir beim letzten, absoluten und selbständigen Worin: der Welt. Was Husserl mit seiner neuen Methode und mit der Aufdeckung der Welt, des welterfahrenden Lebens, für die Philosophie geleistet hat, brauchen wir nicht besonders zu erwähnen. Es sei lediglich ein Satz von G. Granel zitiert: „Edmund Husserl ist einfach der größte Philosoph, der seit den Griechen erschienen ist." (Edmund Husserl, in Encyclopaedia Universalis, Bd. VIII, Paris 1971, S. 613) Es gibt aber noch ein zweites, absolutes Worin, das Husserl nicht gesehen hat. Wir werden uns sogar fragen müssen, ob und wie es mit der Welt zusammenhängt und diese nicht sogar umfaßt. Husserls E i n s i c h t e n in die Horizonthaftigkeit und damit in die Welt kommen aus einer Philosophie des Sehens. Husserl war sich dessen selbst auch ganz bewußt, wie aus einem Brief an A. Metzger hervorgeht: „Ich, dessen ganzes Leben es war, reines Sehen zu lernen und zu üben, und sein Urrecht durchzusetzen, sage: Wer zum reinen Sehen (in arbeitsvoller Enthüllung der Intentionen) durchgedrungen ist, ist des Erschauten in Wiederholung des Erfüllungsprozesses als .originär gegeben' völlig gewiß ( . . . ) Und ich sage weiter hinsichtlich der Methode, der Horizonte der Arbeitsfelder der Ideen das eine Wort: Siehe!" (Phil. Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 62, 1. Halbband, S. 196) Nun spielt im Spätwerk Husserls die Geschichte eine große Rolle. Obwohl das so ist, findet sich bei ihm so gut wie nichts für die Grundlage selbst von Geschichte, nämlich das Handeln. Ein Philosoph, der so sehr vom Sehen ausgeht wie Husserl, „inhibiert", wie er selber sagen würde, das Handeln, das doch neben dem Sehen die gleiche Bedeutung hat. 11. Den einzigen Ansatzpunkt für eine neben der Phänomenologie des Sehens gleichrangig stehende oder vielmehr mit ihr verbundene Phänomenologie des Handelns habe ich an mehreren ganz kurzen und an zwei mehrseitigen Stellen in den Nachlaßbänden zur Intersubjektivität gefunden, die erst vor fünf Jahren erschienen sind. Was ich Ihnen jetzt kurz darlege, stammt aus Manuskripten Husserls der frühen zwanziger Jahre. Es wird diejenigen, die Heidegger kennen, in einiges Erstaunen versetzen. Husserl beschreibt die Welt, so wie sie uns unmittelbar gegeben ist, als praktische Welt. Als leibkörperliches Ich lebe ich nicht etwa in einer körperlichen Umwelt und Welt. Meine Umwelt und Welt ist ursprünglich praktische Umwelt. Diese hat zwei Aspekte.

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Ich greife in sie ein, ich gestalte sie oder gestalte sie um. Ich verfolge Zwecke in ihr. Die Zweckhaftigkeit der praktischen Welt ist jedoch nicht reine „Sachlichkeit", vielmehr gehören zu ihr Stimmung und Ausdruck. Die Anderen, die mir leiblich gegeben sind, sind mir unmittelbar mit ihrem Ausdruck gegeben. U n d ich selbst bin mir unmittelbar in verschiedenen Stimmungen gegeben, von denen ich über die Anderen weiß, daß sie zum Ausdruck kommen. „Ich habe mir gegenüber die Welt ( . . . ) , die Welt als meinen ,Schauplatz', mein Wirkungsfeld, die Welt, die mich in Grauen und Furcht versetzt, in alle Stimmungen, die Welt, die immer schon solcher Schauplatz war und aus meinen Wirkungen, meinen Stimmungen usw. ihre Züge hat." (II, S. 456 — zwanziger Jahre, vor 1924) Leiblichkeit und Ausdruck sind miteinander verwoben, gehören zusammen. Weil die Welt nun im wesentlichen eine praktische Welt ist, greifen Ausdruck und Stimmung von den Leibern zu den Körpern über, so daß auch oft viele Dinge einen „ A u s d r u c k " haben und eine Stimmung hervorrufen. In der praktischen Welt ist der Leib Organ der Organe, die Werkzeuge erweitern meinen Leib. Die Umwelt wird zweckvoll von uns gestaltet. Die Dinge, die wir gestaltet haben, besitzen eine Doppelseitigkeit. Erstens weisen sie auf menschliches Erzeugen zurück, zweitens tragen sie in sich die bleibende Beschaffenheit, gewissen Zwecken dienen zu können. Der Zwecksinn des Werkzeugs selbst weist nun wieder auf eine doppelte Art auf mich zurück. Erstens weist er zurück auf mich als leibliches Ich, der ich dieses Werkzeug so und so benutzen kann; zweitens weist er darauf zurück, daß ich ein Ich bin mit Wünschen, Wertungen, Zwecksetzungen, das daraus her und dahin oder dafür die gestalteten Dinge handhabt. „ D i e Umwelt konstituiert nicht nur als physische Natur, als Einheit von Erscheinungen, sondern als zweckvoll von mir gestaltete Umwelt (und von Anderen). Umgestaltung von Dingen, nach Zweck in Zweckhandlungen in ihrer Doppelseitigkeit. Die gewordene Gestalt, die ruhende oder bewegte auf Zweckhandlungen, auf ein absichtliches Erzeugen zurückweisend, einen Zwecksinn in sich tragend, eine bleibende Beschaffenheit, verfügbar zu sein für Zwecktätigkeiten als Werkzeug und sonstwie als Gestaltungsmittel. Auch hier also eine Doppelschicht. Ein Zwecksinn zurückweisend auf ein Ich mit Ichleib, mit Leibesvermögen, aber auch mit Wünschen, Wertungen, Zwecksetzungen u s w . " (II, S. 330 - 1924) Wir sehen also ganz deutlich, wie die praktische Welt vom Handeln durchwoben ist. A n einer zweiten Stelle spricht Husserl davon, daß das Menschentum in Selbstentwicklung und in der Humanisierung der Welt ist. Was heißt das? Erstens, daß der Mensch sich ständig seelisch und als Person entwickelt.

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Zweitens, daß dies dadurch geschieht, daß er fortgesetzt in Aktivität lebt, daß er aktiv Gebilde einzeln und vergemeinschaftet erzeugt. Drittens, daß diese aktive Gestaltung der Umwelt der Welt einen menschlichen Sinn gibt. Diese Humanisierung der Welt geschieht in tätigem, verbundenen Miteinander. Es werden ständig vom Einzelnen in der Gemeinschaft und mit der Gemeischaft Akte und Handlungen vollzogen. Was daraus resultiert, das geht in die Welt mit ein. Also ist die Handlung das, was der Welt ihren humanen Aspekt gibt. Husserl sagt ausdrücklich, die Welt stellt sich mit einem geistigen Gesicht dar, und dieses geistige Gesicht ist Handlung. Es ist ebenso, was aus der Handlung als Abgesehenes oder auch als nicht Abgesehenes erfolgt. Von vornherein handelt es sich dabei nicht nur um Machen, um dingliches, sondern um personales Handeln, um das Sich-Verbinden mit den Anderen, mit ihnen verkehren, sich mit ihnen verabreden, sich dadurch sozial personalisieren, also Person in tätiger Gemeinschaft sein. (Vgl. III, S. 391 f.)

II 12. Von diesen hochinteressanten Ansatzpunkten aus aber hat Husserl nicht die Welt aufgedeckt. Das wollen wir nun im zweiten Teil unserer Uberlegungen zu tun versuchen. Wir wollen im Hinblick auf das Handeln eine parallele Analyse vollziehen, wie die, die wir im ersten Teil mit Husserl durchgeführt haben in der Auslegung der Horizonthaftigkeit, insbesondere über die Begriffe Substrat, Bestimmung und Welt. Diese Begriffe sollen uns hier keinesfalls als Modell, sondern als Anregung zu einer parallelen Analyse dienen. 13. Wenn wir uns überlegen, was wohl dem schlicht erfahrbaren Substrat gleichkommt, dann denken wir wahrscheinlich zuerst an die Handlung, an die Aktion, an die Tat. Sobald wir aber die Sinnauslegung durchführen wollen, entdecken wir, daß die Handlung in Wirklichkeit eine Parallele zur Bestimmung ist. Wieso das? Fragen wir uns doch ganz einfach, was zur Handlung gehört oder besser, zu was die Handlung gehört. Vergessen wir nicht, daß es sich nicht um dingliches Handeln handelt. Handeln bedeutet von etwas ausgehen, auf etwas hin. Ich bin motiviert worden und strebe auf etwas Künftiges hin. Handeln kann ich nur im Hinblick auf Andere, die auch handeln, und zwar innerhalb einer Situation, einer gegebenen Situation. Was aber ist eine Situation, in der mehrere Personen miteinander handeln? Eine Situation gehört zu einer Geschichte. Die Situation ist ja e n t s t a n d e n , geworden, aus der Vergangenheit heraus. Und sie verweist in sich in die Zukunft. In der Situation habe ich gewisse Absichten, Zwecke, die ich durch Handeln verwirkliche, genau wie die Anderen, die als Handelnde mit zur

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Situation gehören. Eine Situation ist eine Gegenwartslage in einer Geschichte. 14. Das bringt uns ganz natürlich zu der Frage, was das ist, eine Geschichte. Diese Frage ist ein komplexes Problem, auf das wir hier nicht in allen Einzelheiten eingehen können. Bevor wir fragen, was der Gehalt, der Inhalt einer Geschichte ist, wollen wir die Frage stellen, wo Sinn und Einheit einer Geschichte zu allererst sich melden. Wir finden als Antwort: in einer Geschichte, die schriftlich oder mündlich berichtet wird, dans une histoire, in a story. Eine Geschichte, die erzählt wird oder werden kann, können wir auch Erzählung nennen, Narratio, damit bei dem Wort „Geschichte" keine Verwechslung der Begriffe aufkommt. Was ist das, eine Erzählung? Eine Erzählung ist das, was eine Geschichte wiedergibt. So, wie das Objekt erst zum Substrat wird durch unsere Aussage, durch unsere thematisierende Aussage, so wird die erlebte Geschichte, die als solche eigentlich noch keine ist, erst dadurch Geschichte, daß wir sie erzählen. Sie er-zählt die Geschichte selbst, indem sie die Gestalten und die Ereignisse aufzählt, und zwar in ihrem Verlauf und als Verlauf. Womit beginnt die Auf-, die Er-zählung? Mit dem ersten Ereignis und der ersten Gestalt, mit dem Anfang. Die Erzählung beginnt damit, daß sie den Anfang als Ursprung ihrer selbst wiederholt. So ist Er-zählung Wieder-holung und wieder Holung, in einer Geschichte wird das Vergangene re-zitiert, bis es sich zu seiner eigenen Gegenwart gebracht hat. Sie ist ineins Rezitation, ré-cit. Indem sie erzählend ihren Ursprung wieder holt und wiederholt und aufzählt, was danach entstanden ist, erklärt sie sich selbst. Wir geben hier ein idealtypisches Modell. Es kann sein, daß eine Geschichte „mittendrin" anfängt, daß der Ursprung gar nicht bekannt ist, aber sie hört damit auf, daß sie, wenn auch vielleicht auf eine komplizierte Art, von i h r e m Anfang auf ihr Ende sichtbar wird. (Die Rückkehr zum Ursprung bleibt das grundlegende Element aller „Erklärung" und wird in der Philosophie zur Suche nach den „archai", „Prinzipien".) Ineins damit rechtfertigt sie sich selbst als diese Geschichte. Damit schafft sie auf eine gewisse Weise den Zufall aus ihr heraus. „Auf eine gewisse Weise", denn der Zufall bleibt natürlich Zufall, aber er erhält seinen besonderen Sinn in der Geschichte als „absichtsvolles" Ereignis, das der Situation einen „neuen" Stil gibt. Der Zufall gehört zum konkret verstandenen Geschehen. 15. Was erklärt und gerechtfertigt werden soll, sind nicht allgemeine und abstrakte Möglichkeiten, sondern das Hier und Jetzt des Einzelfalles, die Individualität einer konkreten, schlicht erfahrbaren Geschichte. Das Individuelle des personalen Geschehens wird erst dann verständlich, wenn es uns gelingt, es derart auf nicht minder Individuelles und Konkretes zurückzuführen, daß es einer weiteren Erklärung weder fähig noch bedürftig ist. Es muß aber einsichtig sein, und das bedeutet, daß die Motive, die die in der Erzählung Handelnden bewegen, eingesehen werden. Motive wiederum

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verlangen eine Rechtfertigung, weil sie meistens dunkel sind. Der Grund eines Motivs, einer Absicht, ist seine Rechtfertigung. Wobei aber offensichtlich ist, daß der Grund meistens dunkel und verdeckt ist. Gerade bei einem Motiv fragen wir uns ja oft: Warum tut er, oder warum tue ich, das und das? 16. Die Rechtfertigung des Sehens ist das Richtige oder das Wahre. Wir haben gezeigt, daß es das Wahre nur gibt als das Besonderte, als die Bewahrheitung aus der Einheit und Einstimmigkeit der Welt heraus. Was ist nun die „Rechtfertigung" des Handelns? Sie ist die besondernde Aufdeckung der Motive, ob gut oder böse, aus der Einheit und Einstimmigkeit der Erzählung selbst heraus. Sie müssen in ihrem konkreten Zusammenhang vernehmbar werden. Darin eben liegt die Einheit der Erzählung. Eine Erzählung erklärt und legt Rechenschaft ab von sich selbst. So treffen wir auf die tieferen Zusammenhänge von Erzählung, tale, ré-cit, conte, count, account, raconter, welch letzteres uns sowohl auf re-conter wie auf ren-contrer und rendre compte bringt. Tale kommt von teil und dieses wiederum hat mit Zählen zu tun. Es wird nachgezählt und aufgezählt, und damit wird Einsicht auf Rechenschaft gegeben. Die Vergangenheit wird aufs Neue zitiert, re-zitiert und kann damit befragt werden, wie ein Zeuge zitiert wird, ja sie kann als re-zitierte selbst Zeugnis ablegen. Conte und count kommen wiederum im Englischen und im Französischen, von Zählen. Raconter hat ganz gewiß Anklänge an Nach-Zählen, Rechenschaft ablegen und begegnen. Denn ohne die Begegnung kann ich weder das eine noch das andere tun. 17. Was in der Erzählung quasi verdeckt bleibt, ist das Ende. Die Erzählung hört nicht mit einem eigentlichen Ende, einem Aufhören, auf, sie endet in einer Art von Gegenwart, deren Ursprung sie eben erzählt hat. Das Ende liegt also in der Gegenwart. Das Gleiche gilt für die Zukunft. Wenn die Erzählung die Zukunft erzählen wollte, dürfte sie ja nicht aufhören, sie müßte weiter erzählen. Dann aber wäre die Zukunft gar keine Zukunft mehr, sondern erzählte Vergangenheit. Die Zukunft in der Erzählung ist das Quasi-Fortdauern der Gegenwart, bei der die Erzählung aufhört. Wir gelangen also in der Erzählung auf eine unerzählte, offene, gewissermaßen überzeitliche Gegenwart. Das Erzählen der Geschichte beinhaltet nicht nur Anfang und Ende, also eine Art „umfassender" Einheit, sondern sie bringt auch durch das Erzählen selbst eine Einheit hervor, die nicht zur erlebten Einheit der in der Geschichte Lebenden gehört. In der Erzählung werden Ereignisse und Erlebnisse zusammengebracht und in einen Zusammenhang gestellt, die in der „erlebten Geschichte" den einzelnen Gestalten der Erzählung nicht bewußt waren, die sie als solche nicht erlebten. So geht die Narratio über „gelebte" Geschichte hinaus. Die Zukunft als das Ende der Geschichte, als Endergebnis oder Endsituation, ist dem Erzähler schon bekannt, wenn er beginnt, die Geschichte zu

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erzählen. So sehen wir, daß viele Ereignisse und Erlebnisse ihre Bedeutung erst im Rahmen der Erzählung erhalten. In jeder Erzählung ist implizit ein Erzählender, ein Aussagender. 18. Die Parallele also zum Substrat als schlicht Erfahrbares ist eine Geschichte, die ich erzählen oder hören kann. Was die Handlung betrifft, so kann ich sie, parallel zur Bestimmung, nominalisieren, substratisieren. Und zwar, indem ich sie in den Vordergrund stelle, indem ich sie zur Tat mache, zur fertigen oder vollendeten Handlung. Tat alleine und Tat eines Einzelnen, der allein wäre, das gibt es nicht, so bleibt die Tat also eine Bestimmung der Geschichte. 19. Jetzt fahren wie in der Parallel-Analyse fort. So, wie es ein schlicht erfahrbares, also absolutes Substrat gibt, das aus einem einzelnen Realen oder aus mehreren, aus einer Konfiguration von Realen besteht, genau so gibt es eine ganz simple, schlicht erfahrbare oder erzählbare Geschichte und eine ebenso schlicht erfahrbare, das heißt unmittelbar erfaßbare „konfigurative" Geschichte, eine Konfiguration von Geschichten. Das Erzählen der einfachen Geschichte ist parallel zur Besonderung. Eine Geschichte taucht also auf aus einer umfassenden Hintergrundgeschichte, und sie hängt, bei näherem Hinsehen, zusammen mit anderen Geschichten. Damit entdecken wir die allgemeine Verbundenheit oder die besondere Verwiesenheit von verschiedenen Geschichten miteinander. 20. Husserl hatte zwischen absoluten und relativen Substraten und Bestimmungen unterschieden und gezeigt, daß die absoluten Substrate in ihrer Absolutheit, d. h. in ihrer unmittelbar schlichten Erfahrbarkeit, nicht selbständig sind. Sie sind ja aufeinander verwiesen und verweisen immer über sich hinaus, und zwar auf das, worin sie sind: auf der Welt. Jetzt stellt sich also die interessante Frage, wo nun hier die Parallele ist. Was ist das absolute, selbständige Worin der Geschichten? 21. Zunächst sieht es so aus, als wenn dieses Worin die Zeit wäre. Ausgegangen waren wir von der Situation als der Gegenwartslage einer Geschichte. Eine Situation ist geworden, auch ich, der ich in der Situation bin, habe mein Gewordensein, das für mich die Situation mitbestimmt, und ich und wir haben Absichten, wir wollen etwas in der Zukunft, wir haben Absichten, die wir in die Zukunft hinein handelnd verwirklichen. Aber die Zeit, das hat Husserl sehr deutlich gezeigt, gibt es nicht als „Phänomen", ich kann sie nicht „sehen" oder „betrachten". Die Welt ist Phänomen, sie ist mir gegeben, aber die Zeit ist mir nicht gegeben, sie ist „Form" der Welt und Form meiner selbst. (Vgl. III, S. 362) Doch wir reden ja von der Zeit, irgendwie „erfassen" wir sie doch. Als was? Husserl hat die Zeit aufgewiesen als die F o r m des welterfahrenen Lebens. Und eben gerade haben wir gesehen, daß das welterfahrende Leben nicht nur Sehen, sondern auch Handeln ist, was heißt, daß welterfahrendes Leben sich in Geschichten

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abspielt und als solches erfaßt werden muß. Das konkrete Phänomen ist nicht die Zeit, sondern die erlebte, erzählte, ausgesprochene Geschichte. Zeit ist F o r m der Geschichte. Die Zeit zeigt sich nicht selbst, sie manifestiert sich als F o r m eines lebendigen Gehalts. Was sich zeigt, das ist das Lebendige selber, F o r m u n d Gehalt, die konkrete Geschichte. Die Zeit wohnt als Form dem Ausgedrückten, dem Gesagten, dem Gehörten, dem Erlebten, dem Erzählten inne. 22. Wenn wir also das Worin der Geschichten als Phänomene suchen, dann kann es nicht die Zeit sein, denn diese ist nicht Phänomen, sondern Form, es m u ß absolute und selbständige Geschichte sein. Das Phänomen „absolute und selbständige Geschichte" als das Worin der Geschichten sprengt die Form der Zeit. Aus einem einfachen Grunde. Eine Geschichte, das gehört in Notwendigkeit zu ihrem Sinn, muß einen Anfang und ein Ende haben. Die Zeit oder Zeitlichkeit aber als Form hat keinen Anfang und kein Ende. Wenn ich mir einen Anfang der Zeit vorstelle, dann bin ich immer noch „ i n " der Zeit. Genau das Gleiche gilt, wenn ich mir das Ende der Zeit vorstelle. Während ich mir den Anfang oder das Ende vorstelle, bleibe ich in der Form der Zeit. Weil Geschichten und Geschichte die Form von Zeit haben, können der Anfang und das Ende von der Geschiche, w o r i n wir sind, nicht gegeben sein f ü r ein Sehen. Das trifft schon zu auf die Geschichte meines eigenen welterfahrenden Lebens. Uber meine Geburt ζ. B. weiß ich nur von Anderen. U n d mein Tod ist mir nicht gegeben. Umso mehr gilt dies für das absolute und selbständige Worin aller Geschichten. Das absolute Substrat ist mir in schlichter Erfahrung gegeben. Die absolute Geschichte kann ich als in schlichter Erfahrung gelebte „erzählen". Den Anfang und das Ende aber der absoluten und selbständigen Geschichte kann ich nicht eigentlich erzählen. U n d damit kann auf eine gewisse Weise die absolute und selbständige Geschichte als das absolute und selbständige Worin als solches auch nicht erzählt werden wie eine „zeitliche" Geschichte. 23. Die absolute und selbständige Geschichte sprengt die Form der Zeit, und damit transzendiert sie die Zeit, ist über die Zeit „hinaus". So wie für Husserl die Welt „Transzendenz" ist, so ist die absolute Geschichte „Transzendenz". So stehen wir vor der schwierigen Frage, wie dieses absolute und selbständige Worin überhaupt erfaßbar wird. So wie die Welt kein schlicht erfahrbares Substrat ist, so ist die absolute und selbständige Geschichte, das Worin aller Geschichten, keine schlicht erzählbare Geschichte. Das absolute Substrat ist mir in schlichter Erfahrung gegeben. Die absolute Geschichte kann ich als in schlichter Erfahrung gelebte „erzählen". Den Anfang und das Ende aber der absoluten und selbständigen Geschichte kann ich nicht eigentlich erzählen. U n d damit kann auf eine gewisse Weise die

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absolute und selbständige Geschichte als das absolute und selbständige Worin als solches auch nicht erzählt werden wie eine „zeitliche" Geschichte. 24. Was ist das, was den über die Zeit hinausgehenden Anfang, den Ursprung und das über die Zeit hinaus gehende offene Ende beinhaltet, ohne daß es auf eine eigentliche Art „erzählt" werden kann? Das i s t M y t h o s ! Der Mythos ist weder eine Erzählung ü b e r die Wirklichkeit, noch eine Interpretation oder eine Erklärung. Im Mythos sind Wort und Wirklichkeit Eines. Der Mythos ist immer eine „Erzählung". Dieser Erzählungscharakter unterscheidet den Mythos sowohl vom begrifflichen Denken als von der Poesie. Diese Erzählung hat eben ihre eigene Wirklichkeit. Der Mythos ist auch nicht die „Botschaft" von irgend jemand, er ist nicht die Erzählung eines Autors. Er wird nicht von Einem „erzählt". Vielmehr ist er wie ein Textgewebe einer Gemeinschaft. Er ist der Text, wodurch und wovon die Gemeinschaft eben Gemeinschaft ist. D a der Mythos keine eigentliche „zeitliche Erzählung" ist, ist er auch nicht in der Zeit, oder v o r der Zeit, sondern er ist ü b e r der Zeit. Er ist nicht situiert zwischen der Vergangenheit und der Zukunft in einer bestimmten geschichtlichen Epoche. Das erzählte Geschehen ist sowohl vorüber wie auch anwesend. Die Endzeit ist zukünftig und ebenfalls anwesend. Zeitlosigkeit aber bedeutet nicht, daß er keinen Verweis auf die Geschichte hat. Es fehlt ihm nur die Bestimmtheit durch und in der Zeit und Geschichte. So wie die Welt uns zunächst und zumeist nicht thematisch bewußt ist, so ist es mit dem Mythos. Meistens erleben wir ihn in Fragmenten, in sogenannten Mythemen, vielleicht sogar, ohne es zu bemerken. D o c h die Struktur des Mythos läßt sich wie die der Welt auslegen. Die phänomenologische Analyse der Erzählung gibt uns allererste Hinweise dazu. Auf alle Fälle haben wir nun jedoch folgendes fundierend festgestellt: so wie das In-der-Welt-sein eine grundlegende Seinsweise des Menschen ist, so ist das Im-Mythos-sein ebenfalls eine grundlegende Seinsweise des Menschen. 25. Lassen Sie mich zum Schluß die Ur-Struktur des Mythos andeuten. Dabei gehen wir von der Endlichkeit des Menschen aus. Die Endlichkeit bekundet sich im Mangel. Damit ist keine Defizienz gemeint, kein „Fehlen", das ergänzt werden könnte, sondern die in-sich-mangelnde Grundstruktur alles Seienden. Ich erinnere hier nur an die mangelnde Adäquation aller Erkenntnis, die wir im ersten Teil aufgewiesen haben. Damit die Mangelstruktur besser verstanden wird, will ich ganz kurz, ohne weitere Ausführungen, auf zwei Beispiele hinweisen. Der Mangel beruht nicht auf einer verfehlten Totalität. Die Sprache mangelt sich selbst, indem sie diskursiv ist. Können wir uns die Sprache „ e r g ä n z t " denken? Können wir uns die Sprache als eine vervollständigte

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Totalität ausdenken, die nicht diskursiv wäre? Eine solche Totalität können wir uns nicht einmal vorstellen! Oder wie sähe denn die Zeit aus, wenn sie sich nicht selbst mangeln würde? Tempus fugit, heißt es. Das bedeutet aber nicht, daß die Zeit uns entflieht, sondern daß sie in sich selbst flüchtig ist. Selbst die Ewigkeit, wenn wir sie uns als „totale Zeit" vorstellen möchten, ist nichts anderes als ein „nunc stans". Und das setzt die Zeit voraus, die in sich selbst ver-strömt und nicht vor-strömt und sich dabei selbst entgeht. Die Sprache mangelt sich selbst, die Zeit mangelt sich selbst. Aber wir können nicht einmal fragen: was fehlt denn der Sprache, was fehlt denn der Zeit? 26. Was wir philosophisch als die Grundstruktur des endlichen Seienden einsehen, das ist der Mangel. Zum Mangel gehört gleichzeitig die Entzweiung, der „ B r u c h " unserer mit unserem Ursprung. Was soll diese Entzweiung heißen? Ich bin nicht in unmittelbarer Berührung mit meinem Ursprung, und doch stehe ich irgendwie mit meinem Ursprung in Verbindung. Diese mangelnde Verbindung ist der Ur-Grund des Mangels. „Was wird uns durch alle Mythen und Symbole offenbart ( . . . ) ? Zuerst von allem des Menschen tiefe Unbefriedigung mit seiner aktuellen Situation, mit dem, was die menschliche Daseinsweise genannt wird. Der Mensch fühlt sich selbst zerrissen und getrennt. Er findet es oft schwer, eigentlich sich selbst die Natur dieser Trennung zu erklären, denn manchmal findet er sich selbst abgeschnitten von ,Etwas' M ä c h t i g e m , , E t w a s ' , das ganz a n d e r s ist als er selbst, und zu anderen Zeiten findet er sich abgeschnitten von einem undefinierbaren, zeitlosen .Zustand', von dem er keine genaue Erinnerung hat, aber woran er sich in den Tiefen seines Seins erinnert: ein ursprünglicher Zustand, in welchem er sich gut befand, vor der Zeit, vor der Geschichte. Diese Trennung hat die Gestalt einer Entzweiung angenommen, sowohl in ihm selbst wie in der W e l t . " {Mythos, Rites, Symbols. A Mircea Eliade Reader. - Ed. by W. C . Beane and W . G . D o t y , Vol. 2. - New Y o r k , L o n d o n : Harper & Row 1976. - S. 439f.). 27. Der Mythos „erzählt" auf uneigentliche Art den Mangel. Er erzählt den ursprünglichen Kontakt mit der großen Fülle, die gewesen war, mit der Fülle dessen, was mich, die Anderen und die Welt, geschaffen hat. Der Mythos verkörpert erzählend und erlebend den Mangel. Er hat die geschichts-mythische Form eines Ur-Dramas. 28. Was sind die Elemente dieses Ur-Dramas? D a ß die ur-sprüngliche Fülle uns verloren gegangen ist, das ist schmerzlich. Der Mythos muß also die schmerzliche verloren gegangene Ur-Fülle „erzählen". Ein solcher Verlust bringt uns ganz normalerweise in Verzweiflung. Wenn uns das Wichtigste verloren gegangen ist, dann sind wir

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verzweifelt. Doch zur Verzweiflung gehört gleichzeitig die Hoffnung, Verzweiflung und Hoffnung sind Pole einer lebendigen Dimension. Wir hatten schon angedeutet, daß der Mangel keine Defizienz ist, daß er de facto positiv ist. Was bedeutet diese Positivität? Nur weil ich im Mangel bin, kann ich wünschen, wollen, streben! Ich bin nicht nur passiv, ich bin auch aktiv, und das in Gradualität. Wenn ich zwischen Hoffnung und Verzweiflung lebe, und wenn die Verzweiflung etwas konkret Positives betrifft, eben die ursprünglich verloren gegangene Fülle, dann führt mich die Hoffnung zur stärksten Gradualität des Wollens überhaupt, zum Kampf. Wir kämpfen, um die verloren gegangene Fülle wieder zu gewinnen. Unser Gerichtet-sein-auf-Ziele, unsere Teleologie, unser Streben, das hat seine höchste Form im Kampf. Mythos ist also im Grunde immer Kampf-Mythos, auch wenn er sich nicht sogleich als solcher zu erkennen gibt, sondern z. B. zunächst als Such-Mythos. Unter Kampf ist hier natürlich nicht Gewalt oder nicht nur als Gewalt zu verstehen, sondern als kämpfende Anstrengung. 29. Das Ziel dieses Kampfes ist der Sieg. Auch hier ist nicht die gewaltsame Unterdrückung des Gegners gemeint, sondern die Erlösung von der Verzweiflung, das Heil. Sieg, Erlösung und Heil gehören also zusammen. Das Heil ist die durch den Mythos vermittelte totale Bewältigung des Mangels, und zwar, indem Ursprung und Ende zusammenfallen. Was ist letzten Endes Heil? Der Mythos macht uns deutlich, daß er das Ausgehen vom Heiligen als meinem Ursprung und das Erreichen des Heiligen als mein Ende ist. Der Begriff, oder sagen wir eher, die Vorstellung des Heils, ist nicht nur unbestimmt, sie muß unbestimmt sein, weil darin die totale Bewältigung, die Quasi-Aufhebung des Mangels liegt. 30. Die Verzweiflung ruft die Hoffnung hervor und die Hoffnung den Kampf. Im Kampf wird die Verzweiflung zur tätigen Hoffnung. 31. Daß wir die ursprüngliche Fülle verloren haben, das kann auch am Menschen selbst liegen: sie kann verloren gegangen sein durch Fehler, durch Schuld. So hängt mit dem Verlust der ursprünglichen Fülle und mit der Verzweiflung das Schuldgefühl zusammen. Damit liegt der Kampf um die Wiedergewinnung des Verlorenen in der Anstrengung, die Erlösung von der Schuld zu erreichen. Diese Erlösung ist die Verzeihung. Zu dieser Anstrengung gehört auch, daß wir weitere konkrete Schuld vermeiden. Das gelingt uns aber nie ganz, weil wir in der ursprünglichen Schuld und Verzweiflung stehen. Gerade deswegen ist die Aufhebung der Grund- oder der Ur-Schuld und der konkreten Schuld die Verzeihung. 32. Zur kämpfenden, zur tätigen Hoffnung gehört auch, daß das Leiden, das in der Verzweiflung und im Kampf liegt, schon Ubergang zur Erlösung ist. Dies ist die Positivität des Leidens, des Leidens selbst als beginnende

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Erlösung, des Kampfes, der schon halbwegs Erlösung ist als leidender Kampf, als akzeptiertes und damit als tätiges Leiden. 33. Wir sehen, wie im Ur-Drama des Mythos das aufleuchtet, was wir Heilsgeschichte oder Heilsgeschichten nennen. Wobei, und das ist eine wichtige Bemerkung, Heilsgeschichten durchaus politische Aspekte im umfassendsten Sinne annehmen können. 34. Was wir in der Phänomenologie aber zu betreiben haben, ist keine Auslegung der Heilsgeschichten. Die phänomenologische Analyse des Mythos, deren Fundierung wir aufgewiesen haben, wird Antworten geben auf die Fragen: mit welchen Mitteln, mit welchen Methoden erfaßt man Heilsgeschichten und wie sehen deren Grundstrukturen aus. Heilsgeschichten sind umfassende Mythen. Daneben bestehen partikulare Mythen, ja es gibt sogar persönliche Mythen. Auch deren Gehalte und ihre Bedeutung für unser Dasein wird die Phänomenologie aufzudecken haben.

F R I E D R I C H RAPP

Technik als Mythos Denn die Götter lehren uns, ihr eigenstes Werk nachahmen; doch wir wissen nur, was wir thun, erkennen aber nicht, was wir nachahmen. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre

Aufgabenstellung Das Thema bedarf der Präzisierung. Gefragt ist nicht nach Technik und Mythos an sich, sondern nach dem Wechselverhältnis zwischen beiden Gebieten; einschlägig sind also nur solche Aspekte, die diesen Zusammenhang betreffen. Unter Technik wird dabei in erster Linie die auf der Anwendung von Arbeits- und Kraftmaschinen beruhende moderne Ingenieurtechnik verstanden, die sich seit der Industriellen Revolution allmählich zu ihrer heutigen Gestalt herausgebildet hat. Das Resultat der ingenieurtechnischen Maßnahmen sind die Systeme und Prozesse der Realtechnik1, die uns heute in Form von konkreten, sinnlich faßbaren physischen Artefakten auf Schritt und Tritt umgeben und weithin als , zweite Natur' an die Stelle der vom Menschen unbeeinflußten Naturprozesse getreten sind. Dieser engere Technikbegriff hebt sich ab von dem weitergefaßten Wortgebrauch, demzufolge jede methodische, planvolle und zielgerichtete Verfahrensweise als Technik zu bezeichnen ist. Der Zusammenhang zwischen beiden Bedeutungsvarianten ist offensichtlich, denn die materiellen Systeme und Prozesse der Realtechnik kommen ja gerade durch systematisches (ingenieurtechnisches) Vorgehen zustande. Trotzdem soll im folgenden die Aufmerksamkeit vor allem auf die konkreten technischen Gebilde gerichtet und die Art des methodisch-technischen Vorgehens erst in zweiter Linie berücksichtigt werden, weil durch die Existenz und Funktionsweise der Realtechnik auch alle übrigen Verfahrensweisen (Organisationstechnik, Werbetechnik, medizinische Technik) bedingt sind. Zwischen der gegenwärtigen industriellen Technik und dem Mythos läßt sich nur dann eine Beziehung aufweisen, wenn das mythische Denken in 1

Dieser Ausdruck findet sich bei F.v. Gottl-Ottlilienfeld: Grundriß der Sozialökonomik V — Wirtschaft und Technik. Tübingen 1914, S. 207, wo das „naturbeherrschende an den Naturgesetzen orientierte Handeln" durch Eingriffe in die „sinnfällige Außenwelt" betont wird.

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einem allgemeinen funktionalen Sinne verstanden wird. Denn der eingeschränkte, völkerkundliche Mythosbegriff, demzufolge eine in völliger Distanzlosigkeit akzeptierte heilige Erzählung das verbindliche, vorbildhafte Modell zur Handlungsorientierung und den Bezugspunkt für die Sinndeutung aller Lebens- und Naturvorgänge bildet, ist natürlich auf die Gegenwart der modernen Industriegesellschaften nicht mehr anwendbar. Deshalb wird im folgenden ein genereller Mythosbegriff zugrundegelegt, der sich auf die funktionale Bedeutung von allgemein akzeptierten Vorstellungen und Denkmustern bezieht, die bei individuellen und sozialen Orientierungsund Legitimationsprozessen wirksam sind 2 , auch wenn das Bewußtsein von der Genesis dieser Vorstellungen in mythischen Vorbildern entschwunden ist. Zur Diskussion steht also die Frage, in welchem Umfang das (ingenieurtechnische Handeln der Moderne durch verdeckte mythische Sinnbezüge bestimmt ist. Der Umstand, daß bei Urteilen über die moderne Technik häufig mythisch-religiöse Schlüsselbegriffe wie Fluch und Segen, Dämonie und Erlösung auftreten, oder generell vom Mythos der Maschine3 gesprochen wird, kann dabei als ein erstes Indiz gelten. Derartige Formulierungen werden jedoch in aller Regel unreflektiert und ohne nähere Erläuterung gebraucht. Es ist deshalb zu vermuten, daß hier unterschwellige, dem aufgeklärten Bewußtsein inkommensurable, und deshalb verdrängte, mythische Denkmuster wirksam sind, die dann in entsprechende rationale Konstruktionen umgedeutet werden. Durch diesen Ansatz ist die Gedankenführung der folgenden Untersuchungen vorgezeichnet: Zunächst gilt es, den Gegensatz deutlich zu machen zwischen dem mythischen Denken und dem nüchternen, versachlichten Naturverständnis der Moderne, durch das die dynamische, wissenschaftlich-technische Entwicklung überhaupt erst möglich wurde. In einem zweiten Schritt wird dann aufgezeigt, daß die auf dem Gebiet der deskriptivempirischen Naturforschung eliminierten mythischen Vorstellungen im Bereich der normativ-theoretischen Handlungsentwürfe nach wie vor in verdeckter Gestalt wirksam sind. Diese These ist dann am Beispiel der modernen Technik im einzelnen zu belegen. Den Abschluß bilden einige allgemeine Bemerkungen zum Verhältnis von Mythos und Rationalität. 2

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Der so verstandene Mythosbegriff rückt in die Nähe der im wertneutralen Sinne als weltanschauliches Integrations- und Steuerungssystem verstandenen Ideologie, die E. Lemberg (Ideologie und Gesellschaft — Eine Theorie der ideologischen Systeme. Stuttgart 21974) ausführlich diskutiert. So der Titel von L. Mumfords umfangreichen Werk (Wien 1974, a. d. Engl.); im Klappentext der Taschenbuchausgabe (Frankfurt/M. 1977) heißt es: „Der zweite ,Sündenfall' (Sperrung F. R.) ereignete sich am Beginn der Neuzeit, mit der Mechanik von Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton."

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Aufklärung und Naturbeherrschung Auf den ersten Blick gesehen scheint es allerdings, als ob zwischen Mythos und Technik gar kein positiver Zusammenhang, sondern nur ein Ausschließungsverhältnis bestehen könnte. Wenn man nämlich die gängige Gegenüberstellung von mythischem und wissenschaftlichem Denken akzeptiert, ist die moderne Technik mit ihrer versachlichten, objektivierenden Betrachtungsweise und ihrem methodischen Vorgehen eindeutig dem wissenschaftlichen Denkstil zuzuordnen. Ihrer theoretischen Anlage und ihrer praktischen Gestaltung nach ist die Welt der modernen Industriegesellschaften — prima facte gesehen — durchaus rational strukturiert. In diesem Sinne erklärt M. Bense: „In der technischen Welt, deren konstruktive Verwirklichung in allen Bereichen des ökonomischen, sozialen, intellektuellen und physiologischen Daseins immer deutlicher wird, kann man nicht ohne Intellekt, ohne äußerste Rationalität beheimatet sein. Und dieser Intellekt, diese äußerste Rationalität können nicht in Mythos (Sperrung F. R.), nicht in Kunst bestehen — sie werden Theorie, reine Theorie sein müssen."4 Die Ubereinstimmung zwischen moderner Technik und sachlichem Vernunftdenken gilt nicht nur für die gegenwärtige Situation. Auch ihrer Entstehensweise nach beruht die mit wissenschaftlichen Methoden betriebene Technik auf einem Gegenzug zum mythischen Denken. Für ein Weltverständnis, das alle Handlungen - also auch den Umgang mit der Natur - in einem übergeordneten, durch den Mythos vorbildhaft dargestellten geheiligten Zusammenhang sieht, wäre die schrankenlose Indienstnahme der Naturkräfte, wie sie für das moderne technische Handeln charakteristisch ist, schlechthin undenkbar. Dies aus drei Gründen: Erstens fehlt es dem mythischen Denken, das alle Naturprozesse als eine in sich geschlossene Einheit und den Menschen selbst als integrierenden Bestandteil eines festgefügten, von göttlichen Mächten durchwalteten Kosmos begreift, an der objektivierenden Distanzierung gegenüber der pyhsischen Welt und damit an der unerläßlichen erkenntnistheoretischen Vorbedingung für eine systematische Umgestaltung der Natur. Zweitens ist das mythische Weltbild an periodisch wiederkehrenden, organischen Naturprozessen und rhythmischen Abläufen orientiert. Diese Perspektive läßt also gar keinen Raum für die Idee einer linear fortschreitenden, beständig gesteigerten dynamischen Weltveränderung, so daß auch der psychologische Antneh für ein weitausholendes technisches Schaffen entfällt. Ferner schließt der anthropomorphe, auf Einfühlung und Teilhabe gegründete Denkstil die nüchterne, sachlich kalkulierte experimentelle Erforschung von Naturzusammenhängen aus. Deshalb kann auch das faktische Wissen nicht vorhanden sein, das für komplexe technische Verfahren unerläßlich ist. 4

M. Bense: Technische Existenz. Stuttgart 1949, S. 194.

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In allen diesen Punkten hat die wissenschaftliche Denkweise, die in den Ideen des Rationalismus und der Aufklärung kulminiert, zu einem radikalen Wandel geführt. An die Stelle des umfassenden mythischen Naturverständnisses mit seiner spontanen Identifizierung von Ich und Welt ist die Trennung zwischen subjektiven' Vorstellungen und ,objektiven' Naturprozessen getreten. Erst durch diese Verdinglichung der Natur zu einem Gefüge von Abläufen, die nur ihren eigenen, immanenten Strukturgesetzen unterworfen sind, wird die materielle Welt freigesetzt als ein Objekt für die systematische wissenschaftliche Erforschung und technische Indienstnahme. Damit ist im Prinzip die Möglichkeit einer methodisch betriebenen Naturforschung eröffnet, die an die Stelle anthropomorpher, magisch-animistischer Vorstellungen objektzentrierte Kausalzusammenhänge und Funktionalbeziehungen setzt, die im Wechselspiel von theoretisch-mathematischem Entwurf und experimenteller Untersuchung im einzelnen zu erforschen sind. Für das Fortschrittsdenken der Aufklärung gilt dann die zunehmend mit wissenschaftlichen Methoden betriebene Technik als Vehikel und zugleich als konkret faßbares Beweisstück für die beständige Verbesserung der menschlichen Verhältnisse5. Das Naturverständnis des aufgeklärten, wissenschaftlichen Denkens steht also in deutlichem Gegensatz zum mythischen Weltbild: Der Ubergang von der mythischen Vorstellungsweise zum wissenschaftlichen Denken hat die konsequente und großangelegte Veränderung der vorgefundenen Natur ermöglicht, die durch das technische Handeln beständig „negiert" wird, wobei an ihre Stelle eine bewußt und zielstrebig im Sinne menschlicher Vorstellungen und Bedürfnisse umgestaltete technische „Übernatur" tritt 6 . Der historischen Genesis nach hat sich das aufgeklärte, wissenschaftliche Weltbild erst in einem langwierigen und vielfältig verschlungenen Prozeß mit mannigfachen Übergangsstadien herausgebildet. So lassen sich etwa bestimmte als magisch verstandene Handwerkstechniken durchaus schon als Vorform des technischen Handelns deuten. Die zentrale Figur ist dabei der Schmied, der allein die Geheimnisse der Metallverarbeitung kennt, die für die prähistorische Entwicklung ausschlaggebend ist. Sein Tun wird von magischen Praktiken, Riten und Symbolen begleitet, die durchweg ambivalenten Charakter haben: Sie zeigen, daß man in der Gewinnung und Verarbeitung des Eisens den ersten Schritt in eine neue und gefährdete Dimension des menschlichen Handelns sah, das als freventlicher Eingriff in die göttliche s

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Vgl. dazu R. Koselleck, der in bezug auf das 19. Jahrhundert feststellt: „Dabei stand für alle Zeitgenossen ein Fortschritt außer Zweifel: in Wissenschaft, Technik und Industrie. Er bildete das empirisch ständig einlösbare Substrat, das die Eingängigkeit des Schlagwortes und alle daraus gezogenen Folgerungen abschirmte." (Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von O. Brunner u. a., Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 409). J. Ortega y Gasset: Betrachtungen über die Technik (a. d. Span.). Stuttgart 1949, S. 25f.

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Naturordnung und zugleich als Verheißung einer höheren Kulturstufe empfunden wurde 7 . Die Ambivalenz der Technik und die Gefahr einer hypertrophierenden Technikentwicklung war also der ,Weisheit des Mythos' schon immer geläufig; bestimmte mythische Gestalten, wie z . B . Ikarus und Prometheus bringen das Scheitern der technischen Hybris in anschaulicher F o r m zum Ausdruck 8 . Auch das Streben der Alchimisten nach einer gezielten Umwandlung der Stoffe kann trotz der animistischen Denkweise als Vorbereitung des wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens gelten, weil es hier — ebenso wie in der modernen Naturwissenschaft — darum geht, durch ganz bestimmte Maßnahmen erwünschte Naturprozesse herbeizuführen; in dieser Hinsicht wird also der Traum der Alchimisten durch die moderne Atomphysik erfüllt 9 . D o c h noch F. Bacon, der mit Recht als theoretischer Vorläufer für eine systematische Naturforschung und die Anwendung technischer Erfindungen gilt, sah sich genötigt, seine Vorstellungen dadurch zu rechtfertigen, daß er ausdrücklich auf den gottgewollten und moralisch unbedenklichen Charakter einer systematisch betriebenen Naturforschung hinwies, die keineswegs mit der Hybris des Sündenfalls gleichzusetzen sei 10 . In ähnlicher Weise beriefen sich die Autoren der „Maschinen-Bücher" des 16. —18. Jahrhunderts durchweg auf die biblische Tradition, um die positive Bedeutung der ars medianica nachzuweisen. Dabei ist die biblische Lehre immer mehr im Sinne der Technik uminterpretiert worden: „ D i e Arbeit schafft das Paradies, das Wunder soll natürlich sein", so daß sich das technische Denken dann in der Folgezeit ohne große Widerstände allgemein durchsetzen konnte 1 1 . Gestützt auf die Erfolge der mathematisch-experimentellen Methode und die Leistungen der Technik hat sich seit der Renaissance das mechanische Weltbild und die Auffassung von der Natur als beliebig verfügbarem Objekt allgemein durchgesetzt. Durch die unmittelbar augenfälligen wissenschaftlich-technischen Resultate wurde einem naiven und anthropomorphen Verständnis, das in den Naturprozessen das Wirken personifizierter Gewalten sieht, ein für alle mal der Boden entzogen. Es spricht jedoch für die Beharrlichkeit solcher Vorstellungen, daß die sowjetische atheistische Propaganda nach dem Flug des ersten Sputnik ausdrücklich darauf hinwies, die Raumfahrer hätten im Weltall keinen Gott angetroffen. Relikte des mythi7 8

9 10 11

M . Eliade: Schmiede und Alchemisten (a. d. Franz.). Stuttgart 1960, S. 2 8 - 3 9 . Vgl. dazu die — teilweise kontroversen — Ausführungen von F. K . Schumann: Mythos und Technik (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen - Geisteswissenschaften H . 49). Köln-Opladen 1958. M . Eliade, a . a . O . , S. 209. F . B a c o n : Works (hrsg. von J . Speddingu. a.), Bd. 4. Nachdr. Stuttgart 1962, S. 20. A . Stöcklein: Leitbilder der Technik - Biblische Tradition und technischer Fortschritt. München 1969, S. l l l f .

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sehen Naturverständnisses leben für das moderne Bewußtsein nur in der ästhetischen Naturbetrachtung und im ,Freizeitwert' der Natur in säkularisierter Form weiter. Doch jede neue Etappe in der Naturbeherrschung liefert ein zusätzliches Argument gegen die mythische Naturauffassung. So ist es denn auch keineswegs ein Zufall, daß sich etwa R. Bultmann insbesondere durch das moderne wissenschaftlich-technische Weltbild veranlaßt sah, die Forderung nach Entmythologisierung des Christentums zu erheben12. Der technische Fortschritt Aufklärungsprozesse sind ihrer Natur nach irreversibel. Sobald bestimmte Einsichten in Sachzusammenhänge gewonnen wurden, ist das spontane Verständnis mit seiner unreflektierten Selbstverständlichkeit ein für allemal verschwunden. Ebenso wie im Leben des einzelnen kann auch in der Geistesgeschichte der ursprüngliche Zustand in einem späteren Stadium allenfalls in der hypothetischen Rekonstruktion oder auf höherer Ebene in einer neuen Einfalt wiedergewonnen werden; doch die unmittelbare, schlichte Geltung der früheren Reflexionsstufe ist prinzipiell nicht mehr erreichbar. So ist denn auch das anthropomorphe, mythische Naturverständnis unwiderruflich durch das wissenschaftlich-technische Weltbild abgelöst worden. In bezug auf die theoretische Beschreibung der Strukturgesetze der materiellen Welt stehen Technik und Mythos also zwangsläufig in einem Ausschließungsverhältnis 13 . Wenn man der gängigen wissenschaftstheoretischen Zweiteilung von Tatsachenfeststellungen und Wertaussagen folgt, käme demnach eine positive Beziehung zwischen technischem und mythischem Denken nur noch unter dem Gesichtspunkt des praktischen Handelns infrage 14 . Doch auch in dieser Hinsicht — so scheint es zunächst — schließen Technik und Mythos einander aus. Denn dem gängigen Verständnis nach beruht die moderne Technik nicht nur auf der systematischen Entfaltung und Optimierung der Mittel zur Naturbeherrschung, sondern auch auf der sinnvollen und rationalen Wahl der Ziele, die jeweils verwirklicht werden sollen. In der Tat: Wenn sich nachweisen ließe, daß die Aufgabe der Technik darin besteht, Notsituationen abzuwehren und allgemeinmenschliche — und eben dadurch als sinnvoll ausgewiesene - Lebensbedürfnisse zu befriedigen, wäre auch in

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Vgl. dazu K . Jaspers und R. Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung. München 2 1954. D e r Konzeption von einem animistisch gedachten .liebenden Naturverständnis', das durch bewußt geplante Erziehung herbeigeführt und als zweckrationales Mittel zur Bewältigung der Umweltprobleme eingesetzt werden soll, sind deshalb grundsätzliche Grenzen gezogen. Vgl. K . Kerényi: Das Wesen des Mythos und die Technik, hrsg. von K . H o f f m a n n . München 1975, S. 137.

in: Die Wirklichkeit

des

Mythos,

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bezug auf das praktische Handeln der Einfluß mythischer Denkmuster eliminiert. Für eine derartige Auffassung spricht der Umstand, daß die Technikentwicklung bei summarischer Betrachtung und im Rahmen einer umfassenden, universalhistorischen Perspektive das Bild eines Fortschritts zu immer größerer Leistungsfähigkeit und Effizienz bietet 15 . Das Streben nach technischem Fortschritt scheint demnach Ausdruck eines konstanten anthropologischen Grundbedürfnisses zu sein. Der Mensch als das „nicht festgestellte Tier" 1 6 ist von seiner Naturausstattung her zwangsläufig auf irgendeine Art technischer Weltbewältigung angewiesen, um gegenüber einer weithin feindlichen Natur sein physisches Dasein sichern zu können. Durch seine Verfassung als biologisches „Mängelwesen" 17 wird ihm die Rolle des tool-making animal bzw. des homo faber aufgenötigt. Dem Umstand, daß ein bestimmtes Maß an technischem Werkzeuggebrauch zur Uberlebenssicherung erforderlich ist, trägt jedoch schon ein gleichbleibendes, statisches Niveau der Technikentwicklung Rechnung. Dagegen ist der Wille zur beständigen Steigerung der technischen Leistungsfähigkeit und zur systematisch betriebenen dynamischen Fortentwicklung der jeweils bestehenden oder zu schaffenden technischen Möglichkeiten keineswegs eine naturhafte, sondern eine historische Größe. Die Auffassung, daß eine beständig weitergetriebene und vervollkommnete Technik grundsätzlich erstrebenswert sei, wird uns nicht von der Natur aufgenötigt. Sobald die physische Existenzerhaltung gesichert ist, resultiert die konkrete Zweckbestimmung des technischen Handelns ebenso wie alle anderen Wertvorstellungen und die aus ihnen abgeleiteten Zielsetzungen nicht aus biologischen Zwangen, sondern aus normativen Setzungen, die im Rahmen der historisch tradierten Anschauungen getroffen werden. Die kulturell-normative Bedingtheit des technischen Handelns wird deutlich, wenn man in der historischen Rückschau die unterschiedliche Technikentwicklung in den verschiedenen Hochkulturen ins Auge faßt. So gab es beispielsweise in Indien und im Aztekenreich schon sehr früh einen hochentwickelten Stand der Astronomie, wobei das Erkenntnisinteresse aber ganz den kultischen Zwecken und nicht den Aufgaben der unmittelbaren physischen Lebensbewältigung untergeordnet war. Gegen Ende des Spätmittelalters ist dann das Niveau des technischen Wissens und Könnens in Europa, in den islamischen Ländern und in China insgesamt gesehen durchaus vergleichbar. Trotzdem ist nur in Europa — und hier insbesondere seit der 15

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Dieser Gesichtspunkt wird besonders herausgestellt bei D . Ribeiro: Der Zivilisatorische Prozeß (a. d. Portugies.) Frankfurt 1971. F. Nietzsche: Jenseits von Cut und Böse, in: Werke (hrsg. von K . Schlechta), Bd. 2. München 1956, S. 623. Der von J . G . Herder eingeführte Ausdruck fungiert insbesondere bei A . Gehlen als Schlüsselbegriff (s. Anthropologische Forschung. Reinbek 1961, S. 18).

