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German Pages [272] Year 2015
Annette Tietenberg (Hg.)
MUSTER IM TRANSFER Ein Modell transkultureller Verflechtung?
2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gefördert von der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig
und PRO*Niedersachsen – Wissenschaftliche Veranstaltungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlag: Kai Behrendt, Julia Graf, Braunschweig
© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Ulrike Kregel Satz: Punkt für Punkt · Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22475-2
Inhalt 7
Annette Tietenberg Vom Zirkulieren der Muster Ein Modell transkultureller Verflechtung
21
Regine Prange Die Wiederkehr des Teppichparadigmas Anmerkungen zur zeitgenössischen ‚Welt-Kunstgeschichte‘*
37
Bärbel Küster Patterns that connect? Kunstwissenschaftliche Deutungsmuster
53
Annette Haug Ornament und kultureller Sinn Das Beispiel frühgriechischer Gefäße aus Athen
71
Carolin Höfler Das digitale Ornament als universale Form Mediale Strategien der Vereinheitlichung
89
Heike Behrend Textilien, Muster und fotografische Praktiken an der ostafrikanischen Küste
103
Ülkü Süngün Transitional Objects
119
Rainald Franz Adolf Loos und die Folgen
135
Christiane Stahl Vom Ornament zum Muster in der Mikrofotografie der Moderne
151
Uta Coburger Im Schatten des Ornaments Die Karriere des unscheinbaren mosaïque im 18. Jahrhundert
175
Annette Tietenberg Delfter Blau als peinlicher Faktor, Parodie und postkoloniale Pathosformel
197
Susanne König Global Transfer William Morris’ Muster im Kontext von Jeremy Dellers English Magic auf der Biennale von Venedig 2013
215
Sabine B. Vogel Das Ornament als Joker
227
Bärbel Schlüter Doubleface oder Anbindungspunkte der Installation incoming objects in der Kunsthalle Lingen
233
Christian Janecke Selbstkuratierung Über Kunst vor dem Muster ebendieser Kunst
247
Martina Dlugaiczyk Surrogate Cities in China und Europa Stories about Musterhaus, Musterland, Mustervorlage, Mustertheorie, Mustersammlung, Mustermann ...
261
Autorinnen und Autoren
267
Bildnachweise
Annette Tietenberg
Vom Zirkulieren der Muster Ein Modell transkultureller Verflechtung
„Ästhetik ist die Aufmerksamkeit für das Muster, das verbindet.“ Gregory Bateson1
„Ihr könnt dem allgemeinen Tausch der Werte nicht entkommen, nicht nur, weil ihr verloren habt, selbst dafür, daß ihr gewonnen habt, werdet ihr zu zahlen haben. Zirkularität des Kapitals.“ Jean-François Lyotard2
Vivienne Westwoods Ethical Fashion Africa Project leistet Hilfe zur Selbsthilfe. Die britische Mode-Designerin entwirft Taschen, die in Nairobi von Hand gefertigt werden (Abb. 1). Der gesamte Erlös aus dem Verkauf der Kollektionen im Zeichen des Labels Master & Muse kommt Frauen zugute, die im Kibera Slum leben und sich die Fähigkeit angeeignet haben, aus recycelten Werbebannern und alten Safari-Zelten schicke Shopper herzustellen. So ist das Ethical Fashion Africa Project gleich in mehrfacher Hinsicht vorbildlich: Es macht Menschen Mut, die in extremer Armut leben; es stabilisiert das kenianische Handwerk; es beweist, dass aus der Wiederverwertung von Ausrangiertem hochwertige Luxusgegenstände hervorgehen können; und es bereichert die Welt um atemberaubend schöne, farbenfrohe Muster. Die blau umrandeten Rauten auf rotem Grund, die knallbunten Tiger-, Leopard- und Zebrastreifen und die vegetabil verschlungenen Linien, die von eben solchen hinterfangen werden und so das Hohelied der Selbstähnlichkeit anstimmen, spielen auf lokale Traditionen und Vorlieben an. Derartige Muster werden als spezifisch ‚afrikanisch‘ wahrgenommen und finden zugleich aufgrund ihrer plakativen ‚Verständlichkeit‘ Anerkennung und Widerhall in der globalen Konsumkultur der Mode.3 Muster sind derzeit im Kontext von Kunst, Design und Mode en vogue. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie sich als non-verbales Kommunikationssystem eignen, mit dessen Hilfe sich über Sprach- und Nationengrenzen hinweg Botschaften aussenden lassen, werden sie
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1 Juergen Teller, Vivienne Westwood mit Taschen aus dem Ethical Fashion Africa Project, 2011, Nairobi
