Interamerikanische Beziehungen: Einfluss - Transfer - Interkulturalität: Ein Erlanger Kolloquium 9783964567154


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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkungen
Kulturvergleich: Einige methodologische Anmerkungen
Rolle, Einfluß und Bedeutung der USA bei den Konflikten in Venezuela um die Jahrhundertwende
Frankreich in der Karibik: Von der Revolution zur Integration
Kapitalflucht aus Lateinamerika in die Vereinigten Staaten
Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops in Mexiko und Zentralamerika
Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch: Sprachliche Lehnbeziehungen im 19. Jahrhundert - Stand und Probleme der Forschung
Sprache und Identität der Mexican Americans
Zur Problematik der Vermittlung fremdkultureller Phänomene durch die Literatur: Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern
Nord-Süd-Pressionen der Jahrhundertwende in zwei Gedichten von Rubén Darío: "A Roosevelt" (1904) und "Salutación al Aguila"
Aus der Karibik nach New York, Toronto und Montreal: Literarische Äußerungen karibischer (E-)Migration seit den 1950er Jahren
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Interamerikanische Beziehungen: Einfluss - Transfer - Interkulturalität: Ein Erlanger Kolloquium
 9783964567154

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Lateinamerika-Studien Band 27

Lateinamerika-Studien Herausgegeben von Titus Heydenreich Gustav Siebenmann

Hermann Kellenbenz Franz Tichy

Schriftleitung: Titus Heydenreich Band 27

Helmbrecht Breinig (Hg.)

Interamerikanische Beziehungen Einfluß - Transfer - Interkulturalität Ein Erlanger Kolloquium

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 1990

Anschrift der Schriftleitung: Universität Erlangen-Nürnberg Zentralinstitut (06) Sektion Lateinamerika Kochstr. 4 D-8520 Erlangen

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Interamerikanische Beziehungen: Einfluss - Transfer Interkulturalität ; ein Erlanger Kolloquium / Helmbrecht Breinig (Hrsg.). - Frankfurt am Main: Vervuert, 1990 (Lateinamerika-Studicn ; Bd. 27) ISBN 3-89354-727-4 NE: Breinig, Hclmbrecht [Hrsg.]; GT © by the Editors 1990 Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung: difo druck, 8600 Bamberg Printed in West-Germany

Vorbemerkungen 7 Joachim Matthes Kulturvergleich: Einige methodologische Anmerkungen 13 Rolf Walter Rolle, Einfluß und Bedeutung der USA bei den Konflikten in Venezuela um die Jahrhundertwende 25 Friedrich v. Krosigk/Pierre Jadin Frankreich in der Karibik: Von der Revolution zur Integration 37 Anton P. Müller Kapitalflucht aus Lateinamerika in die Vereinigten Staaten 51 Michael Richter Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops in Mexiko und Zentralamerika 69 Friedrich W. Horlacher Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch: Sprachliche Lehnbeziehungen im 19. Jahrhundert - Stand und Probleme der Forschung 103

Hildegard Zeilinger Sprache und Identität der Mexican Americans 119 Helmbrecht Breinig Zur Problematik der Vermittlung fremdkultureller Phänomene durch die Literatur: Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern 137 Titus Heydenreich Nord-Süd-Pressionen der Jahrhundertwende in zwei Gedichten von Rubén Darío: "A Roosevelt" (1904) und "Salutación al Aguila" (1906) 157 Wolfgang Binder Aus der Karibik nach New York, Toronto und Montreal: Literarische Äußerungen karibischer (E-)Migration seit den 1950er Jahren 177

VORBEMERKUNGEN Die sogenannte Neue Welt war ein Vorstellungskomplex in den Köpfen der Europäer, noch bevor sie von Kolumbus (wieder-)entdeckt wurde. Im Laufe der für die einzelnen Regionen des Doppelkontinents recht unterschiedlichen Geschichte seit der Eroberung und Erschließung durch die weißen Kolonisatoren hat sich dieses Gesamtbild der Neuen Welt aufgespalten in Bilder von Anglo- und Lateinamerika oder, noch enger, in solche etwa von der Karibik, den Andenländern oder dem arktischen Gürtel, beziehungsweise, nach wiederum anderen Kriterien, von den USA, Brasilien oder Frankokanada usw. Der Blick bleibt dabei stets transatlantisch, auch wenn die europäische Sicht durch den Einbezug der Sehweise der jeweils anvisierten Region oder Nation modifiziert werden mag - und eine reziproke Blickfixierung läßt sich auch bei vielen Bewohnern aller Teile Amerikas feststellen. Die Dominanz der transatlantischen Einzelbeziehungen hat vergessen lassen, daß sich in Geschichte und Gesellschaft vieler Teile der Neuen Welt Gemeinsamkeiten finden lassen, etwa der Konflikt der eindringenden Europäer mit einer indianischen Urbevölkerung; die Erschließung eines den alten Kontinent weit übertreffenden Angebotes an natürlichen Ressourcen und die Probleme, die sich dabei (z.B. im Verkehrsbereich) einstellten; die zur Lösung der Arbeitskraftengpässe in beiden Hälften des Doppelkontinents und in der Karibik eingeführte Sklaverei mit dafür eigens importierten afrikanischen Schwarzen sowie die aus der Präsenz dreier Hauptethnien (und vieler kleinerer Immigrantengruppen) resultierenden Rassenprobleme; die Entkolonisierung und die Herausbildung von Nationalstaaten und anderes mehr. Es wird häufig übersehen, daß es Parallelen zwischen den geographischen Verhältnissen einzelner Regionen ebenso gibt wie Analogien der kulturellen Entwicklung. Noch mehr Interesse als das Studium solcher mehr oder weniger gesamtamerikanischen Gemeinsamkeiten oder auch der signifikanten Unterschiede, die sich zwischen den iberischen und den angelsächsischen Teilkontinenten 7

Helmbrecht Breinig oder den Einzelregionen ergeben haben, sollte jedoch die Beschäftigung mit den politischen, sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Wechselbeziehungen der einzelnen Staaten und Gebiete finden. Dabei ist nicht nur an die Rolle der Hegemonialmacht USA im Verhältnis zu ihren näheren und entfernteren Nachbarn zu denken, sondern auch etwa an die Rolle Kanadas in der Karibik oder an die Beziehungen einzelner lateinamerikanischer Staaten untereinander, wenngleich die Interaktion der Hauptregionen Angloamerika (inklusive Frankokanada) und Lateinamerika (inklusive auch der anglophonen Karibik) die zentrale Stelle einzunehmen hat. Diese Beziehungen sind für die westliche Hemisphäre häufig ebenso wichtig wie die transatlantischen und haben bereits in der Vergangenheit globale Auswirkungen gehabt (etwa bei den Interessenarrangements der USA und der europäischen Mächte in Lateinamerika im Vorfeld des 1. Weltkriegs); heutzutage sollte der Hinweis auf eine Reihe von krisenhaften Problemzuspitzungen in verschiedenen Bereichen (Kubakrise, Rohstoffkrise, Schuldenkrise, ökologische Krise) die weltweite Relevanz jener interamerikanischen Wechselbeziehungen hinreichend erhellen. Eine an der Universität Erlangen-Nürnberg vor kurzem gegründete interdisziplinäre 'Forschergruppe Interamerikanistik' hat sich zum Ziel gesetzt, die bisher dominante transatlantische Sicht auf einzelne Teile Anglo- oder Lateinamerikas durch die Nord-Süd- bzw. Süd-Nord-Perspektive zu ergänzen. Sie widmet sich der vergleichenden Untersuchung von Phänomenen in mehreren Teilen Gesamtamerikas, beschäftigt sich also etwa mit der Institution der Sklaverei oder mit der Entwicklung in einzelnen Kulturbereichen. Vor allem aber erforscht sie die Interaktion der Staaten und Gesellschaften sowie die Auswirkungen solcher Beziehungen auf den verschiedensten Gebieten. Ein erstes inneruniversitäres Kolloquium, das im November 1988 in Erlangen stattfand, vereinte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Disziplinen Geschichte, Politologie, Soziologie, Geographie, Wirtschaftswissenschaft sowie (sprach- und literaturwissenschaftliche) Romanistik und Amerikanistik. Ziel der Beiträge, die im vorliegenden Band veröffentlicht werden, und der sich daran anschließenden Diskussion war es, anhand von Einzelaspekten und Fallstudien das breite Spektrum inter8

Vorbemerkungen amerikanischer Beziehungen sichtbar zu machen, aber auch spezifische Vorgehensweisen der einzelnen Fächer zu demonstrieren, um dadurch die Bedingungen interdisziplinärer Zusammenarbeit deutlich werden zu lassen. Den thematischen Schwerpunkt der hier gesammelten Beiträge bildet der Transfer von Ideen, Geld und Wirtschaftsgütern, politischer Macht, Elementen des jeweiligen sprachlichen und kulturellen Systems und nicht zuletzt (als Migration) von Menschen zwischen einzelnen Teilen Amerikas. Die Auswirkungen solcher Interaktion - sei es im sozio-ökonomischen Bereich oder im Bereich der Bewußtseinsbildung - werden dabei miterörtert. Rolf Walter behandelt in "Rolle, Einfluß und Bedeutung der USA bei den Konflikten in Venezuela um die Jahrhundertwende" die expansive Anwendimg der MonroeDoktrin bei den damaligen Venezuelakrisen, die Reduktion des südamerikanischen Landes zu einem Spielball bei den Auseinandersetzungen der Großmächte Europas und Nordamerikas und die für die damalige Machtpolitik angeführten Erklärungsmodelle. Ebenfalls mit der karibischen Region beschäftigt sich der Beitrag von Friedrich von Krosigk und Pierre Jadin über "Frankreich in der Karibik: Von der Revolution zur Integration". Wiederum geht es um den Versuch einer regionfremden Macht, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Nutzen aus ihrer Rolle in diesem Gebiet zu ziehen. Der Blick auf die Kolonialgeschichte bildet die Folie für eine Betrachtung der heutigen isolierten Sonderstellung der karibischen DOM und, auf andere Weise, Französisch-Guayanas im interamerikanischen Einflußgefüge sowie der spezifischen Migrationsbewegungen von und in diese Territorien. Anton P. Müllers Untersuchimg der "Kapitalflucht aus Lateinamerika in die Vereinigten Staaten" beschreibt Voraussetzungen, Modi und Auswirkungen dieses Kapitaltransfers vor dem Hintergrund der internationalen Schuldenkrise und des wirtschaftlichen Niedergangs vieler lateinamerikanischer Länder vor allem am Fall Mexikos. Michael Richters Beitrag "Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops in Mexiko und Zentralamerika" zeigt die ökologischen Folgen der Verdrängung des Anbaus von Grundnahrungsmitteln durch den exportorientierten Großanbau im Zusammenhang mit den bestehenden ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen. 9

Helmbrecht Breinig Daß die Dependenzen, die mit solchem Transfer von Macht und Ressourcen einhergehen, immer auch Interdependenzen sind, wird an den sprachwissenschaftlichen Studien deutlich. Friedrich Horlachers "Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch: Sprachliche Lehnbeziehungen im 19. Jahrhundert" behandelt das Einströmen spanischen Vokabulars in das amerikanische Englisch im Gefolge der US-amerikanischen Expansion; Hildegard Zeilingers "Die Sprache und Identität der Mexican Americans" hingegen die sprachlich-kulturellen Folgen dieser Expansion für die im Land verbliebenen sowie die später in die Vereinigten Staaten eingewanderten Mexikaner. Meine eigene Arbeit, "Zur Problematik der Vermittlung fremdkultureller Phänomene durch die Literatur: Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern", untersucht den literarischen Niederschlag des interkulturellen Transfers am Beispiel der Mexikoreisenden und -migranten unter den Literaten der USA. Die wechselnden Reaktionen des berühmtesten nikaraguanischen Dichters auf US-amerikanische Machtausdehnung und kulturelle Ideenvermittlung analysiert Titus Heydenreich in "Nord-SüdPressionen der Jahrhundertwende in zwei Gedichten von Rubén Darío: 'A Roosevelt' (1904) und 'Salutación al Aguila' (1906)". Wolfgang Binders umfangreicher Überblicksartikel "Aus der Karibik nach New York, Toronto und Montréal: Literarische Äußerungen karibischer (E-)Migration seit den 1950er Jahren" schließlich stellt einen weitgehend unbekannten Zweig USamerikanischer und kanadischer Literatur vor und verweist auf formale und inhaltliche Eigentümlichkeiten als Folge der Zwischenkulturalität. Nicht nur im Bereich der Literaturwissenschaft werden Überblicks- und Detailstudien durch die Erörterung methodischer Probleme und theoretischer Aspekte ergänzt; auch bei den Beiträgen aus Sprachwissenschaft, Historiographie und Wirtschaftswissenschaft spielen methodische Aspekte und die Frage nach der angemessensten Modellbildung eine beträchtliche Rolle. Im letztgenannten Aufsatz ist darüber hinaus die immittelbare Relevanz solcher Modelle für das reale Wohlergehen des Doppelkontinents erkennbar. Derartige Fragestellungen haben hier nicht zufallig ein großes Gewicht, denn stärker noch als das intradisziplinäre Arbeiten erfordert die interdisziplinäre Forschung eine selbstreflexive Grundlegung. Am notwendigsten sind me10

Vorbemerkungen thodische Überlegungen wohl dort, wo der Aspekt des Kulturvergleichs im Vordergrund steht. Wegen des Stellenwerts, den dieser Aspekt für das Gesamtprojekt der Interamerikanistik besitzt, ist diesem Band daher ein Grundsatzartikel aus soziologischer Sicht vorangestellt, Joachim Matthes' "Kulturvergleich: Einige methodologische Anmerkungen". Ein Großteil der hier vorgelegten Arbeiten berührt (auch) Gegenstände jeweils anderer Fächer, ist also in diesem Sinne interdisziplinär. Die Möglichkeiten der Grenzüberschreitung, sei es beim Kulturvergleich, sei es beim Ausflug in andere Disziplinen, sind von allen Teilnehmern des Symposiums als besonders reizvoll, aber auch als besonders anforderungsreich empfunden worden. Die nachstehenden Beiträge geben nicht nur erste Hinweise auf ein hierzulande noch weitgehend vernachlässigtes Forschungsgebiet und auf die mit seiner Erschließung verbundenen Möglichkeiten. Sie lassen auch die konzeptuellen Probleme ahnen, die das Fächerübergreifen bereitet, aber auch die Chancen, gerade dadurch neuen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Auch eine Publikation von Tagungsbeiträgen braucht mancherlei Hilfe. Danken möchte ich Dr. Susanne Opfermann für die der Disziplinenvielfalt wegen schwierige redaktionelle Überarbeitung der Einzelbeiträge, Christina Strobel für die Endredaktion und beiden sowie Ingeborg Hofmann, Marlene Schild und Peter Tischer für die Herstellung der Druckvorlage. Sie alle haben mit dem Schritt ins Computer-Zeitalter ebenfalls grenzüberschreitende Arbeit geleistet. Weisendorf-Reuth, im Oktober 1989

Helmbrecht Breinig

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Joachim Matthes KULTURVERGLEICH: EINIGE METHODOLOGISCHE ANMERKUNGEN

1. Wer sich ernstlich auf kulturvergleichende Forschung einläßt, geht einen schweren Weg. Er wird sich früher oder später der persönlichen Erfahrung stellen müssen, daß die eigene kulturelle Identität in der Begegnung mit dem Fremden Zweifeln ausgesetzt wird, - ja daß viele der sie prägenden Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten. Er wird weiterhin erfahren, wie schwer es ist, solche erfahrenen Selbstzweifel und Verunsicherungen inn 0,6 32,7 1,2 —5) 10,8

35,1 -0,24> -11,04> 1,6 38,2 10,3 —5) 34,0

Methode 2 KapitalKumulierte flucht in % der Kapitalflucht3) Bruttoauslandsschuld 31,3 3,9 -0,74) 8,1 29,4 3,8 8,4 15,6

71,8 4,3 -4.04) 21,8 34,3 32,8 36,1 49,1

') Berechnet nach Weltbank, World Debt Tables (1985/86) ) Private kurzfristige Kapitalbewegungen plus Saldo der Fehler und Auslassungen.

2

52

Kapitalflucht aus Lateinamerika in die USA 3

) Gesamte private Kapitalbewegungen minus private Kapitalbewegungen berechnet auf Basis der registrierten Einkünfte. 4 ) Kapitalzufluß. 5 ) Nicht geschätzt. Quelle: Khan und U1 Haque, 4. Vergleicht man die Ergebnisse der beiden Schätzmethoden, so zeigt sich, daß das zweite Verfahren, wonach die gesamten privaten Kapitalbewegungen minus der privaten Kapitalbewegungen auf der Grundlage der in der Zahlungsbilanz registrierten Einkünfte zur Berechnung herangezogen werden, fast durchwegs ein höheres Ausmaß an Kapitalflucht anzeigt. Aber auch die einfachere Methode, wonach Kapitalflucht anhand der kurzfristigen Kapitalbewegungen einschließlich des Saldos der Fehler und Auslassungen in der Zahlungsbilanz berechnet wird, ergibt für eine ganze Reihe von Ländern ein hohes Maß, im Durchschnitt etwa dreißig Prozent, an Kapitalflucht. Wie problematisch Zahlenangaben zur Kapitalflucht jedoch grundsätzlich sind, zeigt sich deutlich am Beispiel Argentinien und Südkorea. Bei Argentinien ergibt sich gemäß der ersten Schätzmethode eine Kapitalflucht von 15,3 Mrd. US-Dollar, während nach dem zweiten Schätzverfahren die Kapitalflucht aus Argentinien 31,3 Mrd. US-Dollar, also mehr als das Doppelte, umfaßt (s. Tab. 1); bei Südkorea unterscheiden sich die Ergebnisse der beiden Schätzmethoden um ein Vielfaches. Neben diesen beiden eben gekennzeichneten Methoden zur Schätzung der Kapitalflucht gibt es noch das Verfahren, Kapitalflucht direkt zu schätzen, indem die Einlagen privater Wirtschaftssubjekte (ohne Banken) aus dem Schuldnerland bei Auslandsbanken herangezogen werden. Dieser Ansatz gibt zwar unvollständig das Ausmaß der Kapitalflucht wieder, denn die Investitionen von Bürgern aus den Schuldnerländern in Immobilien, Aktien und Anleihen sowie andere Formen von Unternehmensbeteiligungen werden nicht erfaßt, aber mittels dieser Daten ist es möglich, die Richtung der Kapitalflucht insgesamt zu erschließen, also Hinweise auf die Zielländer der Kapitalbewegung zu erhalten (s. Tab. 2).

53

Anton P. Müller

Tab. 2 Private Einlagen von Nichtbanken aus acht Schuldnerländern bei ausländischen Banken 1984 in Mrd. US-Dollar Banken Einlagen bei allen Banken Banken in den insgeals Anteil an BruttoausUSA samt landsschuld (in %) Argentinien Brasilien Chile Südkorea Mexiko Peru Philippinen Venezuela insgesamt

3,8 1,8 1,5 0,1 10,4 0,9 0,7 7,0 26,2

7,6 8,2 1,9 0,4 14,3 1,4 1,1 11,7 46,6

17,0 7,4 9,9 1,0 15,1 11,2 4,7 34,2 12,2

Quellen: US Treasury Department, Treasury Bulletin, verschiedene Ausgaben; und IWF, International Financial Statistics, verschiedene Ausgaben. Aus: Khan und U1 Haque, 5. Aus der Tabelle (Tab. 2) ist deutlich erkennbar, daß für die lateinamerikanischen Länder Argentinien, Chile, Mexiko, Peru und Venezuela die USBanken die wichtigsten Zielorte der Kapitalflucht darstellen und lediglich Brasilien eine Ausnahme bildet, wobei hervorzuheben ist, daß die Kapitalflucht aus Brasilien neben Chile unter den lateinamerikanischen Ländern das geringste Ausmaß umfaßt.

2. Theoretische Einordnung Nach dem vorherrschenden nationalökonomischen Paradigma, der sogenannten 'neoklassischen Theorie', sind internationale Kapitalbewegungen Ausdruck unterschiedlicher Renditen und Renditeerwartungen. Die Höhe der 54

Kapitalflucht aus Lateinamerika in die USA Rendite ist Knappheitsindikator und übt zugleich Anreizfunktion aus, so daß Kapital der Verwendung zugeführt wird, die die höchsten Erträge abwirft. Abstrahiert man von Reibungsverlusten und anderen Störungen, dann korrigieren Kapitalbewegungen laufend die Renditedifferenzen und realisieren gemäß des law ofone price einen einheitlichen Preis für die Überlassung von Kapital. In der neoklassischen Theorie stellen Kapitalbewegungen also einen Mechanismus dar, der eine notwendige Bedingung für die optimale Allokation der Ressourcen ist (vgl. Bachmann und Heuss). Es ist deshalb schwierig, 'Kapital/fac/if' von 'normalen* Kapitalbewegungen zu unterscheiden. Zwar gibt es Kapitalabwanderungen als eine bekannte historische Erscheinung, in der eindeutig politische Faktoren zu benennen sind, wie zum Beispiel die nach der Widerrufung des Edikts von Nantes Ende des 17. Jahrhunderts auftretende Kapitalflucht aus Frankreich. Aber schon die mit dem corso forzoso in Italien von 1866 bis 18811 in Zusammenhang gebrachte Kapitalflucht oder die Kapitalabwanderung, die mit der deutschen Hyperinflation von 1919 bis 1923 einherging, ist nicht mehr unstrittig als 'Kapitalflucht ' zu bestimmen, da neben politischen auch wirtschaftliche Faktoren am Weike waren und so die Kapitalbewegungen auch durchaus im Sinne der neoiklassichen Theorie als Kapitalbewegung aufgrund tatsächlicher oder erwarteter Renditedifferenzen verstanden werden kann. Auch das Phänomen der Kapitalabwanderung aus Entwicklungsländern, das seit der Ausweitung der internationalen Kreditvergabe an diese Länder ab Mitte der siebziger Jahre in Erscheinung trat, läßt sich nicht ohne weiteres als 'Kapitalflucht" bestimmen, wenn man diese "stets [als] ein Symptom für mangelndes Vertrauen in die Politik" verstehen will (Duwendag, 57). Vielmehr läßt es ein anderer Umstand gerechtfertigt erscheinen, von "Kapitalflucht" zu sprechen, nämlich die Tatsache, daß die Regierungen in den Entwicklungsländern im Ausland Kredite aufnahmen, während gleichzeitig Bürger vieler dieser Länder es unternahmen, Teile ihres Vermögens in das Ausland zu transf erieren. Dieser Vorgang hat weder im neoklassischen Universum noch in den einschlägigen Entwicklungsmodellen einen zureichenden Platz. 55

Anton P. Müller Wie immer man die Kapitalabwanderungen aus Entwicklungsländern interpretiert, ob als 'normale' Kapitalbewegung oder als 'Kapitalflucht', in der Konsequenz führen sie dazu, daß die Aussagen des Modells des 'kreditfinanzierten Wachstums', das den Kreditzufluß an Entwicklungsländern begründet hat, hinfällig werden. "La fuga de capital, que no estaba contemplada en los modelos de crecimiento con deuda, ha pervertido totalmente el motive del financiamiento externo" (Frieden, 278). Das Modell des kreditfinanzierten Wachstums sieht idealtypisch fünf Stadien vor, die ein Entwicklungsland durchläuft. Als junges Entwicklungsland nimmt es Kredite im Ausland auf, die das heimische Sparaufkommen ergänzen und zugleich den Importbedarf decken. Modellgemäß wird mit den zufließenden Ressourcen der Industrialisierungsprozeß eingeleitet, so daß das Land aus dem Schuldnerstatus herauswächst, indem das Volkseinkommen und damit das Sparpotential zunimmt. Mit zunehmender Industrialisierung kehrt sich modellgemäß das Handelsbilanzdefizit in einen Handelsbilanzüberschuß um. Das Land kann seine aufgenommenen Kredite bedienen und abtragen und schließlich in eine Gläubigerposition gelangen (vgl. Feder; Weltbank, 62). Tritt aber Kapitalabwanderung - in welcher Form auch immer - auf, so sind diesem Prozeß die Grundlagen entzogen. Während die Verpflichtungen zum Schuldendienst aus den aufgenommenen Krediten fortbestehen, führt der Kapitalverlust dazu, daß dem Land Ressourcen entzogen werden, die in Form von Investitionen den Industrialisierungsprozeß hätten einleiten sollen. Unter diesen Umständen wachsen die Risiken für das verschuldete Land, in eine bis zur Zahlungsunfähigkeit reichende Zahlungskrise zu geraten. Diesem Modell gemäß sind nur kurzfristige 'Störungen' dieses Ablaufs denkbar. Setzt man rationale Akteure auf der Kreditgeber und -nehmerseite voraus, so müßten diese imstande sein, Zahlungskrisen als bloße Liquiditätsengpässe zu erkennen. Zur Überbrückung dieser Zahlungskrisen müßten demnach die Gläubiger zur Neukreditvergabe bereit sein und die Kapitaleigner im Schuldnerland dürften in Erwartung höherer Kapitalerträge ihre Investitionsbereitschaft im Heimatland nicht unterbrechen. Daß weder die eine noch die andere Verhaltensweise entsprechend den Modellerwartungen eingetreten ist, sondern vielmehr Kreditkontraktion und Kapitalflucht, also die 56

Kapitalflucht aus Lateinamerika in die USA 'internationale Schuldenkrise' in der Folge aufgetreten ist, deutet darauf hin, daß das Modell des kreditfinanzierten Wachstums unvollständig ist. Anders als beim Modell des kreditfinanzierten Wachstums erschließt sich demgegenüber beim transfertheoretischen Ansatz, der bereits in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem deutschen Reparationsproblem erarbeitet wurde (Salin), die Komplexität und Problematik des internationalen Schuldenproblems, und der naive Transferoptimismus, der die Politik in den sich verschuldenden Ländern leitete, weicht einem entschiedenen Transferpessimismus. Nach dem transfertheoretischen Ansatz unterteilt sich das internationale Zahlungsproblem in drei Teilbereiche: Aufbringimg, Realtransfer und Marktzugang. Die Aufbringung konzentriert sich im Budgetproblem, in der Frage, ob und wie ein Staat den Schuldendienst im Inland aufbringen kann. Dies lenkt die Analyse auf Fragen der Haushalts- und Geldpolitik, des Volkseinkommenswachstums und der politischen Aspekte, die vor allem mit der Besteuerung und mit der Allokation der Staatsausgaben verbunden sind. Das Problem des Realtransfers besteht darin, wie der im Ausland verschuldete Staat die erforderlichen Deviseneinkünfte erzielen kann, um den Schuldendienst zu leisten. Der Abbau der Auslandsverschuldung setzt Leistungsbilanzüberschüsse voraus. Die Zahlung der Zinsen belastet die Dienstleistungsbilanz, so daß die Leistung des Realtransfers Exportsteigerungen oder Importkürzungen erfordert. Sind Nettofinanztransfers an das Ausland zu leisten, und reichen die Reserven hierzu nicht aus, so muß im Außenhandel ein entsprechender Überschuß erzielt werden. Während ein sich verschuldender Staat eine negative Handelsbilanz ausweist, und die inländische Produktion binnenmarktorientierte Anreize erfahrt, sind für einen sich entschuldenden Staat Handelsbilanzüberschüsse und eine exportorientierte Wirtschaftsstruktur erforderlich. Der Bezugspunkt für die Zahlungsfähigkeit eines Landes ist demnach die Fähigkeit einer Volkswirtschaft, diese Umstellungsprozesse der Produktion zu bewältigen. Neben der Flexibilität, die eine Volkswirtschaft besitzen oder erwerben muß, um diese Umstellung vorzunehmen und der Fähigkeit und Bereitschaft der Wirtschaftspolitik, die zur Umstellung erforderlichen Anreize zu setzen, sind das durch die Höhe der akkumulierten 57

Anton P. Müller Auslandsverschuldung gegebene Ausmaß der Umstellung und die Zeitdauer ausschlaggebend, innerhalb der der Umstellungsprozeß zu bewältigen ist. Aufbringung und Umstellung lösen jedoch noch nicht vollständig das Transferproblem, dessen Lösung auch daran scheitern kann, daß der Marktzugang zu den Auslandsmärkten verschlossen bleibt oder eingeschränkt ist. Dieses Problem gewinnt dadurch an Brisanz, daß gegenwärtig nicht nur eine oder wenige Volkswirtschaften mit dem Transferproblem konfrontiert sied, und auch nicht nur fast sämtliche Volkswirtschaften der sogenannten 'Dritten Welt', sondern auch die Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn man davon absieht, daß die USA - anders als die verschuldeten Entwicklungsländer - sich auch mittels einer inflationären Entwertimg ihrer Auslandsverschuldung entschulden können,2 sind sie wie die anderen verschuldeten Länder ebenfalls mit einem Transferproblem konfrontiert. Auch die USA können sich dann nur durch einen Überschuß im Außenhandel entschulden. Damit wird der Marktzugang zum kritischen Engpaß auch für die Entwicklungsländer. Wegen der engen Handelsbeziehungen der USA mit Lateinamerika gewinnt dieser Aspekt für die hochverschuldeten Länder in der südlichen Hemisphäre noch zusätzliche Bedeutung. Die Vereinigten Staaten und Lateinamerika benötigen, wenn sie sich entschulden wollen, gleichermaßen überseeische Märkte (s. Müller, "Wirtschaftspolitik"). Aus dem transfertheoretischen Ansatz folgt, daß in einem sich verschuldenden Land die Belastungen der zukünftigen Einkommen durch höhere Besteuerung und Produktionsleistungen zugunsten der Ausfuhren zunehmen. Anstelle der vom Modell des kreditfinanzierten Wachstums unterstellten Erwartung eines Einkommenszuwachses zeigt der transfertheoretische Ansatz auf, daß erstens nach dem Eintreten von Kreditkontraktionen3 Exportüberschüsse notwendigerweise eintreten werdei, und, wenn das Land nicht in die Zahlungsunfähigkeit geraten soll, die Haidelsbilanzüberschüsse bei unzureichender Exportnachfrage durch Importkoniaktion erzielt werden müssen; zweitens belastet die Bedienung der Auslandsschuld des Staates den Staatshaushalt, wodurch die Staatsbürger mit höheren Steuern oder Kürzung der Staatsausgaben konfrontiert werden. Angesichts der zukünftigen Belastungen, die für die Bürger eines sich im Ausland verschuldenden Staats als Produzent, Konsument und Steuerzahler 58

Kapitalflucht aus Lateinamerika in die USA anstehen, so zeigt diese Analyse, ist Kapitalabwanderung aus einem sich verschuldenden Staat ein rationaler ökonomischer Vorgang, der auf rationalen ökonomischen Motiven beruht.

3. Modelldarstellung Im folgenden soll das Problem der Kapitalflucht modellanalytisch erfaßt werden. Dabei wird eines der makroökonomischen Standardmodelle zur außenwirtschaftlichen Analyse erweitert und modifiziert (vgl. hierzu auch Müller, "Geldpolitik"). Das Fleming-Mundell-Modell (Fleming; Mundell) analysiert die Bedingungen autonomer Fiskal- und Geldpolitik offener Volkswirtschaften unter der Annahme eines vorgegebenen konstanten Weltzinsniveaus. Damit werden in diesem Ansatz jedoch die Probleme nicht erfaßt, die seit Beginn der achtziger Jahre aufgrund der ausgeprägten Schwankungen im internationalen Zinsniveau die Wirtschaftspolitik verschuldeter Volkswirtschaften kennzeichneten. Im folgenden steht deshalb die Frage im Mittelpunkt, welche Anpassungsprobleme auftreten, wenn sich das internationale Zinsniveau ändert. Das Fleming-Mundell-Modell analysiert die Wirkungen autonomer fiskalund geldpolitischer Maßnahmen aus der Perspektive eines 'kleinen Landes'. Ausgehend von einer keynesianischen Gleichgewichtslage, in der das binnenwirtschaftliche Gleichgewicht mit dem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht übereinstimmt, induzieren wirtschaftspolitische Maßnahmen, die zu einer Abweichung des nationalen Zinsniveaus vom Weltzinsniveau fuhren, Kapitalbewegungen, die über die Veränderung der Wechselkurse den Außenhandel und damit die Höhe des Sozialprodukts verändern. So führt in diesem Modell eine fiskalpolitische Expansion zu einem Anstieg des nationalen Zinsniveaus und bewirkt aufgrund der Zinsunterschiede Kapitalzuflüsse; diese rufen eine Währungsaufwertung hervor, womit ceteris paribus die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieser Volkswirtschaft zurückgeht. Der von der Fiskalpolitik bewirkten Expansion des Sozialprodukts steht eine von der Außenwirtschaft ausgehende Schrumpfung des Sozialpro59

Anton P. Müller dukts entgegen. Fiskalpolitik kann demnach unter den Bedingungen flexibler Wechselkurse und zinsreagibler internationaler Kapitalmärkte keine anhaltenden Expansionseffekte freisetzen (vgl. Masson; Bernsen). Demgegenüber ergibt sich diesem Modell gemäß die Effizienz der Geldpolitik daraus, daß eine geldpolitische Expansion mit Zinssenkungen verbunden ist, wodurch es zu einem Kapitalabfluß und damit zu einer Abwertung der Währung kommt, was die internationale Wettbewerbsfähigkeit4 erhöht und zu einer Ausweitung des Sozialprodukts führt. Das Fleming-Mundell-Modell stellt somit die Konsequenzen in den Mittelpunkt, die auftreten, wenn es aufgrund nationaler wirtschaftspolitischer Maßnahmen zu Abweichungen vom Weltzinsniveau kommt; nicht untersucht werden die Folgen für einzelne Volkswirtschaften, wenn sich das internationale Zinsniveau ändert. Anpassungsprobleme in der Folge eines drastisch sich verändernden Weltzinsniveaus standen jedoch im Mittelpunkt der weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten seit Beginn der achtziger Jahre. Für die heutigen Probleme ist die Fragestellung umzukehren und somit danach zu fragen, welche Anpassungsstrategien aufgrund von Veränderungen im Weltzinsniveau erforderlich werden. Beim Fleming-Mundell-Modell bringen Wechselkursanpassungen die Zahlungsbilanz zum Ausgleich. Dies trifft jedoch dann nicht zu, wenn das Weltzinsniveau nicht unmittelbar mit dem Weltsozialprodukt und der Weltnachfrage verkoppelt ist. Wegen der Dominanz des US-Dollars auf den internationalen Finanzmärkten5 und der vergleichsweise geringeren Produktionsund Nachfragekapazität der amerikanischen Volkswirtschaft6 war dies im bestehenden Weltwährungssystem bis Mitte der achtziger Jahre der Fall. Dies bedeutet, daß die - unter Umständen allein binnenwirtschaftlich orientierten - wirtschaftspolitischen Maßnahmen in den Vereinigten Staaten das Weltzinsniveau maßgeblich bestimmen, dieses aber nicht notwendigerweise eine Entsprechung auf der güterwirtschaftlichen Angebots- und Nachfrageseite der Weltwirtschaft findet. Die restriktive Geldpolitik, mit der die wichtigen Industrieländer, insbesondere die Vereinigten Staaten, auf den zweiten Ölpreisschock antworteten, hat zu einem steilen Anstieg des Weltzinsniveaus geführt. Die restriktive 60

Kapitalflucht aus Lateinamerika in die USA Geldpolitik in den USA verband sich dort mit expansiver Fiskalpolitik, so daß sich das Zinsniveau für den US-Dollar in wenigen Jahren verdreifachte und 1981 bis auf 18,9% anstieg (s. IMF/IFS, 1987, 106). Die anderen offenen Volkswirtschaften wurden hierdurch dem Anpassungsproblem ausgesetzt, durch entsprechende geld- und fiskalpolitische Maßnahmen eine Angleichung an das amerikanische Zinsniveau als der Determinante des Weltzinsniveaus herbeizuführen oder die Effekte auf den Außenhandel und die Kapitalbilanz hinzunehmen, die, über die Zinseffekte vermittelt, von einer Höherbewertung der weltwirtschaftlich dominierenden Währung ausgehen. Für die Bewältigung der Anpassung sind die Elastizitätsstruktur des Außenhandels und die Veränderung der Weltnachfrage für die Exportprodukte des betreffenden Landes entscheidend. Die negative Zinsdiskrepanz ruft ceteris paribus Kapitalabflüsse hervor, die bei flexiblen Wechselkursen zur Abwertung führen. Entgegen der Annahme des Fleming-Mundell-Modells führt diese Abwertung jedoch dann nicht zur Ausweitung der Nettoexporte und damit zur automatischen Anpassung, wenn sie von der extern gegebenen Erhöhimg des Weltzinsniveaus ausgeht. Da nicht alle Volkswirtschaften gleichzeitig durch Abwertungen ihre Nettoexporte erhöhen können - der Exportüberschuß eines Landes muß sich bei wenigstens einem anderen Land in einem Handelsbilanzdefizit niederschlagen kommt es zu einer gegenseitigen Verdrängung der Exporte auf den Weltmärkten. Abhängig wird die Möglichkeit zur Ausweitung der Nettoexporte von der Nachfrageelastizität der jeweiligen Ausfuhrprodukte auf dem Weltmarkt und von der regionalen Ausrichtung des Außenhandels. Je nach dem Grad und der Art, wie die jeweilige Volkswirtschaft in das internationale Handels- und Finanzsystem integriert ist, lösen Renditedifferenzen Kapitalbewegungen aus, die sich entweder regulär über die Devisenmärkte vollziehen und bei flexiblen Wechselkursen zu einer Abwertung der Landeswährung führen oder sich in 'Kapitalflucht' äußern. Unterbleibt eine Anpassung, hält der Anreiz zur Kapitalabwanderung an; wird eine Zinsangleichung vorgenommen, schrumpft ceteris paribus das Volkseinkommen, und wegen der bestehenden Außenhandelsstruktur kann - je nach Art und 61

Anton P. Müller Grad der Rigiditäten im Außenhandel - auch eine Abwertung den Wachstumsrückgang durch höhere Nettoexporte nicht kompensieren. Vor diesem Dilemma standen zu Beginn der achtziger Jahre eine ganze Reihe von Volkswirtschaften, vor allem Argentinien, Mexiko und, wenn auch in einem geringeren Ausmaß, Brasilien. Angesichts der drohenden Wachstumsschwäche haben diese Länder versucht, durch geld- und fiskalpolitische Expansion gegenzusteuern, dadurch jedoch die Problemlage nur noch verschärft. Eine monetäre Expansion weitet die Differenz zum Weltzinsniveau zusätzlich aus, erhöht den Abwertungsdruck und verstärkt die Anreize zur Kapitalflucht. In welchem Ausmaß die Anpassung gelang, war weiterhin von der regionalen Ausrichtung des Außenhandels abhängig. Indem ab 1982 in den Vereinigten Staaten bei wieder gelockerter Geldpolitik aufgrund der expansiven Fiskalpolitik eine deutlich höhere reale Inlandsnachfrage als in den europäischen Ländern und Japan auftrat, wurde der Anpassungsprozeß jener Länder begünstigt, die ihre Exporte gezielt auf den US-Markt ausrichten konnten und aufgrund ihrer Produktstruktur auf diesem Markt wettbewerbsfähig waren.