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Industriellen Revolution — eine stürmische Technikentwicklung eingetreten, die schließlich auf die ganze Erde übergegriffen hat. Bei einer detaillierten Analyse läßt sich denn auch deutlich machen, daß aufgrund der abendländischen geistesgeschichtlichen Tradition gerade in Europa die intellektuellen Voraussetzungen für eine solche groß angelegte und systematisch perfektionierte Technisierung vorhanden waren. Maßgeblich sind hierbei neben dem schöpferischen Schaffensdrang der Renaissance und dem Vernunftdenken des Rationalismus vor allem das innerweltliche Erfolgsstreben und der Fortschrittsoptimismus der Aufklärung18. Letzten Endes sind es also ganz bestimmte Wertauffassungen und damit ein spezifischer Sinnhorizont, die hier den Ausschlag geben : Je nachdem, wie das Selbstverständnis des Menschen, sein Verhältnis zur Natur und die Bedeutung des historischen Geschehens gesehen werden, erscheint eine forcierte Technisierung als wünschenswert oder nicht. Nach der Industriellen Revolution hat dann im Laufe der Zeit die Konzeption von der systematischen Entfaltung und Erweiterung der technischen Handlungsmöglichkeiten auch in den von ihrer Tradition her ganz anders orientierten Kulturen in immer stärkerem Maße Eingang gefunden. Durch die allgemeine Ausbreitung der industriellenTechnik zeichnet sich heute zum erstenmal in der Menschheitsgeschichte das Entstehen einer einheitlichen und universalen wissenschaftlich-technischen Zivilisation ab, die überall auf der Erde die überkommenen Traditionen überformt und weithin auch nivelliert. Was politische Großreiche, Kultursysteme und Weltreligionen nicht vermocht haben, wird durch die moderne Technik erreicht. Neben der handgreiflichen physischen Überlegenheit einer perfektionierten Technik — die etwa bei kriegerischen Auseinandersetzungen deutlich zutage tritt — beruht diese Ausbreitung auf dem Umstand, daß technische Artefakte wegen ihres gegenständlich-materiellen Charakters ohne weiteres von einer technikorientierten Kultur in einen ganz anderen, atechnischen kulturellen und sozialen Kontext übertragen werden können. Doch die dadurch aufgeworfenen mannigfachen Entfremdungsprobleme, die in den Entwicklungsländern bis hin zu einer grundsätzlichen Identitätskrise führen könnten, zeigen, daß die historisch gewachsenen Wertauffassungen und Sinnbezüge, die in Europa den Technisierungsprozeß ermöglicht haben, nicht einfach wie materielle Gegenstände in eine von ihrer Tradition her ganz anders geprägte soziokulturelle Umgebung übertragen werden können. Wegen ihrer unzureichenden und deshalb erweiterungs- und ergänzungsbedürftigen biologischen Ausstattung werden potentiell alle Menschen von den gesteigerten physischen Leistungen der modernen Technik ange18

Näheres dazu findet sich bei F. Rapp: Analytische S. 1 0 8 - 1 2 5 .

Technikphilosophie.

Freiburg 1978,

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sprochen. Doch der Mensch gehört nicht nur der Natur an. Im Gegensatz zu den gesetzmäßig determinierten Prozessen der anorganischen Welt und den fest vorgezeichneten Verhaltensweisen von Pflanzen und Tieren schafft er in schöpferischer Freiheit jeweils seine Kultur und Geschichte. Innerhalb dieses Rahmens ist dann auch die konkrete Einstellung zur Technik stets durch ganz bestimmte Wertvorstellungen und Sinnbezüge bestimmt. Damit ist für das mythische Denken in seiner Funktion als sinnstiftende Instanz grundsätzlich ein Ansatzpunkt für die Zielbestimmung des technischen Handelns gegeben.

Die Gegenwärtigkeit des Mythos In enger Wechselwirkung mit dem Aufschwung der exakten Naturwissenschaften ist der Begriff des .Rationalen' seit dem Beginn der Neuzeit zunehmend auf die technisch-methodische Vorgehensweise eingeengt worden. Neben der experimentellen Methode und dem Ideal der mathematischen Exaktheit ist für diese Entwicklung insbesondere die reflexive Erkenntniseinstellung charakteristisch, die Descartes dann ausdrücklich zum Programm erhoben hat. Dabei verlagert sich das Interesse von der in direktem Zugriff untersuchten Sache selbst, und damit von den inhaltlichen Fragen, auf das jeweils angewandte Untersuchungsverfahren, d. h. auf die formalen, methodischen Prinzipien. Damit wurde ein Weg beschritten, der auf dem Gebiet der Technik schließlich zur systematischen Ausforschung und beständigen Erweiterung der jeweils realisierbaren Aktionsmöglichkeiten geführt hat 19 . Die in dieser Weise wesentlich als formales Instrumentarium entwickelte Rationalität stößt bei der Formulierung und verbindlichen Begründung von inhaltlichen Wertvorstellungen und Sinnbezügen zwangsläufig auf Schwierigkeiten. So haben denn auch die verschiedenen rationalistischen Konzeptionen zu keinem allgemein akzeptierten Kanon von moralischen Verhaltensregeln und erst recht nicht zu einer zwingenden Begründung ethischer Prinzipien führen können. Für das technische Handeln bedeutet dies, daß der Sinnhorizont und die aus ihm abgeleiteten Normen, nach denen die jeweiligen technischen Maßnahmen auszurichten sind, allein mit Hilfe der Ratio nicht verbindlich aufgewiesen werden können. Diese allgemeinen erkenntnistheoretischen Erwägungen finden ihr Gegenstück in den konkreten empirischen Gegebenheiten: Die im Zeichen der Vernunft und des Fortschritts eingeleitete Technikentwicklung hat neben unbestreitbar positiven Resultaten, die kaum jemand missen möchte (Ent19

K. Hübner (Kritik der wissenschaftlichen Vernunft. Freiburg 1978) sieht in diesem Zusammenhang in der auf die Erforschung allgemeiner Strukturen ausgerichteten Kybernetik „eine Art Grundwissenschaft der Technik" (S. 385).

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lastung von physischer Arbeit, vergrößerter Lebensstandard, erhöhte Lebenserwartung) auch unübersehbare negative Wirkungen hervorgebracht (Entfremdung, Umweltbelastung, Rohstoffknappheit, Rüstungswettlauf). Gewiß lassen sich alle derartigen Phänomene in ihren Einzelheiten auf die einschlägigen technischen Funktionszusammenhänge und die jeweiligen Handlungsintentionen zurückführen. Sowohl die Grenzen der rationalen Ethikbegründung als auch die in vieler Hinsicht problematischen faktischen Resultate der Technisierung legen jedoch die Vermutung nahe, daß neben und .hinter' den bewußten und im einzelnen durchaus rationalen Wert- und Zielvorstellungen auch eine vorrationale, durch mythische Traditionen geprägte Einstellung gegenüber der Technik im Spiel ist. In der Tat läßt sich auch heute noch in den verschiedensten Lebensbereichen ein Fortwirken von abgesunkenen mythischen Denkmustern aufweisen 2 0 . Sie kommen in dem Bedürfnis zur Rückkehr in einen ursprünglichen, heilen, paradiesischen Zustand ebenso zum Ausdruck wie in der Sehnsucht nach der Erlösung von den Übeln der Welt durch einen völligen Neubeginn der Geschichte und eine grundsätzliche Umgestaltung der menschlichen Verhältnisse. D a angesichts der Flut wissenschaftlicher Einzelergebnisse die Philosophie kaum mehr in der Lage ist, eine in sich geschlossene und umfassende Gesamtkonzeption zu entwickeln und im Zuge der Säkularisierung die religiöse Sinngebung weithin ihre Verbindlichkeit verliert, wird dem ,metaphysischen Bedürfnis' durch verdrängte, aber deshalb nicht minder wirksame mythische Denkfiguren Rechnung getragen 2 1 . In einer universellen kulturhistorischen und existentiell-anthropologischen Perspektive erweist sich die Fundierung von Wert- und Sinnbezügen in mythischen Denkmustern keineswegs als das bloß unaufgeklärte Relikt eines überholten, primitiven Entwicklungsstadiums, sondern als grundsätzlicher Ausdruck der menschlichen Existenz weise: Der einzelne und die Gemeinschaft, in der er lebt, sind in ihrem Selbstverständnis und ihrem konkreten Lebensvollzug stets auf kulturell tradierte übergeordnete Sinnzusammenhänge angewiesen, die ihnen eine über die bloße Lebenserhaltung hinausgehende Orientierung und ein .sinnvolles' Handeln in einer andernfalls völlig fremden und gleichsam stummen Welt ermöglichen. Der Mensch bedarf deshalb mythischer Sinnbezüge als der, wie J . Pieper defi20

21

Vgl. dazu M. Eliade: The Quest — History and Meaning in Religion. Chicago 1969, Vorwort und S. 125f. sowie den Beitrag von E. Topitsch in dem vorliegenden Band. So kann denn auch M. Eliade in historisch wirksam gewordenen politischen Strömungen, wie dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus, ganz bestimmte mythische Strukturen aufweisen (Die Erlöserrolle des Proletariats und das Ende der Geschichte in einem goldenen Zeitalter bzw. der Endkampf zwischen Göttern und Dämonen): Mythen, Träume und Mysterien (a. d. Franz.). Salzburg 1961, S. 2 2 - 2 4 .

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niert, „gestalthaften Konzeptionen letzter Grundstrukturen unseres Daseins" 2 2 . Diesen Aspekt betont auch L. Kolakowski: „Die mythische Organisation der Welt (d. h., die Regeln, die das Verstehen der empirischen Realitäten als sinnvoller gewährleisten) ist in der Kultur permanent gegenwärtig." 2 3 Die der Rationalität vorausliegende Fundierung der alltäglichen Lebenspraxis und der wissenschaftlichen Fragestellungen durch die „ Wertungs- und Triebbedingtheit alles Wahrnehmens und Denkens bezüglich der Gesetze der Auswahl ihrer möglichen Gegenstände, aber nicht minder ursprünglich all unseres Handelns" sieht auch M. Scheler. In seinen Untersuchungen über die Wissenssoziologie kommt er zu dem Ergebnis, daß der „ Wille zur Herrschaft und Lenkung schon die Denk- und Anschauungsmethoden wie die Ziele des wissenschaftlichen Denkens mitbestimmt und zwar gleichsam hinter dem Rücken des Bewußtseins der Individuen." 24 Es fällt nicht schwer, diese erkenntnistheoretisch und entwicklungspsychologisch gedachten Überlegungen mit dem mythisch inspirierten Bild von der Herrschaft des Menschen über die Erde in Zusammenhang zu bringen. Dabei steht der von seiner sinnstiftenden und handlungsorientierenden Funktion her verstandene Mythos grundsätzlich nicht auf derselben Ebene wie die an ihrer empirischen Überprüfbarkeit zu messenden naturwissenschaftlichen und technischen Untersuchungen. Er hat vielmehr eine metatheoretische Funktion, indem er überhaupt erst bestimmte Phänomene und Prozesse unter ganz spezifischen Fragestellungen als interessante naturwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände und sinnvolle technische Manipulationsobjekte auszeichnet. Die als faktisches Zutreffen verstandene Sachadäquatheit und die eben dadurch gegebene praktische technische Anwendbarkeit der so gewonnenen Erkenntnisse lassen sich jedoch unabhängig von dem initiierenden Interessenhorizont feststellen. Innerhalb des jeweiligen theoretischen Ansatzes und der vorgegebenen praktischen Aufgabenstellung können die Stimmigkeit wissenschaftlicher Untersuchungen und die Leistungsfähigkeit technischer Verfahren auch ohne Bezug auf den weiteren Kontext beurteilt werden; sie sprechen dann gleichsam für sich selbst. Eben deshalb konnte der Eindruck entstehen, als seien mit der Elimination des Mythos als Prinzip für die Erklärung der Prozesse der materiellen Welt auch die mythischen Denkstrukturen überhaupt beseitigt worden, während in Wirklichkeit die Funktion des in weiterem Sinne verstandenen Mythos als Letztbegründungsinstanz für die Konstitution von Sinnbezügen nur partiell substituierbar ist. 22 23 24

Diskussionsbemerkung zu F. K. Schumann, a . a . O . , S. 47. Die Gegenwärtigkeit des Mythos (a. d. Poln.). München 1973, S. 15. Die Wissensformen und die Gesellschaft. Bern 1960, S. 93 f.

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So müssen denn auch in abgewandelter Form in allen rationalistischen Konzeptionen stets bestimmte Axiome, die nicht mehr auf ihre Herkunft und Rechtfertigung hin zu befragen sind, als schlechthin gegeben vorausgesetzt werden, da andernfalls gar kein Ausgangspunkt für das schlußfolgernde Denken gegeben wäre 25 .

Die Technik als mythische Instanz Uber den genannten grundsätzlichen Zusammenhang hinaus lassen sich bei näherem Zusehen weitere Punkte anführen, die auf eine Beziehung zwischen Technik und Mythos hindeuten. Beide, Technik und Mythos, sind Schöpfungen des Menschen. Im Fall der Technik ist dies offensichtlich, denn in der sich selbst überlassenen Natur gibt es keine technischen Systeme und Prozesse. Doch auch der Mythos existiert nicht von sich aus. Die verschiedenen Formen mythischer Erzählung und das poetische, spielerische Element beim Entstehen neuer Mythen zeigen ebenso wie die überreiche, produktive Fülle der Variationen, daß auch der Mythos auf einer kreativen Leistung beruht 26 . Nun zeichnen sich allerdings tatsächlich lebensbedeutsame — bewußte oder unbewußte — mythische Vorstellungen dadurch aus, daß man in ihnen keine willkürlichen und beliebigen Konstruktionen sieht, sondern sie als vorgegebene und schlechthin verbindliche Normen akzeptiert, die der menschlichen Willkür und dem persönlichen Dafürhalten grundsätzlich entzogen sind. Eben diese Distanzlosigkeit sichert den mythischen Vorbildern ihre sinnstiftende und normierende Funktion. Ganz im Gegensatz dazu beruht die moderne Technik auf bewußter Konstruktion, wohlüberlegten Entscheidungsprozessen und zielgerichteter Planung. Doch dieser Unterschied wird relativiert, wenn man statt der Entstehensweise die Art des Gegebenseins ins Auge faßt. Dann zeigt sich nämlich, daß die Technik, die uns heute von allen Seiten umgibt und damit zu unserer ,zweiten Natur' geworden ist, in ihrer faktischen Existenz ebenfalls eine vorgegebene, nicht mehr aufhebbare Größe darstellt. Während für das unaufgeklärte' Bewußtsein der Mythos die maßgebliche Bezugsgröße bildet, ist in unserer verwissenschaftlichten Welt der technische Fortschritt zur entscheidenden Instanz geworden, von dem die Zukunft der Menschheit abhängt. In diesem allgemeinen Sinne ist also die moderne Technik ebenso wie der Mythos eine Macht von schicksalhafter Lebensbedeutung. 25

26

K. Hübner, a . a . O . , S. 385 weist auf die geschichtliche Bedingtheit derartiger Letztbegründungen hin. Vgl. dazu die Ausführungen über „Mythos als Spielphase der Kultur" in dem von F. Schupp herausgegebenen Sammelband: Mythos und Religion. Düsseldorf 1976, S. 159f.

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Wegen ihrer dominierenden Funktion in der konkreten Lebenspraxis kommt der Technik zwangsläufig eine wesentliche Rolle für die Strukturierung unserer Erfahrungen zu. Der technische Fortschritt und der durch ihn bedingte moderne Lebensstil geben weithin den Bezugsrahmen für die Sinndeutung der individuellen und sozialen Existenz vor und bestimmen damit auch die Handlungsanweisungen, nach denen die konkrete Daseinsgestaltung erfolgt. Damit steht die moderne Technik im Sinne der normativen Kraft des Faktischen' grundsätzlich in Analogie zu der zentralen Funktion des Mythos als strukturierende und sinnstiftende Instanz. Dieser Zusammenhang bedarf allerdings der Erläuterung; es muß verdeutlicht werden, auf welche Weise die in ihren Details durch nüchterne, sachliche Zweckbestimmung entstandenen, und zunächst nur faktisch vorhandenen technischen Mittel,hinter dem Rücken' der Handelnden zu einer selbständigen, normativen mythischen Instanz werden können. Der bloße Umstand der faktischen Lebensbedeutung reicht hier zur Erklärung nicht aus. Entscheidend ist die anthropologische Grundverfassung unseres Daseins: Wir können gar nicht ,menschlich' leben ohne übergeordnete Sinnbezüge, die uns die Normen für das Welt- und Selbstverständnis vermitteln. Als wertendes, sinn- und orientierungsbedürftiges Wesen ist der Mensch in der säkularisierten und gleichzeitig technisierten Welt zunächst immer an die von ihm selbst geschaffene Technik verwiesen. Sie ist beständiges Vehikel und allgegenwärtiges Gegenüber seiner physischen Aktionen. Wegen ihres gegenständlichen Charakters und der vielfältigen funktionalen Sachzusammenhänge, an die alles technische Handeln gebunden ist, tritt die technisierte Umwelt — obwohl sie nur eine Schöpfung des Menschen ist — uns gleichwohl wie eine selbständige Macht gegenüber, deren ,Eigengesetzlichkeit' manchen Beobachtern ebenso unaufhebbar erscheint, wie dem mythisch orientierten Menschen das Walten der personifizierten Naturkräfte. Nun ist im Rahmen der Technokratiediskussion und der neomarxistischen Technikkritik deutlich geworden, daß sich die vermeintlichen Sachgesetzlichkeiten der technisierten Welt immer analytisch aufschlüsseln lassen in hypothetisch-instrumentelle Handlungsanweisungen, die lediglich im Hinblick auf vorgegebene Zielsetzungen gelten27. Doch ähnlich wie durch die Psychoanalyse für die individuelle Sphäre nachgewiesen wurde, daß unverarbeitete Erlebnisse, auch wenn sie theoretisch durchschaubar sind, gleichwohl ihre praktische Lebensbedeutung behalten, so wird auch im sozialen Maßstab durch die Einsicht in die Struktur der technischen Sachzusammenhänge deren prägende Kraft keineswegs aufgehoben. Dies macht den dialektischen Umschlag verständlich: Die mit immanent rationalen und effizienten 27

Dies wird näher ausgeführt in F. Rapp, a . a . O . , S. 68—75.

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Verfahren betriebene Technik wurde in engem Zusammenwirken mit den Naturwissenschaften im Gegenzug zum mythischen Naturverständnis etabliert. Doch das Bedürfnis nach einer höheren, überpersönlichen Sinngebung hat sich dann an die im Zeichen des aufgeklärten Fortschritts geschaffene Technik geheftet, die sich wegen ihrer dominierenden Funktion zwangsläufig als normative Bezugsinstanz aufdrängte. Neben dieser ex post-Mythisierung ist die moderne Technik jedoch auch von ihrem Ursprung her immer an mythisch-utopische Denkmuster gebunden. Methodisch gesehen beruht der Aufschwung der modernen Technik auf dem Umstand, daß mit der versachlichten mathematisch-experimentellen Naturauffassung und der systematischen wirtschaftlichen Nutzung technischer Erfindungen ein Weg beschritten wurde, bei dem sich die einzelnen Komponenten wechselseitig aufschaukeln und so zu einer beständigen qualitativen und quantitativen Expansion führen. Dabei gründete das Pathos des technischen Fortschritts im Zuge des aufgeklärten Nützlichkeitsstrebens stets in der mythischen Denkfigur einer neuen, besseren, heilen Welt, die mit Hilfe der Technik hergestellt werden soll. Dies kommt auch in Formulierungen der Zeitgenossen deutlich zum Ausdruck; so trägt etwa ein 1833 erschienenes Buch den bezeichnenden Titel „The Paradise within the Reach of All Men without Labour by Powers of Nature and Machinery" 2 8 . Hier wird der Mythos im handgreiflich-empirischen Sinne ernstgenommen: Die ursprünglich als transzendent gedachte Heilserwartung soll nun in säkularisierter Form durch die Technik konkret und innerweltlich verwirklicht werden. Schon vorher war der biblisch-christliche Mythos zunehmend im Sinne des technischen Fortschritts uminterpretiert worden. In rationaler Gestalt tritt die Denkfigur der Heilserwartung in den verschiedenen Utopien auf, für die seit F. Bacons „Nova Atlantis" (1624) der technische Fortschritt ein wesentliches Vehikel bildet. Dabei gehen zwei heterogene Elemente eine eigentümliche Verbindung ein: Das ursprünglich einer außerweltlichen, symbolischen, mythisch-sakralen Sphäre zugerechnete Heilsgeschehen liefert die Zie/richtung, während die A/iííe/findung auf der vernunftorientierten, aufklärerischen Konzeption der gezielten, planvollen Umgestaltung der materiellen Welt beruht. Indem die zunächst auf physische Prozesse beschränkte Vorstellung des technischen Konstruierens in zunehmendem Maße auch auf die menschlichen Verhältnisse übertragen wird, entsteht schließlich für den sozialen Bereich die Vision einer utopischen Gesellschaft, 28

J. A . Etzler, Erstausgabe Pittsburgh, Pa.; drei Ausgaben in London ( 1 8 3 6 - 1 8 4 2 ) ; deutsche Ubersetzung in U l m 1844. Vgl. ferner W . Trautmann: Utopie und Technik. Berlin 1974. In diesen Kontext gehört auch die Hoffnung, durch die (medizinische) Technik dem Tod zu entgehen und die persönliche Unsterblichkeit zu sichern.

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in der durch geeignete organisatorisch-institutionelle Regelungen alle individuellen und sozialen Unzulänglichkeiten aufgehoben werden können. Dem unbefangenen Betrachter kann nicht verborgen bleiben, daß den Zeitgenossen die Technik heute weithin als sakrale Instanz erscheint. So schreibt etwa R. Barthes: „Ich glaube, daß das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist. Ich meine damit: eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet." 29 Technische Neuerungen wie der Flug ins All, die erfolgreiche Erprobung von Prototypen, die Einweihung komplizierter Bauwerke oder die Eröffnung eines Automobilsalons werden mit Emphase und rituellem Zeremoniell gefeiert. Der technische Fortschritt gilt (noch) als schlechthin sakrosankte, unantastbare Instanz. Wer es wagt, hier eine nüchterne Güterabwägung zu fordern, gerät schnell in den Verdacht, ein wirklichkeitsfremder Bilderstürmer zu sein. Die allgemeine Schwierigkeit, sich eine Welt ohne beständigen technischen Fortschritt vorzustellen und sie — jenseits aller sozialen Verteilungskämpfe — innerlich zu bejahen, zeigt deutlich, wie sehr heute die Entwicklung der Technik weit über ihre bloße Nützlichkeitsfunktion hinaus als Sinngebung der Geschichte verstanden wird. In dieselbe Richtung weist auch die Indifferenz gegenüber vermeidbaren technikbedingten Unfällen, die wie Naturereignisse als schicksalhafte Fügungen hingenommen werden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ferner die Einstellung der Forscher und Ingenieure, auf deren Arbeit der technische Fortschritt beruht. Ihre subjektive Haltung ist keineswegs durch sachlichen Kalkül und Nützlichkeitserwägungen bestimmt, sondern durch die Idee der Opferbereitschaft. In diesem Sinne kannG. Goldbeck für das 19. Jahrhundert feststellen: „Die Frage, ,ob die ganze Sache einen Zweck gehabt hat, ob die Menschen dadurch glücklicher geworden sind', die Rudolf Diesel einmal inmitten seiner Arbeit geäußert hat, lag im allgemeinen gänzlich außerhalb des Gedankenkreises dieser Männer." In unreflektierter Hingabe an ihre ingenieurtechnische Arbeit, die sie als überpersönliche Aufgabe empfanden, eilten sie „unbefangen von Ereignis zu Ereignis und von Fortschritt zu Fortschritt" 30 . Ein weit über die nüchterne, sachliche Funktion als zweckdienliches Mittel hinausgehendes mythisch überhöhtes Technikverständnis kommt auch darin zum Ausdruck, daß man der technischen Entwicklung neben heiligen und

29 30

R. Barthes: Mythen des Alltags (a. d. Franz.). Frankfurt/M. 1964, S. 76. G . Goldbeck: Technik als geistige Bewegung in den Anfängen des deutschen Industriestaates (Technikgeschichte in Einzeldarstellungen Nr. 8). Düsseldorf 1968, S. 76.

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verehrungswürdigen Zügen auch dunkle und feindliche Kräfte zuspricht, was etwa in der Redeweise vom Fluch oder von der Dämonie der Technik 31 zum Ausdruck kommt. Das positiv-sakrale und das negativ-dämonische Technikverständnis schließen einander jedoch keineswegs aus. So ist im Rahmen der zeitgenössischen Technikkritik vielfach bei ein- und demselben Autor neben einer radikalen Technikverneinung zugleich eine ebenso extreme Technikbejahung festzustellen: Der einseitig negativ bewerteten gegenwärtigen ,unmenschlichen' Technik wird dabei die utopische Vision einer zukünftigen ,befreiten' Technik gegenübergestellt, die jede Art von Entfremdung aufheben und die völlige Harmonie des Menschen mit der Natur herstellen soll. Nun ist es angesichts der unverkennbaren praktischen Lebensbedeutung der modernen Technik durchaus natürlich, daß ihr bei der Analyse der gegenwärtigen Situation und beim Ausblick auf die künftige Entwicklung eine zentrale Rolle zugebilligt wird. Problematisch ist jedoch die Verbindung von zwei — wissenschaftstheoretisch gesehen — grundsätzlich inkompatiblen Denkmustern. Dies zeigt, daß es hier nicht um empirisch einlösbare Zusammenhänge geht, sondern letzten Endes um das mythische Bild eines Lebens unter dem Zeichen des Sündenfalls und um die Vision einer künftigen Erlösung. In einschlägigen Abhandlungen werden solche mythischen Denkmuster zwar nicht ausdrücklich formuliert oder als Beweisgrund herangezogen. Äußerlich gesehen sind die Gedankenführung und die jeweils vorgebrachten Überlegungen durchaus im Stil einer sachlichen Analyse und Kritik gehalten. Doch die mythischen Denkfiguren bilden den unausgesprochenen Hintergrund, von dem her die andernfalls gar nicht nachvollziehbaren Argumente erst verständlich werden. Weder nüchterne Erwägungen noch die realen Möglichkeiten bilden den eigentlichen Bezugspunkt, sondern die grundsätzliche Dichotomie zwischen der vorhandenen, sündigen, verderbten Welt und einer ganz anderen, heiligen, befreiten, jenseitigen' Welt, wobei das einzig erstrebenswerte Ziel darin gesehen wird, dieses neue Reich herzustellen, weil nur dort ein erfülltes Dasein möglich sei. Elemente eines solchen mythischen Denkens finden sich ζ. B. bei I. Illich, der in einem durchaus rational konzipierten Ansatz die Schranken aufzeigen will, jenseits derer die Werkzeuge und Maschinen der industriellen Technik dem Menschen mehr schaden als nutzen. In der Diktatur des Proletariats und in der „Freizeit-Zivilisation" sieht er nur zwei Varianten einer ständig expandierenden Beherrschung durch den „industriellen Apparat". Seine Schlußfolgerung lautet: „Die Lösung der Krise macht eine radikale ,Umstülpung' erforderlich. Nur durch eine Umkehr der Grundstruktur (Sper31

Vgl. H. Sachsse (Hrsg.): Technik und Gesellschaft - Bd. 1 Literaturführer. S. 158f. sowie Anm. 3.

Pullach 1974,

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rungen F. R.), welche die Beziehung des Menschen zum Werkzeug regelt, können wir ein dem Menschen angemessenes Werkzeug schaffen." 32 Nach Iiiich ist die gegenwärtige wissenschaftliche Forschung auf technisches Effizienzstreben und die Verwaltung von Menschen gerichtet: „Um den Menschen zu erlauben, sich zu entfalten, muß die zukünftige Forschung eine umgekehrte Richtung einschlagen. Wir wollen sie radikale Forschung nennen. Die radikale Forschung verfolgt ebenfalls zwei Ziele: einerseits will sie Kriterien liefern, die erlauben zu bestimmen, wann ein Werkzeug sich einer Schwelle der Schädlichkeit nähert; andererseits will sie Werkzeuge bauen, die das Gleichgewicht des Lebens optimieren und mithin die Freiheit eines jeden maximieren, [ . . . ] um [ . . . ] optimale gerechte Verteilung und schöpferische Autonomie zu sichern." 33 Hier wird eine irrationale und letzten Endes nur mythisch faßbare Konversion vollzogen. Die heillose, böse, wissenschaftliche Forschung, die vorher ganz auf die Reduzierung des Menschen gerichtet war, soll nun, durch eine grundsätzliche Umkehr, das Heil und die Befreiung sichern. Dabei ist jedoch der nach wie vor maßgebliche technokratische Ansatz unverkennbar, so daß von einem prinzipiellen Neubeginn gar keine Rede sein kann. Die für den mythischen Denkstil in der modernen, versachlichten Welt charakteristische Verbindung von appellativer Suggestivkraft und praktischpragmatischem Unvermögen tritt besonders deutlich bei H. Marcuse hervor. Bei ihm geht die totale Verwerfung der gegenwärtigen Technik eine Verbindung ein mit der ebenso unbedingten Erwartung einer ganz anderen, neuen Welt, wobei „Wissenschaft und Technologie die großen Vehikel der Befreiung sind" 34 und die vollständige Automation „die geschichtliche Transzendenz zu einer neuen Zivilisation" eröffnen soll 35 . Für Marcuses Denken sind zwei komplementäre Elemente charakteristisch: Erstens, die kompromißlose Ablehnung jeder vermittelnden, ausgleichenden, pragmatischen Lösung und das Insistieren auf einer herzustellenden, von der gegenwärtigen toto coelo verschiedenen, anderen Welt. Dieses Denkmuster wird konsequent durchgehalten und findet in der ständigen Wiederkehr von Wendungen wie „neues Bewußtsein", „neue Sensibilität", „neues Realitätsprinzip", „radikaler Wandel", „radikale Opposition" seinen Ausdruck36. Kennzeichnend ist sein Hinweis darauf, daß der Begriff „Verelendung" so gefaßt werden müsse, „daß er auch auf ein Vorstadthaus mit Auto, Fernsehgerät usw. zutrifft., Verelendung' bedeutet das absolute Bedürfnis und die absolute Notwendigkeit unerträgliche Existenzbedingungen umzuwälzen.37 32 34 35 36 37

33 J. Illich: Selbstbegrenzung (a. d. Engl.). Reinbek 1975, S. 30f. Ebd., S. 142. H . Marcuse: Versuch über die Befreiung (a. d. Engl.). Frankfurt 1969, S. 27. H . Marcuse: Der eindimensionale Mensch (a. d. Engl.). Neuwied 1967, S. 57. Etwa in: Versuch über die Befreiung, S. 49, 57, 62, 98, 103, 126, 128. Der eindimensionale Mensch, S. 46.

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Es fehlt jedoch zweitens jeder Hinweis darauf, durch welche konkreten Maßnahmen die postulierte ganz andere, neue Welt zu verwirklichen ist. Ja, es wird sogar davon gesprochen, daß es unmöglich sei, „die Formen zu antizipieren, in der befreite Menschen ihre Freiheit gebrauchen werden." 3 8 Hier stoßen das mythisch inspirierte Idealbild einer ganz anderen, neuen, heilen, befreiten Welt und die realiter gegebenen komplexen sozialen und technologischen Funktionszusammenhänge der industriellen Massengesellschaft unvermittelt aufeinander, wobei die politische Systemneutralität der anstehenden Probleme darauf hindeutet, daß die allgemein erwünschten Leistungen der Technik auch ihren unabdingbaren Preis fordern. Nur wer die Technik als unbegriffene, fremde und undurchschaubare Macht erfährt und ihr mythisch-magisch überhöhte Züge verleiht, kann in ihr das unbedingt verwerfliche Instrument der Repression und im selben Atemzug das schlechthin befreiende Vehikel einer besseren Welt erblicken 39 .

Mythos und Rationalität Wenn man einmal unterstellt, daß die hier vorgetragenen Thesen über die mythischen Elemente im bisherigen Verlauf der Technisierung im wesentlichen zutreffen, bleibt gleichwohl die entscheidende Frage unbeantwortet, wie das Spannungsverhältnis zwischen mythischen Denkfiguren und aufgeklärter Rationalität für die künftige Technikentwicklung bewältigt werden soll. Die Schwierigkeit liegt darin, daß einerseits der Aufklärungsprozeß, der neben der wissenschaftlichen Beschreibung und Analyse der Phänomene der realen Welt auch die relativierende philosophische Reflexion bezüglich der Formulierung und Begründung von Wertordnungen und Sinnzusammenhängen betrifft, ein irreversibles Phänomen darstellt, während sich doch andererseits der Mensch in seiner konkreten Lebenspraxis immer an fraglos akzeptierten Wert- und Sinnbezügen orientiert, die historisch vermittelt und letzten Endes nach wie vor weithin mythisch strukturiert sind 40 . Als Lösungsmöglichkeit könnte man hier eine rationalistische Flucht nach vorn ins Auge fassen, bei der die überzeitlich gedachte, für alle vernünftigen Wesen maßgebliche Ratio und die Autonomie des mündigen Individuums

38 39

40

Versuch über die Befreiung, S. 39. Eine kritische Diskussion von Marcuses Auffassungen geben u. a. J. Habermas (Hrsg.) ¡Antworte« auf Herbert Marcuse. Frankfurt 1968 (aus neomarxistischer Sicht); H. Lenk (Hrsg.): Technokratie als Ideologie. Stuttgart 1973, S. 112—124 (in analytisch-planungstheoretischer Perspektive); H. Sachsse: Technik und Verantwortung. Freiburg 1972, S. 8 9 - 9 4 (thematisiert das Lustprinzip) sowie W . R. Glaser: Soziales und instrumentales Handeln. Stuttgart 1972, S. 9 2 - 1 0 2 , 187 (betont die Funktionsbedingungen). Vgl. dazu den Beitrag von H. Poser in dem vorliegenden Band.

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den schlechthin verbindlichen Bezugspunkt bilden, von dem aus alle .unaufgeklärten' mythischen Konzeptionen zu beurteilen wären. Doch ohne eine konkrete inhaltliche Bestimmung, die immer nur historisch vermittelt sein kann und damit zwangsläufig auch tradierte, unbewußt wirksame mythische Elemente einschließt, ist die Ratio nur ein abstraktes, formales, instrumentelles Vermögen. Es kommt also alles darauf an, wie in einer historischen Situation die Rationalität inhaltlich festgemacht wird, und welche mythischen Sinnbezüge dabei zur Geltung kommen. Es liegt in der Natur der Sache, daß eine bestimmte mythische Konzeption, ebenso wie jede andere inhaltlich ausformulierte sinnstiftende Letztbegründung immer in einer doppelten Rolle auftritt: Als Artikulation des letzten, wesentlichen und umfassenden Wert- und Sinnhorizonts erschließt sie allererst für den einzelnen und die Gesellschaft eine bestimmte Möglichkeit des Menschseins, die in dem jeweiligen Selbstverständnis und den konkreten Handlungsintentionen ihren Ausdruck findet. Der damit gegebene Absolutheitsanspruch führt aber gleichzeitig auch dazu, daß bestimmte Vorstellungen ,dogmatisiert' werden. Deshalb verschließt ein letztbegründender Mythos zwangsläufig gegenüber anderen, abweichenden Ideen. Damit erweist sich die Möglichkeit der Sinnentstellung als unvermeidbares Korrelat einer unbedingten Sinnstiftung. Die eigentliche Wirklichkeit des mythischen Vorbildes kann sich deshalb aufgrund der Kritik, die im Namen einer anderen Bezugsinstanz geführt wird, gleichwohl als irreführender Schein erweisen. Diese unaufhebbare Ambivalenz teilt der Mythos mit der ihm verwandten — im funktionalen Sinne verstandenen — Ideologie, die je nach Akzentuierung bei positiver Bewertung als sinnkonstituierende Weltanschauung bejaht oder in negativer Perspektive als sinnentstellendes ,falsches Bewußtsein' abgelehnt werden kann. Dabei ist jedoch festzuhalten, daß die positivistisch-szientistische Redeweise von Schein und Wirklichkeit hier nur im übertragenen Sinne zu verstehen ist, weil es an einem außerhalb der Sache selbst liegenden verbindlichen Beurteilungsmaßstab fehlt, der als Analogon zu der bei realwissenschaftlichen Theorien gegebenen empirischen Uberprüfbarkeit fungieren könnte. Hier ist vielmehr stets ein Bezugspunkt und damit eine bestimmte Perspektive erforderlich, von der aus dann überhaupt erst ein Urteil möglich wird. Bei der Wahl eines solchen Standpunktes ist die Hilfestellung der Ratio unverzichtbar. Doch allein durch ,vernünftige' Überlegungen lassen sich bestimmte individuelle und soziale Wert- und Sinnbezüge inhaltlich nicht zwingend vorschreiben: Die Ethik läßt sich nicht auf die Logik reduzieren. Uber die rationale Bestimmung hinaus ist hier in jedem konkreten Fall ein nur historisch und zugleich existentiell einlösbares Moment an persönlicher und gesellschaftlicher Entscheidung gefordert, wobei die mythischen Hintergrundvorstellungen zwangsläufig ins Spiel kommen.

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In Wirklichkeit besteht denn auch gar kein strenges Ausschließungsverhältnis zwischen Mythos und Rationalität. Das abendländische rationale Denken hat sich historisch gesehen allmählich aus mythischen Vorstellungen heraus entwickelt, wobei die mythischen Konzeptionen in abgewandelter und ,aufgehobener' Form vielfältig weiterwirken. Und in systematischer Hinsicht betrifft das mythische und symbolische Verständnis eine tiefere, vorrationale Sphäre, die in der objektivierenden theoretischen Reflexion zwar intentional erfaßt, doch in ihrem eigentlichen Sinngehalt und ihrer tatsächlichen Lebensbedeutung begrifflich nicht restlos aufgelöst werden kann. Für den Umgang mit der heutigen Technik kommt deshalb die letzten Endes mythisch konzipierte Aufhebung aller gegenwärtigen Unzulänglichkeiten und Probleme, die angesichts der Funktionsgesetze der modernen Welt von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, ebensowenig in Frage, wie ein blindes, unreflektiertes Agieren, das auf einer nicht hinterfragten und nur immanent rationalen Mittelperfektionierung beruht. Dabei bewahrt die Beschränkung auf das konkret Mögliche vor der lähmenden Frustration, die sich bei grundsätzlich unerfüllbaren Maximalpostulaten zwangsläufig einstellen muß.

H A N S POSER

Mythos und Vernunft Zum Mythenverständnis der Aufklärung 1. Einleitung Wenn — mit Kant — Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit vermittels des eigenen Verstandesgebrauchs ist, und wenn man — mit de Vries — „im Zeitalter der Aufklärung von vornherein nicht erwarten kann, daß man für den wahren Charakter der Mythologie ein richtiges Verständnis aufbringen konnte" 1 , so tritt eine Spannung zutage, die durch das Zurückbleiben der Aufklärung hinter ihren eigenen Zielen auf der einen Seite und durch de Vries' Rekurs auf einen unexplizierten ,wahren Charakter der Mythologie' auf der anderen Seite nur gemildert, nicht aber aufgehoben wird: Diese Spannung zwischen Vernunft und Mythos beruht auf dem Anspruch, das lumen naturale der aufgeklärten Ratio könne alles auflösen, was in Mythen gesagt und gemeint ist, während Eliade und W. F. Otto, Kerényi und C. G. Jung, Lévi-Strauss und Kolakowski die Resistenz, ja die „Gegenwärtigkeit des Mythos" betonen. Doch die darin zum Ausdruck kommende neue und gegenüber der Aufklärung veränderte Auffassung berechtigt keineswegs zu der Annahme, die Auseinandersetzung mit dem Mythenverständnis der Aufklärung sei überflüssig oder gar sinnlos, — im Gegenteil; denn nirgend sonst ist die Entgegensetzung von Vernunft und Mythos, die allen heutigen affirmativen wie negativen Sprechweisen vom Mythos zugrundeliegt, so dezidiert vertreten worden. Die Parallele zwischen jenem sapere aude und den aufklärerischen Tendenzen der Gegenwart — sei es in der Forderung nach dem mündigen Bürger, nach Emanzipation oder nach kritisch-rationaler Entmythologisierung 2 — zeigt, daß wir heute in eben jenem Spannungsfeld stehen. Eine Behandlung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts erscheint damit doppelt legitimiert. 1

2

Jan de Vries: Forschungsgeschichte der Mythologie (= Orbis Academicus I. 7), FreiburgMünchen 1961, S. 83. Vgl. Hans Albert, Traktat Uber kritische Vernunft, Tübingen 2 1969, der Bultmanns „Entmythologisierung als hermeneutisches Unternehmen" gebrandmarkt (S. 108ff.) und das hermeneutische Denken als Fortsetzung der „exegetischen Praxis dogmatischer Wissenschaften" (S. 141) angeprangert hat.

Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung

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N u n wird sich das Mythenverständnis der Aufklärung angesichts einer solchen Fragestellung nicht vom Begriff der Mythen, den das 18. Jahrhundert zugrunde legte, entfalten lassen; um auch dem heutigen Mythenverständnis Rechnung tragen zu können, ist es vielmehr erforderlich, eine Abgrenzung der Begriffe ,(der) Mythos' und ,die Mythen' vorzunehmen. Diese Abgrenzung kann weder den,wahren Charakter' der Mythologie zum Inhalt haben (auf den Begriff Mythologie wird nachfolgend gänzlich verzichtet), noch soll überhaupt vorausgesetzt werden, daß sich eine Definition angeben ließe, die echte von unechten Mythen, Mythen von Märchen, Riten von Mythen trennen oder aufeinander zu beziehen beansprucht 3 . Stattdessen soll methodisch von einer Familienähnlichkeit dessen ausgegangen werden, was zu den Mythen gezählt wird. Hieran läßt sich die heutige Verwendung des Wortes ,der Mythos' (wie ,Mythos Philosophie',,Mythos der Technik', ,Vernunft als Mythos') und damit die Auffassung von der ,Gegenwärtigkeit des Mythos' begrifflich nur anbinden, wenn man zwischen den unmittelbaren Eigenschaften mythischer Erzählungen einerseits und deren tieferliegenden Funktionen andererseits unterscheidet; von ,dem Mythos' läßt sich dann sprechen, wenn man nur diese Funktionen im Auge hat 4 : So ist es möglich, daß etwas als der Mythos die Funktion der Mythen hat, ohne doch deren Eigenschaften — beispielsweise eine Erzählung zu sein — haben zu müssen. — Einzelne Eigenschaften oder Funktionen schließlich lassen sich als ,Elemente des Mythischen' bezeichnen. Nach diesen einleitenden Bemerkungen können wir uns unserem Thema zuwenden. Die Überlegungen gliedern sich in eine Darstellung des Mythenverständnisses der Aufklärung und dessen Ausweitung zur Religionskritik, hieran wird sich eine Betrachtung von Gegenbewegungen in der Poetik und in den Maurerlogen anschließen, die mythischen Elementen Raum geben. Z u m Abschluß soll versuchsweise eine Summe im Hinblick auf das Verhältnis von Vernunft und Mythos gezogen werden. 2. Die Mythendeutung des 18. Jahrhunderts Als 1715 die Parteigänger der „Alten" die „Modernen" aus dem Felde schlugen, veranstalteten sie, schreibt Hazard, eine Apotheose Homers 5 . 3

4

5

Vgl. hierzu G. S. Kirk: Myth. Its Meaning and Functions in Ancient and Other Cultures, Cambridge-Berkeley-Los Angeles 1970, der ausführt: „There is no one definition of myth, no Platonic form of a myth against which all actual instances can be measured" (S. 7). Nicht zufällig stützen sich Leszek Kolakowski (Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973, S. 7f.) und Mircea Eliade (Die Mythen der modernen Welt, in: ders., Mythen, Träume und Mysterien, Salzburg 1961, S. 19—40) explizit bzw. implizit auf den Funktionsbegriff. Vgl. auch Kirk (I.e., S. 255ff.), der eine Typologie der Funktionen der Mythen entwickelt. Paul Hazard: Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 1939, S. 386.

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A. Pope übersetzte die Utas, und sein Vorwort wurde ins Französische und von der Gottschedin ins Deutsche übersetzt; Einführungen in die Mythen wie das Pantheum Mythicum von Pomey erleben mehrere Auflagen, und Budde fordert mit Aristoteles, ein Philosoph solle ein Φιλόμυθος sein 6 . Spricht das nicht gegen all jene Urteile, denen zufolge die Aufklärung für Mythen gar kein Verständnis gehabt hat? Nicht nur, daß einhellig beteuert wird, ein gebildeter Mensch, ein Künstler, ein Wissenschaftler müsse die Mythen kennen, weil hier für unzählige Allegorien, Erzählungen, Kunstwerke und Begriffe der Wissenschaften die Wurzel sei 7 , — in der Aufklärung finden wir auch eine umfangreiche Literatur, die sich mit den Mythen auseinandersetzt. Dabei werden unter Mythen und Fabeln (fabula) im engeren Sinne die sog. poetischen Fabeln im Gegensatz zu philosophischen (wie Parmenides' Lehrgedicht) oder historischen (wie die Legenden über Pythagoras) verstanden, also Götter-, Halbgötter- und Heldenerzählungen heidnischer Völker, vor allem der Ägypter, Assyrer, Griechen und Römer; indianische, afrikanische, gallische und skandinavische Mythen werden im Laufe des 18. Jahrhunderts in die Untersuchungen einbezogen. Die Diskussion um die Mythen umfaßt wesentlich zwei Bereiche: Der erste ist gekennzeichnet durch das Problem, wie Mythen zu verstehen seien. Es wird explizit als Problem der „sinnreichen und artigen Auslegung" 8 , als Problem der 6

Johann Christoph Gottsched verweist in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst, Leipzig 4 1751, mehrfach auf die Übersetzung Das Leben Homers, in: Neue Sammlung auserlesener Stücke, hrsg. v. Luise Α. V. Gottsched, Leipzig 1749. — Franciscus Pomey: Pantheum mythicum, seu fabulosa deorum historia, editio novissima, Amsterdam 1741, stellt eine originelle, in Dialogform geschriebene Einführung dar. - Joh. Franciscus Buddeus schreibt „Est vero et aliud fabularum genus, hanc vocem mihi imperat Romani sermonis penuria, quas μύθος Graeci appelliant. His ad populum instruendum, animosque rudes sapienta et doctrina imbuendos, prudentissimi quandoque utebantur viri" (Φιλόσοφος Φιλόμυθος hoc est philosophus fabularum amator, secundum Aristotelem lib. I. Metaphys. cap. I de ¡meatus exercitatione historico-philosophica (1692), in: ders., Annalecta historiae philosophicae, Halle 1706, S. 4 5 - 8 6 ; S. 49f.).

7

— wie dies die Renaissance betont hatte, so beispielsweise Natalis Comes (Mythologiae sive explicationum fabularum libri decern, Venedig 1568), von dem Κ. Kerényi in seinem Vorwort in: Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, Darmstadt 1976, S. X, schreibt, er sähe die Nützlichkeit der Mythen als eine „unmittelbare Nützlichkeit der Mythologie für einen Menschen von zeitgemäßer Kultur". Stichwort „Fabel" in: Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon, Leipzig 2 1733, Bd. I, Sp. 881. Das Stichwort ist bis auf stilistische Änderungen identisch mit dem Stichwort „Fabel" in: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste (sog. Zedlersches Lexikon), 68 Bde., Halle-Leipzig 1732-54, Bd. 9 (1735), Sp. 4 - 1 1 . Für das folgende vgl. auch in Zedlers Lexikon die Stichwörter „Mythologie" (Bd. 22, Sp. 1761 — 1765), „Methode, mythologische" (Bd. 20, Sp. 1304-1305) und „Philosophie, griechische fabelhafte oder mythologische Philosophie" (Bd. 27, Sp. 2066—2067) sowie in Diderots und d'Alemberts Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, 1751-1780, Stichwort „mythologie" (Bd. X, S. 650-653) und „fable" (Bd. VI, S. 3 4 2 344), beide von de Jaucourt.

8

Mythos und Vernunft. Zum Mythenverstandnis der Aufklärung

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„Hermeneutic oder Auslegungs-Kunst" 9 aufgefaßt; und getreu dem Bestreben, für alles vernünftige Gründe anzugeben, wird seine Lösung zum einen in einer Klassifizierung verschiedener Arten von Mythen, zum anderen in der Erklärung für das Entstehen der Mythen gesehen. — Der zweite Bereich ist für uns scheinbar von geringerem Interesse und betrifft die Frage, ob neue Mythen — wie beispielsweise Miltons Paradise Lost — in der Dichtung zulässig seien. Beginnen wir mit dem ersten Bereich. Dabei können wir die große Zahl der Versuche, Mythen zu klassifizieren, weitgehend unberücksichtigt lassen; es möge genügen, drei Beispiele zu nennen. So vertritt Jakob Thomasius in Auseinandersetzung mit Athanasius Kirchers Einteilung (in historische, physische, medizinische, tropologische, allegorische, anagogische, politische und chymische Fabeln) eine Dreiteilung in historische, moralische und allegorische Fabeln, wobei letztere in physische und astrologische zerfallen 10 . Banier schließlich, von dem de Jaucourt im Stichwort „fable" der Encyclopédie sagt, er habe „le plus d'ordre" in die Mythologie gebracht, unterscheidet historische, philosophische, allegorische, moralische, erfreuende und gemischte Fabeln 11 . Die für die Aufklärung ungleich zentralere Frage ist die nach der Entstehung der Mythen. Sie bestimmt den Aufbau des Artikels „fable" von de Jaucourt, wo im Anschluß an Banier 16 „sources de la fable" unterschieden werden; ebenso steht sie im Zentrum des Stichworts „Fabel" in Walchs Philosophischem Lexicon. Walch übernimmt in seiner Darstellung fast wörtlich eine Einteilung Tournemines, die dieserl702in seinemJournal de Trévoux in Ankündigung einer Abhandlung über den Ursprung der Fabeln formuliert hatte 12 . Schon aufgrund der Bedeutung, die Walchs Artikel wegen der zahlreichen Auflagen seines Lexikons und wegen der unveränderten Übernahme des Stichworts in Zedlers Universal-Lexicon zukommt, ist es sinnvoll, von dieser Darstellung auszugehen. Nach ihr lassen sich sechs Gründe für den Ursprung der Mythen angeben, drei äußere und drei innere: 1. „Die allzugroben Concepte, die man sich von natürlichen Dingen gemacht", 2. „die verderbte Tradition der Geheimnisse", 3. „die unzulängliche Nachricht der alten Geschichten", 9 10

11 12

Walch, Bd. I, Sp. 883. Jakob Thomasius: Exeratatio Philosophien de fabulis poetarum, earumque vario sensu, Leipzig 1676, § 28 u. 36. Antoine Banier: La Mythologie et les fahles expliquées par l'histoire, 5 Bde., Paris 1738—39. René-Joseph de Tournemine: Projet d'un ouvrage sur l'origine des fables, in: Mémoires pour l'Histoire des Sàences et des beaux Arts, N o v . - D e c . 1702, S. 84-111 u. J a n . - F e v . 1703, S. 1 - 2 2 .

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4. „das mit Unwissenheit verknüpffte furchtsame Wesen", 5. „die Begierde, die Laster zu entschuldigen" und 6. „die Verachtung der wahren Religion". Dies sind alles Gründe zur Erklärung der Genesis von Irrtümern. Daß aber Mythen vor allem Irrtümer enthalten, ist die Grundvoraussetzung des aufklärerischen Mythenverständnisses: Dieser Ansatz ist es, der der Aufklärung seit der Romantik den Vorwurf einträgt, das Wesen des Mythos zu verfehlen. Betrachten wir die sechs Irrtumsgründe etwas näher, wobei wir den zweiten zunächst zurückstellen: Der erste und der dritte sind seit der Antike wohl vertraut. Der erste betrifft die These, Mythen hätten eine erklärende Funktion, sie seien also aus dem Bedürfnis entstanden, Naturgeschehnisse zu deuten; „es kan nicht geleugnet werden, daß die Unwissenheit in natürlichen Dingen, und die irrigen Concepte, welche man sich davon gemacht, eine Ursach von der Abgötterey und dem Aberglauben mit gewesen, welche denn durch manche Fabel gestärcket und unterhalten worden", heißt es bei Walch: dies gilt, so wird weiter erläutert, auch dann, wenn die Dichter selbst diese „ungereimten Concepte" als „allegorische Vorstellungen" gewertet haben. Dieser Punkt umfaßt also mit der erklärenden Funktion die allegorische Deutung im Sinne von Thomasius. Sie ist bis zu den Vorsokratikern, bis zu Theagenes und Empedokles zurückzuverfolgen 1 3 ; die Deutung der Mythen als Naturerklärung wird u. a. von Aristoteles herangezogen (Met. XII. 8). Die Deutung, den Mythen eine allegorisch-erklärende Funktion zuzuschreiben, wird im 18. Jahrhundert vielfach diskutiert, erscheint aber f ü r sich genommen nicht ausreichend und ergänzungsbedürftig. — Zu nennen ist im Zusammenhang mit der erklärend-allegorischen Funktionsdeutung noch eine Tradition, die von der Aufklärung nur bedingt anerkannt wird und die einen Sonderfall der „physischen", nämlich die oben erwähnte „chymische" Deutung zum Gegenstand hat: Danach stellen die Mythen die Suche nach dem Stein der Weisen dar und geben in verschlüsselter Form Aussagen über dessen Gewinnung wieder. Hier hat sich besonders der Swedenborg-Ubersetzer und Bibliothekar Friedrichs II, D o m AntoineJoseph Pernety 1 4 hervorgetan. Auf diese in der hermetischen Tradition stehende Deutung werden wir noch einzugehen haben. Der dritte Irrtumsgrund betraf die „unzulängliche Nachricht der alten Geschichten" und beinhaltet die als Euhemerismus bekannte, aber schon vor Euhemeres beispielsweise bei Herodot anklingende Auffassung, Mythen seien eigentlich Geschichtsdarstellungen, so daß in ihnen vorkommende Götter, Halbgötter und Helden als geschichtliche Personen verstanden 13 14

de Vries, 1. c., S. 4 und 6. Les fables égyptiennes et gréques, Dévoilées et réduites au même principe, avec une explication des Hiéroglyphes, et de la guerre de Troye, 2 Bde., Paris 1758, 21786.

Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung

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werden müßten. Daß diese Auffassung, für sich allein genommen, zu kurz greift, betonen Walch und die Encyklopädisten gleichermaßen; „man muß zugestehen", heißt es in der Encyclopédie (Stichwort „mythologie" in wörtlicher Übernahme von Fréret 1 5 ), „daß die Rückführung des Wunderbaren auf das Natürliche [durch Euhemerismus] einer der Schlüssel zur griechischen Mythologie ist, doch dieser Schlüssel ist weder der einzige noch der wichtigste", denn schon Strabo habe darauf hingewiesen, daß im Gewände der Mythen nicht nur Fakten der alten Geschichte, sondern auch die Ideen der Griechen über die Natur und über die Philosophie dargestellt seien. Die inneren Irrtumsgründe 4 bis 6 sind in ihrem psychologisierenden Ansatz als ein neues Element anzusehen: Mit der aus der Unwissenheit resultierenden Furcht wird ein irrationales Element in den Mythen anerkannt. Die „Begierde, die Laster zu entschuldigen", erscheint auf dem Hintergrund von Johann Thomasius' Sittenlehre und deren Betonung des Affektes der unvernünftigen Liebe als einleuchtende Begründung dafür, daß die Götter Homers „die schändlichsten Dinge", „Diebstahl und Ehebruch" begehen, wie schon Xenophanes klagt (Diels, Fragm. 11 u. 12). — Die „Verachtung der wahren Religion" schließlich wird als Mißbrauch der Poesie gedeutet; was allerdings die wahre Religion ist, wird an dieser Stelle unbefragt als bekannt vorausgesetzt. Es bleibt noch der zweite der Irrtumsgründe zu behandeln, der auf die „verderbte Tradition der Geheimnisse" abzielt. Seine Aufnahme schien erforderlich, weil Mythen neben all jenem, was als heidnisch abzulehnen war, durchaus moralische Aussagen und Aussagen über das Göttliche enthielten, die weder unsinnig noch unchristlich waren. Daß eine „moralische Erklärung" (Walch) möglich ist, bemühte sich beispielsweise Andreas

Christian Eschenbach in seiner Ethica Mythologica sive de fabularum poeticarum sensus morali von 1684 zu zeigen, denn Fabeln seien keineswegs figmenta, sondern „varios veri sensus in se continere" 1 6 . Bestimmungen des Glücks, der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit sind es, die die Mythendichter — vor allem allerdings lateinische, doch auch die Edda wird erwähnt — von ihren Fabeln zu geben suchen: Fabeln oder Mythen haben also eine belehrende Funktion, auch wenn die Art der Belehrung „ex fabulorum umbris" (§ 8) herausgelöst werden muß. Zu klären war also, wie diese durchaus sinnvollen Bestandteile in die Mythen Eingang finden konnten. Bei Walch lautet die Begründung, daß „manches von der geoffenbarten Religion zu den Heyden kommen, welches sie aber bald nicht recht gehöret oder verstanden, 15

16

Vgl. Nicolas Fréret: Réflexions générales sur la nature de la religion des Grecs, et sur l'idee qu'on doit se former de leur Mythologie, in: Histoire de l'Académie des Inscriptions et BellesLettres, t. 23 (1756), S. 1 7 - 2 6 ; S. 18. I n : Dissertationes academicae varia antiquae sapientiae rituumque gentilium argumenta exponentes, N ü r n b e r g 1705, I, § 7, S. 9.

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bald mit allerhand Zusätzen verderbet": Hier wird die Offenbarung der christlichen Religion vorausgesetzt, — was aber nur die Rückführung assyrischer, babylonischer und griechischer Mythen auf Nachrichten von alttestamentarischen Offenbarungsinhalten erlaubte, wie dies Gerhard Vossius 1641 in De theologia gentili und Pierre Daniel Huet 1678 in seiner Demonstratio Evangelica getan hatten. Doch deren Deutungen mußten angesichts der Feststellung de Fontenelles in De l'origine des fables (1689, veröffentlicht erst 1724), daß griechische und indianische Mythen große Ähnlichkeiten aufweisen, als zu einseitig erscheinen. So also war ein anderes Erklärungsschema als unzutreffende Uberlieferung des mosaischen Glaubens erforderlich. Wollte man überhaupt daran festhalten, daß Mythen eine — wenn auch „verderbte" — Tradition der „Geheimnisse", also Elemente des Heiligen enthalten, so mußte entweder eine Uroffenbarung angenommen oder auf die Vernunftreligion ausgewichen werden. Den ersten Weg beschreitet Johann Friedrich Burscher in seiner Abhandlung von der heydnischen Fabellehre (1753), wonach „der erste Ursprung der Fabellehre in der Lehre der ältesten Menschen zu suchen sey", also „vor Mose" in Gestalt einer den „Patriarchen" geoffenbarten Lehre, die bei Moses später aufgezeichnet, sonst aber verfälscht wurde 17 . Schon Tournemine schlug deshalb vor, die ältesten als die wahrsten Mythen anzusehen 18 . Ähnlich nimmt Charles de Brosses in seinem Buch Du Culte des Dieux fétiches, das 1760 anonym erschien, eine „unmittelbare Belehrung" an, die „das Menschengeschlecht im Anfang von Gott selber erfahren hatte" 19 . Voltaire setzt sich mit solchen Auffassungen in seinem Dictionnaire philosophique portative (1764, Stichwort „religion") auseinander und beschreitet selbst den zweiten Weg, indem er gegenüber dem Offenbarungsglauben die natürliche Religion betont : Sie, die mit der Vernunft einsehbar sei, hat am Anfang gestanden, und Priester hatten, um ihre Autorität zu festigen, allmählich den Polytheismus, die Abgötterei und den Aberglauben eingeführt. Hier zieht Voltaire die Priestertrugtheorie heran, wie sie schon der Sophist Kitias (Dies, Fragm. 25) vertreten hatte. Die Deutung der Mythen hatte damit einen aus der Sicht der Aufklärung befriedigenden Abschluß gefunden: Man mußte in ihnen Fabelwerke längst vergangener Zeiten und primitiver Völker sehen, entstanden aus Unkenntnis und Angst, durchsetzt auch mit moralischen und philosophischen Lehren, ohne daß diese angemessen begründet erschienen, versehen vielleicht auch 17

18 19

In: Sammlung einiger Ausgesuchten Stücke, der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig, Bd. I, Leipzig 1754, S. 286-309; S. 287 bzw. S. 288. L. c., Seconde partie, Première regle, S. 3. Charles de Brosses, Du Culte des Dieux fétiches, ou Parallèle de l'ancienne Religion de l'Egypte avec la Religion actuelle de Nigritie, o. Ort [Paris] 1760, S. 15, Ubers, nach de Vries, I.e., S. 93.

Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung

137

mit verschütteten Resten der Historie und der Vernunftreligion. Sicher kann man durch „sinnreiche und artige Auslegung", wie Walch meint, mit Regeln, wie sie Tournemine im zweiten Teil seines Projet angibt, die wahren oder zumindest wahrscheinlichen Teile der Fabeln von den falschen trennen, — insgesamt aber erscheint ein mythisches Zeitalter als ein durch die Vernunft überwundenes Zeitalter. Nichts ist nach diesem Mythenverständnis in den Mythen enthalten, was nicht systematischer, genauer und zutreffender ohne sie und im Lichte der Vernunft darstellbar wäre. Wenn die Behandlung der Mythen als eine „Geschichte der Irrtümer des menschlichen Geistes" dennoch der Aufklärung dient, so nach de Fontenelle deshalb, weil „alle Menschen sich so stark gleichen, daß es kein Volk gibt, über dessen Dummheit wir nicht zittern müßten" 20 .

3. Von der Mythenkritik zur Religionskritik Alle jene Elemente und Funktionen, denen mythisches Denken heute seine Anziehung verdankt, geraten dem aufklärerischen Mythenverständnis gar nicht in den Blick. Nun mag dies daran liegen, daß sich die Aufklärung des 18. Jahrhunderts trotz aller Parallelität der Argumente zur antiken Aufklärung von diesen Mythen im Gegensatz zur Antike gar nicht betroffen fühlen mußte. Für sie handelte es sich um einen profanen Bereich, der Objekt wissenschaftlicher Neugierde oder Freiraum der Künste war. Um die Problematik wieder einzuholen, vor die sich die Mythenkritik der antiken Aufklärung gestellt sah, ist man deshalb gezwungen, die Religionskritik in die Betrachtung einzubeziehen. Mit dem letzten der von Walch herangezogenen Irrtumsgründe, der auf das Verhältnis der Mythen zur Offenbarung oder zur Vernunftreligion abzielte, tat sich ein Problem auf, das bisher gänzlich ausgeklammert erschien, das Problem des Verhältnisses von Mythen und christlicher Religion. Wenn, wie Christian Wolff es formuliert, die Freiheit zu philosophieren darin besteht, „daß man sich in der Beurtheilung der Wahrheit nicht nach andern, sondern nach sich richtet", wenn „die Freiheit zu philosophieren in einem ungehinderten Gebrauche seines Verstandes" besteht 21 , so kann das Denken nicht davor halt machen. Sollen die Inhalte des Christentums nicht ebenso wie die Mythen phantastischen Ursprungs sein oder auf Angst und Unvernunft beruhen, müssen sie selbst auf einem sicheren Fundament ruhen. So hatte eine Mythenkritik im Namen einer christlichen Aufklä20

21

De l'origine des fables, in: Bernhard de Bouyer de Fontenelle, Oeuvres diverses, 3 Bde., 1.1, Den Haag 1728, S. 340. Christian Wolff: Ausführliche Nachrichten von seinen eigenen Schriften, Frankfurt 1726, §41.

138

Hans Poser

rung, im Namen einer streng auszulegenden Offenbarungsreligion im zweiten Jahrhundert stattgefunden 2 2 ; doch der Rekurs auf die Gewißheit der Offenbarung mußte aufgegeben werden, sobald die Vernunft getreu jenem θεός ή ό λογός des Johannesevangeliums das neue Fundament abgeben sollte. Wenn Locke 1695 The Reasonableness of Christianity verfaßt, wenn Toland 1696 in Christianity not mysterious schon im Titel betont, das Evangelium enthalte „nichts Geheimnisvolles oder Unvernünftiges", wobei er ,Mysterium' als synonym mit Ubervernünftigem beschreibt (III, § 1), dessen Ursprung in der „Theologie der alten Heiden" (III, § 2) und bei den „schlauen Priestern" zu suchen sei, wenn schließlich Christian Wolff in

seinen Vernünftigen

Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des

Menschen, auch allen Dingen Uberhaupt Gott einen Platz in der Reichweite der Vernunft einräumt, sind bereits alle jene Anteile des Christentums ausgeklammert, die mit der Besonderheit einer Konfession, eines Ritus oder Kultus verknüpft sind. Daß die Schöpfung nicht so zu denken sei, wie Moses schreibt, sondern als Schöpfungsmythos allegorisch zu verstehen sei, wird denkbar; und ob man überhaupt sinnvoll von einem Zeitpunkt der Schöpfung sprechen könne, ob nicht vielmehr die Welt seit Ewigkeit her existiere und ständig von Gott erhalten werde, hatte schon Leibniz im Anschluß an Aristoteles erwogen. Wunder sind fragwürdig, wenn nicht gar unmöglich, denn der Gott wäre unvernünftig, der seine eigenen Gesetze brechen müßte; sie beruhen allenfalls auf Unkenntnis oder, wie Hume schreiben wird, auf dem Vorurteil der Wenigen, die behaupten, das Wunder beobachtet zu haben. Das Alte Testament, von dem Spinoza im Tractatus theologicopoliticus schon gesagt hatte, daß es im Laufe der Zeit verändert, überarbeitet, mit Einschüben versehen sei, konnte weder historisch wahr noch als Offenbarung glaubwürdig sein — also war es unvernünftig. So führt der Weg zu Johann Lorenz Schmidt, der Spinozas Ethica und Tindals Christianity as old as the Creation ins Deutsche übersetzt hatte und der sich daran machte, die Bibel unter Vernunftsgesichtspunkten umzuschreiben 23 . Die Lehre von der Dreieinigkeit, von Huet zur Verdeutlichung oder zum Nachweis christlichen Ursprungs heidnischer Mythen herangezogen, erscheint „für das allergrößte Geheimniß, für eine Sache, die über den Bezirc der menschlichen Vernunft

22

So betont J a c o b Taubes (Der dogmatische Mythos der Gnosis, in: Manfred Fuhrmann ( H g . ) , Terror und Spiel, Probleme der Mythenrezeption ( = Poetik und Hermeneutik IV), München 1971, S. 149): „ D e r Schöpfungsbericht der Genesis und das Bildverbot des Dekalogs liquidierten alle mythische Rede von G o t t . " O b man allerdings allgemein sagen kann, „ d i e Entgötterung der W e l t " sei „nicht nur das Werk der griechischen Philosophie, sondern vornehmlich das Werk der monotheistischen Offenbarung" mag fraglich erscheinen. - Vgl. auch Franz Schupp, Mythos und Religion ( = Texte zur Religionswissenschaft und Theologie I. 1), Düsseldorf 1976, S. 15ff.

23

Hierauf verweist Paul Hazard, Die Herrschaft

der Vernunft,

Hamburg 1949, S. 106.

Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung

139

geht, das ist, die weder aus einem Principio ihre Existentz erkennet, noch da ihr solche aus heil. Schrifft fiirgestellet wird, das Wesen derselben begreift" 2 4 . Soll nun die Vernunft vor diesem Geheimnis halt machen? Christianity not mysterious? Als schließlich auch die Ethik als eine Angelegenheit der Vernunft allein erschien - hatten doch, wie Christian Wolff immer wieder betont, die Chinesen eine hoch entwickelte Morallehre, ohne eine dem Christentum auch nur annähernd ähnliche Religion zu besitzen —, war dem endgültigen Ubergang zum Deismus der Weg geöffnet, es begann, wie Hazard schreibt, der „Prozeß gegen Gott" 2 5 . . . Die Entwicklung der Religionskritik in der Aufklärung ist so geläufig, daß sie hier nicht nachgezeichnet zu werden braucht. Was als „Selbstreinigung des Christentums" 26 beginnt, führt nun zum Deismus und mündete — im Namen der Vernunft — bei d'Holbach und La Mettrie, bei den französischen Materialisten oder Sensualisten in einen Atheismus. Denn warum sollte Kitias' Priestertrugtheorie nicht auch für die christliche Religion gelten? Eine Vernunft, als alleiniges Beweismittel zugelassen und auf logische Schlußverfahren beschränkt, und eine auf Wahrnehmung eingeengte Erfahrung konnten nichts über Gott ausmachen. Wenn aber andere Erkenntnisquellen ausschieden, war d'Holbachs Schritt vom Deismus zum Christianism dévoilé und zum Système de la nature vorgezeichnet27. Die Mythologie, meint d'Holbach, sei „als Tochter der durch die Dichtkunst verschönten Welt nur dazu bestimmt, die Natur und ihre Teile bildlich zu umschreiben"; doch die „Vergöttlichung" und „teilweise Personifizierung" der „wirkenden Natur" ließen den Polytheismus entstehen, die Abspaltung der Wirklichkeit der Natur von der Naturbeschreibung schließlich den Gott des Monotheismus, — doch: „die Menschen schöpften diese Idee aus sich" 2 8 . So erscheint ihm die christliche Religion als nichts anderes als die ausgeschmückte Übernahme der jüdischen Mythologie 29 . Damit hatte die Vernunft, die die Mythen kritisiert und als unvernünftiges Produkt der Unkenntnis und Angst gebrandmarkt hatte, nicht nur vor den christlichen Mythen, sondern auch vor den Glaubensinhalten nicht halt gemacht. 24 25 26 27

28 29

Walch, Stichwort „Dreifaltigkeit", Bd. 1, Sp. 563. Die Herrschaft der Vernunft, S. 86. Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Religionskritik der Neuzeit, München 1972, S. 9. Paul Thiry d'Holbach: Christianisme dévoilé ou Examen des principes et des effets de la religion chrétienne, anonym angeblich London 1756, tatsächlich Nancy 1766; dt. Übers, in: ders., Religionskritische Schriften, Schwerte, o. J. ; sowie ders. : Système de la nature ou des loix du monde physique et du monde moral, 1770 anonym veröffentlicht; dt. Ubers.: System der Natur, Berlin 1960. System der Natur II. 2, S. 295, 298, 299. Das entschleierte Christentum, Kap. 3, I.e., S. 78.

140

Hans Poser

War damit der Beweis erbracht, daß Mythen sich im Lichte der Vernunft auflösen, überflüssig werden, daß alle Funktionen, die der Mythos, die christliche Religion ausgeübt hatten, von der Vernunft übernommen worden waren? Vergleicht man die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit der der Antike, so stellt sich heraus, daß beide in vieler Hinsicht ähnlich sind: So, wie die Vorsokratiker mit Begriffen, die dem mythischen Denken entstammten, das mythische in ein philosophisches Weltbild umzubilden trachteten, Kritik an den Mythen im Namen der Vernunft übten und schließlich — bei Demokrit — zu einem materialistischen Ansatz geführt worden waren, hatte sich die christliche Philosophie zunächst als ancilla theologiae den Glaubensinhalten untergeordnet, um sich endlich — in einem ganz analogen Weg der immanenten Selbstentfaltung der Vernunft und der damit gesetzten Kritik — gegen diese Glaubensinhalte zu wenden. Doch die Parallele sollte zugleich Argwohn erwecken im Hinblick auf die Frage, ob denn tatsächlich eine Ablösung des Mythischen durch die Vernunft erfolgt ist. So bedient sich Piaton, der so kritisch Mythos und Logos gegeneinander abgewogen hat, selbst mythischer Darstellungen! Wie fügt sich das zusammen? Für Piaton ist die Antwort leicht aus dem 7. Brief ablesbar. Denn wenn dem geschriebenen Wort nicht zu trauen ist, wenn es den Blick auf das Eigentliche verstellt, ja, wenn das Gute-Wahre-Schöne nur geschaut werden kann und jedes Zeichen zu schwach ist, es in seiner Wirklichkeit auszudrücken, dann bedarf es eines Mittels, dieses Sinnstiftende sinnhaft zu zeigen: Das ist die Funktion der platonischen Mythen, — neuer Mythen, aber verstehbar, weil die alten verstanden wurden. Wenn dies richtig ist, wenn sich der letzte verbindende Sinnhorizont nicht aussagen, sondern nur zeigen läßt, wenn dieses Zeigen die zentrale Funktion des Mythischen ist, dann muß es Mythisches auch in der Aufklärung gegeben haben. Wo haben wir es zu suchen?

4. Mythos und Phantasie Mehrere Elemente lassen sich aufweisen, die nicht unter den Vernunftbegriff der Aufklärung zu bringen sind und in denen wir möglicherweise Elemente mythischen Denkens sehen können. Ein erstes zeigt sich in dem oben angedeuteten Problem des Verhältnisses des aufgeklärten Denkens zur Kunst, insbesondere zur Dichtung. Um zu verdeutlichen, worum es geht, sei noch einmal ein Abschnitt aus Walchs Philosophischem Lexicon (Stichwort Fabel) herangezogen: „Zu den Zeiten des Homeri und Hesiodi mag der Pöbel so alberne und thörichte Gedancken von den Göttern in Griechenland geführet haben, als wir in ihren Gedichten antreffen, daß sie aber selbigen in ihrem eigenen Gemüthe solten beygefallen seyn, ist fast nicht glaublich, und vielmehr zu vermuthen, daß sie ihre Gedichte nach dem Geschmack des gemeinen

Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung

141

Mannes öffters eingerichtet, und weil sie daher zur Unterhaltung des Aberglaubens dienten, so waren die heydnischen Priester, selbige in ein Ansehen zu setzen, äußerst beflissen. Doch das entschuldiget sie noch nicht, wenn sie auch dieses Absehen gehabt. Sie hätten wenigstens auch als Heyden sich in vielen Stücken vernünfftiger bezeigen sollen. Es schmecket gar nicht nach der Weisheit, wenn Hesiodus sagt, Prometheus habe den Jupiter betrogen, und wenn er gleich im Sinne unter diesen beyden Namen zwey Menschen solte verstanden haben, so hätte er doch dem Pöbel, welcher den Jovem als einen Gott verehret, solche Dinge nicht vorschwatzen sollen. So ist es auch schlecht von dem Homero raisoniret, wenn er saget: der höchste Gott vermehret und vermindert die Tugend in dem Menschen nach seinem Wohlgefallen. Denn er ist allmächtig." Der Abschnitt zeigt, daß man in Homer in erster Linie den Dichter sah, der bei aller Wertschätzung der vernünftigen Kritik auszusetzen war. Um die Frage, ob solches homerische Räsonieren überhaupt noch zulässig sei, entbrannte nun unter den Aufklärern ein heftiger Streit, in dem sich im deutschsprachigen Raum auf der einen Seite Gottsched, auf der anderen Bodmer und Breitinger gegenüberstanden30. Daß eine moralische Fabel der Aufklärung förderlich sei, hierüber waren sich beide Seiten einig. Ebenso teilten sie die Auffassung, eine Fabel müsse wahrscheinlich sein, sie müsse also die Natur nachahmen. Zwar lobt Gottsched Homer aus diesem Grunde : „ E r erzählt wahre Geschichte; er erdichtet Fabeln von Göttern und Helden; er erregt die Affecten; er schreibt edel und erhaben; er lehrt und belustiget endlich seine Leser." 3 1 Auf der anderen Seite jedoch klagt Gottsched heftig, es gäbe genug bei Homer, das unentschuldbar sei: „Hier läuft alles wider die Natur menschlicher Affecten, die zu allen Zeiten einerley gewesen: und Homer kann auf keine Weise gerettet werden." 3 2 Was Gottsched für Homer gerade noch gelten läßt, mag er John Milton und dessen Paradise Lost nicht zubilligen, denn darin sei „der Teufel ein Held, der den unschuldig erschaffenen Menschen verführet und seinem Schöpfer entreißt. Die ganze Erfindung ist also höchst fehlerhaft" 33 . Dies führt zu einer Replik Bodmers, der Miltons Epos übersetzt hatte und es nun in der Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie verteidigt, wobei hier vor allem der 7. Abschnitt 30

In England und Frankreich waren ähnliche Auseinandersetzungen vorausgegangen; denn während Pope betonte, Homer sei allen anderen durch seine Einbildungskraft überlegen und trage die Merkmale des Genies, glaubte Homers französische Übersetzerin Madame Dancier, in der Ilias den „regelmäßigsten, systematischsten Garten, den es je gab" sehen zu müssen (zit. nach Hazard, Krise des europäischen Geistes, S. 387): Phantasie und Vernunft lagen im Streit.

31

Gottsched, Critische Dichtkunst, 1. Teil, 1. Hauptstück, § 30; ähnlich über Ilias und als Heldenepos: 2. T e i l , 1. A b s c h n . , 4. Hauptstück, § 1—6.

32

1. Teil, 6. Hauptstück, § 8.

33

2 . Teil, 4. Hauptstück, § 19.

Odyssee

142

Hans Poser

„Von der Anbringung der Mythologie" von Belang ist. Dort stellt Bodmer fest: „Es hat in dem Polytheismo der heidnischen Theologie, und in den fleichlichen Lüsten und Affecten, denen sie ihre Götter unterwürffig machet, ein solches Gemenge von unvernünftigem Zeuge, daß sie billig als das schimpflichste Opprobrium des menschlichen Verstandes anzusehen ist", um etwas später fortzufahren: „Also entstehet die Frage, ob und wie diese [heidnischen] Fabeln von den Poeten der christlichen Nationen können gebrauchet . . . werden." 34 Dies war von Gottsched im Grundsatz verneint worden, denn allzu oft hat „Homerus sich versehen und die Wahrscheinlichkeit nicht recht beobachtet" ; doch weil zu Homers Zeiten „die Lehre von Gott noch in dicken Finsternissen gestecket hat", konnte „damals dem Volke sehr wahrscheinlich klingen, was uns heute zu Tage sehr unwahrscheinlich vorkömmt." 3 5 Was also bei den Griechen mangels besseren Wissens zulässig erschien, ist heute nicht mehr zu verantworten. Bodmer dagegen betont das Recht der Phantasie, die „Früchte der Einbildungs-Kraft und des Witzes" in die Dichtung einzubringen und mythologische Fabeln dann zuzulassen, wenn man sie „vor das anführet, was sie sind, nemlich vor ein Hirngespinst", das nicht für wahr gehalten werden darf: „Wer sich daran [d. i. an der Fabel] ärgert, zeigt ein ehrliches Gemüth und einen gesunden Verstand" 36 — nur zeigt er, daß er nichts von Dichtung versteht. Was Bodmer hier gegen Gottsched verteidigt, ist nichts anderes als das Anrecht der Phantasie auf eine führende Rolle in der Dichtung 37 . Der Dichter ist vor allem ein Schöpfer, — und seine Schöpfung, die Poesie, ist mit Vernunftkategorien letztlich nicht erfaßbar. Zunächst blieb Gottsched Sieger in diesem Duell, doch die Einschränkung, die die Dichtung sich im Namen der Vernunft hatte gefallen lassen sollen, schlug schon um die Jahrhundertmitte um in eine Zurückweisung des Anspruchs der Ratio, die Dichtung auf ein Nutzen- und Wahrscheinlichkeitsprinzip zu verpflichten; man denke nur an A. G. Baumgartens Aesthetica und die Einbeziehung des Gefühls. So ist in der Aufklärung der Ausbruch aus der Aufklärung angelegt, wenn Mythen — und seien es zunächst nur neue Mythen — etwas enthalten, was nicht in Vernunft auflösbar ist und dem die Kategorie Irrtum (oder Hirngespinst) unmöglich gerecht würde. Gleichzeitig mit dieser Auseinandersetzung veröffentlichte Giambattista Vico seine Scienza Nuova. Dort gibt er eine Begründung für die Entstehung der Mythen, die für unseren Zusammenhang von Belang ist, denn das für 34

35 36 37

Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen, Zürich 1740, S. 198 bzw. 201. Critische Dichtkunst, 1. Teil, 6. Hauptstück, § 5 bzw. 6. L.C., S. 202 bzw. 203. Vgl. Hans Martin Wolff: Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, München 2 1963, S. 148.

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Vico wesentliche Element ist die Phantasie: Er sieht den Ursprung der Mythen in einer Zeit, da der „Logos stumm" war und die Darstellung der „ewigen Wahrheiten" der Religion in Zeichen, Gebärden und Gegenständen ihren Sinn zum Ausdruck brachten; hierauf fuße eine „phantastische Sprechweise", beruhend auf einer „ungeheuren Kraft der Phantasie", die später — mit dem abstrakten Denken — zurücktrete 3 8 . Mythen entspringen mithin einem Akt der Phantasie, der dem Akt der Vernunft ganz entgegengesetzt ist. Damit aber kommt den Mythen auf eine ihnen spezifische Weise das Vermögen zu, etwas zu zeigen, was dem abstrahierenden Akt der Vernunft unzugänglich sein muß. Diese Funktion hat die Phantasie und haben die Mythen, so Vico, bis heute nicht verloren, denn während sie früher Himmel und Erde in eins setzten, so mag das abstrahierende Denken den mythischen Himmel erhoben haben : er „stieg über den gestirnten Himmel", „über die Sphären, wie sie uns jetzt die Astronomie lehrt" 3 9 - doch er löst ihn nicht auf. Staunen, Gefühl und Einbildungskraft sind die Kategorien dieses sich in den Mythen spiegelnden Bereichs. Zugleich aber sind die daraus erwachsenden Dichtungen weder vernunftlos noch einfach phantastisch, vielmehr drücken die Mythen in ihrer Vermenschlichung und Vergöttlichung der Natur die Einheit von Mensch und Natur ebenso aus wie die Rechtsordnung, in die Mensch und Natur eingebettet sind: Zum ersten Male tritt neben die erklärende Funktion die sinngebende Orientierungsfunktion der Mythen. Damit hat das Mythenverständnis im 18. Jahrhundert eine völlig neue Perspektive erhalten, eine Perspektive, nach der Mythisches grundsätzlich nicht von der Vernunft aufgehoben werden kann, weil es — auf dem Empfinden und der Phantasie aufbauend — in einen anderen Bereich fällt. Sicher blieb Vicos Werk zunächst unbeachtet, doch finden sich in mancher Hinsicht ähnliche Gedanken bei Christian Gottlob Heyne in dessen Quaestio

de causis fabularum seu mythorum veterum physicis und bei Johann Gottlieb Herder in dessen Reisejournal, das allerdings erst im Nachlaß veröffentlicht wurde 4 0 . Hier kam es darauf an, eine in der Aufklärung unterschwellig

38

39 40

Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, nach der Ausg. v. 1744 übers, v. E. Auerbach, Reinbek 1966, S. 77 bzw. 78. L. c., S. 9, Hervorhebung von mir. In: Chr. G. Heyne, Opuscula Académica I (1785) bzw. J. G. Herder, Journal meiner Reise im Jahre 1769, beide in Auszügen bei de Vries, S. 144 ff. bzw. 124 ff. im Abschnitt über die Romantik ! In De origine et caussis fabularum homericarum commentatio (Novi commentant societatis regiae scientiarum Gottingensis, t. VIII, 1777, Comm. hist, et phil., S. 3 4 - 5 8 ) betont Heyne die Notwendigkeit, Homer aus seiner Zeit zu verstehen; er macht sich anheischig, damit eine weit subtilere und genauere Deutung geben zu können (S. 34 bzw. 36): Mythen sind damit keineswegs mehr Irrtümer, sondern angemessener Ausdruck eines vor allem durch Intensität der Empfindung gekennzeichneten Zeitalters, das seine kosmologischen Vorstellungen in Mythen formuliert. Vgl. hierzu Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Mythologie, Bd. I (1856), Nachdr. Darmstadt 1973, S. 30ff.

144

Hans Poser

wirksam werdende Strömung aufzuweisen, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zum Umschlagen der Aufklärung in ein neues Mythenverständnis, dann schließlich zur romantischen Forderung nach der Schaffung eines neuen Mythos führen sollte.

5. Vernunft als Mythos Die Betonung der Phantasie als etwas Eigenständigem stellte den ersten Ausbruch aus den Grenzen dar, die das vernünftige Denken als schlechthinnige Grenze hatte etablieren wollen, innerhalb derer aufgeklärtes Denken und Handeln sich allein noch vollziehen sollten. Bevor wir uns fragen, wie dies mit dem Vernunftbegriff der Aufklärung zusammenhängt, wollen wir uns einiger weiterer Fakten versichern, die Elemente mythischen Denkens in der Aufklärung markieren. Beginnen wir mit dem Offensichtlichsten: die Vernunft, die doch eine menschliche Fähigkeit ist, wird im Zuge der Spätaufklärung vergottet. Im November 1793 wird in Notre Dame in Paris der Vernunftkult eingeführt, im Mai/Juni des folgenden Jahres führt Robespierre den Kult des „Höchsten Wesens" als neue Staatsreligion ein. Auch nach Robespierres Hinrichtung wird wieder ein Vernunftkult eingeführt: Am 15. 1. 1797 findet die erste feierliche Handlung der vom Direktorium unterstützten Ersatzreligion, der Theophilantropie, statt, eine Zeremonie, bestehend aus erbaulichen und das Herz auf „natürliche" Weise bewegenden Reden. In diesem Kult wird der Sonntag der neuen Zehntagewoche begangen, vom Jahre VII an in Form einer Ersatzmesse, bei der Gesetze verlesen und kommentiert und mit Orgelmusik untermalt werden. — Eine ähnliche Entwicklung zeigt bekanntlich das Denken Comtes, dessen Ansatz entscheidend durch die Aufklärungsphilosophen bestimmt ist; er schlägt in seiner Spätphase im dritten, positiven Stadium einen Vernunftkult vor: In beiden Fällen wird die Vernunft selbst zum Heiligen. Wie konnte es zu diesem Umschlag kommen, wie konnte an die Stelle der Ablehnung alles Mythischen, Mystischen, Kultischen ein Kult treten, der die Vernunft als Gottheit verehrte? Diese ganz zentrale Frage muß noch etwas zurückgestellt werden, denn es bedarf zu ihrer Beantwortung eines Blickes auf die geistesgeschichtliche Entwicklung, die diesen Umschlag ermöglichte. Dabei stößt man auf eine Vielzahl von Unterströmungen des 18. Jahrhunderts, die der Aufklärung und gerade der in ihr zwangsläufig angelegten Entwicklung zur natürlichen Religion und zum Deismus entgegengesetzt sind. Hierzu gehören die frühaufklärerischen, im Pietismus wurzelnden Auffassungen, deren Vertreter nicht bereit waren, um der begrenzten menschlichen Vernunft willen die Offenbarungsgrundlage der christlichen

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Religion aufzugeben. Weiter sind die Vertreter jener hermetischen Tradition zu nennen, die sich auf eine durch Hermes Trismegistos gestiftete Lehre berufen und von der Clemens Alexandrinus einen Korpus von über 40 kultischen, theologischen, astrologischen und medizinischen Büchern nennt. Die Lehre ist der Einkleidung nach ägyptisch, dem Inhalt nach griechisch und stellt eine Umsetzung platonischer Philosophie in religiöse Offenbarung unter Einschluß neupythagoreischer, orphischer und jüdischer Vorstellungen dar 41 . Sie wirkte u. a. auf Paracelsus und van Helmont, bestimmte die Alchimisten des 17. und 18. Jahrhunderts und floß in die neugegründeten Rosenkreuzervereinigungen ebenso ein wie in die Freimaurer- und Illuminantenlogen; sie bestimmte Frankreichs Illuminées und die französischen Theosophen. In den letzten Jahren haben A. Faivre, R. C. Zimmermann und R. van Dülmen wesentlich dazu beigetragen, diese Strömungen und ihre Bedeutung zu rekonstruieren; ihre politische Auswirkung hat R. Koselleck nachgezeichnet42. Das hermetische Weltbild ruht auf zwei Hauptpostulaten mit den Zentralbegriffen Individualität und Analogie: Gott - als Individuum - schuf alles sich zum Bilde; darum ist das Obere dem Unteren analog. Dieses hermetische Gedankengut wird unter dem Gesichtspunkt der allegorischen Fabeldeutung von Jakob Thomasius in Auseinandersetzung mit Kircher behandelt und findet in der Aufklärung lebhaftes Interesse. Unter aufklärerischem Gesichtswinkel ist es dargestellt in der dreibändigen Histoire de la Philosophie Hermétique des Abbé Lenglet du Fresnoy, Den Haag 1742, wo Quellen, medizinische Rezepte und ein Uberblick über die Hermetik gebracht werden 43 . Die antiaufklärerische Gegenposition wird von Samuel Richter bezeichnet, der unter dem Namen Sinceras Renatus die Theo-Philosophia theoretico-practica, Breslau 1711, 2 1741 veröffentlichte: nicht, daß hier die Vernunft verworfen würde; aber sie darf nicht an den Grundposi-

41 42

43

H. Dörrie: Hermetica, in: RGG III (1955), Sp. 265. Antoine Faivre: Kirchberger et l'Illuminisme du dix-huitième siècle ( = Archives Internationales d'Histoire des Idées 16), La Haye 1966; ders. : Eckartshausen et la théosophie chrétienne, Paris 1969; ders.: Mystiques, théosophes et illuminés au siècle des lumières ( = Studien und Materialien zur Gesch. d. Philosophie 20), Hildesheim-New York 1976; Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur Hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, 2 Bde., 1. Bd.: Elemente und Fundamente, München 1969; Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg-München 1959, Frankfurt 2 1973 ( = stw 36); Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminanten - Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart 1975. Die Entwicklung zur Erweckungsbewegung zeigt am Beispiel Jung-Stillings Max Geiger: Aufklärung und Erweckung. Beiträge zur Erforschung Johann-Heinrich Jung-Stillings und der Erweckungstheologie, Zürich 1963. Zimmermann, dem ich in diesem Abschnitt folge, bezeichnet es als „aufklärerisches Standardwerk über die Hermeneutik" (I.e., S. 53 u. Anm. 31, S. 304).

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tionen eines im Religiösen verwurzelten Denkens rütteln, vielmehr hat alle Erkenntnis aus dem Glauben zu fließen 44 . In dem Augenblick nun, in dem wesentliche Teile der Wölfischen Schulphilosophie als nicht mehr tragbar erschienen, wurde diese Unterströmung, für die stets ein latentes Interesse bestanden hatte, zur Quelle einer neuen mystischen Bewegung. So glaubte der junge Goethe an die Hilfe durch ein Universalheilmittel, ein „Luftsalz"; und neue naturwissenschaftliche Entdeckungen aus dem Bereich der Elektrizität und des Magnetismus wurden als Belege für die Richtigkeit einer in der Mystik wurzelnden Denktradition, nicht aber als Ergebnis der vernunftkontrollierten experimentellen Erfahrung gewertet. Zimmermann hat im einzelnen gezeigt, wie sich aus der Tradition der aufgeklärten Hermetik zunächst der Orden der Rosen- und Goldkreuzer bildete und wie dieser von den Freimaurern aufgesogen wurde, die ihrerseits einen wesentlichen Teil der deutschen Illuminanten bildeten. Diese Orden waren alle hierarchisch gegliedert, alle hatten Kulte, alle waren so aufgebaut, daß die höheren Grade gegenüber den niedrigeren tiefer in die „Geheimnisse", die Mysterien eingeweiht waren, — Geheimnisse, die als Mysterien der Vernunft galten! Verfolgen wir dies kurz am Illuminanten-Orden, der von A. Weishaupt 1776 gegründet wurde und der vor allem durch das Wirken des Freiherrn von Knigge Anfang der achtziger Jahre in kurzer Zeit auf etwa 600 Mitglieder anwuchs, dem Goethe, Herder, Jacobi und Nicolai angehörten oder ihm — wie Pestalozzi und Salzmann — doch zumindest zeitweilig nahe standen. Dieser Orden basierte auf einem Bildungsplan, der von Erleuchtungsstufe zu Erleuchtungsstufe führte; Riten und Eide sicherten die Struktur ab. Die oberste, in ihrer Planung zum Zeitpunkt des Verbotes des Ordens 1786 noch nicht abgeschlossene Stufe sollte in eine „Vernunftreligion" münden. Die Mitglieder waren zur Ausbreitung des natürlichen Lichtes der Vernunft verpflichtet, der Orden trat für Naturrecht, Toleranz und Fortschritt ein und hatte das Ziel, die Welt auf evolutionärem Wege zu bessern. Der Orden vertrat also aufklärerisches Gedankengut, — aber in mythisch-mystischem Gewände. Dabei treffen mythisches Gedankengut und Mythenkritik unmittelbar aufeinander, beispielsweise wenn die Illuminati dirigentes zu folgender, ihrem Erleuchtungszustand entsprechender Erkenntnis geführt werden sollen: Jesus von Nazareth „lehrte die Lehre der Vernunft, und um sie desto besser wirksam zu machen, machte er sie zur Religion, benutzte die Sage, die unter dem Volk gieng, und verband solche auf eine kluge Art mit der dermal herrschenden Volksreligion und Gebräuchen, in welche er das innerliche, und wesentliche seiner Lehre verborgen." 4 5 Ebenso sollen 44 45

Zimmermann, I.e., S. 106. A. Weishaupt: Anrede an die neu aufzunehmenden druck bei van Dülmen, S. 186.

Illuminatos

dirigentes (1782), Nach-

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Geheimbund und Vernunft einander nicht ausschließen, sondern bedingen, u m die Vernunft zum „alleinigen Gesetzbuch des Menschen" werden zu lassen 46 . Van Dülmen faßt dies so zusammen: „Werden Vernunft und Moral erst zur ,Religion' des Menschen erhoben, werden sie durch geheime Gesellschaften so institutionalisiert wie die christlichen Religionen, so ist die Aufgabe [sc. der Neuordnung] .aufgelöst'." 4 7 Daß dies in Geheimgesellschaften zu geschehen habe, ist nach Weishaupt im menschlichen Trieb begründet. Zudem soll und muß „das H e r z " angesprochen werden, denn die echte Morallehre (die Goldene Regel) kann, wie es an anderer Stelle heißt, „nicht ohne innigstes Gefühl der Rührung" erfahren werden 4 8 . Damit ist die Berufung auf das Gefühl, das zur Vernunft hinzutreten muß, das Bindeglied, welches für die Illuminantenorden aufklärerische Ziele mit dem Geheimnis verbindet. Wir treffen also auf dasselbe Element, auf das Vico sich berufen hatte, um den Ursprung der Mythen zu deuten. In viel unmittelbarerer Weise als im Illuminanten-Orden bestimmen mythische und mystische Elemente die Rosen- und Goldkreuzer-Vereinigungen und die Freimaurerlogen. Geiger kennzeichnet die MaurerBewegung der Spätphase durch die Pflege „alchimistisch-mystischer, naturphilosophisch-theosophischer, zauberisch-magischer Gedanken" und durch „einen unwiderstehlichen Zug ins Dunkel-Geheimnisvolle" 4 9 . Zimmermann hat darauf aufmerksam gemacht, daß es sogar ein bestimmter, nämlich der Luzifer-Mythos ist, der von ausschlaggebender Bedeutung für diese O r d e n war. Diesen Mythos hat Samuel Richter 1711 folgendermaßen dargestellt 5 0 : Gott, der zunächst nur Einheit und „ewige Stille" gewesen war, verspürt den Drang, sich zu offenbaren. Dies geschieht in sieben Schritten oder Gestalten, die einen kosmogonischen Mythos darstellen. N a c h d e m in der sechsten Gestalt der göttliche Verstand in der Natur eine „himmlische Wesenheit" gefunden hat, ist vor dem Fall Luzifers eine Lichtwelt entstanden, in der alles Geist-Leiblichkeit ist. In der Natur, die in der siebten Gestalt der „helle und lichte Feuers-Cörper himmlicher Wesenheit" war, schuf Gott nun Luzifer als „ein Zusammenziehen der ewigen Liebes-Begierde des Lichtes" an einem Orte. Dies Licht war hier „concentriret", es „schien im Corpore [Luzifers] viel heller als außerhalb". Das verführte den so Ausgezeichneten. Er „zog sich noch strenger zusammen, . . . um noch mächtiger zu werden . . . Luzifer wollte über alle Revier und die Gottheit herrschen". Damit wurde nun das Gleichgewicht von Finsternis 46 47 48 49 50

Weishaupt, Anrede . . v a n Dülmen, S. 179. Van Dülmen, I.e., S. 110. Weishaupt, Anrede . . van Dülmem, S. 183 bzw. 186. L.C., S. 230. Im folgenden übernehme bzw. paraphrasiere ich Zimmermann, 1. c., S. 108—111. Die TheoPhilosophia theoretico-practica von S. Richter wird ebenfalls nach Zimmermann zitiert.

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und Licht in ihm zerstört, denn zuviel Konzentration bedeutet zuviel Feuer des Grimms: „Jetzo wurde das süße Wasser verzehret, und fuhr aus allen Quali-Adern des gantzen Corporis . . . ein saurer, gifftiger Dampff voll Grimm und finstern Feuers". Es „wurde anstatt des süssen Wassers der Liebe ein scharffes, saures, feuriges und stinckendes Wasser", aus Licht und Feuer wurde so „harte und finstere Erde": Luzifer hatte die Schöpfung Gottes verdorben. Was der Mythos sagen will, teilt Richter dem Leser auch mit: „Hieraus können wir nun sehen, woher alles Böse kommen." Wir haben es mit einem neuen Mythos zu tun, der — in einer Mythentradition stehend — alle Elemente der alten Mythen enthält: Er stellt eine Kosmogonie dar, er gibt ein vergangenes Ereignis wieder, das zugleich ständig Gegenwart ist, denn das Übel, das Böse in der Welt ist gegenwärtig: Gott und Luzifer sind unter uns. Der Mythos gibt eine Erklärung - nicht im Sinne einer Letztbegründung, sondern im Sinne einer möglichen, erlebbaren Antwort auf eine sichtbare Frage: woher kommt die Welt und woher kommt das Übel in der Welt? Schließlich bietet er die Möglichkeit der Sinngebung des einzelnen Handelns als Möglichkeit einer Orientierung am wahren und nicht gefallenen Licht. So weit — so gut. Wie aber konnte im Zeitalter, das die Vernunft als einziges Licht wollte gelten lasen, dieser Lichtmythos mit den charakteristischen Funktionen eines Mythos Eingang finden in die Kulte von Vereinigungen, die sich in ihren Zielen als aufgeklärt verstanden? Ein schärferer Gegensatz als der zu Walchs Kritik an Homer, die oben wiedergegeben wurde, ist kaum vorstellbar! Mit Kant ein metaphysisches Bedürfnis anzunehmen oder mit Zimmermann einen „Nachholbedarf an spekulativem Denken" 5 1 zu diagnostizieren, unterstellt eben diesen Bedarf an Mythischem, dessen Ursache freizulegen ist. Der Grund ist, wie mir scheint, in folgendem zu sehen: Die Vernunft als res cogitans hatte bei Descartes außer Zweifeln und Denken das Wollen, das Einbilden und die Affekte umfaßt; die Gottesidee war ihr eingeboren und hatte damit einen Offenbarungsstatus. Diese umfassende Vernunft aber war — in Verfolgung des Bemühens um Sicherheit der Erkenntnis — immer stärker restringiert worden. An die Stelle der eingeborenen Gottesidee waren einfache Ideen (als Teile des menschlichen Gedankenalphabets oder im Sinne der empiristischen simple ideas) getreten, an die Stelle der umfassenden Cogitatio ein auf den Satz von der Identität und den Satz vom Grund sich stützendes analysierendes und kombinatorisches Vermögen. Die kritische Vernunft hatte sich selbst begrenzt. Dies sei in drei gravierenden Einzelpunkten kurz skizziert: 1. Das Theodizee-Problem stellt schon in seinem Ansatz eine Nötigung des latent bezweifelbaren Glaubens zur Rechtfertigung dar. Leibniz hatte 51

Zimmermann, 1. c., S. 75 mit Bezug auf den jungen Goethe.

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hierfür eine Lösung vertreten, die über eine Generation tragfähig erschien, nun aber von zwei Seiten her so angegriffen worden war, daß sie nicht mehr aufrechterhalten werden konnte: Zum einen war die Lehre von der prästabilierten Harmonie als Grundlage der Theorie der möglichen Welten und damit des Vergleichs der Welten in der platten Fassung der Vernünftigen Gedanken Wolffs so erschüttert, daß auch Gottscheds Rückgriff auf Leibniz nicht mehr viel helfen konnte; zum anderen hatte Voltaire seinen Spott im Candide über diese Welt als die beste aller möglichen Welten ausgegossen und das Unglaubwürdige dieser Konstruktion sichtbar werden lassen. Dieser Restriktion der Vernunft auf der einen Seite entspricht auf der Gegenseite ein Funktionszuwachs jenes affektiven Bereiches, den Descartes zunächst der res cogitans zugerechnet und in den Passions de l'âme schon weitgehend ausgeklammert hatte; denn wenn die Vernunft am Theodizeeproblem scheitert, bleibt die Möglichkeit offen, sie auf ein religiöses Gefühl zu gründen. Dieser Weg war mit Brockes bereitet, er führt über Haller und Voltaires Poème sur le désastre de Lissabonne ou examen de cet axiom Tout est bien (1756) zur Erweckungstheologie und Hamanns „Tand der Theodiceen" 52 . 2. Die Sprechweise vom Bösen setzt eine befriedigende Bestimmung des Guten voraus. Wolff war dies gänzlich unproblematisch erschienen: Gut ist das, was uns und unseren Zustand vollkommener macht; Vollkommenheit ist das Zusammenstimmen in der Mannigfaltigkeit. Mehr aber sagt Wolff nicht. Das Böse wäre demnach als Mangel an Vollkommenheit zu bestimmen, — nur weiß man nicht recht, worin diese besteht. Paragraph um Paragraph wird von Wolff abgeleitet, aber die Grundlagen, von denen nur behauptet wird, sie seien jedermann einsichtig, der des vernünftigen Denkens fähig sei, — diese Grundlagen werden nicht weiter diskutiert. Sie aber erscheinen nicht mehr selbstverständlich. Shaftesbury hatte im moral sense überdies eine Begründung des ethischen Handelns auf Gefühl vertreten, die trotz der Bindung an reflection eine gänzlich andere als eine vernunftbestimmte Ethikbegründung denkbar erscheinen ließ. Wohl gegen die Wölfische Schulphilosophie gewendet schreibt schließlich Oetinger, einer der führenden Begründer der neuen Rosenkreuzer- und Freimaurerbewegung: „Die philosophische Vernunft ist viel zu niedrig und zu stumpf, die Sünde einzusehen, und das darum, weil sie den Ursprung des Bösen nicht finden kann." 5 3 3. Mit der Wendung des Deismus zum Atheismus war eine Letztbegründung für die Sinngebung aufgegeben; zwar beteuerte d'Holbach das gerade Gegenteil, aber daß in einem rein deterministisch-materialistischen 52

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Vgl. hierzu Karl S. Guthke, Die Mythologie der entgötterten Welt. Ein literarisches Thema von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Göttingen 1971, bes. Kap. II. Friedrich Christoph Oetinger: Irdische und himmlische Philosophie, zit. nach Zimmermann, S. 158.

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System eine Selbstbestimmung durch Vernunft möglich sein sollte, erschien auch den Zeitgenossen ausgeschlossen. Mochte die Priestertrugtheorie zutreffende Elemente enthalten, mochte auch das Materielle — wie seit Descartes geläufig — deterministisch erklärt werden: Die entscheidende Frage nach Lebensziel und Lebensinhalt mußte unbeantwortet bleiben. In allen drei Punkten zeigte sich also eine Grenze der Möglichkeit aufklärerischer Ratio, die Schulphilosophie ließ die entscheidenden Lebensfragen offen. Weder Gefühl noch Phantasie hatten in ihr Platz, vom Numinosen zu schweigen; und die Antwort, die sie auf die Frage nach dem Wozu des Lebens gegeben hatte, erwies sich im Lichte der Vernunft als nicht tragfähig. Wenn dieser auf einfache Ideen und die Verarbeitung unmittelbarer Wahrnehmung, auf Vernunft als Vermögen zum logischen Operieren gegründete Begriff der ratio fast ein Jahrhundert unangefochten zur Leitschnur hatte dienen können, so deshalb, weil man in ihm zunächst eben jenes sinnstiftende, handlungsorientierende, allzeit geltende, Mensch und Natur gleichermaßen verbindende und umfassende Element gesehen hatte, das die Mythen zur Weltorientierung der in ihnen Lebenden befähigt. In dem Maße nun, in dem sich erwies, daß die so bestimmte Vernunft dies allein von sich nicht würde leisten können, wurde sie durch neue Mythen ergänzt oder gar selbst zum Mythos überhöht.

6. Die Wechselbeziehung von Mythos und Logos Ziehen wir abschließend die Summe: Der Versuch der Aufklärung, Mythen als eine frühe, längst überwundene Form des Denkens zu begreifen und die Menschheit von den Resten dieser frühen Stufe zu befreien, erwies sich als undurchführbar, weil das Absolutsetzen der Vernunft selbst Züge des Mythischen aufweist. Den Grund hierfür haben wir nicht in Archetypen wie C . G . Jung oder auf ethnologischem Gebiet wie Lévi-Strauss gesucht 5 4 , sondern, um mit Adorno zu sprechen, darin, daß „konsequente Aufklärung . . . zurückschlägt in Mythologie an der Stelle, wo sie . . . im Glauben an ein letzthin Gegebenes die Reflexion abbricht" 5 5 . Allerdings ließ sich feststellen, daß keineswegs der Mangel an Reflexion, sondern gerade die vorangetriebene Reflexion auf die Reichweite der Vernunft den Umschlag bewirkte. Dabei hat die Aufklärung selbst durchaus eine Affinität zum Mythos. So ist Distanzlosigkeit, die Mythen in ihrem Verhältnis zum Menschen kennzeichnet, gegeben, denn mit der Vernunft ist das denkende Wesen als sum

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Daß Lévi-Strauss' „Diskurs der strukturalen Mythenanalyse selbst mythisch ist", hat Gerhard Plumpe (Das Interesse am Mythos. 2ur gegenwärtigen Konjunktur eines Begriffs, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 2 3 6 - 2 5 3 ; S. 251) betont. Theodor W . Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt 1966, S. 130.

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cogitans sowohl bei sich als auch Teil der res cogitans. Wie ein Mythos, indem er eine verflossene Geschichte erzählt, die Gegenwart meint, soll die Vernunft in beständiger Gegenwart alles erfassen und ordnen, so den neuen Sinnhorizont der Menschen bestimmend. Weiter ist nach Jensen allen Mythen gemeinsam, daß sie einen Weg vom nicht Differenzierten, anders oder unrichtig Geordneten, ja Chaotischen, zur Ordnung beschreiten, und zwar als einen Weg durch das Wirken ordnender Kräfte 56 . Sie enthalten damit eine Denkfigur, die dem Geschichtsbewußtsein der Aufklärung vollkommen analog ist. Denn wenn aufklärerisches Denken eine vernünftigmoralische Zukunftsplanung intendiert, so beansprucht es damit, einen im Mythos gespiegelten, doch im einzelnen undurchsichtigen Heilsplan der Schöpfung selbst in die Hand zu nehmen. Geschichte ist etwas, was wir — nach Vico — verstehen und allen Aufklärern zufolge selbst zu gestalten vermögen: Die Vernunft statt der Götter soll den Ubergang vom Chaos zum Kosmos vollbringen. Sie verheißt ein Heilsgeschehen in der Geschichte, die Erfüllung aller Bedürfnisse als Erlösung und Elysium zugleich. Welches aber sind die Ziele, auf die hin Geschichte gesteuert werden soll? Sie werden als der Vernunft unmittelbar einsichtig unterstellt: Hier endet die Reflexion, und Aufklärung wird zum Geschichtsmythos. Alles bisher Gesagte mag als Deskription eines historischen Befundes erscheinen. Der eingeschränkte Begriff von ratio, den die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zugrundelegte, war die Ursache dafür, daß die mythischen Elemente nicht in ihr aufgingen. Es bleiben die Fragen, ob ein erweiterter Begriff von Vernunft hier grundsätzlich Wandel schaffen würde und sollte. Die beiden Fragen zu beantworten hieße nun allerdings, alle überhaupt mit dem Verhältnis von Mythos und Vernunft verbundenen Probleme zu lösen. Die historische Skizze läßt uns jedoch vermuten, daß beide Fragen unbeantwortbar sind. Denn jede Mythoskritik ist nicht Kritik am Mythos schlechthin, sondern an einem bestimmten Mythos. Genauer: Es ist eine Kritik am Mythos als einem noch unfertigen Umriß dessen, was die kritisierende Vernunft „selbst zu sein sich bewußt ist" 5 7 ; die Kritik bestimmt, was ihr als zu kritisierendes Mythisches entgegentritt. Da weiter jede Kritik selbst auf etwas zurückgreifen muß, was sie kritisierend nicht in Frage stellt, befindet sich die Vernunft stets in der von Adorno beschriebenen Situation, — auch dann, wenn sie reflexive Strukturen zuläßt: der reflektierenden Aufklärung der kritischen Theorie ergeht es also letztenendes nicht besser als der von ihr kritisierten eindimensional-rationalistischen oder empiristischen. — Dasselbe gilt auch für eine sympathetische Analyse des Mythischen: auch sie 56

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Adolf Ellegard Jensen: Echte und ätiolische (explanatorische) Mythen (Auszug aus: ders., Mythos und Kult hei Naturvölkern, Wiesbaden 1951), in: Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, S. 262. Jean Bollack: Mythische Deutung und Deutung des Mythos, in: Terror und Spiel, S. 95.

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kann nur auf etwas schon als in der Vernunft Rekonstruiertes zurückgreifen, um von dorther den Mythos zu thematisieren. Der Versuch, das Wesen des Mythos zu bestimmen, zwingt uns deshalb, den Blick auf das zu lenken, womit die Bestimmung erfolgen soll, auf die Vernunft. Hier nun zeigt sich, daß gar nicht festliegt, was Vernunft, was rationales Argumentieren, welches die unzweifelhaften Voraussetzungen sind. Vernunftwahrheiten, gemeint als zeitlos gültige Wahrheiten, hängen — was ihren Geltungsanspruch anlangt — ab von einem jeweils akzeptierten zeitlich variablen Horizont des Vernünftigen! Hieraus folgt, daß sich keine befriedigende Definition finden läßt, die umreißt, was wesentliche Eigenschaften von Mythen sind und vor allem, was das Mythische ist: Es bleibt immer bei einer Form der Abgrenzung gegen ein schon Gemeintes und Vermeintes, das explizierbar ist, verbunden mit der Intention, das vermeinte Mythische entweder als irrational-unvernünftig zu disqualifizieren oder als prärational der rationalen Rekonstruktion sich entziehend, aber elementar lebensbestimmend, positiv zu sehen. Hieraus resultiert die Unvereinbarkeit der verschiedenen Mythos-Analysen von der Antike bis heute. Was schließlich die Ziele einer Kritik an mythischen Vorstellungsweisen anlangt, so sind diese letztlich wieder in einen nicht der Kritik ausgesetzten Sinnhorizont eingebunden. Jedes Geschichtsziel jedweder aufklärerischer Bewegung erweist sich so als Spiegelung des jeweiligen kontingenten Sinnhorizontes; und wie Tenbruck gezeigt hat, sind künftige Ziele weder planbar noch prognostizierbar58. Fassen wir dies zusammen, so stellt sich heraus, daß Mythisches nie einholbar ist; bewußt wird das Mythische jedoch immer erst dann, wenn — mit Blumenberg zu sprechen — die Verzichte spürbar werden, unter denen uns Vernunft qua Wissenschaft Lebensbedingungen gewährleistet, aber Fragen abschneidet, die wir als eigentlich bewegende Fragen' ansehenS9. „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind", sagt Wittgenstein60. Betrachtet man Aufklärung und Romantik als Lebensformen, charakterisiert durch ihr Verhältnis zum Mythischen, so stellt erstere den Versuch dar, Lebensprobleme rational zu bewältigen und Irrationalität aufzulösen; die zweite dagegen ist Ausdruck des Unwillens, mit der Restriktion des Zweifels zu leben61. Beide aber müssen sich gegenseitig die Waage halten, denn die Notwendigkeit der Lebensbewältigung mit den

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Friedrich Tenbruck: Zur Kritik der planenden Vernunft, Freiburg-München 1972. Hans Blumenberg, Wirkungsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Terror und Spiel, I.e., S. 48. Tractatus 6. 52. Blumenberg, I.e., S. 41.