4. Fallbeispiel Mexiko Es würde zu Mißverständnissen führen, wenn man Kapitalflucht aus Lateinamerika nur unter dem Aspekt der ungünstigen Bedingungen der Kapitalverwertung in der südlichen Hemisphäre betrachten würde. Damit Kapitalflucht in Gang kommt, ist ein Renditegefalle erforderlich. Wie jede andere Form von Kapitalbewegungen, benötigt auch Kapitalflucht stets zwei Bezugspunkte. Sie kommt aufgrund eines Gefälles in den tatsächlichen und erwarteten Verwertungschancen des Kapitals zwischen dem Ursprungs- und Zielland zustande. Am Beispiel Mexiko soll dieser Zusammenhang verdeutlicht werden. Den größten Teil der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war Mexiko vom internationalen Kapitalmarkt ausgeschlossen. Seit dem Beginn der mexikanischen Revolution im Jahre 1910 bis zur Unterzeichnung des Suirez62

Kapitalflucht aus Lateinamerika in die USA Lamont-Abkommens im Jahre 1942 war Mexiko nicht imstande, seine Verpflichtungen gegenüber ausländischen Gläubigern zu erfüllen. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren setzte, zuerst in bescheidenem Umfang, die Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit Mexikos ein (vgl. Solis und Zedillo, 258), und erst gegen Ende der siebziger Jahre begann der steile Anstieg der mexikanischen Auslandsverschuldung.7 Betrachtet man die Nettozuflüsse an externen Finanzressourcen (Nettozuwachs der privaten und öffentlichen Auslandsverschuldung und Nettozufluß von Direktinvestitionen), so wird erkennbar, daß sich bis 1978 die Zuflüsse im bescheidenen Rahmen von etwa drei bis vier Milliarden jährlich hielten. Die mexikanische Schuldenexplosion erfolgte erst ab 1979, als die jährlichen Zuflüsse sich gegenüber 1978 auf 6,3 Mrd. US-Dollar verdoppelten und jedes Jahr bis 1981 sich erneut verdoppelten, so daß der jährliche Nettokapitalzufluß 1981 30,6 Mrd. US-Dollar ausmachte (s. Solis und Zedillo, 177). 1986 schließlich erreichte die gesamte Auslandsverschuldung Mexikos 101,7 Mrd. US-Dollar (WB/WDR, 253). Im Zuge dieser Expansion der Kreditaufnahme stieg auch die Kapitalflucht an. Während sie bis 1979 etwa eine Milliarde US-Dollar pro Jahr betragen hatte, stieg sie 1980 auf 4,7 Mrd. US-Dollar, und 1981 auf 10,9 Mrd. US-Dollar (s. Smith und Cuddington, 86 f.). Das heißt, daß jährlich von den insgesamt an Nettokrediten und Nettodirektinvestitionen zufließenden Finanzmitteln mehr als ein Drittel wieder abflössen. Aufgrund der geographischen Lage gegenüber der USA sind Kapitalverkehrskontrollen in Mexiko weitgehend wirkungslos. Mehr noch als die anderen lateinamerikanischen Länder steht Mexiko gegenüber den Vereinigten Staaten in einer wirtschaftspolitischen Abhängigkeit, die es erforderlich macht, die zu treffenden geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen an der USamerikanischen Wirtschaftspolitik auszurichten. Gehen - wie dies gegen Ende der siebziger Jahre geschehen ist - die USA zu einer restriktiven Geldpolitik über, die zu einem Anstieg des realen Zinsniveaus führt, ist ein wirtschaftspolitisch abhängiges Land wie Mexiko, losgelöst von den unter Umständen einen anderen Kurs erfordernden binnenwirtschaftlichen Zielsetzungen, dem Druck ausgesetzt, im gleichen Maße eine Realzinserhöhung einzuleiten. Wird 63

Anton P. Müller diese Anpassung versäumt, führt die wirtschaftspolitisch hervorgerufene Renditedifferenz zu Kapitalabwanderungen und erhöht die Gefahr von Zahlungskrisen und Wachstumsschwächen. Der Versuch, diesen Entwicklungen durch expansive fiskal- und geldpolitische Maßnahmen und der Monetisierung des Haushaltsdefizits gegenzusteuern, verschärft die Lage zusätzlich, da hierdurch die realen Zinsdifferenzen ausgeweitet werden. Wie die Erfahrungen in Mexiko zeigen, führt diese Politik geradewegs in die internationale Zahlungsunfähigkeit. Etwa zwei Drittel der gesamten mexikanischen Exporte gehen in die Vereinigten Staaten (s. IMF/DOT, 283). Aber nicht nur aufgrund seiner engen wirtschaftlichen Verflechtung mit den USA wurde Mexiko unter den Hauptschuldnerländern als erstes und am massivsten von den Zinssteigerungen und der Rezession, die 1980/82 in den USA auftraten, erfaßt. Anders als beispielsweise Korea paßte Mexiko seine Wirtschaftspolitik nicht dem von den Vereinigten Staaten vorgegebenen Kurs an, sondern versuchte, die sich anbahnende Wachstumsschwäche durch expansive Geld- und Fiskalpolitik zu überwinden. Von 1980 bis 1982 stieg der Anteil des Haushaltsdefizits am Bruttoinlandsprodukt in Mexiko von 3,1% auf 15,4% und die Inflationsrate8 von jährlich 28,7% auf 61,2% und erreichte 1983 92,1 % (s. IMF/IFS 1987, 156 f. und 165). In der Folge kam es zu einem extremen Währungsverfall. Während der Wechselkurs des mexikanischen Peso gegenüber dem US-Dollar von 1977 mit 22,57 bis 1980 mit 22,95 nahezu konstant blieb, und 1981 der Peso nur geringfügig auf 24,51 gegenüber dem US-Dollar abgewertet wurde, setzte ab 1982 ein drastischer Verfall der mexikanischen Währung ein, so daß 1986 für einen US-Dollar zwischen 612 und 915 Pesos gezahlt werden mußten, und die Parität Ende 1987 bei über zweitausend Pesos pro US-Dollar lag (IMF/IFS 1988/6, 360). Rationale Erwartungen hinsichtlich der zukünftigen Belastungen, die von der Auslandsverschuldung ausgehen, und eine zutreffende Einschätzung der wirtschaftspolitischen Strategie, die die Motive zur Kapitalflucht begründen, hätten im Falle Mexikos volle Bestätigung gefunden.

64

Kapitalflucht aus Lateinamerika in die USA

5. Resümee Die Entscheidungsträger in Entwicklungsländern und Gläubigerbanken gleichermaßen haben sich bei der Ausweitung der internationalen Kreditbeziehungen seit Mitte der siebziger Jahre an theoretischen Modellen orientiert, in denen wirtschafte- und ordnungspolitische Aspekte nur eine untergeordnete Rolle spielten oder ganz vernachlässigt wurden. Kapitalflucht als Faktor, der die Grundlagen für den Prozeß des kreditfinanzierten Wachstums untergräbt, wurde demnach ebensowenig vorhergesehen wie die Auswirkungen, die von der drastischen Erhöhung des Realzinsniveaus für den US-Dollar ausgingen. Wegen der engen Abhängigkeit der mexikanischen Volkswirtschaft von der wirtschaftlichen Entwicklung in den Vereinigten Staaten werden diese Einflußfaktoren für Mexiko besonders deutlich sichtbar. Die im Vergleich zu den anderen lateinamerikanischen Staaten geringere Kapitalflucht in Brasilien und Chile (s. Tab. 1 oben) erklärt sich zum einen aus den unterschiedlichen institutionellen Verhältnissen, wonach in Brasilien Kapitalverkehrskontrollen striktere Anwendung fanden und wegen des Indexierungssystems auch die Inflation andere wirtschaftliche Erwartungen und Anpassungen bei den Wirtschaftssubjekten hervorrief; zum anderen, so im Falle Chiles,9 sind sie das Ergebnis einer von den meisten anderen lateinamerikanischen Staaten abweichenden Wirtschaftspolitik, die auf haushalts- und geldpolitische Restriktion ausgerichtet war.

Anmerkungen 'Der corso forzoso war in geringerem Maße eine Kapitalfluchtbewegung durch Italiener, sondern eine Unterbrechung der französischen Kreditgewährung und der Versuch Frankreichs, seine Gläubigerposition zu konsolidieren. Ausgelöst wurde die Krise durch politische Faktoren wie die preußische Mobilmachung gegenüber Österreich, die ihre Wirkkraft aber vor allem deshalb entfaltete, weil aufgrund des Zusammenbruchs der Preise filr Baumwolle nach dem amerikanischen Bürgerkrieg LiquiditStsengpässe im französischen Bankensystem aufgetreten

65

Anton P. Müller waren (vgl. Kindleberger, 16). 2

Im Gegensatz zu den verschuldeten Entwicklungsländern lautet die Auslandsverschuldung der Vereinigten Staaten auf US-Dollar und damit auf eine Währung, die die USA selbst schaffen.

}

Kreditkontraktion ist das Ergebnis von Kreditrationierung, die in allen Kapitalmärkten auftritt, da eine anhaltende Kreditexpansion sogenannte "Ponzi-Spiele" erlauben würde (vgl. Weizsäcker).

4

Der

Begriff

"internationale

Wettbewerbsfähigkeit"

beinhaltet

modellgemäß

nur

die

Komponenten relatives Preisniveau zwischen In- und Ausland und den Wechselkurs. 3

Bei einem Tagesumsatz von Uber 200 Mrd. US-Dollar auf den internationalen Devisenmärkten entfallen 97% auf den US-Dollar als die angebotene oder nachgefragte Währung (IWD); der Anteil des US-Dollars an den langfristigen Schulden der Entwicklungsländer ist von 1974 bis 1983 von 65,1% auf76,3% gestiegen (Weltbank, Tab. 2.5., 26).

®Der US-Anteil umfaßte 1984 12,3% der Weltexporte und 18,5% der Weltimporte (eigene Berechnungen auf der Grundlage von IMF/IFS 1987). 7

Im Jahre 1972 hatte die mexikanische Auslandsverschuldung erst 3,9 Mrd. US-Dollar betragen (WB/WDT, 192).

'Gemessen am BIP-Deflator. ®Und im Falle Koreas und einiger anderer asiatischer Schwellenländer.

66

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68

Michael Richter

DIE ÖKOLOGISCHE PROBLEMATIK EXPORTORIENTIERTER CASH CROPS IN MEXIKO UND ZENTRALAMERIKA

Thematische Abgrenzung und Zielsetzung Sowohl Mexiko als auch die zentralamerikanischen Kleinstaaten sind im hohen Maße von einer Auslandsverschuldung betroffen, wobei mit Ausnahme von Nikaragua bei allen Ländern das Handelsdefizit gegenüber den USA am größten ist. Die Wege, die zur Begleichung der Zinszahlungen und des Schuldentilgungsdienstes beschritten werden, sind jedoch unterschiedlich. Während sich die Ausfuhrprodukte im Fall Mexiko nur zu 7,9% aus agrarischen Produkten zusammensetzen, liegt für Zentralamerika der entsprechende Wert im Mittel bei 68% (Bezug: 1985; nach FAO Trade Yearbook für 1986). Ausschlaggebend filr die unterschiedlichen Schwerpunkte beim Export sind die umfangreichen Reserven mineralischer Rohstoffe und die frühzeitige Industrieförderung in Mexiko. Hingegen besteht in den zentralamerikanischen Staaten seit der Jahrhundertwende eine Exportkonzentration auf wenige Agrargüter. Sie wurde stellenweise massiv von den USA beeinflußt, wobei z.B. die Aktivitäten der United Fruit Company zu dem Begriff 'Bananenrepubliken' führten. Liefern also in Zentralamerika die cash crop-Erzeugnisse einen wesentlichen Beitrag zur Schuldenbegleichung, so betrifft dies in Mexiko nur in geringem Umfang die Kaffeeproduktion (4% der Exporteinnahmen). Von staatlicher Seite ist demnach die Orientierung der Landwirtschaft in Zentralamerika gezwungenermaßen verstärkt auf den Verbrauchermarkt der USA gerichtet, während in Mexiko eine Einflußnahme in diesen Bereich geringer ist. Wenn dennoch die cash crops in Mexiko in die Erörterungen einbezogen werden, so geschieht dies losgelöst von den Verflechtungen mit dem US69

Michael Richter Markt allein in Hinblick auf die ökologische Problematik, die deijenigen in Zentralamerika ähnlich ist. Dies betrifft in erster Linie den tropischen Teil von Süd- und Zentralmexiko und dort verstärkt die Küstentiefländer der Pazifik- und der Golfseite. Die Hochflächen und die höhergelegenen Abschnitte der Gebirgszüge der Sierra Madre werden von einer hochtechnisierten Agroindustrie weniger betroffen, da sie weitgehend für die Erzeugung von Grundnahrungsmitteln reserviert bleiben.1

Relationsverschiebungen zwischen cash crops und food crops Läßt man die kolonialzeitlichen Handelsstrukturen außer acht, so ist die Innovation einer fremdorientierten Agrarproduktion in Lateinamerika mit der Einrichtung von Kaffee- und Bananenplantagen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts anzusetzen. Die externen ökologischen Auswirkungen, die von diesen Kulturen ausgehen, sind bei traditionellen Anbaumethoden eher gering einzuschätzen. Auf Kaffeeplantagen im Großgrundbesitz zeichnet sich allerdings eine Zunahme modemer Technisierungsverfahren ab, deren hydrologische Einflüsse auf die Umwelt kritisch beurteilt werden müssen. Seit Anfang dieses Jahrhunderts kommt eine Ausweitung offener cash crc^-Kulturen hinzu, von deren Flächen zumindest auf regionaler Ebene klimatische Veränderungen ausgehen. Mit der Expansion des Baumwoll- und Zuckerrohranbaus, die in den 50er und 60er Jahren besonders rasch fortschritt, geht neben einer ökologischen Beeinträchtigung eine Zuspitzung der sozioökonomischen Situation einher. Dabei setzt sich in der Verdrängung von Betrieben für die Erzeugung von Grundnahrungsmitteln eine aggressive Expansionspolitik durch, die von kapital- und flächenintensiven Anbauverfahren ausgelöst wird. Dieser Prozeß wird im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte durch neue Nutzungssysteme verstärkt, unter denen vor allem in Brasilien und Argentinien der Sojaanbau eine enorme Ausweitung erfahren hat. Führt in den großen Staaten Südamerikas die trügerische Hoffnung auf eine Inwertsetzung riesiger Naturräume zur Ausweitung der Agrarflächen, so setzen in den zentralamerikanischen Klein70

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops Staaten mittlerweile die beschränkten Landreserven der Ausdehnung von cash crop-Kulturen Grenzen. Aus der Gegenüberstellung in Abb. 1 werden die unterschiedlichen Tendenzen in der Flächenentwicklung der zusammengefaßten cash crops mit Kaffee, Baumwolle, Zuckerrohr und Sojabohne ersichtlich (Methode nach Kohlhepp, 1983; Index 100 = 1965/66). In Südamerika steigt seit Beginn des statistisch erfaßten Zeitraums, also ab 1950, die Ausdehnung unvermindert an, wobei neben dem Sojaanbau der Flächenzuwachs von Zuckerrohr als Energiepflanze in Brasilien am stärksten zu Buche schlägt. Gleichfalls kommt mit der cash crcp-Expansion die Konkurrenz zum Flächenbedarf der food crops zum Ausdruck, deren Raumanspruch seit über einem Jahrzehnt stagniert. In Zentralamerika erfuhren die cash crops mit Ausweitung des Baumwollanbaus in den fünfziger Jahren einen Aufschwung. Seither bleibt die Gesamtproduktion gleich, denn mit Zuspitzung der politischen Krisensituation und dem Rückgang der Weltmarktpreise ist seit einem Jahrzehnt zumindest bei den offenen Feldkulturen wieder eine rückläufige Flächenentwicklung festzustellen. Entsprechendes gilt für die in den Abbildungen nicht erfaßten Bananenplantagen, die in Zentralamerika schon vorher wegen der schwierigen phytosanitären Voraussetzungen durch erhebliche Schwankungen in ihrem Flächenanteil gekennzeichnet wurden. Die food crops stagnieren in ihrer räumlichen Entwicklung bereits seit über 20 Jahren, was angesichts des Ausmaßes der Agrarkolonisation in den südlichen Staaten Zentralamerikas auf den Verdrängungsprozeß durch cash crops und vor allem die Viehwirtschaft sowie auf die Krisensituation zurückzuführen ist. Mexiko spiegelt schließlich den Fall eines auf Industrialisierung ausgerichteten Schwellenlandes wider, in dem eine allgemeine Vernachlässigung des agrarischen Sektors mit einer Reaktion auf das Einsetzen des ölbooms zu erklären ist. Er löst einen Ansturm auf neu entstandene Arbeitsplätze im rasch anwachsenden sekundären und tertiären Sektor aus und erklärt die enorme Verstädterung als Komponente, in welcher der /»«//-Effekt vorübergehend dominieren kann. Da dieser Impuls insbesondere den innovationsfreudigeren Teil der Landbevölkerung erreicht, der im verbreiteten Ejidosystem keinen freien Entfaltungsspielraum erkennen kann, muß die Landflucht in diesem 71

Michael Richter

Jahr

72

Jahr

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops MEXICO

300x « X) c

— cash crops — food crops 2 0 0 -

0-1 1950

1 1960

1 1965

1 1970

1 1975

1 19B0

1 1965

Jahr Abb. 1 a-c: Veränderung der cash crop- und food crop-Flächen in Südamerika (a), Zentralamerika(b) und Mexiko (c) zwischen 1950 und 1985. Der Index wurde für die Jahre 1965/66 mit 100 festgelegt. Datenquelle: R40-Production Yearbook; Verf. n. Kohlhepp (1983).

Fall zur Extensivierung im Agrarsektor führen. Somit wird verständlich, daß in Mexiko der Umfang der Nutzflächen seit 1970 unter dem Indexweit liegt. Die Ausführungen über Flächenverteilungen von cash und food crops werden in Abb. 2 durch Diagramme über Veränderungen in der Produktion von Grundnahrungsmitteln ergänzt, von denen in Mexiko und Zentralamerika Getreidearten deutlich überwiegen. Dabei zeichnet sich generell ein deutlicher Aufwärtstrend ab, wobei in Mexiko allerdings in den beiden letzten Jahrzehnten ein drastischer Produktionsanstieg von Hirse als Futtergetreide stark zu Buche schlägt. Hinzu kommt, daß bei der Getreideerzeugung nur eine schwache Zunahme des pro Kopf-Wertes zu erkennen ist. Schließt man den Sorghum-Anteil aus diesen Indexwerten aus, so muß unter Berücksichtigung des Bevölkerungsdrucks für Mexiko eine effektive Verminderung der pro KopfVersorgung festgehalten werden. 73

Michael Richter

Jahr Abb. 2 a-c: Veränderung der Getreideproduktion und der Getreideproduktion pro Kopf in Südamerika (a), Zentralamerika (b) und Mexiko (c) zwischen 1950 und 1985. Der Index wurde für die Jahre 1965/66 mit 100 festgelegt. Datenquelle: FXO-Production Yearbook,- Verf. n. KohOtepp (1983).

In Zentralamerika, wo der Hirseanteil an der Getreideproduktion Mitte der 80er Jahre nur bei 9,3% gegenüber 23,5% in Mexiko liegt, wird der rückläufige Trend in der pro Kopf-Erzeugung aus der Index-Darstellung auch im Diagramm deutlich. Nur Nikaragua weist in diesem Jahrzehnt als einziges zentralamerikanisches Land eine positive pro Kopf-Bilanz in der Getreideerzeugung auf. Somit setzt sich die rückläufige Gesamt-Tendenz in der per caput-Kwve. für Zentralamerika aus unterschiedlichen Situationsgrundlagen prä- und postrevolutionärer Entwicklungstrends in der Produktion von Grundnahrungsmitteln zusammen. Besonders gravierend ist das "Wachstum ohne Entwicklung" in Honduras und in El Salvador; für letzteres zeichnet Nuhn (1985, dort Abb. 34 u. 35) eine besorgniserregende Entwicklung in der Produktion der food crops zugunsten der cash crops auf.

74

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops

Jahr

Jahr

Michael Richter In Südamerika, wo nur in Argentinien der Hirseanteil an der gesamten Getreideproduktion bedeutend ist, läßt sich eine leichte Steigerung der pro KopfRate feststellen. Anteil an der positiven Entwicklung in diesem Jahrzehnt haben vor allem Chile, Paraguay und ferner Brasilien, während besonders für Kolumbien eine abnehmende Eigenversorgung zu vermerken ist. Die zusammenfassende Interpretation der Ergebnisse aus Abb. 1 und 2 ergibt für Mexiko und Zentralamerika eine prekäre Lage in der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Auf dem ersten Blick ist diese Situation eher auf interne Probleme als auf einen Verdrängungswettbewerb durch agroindustrielle Interessen des Auslands zurückzuführen. Diese setzen sich vor allem in jenen südamerikanischen Ländern durch, deren hohe Auslandsverschuldung eine verstärkte externe Einflußnahme auf den Agrarsektor erzwingt. - Demgegenüber werden in Mexiko für die Schuldentilgung bzw. die Begleichung der Zinszahlungen verstärkt Kräfte im sekundären Sektor mobilisiert. In Zentralamerika stößt schließlich das Bemühen um die Erhaltung der internationalen Kreditwürdigkeit auf die relativ größten Schwierigkeiten. Hier stehen weder ausreichende Mengen an mineralischen Rohstoffen noch Ländereien für eine agrarische Inwertsetzung zur Verfügung. Zwar bestehen mit Ausnahme von El Salvador noch Landreserven in den humiden Bereichen der karibischen Tiefländer, einem Einsatz des technological package der Agroindustrie steht hier jedoch die ökologische Labilität der feuchten Innertropen entgegen. Tatsächlich wird die langsam gegen die Regenwälder vorrückende frontera von der Landkolonisation durch Kleinbauern getragen. Dennoch geht hier der Bevölkerungsdruck insofern mit einem Konflikt zwischen Agroindustrie und Kleinerzeugern von Grundnahrungsmitteln einher, als die bereits bestehenden cash crop-Flächen die Ausweitung der nationalen Agrarversorgung blockieren. Die Problematik liegt in Zentralamerika weniger in einer Ausweitung der Agroindustrie wie in den südamerikanischen Großstaaten als vielmehr im Verharren bestehender Strukturen, bei denen seit Jahrzehnten Fremdeinflüssen ein erhebliches Gewicht zukommt. Insbesondere die Orientierung an den Interessen des US-Marktes verursacht innerhalb der cash crop-Kulturen erneute Veränderungen in den Produktionsmethoden, die 76

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops kritisch beurteilt werden müssen und Inhalt der vorliegenden Arbeit sein sollen. Exakte Aussagen über die Exportausrichtung der Länder des Subkontinents auf die USA lassen sich für die einzelnen Produkte nur mit erheblichem Aufwand erstellen, etwa durch Sichtung statistischen Materials in den einzelnen Ländern selbst. Diese Arbeit wurde nicht vorgenommen, so daß als Beleg für die Ausrichtung des Handels auf den US-Markt nur die Zielrichtung der Ausfuhrprodukte in ihrer Gesamtheit vorgestellt werden kann. Da jedoch mit Ausnahme von Mexiko die wichtigsten Exportgüter aus dem Agrarsektor stammen (s. Tab. 1), scheint die einseitige Orientierung in diesem Bereich zumindest für die Länder Mexiko, Belize, Honduras und Panama erwiesen (Tab. 2). Auch für Guatemala, El Salvador und Costa Rica läßt sich eine Dominanz des Handels mit den Vereinigten Staaten erkennen. Einzig Nikaragua zeigt in seinen Außenhandels-Beziehungen eine breitere Palette an Abnehmerländern.

Tab. 1: Rangfolge der zentralamerikanisch-mexikanischen Ausfuhrprodukte im Jahr 1985 Reihenfolge der wichtigsten Ges. Ex- Exportanportwert teil der Exportprodukte in Mill. Agrarpro(n.Wert) dukte in % US$ Mexiko Belize Guatemala Honduras El Salvador Nikaragua Costa Rica Panama

21.866 90 1.060 835 929 302 928 301

7,8% 48,6% 79,7% 67,4% 58,4% 79,3% 70,4% 48,7%

Erdöl, KFZ-Motoren, Kaffee Zucker, Bekleidung, Agrumen Kaffee, Bananen, Baumwolle Bananen, Kaffee, Fisch Kaffee, Zucker, Baumwolle Baumwolle, Kaffee, Fleisch Kaffee, Bananen, Fleisch Bananen, Fisch, Zucker

(zusammengestellt aus dem FAQ Trade Yearbook, 1986)

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Tab. 2: Zielorientierung des zentralamerikanisch-mexikanischen Exports; prozentualer Anteil nach Verbraucherregionen im Jahr 1985 USA EG ZA-Nachbarn Rest Mexiko Belize Guatemala Honduras El Salvador Nikaragua Costa Rica Panama

61 % 50 % 39 % 56 %

38 % 15 % 45 % 55 %

18 % 21 % 12 % 15 % 26 % 33 % 21 % 16 %

4% 8% 21 % 6% 22 % 7% 17 % 11 %

17 % 21 % 28 % 23 % 14 % 45 % 17 % 18 %

(zusammengestellt aus den Länderberichten des Statistischen Bundesamtes, 1986-1988) Die Exportorientierung der Isthmus-Staaten sagt nichts über die direkte Einflußnahme der USA auf die Wirtschaft in den Ländern aus. Die Direktinvestitionen und der Außenhandel der USA konzentrieren sich in Lateinamerika während der letzten beiden Jahrzehnte auf Brasilien, Venezuela und Mexiko, neuerdings auch auf Argentinien. Von wenigen Ausnahmen abgesehen haben sich die großen transnationalen Gesellschaften mit Einfluß auf den Entscheidungsprozeß in den Vereinigten Staaten aus Zentralamerika zurückgezogen (Süssdorf, 44). Diese Tatsache beinhaltet, daß von den USA kaum noch direkte Forderungen an die Agrarpolitik der Länder gestellt werden, also der aktive Einfluß aus mangelnden Wirtschaftsinteressen aufgegeben wurde. Im Prinzip ändert sich dadurch an den Handelsstrukturen aber nur der eine Ast der bilateralen Beziehungen: Bei den Importen kommen nun in den zentralamerikanischen Ländern verstärkt außerkontinentale Partner zum Zuge, der Export ist hingegen wegen der geringeren räumlichen Distanz noch immer stark auf den US-Markt ausgerichtet. Für den Absatz der cash crops trifft dies im besonderen Maße zu, da die Handelsausrichtung der Großgrundbesitzer von traditionellen Beziehungen zu den USA geprägt wird.

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Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops

Zur ökologischen Problematik in Kaffeepflanzungen Die Innovation des weltmarktorientierten Kaffeeanbaus als ältester cash crop-Kultur in Zentralamerika ging von Costa Rica aus, wo sich cafetales im Valle Central bereits für das Jahr 1816 und von wo sich erste Kaffeexporte für 1832 belegen lassen. Auch in Gl Salvador gab es um 1850 schon bedeutsame Erträge aus groß angelegten Pflanzungen. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden zuerst die Vulkanabhänge von Guatemala und dann die unteren Hangpartien der Sierra Madre de Chiapas vom Kaffee-Boom erfaßt, an dem deutsche Einwanderer erheblichen Anteil hatten. Der Kaffeeanbau konzentriert sich in Zentralamerika auf die pazifischen Gebirgsabdachungen und ferner auf einige zentrale Täler bzw. Beckenregionen (Abb. 3 a). Nur an der Nordgrenze des Anbaus gibt es im mexikanischen Bundesstaat Veracruz an den Hängen der Sierra Madre Occidental eine zusammenhängende Kaffeezone auf der Ostseite des Subkontinents. Agrarklimatisch bevorzugt sind vollhumide Regionen der tierra subtemplada, aber auch in semihumiden Gebieten El Salvadors und Costa Ricas wird Kaffee im großen Stil angebaut. Dem Kaffee kommt unter den Agrarerzeugnissen der Länder Zentralamerikas für den Export der höchste Stellenwert zu. Wichtigstes Ausfuhrprodukt ist er für El Salvador, Costa Rica sowie Guatemala; in Nikaragua und Honduras nimmt er die zweite Stelle ein. Mexikos Export-Schwerpunkte liegen zwar auf dem Erdölsektor und auf der Herstellung von KFZ-Motoren, jedoch folgt danach der Kaffee als bedeutendstes agrarisches Ausfuhrerzeugnis. Der großflächige Anbau erfolgt überwiegend mit traditionellen Verfahren, d.h. in diffuser Verteilung der Sträucher unter schattenspendenden und stickstoffliefernden Leguminosenbäumen bei Unkrautbeseitigung mit der Machete sowie Kompostdüngimg. Die Pflanzungen bestehen zum erheblichen Teil aus der anspruchsvollen und pflegeintensiven Arabica-Art, die als Qualitätskaffee in den in Mitteleuropa erzeugten Mischungen sehr gefragt ist. In allen Ländern findet eine allmähliche Umstellung auf moderne Anbautechniken statt, die sehr kritisch beurteilt werden muß. Die Pflanzungen er79

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Kaffee

Bananen

Exportanteil in % an der Gesamtproduktion

Exportanteil in % an der Gesamtproduktion

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops folgen nun in Reihen, Schattenbäume werden herausgeschlagen, Unkräuter mit Herbiziden bekämpft, und chemische Düngung setzt sich durch. Zwei Systeme lassen sich unterscheiden: Zum einen handelt es sich z.B. in Chiapas und Guatemala um Reihenpflanzungen ohne Rücksicht auf die Geländeverhältnisse, wobei eine erosionslabile Erziehung in Gefällsrichtung häufig ist. Zum anderen herrscht in El Salvador oder Costa Rica die zweckmäßigere Form des Reihenanbaus auf Kulturterrassen vor, wobei die steilen Böschungen allerdings z.T. unbewachsen und damit rutschungsgefährdet sind. In beiden Fällen handelt es sich um Verfahrenspakete, die in Brasilien üblich sind und die auf die in Afrika verbreitete Robusta-Art als Träger eines Quantitätskaffees abzielen. Ursprünglich steht hinter den Umstellungsmaßnahmen die Bekämpfung der in Arabica-Pflanzungen verstärkt auftretenden Roya, einer Pilzkrankheit. Sie läßt sich durch Reihenerziehimg auf RobustaGrundlage unter voller Sonneneinstrahlung bekämpfen, wobei die neu eingeführte Art außerdem gegen die in wärmeren Lagen verbreiteten Nematoden und Kaffeekirschenbohrer resistent sind (vgl. Rehm/Espig). Gleichzeitig erweist sich das Geschäft mit Robusta-Kaffee wegen seiner hohen Erträge zumindest in den ersten beiden Jahrzehnten als einträglicher, so daß von diesen Erfahrungen ein zusätzlicher Innovationsimpuls ausgeht. Es muß betont werden, daß die Erzeugung von Massenkaffee unter den beschriebenen Kulturmethoden für flachere Anbaugebiete in Regionen mit hohen Flächenreserven konzipiert ist. Denn Reihenpflanzungen ohne Überschirmung setzen eine höhere Erosionsstabilität voraus, wobei den Hangneigungsverhältnissen eine maßgebliche Rolle zukommt. Außerdem ist die Bodenauslaugung bei der Robusta-Art aufgrund der größeren Pflanzenproduktivität stärker als bei der Arabica-Art, zumal die Leguminosenbäume als potentielle Stickstofflieferanten wegfallen. Eine rasche Verringerung der Bodenfruchtbarkeit, die in Südbrasilien zu einer allmählichen StandortverlaAbb. 3 a-b: Verbreitung, Exportanteil an der Gesamtproduktion und Anteil am Agrarexport wichtiger Erzeugnisse überdauernder cash crop-Kulturen in Zentralamerika und Mexiko: Kqffee (a), Bananen (b). Datenquelle: F/40-Production Yearboolcs; GrundlageflrVerbreitungskarten: versch. Quellen und eigene Aufzeichnungen; Stand: 1985. 81

Michael Richter gerung des Kaffeeanbaus beiträgt (vgl. Abb. 1 - 3 bei Kohlhepp, 1989), können sich jedoch Kleinstaaten mit geringen Flächenreserven am wenigsten leisten. Die Aussichten auf kurzzeitig lukrative Erträge durch die Umorientierung im Kaffeeanbau erwecken nicht nur die Profitinteressen von finqueros\ entsprechende Umstellungsmaßnahmen werden auch von den USA massiv gefordert. Die Folge ist eine verstärkte Ausrichtung des Kaffeexportes auf den USMarkt, bei dem im Gegensatz zum EG-Markt eine erhöhte Nachfrage nach Massenkaffee besteht. Die staatliche Anweisung an das mexikanische Instituto de Café, die Kaffeepflanzer von den Vorteilen des Reihenanbaus zu überzeugen, ist damit in erster Linie aus den Verpflichtungen gegenüber den Vereinigten Staaten entstanden. Mehr noch: es handelt sich primär um einen politischen Anbindungszwang, der ökonomischen Gesichtspunkten widerspricht,

75mm/d —

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WIEDERKEHR2EIT

Abb. 4: Größertfrequenzanafyse der Tagesniederschläge (n. Ahnert, 1987) ßr das Regenzeithalbjahr Mai bis Okiober von sieben Stationen im Küstenüefland und in der Sierra Madre im sädüchen Soconusco (Bilks). Lage der Höhenstttfe häufigster Vorkommen ausgewählter Tagesniederschläge (rechts); Ermittlung aus den Berechnungenflrdie Größerrfrequenzen.

82

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops solange der herkömmliche Absatz von Qualitätskaifee in Mitteleuropa langfristig den höheren Gewinn abwirft. Neben der Bodenauslaugung hat die Umstellung auf Reihenanbau weitere irreparable Schäden zur Folge. Katastrophal wirkt sich vor allem an der pazifischen Gebirgsabdachung in Chiapas und Guatemala die Bodenerosion aus, die im Verlauf der letzten anderthalb Jahrzehnte infolge der verringerten Laubüberschirmung und Humusproduktion sowie der chemischen Unkrautvernichtung drastisch zugenommen hat. Dies betrifft jene Regionen am stärksten, in denen Starkregen höchste Intensitäten erreichen, etwa in den cafetales im Soconusco in Südmexiko. Aus Größenfrequenzanalysen der Tagesniederschläge (Methode nach Ahnert) ergibt sich im Einzugsbereich des oberen Rio

Abb. 5: Flußnetz im Einzugsgebiet des oberen Rio Huehuetan (Unks) und Überlappungsbereich, in dem die Enlwicklungsieit des Kaffeerostes innerhalb von 25 Tagen abläuft bzw. in dem Tagesniederschläge > 25 mm häufiger als 55 mal pro Regenzelt auftreten (rechts). Schwarze Markierung: Lage des Lufibildausschnitts in Abb. 6.

83

Michael Richter Huehuetan im NNW von Tapachula eine maximale Regenintensität für den Höhenbereich zwischen 400 und 700 m ü.M. (vgl. Abb. 4 und 5). So liegt der berechnete Höchstwert eines Tagesereignisses für die Zeitspanne von fünf Regenzeiten in Finca Independencia (550 m ü.M.) bei 226 mm N und der tatsächliche für den zugrunde liegenden Zeitraum 1971-1975 sogar bei 240 mm N. Niederschlagsereignisse > 100 mm N/Tag treten hier statistisch 26 mal pro Regenzeit-Halbjahr auf und solche > 50 mm N/Tag im Mittel jeden sechsten Tag. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Finca Independencia liegt Finca El Eden, wo die Umstellung auf Reihenanbau weit fortgeschritten ist. Dies geht aus einer Lupen-Interpretation eines Infrarot-Farbluftbildes vom Februar 1978 hervor, wo im kartierten Bereich (Abb. 6) rund 85 % der Fläche von der modernen Erziehung mit dem im Vergleich zur Arabica-Art flachwurzelnden Robusta-Kaffee belegt sind. Ein Großteil dieser Neupflanzungen zeichnet sich durch lichtere Bestände aus als diejenigen des verstreuten Anbaus mit Überschirmung. Da hier der Bodenabtrag eher flächenhaft erfolgt, kommt er weniger in Form deutlich erkennbarer Erosionsformen zum Ausdruck als in frischen Ablagerungen im Bereich kleiner Bachläufe. Mehrere fincas mußten in diesem Höhenbereich nach kurzer Zeit der Umstellung bereits aufgegeben werden, da hier nach Auskunft Einheimischer mittlerweile "der Boden fehlt". Der Höhenbereich zwischen 400 und 700 m ü.M. ist gleichzeitig jene Stufe, in der sich die Roya-Gefährdung der Arabica-Art als besonders problematisch erweist, da die Entwicklungszeit des Pilzes bis zur Fruchtreife rascher abläuft als in höheren Lagen (Abb. 5). Die Umstellung auf Reihenanbau ist somit zwar verständlich, jedoch keineswegs angebracht. Katastrophal wirkt sie sich in Höhen zwischen 800 und 1500 m ü.M. aus, wo das Problem des Pilzbefalls (und auch des Nematodenbesatzes im Boden) geringer ist. Zwar sind in diesem Bereich die Niederschlagsintensitäten schwächer, die Hänge jedoch erheblich steiler. Neben der Bodenerosion treten hier nun großfläcliige Abb. 6: Ausschnitt eines ¡nfrarot-Luftbildes der Finca El Eden aus dem Jahre 197S mit Detailinterpretationen des Anbautyps und der Pfkmzenäberdeckung.