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Mitteln eines prüfbaren und begründeten, aber immer abstrakter werdenden Wissens steht Balance haltend die subjektive Integration der eigenen Wahrnehmungen und die Einbettung des Wissens in den Sinnhorizont eigenen Sichverstehens gegenüber, wesentlich geleistet durch die intentionale, auch künstlerische Fiktion vermittels mythischer Bilder und Sprech weisen: Beides, Mythos und Logos erscheinen als unverzichtbar, weil wechselseitig nicht ausschöpfbar. Doch daraus folgt weder eine Rechtfertigung noch eine Entschuldigung nostalgischer Sehnsüchte, sondern vielmehr die Aufgabe, sich in der jeweiligen Situation über die Reichweite und Mittel der Vernunft einerseits, über die damit verflochtenen impliziten mythischen Gehalte andererseits Rechenschaft abzulegen. Hierzu zählt auch die Aufgabe, „Knollenblätterpilz-Mythen" 6 2 von anderen zu unterscheiden. Wie anders aber sollte dies geschehen als mit den Mitteln des argumentativen Begründens, mit dem, was Piaton den Logos nannte!

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— im Sinne jener „giftigen M y t h e n " , auf die O . Marquard in seinem Beitrag dieses Bandes hinweist.

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Orte neuer Mythen Von der Universalpoesie zum Gesamtkunstwerk Die Problematik des Mythos assoziiert sich leicht dem Irrationalen. Mythos erscheint dann als das, was wider die Vernunft ist. Es gibt gute Gründe, darüber nachzudenken, warum der Mythos wieder einmal aktuell wird. Die philosophische Reflexion über dieses neuerliche Aufbrechen des Mythischen sollte am Phänomen der Ambivalenz ansetzen, die den neuen Mythen in ihrer Stellung zwischen der Rationalität und dem Irrationalen anhaftet. Das bedeutet eine Auseinandersetzung mit der verbreiteten Neigung des Denkens, das Irrationale des Mythischen auf die Seite der Restauration abzuschieben und lediglich die Ratio für den Fortschritt zu reklamieren. Zu fragen wäre nun, ob sich mit Hilfe eines solchen allzu simplen Verständnisses die Problematik des Mythos zureichend erfassen läßt. Vielleicht kann bessere Auskunft gegeben werden, wenn man der Ambivalenz nachspürt, in welcher der neue Mythos an der Wende zum 19. Jahrhundert und damit am Beginn des modernen Zeitalters steht. Eine solche Betrachtung, deren Interesse nicht nur in der historischen Fragestellung liegt, kann aufzeigen, daß der neue Mythos zwar gegen die Rationalität des modernen Zeitalters ins Feld geführt wird. Gleichzeitig wird jedoch der entscheidende, diesen Prozeß tragende Umstand sichtbar: der Vollzug erfolgt mit den Mitteln der Ratio selbst. Gerade deshalb kann sich eine Perspektive öffnen, den Mythos dem Humanismus der Vernunft zu versöhnen. Versuche dieser Art haben von sehr unterschiedlichen Ansatzpunkten her beispielsweise Ernst Bloch und Thomas Mann unternommen. Nach der Vergangenheit des Rätselwesens Mensch fragt Thomas Mann zu Beginn der Tetralogie „Joseph und seine Brüder". Je weiter ins Vergangene das Fragen dringt, desto mehr weichen die „Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung" ins Bodenlose zurück: sie erweisen sich als „gänzlich unerlotbar". So „treibt das Unerforschliche eine Art von foppendem Spiel" mit dem sehnenden Forschen und Fragen. Und Thomas Mann eröffnet seinen Roman mit einer Umschreibung des Mythos. Der erste Satz heißt: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?" 1 1

Thomas Mann: Gesammelte

Werke, Band 3 (Joseph und seine Brüder), Berlin 1955, S. 5.

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Wie also kann, wenn das Fragen versagt und abgewiesen wird, der Mensch sich selbst, seine Geschichte, seine Welt erklären: sich eine Vorstellung davon bilden? Er redet von sich, er erzählt seine Geschichten, in Bildern und mit Worten wird ihm seine Welt zu eigen. Anfänglich berichten diese Geschichten das Leben und Wirken der Götter, als dessen Abbild und Widerschein der Mensch sich begreift. Diese polytheistischen Mythen können — wie Hegel feststellt, wenn sie auch noch so „zierlich, lieblich, interessant, ja selbst von großer Schönheit" sind, zur „Erklärung tieferer Bedeutungen keinen Anlaß geben". Einer solchen bloß „historischen Mythologie" stellt Hegel die „symbolische Mythologie" entgegen. Symbolisch meint hier, daß die Mythen im menschlichen Geist ihren Ursprung haben. Sie können „bizarr, scherzhaft, grotesk" aussehen, „äußerliche Willkürlichkeiten der Phantasie" können beigemischt sein: die mythologischen Vorstellungen fassen in sich Bedeutungen. Die innere Wahrheit des Mythos enthüllt sich für Hegel nicht in den Erzählungen über Begebenheiten aus der Welt der Götter. Wenn es der menschliche Geist ist, der Mythen und sagenhafte Geschichten erzeugt, so ist es letztlich die Vernunft, die solche Gestalten erfindet. Allerdings bleibt sie dabei mit dem Mangel behaftet, „zunächst ihr Inneres noch nicht in adäquater Weise exponieren zu können." Die mythischen Vorstellungen sind in die symbolische Gestalt eingehüllt, weil die Menschen zu jenen Zeiten, „als sie ihre Mythen dichteten", selbst in „poetischen Zuständen" lebten und deshalb „ihr Innerstes und Tiefstes sich nicht in Form des Gedankens, sondern in Gestalten der Phantasie zum Bewußtsein brachten, ohne die allgemeinen abstrakten Vorstellungen von den konkreten Bildern zu trennen." Hegel verweist den Mythos an die Vernunft. Diese wiederum, als sozusagen mythische Vernunft, beklagt ihren Zustand des Mangels und harrt der Erlösung durch den philosophischen Gedanken. Die Mythologie, als deren Geschäft Hegel die „wissenschaftliche Betrachtung der Mythen" bestimmt, wird somit in das Vorfeld der Philosophie plaziert, und doch konzediert Hegel: „ D e n Menschen aber in seinem geistigen Bilden und Gestalten zu rechtfertigen, ist ein edles Geschäft." 2 Die Hegeische Ortsbestimmung beschwört für den Mythos die Gefahr herauf, sogleich und für immer in den Orkus des Irrationalen geworfen zu sein. D o c h weder Vernunft noch wissenschaftliche Erkenntnis vermögen den 2

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, Berlin 1955, S. 3 1 8 - 3 2 0 . An anderer Stelle befaßt sich Hegel mit Betrachtungen, inwieweit Mythologie in den Bereich der Philosophiegeschichte fällt. E r stellt dazu fest, daß das Mythologische „eine Art und Weise des Philosophierens" sein kann. E s ist also durchaus möglich, mythisch im Sinne vernunftgemäßer Reflexion zu philosophieren, denn „der Inhalt des Mythus ist der Gedanke". (Sämtliche W e r k e , Jubiläumsausgabe, Band 17, S. 120).

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Brunnen menschlicher Vergangenheit auszuschöpfen. Vertrieben aus Philosophie und Wissenschaft, dort seinen Ort nicht findend, siedelt der Mythos sich an anderen Orten an. Behalten die monotheistischen Religionen, nachdem der Polytheismus religionswissenschaftlich als Frühform entlarvt worden war, zwar ein gewisses Interesse für den Mythos bei, so ist ihr Verhältnis zu ihm stets zwiespältig und gebrochen. Die Kunst und auch die Natur werden nun vor allem Orte des Mythos: eines Mythos, den die unendlich schaffende Subjektivität aus sich heraus bildet. Dieser Prozeß einer neuen Ortsfindung setzt mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts ein und charakterisiert die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft — oder anders gesagt: des Menschen seit dem 19. Jahrhundert und auch bis heute — in der Form einer Gegenbewegung zu dem schon von Hegel diagnostizierten Prinzip dieser Epoche: der für sie konstitutiven Entzweiung des Subjektiven und Objektiven. Der Mythos erhält die Funktion, diese Entzweiungsstruktur aufzuheben, indem er durch den erzählenden Rückgriff auf die ursprüngliche Identität eine neue Einheit herstellt. War einstmals das Göttliche das mit sich Identische, so soll im mythischen Entwurf der Mensch aus sich heraus einig und eins werden mit sich. Zur Vermittlungsinstanz avanciert der Mythos: durch ihn will sich der entfremdete Mensch in der entzweiten Welt aufheben in den Stand der Identität, wie er ihn als Sein des Göttlichen erinnert. Der unergründliche Brunnen der Vergangenheit bleibt zwar der primäre mythische Bezirk, gleichzeitig jedoch erwächst dem Mythos eine utopische Dimension, weil nun das in der Vergangenheit „Unabgegoltene", das „Noch-Nicht-Gewordene", das „Noch-Nicht-Gelungene" aufgeschlossen werden muß. Die Kategorien dieser „utopischen Phantasie", die dem Mythos an seinen neuen Orten innewohnt, beschreibt Ernst Bloch im „Prinzip H o f f n u n g " 3 : Auf dem Weg zukünftiger Identitätsstiftung treffen sich Mythos und Utopie — gemeinhin als einander völlig entgegengesetzt angesehen. Die Utopie des menschlichen Menschen, diejenige von den Menschen, die alle gleich und alle frei sind, tritt als politische Utopie erstmals mit der Französischen Revolution 1789 auf die Bühne der Weltgeschichte und verabschiedet sich zunächst nach kurzem, aber blutigem Gastspiel. Der Mensch wird nun dem Prinzipe nach, formal als Mensch, also als frei und gleich, angesehen. Das Ringen um die bürgerliche Welt führt durch die Französische Revolution und ihre verschiedenen Nachbeben im 19. Jahrhundert schließlich zu einem Pyrrhussieg: Der in den neuen politischen Verhältnissen sich findende Mensch hat zwar den Status abstrakter Gleichheit und Freiheit errungen, ist aber sich selbst fremd geworden und versteht seine Welt nicht 3

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung,

3 Bände, Frankfurt a. M. 1970.

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mehr. Er ist in sich und mit sich zerfallen: Vernunft, Geist, Subjekt suchen sich in der Subjektivität ebenso zu begreifen, wie sie die ihnen entgegenstehende Welt als das neue geschichtliche Zeitalter zu fassen trachten. Welt als Wirklichkeit für den Menschen bedeutet jetzt entweder gesellschaftliches Totum oder verliert den Charakter der wirklichen Wirklichkeit im Transformationsprozeß zum Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Erkenntnis. Das auf seine Subjektivität reduzierte Subjekt stellt sich auf seine individuellen Zwecke und partikulären Uberzeugungen. Es findet sich in Gemüt und Innerlichkeit, im „Brei des Herzens" - wie Hegel es nennt, und hat sich für sich abgelöst vom Objektiven: es entwirft mittels der Medien , Ideologie' und ,Wissenschaft' Bilder und Auffassungen von Natur und geschichtlicher Wirklichkeit. Die Philosophie von Kant bis Hegel reflektiert diesen Zustand des bürgerlichen Zeitalters, den Hegel als den „Atheismus der sittlichen Welt" diagnostiziert. 4 Die Transzendentalphilosophie Kants — in ihm bewundert Heine den „großen Zerstörer im Reiche der Gedanken", der „an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertrifft" 5 - reflektiert in der Form von Metaphysikkritik die Subjekt-Objekt-Spaltung und hypostasiert sie als statische Erkenntnislehre. Bei dieser Theorierevolution vernachlässigt Kant allerdings geschichtliche Wirklichkeit und Natur für eine kritische Philosophie des Menschen auf der Basis des transzendentalen Idealismus und eröffnet damit der nachfolgenden philosophischen Reflexion die sich entgegenstehenden Möglichkeiten, diese Bereiche in eine idealistische Entzweiungsphilosophie zu integrieren, oder sie zu Ansatzpunkten für philosophische Theorien zu nehmen, die den Transzendentalismus zu vollenden trachten in den Systemen oder Konfessionen des objektiven und absoluten Idealismus. Mit dem prozessualen Setzen des Nicht-Ich durch das Ich bricht zunächst Fichte die Kantische Statik in der Subjekt-Objekt-Spaltung auf und gewinnt dem subjektiven Geist in der unendlichen Progression von Setzungsakten Weltbezüge. 6 Auf die Kraft dieser unbegrenzten Selbsttätigkeit des Menschen, die im Bewußtsein gründet, bauen anfänglich die philosophischen Dichter der Frühromantik. Sie vermissen trotz Fichtes Fortschreitens über Kant hinaus die Möglichkeit für eine Objektivität des Objektiven, insbesondere als Sphäre der Natur. Novalis bricht deshalb bald mit der subjektiv-idealistischen Konsequenz der Fichteschen Philosophie, indem er ein für sich existierendes Nicht-Ich, 4 5 6

G . W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1955, S. 9 und S. 7. Heinrich Heine: Gesammelte Werke, hg. W. Harich, Band 5, Berlin 1955, S. 291. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Jena u. Leipzig 1794 (2. verb. Aufl. 1802).

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eine objektive Möglichkeit setzt, in die einzugreifen, sie zu verändern dann Aufgabe des Subjekts wird. In der spekulativen Lehre des Novalis vom Erkennen und Bilden, vom Neuschaffen der Welt soll das subjektive Wollen objektive Wirklichkeit werden: „ D e r Mensch versteht, eine Welt hervorzubringen", sagt Novalis. Selbstbestimmung und Lebensgestaltung bleiben subjektiv determiniert: „Zur Welt suchen wir den Entwurf — dieser Entwurf sind wir selbst — Was sind wir? Personifizierte allmächtige Punkte". D e r „magische Idealismus" des Novalis stellt sich dar als subjektivistischer Prozeß der Spiritualisierung von Welt gekoppelt mit dem gleichfalls subjektivistischen Versuch unmittelbarer Materialisierung des Geistes. 7 In systematischer Form entwickelt Schelling im objektiven Idealismus eine Theorie ursprünglicher und kommender Identität, in der jegliche Widersprüchlichkeit aufgehoben ist. Über die Natur- und Kunstphilosophie gelangt er zur Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, denn „das System der Natur ist zugleich das System unseres Geistes" 8 . Natur ist der noch nicht bewußt gewordene Geist. Und dieser vollendet sich in der Kunst. Sie ist vollkommenste Identifikation des Realen und Idealen. Sie vermittelt die Gegensätze und vereinigt das Auseinandergetretene in höchster metaphysischer Einheit: Natur und Geist, Endlichkeit und Unendlichkeit, Subjektives und Objektives führt die Kunst wieder zueinander. Sie ist die nicht „hinwegzuleugnende Objektivität der intellektuellen Anschauung". Die Kunst wird für Schelling „dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen m u ß " . Die intellektuelle Anschauung, die das absolut Identische zum Gegenstand hat, kann „objektiv werden nur durch eine zweite Anschauung. Diese zweite Anschauung ist die ästhetische". Und die ästhetische Produktion stellt die Unendlichkeit dar 9 . Diesen Anatz enthält schon das erste Systemprogramm des Idealismus von 1796, dessen Autorschaft zwischen Schelling, Hölderlin und Hegel umstritten ist, das aber die Gedanken der drei Tübinger Stiftsabsolventen spiegelt. D o r t wird die Idee des ästhetischen Aktes als des höchsten Aktes der Vernunft herausgestellt. Hölderlin erläutert diesen Gedanken etwa zur gleichen Zeit in einem Brief an Schiller: „Ich suche zu zeigen, daß die unnachlässige Forderung, die an jedes System gemacht werden muß, die Vereinigung des Subjekts und Objekts in einem absoluten — Ich, oder wie 7

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Novalis (Friedrich von Hardenberg): Werke, hg. G. Schulz, München 1969, S. 344 u. S. 383. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Sämtliche Werke, hg. K. F. A. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1856-61, Band II, S. 39. a . a . O . , Band III, S. 625, S. 628f. u. S. 626f.

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man es nennen will, — zwar ästhetisch, in der intellektualen Anschauung, theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung möglich ist, wie die Annäherung des Quadrats zum Zirkel." 10 U n d auch Friedrich Schlegel sieht die Zeit für eine „ästhetische Revolution" gekommen. Er erhebt den Ruf nach diesem „ästhetischen Imperativ" 11 zur gleichen Zeit, zu der das Systemprogramm erklärt: „Wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen" 1 2 . Schelling entwickelt diesen Gedanken weiter: Die realen Ideen sind die Götter. Die Symbolik dieser „Ineinsbildungen des Allgemeinen und Besonderen" ist in der Mythologie gegeben. Sie wird somit zur notwendigen Bedingung und zum „ersten Stoff" aller Kunst 13 . In ihr nun erhält der Mythos seinen neuen Ort. Die Herausbildung solcher mythischer Metaphysik der Kunst, wie sie in der Gleichzeitigkeit der Gedankengänge bei den philosophierenden Dichtern der Frühromantik sowie bei Hölderlin und Schelling aufbricht, kündigt sich bereits im ersten Systemprogramm des Idealismus von 1796 an. Dort heißt es : „Die Poesie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war — Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben." 14 Während in der Kunstphilosophie der Mythos als Vermittlungsinstanz fungiert und die Rückkehr zur Poesie einleitet, begreift Schelling in seiner späten Philosophie der Mythologie den Mythos dagegen „als die unvordenkliche, insofern auch allem Denken zuvorkommende Religion des Menschengeschlechts aus dem natürlich Gott-Setzenden des Bewußtseins". Der theogonische Prozeß der Mythologie geht, wie Schelling aufzeigt, „nach demselben Gesetz durch dieselben Stufen hindurch, durch welche ursprünglich die Natur hindurchgegangen ist." 1 5 In der Naturphilosophie liegt somit die erste Anlage der künftigen Symbolik und Mythologie. Und wie sich Natur im Prozeß des Bewußtwerdens zum Geist erhebt, so durchläuft auch der unvordenkliche Mythos diese Bewußtwerdung. Insoweit ist schließlich auch Natur ein O r t des Mythos. Das Absolute „verhüllt sich in der erscheinenden Natur in ein Anderes als es selbst in seiner Absolutheit ist": In der Natur als Mythos verhüllt sich das Absolute in ein „Sein, welches sein 10 11

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Friedrich Hölderlin: Werke, Band 3, o. J., S. 406 (Brief an Schiller vom 4. September 1795). Friedrich Schlegel: Schriften zur Literatur, hg. W . Rasch, München 1970, S. 185, S. 128 u. S. 190 (Uber das Studium der griechischen Poesie). Ältestes Systemprogramm des Deutschen Idealismus von 1796, hg. F. Rosenzweig in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 5, 1917. Schelling a . a . O . , Band V, S. 370, S. 390 u. S. 405. Systemprogramm a . a . O . Schelling a . a . O . , Band XI, S. 193 u. S. 245.

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Symbol ist" 1 6 . Die mythisch bestimmte Natur kann „Wunder der Geschichte, Rätsel des Altertums, die Unwissenheit verwarf" aufschließen 17 . Die Potenzen des Seins offenbaren sich in Natur und Kunst wie ebenso auch in der mythisch-religiösen Symbolik: der Rückgriff auf die alten Mythen wird gleichfalls Ausdruck des metaphysischen Daseinsprozesses. Schellings Philosophie kann von ihren verschiedenen Ansätzen her stets als Philosophie des neuen Mythos betrachtet werden. In der Natur-, Kunst- und Religionsphilosophie — diese schlägt dann um in Philosophie der Mythologie — bringt Schelling den Mythos an seine neuen Orte. Dort tritt der Mythos jeweils in seine ihm genuine Funktion: durch ihn wird am Ort das Absolute offenbar. Der Mythos in der Kunst hat in Schellings ontologisch begründeter universeller Ästhetik das Sein als Absolutes mit dem Seienden zu vermitteln. Wenn Schelling auch weitere Versuche unternimmt, die Vermittlungsaporie aufzulösen, indem er in der Philosophie der Natur und der Mythologie in analoger Weise den Mythos als principium für das Aufgehen von Subjektivität in Totalität einsetzt, so behält doch die ästhetische Vermittlung durchweg den höchsten Rang: In der Kunst bringt sich der Mythos vollkommen zum Ausdruck. Damit vollzieht er mit die Einbildung „der unendlichen Idealität ins Reale". So wird Kunst „selbst ein Ausfluß des Absoluten". Dieses absolut Identische kann in höchster Potenz nur die Kunst reflektieren. Kunst als Mythos hat ihren Grund jedoch nicht im Gegenstand der Kunst, denn „die unmittelbare Ursache aller Kunst ist Gott". Sie hat ihre causa finalis im Absoluten, in dem also, was im Zustand der Entzweiung und Entfremdung des Menschen vom Absoluten nicht objektiv vermittelt werden kann, was aber Kunst als Mythos subjektiv vermitteln soll. Zum Organ dieser Kunst wird die Poesie bestimmt, die Wortkunst als Symbol der unendlichen Affirmation Gottes von sich selbst 18 . Das Postulat der neuen Mythologie führt bei Schelling zu einer Ästhetisierung aller Philosophie. Eine solche ästhetisierende Philosophie des neuen Mythos übernimmt die Aufgabe, die auf die Sphäre des Subjekts eingeschränkte Erkenntnis mit der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit als der objektiven Praxis zu vermitteln. Wenn nun aber Schelling Selbstbewußtsein als Konstituens des Seienden begreift, also Subjektivität als intellektuelle Anschauung zum adäquaten Erkenntnis- und Seinsmodus des Absoluten erklärt, dann kann durch den neuen Mythos in der Kunst die angestrebte Vermittlung nur im ästhetischen Akt vollzogen werden. Wenn produktive Intelligenz und Realität sich bloß ästhetisierend vermitteln 16 17 18

Schelling a. a. O . , Band II, S. 67. Schelling a . a . O . , Band VII, S. 247. Schelling a . a . O . , Band V, S. 377, S. 386, S. 372, S. 373f.

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lassen, wird schließlich der ästhetische Schein als das Ganze der Wirklichkeit angesehen. Kunst als Mythos vollbringt zwar die Freisetzung des Absoluten im Kunstwerk, aber die Versöhnung des Entzweiten leistet der neue Mythos in der Kunst lediglich in der Form des Scheins. Zeitgleich mit Schelling fordert Friedrich Schlegel die „neue Mythologie" in der unendlichen Reflexion der Frühromantik als Prinzip der „ewigen Revolution" für das Zeitalter 19 . Es ist das bürgerliche Zeitalter, das sich damit seine eigenen Mythen schaffen soll. Friedrich Schlegel und Novalis artikulieren sie in der Universalpoesie als dem hieroglyphischen Ausdruck der Ideenkunst. Hier wird der neue Mythos des neuen Zeitalters an seinen Platz gebracht: in neuen Kunstformen. Vermittels des neuen Mythos sucht der Mensch des 19. Jahrhunderts seine Identität herzustellen. Dies gelingt jedoch im widersprüchlichen Verlauf geschichtlicher Wirklichkeit nicht. Bei dem vergeblichen Bemühen, durch neue Mythen das Individuelle mit dem ihm fremden objektiv Wirklichen zu versöhnen, gerät der neue Mythos selbst in einen Prozeß der Trivialisierung seiner Verortung. Ausgehend von der esoterischen Universalpoesie erlangt der neue Mythos breitere Wirkungskraft schließlich im Gesamtkunstwerk; doch die Verwirklichung des Gesamtkunstwerks scheitert an den Antagonismen des Zeitalters: der neue Mythos — darin unentrinnbar verstrickt — findet sein Ende auf der Opernbühne. Die bürgerliche Welt, davon geht Friedrich Schlegel aus, wird in der Lage sein, die Widersprüche der Menschheitsgeschichte durch eine ästhetische Revolution zu lösen. Diese erscheint ihm als die „große moralische Revolution, durch welche die Freiheit in ihrem Kampfe mit dem Schicksal endlich ein entschiedenes Ubergewicht über die Natur bekommt". Die „physische" Umwälzung weist Schlegel als kulturfeindlich zurück 20 . Er erwartet mit der ästhetischen Revolution den Durchbruch des Objektiven: „Es ist wahrhaft wunderbar, wie in unserm Zeitalter das Bedürfnis des Objektiven sich allenthalben regt." 2 1 Euphorisch gestimmt entwirft Friedrich Schlegel am Beginn des 19. Jahrhunderts eine Utopie der Vollendung dieser Epoche in einem „Zeitalter der Verjüngung". Zur Verwirklichung dieser Utopie wird es notwendig, „das graue Altertum" wieder lebendig werden zu lassen und gleichzeitig auf „die fernste Zukunft der Bildung" hinzuarbeiten. Dieses soll „Kraft der Begeisterung" auf dem Boden des Idealismus als dem „großen Phänomen des Zeitalters" die Poesie leisten. Sie kann es jedoch noch nicht, ihr fehlt der Mittelpunkt für alles Wirken. Im Mythos wird ihn die Poesie finden. „Wir 19 20 21

Schlegel, a. a. O., S. 307 (Rede über die Mythologie). Schlegel, a. a. O., S. 123 (Über das Studium der griechischen Poesie). Schlegel, a. a. O., S. 128 (Uber das Studium der griechischen Poesie).

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haben keine Mythologie" stellt Schlegel fest. Deshalb wird dem Geist, weil er „sich selbst zu bestimmen und im ewigen Wechsel aus sich herauszugehen und in sich zurückzukehren" hat, nunmehr die Aufgabe gestellt, aus sich selbst eine „neue Mythologie" hervorzubringen. Sie ist „ B e t t " und „ G e f ä ß " für mythische Poesie. Herausgebildet aus „der tiefsten Tiefe des Geistes" erscheint der neue Mythos als „das künstlichste aller Kunstwerke". Beispiel für die neue Mythologie und indirekt ihre Quelle wird in seiner Entstehungsart der Idealismus, der „in praktischer Ansicht nichts anderes als der Geist jener Revolution" ist, die alle Wissenschaften und Künste schon ergriffen hat. In theoretischer Hinsicht reflektiert der Idealismus das „große Faktum", worin „die innere Einheit des Zeitalters" gründet, nämlich, „daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden". Aus diesem Idealismus, den Schlegel identifiziert als Phänomen, in dem sich die Selbstfindung des Geistes vollzieht, erhebt sich vermittels des neuen Mythos ein „grenzenloser Realismus". In diesem „Ideal eines solchen Realismus" liegt alle Hoffnung auf die Vollendung der bürgerlichen Welt. Er tritt an zur Verwirklichung der Utopie eines Zeitalters der Verjüngung der Menschheit. Als sein Organ erscheint die Poesie, „die ja auf der Harmonie des Ideellen und Reellen beruhen soll' '. In der Poesie dieses Realismus wirkt der neue Mythos. Er hebt „den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft" auf; setzt den Geist „wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur". Auf dem Wege zum Ziel nutzt der neue Mythos „das bunte Gewimmel der alten Götter", zeigt sich aber auch der „ G r ö ß e des Zeitalters würdig" und arbeitet sich „aus der innersten Tiefe des Geistes wie durch sich selbst heraus". So faßt Friedrich Schlegel im prophetischen Appell zusammen: „Mich deucht, wer das Zeitalter, das heißt jenen großen Prozeß allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution verstünde, dem müßte es gelingen können, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Tun der ersten Menschen, wie den Charakter der Goldnen Zeit, die noch kommen wird, zu erkennen und zu wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne. Dieses ist, was ich mit der neuen Mythologie meine." 2 2 Diese Universalität spricht auch Schelling der neuen Mythologie zu. Der Mythos in der Kunst soll „nicht nur das Gegenwärtige oder auch Vergangene darstellen, sondern auch die Zukunft begreifen". So sieht Schelling in der von der alten Mythologie angeschauten urbildlichen Welt eine prophetische „Anticipation" jener neuen Welt, „in der sich die Successionen der

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Schlegel, a . a . O . , S. 3 0 1 - 3 0 7 (Rede über die Mythologie).

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modernen Zeit endlich als Totalität darstellen werden" 23 . Als Instanz dieser Vollendung nennt Schelling die Geschichte. Der aus Individualität gestaltete neue Mythos gewinnt seinen Ort in der romantischen Poesie, diese ist „progressive Universalpoesie". Der universale Charakter romantischer Poesie wird von Friedrich Schlegel aus dem Anspruch einer umfassenden Aufnahme aller poetischen Formen und Inhalte abgeleitet. Die Universalpoesie vereinigt die getrennten Gattungen der Poesie. Sie setzt Poesie, Philosophie und Rhetorik zueinander in Beziehung. In ihr sind Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunst- und Naturpoesie zu neuer Einheit zusammengefaßt. Die Universalpoesie enthält den unendlichen Reichtum des Poetischen vom „System der Kunst" bis hin zum „kunstlosen Gesang". Sie kann sich „in das Dargestellte verlieren" und bewahrt doch „auf den Flügeln der poetischen Reflexion", die sie immer wieder potenziert und „wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln" vervielfacht, den Ausdruck der künstlerischen Individualität. Die Universalpoesie kann „ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters" werden und „das Leben und die Gesellschaft poetisch machen". Ihr Charakter ist es, daß sie ewig nur werden, niemals abgeschlossen und vollendet sein kann: „Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kraft dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide" 24 . Und doch wird damit nicht der extremen subjektiven Willkürlichkeit als poetischem Gestaltungsprinzip ungehindert der Weg geebnet. Friedrich Schlegel bindet die poetische Produktion, in der die neuen Mythen ausgebildet werden, an „die notwendigen Gesetze für den Gang des Ganzen", wenn er als poetisches Prinzip verkündet: „Unermeßlich und unerschöpflich ist die Welt der Poesie wie der Reichtum der belebenden Natur." Weil in jedem Menschen „ein Funke" des schaffenden Dichtergeistes lebt, ist es nicht notwendig, „daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernünftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen." Die Poesie bedarf zu ihrer Bildung keine theoretischen Gesetzmäßigkeiten, denn „wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewächsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang und alles voll ward von Wesen, die sich fröhlich vermehrten, so blüht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor." Für die poetische Gestaltung ist dem Dichter darum auferlegt, „seine Poesie und seine Ansicht der Poesie ewig zu

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Schelling, a . a . O . , Band V, S. 414 u. S. 448. Schlegel, a . a . O . , S. 37f. (Athenäums-Fragmente).

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erweitern, und sie der höchsten zu nähern, die überhaupt auf der Erde möglich ist. " Dafür genügt ihm der „Ausdruck seiner eigentümlichen Poesie" nicht. Er muß „die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden" trachten. „ D a s Spiel der Mitteilung und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollendung ist nur im T o d e . " 2 5 Die höchste poetische Gattung sehen die philosophierenden Dichter der Frühromantik im Roman. Er stellt, wie Novalis sagt, „Leben dar". Er ist die „Realisierung einer Idee". Durch ihn gelingt die Romantisierung der Welt. Das Romantisieren wird bestimmt „als eine qualitative Potenzierung". In diesem Prozeß zeigt Poesie sich als „die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit". In der Romantisierung oder Poetisierung der Welt erfolgt „die Erhebung des Menschen über sich selbst 2 6 . Diesen Akt subjektiv-idealistischer Selbstbefreiung und -Verwirklichung, den Novalis in der Theorie des Poetisierens und Romantisierens programmatisch vollzieht, sucht er in seinen Romanfragmenten im Sinne praktizierter Universalpoesie auszugestalten. Im „Ofterdingen" zeigt Novalis, wie der zum Dichter geborene Heinrich lernt, sein poetisches Vermögen zu objektivieren und aktiv auf die ihn umgebende Weltwirklichkeit anzuwenden, um so das „wahre Wesen" alles Seins zu finden. In der Sehnsucht nach der blauen Blume symbolisiert sich die Sehnsucht nach Weltfindung und Erfüllung des Menschen. Der „Ofterdingen" bleibt Fragment, die Universalpoesie findet ihre Vollendung nicht, doch neue Mythen bilden sich heraus. Solger begreift diesen Vorgang, wenn er über den Ofterdingen begeistert schreibt: „ E s würde also dies eine mystische Geschichte, eine Zerreißung des Schleiers, welchen das Endliche auf dieser Erde um das Unendliche hält, eine Erscheinung der Gottheit auf Erden, kurz ein wahrer Mythos, der sich von andern Mythen nur dadurch unterschiede, daß er sich nicht in dem Geiste einer ganzen Nation, sondern nur eines einzelnen Mannes bildete." Solger nimmt allerdings in kritischer Stellungnahme zur romantischen Mythenbildung seine Hoffnung auf einen neuen Mythos später wieder zurück 2 7 . N e u e Mythen — wie Nacht, Tod, Liebe — erscheinen insbesondere in den Märchen des Novalis. Romantische Kunstmärchen sind Orte neuer Mythen. Im Märchen vor allem erlangen die poetisierten Mythen ihre Ausgestaltung im poetischen Entwurf des neuen goldenen Zeitalters. „Mit der Z e i t " , so sagt Novalis, „muß die Geschichte Märchen werden — sie wird 25 26 27

Schlegel, a . a . O . , S. 279f. (Gespräch über die Poesie). Novalis, a . a . O . , S. 391, S. 384 u. S. 380. Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel, Band 1, Leipzig 1826, S. 95.

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wieder, wie sie anfing". Und folgerichtig fordert er, daß der Roman mehr und mehr in Märchen übergehen soll: das poetische Märchen - nunmehr universalpoetisches Medium — muß in seiner Mythenbildung „zugleich prophetische Darstellung — idealische Darstellung — absolut notwendige Darstellung sein". So wird der Dichter „ein Seher der Zukunft" 2 8 . Im Märchen von Eros und Fabel, in Klingsohrs Märchen gestaltet Novalis beispielhaft die von der mythischen Poesie zu leistende Befreiung der Welt. In der Märchenhandlung sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Natur und Menschheit ineinander verwoben. Aus dem Reich des Lebens sind Weisheit und Liebe fortgegangen. Die negativen Kräfte herrschen. Die Feinde der Poesie und der Liebe reduzieren das Leben auf freudlose Tätigkeit. Sie wollen die gefangene Poesie im Dienst der Parzen spinnen lassen. Die Feinde der Poesie und der Liebe begreift Novalis als Repräsentanten der lichtlosen Aufklärung und als diejenigen, die Schuld tragen an der verhängnisvollen Fehlentwicklung des eigenen Zeitalters. Poesie stellt sich ihnen entgegen und wird, obwohl ständig verfolgt, zur Retterin der Menschheit. Sie verkündet in Nacht und Kälte den Anbruch der erlösenden Zukunft, in der alle Widersprüche und alles Leiden vernichtet sind. Durch Eifer und Treue bringt Poesie die Erfüllung der Sehnsucht nach Frieden und Unsterblichkeit: „Gegründet ist das Reich der Ewigkeit, In Lieb und Frieden endigt sich der Streit, Vorüber ging der lange Traum der Schmerzen, Sophie ist ewig Priesterin der Herzen" 2 9 . Novalis vollzieht im mythischen Märchen die Befreiung der Welt durch ihre Verwandlung in einen Traum, und dieser Traum wird Medium für die Projektion der erträumten neuen Welt. Der Protest des Novalis gegen das Leiden der Vergänglichkeit in einer unmenschlichen Welt führt, da die Widersprüche sich nur träumend im poetischen Mythos versöhnen lassen, letztlich zur Absage an das irdische Leben überhaupt. Auch in den „Hymnen an die Nacht" wird die Häßlichkeit des gegenwärtigen Zeitalters beklagt. Die radikale Kritik ist eingekleidet in die Symbolik des Religiös-Mythischen. Der Mensch sucht zunächst seine Erfüllung in der Traumwelt der Nacht. Die Welt des Tages, seine geschichtliche Wirklichkeit, bleibt ihm fremd. Im Vollzug der Entzweiung von Mensch, Weltwirklichkeit und Natur nimmt die Weltseele das Gemüt zum Asyl. Im Gemüt lebt die Liebe fort und verwirklicht sich in diesem Bezirk abstrakter Innerlichkeit. Dieser Scheinverwirklichung überdrüssig sehnt sich der Mensch nach Aufhebung seiner Leiden in der ewigen Leere. Deshalb geht die „Sehnsucht nach dem Tode". In ewig dunkler, leerer Nacht wird der Mensch seine Erlösung finden: „Zu suchen haben wir nichts mehr — Das 28 29

Novalis, a . a . O . , S. 455f. Novalis, a . a . O . , S. 232-258 (Heinrich von Ofterdingen, 1. Teil 9. Kapitel).

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H e r z ist satt - die Welt ist leer". So vollbringt der Tod, den Novalis dann mit dem Traum identisch setzt, am Ende die Vereinigung alles Seienden. Im Mythos des Todes werden Mensch und Welt befreit 30 . Damit zerrinnen die utopischen Perspektiven auf die „Verjüngung der N a t u r " und „die Wiederkehr eines ewigen goldenen Zeitalters" 3 1 . Bei Novalis wird die Vision eines „poetischen Staates", der die Widersprüche und damit das Leiden aufhebt und dem Menschen eine harmonische Zukunft verheißt, nicht zu einer konkreten politischen Utopie ausgeformt 3 2 . Diese Vision schlägt um in radikale Kritik an den Tendenzen der Epoche und in Resignation der klagenden Subjektivität, die sich in Traum und Tod einen Mythos der Weltflucht schafft. Friedrich Schlegel dagegen gibt Utopie und Perspektive so nicht auf: Für ihn ist es wahrscheinlicher, daß das Zeitalter der Verjüngung heraufzieht, als daß die Menschheit aus ihrem Zentrum geworfen untergeht. Er läßt diese Hoffnung auf Selbstverwirklichung des Menschen in dem Roman „Lucinde" aufscheinen, indem er exemplarisch die Erfüllung des Anspruchs individueller Selbstwerdung angesichts gegebener gesellschaftlicher Antagonismen einklagt. Nicht allein Schleiermacher empfand dies als eine radikale Herausforderung der bestehenden bürgerlichen Welt. Das erfüllte Ideal, die ersehnte neue Menschlichkeit, die entfaltete Individualität in einer menschlichen Gesellschaft läßt sich nur mit und in Liebe erreichen. Sie wird von Friedrich Schlegel als neuer Mythos gefeiert: „ D i e Liebe ist nicht bloß das stille Verlangen nach dem Unendlichen; sie ist auch der heilige Genuß einer schönen Gegenwart. Sie ist nicht bloß eine Mischung, ein Ubergang vom Sterblichen zum Unsterblichen, sondern sie ist eine völlige Einheit b e i d e r . . . Durch die Magie der Freude zerfließt das große Chaos streitender Gestalten in ein harmonisches Meer der Vergessenheit. Wenn der Strahl des Glücks sich in der letzten Träne der Sehnsucht bricht", dann werden „die lieblichen T r ä u m e " wahr, und „aus den Wogen des Lethe" erheben sich „die reinen Massen einer neuen Welt und entfalten ihren Gliederbau in die Stelle der verschwundenen Finsternis. In goldner Jugend und Unschuld wandelt die Zeit und der Mensch im göttlichen Frieden der Natur, und ewig kehrt Aurora schöner wieder." 3 3 Die neuen Mythen, die ihren Ursprung in der Innerlichkeit, in Einbildungskraft und Phantasie haben, wirken in der Universalpoesie im Sinne einer Ästhetisierung gesellschaftlicher Praxis. Die an intellektuell-elitäre Geistesströmungen gebundene Universalpoesie, in ihrer Form als roman30 31 32 33

Novalis, Novalis, Novalis, Schlegel:

a.a.O., a.a.O., a.a.O., Kritische

S. 4 1 - 5 3 (Hymnen an die Nacht). S. 162 (Heinrich von Ofterdingen, 1. Teil 3. Kapitel). S. 351. Ausgabe, hg. E. Behler, München usw. 1962, Band 5, S. 60.

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tischer Roman selbst zum Scheitern verurteilt, verhindert den Einbruch der neuen Mythen in den realgeschichtlichen Gang. In der Universalpoesie bleibt der neue Mythos lediglich Gegenbild zur Unnatur des Lebens oder wird transponiert in die aus Ursprungsinhalten gespeiste ästhetische Utopie eines kommenden Zeitalters, das alle Widersprüche in absoluter Versöhnung tilgt. Das bürgerliche Bewußtsein im gegenwärtigen Zustand der Entzweiung läßt sich nicht auf den Anbruch der paradiesisch mythischen Gesellschaft vertrösten. Es braucht seine Mythen — hic et nunc —, um sich in und aus den Antagonismen seiner Wirklichkeit in der Identitätsfindung befreien zu können. Der Ort für diesen Befreiungsakt der mythenbildenden bürgerlichen Einbildungskraft wird die Oper, die sich im Gesamtkunstwerk selbst zum Mythos überhöht. In Analogie zur Universalpoesie zielt die Poetik des Gesamtkunstwerks — als deren Exponent im 19. Jahrhundert Richard Wagner hervortritt — auf die Gleichrangigkeit der Kunstarten. Doch dieses „höchste gemeinsame Kunstwerk" als das „notwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft" bleibt trotz des Postulats der Vereinigung aller Kunstgattungen unter der Herrschaft der Musik 34 . So wird Oper als Musikdrama zu dem Ort, wo die prosaischen Verhältnisse des bürgerlichen Lebens ihre Überhöhung im Mythischen erfahren sollen. Damit vermag die Oper als Erscheinungsort des Mythischen die Sehnsucht des 19. Jahrhunderts nach Identität wenigstens in der Form des Scheinens einzulösen. Der Mythos im Musikdrama soll das in der Realität Entzweite im schönen Schein des Kunstwerks versöhnen. Damit steht der Mythos in der Funktion, alltägliche Wirklichkeit ästhetisierend verklären zu helfen. Der Mythos in der Oper und schließlich die Oper selbst als Mythos avancieren zum wichtigsten Identitätsstifter für das Zeitalter: Oper als mythisches Musikdrama potenziert Inhalt und Gehalt der Philosophie des Mythos von Schelling und der frühromantischen mythischen Universalpoesie in einem Prozeß der Verabsolutierung von Subjektivität. Dies vollzieht sich über die Kunstform Musik — genauer in ihr, insofern sie sich mit Strukturelementen der dramatischen Poesie und der bildenden Künste durchsetzt als musikalisches Drama ausdifferenziert.

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Richard Wagner: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Band 3, Leipzig 1887, S. 60 u. S. 150 (Das Kunstwerk der Zukunft). Indem Aufsatz: „Uber die Benennung,Musikdrama'" wendet sich Wagner gegen diese Bezeichnung. Das W o r t sei unsinnig, gemeint sein könne wohl nur „ein in Musik gesetztes wirkliches Drama" (Wagner, a. a. O . , Band 9, S. 303). Die übliche Oper sollte nach Wagners Auffassung nicht als Musikdrama bezeichnet werden, denn sie steht dem vollkommensten Kunstwerk fern. Dieses ist „das lebendig aufgeführte Drama" (Wagner, a . a . O . , Band 10, S. 184 ,Uber die Anwendung der Musik auf das Drama').

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Musik als „Kunst des Gemüts" — wie Hegel sie definiert 35 — ist vollkommenste Kunst der Subjektivität - also der eigentliche Typus der romantischen Kunstform. Vielleicht ist gerade in Verkennung dieser ästhetischen Indikation der Versuch des Romantisierens mittels der Universalpoesie in der Kunstform des Romans gescheitert. Das romantische Bewußtsein reflektiert diesen ästhetischen Sachverhalt, etwa wenn Tieck Musik als „das letzte Geheimnis des Glaubens" anspricht. Die Musik enthüllt „in rätselhafter Sprache das Rätselhafteste" 36 . Und auch Ε. T. A. Hoffmann sieht Musik als die romantische Kunst an: sie allein ist „echt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf." 3 7 So kann der Mensch des 19. Jahrhunderts in der Musik seine ihm äußerliche Weltwirklichkeit verlassen: „Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf." Es ist dies eine eigene Welt, eine durch mythische Romantisierung in Musik geoffenbarte unendlich reiche und zugleich leere Welt der Innerlichkeit: Eine Welt für die Subjektivität und aus ihr gebildet. Diese Welt als Reich der Musik hat - wie Ε. T. A. Hoffmann beschreibt nichts gemein „mit der äußeren Sinnenwelt". Alle „bestimmten Gefühle" sind zurückgelassen, „um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben" 3 8 . Aber diesem Drang, das Prosaische abzuschütteln und ins Unendliche sich zu verlieren, kann der Mensch durch Musik nur dann nachgeben, wenn Musik „unmittelbar aus der Dichtung als notwendiges Erzeugnis derselben entspringt" und nur dort, wo „Gesang, Instrumentierung, Modulation, Rhythmus aus einem und demselben Brennpunkt des dramatischen Ausdrucks wirken" 3 9 . Bei Ε. T. A. Hoffmann kündigt sich als die universale romantische Kunstform das Musikdrama an, worin die der Musik assoziierten Künste dem Range der Musik angenähert werden. Musik, Poesie, Handlung, Dekoration verschmelzen zu einer Art Gesamtkunstwerk, das die Alltagswelt ins Mythische transponiert und damit als Ort ihrer Verklärung im ästhetischen Schein fungiert. In der Oper als mythischem Musikdrama sucht sich das bürgerliche Zeitalter eine ihm gemäße künstlerische Überhöhung zu schaffen: Der neue Mythos, der seinen Ort in der Oper findet, geriert sich als Statthalter veräußerlichter Selbstverherrlichung eines Zeitalters, das sich im Grunde und dem Wesen nach fremd bleibt.

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Hegel, a . a . O . , S. 808. Ludwig Tieck: Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst, 1799, hg. Minor in Kürschners Deutscher Nationalliteratur Band 145. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Gesamtausgabe in 15 Bänden, hg. W. Harich, Band 12, Weimar 1924, S. 14. Hoffmann, a. a. O . , Band 12, S. 14. Hoffmann, a . a . O . , Band 13, S. 106 u. Band 12, S. 75.

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Oper als die bürgerliche Kunst — Adorno entwickelt von diesem Gedanken her eine Soziologie der Oper — mythisiert in Musik und Drama Leidenschaft und Liebe, Haß und Verzweiflung, schließlich den Tod. Damit übernimmt es die Oper, eine Forderung zu erfüllen, die Schelling einmal an die Zeit gestellt hat, nämlich Luft, Wasser, Feuer und Erde — also den Umkreis von Natur und Geist gleichermaßen - wieder zu poetisieren. Die Oper vollzieht das angesichts der neuen Wirklichkeit einer Industrialisierung, dieser mächtigsten Objektivation, die in ihrer Geschichte die menschliche Rationalität aus ihrem Sein heraufbeschworen hat. Komplementär dazu soll der Mythos das Unendliche, das Dunkle, das Dämmrige und Traumhafte menschlicher Innerlichkeit gleichsam zum Tönen bringen: in Stimme und Gesang ertönt sie, die totale Subjektivität. Im Gesang der Oper vermag die Subjektivität den ganzen Kreis ihrer inneren Welt auszuschreiten. Sie vernimmt sich selbst. Der singende Opernmensch erfährt die Nachtseiten der Innerlichkeit in der Artikulation durch jene Schicksals- und Schauerdramen, in denen das Wüten der objektiven Mächte industrieller Veräußerlichung pathetisch und kolportagehaft gefaßt wird. In der Oper schildert der Mythos die charakteristische Häßlichkeit bürgerlicher Welt und die Hilflosigkeit der sie tragenden Menschen, die in ihr stehen — einsam und fremd: unwissende Toren, an die Macht des Mythos verwiesen. Nur er kann der bürgerlichen Menschheit — als quasi singender, rettender Engel — das Reich des Heils verheißen, sie erlösen aus ihrer Verstrickung in die widersprüchlichen Realitäten von Welt und Geschichte. Das mythische Musikdrama benutzt dabei — zumindest zunächst — auch die alten Mythen als seine Requisiten und beutet die Natur mythisch aus. In Naturschwärmerei und Naturbeseelung erwächst der objektiven Wirklichkeit, die als eine des Grauens und Gruseins dem bürgerlichen Bewußtsein erscheint, musikdramatisch ein Gegenbild. Ihren wahren neuen Mythos erhält die Epoche im Vollzug der Mythologisierung der Alltagsexistenz und der Ästhetisierung existentialer Konsequenzen des Prozesses der Industrialisierung. Die biedermeierlich enge und so beschaulich heile Idylle, in der sich Subjektivität einzurichten trachtet und doch voller Unrast getrieben keine Bleibe findet, wird mythisch überhöht. Im Kampf von Haß und Liebe, im Spiel der Leidenschaften und Intrigen, im Tode schließlich wird die kleine Welt des bürgerlichen Biedermeier entlarvt; sie wird auf ihre wahrhafte Funktion reduziert: Hülle zu sein für ein leeres Glück menschlichen Daseins unter den Zwängen objektiver Mächte, die den weltgeschichtlichen Lauf bestimmen. Ihnen ausgeliefert zu sein, fürchtet die mythenbildende Innerlichkeit und baut sich deshalb Gegenwelten. In diesen Scheinwelten erlebt sie ihre scheinhafte Selbstverwirklichung. Das vom neuen Mythos besetzte Musikdrama stellt sich als wirksamste Scheinwelt dar.

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Der Prozeß der Mythologisierung von Subjektivität im industriellen Zeitalter beschwört unabdingbar die Trivialisierung des neuen Mythos herauf. Sie vollzieht sich am sichtbarsten an dessen neuem Ort: im mythischen Musikdrama. Mythologisierung der prosaischen Welt und individuellen Daseinsweisen und damit das Trivialwerden des Mythos erfolgen vor allem in der Oper und durch sie als dem mythengeladenen Gesamtkunstwerk. Hier fallen Mythos der Kunst und Prosa der Welt in eins zusammen. Aber diese Identität bleibt lediglich ästhetisch vermittelt. Sie ist Identität des Scheins im Fortbestand des entfremdeten Menschen und gesellschaftlicher Entzweiung. In der Oper also ästhetisiert sich das 19. Jahrhundert, jedoch geschieht das nicht im Sinne einer Entpolitisierung der praktischen Lebensverhältnisse, wie sie der Ästhetisierungsprozeß in Schellings mythischer Kunstphilosophie vollbringt. Der Mythos Kunst führt im Umschlagen in die allumfassende Identität nicht zum Entzug von Wirklichkeit — etwa nach dem Grundsatz: mythische Kunst bedeutet soviel wie das Absolute als und in Kunst. In der Oper kann der in die Trivialisierung geratene Mythos die häßliche Wirklichkeit so mit der schönen Seele einen, daß diese — auch wenn die Vereinigung nicht real, sondern lediglich als schöner Schein vollzogen wird — darin ihre Welt und sich in ihr allererst findet. Und damit fällt die Oper hinter den letztlich utopischen Anspruch der Universalpoesie zurück. Sie kann nichts beitragen zur Verwirklichung der Hoffnung, die Friedrich Schlegel auf die Heraufkunft der vollendeten bürgerlichen Welt als harmonischer Welt eines verjüngten Zeitalters gesetzt hat. Richard Wagner bedient sich vor allem alter Mythen, um in seiner mythischen Kunst des Gesamtkunstwerks die bild- und gestalthafte Transzendierung der Erscheinungswelt seiner Epoche auf deren innere Wesensform zu vollziehen. Seine Opern, in denen alte Mythen im Kleide des neuen Zeitalters seßhaft werden, sollen diesem Zeitalter zum Einswerden mit sich verhelfen und damit als Kunstwerke der Zukunft der Menschen die Epoche vollenden. Schon Friedrich Nietzsche stellt hellsichtig fest: Wagners Oper ist „die Oper der Erlösung". Wagner habe „wie nur irgend ein Franzose sein halbes Leben lang an die Revolution geglaubt". Er habe nach ihr „in der Runenschrift des Mythus" gesucht. Nietzsche sieht in Wagners Ästhetik des Gesamtkunstwerks den Versuch der gleichzeitigen Modernisierung von Mythen und Mythisierung des Modernen. Am Ring des Nibelungen macht Nietzsche deutlich, weshalb Wagners Unternehmen gescheitert ist: Die bisherige Welt, ihr Unheil gründet in Verträgen, d. h. im Herkommen, in Sitte, Gesetz, Moral, in ihren Institutionen. Diese alte Welt und ihre Ordnung verändert der neue Mythos. Ihn schafft Wagner in Siegfried und Brünnhilde. Siegfried, der Revolutionär, wirft alles Uberlieferte über den

Orte neuer Mythen. Von der Universalpoesie zum Gesamtkunstwerk

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Haufen. „ E r rennt alten Gottheiten unehrerbietig wider den Leib." Brünnhilde zu erlösen und damit die alte Wertordnung umzustoßen wird zu Siegfrieds Hauptunternehmen. Im Mythos wird das Weib emanzipiert, die freie Liebe wird zum Sakrament einer neuen Welt. So vollzieht sich „der Aufgang des goldnen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral — das Übel ist abgeschafft." Allerdings: „Alles läuft schief, alles geht zugrunde, die neue Welt ist so schlimm wie die alte." Die Befreiung kommt nicht zustande. Brünnhilde darf die Welt — entgegen einer älteren Absicht Wagners — nicht einmal „auf eine sozialistische Utopie" vertrösten. Sie muß dagegen „erst Schopenhauer studieren; sie muß das vierte Buch der ,Welt als Wille und Vorstellung' in Verse bringen." Aber was hat Wagner mit dem Gesamtkunstwerk hervorgebracht? „Wagner war erlöst . . . Allen Ernstes, dies war eine Erlösung."40 In Nietzsches Ironie wird das Versagen des Gesamtkunstwerks sichtbar: Erlösung, Aufhebung der Entzweiung erfolgt nicht real im geschichtlichen Werden. Lediglich subjektiv, in sich und für sich kann sich das Begehren nach Versöhnung mit dem Unendlichen als dem wahren Sein erfüllen. Wagner vollendet diese subjektive Erlösung im Mythos von .Tristan und Isolde', dem Mythos vom tödlichen Eros, von der destruktiven Leidenschaft, der Leidenschaft als der Krankheit zum Tode. Leidenschaft in absolut subjektiver Gewalt wirkt zerstörerisch, nicht allein im Individuellen. Sie stellt sich gegen institutionell verfaßte Ordnung, gefährdet somit den sicheren Bestand gesellschaftlichen Daseins. Leidenschaft in ihrer allumgreifenden Totalität führt in ihrer Konsequenz Anarchie herauf. Nicht darin findet sie ihre Erfüllung, sondern im Vernichten des entfremdeten subjektiven und objektiven Seins. Leidenschaft sehnt sich zum Tode, geht in ihn über. Leidenschaft bewirkt die Identität von Liebe und Tod. In der TagNacht-Symbolik, die schon Novalis in den .Hymnen an die Nacht' verwendet, läßt Wagner das mythische Wirken der Leidenschaft aufscheinen. Der T a g als Trug und Wahn gesellschaftlicher Realität ist hassenswert. Er bringt Leid und Verzweiflung. Die Subjektivität flieht in die Nacht. Sie verbindet Innerlichkeit. Des Tages Lügen, Ruhm, Ehre, Macht und Gewinn zerrinnt vor ihr „wie eitler Staub". Die Nacht erlöst die menschliche Leidenschaft von Schuld und Leid im ersehnten Liebestod: „ O sink' hernieder, Nacht der Liebe, gib' Vergessen, daß ich lebe. Nimm mich auf in deinen Schoß, löse von der Welt mich l o s . " 4 1 Bei Wagner wird exemplarisch deutlich, daß der Mythos an seinem neuen Ort, im Musikdrama, letztlich die Zusammenführung des Subjektiven und 40

41

Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hg. K. Schlechta, Band 2, München 1955, S. 908 u. 910f. Wagner, a . a . O . , Band 7, S. 44 (Tristan und Isolde).

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Objektiven nicht zu leisten vermag. Im Schein der schönen Kunst verklärt der Mythos lediglich leidende Subjektivität, die sich nach Erlösung — wenigstens durch Kunst — sehnt. Sie wird der Subjektivität zur Notwendigkeit, die ihr Leben nur in Kunst haben und vollziehen kann. Mythische Kunst stabilisiert — wenn auch nur abstrakt — Innerlichkeit, die sich auf diese Weise die ihr fremde und unheimliche Weltwirklichkeit erfahrbar macht. Adorno bilanziert diese Wirkung der Wagnerschen Konzeption einer mythischen Kunst: „Die Undurchsichtigkeit und Allmacht des sozialen Prozesses wird vom Individuum, das sie erfährt und das doch eben mit den herrschenden Mächten jenes Prozesses sich gleichsetzt, als metaphysisches Geheimnis verherrlicht." Gesellschaftskritisch betrachtet endet für Adorno „die Wagnersche Mythologie in Konformismus", indem sie übergeht „in die Wilhelminische Bilderwelt: das Hupensignal des Kaisers war die Simplifizierung des Donnermotivs aus dem Ring" 4 2 . Aber nicht bloß die Aufarbeitung alter Mythen für das neue Zeitalter versucht das Musikdrama: in ihm artikulieren sich zugleich die neuen Mythen dieser Epoche. Die Prosa bürgerlichen Lebens wird in den Kolportagen der Oper selbst mythisch ausgestaltet und überhöht. In der Mythisierung des Prosaischen, wie sie die Kunstform Oper vollzieht, fungiert der neue Mythos zwar als Statthalter der Versöhnung, diese aber ist nur durch seine Trivialisierung zu erkaufen. Im Aufheben häßlicher Alltagsprosa in sich verliert der neue Mythos im Verlaufe seiner Ästhetisierung sich selbst und wird ebenfalls prosaisch. Opern dieser Art benutzen meist literarische Vorlagen. Diese Veroperung von Literatur, ihre Indienstnahme als Vehikel für musikdramatische Transposition von Wirklichkeit wird zur notwendigen Bedingung für die Möglichkeit der Setzung neuer Mythen. In diesen musikdramatischen Opern zerbricht die Liebe an den bösen gesellschaftlich determinierten Zwängen: an Gewalt, Trug und Wahn der Tageswelt geht sie zugrunde. Die Innerlichkeit wehrt sich gegen übermächtige Weltzustände. Unbeholfen, naiv fast und rührend versucht die Subjektivität, an ihnen sich zu rächen: sie nimmt die Liebe ganz in sich zurück. Und doch findet die Leidenschaft ihr Schicksal erst im Tod. Hier, im obligaten Operntod besiegt der Mythos dem schönen Scheine nach sein Zeitalter, das ihn geboren hat. So findet der Mensch des 19. Jahrhunderts sich und seine Welt im neuen Opernmythos. Oper als Kunstform des Zeitalters bringt dieser Epoche Glanz und verklärt sie. Ein Paradoxon, weil sich in der Oper geradezu wortwörtlich das ereignet, was Friedrich Schlegel für den neuen Mythos gefordert hatte: er wird das künstlichste aller Kunstwerke. 42

Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner, S. 153 u. S. 156.

Berlin u. Frankfurt a. M. 1952, S. 152,

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An ihr Ende kommt diese Entwicklung einer Ästhetik des mythischen Musikdramas mit der Oper,Tosca'. Hier vollendet sich der neue Mythos des 19. Jahrhunderts, indem er sich selbst zum Gegenstand macht. Er inszeniert, sich potenzierend, in dieser Oper den Mythos Oper. Der Maler Cavaradossi liebt die Kunst, liebt Tosca, die Opernsängerin. Für sie ist das Leben ein schöner Schein, ist Kunst und Liebe. Cavaradossi malt die Madonna: die Gottheit wird in seiner Kunst zur schönen Frau. „Wie sich die Bilder gleichen". Die geliebte Sängerin, die Kunst, verzehrt sich eifersüchtig: erkennt sich in der Gottheit nicht mehr. Die Weltintrige stellt sich zerstörend zwischen Kunst und Leidenschaft. Es gibt kein Entrinnen. Kunst und Liebe können den Restriktionen des Lebens nicht standhalten, werden von den Objektivationen mächtiger Weltwirklichkeit nicht freigesetzt. Was bleibt, ist das trotzige Bekenntnis der Tosca: „Nur der Schönheit weiht' ich mein Leben, einzig der Kunst und Liebe ergeben". Diesen, ihren schönen Schein, die Kunst, muß sie zerreißen, soll sie das Leben, existentielle Liebe festhalten. Cavaradossi will aufgeben und klagt: „Für immer ist der Liebesrausch entflogen . . . Nun sterb' ich in Verzweiflung". Der Liebestod als Operntod findet zwar statt, aber er bringt keine Versöhnung; die verklärte Erlösung im Liebestod als Vereinigung der Liebenden in der Unendlichkeit des Todes bleibt hier versagt. Leidenschaft und Liebe gehen in und als vereinzelte Subjektivität zugrunde. Der Operntod als Liebestod wird kunstvoll herbeigeführt. Tosca inszeniert die Erschießung Cavaradossis als Kunstwerk. Zum Schein soll sie vollzogen werden. Doch Toscas Regieanweisungen für Cavaradossis schönes Sterben sind vergebens: der Schein der Kunst hat getrogen. Tosca kann die Realität des Sterbens nicht begreifen. Verzweifelt fragt sie nach dem Akt der Erschießung des Malers: „So endete das Spiel?" Nun bleibt Tosca nur ein Ausweg, um über das grausame Leben zu triumphieren: durch Selbstmord geht sie ein in das Dunkel des Todes. Und genau dieser Umstand, der Zwang zum Selbstmord verhindert die Verklärung der Liebenden in der gewollten Vereinigung des Liebestodes 43 . Im äußersten Pathos dieser Oper verherrlicht sich der Mythos selbst: er wird sich selbst zum Mythos. Oper und Mythos werden eins in der Oper und durch sie. Dieser Vollendung des neuen Mythos als schöner Opernschein folgt in einer Art Travestie sein Ende nach: Der Mensch des 20. Jahrhunderts sucht Befreiung schließlich nicht mehr in den Mythen des Musikdramas, ihm genügt der Ort ihrer Rezeption. Dort sucht er in ihrer vollendet schönen Reproduktion sich selbst. Er findet seine Erlösung nun am Ort des neuen Mythos : im Opernhaus. Das Gebäude, in dem die Oper stattfindet, ist zum neuen und letzten Ort des Mythos geworden. Das Opernhaus als Ort des Mythos wird zum Walhall des gegenwärtigen bürgerlichen Zeitalters. 43

G i a c o m o Puccini: Tosca. Musikdrama in drei Akten von V. Sardou, L. Illica, G . Giacosa, deutsch von M . Kalbeck, Mailand 1899 (Uraufführung am 14. 1. 1900 in Rom).

J Ö R G SALAQUARDA

Mythos bei Nietzsche I

Nietzsches Einstellung zum Mythos war und ist in der Auslegung umstritten. Der George-Kreis hat Nietzsche primär als einen DichterPhilosophen verstanden, der wesentlich darauf aus war, einen neuen Mythos zu schaffen; man räumte freilich ein, daß Nietzsche sich in bestimmten Phasen seines Denkens selbst mißverstanden und durch einen vordergründigen wissenschaftlichen Erkenntniswillen seine Hauptabsicht verdunkelt habe. In dem Gedicht Nietzsche des „Meisters" heißt es in diesem Sinne: Hast du der sehnsucht land nie lächeln sehn? Erschufst du götter nur um sie zu stürzen Nie einer rast und eines baues froh? Du hast das nächste in dir selbst getötet Um neu begehrend dann ihm nachzuzittern Und aufzuschrein im schmerz der einsamkeit. Und wenn die strenge und gequälte stimme Dann wie ein loblied tönt in blaue nacht Und helle flut — so klagt: sie hätte singen Nicht reden sollen diese neue seele!1 Die Schlußwendung stammt von Nietzsche, der sie im Rückblick auf seine Geburt der Tragödie formuliert hat und sie wie folgt erläutert: Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!2 Nietzsche konnte das sagen, weil er in Also sprach Zarathustra inzwischen unter Beweis gestellt hatte, daß er dazu fähig war. Aber wie es sich auch mit Zarathustra verhält — die vor und nach ihm entstandenen Werke sind Indizien dafür, daß sich Nietzsches Intention nicht darin erschöpfte, als Dichter 1 2

Stefan George, Nietzsche: Der siebente Ring, 2. Ausgabe, Berlin 1909, 53. Die Geburt der Tragödie (GT), Versuch einer Selbstkritik 3: III/1, 9. — Nietzsches Schriften und Aufzeichnungen werden unter Angabe von Abteilung, Band und Seite zitiert nach: Kritische Gesamtausgabe. Werke, hg. von G. Colli und M. Montinari, ca. 30 Bände in VIII Abteilungen, Berlin 1967ff. Zur näheren Bezeichnung der Fundstellen verwende ich die in dieser Ausgabe (vgl. IV/4, 111) und in den Nietzsche-Studien gebräuchlichen Abkürzungen.

Mythos bei Nietzsche

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zu sprechen. George und seine Adepten freilich wollten ihn so weit wie nur möglich darauf festlegen. Sie haben immer wieder betont, daß Nietzsche spätestens seit dem Zarathustra primär Mythen geschaffen und propagiert habe, vor allem die Mythen vom „Ubermenschen" und von der „Ewigen Wiederkunft des Gleichen". Wenn Kurt Hildebrandt die Entwicklung von Nietzsches Denken einerseits als einen Kampf gegen das neunzehnte Jahrhundert interpretiert, den er zuerst mit Wagner, dann gerade gegen den Schöpfer des Parsifal geführt habe; und wenn er sie andrerseits, in umfassenderer Perspektive, als einen Wettstreit mit Sokrates und Plato ansieht, dann setzt er als Streitpunkte in beiden Fällen die Erschaffung immer zwingenderer und immer verlockenderer neuer Mythen an 3 . Rudolf Pannwitz hat diese Tendenz bis in die sechziger Jahre fortgesetzt; aus ihr heraus hat er sich noch vehement gegen Schlechtas Entmythologisierung des Buches Der Wille zu Macht gewendet4. Am einflußreichsten von allen aus dem George-Kreis erwachsenen Interpretationen ist zweifellos die von Ernst Bertram gewesen, die sich schon im Titel als der „Versuch einer Mythologie" zu erkennen gibt 5 . Bertram stilisiert Nietzsches Leben und Werk nach dem Muster einer Legende. Er meint, auf diesem Wege Nietzsches eigenen Bestrebungen am besten zu dienen und ein Verständnis des Philosophen anzubieten, an dem spätere Generationen, den Mythos fortspinnend, weiter bauen können. Das Urheberrecht für alle diesem Muster folgenden Interpretationen könnte Richard Wagner in Anspruch nehmen. Wagner hat Nietzsches frühe Werke, unter ihnen vor allem die Geburt der Tragödie und die Dritte Unzeitgemäße über Schopenhauer, als tiefsinnige Erzeugnisse gefeiert, die demselben schöpferischen Grund entstammen wie seine eigenen Kunstwerke. Als er Menschliches, Allzumenschliches las und sich darin mit Nietzsches Versuch konfrontiert sah, nicht nur keine neuen Mythen zu schaffen, sondern alle Mythen, alte wie neue, historisch-psychologisch zu destruieren, da konnte er sich diese Veränderung des jüngeren Freundes nur erklären, indem er einen unbewußt-produktiven Grund in Nietzsche von dessen bewußtem Intellekt unterschied und beide in Kontrast zu einander setzte 6 . Bereits Jahre zuvor hatte Wagner hellsichtig, wenn auch noch in scherzhaftem Ton, an Nietzsche geschrieben: 3

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K u r t Hildebrandt, Wagner und Nietzsche. Ihr Kampf gegen das 19. Jahrhundert. D e r s . , Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato, Dresden 1922. Nietzsche-Philologiel·. Merkur 11, Stuttgart 1957, 1073ff. Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1921. Zweifellos in engem Einvernehmen mit ihrem Mann schreibt Cosima Wagner an M. von M e y s e n b u g : „Ich glaube, daß in Nietzsche ein dunkler, produktiver Grund ist, von dem er selbst kein Bewußtsein hat; daher stammt das Bedeutende bei ihm, was ihn selbst dann erschreckt, während alles, was er denkt und spricht, was lichterhellt ist, wirklich nicht

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Jörg Salaquarda Was Sie betrifft, so wiederhole ich Ihnen den Einfall, den ich kürzlich einmal gegen die Meinigen äußerte, nämlich daß ich die Zeit vorraussehe, in welcher ich Ihr Buch gegen Sie zu verteidigen haben werde. — Ich habe wiederum darin gelesen, und schwöre Ihnen zu Gott, daß ich Sie für den Einzigen halte, der weiß, was ich will!7

D e m bisher Vorgestellten gegenüber ist von jeher, besonders aber in den beiden letzten Jahrzehnten, ein ganz anderes Verständnis von Nietzsches Einstellung zum Mythos vorgetragen und begründet worden. Nietzsches kritische Wendung seit Menschliches, Allzumenschliches sei kein zeitweiliger Abfall von der wesentlichen Intention seines Denkens, sie sei im Gegenteil der Durchbruch zu seinem eigenständigen Philosophieren — ein Durchbruch, der sich überdies schon in früheren Schriften 8 , besonders aber in nicht veröffentlichten Aufzeichnungen 9 angekündigt hätte. So sagt Mazzino Montinari über die Bedeutung der Krise Nietzsches von 1876/78: . . . gewisse Dinge sind nach dem Bruch mit Wagner nicht mehr bei Nietzsche zu finden. Ich nenne als ein Beispiel die ganze Auffassung des Mythos: ich glaube, die Auffassung des Mythos ist eine andere in der Geburt der Tragödie als später nach dem Bruch mit Wagner. Vorher wird Mythos als etwas Positives dargestellt, dagegen ist Nietzsches Denken nach dem Bruch mit Wagner, also sein eigentliches Denken, wesentlich ein antimythisches Denken10. Von diesem Interpretationsansatz aus erscheint Nietzsche als kritischer Denker, der die Tradition der Aufklärung aufnimmt und fortsetzt 1 1 . So fassen ihn Vertreter der Kritischen Theorie auf, besonders Alfred Schmidt,

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viel wert ist. Das Tellurische an ihm ist wichtig, das Solarische unbedeutend und durch den Kampf mit dem Tellurischen selbst beängstigend und unerquicklich . . . ,Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen', sagt Vauvenargues: ein Wort, welches auf Nietzsche anzuwenden ist, denn seine großen Gedanken kommen ihm sicher nicht aus dem Gehirn, sondern aus was? Ja, wer es sagen könnte" (zitiert nach R. Graf DuMoulinEckart, Cosima Wagner. Ein Lebens- und Charakterbild, Berlin 1929, 794 und 795f.) — Vgl. die von Cosima Wagner in ihren Tagebüchern festgehaltenen Reaktionen und Äußerungen Wagners zu Nietzsches Werken von Menschliches, Allzumenschliches I bis zur Fröhlichen Wissenschaft, bes. die Eintragungen vom 25. 4. 1878, 23. 5. 1878, 6. 4. 1880, 24. 6. 1882, 3. 2. 1883. — Zur Interpretation dieses Zusammenhangs vgl. M. Montinari, Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren·. Nietzsche-Studien 7, 1978, 289ff. Zitiert nach E. Förster-Nietzsche, Wagner und Nietzsche zur Zeit ihrer Freundschaft, München 1915, 162f. Besonders in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (vgl. Anm. 25). Z. B. Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne und Über das Pathos der Wahrheit: III/2, 367 ff. und 249 ff. Diskussionsbeitrag im Anschluß an seinen Vortrag Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren, a.a.O., 307f. Vgl. H. Wein, Nietzsche ohne Zarathustra. Die Entkitschung Nietzsches: Der kritische Aufklärer·. Nietzsche-Studien 1, 1972, 359ff.

Mythos bei Nietzsche

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aber auch Horkheimer und Habermas 12 ; Vertreter der analytischen und der pragmatistischen Richtung heutigen Philosophierens nehmen ihn in wichtigen Punkten als Vorläufer in Anspruch 13 . Schon Jaspers hat Nietzsche von seinem existenzphilosophischen Ansatz aus wesentlich als Mythenkritiker verstanden, der nicht „einen Ersatzmythus suchte", sondern darauf aus war, „philosophierend das Wesen" freizulegen 14 . Walter Kaufmann hat seit dem Ende der vierziger Jahre mehrfach die psychologische, Einsichten Freuds vorwegnehmende, Tendenz in Nietzsches Denken hervorgehoben 15 . Zur Frage, ob Nietzsche mit dem Zarathustra einen neuen Mythos geschaffen habe, hat er sich kürzlich wie folgt geäußert: N i m m t man den Terminus „ M y t h o s " im strengen Sinn, dann handelt es sich bei dem Zarathustra ganz gewiß nicht um einen Mythos. Im Zarathustra steht das Kritische, das Negative, darüber hinaus das Karikierende, Parodistische ganz stark im Vordergrund. Wenn man sagt, daß man im Zarathustra Mythisches findet, dann könnte man ebensogut und mit mehr Recht sagen : der ganze vierte Teil des Zarathustra ist ein Awtzmythos, in dem der Mythos selbst, soweit es sich um einen handelt, lächerlich gemacht wird 1 6 .

Die Spannung zwischen den kritischen Tendenzen im Werk Nietzsches und seinem Trieb zum Mythenschaffen, ist freilich schon sehr früh gesehen worden. Den ältesten, bekanntesten und bis heute am weitesten verbreiteten Versuch, diese Spannung erklärend aufzulösen, stellt die Einteilung von Nietzsches Entwicklung in drei Phasen dar. Die erste sei durch den Einfluß von Schopenhauer und Wagner gekennzeichnet und Nietzsche propagiere eine tragisch-mythische Weltsicht. In der zweiten Phase wende er sich gegen die Ideale seiner Jugend, folge dem Banner der Aufklärung und destruiere mit Hilfe historisch-philologischer und psychologisch-genealogischer Analysen alte und neue Mythen. Aber in einer dritten Phase kehre er zu seinen Anfängen zurück, indem er mit gewachsenem Selbstvertrauen neue, kräftigere und umfassendere Mythen entwerfe. Dieses Schema ist wenig hilfreich und es wird noch problematischer, wenn es, wie z. B. von Hans Vaihinger, mit Hilfe des Hegeischen Dreischritts von

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Vgl. dazu P. Pütz, Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie: Nietzsche-Studien 3, 1974, 175ff. - H . Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung ( M T N F 2), Berlin 1972. Vgl. bes. A . C . Danto, Nietzsche as Philosopher, N e w York 2 1971. - John T . Wilcox, Truth and Value in Nietzsche. A Study of his Metaethics and Epistemology, Ann Arbor 1974. Nietzsche. Einführung in ein Verständnis seines Philosophierens, Berlin 4 1974, 326. Vgl. bes. Nietzsche. Philosopher Psychologist Antichrist, Princeton "1974. Diskussionsbeitrag im Anschluß an: Ernst Behler, Nietzsche und die frühromantische Schule·. Nietzsche-Studien 7, 1978, 5 9 f f . ; hier: 91.

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These, Antithese und Synthese konkretisiert wird 17 . Wenn Kaufmann recht hat und der Zarathustra eher einen .Awizmythos darstellt, dann scheitert diese Interpretation und das gesamte Phasenschema wird fragwürdig. Ein besser ausweisbares Modell zum Verständnis der Spannungen zwischen mythenbejahenden und mythenkritischen Tendenzen im Werk Nietzsches hat in jüngster Zeit Monika Funke zur Diskussion gestellt18. Ihren Ausführungen zufolge richtet sich Nietzsches Erkenntnisinteresse primär auf die ideologiekritische Aufdeckung und Auflösung von Zwängen und Verschleierungen verschiedenster Art. Der Fortgang von Nietzsches Denken sei dadurch gekennzeichnet, daß er sich immer umfassenderen und langeingesessenen Ideologien zugewendet habe; sein kritisches Instrumentarium sei dabei aber nicht feiner, sondern — im Gegenteil — zuletzt wieder gröber geworden. Der „Wille zur Macht" sei zwar als ein ideologiekritisches Instrument konzipiert, indem Nietzsche ihn aber in den achtziger Jahren mehr und mehr als eindimensionales und selbst nicht mehr hinterfragbares Erklärungsmodell handhabe, gerate er zunehmend in die Gefahr, aus seiner Ideologiekritik eine neue Ideologie zu machen. Ich folge dieser These darin, daß auch ich Nietzsche primär als einen Ideologiekritiker auffasse und ich bin völlig damit einverstanden, daß man die ständige Bewegtheit seines Denkens nicht in das Drei-Phasen-Schema zwängen darf. Auch das halte ich für richtig, daß man Nietzsches Hauptgedanken der achtziger Jahre als Konsequenzen seiner kritischen Analysen verstehen muß. Aber ich bestreite, daß sie ihm zuletzt (wenn vielleicht auch gegen seine Absicht) selbst zu neuen Ideologien oder Mythen werden. Meine These lautet vielmehr, daß Nietzsche im Zuge seiner kritischen Analysen auch das Problem der Möglichkeit von Mythen- bzw. Ideologiekritik selbst bedacht habe und daß er in den bekannten „Lehren" der achtziger Jahre eine Theorie darüber zur Diskussion stelle. Diese Lehren sind meiner Meinung nach so wenig ein Rückfall in den Mythos, daß sie vielmehr kritische Instrumentarien dafür sind, einen solchen Rückfall zu verhindern. II Das Wort „Mythos" verwendet Nietzsche überwiegend, sogar fast ausschließlich, in der Geburt der Tragödie. In dieser Schrift entwickelt er sein Verständnis des griechischen Mythos, seiner Entstehung aus der Musik, die er hier, im Anschluß an Schopenhauer, als direkten Ausdruck des Weltwillens begreift. Und zugleich gibt er seiner Hoffnung auf das Entstehen 17

18

H . Vaihinger, Nietzsche als Philosoph, Berlin 4 1916, 37. - Vgl. dazu J. Salaquarda, Der Antichrist·. Nietzsche-Studien 2, 1973, 91 ff.; hier: U l f . Ideologiekritik und ihre Ideologie hei Nietzsche (problemata 35), Stuttgart-Bad Cannstatt 1974.

Mythos bei Nietzsche

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eines neuen Mythos Ausdruck, der zum Kristallisationspunkt für eine deutsche, ja europäische Kultur der Zukunft werden soll. Vor allem in Abschnitt 23 der Frühschrift weist Nietzsche mit Nachdruck darauf hin, daß ein lebendiger Mythos seiner Meinung nach die unentbehrliche Voraussetzung für jede Kultur sei. Nietzsche verwendet das Wort „Mythos" hier, wie in der gesamten Schrift, in einer weiten Bedeutung. Diese Weite hat sicher dazu beigetragen, die in Abschnitt I skizzierte Kontroverse in Gang zu halten. Wenn wir das Problem des Mythos im Denken Nietzsches verständlich machen wollen, dann müssen wir von seinem weiten Verständnis ausgehen19. Es umfaßt sowohl die eigentlichen Mythen wie auch die Ideologien bzw. das vorwissenschaftliche Bewußtsein überhaupt. Wie schon gesagt, verwendet Nietzsche das Wort nach der Geburt der Tragödie kaum noch. Einige Male gebraucht er die Wörter „Mythologie" und „mythologisch" ; und auch das Wort „Ideologie" bzw. seine Derivate verwendet er nur gelegentlich20. Das Problem des Verhältnisses von vor-wissenschaftlichen Voraussetzungen und wissenschaftlichem Denken aber durchzieht sein gesamtes Werk. Zu seiner Bezeichnung hat er verschiedene Termini und — noch lieber — Metaphern herangezogen. Ich erinnere nur an ein bekanntes Beispiel, nämlich an den Titel seiner späten Schrift Götzen-Dämmerung, in deren Vorwort es heißt: Es gibt mehr Götzen als Realitäten in der Welt;

Nietzsche unterscheidet sodann zwischen „Zeitgötzen" und „ewigen Götzen" 2 1 . „Götze" ist offensichtlich eine seiner Metaphern für mythische und ideologische Phänomene zumal. Gott ist für ihn ebenso ein Götze in diesem Sinne wie ζ. B. das Griechenbild Goethes oder der Gedanke des Deutschen Reichs nach dem preußisch-französischen Krieg. Christoph Hubig hat das ähnlich unspezifizierte Mythos-Verständnis der Frankfurter Schule kritisiert 22 ; in gewissem Sinne trifft seine Kritik auch Nietzsche. Mir scheint freilich, daß Nietzsche mit seiner Frage nach der Lebensdienlichkeit an ein Problem rührt, das — wenn auch vielleicht in unterschiedlicher Weise — für die alten wie für die neuen „Mythen" relevant ist. Dabei geht er nicht, wie man es von ihm als Klassischen Philologen erwarten könnte, von einer Analyse des griechischen Mythos aus, um seine Einsichten dann auf die neueren Ideologien anzuwenden, sondern sein Verständnis der zeitgenös19

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21 22

F. Schupp hat das in seinem Beitrag Mythos und Religion: Der Spielraum der Ordnung (in diesem Band 59f.; hier 60) zurecht angedeutet. Nachweise in den (freilich nicht sehr verläßlichen) Registern von Oehler und Schlechta. — Vgl. auch M. Kaempfert, Säkularisation und neue Heiligkeit. Religiöse und religionsbezogene Sprache hei Nietzsche, Berlin 1971 (Phil. Studien und Quellen 61), 430f. GD, Vorwort: VI/3, 52. Dialektik der Aufklärung und neue Mythen, in diesem Band 218ff. ; hier: 219.

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sischen Problematik prägt sein Verständnis des „grandiosen griechischen Problems" 23 . Aber vielleicht sollte ich statt von Mythen und Ideologien von Göttern und Götzen sprechen. Vielleicht wäre es dem Thema eher entsprechend zu fragen, ob dem Philosophen letztlich — ideologiekritisch — alle Götter zu Götzen werden, die es zu entlarven gilt, oder — mythenschaffend — zumindest einige Götzen wieder zu Göttern. Ich setze mit meiner Untersuchung, einer Anweisung Nietzsches folgend 24 , bei dem Gedankenkreis der drei ersten Unzeitgemäßen Betrachtungen ein, gehe dann zur Geburt der Tragödie über, um schließlich, nach einer kurzen Uberleitung, auf die „Lehren" der achtziger Jahre zu sprechen zu kommen. Ich werde allerdings nicht streng historisch vorgehen, sondern zwischendurch auch Entwicklungslinien andeuten bzw. ein Stück weit nachzeichnen. III Von den Unzeitgemäßen Betrachtungen ist die zweite25 die interessanteste und jedenfalls für das hier verhandelte Problem die ergiebigste. Nietzsche beschäftigt sich in ihr mit der wissenschaftlichen Historie und, an ihrem Beispiel, mit der neuzeitlichen Wissenschaft überhaupt. Er schreibt über „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", d. h. es geht ihm nicht um eine wissenschaftstheoretische Abhandlung, sondern um die Bedeutung der Wissenschaft für die Kultur und letztlich für die Lebensmöglichkeiten des Menschen. Das „Leben", von dem Nietzsche im Titel spricht, ist das menschliche Leben, das er, in Aufnahme einer Unterscheidung Schopenhauers 26 , als geschichtliches vom tierischen Leben abhebt. Bekannt ist Nietzsches Beschreibung der drei Grundweisen, in denen sich dieses Geschichtlich-sein des Menschen vollzieht. Aber wichtiger als seine Einzelbeobachtungen über „monumentalische", „antiquarische" und „kritische" Historie ist für uns seine These, daß diese Arten des Geschichtlich-seins nicht schlechthin lebensdienlich sind, sondern immer nur zeitweilig, je nach den Intentionen der Menschen und je nach den Zeitumständen. 23 24

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GT, Vorrede 6: III/l, 14. Menschliches, Allzumenschliches (MA) II, Vorrede 1: IV/3, 3. - Vgl. dazu C. Zuckert, Nature, History and the Self: Friedrich Nietzsche's Untimely Considerations: NietzscheStudien 5, 1976, 55ff. — D. Jähnig, Der Nachteil und der Nutzen der modernen Historie nach Nietzsche: ders., Welt-Geschichte : Kunstgeschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, Köln 1975, 68ff. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (HL): III/l, 239ff. Zitate aus dieser Schrift werden im Folgenden im Text ausgewiesen, wobei Abschnitt und Seitenzahl des Bandes III/l angegeben werden. Vgl. Parerga und Paralipomena II, § 153: Sämtliche Werke, hg. von A. Hübscher, Bd. 6, Wiesbaden 3 1971ff., 311-316.

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Jede der drei Arten von Historie . . . ist nur gerade auf Einem Boden und unter Einem Klima in ihrem Rechte: auf jedem anderen wächst sie zum verwüstenden U n k r a u t heran ( 2 : 2 6 0 ) .

Nietzsche bringt damit zum Ausdruck, daß es für ein geschichtlich existierendes Tier seiner Meinung nach keine feste Natur, mit ein-für-alle-Mal festgelegten Verhaltensweisen gibt. Zwar sind, nach dem ersten Anschein geurteilt, die zweiten Naturen meistens schwächlicher als die ersten, aber für den Kämpfenden, der sich der „kritischen Historie" bedient, gibt es . . . einen merkwürdigen T r o s t : nämlich zu wissen, dass auch jene erste N a t u r irgendwann einmal eine zweite N a t u r war und dass jede siegende zweite N a t u r zu einer ersten wird. — ( 3 : 2 6 6 ) .

Wenn sich aus der Art, wie menschliches Leben geschichtlich existiert, sein Verständnis von der Natur des Menschen ablesen läßt, dann kann man den Versuch machen, aus der wissenschaftlichen Historie zurückzuschließen auf den Typ des Lebens, der sie gebraucht. Was ihr Verhältnis zu den drei Grundweisen der Historie betrifft, so stellt Nietzsche heraus, daß in der wissenschaftlichen Historie die vorbildlich-monumentalische Betrachtung gar nicht vorkommt; von der antiquarischen Haltung ist nur die Bereitschaft übernommen, alles Überkommene festzuhalten, während die Pietät und das liebevolle Bewahren von Bestimmtem verschwunden sind; die kritische Haltung des Erklärens und Begreifens steht im Vordergrund, aber sie wird gleichsam um ihrer selbst willen eingenommen, nicht dazu, den Raum für ein neues großes Werk freizulegen. Die „unhistorische" Komponente schließlich, ohne die auch das geschichtlich existierende Tier nach Nietzsches Meinung auf Dauer nicht lebensfähig ist, fehlt völlig. Das Leben, das sich der wissenschaftlichen Historie bedient und sich somit auch in dieser ausspricht, ist von der „historischen Krankheit" befallen. Mit dieser Wendung faßt Nietzsche zum ersten Mal ein Grundthema seiner Moralphilosophie, die schwache oder von der décadence bestimmte Persönlichkeit. Er sagt, daß die wissenschaftlichen Historiker seiner Zeit „Neutra" seien, die „auch die Geschichte als ein Neutrum" nehmen (5:280). Nietzsche verfolgt diese Spur aber noch nicht weiter, wendet sich vielmehr vor allem den Konsequenzen der „historischen Krankheit" zu. Durch das Uberwiegen der wissenschaftlichen Historie in der Schule und im Erziehungswesen überhaupt, werden die jungen Menschen daran gehindert, sich selbständig und selbstbewußt zu entwickeln; sie werden zu schwachen Persönlichkeiten gemacht zur Lebensunfähigkeit herangezogen. D e r junge Mensch wird durch alle Jahrtausende gepeitscht: Jünglinge, die nichts von einem Kriege, einer diplomatischen Action, einer Handelspolitik verstehen, werden der Einführung in die politische Geschichte für würdig befunden. . . . Die Masse des Einströmenden ist so gross, das Befremdende,

182

Jörg Salaquarda Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig, „zu scheusslichen Klumpen geballt", auf die jugendliche Seele ein, dass sie sich nur noch mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiss. Wo ein feineres und stärkeres Bewusstsein zu Grunde lag, stellt sich wohl auch eine andre Empfindung ein: Ekel. Der junge Mensch ist so heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiss er es: in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist. In schwermüthiger Gefühllosigkeit lässt er Meinung auf Meinung an sich vorübergehn . . . (7: 295f.).

Was bietet Nietzsche als Gegen- und Heilmittel an? Er preist zwar die Fähigkeit, sich in einen festen Horizont einzuschließen und weitgehend auf Historie zu verzichten: . . . es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, . . . wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben (1:246).

Aber er verwirft nicht die Historie überhaupt, im Gegenteil: er akzeptiert sie als eine notwendige Bedingung der Menschwerdung des Menschen. Wenn er später den Menschen als ein „krankes", eben deswegen aber „interessantes" und „vielversprechendes" Tier bezeichnet 27 , dann knüpft er an die hier dargestellte Problematik an. Schon in der Zweiten Unzeitgemäßen läßt er indessen keinen Zweifel daran: Dass das Leben den Dienst der Historie braucht, muss eben so deutlich begriffen werden als der S a t z , . . . dass ein Übermaass der Historie dem Leben schade (2:254).

Die richtige Synthese von unhistorischem und historischem Verhalten mag wohl der erreichen, der zu einem „überhistorischen Standpunkt" vordringt, der „grosse Mensch", der sich in den Gestalten des Weisen, des Heiligen und des Künstlers manifestiert. Uberhistorische Mächte sind Philosophie, Religion und Kunst, von denen Nietzsche in dem folgenden Zitat allerdings nur zwei nennt: . . . „überhistorisch" nenne ich die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und

Gleichbedeutenden giebt, zu Kunst und Religion (10: 326).

Es sind „äternisierende Mächte", sie bringen die Mythen (oder Ideologien) hervor, in deren Horizont, als einer seiner zweiten Naturen, das geschichtliche Tier Mensch existieren kann. Es ist freilich zu beachten, daß Nietzsche die Heilung der „historischen Krankheit" letztlich nicht von den „überhistorischen Mächten" erwartet, sondern von einer heranwachsenden neuen „Jugend", die mit „heil27

Ζ. B. Der Antichrist (AC) 14: VI, 3, 178f. - Vgl. dazu J. Salaquarda, Gesundheit und Krankheit im Denken Fr. Nietzsches·. Studi Tedeschi, Napoli 1974, 73 ff. ; hier: 95—99.

M y t h o s bei Nietzsche

183

kräftigem Instinkte" das Richtige errät und aufsucht. Dieses Richtige ist eine wohldosierte Mischung von Historischem, Unhistorischem und Uberhistorischem — eine Mischung, die nicht festliegt und keineswegs gleichbleibt, sondern je nach den Voraussetzungen immer wieder neu erfragt und ausprobiert werden muß. Schon in dieser frühen Schrift ist also das instinktsichere Leben Nietzsches eigentliches Kriterium. Es empfindet das Übel und die Krankheit und es verordnet sich Gegenmittel, welche, für sich genommen, genauso Gifte sind, wie das überbordende Historische. Die . . . Jugend wird an dem Uebel und an den Gegenmitteln zugleich leiden

(10: 326). Nicht das Unhistorische oder das Überhistorische als solche werden sie letztlich heilen, sondern ihr richtiger Gebrauch zum Leben. Daß aber eine Heilung auf diesem Wege jedenfalls möglich ist, dessen versichert sich Nietzsche durch einen kulturgeschichtlichen Vergleich. Er betont, daß die Griechen, in einer ähnlichen Situation wie die Deutschen seiner Zeit, es . . . allmählich . . . lernten . . . das Chaos zu organisiren, sie sich . . . auf ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen. . Gleichniss für jeden Einzelnen von uns: er muss das Chaos siren, dadurch dass er sich auf seine ächten Bedürfnisse

(10: 329).

dadurch, dass . . Dies ist ein in sich organizurückbesinnt

Eine bessere Beschreibung des Wegs zum „Ubermenschen" hat Nietzsche auch später nicht geben können. Für uns ist diese Passage überdies eine geeignete Uberleitung zu den Grundgedanken der Geburt der Tragödie. IV Liest man Nietzsches philosophische Erstlingsschrift im Anschluß an die Zweite Unzeitgemäße und von deren Problemstellung her, dann wirkt sie zunächst wie deren Fortsetzung. Nietzsche zeichnet die kulturelle Entwicklung der Griechen als eine Abfolge von Epochen, in denen jeweils der dionysische Orgiasmus oder die Strenge des apollinischen Scheins das Ubergewicht hatten. Ihren Höhepunkt habe diese Entwicklung im fünften vorchristlichen Jahrhundert erreicht, in dem eine Synthese der beiden Grundkomponenten ins Werk gesetzt wurde — in der klassischen griechischen Tragödie habe diese Synthese ihren tiefsinnigsten und erhabensten Ausdruck gefunden. Es ist offensichtlich, daß diese Epoche das Vorbild ist, auf das Nietzsche am Ende der Schrift über Nutzen und Nachteil der Historie verweist. Tatsächlich spricht er auch in der Geburt der Tragödie ausführlich von den Parallelen dieser Epoche zu seiner eigenen. Der Komponist und Dichter-Philologe Richard Wagner hat — ein

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Jörg Salaquarda

neuer Aischylos — in seinem Gesamtkunstwerk die dionysische Musik und die apollinische Sprache zu einer neuen, höheren Einheit zusammengebunden. Bayreuth soll zum Kristllisationspunkt für eine wahrhaft deutsche und damit europäische Kultur werden. Es ist das die Perspektive, auf die ich zu Beginn des Abschnitts II hingewiesen habe. Aber es ist bekannt, daß Nietzsche schon zur Zeit der Abfassung der Geburt der Tragödie sich dieser Vision nicht so ganz sicher gewesen ist. In der ursprünglichen Konzeption fehlt die Anwendung auf Wagner und Bayreuth; die Abschnitte 16ff. sind der Tragödienschrift erst relativ spät hinzugefügt worden. Jahre später hat Nietzsche in seiner Vierten Unzeitgemäßen28, einer Art Festschrift aus Anlaß der ersten Bayreuther Spiele, zwar noch einmal den Versuch gemacht, Wagners Unternehmen zu würdigen, aber die Hoffnung, daß Wagner Schöpfer einer neuen, zukunftsweisenden Kultur sein könnte, hat er ausdrücklich zurückgenommen. Zu Ende der Schrift wendet sich Nietzsche an „freie Geister", die wie die „Jugend" in der Zweiten Unzeitgemäßen und wie Siegfried in der Ring-Tetralogie — den überkommenen Mächten widerstehen. Er ist skeptischer geworden: es gibt solche freien Geister noch nicht. Seine Hoffnungen richten sich aber darauf, daß sie einmal erscheinen werden. Wenn sie auftreten, dann wird ihnen Wagner . . . E t w a s [sein], das er uns allen nicht sein kann, nämlich nicht der Seher einer Z u k u n f t , wie er uns vielleicht erscheinen möchte, sondern der Deuter und Verklärer einer Vergangenheit. 2 9

In seiner reifen und eigenständigen Philosophie vermag Nietzsche freilich selbst dieser Verklärung der Vergangenheit nichts Positives mehr abzugewinnen, da er nun diese Vergangenheit als von der platonischchristlichen Moral bestimmt ansieht, und da er in ihrer Deutung durch Wagner einen lebensfeindlichen Nihilismus in Gestalt des romantischen Pessimismus zu erkennen meint. Im Rückblick von 1886 bezeichnet es Nietzsche sogar als den Hauptfehler seiner Frühschrift, daß er sich das „grandiose griechische Problem", das ihm aufgegangen war, „durch Einmischung der modernsten Dinge verdarb", indem er Hoffnungen hegte und erweckte, „wo Nichts zu hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies" 30 . Gleichwohl hält er auch später daran fest, daß er in der Geburt der Tragödie ein wichtiges Problem erkannt und behandelt habe. Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, . . . ein neues Problem: heute würde ich sagen, dass es das Problem der Wissenschaft selbst war — Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefaßt. 28 29

Riebard Wagner in Bayreuth (WB): IV/1, Iff. 3 0 G T , Vorrede 6: III/l, 14. WB 11: IV/1, 82.

Mythos bei Nietzsche

185

Nietzsche erläutert diese Stellungnahme durch den Zusatz, er habe versucht

. . . die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens . . .31.

In diesem Satz nennt Nietzsche dieselben drei Bezugsebenen, die wir auch in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben angetroffen haben: Wissenschaft, überhistorische Mächte, die hier freilich nur durch die Kunst repräsentiert werden, und schließlich Leben. Liest man die Geburt der Tragödie mit Hilfe dieser Anweisung, dann rückt die Gestalt des Sokrates in den Vordergrund. Ihn interpretiert Nietzsche nicht als Manifestation des Apollinischen, wie man erwarten könnte, vielmehr stellt er ihn gleichrangig neben Apollo und Dionysos. Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihn redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische . . , 3 2 .

Das Problem dieses Sokratischen versucht Nietzsche zunächst von dem überhistorischen, d. h. vorwissenschaftlichen Standpunkt der Kunst aus in den Blick zu nehmen. In Anlehnung an antike Berichte nimmt er Euripides als künstlerisches Sprachrohr des neuen Dämons Sokrates und stellt dar, was der Einbruch des Sokratischen für die Kunst bedeutete. Die Dramen des Euripides unterschieden sich in allen Hauptpunkten von denen seiner Vorgänger Aischylos und Sophokles, die Devise ihres . . . aesthetischen Sokratismus . . . lautet: „alles muss verständig sein, um schön zu sein"; als Parallelsatz zu dem sokratischen „nur der Wissende ist tugendhaft" 33 .

Die logische Durchdringung und die dialektische Erklärung der Ereignisse zerstören die Voraussetzungen der klassischen griechischen Tragödie und damit die Voraussetzungen der tragischen Kultur überhaupt. Die Konsequenz dieser Zerstörung ist der Alexandrinismus — eine Art „historischer Krankheit", die Schwäche und Lebensfeindlichkeit befördert und schließlich zum „Nihilismus" führt, wie Nietzsche später sagen wird. Mit dem Hinweis auf die „historische Krankheit" sind wir schon auf die nächste Ebene übergewechselt und haben Wissenschaft und Kunst unter die Optik des Lebens gestellt. Allerdings ist sich Nietzsche in der Geburt der Tragödie noch nicht recht klar darüber, zu welchem Ergebnis eine solche Analyse führt. Er unternimmt auch keinen Versuch, den Begriff des Lebens näher zu erläutern. Es finden sich aber verschiedene Ansätze, die er im Fortgang seines Denkens zum Teil aufgenommen und präzisiert hat. 31

G T , Vorrede 2: Ul/2,

7i.

32

G T 12: I I I / l , 79 .

33

G T 12: I I I / l , 81.

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Für unsere Fragestellung ist von Interesse, daß Nietzsche durch die Relativierung von Wissenschaft und Kunst auf das Leben, schon in der Tragödienschrift Mythos und Logos, Kunst und Wissenschaft, überhistorische Weisheit und historisches Wissen im Grunde auf eine Ebene stellt. Beide Tendenzen geben bestimmten Lebensformen Ausdruck, und sie können faktisch ineinander umschlagen. Die tragische Weisheit ermöglicht das Wissen, wie auch selbst das sokratische Wissen eine Transformierung ins Künstlerische zuläßt. 34 In der Geburt der Tragödie selbst setzt Nietzsche der sokratischen Tendenz allerdings den überhistorischen Standpunkt entgegen, freilich nur den der Kunst. Wenn er damit schon der Metaphysik verhaftet bleibt, dann handelt es sich doch um eine „Artisten-Metaphysik", die sich nicht nur vom Sokratismus abhebt, sondern auch von der Religion und von der traditionellen Philosophie. 35 Es ist daher verständlich, daß Nietzsche im Rückblick die in den Unzeitgemäßen Betrachtungen dargelegten Gedanken als Rückfall hinter die Problementfaltung seiner ersten philosophischen Abhandlung angesehen hat. Denn in ihnen läßt er neben der Kunst doch wieder Religion und metaphysische Philosophie als überhistorische Mächte gelten. Außer dem Goetheschen Menschen kennt er in der Dritten Unzeitgemäßen auch den religiös-Rousseauischen und den philosophisch-Schopenhauerischen als überhistorische Grundtypen der Neuzeit, die bestimmte mythisch-ideologische Horizonte um sich ziehen. 36 Es ist nicht der Einfluß von Schopenhauers Philosophie gewesen, der Nietzsche zu diesem zeitweiligen Rückzug veranlaßt hat, sondern der lebendige Eindruck des Künstlers Richard Wagner. Denn schon vor der Abfassung der Geburt der Tragödie hatte Nietzsche der Willensmetaphysik Schopenhauers den Abschied gegeben, und die Lektüre von Langes Geschichte des Materialismus hatte ihm die Möglichkeit an die Hand gegeben, das Werk seines „einzigen philosophischen Lehrers" selbst als eine Art Kunstwerk zu verstehen, nämlich als „Begriffsdichtung", in der sich eine bestimmte Einstellung zum Leben ausspricht.37 In den Vorlesungen und Aufzeichnungen der frühen siebziger Jahre hat Nietzsche von dieser Einsicht ständig Gebrauch gemacht. 38 — Die Uberwindung der retardierenden Tendenzen ist ihm allmählich gelungen, als er nach dem Umzug der Wagners von Tribschen nach Bayreuth es lernte, ohne die Freund34

35 36 37

38

Vgl. G T 14, bes. das Bild vom „künstlerischen Sokrates": III/l, 88ff., bes. 92. - Dazu W. Kaufmann, Nietzsche, a . a . O . 395. GT, Vorrede 2 und 5: III/l, 7 und 11. Schopenhauer als Erzieher (SE): I I I / l , 331 ff.; hier besonders 365-371. Vgl. dazu J. Salaquarda, Nietzsche und Lange: Nietzsche-Studien 7, 1978, 237ff. - Ders., Der Standpunkt des Ideals bei Lange und Nietzsche: Studi Tedeschi (in Vorbereitung). Vgl. vor allem Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen: III/2, 295ff.

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schaft und Zuneigung von ihnen zu leben, es sich schließlich sogar zutraute, ihre Gegnerschaft zu ertragen.

V Der Sache nach vollzieht Nietzsche die Ablösung dergestalt, daß er nicht mehr den wissenschaftlich-historischen Standpunkt auf einen mythischüberhistorischen hin relativiert, daß er vielmehr beide als Lebenstendenzen versteht und untersucht. Daß sich gerade diese Wendung nicht nur für die Wagners, sondern auch für viele seiner Jugendfreunde, besonders für Rohde, als ein Rückschritt darstellte, zeigt nur, wie wenig sie die zentralen Absichten schon des jungen Nietzsche erfaßt hatten. Nietzsche ist zu der „Fröhlichen Wissenschaft" seiner historisch-psychologischen Entlarvung von Götzen vorgedrungen. Nicht der Gelehrte, sondern der „freie Geist" einer zweiten und umfassenderen Aufklärung ist zu seiner Leitfigur geworden. An den Sektions-Uberschriften von Menschliches, Allzumenschliches I kann man ablesen, welchen Themen Nietzsches Interesse gilt: der Kultur, der Gesellschaft, der Familie, dem Staat etc. — hegelisch gesprochen, den Manifestationen des objektiven Geistes; noch mehr aber denen des absoluten Geistes nämlich der Philosophie, der Religion und der Kunst. Mehr im Sinne Nietzsches formuliert: er untersucht die tatsächlichen Verhältnisse des Menschen und die überhistorisch-ideologischen Systeme, in denen er sich selbst versteht und seinem Dasein Sinn zuspricht. Alle diese Themen werden von ihm letztlich auf ein sie fundierendes Lebensinteresse zurückbezogen, auf ein Interesse an der Erhaltung und Steigerung des Daseins. Im weiteren Fortgang seiner Untersuchungen meint Nietzsche, wie aus seinen Aphorismen hervorgeht, immer deutlicher zu erkennen, daß der wesentliche Hauptstrom unserer Tradition die überhistorischen Sinngebungen nicht als Produkte künstlerischen Spiels aufgefaßt habe, in denen sich jeweils die Lebensbedingungen einer bestimmten Menschengruppe zum Ausdruck brachten. Vielmehr habe die Tendenz vorgeherrscht, die religiösen und philosophischen Einsichten als „ewige Wahrheiten" abzusichern. Was die theoretische Hinsicht betrifft, den Bereich des „Wahren", so kommt es Nietzsche zunächst darauf an, die Systeme herauszupräparieren, auf denen ebenso die Sicherheit des alltäglichen Meinens beruht wie die Gewißheit des wissenschaftlichen und philosophischen Argumentierens: die Systeme der Logik, der Mathematik, vor allem aber der Sprache. Er bemüht sich in allen diesen Fällen das Lebensdienliche, schnelle Einordnung Ermöglichende dieser Systeme herauszuarbeiten, die „Erleichterung des Lebens", von der er seit der zweiten Hälfte der sieb-

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ziger Jahre häufig spricht 39 . Zugleich weist er nach, daß diese Systeme selbst den Charakter vor-rationaler Setzungen haben, daß sie, auf ihr Verhältnis zur Wirklichkeit befragt, ihrem eigenen Wahrheitsanspruch nicht genügen können. — Diese Analysen sind von der Forschung, besonders in den letzten Jahren, stark beachtet worden, man hat sie ins Treffen geführt, um Nietzsche von verschiedenen Ansätzen der Philosophie unseres Jahrhunderts aus als „Vorläufer" zu reklamieren (Pragmatismus, analytische Philosophie, Strukturalismus etc.). Für Nietzsche selbst aber ist die praktische Hinsicht noch wichtiger geworden. Sein Interesse gilt in zunehmendem Maße der Moral, von der seiner Meinung nach die in Europa vorherrschend gewordene Religion — das Christentum — und die maßgebende philosophische Tradition — die sokratisch-platonische — durchgängig bestimmt sind. In seiner philosophischen Autobiographie lesen wir, Nietzsche habe von Morgenröte an einen „Feldzug gegen die Moral" geführt und er sei schließlich zu der Überzeugung gekommen, daß die Moralanalysen seine entscheidenden philosophischen Leistungen ausmachten. D i e Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt ist eine force majeure, ein Schicksal — er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke 4 0 .

In der Tat gewinnen Nietzsches Analysen des Nihilismus erst dadurch ihre Schärfe, daß er das Moral-Problem miteinbezieht. In einer bekannten Aufzeichnung defininiert er den Nihilismus nicht zuerst als die Konsequenz des ungegründeten Wissensanspruchs der neuzeitlichen Wissenschaften, was man auf Grund der Äußerungen in der Zweiten Unzeitgemäßen und in der Geburt der Tragödie hätte erwarten können. Vielmehr notiert er: Nihilism·, es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das „ W a r u m ? " was bedeutet Nihilism? — daß die obersten Wertbe sich entwertken".

Demgegenüber bleibt die Frage nach der theoretischen Konstitution der Wissenschaften nach Nietzsches wiederholt geäußerter Uberzeugung sekundär. Und auch die Unterschiede der einzelnen theologischen und philosophischen Entwürfe und Systeme verliert für ihn mehr und mehr an Interesse, weil sie seiner Meinung nach alle, von Plato bis Hegel und von Paulus bis Schleiermacher (oder Schopenhauer), letztlich von einem sich durchhaltenden Werthorizont bestimmt gewesen sind. Als die „obersten 39

40 41

Z . B . MA I, 279 und 280: IV/2, 233f. Ecce homo (EH), Warum ich ein Schicksal bin 8: VI/3, 371. Nachlaß Herbst 1878, VIII 9 [35]: VIII/2, 14.

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Werte" dieses Wertehorizonts nennt Nietzsche: Die Vorordnung des Geistes vor den Leib in einer prinzipiell dualistischen Sicht des Menschen. — Die in irgendeiner Form erkenn- bzw. erreichbare Wahrheit über den Menschen als seine eigentliche Natur. — Die Liebe zu den Menschen und die Vorordnung der Gesellschaft vor den Einzelnen als ethische Forderungen. — Als schlechthin oberster Wert galt Gott, der einerseits der Inbegriff aller Werte ist, im Sinne Feuerbachs ausgedrückt: Gott als das Wesen des Menschen; und der andrerseits als Garant für ihre Gültigkeit fungiert. Daher kann Nietzsche seine Erfahrung des Prozesses der Entwertung der obersten Werte kurz und einprägsam in der Formel vom „Tod Gottes" zusammenfassen. Wenn er diesen das „grösste neuere Ereigniss" nennt 42 , dann deutet er damit an, daß ihm das, was er in den analysierten Frühschriften als etwas Partielles angesehen hatte, nämlich die „historische Krankheit" in Konsequenz des Alexandrinismus der modernen Wissenschaften, nun zu etwas Umfassendem geworden ist, das die gesamte abendländische Kulturentwicklung umgreift. Und es sind nun auch, sogar vor allem, die überhistorischen Mächte selbst, Philosophie, Religion und die beiden zugrundeliegende Moral, deren Haltlosigkeit und Ungegründetheit in diesem Prozeß zutagetreten. Daß Nietzsche den Prozeß der Entwertung der obersten Werte als ein nihilistisches Geschehen bezeichnet, bedarf einer Erläuterung. Dieses Sich-Entwerten der Werte spielt sich im Bewußtsein bzw., noch ursprünglicher, im Empfinden der Menschen ab, die diese Werte allmählich nicht mehr als Normen, d. h. als für sie verbindliche Handlungsanweisungen auffassen. Der Nihilism als psychologischer Zustand wird eintreten müssen . . . wenn wir einen „Sinn" in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Muth verliert. Nihilism ist da das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des „Umsonst", die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen . . , 4 3 .

Diese „historische Krankheit" hat ihre nächstliegende Ursache zwar darin, daß der platonisch-christliche Werthorizont als nicht mehr verbindlich erfahren wird. Aber ihre eigentliche Ursache liegt viel weiter zurück, sie liegt darin, daß überhaupt ein derartiger Werthorizont etabliert und mit dem Anspruch verkündet worden ist, in theoretischer Hinsicht das Wahre und in praktischer Hinsicht das Gute zu repräsentieren. Das eigentlich Nihilistische liegt in diesem Versuch, dem geschichtlich un-festgestellten Tier Mensch eine zweite Natur als seine erste, ja als seine einzige und 42 43

Die Fröhliche Wissenschaft (FW), 5. Buch, 343: V/2, 255. Nachlaß Nov. 1887-März 1888, VIII 11 [99]: VIII/2, 288.

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wahre Natur überzustülpen. Nihilistisch im strengen Sinn war die Setzung und Durchsetzung dieser Werte. Die Kennzeichen, welche man dem „wahren Sein" der Dinge gegeben hat, sind Kennzeichen des Nicht-Seins, des Nichts, — man hat die „wahre Welt" aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine moralisch-optische Täuschung ist.

Was bedeutet dieser Vorgang, wenn man ihn von der Perspektive des Lebens und seiner Entwicklung aus beurteilt? Nietzsche fährt fort: Von einer „andren" Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig i s t . . . Die Welt scheiden in eine „wahre" und eine „scheinbare" . . . ist nur eine Suggestion der décadence, ein Symp-

tom niedergehenden

Lebens .. , 44 .