84

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops

| rrrrra Kv.vJ pp-s

| Anbau in Doppelreihen einfacher Reihenanbau verstreuter Anbau mit Überschirmung

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50 - 70 % bewachsen

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Michael Richter Rutschungen auf, so daß der allein auf Profit ausgerichtete Reihenanbau unsinnig ist. Gerade in dieser Höhenstufe kommt dichten, mehrschichtigen Kaffeepflanzungen eine wichtige hydrologische Speicherfunktion zu. Inteizeptionsverluste, erhöhter Wasserbedarf der üppigen Vegetation, hydrophile Eigenschaften der Mullauflagen, günstige Porenstrukturen der Humusböden und die Bremswirkung durch das geschlossene Kronendach fördern eine gleichmäßige Wasserführung der Flüsse und Bäche. In den stark gelichteten Robusta-Pflanzungen kommt es durch die folgenschweren Bodenverluste hingegen zur raschen Durchsickerung des Bodenwassers bis zum Anstehenden, und auch der Oberflächenabfluß bei verminderten Interzeptionsverlusten ist erhöht. So ist mit schnelleren und heftigeren Abflußreaktionen zu rechnen, das heißt das Intervall zwischen Niedrig- und Hochwasserständen verkürzt sich und die Schwankungen zeigen größere Amplituden. Kleinere Flüsse können in diesem Fall vorübergehend austrocknen, größere neigen verstärkt zum kurzfristigen Ausufern. Für das Einzugsgebiet des Rio Huehuetan zeigt sich, daß der ohnehin hohe Abflußkoeffizient zwischen 1976 und 1983 sukzessive von 0,65 auf 0,75 angestiegen ist. Auch die enormen Überschwemmungen der pazifischen Küstenebene des Soconusco im August und September 1988 haben durch die Auflichtung der Kronenüberschirmung in den Kaffeepflanzungen an den Sierra Madre-Hängen eine Verschärfung erfahren. Bleibt festzuhalten, daß neben der Boden-Degradierung in den cafetales mit der Veränderung der hydrologischen Bilanz eine nach außen wirksame, also übergreifende ökologische Schädigung durch die Umstellung auf Reihenanbau erfolgt (detailliertere Ausf. s. Richter, 1986 und 1987). In Costa Rica wirkt sich diese Situation im Einzugsgebiet des Rio Reventazón durch eine zunehmende Überschwemmungsgefährdung in den Bananenplantagen des Tieflands aus, z.B. in der Region um Siquirres.

Zur ökologischen Problematik in Bananenplantagen Die Bananenplantagen in Zentralamerika dienten als Inbegriff einer von 86

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops transnationalen Kapitalgesellschaften ausgeübten Einflußnahme auf den inländischen Wirtschaftssektor. Dies führte so weit, daß in Ländern wie Costa Rica und Honduras zu Beginn dieses Jahrhunderts sogar der Staatshaushalt zum erheblichen Teil von der Handlungsweise US-amerikanischer Großunternehmen gesteuert wurde (vgl. hierzu die beeindruckenden Schilderungen von Bitter). Die Impulse für diese Entwicklung gingen 1884 von Minor Cooper Keith aus, der sich in einem Vertrag mit Costa Rica zum Ausbau der Eisenbahnlinie von Puerto Limón nach San José verpflichtete. Er sicherte sich damit das Recht auf die Nutzung eines Teilabschnittes von Guápiles an die KOste und erhielt die Nutzungsrechte für 35.000 ha Land. 1899 schlössen sich größere Gesellschaften unter Mitwirkung von Keith zur United Fruit Company zusammen, die in der Folgezeit durch die Anlage weiterer Stichbahnen, Häfen, Verwaltungs- und Wohnzentren in ausgedehnten Plantagen die Struktur des karibischen Tieflandes in Zentralamerika veränderte. Mit der Anwerbung von Schwarzen auf dai Westindischen Inseln als Arbeitskräfte wurde die Region darüberhinaus soziokulturell stark überformt. Seither ist es im Rahmen des 'Bananenimperialismus' in Zentralamerika mehrmals zu einer regionalen Umverlagerung der Anbauschwerpunkte gekommen. Die Gründe dafür liegen in kurzfristigen Interessenverschiebungen auf jene Staaten, deren Regierungen den transnationalen Konzernen gegenüber das größte Entgegenkommen zeigten, in Umstrukturierungen in den beteiligten Großunternehmen selbst und in Ertragsminderungen durch Pflanzenkrankheiten (vgl. Nuhn, 1987). Heute sind im Bananenanbau Zentralamerikas die drei Fruchtmultis United Brands (ehemalige United Fruit), Standard Fruit und Del Monte marktbeherrschend. Bananen bilden das bedeutendste Exportgut in Honduras und Panama (Abb. 3 b), wobei im letztgenannten Land die Abhängigkeit von diesem Produkt wegen der Ausweitung des internationalen Bankensektors weniger gravierend ist. In Costa Rica nimmt die Ausfuhr von Bananen hinter dem Kaffee die zweite Position ein. Auch in Nikaragua, Guatemala und Belize ist die Bananenerzeugung für den Export von Bedeutung. In El Salvador und in Mexiko ist hingegen die Erzeugung weitgehend auf den Binnenmarkt 87

Michael Richter ausgerichtet. In der weltweiten Produktionsliste stehen Honduras, Costa Rica und Mexiko nach Brasilien und Ekuador an dritter bis fünfter Stelle. Im Gegensatz zu den drei anderen cash crops konzentriert sich die exportorientierte Plantagenwirtschaft mit Bananen in Zentralamerika auf die passatfeuchten karibischen Küstenebenen. Nur in der Umgebung von Golfito im südlichen Costa Rica, von wo sich die Multis 1983 zurückzogen, und im unmittelbar benachbarten Teil Panamas um Concepción gibt es Anbaugebiete abnehmender Bedeutung. Hier sorgen die ITC und auch monsunale Effekte für die erforderlichen hohen Niederschläge, die ansonsten an der Pazifikküste geringer sind. Die ökologischen Probleme großer Bananenpflanzungen beschränken sich auf 'innere* Gefahren. So erweisen sich gerade die großen, ertragreichen Obstbananen, von denen in Zentralamerika die modernen Hochleistungssorten Giant Cavendish, Valéry und Lacatan bevorzugt angebaut werden, als besonders windanfällig. Somit sind vor allem die küstennahen Monokulturen in Belize und Honduras aufgrund der relativ häufigen Einwirkung tropischer Stürme und Hurrikane gefährdet. - Außerdem muß eme gute Bodendränage in den Kulturen gewährleistet sein. Überschwemmungen wirken sich demnach ertragsmindernd aus, so daß sich eine Entwaldung bzw. Lichtung von Kulturflächen durch Produktionsumstellungen im Einzugsgebiet oberhalb von Gebieten mit Bananenplantagen nachteilig auswirkt. Als Schadensfaktoren müssen verschiedene Pilzkrankheiten berücksichtigt werden. Gravierende Folgen verursachte die "Mal de Panamá", eine Welkekrankheit, die zur Züchtung resistenter Arten führte. Sie gab in den 20er Jahren in Costa Rica den Anlaß für die allmähliche Anbauverlagerung vom karibischen zum pazifischen Küstentiefland. Erst der Umstellung von der damals bevorzugten Hochleistungssorte Gros Michel auf die resistente Giant Cavendish folgte Anfang der 60er Jahre eine Wiederbelebung der Bananenproduktion in den traditionellen Plantagenregionen. Seit knapp einem Jahrzehnt wird jedoch auch diese Sorte von einem Pilz bedroht, der Blattfleckenkrankheit Sigatoka. Baktriosen und Virosen, darüber hinaus Schädigungen durch Insekten, vor allem durch den Bananen-Wurzelbohrer, tragen des weiteren zu einem insgesamt hohen Pestizid-Input bei. Er dürfte über die 88

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops Auswaschung zur Kontamination des Bodens und Grundwassers führen und sich in der Nahrungskette nachteilig auf Sekundärkonsumenten auswirken. Spezielle Kenntnisse zu diesem Problemkreis scheinen für die zentralamerikanischen Bananenplantagen noch zu fehlen. Da sich die großen Bananenplantagen in Zentralamerika auf die feuchtesten Regionen konzentrieren, besteht kein unmittelbarer Raumkonflikt zu den Interessen der Kleinproduzenten von Grundnahrungsmitteln. Solange sich in ökologischer Hinsicht der Risikofaktor offensichtlich auf die innere Gefährdimg beschränkt, liegt mit den resultierenden Ertragseinbußen ein Regler vor, auf den der Mensch rasch reagiert. Das negative Image der Bananenplantagen, das transnationale Konzerne durch ihre politische Einflußnahme geschaffen haben, findet also momentan weder durch eine Konkurrenzsituation zur einheimischen Nahrungsmittelproduktion noch vom Gesichtspunkt einer 'externen' Umweltbeeinträchtigung her Bestätigung.

Zur ökologischen Problematik in offenen cash crop-Kulturen Von den offenen cash crcp-Kulturen werden hier der Baumwoll- und Zuckerrohranbau behandelt, da hierfür im Gegensatz zur Massenproduktion von Soja, Sorghum und Sesam für den Subkontinent schon Ergebnisse über ökologische Schadenswirkungen vorliegen. Der Anbau von Baumwolle und Zuckerrohr hat in Mexiko und Zentralamerika eine lange Tradition. Im ersten Fall wurden bereits in vorkolumbischer Zeit die Fasern im karibischen Raum zu Textilien verarbeitet, im zweiten führten die Spanier Pflanzmaterial zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein. Großflächige Baumwollfelder in Monokulturen wurden aber erst zwischen 1940 und 1955 angelegt, wobei der Impuls von den Bewässerungsgebieten in Nordmexiko ausging und sich nach Süden in die semihumiden paziAbb. 7 a-b (n.S.): Verbreitung, Exportanteil an der Gesamtproduktion und Anteil am Agrarexport wichtiger Erzeugnisse offener cash crops in Zentralamerika und Mexiko: Baumwolle (a), Zuckerrohr (b). Datenquelle: F/10-Production Yeaibooks; Grundlage flr Verbreitungskarten: versch. Quellen und eig. Aufz.; Stand: 1985.

Michael Richter

Exportanteil in % an der Gesamtproduktion

Baumwolle

, Belize

Guatemala El Salvador

Nicaragua 1000 t

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops

MEXICO UND Z E N T R A L A M E R I K A

Jahr Abb. 8: Veränderung der Anbauflächen von Baumwoll- und Zuckerrohrpflanzungen in Mexiko und Zentralamerika von 1950 bis 1985. Datenquelle: F/lO-Production Yeaibook.

fischen Küstenregionen fortsetzte. Auch beim Zuckerrohr ging die Innovation eines großflächigen, technisierten Anbaus von Bewässerungskulturen in Sonora und Sinaloa aus, griff jedoch rasch nach Veracruz und Tabasco über, wo die Rohrbestände ohne künstliche Bewässerung gedeihen. Aus Abb. 7 a und b wird ersichtlich, daß die Verbreitungsgebiete von Baumwolle und Zuckerrohr in Zentralamerika auf die semihumiden Bereiche konzentriert sind. Für Mexiko trifft diese Überlappung der Anbaugebiete weniger zu, da sich der Baumwollschwerpunkt im ariden bis semiariden Norden des Landes befindet und der Zuckerrohranbau mittlerweile stärker in den semihumiden Küstentiefländem verbreitet ist.

91

Michael Richter Gerade in den pazifischen Alluvialebenen der costera Südmexikos und Zentralamerikas löst seit Mitte der 60er Jahre der Zuckerrohr- den Baumwollanbau ab; diese Umstellung ist so massiv, daß sie sich in der Summenkurve aller Länder mit der Veränderung der Flächenanteile deutlich abzeichnet (Abb. 8). Zum Zuckerrohr-Boom als Reaktion auf die Einfuhrsperre kubanischen Zuckers in den USA kam es in Mexiko nur vorübergehend und im bescheidenen Maße zu Beginn der 60er Jahre. Erst in jüngster Zeit wird hier eine erneute Ausweitung des Zuckerrohranbaus angestrebt: lag 1984 der Import auf die Produktion bezogen noch bei 7,1 %, so folgte 1985 schon ein Export von 3,7% und 1986 von 4,9% des erzeugten Rohzuckers. - Vergleichsweise reagierten die meisten Länder Zentralamerikas auf die neue Zielorientierung Kubas nachhaltiger und längerfristig, vor allem Belize sowie Panama, El Salvador und Guatemala (Abb. 7 b). Insbesondere in Costa Rica wurde zudem eine Weiterverarbeitung des Rohmaterials zu Süßwaren für den Export von Bedeutung. Die Ausweitung der Zuckerrohrflächen läßt sich nicht nur als Reaktion auf die Ereignisse in Kuba erklären. Vielmehr handelt es sich gerade in den semihumiden Regionen um Umstellungsmaßnahmen in Baumwollgebieten, wo abnehmende Ernteerträge bei steigendem Biozidbedarf zum Problem werden. Die Schädlingsempfindlichkeit ist extrem hoch, so daß stellenweise mehr als zehn Bekämpfungsflüge im Jahr erforderlich sind und über 50 % der Produktionsinvestitionen für Insektizide und deren Verteilung ausgegeben werden müssen. Bei Culiacän im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa ist der exzessive Einsatz von Pestiziden so stark verbreitet, daß ihm alljährlich mehrere Landarbeiter zum Opfer fallen. Die hohe Erkrankungs- und Sterberate ist im Zusammenhang mit dem unzureichenden Informationsstand der Betroffenen, der von den Grundbesitzern zur Vermeidung von Emteausfällen geforderten hohen Dosierung der Pflanzenschutzmittel und dem Fehlen geeigneter Arbeitsschutzvorschriften zu sehen. Abb. 9: Flächennutzung im Gebiet Buenos Aires und Mazatön im Soconusco-Hefland bei Tapachula. Grundlage: Infrarot-Luftbilder von 1978 und Geländeaufnahmen Im Frühjahr 1983.

92

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops

Michael Richter Fragen nach der Rentabilität stellen sich aber auch beim Zuckerrohranbau, da hier Schädlinge ebenfalls eine große Gefahr darstellen. Außerdem besteht durch das übliche Abbrennverfahren vor der Ernte ein erheblicher Nährstoffanspruch, wodurch ein verstärkter Düngungs-Input erforderlich wird. Die Einbringung chemischer Düngemittel erweist sich dabei insofern als kostspielig, als die Auswaschungsrate zu Beginn der Wachtsumsperiode am Anfang der Regenzeit wegen der häufig auftretenden Starkniederschläge besonders groß ist. Immerhin treten im Küstentiefland des südmexikanisch-guatemaltekischen Grenzgebietes Tagesniederschläge von 30 mm während der Regenzeit nach Auslegung der Größenfrequenzanalyse in Abb. 4 im Durchschnitt alle 12 Tage auf. Abgesehen von den geschilderten internen ökologischen Problemen sind zwei externe Umweltauswirkungen bei den beiden cash crop-Kulturen besonders gravierend: die lokale Niederschlagsabnahme und die Zunahme der äolischen Verlagerung von Feinmaterial. Für beide Phänomene bildet die geringe bis fehlende Vegetationsüberdeckung während der Trockenbrache eine entscheidende Größe. Diese Phase beläuft sich in den Baumwollkulturen der semihumiden Küstentiefländer auf 7-8 Monate und in den Zuckerrohrfeldern je nach Erntezeit auf 2-5. Über das Ausmaß der Öffnung ehemaliger Fruchtbaumgärten intensiver manueller Bearbeitung informiert ein Kartierungsausschnitt einer Luftbildserie aus der Umgebung von Tapachula (Abb. 9; größere Übersicht vgl. Richter, 1986, dort Abb. 3). Die vom Ejido Buenos Aires ausgehende Bewirtschaftung der Agrarflächen im Trockenfeldbau werden größtenteils von Baumwollfeldern eingenommen; nur auf wenigen Parzellen kommt es zu einem vorübergehenden Fruchtwechsel mit Mais- und Sojaanbau, der sich ebenfalls durch eine mehrmonatige Trockenbrache auszeichnet. Angesichts des Ausmaßes der Öffnung von Kulturflächen ist zu Beginn der Regenzeit bei einer extremen Erhitzung der Bodenoberfläche auf Mittagstemperaturen um 70°C von regionalen Veränderungen im kleinen Wasserhaushalt auszugehen. Entsprechendes gilt für die zu dieser Jahreszeit abgeernteten Zuckerrohrfelder. Parallelmessungen in dichten Fruchthainen, die vom Überdeckungsgrad her der potentiell natürlichen Vegetation nahekom94

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops

1925 | | | | 30 | j | 135 | | | | «01 j | j 45 | | | | 50 J j | 15 | | | | 60 | | | | 65 | | j | 70 J | | | 751 | | | 801 | | | 4 | TAPACHULA

Abb. 10: Fünfjähriges gleitendes Mittel der Niederschläge in Tapachula (177 m ü.M.). Zeitraum 1923-1988; Quelle: Daten der SAGH-Tapachula.

men, zeigen dagegen auf der Streuauflage am Boden Temperaturmaxima von ungefähr 30°C. Hinzu tritt im Vergleich zu den dichten Baumbeständen auf den unbewachsenen Feldern eine erhöhte Verdunstungskraft, die zu einer tiefreichenden Bodenaustrocknung führt, so daß wenig Wasserdampf an die untere Troposphäre abgegeben wird. Das erhöhte Wasserdampf-Sättigungsdefizit bei zusätzlicher Verstärkung der terrestrischen Strahlung führt zu einer höhenwärtigen Verlagerung der Taupunkttemperatur. Geraten die aufsteigenden Luftmassen in den Bereich des beständig wehenden trockenen Urpassats, so bleibt eine Kondensation vorerst aus. Eine Analyse der jahreszeitlichen Niederschlagsverteilung in Trockenjahren ergibt für die Anfangsmonate der Regenzeit unterdurchschnittliche Monatswerte (vgl. Richter, 1986, dort Abb. 6). Hierin ist ein Indiz für eine schleppende Aktivierung des kleinen Wasserkreislaufes zu erkennen, die für eine geringere Wasserdampfabgabe an die untere Troposphäre während einer beginnenden Zenitalregen-Beeinflussung spricht. Sie wird belegt durch ein um rund einen Monat verzögertes Einsetzen der ersten Niederschläge. Die Verspätung des Regenzeitbeginns in Gebieten mit großflächigen Baumwollund Zuckerrohrpflanzungen führt seit anderthalb Jahrzehnten in mehreren 95

Michael Richter Gebieten des pazifischen Küstentieflandes in Zentralamerika zu einer Abnahme der Niederschlagsjahressummen. Deutlich wird der Rückgang bei Betrachtung der fünfjährigen gleitenden Mittel einer 65-jährigen Meßperiode der Klimastation Tapachula (Abb. 10). Beeindruckend ist das starke Absinken der Werte seit Anfang der 70er Jahre, wobei 1976 und 1977 die Niederschlagssummen mit 1670 bzw. 1260 mm/a erstmals unter 2000 mm N/a lagen. Nur mit zwei Ausnahmen reichen seit 1971 die Niederschlagssummen nicht an das langjährige Mittel von 2400 mm N/a für den Zeitraum 19231988 heran; einen starken positiven Ausreißer gab es in Tapachula lediglich im Hurrikanjahr 1988. Die enge Bindung des Niederschlagrückgangs an Regionen mit Überwiegen offener cash crop-Kulturen wird beim Fallbeispiel Soconusco in Relation zu angrenzenden Agrarzonen deutlich: weder für die Kaffeeanbaugebiete der Sierra Madre de Chiapas noch für die nördlich anschließenden Weidegebiete läßt sich ein deutlicher Niederschlagsrückgang nachweisen. Als weiterer negativer Effekt von cash crop-Kulturen mit langer Trockenbrache ist vor allem in Küstentiefländern eine verstärkte Auswehung von Feinmaterial festzustellen. Hieran sind in erster Linie Seewinde beteiligt, die am frühen Nachmittag höchste Geschwindigkeiten erreichen. Die Auswehungsraten sind im semihumiden Pazifikgebiet während der trockensten Monate nach der Ernte am höchsten; stellenweise sind hier Kleinformen äolischer Verlagerungen durch Feinsand-Akkumulationen in Ackerfurchen und seichten Mulden auszumachen. Wesentlich turbulenter laufen Verwehungen in den Bewässerungsregionen des heiß-ariden Nordwestens von Mexiko ab. Eigene Beobachtungen belaufen sich auf eindrucksvolle Staubverlagerungen in dem kleinen Bewässerungsgebiet des Valle Santo Domingo mit den neu entstandenen zentralen Orten Ciudad Constitución und Villa Insurgentes auf der Halbinsel Baja California, wo seit 1950 eine Wasserförderung über Brunnen erfolgt. Im Gebiet kommt es neben Baumwollfeldern zum Anbau von Mais, Weizen und Soja, wobei in den heißen Monaten von Mai bis September der größere Teil der Flächen brach liegt. In dieser Jahreszeit kommt es im Verlauf des Vormittags zu einer starken Aufheizung der Bodenoberfläche mit aufsteigenden Luftbewegungen, 96

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops die zu kleinräumigen Staubverwirbelungen führen. Am frühen Nachmittag werden die Kulturflächen von zahlreichen bis zu 200 m hohen Windtromben gequert, die im Verlaufe des Nachmittags durch einen kräftigen Seewind vom relativ kühlen Kalifornienstrom zu einem lokalen Staubsturm anwachsen. Schon wenige Kilometer nördlich bzw. südlich des Bewässerungsareals des Valle Santo Domingo ist die Luft im Bereich der Kakteea-matorrales klar. Von hier aus gesehen hebt sich über dem Bewässerungsgebiet eine Staubglocke von mehreren hundert Metern Höhe ab, die nach Osten verdriftet wird. Ahnliche Beobachtungen lassen sich in anderen Bewässerungsregionen machen, etwa in dem zusammenhängenden Gürtel am Unterlauf des Rio Yaqui und des Rio Mayo zwischen Ciudad Obregön und Navajoa im Süden des Bundesstaates Sonora, wo heftige Staubstürme vor allem vor lokalen Wärmegewittern entstehen. Schlagen die Kontamination des Bodens, klimatische Austrocknung und äolische Verlagerung von Feinmaterial aus ökologischer Sicht als negative Begleiterscheinungen des großflächigen Baumwoll- und Zuckerrohranbaus zu Buche, so sprechen auch ökonomische Gesichtspunkte gegen die Ausweitung dieser cash crop-Kulturen. In beiden Fällen handelt es sich um Produkte, bei denen die Weltmarktpreise seit vielen Jahren von wenigen multinationalen Konzernen niedriggehalten werden bzw. eingefroren sind. Für Mexiko und die zentralamerikanischen Länder ergibt sich demnach ohne Zwang kein Grund, diesen Sektor weiter auszubauen.

Stellenwert der ökologischen Problematik im 'Teufebkreis der Armut' Im Vergleich mit den Tropen Afrikas und Asiens liegt in Lateinamerika der relative Anteil an cash crop-Flächen wesentlich höher. Dies betrifft in erster Linie die Anbaufrüchte, für die offene Kulturen mit langer Trockenbrache bezeichnend sind. Aber auch in den Kaffeeplantagen ist eine starke Auflichtung der Bestände durch die Umstellung auf Reihenpflanzungen festzustellen. 97

Michael Richter

Minderung des Agrarpotentials

Abb. 11: Erweitertes Schema des Teufelskreises der Armut unter Einbeziehung der ökologischen Einflüsse durch cash crops (in Anlehnung an F. Nuscheier, dort Abb. 12).

Die Öffnung der Kulturflächen gehört zum Paket neuer Agrartechnologien, das im Rahmen der 'Grünen Revolution' für die Subtropen und Tropen konzipiert wurde. Zumindest in den humiden bis semihumiden Tropen sind die Ergebnisse des modernen Technofarming jedoch hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Dies betrifft nicht nur die Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Weizen, Mais und Reis sondern auch exportorientierte cash cropKulturen. Bedenkliche Auswirkungen gehen dabei in erster Linie vom hohen Kunstdünger- und Pestizid-Input, von der Anfälligkeit von Hochleistungs98

Die ökologische Problematik exportorientierter cash crops Sorten in Monokulturen und der intensiven Mechanisierung bei der Bodenbearbeitung aus. Im Falle des Baumwoll-, Zuckerrohr- und Sojaanbaus sind diese Methoden einer Produktionsumstellung mit der temporären Öffnung geschlossener Agrarflächen, im Falle der Kaifeepflanzungen mit einer permanenten Auflichtung der Bestände verbunden. Beide Situationen führen zu nachteiligen ökologischen Effekten. Hierzu zählen die erhöhte Auswaschungsrate von Nährstoffen und die zumindest vorübergehende Kontamination des Bodens durch Pestizide, die lokale Aufheizung der bodennächsten Luftschicht und bei offenen cash crops auch der unteren Atmosphäre sowie die verstärkte Bodenerosion. Gerade von diesem Punkt geht ein erhebliches Gefahrenpotential für die langfristige Produktionsentwicklung in den betroffenen Ländern aus. In einem erweiterten Schema des 'Teufelskreises der Armut' muß für Zentralamerika und Mexiko die Ausweitung der cash cro/j-Flächen mit ihren ökologischen Auswirkungen als Faktor für vorhandene und mögliche Spannungen einbezogen werden. Auch hierbei ist fiir die behandelten Länder eine andere Situation zugrunde zu legen als für den Großteil der Nationen Afrikas und Asiens. Auf der mittelamerikanischen Landbrtlcke handelt es sich mit Ausnahme von Honduras um Staaten, die bis vor einem Jahrzehnt zur Gruppe der Entwicklungsländer mit günstigen Änderungsvoraussetzungen bzw. zu den Schwellenländern zählten. Nunmehr stellt sich jedoch mit Ausnahme von Nikaragua eine Disparitätenverschärfung zwischen den bestehenden sozioökonomischen Strukturen ein, die sich mittelfristig eher ausweiten dürfte. Diese Situation ist insofern eng an die USA gebunden, als deren Einflußnahme auf die Regierungen der lateinamerikanischen Länder wesentlich massiver ist als in Afrika und (nach den Vietnamerfahrungen) in Asien.

Anmerkungen 'Es muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden, daß auch von der food crop-Produktion eine starke ökologische Beeinträchtigung ausgehen kann, insbesondere im Rahmen des verbreiteten Aiifc>a-Systems (Richter, 1986, 1987).

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101

Friedrich W. Horlacher DAS AMERIKANISCHE ENGLISCH UND DAS MEXIKANISCHE SPANISCH: SPRACHLICHE LEHNBEZIEHUNGEN IM 19. JAHRHUNDERT - STAND UND PROBLEME DER FORSCHUNG

1.

Der Begriff Lehnbeziehungen impliziert den Transfer sprachlicher Lehnformen in beide Richtungen des Kontaktes zwischen zwei Sprachen. In der vorliegenden Arbeit geht es jedoch einzig um die Beeinflussung des amerikanischen Englisch (AE) durch das mexikanische Spanisch (Span.). Unberücksichtigt bleiben die Einflüsse des AE auf eine ganze Reihe von Varietäten des Spanischen, mit denen ein Kontaktverhältnis besteht. Ausgeklammert wird auch das umfangreiche Gebiet der Ortsnamen, obwohl eine kulturhistorisch orientierte Interamerikanistik vermutlich gerade von der Erforschung spanischer Ortsnamen auf US-amerikanischem Boden Interessantes - wenn nicht Spektakuläres - erwarten darf. Neben dieser sachlichen Eingrenzung des Themas erscheint eine zeitliche zweckmäßig: Albert H. Marckwardts auflagenstarkes American English (1958, überarbeitete Fassung 1980) enthält eine Liste von rund 80 Wörtern spanischer Herkunft, von denen der Verfasser annimmt, daß sie "still common in American English" seien (Marckwardt, 1980, 47), daß sie also zum individuellen Lexikon der meisten Amerikaner zählten. Es handelt sich hierbei ausschließlich um Grundformen. Die breite Palette von Ableitungen, die sich daraus entwickelt hat, ist in seiner Zahl nicht enthalten.1 Nur wenige der von Marckwardt zusammengetragenen Lehnwörter sind vor 1800 belegt. Dazu gehören adobe (1748) und coyote. Letzteres ist ursprünglich ein Nahuatl Wort, das 1759 erstmals in einem englischsprachigen Text erscheint, nämlich in Miguel Venegas' aus dem Spanischen übersetzter 103

Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch Natural and Civil History of California. Aber auch für das späte 19. und das gesamte 20. Jahrhundert läßt sich nur eine relativ kleine Zahl von Entlehnungen nachweisen. Zu ihnen zählen das Verb vamoose (1868) und das Nomen wrangler (1892), Wörter aus dem Ranching-Milieu. Demgegenüber liegen die Erstbelege von mindestens zwei Dritteln der Beispiele Marckwardts zwischen 1803 und 1853, in jener Zeitspanne also, die gekennzeichnet ist 1. durch den Louisiana Purchase 1803, durch den Französisch-Louisiana zwischen 1762 und 1800 bekanntlich unter spanischer Verwaltung - in US-amerikanischen Besitz überging; 2. durch die mexikanische Revolution 1821, die eine gewisse Öffnung der nördlichsten Provinzen (New Mexiko und Texas) zu den Vereinigten Staaten hin brachte und so die Voraussetzungen für den von Missouri ausgehenden Santa Fe-Handel schuf; 3. durch die Unabhängigkeitserklärung der seit 1821 von Anglos bevölkerten Provinz Texas von Mexiko und die Ausrufung der Republik 1835; 4. durch die Aufnahme von Texas als Bundesstaat in die Vereinigten Staaten 1845; 5. durch den amerikanisch-mexikanischen Krieg 1846-48 und die Annexion von Neu Mexiko durch die Vereinigten Staaten, und schließlich 6. durch den Gadsden Purchase 1853, mit dem der Grenzverlauf zwischen Mexiko und Neu Mexiko bzw. Arizona im Sinne der Amerikaner reguliert wurde. Die Lehnbeziehungen zwischen AE und Span, stellen sich uns demnach überwiegend als unmittelbare Konsequenz und als Spiegel bedeutsamer historischer Veränderungen innerhalb eines definierbaren zeitlichen Rahmens dar. Eine Untersuchung des spanischen Einflusses auf die Sprache der Amerikaner wird sich sinnvollerweise zunächst an diesen Rahmen halten.

104

Friedrich Horlacher

2.

In seinem 34 Seiten umfassenden Forschungsbericht "Spanish in North America" (1973), der Teil einer großangelegten sprachwissenschaftlichen Bestandsaufnahme in Nordamerika ist, handelt Jerry R. Craddock den Einfluß des Spanischen auf das AE in 24 Zeilen ab. Der Bericht besteht an dieser Stelle aus einem Hinweis auf H.W. Bentleys 1932 erschienenes Dictionary of Spanish Terms in English und aus der Feststellung, daß mit Mathews' A Dictionary of Americanisms on Historical Principles (DA, 1951) "scholars have had an excellent means to assess the lexical impact of USSpanish2 on American English" (Craddock, 487).

Dem ist aus heutiger Sicht hinzuzufügen, daß sich die Forschungsbedingungen seit Erscheinen der vier Ergänzungsbände zum Oxford English Dictionary (OED, 1972 ff.) sogar noch verbessert haben, weil aufgrund neuer Quellenfunde und neuer Erkenntnisse hinsichtlich der regionalen und sozialen Distribution von Wörtern so manche Wortgeschichte eine Ergänzung und/oder Korrektur erfahren hat. Von großer Bedeutung für die Forschung, gerade was die Verteilung von Wörtern im amerikanischen Sprachraum betrifft, verspricht auch das im Entstehen begriffene Dictionary of American Regional English (DARE) zu werden, das auf sechs Bände angelegt ist, von dem aber erst Band I (Buchstaben A-C) vorliegt und Band II 1990 erscheinen soll. Craddock schließt seine Ausführungen zum Einfluß des Spanischen auf das AE mit einer Einschätzung, die angesichts des gegenwärtigen Kenntnisstandes allenfalls spekulativen Charakter hat: The vast majority of such loanwords are doubtless unassimilated as the use of italics, quotation marks, and capitalization in the Dictionary of Americanisms' citations make abundantly clear, but a hard core have become part of the native English parlance. (Craddock, 487) 105

Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch

Letzteres sieht er bewiesen durch Substantive wie buckeroo,

hoosegow

und durch das Verb sawy. Die Pauschalität, mit der Craddock eine Reihe schwieriger Aspekte sprachlicher Interferenz abhandelt, offenbart ein Problembewußtsein, das möglicherweise eine Erklärung liefert für die Vernachlässigung des spanischen Einflusses auf das AE durch die Forschung. Dieses basiert auf der Annahme, daß Assimilationsprozesse desto komplexer sind, je mehr sich die in einer Kontaktsituation befindlichen sprachlichen Systeme voneinander unterscheiden. Zur Illustration sei auf die offensichtlich vielfaltigen phonologischen und morphologischen Substitutionen verwiesen, durch die aus dem von Captain John Smith erstmals

1608 aufgezeichneten indianischen

*raugroughcums AE raccoon entsteht. Das hier wirksam gewordene Gesetz gilt natürlich auch in seiner Umkehrung: je verwandter die beiden Kontaktsprachen, desto unerheblicher die Interferenzen. Da das Spanische und das Englische als sprachliche Systeme so inkompatibel ja nicht sind, stehe alles, was es zum Thema Einflüsse zu wissen gäbe, im historischen Wörterbuch. Als Beweis mag span. rancho dienen, das zu AE ranch wird: a) durch Anhebung des offenen spanischen Mittelzungenvokals [«] zum halboffenen englischen Vorderzungenvokal [«]; b) durch morphologische Anpassung, d.h. durch Abstoß des das grammatische Geschlecht markierenden -o, da es im Englischen geschlechtsmarkierende Morpheme seit mittelenglischer Zeit nicht mehr gibt. Daß der Assimilationsprozeß auch Konsequenzen für die Qualität des anlautenden Konsonanten hatte, wird oft nicht einmal zur Kenntnis genommen. Tatsächlich sind sprachliche Entlehnungs- und Eingliederungsvorgänge durch lexikographische Dokumentation allein weder analysiert noch beschrieben und schon gar nicht bewertet.

3.

Natürlich soll hier nicht bestritten werden, daß auf der Grundlage von DA und OED wesentliche Aussagen entstehungs-, kontakt-, form- und bedeu106

Friedrich Horlacher tungsgeschichtlicher Art gemacht, daß grammatikalische und semantische Klassifizierungen vorgenommen und quantitative Feststellungen zum amerikanisch-spanischen Sprachkontakt getroffen werden können. So ist die Zahl spanischer Lehnformen im AE deutlich höher als die Zahl der Entlehnungen aus den wichtigsten anderen Kontaktsprachen: indianische Sprachen, Holländisch, Französisch, Deutsch, die Sprachen der Schwarzen, etc. Dies hängt damit zusammen, daß die Amerikaner im Südwesten auf eine gewachsene spanische Kolonialkultur trafen, die ihren eigenen way oflife, ihre eigenen Traditionen sowie weltlichen und religiösen Institutionen entwickelt hatte und sich als äußerst resistent gegen Amerikanisierungsbestrebungen erwies. Bei Lehnwörtern wie coyote, mesquite, tamale, allesamt Nahuatl-Wörter, spielte das Spanische allerdings nur eine Mittlerrolle. Entlehnt wurden in erster Linie Nomina, die, je nach Grad ihrer Naturalisierung, dann auch abgeleitete Formen bilden können (siehe z.B. die Genese der Verben corral, lasso). Dies entspricht der Norm, da die Übernahme von Benennungen für Neues, Fremdartiges immer die erste Phase eines Sprachkontaktes darstellt. Verben oder andere Wortklassen bzw. Lexeme wurden primär kaum entlehnt.3 Einzelne Nomina sind das Produkt von Volksetymologie. So entstand AE lariat (1832) aus span. la reata, wobei offenbar nicht erkannt wurde, daß es sich bei dem vermeintlichen Etymon in Wirklichkeit um eine syntaktische Verbindung von bestimmtem Artikel und Substantiv handelte. Die Streuung der Sachgebiete, denen die aus dem Spanischen entlehnten Nomina zuzuordnen sind, ist breiter als bei anderen AE Sprachkontakten. Erwartungsgemäß bilden Pflanzen- und Tiemamen die größte Gruppe (armadillo, bronco, mesquite, mustang, yucca, etc.). Ferner wurden Wörter übernommen u.a. aus den Bereichen Hacienda (chaparral, corral, lasso, ranch, rodeo, etc.), Nahrungs- und Genußmittel (chile,

lariat, tamale,

tequila, tortilla, etc.), Kleidung (chaps, poncho, sombrero, etc.), Bauwesen (adobe, patio, plaza, pueblo,

etc.), Goldsuche (bonanza, placer,

etc.),

Rechtswesen (calaboose, desperado, hoosegow, etc.) sowie Topographie und Klima (arroyo, canyon, mesa, tornado, etc.).

107

Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch

4.

Über solche Interpretationssätze kommen wir mit Hilfe der verfügbaren lexikographischen Mittel freilich kaum hinaus. Spätestens seit Uriel Weinreichs methodologisch wegweisender Arbeit über die Wechselbeziehungen zwischen Romantsch und Schwyzerdütsch (1953) sowie Galinskys und Carstensens Untersuchungen zum Einfluß des AE auf die deutsche Gegenwartssprache wissen wir um die Vielschichtigkeit kontaktbedingter sprachlicher Interferenz. Wörterbücher können - wesensbedingt - dieser Vielschichtigkeit in der Regel nicht gerecht werden. Das gilt auch für so hervorragende Beispiele moderner Lexikographie wie sie DA und OED darstellen. Fast in jedem lexikalischen Einzelfall bleiben Fragen der Motivation für die Entlehnung, der phonologischen und morphologischen Assimilation, der Rezeption, der geographischen und sozialen Distribution sowie des stilistischen Stellenwertes einer gegebenen Lehnform unbeantwortet. Im folgenden soll dies anhand einiger mehr oder minder wahllos herausgegriffener Hispanismen im AE verdeutlicht werden. 1. Zum Problem der Motivation Beispiel: ranch In aller Regel dient ein Lehnwort der Schließung einer lexikalischen Lücke in der empfangenden Sprache. Das Nomen ranch füllte eine solche Lücke, denn eine Bezeichnung für die kulturspezifische Institution der hacienda, deren Kennzeichen ein hohes Maß an gesellschaftlicher, ökonomischer und rechtlicher Autonomie war, stand im AE nicht zur Verfügung. Tatsache ist freilich, daß sich nicht hacienda als Lehnwort durchgesetzt hat, sondern ranch. Eine einfache Erklärung gibt es dafür nicht, zumal John Russell Bartlett, Jurist und Hobbyphilologe und in den frühen 1850er Jahren United States Commissioner an der amerikanisch-mexikanischen Grenze, rancho/ranch 108

Friedrich Horlacher noch 1884 wie folgt definiert: A rude hut of posts, covered with branches or thatch, where herdsmen or fann-laborers live or only lodge at night.4 (Bartlett, 1884) Im heutigen amerikanischen Sprachgebrauch verbindet sich mit ranch hauptsächlich die Vorstellung einer 'large farm with its buildings, lands, etc. for the raising of cattle/horses/sheep in great numbers' (Webster). Offenbar war die Befrachtung des Begriffs mit dem Wortinhalt von span. hacienda Teil des Einbürgerungsprozesses ins AE. Angesichts dieser Bedeutungsgeschichte erscheint die Bevorzugung von ranch (zugunsten von hacienda) als einigermaßen unmotiviert. Oder hatte die Wahl der Amerikaner lediglich etwas mit Kürze, Griffigkeit und geringer Assimilationsresistenz des Wortes zu tun? 2. Zur Assimilationsproblematik Beispiel: buckaroo 'cowboy* DA führt buckaroo [,bAk»'ru] auf span. vaquero zurück. Die Verwandtschaft scheint plausibel, denn span. v repräsentiert einen stimmhaften Labial, den Sprecher des Englischen als [v] oder [b] verstehen können. Die Schreibung b, wie überhaupt die Schreibung buck, stellt also den Versuch dar, spanische Laute mit Hilfe englischer Rechtschreibung wiederzugeben. Damit ist freilich nur die erste Hälfte des Wortes etymologisch erklärt. Was aber ist von der Verlagerung des Haupttons von der zweiten Silbe in span. vaquero auf die erste Silbe in AE buckaroo sowie die Entstehung eines Nebentones auf der letzten Silbe samt der daraus resultierenden Konsequenzen für die Qualität der Vokale zu halten? Unter dem Eindruck solcher Fragen unternahm Julian Mason 1960 den nicht sehr tauglichen Versuch, buckaroo aus Gullah buckra 'white man, master, boss' herzuleiten. Dies hat die etymologischen Ungereimtheiten eher vermehrt, zumal Schwarze im Königreich der Rinder und Cowboys zahlenmäßig und gesellschaftlich eine so untergeordnete Rolle spielten, daß sprachlicher Einfluß wenig plausibel erscheint. 109

Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch Des Rätsels Lösung scheint Frederick Cassidy 1978 in Form der mehrfach belegten Variante buckayro (1889, 1904, 1910) gefunden zu haben. Die Schreibung -ayro deutet darauf hin, daß das amerikanische Lehnwort bis an die Jahrhundertwende - wie span. vaquero - mit Hauptton auf der zweiten Silbe gesprochen wurde. Die Akzentverschiebung wäre somit eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Möglicherweise hat sie sich daraus ergeben, daß buckvolksetymologisch mit engl, buck 'Bock, Rammler' seit dem 14. Jahrhundert auch auf besonders männliche Männer bezogen - in Verbindung gebracht, abgespalten und mit dem Suffix -arool-eroo [o' ru] gekoppelt wurde. Da -aroo eine ironisierende Funktion hat und personenbezogene Slangsubstantive bildet, die in witzelnder, frotzelnder Rede Verwendung finden, verlor das Wort mit dem Wandel von buckayro zu buckaroo an Status. 5 Dies konnte ohne Hinterlassimg einer lexikalischen Lücke geschehen, da im allgemeinen amerikanischen Sprachgebrauch das honorige buckayro längst vom einheimischen cowboy (1866) verdrängt worden war. 3. Zum Problem der Rezeption Beispiel: alcalde In DA findet sich alcalde mit der regional-dialektalen Markierung S. W. [ = Southwest], Der Definition 'an administrative officer, as mayor, judge, or justice of peace' ist der modifizierende Hinweis "[in] regions of former Spanish influence" zugefügt. Die Dokumentation

- mit Belegen aus den

Jahren 1803, 1892 und 1948 - suggeriert Lückenlosigkeit und ist geeignet, das Wort als current Southwestern auszuweisen. Bei genauem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß der Beleg 1948 einem Historiker entnommen ist, der über das kalifornische Goldfieber Mitte des letzten Jahrhunderts berichtet. Zwar notiert DARE alcalde noch 1967 für Texas wenn auch mit der veränderten Bedeutung 'any important/self-important person' -, kommt aber doch zu der Wertung: somewhat old-fashfionedj.

Dies

deckt sich mit Bentley, Dictionary of Spanish Terms (1932), den die Herausgeber von DARE wie folgt zitieren:

110

Friedrich Horlacher Alcalde... was used throughout the Spanish territory of America and only recently has been replaced in parts of New Mexico. Ob das Wort im Südwesten der USA allerdings tatsächlich allgemeiner Sprachgebrauch war und, wenn ja, wann es aufhört, solcher zu sein,6 darüber lassen uns die Wörterbuchbelege weitgehend im unklaren. 4. Zur geographischen und sozialen Distribution von Lehnwörtern Beispiel: arroyo 'dry creek' DA weist arroyo dialektgeographisch als S. W. aus. DARE markiert mit chiefly SW, spezifiziert diese Zuordnung allerdings mit Hilfe einer nach Bundesstaaten gegliederten Karte. Im Lichte neuerer und neuster dialektologischer Erkenntnisse erscheinen Markierungen wie Southwestern, Western, etc., sofern diese keine weitere Differenzierung erfahren, als ein viel zu grober Raster, als daß man damit den tatsächlichen Distributionsverhältnissen einzelner sprachlicher Formen gerecht werden könnte. So wird niemand bestreiten, daß Texas zum Südwesten der USA zählt. Andererseits hat E. Bagby Atwood nachgewiesen, daß East Texas durch eine von der Nordostspitze des Staates auf Dallas-Fort Worth zulaufende und am Trinity River nach Süden bis zum Golf von Mexiko sich fortsetzende Dialektgrenze signifikant vom großen Rest des Staates getrennt ist (Atwood: Karte, 131). Dies hat siedlungsgeschichtlich-ökonomische Gründe: East Texas wurde auf der südlichen Migrationsroute von Farmern vorwiegend aus Georgia, Alabama, Mississippi und Louisiana besiedelt, so daß Southern dort zum dominanten Sprachtypus wurde. In das übrige Texas, dessen Ökonomie bis 1900 fast ausschließlich auf Rinderaufzucht beruhte (Atwood: Karte, 18), strömten Zuwanderer hauptsächlich über die mittlere Migrationsroute (Ohio Valley, Tennessee, Arkansas, Missouri) und aus Mexiko ein (Atwood: Karte, 9). Entsprechend herrscht hier der sogenannte Midland-Dialekt vor. Mit der Beibehaltung bzw. Übernahme der spanisch-kolonialen hacienda als Gesellschafts- und Wirtschaftsform konnte im texanischen cattle country darüber hinaus spanischer sprachlicher Einfluß besonders wirksam werden. 111

Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch Zwar haben ökonomische und damit gesellschaftliche Umschichtungen in unserem Jahrhundert (vgl. Atwood: Karte, 19) die Konturen der Dialektgrenze zu East Texas unscharf werden lassen. Dennoch muß man davon ausgehen, daß die Existenz dieser Grenze Auswirkungen auf die geographische und soziale Distribution u.a. auch von arroyo hatte bzw. hat. In der Tat ist nach Atwood der Begriff für East Texas nicht belegt (Karte, 145). DARE notiert ihn für Kalifornien, Arizona, Neu Mexiko, Colorado, Kansas sowie Teile von Texas, aber ebenfalls nicht für East Texas (vgl. DARE: Karte, 91). Das Beispiel zeigt, daß die dialektgeographischen Zuordnungen von DA der Modifikation bedürfen. Arroyo ist eines der wenigen Lehnwörter aus dem Spanischen, bei denen dies bereits möglich ist. Welche gesellschaftlichen Schichten oder Gruppen sich dieser Form bedienten oder bedienen, darüber gibt es bislang allenfalls Vermutungen. 5. Zum Stil wert von Lehnwörtern Beispiel: rancho/ranch Lehnwörter, sofern sie nicht eine lexikalische Lücke in der aufnehmenden Sprache schließen, rangieren nach Carstensen meistens an der unteren Grenze eines Wortfeldes. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an AE buckaroo oder an Job im Deutschen. Andererseits hat Galinsky am Beispiel von Amerikanismen in der deutschen Gegenwartssprache gezeigt, daß Lehnformen zu ganz bestimmten stilistischen Zwecken eingesetzt werden können. Sie können helfen, in einem Text das Lokalkolorit zu schaffen, das Schauplätzen, Geschehnissen und Akteuren Authentizität verleiht. Ferner können sie der Präzisierung oder absichtlichen Verschleierung von Sachverhalten dienen. Man wählt sie ihrer Kürze, metaphorischen Ausdruckskraft oder ihrer Tonqualität wegen, und schließlich finden sie auch Verwendung zur Variation des sprachlichen Ausdrucks. Diese Seite spanisch-amerikanischer Sprachkontakte ist noch gänzlich unerforscht. Wie wir gesehen haben, füllte ranch im AE eine lexikalische Lücke. Den Belegen entnehmen wir jedoch, daß in der Frühphase der Einbürgerung die Varianten rancho und ranch miteinander konkurrierten - im Tagebuch des 112

Friedrich Horlacher Henry Smith Turner, Captain der Army of the West im amerikanisch-mexikanischen Krieg, sogar in ein und demselben Eintrag (4. September 1846; Turner, 76). Haben wir es hier lediglich mit einer Inkonsequenz des Autors zu tun? Oder: Markiert Turners Tagebuch sprachgeschichtlich genau den Übergang von rancho zu rancKl Oder: Offenbaren sich an dieser Stelle verschiedene Wertigkeiten der beiden Varianten? Eine Antwort auf diese Fragen steht noch aus.

5. Wir können davon ausgehen, daß die Grundlagen für die Erforschung des spanischen Einflusses auf das AE vorhanden sind. Noch sind wir allerdings bei vielen Lehnformen weit davon entfernt, die kontaktsprachlichen Interferenzen, die ihre Gestalt, Bedeutung und ihren Status im AE bedingten, in vollem Umfange zu verstehen. Mit Hinweisen auf ihre Verwendung in den Quellen mit "italics", "quotation marks" oder "capitalization" werden bestehende Defizite nicht zu beheben sein. Dazu wird es ähnlicher Anstrengungen bedürfen wie bei buckaroo oder arroyo. Insbesondere wird man Phoneminventare der in Kontakt getretenen Sprachen und Dialekte erstellen müssen, um auf vergleichendem Wege die Regeln zu ermitteln, nach denen fremdartige Phonemstrukturen durch die entlehnende Sprache abgestoßen, durch einheimische substituiert oder bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst werden. Weinreich hat gezeigt, daß sprachliche Interferenzen nicht zuletzt auch von Faktoren bedingt sind, die außerhalb der gebenden und aufnehmenden Sprachstrukturen liegen. Dazu zählt er u.a. (Weinreich, 3 f.): 1. die Sprechfertigkeit eines Sprechers allgemein und seine Fähigkeit zwei Sprachen auseinanderzuhalten; 2. den Grad der Beherrschung der interferierenden Sprachen durch einen Sprecher; 3. die Art und Weise wie sprachliche Fertigkeiten erworben worden sind bzw. erworben werden; 113

Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch 4. individuelle oder stereotype Voreingenommenheiten gegen eine oder beide der in Kontakt gebrachten Sprachen; 5. relative Größe der in einer Kontaktsituation befindlichen Sprachgemeinschaften; 6. Urteile und Vorurteile gegenüber der Kultur der jeweils eigenen bzw. anderen Sprachgemeinschaft; und 7. individuelle und kollektive Einstellungen zum Problem der Sprachmischung. Die Wirkungen dieser und ähnlicher Faktoren auf den Prozeß der Eingliederung von Hispanismen in das AE sind noch nicht erforscht. Vor allem ihnen wird unsere Aufmerksamkeit zu gelten haben, d.h. man wird sich erneut mit den Quellen auseinandersetzen müssen, über die der sprachliche Import zwischen 1803 und 1853 hauptsächlich stattfand. Es ist zu erwarten, daß das Studium von Klassikern wie Josiah Greggs Commerce of the Prairies (1844), George Wilkins Kendalls Narrative of the First Texan Santa Fe Expedition (1844) und Frank S. Edwards A Campaign in New Mexico (1847) oder von Tageszeitungen wie der New Orleans Picayune eine Fülle neuer Erkenntnisse zum amerikanisch-spanischen Sprachkontakt liefern wird.

Anmerkungen 'DA registriert annähernd 60 Wörter, die allein aus oder mit dem Nomen ranch entstanden sind. Zu den am häufigsten gebrauchten zählen rancher sb., ranching attrib., ranch v. sowie die Komposita ranch hand, ranch house, cattle ranch, dude ranch, sheep ranch. J

Craddock verwendet USSpanish als Oberbogriff für "the chief varieties" des Spanischen in den USA. Zu ihnen zählt er als "koloniale" Varietät das Mexican-American Spanish (Craddoclc, 467 f.).

*Zu den wenigen Ausnahmen zählen die Verben savvy, vamoose und das Suffix -(t)eria , das durch Reinterpretation und Abspaltung aus span, cafeteria gewonnen wurde. Keine dieser Formen ist allerdings vor 1868 belegt. Das AE Veib mosey ist erstmals 1829 belegt. Ob es jedoch auf span, vamos zurückgeht, ist umstritten. 4

Diese Definition findet sich bereits in der mir ebenfalls zugänglichen Third Edition (1860) von

114

Friedrich Horlacher Bartletts Wörterbuch. Bei dieser Auflage handelte es sich - laut "Preface* zur vierten Auflage - um "a reprint of the second edition without alterations" (Bartlett, 1884, DI). Diese zweite Auflage war 1859 erschienen. Obwohl also zwischen Bartlett 4 und Bartlett 2 fast ein Vierteljahrhundert lag, sah sich der Autor zu keiner Änderung seiner Definition veranlaßt. Man muß annehmen, daß ein Bedeutungswandel noch nicht stattgefunden hatte. *In diesem Zusammenhang mag die Feststellung E.Bagby Atwoods von Bedeutung sein, daß buckaroo "has never caught on in Texas" (Atwood, S3). Es ist also nicht heimisch geworden im ursprünglichen, klassischen cattle country. DARE sagt Ober seine geographische Verteilung denn auch: chiefly West, esp. Pacific. 'Merkwürdigerweise wird alcalde in Atwoods Regional Vocabulary of Texas an keiner Stelle erwähnt.

115

Das amerikanische Englisch und das mexikanische Spanisch Literatur Atwood, E. Bagby. The Regional Vocabulary of Texas. Austin: University of Texas Press, 1975. Bartlett, John Russell. Dictionary of Americanisms: A Glossary of Words and Phrases Usually Regarded as Peculiar to the United States. Third Edition, Greatly Improved and Enlarged. Boston: Little, Brown and Company, 1860. —. Dictionary of Americanisms: A Glossary of Words and Phrases Usually Regarded as Peculiar to the United States. Fourth Edition, Greatly Improved and Enlarged. Boston: Little, Brown and Company, 1884. Carstensen, Broder und Hans Galinsky. Amerikanismen der deutschen Gegenwartssprache: Entlehnungsvorgänge und ihre stilistischen Aspekte. 3., verb. Aufl. mit umfassenden bibliographischen Nachträgen. Heidelberg: Carl Winter, 1975. Cassidy, Frederic G. "Another Look at Buckaroo". American Speech 53 (Spring 1978): 49-51. Craddock, Jerry R. "Spanish in North America". Current Trends in Linguistics. Bd. 10: Linguistics in North America. Hg. Thomas A. Sebeok. The Hague, Paris: Mouton, 1973. 467-501. DA = A Dictionary of Americanisms On Historical Principles. Hg. Mitford M. Mathews. 2 Bde. Chicago: University of Chicago Press, 1951. DARE = Dictionary of American Regional English. Hg. Frederic G. Cassidy. Bd. I. Cambridge, MA und London: The Belknap Press of Harvard University Press, 1985. Hill, A.A. "Buckaroo Once More". American Speech 54 (Summer 1979): 151-53. Marckwardt, Albert H. American English. New York: Oxford University Press, 1958. —. American English. 2. Aufl. Rev. J.L. Dillard. New York und Oxford: Oxford University Press, 1980. Mason, Julian. "The Etymology of 'Buckaroo'". American Speech XXXV (Feb. 1960): 51-55. OED = A Supplement to the Oxford English Dictionary. Hg. R.W. Burchfield. 4 Bde. Oxford: At the Clarendon Press, 1972 ff. 116

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Problems.

117

Hildegard Zeilinger SPRACHE UND IDENTITÄT DER MEXICAN AMERICANS

1. Einleitung Zur US-Bevölkerung zählen gegenwärtig etwa 15 Millionen Mexican Americans. 80% von ihnen leben in den Staaten Kalifornien, Colorado, Texas, New Mexico und Arizona. Bevölkerungswachstum und die legale und illegale Einwanderung aus Mexiko lassen die Zahl der Mexikaner in den USA anwachsen. Die politische Bedeutung dieser vormals zu Mexiko gehörenden Region wird daher in Zukunft noch zunehmen. Die jetzige Situation der Mexican Americans wurde grundlegend in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffen. Durch die Annexion von Texas (1845) und den Vertrag von Guadalupe Hidalgo (1848) verlor Mexiko einen Großteil seines Territoriums an die USA. Dadurch entstand ein besonderes Phänomen Gesamtamerikas. Die nördlich des Rio Grande lebenden Mexikaner wurden ungewollt zu US-Bürgern und gleichzeitig zu einer ethnischen Minderheit in den Vereinigten Staaten. Mit dem Wechsel der Staatsangehörigkeit setzte auch die Konfrontation mit einem politisch und wirtschaftlich sehr verschiedenen Kulturkreis ein. Aufgrund der Nähe Mexikos und der Einwanderung vieler Mexikaner in die USA hält diese Konfrontation nach wie vor an. In diesem sowohl von der mexikanischen wie angloamerikanischen Kultur beeinflußten Raum stellt sich für jeden im Südwesten geborenen und für jeden legal oder illegal eingewanderten Mexikaner das gleiche Problem: Wie findet er seine eigene Identität in einer Umgebung, die durch folgende Merkmale geprägt ist: - es gelten zwei unterschiedliche kulturelle Wertesysteme, - es werden zwei verschiedene Sprachen gesprochen, die von diesen Kulturen geprägt sind, - die Angloamerikaner erwarten von allen Fremden eine Assimilation in die US-Gesellschaft und Aufgabe ihrer ursprünglichen Kultur und 119

Hildegard Zeilinger - die Mexikaner treten gleichzeitig mit Loyalitätsforderungen an die Mexican Americans heran, um sie an ihre mexikanische Tradition zu erinnern.

2. Die Sprache der Mexican Americans a) Historischer Bezug Der Südwesten der USA war früher Teil von Mexiko. Im ersten Jahr der Unabhängigkeit Mexikos, 1821, erreichten die weißen angloamerikanischen Siedler bei der mexikanischen Regierung eine Kolonisationserlaubnis für das östliche Texas und drangen immer weiter nach Texas ein. Die dort ansässige mexikanische Bevölkerung war zahlenmäßig bald in der Minderheit. Interne politische Unstimmigkeiten machten es der neuen unabhängigen Regierung in Zentralmexiko unmöglich, die fernen Grenzgebiete im Norden wirklich zu kontrollieren, so daß diese Gebiete gezwungen waren, sich auf sich selbst zu verlassen. Durch die unabhängige Entwicklung Nordmexikos entwickelten sich enge wirtschaftliche Beziehungen zu den USA, und Texas trennte sich 1836 von Mexiko. 1845 wurde Texas von den USA annektiert. Das Ergebnis des darauffolgenden Mexikanisch-Amerikanischen Krieges war, daß Mexiko die Hälfte seines Staatsgebietes an die Nordamerikaner verlor und die dort lebenden Mexikaner US-Bürger winden. Damit war die Volksgruppe der Mexican Americans entstanden (der Alternativbegriff Chicanos hat inzwischen eher kulturpolitische Bedeutung). Im Vertrag von Guadalupe Hidalgo (1848) sicherten die USA den Mexican Americans zu, deren Freiheit, Eigentumsrechte, die freie Ausübung ihrer Religion und ihrer Sprache zu respektieren (Moquin, 241 f.). Die Angloamerikaner hielten sich jedoch nicht an diese Zusagen. Sie enteigneten die Mexikaner, nahmen ihnen ihre wirtschaftliche Macht und benutzten sie dann als billige Arbeitskräfte. Mit dem Entzug ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Basis begann die Diskriminierung der Mexican Americans in den USA. Der Bruch des Vertrages von Guadalupe Hidalgo war der erste Schritt zur Unterdrückung der mexikanischen Sprache und Identität. 120

Sprache und Identität der Mexican Americans Um ihrer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Diskriminierung entgegenzuwirken, bildeten die Mexican Americans verschiedene Organisationen mit dem Ziel, die Durchsetzung ihrer Interessen als ethnischer Minderheit und eine bessere politische Repräsentation in den USA zu bewirken. Dieser Kampf wurde verstärkt durch die in den 1960er Jahren entstandene ChicanoBewegung, die verstärkt für eine Identitätsfindung und die Anerkennung der mexikanisch-amerikanischen Kultur und Tradition sowie der spanischen Sprache in den USA eintritt.

b) Die spanische Sprache im Südwesten Während Mitte des 19. Jahrhunderts im Südwesten fast ausschließlich Spanisch gesprochen wurde, nimmt heute die Zahl derer, die nur Spanisch sprechen, immer mehr ab zugunsten einer größeren Zahl von Zweisprachigen, die Englisch und Spanisch sprechen. Hier ist zu bemerken, daß auf die indianische kulturelle Komponente im Südwesten in diesem Aufsatz nicht eingegangen wird. Aufgrund der geographischen Entfernungen entwickelte sich schon im 19. Jahrhundert neben dem Standard-Spanisch eine Vielzahl von spanischen Dialekten. Die Ähnlichkeit mit dem mexikanischen Spanisch haben alle Dialekte gemeinsam. Aufgrund lexikalischer, phonologischer und grammatikalischer Unterschiede teilt Cardenas (1 ff.) den Südwesten in vier sich überlappende Dialektzonen. Er unterscheidet "Texan Spanish", "New Mexican and Southern Coloradan Spanish", "Arizonan Spanish" und "Californian Spanish". Auffallend ist, daß diese Dialekte im Südwesten vor allem durch Unterschiede lexikalischer Art gekennzeichnet sind. Aufgrund der geographischen, sozialen und kulturellen Isolation der einzelnen Regionen nimmt man an, daß viele der Wörter, die heute in der Standardsprache nicht mehr in Gebrauch sind, schon von den ersten Siedlern eingeführt wurden. Ein Kennzeichen der spanischen Sprache im Südwesten sind die vielen Archaismen, also kastilische Wörter, die sonst nicht mehr verwendet werden, wie auch Regionalismen, deren Ursprung in nichtkastilianischen spanischen Dialekten liegt und die die 121

Hildegard Zeilinger Conquistadores in das Land gebracht haben oder die durch Kulturkontakt mit den Indianern entstanden (Espinosa, Jr., 13 ff.). Ein anderes Phänomen der spanischen Sprache im Südwesten sind Wortneuschöpfungen. So werden z.B. zwei sich ähnelnde Wörter miteinander verbunden ("blending") und daraus ein neues Wort geschaffen (z.B. ausplazeme und pesamo wird plazamo) oder ein bereits bestehendes Wort wird analog zu anderen Wörtern geändert, so wird z.B. impedimento zu impedimiento ("analogy", Rael, 19 ff.). Das historisch bedingte Verhältnis der Angloamerikaner zu den Mexikanern wirkte sich auf den Status der spanischen wie der englischen Sprache im Südwesten aus. Expansionsdrang und Superioritätsdenken der Nordamerikaner ließen ein gleichwertiges Nebeneinander der spanischen und englischen Sprache nicht zu. Eine "English only"-Politik bewirkte, daß bald nur noch das Englisch der dominierenden Angloamerikaner offizielle Sprache war. Spanisch wurde zur Sprache der Minderheit. Das Verdrängen der spanischen Sprache wirkte sich für Jugendliche, in deren Familien nur Spanisch gesprochen wurde, extrem nachteilig aus. Zur Einstufung der Schüler in verschiedenen Klassen wurden bis 1970 Intelligenztests durchgeführt, die in englischer Sprache verfaßt und an angloamerikanischen Mittelklassewerten orientiert und für Kinder anderer kultureller Herkunft völlig ungeeignet waren (Kagan/Buriel, 283). Die schlechten Ergebnisse, die die Chicano-Kinder aufgrund der Sprachunterschiede bei diesen standardisierten IQ-Tests erzielten, bildeten die Grundlage für ihre Segregation in der Schule (US Bureau of the Census, 149) durch die Einrichtung von "Mexican Rooms" oder "Special Education Classes", mit denen man angeblich für einen intensiveren Englischunterricht sorgen wollte (Grebler, 156). Dokumentarischen Beweis für die Segregation und Diskriminierung der Mexican Americans im US-Schulwesen brachte der erste Bericht der Commission on Civil Rights über "Ethnic Isolation of Mexican Americans in Public Schools of the Southwest" (Navarro Uranga, 162 ff.). Die Unterdrückung der Muttersprache und die Trennung der Mexican Americans von anderen Schülern aufgrund der Sprachunterschiede hat nicht nur zu schlechten Leistungen und hohen Austrittszahlen aus der Schule geführt, sondern ließ 122

Sprache und Identität der Mexican Americans bei vielen Chicanos eine negative Selbsteinschätzung und Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den Angloamerikanern entstehen (Department of Rural Education, 105 ff.). Die Politik der Angloamerikaner hat nicht nur zu Veränderungen der Sprache geführt, sondern auch zu einer Änderung ihres Prestiges. Mit dem Verbot der spanischen Sprache in den Schulen wurde Englisch die formale, höherwertige Sprache und Spanisch die informale 'private' Sprache der Mexican Americans, die innerhalb der Familie und im Freundeskreis gesprochen wurde. Da die kulturellen Inhalte, mit denen die spanische Sprache verbunden ist, in der angloamerikanischen Gesellschaft wenig gelten, muß der Mexican American folglich die von Materialismus geprägte Terminologie der Anglos beherrschen, wenn er in der Anglogesellschaft aufsteigen will (Weinreich, 78).

c) Der Einfluß der englischen auf die spanische Sprache Ein wesentliches Kennzeichen des Spanisch der Mexican Americans ist die Beeinflussung durch die englische Sprache. Im Gegensatz zu anderen spanischsprachigen Regionen gelangen Anglizismen im Südwesten in erster Linie über die gesprochene Sprache in das Spanische. Die meisten Übernahmen aus dem Englischen fmden auf lexikalischer Ebene, also durch Übernahme einzelner englischer Wörter (pochismos) statt. Es lassen sich vier Übernahmen unterscheiden (Espinoza Jr., 13 ff.): Lehnübersetzungen (span. escuela alta - engl, high school), phonetische Übernahmen (span. balun - engl, balloon, span. champion - engl, champion), Teilentlehnungen, bei denen morphologische Elemente hinzugefügt werden (engl, -er, span. -or, -a), und Übernahmen von ganzen Wörtern in die andere Sprache ("borrowings"). Interferenzen, also Übernahmen von Elementen der einen in die andere Sprache, sind auch auf dem Gebiet der Syntax möglich (span. fueron puestos libres - engl, they were set free), das heißt, es wird 'in Englisch gedacht' aber es werden spanische Wörter verwendet. Bei einem grammatischen Transfer 123

Hildegard Zeilinger (mi tio 's cama) werden also Regeln der englischen Grammatik beim Sprechen der spanischen Sprache verwendet. Die Gründe für die Übernahme von englischen Begriffen liegen auf der Hand: Der Kontakt zu Angloamerikanern, die Vermittlung durch zweisprachige Mexican Americans, die zwangsweise Einführung von Englisch in den Schulen, die Bedeutung der englischen als der offiziellen Sprache in den USA, sowie das Prestige der englischen Sprache in den Augen der Chicanos als Voraussetzung für einen sozialen Aufstieg in der angloamerikanischen Gesellschaft. Das heißt, auch die Einstellung einer Person zur anderen Kultur und das Verhältnis der beiden Kulturen zueinander wirken sich darauf aus, wieviel von der anderen Sprache übernommen wird (Weinreich, 1 f.). Durch das Zusammentreffen der Angloamerikaner mit den Mexikanern haben sich verschiedene Sprachformen entwickelt. Auf zwei typische Sprachformen der Mexican Americans in den USA soll kurz eingegangen werden. Ein Phänomen der Zweisprachigen im Südwesten ist das code switching, ein schnelles Wechseln von der englischen in die spanische Sprache und umgekehrt: "No s6, porque I never used it", "Como dos afios, I guess", "Mi esposa es pura housewife" usw. (Redlinger, 47 f.). Der Kodewechsel entsteht nicht aus mangelhaften Sprachkenntnissen in einer Sprache. Der Wechsel von einer Sprache in die andere hat in erster Linie stilistische Gründe, code switching wird zur bewußten Betonung und Dramatisierung durch die Sprache eingesetzt, wobei der Wechsel vom Sprachkönnen des Gesprächspartners beeinflußt wird (Valdes, 84). Da soziale und psychologische Faktoren eine wesentliche Rolle für einen Wechsel in eine andere Sprache spielen, ist code switching die besondere Fähigkeit einiger Zweisprachiger, sich bestimmten soziokulturellen Situationen des Sprachkontakts anzupassen (Pfaff/Chavez, 234 ff.). Seit den 1930er Jahren nahm die Diskriminierung der Mexican Americans durch die Angloamerikaner ständig zu. In El Paso bildeten sich Anfang der 1940er Jahre Pachuco-Gruppen, Gruppen jugendlicher Mexican Americans, die als Symbol der Einheit eine besondere Kleidung (Zoot Suits) trugen und einen für andere unverständlichen Spanisch-Englisch-Dialekt sprachen. Die Pachucos protestierten gegen die Diskriminierung der Mexican Americans, 124

Sprache und Identität der Mexican Americans wobei es häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Anglos kam. Die Spannung nahm zu, als nach einem spektakulären Mordfall 1943 die Polizei die Straßen durchstreifte und vermeintliche Zoot Suiters angriff. Die einseitige Berichterstattung in den Zeitungen trug dazu bei, daß sich allmählich ein Haß gegen alle Chicanos entwickelte und sie sich mehr und mehr ihrer Rolle als Minderheit in einer von den Angloamerikanern beherrschten Gesellschaft bewußt wurden (Forbes, 128 ff.). In den späten 1940er Jahren entstanden weitere Pachuco-Gmppea, deren Sprache sich von Region zu Region sehr stark unterscheidet und eine Art Geheimsprache der Gruppenmitglieder darstellt. (Voegelin/Schulz, 441 f.; Leal, 18 ff.). Das Vokabular von Pachuco setzt sich aus Elementen verschiedener Dialekte zusammen, aus hispanisierten englischen Wörtern und spanischen Wörtern, die ins Englische übersetzt wurden (z.B. Pachuco: "Neb pues sabe, carnal, me fue a una cantina, ve" - engl. "Well you know, pal, I went to a bar, see") (Barker, 186; Binder, 119 f.). Die Pachuco-Sprache ist ein Symbol des Protestes sowohl gegen die angloamerikanische, als auch gegen die mexikanisch-amerikanische Gesellschaft. Pachuco zu sprechen, bedeutet, seine Distanz zu anderen Gruppen auszudrücken, steht aber bei den Gruppenmitgliedern auch für Werte wie Kameradschaft und Ethnizität. Diese Sprache wird meist von jugendlichen Chicanos der Unterklasse verwendet, die dabei durch die ständige Einführung von neuen Wörtern den geheimen Charakter der Sprache erhalten (Barker, 190).

d) Linguistisches und soziales Verhalten im Südwesten Grundlage für die Darstellung der Sprach- und Identitätsprobleme der Mexican Americans soll die von Barker 1947 durchgeführte Untersuchung des Sprachgebrauchs der Mexican Americans in Tucson/Arizona sein. Aufgrund der verwendeten Sprachen und der Beziehung der Bevölkerung zur mexikanischen und angloamerikanischen Kultur wurden die dort lebenden Mexican Americans in verschiedene sozioökonomische Gruppen aufgeteilt (vgl. Abb.): 125

Hildegard

Zeilinger

SPRACHE UND I D E N T I T Ä T DER MEXICAN AMERICANS

"POCHIBS" Southern iriioM Dialect of Spanish

Standard Kuican Spanish + Sutatandard Spanish J F PG Sch

126

- Jugendlicher « Familie - Peer Group - Schule

Sprache und Identität der Mexican Americans - Die "Pochies" (gewöhnlich in den USA geboren) sind in allen, außer in familiären Beziehungen, auf die Anglokultur ausgerichtet. Sie bevorzugen Englisch und vermeiden es, mit Anglos spanisch zu sprechen. Viele sprechen "Pocho" (Englisch-Spanisch-Code), "Substandard English" oder einen "Southern Arizona Dialect" des Spanischen. - Die "Colonia Mexicana" (einschließlich vieler Immigranten) ist auf allen Gebieten auf die mexikanische Kultur orientiert. Auch in formalen Angelegenheiten sprechen sie "Standard Spanish" oder ein "Substandard English". - Die "Old Families" versuchen die Balance zwischen der angloamerikanischen und mexikanisch-amerikanischen Kultur zu halten. Sie sprechen "Standard Spanish", "Southern Arizona Dialect" und "Standard English" und haben zu keiner Gruppe eine feste Beziehung. - Die "Pachuco-Gruppe" weist die kulturellen Normen der angloamerikanischen und der mexikanisch-amerikanischen Gruppe zurück und versucht, eine eigene Kultur zu entwickeln. Sie spricht "Pachuco", "Substandard English" und einen "Southern Arizona Dialect" des Spanischen (Barker, 177 f.). Daß die Mexican Americans keineswegs eine homogene Gruppe sind, sieht man an diesem Beispiel. Die Aufteilung in Untergruppen zeigt ansatzweise die unterschiedlichen Ziele, sowie die Sprachenvielfalt innerhalb der mexikanisch-amerikanischen Bevölkerung. Die Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen sind dabei fließend. An der Häufigkeit, mit der die englische Sprache verwendet wird, läßt sich zudem der Grad der "linguistischen Akkulturation" an die Anglokultur ablesen (Dozier, 394).

3. Sprache und Identität a) Problematik Besondere Probleme ergeben sich bei der Identitätsfindung der ChicanoKinder und -Jugendlichen, da sie sich in einer Gesellschaft mit zwei gegen127

Hildegard Zeilinger sätzlichen Wertesystemen zurechtfinden müssen, in denen auch noch verschiedene Sprachen gesprochen werden (vgl. Abb.). Die Identitätsfindung der jungen Chícanos wird durch die Loyalitätsforderungen der Familie, der Schule und der Peer Group erschwert. Wenn die Familie Spanisch spricht und Wert auf eine Vermittlung von mexikanischer Kultur und Geschichte legt, fordert sie dementsprechend eine Besinnimg des Jugendlichen auf seine mexikanische Herkunft. In der Schule werden wiederum angloamerikanische Werte vermittelt, mit dem Ziel, Mitglieder anderer kultureller Gruppen an die US-Gesellschaft zu akkulturieren oder sie zu assimilieren. Schulischen Erfolg hat derjenige, der sich am besten an das angloamerikanische System anpaßt. Die dritte Gruppe, die Loyalitätsforderungen an den Jugendlichen stellt, ist die Peer Group, seine Freunde, die eine Anpassung an ihre Sprache und Normen fordern. Deren Ziele können wiederum völlig konträr zu denen der anderen Gruppen sein, wenn sie z.B. für mehr kulturelle Eigenständigkeit der Mexican Americans (Chicanismo) eintreten. Der jugendliche Mexican American steht damit bei der Suche nach einer Identität nicht nur zwischen zwei Kulturen, sondern auch noch zwischen verschiedenen Gruppen, die ein bestimmtes Verhalten von ihm erwarten. In einem zweisprachigen-bikulturellen Raum wie dem Südwesten der USA erfüllt die Sprache bei der Identitätsfindung eine besondere Rolle. Sie ist Kommunikationsmittel, sie ist Symbol der sozialen Identität, und sie ist Reservoir kultureller Wissensbestände (Gumperz, 91).

b) Die Sprache als Kommunikationsmittel Die Sprache hat einen sozialen Charakter. Sie macht es den Individuen möglich, in einer Gesellschaft zu leben und ihre Aktivitäten zu koordinieren (Abercrombie, 260). Bei den Mexican Americans ist die englische Sprache das Kommunikationsmittel, um Beziehungen zu den Angloamerikanern herzustellen. Die spanische Sprache ist das Kommunikationsmittel für die spanischsprachigen Mexican Americans. Spanisch wird vor allem in der Familie 128

Sprache und Identität der Mexican Americans und unter Freunden gesprochen, sehr spontan und flexibel angewandt und dient dazu, /n-Croi^>-Beziehungen herzustellen, wie zum Beispiel beim Einkaufen, in der Kirche, bei mexikanischen Festen, usw. Eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Sprache, Kultur und sozialen Faktoren bei Studenten in El Paso ergab folgendes: Ein unter vielen jungen Mexican Americans bestehendes Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Angloamerikanern führt dazu, daß in öffentlichen Bereichen kaum Spanisch verwendet wird. Gleichzeitig schätzen viele ihre Sprachfähigkeit in Englisch wesentlich geringer ein als die Testergebnisse es verdienen (OrnsteinGalicia/Goodman, 210 ff.).

c) Die Sprache als externes Identitätskriterium In einer mehrsprachigen Region wirkt die Sprache auch als externes Identitätskriterium. Mit ihr wird die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe demonstriert. Die Position des einzelnen zwischen zwei Kulturen stellt Chester auf einem "Kontinuum der Akkulturation" dar (40 f.). Darauf wird jede Sprache und Kultur, die miteinander in Kontakt stehen, zusammen mit einer Reihe von Punkten dargestellt, die den Übergang vom einen zum anderen Zustand markieren. Auf diesem Kontinuum läßt sich dann der Grad der Anpassung an eine bestimmte Kultur darstellen. Die Grenzen dieses Modells liegen darin, daß sich die verwendete Alltagssprache nicht ohne weiteres in ein festes Raster einordnen läßt. Die verschiedenen Ausdrücke, die verwendet werden, um Leute zu kennzeichnen, die Spanisch, Englisch oder beide Sprachen sprechen, sind mit Konnotationen verbunden, die nicht nur für jede Gruppe anders sind, sondern auch für dieselbe Person in verschiedenen Situationen anders sein können. Diese Konnotationen ändern sich zudem ständig. Bei einer Untersuchung in El Paso/Texas zeigte sich, daß die Begriffe "Chicano", "Pachuco" und "Pocho" von /n-GroMp-Mitgliedem verwendet werden, um damit anzugeben, wieweit sich ein Mitglied der Gruppe an die

129

Hildegard Zeilinger angloamerikanische Gesellschaft akkulturiert hat. Mitglieder der Out-Group benutzten diese Begriffe nicht oder kannten sie häufig gar nicht. Sie nannten die Gruppenmitglieder "Spanish", "Spanish-Speaking", "Spanish-American", "Mexican", "Greasers", "Wetbacks", etc. Wenn die Mitglieder der In-Group mit Angloamerikanern über sich selbst sprachen, verwendeten sie in der Regel Begriffe, die bei ihren Gesprächspartnern ein höheres Ansehen genossen und korrigierten sie sogar, indem sie zum Beispiel betonten, daß sie 'Spanish-American" und nicht "Mexican" seien. Innerhalb ihrer Gruppe bezeichneten sie sich jedoch als "Chicano" oder "Mexicano" (Chester, 41). Der Akkulturationsgrad an die angloamerikanische Kultur wie die Zugehörigkeit eines Mexican American zu einer bestimmten Gruppe kann also von außen an der Sprache abgelesen werden. Andererseits kann die bewußte Wahl einer bestimmten Sprache demonstrieren, ob man sich mehr der mexikanischen oder mehr der angloamerikanischen Kultur verbunden fühlt (Weinreich, 59 f., 99).

d) Sprache als internes Identitätskriterium Auch innerhalb der mexikanisch-amerikanischen Gruppe kommt der spanischen Sprache eine Rolle als Identitätskriterium zu. Spanisch zuhause mit den Eltern oder Verwandten zu sprechen, hat nur Auswirkungen innerhalb der Familienstruktur. Spanisch in der Öffentlichkeit zu sprechen, demonstriert jedoch einen bewußten Rückzug von der englischen Sprache und eine Weigerung, sich amerikanisieren zu lassen. Das heißt, die spanische Sprache wird für den Mexican American zu einem Zeichen ethnischer Loyalität. Er kann damit bewußt seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zeigen (Stoddard, 121). Genau hier ergibt sich das Problem der Jugendlichen bei der Identitätsfindung, wenn verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Erwartungen an sie herantreten. 130

Sprache und Identität der Mexican Americans Mit welchen Folgen muß der jugendliche Mexican American rechnen, wenn er sich für die englische Sprache entscheidet? Sicherlich führt es zu Reibungen innerhalb der eigenen Familie, wenn diese sich stark mit der mexikanischen Kultur verbunden fühlt. Gleichzeitig kann es zu Konflikten mit der Peer Group führen, die ihre eigene Sprache spricht und eine andere kulturelle Orientierung von dem Jugendlichen erwartet. Für den Mexican American besteht somit die Gefahr, daß er in einen Zustand kultureller Orientierungslosigkeit gerät und sich von beiden Kulturen vollständig zurückzieht.

e) Sprache zur Reflexion kultureller Werte Die Verwendung verschiedener Sprachen beruht auf unterschiedlichen kulturellen Erwartungen, die am Sprachgebrauch festgemacht sind. Diese unterschiedlichen Erwartungen und die daraus resultierende Fehlkommunikation lassen sich offensichtlich auf die ökonomischen und sozialen Interessen der betreffenden Individuen zurückführen. Es ist daher notwendig, die symbolischen Konnotationen der Sprache zu untersuchen, die für die soziale Identität bestimmend sind (Gumperz, 99). Aufgrund der historischen Entwicklung ist Spanisch die traditionelle Sprache des Südwestens. Die Nähe Mexikos, die hohen Einwanderungszahlen, sowie die ethnische Konzentration der Mexican Americans in bestimmten Stadtteilen, sind Faktoren, die die Erhaltung der spanischen Sprache und der mexikanischen Kultur begünstigen. Ein Problem für die Jugendlichen sind die geteilten Loyalitäten oder vielmehr die geteilten Funktionen, die sich in der Wahl einer Sprache als Mutteroder Fremdsprache äußern. Im Falle der Mexican Americans wird Englisch das Symbol der angloamerikanischen und Spanisch das Symbol der mexikanischen Kultur (Voegelin, 412). Geht man von der Annahme aus, daß die Grenze einer Kultur durch die Sprachgrenze bestimmt wird (Fishman, 301), dann dienen alle Bestrebungen, der spanischen Sprache in den USA zu mehr Bedeutung zu verhelfen, auch dazu, die mexikanisch-amerikanische Kultur zu erhalten. 131

Hildegard Zeilinger Es ist ein Verdienst der C/ii'canö-Bewegung, daß die spanische Sprache zu einem Symbol für die Loyalität zur mexikanischen Abstammung wurde. Hier liegt aber auch das Problem bei der Identitätsfindung vieler Mexican Americans. Hinter der spanischen und englischen Sprache stehen zwei sich sehr stark unterscheidende Kulturen, mit gegensätzlichen Raum-Zeitvorstellungen und kulturellen Symbolen (Weinreich, 99). Dies führte bisher immer wieder zu groben Mißverständnissen zwischen den Angloamerikanern und den Mexikanern. Es sind daher Wege zu finden, die die dadurch entstandenen Vorurteile abbauen und zu einer größeren Offenheit dem anderen gegenüber führen.