In der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung hatte Nietzsche den neutralen wissenschaftlichen Historikern die Fähigkeit abgesprochen, Geschichte gerecht zu beurteilen und er hatte ferner die negativen Folgen dieser Art der Beschäftigung mit der Geschichte für die Jugend vor Augen gestellt. Aber er hatte noch keine nähere Analyse des Lebens vorgelegt, das seine Grundverfaßtheit und -tendenz in der wissenschaftlichen Neutralität manifestiert. Zur Zeit der Götzendämmerung ist er im Zuge seiner kritischen Untersuchung der „Götzen" längst zu der These vorgedrungen, daß es zwar eine unübersehbare Fülle von verschiedenen Lebensrichtungen gibt, die sich in höchst verschiedenen Wertungen bzw. Moralen ausdrücken; daß aber nur zwei Grundvfptn von Moral nachweisbar sind, nämlich Herren- und Sklavenmoral und zwei Grundtypen des Lebens, nämlich aufsteigendes oder wohlgeratenes und niedergehendes oder dekadentes Leben. In diesem Zusammenhang hat Nietzsche eine Einsicht vorgetragen, die seither die philosophischen, psychologischen und soziologischen Diskussionen über Probleme der Ethik stark beeinflußt und bestimmt hat, nämlich die Einsicht in die Rolle des Ressentiment bei der Ausbildung und Fixierung von Wertsystemen45. In der ersten Abhandlung seiner Genealogie der Moral, dem klassischen Text zu diesem Problem, schreibt Nietzsche: Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral 44 45

G D , Die „Vernunft" in der Philosophie 6: VI/3, 72f. Vgl. dazu bes. M. Scheler, Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen von Maria Scheler, Bern "1955 (Ges. Werke, Bd. 3).

und Aufsätze,

hg.

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aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „ A u s s e r h a l b " , zu einem „ A n d e r s " , zu einem „ N i c h t - s e l b s t " : und dies Nein ist ihre schöpferische That46.

Das für unsere Fragestellung zentrale Problem der historisch-psychologischen Analysen Nietzsches liegt in seinem Verständnis von Leben. Es wurde herausgestellt, daß Nietzsche den Menschen als das geschichtliche, in sich entwicklungsfähige Lebendige faßt. Zwar bedarf der Mensch eines jeweiligen mythisch-ideologischen Horizonts (einer „zweiten Natur"), aber er kann diesen auch immer wieder durchbrechen und ihn durch einen neuen ersetzen. Menschliches Leben ist, mit Sartre zu sprechen, der Nietzsche in diesem Punkt nahe steht, zur Freiheit verurteilt, aber es kann diese Freiheit nur in „Situation" vollziehen47. Seit Also sprach Zarathustra geht Nietzsche dazu über, das nicht-festsgestellte menschliche Leben nicht vom Bewußtsein (Ich, Geist) her zu thematisieren, welche anthropologischen Bestimmungen er vielmehr ideologiekritisch hinterfragt, sondern vom Leib her 48 . Dabei kommt es ihm vor allem auf die folgenden vier Aspekte an. Das vom Leib her begriffene menschliche Leben ist a) eine Vielheit von Strebungen (Kräften oder Kraftkombinationen); b) eine zeitweilig geeinte Vielheit solcher Strebungen; c) eine Einigung, die durch Etablierung einer Hierarchie oder Rangordnung von Strebungen hergestellt und eine Zeit lang erhalten wird; d) durch eine in sich flexible Rangordnung von Strebungen zeitweilig geeint; herrschende Kraftkombinationen können zu dienenden werden und umgekehrt49. Alle diese Aspekte denkt Nietzsche mit, wenn er seine Formel „Wille zur Macht" verwendet und dabei die folgenden berühmt-berüchtigten globalen Aussagen macht: W o ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein s 0 . Leben selbst ist Wille zur Macht 5 1 . U n d auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht — und nichts außerdem!52 46 47

48 49 50

51 52

Zur Genealogie der Moral (GM) I, 10: VI/2, 284f. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1962, bes. 552 ff. Vgl. bes. Also sprach Zarathustra (Za) I, Von den Verächtern des Leibes: VI/1, 35f. Vgl. dazu J. Salaquarda, Gesundheit und Krankheit, a . a . O . 85f. Za II, Von der Selbstüberwindung: VI/1, 143f. Jenseits von Gut und Böse (JGB) 13: VI/2, 21. Nachlaß Juni - Juli 1885, VII 35 [12]: VII/3, 339.

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Ich bin damit an einer entscheidenden Stelle angelangt. Ist Nietzsches Rede vom „Willen zur Macht" (und entsprechend die von einem „Ubermenschen" und von der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen") ein Rückfall? Produziert Nietzsche nun einen neuen Mythos bzw. eine neue Ideologie? Eine „Wahrheit" im Sinne einer ersten und ursprünglichen Natur des Menschen. Richtet der Philosoph „mit dem Hammer" einen neuen Götzen auf, statt ihn zu zerschmettern? Ich meine, daß dies nicht der Fall ist und werde abschließend versuchen, diese These zu erläutern und zu erhärten. VI Daß Nietzsches Analysen weithin auf kritische Aufhellung undurchschauter Mythen oder Ideologien abzielen, darüber dürfte eigentlich kein Streit mehr sein. Wenn wir sein Denken somit als mythen- oder ideologiekritisches verstehen, dann heben wir es als eine Art der kritischen Theorie von der traditionellen Theorie ab 53 . Diese Unterscheidung ist freilich nicht ohne Probleme. Zum einen erhebt sich gegenüber einer kritischen Theorie die Frage, ob sie nicht bei ihren Analysen von dem Gebrauch machen muß, was sie im Vollzug derselben gerade destruiert, d. h. als fundiert, abgeleitet, gar als vorgeschützt erweist. So interessant dieses auf den „Zirkeleinwand" hinauslaufende Problem auch ist, mit dem Nietzsche sich implizit und explizit auseinandergesetzt hat54 — ich muß es hier bei einigen Andeutungen bewenden lassen. Nietzsche scheint an vielen Stellen seine eigenen Überlegungen ad absurdum zu führen, indem er sich auf Prinzipien und Regeln stützt, deren Gültigkeitsanspruch er destruiert hat (ζ. B. den Satz vom Widerspruch); indem er von Begriffen Gebrauch macht, die er als untauglich erwiesen hat, etwas Wirkliches zu erfassen (ζ. B. Ding, Ich); indem er sich weiterhin der Grammatik bedient, die doch ein bloßes Vorurteil einer bestimmten Rasse ausmachen soll, usw. Dieser Anschein löst sich aber auf, wenn man beachtet, daß Nietzsche diese Regeln, Begriffe und Systeme nicht in derselben Hinsicht einmal benutzt und das andere Mal verwirft. Vielmehr bleibt er auch dabei an dem Kriterium der Lebensdienlichkeit orientiert. Seine Destruktionen zielen auf den Absolutheitsanspruch, sein Gebrauch nimmt das Destruierte als altbewährte und lebensdienliche Fiktionen. In dieser Hinsicht ist 53

54

N a c h der Unterscheidung Max Horkheimers; vgl. dessen Essay Traditionelle und kritische Theorie·, ders., Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze ( F B 6015), Frankfurt am Main 1970, 12ff. Vgl. dazu W . Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin — New York 1971, 9 5 f f . , bes. 102f. und Anm. 57.

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er, über Schopenhauer und Lange, ein radikaler Kantianer — Vaihinger und DelNegro haben sich darin zurecht auf ihn berufen 55 . Übrigens gewinnt auch dieses Problem sein volles Gewicht für Nietzsche auf dem Feld der praktischen Philosophie. Vor allem im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft arbeitet er heraus, daß die Moralkritik selbst moralische Wurzeln habe 56 , daß sie durch die „jüngste Tugend" der „intellektuellen Redlichkeit" bzw. „Rechtschaffenheit" untergraben werde, die ihrerseits eine Konsequenz der platonisch-christlichen Forderung nach Wahrhaftigkeit darstelle 57 . Für diese „Selbstvernichtung der Moral" 5 8 läßt sich die Auflösung des scheinbaren Widerspruchs ebenfalls unschwer auffinden: Die Redlichkeit des freien Geistes destruiert in lebensdienlicher „kritischer Historie" den Absolutheitsanspruch der Moral, deren Forderung nach Wahrhaftigkeit sie sich verdankt. Für das Verständnis von Nietzsches „Lehren" der achtziger Jahre ist eine andere Fragestellung von größerer Bedeutung, nämlich die Frage nach Intention, Reichweite und Kriterium einer „kritischen Theorie". Reinhart Maurer hat das generelle Dilemma wie folgt formuliert: D a s Problem ist, daß man, um Ideologiekritik treiben zu können, wieder eine positive Theorie einer Primärsphäre braucht, von der aus man die Ideologie entlarven kann 5 9 .

In einem Vortrag zu diesem Problem 60 geht Maurer Nietzsches Suche nach einer solchen Primärsphäre und nach der ihr angemessenen Theorie nach und kommt dabei zu zwei Thesen. Erstens: Nietzsche habe dieses Problem aller kritischer Theorien so weit wie möglich vorangetrieben, habe sich nicht, wie viele andere, die ihr immanenten Schwierigkeiten verhehlt. Zweitens: Nietzsches Versuch scheitere dennoch — und mit ihm jeder Ansatz einer Ideologiekritik —, weil er ohne positive Theorie nicht auskommen, von seiner Grundintention eine solche aber nicht zulassen könne. Monika Funkes Modell zur Interpretation der Entwicklung von Nietzsches Denken wurde bereits erwähnt 61 . Es geht von einer Unter55

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Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Oh, Berlin 61920, 791 ff. - Walter DelNegro, Die Rolle der Fiktionen in der Erkenntnistheorie Fr. Nietzsches, München 1923. FW, 5. Buch, 344: V/2, 256-259. Morgenröte (M) 456: V/1, 279 und öfter (vgl. Register). Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, VIII 2 [207]: VIII/1, 166. Diskussionsbeitrag in Anschluß an: W. Kaufmann, Nietzsche als der erste große Psychologe: Nietzsche-Studien 7, 1978, 262ff., hier: 284. Das antiplatonische Experiment Nietzsches. Zum Problem einer konsequenten Ideologiekritik: Nietzsche-Studien 8, 1979, 104ff. S. oben 178 und Anm. 18.

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Scheidung von Ideologiekritik und Erkenntnistheorie aus. Während es dieser . . . um die Abgrenzung des Umfangs legitimen Erkenntniserwerbes geht, zerstört die Ideologiekritik vornehmlich den Rechtsanspruch auf faktisch angemaßten Besitz 62 .

Solange das kritische Vorgehen sich damit begnügt, Zweifel zu erregen, bedarf es nicht notwendig einer positiven Theorie, auf die es sich stützen und zu seiner Begründung zurückziehen könnte. Nietzsche sagt mit Stolz und Zustimmung, daß man seine Schriften eine „Schule des Verdachts genannt" habe63, und er erinnert daran, daß Zarathustra, wie alle großen Geister, ein Skeptiker sei64. Wenn er mitunter mehr zu behaupten scheint, nämlich eine Widerlegung der problematisierten Position, dann läßt sich das in einigen Fällen als ironisches argumentum ad hominem verstehen, etwa wenn er schreibt: Was ein Theologe als wahr empfindet, das muss falsch sein: man hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit 65 .

Sofern Nietzsche aber wirklich einen umfassenderen Anspruch erheben sollte und bestimmte Verknüpfungen und Zuordnungen als falsch, andere als wahr erweisen möchte, dann wird die Frage nach dem Kriterium unabweislich: . . . mit der Frage nach dem Wahrheitskriterium für den radikalisierten Ideologieverdacht ist das Problem der Erkenntnis im Zusammenhang mit seinem unumgänglichen Funktionsbezug . . . zu thematisieren 66 .

Denn nun müßte Nietzsches Ideologiekritik in der Tat eine positive Theorie der Primärsphäre geben, auf die hin sie alles relativiert bzw. als bloß ideologisch entlarvt. Es ist nicht Funkes These, daß Nietzsche sich zuletzt nur noch eines eindimensionalen Schemas bediene und daß seine Ideologiekritik auf diese Weise ganz und gar selbst zur Ideologie werde. Aber sie sieht die Gefahr bei ihm gegeben, wohl auch, daß er ihr ein Stück weit erlegen sei. Sie hält sein Vorgehen und seine Entwicklung insofern für ein lehrreiches Beispiel, weil es eine Klippe und Versuchung aller ideologiekritischen Ansätze deutlich werden lasse: Ihre Überzeugungskraft und ihr Recht gewinnt die Ideologiekritik, indem sie erstarrte Funktionsbezüge durch solche ersetzt, die dem von sich aus werthaft orientierten, durch Wünsche und Erwartungen, Ängste und Resignation vorstrukturierten gesellschaftlichen und innerpsychischen Inter62 63 64 65 66

Ideologiekritik und ihre Ideologie, MA I, Vorrede 1: IV/2, 7. AC 54: VI/3 234. AC 9: VI/3, 173. Ideologiekritik und ihre Ideologie,

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a.a.O. 113.

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aktionssystem Rechnung trägt. Ihre Wahrheit sichert sich die Ideologiekritik, indem sie die Alternativen, die sie aufweist, mit demselben Anspruch der Ausschließlichkeit ausstattet, den sie an den Ideologien als bloß vorgeblichen zerstörte. Ihr Verfahren ist die zunehmende Abstraktion von den Teilsystemen bis hin zu einem einzigen Motiv als Wirkursache aller Phänomene innerhalb der Komplexität der Subsysteme. Die Konsequenz des eindimensionalen Funktionalismus der klassischen Ideologiekritiken macht sie strukturell den Ideologien vergleichbar und auch faktisch zu erneuten Legitimationsstrategien 6 7 .

Es ist die Lehre vom „Willen zur Macht", mit der Nietzsche nach Funkes These, den Rückfall seiner kritischen Theorie in eine traditionelle vollzieht. Man kann daher eine punktuelle Koinzidenz der Thesen Funkes und Maurers konstatieren, wobei die Intentionen der beiden Autoren freilich von einander abweichen. Beide kommen zu dem Ergebnis, daß Nietzsche seine Machtwillenslehre als positive Theorie über die alle Kritik letztlich fundierende Primärsphäre entwickle. Und beide sehen Nietzsches Versuch darin scheitern, weil er den eigenen Ansatz überziehe. In der Tat liegt hier ein Problem, aber meiner Auffassung nach ist Nietzsche ihm mit seinen Gedanken zur Willen-zur-Macht-Lehre nicht erlegen, sondern hat es gelöst, soweit es überhaupt lösbar ist. Ich folge dabei in dem Verständnis von Ideologiekritik Funke, die sie als Korrektiv faßt, das überfordert wird, wenn es eine positive Theorie traditioneller Art ersetzen soll. Aber will Nietzsche mit seiner Machtwillenslehre wirklich auf eine solche Theorie hinaus? Oder wird ihm diese Lehre vielleicht gegen seine Absicht zu einer solchen Theorie? Sehen wir genauer zu. Funke beruft sich zurecht darauf, daß sich im Werk Nietzsches nicht nur Einzelaussagen von der Form: ein bestimmtes χ oder y ist Ausdruck des Willens zur Macht, finden — was ja in vielen Fällen, besonders bei moralischen Phänomenen, zutreffen mag, wenn wir „ M a c h t " dabei im alltagssprachlichen Verständnis nehmen. Vielmehr macht Nietzsche in diesem Zusammenhang auch Allaussagen, etwa wenn er von Wille zur Macht als Kunst, als Moral, als Naturgesetz etc. spricht; noch deutlicher, wenn er sagt, daß alles, was überhaupt ist, Ausdruck des Willens zur Macht sei, also Sein selbst mit dem Willen zur Macht in eins setzt. Auf der zweiten Stufe liegt der Ideologieverdacht gegen dieses ideologiekritische Instrumentarium nahe, auf der dritten scheint er unabweislich zu sein. N u n ist ein großer Teil der Aussagen über die Lehre vom Willen zur Macht von Nietzsche nicht selbst veröffentlicht worden. Wer es unternimmt, diese Lehre zu rekonstruieren und ihr eine konsistente Bedeutung zu unterstellen, muß also in großem Umfang nachgelassene Aufzeich67

A . a . O . 283.

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nungen, Notizen und Fragmente heranziehen68. Das ist meines Erachtens zwar nicht abzulehnen, wie es ζ. B. Karl Schlechta getan hat 69 , aber es bringt doch besondere Probleme mit sich, weil man zusätzlich zur sozusagen „normalen" Interpretationsarbeit auch noch Überlegungen darüber anstellen muß, wie und in welchem Kontext Nietzsche eine vorliegende Notiz wohl verwendet hätte, warum er sie überhaupt festgehalten habe, usw. Ich will diese Sachlage an einem Beispiel verdeutlichen. Die frühen Herausgeber haben an den Schluß ihrer Nachlaßkompilation Der Wille zur Macht eine Aufzeichnung gestellt, in der Nietzsche seine Sicht der Welt insgesamt und des Menschen darlegt: sie seien Wille zur Macht — und nichts außerdem70. Wie soll man das verstehen? Eine ähnlichlautende Äußerung findet sich in diesem Fall auch im veröffentlichten Werk und es ist billig, sie als Schlüssel für die Interpretation auch der Nachlaßstelle zu nehmen. In einem Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse geht Nietzsche von der Feststellung aus, daß uns nur unsere Begierden, Leidenschaften und Triebe „real ,gegeben'" seien. Das veranlaßt ihn zu der Frage, ob es nicht erlaubt, ja sogar geboten sei, von diesem einzig real Gegebenen her alles Geschehen zu begreifen. Nennen wir nun das die Triebsphäre Bestimmende „Wille" — Nietzsche setzt das Wort in Anführungen, um es von Schopenhauers Sprachgebrauch zu unterscheiden —, dann können wir als Hypothese formulieren, daß alle Kausalität als ein Wirken von Willen auf Willen verstanden werden kann. Wenn wir des Näheren jede Willensäußerung als Ausformung einer Grundform des Willens verstehen, nämlich eben des „Willens zur Macht", dann, so schließt Nietzsche, . . . hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren „intelligiblen C h a r a k t e r " hin bestimmt und bezeichnet — sie wäre eben „Wille zur M a c h t " und nichts ausserdem. — 7 1

Nietzsche stellt eine Hypothese zur Diskussion. Der Aphorismus, in dem er dies tut, ist in einen Abschnitt eingebettet, der den Titel „Der freie

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Vgl. dazu W. Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht·. Nietzsche-Studien 3, 1974, I f f . , bes. Abschnitt 7 („,'Wille zur Macht' im Singular"), 19ff. Der Fall Nietzsche, München 2 1959, 11 und 70. - Vgl. auch Schlechtas Nachwort zu der von ihm herausgegebenen Nietzsche-Ausgabe: Werke in drei Bänden, Darmstadt 1954, III, 1433ff., hier: 1433. — Dagegen zurecht W. Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a . a . O . 6f. Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, 1067. - Es handelt sich um das Fragment Nachlaß J u n i - J u l i 1885, VII 38 [12]: VII/3, 338f. J G B 36: VI/2, 51.

Mythos bei Nietzsche

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G e i s t " trägt. In einem benachbarten Aphorismus spricht Nietzsche die Philosophen und freien Geister wie folgt an: Zuletzt wisst ihr gut genug, dass nichts daran liegen darf, o b gerade ihr Recht behaltet, ebenfalls dass bisher noch kein Philosoph Recht behalten hat, und dass eine preiswürdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen liegen dürfte, welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und gelegentlich hinter euch selbst) setzt, als in allen feierlichen Gebärden und T r ü m p f e n vor Anklägern und Gerichtshöfen! 7 2

Schließlich steht der Aphorismus im Gesamtzusammenhang des Buches mit dem Titel Jenseits von Gut und Böse. In diesem Buch macht Nietzsche noch andere Äußerungen über den Willen zur Macht. Im Aphorismus 22 ζ. B . betont er zweierlei, nämlich erstens, daß die Hypothese von den Machtwillen zu keiner anderen Erkenntnis über die Gesetzmäßigkeiten der Naturvorgänge führe, als etwa die Hypothese des mechanischen Materialismus, wohl aber zu einer anderen Deutung·, und zweitens, daß auch sie eine Interpretation bleibt, mit deren Hilfe wir uns das uns letztlich unbekannte Geschehen verständlich zu machen suchen — was Nietzsche nicht nur bereitwillig zugesteht, sondern sogar begrüßt 73 . Meine Folgerungen aus diesen hier nur an einem Beispiel vorgestellten Darlegungen Nietzsches lauten: 1. Die Lehre vom „Willen zur Macht" ist nicht als Welterklärung, sondern als Weltdeutung konzipiert worden. Die Erklärung der Vorgänge in der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten, ist auch nach Nietzsches Meinung, in aller jeweiligen Vorläufigkeit und prinzipiellen Unabschließbarkeit, die Aufgabe der positiven Wissenschaften 74 . 2. Die in der Lehre vom Willen zur Macht entwickelte Weltdeutung ist von Nietzsche ausdrücklich nicht als abschließende „Wahrheit" über Welt und Mensch gemeint, sondern als Interpretation, die seiner Meinung nach freilich anderen vorliegenden Interpretationen (etwa der mechanischmaterialistischen, der metaphysisch-voluntaristischen, der dialektischen) überlegen ist — nicht zuletzt dadurch, daß sie ihren Deutungs- und Interpretationscharakter zugestehen kann. Wenn dies Nietzsches Intentionen trifft, dann drängt sich die Frage auf, warum Nietzsche diese Lehre überhaupt ausgearbeitet hat. Ich meine, daß er sie gerade im Interesse seiner kritischen Theorie, seiner Entlarvung der 72 73 74

J G B 25: VI/2, 38. J G B 22: VI/2, 31. Vgl. die diesbezügliche Diskussion zwischen Walter Kaufmann und Carl Ulmer im Anschluß an: W. Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von W. Roux auf Fr. Nietzsche·. Nietzsche-Studien 7, 1978, 190ff., hier: 230-232.

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„ G ö t z e n " , aufgestellt und propagiert hat. Offenbar ist Nietzsche von früh an davon ausgegangen, daß der Mensch einer „zweiten Natur" bedarf, daß er aber zugleich immer wieder versucht ist, eine jeweilige zweite Natur als seine erste und einzige aufzufassen. Wenn Nietzsche nun die Welt als Wille zur Macht deutet, den Prozeß des Werdens als „Ewige Wiederkunft des Gleichen" und das Wesen des Menschen als sein Streben, zum „Ubermenschen" zu werden, dann liegt darin beides: zum einen zieht und umschreibt er damit einen Horizont, innerhalb dessen der Mensch sich verstehen und daher leben kann — in diesem Sinne mag man seine Lehren als Mythen oder Ideologien bezeichnen; zum anderen aber, und das ist das spezifisch Nietzschesche, zieht er diesen Horizont in einer Weise, daß er unmöglich zu Stagnation, Stillstand oder Schwächung mißbraucht werden kann. Aufsteigendes Leben kann und wird seine Möglichkeiten schöpferisch ergreifen, das Ressentiment des niedergehenden Lebens wird keinen Anhalt finden, diese Hypothesen ins Statische und Lebensfeindliche umzulügen. Mit dem Tod des Gottes ist somit nach Nietzsches These die Chance gegeben, daß wieder Götter auftreten. Da diese aber, wie Nietzsche es von Dionysos behauptet, entgegen den bisherigen Vorurteilen, selbst philosophieren 7 5 , werden sie nicht so leicht zu Götzen werden. Ohne mythische Metaphern formuliert lautet das Fazit aus meinen Überlegungen: 1. Nietzsche versteht „Mythos" in einem weiten Sinn, demzufolge jede Aussage über Sinn und Bedeutung des menschlichen Daseins mythischideologisch sein muß, weil es die Wahrheit über den Menschen nicht gibt, bzw., um das Selbe anders zu sagen, weil es den Menschen nicht gibt. 2. Nietzsche akzeptiert den Mythos in diesem Sinn insoweit, als der Mensch ohne ein bestimmtes Verständnis vom Sinn des Lebens auf Dauer nicht existieren kann. 3. Nietzsche bekämpft jeden Mythos, der einen uneinlösbaren wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch erhebt; er sieht darin den Ausdruck von décadence und Ressentiment. 4. Nietzsche produziert keine neuen Mythen, bzw. — wenn man den Begriff doch auf seine Lehren der achtziger Jahre anwenden will — solche, die sich signifikant von den bisherigen unterscheiden. Seine Lehren sind Deutungen, die er selbst als Produkte künstlerischen Spiels darstellt. Sie haben die Funktion, jede abschließende Fixierung zu verhindern und schließen insofern auch ihre eigene Oberholbarkeit mit ein.

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J G B 295: VI/2, 248.

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Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer Wenn ich heute Hauptaspekte Cassirers Untersuchungen zum Mythos erörtere, soll dies nicht als eine umfassende Darstellung seiner Ausführungen gewertet werden. 1 Mir kommt es neben einer allgemeinen Charakterisierung seiner Theorie des Mythos darauf an, erstens, seinen Beitrag zur Diskussion um die Beziehung zwischen Mythos und Wissenschaft zu zeigen, zweitens, in seiner Sicht die soziale Bedeutung von Mythos in der heutigen technologischen Welt zu erklären und schließlich das methodische Vorgehen von Mythos und Philosophie zu vergleichen. In vielen Punkten widerspreche ich der herrschenden Interpretation von Cassirers Philosophie, wonach er den Neu-Kantianismus repräsentiert. Meine Interpretation von Cassirers Mythostheorie kann also auch als eine neue Interpretation von seiner Philosophie als ganzes gelten. Bevor ich etwas über Cassirers Theori des Mythos sage, möchte ich kurz andeuten, wie er den Terminus „Mythos" gebraucht. Im allgemeinen bedeutet „Mythos" bei Cassirer eine Lebensform, die eine besondere Art des Anschauens und „Denkens" aufweist. Bei dieser Lebensform handelt es sich um die von Anthropologen und Ethnologen beschriebenen Erscheinungen wie Mana, Tabu, Totemismus, magische Praktiken, Opfer und andere kultische Riten und schließlich auch um die phantasievollen mündlich überlieferten Geschichten, die wir „Mythen" nennen. Religionen, Alchimie und Astrologie betrachtet er allenfalls in bezug auf diese ursprüngliche Lebensform. Es wäre hilfreich, zunächst etwas von dem Zusammenhang zu sagen, in dem Cassirer seine Theorie des Mythos entwickelte. Seine Mythostheorie ist Teil seiner „Philosophie der symbolischen Formen", wie er sowohl sein drei-bändiges Hauptwerk als auch seine Philosophie als solche nannte. Hierin ging Cassirer von der Sinn-(nicht Sinnes-)erfahrung aus, um die verschiedenen Formen der Weltinterpretation mit Hilfe von Prinzipien des Zeichengebrauchs systematisch zu rekonstruieren. Als Cassirer seine „Philosophie der symbolischen Formen" in den Zwanziger Jahren entwickelte, stellte sie eine Abwendung von der damaligen Neu-Kantischen Erkennt1

Für eine Bibliographie von Cassirers Schriften zum Mythos siehe The Philosophy Cassirer. Hrsg. ν. Paul Arthur Schilpp. New York 1958.

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nistheorie dar. 2 Ähnlich wie bei Dilthey, dem frühen Heidegger und später bei Husserl wendete sich Cassirer der Analyse der Lebens weit zu. 3 Cassirers Analyse der Lebenswelt im dritten Band der „Philosophie der symbolischen Formen" verdankt der Arbeit von Phänomenologen einiges. 4 Dort charakterisiert er die Lebenswelt als die „Ausdruckswelt" von leibhaft handelnden Menschen, wo wir mit Phänomenen wie „Umständlichkeit", „ W u c h t " oder „ H a s t " zu tun haben. 5 Cassirers Beschreibung der „Ausdruckswelt" zielt auf die Auflösung des sogenannten „Leib-Seele" Problems und haftet dem „Subjektivismus" einer „Bewußtseinsphilosophie" so wenig an wie die Arbeiten von Wittgenstein oder Merleau-Ponty. 6 Doch Cassirer widmete sich nicht vorwiegend der phänomenologischen Beschreibung, da diese ihm subjektivistisch erschien, sonderndem kulturellen, d. h. intersubjektiven Charakter der Erfahrung. 7 Hier lag zunächst für ihn die philosophische Bedeutung des Mythos; seine detaillierten Ausführungen über die Ausdruckswelt befassen sich mit dem Mythos. Genau hier sieht er den Weg, dem Subjektivismus zu begegnen. Er sagt, „Die Voraussetzung, die die Erkenntnistheorie des psychologischen Idealismus' so oft als an sich evident hingestellt hat — die Annahme, daß ursprünglich nur die eigenen Bewußtseinszustände gegeben sein können, und daß von ihnen aus erst durch einen Schluß die Wirklichkeit einer körperlichen Natur gewonnen werden könne — sie erweist sich sofort als durchaus problematisch, wenn man auf die Struktur der mythischen Phänomene hinblickt." 8 Dies ist, weil im Mythos das „Subjekt" von vornherein ein handelndes Mitglied einer Gruppe ist, kein Einzeldenker — hierauf werde ich später zurückkommen. Auszugehen von der Ausdruckswelt bedeutet: wenn sich ein Problem stellt, ist es nicht das, wie die Außenwelt verinnerlicht wird, sondern wie die erlebte Ausdruckswelt eine von der Subjektivität unabhängige dinghafte Form annimmt. 9 Die „Philosophie der symbolischen Formen" verfolgt eine Rekonstruktion dieser „Objektivierung" anhand des Gebrauchs von Sprache und anderen Symbolen. Durch den Symbolbegriff will Cassirer zwischen der Lebenswelt und der 2 3

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E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I, S. 11. Cassirers Beziehung zur Phaenomenologie wird durch Fritz Kaufmann in Schilpp besprochen, S. 799-854. Siehe aber hierzu die Bemerkungen über „Phaenomenologie" in dem dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen: Die Phaenomenologie der Erkenntis, vor allem die „Vorrede". Siehe Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 94. Merleau-Ponty hat in seiner Phaenomenologie der Wahrnehmung sogar Cassirer ausdrücklich zum Vorbild gemacht. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 104 f. Ebenda, S. 104f. Ebenda, S. 99.

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wissenschaftlichen Erkenntnis vermitteln und die Spaltung zwischen beiden, die er in der Lebensphilosophie feststellte, meiden. 10 Hier muß ich etwas über Cassirers Symbolbegriff sagen. In der „Philosophie der symbolischen Formen" unterscheidet er zwischen drei Funktionen des Zeichengebrauchs. In der ersten Art des Zeichengebrauchs, der Ausdrucksfunktion, wird zwischen Zeichen und Bezeichnetem nicht unterschieden, in der zweiten, der Darstellungsfunktion, gibt es eine Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem unter Aufrechterhaltung einer Analogie zwischen beiden und schließlich in der reinen Bedeutungsfunktion ist bei der Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem das letztere über die Anschauung prinzipiell hinaus. Cassirer verstand Symbole im allgemeinen als eine Art Funktion, die, formal gesehen, die Struktur F (a, b, c . . .) hat. 1 1 Dies ist in bezug auf seine Definition einer symbolischen Form zu verstehen. Eine symbolische Form ist definiert als „eine Energie des Geistes" — dieser Ausdruck wird nicht näher definiert; seine Bedeutung geht aus dem Gebrauch hervor — welche durch „ F " in der Formel bezeichnet wird, wodurch ein „konkretes sinnliches Zeichen" (z.B. „ a " in der Formel) an einen „geistigen Bedeutungsgehalt" (z.B. „ b " in der Formel) geknüpft wird. 1 2 Eine symbolische Funktion ist also eine dreistellige Relation, in der zwei Relate „ a " und „b", bzw. „ b " und „c", durch eine dritte („F") verknüpft werden. Diese läßt sich auf folgende Weise veranschaulichen: a b c . . . V V F F Ich will nicht den Anschein erwecken, daß Cassirer eine formale Semiotik schreiben wollte. Dies tat er nicht. Ihn interessierten symbolische Prozesse als konkrete kulturelle Formen. Aber daß seine Ideen mit der von Peirce herkommenden Semiotik eng verwandt sind, steht außer Frage. 13 Ohne hier auf die Zusammenhänge, Ausbau und Begründung von Cassirers Symboltheorie einzugehen, will ich nur festhalten, daß Cassirer den Mythos vor allem der Ausdrucksfunktion zuordnet und die Wissenschaft der reinen Bedeutungsfunktion. Trotz dieses Unterschieds sieht er die 10

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Siehe die Kritik an Dilthey in E. Cassirer, „Structuralism in Modern Linguistics", Word, I, 9 9 - 1 2 0 , vor allem S. 111. Besprochen im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen und Substanzbegriff und Funktionsbegriff. E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 174 — 176. Dies habe ich in „Peirce and Cassirer: The Philosophical Importance of a Theory of Signs" in den Akten des International Bicentennial Peirce Congress (in Druck), besprochen.

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Zusammengehörigkeit von Mythos und Wissenschaft als Formen der symbolischen Sinnerfahrung als ein wichtiges Argument gegen empirizistische Theorien der Wissenschaft: das Zustandekommen der Wissenschaft kann ebensowenig nur durch die Empirie erklärt werden wie das Zustandekommen des Mythos. Mythos kennt nur die erste Zeichenfunktion, die Ausdrucksfunktion. Eine radikale Unterscheidung zwischen Subjektivem und Objektivem ist daher innerhalb des Mythos unmöglich, weil es zu keiner „Auseinandersetzung" zwischen beiden kommen kann. Cassirers Theorie des Mythos ist symboltheoretisch, nicht nur psychologisch und soziologisch. Durch seinen Symbolbegriff will er eine idealtypische Theorie der Funktion des mythischen Denkens und Handelns ausarbeiten. Dies bedeutet für ihn zu begreifen, in welche Richtung der Mythos die Aufmerksamkeit lenkt, rein auf Grund von Prinzipien des Symbolgebrauchs. Solch eine Theorie soll es möglich machen, bestimmte mythische Erscheinungen zu charakterisieren, ohne sie als konkrete, etwa prähistorische Inhalte irgendwie abzuleiten. 14 Bei seiner Analyse des Mythos stellt Cassirer fest, daß es hier um eine Lebensform geht, d . h . um etwas, das mit der handgreiflichen Lebenspraxis aufs engste verwoben ist. Er hebt ausdrücklich hervor, „ D e r Mythos ist ja kein System von Glaubensdogmen. Er besteht vielmehr aus Handlungen als aus Gedanken, Phantasien und Vorstellungen." 1 5 Für Cassirer ist jeder Versuch, eine Theorie des Mythos zu bilden, von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn dieser Versuch Mythos als eine Sache der bloßen Kontemplation zu verstehen sucht. Der Charakter des Mythos als eine „ D e n k f o r m " hängt gerade von seiner Eigenart als Lebensform sozialer Gruppen ab. Zum Beispiel erklärt Cassirer folgendes: D e r eigentliche Akzent des sakralen Aktes aber liegt darauf, daß die Gemeinschaft als Ganzes ihn vollzieht. In den Genuß des Fleisches des Totemtieres stellt sich die Einheit des Clans und der Zusammenhang mit dem totemistischen Ahnherrn als unmittelbare, als sinnlich-körperliche Einheit wieder her: in ihm wird sie gewissermaßen aufs neue besiegelt. Daß die Idee einer solchen Festigung der Lebens- und Stammesgemeinschaft, die Idee einer „ K o m m u n i o n " des Menschen mit dem G o t t , der als Vater des Stammes gilt, zu den ursprünglichen Motiven der Tieropfer . . . gehört, scheint durch . . . grundlegende Untersuchungen erwiesen. 1 6

M . a. W . Totemismus als Denkform ist nur in einer Gemeinschaft möglich. Cassirers Position hier entspricht Wittgensteins gegenüber der Idee einer „Privatsprache". 14

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Siehe hierzu die Studie über „Formproblem und Kausalproblem" in E. Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. E. Cassirer, Was ist der Mensch, S. 102. Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 271 f.

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Neben dem gemeinschaftlichen Moment hebt Cassirer das leibhafte Moment im mythischen Denken hervor. Er sagt weiter: Diese K o m m u n i o n kann sich zunächst nicht anders als rein materiell darstellen, kann sich nur im gemeinsamen Essen und Trinken, im leiblichen Genuß ein und derselben Sache vollziehen. Aber eben dieser Akt hebt nun die Sache selbst, auf die er sich richtet, zugleich in eine neue ideelle Sphäre hinauf. Das Opfer ist der Punkt, an dem sich das „ P r o f a n e " und das „ H e i lige" nicht nur berühren, sondern an dem sie sich unlöslich durchdringen — was immer in ihm rein physisch vorhanden ist und was in ihm irgendeine Funktion erfüllt, das ist fortan in den Kreis des Heiligen, des Geweihten eingetreten. Darin aber liegt andererseits, daß es ursprünglich überhaupt kein einzelnes, von den gewöhnlichen und profanen Verrichtungen des Menschen scharf abgesondertes Tun bildet, sondern daß jede beliebige, ihrem bloßen Inhalt nach noch so sinnlich-praktische Verrichtung zum O p f e r werden kann, sobald sie unter den spezifisch-religiösen „Gesichtsp u n k t " rückt und durch ihn bestimmt wird. Neben dem Essen und Trinken kann insbesondere die Ausübung des Geschlechtsaktes diese sakrale Bedeutung empfangen. 1 7

Ich habe diese Passage ausgewählt, weil sie neben einem Zugang zur Cassirerschen Mythostheorie auch einen Einblick in seine Auffassung von Subjektivität gibt. Wie ich am Anfang sagte, betrachtete Cassirer das mythische Denken als lehrreich für philosophische Versuche, das „LeibSeele" Problem zu bewältigen, denn um Mythos überhaupt zu begreifen, müssen wir von einem Begriff der Subjektivität ausgehen, wonach diese in sinnvollen sozialen Handlungen ausgeprägt wird. Carnaps Ansicht, daß nur die physikalische Sprache intersubjektiv sei, kritisiert Cassirer daher, weil sie pragmatische Aspekte von Befehl- und Fragesätzen übersieht.18 Mein Hinweis hierauf ist nötig, weil Cassirer heute noch vielerseits irrtümlich vorgeworfen wird, er habe das Subjekt noch „bewußtseinsphilosophisch" oder sogar „solipsistisch" gedacht.19 Dieser Vorwurf, der im Grunde mit der Überzeugung, Cassirer bliebe ein Marburger NeuKantianer, identisch ist, hängt vor allem davon ab, daß seiner Mythostheorie wenig Beachtung geschenkt wird. Die zitierte Passage zeigt auch, daß Cassirer die Eigenart vom Mythos nicht in ihrem Stoff oder Inhalt sieht, sondern in ihrem „Gesichtspunkt". Dieser Gesichtspunkt wird vor allem, meint Cassirer, durch die Intensität des Erlebens gekennzeichnet.20 Während wissenschaftliches Denken sei17 18 19

20

Ebenda, S. 272. Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 41 f. Uber Solipsismus siehe Cassirers Bemerkungen in Philosophie III, S. 97. Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 20.

der symbolischen

Formen,

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nem Gegenstand fragend und forschend gegenüber steht, wird der Mensch im mythischen Denken von seinem Gegenstand überwältigt.21 Diese Überwältigung ist eine Eigenschaft des von Cassirer sogenannten „Grundgegensatzes" des mythischen Denkens, d.h. die Unterscheidung zwischen dem Heiligen und Profanen; eine Unterscheidung, die keineswegs von Cassirer alleine als grundlegend für Mythos angesehen wird. 2 2 Im Mythos wird die Welt in das gewöhnliche Profane und das „ungemeine" Heilige geteilt. Bei dem Heiligen handelt es sich wohlgemerkt nicht um etwas eindeutig Gutes, sondern vor allem um etwas mit Kraft Erfülltes und daher Bedrohendes. Aber es ist keine bloß tierische Angst, die hier zum Ausdruck kommt, keine einfache Reaktion, sondern, wie Cassirer sagt, die „mythische Urprädikation". 2 3 Der inhaltliche Kern dieser Urprädikation des „Heiligen" — das „Ungemeine" — zeigt sich besonders deutlich z. B . in dem Phänomen des „Mana", der unbestimmten Kraft, der das Besondere innewohnt. 2 4 Die mythische Kraft des Mana und die Erfahrung des Heiligen im allgemeinen sind nach Cassirer von eigentlichen Denkkategorien verschieden. Hier geht es um Ausdruckswahrnehmung, nicht Dingwahrnehmung. 2 5 Wo Dingwahrnehmung Unterscheidungen verschiedener Art voraussetzt, sind solche Unterscheidungen für die Wahrnehmung des „ M a n a " unwesentlich. Diese „Urprädikation" ist nicht ein Urteil im üblichen Sinne, weil die Erscheinungen hierbei in keiner Weise in Gattungen subsumiert werden. Cassirers Ansicht über diese mythische Prädikation läßt sich mit Beispielen illustrieren. Der Totemismus ist eine Welteinteilungsform, aber er richtet sich nicht nach der „Klassifizierung" von Objekten, sondern „Zugehörigkeit", wobei das Totem als Ganzes in jedem Teil der Totemgemeischaft ist. 2 6 Es geht hier also um das bekannte pars pro toto Prinzip. Wie im Totemismus so zeigt sich auch in magischen Praktiken und Zeremonien dasselbe mythische Phänomen des pars pro toto.27 Im Regenzauber z . B . glaubt man durch Verhalten zu Wassertropfen den Regen unmittelbar zu beeinflussen. 28 Die mythische „Prädikation" nennt Cassirer eine „radikale Metapher", denn es handelt sich nicht um eine bloße Übertragung, sondern die Ebenda, S. 94. Ähnliches wird von Mircea Eliade, C. G. Jung, Walter F. Otto und Claude LéviStrauss behauptet. 23 Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 130. 24 Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 98. 25 Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 3 4 - 5 6 ; Was ist der MenschS. 100; Philosophie der symbolischen Formen, III, Kapitel 1 und 2. 26 Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 16—24 und S. 153. 2 7 Ebenda, S. 24. 2 8 Ebenda, S. 152. 21

22

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Empfindung einer Identität, die empirisch gesehen nicht gegeben ist. Vom Standpunkt der Gattungslogik werden hier bei der Zusammenfassung zweier Gegenstände wie ein Tropfen und der Regen unter einem genus proximum unterscheidende (spezifische) Differenzen nicht zur Kenntnis genommen. M . a . W . wird zwischen Extension und Intension, Umfang und Inhalt einer Klasse nicht unterschieden. Ein Sprachgebrauch, der zwischen Inhalt und Umfang nicht zu unterscheiden vermag, kann ein Zeichen als solches nicht identifizieren, und ist insofern seines selbst nicht bewußt. Für Cassirers Symboltheorie ist dies daher ein Ausdruck der NichtUnterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Dieses Prinzip prägt die Eigenart der mythischen Erfahrung. Zeit wird z . B . nicht als etwas Objektives verstanden, das von der eigenen Erfahrung unterschieden ist. Wie in der Musik wird Zeit im mythischen Denken rhythmisch erlebt, als schneller und langsamer, oder sogar als zum Stillstand kommende, nicht als eine bloße Relation des objektiv Früheren und Späteren wie für die Geschichtswissenschaft. 30 Im Mythos betrifft die Chronologie die „Zeiten des Lebens". Ihre Höhepunkte sind als vollkommene Unterbrechungen der zeitlichen Kontinuität empfunden wie bei Initiationsriten ins Erwachsenenalter. Das pars pro toto Prinzip wirkt direkt auf die Zeit ein, denn angesichts der fehlenden Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Begriff und Sache, wird die Herkunft einer Sache auf die Vergangenheit zurückgeführt, ohne diese Vergangenheit dabei als „verschieden" zu denken. Es handelt sich hier um eine absolute Vergangenheit, absolut, weil sie keine weitere Erklärung haben kann. 3 1 Die mythischen Vorbilder der Vergangenheit wirken aber in der Gegenwart fort, denn sie sind die ursprüngliche Wirklichkeit selbst. In Riten wiederholen die Teilnehmer nicht nur Handlungen der Vorbilder, sondern holen sie wieder ein, wobei sie von diesen ganz erfüllt werden. Tänzer stellen die Götter in ihren Bewegungen nicht bloß dar; sie glauben die Götter selbst zu werden. 3 2 Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der mythischen Zeitanschauung und der mythischen Auffassung vom Kausalbegriff. Cassirer bestreitet zunächst nicht, daß Mythen einen durchaus explikativen Charakter haben, noch behauptet er, daß im Mythos die allgemeinen Kategorien der „Ursache" und „Wirkung" fehlen, aber der mythische „Kausalbegriff" ist von dem wissenschaftlichen grundverschieden. 33 Bei dem 29 30 31 32 33

Ebenda, S. Philosophie Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S.

148. der symbolischen Formen, II, S. 136. 130. 52. 57.

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letzteren werden Einzelvorgänge als Ausdruck einer universellen übergreifenden Gesetzlichkeit verstanden. D.h. die bloße Kontiguität der Dinge ist nicht maßgebend, hier werden verstreute Erscheinungen wie der freie Fall der Körper, der Lauf der Planeten und Ebbe und Flut zu einer Einheit, einer Regel unterworfen.34 Aber gerade das räumliche und zeitliche Zusammentreffen ist für das mythische Denken maßgebend. Auch wo die räumliche und zeitliche Spannung in der mythischen Kausalität am größten ist — in der Astrologie — herrscht die gleiche Idee einer dingartigen Zusammengehörigkeit.35 Statt auf universelle Regeln sind mythische Kausalerklärungen auf einmalige Metamorphosen von Dingen gerichtet. Die Welt wird aus der Tiefe des Meeres herausgefischt oder aus einer Schildkröte gebildet; die E r d e wird aus dem Körper eines großen Tieres oder aus einer auf dem Wasser schwimmenden Lotosblume geformt; die Sonne entsteht aus einem Stein, die Menschen aus Felsen oder Bäumen 3 6 .

Ein Fehler in dem Versuch, solche Erklärungen als „primitive" naturwissenschaftliche Theorien anzusehen, wäre für Cassirer, daß hierbei im mythischen Denken das Interesse an einer solchen Erklärung vorausgesetzt wird. Nun aber setzt solches Interesse wiederum den Begriff der „Natur" als Objekt voraus. Mythen können nicht als Theorien betrachtet werden, die eine solche Natur erklären, weil es einen derartigen Naturbegriff im mythischen Denken nicht gibt. Die Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt, wie es sie in der Wissenschaft gibt, müsse erst geleistet werden, und sie wird nicht durch Mythos geleistet. Cassirer schrieb: D e r Primitive betrachtet die N a t u r forschers, der die Dinge klassifizieren zu befriedigen. E r tritt der N a t u r technischen Interessen entgegen. Sie kenntnisobjekt, noch Mittel zur

nicht mit den Augen eines N a t u r will, um seine intellektuelle Neugier nicht mit rein pragmatischen oder ist für ihn weder ein bloßes E r Befriedigung unmittelbarer prak-

tischer Bedürfnisse . . . Seine Naturansicht und seine Stellungnahme zur N a t u r sind weder rein theoretisch noch rein praktisch, sondern einfühlend 3 7 .

In diesem Zusammenhang stimmt Cassirer Durkheim zu, wenn jener sagt, die mythische Sicht der Welt werde nach dem Vorbild einer lebendigen Gesellschaft gebildet, nicht nach dem einer menschenfremden „Natur" 3 8 . Dieses Gefühl der Verwandtschaft mit der Welt kommt im Totemismus

34 35 36

37 38

Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Was ist der Philosophie

59. 36-39. 62. Vgl. Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 36 und 198. Mensch S. 106. der symbolischen Formen, II, S. 220. Vgl. Was ist der MenschS.

103.

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stark zum Ausdruck, wo sie zum Prinzip wird, denn im Totemismus glauben die Angehörigen der verschiedenen Clans nicht nur, von verschiedenen tierischen Voreltern abzustammen, sondern glauben diese Tierarten zu sein. Dieses Gefühl der Undifferenziertheit von der nicht menschlichen Welt stellt sich praktisch im magischen Verhalten dar. In der Magie werden keine Schranken der Natur anerkannt. „Der Zauberer, wenn er der richtige Mann ist; wenn er die Zaubersprüche kennt und sie zur rechten Zeit und in der richtigen Reihenfolge zu gebrauchen weiß, ist Meister über alles." 3 9 Die Wissenschaft dagegen geht von der Grundvoraussetzung aus, daß es eine an sich bestehende Objektivität gibt, die von unserem Tun und Denken unabhängig ist, und die es gilt, erst nach und nach zu erkennen. Cassirer formulierte diesen Standpunkt der Wissenschaft auf folgende Weise: „ D i e eine Wirklichkeit kann nur als die ideale Grenze der mannigfach wechselnden Theorien aufgezeigt und definiert werden; aber die Setzung dieser Grenze selbst ist nicht willkürlich, sondern unumgänglich, sofern durch sie die Kontinuität der Erfahrung hergestellt wird." 4 0 Hierbei dachte Cassirer allerdings nicht, daß diese regulative Idee zur Annahme einer wirklichen Kontinuität der Kausalzusammenhänge berechtigt 41 · Damit kein Mißverständnis entsteht mache ich darauf aufmerksam, daß es hier um die Unterscheidung zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken geht und nicht um die Analyse bestimmter primitiver Stämme. Cassirer hat nie behauptet, daß es irgendwo bestimmte Menschen gegeben habe, die ausschließlich mythisch gedacht haben und nicht außerdem in ganz praktischen Beziehungen zur Welt standen. Hier war er ausdrücklich Malinowskis Meinung, daß Zauber nur für Sonderfälle bereitgehalten wurde 4 2 . In Cassirers umfangreichen Forschungen über die Renaissance wies er auf die historische Verwobenheit von Magie und Naturwissenschaft hin, w o sogar beide in einem Denker wie Kepler auftreten können 4 3 . Aber man darf nicht von solchen historischen persönlichen Einheiten auf die Einheit der Sachen schließen. Zusammenfassend kann man sagen, daß für Cassirer das wissenschaftliche Denken nach Verknüpfung und Erweiterung des unmittelbaren Kon39 40

41 42 43

E. Cassirer, The Myth of the State, S. 281. Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 427f. Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 55. Siehe hierzu E. Cassirer Determinismus und Indeterminismus, Kapitel 11. Was ist der MenschS. 102-104. E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, S. 108; E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der Neueren Zeit, I, S. 209; E. Cassirer, „Mathematische Mystik und Naturwissenschaft" in E. Cassirer, Philosophie und exakte Wissenschaft, hrsg. von W. Krampf, S. 3 9 - 6 1 .

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texts in Richtung auf einen systematischen Zusammenhang zielt und mythisches Denken in umgekehrter Richtung auf Verdichtung, Konzentration und Intensivierung der Erfahrung 44 . Die Welt wird im Mythos nicht als ausgedehntes System begriffen, sondern als an einem einmaligen Punkt gesammelt erfahren. Nach dieser Ansicht sind Mythos und Wissenschaft gänzlich entgegengesetzt. Es ist in diesem Zusammenhang interessant anzumerken, daß Paul Feyerabend Cassirers These, daß Mythos und Wissenschaft verschiedenen Prinzipien folgen, ablehnt 45 . Feyerabend setzt sich mit Cassirers Theorie nicht selber auseinander, sondern weist auf die wissenschaftstheoretische Arbeit des Ethnologen Robin Horton hin, die, so sagt Feyerabend, Cassirer „widerlegt" habe 46 . Hortons Arbeit ist nicht namentlich gegen Cassirers Theorie gerichtet, doch seine Position widerspricht Cassirers genau. Nach Horton transzendiert mythisches Denken wie auch Wissenschaft den gesunden Menschenverstand („common sense"), um eine theoretische Sicht der Welt zu schaffen. Und zwar streben mythisches und wissenschaftliches Denken nach Einheit, worin Theorie die Dinge in einen kausalen Zusammenhang stellt, der breiter ist als die Zusammenhänge, die durch common sense geliefert werden 47 . Cassirer und Horton teilen die Ansicht, daß es die Funktion von Theorie in der Naturwissenschaft gegenüber common sense ist, die Einheit eines breiten Zusammenhangs aufzuweisen. Sie sehen die Begrenztheit von common sense in seiner Gebundenheit an die dingliche Anschauung, eine Einschränkung, die von Theorie überwunden wird. Der Unterschied zwischen Hortons und Cassirers Ansichten ist, daß Cassirer Mythos vor common sense einstuft, während Horton ihn zur Theorie im zuvor beschriebenen Sinne rechnet. Es würde zu weit führen, Cassirers Ansichten über common sense zu diskutieren, weil dies die Erörterung seiner ganzen Sprachphilosophie voraussetzen würde. Die Frage nach der Beziehung zwischen Mythos und wissenschaftlicher Theorie kann stattdessen direkt in Angriff genommen werden, denn wie sie hier vorliegt, geht es um verschiedenartige Kriterien der Anwendung des Kausalbegriffs. Die Lösung dieses Problems bedarf also nur der Klärung der Bedeutung dieses Begriffs. Der strittige Punkt ist nicht die Leistung oder Funktion des Kausalbegriffs — d. h. die Aufnahme von Phänomenen in gesetzmäßige Zusammenhänge, die breiter sind als common-sense-Zusammenhänge — sondern die Kriterien seiner Anwendung. Obwohl Horton nicht Mythos und 44 45 46 47

Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 122 und 149. Paul Feyerabend, Against Method, S. 297. Ebenda, S. 297. Ebenda, S. 297.

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Wissenschaft gleichsetzen will, betrachtet er das mythische Denken primitiver Völker als System von Überzeugungen, das es ihnen möglich macht, wichtige kausale Verbindungen in der Welt zu erkennen48. Für Horton ist sowohl die Erklärung eines sichtbaren Phänomens durch einen Physiker mit Bezug auf Nukleartheorie — wie z. B. ein von einer Atombombe verursachten Wolke — als auch die Erklärung einer Krankheit durch einen Zauberer mit Bezug auf Dämonen ein Versuch, eine natürliche Wirkung durch eine natürliche Ursache zu erklären49. Dieses Beispiel soll die Wissenschaftlichkeit von Mythos beweisen, weil, wie Horton erklärt, jetzt erkannt worden ist, daß die Bazillentheorie der Krankheit nicht ausreicht, um Krankheit als Gesamtphänomen zu erklären, sondern soziale Umstände wie Stress echte Ursachen von Krankheiten sein können. Störungen im sozialen Bereich sind aber schon als Krankheitsursachen in der mythischen Dämonentheorie erkannt worden. Störungen des sozialen Lebens gelten nach Horton im mythischen Denken und im Denken sozialpsychologischer Wissenschaft als gleichermaßen kausal. Hortons Standpunkt ist, daß, „wie Atome, Moleküle und Wellen, mythische Götter dazu dienen, Einheit in Mannigfaltigkeit, Simplizität in Komplexität, Ordnung in Unordnung und Regelmäßigkeit in Unregelmäßigkeit zu bringen." 50 Weiterhin sagt er: „Traditionelles religiöses Denken ist nicht mehr oder weniger an den natürlichen Ursachen von Dingen interessiert als es das theoretische Denken der Wissenschaften ist. Das heißt, die intellektuelle Funktion der übernatürlichen Wesen wie auch Atome, Wellen usw. ist die Erweiterung der menschlichen Sicht für natürliche Ursachen." 51 Diese Systematisierung, die Horton eine „intellektuelle Funktion" nennt, ist ihm ein ausreichendes Kriterium, von wissenschaftlicher Kausalität zu sprechen. Hier ergibt sich jedoch das Problem, daß diese angeblich natürliche Ordnung im mythischen Denken nirgends zur Kenntnis genommen wird, denn sie gilt angesichts des Zaubers als nichtig. In dem Zauber zeigt sich, daß die vermeintliche Gegenwart der intellektuellen Funktion der Erweiterung der Sicht für natürliche Ursachen vom mythischen Verhalten widersprochen wird. Denn warum werden Versuche unternommen, mit magischen Praktiken diese Ursachen zu beeinflussen, wenn diese als natürliche Ursachen erkannt wären? Horton erkennt die Existenz dieser Praktiken an, aber scheint nicht ihre Bedeutung für seine Ansicht zu sehen. Diese Praktiken zeigen, daß das Beispiel der Krankheit irreführend ist, denn alles

48

49 50 51

Robin H o r t o n , „African Traditional Thought and Western Science", Africa, Teil I, S. 5 0 - 7 1 und Teil II, S. 1 5 5 - 1 8 7 . Ebenda, S. 54. Ebenda, S. 52. Ebenda, S. 58.