4. Ergebnis In einem Lebensraum mit mehreren Kulturen und Sprachen hat die Sprache folgende Funktionen: - den Kontakt zur anderen Kultur aufzunehmen, - sich von der Gesellschaft, die der anderen Kultur angehört, abzugrenzen, - durch die Verwendung einer bestimmten Sprachform die Position innerhalb der eigenen kulturellen Gruppe anzugeben und - bestimmte kulturelle Werte durch die Sprache zu erhalten. Jede Sprache trägt durch die Geschichte und Kultur geprägte Inhalte in sich. Für den Mexican American bedeutet daher die Entscheidung für eine bestimmte Sprache und Kultur zugleich die Zurückweisung der anderen Sprache und Kultur. Der dadurch entstehende Identitätskonflikt wird dadurch erschwert, daß sowohl die Mexican Americans als auch die Angloamerikaner versuchen, ihn für ihre Kultur und Sprache zu gewinnen. Das Zusammenleben der Mexican Americans mit den Angloamerikanern kann sich in Zukunft auf dreierlei Weise darstellen (Fishman, 313): - durch die Koexistenz der englischen und spanischen Sprache und Kultur, - durch die Assimilation der Spanischsprechenden in die Anglokultur oder - durch eine Synthese der beiden Kulturen. 132

Sprache und Identität der Mexican Americans Über den Weg einer Synthese der Kulturen auf der Grundlage einer zweisprachigen-bikulturellen Erziehung, könnten die Mexican Americans möglicherweise eine neue, cross-cultural Identität finden. Voraussetzung dafür wäre, daß die Angloamerikaner ihre Assimilationsversuche aufgeben und sich statt dessen zu einem kulturellen Pluralismus mit allen Konsequenzen bekennen. Alle Anstrengungen in diese Richtung werden nur erfolgreich sein, wenn ein generelles Umdenken aller Beteiligten einsetzt. Beide Seiten müssen die jeweils andere Kultur als anders, aber gleichwertig anerkennen.

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Helmbrecht Breinig ZUR PROBLEMATIK DER VERMITTLUNG FREMDKULTURELLER PHÄNOMENE DURCH DIE LITERATUR: DAS MEXIKOBILD BEI AMERIKANISCHEN SCHRIFTSTELLERN And are these stars - the high plateau - the scents OfEden - and the dangerous tree - are these The landscape ofconfession - and ifconfession So absolution? aus: Hart Crane, "Purgatorio" Kultur definiert sich aus dem Gegensatz. Kultur im weitesten Sinne als "die ganze, Denken, Sprechen, Handeln, Machen umfassende Lebensform einer Person, einer Gruppe oder Gesellschaftsschicht, eines Volkes, einer Religion, einer Völker- und Staatengruppe" (Maurer, 827 f.) steht einerseits der Natur gegenüber - Kultur ist das, was nicht oder nicht mehr Natur ist. Andererseits wird Kultur in diesem umfassenden Sinn besonders in bezug auf technisch-industriell hochentwickelte Gesellschaften auch als 'Zivilisation' bezeichnet und dann der 'Kultur' im "Sinn von 'höherer Kultur': Kunst, Religion, Wissenschaft, Philosophie, Weltanschauung, Journalismus, Dauerkirmes" (ibid., 828) gegenübergestellt. In der letzgenannten, engeren Bedeutung, besonders aber in Bezug auf die Kunst, kann, so meine ich, Kultur auch als das Nachdenken einer Zivilisation über sich selbst und über das sie umgebende Andere1 verstanden werden, als Selbstgespräch einer Gesellschaft. Dieses Nachdenken geschieht nicht von ungefähr, denn Kultur kann, gleich auf welcher Abstraktionsebene, auch instrumental, also "als System von Schemata für die Lösung verschiedenartiger Probleme" (Isernhagen, 44) aufgefaßt werden. Eines dieser Probleme ist die Selbstdefinition. Dabei sind die Gegensatzpaare Kultur/Natur und Zivilisation/Kultur durch ein weiteres zu ergänzen: die eigene Kultur im Gegensatz zu den anderen. Kulturen bedürfen anderer Kulturen zur Definition ihrer selbst; wie bei Begriffen und Zei137

Helmbrecht Breinig chen oder auch beim Individuum ist die Existenz oder Annahme des NichtIdentischen Bestimmungsgrundlage. In besonderem Maße hat das Abgrenzungsbedürfnis der eigenen Kultur auch das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu Mexiko geprägt. Die Auseinandersetzung mit dem naheliegenden und dennoch ganz anderen Nachbarn hat modellhafte Züge.

1. Die Angloamerikaner brachten die Alteritätsvorstellungen des englischen Mutterlandes mit: anders waren zunächst die Gegner und Konkurrenten gerade auch in der Neuen Welt, also Franzosen und Spanier. Das schiere politisch-ökonomische Konkurrenzverhältnis reicht allerdings zur Erklärung nicht aus, warum es eher diese Völker waren, an denen man sein Selbstbild entwickelte - die Niederländer, Hauptkonkurrenten im 17. Jahrhundert, erwarben in englischen Augen nur schwache Gegenbildfunktionen. Ethnische Aspekte - Germanen gegen Romanen - und kulturelle Unterschiede - besonders die Opposition protestantisch-katholisch sowie Unterschiede der politischen Institutionen - waren mindestens ebenso wichtig. Die sehr viel ältere Tradition, dem Hell-Dunkel-Gegensatz moralische Dimensionen zuzusprechen, trug zur Etablierung eines Alteritätskomplexes bei, der folgende Komponenten besaß: dunkel, katholisch-antichristlich, unfrei und freiheitsbedrohend, ignorant und rückständig, unmoralisch, nicht vertrauenswürdig, ja, böse schlechthin (das Fortleben dieses Hetero-Stereotyps läßt sich noch Ende des 19. Jahrhunderts aus Mark Twains Äußerungen über die Franzosen ablesen). Die US-amerikanische Unabhängigkeit wurde zwar gegen England erkämpft, aber die Abgrenzung gegenüber dem Mutterland vollzog sich innerhalb der Bahnen des Generationenkonflikts: der junge Brother Jonathan sah sich als noch bessere Verkörperung angelsächsischer Tugenden, die der alte John Bull zu vergessen und zu unterdrücken drohte. Das amerikanische Sendungsbewußtsein ist somit die Fortschreibung des translatio imperii-Gedznkens. Wie man etwa aus den Arbeiten der großen amerikanischen Historiker 138

Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts, Prescott, Motley, Parkman und Bancroft, ablesen kann, dient dabei als Alteritätspol einerseits und zunächst die Alte Welt in einer Stufenfolge von immer älteren, immer rückständigeren, immer östlicher oder südlicher situierten Kulturen. Andererseits aber, und viel radikaler, gewinnen auch die Indianer diese Funktion, seien es die mexikanischen Hochkulturen, die Prescott in seiner History ofthe Conquest of Mexico (1843) beschreibt, seien es die angeblich primitiven Stämme auf dem Territorium der heutigen USA, in denen schon die puritanischen Siedler Verkörperungen des Teufels gesehen hatten. Sie waren das absolut Andere, wie es Tzvetan Todorov in Die Eroberung Amerikas: Das Problem des Anderen schildert. Für die Angloamerikaner vereinigten sich im Bild Mexikos also völlig erwartbar die Fremdbilder der Alten und der Neuen Welt. Dabei wurde im Rahmen des Primitivismuskonzepts der Kulturenkontrast durch den Gegensatz Kultur-Natur angereichert. Sicherlich spielt auch bei diesem Abgrenzungsvorgang der Konkurrenzaspekt eine wichtige Rolle: Während die Angloamerikaner die europäischen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert aus ihrer Interessensphäre fernhalten, vertreiben oder vertreiben helfen konnten, war der Kolonialnachfolgestaat Mexiko eine physische, politische, ökonomische und kulturelle Präsenz, zwar keine ernsthafte Bedrohung auf irgendeinem dieser Gebiete, aber ein Hindernis für die eigene Expansion. Was immer man von den mexikanischen Landrechtstiteln halten mag, für die USA gab es im Westen und Südwesten nicht nur eine sogenannte offene Siedlungsgrenze, die frontier, sondern auch eine internationale Grenze, so schwierig die auch im Gelände auszumachen sein mochte. Aber auch diese Rivalität mündet in den Vorgang der Identitätsgewinnung. Die größere Hälfte seines Territoriums, die Mexiko bis 1853 an die USA verlor, bedeutete für diese auch eine entsprechende Reduzierung des Anderen, eine Unterwerfung des Anderen unter die eigene Kultur und Zivilisation. Aber die territoriale und bevölkerungsmäßige Expansion der USA seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts bedeutete natürlich auch eine Infiltration durch das Andere. Die gewonnenen, ungewohnten Landschaften - Prärien, Wüsten, Hochgebirge - ließen sich durch ökonomische Nutzbarmachung 139

Helmbrecht Breinig bzw., auf der kulturell-intellektuellen Ebene, durch den progressivistischen frontier-Mythos naturalisieren. Die Naturalisierung der ethnischen Neuerwerbungen gelang dagegen nur partiell und wird derzeit, besonders durch Chicanos und sonstige Spanischsprachige, z.T. wieder rückgängig gemacht. Das Bild Mexikos als des Inbegriffs des Anderen direkt vor der eigenen Haustür (ein Status, den der andere Nachbar Kanada nie erreichen konnte), dieses Bild war also um so nötiger, damit per Kontrast die Chimäre einer einheitlichen eigenen kulturellen Identität aufrechterhalten werden konnte, die aus der angelsächsisch-protestantischen Tradition erwachsen war und per Schmelztiegeleffekt jegliches Fremde domestizieren konnte.

2.

Sieht man Kultur im engeren Sinn als Selbstgespräch einer Gesellschaft, dann ist die Rolle der Literaten bei dieser Entwicklung von Selbst- und Fremdbildern von besonderem Belang. Es gibt eine umfangreiche amerikanische Mexiko-Literatur, die bis in die Kolonialphase zurückreicht. Auch die Forschung hat sich mit diesem Thema beschäftigt. Im Vergleich zu der Menge an Sekundärliteratur über das Verhältnis US-amerikanischer Autoren zu den Ländern und Kulturen der Alten Welt sind diese Bemühungen zwar bescheiden. Dennoch gibt es neben Einzelstudien einige umfangreiche Monographien, die sich des Gesamtkomplexes 'Mexiko in der amerikanischen Literatur* annehmen. Zu nennen sind hier in erster Linie die Arbeiten Stanley T. Williams' (1955), Cecil Robinsons (1963 und 1977) und Drewey Wayne Gunns (1974). Hunderte von amerikanischen Romanen, Kurzgeschichten, Dramen, Gedichten, Reisebüchern und Geschichtsdarstellungen werden in ihnen genannt, referiert, nach Epoche oder Thema gruppiert. Die literarische Umsetzung solcher angeblich spezifisch mexikanischer Eigenschaften wie Gewalttätigkeit und Gastfreundschaft wird dort ebenso erörtert wie die allmähliche Differenzierung des Mexikobildes. Die in jenen Studien geleistete Gesamtdarstellung ist die Basis der nachstehenden summarischen Bemerkungen und macht einen neuerlichen Überblick unnötig, wenngleich sie gelegentlich 140

Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftsteilem auch Lücken aufweisen und die neueste Produktion noch nicht aufarbeiten. Zugleich erscheinen diese Arbeiten jedoch insofern grundsätzlich unzulänglich, als sie die Erkenntnisproblematik, die mit jeglicher fremdkultureller Beschäftigung verbunden ist, nicht hinreichend thematisieren. Dies wird schon am jeweils gewählten Gegenstand deutlich: Williams interessiert sich für Lateinamerika nur, insofern es Spanisch-Amtrikz ist, und subsumiert somit auch mexikanische Interkulturalität unter Spanish. Für Gunn wiederum ist es unerheblich, ob die Mexiko thematisierenden Autoren aus den USA oder Großbritannien kommen - er unterstellt eine gesamt-angelsächsische Perspektive. Pauschalierungen sind die Folge, die die großzügig vergebenen Urteile über die Adäquatheit der Mexikodarstellung einzelner Autoren noch problematischer erscheinen lassen. Robinson, dessen ursprünglicher Buchtitel With the Ears of Strangers noch am ehesten ein Fremdheitsbewußtsein erkennen läßt, setzt dennoch das mexikanische Element im amerikanischen Südwesten auf eine Stufe mit dem Mexiko jenseits der Grenze. Wenn er schreibt: "In recent years the portrait of the Mexican in American writing has become more and more accurate, but the principle of selection, the kinds of Mexican characters which American writers have chosen to portray, remains revealing in terms of the inner needs of the writer" (70), so wird bei aller Einsicht in den Subjektivismus der Literaten die grundsätzliche Möglichkeit einer 'richtigen' Darstellung nicht in Frage gestellt. Mir scheint es daher vordringlich, sich mit der Problematik des Transfers von Vorstellungen aus einem Kulturbereich auf einen anderen zu beschäftigen. Erst danach hat der deskriptive Umgang mit weiteren amerikanischen Mexikodarstellungen seinen Sinn. Das Fremde ist anziehend und abschreckend und oftmals beides zugleich. Folgerichtig hielten sich zahlreiche amerikanische Autorinnen und Autoren längere oder kürzere Zeit in Mexiko auf und reagierten mit Begeisterung oder auch mit Bestürzung auf das dort Erlebte. Die Reihe derer, die sich vor der eigenen Welt nach Mexiko flüchteten oder in der Begegnung mit dem Exotischen neue Stimuli für die eigene Arbeit zu finden hofften, ist seit dem letzten Jahrhundert nie ganz abgerissen; in den Jahrzehnten der mexikanischen Revolution, die ja auch ein beeindruckender kultureller Neubeginn war, wurde diese Reihe zum Besucherstrom und Mexico City neben Paris ein Sammelort 141

Helmbrecht Breinig amerikanischer Expatriierter. Und doch war deren Reaktion auf das Fremde und Heterogene außerordentlich selektiv und auch bei den prominentesten dieser Autoren bemerkenswert klischeehaft. Stephen Crane registrierte 1895 malerische Banditen und Grausamkeit gegenüber Tieren,2 Tennessee Williams entdeckte 1940 die Annehmlichkeiten des Hängematten-Lebens in Acapulco (Gunn, 208), die Beats genossen in den 1950ern (zumindest anfanglich) die Verfügbarkeit von Drogen und Alkohol. Selbst Katherine Anne Porter, die sich in den 1920er Jahren mehr auf Mexiko und seine politische Situation einließ als die meisten ihrer literarischen Landsleute, tat das allzu Erwartbare, als sie ihren nicht eben kleinen erotischen Gesichtskreis um das Erlebnis des mexikanischen machismo erweiterte (Lopez, 63). Und dann gab es da die (auch von mexikanischen Intellektuellen wie Octavio Paz vertretene) Ansicht, in Mexiko hätten die Menschen eine sympathischere Beziehung zum Tod als anderwärts - Grund genug für manche amerikanische Autoren, das Endstück ihrer Biographie dorthin zu verlegen. Ambrose Bierce, der alte Haudegen des amerikanischen Bürgerkriegs, verschwand 1913 auf Nimmerwiedersehen im nun seinerseits bürgerkriegsgeschüttelten Mexiko - "To be a Gringo in Mexico - ah, that is euthanasia!", schrieb er in einem seiner letzten Briefe (Letters, 197). Der Lyriker Hart Crane sprang 1932 auf der Rückreise von Mexiko, dem "purgatorio", wie der Titel eines seiner Gedichte lautet, vom Schiff - dies sind nur die berühmtesten Fälle. Nun ist sicherlich zwischen dem allzu menschlichen Verhalten jener literarischen Reisenden und Expatriierten und ihren imaginativen Verarbeitungen des physisch und psychisch Erlebten zu unterscheiden. Zahlreiche literarische Texte der Mexiko-Pilger wie der Daheimgebliebenen beschäftigen sich mit dem zeitgenössischen, aber auch mit dem vergangenen Mexiko bis vor die conquista zurück. Natürlich verschoben sich die Positionen dabei im Laufe der Zeit - die romantische Verklärung entweder der Azteken oder der Konquistadoren wich einer differenzierteren Beschäftigung mit der jeweils zeitgenössischen Wirklichkeit. Politisch-soziale Probleme rückten in den Blick, oder auch die Folgen, die der Einbruch des American Way of Life für Teile der mexikanischen Bevölkerung zeitigte. Doch auch hier dominieren eingefahrene Fremdbilder. Diese können durchaus positiv sein. So fand z.B. die 142

Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern Primitivismus-Begeisterung so vieler Künstler des 20. Jahrhunderts in Mexiko reiche Nahrung, und das davon beeinflußte Mexiko-Bild, das der Brite D.H. Lawrence in seinem Roman The Plumed Serpent (1926) zeichnete, prägte die Vorstellung auch vieler Amerikaner. Wenige der Migranten und Emigranten vermochten es freilich, sich wie Jack Kerouac und andere Autoren der Beat Generation völlig dem Erlebnis Mexiko zu öffnen, und auch dieses in Kerouacs On the Road (1957) geschilderte Sich-Anheimgeben, die Annahme, die Mexikaner seien natürliche Verkörperungen einer Gegenposition gegen die moderne Zivilisation und somit Verbündete, ist ebenso sehr Produkt einer partiellen Wahrnehmung wie andere Reaktionsformen. Auf der Seite der negativen Fremdbilder erweist sich die populäre Literatur erwartungsgemäß als besonders stereotypenbestätigend. Wie Wolfgang Binder gezeigt hat, zeichnen die amerikanischen romances aus der Zeit des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges ein überwiegend negatives Bild der mexikanischen Bevölkerung, deren - wie George Lippard taktvoll sagte "Promenadenmischung" aus Spanisch-Kreolen, Mestizen, Indianern und sogar einigen Schwarzen zu ernsthaften Befürchtungen Anlaß gebe und dringend der Unterwerfung durch die "Eiserne Rasse des Nordens" bedürfe.3 Daß in jenen Texten die akzeptableren Ausnahmen - meist Damen im heiratsfähigen Alter - im allgemeinen rein kastilianisches Blut besitzen, mag auf die durch Washington Irvings Schriften ausgelöste damalige Begeisterung für ein romantisiertes altes Spanien zurückzuführen sein und belegt nur, daß Rassenreinheit und die Zugehörigkeit zur weißen Rasse noch wichtiger waren als die anti-südeuropäischen Klischees. Insgesamt scheint mir dabei besonders bedeutsam, daß hier wie in einem erheblichen Teil der amerikanischen Mexiko-Literatur zuvor und danach die Interkulturalität Mexikos erkannt, jedoch nicht als Hoffnungszeichen im Sinne der Schmelztiegel-Idee des Nordens verwendet wurde, sondern als Zeichen für Fremdheit, wenn nicht gar Defizienz. Damit ist nichts darüber ausgesagt, welche und wieviele Aspekte des Kaleidoskops Mexiko in einzelnen Texten als Zeichen für mexikanische Realität herhalten müssen. Entscheidend ist nur, daß der Vorgang der Selbst- und Fremddefinition einer Gesellschaft gerade auch in ihren kulturellen Erzeugnissen instrumental ist, primär Eigenbedürf143

Helmbrecht Breinig nissen entspringt und ohne Rücksicht auf die etwaige Parallelität der Befunde in beiden Gesellschaften Unterschiede notfalls herbeizwingt. In anspruchsvoller Literatur mag dieser Vorgang nuancierter ablaufen, aber daß sich die Autoren überwiegend dem Fremden verpflichtet fühlen, wird Utopie bleiben.

3.

Was also kann die Literatur, zumal die gehobene, mit dem Fremden anfangen? Der berühmte Naturalist Stephen Crane spricht das Problem in einem seiner Mexiko-Artikel drastisch aus: "It perhaps might be said - if any one dared - that the most worthless literature of the world has been that which has been written by the men of one nation concerning the men of another" (VIII, 436). Sinneswahrnehmungen könne man sich noch zutrauen, aber Versuche psychologischer Auffassimg solle man sich längere Zeit versagen, da die Mischung von erwartetem und unerwartetem Verhalten sich der Interpretation entziehe und unangemessene Überheblichkeit zur Folge haben müsse. Crane geht von einer engen Literaturkonzeption aus, derzufolge eine angemessene Realitätserfassung - und das schließt die Erfassung fremder Realität ein - Hauptaufgabe des Autors sein müsse. Dies läuft jedoch auf eine Unterwerfung des Fremden unter die eigenen Vorstellungsgewohnheiten hinaus; Crane ist sich dieser Gefahr bewußt.4 Nun könnte die Literatur auch versuchen, die Fremdheit des Fremden erfahrbar zu machen - der explorative Griff ins Unbekannte, normaler Beschreibung nicht Verfügbare, gilt ja seit langem als eine der möglichen Leistungen von Kunst. Doch die wenigsten amerikanischen Autoren, die sich Mexiko zum Gegenstand nehmen, versuchen das. In ihrem Anspruch, das Fremde verfügbar zu machen, verstricken sie sich statt dessen in ein Netz meist uneingestandener Bedingungen literarischer Wirklichkeitserfassung. Solange sie sich im Rahmen der bekannten Stereotypen bewegen, tragen sie primär zur Zementierung des amerikanischen Auto-Stereotyps bei. Aber auch jene, denen die Kritik höhere Qualitäten zuschreibt, geraten in Schwierigkeiten, wenn sie Fremdes vermitteln wollen und nicht nur den eigenkulturellen Umgang mit dem Fremden.5 144

Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern Betrachtet man die Verfahrensweisen der amerikanischen Mexiko-Literatur genauer, so fallt als erstes auf, daß in der Mehrzahl der Fälle nicht Mexikaner, sondern Amerikaner oder sonstige verläßliche Besucher Mexikos im Mittelpunkt stehen. Diese Technik braucht nicht so gewaltsam eingesetzt zu werden wie bei dem britischen Abenteuerromancier Henry Rider Haggard, in dessen Roman Montezuma's Daughter (1893) selbst die conquista von einem Engländer miterlebt wird, der noch dazu auf der Seite der Azteken steht (Gunn, 44 f.). Doch dieses Beispiel macht deutlich, daß die Verwendung einer Außenseiterfigur oder Außenperspektive keineswegs Zeichen besonders behutsamen Umgangs mit dem Fremden zu sein braucht, sondern dazu dienen kann, über den Augenzeugen eine autoritative Sicht der mexikanischen Wirklichkeit einzuführen, die Vorrang auch vor dem Selbstbild der Einheimischen beansprucht. Es ist dabei auffallig, daß gerade die höher eingestufte Literatur Mexiko meistens nur als Staffage benutzt, vor der die amerikanischen Besucher ihre emotionalen oder intellektuellen Krisen ausleben. Tropische Schwüle, ein Hotel inmitten üppiger Vegetation, ein exotisches Tier und, insgesamt, die schiere Distanz von der amerikanischen Alltagsumgebung genügen z.B. in Tennessee Williams' The Night ofthe Iguana (1961), um eine Handlung in Gang zu setzen, an der kein einziger Mexikaner wesentlichen Anteil hat. Wird hier nur bestätigt, daß das Fremde primär zur Eigendefinition des Individuums oder der Kultur gebraucht wird, so gibt es doch auch Texte, die dieses Fremdheitserlebnis selbst thematisieren. Stephen Crane setzte seine oben zitierte Erkenntnisskepsis in seiner Kurzgeschichte "One Dash-Horses" (1896) um, die von der Kritik nicht eben hoch geschätzt wird, weil sie merkwürdig bar jeder prägnanten Aussage scheint, außer daß sie zwei bei Crane häufig auftauchende Motive, den Glücksspielcharakter des Lebens und die Situationsabhängigkeit von Mut und Feigheit, verwendet. Zum Inhalt: Der Protagonist, der Amerikaner Richardson, reitet mit seinem Diener José durch die abendliche mexikanische Landschaft, die nur durch einige stereotype Details Mesquite-Sträucher und die Farben von Himmel und Bergen - charakterisiert wird. Stereotyp suspekt ist der Diener, der sich ebenso stereotyp später als Feigling erweist, stereotyp erscheint auch die Indianerin, die Richardson in 145

Helmbrecht Breinig einer Dorfkaschemme seine Tortillas reicht, stereotyp sind seine Statussymbole Sattel, Sombrero und Revolver, alle reich verziert. Ebenso stereotyp vermutet er, daß seine Situation stets gefährdet ist. Seine Befürchtungen scheinen sich nachts zu bestätigen, als eine Gruppe von betrunkenen Mexikanern aus dem Nebenraum eindringt und es offenbar auf ihn und seine Reichtümer abgesehen hat. Zurückgehalten werden sie wohl nur durch ihre ihrerseits stereotype Hochachtung vor seinem Revolver und seiner scheinbar amerikanisch-überlegenen Ruhe; seine Angst bemerken sie nicht. Nach großenteils durchwachter Nacht fliehen Richardson und José im Morgengrauen auf ihren schnellen Pferden - und werden prompt verfolgt. Ihre mutmaßliche Rettung bringt ein Trupp rurales, doch beim abschließenden Showdown werden die mexikanischen Banditen von den Kavalleristen nicht etwa liquidiert, wie Richardson und, so meint er, auch der gegnerische Anführer erwarten, sondern die Bande wird unter Beschimpfungen davongejagt. Übrig bleibt das einzig Zuverlässige, Faßbare, nämlich die im Titel genannten Pferde, die man für ihre Leistung loben kann. Die Geschichte hat etwas Alptraumhaftes und reizt dennoch zum Lachen, denn immer wieder macht Crane ironisch auf die Klischeehaftigkeit von Handlung und Schauplatz aufmerksam. Daß die Klischees wiederum zuzutreffen scheinen, gibt der dargestellten Situation etwas intellektuell Irritierendes und zugleich existentiell Beunruhigendes. Da Richardsons dürftige Spanischkenntnisse durch seine Aufregung rasch verschwinden, kann er nie sicher sein, ob er die Situation korrekt und vollständig erfaßt hat und sich angemessen verhält. Die Überlegenheit gegenüber dem Fremden, die die Klischeeverwendung mit sich bringen sollte, stellt sich nie ein. Das Fremde bleibt in seiner undurchsichtigen Mischung von Erwartbarem und Überraschendem fremd und macht sprachlos - ganz im Sinne jener in vielen Kulturen verbreiteten Bedeutung von 'fremd' als 'sprachlich unverständlich' oder gar 'stumm'. Am Ende ringt Richardson vergeblich nach Worten und kann lediglich seinem Pferd - durch entsprechend zeichenhaftes Schulterklopfen - seine Anerkennung vermitteln. Die interkulturelle Kommunikation bleibt fragmentarisch, wie schon Richardsons erste Bemerkung im Text signalisiert: "Man, [...] I want eat! I want sleep! Understand - no? Quickly! Understand?'" (V, 13). Ei146

Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern ne "universal tongue" (23), eine kulturunabhängige Verständigungsmöglichkeit, gibt es nur zwischen Mensch und Tier. Cranes Mexiko-Bild ist also im Grunde ein Bild der eigenen Wahrnehmungsgrenzen und somit Teil eines amerikanischen Selbstporträts.6 Auch in seinen nichtfiktionalen Reiseskizzen ist die scheinbar überhebliche Ironie der Darstellung primär ein Signal dafür, daß es kein Entrinnen aus der Eigenperspektive gibt. Geht es dagegen nicht um das Erfahrbarmachen des Fremden als fremd, sondern um die Vermittlung seiner wesentlichen Züge, so sind die Schwierigkeiten größer. Die übliche Technik, ein Bild des Fremden zu entwerfen, ist die Anhäufung von für relevant gehaltenen Details. Vor allem die gehobene Unterhaltungsliteratur versucht sich damit einen Anstrich von Seriosität zu geben. In Rosalind Wrights Roman Veracruz (1986) etwa wird nicht nur die verworrene politische Situation Mexikos in den Jahren 1911-14 als Hintergrund der Handlung benutzt, sondern die Autorin zeichnet auch Vignetten lokaler Festtagsbräuche sowie Details des für bestimmte Bevölkerungsgruppen typischen Aberglaubens und geht auf die Nomenklatur für die diversen Mischungsverhältnisse der in Mexiko vertretenen Rassen und die diesbezügliche Diskriminierungshierarchie ein: "... Mules, cows, coyotes, wolves - the new breeds produced by the joining of Spaniard to Indian, Indian to Chinaman, Chinaman to Negro - whatever you can imagine, every variation was given a name based on the physical characteristics of the offspring. I forget how many there were in all. Over a hundred, I believe. Our just departed María Josefina would, for my Spanish ancestors, be a classic example of a mule. Did you notice the full upper lip that she has? And her broad nose, and the large proportions of her lower torso .... She has the characteristics and proclivities of both the Indian and the Negro, and in the exact proportions in which they are no doubt combined in her blood. Mule describes perfectly her appearance and her stubborn nature. It even conjures up die dark cast to her skin". (355) Hier taucht also das Bild vom vielrassischen und multikulturellen Mexiko in der Form von Insider-Informationen wieder auf, die überdies die Vorurteile des Sprechers erkennen lassen. Aber diese politisch-historischen, soziolo-

147

Helmbrecht Breinig gischen und ethnologischen Informationen bleiben bloße Collage-Elemente; der Eindruck, daß sie Teile eines Gesamtbildes seien, trügt nur diejenigen Leser und Leserinnen, die sich durch die spannende Handlung solcher Texte dazu veranlaßt sehen, von der Aktionseinheit auf die Geschlossenheit des angesprochenen Referenzbereichs in der Realität zu schließen. Denn als pars-prototo-Elemente können solche Details deshalb nicht funktionieren, weil dem amerikanischen Leser ja gerade der Systemzusammenhang, auf den sie zeichenhaft verweisen, unbekannt ist. Es bleibt also der typisch touristische Eindruck, etwas kennengelernt zu haben. Je nach individuellem oder Gruppenhabitus mag dieses Kennenlernen mit dem Kennen verwechselt werden, aber daß es sich dabei um eine Aneignung des Fremden in der Art des Erwerbs von Souvenirs handelt, liegt auf der Hand. Zu den verhältnismäßig wenigen Autorinnen und Autoren, die es gewagt haben, eine dritten Zugang zu versuchen, nämlich das Fremde, Mexiko, nicht ganz oder überwiegend aus der Außen-, sondern aus der Innenperspektive zu zeichnen, gehört Katherine Anne Porter. Ihre langjährige Verbundenheit mit Mexiko, ihr Engagement für die Revolution, ihre klugen Analysen der aktuellen politischen und kulturellen Situation haben ihr einen herausragenden Platz unter den amerikanischen Wanderern zwischen beiden Völkern eingebracht. Ihre in Mexiko plazierten Kurzgeschichten wie "María Concepción", "Flowering Judas" oder "Hacienda" erfreuen sich einer hohen Reputation auch bei den Mexikospezialisten. Ich wähle "Maria Concepción" (1922) aus, weil es die am ausschließlichsten in mexikanischem Milieu spielende dieser Geschichten ist. Die Handlung vollzieht sich in einem nicht näher spezifizierten Indianerdorf in Mexiko; Maguey-Agaven und Orgelkakteenhecken genügen für das Lokalkolorit. Die achtzehnjährige Titelheldin glaubt sich glücklich mit dem gleichaltrigen Juan verheiratet. Durch Zufall beobachtet sie ihn eines Tages mit der drei Jahre jüngeren Maria Rosa. Ihre Welt bricht zusammen, ihr ganzer Haß richtet sich auf die Rivalin. Da Juan sie jedoch am selben Tag verläßt, um sich mit Maria Rosa einem der im Lande kämpfenden Heere anzuschließen (man vermutet als zeitgeschichtlichen Hintergrund die Revolutionsphase), bleibt María Concepción nur der Rückzug ins eigene Selbst. Sie ver148

Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern liert ihr neugeborenes Kind und kapselt sich auch von den Nachbarn ab. Als Juan nach einem Jahr mit seiner Freundin zurückkehrt, bringt sie diese um. Juan und die Dorfgemeinschaft schirmen sie gegenüber den Nachforschungen der Polizei ab, und nachdem sie ihre Fassung wiedergefunden hat, nimmt sie Maria Rosas neugeborenes Baby zu sich und erfährt das Glück einer wiederhergestellten Lebensharmonie, während Juan ernüchtert der künftigen Eheund Arbeitsroutine entgegenblickt. Die Geschichte ist hervorragend erzählt, mit präzisen Beschreibungen von signifikanten Verhaltensweisen bis hin zu Gestik und Mimik, dabei jedoch sparsam in allen Details. Porter ironisiert zwar die herablassende PrimitivenBegeisterung des einzigen in der Geschichte auftretenden Amerikaners, eines Archäologen, doch geht sie selbst von einem positiv gemeinten Primitivismus-Konzept aus, wenn sie etwa eingangs von ihrer Heldin sagt: Instinctive serenity softened her black eyes, shaped like almonds, set far apart, and tilted a bit endwise. She walked with the free, natural, guarded ease of the primitive woman carrying an unborn child. The shape of her body was easy, the swelling life was not a distortion, but the right inevitable proportions of a woman. (3) Dieses Primitivismus-Konzept erleichtert allerdings auch die erzählerische Ökonomie und trägt daher zum Erfolg der Geschichte bei. In der Tat wird hier erklärlich, wieso Porters Mexiko-Bild so überzeugend für ihre Landsleute wirkte. Es besticht nämlich zunächst durch seine Geschlossenheit. Diese wiederum ergibt sich aus der Einfachheit der dargestellten Welt - und damit appelliert Porter an entsprechende Vorstellungen der Leser. Anders als bei den in der gleichen Epoche entstandenen Kurzgeschichten von Hemingway oder Sherwood Anderson wirken Schlichtheit und Lakonik hier nicht als Stimulanz für die Rezipienten, die angebotenen Leerstellen mit gedanklicher Tiefe, mit Komplexität der Figurenmotivation zu füllen. Zwar wird auch bei Porter nicht vorausgesetzt, daß die mörderische Rachsucht der Protagonistin mit ihrem ruhigen Wesen für uns völlig vereinbar sei, aber was daran fremd bleibt, ist fremd nicht wegen Marias psychischer Vielschichtigkeit, sondern 149

Helmbrecht Breinig wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Rasse. Insgesamt jedoch entsteht das Bild von einfachen Menschen mit einfachen Leidenschaften, die sie geradlinig ausleben, ein Gauguinsches Südsee-Tableau mit klaren Figuren, aber wenig Tiefe. Porters Bild vom mexikanischen Dorfleben entsteht also durch den Transfer einer europäisch-nordamerikanischen Vorstellung, der des Primitivismus, auf eine bestimmte Region und Kultur. Dabei gehen freilich die meisten regionalen und kulturellen Spezifika verloren, denn unterstellt wird eine universale Gemeinsamkeit archaischer Verhaltensformen sowie die Existenz einer homogenen armen indianischen Bevölkerung im ländlichen Mexiko. Wenn diese Geschichte darüber hinaus den Geist des damaligen Mexiko verkörpern soll, wie Gunn meint (107), so verstärkt sich der Eindruck der Distanz von der konkreten Realität. Wie abstrahierend und vereinfachend diese Darstellung ist, wie komplex und differenziert nämlich auch die mexikanischen Armen in Wirklichkeit natürlich denken, fühlen und sich verhalten (gerade auch in Situationen persönlicher Krisen und gewaltsamer Auseinandersetzung), belegen demgegenüber Oscar Lewis' narrativ aufbereitete Selbstporträts der Mitglieder einer mexikanischen Familie in The Children ofSanchez (1961) und seine anderen auf soziologischen Interviews aufgebauten Bücher. Warum, wie hier deutlich wird, literarische Fremdbilder häufig noch problematischer sind als wissenschaftliche, läßt sich vielleicht folgendermaßen erklären. Eine Grundeinsicht der Semiotik lautet, daß sich sprachliche und ähnliche Zeichen primär nicht auf die damit bezeichneten Realitätselemente beziehen, sondern auf kulturelle Vorstellungseinheiten. Diese können interkulturell sein - /Hund/ und Idogl bezeichnen dasselbe - in vielen Fällen sind sie es jedoch nicht. Die Wissenschaft unterstellt, daß die Vorstellungseinheiten dennoch an die als in irgendeiner Weise gegeben vorausgesetzte Realität zurückzubinden sind. Daß sie dabei oft voreilig ist und ihre Beschreibungsmethoden häufiger überprüfen sollte, hat gerade in den Gesellschaftswissenschaften zu Zweifeln an der (kulturübergreifenden) Realitätsadäquatheit der Ergebnisse geführt. 7 Trotzdem basieren alle modernen Zivilisationen auf der Annahme, daß die Beschreibungsleistung der Wissenschaft zumindest tendenziell angemessen ist, daß es so etwas wie Fortschritt in der kulturunabhängi150

Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern gen Erkenntnis gibt. Die Literatur könnte erkenntnisfördemd sein, indem sie wissenschaftlich 'fundierte' Wirklichkeitsbilder in Frage stellt, und gelegentlich tut sie dies auch. Aber im Zusammenhang mit den Fremdbildern wirken sich die Tatsachen, daß literarische Texte viel stärker die Funktion intrakultureller Reflexion haben als der wissenschaftliche Diskurs und daß Objektivitäts- und Vollständigkeitskriterien eine geringere Rolle spielen als dort, so aus, daß der (ohnehin nicht direkt erreichbaren) Wirklichkeitsebene weniger Verifizierungsrelevanz gegenüber der Ebene der kulturellen Vorstellungen zugestanden wird und die Rückbindung der Textdetails eher an übergeordnete kulturspezifische Vorstellungskomplexe erfolgt als an jene Detailwirklichkeit, wie sie auf der Basis der Summe von jeweils verfügbaren wissenschaftlichen Beobachtungen und Beschreibungen kulturunabhängig als existent angenommen wird. Ein Beispiel: Die Kakteenhecke, die in manchen Gegenden Mexikos banales Wirklichkeitselement mit ebenso banalen Funktionen ist, also etwa als Zaun um die Haustiere oder als Trockengestell für die Wäsche dient, kann natürlich auch dort wie bei Porter die symbolische Bedeutung des Trennenden oder Verbergenden annehmen. Doch die kulturellen Einheiten, die bei Porter zunächst damit angesprochen sind, sind nicht die erwähnten gebrauchsfunktionalen, sondern die Konzepte 'Fremdheit' und 'Mexiko', und diese sind eben nicht interkulturell, sondern kulturspezifisch. Daß Porters Text Fremdheit evoziert, ist positiv hervorzuheben; daß das Bild der fremden Welt diese extrem vereinfacht, entspricht dem trotz aller Offenheit der Autorin nicht überwindbaren Abgrenzungsbedürfhis der eigenen Kultur. Literatur mag neben vielen anderen Dingen auch Fremdbilder zeichnen, doch sind diese Extensionen des eigenen kulturellen Systems und werden auch im Fall gelungener Texte eher das Fremde als solches bestätigen als es weniger fremd machen. Fremd- wie Eigenbilder sind natürlich zitierbar und tauschfähig. Ein Beispiel: Daß die amerikanische Protagonistin in dem Roman Gringo Viejo des Mexikaners Carlos Fuentes Lehrerin ist und dazu überspannt-komplizierten persönlichen Verhältnissen südstaatlicher Prägung entstammt, verbindet sie einerseits mit zahlreichen amerikanischen Lehrerinnengestalten in Mexiko, die sich in der diesbezüglichen Literatur der USA finden,8 und andererseits mit den Gestalten Tennessee Williams'. Doch diese 151

Helmbrecht Breinig Merkmale - Lehrerin in Mexiko, südstaatlich überspannt - , die die entsprechenden Charaktere schon in den amerikanischen Quellentexten eher als exponiert denn als für den Durchschnitt repräsentativ erscheinen lassen (auch Eigenbilder sind problematisch), geben dieser Frau bei Fuentes erst recht den Anschein des Konzeptuellen und Projizierten. Werden die jeweiligen Eigenund Fremdbilder ausgetauscht, wie das ja gerade auch durch die populären Medien geschieht, so resultiert daraus nicht automatisch Nähe und Verständigung, sondern eher weitere Verschleierung und Illusion. Diesen Vorgang anhand der kulturellen Interaktion von Anglo- und Lateinamerika zu studieren, wäre eine lohnende Aufgabe für interamerikanistisches literaturwissenschaftliches Arbeiten. Mindestens ebenso wichtig erscheint es mir jedoch, solche Bilder, wie sie hier besprochen wurden, mithilfe der entsprechenden Disziplinen in Bezug zu setzen zu ihren Verweisungsebenen in der sozialen, politischen, ökonomischen und physischen Realität, um mehr über den intra- wie den interkulturellen, literarischen wie außerliterarischen Umgang mit Wirklichkeitvorstellungen zu erfahren und mit dem dadurch gewonnenen besseren Verständnis von kulturellen 'Selbstgesprächen' auch die Möglichkeiten kultureller Dialoge zu erweitern.

Anmerkungen 'Die Großschreibung signalisiert Alterität als philosophischen, anthropologischen oder kultursoziologischen Begriff. 2

Vgl. die Mexiko gewidmeten Skizzen in der Sektion 'Western Sketches" in Works, VID und Beer (1923).

*Lippard schreibt: "As the Aztec people, crumbled before the Spaniard, so will the mongrel race moulded of Indian and Spanish blood, melt into, and be ruled by, the Iron Race of the North". Legends of Mexico (Philadelphia, 1848), zit. nach Binder, 251. 4

ES geht hier um ein Dilemma, das besonders den Ethnologen gut bekannt ist: Annäherung an das Fremde, ja; aber dessen Verfiigbarmachung, wie sie etwa Justin Stagi als eines der Ziele wissenschaftlicher Beschreibung postuliert, obgleich er um ihre Gefahren weiß, erscheint bedenklich. Die moralische Problematik des Umgangs mit dem Anderen ist von dem französischen Philosophen Emmanuel Lévinas eindrucksvoll formuliert worden. Dabei ist

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Das Mexikobild bei amerikanischen Schriftstellern Lévinas' erkenntnistheoretische Einsicht vielleicht noch wichtiger als die ethische: daß nämlich das vollständige Erkennen des Anderen auf dessen Vernichtung qua Anderes hinausläuft. 3

Dies kann man dahingehend verallgemeinern, daß die darstellungstechnische Innovation gerade vor dem Kulturfremden im allgemeinen haltmacht. Ob die Texte des sogenannten 'magischen Realismus' der Wirklichkeitsauffassung der jeweils eigenen Kultur angemessen sind, können nur die Lateinamerikaner selbst bewerten; das Echo scheint überwiegend positiv. Daß aber etwa Marquez' realitätserweitemde Symbol- und Metapherntechnik auf das eigene Land angewendet wird, und entsprechendes gilt für ähnliche Verfahren in der amerikanischen SUdstaatenliteratur, daß jedoch die Texte Uber die andere Kultur nahezu durchwegs sehr viel konventioneller erzählt sind, scheint mir ein Symptom dafilr zu sein, daß man dem Fremdkulturellen eher reduktionistisch begegnet, als daß man ihm seine Entfaltung erlaubt.

®Es erscheint signifikant, daß diese Geschichte auf einen von Crane selbst erlebten Vorfall zurückgeht. Vgl. Crane, V, xxxvii f. 7

Vgl. den Beitrag von Joachim Matthes in diesem Band.

8

Z.B. inK.A. Porters "Flowering Judas".

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Titus Heydenreich NORD-SÜD PRESSIONEN DER JAHRHUNDERTWENDE IN ZWEI GEDICHTEN VON RUBEN DARIO: " A ROOSEVELT" (1904) UND "SALUTACION AL AGUILA" (1906)

Sin en estos cantos hay política, es porque aparece universal. Y si encontráis versos a un presidente, es porque son un clamor continental. Mañana podremos ser yanquis (y es lo más probable); de todas maneras, mi protesta queda escrita sobre las alas de los inmaculados cisnes, tan ilustres como Júpiter. So lauten bekanntlich die Schlußsätze von Rubén Daríos berühmtem Vorwort zu den Cantos de vida y esperanza (Darío, 1975 , 626); die Sammlung erschien 1905 in Madrid und weist in der Tat, auch gemessen an früheren Werken, so manchen politischen Vers auf. Was war geschehen? Was hatte den Autor von Azul... (1888), jener Verssammlung, die vor hundert Jahren den eskapistisch ästhetisierenden Modernismo einläutete -, was hatte diesen von Frankreichs Symbolisten beeindruckten Parteigänger des l'art pour l'art zum pathetischen poeta comprometido gewandelt? Zwischen der Publikation von Azul... und der Cantos ele vida y esperanza liegen siebzehn Jahre. Viele der dort - und in der anschließenden Sammlung El Canto errante von 1907 - zusammengestellten Gedichte waren bereits in den achtziger Jahren entstanden und bekunden, in welchem Maße Dario, nikaraguanischer Diplomat und poete maudit dazu, von zeitgeschichtlichen Vorgängen berührt wurde. Etwa im Gedicht "A Colón", 1892, also im Jahr der interkontinentalen Entdecker-Panegyrik in Sevilla geschrieben und doch alles andere als panegyrisch, weil die physische und moralische Zerrüttung Amerikas seit 1492, vornehmlich freilich in der Gegenwart beklagend: ¡Desgraciado Almirante! Tu pobre América, tu india virgen y hermosa de sangre cálida, 157

Titus Heydenreich la perla de tus sueños, es una histérica de convulsivos nervios y frente pálida. Un desastroso espíritu posee tu tierra: donde la tribu unida blandió sus mazas, hoy se enciende entre hermanos perpetua guerra, se hieren y destrozan las mismas razas. (Darío, 1975, 703) So Darío ungeachtet der Tatsache, daß er zum Zeitpunkt der Niederschrift als offizieller Vertreter seines Landes den spanischen Centenario-Feiern beiwohnte. Zum Verständnis der zunehmenden Politisierung von Darios Dichtung sei an weitere historische und biographische Fakten erinnert: 1893: auf dem Wege von Europa nach Argentinien im Anschluß an die genannten spanischen Centenario-Feiem lernt Dario bei einem Zwischenaufenthalt in New York José Martí kennen. In Argentinien beginnt Dario mit der Abfassung jener Charakterbilder über E.A. Poe, über José Martí und andere, die 1905 unter dem Titel Los raros erscheinen sollten. 1895 (19. Mai): Marti stirbt als Kämpfer für die Freiheit Kubas und darüber hinaus als Verfechter eines kulturell und politisch einheitlichen Südamerika. 1898 (20. Mai): Spanien unterliegt im Krieg gegen die USA. Dario veröffentlicht in Buenos Aires seinen Artikel El triunfo de Calibán. Im Vertrag von Paris (Dezember) muß Spanien die letzten überseeischen Kolonien an die Siegermacht abtreten. Am 1. Januar 1899, also wenige Tage nach dem Vertrag und unter dem Eindruck der mit dem Vertrag verbundenen Demütigung ganz Lateinamerikas, trifft Dario in Barcelona ein. Er lebt zunächst in Madrid, bis ihn 1900 die Tageszeitung La Nación (Buenos Aires) als Korrespondenten nach Paris schickt. 1900 ist aber auch, wie wir wissen, das Erscheinungsjahr von Rodós Ariel, jenes pathetischen Appells an die Jugend Lateinamerikas, sich ihrer kulturellen Identität und zugleich Überlegenheit gegenüber dem Koloß im 158

Rubén Darío: "A Roosevelt * und "Salutación al Aguila * Norden bewußt zu werden. Rodó nutzt hierfür die von Dario konzipierte Allegorisierung der Shakespeareschen Gegensatztypen Caliban-Ariel. Ab 1901 und bis 1909 ist Theodore Roosevelt Präsident der USA. 1903, 18. November: die USA und Panama schließen den Vertrag über die Abtretung der Panama-Kanalzone. 1904, Frühjahr: Darío verfaßt in Málaga die Ode "A Roosevelt". Sie ist, wie erwähnt, Bestandteil der in Madrid erscheinenden Cantos de vida y esperanza. Kurz zuvor war der Dichter zum Konsul Nikaraguas in Paris ernannt worden. 1907 erscheint, ebenfalls in Madrid, El Canto errante. Dort u.a. das Gedicht "Salutación al Aguila", entstanden in Rio de Janeiro aus noch zu erläuterndem Anlaß. "A Roosevelt" und "Salutación al Aguila" erscheinen vom Inhalt her merkwürdig konträr. Beide Texte lassen sich, vor dem Hintergrund der eingangs zitierten programmatischen Conclusio aus dem Vorwort der Cantos, als literarische Belege eines im Norden konzipierten ideologisch-politischen Programms deuten, das um die Jahrhundertwende besonders drückend wirkte und im Grunde bis heute wirkt. Hier zunächst das erstgenannte Gedicht (Dario, 1975, 639 ff.): A Roosevelt Es con voz de la Biblia, o verso de Walt Whitman, que habría de llegar hasta tí, Cazador, primitivo y moderno, sencillo y complicado, con un algo de Wàshington y cuatro de Nemrod. 5

10

Eres los Estados Unidos, eres el futuro invasor de la América ingenua que tiene sangre indígena, que aún reza a Jesucristo y aún habla en español. Eres soberbio y fuerte ejemplar de tu raza; eres culto, eres hábil; te opones a Tolstoy. y domando caballos, o asesinando tigres, eres un Alejandro-Nabucodonosor. (Eres un profesor de Energía como dicen los locos de hoy.) 159

Titus Heydenreich

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Crees que la vida es incendio, que el progreso es erupción, que en donde pones la bala el porvenir pones. No.

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Los Estados Unidos son potentes y grandes. Cuando ellos se estremecen hay un hondo temblor que pasa por las vértebras enormes de los Andes. Si clamáis, se oye como el rugir del león. Ya Hugo a Grant lo dijo: Las estrellas son vuestras. (Apenas brilla, alzándose, el argentino sol y la estrella chilena se levanta...) Sois ricos. Juntáis al culto de Hércules el culto de Mammón; y alumbrando el camino de la fácil conquista, la Libertad levanta su antorcha en Nueva-York.

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Mas la América nuestra, que tenía poetas desde los viejos tiempos de Netzahualcóyotl, que ha guardado las huellas de los pies del gran Baco, que el alfabeto pánico en un tiempo aprendió; que consultó los astros, que conoció la Atlántida cuyo nombre nos llega resonando en Platón, que desde los remotos momentos de su vida vive de luz, de fuego, de perfume, de amor, la América del grande Moctezuma, del Inca, la América fragante de Cristóbal Colón la América católica, la América española, La América en que dijo el noble Guatemoc: "Yo no estoy en un lecho de rosas"; esa América que tiembla de huracanes y que vive de amor, hombres de ojos sajones y alma bárbara, vive. Y sueña. Y ama, y vibra, y es la hija del sol. Tened cuidado. ¡Vive la América española! Hay mil cachorros sueltos del León Español. Se necesitaría, Roosevelt, ser, por Dios mismo, el Riflero terrible y el fuerte Cazador, para poder tenernos en vuestras férreas garras. Y , pues contáis con todo, falta una cosa: ¡Dios!

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Rubén Darío: "A Roosevelt" und "Salutación al Aguila"

Im vorliegenden Rahmen genügt es, auf einige Kemaussagen und Begriffe des Textes zu verweisen. Das Gedicht beginnt titelgemäß mit einer Apostrophe an den Präsidenten (vv. 1-18). Mit dem apodiktischen "No." (v. 19) weitet es sich jedoch zu einer kritischen Aussage über die Estados Unidos aus, für die Roosevelt, der Präsident, letztlich 'nur' als machtvolle Metonymie fungiert. Mit dem adversativen "Mas" und vor allem mit dem Manischen "América nuestra" in v. 30 beginnt eine weitere, antithetische Aussage, die samt Wiederaufnahme der USA-Apostrophe ab vv. 46-50 den zweiten Teil des Gedichts füllt (vv. 3051). Die Roosevelt-Invektive präsentiert uns einen zeithistorischen Protagonisten als zwar komplexen, doch überwiegend 'negativen', präpotenten Heros. Daß der Lenker des zur Weltmacht avancierenden Staatenbundes seine unheimliche Motorik auch als passionierter Jäger (v. 2) und Reiter (v. 11) austobte, war bekannt und findet wenig später bei Dario selbst erneut Erwähnung in einem Pariser Artikel vom 10. Oktober. Der Text trägt den Titel "El arte de ser Presidente de la República. Roosevelt" und erschien am 13. November 1904 in La Nación von Buenos Aires. Über den "profesor de Energía" (v. 13) lesen wir dort: [...] caza osos y tigres. [...] se va a caballo a las montañas o a los llanos [...], haciéndose aplaudir por prácticas lecciones de energía y de audacia. [...] Oscuro es su caballo favorito. En él se recrea. [...] (Darío, 1977, 214 und 215) Im Gedicht freilich steigert Dario die biographisch realen Passionen zu archetypischen Attributen. Die historische Figur avanciert auf diese Weise zur bedrohlichen Personifizierung eines expansiven Machtverhaltens im Sinne jener - auch in Lateinamerika rezipierten - Historiker des vorausgehenden Jahrhunderts, namentlich Carlyle und Emerson, für die Geschichte ausschließlich aus einer Folge von Großtaten (oder -untaten!) einzelner bestand. Die Kennzeichnung und Archetypisierung von Gewalttätigkeit bemüht Eigennamen aus 161

Titus Heydenreich biblischen Urzeiten, aus der griechisch-römischen Antike: Cassiodor, Nemrod, Alejandro, Nabucodonosor, Hércules, Mammón... - eine modernistische, scheinbar (aber eben nur scheinbar!) zeitliche Ferne suggerierende Nomenklatur, die jedoch in Wirklichkeit dazu beiträgt, einen moralischen und weltanschaulichen Nord-Süd-Dualismus zu illustrieren. Der archaisch-paganen Gewalttätigkeit, der "alma bárbara" des Angelsächsischen steht das Christliche, und zwar Christlich-Katholische und Hispanische des Südens gegenüber. Ein Dualismus übrigens, der mutatis mutandis katholischerseits, romanischerseits schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Europa empfunden und artikuliert wurde.1 Der Verlust mexikanischen Staatsgebietes an die USA, die nordamerikanische Unterstützung Juárez' vor und während des Interventionskrieges, schließlich der Verlust der letzten spanischen Überseegebiete an die USA wurden aus ultramontaner Perspektive auch als Verlust ebensovieler katholischer Bastionen vor den Toren des nichtkatholischen Machtbereichs beklagt. Denn dem Nord-Süd-Druck in Übersee entsprachen in Europa das Erstarken Englands als Kolonialweltmacht, der Aufstieg Deutschlands unter Bismarck als Bedrohung Habsburgs, aber auch die ab 1860 schwindende weltliche Macht des Papstes. Schon in den fünfziger Jahren hatte der Kolumbianer José María Torres Caicedo (1830-1889) die Expansionslust der "América anglo-sajona" ins Visier gerückt, nach einigenden, zu Abwehr und Gegendruck einsetzbaren Kräften der südlichen Kontinenthälfte Ausschau gehalten und derlei Kräfte im "Lateinischen" zu erkennen gemeint. In Venedig, also auf europäischem Boden verfaßte der spätere (1879) Gründer der Sociedad de la Unión LatinoAmericana ein Poem mit dem bezeichnenden Titel Las Dos Américas (Ardao, 175 ff.). Dort lesen wir, als Argument für existentiell notwendig erachtete Einheit: Mas aislados se encuentran, desunidos, Esos pueblos nacidos para aliarse: La unión es su deber, su ley amarse: Igual origen tienen y misión; La raza de la América latina, 162

Rubén Darío: "A Roosevelt* und "Salutación al Aguila* Al frente tiene la sajona raza, Enemiga mortal que y amenaza Su libertad destruir y su pendón. Torres Caicedos wichtigste theoretische Schrift erschien 1865 in Paris unter dem Titel Unión Latino americana. Paris, genauer: Napoleon HI., versuchte zu jenem Zeitpunkt, in Mexiko mit Waffengewalt Fuß zu fassen. Als dieses mißlang, erging sich der Thron-und-Altar-Romantiker José Zorrilla im Sommer 1867, wenige Wochen nach Querétaro, in Schmähungen, die den mexikanischen Republikanern eine politische und religiöse "Yankisierung" des Landes als gerechte Strafe für die vom Norden akzeptierte diplomatische und militärische Hilfe geradezu herbeiwünscht: LXXI. Mas tu odio a Europa te arrastró muy lejos: Tu libertad con él has fusilado, Y en lugar de romper tus grillos viejos Otros grillos más duros te has foijado. Escuchaste del Yánkee los consejos, Y del Yánkee en la red te has enredado. Pues tánto odias tu sangre de Europea... ¡Ojalá seas Yánkee y yo lo vea! LXXII. ¡Ojalá seas Yánkee y luterana: Porque para llegar hasta ese día Has de arrojar la lengua castellana, La religión del hijo de Maria, Y tu ruin libertad republicana En el vil lodazal de tu anarquía: Y sin fuerza, sin honra y sin altares, Entregarás al Yánkee tus hogares.

163

Titus Heydenreich

Lxxm. Pero el Yánkee jamás será tu hermano, Ni irá a la par contigo: no lo esperes. Dueño una vez del suelo mejicano Se apropiará tus minas y placéres: Te obligará a sembrar para él tu grano Y dará a sus colonos tus mujeres, Porque tu raza india hallará fea... ¡Ojalá seas Yánkee y yo lo vea! (Zorrilla, 236 f.) Kaum weniger eindringlich wird, ein Vierteljahrhundert später, José Martí - politisch und patriotisch von Zorrilla buchstäblich Welten entfernt - in seinem Artikel Nuestra América (1891) vor den Einverleibungsbestrebungen des angelsächsischen Nordens warnen (Marti, 26 ff.). "Mañana podremos ser yanquis (y es lo más probable)", hatte Darío im bereits genannten und zitierten Vorwort geunkt. Und in "Los Cisnes" aus denselben Cantos de vida y esperanza lesen wir die drohende, mahnende Frage: ¿Seremos entregados a los bárbaros fieros? ¿Tantos millones de hombres hablaremos inglés? ¿Ya no hay nobles hidalgos ni bravos caballeros? ¿Callaremos ahora para llorar después? (Darío, 1975, 649) Darío gedenkt der Warnungen in Nuestra América und anderen, anlaßund themenverwandten Texten im erwähnten Essay, den er 1895 zum Tode Maitis verfaßt: En aquella correspondencia hablaba de los peligros del yánkee, de los ojos cuidadosos que debía tener la América latina respecto a la Hermana mayor [,..]. 2 (Darío, 1950, Bd.2, 486 f.)

164

Rubén Darío: "A Roosevelt" und "Salutación al Aguila" Daríos und Martís wechselseitige Schätzung, die persönliche Begegnung in New York sowie die Reaktion auf "la sanguínea, la ciclópea, la monstruosa, la tormentosa, la irresistible capital del cheque" (Darío, 1950, 257)3 wirken u.a. im Gedicht "A Roosevelt" nach. Im "fragmento de un estudio" über Edgar Allan Poe hatte Darío u.a. die "gigantesca Madona de la Libertad" apostrophiert, deren Errichtung zu jenem Zeitpunkt erst wenige Jahre zurücklag: A tí, prolífíca, enorme, dominadora. A tí, Nuestra Señora de la Libertad. A tí, cuyas mamas de bronce alimentan un sinnúmero de almas y corazones. A tí, que te alzas solitaria y magnífica sobre tu isla, levantando la divina antorcha. Yo te saludo al paso de mi steamer [...]. Yo sé, divino icono [...], que tu solo nombre, el de la excelsa beldad que encarnas, ha hecho brotar estrellas sobre el mundo, a la manera del fiat del Señor. Allí están entre todas, brillantes sobre las listas de la bandera, las que iluminan el vuelo del águila de América, de esta tu América formidable, de ojos azules. Ave Libertad, llena de fuerzas; el Señor es contigo: bendita tú eres. Der Paraphrase des Ave Maria folgen Sätze, die eher Madame Rolands Worte vor der Guillotinierung ins Gedächtnis rufen: Pero, ¿sabes?, se te ha herido mucho por el mundo, divinidad, manchando tu esplendor. Anda en la tierra otra que ha usurpado tu nombres, y que, en vez de la antorcha, lleva la tea. Aquélla no es la Diana sagrada de las incomparables flechas: es Hécate". (Darío, 1950, Bd. 2, 256 f.) Die Errichtung der Statue ging, wie man weiß, auf Initiativen französischer Republikaner in den Jahrzehnten der Herrschaft Napoleons III. und der anschließenden Demütigung Frankreichs, vor allem Elsaß-Lothringens durch das deutsche Kaiserreich zurück.4 Die Einweihimg am 26. Oktober 1886, aber auch das vorausgegangene Drum und Dran der Kollekte, der Herstellung, des Transports waren für Darios Generation interkontinental bedeutende, auch und gerade politisch bedeutende Vorgänge aus junger und jüngster 165

Titus Heydenreich Vergangenheit, mit zusätzlicher Brisanz für die Völker der südlichen Kontinenthälfte. Kein Wunder somit, daß Dario die Unglaubwürdigkeit von Roosevelts Amerika als Hort der Freiheit auch in der gerade für zeitgenössische Leser unübersehbaren, zynischen Umdeutung des allegorischen Gestus der Statue veranschaulicht (vv. 28-29): als Libertad, die mitnichten den aus Übersee Kommenden das Ufer neuer Entfaltungsmöglichkeiten ausleuchtet, sondern im Gegenteil den heimischen Nordamerikanern den Weg weist nach Süden, zur "fácil conquista", sprich Freiheitsberaubung... Ein Blick auf die Panama-Krise erhellt, daß "fácil conquista", daß die Bezeichnung Roosevelts als "futuro invasor/de la América ingenua [...]" (vv. 6 f.) keine poetischen Hyperbeln waren. Als Beleg kann abermals ein Artikel von Dario selbst dienen. Am 15. März 1902, also noch vor Vertragsunterzeichnung resümierte er für La Nación die Hauptpunkte des von den USA gewünschten Abkommens und folgerte: [...] dentro de no lejano tiempo, la tierra en que he nacido - algunos de mis lectores sabrán que soy originario de Nicaragua - pasará a ser dependencia de la gran república del norte; el resto de Centro América lo será después; ya se sabe cual es la manera pacífica de conquistar que tienen los hombres de los ferrocariles y de los dollars. (Darío, 1977, 131)5 Abschnitt II des Gedichts (vv. 30-51) skizziert sodann nicht das alternative Amerika, sondern das eigentliche... "América nuestra" gleich zu Beginn verweist unmißverständlich auf den erwähnten Titel von Maitis Absage an die Politik der USA. Entstanden war der Artikel bekanntlich als Reaktion auf die Erste Panamerikanische Konferenz (1889/1890).6 Marti hatte dort, wie zuvor und später, für ein einheitliches Südamerika plädiert: einheitlich und eigenständig trotzend gegen den gesamtkontinentalen Hegemonismus des Nordens. Dario preist seinerseits ein "eigenes" Amerika, das auf eine eigenständige und - anders als der Norden - jahrhundertealte, aus mehreren Kulturen sich zusammensetzende Kultur stolz sein kann. Analog zu Prósperos Rede in Rodós Ariel (1900) mündet Daríos poetische perorado in die Zuversicht, "la 166

Rubén Darío: "A Roosevelt" und "Salutación al Aguila" América española" werde hinreichend erstarken, um den "hombres de ojos sajones y alma bárbara" die Stirn bieten zu können. Wer sich somit vor dem Hintergrund dieses Textes ohne tiefere Autorenkenntnis dem Gedicht "Salutación al Aguila" nähern würde, könnte sich wundem, daß ein solcher Text aus derselben Feder stammt:

Salutación al Aguila ... May this grand Union have no endl Fontoura Xavier 1

Bien vengas, mágica Aguila de alas enormes y fuertes, a extender sobre el Sur tu gran sombra continental, a traer en tus garras, anilladas de rojos brillantes, una palma de gloria, del color de la inmensa esperanza, y en tu pico la oliva de una vasta y fecunda paz.

2

Bien vengas, oh mágica Aguila, que amara tanto Walt Whitman, quién te hubiera cantado en esta olímpica jira, Aguila que has llevado tu noble y magnífico símbolo desde el trono de Júpiter, hasta el gran continente del Norte.

3

Ciertamente, has estado en las rudas conquistas del orbe. Ciertamente, has tenido que llevar los antiguos rayos. Si tus alas abiertas la visión de la paz perpetúan, en tu pico y tus uñas está la necesaria guerra.

4

¡Precisión de la fuerza! ¡Majestad adquirida del trueno! Necesidad de abrirle el gran vientre fecundo a la tierra para que en ella brote la concreción de oro de la espiga, y tenga el hombre el pan con que mueve su sangre.

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Titus Heydenreich

5

No es humana la paz con que sueñan ilusos profetas, la actividad eterna hace precisa la lucha, y desde tu etérea altura, tú contemplas, divina Aguila, la agitación combativa de nuestro globo vibrante.

6

Es incidencia la historia. Nuestro destino supremo está más allá del rumbo que marcan fugaces las épocas, y Palenque y la Atlántida no son más que momentos soberbios con que puntúa Dios los versos des su augusto Poema.

7

Muy bien llegada seas a la tierra pujante y ubérrima, sobre la cual la Cruz del Sur está, que miró Dante cuando, siendo Mesías, impulsó en su intuición sus bajeles, que antes que los del sumo Cristóbal supieron nuestro cielo.

8

Epluribus unumt ¡Gloria, victoria, trabajo! Tráenos los secretos de las labores del Norte, y que los hijos nuestros dejen de ser los rétores latinos, y aprendan de los yanquis la constancia, el vigor, el carácter.

9

¡Dinos, Aguila ilustre, la manera de hacer multitudes que hagan Romas y Gredas con el jugo del mundo presente, y que, potentes y sobrias, extiendan su luz y su imperio, y que teniendo el Aguila y el Bisonte y el Hierro y el Oro, tengan un áureo día para darle las gracias a Dios!

10

Aguila, existe el Cóndor. Es tu hermano en las grandes alturas. Los Andes le conocen y saben que, cual tú, mira al Sol. May this grand Union have no endl, dice el poeta. Puedan ambos juntarse en plenitud, concordia y esfuerzo,

11

Aguila, que conoces desde Jove hasta Zarathustra y que tienes en los Estados Unidos tu asiento, que sea tu venida fecunda para estas naciones que el pabellón admiran constelados de bandas y estrellas.

12

lAguila, que estuviste en las horas sublimes de Pathmos, Aguila prodigiosa, que te nutres de luz y de azul, como una Cruz viviente, vuela sobre estas naciones, y comunica al globo la victoria feliz del futuro!

168

Rubén Darío: "A Roosevelt" und "Salutación al Aguila" 13

Por algo eres la antigua mensajera jupiterina, por algo has presenciado cataclismos y luchas de razas, por algo estás presente en los sueños del Apocalipsis, por algo eres el ave que han buscado los fuertes imperios.

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i Salud, Aguila! Extensa virtud a tus inmensos revuelos, reina de los azures, ¡salud!, ¡gloria!, ¡victoria y encanto! ¡Que la Latina América reciba tu mágica influencia y que renazca nuevo Olimpo, lleno de dioses y de héroes!

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¡Adelante, siempre adelante! Excelsiorl ¡Vida! ¡Lumbre! ¡Que se cumpla lo prometido en los destinos terrenos, y que vuestra obra inmensa las aprobaciones recoja del mirar de los astros, y de lo que hay más Allá! (Rio de Janeiro, 1906)

Abermals genügen im vorliegenden Rahmen Hinweise auf die - wenn man so will - interamerikanischen Aspekte des Gedichts. Vorweggenommen sei der Entstehungsanlaß: die Dritte Panamerikanische Konferenz,7 die vom 23. Juli bis 26. August 1906 stattfand und an der Rubén Darío als "secretario" der Delegation Nikaraguas teilnahm. Dichter und Diplomat dazu, nutzte Dario in der "Salutación" die Tatsache, daß analog zur Zweiten (Ciudad de México, 22.10.1901-31.1.1902) und im Gegensatz zur Ersten (Washington, 2.10.1889-April 1890) diese Dritte Konferenz nicht auf nordamerikanischem Boden stattfand, sondern in Rio de Janeiro. So konnte es gelten, die - platt ausgedrückt - Anreise der angelsächsischen Teilnehmer, ihre Ankunft im Süden als Anlaß eben einer Begrüßung zu nutzen. Wie schon "A Roosevelt", lebt die "Salutación" von der Gegenüberstellung der beiden Kontinenthälften, hier freilich unter extensiver Nutzung des heraldisch-emblematischen Funktionspotentials des USA-Wappentiers sowie, darüber hinaus, der mythischen, christlich-religiösen, historischen Attribute und Tugendkataloge des Adlers in Antike und Gegenwart... Die anaphorische (Str. 1, 2, 7, 14) Begrüßung gilt einem "Aguila", der seit Jupiters Herrschaft über Götter und Menschen, seit den politischen Machtgebilden in Griechenland und Rom bis hin zum "gran continente del Norte" (Str. 2) eine Vielzahl von Machtaspekten symbolisierte, ja eine gegen169

Titus Heydenreich wartsgerichtete translatio politischer, wirtschaftlicher (Str. 4), moralischer, kurzum staatenbildender Stärke suggeriert (Str. 9 und 11). So besehen, erscheint mit der Glorifizierung des Entfernungen, Höhen, Sonnenlicht nicht scheuenden Adlers auch das Land, das sich den respektgebietenden Großvogel mit den weit geöffneten Flügeln, mit den Attributen des Olivenzweigs und der Pfeile (Str. 1 und 3) und vor allem dem Leitspruch "E pluribus unum" (Str. 8) zum Wappenensemble kürte, in durchweg positivem, vorbildhaftem (Str. 8), Dynamik und Einfluß (Str. 14) ausstrahlendem Licht. Sublimiert wird diese positive Vision nicht durch eine wie in "A Roosevelt" - antithetische Gegenüberstellung der Estados Unidos mit "la América nuestra", sondern durch ein harmonistisches Postulat, das in politischer Hinsicht scheinbar vorbehaltlos den vom Norden konzipierten und getragenen Panamerikanismus ersehnt. Dem "Aguila" wird zwar der "Cóndor" des Andenraums als Brudervogel anempfohlen (Str. 10). Dem programmatischen Titel entsprechend, unterbleibt jedoch so etwas wie eine komplementäre "salutación al Cóndor". Vielmehr wird nach dem Optativen "puedan ambos juntarse en plenitud, concordia y esfuerzo" (Str. 10, 4) die anaphorische, USA-bezogene "Aguila"Apostrophe fortgeführt. Die "Salutación al Aguila" trug dem Dichter, wie man weiß, vielfaltige, anhaltende Vorwürfe ein - auch von Verehrern und Freunden, unter letzteren Rufino Blanco Fombona. Zumal zum Zeitpunkt des Wunsches, es mögen "los hijos nuestros" von "los yanquis la constancia, el vigor, el carácter" lernen (Str. 8) und gar "que al Latina América reciba tu mágica influencia" (Str. 14), der Präsident des big stick, der Adressat des Gedichts von 1904, nach Wiederwahl weiterhin amtierte. "[...] Yo pan-americanicé/con un vago temor y con muy poca fe", schreibt Darío selbstironisch, vielleicht auch etwas selbstkritisch wenig später in der - gleichfalls in El canto errante aufgenommenen - "Epístola a la sefiora de Leopoldo Lugones" (Darío, 1975, 747). Der Öffentlichkeitsschock freilich wirkte lange nach und führte u.a. dazu, daß dem Dichter 1910 die Teilnahme an Mexikos Centenario-Feiern versagt wurde. Gegen den Eindruck - damals wie heute - des Kurswechsels, des Verrats am Hispanoamericanismo oder auch nur des euphorischen 'Ausrutschers* 170

Rubén Darío: "A Roosevelt" und "Salutación al Aguila * sprechen jedoch gewichtige Argumente. Argumente pragmatischer wie idealistischer Natur, an die abschließend kurz erinnert sei. Die pragmatischen Argumente betreffen realpolitische Einsichten, denen sich der Dichter und Diplomat nicht entziehen konnte, wohl auch nicht wollte. Zum Zeitpunkt der Dritten Konferenz war er - so Oliver Beimas cansado de discursos y de oratoria decimonónica. Veía que todo ello era sólo palabras, palabras, palabras. Reconocía, de manera hidalga, el progreso y la praxis norteamericana y veía cómo Hispanoamérica quedaba atrás. La independencia política sólo había sido un desahogo espiritual, pero no una palanca de unión y de grandeza. (Oliver Belmás, 314) Die schon in "A Colón" (1892) beklagte innere Zerrissenheit des Südkontinents konnte die Vorstellung einer Kompatibilität von "panamericanismo" und "hispanoamericanismo de origen entre todos los pueblos hispánicos" fördern (Oliver Belmás, 315). Die genannten Einsichten hatten sich bereits vor 1906, dem Entstehungsjahr des Adler-Panegyrikos, angebahnt. Den Beweis liefert der just im Herbst 1904 geschriebene Artikel über Roosevelt, aus dem oben bereits zitiert wurde. Gewiß: Mehr als ein Satz wirkt ambivalent angelegt, mit Blick auf das Zielpublikum in Buenos Aires. "Es un yanqui representativo. Tiene en su cerebro grandes cosas. Tengamos cuidado": so die Schlußmahnung (Darío, 1977, 217). Und kurz zuvor folgt der behutsamen Panegyrik ein Verweis auf Expansionsgelüste, die trotz der verhaltenen Stillage, wie sie sich für einen offiziösen Korrespondenten (und Diplomaten) ziemte, alle inhaltlichen Momente der wenige Monate zuvor fernab von Paris geschriebenen lyrischen vituperatio nennt: [...] se manifiesta como un excepcional obrero del progreso [...], fuerte de la fuerza de su carácter y tan lejos del buen homre Ricardo como del mal hombre Zarathustra; y esto es lo grave para nosotros los hispanoamericanos, constituyendo un peligro para la América conquistable, el peligro de un director de apetitos imperialistas que se han 171

Titus Heydenreich manifestado desde Filipinas y Puerto Rico, hasta la reciente broma de Panamá. (Darío, 1977, 216) Noch bedeutsamer scheint uns im selben Artikel die Hervorkehrung eines positiven Moments, das zudem zur Betrachtung von Darios idealistischen Motiven des Adler-Lobes hinüberführt. Dario hegt keine Bedenken, in dem Weltmacht-Präsidenten nicht nur den passionierten Jäger und Sportler zu sehen, sondern auch einen schreibenden Kollegen... "Hace libros y caza osos y tigre", lautet der oben nur partiell zitierte Satz komplett. Wer, wie unlängst, Dichtung und Dichter gelobt habe - so zu Beginn des Vorworts zu El Canto errante -, erlaube die Schlußfolgerung: "el terrible cazador es un varón sensato" (Darío, 1975, 691). Vor dem Hintergrund weiterer Texte wirkt diese dialektische Würdigimg des "Roosevelt de rifle y pluma" (Darío, 1975, 214) wie ein Höchstmaß an Bereitschaft, am Präsidenten und dessen Land insgesamt nicht nur Bedrohliches zu unterstreichen. Hierhin gehört "Los anglosajones": Impressionen und Betrachtungen beim Besuch des USA-Pavillons der Pariser Weltausstellung im Sommer 1900, später, nämlich 1901 in Peregrinaciones wiederveröffentlicht. José Augustin Balseiro hat bereits hervorgehoben, daß der Text wie eine Replik auf Rodós kurz zuvor erschienenen Ariel wirkt (Balseiro 125 ff.). Denn gelobt wird hier neben Materiellem, platt Calibanischem, eben auch die Kultur des Nordens: [...] Los hispanoamericanos todavía no podemos enseñar al mundo en nuestro cielo mental constelaciones en que brillen los Poe, Whitman y Emerson. Allá, donde la mayoría se dedica al culto del dólar, se desarrolla, ante el imperio plutocrático, una minoría intelectual de innegable excelencia. [...]. Entre esos millones de Calibanes nacen los más maravillosos Arieles. [...] (Darío, 1950, Bd. 3, 426 f.) linter den Genannten figuriert leitmotivisch der Dichter von Leaves of Grass, als besonderer Exponent eines besseren, d.h. poetisch verehrungswürdigen, aber auch politisch glaubwürdigeren Amerika. Darios erste Huldigung, das Sonett "Walt Whitman", stammt bekanntlich aus den Jahren von 172

Rubén Darío: "A Roosevelt" und "Salutación al Aguila" Azul... (Darío, 1975, 538). Und in "A Roosevelt" wird der Name wie die exordiale Anrufung einer Schutz- und Alternativautorität im allerersten Vers eingesetzt. Zusammenfassend und ausblickend läßt sich sagen, daß "A Roosevelt" als Zeugnis eines unauflösbaren Konfliktes ebensowenig zu betrachten ist wie "Salutación al Aguila" als unreflektierter, unpatriotischer Kniefall vor dem notorischen Unterdrücker. Eher wirken die beiden Texte wie dialektische Artikulationen einer harmonistischen Hoffnung. Diese Hoffnung hat mit dem machiavellistisch-pragmatischen Panamerikanismus des Weißen Hauses nichts gemein. Sie findet in "Pax", im Jahr (1915) vor Daríos Tod und unter dem Eindruck des Europa zerfleischenden Krieges einen letzten beschwörenden Ausdruck: [...] No; no dejéis al odio que dispare su flecha, llevad a los altares de la Paz, miel y rosas. Paz a la inmensa América. Paz en nombre de Dios. Y pues aquí está el foco de una cultura nueva que sus principios lleva desde el Norte hasta el Sur, hagamos la Unión viva que el nuevo triunfo lleva; The Star Spangled Banner, con el blanco y azur... (Darío, 1975, 1126).