XXXVII,

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erscheint dem mythisch Denkenden auf seine „soziale Welt" bezogen, und gerade die Vorstellung einer von dieser unabhängigen Natur ist ihm fremd. Aber um von wissenschaftlicher Kausalität reden zu können, ist diese Anerkennung ein unerläßliches Kriterium. Diesem Punkt wird von H o r t o n und auch Feyerabend zu wenig Beachtung geschenkt. Genau an diesem pragmatischen Punkt bewährt sich Cassirers Theorie des Mythos. In dem Maße wie das Verhalten der Menschen zu der Welt zeigt, daß sie keine objektive Gesetzmäßigkeit erkennen, kann nach Cassirer von einer wissenschaftlichen Perspektive nicht die Rede sein. Im magischen Verhalten primitiver Völker herrscht keine solche Erkenntnis. Magie ist nie eine bloße Technik, weil sie auf die Herstellung einer inneren Beziehung zwischen Mensch und Welt bedacht ist; dies gilt z. B . für die rituellen Übungen, die den Jagd- oder Kriegszügen vorangehen und diese „vorwegnehmen". Rein technisches Vorgehen setzt die Herstellung solcher Beziehungen nicht voraus 5 2 . D e r Werkzeuggebrauch bedeutet daher für Cassirer den Anfang der „Auseinandersetzung" zwischen Subjekt und Objekt. Zwar werden auch hier zunächst die verschiedenen Werkzeuge von mythischen Vorstellungen umhüllt, aber eine grundlegende Wandlung in der Anschauung ist mit diesem Werkzeuggebrauch eröffnet. In der Anschauung der Axt, des Hammers usw. geht es um bestimmte Arten des Wirkens. Cassirer sagt: D a r i n liegt, daß es in der Welt des Werkzeugs niemals bloße Dingbeschaffenheiten, sondern es in ihr, um einen mathematischen Ausd r u c k zu gebrauchen nur ein Ganzes von ,Vektorgrößen' gibt. Jedes Sein [d. h. Werkzeug] ist . . . Ausdruck einer bestimmten Verrichtung und in dieser Anschauung der Verrichtung geht dem Menschen ganz allgemein eine prinzipiell neue Blickrichtung, geht ihm die Auffassung einer ,objektiven Kausalität' auf 5 3 .

Bei Werkzeuggebrauch müssen Gegenstände in ihrer natürlichen Eigenständigkeit anerkannt werden. Mit dieser Anerkennung wandelt sich das magische Wunschbild in etwas Gerichtetes, das eine ihm fremde Ordnung anerkennt und diese Erkenntnis nutzt, um an das Ziel zu gelangen. D e r Begriff der Kausalität im Sinne der Einreihung von Dingen in gesetzmäßige Zusammenhänge setzt also nach Cassirer eine durch Werkzeuggebrauch vermittelte Einsicht in die Objektivität der Welt voraus; d. h. der Kausalbegriff hat eine pragmatische Begründung, die er in der mythischen Einfühlung unmöglich haben kann. Vor der Durchführung dieser technischen Auseinandersetzung mit der Welt kann eine wissen52 53

Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 218. E. Cassirer, „Form und Technik" in Kunst und Technik, S. 32.

hrsg. von Leo Kestenberg,

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schaftliche Perspektive nicht vorhanden sein. Nachdem diese Auseinandersetzung vollzogen ist, ist die neue Perspektive eine wissenschaftliche und keine mythische mehr 5 4 . Cassirers methologische Basis bei diesen Ausführungen ist eine transzendental-pragmatische, nach welcher der Mensch nur das erkennen kann, was er selber tut. Die Natur wird nicht unmittelbar erkannt, sondern vermittelt durch die von Menschen hervorgebrachte Technik. Ich möchte jetzt Cassirers Mythostheorie aus einer anderen Perspektive betrachten. Schon in seinen frühen Arbeiten zum Mythos wies Cassirer darauf hin, daß eine auf Mythos gegründete Gemeinschaft genauso weit von einer auf Rechtsprinzipien gegründeten Gesellschaft entfernt ist, wie der Mythos von wissenschaftlicher Erkenntnis 5 5 . Den Bezug von Mythos auf heutige soziale Formen hat Cassirer in diesen Arbeiten nicht untersucht. Erst nach dem Abschluß der „Philosophie der symbolischen F o r m e n " und besonders nach seiner Ubersiedlung nach Schweden und schließlich in die U S A widmete Cassirer sich entschieden der Untersuchung von Mythos in bezug auf heutige Gesellschaften. Früher schien Mythos ihm als etwas, das mit Einbruch des theoretischen Denkens überwunden war, denn mit dem Entstehen des wissenschaftlichen Denkens entstand auch die Lehre vom Naturrecht. Das Wissen und Handeln schien sich hiermit vom Mythos befreit zu haben. Der Mythos existierte nur in der Gestalt der künstlerischen Phantasie weiter. Zum Beispiel schrieb er im Jahre 1924, „die Lyrik wurzelt nicht nur in ihren Anfängen in bestimmten magisch-mythischen Motiven, sondern sie hält den Zusammenhang mit dem Mythos noch in ihren höchsten und reinsten Erzeugnissen aufrecht. Die wahrhaft großen Lyriker, wie z. B . Hölderlin, sind es, in denen das mythische Schauen sich noch einmal in voller Intensität und in voller gegenständlicher Kraft entfaltet. Aber diese Gegenständlichkeit hat jetzt allen dinghaften Zwang von sich abgestreift." 5 6 D . h. hier wird die Erfahrung wie im Mythos intensiviert, aber ohne uns dabei gebunden zu machen. Wir erleben stattdessen eine Befreiung auf ästhetische Weise; wir bekommen etwas zu Gesicht, das wir sonst nicht gesehen hätten 5 7 . O h n e diese Ansicht über Kunst und Mythos zu leugnen kam Cassirer später zu der Uberzeugung, daß die politischen Entwicklungen dieses 54

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56 57

Siehe hierzu die Bemerkungen über Alchemie und Wissenschaft in Philosophie der symbolischen Formen, II, Teil 1, Kapitel 2. Siehe die Bemerkungen über die Entwicklung des ethischen Ich in Philosophie der symbolischen Formen, II, Teil 3, Kapitel 1. Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 157. Siehe hierzu „Die Dialektik des mythischen Denkens" in der Philosophie der symbolischen Formen, II.

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Jahrhunderts als Beweis für einen noch viel weiteren Wirkungskreis des Mythos gelten müßten. In seinem letzten, im Jahre 1946 veröffentlichten Buch, „ T h e Myth of the State", behauptet Cassirer, daß der moderne Totalitarismus eine Beziehung zum Mythos hat, wodurch er eine neue F o r m von politischer Machtausübung darstellt. Vor allen Dingen wird Totalitarismus durch eine eigentümliche Erneuerung des Schicksalsbegriffs geprägt. Anstatt wie die Aufklärung die politische Welt als Sphäre der Freiheit, wo der Mensch sich selber macht, zu verstehen, wird sie als Ort, wo überwältigende Kräfte der „Geschichte" bestimmend sind, verstanden. „Prophezeiung ist ein wesentliches Element in der neuen Technik des Herrschens. Das Unwahrscheinliche, ja sogar Unmögliche wird versprochen; das Millennium wird immer wieder vorausgesagt." 58 Politiker geben sich auf diese Weise als Repräsentanten von etwas Größerem aus, das die Geschichte bestimmt. Diese Feststellungen Cassirers stehen mit denen von Hannah· Arendt und Karl Popper in einer Reihe 5 9 . Cassirer betrachtet diese Ereignisse aber vom Standpunkt der Wechselbeziehung von Mythos und Technik. Schon im Jahre 1930 hat Cassirer in seinem Aufsatz „Form und T e c h n i k " über die sozialen Probleme in dem Ausbau der Technik gesprochen. Hier geht es im Gegensatz zum körperlichen Werkzeuggebrauch um Technik, die über den Arbeitsrhythmus von Menschen hinausgeht und Verrichtungen, die keine Analogie zuvor im menschlichen Handeln finden. Moderne Techniken halten sich an keine Vorbilder in der Natur. Solche Techniken stellen neue Ansprüche an die Menschen. Die moderne Technik, schreibt Cassirer, „schafft, noch vor der wahrhaft freien Willensgemeinschaft eine Art von Schicksalsgemeinschaft zwischen all denen, die an ihrem Werke tätig sind." 6 0 D . h. eine Vereinheitlichung des Handelns und Anpassung an neue Systeme wurde durch die moderne Technik erzwungen, wobei die eigene Tätigkeit des Einzelnen immer mehr in diese Systeme aufgehen mußte. Eine Parallelität mit einer mythischen Schicksalsgemeinschaft liegt hier vor, denn der letzteren erscheint Sitte und Brauch als etwas Objektives, demgegenüber es keine Freiheit gibt 6 1 . Moderne Techniken werden von vielen zunächst als eine ähnliche Macht erlebt, aber dies ist nicht eigentlich Cassirers Grund, moderne technologische Gesellschaften „Schicksalsgemeinschaften" statt „Willensgemeinschaften" zu nennen. „Wille" bedeutet für Cassirer, auf etwas Zukünftiges

58 59

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The Myth of the State, S. 289. Siehe hierzu Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge Totaler Herrschaft, S. 518—521. Vgl. Karl Popper, The Open Society and. Its Enemies, vol. 2, passim. „Form und Technik", S. 60. E. Cassirer, „Axel Hägerström" in Göteborgs Hogskolas Arsskrift, XLV, 1 - 1 1 9 , S. 78.

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gerichtet zu sein 6 2 . Eine mythische Gemeinschaft ist auf ursprüngliche Vorbilder bezogen, die wieder eingeholt werden müssen und die ihr Schicksal bedeuten. Von einer Zukunftsgerichtetheit kann hier nicht die Rede sein und daher nicht von einer Willensgemeinschaft. Die modernen technologischen Gesellschaften, wie Cassirer sie verstand, sind aber nicht auf Vorbilder bezogen; sie arbeiten ganz eindeutig auf die Zukunft hin, denn sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sie Neues vollbringen. Cassirer verneint aber, daß diese gemeinschaftliche Arbeit mit Bewußtsein von etwas objektiv Maßgebendem auf die Zukunft gerichtet ist. M. a. W. Cassirer vermißt ein Richtmaß im Handeln zeitgenössischer technologischer Gesellschaften. Er verneint nicht, daß Individuen ihre Wünsche verfolgen oder daß die Technik sich, wie er sagt, als „Bezwingerin von Naturgewalten" erwies. Er ist trotzdem der Meinung, daß technologische Gesellschaften, wie sie im 20. Jahrhundert existieren, keine Willensgemeinschaften bilden, weil gemeinschaftlichem Handeln, das bloß erzwungen ist, nicht Handeln im Sinne eines ethischen Willens, der eigenen Gesetzen folgt, ist. Eine Willensgemeinschaft setzt einen irgendwie gearteten allgemeinen Willen voraus, der Quelle von maßgebenden Gesetzen menschlichen Handelns ist. Daß solche Lehren in der Aufklärung maßgebend waren, aber sowohl durch die metaphysische Kritik Hegels als auch durch positivistische Kritik in Mißkredit geraten sind, ist ein Zusammenhang, in dem Cassirer einen Hauptgrund für die Rückkehr des mythischen Denkens in die neue Politik sieht 63 . Die Naturrechtsidee, wie sie in der Aufklärungsphilosophie ausgearbeitet wurde, sah Cassirer nicht nur als eine Phase der Geschichte der Rechtsphilosophie, sondern als Grundmoment des Rechtsbegriffs überhaupt 6 4 . Das philosophische Selbstverständnis der Epoche der Aufklärung erfüllte die Voraussetzungen zur Bildung einer Willensgemeinschaft auf beispielhafte Weise, denn die Naturrechtsprinzipien der Aufklärungsphilosophie waren in der Vernunft begründet. Die Anerkennung dieser Gesetze als Normativ und allgemeingültig war zugleich die Einsicht in die eigene Vernunft. Cassirers spätphilosophische Werke wurden der Erneuerung und Weiterentwicklung des Naturrechts gewidmet, wobei er scharfe Kritik an der Philosophie der Gegenwart wegen der Vernachlässigung des Naturrechts übte 6 5 . 62 63

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Ebenda, S. 1 0 6 - 1 0 8 . Siehe in diesem Zusammenhang „Albert Schweitzer as Critic of Nineteenth-Century Ethics" in The Albert Schweitzer Jubilee Book, hrsg. von A. A. Roback, S. 2 3 9 - 2 5 8 . E. Cassirer, „Vom Wesen und Werden des Naturrechts", in Zeitschrift für Rechtsphilosophie, VI, S. 26. Diese Kritik galt auch seinem eigenen Friihwerk. Siehe seine Göteburger Antrittsvorlesung, „Philosophie als Problem der Philosophie", von Oktober 1935. Diese unveröf-

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Diese Kritik ging dem „Myth of the State" voraus und erklärt seine Behauptung dort, daß es in der sozialen Welt der Menschen wie in der Naturerkenntnis Gesetzmäßigkeiten gibt, die nicht ungestraft auf die Dauer ignoriert werden können 66 . Wo diese in der Naturrechtslehre begriffene Objektivität nicht anerkannt wird, ist die Möglichkeit gegeben, das soziale Leben mythisch zu verstehen. Das Objektivitätsbewußtsein der Philosophie des 20. Jahrhunderts unterlag nach Cassirer einer solchen Einschränkung. Wo die Philosophie nicht in eine auf soziale Zusammenhänge nicht Rücksicht nehmende „Existenzphilosophie" einmündete, nahm sie die Objektivitätskriterien der falsch verstandenen Naturwissenschaften als allein gültig an 67 . Den klarsten Ausdruck hierfür sieht Cassirer in dem positivistischen Verifikationsprozeß 68 . Demnach ist jede Aussage, die nicht im engeren Sinne empirisch verifizierbar ist, unsinn, was Werturteile scheinbar auf emotionelle Ausbrüche reduziert. Das Modell der Objektivität, das dieser Ansicht zu Grunde liegt, ist nach Cassirer letzten Endes die Vorstellung des „Dings" 6 9 . Diese angeblich wissenschaftliche Perspektive zeigt aber ein großes Mißverständnis der Wissenschaft selbst. Die moderne Wissenschaft ist nämlich nach Cassirer dadurch ausgezeichnet, daß sie über die Anschaulichkeit der dinglichen Welt prinzipiell hinaus ist. In der modernen Physik zieht man sich auf eine axiomatische Basis zurück, wobei Grundbegriffe wie der eines materiellen Punktes ohne Rücksicht auf die Anschauung durch implizite Definitionen ihren Sinn bekommen 70 . Die moderne Physik ist dadurch mit einer konsequenten dinglichen Weltansicht unvereinbar, geschweige auf solcher Basis ausbaufähig. Auf diese Zusammenhänge kann ich hier nicht näher eingehen, aber diese Andeutungen machen klar, daß Cassirer keineswegs das wissenschaftliche Denken für die Einschränkung des Objektivitätsbewußtseins verantwortlich machen wollte. Er hätte nie z. B. mit der Analyse von Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung" übereinstimmen können, wonach wissenschaftliches Denken in Mythos umschlägt, weil Formalisierung angeblich auf die Beschränkung der Sicht für das Tatsächliche reduziere 71 .

66

67 68 69

fentlichte Vorlesung erscheint bald in englischer Ubersetzung in einem Band von Cassirers Aufsätzen, hrsg. von Donald P. Verene. The Myth of the State, S. 2 9 5 f . Cassirers Position ist also normativ und nicht sozialtechnisch. „ A x e l Hägerström", S. 71. Siehe hierzu die Bemerkungen in „Axel Hägerström". E. Cassirer, „Was ist Subjektivismus", in Theoria, V, 1 1 1 - 2 4 0 , esp. 134.

70

Determinismus

71

Horkheimer und A d o r n o veröffentlichten ihre Dialektik der Aufklärung Cassirers Tod und Cassirer bezog sich nie auf ihre Schriften.

und Indeterminismus,

S. 329 ff. zwei Jahre nach

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Ich erwähne das Buch von Horkheimer und Adorno, weil es auf eine andere Weise als Cassirer die Rückkehr des Mythos in die moderne Politik mit philosophischem Bezug auf die Aufklärung sieht. Horkheimer und Adorno behaupten, daß das Denken der Aufklärung zu dem Rückfall in den Mythos führt. Dies begründen sie durch die Gleichsetzung von Aufklärung und instrumentellem, d. h. bloß technischem Denken. Nichts könnte Cassirer ferner liegen als eine solche Position. Für Horkheimer und Adorno führt das Ideal der Autonomie der Vernunft - Mündigkeit, wie Kant es nannte — zum Herrscherbewußtsein und die Wissenschaft zum Verlust vom Bewußtsein aller Werte mit der Ausnahme von Macht. Für Cassirer dagegen setzt autonome Vernunft immer eine Anerkennung von Objektivität voraus, einschließlich in der Sozialsphäre. Die Naturrechtslehre bedeutet ihm solch eine Anerkennung. Die Krise dieser Lehre aber bedeutet für Cassirer ein Nachlassen von Aufklärung, nicht seine konsequente Durchführung. Von Cassirers Position aus gesehen haben Horkheimer und Adorno sowohl die Eigenart der neueren Wissenschaft, wie auch das Wesen der Aufklärung nicht verstanden. Die Schrankenlosigkeit der Machtausübung im Totalitarismus sieht Cassirer als radikale Verkennung von objektiven Grenzen; diese Macht kann daher nur eine mythische Legitimation haben. Das Sonderbare ist, daß sie eine solche Legitimation auch findet. Frühere Theoretiker wie Hobbes haben den Ursprung von Mythen auf die Erfindung von klugen Priestern zurückzuführen versucht. Moderne Theoretiker jedoch wie Jung, Kerényi, Eliade und Cassirer sahen in dem Mythos eine ursprüngliche Form der Erfahrung, die genau so wenig „erfunden" worden ist wie Sprache „erfunden" wurde. Die politische Gegenwart zeigt aber, daß die Technik und damit das instrumentelle Denken in den Stand gekommen ist, auf eine Weise der alten Hobbeschen Ansicht im gewissen Sinne Recht zu geben. Dies ist so, weil zeitgenössische Gruppen es verstehen, die Logik bzw. symbolische Form des Mythos für ihre Zwecke wie ein Werkzeug zu benutzen. Im 20. Jahrhundert, meint Cassirer, . . . finden w i r M y t h e n planmäßig gemacht. Die neuen politischen Mythen wachsen nicht frei auf; sie sind nicht die wilden Früchte einer überreichlichen Phantasie. Sie sind künstliche Dinge, die von gewandten und listvollen Handwerkern fabriziert werden. Es ist f ü r das 20. Jahrhundert, unser eigenes großes technisches Zeitalter reserviert gewesen, eine neue Technik des M y t h o s zu entwickeln. Zukünftig können M y t h e n durch Manufaktur im gleichen Sinne und nach denselben Methoden hergestellt werden wie irgendeine andere moderne W a f f e — wie Maschinengewehre oder Flugzeuge. Das ist etwas Neues und etwas von entscheidender Wichtigkeit. 7 2 72

The Myth of the State, S. 282.

216

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In „The Myth of the State" beschreibt Cassirer verschiedene Vorgänge, die zu der Technik des Mythos gehören 73 . Die Herstellung von Mythen in der Politik des 20. Jahrhunderts dient vor allem der Anschauung der Geschichte als Schicksal. Diese Anschauung hat den Vorzug, daß das Gefühl der Hilflosigkeit des Einzelnen in der technologischen Welt durch sie eine Rechtfertigung bekommt. Wo man sich die „Geschichte" als einen unaufhaltsamen Prozeß vorstellt, wird der Einzelne der Verantwortung für eigene Entscheidungen enthoben. Er hat nur zu gehorchen. Dieser Punkt schien Cassirer der größte Reiz des mythischen Denkens zu sein, denn es ist ohne Zweifel bequemer, nicht selber die Verantwortung für Entscheidungen zu tragen 74 . Das philosophische Problem, das Mythos hier stellt, ist ein ethisches, denn im mythischen Denken sind Vorbilder anstelle von Idealen wie Gerechtigkeit für das Handeln maßgebend. Zwar werden die Vorbilder, wo die Geschichte als Schicksal empfunden wird, als Zukunftsvision betrachtet, statt als vorausgegangene ursprüngliche Taten, aber dies ist für die ethische Dimension unwesentlich. In beiden Fällen sind ethische Ideale unwirksam. Dadurch scheinen für die Machthaber alle Mittel geheiligt, um die Zukunftsvision zu verwirklichen. Eine kritische Haltung ist dann nicht nur nicht gewünscht; sie ist unmöglich, denn Instanzen wie Gerechtigkeit sind durch die Zukunftsvision definiert. Die Vision selber in Frage zu stellen, ist daher buchstäblich undenkbar. Mythisches Denken zeigt hierdurch seine größte Kraft; denn Mythos ist — mit Cassirer zu sprechen — „gegen rationelle Argumente absolut undurchdringbar" 75 . Hier lohnt es, wieder zu dem Buch von Horkheimer und Adorno zurückzukommen. Sie sehen die Antwort auf die mythische Tendenzen der Politik nicht in irgendwelchen Argumenten gegen sie, sondern zunächst in dem, was sie eine „Erinnerung an die Natur" nennen, was für sie die Achtung vor etwas Ursprünglichem bedeutet 76 . Hier entsteht eine gewisse Ubereinstimmung mit Cassirer, der auf die Anerkennung von etwas Objektivem als Voraussetzung des vernünftigen Handelns hinwies. Aber die Erinnerung an „Natur" hätte ihm als ein Widerhall der romantischen Kritik an der Aufklärung vorkommen müssen. Cassirers Antwort auf die rationale Undurchdringbarkeit von Mythos ist aber auch eine Art von Erinnerung. Cassirers ganze Philosophie geht von der Erinnerung an den Mythos aus. Aber statt einer Erinnerung an die Natur ist dies eine Erinnerung an die Kultur.

73 74 75 76

E b e n d a , Kapitel X V I I I . E b e n d a , S. 288. E b e n d a , S. 296. H o r k h e i m e r und A d o r n o , Dialektik

der Aufklärung,

S. 41. Vgl. S. 227.

Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer

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Diese Erinnerung erwirkt zugleich auf zweifache Weise eine Befreiung vom Mythos. Erstens hat sie eine kritische Wirkung. Das Durchschauen der Logik des mythischen Denkens ist befreiend, denn nur derjenige ist dem mythischen Denken ausgeliefert und von ihm gebunden, der seine Logik nicht versteht. Zweitens aber bedeutet die Erinnerung an den Mythos für Cassirer etwas Konstruktives. Diese Erinnerung zeigt die Basis jeder menschlichen Gemeinschaft: das symbolische Denken und Handeln. Menschliche Gemeinschaften sind immer symbolische Gemeinschaften, und hierin sah Cassirer etwas Objektives, das Basis einer normativen Theorie des menschlichen Handelns sein könnte. Aber dies kann ich hier nicht erörtern 7 7 . Die Idee der Erinnerung zeigt den Zusammenhang zwischen Mythos und Philosophie. Die mythische Erinnerung an die Vorbilder erfüllt vor allem eine philosophische Funktion: Selbsterkenntnis. Die Erinnerung an die Vorbilder sagt, wer die Mitglieder des mythischen Stammes sind. Auch Philosophie war schon in ihrem Anfang eine Form der Selbsterkenntnis. Dies betrifft sowohl die Denker metaphysischer Tendenz wie auch die radikalsten Skeptiker, weil beide etwas über die menschliche Erkenntnis und daher die Stellung des Menschen in der Welt sagen. Selbsterkenntnis ist aber immer mit Bezug auf die Welt, in der gelebt wird, denn das Handeln erfolgt immer mit Bezug auf gewisse Vorstellungen der eigenen Identität. Cassirer zeigt, daß dieses Selbstverständnis ein ganz anderes für mythisch und philosophisch Denkende ist. Die mythische Erinnerung sagt, wer die Mitglieder mythischer Stämme sind, ist aber dabei völlig unkritisch; von sich aus wird hier nichts in Frage gestellt. Die philosophische Erinnerung ist aber von vornherein kritisch. Philosophen wollen zwar ihre Lehren nicht bloß als ihre Meinungen ausgeben, sondern als Objektives betreffend und sind hierin auch gebunden, aber Philosophen sehen ihre Einsichten als von ihnen selbst formuliert, eine für Mythos undenkbare Haltung. In der Philosophie gilt daher keine Antwort als das letzte Wort, auch wenn bestimmte Lehren bestimmter Philosophen als endgültig betrachtet werden. Die Philosophie selbst ist daher geschichtlich und vom Mythos radikal unterschieden, auch wo sie ihm nahe zu stehen scheint.

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Dies habe ich zum Teil in meiner unveröffentlichten Dissertation, „Ernest Cassirer's Philosophy of Symbolic Forms and the Problem of Value", Pennsylvania State University, 1975, erörtert.

CHRISTOPH HUBIG

Dialektik der Aufklärung und neue Mythen Eine Alternative zur These von A d o r n o und Horkheimer Alles haben Homer und Hesiod auf die Götter geschoben, was bei den Menschen wird als Schimpf und Schande betrachtet. (Xenophanes) 1

D i e These v o m U m s c h l a g der Aufklärung und ihrer technologischen Folgen in M y t h o s ist den Verfechtern Kritischer Theorie sowie deren Kritikern vertraut — eine vertraute und dunkle These zugleich. J e d o c h : „ D u n k e l und einleuchtend zugleich" 2 zu sein, ist, nach Theodor W. A d o r n o , ein wesentliches Implikat gerade des Mythos. Diese Vertrautheit gilt es z u relativieren, u m somit der Gefahr eines „neuen M y t h o s " über den M y t h o s entgegenzutreten. Denn jener Mythos über den Mythos besteht, hierin dem von ihm Referierten verwandt, darin, alles FeindlichU n b e k a n n t e , Schicksalhafte, Blinde, mit Totalitätsanspruch einherkomm e n d e unter eine einzige Chiffre zu packen — das macht die „Vertrauth e i t " aus —, eine Chiffre, für die früher in der Mythosforschung das Mana o d e r die griechische M o i r a 3 stand, heute leider allzumeist der Begriff M y t h o s selbst steht. Jenes unspezifizierte Mythosverständnis durchzieht die Argumentationen der Ideologiekritiker wie auch die Einwände ihrer G e g n e r : Verwenden so A d o r n o / H o r k h e i m e r diese Kategorie für die totalitären Folgen unreflektierter instrumenteller Vernunft, so klingt selbst in der polemischen Setzung durch Hans Albert — „ M y t h o s der totalen V e r n u n f t " 4 — jener Wortsinn an, wenn er sich gegen die Hintergehung der Stringenz wissenschaftslogischen Denkens richtet — beide Male steht 1 2

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4

Xenophanes, 21 Β 11, übers, v. W. Nestle, Die Vorsokratiker, Jena 1922, S. 113 f. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1969 (im folgenden zit. als „ D A " ) , S. 4. Beiden gemeinsam ist die Auffassung eines unpersönlichen Wesens, dem gar die Götter unterliegen, und dessen Gesetzmäßigkeit zwar durchschaut, nicht jedoch beeinflußt werden kann. Jenes undifferenzierte — in Gut und Böse noch nicht geschiedene — transzendente Prinzip findet sich in den frühesten Stadien der Menschheit (vgl. die von Adorno/ Horkheimer zitierten H . Hubert et M. Mauß, Théorie générale de la magie, in: L'Année Sociologique, 1902/03, S. 100. Hans Albert, Der Mythos der totalen Vernunft. Dialektische Ansprüche im Lichte undialektischer Kritik, in: Adorno et. al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1969, S. 193 ff.

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Mythos für das unidentifiziert Bedrohliche. Die These des Vortrags wird dagegen sein, daß die neue unbekannte Größe, der gegenwärtige scheinbare Mythos, eine völlig andere Qualität hat, als jene mythische Ausgangssituation am Anfang der Rationalität, oder diejenigen mythischen Elemente, die jene Rationalität immer noch beherrschen. Dies bedeutet nicht, daß Adorno/Horkheimers These von der Verschränkung der Rationalität mit dem Mythos für die Analyse des neuen Phänomens nichts hergäbe, im Gegenteil: Für die Genese jener neuen Problemkonstellation scheinen mir wesentliche Anhaltspunkte, die im folgenden rekonstruiert werden sollen, hier zu finden sein. Jedoch erscheint jener Ansatz in seinen Konsequenzen trügerisch, wenn es darum geht, den gegenwärtigen „Mythos", das Primat zweckrationalen Handelns über wertrationalem Handeln, abzubauen, denn der alte Mythos, wenn auch werthaft, lag doch jenseits wertrationalen Problembewu&tseins, eines Bewußtseins, um dessen Begründung es doch gehen müßte, wenn kritische Theorie mehr als kritische Philologie sein soll. Denn es liegt eine wesentliche Differenz zwischen einer Auffassung vom Mythos als einem ursprünglichen Orientierungssystem, das nicht selbstreflexions/ä'Azg ist, und einem gegenwärtigen Orientierungssystem, dessen Ideologen, da selbst nicht reflexionswz//zg, es als abgeschlossen und nicht reflektierbar, propagieren·, eine Differenz also zwischen einem nichthintergeh^are» Handlungssystem und einem Handlungssystem, das seine Hintergehung nicht zuläßt, wieder anders formuliert: Verstellter Möglichkeit im Gegensatz zu verstellter Wirklichkeit. (Jedoch dienen jene begrifflichen Unterscheidungen dazu, gerade auf Zusammenhänge im faktisch-pragmatischen Bereich hinzuweisen, nicht etwa naiv mit der analytischen Unterscheidung auch noch eine faktische Trennung vorauszusetzen.) Der über den gegenwärtigen Mythos handelnde „neue Mythos" der Kritischen Theorie, der, wie gezeigt werden soll, jedoch immer noch einer der vernünftigeren ist, läßt sich prägnant in dem Diktum eines ihrer Inspiratoren finden: „Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos" (Walter Benjamin) 5 , ein Aphorismus, aus dem man fast eine Lösung zur Theodizee-Frage heraushören könnte. Auf der Folie dieses Aphorismus gliedert sich nachfolgender Vortrag in zwei kritisch analytische Teile bezogen auf die Kritische Theorie: 1. Der Mythos resp. das Aufklärungsbedürftige 2. Der Bettler resp. die gesellschaftliche Defizienz als Agens und Instanz der Kritik, oder: Gibt es einen Begründungszusammenhang zwischen Mythos und Bettler? 5

Walter Benjamin, Passagenarbeit, zit. nach Adorno, Negative 1966, (im folgenden abgek. als „ND") S. 201.

Dialektik,

Frankfurt/M.

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Anschließend wird in einem dritten Teil auf den Zusammenhang von zweckrationalem und wertrationalem Handeln einzugehen sein, und schließlich sollen in einem letzten Abschnitt die Möglichkeiten der Begründung eines „negativen Naturrechts" (an Stelle der von Adorno als Lösung verfochtenen „Negativen Utopie") 6 als nicht-mythischem Orientierungssystem wertrationalen Handelns skizziert werden. Daß jenseits der instrumenteilen Vernunft solche wertrationalen Orientierungssysteme notwendig sind, kann an dieser Stelle nicht eigens problematisiert werden. Andererseits gebietet die Problemlage, das Interesse des Mythos an „legitimation" 7 nicht in der einengenden religionswissenschaftlichen Deutung mit „gründender Urzeit" ausschließlich in Verbindung zu bringen. Zwar ist mit Wolfgang Pannenberg seine Funktion als „gründende Geschichte" auch hier abzugrenzen gegen die Derivate, die sich jenen Gründungscharakter bloß anmaßen; 8 andererseits scheint die theologische Schlußfolgerung, daß Entmythologisierung die Entlastung des aufgeklärten Zeitalters von den Ansprüchen längst entschwundener Wirklichkeitserfahrung darstellte, vorschnell jenseits der Geschichte wieder eine ontologische Basis zu postulieren, die nicht dadurch wahrer wird, daß sie älter ist. Der Wert des hier zu diskutierenden Ansatzes von Adorno und Horkheimer kann, bei aller Kritik, darin liegen, daß nicht eine aller Geschichtlichkeit enthobene „ideelle Wahrheit der Mythen" 9 vorausge6

Da ein Zug des mythologischen affizierten Subjektes in der Bildlichkeit seines Denkens liegt (s. u.), kann eine Utopie nicht ihrerseits in positiven Begriffen, die abbilden, sondern in einer Tendenz weg von jener Bildlichkeit sich manifestieren. („Bilderloser Materialismus", N D S. 202f.). Die tragende Funktion hierbei wird der Kunst zugesprochen (Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, im folgenden abgek. „ A T " , S. 128, 201), durchaus in dem von Dieter Henrich hervorgehobenen aristotelischen Prinzip, Mimesis der Kunst müsse die Unvollkommenheit des Wirklichen zur Vollkommenheit der Natur ergänzen (Naturnachahmung und Illusion = Poetik und Hermeneutik Bd. 1, S. 22), die aber nicht „Positiv gegeben" sei (s.u.). „Sie lehrt aus seinen (des Bildes) Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreißt und sie der Wahrheit zueignet". (DA S. 30).

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B. Malinowski, Myth in Primitive Psychology, London 1926. Malinowski hebt in seiner Charakterisierung des Mythos jene Legitimationsfunktion hervor und setzt sie scharf ab von der Interpretation des Mythos als vorwissenschaftlicher Explanation, (vgl. Ernst Topitsch in diesem Band sowie: Mythische Modelle in der Erkenntnislehre, in: Stud, generale, 6/1965, S. 400ff.), die dem Mythos fremd sei. Wolfhart Pannenberg, Späthorizonte des Mythos in biblischer und christlicher Uberlieferung, in: Terror und Spiel = Poetik und Hermeneutik IV, S. 474f. (Neben der Abgrenzung zu Sage und Märchen ist insbesondere diejenige gegen solche Mythen relevant, die ihrerseits aus Kulthandlungen abgeleitet sind - eine Spezifizierung des Mythosbegriffes, die sich mit unserer Intention der Adornokritik deckt; für jenes Phänomen soll später der Begriff „Ideologie" gesetzt werden. Pannenberg, ebd. S. 483. Im Lichte jener Idealisierung mythischer Wahrheit erscheint dann verabsolutierte Aufklärung als „Entlastung" von jener umfassenden Wirklichkeits-

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setzt wird, noch die optimistische Gegenthese, daß die Entwicklung der Mythen die Befreiung und Überwindung des urzeitlichen Bewußtseins darstelle 10 . 1. Der Mythos Der Versuch Adornos und Horkheimers, das selbstgewisse Selbstverständnis der Aufklärung zu relativieren, fand seinen Grund in einer Analyse der verwalteten Welt. Diese ist durch ein Primat zweckrationalen Handelns gekennzeichnet, dem ein Verfall theoretischer Bildung, Absperrung theoretischer Einbildungskraft und einer Zerstörung des Bewußtseins der Vergangenheit einhergehe. Was Francis Bacon in seiner Idolenlehre kritisierte, nämlich daß bisher die „Ehe des menschlichen Verstandes mit der Natur der Dinge" 1 1 verhindert worden sei, ereignet sich heute quasi ein zweites Mal; denn da das Baconsche „naturam parere" nur im engen Bereich zwec^rationaler Vernunft praktiziert würde, und Naturerkenntnis nur auf die Auswahl geeigneter Mittel bei vorgegebenen Zwecken abziele, liefere man sich blinder Herrschaft aus — die Vokabel „blind" durchzieht den ganzen Essay —. Dies sei die Selbstzerstörung der Aufklärung, ihr Rückfall in „Mythologie". Wenn nun ein Denken, das sich auf Mittel-Zweck-Zuordnungen beschränkt, resp. auf deduktive Zusammenhänge auf dem Gebiet der Zwecke und der Mittel, analysiert werden soll, müsse man „den geltenden gedanklichen und sprachlichen Anforderungen der Gefolgschaft . . . versagen" 12 , wobei wohl implizite die extensionalen Sprachen eines an deduktiver Logik orientierten und davon die Einheit der Wissenschaften behauptenden Rationalitätsideals gemeint sind — eine Ausgangslage, die, wie zu zeigen ist, in dieser Radikalität heute nicht mehr gilt. Insofern will ich nun den sprachlichen Anforderungen Adornos die Gefolgschaft versagen, und ebenso deren Konsequenz, dem aporetischen Appell an eine nicht benennbare „Natur", die verloren ging. Stattdessen soll diese Schein-Alternative in meiner Kritik mit einer Terminologie unterlaufen werden, die dem Bereich intensionaler Sprachen zuzurechnen ist, also einer Terminologie, die darauf abhebt, wie in möglichen Kontexten oder Welten Identifikationen vorzunehmen sind, resp. von den hi-

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erfahrung; eine vorsichtigere Interpretation hingegen würde nahelegen, daß die „zur wahren Naturerkenntnis" gelangte Menschheit sich nicht sosehr von „überholten Wahrheiten", als von der Notwendigkeit wertrationaler Orientierungssysteme überhaupt „emanzipieren" will. Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos, in: Terror und Spiel, a . a . O . , S. 23ff., 68ff., vgl. Pannenberg, ebd., S. 484f. D A , S. 9f. D A , S. 2.

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storischen Subjekten regelhaft vorgefunden werden (was man allgemein als Kultur bezeichnet) 13 . Im Problemhorizont des vorliegenden Ansatzes lassen sich ein systematischer und ein historischer Aspekt ausmachen, die sozusagen das Aufgabenfeld der Auseinandersetzung umschreiben. Auf der systematischen Seite werden erstens in der Adorno/Horkheimerschen Analyse der Aufklärung Momente entdeckt, die dem Problematisierungsanspruch jener Aufklärung nicht genügen, da sie selbst mit den Mitteln der Aufklärung nicht problematisiert werden: Der Sinnverzicht, resp. die Ausklammerung von Sinn aus dem Bereich wissenschaftlicher Thematisierung, das Systemdenken als neues „idole d'echelle" 14 , und die Feindschaft gegen die Annahme von Universalien als Denkgrößen. Wir werden später hierauf zurückkommen. Ex negativo wird dann — zweitens — die (zu problematisierende) Schlußfolgerung gezogen, daß diese defizienten Modi der Aufklärung, als Mangel an Selbstreflexion, mythischer Qualität seien. Drittens wird dann in diesem Lichte der alte Mythos rekonstruiert als ein schon von dieser defizienten Aufklärung durchwirktes Gebilde; ein solcher Mythos erscheint insofern anthropomorph; unter dem Wissen von der Unzulänglichkeit jener Anthropomorphismen wird dann jedoch viertens eine Phase der Naturverbundenheit vor dem Mythos postuliert, die nur noch als unklare Erinnerung an das Wissen, wie es anders sein könnte, gezeigt an Bildern aus dem Tierreich, auftritt, ,,eine[r] Selbstheit, die nicht erst durchs identifizierende Denken aus der Interdependenz des Seienden herausgeschnitten ward" 15 . Von jenem implizit systematischen Ansatz ist offenbar die historische Rekonstruktion mythischen Denkens geleitet, innerhalb derer die Mythen schon als ein Produkt der Aufklärung erscheinen: Als Anfang eines Prozesses, in dem durch die Einführung des Zeichenbegriffs, die Opferhandlung und die Lehrtradition das Prinzip der Vertretbarkeit — ein Symbol steht für den Inhalt/Sinn — sich durchsetzte, bis hin zur universalen Fungibilität nur mehr abstrakter Größen in der Gegenwart. Die historische Binnenstruktur dieses Vorganges läßt sich ebenfalls in vier Phasen idealisierend nachzeichnen: Aus systematischen Gründen, die 13

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Vgl. hierzu: Ch. Hubig, Dialektik und Wissenschaftslogik. Eine sprachphilosophischhandlungstheoretische Analyse, Berlin 1978, S. 30 ff. D A , S. 13, vgl. Jacob Taubes: „Die Hierarchien des der allegorischen Darstellungsform reflektieren in der Spätantike die Hierarchien des Seins. Es ist die Kongruenz zwischen den Hierarchien des Seins und den Hierarchien des Sinns, die seit der Spätantike die Voraussetzung der allegorischen Darstellungsform der Mythen bildet. Die allegorische Darstellungsform . . . fungiert nicht nur als rationalisierende Exegese des archaischen Mythos, sondern wird selbst zur Darstellungsform eines ,neuen' Mythos". (Terror und Spiel a. a. O . , S. 146). Der Spott de Maistres gegenüber dem „Idole d'echelle" Bacons steht also in einer weiter zu dimensionierenden Problemgeschichte, (s.u.). AT, S. 171.

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wir erst im zweiten Teil des Vortrags (Wie hängt der Mythos mit dem Bettler zusammen?) näher analysieren, sind die erste und die vierte Phase jener Genese nur karg bestimmt: Die erste Phase als die der unbestimmten Einheit der Menschen mit der Natur, die vierte Phase als die der negativen Utopie. Ihnen inhärent sind die zweite Phase der personalisierten Mythen einschließlich der philosophischen Systeme des Mittelalters (Paradigma ist die Odyssee), sowie als dritte Phase die Aufklärung nach der Baconschen Schwelle, das naturwissenschaftliche Wissenschaftsideal als Basis technischer Zweckrationalität. Diese vier Phasen sind zunächst zu rekonstruieren, wobei eine gewisse Distanz von der faszinierenden Metaphorik des Traktats erlaubt sei: Die erste Phase der Einheit mit der Natur, in der die Natur die reale Ubermacht hat, vermag lediglich eine undifferenzierte, nichtidentifizierende (auf Symbolgebrauch verzichtende) und daher auch nicht subsumierende (Symbole in einen Deduktionszusammenhang bringende) Vorstellung eines Naturwirkens zu zeitigen. Dieses Wirken tritt in allen Elementen einschließlich den Menschen auf, die hierfür nur eine Kategorie ohne Darstellungsfunktion haben, nämlich das „Echo der Natur", das ein Teil ihrer sei. Als Beispiel wird eben jenes neuseeländische Mana angeführt. Mit der Arbeitsteilung wird dieses Echo, ein Echo der Angst und des Gehorsams vor der Ubermacht, ausdifferenziert — die Einzelsubjekte realisieren nur singuläre Aspekte, die erst gemeinsam einen Sinn konstituieren — und als Echo (Mimesis) bewußt 16 . Damit hebt die zweite Phase an: Die Vorstellung von der Verkörperung der Natur als allgemeiner Macht sucht nun explizit ihre Symbole, die in einer strukturellen Ähnlichkeit mit dem, worauf sie verweisen, ihr Recht finden (also im semiotischen Sinne Ikone sind) 17 : Äußerte sich diese Ähnlichkeit oder Verwandtschaft zunächst auf dinglichster Stufe im Matriarchat, das diese Verwandtschaftsbeziehungen zum Ursprung der Natur am ehesten und sinnfälligsten ausdrückte und erst im großen Prozeß der Orestie sein Ende fand, so setzt Adorno/Horkheimers Analyse an dem Punkt ein, wo sich jene Verwandtschaft (im Zuge der Ausdifferenzierung) in einer Personalisierung der Naturmächte realisiert18, Naturmächten, unter denen nun anthropomorphe Konflikte auftreten können: Dem menschenähnlichen Götterhimmel. (Interessant ist, daß die Einheit der Zeichen nicht nur eine ist mit dem zu Bezeichnenden: Götter-Naturmächte, sondern auch ein zu 16

D A , S. 21.

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D A , S. 23 f. D A , S. 14; Adorno/Horkheimer sprechen zwar an verschiedenen Stellen von präpatriarchalischen Stufen, die jedoch eher mit der Phase 1 ihrer Genealogie gleichgesetzt werden, als mit den Topoi des Matriachats, über das in Aischylos' Eumeniden Gericht gehalten wird (Vs. 5 7 4 - 7 7 7 ) .

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denjenigen, die mit jenen Zeichen umgehen, den Menschen. (Der Sirenengesang hingegen war für Odysseus gefährlich, weil er die alte Einheit — zur Natur der ersten Phase - beschwor) 1 9 . Die Perpetuierung jenes Prinzips der Ausdifferenzierung hält selbst im Zuge der fortlaufenden Tradition der Abstraktion jener Mythen in den scholastischen Systemen an; das Naturwirken wird in den Schöpfungstheorien ausgedrückt als die Ausdifferenzierung der allgemeinen Form (Gott) zum konkreten Inhalt hin 2 0 . Erst die Universalienfeindlichkeit der „ m o d e r n e n " Aufklärung schien dem ein Ende zu machen. In jener zweiten Phase nun finden sich Momente, die auch die darauffolgende Phase der Aufklärung charakterisieren, jedoch in anderem Gewände: Mit der Einführung der Sprache in dieser Phase des Mythos 2 1 entfalten sich „sprachliche Totalitäten", d.h. Wirkungszusammenhänge, die man durch zwei Relationen kennzeichnen könnte: A die Vorgabe von Identifizierungsregeln für die Subjekte („die Herrschaft der Begriffe"), Β das intentionale Bezogensein dergestalt instruierter Subjekte auf die Totalität („Reproduktion der Totalität") durch den Gebrauch der Sprache 2 2 . Diese „Herrschaft der Begriffe" sollte ermöglicht werden durch Herrschaftsverhältnisse in der Realität, die sich mit der Arbeitsteilung herausbildeten, und disponierendes Denken allererst ermöglichten 23 . Theoretisch ist diese Variante des Basis-Uberbau-Theorems wenig plausibel, denn die historische Gleichzeitigkeit von Phänomenen läßt keinen Schluß auf kausale Beziehungen zwischen ihnen zu; pragmatisch könnte sie insofern einleuchten, als ein Subjekt, das seine Identität nur nach vorgegebenen Regeln zu bestimmen gezwungen ist, praktisch einer Disposition über Alternativen entrât. Auf der Stufe der Personalisierung der Mächte und eines Systemdenkens, das sich als Korrelat universeller Natur versteht, bedeutet also das Vertrauen in das Vorgegebene die Verkennung von Mög19 20

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D A , S. 39ff. D A , S. 12. Als Beispiel ließe sich Johannes Scotus anführen, der gemäß der platonischen μετέξις die Gattung-Individuum-Relation als Substanz-Akzidens-Relation interpretiert; er überträgt hierbei gleichzeitig die erkenntnistheoretische Genesisfrage auf die Ontologie, indem das Allgemeine vor dem Einzelnen existiere, das aus jenem durch Entfaltung (resolutio) hervorgehe. Im Rahmen jener neuplatonischen Emanationslehre wird der aristotelische Substanzbegriff auf den platonischen Begriff der Idee übertragen — eine mythische Zeichenauffassung. Vgl. Goethes Prometheus „ U n d eine Gottheit sprach, Wenn ich zu reden wähnte, und wähnt ich, eine Gottheit spreche, Sprach ich selbst". D A , S. 1 7 , 4 8 , vgl. A d o r n o in: A d o r n o e t . al., Der Positivismusstreit. . ., a. a . O . , S. 127, 28, 17; sowie Hubig, Dialektik, a . a . O . , S. 66ff. D A , S. 20, 28. Ebenso wäre die Autonomie zu kritisieren, die Ernst Troeltsch für den M y t h o s reklamiert (in: Aufsätze zur Geistesgeschicbte und Religionssoziologie, Aalen 1966, S. 25f.).

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lichkeiten. Die hieraus resultierende Nichtintentionalität mythischen Denkens findet in der zweiten Phase ihren Widerhall in der Wiederholung als primärer menschlicher Aktivität, dem Ritual, einem Bann, dem nur die Herrscher und Priester — scheinbar — enthoben sind. Die aufklärerische Theorie des Priesterbetrugs, der selbst Condorcet noch anhing, ist auf dieser Linie zu sehen (vgl. die alternative historisch-anthropologische Mythendeutung bei Gianbattista Vico)24. Diese Angleichung durchs Ritual ist jedoch nicht mehr die des unmittelbaren Natur-Gehorsams aus der ersten Phase. Scheinbar machte die Baconsche Idolenkritik dem ein Ende, und das Ideal des Zweckrationalen schien diejenige Beherrschung der Natur möglich zu machen, die das Systemdenken der Ursprungsmythen versperrte — die dritte Phase in unserer Idealtypisierung —. Dieses Ideal nun, so die These des zu besprechenden Ansatzes, verhindert jedoch wahre Praxis in analoger Manier wie die personalisierten Mythen, und zwar auf zwei Ebenen: A auf der sprachlichen, indem das Prinzip der Stellvertretung oder Abstraktion auf die Spitze getrieben wird, und die hieraus resultierenden abstrakten begrifflichen Größen zu „Fetischen" werden; Β auf der Ebene des Handelns, auf der, da das Subjekt sich nur in den zweckrationalen Konkretisationen seiner Intentionalität erkennt, es seiner Kompetenz zur werirationalen Praxis immer weniger gewiß wird, bis schließlich die soziale Dynamik, geprägt von den Stereotypen der Technik und der Formalität unspezifischer Begriffe, quasi maschinell ablaufe, und die historischen Subjekte in der Beseitigung der negativen Folgen, behindert durch die eigenen Institutionen, ihre letzte Aufgabe sehen25. Auf der Ebene der Zeichenverwendung liegt der Grundtenor der Argumentation in der These, — hierin ebenfalls pragmatisch — daß das, 24

„Mais en même temps on vit se perfectionner l'art de tromper les hommes pour les dépouiller, et d'usurper sur leurs opinions une autorité fondée sur des craintes et des espérances chimériques. Il s'établit des cultes plus réguliers, des systèmes de croyance moins grossièrement combinés. Les idées des puissances surnaturelles se raffinèrent en quelque sorte: et avec ces opinions, on vit s'établir ici des princes pontifes, là des familles ou des tribus sacerdotales, ailleurs des collèges de prêtres; mais toujours une classe d'individus affectant d'insolentes prérogatives; se séparant des hommes pour les mieux asservir". (Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hrsg. v. Wilhelm Alff, Frankfurt/M. 1963, S. 60), dagegen Vico: „Alles stimmt überein mit dem Ausspruch des Laktanz, . . . wo er von den Anfängen des Götzendienstes spricht: daß die ersten einfachen und rohen Menschen sich die Götter erdachten ,ob terrorem praesentis potentiae'. So hat die Furcht die Götter erschaffen; doch . . . nicht die Furcht der Menschen voreinander, sondern ihre Furcht vor sich selbst". Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übers, v. Erich Auerbach, Berlin 1965, S. 158, 154; vgl. auch S. 90. 152f.

25

D A , S. 190, 44.

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was im Lichte der kategorialen Apparate für wesenhaft gehalten wird, reale Objektivität bekomme. Die Mathematisierbarkeit als Prüfstein der Wissenschaftlichkeit führe dazu, daß selbst die herrschaftstragenden Begriffe des Systemdenkens — der zweiten Phase — destruiert werden: Die Wahrscheinlichkeit werde zum neuen Wesen der Dinge (wobei also der griechische Begriff der Moira (Schicksal), der ja im Verhältnis zum griechischen Mythos schon aufgeklärt war, wieder in sein Recht gesetzt wird); oder, wenn die Qualitäten nicht in die Wahrscheinlichkeiten ihres Auftretens umgerechnet werden, so werden sie durch Funktionen ausgedrückt, oder gar auf äquivalenz-funktionale Vertretbarkeit abgebildet, um es in der Sprache der modernen Systemtheorie, an die noch nicht zu denken war, auszudrücken: Sie werden als äquivalente Möglichkeiten zur Erfüllung eines funktionalen Erfordernisses betrachtet26. Da in den Konkretisationen zweckrationalen Handelns Wirklichkeit sich darstellt, und nur in diesen Konkretisationen die Wirklichkeit kategorisiert wird, gehe die Fähigkeit verloren, die funktionalen Erfordernisse ihrerseits zu problematisieren; die Sinndimension geht verloren. Dieses Argument ist wohl ebenfalls als pragmatisches zu verstehen. Es ist jedoch zu fragen, ob mit dieser Entwicklung ebenso wie in der zweiten Phase des Mythos, die Möglichkeit der Reflexion verloren ist. Dort war jeder Begriff oder Name, sowohl der der Götter als auch die Kategorie der Scholastiker, durch ihre Stellung im System definiert. Ihre Problematisierbarkeit war nur systemimmanent möglich. (Dies tangiert nicht die Einzelmomente jenes Denkens, die heute noch aktuelle Diskussionen gewinnender machen könnten). Aber handelt es sich hier in der Aufklärungsphase ebenfalls um eine verstellte Möglichkeit, wenn, wie Adorno/Horkheimer sagen, die Gewalt des Systems, auch eines sprachlichen, über die Menschen wächst in dem Maße, wie sie aus der Natur herausgeführt werden, indem der Industrialismus die Seelen versachlicht in dem Maße, wie der Animismus die Sachen beseelt habe 27 ? Oder ist dies nicht eher eine Restringierung der Wirklichkeit;? Die Differenz des Mythos der zweiten Phase zum Mythos der Aufklärung läßt sich durch eine intensionale Rekonstruktion des Konzepts der „sprachlichen Totalität", der „Herrschaft der Begriffe" zeigen: Die Verselbständigung von Begriffen qua deren Abstraktheit läßt sich pragmatisch dergestalt erklären, daß sich ihre Intensionen, als Regeln 26

27

E b d . S. 43, vgl. auch S. 15f., 31, 33, 190. Diese Passagen erscheinen geradezu als intuitive Antizipation funktionalistischer Handlungstheorien einerseits (Talcott Parsons), als auch der sich hieraus entwickelnden soziologischen Systemtheorie, die auf dem philosophischen Hintergrund der Philosophie der Institutionen Arnold Gehlens von Niklas Luhman entwickelt wurde. D A , S. 45, 33.