Anmerkungen 1

Vgl. u.a., auch zum Folgenden, die Schriften des Historikers und engagierten Apolegeten von Napoleons Intervention Michel Chevalier (1806-1879).

2

Vgl. zum Folgenden Fay, 424 ff.; Martin, 208 ff. u.ö.; Balseiro, 117 fT.: Kap. IV: "R.D. y Estados Unidos".

3

Aus: "Edgar Allan Poe. Fragmento de un estudio".

4

Vgl. insgesamt Trachtenberg, Besel/Kulgemeyer.

3

Dario zitiert sodann das zeitgeschichtliche Resümee des ehemaligen, im Pariser Exil lebenden Präsidenten von Honduras Marcos A. Soto. Soto erinnert an die seit Monroe obwaltenden Motive der interkontinentalen USA-Politik und sieht im Panama-Kanal - sofern sich dieser statt des Nikaragua-Konzepts durchsetzt - eine Chance des Nordens, Mittelamerika strategisch

173

Titus Heydenreich und wirtschaftlich in die Zange zu nehmen. Darios Artikel erschien am 23.4.1902. 6

Über Ursprünge und Entwicklungsphasen s. Fagg, 21 ff.

7

Vgl., auch zum Folgenden, Martin, sowie vor allem Oliver Beimas, 311 ff.: "Rubén Dario y su 'Salutación al Aguila".

174

Rubén Darío: "A Roosevelt" und "Salutación al Aguila" Literatur Ardao, Arturo. Génesis de la idea y el nombre de América Latina. Caracas, 1980. Balseiro, José Agustín. Seis estudios sobre Rubén Darío. Madrid, 1967. Besel, Uli, Kulgemeyer, Uwe. Fräulein Freiheit: Miss Liberty Enlightening the World. Berlin, 1986. Chevalier, Michel. L'Expédition du Mexique. Paris, 1862. . Le Mexique ancien et moderne. Paris, 1863. Darío, Rubén. Obras completas. 5 Bde. Madrid, 1950. . Poesías completas. 11. Aufl. Madrid, 1975. . Escritos dispersos. (Recogidos de periódicos de Buenos Aires). Bd. 2. La Plata, 1977. Fagg, John Edwin. Pan Americanism. Malabar, FL, 1982. Fay, Eliot G. "Rubén Darío en Nueva York". Estudios sobre Rubén Darío. Compilación y Prólogo de Ernesto Mejía Sánchez. México, 1968. 424 ff. Martí, José. Nuestra América.(Bibl. Ayacucho). Caracas, 1977 . Martín, Carlos. América en Rubén Darío: Aproximación al concepto de la literatura hispanoamericana. Madrid, 1972. Oliver Belmás, Antonio. Ultima vez con Rubén Darío: Literatura hispanoamericana y española (Ensayos). Bd 1. Madrid, 1978. Trachtenberg, Marvin. The Statue of Liberty. New York, 1976. Zorrilla, José. El drama del alma: Algo sobre México y Maximiliano. Poesía en dos partes, con notas en prosa y comentarios de un loco. Burgos, 1867.

175

Wolfgang Binder AUS DER KARIBIK NACH NEW YORK, TORONTO UND MONTREAL: LITERARISCHE ÄUSSERUNGEN KARIBISCHER (E-)MIGRATION SEIT DEN 1950er JAHREN Wer sich behaglich fiihlt zu Haus, der rennt nicht in die Welt hinaus. Friedrich Rückert Für Juan Flores

1. George Bush, damals noch Wahlkämpfer in eigener Sache, besuche im Sommer 1988 in Chicago eine Kirche und sitzt eine in Polnisch gehaltene Predigt ab. Sein Gegenspieler Michael Dukakis hält in San Antonio, das in Henry Cisneros einen C7»'ca«o-Oberbilrgenneister hat, eine Rede auf spanisch. New Yorks Oberbürgermeister Ed Koch, nachweislich den nicht-jüdischen Bevölkerungsteilen seiner Stadt nicht sonderlich wohlgesonnen, läuft bei der Puerto Rican Parade mit und erklärt seine temporäre neue ethnische Zugehörigkeit vor den Medien: "today yo soy boricua" (Sutton/Chaney, 329). Die Tanzmusik der Diskotheken und der Radios in New York und anderen amerikanischen Großstädten ist geprägt vom Salsa Sound der Kubaner und Puertoricaner, vom jamaikanischen Reggae und einer weiterentwickelten Form des Trinidader Kalypso, vom dominikanischen Merengue, und dem Rap der amerikanischen Schwarzen. Die Hiphop Youth Culture ist fest in karibischer und dann auch in afroamerikanischer Hand (The Face). Beim Carnival der Westinder in Brooklyn nahmen diesen September eine Million Menschen teil, wie der New Yorker Amsterdam News zu entnehmen ist (Browne). Das an der business community orientierte Time Magazine widmet nach den Erfolgen von Filmen wie La Bamba und Stand Up and Deliver den sogenannten Hispanics eine Sondernummer mit Datum des 11. Juli 1988 und dem für dieses Organ erstaunlich hispanisierenden Titel "Magnifico! Hispanic 177

Wolfgang Binder culture breaks out of the barrio". In New York existiert eine Zeitschrift mit dem Namen Hispanic Arts News, eine Association of Hispanic Arts, ein im März dieses Jahres gegründetes Institute of Latin American Writers in New York neben vielen aus den einzelnen nationalen und ethnischen Gruppen resultierenden Organisationen (Portable). Neu daran ist die Tatsache, daß sich lateinamerikanische und karibische Gruppen zusammenschließen, das Bewußtsein

ihrer

Diversität

zwar

nicht

aufgeben,

aber

über

den

unmittelbaren, am Lebensstil des jeweiligen Heimatlandes orientierten Selbsthilfegedanken hinausgehen und Gemeinsamkeiten entdecken, auch in der Interessenvertretung gegenüber der sogenannten dominanten Kultur. Neu ist allerdings auch die Breite eines auf der schieren Anzahl und hohen visibility der spanisch sprechenden Bevölkerung beruhenden backlash der sich bedroht fühlenden Anglo-Wählerschaft: In den Abstimmungen vom November letzten Jahres in den Bundesstaaten Florida, Arizona und Colorado stimmte eine klare Mehrheit für englisch als offizielle Sprache (Time, 21.11.88; Carlson). Die angeführten aktuellen, fast wahllos herausgegriffenen Beispiele zeigen, daß Zahl und Einfluß der lateinamerikanischen und karibischen Bevölkerungsgruppen in den USA so gewachsen sind, daß man als Kulturschaffender, als Medienmanager und auch als Politiker nicht mehr ganz ohne sie auskommt. 1 Ein Wort zum Begriff 'Migration'. Im Falle der hier untersuchten Literaturen handelt es sich sowohl um Literatur von Migranten, von Menschen, die wieder in ihr Heimatland zurückkehren, als auch, und dies ungleich häufiger, um Texte von Schreibenden, die ein halbes Leben lang nur mit dem Gedanken spielen, nach Haiti oder Jamaika oder Puerto Rico zurückzukehren, wenn sie genug Geld für ein Häuschen beieinander haben, und wenn es ihre Familie noch gibt, und sich die politischen Verhältnisse zu ihren Gunsten geändert haben... Man ahnt es: die wenigsten kehren zurück. Eine Ausnahme machen, aus einer Reihe von Gründen, die Puertoricaner, die seit den 70er Jahren eine starke return migration aufweisen (Carrasquillo/Carrasquillo). Was ich also vorzustellen versuche, ist, bei Lichte besehen, Emigrantenliteratur, auch wenn das manchen Schreibenden bei der Niederschrift noch nicht klar sein konnte. 178

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration

2.

Die folgenden Zahlen zur Niederlassung von karibischer Bevölkerung in New York (ich beziehe mich auf New York, weil die Daten im Gegensatz zu Zentren karibischer Präsenz wie Toronto, Miami, Boston, Chicago, Houston, Montreal greifbarer und konkreter sind) verdienen alle Vorsicht, da es in den USA keine Registrierung bei den Einwohnermeldeämtern gibt, die Volkszählungen recht ungenaue Resultate zeitigen, gleiches für das Zahlenmaterial der Einwanderungsbehörden und insbesonders für die Statistiken zu den illegal aliens gilt. Ich beginne mit den Gruppen aus zwei Ländern, die sich in den USA literarisch bisher am wenigsten äußern konnten, und zwar fast ausschließlich aus ökonomischen Notwendigkeiten. Man schreibt kaum einen Roman (und schon gar nicht in einer fremden Sprache), wenn man Mühe hat, die Miete zu bezahlen. New York beherbergt nach Allman/Richman gut 400.000 Haitianer; die Zahl bezieht sich auf 1984 und berücksichtigt nicht die Illegalen (Zit.in Sutton, 184). Glenn Hendricks schätzt die legal in New York wohnenden Dominikaner auf eine durchaus nach oben zu dehnende Ziffer zwischen 50.000 und 185.000 (151). Bray setzt die legal zwischen 1961 und 1981 in die USA eingewanderten Dominikaner, basierend auf Statistiken des Immigration and Naturalization Service, auf 255.578 Personen, von denen knapp 80 Prozent sich in New York niederließen (Zit. in Levine, 152 f.). Garrison/Weiss stellen fest, daß in der Spanne von 1960 bis 1983 1,74 Millionen Menschen aus der Karibik in die USA einreisten (die Puertoricaner als nordamerikanische Staatsbürger nicht gerechnet) und daß unter denen, die mit legalen Papieren registriert wurden, 300.617 aus Santo Domingo kamen. Nur die Kubaner (und dies aus politischen Gründen), über deren Exilliteratur in Miami und New York ich bereits geschrieben habe und die deshalb hier nicht berücksichtigt werden, und die Barbadianer mit 491.537 entries waren zahlreicher (Binder, 1987; Sutton, 235). Keine Zahlen waren bisher zu den Jamaikanern zu eruieren, was bei der auch numerisch starken, seit der Emancipation der 179

Wolfgang Binder 1830er Jahre bestehenden innerkaribischen und interamerikanischen Mobilität dieses Volks überrascht; es ist aber ein bekanntes Faktum, daß sie, wie die Barbadianer bereits in den 1920er und 30er Jahren, in Brooklyn und dann in Queens große communities bildeten, die sich bis heute gehalten haben. Die Puertoricaner besitzen seit 1917 den US-amerikanischen Pass und können so frei zwischen Festland und Insel hin und her pendeln, sich niederlassen, wo sie wollen. Die numerische Präsenz der Puertoricaner in New York allein wird auf über zwei Millionen geschätzt. In ihrem Falle kann man soziologisch oder juristisch am ehesten von Migration sprechen, kulturell aber bedeutet der Vorgang für mindestens die ersten beiden Generationen die Emigration. Die Gründe für die Wanderung aus dem karibischen Becken auf das nordamerikanische Festland lassen sich bündeln: Im Falle der Kubaner ab 1959 sind es weitgehend klare politische Gründe, erst in zweiter Linie kommen wirtschaftliche. (Orthodoxe Marxisten mögen da zum Teil anderer Ansicht sein). Für die Dominikaner unter Trujillo war es eine Kombination von politischen und ökonomischen Gründen, danach recht eindeutig der Wille, der Armut zu entkommen. Im Falle Haitis mit seiner Duvalier-Diktatorendynastie liegt wieder eine Kombination von Gründen vor, die in das Feld der Menschenrechte und in das der akuten Armut fällt. Bei all diesen von mir so global angegebenen Beispielen wären natürlich etwa klassenspezifische Charakteristika von (Klein- bzw. Groß-) Gruppen oder Einzelpersonen sowie genaue Datierungen anzugeben, aber das ist in diesem Rahmen nicht zu leisten. Für die anglophonen Länder wie Jamaika und Barbados bestand nie eine akute Unterdrückung durch ein diktatorisches Regime; die Gründe für eine Niederlassung in den USA waren und sind demnach eindeutig wirtschaftlicher Natur. Für (British) Guyana muß dagegen eine Ausnahme gemacht werden; dort kann man, wie es der in Warwick, England, lehrende guyanesische Karibikforscher und Schriftsteller David Dabydeen eindringlich bestätigt, aus Gründen politischer Unterdrückung, die oft mit ethnischer Polarisierung einhergeht, seit den fünfziger Jahren bis heute leicht in Lebensgefahr geraten (Dabydeen). 180

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration Wer die klugen Arbeiten des Clifford Geertz, die Werke eines Pierre Bourdieu, oder die von Hans-Peter Duerr herausgegebene Anthologie Der Wissenschaftler und das Irrationale, wer die Qualen eines Bronislaw Malinowski aus seinen Neuguinea-Tagebüchern, oder das Wunschdenken einer sich in Südsee-ldyllen hineinlügenden Margaret Mead zur Kenntnis genommen hat, dem sollte die Lust, eine Fallstudie zu verallgemeinern, einem schöngeistigen oder 'wissenschaftlichen' Autor zu glauben, die interpretierte, geschilderte Welt seiner 'dichten' Beschreibung" als eine objektive oder auch nur als eine verstandene anzunehmen, gründlich leid sein (Malinowski, IV; Mead, 1939; Mead, 1954). Ich will daher mit aller gebotenen Vorsicht auf der Grundlage extensiver Lektüre und langer persönlicher Kontakte mit der Karibik und ihrer nordamerikanischen Diaspora zunächst kurz einige allgemeine Erkenntnisse zur Literatur der Migration bzw. Emigration aus dem karibischen Raum anführen und danach einige Werke näher analysieren.

3.

Während die verschriftlichte Literatur der Inseln und Länder spanisch-karibischer Kultur leicht bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückzuverfolgen ist, gilt dies für die anglophone und frankophone Karibik keineswegs. Diese Gebiete waren keine Siedlungskolonien, sondern bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Plantagenterritorien mit Sklavenhaltung, absentee ownership und einer äußerst dünnen permanent dort ansässigen weißen Schicht der Entwicklung einer Nationalliteratur nicht förderlich. Für Jamaika und Trinidad setzt man den Beginn der eigenständigen, dort verfaßten Literatur mit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts an, und ähnliches gilt für Haiti und Gouadeloupe sowie Martinique. Da hatten mehrere Generationen Schriftsteller auf Kuba, Santo Domingo und Puerto Rico schon eine Reihe stattlicher Werke produziert. Die erste Welle der Migranten/Emigranten in die USA und nach Kanada und damit meine ich nicht die kleinen Gruppen der Eliten etwa aus Kuba und 181

Wolfgang Binder Puerto Rico, die sich in den 1880er und 1890er Jahren in New York aufhielten und von dort aus für ihre Unabhängigkeit gegen Spanien schreibend kämpften, sondern die Masseneinwanderung seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts - bestand weitgehend aus ungelernten oder angelernten Arbeitern, was die Kubaner und Puertoricaner betraf, und aus Arbeitern und kleinen Angestellten, was Jamaika und Barbados anlangte. Die zugänglichen Dokumente sind Zeitungen in der eigenen Sprache, Zeitschriften, die auch regional-landsmannschaftlich orientiert waren oder einer politischen Richtung folgten. Viele puertoricanische Einwanderer um 1920, als das barrio der heutigen Westside entstand, waren in der Zigarren- und Zigarrettenindustrie beschäftigt. Es war Sitte, daß man einen Vorleser pro Saal hatte. So hörten die Arbeiter und Arbeiterinnen ganze Romane und Tageszeitungen, hatten also als Rezipienten gewisse literarische und politische Kenntnisse. Die beiden ersten zusammenhängenden Texte der puertoricanischen Literatur des Festlands, die Memorias de Bemardo

Vega und von Jesus Colon

[i»c] A Puerto Rican in New York and Other Sketches, sind Produkte von Männern, die 1919 bzw. 1918 aus Cayey nach New York zogen, um dort Zigarren zu drehen. Beide waren sie politisch aktiv als Sozialisten und Nationalisten. Daß Colon in Englisch schrieb, entbehrt einerseits nicht einer gewissen Ironie, macht ihn aber zu einem wichtigen Vorläufer der in Englisch verfaßten Literatur der 50er Jahre bis heute. Beide Autoren waren Autodidakten, beiden wurde bei den Buchfassungen edierend geholfen, beide inkorporierten Artikel, die sie für New Yorker Zeitungen und Zeitschriften geschrieben hatten. Es handelt sich um relevante soziopolitische Dokumente für die Beschreibung puertoricanischen Lebens in New York von den 20er Jahren bis in die späten 40er Jahre hinein. Die Motivation des frühen literarischen Schaffens interessiert uns auch insofern, als sie in literarischen Äußerungen einer Vielzahl

von

Autoren

festzuhalten

ist:

Die

Verfasser

wollen

belehren,

wiedergeben, wie es wirklich war (wobei sie natürlich filtern, manipulieren, ihnen ihre politische Überzeugung und Perzeption Prioritäten setzen); sie wollen Vorurteile abbauen, das eigene Volk aufrichten, sie verstehen sich als Sprecher ihrer Gruppe. Vega betont etwa wiederholt seine Rolle als 182

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration Verteidiger der kollektiven "dignidad puertorriqueña" (198). Die Texte sind und dies gilt für sehr viele Texte der ersten Generation - Protestliteratur, Aufklärungsliteratur, sie haben Appellcharakter. Sie bilden den Beginn eines Bogens, der in den 60er und frühen 70er Jahren dann ganz gespannt wird (Binder, 1983). Ein gutes Beispiel für den Appellcharakter der frühen Literatur, der auf Sentimentalität, Idyllisierung und politischen Biß nicht verrichtet, ist etwa Colons berühmt gewordener Brief, Text Nr. 50 in A Puerto Rican, "Grandma, Please Don't Come!". Er schreibt damit gegen den Massenexodus an, was (zumindest auf dem Papier) um so wirksamer ist, weil der Autor differenziert und auf exemplarische Manier eine alte puertoricanische Frau, die Bedürfnisse des sich in New York befindlichen Teils der Familie sowie die Verlockungen der US-amerikanischen Großstadt allgemein zueinander in Beziehung setzt. Traditionelle und vertraute, ländlicher Existenz eignende Vorteile Puerto Ricos werden in den Vordergrund gerückt, Fremdheit und Bedrohlichkeit, die Anonymität des Lebens in New York betont: [...] They have sent you the photographs of your little darling grandchildren born in New York. True, you have not seen them yet. You would like to leave your tropical sun and mountains and the little rivulet bathing the base of the fence in your backyard and the tall avocado tree right by your kitchen door, just to see and embrace those darling grandchildren. But again, I say, grandma, please don't come! I know you are not well-to-do. But you have been living on what your sons and daughters send you every month from the states. [sic] I know there is need and poverty around you. And discrimination and economic and cultural oppression there.[...] Yes, it is nice here in a way. It is nice if you are young and willing and able to go down five flights of stairs two or three times a day. If you can "take it" in a crowded subway where you are squeezed in twice a day as if you were a cork in a bottle. [...] We come to New York young and leave old and tired. [...] In Puerto Rico, nobody pushes you, you walk slowly as if the day had 48 hours. [...] At the beginning snow is a novelty. But after you have seen it once or twice, you wish you were back in our Puerto Rico, looking out at your avocado tree and the tall dignified palm piercing the deep blue Caribbean sky with its sheer beauty. 183

Wolfgang Binder In Puerto Rico you will be chatting your head off in your own language with the other grandmothers. Nobody will shout at you: "Why don't you talk United States?" Or even threaten you with a beating because you are talking Spanish. [...] People have been killed because they are heard speaking Spanish. So grandma, please don't come ! [...] All people, North Americans and Puerto Ricans alike, are looking forward to the day when they can spend the last years of their lives on a tropical isle - a paradise on earth surrounded by clear blue sea imprisoned in a belt of golden beaches. [...] For many of us this is a dream that will never be realized. [...] [...] You have been there all your life. You now have what most people here can only dream about. Don't let sentimental letters and life-colored photographs lure you from your island, from your nation, from yourself. Grandma, please, please ! DO NOT COME ! (183 f.) Die hier angeschnittenen Fragen der Loyalitäten (gegenüber Sprache und Nation etwa) und der Topos der Tropeninsel als Idylle und Traum, den wir für Puerto Rico bereits im 17. Jahrhundert festhalten können, bzw. deren Inversion zu einem Alptraum, was New York im 20. Jahrhundert anlangt, bleiben Konstanten puertoricanischer Literatur, ob sie nun auf der Insel oder auf dem Festland geschrieben wird (Barradas; Binder, 1988; Flores et al.).

4.

Wiesen schon Vega und Colon eine Vorliebe für die kleine Form auf, so wird das bei den anglophonen Migranten noch deutlicher. Da sind uns keine Werke in Buchformat bis in die 50er Jahre hinein überliefert. Was wir aber haben, ist Protest, gekoppelt mit Selbstdefinition, in der kurzen Form, im Gedicht. So etwa vom Jamaikaner Claude McKay, dem großen Vorläufer der westindischen anglophonen Literatur auf dem nordamerikanischen Festland in "America": Although she feeds me bread of bitterness, And sinks into my throat her tiger's tooth, 184

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration Stealing my breath of life, 1 will confess I love this cultured hell that tests my youth! Her vigor flows like tides into my blood, Giving me strength erect against her hate. Her bigness sweeps my being like a flood. [...] (Zit. inHuggins, 355) Das Gedicht spiegelt die Ambivalenz des Jamaikaners gegenüber Amerika, in dessen black community er sich im Rahmen der Harlem Renaissance durchaus wohlfühlen konnte (Cooper, 153, 165). Schwieriger war es für spanisch sprechende Mulatten oder Mestizen, die keine Großgruppe vorfanden, die ihnen das Gefühl einer extremen kulturellen und rassischen Marginalisierung wenigstens zum Teil nahm. Die Frage der Rassendiskriminierung, der Schock einer kontinentalen undifferenzierten Klassifizierung in Schwarz und Weiß, stellt eines der durchgängigen Themen dar, die buchstäblich jedem Text eignen. Vega zieht bereits das Fazit: "Si algo ha enseñado a los puertorriqueños, incluso a los puertorriqueños blancos, la vida en Estados Unidos, es el reconocimiento de la discriminación" (228). Oder Colon gibt seiner Scham Ausdruck, daß er es als schwarzer Puertoricaner aus Angst, zurückgestoßen zu werden, nicht wagte, einer weißen Amerikanerin, die kleine Kinder auf dem Arm trug, zu helfen, ganz gegen seine anerzogene karibische Höflichkeit und Ritterlichkeit (11517). Für den 1928 in Harlem geborenen Piri Thomas, einen Mulatten, bedeutet in den 50er und in den 60er Jahren seine Hautfarbe ein Problem, das ihn nach heftigen Szenen mit seinem Vater und Bruder auf eine in den amerikanischen Süden führt, um herauszufinden, ob er sich den Schwarzen eingliedern kann (Binder, 1980). Thomas bildet mit seinem Gettobestseller Down These Mean Streets (1967) in mehrerer Hinsicht eine Fortsetzung von Vega und Colon. Alle drei Werke, und dies gilt für nahezu sämtliche literarische Zeugnisse der karibischen Literatur in Nordamerika der ersten Generation, sind stark autobiographisch gefärbt, haben eine didaktische Form oder eine Agitprop-Tendenz. Erst in den 80er Jahren löst sich die zweite und dritte 185

Wolfgang Binder Generation und schreibt freier, nicht mehr auf Loyalitäten - hie USA - dort Puerto Rico - fixiert, geht auch spielerischer, ja avantgardistisch, mit der Sprache um. Autoren wie Ed Vega, der in Englisch schreibt, oder Manuel Ramos Otero, der in Spanisch schreibt, wären in diesem Zusammenhang zu nennen. Das Zusammenfinden in einem gesamtlateinamerikanischen Kontext, auf das ich eingangs hinwies, ist ein weiteres Indiz für dieses Abrücken von einer Teilhabe an einer (E-)Migrantenliteratur, was die Puertoricaner anlangt. Gleichzeitig lebt die Gettoliteratur mit ihren traditionellen, seit den 60er Jahren bekannten Themen und Verfahrensweisen der Nuyorican Poetry in Tato Laviera, Miguel Piñero oder Miguel Algarin fort, parallel dazu. Die Kubaner besitzen eine bereits ansehliche Literatur von den Emigranten der ersten Stunde an, eine Literatur der politischen Rage, der Denunziation und der Nostalgie sowie, in neuester Zeit, eine satirische Literatur, die sowohl in Miami wie in New York angesiedelt ist (Binder, 1987). 2 Es ist bekannt, daß sich Reinaldo Arenas bis vor einigen Jahren wechselweise in New York und San Juan, Puerto Rico, aufhielt. Die jungen kubanischen Lyriker der zweiten Generation in New York haben sich in den letzten Jahren zusammengeschlossen und publizieren gemeinsam. Von den Dominikanern ist mir bis dato außer Merengue-Texten und einigen wenigen Gedichten sowie einer Anthologie, die wir dem in New York lebenden dominikanischen Lyriker Franklin Gutiérrez verdanken, keine Literaturproduktion bekannt. Ökonomische Notwendigkeiten scheinen dringender zu sein. Die Relevanz der der Volkskultur angehörenden Reggae-, Dub-, Kalypsound Merenguetexte soll jedoch keineswegs heruntergespielt werden. Musik und Texte sind für die überwiegende Mehrzahl der Menschen aus der Karibik das, womit sie täglich umgehen, was sie auswendig können, was ihre Alltagsprobleme aufgreift. Zwei Strophen eines Merengue, den ich leider nur in englischer Übersetzung gefunden habe, seien zur Verdeutlichung zitiert: They say Americans never speak of anything less than millions and I said I would go and gather up the leftovers. When I arrived there at dawn 186

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration I said, "This a beautiful thing, I will become a Yankee"! My family believes I am playing around and I was taken by the devil in New York. My cousin Juan Maria met me at the airport (but) Instead of inviting me for a drink he took me to a factory. The little that I earn I send to my wife. I earn 48 and send them 26. My family believes that I am playing around and I was taken by the devil in New York. (Zit. in Hendricks, 7) Und hier ist das Fragment eines Kalypso, wie ihn einer der berühmtesten Trinidader Kalypsosänger und -komponisten, Mighty Sparrow, anläßlich eines Carnival in New York 1976 gesungen und aufgenommen hat. Es findet sich darin ein Gemeinschaftsgefühl, das gesamtkaribisch und lateinamerikanisch ist, und das nur in Städten wie New York oder Houston, seit 1980 ohne Einschränkungen auch in Miami, 3 aber in keiner einzigen karibischen Stadt zu finden ist: You can be from St. Cleo or from John John In New York, all that done, They haven't know who is who, New York equalizes you. Bajan, Grenadian, Jamaican "toute monde", Drinking they rum, beating they bottle and spoon. And no one who see me can honestly say, They don't like to be in Brooklyn on Labor Day ! (Zit. in Sutton, 343) 5. Etwas ausführlicher soll im folgenden auf einige Werke eingegangen werden, die zur Existenz der jeweiligen Volksgruppe und ihrer literarischen Leistungen im Gastland etwas aussagen können. Eine Anwendung mit völkerpsychologischer Dimension liegt mir fern. Dennoch kann die Fiktionalität der Texte ein Autobiographie- bzw. Dokumentarsubstrat, die von den Autoren 187

Wolfgang Binder selbst erfahrene Realität der Existenz außerhalb ihres Geburtslandes, auf dem nordamerikanischen Festland, nicht verbergen. Die Auswahl der Texte basiert auf ihrer Einschätzung als a) gute Literatur im Rahmen dessen, was überhaupt vorliegt, und b) als Texte, die ergiebig sind für ein Abtasten nach der Spannung zwischen Herkunftsland bzw. Gastland, nach impliziten oder expliziten Wertungen. Aus der puertoricanischen Literatur sollen zwei Werke von Pedro Juan Soto herausgegriffen werden (ein umfangreiches Corpus von Werken, das sich mit der Emigrationsthematik befaßt, stünde zur Verfügung), von denen das erste bis heute eigentlich nicht die Würdigung erfahren hat, die es verdient. Pedro Juan Soto, wie Piri Thomas im Jahre 1928 geboren, hat selbst zehn Jahre im barrio als Jugendlicher gelebt und veröffentlichte mit Spiks (1956) eine Kurzgeschichtensammlung, mitten im Massenexodus der Puertoricaner. Mit Ausnahme einer Geschichte bleibt das Armenmilieu des barrio Schauplatz. Die für die puertoricanische Literatur der Zeit unerhörte Sprachgebung betont die Gewalttätigkeit. Soto favorisiert den elliptischen Dialog, Leerstellen (er hat sichtlich Hemingway gelesen), die Phonetik der Volkssprache. Der Eindruck von Aussichtslosigkeit, von Apathie im Sinne der "Culture of Poverty" eines Oscar Lewis, entströmt dem Werk. Die Texte haben etwas Hermetisches, Gettoartiges: die Außenwelt, die Gesamtkultur ist so gut wie ausgeschlossen. In drei Geschichten wird die übersinnliche Dimension angesprochen: als von extremem Stress ausgelösten Wahn- und Traumvorstellungen, als Ersatzhandlungen (Reubens), als Projektionen eines besseren Lebens für eine vom Schicksal gebeutelte, schwangere, dem Wahnsinn nahe Prostituierte, für eine junge, verlassene Frau, die ihren in Puerto Rico verbliebenen Mann als Geist beschwört, um ihn präsent zu haben, für einen in seinem Stolz verletzten Jungen, der sich vom mal de ojo seines Billiard-Gegners verhext fühlt. Für Sotos Figuren ist Puerto Rico so nah und selbstverständlich, eine Assimilierung so irreal, daß er die Dichotomie USA - Puerto Rico kaum thematisiert. Die Spannung zwischen beiden Welten ist aber stets präsent. In "Cautivo", der Kurzgeschichte, die auf dem Flughafen von San Juan spielt, 188

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration dienen die USA dazu, die junge Frau von ihrem feigen Liebhaber, der zugleich der Mann ihrer Schwester ist, zu trennen. Sie fliegt, er bleibt. Am deutlichsten gekoppelt an kulturelle Wertungen der beiden Länder sind die Kurzgeschichten "Los inocentes" und "Bayaminiña". In der erstgenannten wird der geistig behinderte, halbwüchsige Sohn von seiner Schwester Hortensia gegen den Willen der Mutter abgeholt und in eine Anstalt gebracht. Der Junge Pipe erinnert sich in Fragmenten an eine ländliche Idylle, fragt nach der "plaza", fordert Papa Gott auf, eine "plaza" zu schaffen, kommt mit inneren Monologen zu Wort: "y no hay gallos y no hay perros y no hay campanas y no hay viento del río y no hay timbre de cine y el sol no entra aquí y no me gusta" (46). Die Absenz dessen, was natürlich, gut und angenehm ist, charakterisiert sein Leben in New York. Seine Mutter klagt resignierend und benutzt dasselbe Referenzsystem: "En Puerto Rico no hubiera pasao ehto..." (44). Die Tochter fordert ihr Recht auf Leben, ein materielles Bessergestelltsein nach einem Jahr im barrio, doch auch sie ist aufgewühlt von dem in Puerto Rico undenkbaren Abschieben des Jungen in eine Irrenanstalt: "Hortensia tiró la puerta y bajó con Pipe a toda prisa. Y ante la inmensa claridad de un mediodía de junio, quiso huracanes y eclipses y nevadas" (49). In der Geschichte "Bayaminiña" wird eine kleine ambulante cuchifritoKüche im barrio von der Gesundheitspolizei durch unsensibel eingeforderte Zahlung von Steuern eliminiert. Die Kiste auf Rädern, fast am Verfaulen, war puertoricanisch geschmückt: "Tenía franjas azules, rojas y amarillas, y la caja en el tope - llena de fritas de bacalao, morcilla y alcapurrias - tenía cristal por los cuatro costados" (66). Sie ist, auch durch ihre volksnahen, typischen Speisen, ein Stück rekreiertes Puerto Rico - das trotz des Flehens des Puertoricaners in der Konfrontation von ihm selbst zerstört wird. Dabei brüllt er seine Verzweiflung hinaus - auch er hat keine Alternative: El vendedor vaciló, hizo una mueca airada, y se dio vuelta para abalanzarse sobre el carro. Kirilín ! los cristales y pon! la madera. Y él chillaba: - Gimme a job, sarambich, gimme a job !! Y la hojalata clan ! clan!, donde mismo se leía BAYAMINIÑA, ya se ensuciaba de sangre, ya se salpicaba de lágrimas, y ya se libraba de clavos para recobrar su antigua forma de cacharro. (69) 189

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Die von puertoricanischer Hand aus Not und Schmuckbedürfnis einer Volkskultur heraus verwandelte Kiste wird im New Yorker Exil wieder zu dem was sie war. Ein Stück Identität und karibische Grazie wird unter verständnislosem Druck selbstmordartig zerstört. Puerto Rico als Insel, Traum, Idylle, als agrarisch geprägte, festgefügte Welt wird in New York zu einem Vakuum, zitierbar in Akten und Metaphern der Vergeblichkeit. Soto schrieb mit Ardiente suelo, fría estación (1961) einen Roman, in dem, gekoppelt an eine Familiengeschichte, von dem Versuch eines achtzehnjährigen New Yorker Puertoricaners erzählt wird, nach Puerto Rico zurückzukehren. Vor allem das Brüderpaar Eduardo (er blieb in New York und ist auf der Insel zu Besuch) und Jacinto, der vor Jahren nach Puerto Rico zog und dort als Lehrer arbeitet, dient Soto als Modell für ein Durchspielen zweier möglicher puertoricanischer Lebensweisen. Im Kontext der return migration besitzt der Roman ungewöhnliche Sprengkraft, denn Soto läßt Eduardo (gegen seine, des Autors, eigene politische Überzeugung) nicht nach Puerto Rico zurückkehren. Der Protagonist sieht zwar New York auch als Dschungel und ist am Anfang seines Aufenthalts willig, zurückzukehren wie ein verlorener Sohn, empfindet dann aber die gespeicherte Idylle seiner Kindheit im Armenviertel El Babote des Städtchens Caramillo mehrfach verletzt durch die abgrundtiefe Armut und die moralische Verworfenheit der Bewohner, den Chauvinismus der Inselpuertoricaner ihm als "Nuyorican" gegenüber: man nennt ihn schon im Flughafen "gringito", später zunehmend "americanito". (30, 107, u.ö.) Auch bekommt er einen Horror vor den Driftern und Eskapisten, die in der Altstadt San Juans in Bars und Clubs sich mit wirrem Geschwätz, Sexorgien und Alkohol über ihre Wurzellosigkeit hinwegzuhelfen versuchen. Noch am glücklichsten ist er, und das erscheint durchaus symbolisch gewichtet, mit dem epileptischen Taubstummen von Caramillo, seinem Heimatstädtchen. Die stark ideologisch eingefärbte Position seines Bruders, den man politisch als (von seiner Frau unverstandenen) independentista einorden darf, der seine Anwesenheit auf der Insel als Dienst am Volke sieht, kann er nicht teilen. Daß der Autor auch Eduardo keineswegs als unbeschä190

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration digt sieht, seine 'Heimat' New York eingeschlossen, wo man ihn als "Spik" beschimpft (29, 45, u.ö.), erhellt u. a. aus der mehrfachen Betonung seines durch Akne extrem entstellten Gesichts. Er kehrt nach New York zurück, weil dort das Schlachtfeld etwas klarer für ihn aussieht als im komplexeren, nicht so offenen Puerto Rico. Der Roman ist demnach um einiges pessimistischer als das berühmt gewordene Drama von René Marqués (1919-1979), La Carreta, das seit 1953 immer wieder als nationales Drama (in des Wortes mehrfacher Bedeutung) in Puerto Rico mit großem Erfolg aufgeführt wird. In ihm findet, wie in einer ganzen Phalanx von Werken der 50er und frühen 60er Jahre, deren Vorläufer bis zu Zeno Gandia, also vor die Jahrhundertwende, zurückreichen, die Fluchtbewegung der Reise von den Bergen Puerto Ricos in den Slum von San Juan, La Perla, und ins barrio New Yorks oder in die Bronx ihren literarischen Ausdruck und ethische Bewertung. Denn trotz aller Tragödien ist man bei Marqués am Ende entschlossen, aufs hügelige Land zurückzukehren, es zu bebauen, die eigenen Hände statt in mordende Maschinen in der Erde zu versenken, in Puerto Rico daheim zu sein. Die tellurische, emotionsgeladene Mystik des Schlusses enthüllt eine zentrale Wertvorstellung des ehemaligen hacendado Marqués, für den allein das Bebauen des eigenen Landes vor der Invasion durch die Barbaren des Nordens schützt, wie er es in einem seiner stärksten Dramen, Los soles truncos (1958), von Inés formulieren ließ (71). Auch in der Schlußszene von La Carreta werden die Worte der Reue und Erlösung von einer Muttergestalt gesprochen, hier im /ifcaro-Dialekt der Berge Puerto Ricos (und im ebenso fordernden wie visionären Modus des Futurs): "[...] La mardisión de la tierra! La tierra es sagrá. La tierra no se abandona. Hay que volver a lo que dejamoh pa que no noh persiga máh la mardisión de la tierra.[...] Y hundiré mih manoh en la tierra colorà de mi barrio como lah hundía el abuelo pa sembrar lah semillah. Y mih manoh volverán a ser fuerteh. Y volverá a oler mi casa a pacholí y yerbabuena. Y habrá tierra afuera [...]". (171)

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Als zweites Romanbeispiel möchte ich Brown Girl, Brownstones, von Paule Marshall einbringen. Es handelt sich um den bis heute klassischen Text zur Niederlassung der Bajans in Brooklyn. Marshalls Eltern stammten aus Barbados; der Roman besitzt nicht leugbare autobiographische Züge (Russell). Durch die Perzeption der heranwachsenden Seiina werden die beiden Eltern, Silla und Deighton, und deren Wertmaßstäbe gesehen, analysiert; Seiina ist dabei participant observer. Die Bajans galten, vor allem unter den nordamerikanischen Schwarzen, dank ihrer Sparsamkeit und Zielstrebigkeit nach Lowenthal als "Black Jews", wurden zu einer Stereotype. Ueda stellt fest, daß auch im Jahre 1980 die "West Indians" in New York über die Häfte der von Schwarzen besessenen Geschäfte und Unternehmen in Händen hätten, wie überhaupt die Tendenz, daß ausgebildete Schichten der Bevölkerung aus Jamaika und Barbados zunehmend in die USA und nach Kanada auswandern, ungebrochen anhält (Ueda und Lowenthal in Foner, 117 ff.; Dixon). Das in Brown Girl sehr zäh und erbittert angegangene Ziel eines eigenen Hauses in Brooklyn entzweit die Eltern, führt zum entmündigenden Abgleiten des Vaters in eine grotesk geschilderte afroamerikanische Sekte, die der des Father Divine nachgezeichnet ist, führt zu seiner Denunziation als illegal alien durch seine in höchstem Grade eifersüchtige, sich um Mann und Besitz betrogen fühlende Frau und zu seinem sehr wahrscheinlichen Selbstmord auf dem Schiff, in Sichtweite der Heimatinsel Barbados - ein überaus ironisches homecoming. Die Frage, wo man zu Hause sei, wo man sein Haus kaufe, durchzieht das Buch. Für Silla, die einem karikaturesken barbadischen Hauseigentümerverein beitritt, ist der Fall klar: nur in Brooklyn will sie ein Haus. Für den Dandy und Frauenliebhaber Deighton ist nichts klar; er will sich alles offenhalten, vor allem aber nicht sparen. Er ist ein Lebemann und Träumer; da er ein Stück Land (genannt "a piece of ground home", 25) von seiner Familie auf Barbados geerbt hat, spielt er mit dem Gedanken, dort, nachdem er einiges Kapital in New York angehäuft hat, eine Villa zu bauen, eine Idee, die seine Frau als Chimäre und als lebensbedrohend empfindet. Für sie bedeutet Barbados 192

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration

"[...] a set of little children picking grass in a cane field from the time God sun rise in his heaven till it set. With some woman called a Driver to wash yuh tail in licks if yuh dare look up.[...] People having to work for next to next skin to nothing. The white people treating we like slaves still and we taking it. The rum shop and the church join together to keep we pacify and in ignorance. That's Barbados. It's a terrible thing to know that you gon be poor all yuh life, no matter how hard you work". (45, 70) Deighton, der über weite Strecken die Sympathie seiner Tochter hat, wird bei der Beantwortung der Frage, wie Barbados sei, ebenso verträumt wie wortkarg, sagt aber genug: "What must I say nuh ? Barbados is poor-poor but sweet enough. That's why I going back" (11). Die Wertungen, die die USA betreffen, das die Bajans "man country" nennen, sind zwar nicht hymnisch, aber sie drücken das Gefühl aus, wenigstens durch harte Arbeit voranzukommen. Silla: "I ain't saying that we don catch H in this contry what with the discrimination and thing and how hard we does have to scrub the Jew floor to make a penny, but my Christ, at least you can make a headway [...]"• (79) Während die traditionellen Praktiken des Obeah zwischen Naturheilkunde, oppositionellem Glaubenssystem und Hexerei oszillieren und offen nur von Sillas Freundin Florrie Trotman bejaht werden, fürchten sich sämtliche Freundinnen Sillas vor den Gefahren, die jungen Mädchen auf den Straßen Brooklyns (nach Manhattan geraten sie in der Regel nicht) auflauem. Seiinas New York-Erfahrung kommt mit ihrem ersten Collegejahr. Sie liebt die neu entdeckte Fifth Avenue und den Times Square, obwohl sie sich auch als "dark intruder in their glittering inaccessible world" sieht. Das Chaos Manhattans "echoed her inner chaos" (219). Die wirkliche Großstadt Manhattan wird, wie vorher vor allem die Innenräume des Hauses im vergleichsweise provinziellen Brooklyn, zum symbolischen Raum. Ihr Freund Clive, ein junger Ma193

Wolfgang Binder ler, führt sie in die Liebe und die Pseudoboheme des Village ein, führt sie mit den ersten Schritten aus der barbadischen community heraus. Die endgültige Initiation in ihr Schwarzsein, in ihre ethnisch definierte Identität, erfolgt durch die rassistische Mutter einer Freundin. Im Kontrast zur todesartig-bleichen, wasseräugigen weißen Frau erkennt sie verwundet und schockiert "the full meaning of her black skin" (298). Seiina wirft am Ende des Romans ihre symbolbefrachteten barbadische Silberspangen, ihre bangles, ab und geht, sehr allein, ihren eigenen Weg, wohin, bleibt offen. Sicher ist nur, daß sie das Leben ihrer Mutter nicht nachvollziehen oder teilen wird. Brown Girl, Brownstones ist ein Text über eine in sich geschlossene, recht provinzielle, schwarzkaribische upwardly mobile Gruppe, die in ihren Ritualen weiße Respektabilität und Besitzdenken imitiert. Und es ist ein Text über den Ausbruch aus dieser Welt durch eine junge, von der Gruppe nur allzu gerne vereinnahmte junge Frau. Das Gastland schillert ebenso wie das Herkunftsland in den Meinungen und Schicksalen der Protagonisten, in einer Sprache, die dem Bajan English in den Dialogen und, hineingleitend, in vielen Beschreibungen angenähert ist. Auch benutzt Marshall den Generationenunterschied als Generationenkonflikt und die Geschlechtszugehörigkeit ihrer Protagonisten, um Wandlungen innerhalb der ln-Group aufzuzeigen, ein durchgängiges Motiv in der gesamten karibischen Prosaliteratur des Festlands. Die Autorin selbst beweist genügend Distanz zu ihrem Thema, um Wertungen eigenständig abzuwägen: [These women] accepted without question the materialistic ethic of this country while at the same time remaining, it seems to me, strangely aloof from America.[...] They were, for all their insularity, fears and misguided materialism, women of impressive strength, authority, and style.[...] All in all it seems to me that these women [...] accomplished, in general, what they had set out to do in coming to America. By dint of hard work, sacrifice, and a fierce determination and will, they acquired the house, the university degree for their children, the cars, the fur coats (which were usually, I remember, black Persian lamb) and, more recently, the trips "home" to Barbados each year to celebrate independence. (Marshall, in Sutton/Chaney, 91) 194

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration

Paule Marshall, die in ihren späteren Werken, etwa in Praisesong for the Widow (1983), zunehmend mythisierend die Karibik und Afrika als kulturelles, auch als Frauenlob produzierendes, feministisches Referenzsystem berücksichtigt, blieb selbst in den USA wohnen (Kubitschek). 7. Kanada besitzt vor allem seit 1960, den ersten Jahren nach der sogenannten Unabhängigkeit der karibischen Kleinstaaten und nach Aufhebung der erstaunlich restriktiven Gesetzgebung zur Einwanderung aus der Karibik mit dem Immigration Act von 1962 (die ab 1.1.1989 erneut zu einer harten, restriktiven Linie zurückkehren sollte) ein besonderes Verhältnis zu der Region, deren Anfänge bis in die Kolonialzeit zurückreichen. Das Land übernahm ab den 60er Jahren teils eine Statthalterfunktion für Großbritannien innerhalb des Commonwealth, teils eine solche für die Großbritannien seit den 50er Jahren sehr weitgehend ersetzenden USA. Rund 75 Prozent der karibischen Migranten und Emigranten, die direkt ins Land kamen, taten dies nach dem Stichdatum 1962 (Jacot; D. Marshall, in Levine, 27 f.). Die anglophone Literatur karibischer Herkunft konzentriert sich auf Toronto mit dem großen, 1934 auf Barbados geborenen Austin Chesterfield Clarke, der Lyrikerin Dionne Brand und dem inzwischen verstorbenen Harry Ladoo. Der Trinidader Autor Samuel Selvon, Verfasser von über einem Dutzend Prosawerken, lebt nach vielen in London verbrachten Jahren seit Mitte der 70er Jahre in Vancouver. Im Falle Clarkes beschränke ich mich auf die Behandlung seiner Hauptthemen: des Verlusts, der Unfruchtbarkeit, der Verwirrung und des Todes sowie der Wertungen des Herkunfts- bzw. Gastlands unter den barbadischen Emigranten in Toronto, die allesamt der Arbeiterschicht angehören. Dies soll kurz am ersten Band seiner "Toronto Trilogy", The Meeting Point (1967), gezeigt werden. Der Autor legte im übrigen bereits in seinem Erstlingsroman The Survivors ofthe Crossing (1964) die Wurzeln der Entfremdung seiner Figuren in der überaus klassenbewußten, eigene politische Strukturen vermissen 195

Wolfgang Binder lassenden Gesellschaft der Insel an. Er macht generell die führenden Kreise in Barbados und ihre clowneske Englandhörigkeit für diese Deformationserscheinungen in einem Land mit 98 Prozent schwarzer Bevölkerung verantwortlich (Brown; Baugh). Noch mehr als Paule Marshall dienen Clarke seine auf dem Festland angesiedelten Prosawerke als Spiegel, den er, oft ohne Milde, der eigenen Volksgruppe vorhält: Seht her, so sind wir, und das kann aus uns werden - durch die anderen. Die Intention liegt auch The Meeting Point zugrunde. Bei aller Konzentration auf die Hausangestellten Dots Cumberpatch und Bernice Leach, auf Boysie, den untätigen Ehemann Dots', auf Estelle, der Schwester Bernices, und ihrer aller Freund und Nichtsnutz Henry White, bezieht Clarke die weiße Gesellschaft in hohem Maße in ihrer Funktionalität für die Desintegration der Bajans in das Geschehen ein. Zu rassischen Unterschieden kommen gravierende, unaufhebbare Klassenunterschiede. Vor allem der Beziehung Bernices (und im letzten Drittel des Romans auch deren Schwester) zu ihrer Herrschaft, dem schwerreichen jüdischen Ehepaar Burrman im exklusiven Viertel Forest Hill Village, wird exemplarisches Gewicht verliehen. Mrs. Burrman wird von Bernice als egozentrische, sie ausbeutende, unglückliche und unmoralische Frau empfunden. Sie trägt ihr gegenüber in der Regel eine Maske. Die Außenseiterposition von Bernice, ihre Unsicherheit und Unstetigkeit bekommen zunehmend in Szenen mit Mrs. Burrman Relief. Die ständigen, stark emotional bedingten Loyalitätswechsel gegenüber den an zerquälter Entfremdung leidenden Eheleuten (vergleichbar den wechselnden Subskriptionen von Jet und Mohammad Speaks einerseits und Time und Life andererseits), je nach den gerade aufgeschnappten fragmentarischen Informationen, das unfreie Hinterfragen jeder Äußerung, die simple Suche eines Schuldigen, dienen Clarke zur Zeichnung einer zunehmend verunsicherten, mißtrauischen, verbitterten, desorientierten schwarzen Frau in der Fremde. Die Konstellation Bernice - Mrs. Burrman eignet sich ebenfalls zum Herausarbeiten von hochgradig verschiedenen kulturellen Verhaltensmustern, was sich in antagonistischen Dialogen (oder Monologen) äußert (Jameson, 75 ff.). Die im Hause enervierend häufig gespielte Sechste Sinfonie von Beethoven etwa dient Mrs. Burrman als ihren Frust betäubendes Mittel. Bernice hat bei 196

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration einer Passage Assoziationen, die ihre Sehnsucht nach einem ländlich-heilen Barbados offenbaren: It had reached the part she liked best; the part she always listened to, and which made her think of home, because she could see lines of com in the small plot of land her father tilled behind their house; and see women wearing hats of old rags on their heads as shields from the violence of the sun; women bending down, bending over like hairpins, pulling the weeds from choking the corn. Sometimes, if she listened attentively, she could see the blackbirds and wood-doves calling one another. ... And then the telephone rang. (14 f.) Einige Tage später im Geschehen, vor einer der von Bernice als skandalös empfundenen Parties, wird der Gegensatz zwischen arrogant usurpierter 'Hochkultur', depressiver Lethargie und Herrschaftsanspruch einerseits und lebensfroher, unverstellter Vitalität und Naivität andererseits anhand desselben Musikstücks verdeutlicht: [...] she found Mrs Burrman sitting on her favorite chair, a reclining creation of teak from Yugoslavia. She held up her glass to receive the ice. Her eyes were almost closed, as if she could not hear the music with them open. Bernice was hearing the music perfectly, and she had to serve ice. But why this woman close her eyes just to listen to this music? Man, this is music to make you want to dance and jump and throw your dress over your head. ... ' That is a very nice tune you playing, ma'am.' This caused Mrs Burrman to open her eyes. She sat up too. 'Beethovun', she pronounced, as if it was inquestionably beyond Bernice's comprehension to know what the music meant. 'Classical music'. [...] 'Beau-ti-ful!' Mrs Burrman tried to impress upon Bernice the genius of this creation.' I'm never tired of hearing the power and the conflict of this very great mind. 'Pardon me, ma'am,' Bernice interrupted her, 'but you want to know something? I don't see nothing like power or conflicts in this music, as you telling me you could hear. It reminds me o' women back home reaping corn, and putting that corn on their heads, and singing all the times they putting...' 197

Wolfgang Binder 'I am sure, Leach, that you don't really understand this symphony, dear.' '... and a moment ago, just before I bring you this water and ice, I could swear that the music was telling me 'bout winds blowing, and a storm gathering up in the clouds and the skies. ...' By this time, Bernice was talking to herself, because Mrs Burrman had left the room. (24 f.) Die einzige Situation, in der es eine tiefe Verschwisterung zwischen Bernice und Rachel Gladys Heinne-Burrman zu geben scheint, nach der Todesnachricht von Bernices Mutter ("two women joined in grief"), bei der sogar - für Bernice einigermaßen verwirrend - enger physischer Kontakt möglich wird, erfahrt nachträglich eine ironische Entwertung, als sich herausstellt, daß Estelle die Mutter zur Entledigung ihrer Pflichten heimlich ins Armenhaus gesteckt und sich 'nur' die Adresse geändert hatte (166 ff.). Sam, der Gatte der Herrin, der ursprünglich aus einfachem jüdischem Milieu stammte und in seiner Jugend enge Beziehungen zu Schwarzen unterhielt, wird von Clarke mit einem etwas überzogenen psychoanalytisch begründbaren (jüdischen) Schuldkomplex ausgestattet. Ferner, und dies wird zu einem für weite Teile seines Werks kennzeichnenden bipolaren Motivstrang, findet er sexuell nur bei gesellschaftlich quasi tabuisierten schwarzen Frauen Erfüllung. Er macht Estelle zu seiner Geliebten, was seiner Frau nicht entgeht, und schwängert sie, was Estelle durchaus plante, um ihre Aufenthaltsberechtigung für Kanada zu erzwingen. Die Beziehimg degeneriert zunehmend zu einer haßerfüllten, heuchlerischen, erpresserischen Konstellation und endet zum Entsetzen der ahnungslosen, puritanischen und zunehmend in Depression versinkenden Bernice mit dem Tod Estelles in einer unwürdigen Krankenhausszene. Das Ehepaar Burrman scheint sich dagegen zumindest wieder miteinander arrangiert zu haben. Am anderen Ende des angesprochenen Motivstrangs, der Geschlechterbeziehung zwischen Schwarz und Weiß, stehen Boysie, der Dots kaum mehr befriedigt und obsessiv auf weiße Frauen fixiert ist, und ein schwadronierender Henry, der in einer quälenden Liaison mit der jungen intellektuellen Jüdin Agatha lebt (und sich im zweiten Band der Trilogie das Leben nehmen wird). 198

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration Henry liefert sozusagen ein pseudophilosophisches, auf das weibliche Geschlechtsorgan konzentriertes System für die Beziehung zwischen proletarischem schwarzem Mann und weißer Frau der Mittelschicht, das, in unserem zweiten Zitat, an die Theorien des Eldridge Cleaver von Soul on Ice denken läßt:

Some time later, in the Paramount, eating wings and drinking draughts, Henry brightened, and gave Boysie this explanation: "There is one tide in the affairs of men - and woman, too - Boysie Cumberpatch." [...] "And that tide [...] is pussy. Pussy provides the end-all and the be-all of life. It is the tide of life and the tide of death [...]". (119) Die unüberbrückbaren Gegensätze bei interracial relations, zumal wenn sie intimer Natur sind, das Camouflieren von reziproken Schuld-, Kompensations-, Rache- und Haßgefühlen spricht Henry gegenüber einem faszinierten Boysie aus: 'Baby, you better learn there ain't no such thing as love in this. What the hell you talking 'bout love for? Love? It is hate, baby. You dig? Hate, h-a-t-e! Dig! They love you, not because they love you, but because they sympathize with you, you dig? [...] They love you. And you hate them.' (198) Fremderfahrung wird für die Bajans durch Clarke zu einem nicht unwesentlichen Teil sexuell und rassisch/ethnisch, bei gleichzeitiger Belassung der ökonomischen Unterordnung definiert. Wie sehr vom Herkunftsland übernommene traditionelle Seins- und Verhaltensweisen durch den Wechsel nach Kanada in Frage gestellt werden, wie sich eine bei Paule Marshall noch geschlechtsspezifisch getrennt gehaltene 'doppelte' Persönlichkeit herausbildet, bei der keine der beiden Komponenten mehr selbstverständlich oder sicher ist, erhellt aus den Bemerkungen Boysies über seine Frau Dots:

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Wolfgang Binder 'There is two Dotses now. The Barbadian Dots, who uses to sell comforts and lollipops and parched peanuts in the Bus Stand in Bridgetown, and the Candian Dots who spends every blasted night putting her hair up in curlers and filling up the bathroom with nylon stockings and black panties that she do not even wear no blasted place. Because I do not take Dots no place'. (84) Daß Kanada für Schwarze ein Land der Gewalt sein kann, erfahrt Boysie, der von Polizisten zusammengeschlagen wird, die um ihre Liebschaft mit der deutschen Haushaltshilfe Brigitte fürchten (245 ff.). Die Passagen über Geldgier, Kälte (mit Schnee als zentraler Metapher) und Elemente von Rassismus in der kanadischen Gesellschaft, das Erkennen von neokolonialen Komponenten des Landes bei der Fahrt vom Flughafen zu Bernice (Estelle sieht in verwunderter Vertrautheit die Fabriken und Reklametafeln der Produkte, die sie zeit ihres Lebens benutzt hat, ohne zu wissen woher sie kamen) treten gegenüber den oben ausgeführten Themen in den Hintergrund (65 f., 149). Clarke benutzt enge zwischenmenschliche Beziehungen in einem "anderen" Land, um gegenseitige Entfremdung, Ratlosigkeit, Verlust von Spontaneität und Liebesfahigkeit, schließlich Selbstzerstörung aufzuzeigen. Er ist darin um vieles defätistischer als Paule Marshall mit Brown Girl, Brownstones es für die Bajans in Brooklyn war und ist eher in der Nähe des Puertoricaners Pedro Juan Soto anzusiedeln.

8.

Die haitianische Literatur auf dem nordamerikanischen Kontinent ist, im Gegensatz zu der in Paris verlegten, wenig erforscht. Es ist kein Zufall, daß der renommierte Prix Renaudot für das Jahr 1988 an den in Paris lebenden René Depestre und seinen bei Gallimard verlegten Roman Hadriana dans tous mes rêves vergeben wurde. Die haitianische Literatur des Exils in Québec weist zwar für die Eingeweihten eine ganze Reihe von klangvollen Namen auf - man denke z.B. an Maximilien Laroche, Jean Richard Laforest, Serge Legagneur oder an Gérard V. Etienne - hat aber bisher noch nicht die 200

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration Aufmerksamkeit erfahren, die sie verdient. Die Gründe dafür mögen in Fragen des Markts und der Distribution sowie in dem anhaltenden Streit über das Kreolische als haitianischer Nationalsprache, in dem Problemkreis der oralité überhaupt, zu suchen sein (Laroche, 1980; 1981). Würdigungen wie die Ronald Sutherlands, der im Yearbook ofEnglish Studies von 1988 die karibischen Komponenten der kanadischen Literatur(en) in den Kontext einer generell zunehmenden Diversifikation der kanadischen Literatur seit den 60er Jahren stellt, sind bisher eine Seltenheit.4 Die haitianischen Taxifahrer in Québec (auch in New York) sind dagegen ein nicht zu übersehendes alltägliches Phänomen. Wie Paul Dejean festhält, ist die Existenz der Afrokanadier wesentlich früher anzusetzen als dies in der dominanten Gesellschaft gemeinhin angenommen wird. Die Behörden erfaßten sie bereits 1608 (in Akkadien) und in Québec seit 1629. Derselbe Autor schätzt für das Jahr 1978 die Zahl von 80.000 Haitianern für die Stadt Montréal allein. Heute dürfen wir von rund 150.000 Personen haitianischer Abstammimg im Großraum Montréal ausgehen (99). Jean-Claude Charles schreibt treffend in De si jolies petites plages: "Etre haïtien à l'étranger, c'est une vraie nationalité" (15). Wohl der bedeutendste in Montréal ansässige Lyriker ist (trotz zweier beachtenswerter Romane) der 1928 in Port-au-Prince geborene Anthony Phelps. Er floh im Mai 1964 nach Kanada, hatte in Haiti bereits wichtige Funktionen im Literaturbetrieb inne - so war er z.B. Mitbegründer der literarischen Gruppierungen SAMBA und Haïti Littéraire sowie Mitherausgeber der Zeitschrift Semences gewesen. In Montréal, das er bereits von einem Studienjahr (1953) her kannte, gehörte er zu den Gründern der Zeitschrift (1970) und des Verlags (1974) Nouvelle Optique und ist im Rundfunk und Fernsehen tätig. Sein Schaffen fand mit dem Lyrikpreis des Jahres 1988 für den Band Orchidée nègre durch das kubanische Casa de las Américas gesamtamerikanische Würdigung (Conjonction No. 167, 87; Dumas, 1986, 113 ff.). Aus Platzgründen wird im folgenden nur auf ein Gedicht rekurriert. Der Band Points Cardinaux erschien 1966 und enthält mit dem 27 Seiten langen Gedicht "Mais c'est le feu qui fait l'acier!" die haitianisch-kanadische, Phelpsche, Variante der Literatur des Appells, in seinem Fall in der Form der

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Wolfgang Binder Apostrophe, ganz an das 'Gastland', an das Territorium Montréal, gerichtet. Der Sprecher stellt sich vor, vermischt seine Herkunft nicht mit der neuen Topographie, die zugleich eine neue Lebensform bedeutet, informiert, nicht ohne einen Schuß Ironie, betont sein So-Sein: Hommes de Montreal je viens d'une île de soleil où le froid est battu en brèche. Je ne connais point cette longue patience de la terre sous la neige mais la terre quand le soleil la caresse et qu'elle craque jusqu'à plus soif mais la terre quand la pluie la pénètre et la rend molle et assouvie. Je viens d'une île de soleil au nom indien Haïti? connaissez-vous? (19) Dieser ausschließlich auf der unterschiedlichen Beschaffenheit des Herkunftslandes basierenden Selbstdefinition stellt der Autor Worte des selbstbewußten, auf traditionellen Formeln seiner Kultur beruhenden Appells voran und nach: Hommes de Montréal je dis 'Honneur". ne me regardez pas de haut. Répondez-moi "Respect". et laissez-moi marcher à vos côtés pour retrouver en moi cette cadence du pas qui donne à l'homme la noblesse de l'arbre. (18) Er sagt auch, was er zu bieten hat, und woran er keinen Anteil zu haben wünscht: Je ne réclame point Hang ce premier matin de ma nouvelle naissance le secret de vos fusées 202

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration encore moins la recette du sirop d'érable. Je n'ai pas d'atouts maîtres. [...] mais j'ai des mots à vous offrir. Des mots puissance de vent puissance de mer des mots tant que vous en voudrez et j'échangerai les miens contre les vôtres. (19) Der Sprecher, unschwer als der Autor Phelps auszumachen, will mit Würde und seinen Fähigkeiten als Dichter-Magier seinen Platz in der Stadt Montréal Fmden: "faites-moi place parmi vous/sur votre Terre des Hommes" (20). Anthony Phelps variiert in der Regel vier Themen in seinen Werken: Kindheit, Stadt (deren angehäuftes soziales Unrecht er häufig attackiert), Exil und Heimatland. Das letzere bekommt Züge des Sinnlich-Mythischen, Attribute einer Art Urgrund, von ihm "Lieu Fondamental" genannt (Dumas, 1985, 73), wird zu einer zwanghaften Seelenlandschaft, in der leidenschaftliche Liebe und Abscheu vor den gesellschaftlichen Realitäten miteinander in Fehde liegen. Daß Phelps Saint-John Perse zutiefst bewundert und ihn als größten karibischen Dichter französischer Sprache bezeichnet (Dumas, 1986, 117), darf angesichts seines eigenen epischen Atems und der in seiner neueren Produktion bewußt dunkel gehaltenen Metaphernflut, so im Titelgedicht von Orchidée nègre (1987), nicht erstaunen. Die Wertungen Haiti gegenüber sind deshalb von außergewöhnlich schillernder Komplexität. Zwei Mitte der achtziger Jahre erschienene Romane aus haitianischer Hand werden uns abschließend beschäftigen. In Montréal kam 1985 ein Roman heraus, der ein gewisses Aufsehen, gemischt mit Unbehagen, erregt hat, schon allein seines Titels wegen: Comment faire l'amour avec un Nègre sans se fatiguer (Dumas, 1986, 78 f.). Der 1953 auf Haiti geborene Dany Laferrière, der seit 1979 in Montréal lebt und in New York und Montréal im Rundfunk und Zeitungswesen arbeitete, ist eine der Hoffnungen unter den jüngeren haitianischen Autoren des Exils. Er schrieb ein freches, zynisches, von machismo strotzendes, sexbesessenes Buch, das einen erfolgreichen drageur bei der Arbeit zeigt, die konsumierten Frauen, meist Studentinnen, zu Codenamen wie Miz Littérature oder Miz Sophisticated, Miz Suicide oder 203

Wolfgang Binder Miz Mystique reduziert. Neben Vulva- und Phallusgeschichten erwähnt Laferrière eine Menge Jazz, einige Suren aus dem Koran, eine Serie von Büchern, die der Held und sein Freund Bouba, ein Fan Sigmund Freuds, lesen. Von Montréal erfährt der Leser nichts. Der Roman könnte von Austin Clarkes Kunstfigur Henry White stammen. Wenn große Teile des Textes Satire auf die sexuell übersteigerten, obsessionellen Beziehungen zwischen weißer Frau und schwarzem Mann aus der Sicht eines überhitzten Schwarzen und Kritik an Stereotypen wären - und ich bin mir dessen keineswegs sicher wäre das Buch unter diesem Aspekt ganz amüsant. Manche Dialoge lassen darauf schließen: Toilettes pour homme. Deux Nègres pur ébène. PREMIER NEGRE Avec ces filles, frère, il faut être vif, sinon elles te filent entre les doigts. LE DEUXIEME NEGRE C'est comme ça! LE PREMIER NEGRE Elles sont ici pour voir du Nègre, il faut donc leur donner du Nègre. LE DEUXIEME NEGRE Qu'est ce que c'est du "Nègre"? LE PREMIER NEGRE Ecoute, frère, fais pas le malin, t'es ici pour baiser, c'est ça? T'es venu ici pour baiser une Blanche, n'est pas? Eh bien, c'est comme ça. [...] LE PREMIER NEGRE IL N'Y A PAS DE FEMMES ICI, IL Y A DES BLANCHES ET DES NEGRES, C'EST TOUT. (121 f.) Das Zitat ist Kapitel 29 entnommen, das die geradezu Spenglersche, gedankenschwere Überschrift trägt: "Le pénis nègre et la démoralisation de l'Occident" (121). Jean-Claude Charles, ein haitianischer Autor im Exil, 1949 in Port-au-Prince geboren und vor allem durch seinen Roman Bamboula bamboche bekannt, veröffentlichte ebenfalls 1985 einen Roman mit dem Titel Manhattan Blues. 204

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration Auch sein Protagonist, der wurzellose Filmeschreiber Ferdinand, driftet zwischen seinen beiden weißen Frauen, Jenny und Fran, in New York hin und her. Im Gegensatz zu Laferrière bietet der in der pikaresken Tradition stehende Text jedoch Aspekte, die unser Thema breiter berühren. New York wird sehr von außen gesehen, obwohl Ferdinand 1973 filr Monate in Brooklyn wohnte und in Manhattan Bauaufsicht für einen Wolkenkratzer machte, Die Egozentrik des angehenden Schriftstellers tut das ihre hinzu. Auch in diesem Roman taucht der Komplex des Rassismus auf. Er wird nicht nur an den Eltern von Fran illustriert, sondern ebenso banal wie komisch an einem weißen Museumswärter im Museum of Modern Art, der den eher keuschen Kuß der beiden als unsittlichen Akt unterbinden will und dem dafür Ferdinand ans Bein pinkelt, was zu einer wilden Flucht durch diverse Gebäude führt. Interessanter sind die Eindrücke des Haitianers von der Vielfalt der New Yorker, die bei einer einzigen Party seines Freundes Mike versammelt sind : La jungle était peuplée. Toutes races, toutes classes, tous sexes confondus. Peuplée de rêveurs [...], de singes hurleurs, toute une faune cosmopolite, frappée, qui baraguinait au moins deux langues en plus de la maternelle [...], révolutionnaires sans cause et apolitiques redoutablement subversifs, innocents et coupables de rien, hommes lesbiens et femmes pédés [...] fossoyeurs d'un abime à venir où je vois heureusement le tombeau d'une certaine Amérique, dans l'utopie provisoire de la fête chez Mike. (194) Mit derselben Verve beschreibt Charles die gute Laune und damit den Kapitalismus fördernden Funktionen der coffee shops mit ihrem rituellen "Have a nice day" (21) und das Lesen Amerikas durch die Reklame in der Untergrundbahn (33). Nordamerika taucht auch in Form von Intertextualität auf; es werden nicht nur Namen und Texte aus Jazz und Pop eingeflochten, sondern Charles hat Dos Passos gelesen, Fitzgerald und ehester Hirnes. Der Gedanke, daß sein kosmopolitischer, fetziger Großstadtstil, die an Harlem und Schwarz-Paris erinnernden Jargons, haitianische Kritiker irritieren könnten, ist nicht abwegig. Yanick Lahens sieht denn auch in seiner Besprechung in 205

Wolfgang Binder Conjonction (Apr.- Jun. 1986, 9-12) in dem Werk den Ausdruck einer "nouvelle sensibilité de l'errance", einer "affirmation de la liberté de l'écrivain au delà de tout jugement". Er erkennt die Brillianz des Stils von Charles an, fragt aber abschließend: "Mais dans le cas limite qu'est Manhattan Blues, peut-on encore parler de littérature nationale?" Haiti ist auch in New York nicht zu verdrängen, dafür sorgen schon die Taxifahrer. Einer erzählt der Romanfigur Ferdinand die der Tagespresse entnommene Geschichte von den in Puerto Rico internierten Haitianern, denen aufgrund der ihnen gereichten Kost Frauenbrüste wuchsen. Schlimmer sind Wachträume von Attacken der "tontons macoutes" in Miami oder, während er seine schlafende Freundin ansieht, "des histoires de cimetières. Des histoires de fusillés. Des histoires de torturés. Des histoires de cadavres exposés dans les rues [...]" (84). Auch das kreolische Fluchen seines Bekannten Ronald (er verflucht u.a. seinen Namensvetter Ronald Reagan), eines Malers von Touristenkitschbildern in New York, erinnert ihn an haitianische Verhältnisse. Manhattan Blues ist ein stilistisch hervorragend gestalteter Roman der Verliebtheit, eine Komödie, mit kulturellen und traumatischen politischen Überhängen aus dem Heimatland, das keineswegs nostalgisch verklärt wird.

9. In allen hier vorgestellten Werken war die Erfahrung der Fremde oder des Fremden ein Mittel der Bewußtmachung - zumindest für den Leser -, diente als 'Rahmenmechanismus' für Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis (Jameson, 261). Normenzerfall bis hin zum Normenvakuum, von der 'alten' Kultur her gesehen, die Entstehung von 'doppelten', auf beiden Standbeinen unsicheren Persönlichkeiten sowie destruktive Aneignungsschemata führten in den meisten Texten zu schweren Störungen in individueller Psyche und gruppenspezifischer Interaktion bis hin zu Persönlichkeitsverlust und Suizid. Selbst im Falle einer (partiellen) Selbstbefreiung aus dem Dilemma der Loyalitäten, wie der von Paule Marshalls Seiina oder Pedro Juan Sotos Eduardo, wird der Leser mit einem tastenden, offenen Schluß allein gelassen. Die Di206

Literarische Äußerungen karibischer (E)-Migration chotomie von Gut und Böse war, allerdings mit variabler Gewichtung, bei den Autoren nicht mit dem Konzept des Gleich- bzw. Andersseins kongruent. Daß zugleich, mit Einschränkungen bei Colon und einigen (hier nicht zitierten) New Yorker puertoricanischen Lyrikern, der Topos der Insel als pastorale Idylle von den Autoren drastisch entwertet wurde, ist zwar komplexen Realitäten angenähert, macht ein 'Fazit' jedoch noch weniger simpel. Wie unsere Texte zeigten, bedeutet bloße Nostalgiekultur in der Regel zugleich auch Kultur- und Geschichtsverlust. 10.

Das Schlußwort soll ein puertoricanischer Lyriker haben, dessen Texte eine Tendenz verkörpern, die bei der Behandlung der obigen Texte wenig berücksichtigt wurde: die Karibisierung New Yorks, die poetische Inbesitznahme eines Territoriums, das als Synonym für eine Hochburg weißer Zivilisation, für Neokolonialismus und Macht gelten kann. Víctor Hernández Cruz ist der Schöpfer des anti-imperialen Zaubers, der Manhattan in einen Bolero verwandelt, der tonnenweise grüne Bananen regnen läßt, der an das Rasselinstrument der maracas und ihre vielen Kerne denkt, wenn er das Lichtermeer Manhattans sieht (Tropicalization ). Abschließend zwei Strophen aus seinem Gedicht "Thursday", in dem er tentativ, vorsichtig und träumerisch Manhattan und Puerto Rico vereint und so aus unbehausten Menschen behauste macht: Water is Manhattan The trains and the buses they sail Stores and the lights In the water wet Thursday far and near stränge A dream Thursday and island There are two in the memory [...]

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Wolfgang Binder Today I eat guineo With my hands Under a palm tree by the beach Where I am not Do you see the dance that could begin Evolve. CMainland, 8 f.)

Anmerkungen 'Die USA spielen ihrerseits mit ihrer Haltung zu Lateinamerika seit vielen Jahrzehnten in literarischen und politischen Diskussionen die Rolle des touchstone für viele Lateinamerikaner. Vgl. z.B. den seit Juni 1988 heftig geführten, von Enrique Krauze und Carlos Fuentes begonnenen Disput (mit einem sich im Hintergrund haltenden Octavio Paz) anläßlich der nordamerikanischen Ausgabe von Fuentes' Roman Gringo Viejo (198S). Isaac A. Levi, "Paz, Fuentes fan flames of Mexico political debate", San Juan Star Sunday Magazine (27. Nov., 1988): 7; Larry Rohter, "Mexican Letter:Fighting Words, Poisoned Pens", New York Times Book Review (2. Okt., 1988): 1, 31 f. 2

Vgl. zur Thematik des Exils der Kubaner den von Titus Heydenreich herausgegebenen Band Kuba. Geschichte - Wirtschaft - Kultur,insbesondere die Beitrüge Daniele Capanellis, Wolfgang Binden und Ottmar Ettels, S. 183-236, 279-324.

*T.D. All man bezeichnet Miami sogar als "the commercial and intellectual capital of the Caribbean, and much of Latin America as well* (Miami, 11). 4

Die in Port-au-Prince erscheinende literarisch-kritische Zeitschrift Conjoncüon widmete allerdings die Nummern 167 und 169-171 (1985/86; Auslieferung im Winter 1988/89) ginzlich der angesichts von jahrzehntelang auf der Insel ausgeübter diktatorischer Repression nicht grundlos so großen, vielfältigen haitianischen Literatur der Diaspora.

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