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möglicher Identifizierungen 28 , selbst als nicht mehr problematisierbar für die sie verwendenden Subjekte darstellen. Die Subjekte, so Adorno/Horkheimer, seien der „Arbeit am Begriff enthoben" 29 . Im alten Mythos hieße dies, daß die Reflektierbarkeit nicht vorstellbar war. Am deutlichsten sieht man dies im Prozeß der Orestie, wo die neue Meinung sich quasi ex machina durchsetzt, weil Athene das Gegenargument gegen das Matriarchat ist (da sie keine Mutter hat), und nicht etwa das Gegenargument vertritt. In dem gegenwärtigen „Mythos" als Aufklärung erscheint nun auch die Ordnung, so Adorno/Horkheimer, als nicht transzendierbar, weil der Identifizierungskanon festliegt. (Auf die Konsequenzen jener Fixierung für die Wertproblematik werde ich im dritten Teil des Vortrages eingehen). Eine solche vermeintliche Statik der Intensionen, die die Extensionen in möglichen Welten festlegen, mag an die Starrheit mythischer Orientierungssysteme erinnern. Allerdings scheint sich hier anzudeuten, was am Ende unserer Untersuchung resultieren wird: Daß man für diese Art des „Mythos" doch den Begriff der Ideologie verwenden sollte, selbst wenn einige pragmatische Implikationen parallel verlaufen. Denn „Vertretbarkeit" qua Abstraktion, d.h. also die Nichtangewiesenheit auf Identifizierungen im gerade vorliegenden Kontext, sondern in und über möglichen Kontexten, ist nicht nur „Vehikel des Fortschritts und zugleich der Regression" 30 — das mag es pragmatisch sein — sondern auch und gerade theoretische Voraussetzung von Reflexion. Dies nämlich insofern, als allererst Distanzierung erlaubt, sich beispielsweise von Distanzierungen zu distanzieren, etwa darauf hinzuweisen, daß in einem möglichen Kontext χ eine Identifikationsregel nicht mehr denjenigen Intentionen entspricht, denen sie im Kontext y nachkam. Das nivellierende Moment der Identifikationsregeln (Intensionen) ist zugleich Voraussetzung seiner Uberwindung 31 . Die Differenz zwischen dem Mythosbegriff der zweiten Phase und dem der dritten liegt also darin, daß das historische Subjekt, das „die Sachen beseelt" (Adorno) 32 , sich seiner Reflexions- und Hzndlungsmöglichkeiten begibt, daß aber Aufklärung, auf Grund derer Herrschaftsausübung möglich ist, Wirklichkeiten einschränkt. Letzteres jedoch birgt, bei aller realen Defizienz, die Möglichkeit der Reflexion, wenn auch oft nicht 28

29 30 31

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Vgl. Hubig, Dialektik, a . a . O . , Kap. 2, dort Analyse und Kritik des Entwurfs von Jaakko Hintikka „Die Intentionen der Intentionalität" (in: N. Hefte f . Philosophie 8/1975, S. 65 ff.). D A , S. 4, vgl. N D , S. 147ff. D A , S. 46. Für den Bereich der Ideologiekritik kann man dies als „Auflösung dialektischer Widersprüche" fassen, vgl. dazu Hubig, Dialektik, a . a . O . , S. 113ff. D A , S. 34.

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deren faktische Wirklichkeit. Der alte Mythos, der nicht reflektierbar war, wurde erst aus sich heraus, aus Konsistenzerwägungen der Interpreten, in Realisierung seines eigenen Universalitätsanspruches, abstrakter interpretiert und damit überwindbarer — so in der allegorischen Mythendeutung, die die Hyponoia (den Hintersinn) hinter den personalisierten Geschehen suchte, sowie der rationalistischen Mythendeutung, die den Mythos als Historia im überhöhten Gewände interpretierte33. Beide bedeuten jedoch nicht eine Reflexion über den Mythos, — eine Reflexion, deren Fehlen für die Aufklärung zwar Adorno/Horkheimer ebenfalls beklagen, jedoch nicht systematisch-theoretisch dingfest machen können, sondern — es möge nicht zynisch klingen — allenfalls praktisch. Für den Mythos der Aufklärung soll nun die Frage der Reflexions- und Handlungsfreiheit weiter verfolgt werden: Auf den Aspekt einer Determination des kreativ-synthetischen Denkens resp. einer Determination der Handlungen durch jenes aufklärerische Weltbild scheint Adorno/Horkheimers Klage zu verweisen, die Welt werde ein „gigantisches analytisches Urteil" 3 4 . Allein es ist selbst bei dem radikalsten Verfechter einer analytischen Urteilstheorie, G. W. Leibniz, die Adorno/Horkheimersche Schlußfolgerung nicht aus jener Prämisse zu gewinnen. Selbst wenn man davon ausgeht, daß in jedem wahren Urteil der Prädikatsbegriff im Subjektbegriff enthalten ist, weil jeder komplexe Begriff seine Teilbegriffe als analytische Konstituenten enthält (auch zukünftige Attribute), so führt doch jene „Futurition" der Wahrheiten nur zu einer (logischen) Festlegung des Subjektbegriffes, nicht zur Determination aller Handlungen, denn die freiwilligen Handlungen folgen der — daher nur hypothetischen — Notwendigkeit einer Einsicht in das Gute, die dann von einem Bewußtsein, das das Gute kennt, prognostizierbar sind. Erst recht taugt dieses Argument nicht als pragmatisches, denn determiniert agieren Subjekte gerade dann, wenn die Reflexion fehlt, und gelangen sie einmal zur Einsicht, daß nur bezogen auf ein System die wahren Urteile analytisch sind, so stellen sie meist die Frage nach den Konstituenten des Systems, was zu synthetischen Überlegungen führt. Die Leibniznachfolge zeigte dies35. Die zweite Argumentationsstrategie Adorno/Horkheimers versucht die Restringierung der Freiheit der Reflexion weniger von dem Theoneideal 33

35

Jene allegorische Mythendeutung, als erstes wohl von Theagenes von Rhegion vertreten, sah in der Götterschlacht beispielsweise das Widerstreben von Natursubstanzen und Eigenschaften. Neben jener apologetischen Mythosinterpretation (bei Schelling tritt die poetische und religiöse hinzu) war schon in der Antike ihre kritische Alternative in Form der rationalistischen Deutung eines Hekataios von Milet gegenwärtig, deren Prinzip bis in 3 4 D A , S. 33. die Mythoskritik der Aufklärung fortlebt. Vgl. hierzu Martin Schneider, Analysis und Synthesis hei Leibniz, Diss. Bonn 1974; zum Freiheitsbegriff: G. H. R. Parkinson, Leibniz on Human Freedom, Wiesbaden 1970.

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der Aufklärung, als von der zweckrationalen Praxis her zu beurteilen. Diese Denkfigur scheint G.W.F. Hegel verpflichtet, wenn auch dieser doch zu gegensätzlichem Resultat kommt: So begreift er zwar das „Tun als . . . reines Übersetzen aus der Form des noch nicht dargestellten in die des dargestellten Seins", in der sich das Individuum zur Wirklichkeit bringt, des Übersetzens seiner selbst aus der „Nacht der Möglichkeit" in den „Tag der Gegenwart", des „abstrakten An sich" in die „Bedeutung des wirklichen Seins". Dessen ursprüngliches Wesen, der Zweck, lernt sich erst aus dem Werk kennen, einem jeweils bestimmten Werk, das die „Negativität" als Qualität an ihm hat, und zwar deshalb, weil es durch seine Konkretion in der Wirklichkeit die Negation seiner universalen Möglichkeit ist. Für Hegel grenzt sich jedoch das Bewußtsein gegen diese Bestimmtheit seiner Konkretion seinerseits ab — er nennt das „Negativität überhaupt" — und gewinnt dadurch seine Allgemeinheit zurück — es kann nicht „der Weltgeschichte" verfallen, jedenfalls solange es — wie der Knecht — handelt, und nicht, wie der Herr, die Gegenstände unmittelbar genießt36. Distanziert sich also bei Hegel nun das Bewußtsein von der Bestimmtheit seines Werkes, so gehen Adorno/Horkheimer von der Annahme aus, wie sie auch beim frühen Marx zu finden ist: Daß der Handelnde sich positiv an dem, was er hervorbringt, identifiziert, sich „vergegenständlicht", und somit Arbeit per se in ihrem Produkt das menschliche Gattungsleben objektiviere37. Dies bedeutet, daß, wenn man dem Handelnden dieses Produkt entreißt, man ihm sein Gattungsleben entreißt, was im Kern schon beginnt, wenn das Werk nicht Zweck, sondern Mittel für einen entfernteren Zweck ist — ein Prozeß, der mit der Arbeitsteilung anhebt, und in der technokratischen Kultur seinen Gipfelpunkt erreicht hat. Wenn das Verhältnis von Mitteln zu Zwecken immer indirekter und vermittelter wird, könnte man in der Tat dem Argument zuneigen, daß die Subjekte sich nur noch an den Mitteln identifizieren. Dieser Prozeß jedoch führt zu immanenten Aporien — wir werden im zweiten Teil des Vortrags darauf eingehen — zum „realen Leiden der Geschichte", aus der die vierte Phase der Genealogie des Mythos sich entwickelt: Inwiefern es zu einer Selbsterkenntnis des Geistes als „mit sich entzweiter Natur" kommen könne, wieso erkannt werden kann, daß jeder „Versuch, den Naturzwang zu brechen, in dem Natur gebrochen wird" 38 , um so tiefer in den Naturzwang hineingeriete, wie es dazu kommen kann, 36

37

38

DA, S. 4 1 - 4 3 ; vgl. G . W . F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Kap. V. C. a. „Das geistige Tierreich und der Betrug, Ausgabe Hoffmeister, Hamburg 1952. Vgl. Karl Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte XXII, Ausg. Lieber/Furth, Bd. 1, Darmstadt 1971, S. 559ff. DA, S. 19.

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daß in „zuchtlosen" Gedanken die Natur vor sich selbst erzittert, so daß es zur Suspension der „Herrschaft der Begriffe" komme, daß die „verkannte Natur in ihr Recht gesetzt" und die Distanz als Unrecht und das Unrecht verewigend 39 erkannt wird, wie jene Metaphern lauten, ist zu klären. Soviel ist klar: Die verkannte Natur kann nicht die Wirklichkeit sein, die als solche identifiziert ist. Auf jene verweisen soll das reale Leiden der Geschichte, die Geschichte als reales Leiden. Natur in diesem Sinne, und dies rettet den Ansatz zunächst vor regressiven Interpretationen, ist Möglichkeit subjektiver Praxis. Doch was ist das Agens jener Uberwindung des Mythos, und worin findet es seine theoretische Legitimation?

2. „Der Bettler" In der Frage, welcher wissenschaftslogische Stellenwert dem „Bettler" zukomme, differieren Adorno und Horkheimer in repräsentativer Weise. Die Positionen, lassen sich in erster Annäherung folgendermaßen kennzeichnen: Mit Nietzsche — entsprechend dessen Aphorismus „Weh spricht, vergeh" — ist für Adorno in dem wissenschaftsexternen Begriff des „Schmerzes" quasi analytisch enthalten, daß dieser zu seiner Uberwindung drängt, resp. den Modus seines Auftretens als defizienten darstellen läßt. Die Position Horkheimers ist davon doppelt unterschieden. Zunächst konzediert Horkheimer: „Aber die b e u r t e i l t e Tatsächlichkeit, die zu einer vernünftigen Gesellschaft hintreibenden Tendenzen, werden nicht jenseits des Denkens durch ihm äußerliche Gewalten hervorgebracht, . . . sondern dasselbe Subjekt, . . . das die bessere Wirklichkeit durchsetzen will, stellt sie auch vor." 4 0 Die als defizient empfundene Wirklichkeit muß also als eine solche identifiziert sein; ein weiteres kommt dazu: „Das Ziel, das es [das Individuum] erreichen will, gründet zwar in der Not der Gegenwart. Mit dieser Not ist jedoch das Bild ihrer Beseitigung nicht schon gegeben." 41 Wir haben also hier ein doppeltes Legitimationserfordernis: a) auf der Ebene der Identifikation von Not als solcher, b) auf der Ebene von Postulaten zu deren Uberwindung. Auf dieses Problem werde ich im dritten Teil des Vortrags eingehen. Zunächst müssen wir uns jedoch der scheinbar plausibleren — da ohne jene expliziten Legitimationsprobleme auskommenden — These Adornos genauer zuwenden: Adornos Legitimationsprinzip liegt gleichsam hinter der Ebene subjektiver Intentionalität, als eine „Gestalt von Physischem": 39

D A , S. 4 7 .

40

Max Horkheimer, Kritische Theorie, Frankfurt/M. 1968, Bd. 1, S. 166. Ebd., S. 165.

41

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Eben jener „Schmerz". Gewonnen wird dieses Prinzip ex negativo aus einer Analyse der Intentionalität, aus der Adorno seinen Begriff von Dialektik rechtfertigt, einer „dialektischen Logik, die positivistischer als der Positivismus" sei. D a s Erkenntnis-Objekt sei als zu identifizierendes kein „positiv gegeb e n e s " : „ D a s Residuum des Objekts als das nach Anzug subjektiver Zutat erübrigende Gegebene ist ein Trug der prima philosophia . . . Was die Sache selbst heißen mag, ist nicht positiv vorhanden . . . " 4 2 Ein positives Vorhandensein nämlich wäre nur abbildend zu erfassen, was ja gerade die „subjektive Zutat" ausmacht, wenn das Subjekt in falschem Idealismus „zwischen sich, und das, was es denkt, . . . Bilder schöbe . . . " , das Prinzip des Mythos 4 3 . Adornos „positivistischeres" Programm dagegen kulminiert daher in folgender These: „ D i e materialistische Sehnsucht, die Sache zu begreifen, will das Gegenteil: N u r bilderlos wäre das volle Objekt zu denken. Der Gedanke ist kein Abbild der Sache . . . sondern geht auf die Sache selbst. Die aufklärende Intention des Gedankens, Entmythologisierung, tilgt den Bildcharakter des Bewußtseins." 4 4 Dieses „säkularisierte theologische Bilderverbot" muß also einen Realitätsbegriff haben, der nicht auf Abbildung beruht. Wie sieht eine solche Theorie aus, die keine sein will? „ D i e vermeintlichen Grundtatsachen des Bewußtseins sind ein anderes als bloß solche. . . . Aller Schmerz und alle Negativität, Motor des dialektischen Gedankens sind vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem, so wie alles Glück auf sinnliche Erfüllung abzielt und an ihr seine Erfüllung gewinnt. In den subjektiv sensuellen Daten wird jene Dimension, ihrerseits das dem Geist Widersprechende in diesem, gleichsam zu ihrem erkenntnistheoretischen Nachbild abgeschwächt, . . . In der Erkenntnis überlebt [das somatische Moment] als deren Unruhe, die sie in Bewegung bringt und in ihrem Fortgang unbesänftigt sich reproduziert; unglückliches Bewußtsein ist . . . ihm [dem Geist] inhärent, die einzige authentische Würde, die er in der Trennung vom Leib empfing. Sie erinnert ihn, negativ, an seinen leibhaftigen Aspekt; allein daß er dessen fähig ist, verleiht ihm Hoffnung . . . Das leibhaftige Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. . . . D a r u m konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis . . . " Der Schmerz drückt also nur negativ „die Differenz zwischen dem Vorrang eines Objektes als einem 42 43 44

N D , S. 186. E b d . , S. 204. E b d . , S. 203.

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kritisch herzustellenden [was ,Schmerzlosigkeit' zur Folge hätte] und seiner Fratze im Bestehenden, seiner Verzerrung durch den Warencharakter" aus 4 S . Damit rekurriert Adorno auf die Marxsche These von der Entfremdung durch die Fetischisierung des Gegenstandes, sobald dieser Ware geworden ist. Die engere Marxsche Interpretation, die diesen Prozeß nur als eine Transformation vom Gebrauchswert zum Tauschwert betrachtet, weitet Adorno aus zur Annahme, daß die Fetischisierung des Objekts ihren tieferen Grund in der Hypostasierung eines politischen Begriffs vom Objekt hat, obwohl es einen solchen im Bereich der Intentionalität nicht geben könne, da ein „positivistischeres Programm" keine Ontologien zulassen darf. Mit der Ablehnung des Begriffs vom Begriff verläßt Adorno konsequent den Bereich der Wissenschaft und läßt seine Dialektik in eine Kunsttheorie übergehen, in der der Kunstwerkbegriff zum Paradigma für die Frage nach der „Außenseite" der Dialektik, d. h. für die Frage einer ausdrucksmäßigen Objektivation der Inhalte wird. Kunst wird dabei als ein historischer Ausdrucksprozeß der „kollektiven Subjekte" begriffen, wo durch die nichtbegriffliche Fragmentarizität und die Transformationen der Schönheitsideale in der „ D y n a m i k " des künstlerischen Materials selbst dieser Zustand von Unmittelbarkeit herrsche, den die Wissenschaft niemals erreichen könne. Ein Rest von Positivität wäre also hier durch das „kollektive Subjekt der Kunst" garantiert — womit der Bereich der Wissenschaftstheorie verlassen wird 4 6 . Allein, man könnte der fast schon zynischen Meinung sein, daß hier der Priesterbetrug umgekehrt wird. Kunst als Seismograph des gesellschaftlichen Schmerzes, als letzte Bastion wahrer Aufklärung, ist als theoretischer Ausgangspunkt eines Feldzuges gegen die allgemeine Herrschaft zweckrationaler Vernunft wenig geeignet. Denn Dezisionismus — das Argument, mit dem die geschichtsphilosophische Irrelevanz pluralistischer Perspektiven der verblendeten Massen kritisiert wird — kann nicht dadurch überwunden werden, daß man ihn in die Hände weniger legt. Das „reale Leiden", aus dem die „reale Geschichte" gewoben sei, kann doch nur dadurch zum Gegenpol gegen den neuen Mythos der instru45 46

E b d . , S. 201. Vgl. hierzu die kontroverse Position von Jürgen Habermas: „Schließlich verlieren die dominierenden Bestandteile der kulturellen Uberlieferung immer mehr den Charakter von Weltbildern, also von Interpretationen der Welt, der Natur und der Geschichte im Ganzen. Die bürgerlichen Ideologien sind bereits Weltbildresiduen . . . Der Fluchtpunkt dieser Erosion der Uberlieferung ist inzwischen deutlich geworden: der kognitive Anspruch, eine Totalität wiederzugeben, wird zugunsten wechselnder Popularsynthesen einerseits, und zugunsten einer Kunst, die entsublimiert ins Leben übertritt andererseits, preisgegeben". (Uber das Subjekt in der Geschichte, in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 391). Interessant ist die Umwertung der Adornoschen Werte, oder zumindest der Werte seiner Anhänger.

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mentellen Vernunft werden, daß es universal ist. Die Volte, die Adorno schlägt, scheint darin zu bestehen, daß er auf der einen Seite die Verblendung mit den Universalisierungstendenzen (bei denen der Blick auf das Einzelne, historisch Spezifische verlorengehe) in Zusammenhang bringt, und deshalb auf der anderen Seite nur partikulären Äußerungen der Kunst, die sich diesem Betrieb widersetzten, die Anwaltrechte für das, was wirklich universell sei, nämlich das Leid, zuspricht. Die unausgesprochene Prämisse hierbei ist, daß jener Gegensatz zwischen dem neuen Mythos und der künstlerischen Artikulation von Leid ein kontradiktorischer sei; es scheint hierbei von vornherein der Weg verstellt, durch eine Suche nach immanenten Entwicklungstendenzen moderner Mythen jene gegenüberstehende Instanz „Kunst" von ihrer alleinigen Kritikfunktion zu entlasten, (und somit nicht einfach die Uberwindbarkeit von Mythen zu hypostasieren), und trotzdem die Sinnfälligkeit und soziale Notwendigkeit von Mythen überhaupt nicht aufgeben zu müssen, ohne gleich zur Reaktion gerechnet zu werden. Dies würde jedoch bedingen, das Substrat von Mythos gegenüber der „Ideologie", der Verabsolutierung des Instrumentellen, abzugrenzen: Die Verfechter einer spezifischen Funktion des Mythos 47 , der komplementär zum aufgeklärten Bewußtsein (dem instrumenteilen Bewußtsein) als gleichwohl sinnbewahrende Instanz behauptet wird, sind trotz verschiedenen Begriffsgebrauchs von Adornos Motiven nicht so weit entfernt, wie es auf den ersten Blick scheint. Allerdings ist hier eine Differenzierung angebracht, die mittels der Begriffe Tradition und Dogmatik als Prüfsteinen operieren kann. Die Funktion des Mythos als sinngebender Instanz, die weniger was konkrete Inhalte (Bildungswissen), als was orientierende Hilfen (Orientierungswissen) betrifft, das Bewußtsein von Mensch und Welt prägt, wird einerseits als verlorene Einheit begriffen, andererseits als unterschwellig weiterwirkendes System, das wegen seiner Ersatzlosigkeit sich nicht verdrängen läßt. Es ist sozusagen der echte Mythos im Gegensatz zur Mythisierung der instrumentellen Vernunft. Das Bedürfnis danach, anthropologisierend als Korrelat des Instinktverlustes interpretiert 48 , schlägt sich nieder in dem Angewiesensein der Menschen auf dogmatische Denkformen, die als Identifikations- und Wertungshilfen notwendig sind 49 . Geblieben ist jedoch vom alten Mythos nur das formale Prinzip, und auch nur dessen resultativer Aspekt: Die dogmatischen Denkformen bilden sich heraus im Zuge der Traditionen, 47 48

49

Die Pro-Argumente sind zusammengestellt bei Pannenberg, a. a. O . Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch, Berlin 1944, Urmensch und Spätkultur, Frankfurt/M. 1964, Anthropologische Forschung, Reinbeck 1961 bes. S. 69ff. Vgl. Erich Rothacker, Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus, Wiesbaden 1954.

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die etwa in der Festlegung des „Klassischen", Vorbildhaften ihre Wirkung zeitigen 50 . Dieses Ideal läßt sich jedoch nicht ohne Schwierigkeiten als Modell aufrechterhalten: Regelmäßig wiederkehrende Krisen des Geschichtsbewußtseins führen (als Schutzmaßnahme vor handlungslähmenden Erinnerungen an jüngst Vergangenes) zum Geschichtsverlust. Die Folge besteht in einer Umkehrung des Verhältnisses von Tradition und dogmatischer Denkform: Die dogmatischen Denkformen stehen nun vor (und zum Zwecke) der Begründung neuer Traditionen. Solcherlei Traditionswahl ist dezisionistisch: Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ist hierfür exemplarisch. Der Konflikt besteht dann nicht mehr primär zwischen mythisierter instrumenteller Vernunft und Geschichte, auch nicht mehr zwischen jener und partikulärem Leid, sondern zwischen eben jenem Instrumentalismus und den künstlichen Traditionen, die wegen ihrer „Beliebigkeit" natürlich unterliegen müssen, wenn es um die Begründung ihrer „Rationalität" geht. (Hilflose Rückgriffe auf eine gewesene „Natur" als Abstützungsmaßnahmen bestätigen diese Schwierigkeit.) Im Blick auf jenen zeitgeschichtlichen Konflikt, dessen Kandidaten — Instrumentalismus vs (dezisionistische) Tradition — gleichermaßen nur einen Verlust artikulieren, und von ihrer Struktur her identisch sind, könnte dann der eigentliche Verlust ins Gesichtsfeld rücken, der früher von den Mythen und ihren Nachfolgern, den universalistischen Systemen abgedeckt war, der der Wertrationalität. In seinem Aufsatz „Fortschritt" 5 1 sieht sich Adorno dementsprechend genötigt, die ursprüngliche Position zu modifizieren: War dort der traditionelle Fortschritt gleichgesetzt mit der Expansion der instrumentellen Vernunft, und mußte das kritische Bewußtsein sich aus diesem Zusammenhang herausstellen um ihn kritisch zu reflektieren, um einen wahren Fortschritt gegenüber dem Zwangsmechanismus der Geschichte zu erzielen, so scheint nun ein subtilerer Umgang mit dem Geschichtsbegriff jene Kritik am Fortschritt zu leiten: Die Distanzierung, sei sie nun ein positiver (ideologischer) Retour a la nature, oder ein negativer (kritischer) Appell an das was verloren ging, ist nicht so einfach möglich. In der Feststellung, daß die „scheinbare Kontinuität sogenannter geistiger Entwicklungen häufig abreißt" 5 2 , entweder unter der Parole einer Rückkehr zur Natur, oder, indem bestimmte Vorstellungen dogmatisch kanonisiert 50

51 52

Vgl. Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, bes. S. 269ff.; P. R. Hoffstädter, Sozialpsychologie, Berlin 1965, S. 144; M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, München 1974, S. 106; L. Kolakowski, Der Anspruch auf die selbstverschuldete Unmündigkeit, in: L. Reinisch (Hrsg.), Vom Sinn der Tradition, München 1970, S. 1. Adorno, Fortschritt, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/M. 1969, S. 29ff. Ebd. S. 46.

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werden, läßt sich eine gewisse Innovationsfähigkeit von Orientierungssystemen erkennen: „Schuld hat, neben anderen, zumal sozialen Momenten, daß den Geist der Widerspruch in seiner eigenen Entwicklung schreckt, und daß er ihn, vergebens freilich, zu berichtigen sucht durch Rückgriff auf das, dem er sich entfremdet hat und das er darum als invariant verkennt." 5 3 U n d : „ A la longue dürfte im Nachleben geistiger Gebilde ihre Qualität, schließlich ihr Wahrheitsgehalt über ihre jeweilige Avanciertheit hinaus sich durchsetzen, aber selber nur vermöge eines Prozesses von fortschreitendem Bewußtsein." 5 4 Es scheint also eher sinnvoll, jene immanenten Widersprüche, wie sie oben beschrieben wurden, die im Gang des traditionellen Fortschrittes selbst liegen, zu dessen Kritik auszunützen, als aus der Sicht dezisionierter Tradition (Epochalisierung der Geschichte, Perspektivenwahl etc.) bestimmte Elemente dieser Geschichte als mythisch zu klassifizieren. Es scheint erkannt zu sein, daß Kritik einer Basis, einer Instanz bedarf (wie sie Horkheimer fordert), und es scheint, als solle einer dezisionistischen Wahl dieser Basis dadurch entgangen werden, daß sie nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb der Geschichte aufgesucht wird. Ein solches Immanenzprinzip muß jedoch seinen Absolutheitsanspruch aufgeben: Denn das „fortschreitende Bewußtsein", von dem aus ein ideologisierter Fortschritt verabsolutierter instrumenteller Vernunft analysiert und kritisiert werden soll, ist selbst ein Moment der Geschichte. Lediglich ein formales Kriterium ist anzugeben: Das Fortschreiten selbst, insbesondere, was sein Implikat, nämlich perspektivisches Denken über mögliche Kontexte hinweg betrifft. Dieses Denken, ein Zugriff, der konträr ist zu der von Herbert Marcuse an der Industriegesellschaft kritisierten Eindimensionalität, umschließt im normativen Bereich eine Struktur, die weiter reichen muß als die der bloßen Zuordnung von Mitteln zu gegebenen Zwecken. Es wäre verfehlt, mit Adorno von einer zu fordernden Alternative zu jener Zweckrationalität auszugehen; sinnvoll ist, aufgrund einer immanenten Analyse der Aporien einer Verabsolutierung von Zweckrationalität, insbesondere den Aporien des Zweckbegriffes selbst, die Frage nach Orientierungssystemen, und damit nach Wertrationalität selbst, komplementär zur Ideologiekritik, neu zu formulieren. Dies soll im abschließenden dritten Teil geschehen. 3. Zweck und Wert Die Alternative, die die kulturphilosophischen Diskussionen zum Thema beherrscht, nämlich diejenige zwischen zweck- und wertrationalem Handeln, hat eine differenzierte Begriffsgeschichte, auf die in diesem Zusam«

Ebd.

54

Ebd.

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menhang nicht eingegangen werden kann. Ihre eigentümliche Prägung erhielt sie jedoch von Max Weber, von dem ein paradigmatisches Zitat diejenige Problemsituation beschreibt, der sich Kritische Theorie gegenüberfand: „Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus ist Wertrationalität immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja um so weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert, je unbedingter allein dessen E i g e n w e r t . . . für sie in Betracht kommt." 55 Diese Dichotomie, die in dem „je mehr, um so weniger" zum Ausdruck kommt, hat denselben Status wie die umgekehrte Konstatierung Adorno/Horkheimers: Sie ist als pragmatisches Argument plausibel, wissenschaftstheoretisch jedoch nicht einleuchtend. Denn sie steht und fällt mit einer Unabhängigkeitserklärung der Zwecke von den Werten. Auf die Folgen des Handelns abzusehen heißt doch, auf die gewünschten Folgen resp. die zu verhindernden Folgen abzusehen, und es mag zutreffend sein, daß vielen historisch kontingenten Subjekten, wenn sie auf die Werte blicken, der Sinn für die Folgen verloren geht, (etwa in der Radikalisierung der Gesinnungsethik) oder umgekehrt, die Verantwortungsethik zum irrationalen Pragmatismus entartet, wenn von ihrem Standpunkt aus, wie Max Weber ja auch selbst anführt, Wertrationalität als irrational erscheint. Wird jenes pragmatische Argument jedoch zum wissenschaftstheoretischen umgedeutet, also die oft anzutreffende empirische NichtVereinbarkeit beider Arten rationalen Handelns in eine logische NichtVereinbarkeit umgedeutet, so entsteht auf der faktischen Ebene das, was Adorno/Horkheimer den Umschlag von Aufklärung in Mythologie nannten. Außerdem entsteht auf der theoretischen Ebene ein Legitimationsdefizit für die Zwecke, deren Findung nur im Rahmen einer deduktiven Abhängigkeit von Oberzwecken noch rational zu führen ist, und deren Letztbegründung schon als irrational betrachtet wird. Jedoch erweist sich schon im Bereich zweckrationalen Handelns der Glaube an eine deduktive Begründbarkeit von Zwecken — das technokratische Ideal instrumenteller Vernunft — als trügerisch: Er basiert auf der allgemeinen These, daß Zwecke Mittel für übergeordnete Zwecke darstellen können. Doch selbst diese Minimalforderung zu einer relativistischen Zweckbegründung geht fehl, denn sie unterliegt einem Kategorienfehler: Zwecke sind (gewünschte), nicht bestehende Sachverhalte, Mittel sind hingegen Ereignisse (Dinge, Handlungen oder Handlungsschemata). Mit dem Erreichtsein verschwinden die Zwecke, denn die Sachverhalte bestehen — Sätze über den Handelnden, die ihm immer noch den 55

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, größen menschlichen Handelns), S. 13.

Tübingen 5 1976, Kap. 1, § 2 (Bestimmungs-

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Zweck unterstellen, werden falsch. Die Annahme von Mittel - Zweck Reihen, eine Grundannahme des technokratischen Entscheidungsideals, ist also ideologisch, weil extensionaler und intensionaler Kontext verwechselt werden, der Mittelbegriff gehört in den extensionalen, der Zweckbegriff in den intensionalen Kontext. Diese immanente Kritik macht um so stärker auf die Notwendigkeit einer Wertdiskussion zur Legitimation von Zwecken aufmerksam56. Andererseits ist die Skepsis der Zweckrationalisten gegenüber einem Wertbegriff, der unter Werten reale, wenn auch abstrakte Entitäten sieht, zu verstehen. Paradigmatischer Gegenstand der Kritik ist Schelers Ethik, nach der „die Gesinnung . . . eine vom Erfolge unabhängige Wertmaterie in sich [einschließt]" 57 . Schelers Ethik (und zahlreiche verwandte) bestehen jedoch aus gegenständlichen Aussagen über Werte; sie sind ungeeignet, Ableitungen zu liefern, in denen Zwecke als wünschenswert und als erstrebenswert erwiesen werden. (Naturalistischer Fehlschluß). Wenn man demgegenüber argumentiert, daß Werte sich ja in Zwecken konkretisieren, und somit mittelbar über Zwecke entschieden werden könne, ist dem die oben erwähnte Hegeische Denkfigur entgegenzuhalten, daß die Konkretisationen noch nichts über das An sich als reale Möglichkeit aussagen, d. h. daß hier empirische Konkretisationen allenfalls über Schwierigkeit oder Leichtigkeit, sie selbst durchzuführen, Rückschlüsse erlauben, nicht jedoch über das wie auch immer geartete Wesen der Werte. Weimarer Zustände widerlegen genausowenig Demokratie wie der Stalinismus sozialistische Staatssysteme. Dieses Problem stellt sich jedoch nur, wenn man unter Zwecken jene idealen Größen annimmt, Größen, die es erlauben, sie einerseits der zweckrationalen Diskussion zu entziehen, und andererseits ihnen jene unbestimmte Rechtfertigung (im Sinne „negativer Utopien") zurechtzulegen, aufgrund derer Defizienz als Medium zu interpretieren ist, das per se über sich hinausweist. An dieser Stelle sollte man Adorno genauso wie die Pragmatisten verlassen, und nur noch ihrem Postulat folgen: Wie kann verhindert werden, daß durch die Abhängigkeit der Wertdiskussion von der Wirklichkeit positiv oder negativ die Handlungs- und Reflexionsmöglichkeit verstellt werden kann — im theoretischen Sinne wie im pragmatischen Sinne? Eine vorsichtige Alternative in der Fassung des Wertbegriffs könnte dem begegnen, eine Fassung, die dann auch der scheinbar mythologischen Hypostasierung des Zweckrationalen entgehen kann: Wenn Werte als 56

57

Vgl. hierzu zuletzt: T h e o d o r Ebert, Zweck und Mittel. Zur Klärung griffe der Handlungstheorie, i n : Allg. Zs.f. Phil. 2 / 1 9 7 7 , S. 21 ff. M a x Scheler, Der Formalismus 2 , Bern 1954, S. 135.

in der Ethik und die materiale

Wertethik,

einiger

Grundbe-

Ges. Werke B d .

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Funktionen über mögliche Welten aufgefaßt werden, die diesen jeweils Mengen gewünschter Sachverhalte (= Zwecke) zuordnen, so ist zunächst dem Vorwurf der Eindimensionalität, der gegen die Verabsolutierung von Zweckrationalität gerichtet wird, zuvorgekommen, der Eindimensionalität einer zu kritisierenden Zweckrationalität, die über einem einzigen Kontext verabsolutiert wird. Werte sind dann „Spielraum für die Bildung möglicher Absichten" (Scheler). Auch wird durch die daraus resultierende Fassung des Zweckbegriffs nicht Wirklichkeit im Sinne des alten Mythos zur Verstellung der Möglichkeit. Vielmehr wird die Reflexion über Möglichkeiten zum beherrschenden Thema der Wertdiskussion, einer Diskussion, die mit flexiblen, offenen Zweckbegriffen zu operieren hätte. Ist bei Adorno jene Offenheit rein negativ bestimmt — als wisse man nur intuitiv, wie es nicht sein soll — so lassen sich unter Anwendung jenes Wertbegriffs differenziertere Kriterien angeben. Jene funktionale Fassung des Wertbegriffs bedeutet: Ein solcher muß qua Begriff erlauben können, auf mögliche Kontexte aktualisierbar zu sein (sonst ersetzt man ihn durch den Zweckbegriff). In ihm liegt also ein Universalisierbarkeitskriterium, das zumindest negativ die Fixierung auf das Bestehende verhindert. Es liegt sozusagen in der Natur menschlicher Intentionalität, daß sie sich auf denkbare mögliche Zustände richtet. Durch eine solche (negativistische) Fassung eines formalen Naturrechts wird verhindert, daß eine wertrationale Rechtfertigung für Handlungen, die ihren Sinn nur in einem Kontext haben, wie „Versprechen nicht einlösen", „Lügen" etc. gegeben werden kann, weil dies die Kompetenz der Subjekte, Handlungen überhaupt, Wertvorstellungen in weiteren möglichen Kontexten, zu aktualisieren, nicht mehr zulassen würde. Andererseits können mit diesen negativen Abgrenzungskriterien keine positiven Ziele gerechtfertigt werden. Für diese ist ein anderes Verfahren als die wenn auch unzulängliche Operationalisierung der Entscheidungsfindung im demokratischen Prozeß nicht in Sicht 58 . Aber auch für die positive Zielfindung läßt sich ein „zweckrationaler Mythos" resp. ein „kritischer Mythos" über ihn vermeiden. Die Verabsolutierung der Zweckrationalität, was Adorno als Mythos bezeichnet, äußert sich in zwei Entscheidungsmodellen a) dem dezisionistischen, in 58

Der Vermutung, daß jener Argumentation eine petitio principii zugrundeliege, dergestalt, daß in der Definition des Wertbegriffes sein normatives Implikat schon enthalten sei, kann mit dem Hinweis begegnet werden, daß nicht eine „Deduktion" jener Verallgemeinerungsnorm intendiert ist, sondern daß sie quasi als „Faktum der praktischen Vernunft", als naturrechtliche Prämisse angenommen wird, mit dem Unterschied, daß sie entsprechend der Instinktfunktion bei den Tieren formal gefaßt ist; sie hat denselben logischen Status wie die Gehlensche These vom Mensch als „Mängelwesen" (s.o.); was dort Institutionen an Begründung erbringen sollen, wird hier dem Wertbegriff selbst abgefordert.

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dem das zweckrationale Entscheidungspotential in den Dienst nicht weiter rational legitimierbarer Wertentscheidungen gestellt wird, oder b) im technokratischen, wo die Wertentscheidungen nur „fiktiv" sind, da die Sachzwänge eine Eigendynamik entwickelt haben. Die Alternative, einem Habermasschen Hinweis folgend 59 , liegt darin, daß im pragmatischen Entscheidungsmodell a) der Möglichkeitsspielraum realistischer Wertentscheidungen durch zweckrationale Kompetenz ermittelt wird, und b) die wertrationalen Entscheidungen daraufhin abzielen, in welche Richtung jene Kompetenz ihre Bemühungen konkretisieren soll. Allerdings ist hierdurch die wertrationale Entscheidungskompetenz ihres Legitimationsdefizites keineswegs entkleidet, kann also nur operationalisiert werden durch den demokratischen Prozeß. Denn eine negative Utopie im Sinne Adornos müßte sich trotz pragmatischer Plausibilität immer die Frage stellen lasen: Utopie wessen — eines korrumpierten Proletariats, einer korrumpierten Liberalität, oder eines, der diese Korrumption, oder das Mythische-Eindimensionale, als durchschaut zu haben angibt, eines neuen Priesters?

Zusammenfassung — der „neue Mythos" der Zweckrationalität, der die Möglichkeit der Reflexion nicht einschränkt, sondern die Wirklichkeit des Handlungsspielraums von Subjekten, ist kein Mythos, sondern Ideologie. Ihn als Mythos zu bezeichnen, kann jedoch dazu führen, daß er im antiken Sinne einer wird. — Distanzierung und Stellvertretung bergen zwar pragmatisch die Möglichkeit von Regression (d. h. Abhängigwerden von Sachzwängen), jedoch gleichzeitig theoretisch die Möglichkeit von Reflexion. — Durch die „Suspension" des Symbolgebrauchs und der Begriffe gelangt man nicht zu einem bilderlosen Zugang zur verkannten Natur, sondern zu einer echten Regression in den Zustand unmündig-bilderlosen Denkens. — Mythos ist also weder ein unvollständiges oder irrationales Erklärungsmodell, noch einzig als Orientierungssystem ausreichend gekennzeichnet 60 , sondern ein solches, das die Implikation seiner Nichtreflektierbarkeit durch dogmatische Erklärungen gewinnt. Mythos ist insofern nicht Instinktersatz. 59

60

Jürgen Habermas, Verwissenschaftliche Politik und öffentliche Meinung, und Wissenschaft als „Ideologie", Frankfurt/M. 1968. Vgl. den Beitrag von Odo Marquard in diesem Band.

in: ders., Technik

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Christoph Hubig

— Ein Korrelat zum Instinktersatz kann man in einem negativen, Kritik und Abgrenzung begründenden, Naturrecht gewinnen, das zur Voraussetzung eine Reflexion hat, die die ursprünglichen Funktionen des Instinktes auf die möglichen Kontexte menschlicher Entscheidung bezieht, sowie auf die Möglichkeit der Entscheidung in verschiedenen Kontexten überhaupt; dies ist ein Wertbegriff, mittels dessen ideologische Zwecksetzungen kritisierbar sind. — Als Chiffre für einen übersubjektiven Verstrickungszusammenhang möge anstelle der Götter des Mythos oder anstelle der Fetische der Ideologie jene Moira der Griechen treten, jenes Resultat kollektiver Interaktion, das nur durch eine solche61, und nicht durch eine Einzelhandlung beeinflußt werden kann, und dessen Nichtberücksichtigung schlechter „Zufall" oder das „Schicksal" genannt wird: „Weh! Wie beschuldigen doch die Sterblichen immer uns Götter! Von uns komme das Übel, so sagen sie, während sie selber Leiden sich schaffen durch eigene Freveltat wider das Schicksal!" 62

61

62

Vgl. Jean Paul Sartre, Kritik der dialektischen Serie zur Gruppe), sowie Buch 2. Ilias, 19. Gesang, Vers. 86ff.

Vernunft, Reinbeck 1967, S. 67ff. (Von der

Namensregister Aufgenommen sind alle im Text oder in den Anmerkungen (Zahlen in Klammern) ausdrücklich erwähnte Autoren.

Aarne, A. (26) Adorno, Th. W . 41, 59, 150, 151, 169, 172, 2 1 4 - 2 1 6 , 2 1 8 - 2 2 3 , (224), 2 2 6 - 2 3 9 Aischylos (20), 81, 184, (223) Albert, H . (130), 218 d'Alembert, J . (132) Alföldi, A . (30) Anaxagoras 36 Anaximander 2, 36, 37 Andersen, H. C h r . 44 Apollodor 17, 18 Arendt, H. 212 Aristoteles 9, 11, 22, 37, 54, 62, 132, 134, 138 Baaren, Th. P. van (17) Bachofen, J . J . 51 Bacon, F. 114, 123, 221, (222), 225 Baeumler, A. (51), 55 Banier, A. 133 Barthes, R. (16), (43), 55, 59, (66), 124 Bartsch, H . W . (21) Bascom, W . R. (29) Baumann, H. (29), (34) Baumgarten, A. G. 142 Behler, E. (177) Benjamin, W . 219 Benn, G. 44 Bense, M. 112 Benz, E. 2 Berger, P. (69) Bernhard v. Clairvaux 10 Bertram, E. 175 Bloch, E. 154, 156 Blumenberg, H. 41, 42, 44, (56), (60), (70), 152, (221) Boas, F. 16, (29), (34) Bodmer, J . J . 141, 142 Bollack, J . (151) Bonaventura 10

Bourdieu, P. (64) Boyancé, P. (20), (37) Breitinger, J . J . 141 Brockes, Β. Η. 149 Brosses, Ch. de 136 Budde, J . F. 132 Bultmann, R. 1, 41, 72, 115, (130) Bunge, M. (26) Burkert, W . (33), (35), (37), (38) Burridge, O. L. (63) Burscher, J . Fr. 136 Carnap, R. 2, 203 Casalis, M. (25) Cassirer, E. 1, (16), (32), 60, 63, 73, 75, 80, 82, 1 9 9 - 2 0 8 , 2 1 0 - 2 1 7 Closs, A. (34) Comes, Ν. (132) Comte, A. 1, 41, 60, 144 Condorcet, A. 225 Cornford, Fr. M . 36, (77), 84, (85), (86), (91) Creuzer, F. 21, 51, 52 Dancier, M. (141) Dante 9 Danto, A. C . (177) DelNegro, W . 193 Demokrit 140 Descartes, R. 118, 1 4 8 - 1 5 0 Detienne, M. (24) Diderot, D. 132 Diels, H. (36) Dilthey, W . 200, (201) Diodor (34) Diogenes Laertius (36) Dörrie, H. (145) Ducrot, O . (21), (22) Dülmen, R. v. 145, 147 Dundes, A . 22, 23, (29)

242

Namensregister

Durand, G. (62), (63) Durkheim, E. 206 Ebeling, G. (72) Ebert, Th. (237) Eliade, M. 29, 59, (64), (65), 75, 81, 83, 107, (114), (119), 130, (131), (204), 215 Empedokles 9, 134 Epikur 36 Eschenbach, A. Chr. 135 Etzler, J. Α. (123) Euhemeres 134 Euripides 19, 78, 185 Evans-Pitchard, E. E. (37) Faivre, Α. 145 Fehling, D. (17) Festinger, L. (13) Feuerbach, L. 189 Feyerabend, P. 208, 210 Fontenelle, Β. de 136, 137 Fontenrose, J. (29), (30), (34) Foucault, M. (62), (64), (234) Frege, G . 18 Fréret, Ν . 135 Freud, S. 177 Frisch, M. 44 Frutiger, P. (38) Funke, M. 178, 193-195 Gadamer, H . G. (234) Galinsky, G. K. (30) Gehlen, A. 42, (116), (226), (233), (238) Geiger, M. (145), 147 Gelanopulos, A. G. (20) George, S. 174, 175 Gigon, O . (36) Glaser, W. R. (127) Görres, J. v. 51 Goethe, J. W. v. (51), 146, 148, 186, (224) Goldbeck, G. 124 Gottl-Ottlilienfeld, F. v. (110) Gottsched, J. Chr. (132), 141, 149 Gottsched, L. Α. V. 132 Graeser, A. (18) Grand, G. 99 Greimas, A. J. 23, (25), (64) GrOnbech, V. 75, 81, (82), 83 Gründer, Κ. (51) Giittgemanns, E. (22) Gusdorf, G. (61) Guthke, Κ. S. (149)

Habermas, J. 177, (232), 239 Haller, A. v. 149 Hamann, J. G. 149 Harrison, J. E. (29) Hazard, P. 131, (138), 139 Hegel, G. W. F. 4, 52, (63), 155-158, 168, 177, 188, 213, 229, 237 Heidegger, M. 41, 94, 100, 200 Heiler, F. (33) Heine, H . 157 Hekataios (228) Helmont, M. van 145 Henrich, D. (220) Heraklit (37) Herder, J. G. (116), (143), 146 Heringer, A. J. (26) Herodot (30), 134 Hesiod, 17, 29, 35, 36, 77, 81 Heyne, Chr. G. 51, 143 Hildebrandt, Κ. 175 Hintikka, J. (227) Hippon 37 Hirsch, W. (38) Hobbes, Th. 215 Höfler, O . (20) Hölderlin, Fr. 158, 159 Hölscher, U. (36) Hoffmann, Ε. T. A. 168 Hofmannsthal, H. v. 16 Hoffstädter, P. R. (234) d'Holbach, T. 139, 149 Homer 17, 18, (60), 7 6 - 8 0 , 84, 131, 135, 140-142, (143), 148 d ' H o n d t , J. 4 Hooke, S. H. (29) Horkheimer, M. 41, 59, 177, (192), 214-216, 218-223, 226-230, 235, 236 Horton, R. 2 0 8 - 2 1 0 Howald, E. (51) Hubig, Chr. 179, (222), (224), (227) Hübner, K. (85), (118), (121) Huet, P. D. 136, 138 Hume, D. 138 Husserl, E. 10, 9 3 - 1 0 1 , 103, 104, 200 Illich, I. 125f. Jacobi, Fr. H. 141 Jacobi, J. (20) Jähnig, D. (181) Jankuhn, H . (34) Jaspers, K. (115), 177

243

Namensregister

J a u c o u r t , de (132), 133 Jensen, Α. E. 151 Jesi, F. (60) Johannes Scotus Eriugena 10, (224) Jonas, Η . (72) J u n g , C . G . 20, (64), 130, 150, (204), 215 Kaempfert, M. (179) Kahn, C h . H . (36) Kamiah, W . (70) Kant, I. 10, 89, 130, 148, 157, 215 Kantzenbach, Fr. W . 139 Kapsomenos, S. G . (37) K a u f m a n n , F. (200) K a u f m a n n , W . 177, 178, (197) Keller, G . 44 Kempers, A. J. B. (10) Kepler, J. 207 Kerényí, Κ. (20), (51), 59, (67), (115), 130, (132), 215 Kircher, Α. 133, 145 Kirk, G . S. (16), 17, (24), (29), (34), (35), (131) Kitias 136, 139 Knigge, A. Frh. v. 146 Köngas, Ε. Κ. 25 Kolakowski, L. 41, 120, 130, (131), (234) Konfuzius 2 Koselleck, R. 47, 51, (113), 145 Krämer, H . J. (2) Kranz, W . (36) Krois, J . M. (217) Ktesias (20) K u h n , T h . S. (64) La Fontaine, S. L. (27) La Mettrie, J. O . de 139 L a n d m a n n , M. 40, 41, (54) Lange, F. A. 186, 193 Langer, S. (17) Lask, E. 44 Leach, E. R. (24) Leeuw, G . v. d. 59 Leibniz, G . W . 138, 148, 149, 228 Lemberg, E. ( I l l ) Lenglet de Fresnoy, A b b é 145 Lenk, H . (127) Lesky, A. (35) Lévi-Strauss, C . 16, 2 2 - 2 5 , 29, 41, 47, 52, (56), 62, (63), 67, (69), 74, 75, 83, 130, 150, (204) Lévy-Bruhl, L. 60, 61

Lewis, D . (30) Locke, J. 54, 138 Lorenzen, P. (70) L u c k m a n n , T h . (69) Lübbe, H . (56) L u h m a n n , N . (65), (69), 70, (71), (73), 74, (226) Lukacs, G . (56) Madsen, P. (22), 23 Malinowski, B. 16, 29, (34), 207, (220) M a n n , T h . 154 M a n n h a r d t , W . (17), (34) Maranda, P. 25 Marcuse, H . 126, (127), 235 M a r q u a r d , O . (153), (239) Marx, K. 229, 232 Mates, B. (18) Maurer, R. 193, 195 Meiggs, R. (30) Meister Eckhart 10 Mensching, G . (33) Merkelbach, R. (37) M e r l e a u - P o n t y , M. 200 Metzger, A . 99 Meuli, K. (33) Milton, J. 133, 141 Montesquieu, C h . de 54 Montinari, M. 176 Müller, C . O . 51 Müller, M. (32) Müller-Lauter, W . (192), (196) M u m f o r d , L. (111) N a u c k , A. (19) N a u m a n n , H . (22) Nestle, W . 41 Neusüss, A. (66) N e w t o n , I. 89 Nicolai, Fr. 146 Nietzsche, Fr. 38, 60, (67), (116), 170, 171, 1 7 4 - 1 9 8 , 230 Novalis 157, 158, 161, 1 6 4 - 1 6 6 , 171 Oetinger, Ortega y O t t o , R. Otto, W. O v i d 17

Fr. C h r . 4, 149 Gasset, J. (113) (33) F. 130, (204)

Palmer, F. R. (26) Pannenberg, W . 220, (233)

244

Namensregister

Pannwitz, R . 175 Paracelsus 145 Parkinson, G . H . R . (228) Parmenides 37, 38 Parsons, T . (226) Paulus 188 Peirce, C h . S. 201 Pernety, A . J . 134 Pestalozzi, J . Η . 156 Peuckert, W . E . 3 Piaget, J . (21), 32 Pieper, J . 119 Pindar 18 Platon 9, 2 1 , 38, 140, 175, 188 Plotin (38) Plumpe, G . (61), (74) Plutarch 31 P o m e y , F . (132) Pope, Α . 132, (141) Popper, Κ . R . 2, (66), 212 Poser, H . (127) Pritchard, J . B . (35) Proklos (38) Propp, V . 2 2 , 2 3 , 26, 2 7 , 29, 38 Puder, M . (11) Pütz, P. (177) Rapp, F . (177), (122) Ratzinger, J . (68) Ribeiro, D . (116) Richter, S. 145, 147, 148 Ricoeur, P. (32) Ritter, H . 52 Ritter, J . (48), (56) R o b e r t , C . (20) R o b i n s o n , R . (38) R o n g e s , H . (177) Rosenzweig, F. 49 Rothacker, E . (233) Rousseau, J . J . 52, 186 Russell, Β . 2 Sachsse, H . (125), (127) Safonan, M . (21) Salaquarda, J . (178), (182), (186), (190) Salzmann, C h . G . 146

Schelsky, H . (46), (54) Schiller, F. 18, 158 Schiwy, G . (22) Schlechta, K . 175, 196 Schlegel, F . 159, 1 6 1 - 1 6 3 , (164), 166, 170, 172 Schleiermacher, F. D . E . 166, 188 Schmidt, A . 176 Schmidt, J . L . 138 Schneider, M . (228) Schniewind, J . 21 Schopenhauer, A . 2 f „ 175, 177, 178, 180, 186, 188, 193, 196 Schulz, W . (11), (51) Schumann, F. K . (114), (120) Schupp, F. (121), (138), (179) Shaftesbury, A. A . - C . Earl of 149 Smith, W . R . (29) Sokrates 38, 175, 185, 186 Solger, K . F. 164 Sophokles 18, 185 Sorel, G . (50) Sperber, D . (21) Spinoza, B . 10, 138 Steiner, G . (35) Stöcklein, A . (114) Stöcklein, P. (38) Strabo 135 Strauß, D . Fr. 59 Swedenborg, E . v. 4 Szondi, P. 50 Taubes, J . (138), (222) T e n b r u c k , F. 152 Theagenes 134, (228) Thomasius, J a k . 133, 134, 145 Thomasius, J o h . 135 T i e c k , L . 168 Tillich, P. 71 T o d o r o v , T . (18), (21) T o l a n d , J . 138 T o p i t s c h , E . (3), (5), (10), 41, 45, (119), (220) T o u r n e m i n e , R . - J . de 133, 136, 137 Trautmann, W . (123) Troeltsch, E . (224)

Sartre, J . P. 190, 2 4 0 Saussure, F . de 18

U l m e r , C . (197)

Schapp, W . 42 Scheler, M . (120), (190), 2 3 7 , 2 3 8 Schelling, F. W . J . 4, 4 3 , 49, 50, 60, (143), 1 5 8 - 1 6 0 , 162, 163, 167, 169, 170, (228)

Vaihinger, H . 177, (178), 193 Valentino 2 Velikovsky, 1. (20)

Namensregister Vico, G. 41, 60, 142, 143, 147, 151, 225 Voltaire 136, 149 Vossius, G. 136 Vries, J . de (16), 130, 134 Wagner, R. 167, 170, 171, 175, 177, 183, 184, 186, 187 Wahl, Y. (21) Walch, J . G. (132), 1 3 3 - 1 3 5 , 137, (139), 140 Walcot, P. (35) Weber, M. 54, 236 Wein, H. (176) Weinreich, H. (44) Weishaupt, A. 1 4 6 - 1 4 8

Werner, M . (11) Wilcox, J . T. (177) Wittgenstein, L. 152, 200, 202 Wolff, C h r . 1 3 7 - 1 3 9 , 146 Wolff, H. M. (142) Xenophanes 135, 218 Yájñavalkya 2 Zedier (132) Zimmermann, R. C h r . 3, 145, 1 4 7 Zoëga 51 Zuckert, C . (180)

w DE

G

Hellmut Flashar Nikolaus L o b k o w i c z O t t o Pöggeler (Hrsg.)

Wälter de Gruyter Berlin ·N e w a r k Geisteswissenschaft als Aufgabe Kulturpolitische Perspektiven und Aspekte Oktav. IV, 244 Seiten. 1978. Kartoniert DM 3 4 , ISBN 3 11 007456 7 In einer Zeit schneller Veränderungen, in der Tradition immer stärker entmächtigt wird, halten die Geisteswissenschaften Tradition in einer distanzierten Form gegenwärtig. Die Arbeit dieser Wissenschaften ist in Deutschland durch eine Universität abgestützt worden, für deren Reform Wilhelm von Humboldt den maßgeblichen Anstoß gegeben hatte. Der Weg der Wissenschaft zur Spezialforschung, die Umwandlung der Universität und des Bildungssystems überhaupt, auch Umorientierungen, wie sie durch die politische Geschichte und die allgemeine Geistesgeschichte erzwungen wurden, haben die geisteswissenschaftliche Arbeit in eine kritische Situation gebracht. Die Autoren des vorliegenden Bandes, der in einem Arbeitskreis „Geisteswissenschaft und Forschungspolitik" entstand, entwickeln von verschiedenen Disziplinen und Institutionen her die Auffassung, daß diese Krise auch eine Gunst der Stunde enthalte. Die Bundesrepublik müsse die forschungsorganisatorischen und kulturpolitischen Konsequenzen aus der Einsicht ziehen, daß die geisteswissenschaftliche Arbeit in der modernen Welt eine Aufgabe sei.

Hermann Lübbe (Hrsg.)

Wozu Philosophie Stellungnahmen eines Arbeitskreises Oktav. XII, 393 Seiten. 1978. Kartoniert DM 2 8 , ISBN 3 11 007513 X (de Gruyter Studienbuch)

Gerd Brand

Welt, Geschichte, Mythos und Politik Groß-Oktav. LH, 250 Seiten. 1978. Ganzleinen DM 7 2 , ISBN 3 11 007505 9 Preisänderungen vorbehalten