mit Begeisterung transferiert, kombiniert und transformiert. So vermag Vivienne Westwood ihre ‚afrikanischen‘ Taschen dank der Bemusterung zusätzlich mit einem Hinweis auf ihre eigene regionale Herkunft zu versehen, indem sie ihnen ein Tartanmuster überstreift, das als Westwoods Markenzeichen und überdies als very british gilt. Mit Hilfe des Zugriffs auf tradierte Muster lässt sich also das eigene Tun regional verorten und kulturelle Zugehörigkeit demonstrieren. Zugleich signalisiert ein Patchwork aus ‚einheimischen‘ Mustern und solchen, die offensichtlich einem ‚fremden‘ Kulturkreis entstammen, in seiner Hybridität eine gewisse Weltoffenheit, ja Bereitschaft zum interkulturellen Dialog. Kuratorinnen, Kritiker und Kunstwissenschaftlerinnen sprechen Muster und Ornament4 sogar ein gewisses subversives Potenzial zu.5 Das Muster, so heißt es etwa im Vorwort des Katalogs zur von Sabine B. Vogel kuratierten Ausstellung Political Patterns, sei „bestens geeignet, politische Inhalte zu transportieren und in seiner dekorativen Anmutung zuerst einen harmlosen Eindruck zu vermitteln, bis sich der brisante Inhalt erschließt. Das Spielen mit der scheinbaren Harmlosigkeit macht die politischen Aussagen und Intentionen der Künstler/innen in aller Schärfe deutlich.“6 Mit anderen Worten: Muster werden im Kontext von Kunst, Design und Mode hoch geschätzt, weil sie – ganz im Sinne des ihnen immanenten Prinzips eines potenziellen Umschlagens von Figur in Grund und vice versa im Akt der Wahrnehmung – als kulturelles Vexierbild gesehen werden können.7 Vordergründig betrachtet hedonistisch und dekorativ, lassen sie sich mit ebensoviel Berechtigung hintergründig und somit referentiell deuten. Eingeweihten, die den Code zu lesen verstehen, erschließt sich ein ‚tieferer Sinn‘ – zumeist ein kritischer Kommentar zu lokalen Praktiken der Rassen-, Klassen- und Genderdiskriminierung. Auf diese Weise wird die seit den 1960er Jahren angestrebte ‚Sinnentleerung‘ in der Kunst, die Frank Stella im Hinblick auf die Minimal Art auf die Formel „What you see, is what you see“8 brachte, als Intermezzo, ja als Fußnote der jüngeren Kunstgeschichte abgetan. Übersehen wird dabei oftmals, dass der intendierte Verzicht auf Signifikanten und die Fokussierung auf rezeptionsästhetische Prozesse9 nicht minder subversiv waren,
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verweigerte sich diese Kunst doch intentional konventionellen Erzähl- und Deutungspraktiken. Dank der Muster, die als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“10 Zeugnis ablegen von kulturellen Zusammenhängen und Praktiken, können sich Kunst, Design und Mode nun hingegen scheinbar bruchlos wieder in die Geschichte der (be)deutenden Kunst einschreiben. Muster dürfen, ja sollen referentiell ‚entziffert‘ werden, wobei die Entschlüsselung sich – im Rückgriff auf bewährte kunsthistorische Methoden wie die Ikonologie – über das Aufdecken kulturhistorischer, kommunikationstheoretischer und ethnographischer Zusammenhänge vollzieht. Die lokalhistorisch zu verortenden Muster erschließen nicht nur Signifikantenketten, sie senden sogar regelrecht ethischmoralische Botschaften aus, die mehr oder weniger bewusst wahrgenommen werden und deren visuelle Aussagen in textuelle Diskursmuster über-
2 Parastou Forouhar vor einer ihrer Tapeten in der Ausstellung Das Muster, das verbindet, Kunsthalle Lingen, 2013
tragbar sind.11 So lässt sich ein von der Ferne dekorativ erscheinendes, genauer betrachtet aber aus unzähligen Folterszenen zusammengesetztes Muster, mit dem die aus Teheran stammende Künstlerin Parastou Forouhar die Wände der White Cubes des Ausstellungsbetriebs tapeziert, als kritischer Kommentar zur totalitären Struktur des Immergleichen lesen, das in seinem Beharren auf Unterordnung unter ein vorgegebenes Schema keine Differenz toleriert (Abb. 2). Die der Arabeske verwandte Wiederholungsstruktur, wie sie die in Faisalabad geborene Künstlerin Zena al Khali ins Bild setzt, darf als Kritik an der Allgegenwart von Gewehren, Panzern und Bomben im Libanon gelesen werden. Und auch der in Lahore tätige Imran Qureshi verortet das Muster an der Grenze von Faszination und Schrecken, indem er seine dekorativen roten Muster, mit denen er Wände und Boden überzieht, visuell in die Nähe von Blutspritzern rückt. Sabine B. Vogel beschreibt die Funktion von Muster und Ornament in der Gegenwartskunst daher zutreffend folgendermaßen: „Statt zu schmücken, erzählen sie von Konflikten, statt Harmonie zu erzeugen, betonen sie Bedrohung. Im Ornament, so legen es die Werke der Kunst nahe, spiegelt sich unsere angespannte Weltsituation wider.“12 Was Muster und Ornament darüber hinaus für Kunst, Design und Mode der Gegenwart so attraktiv, ja verführerisch macht, ist die Aussicht darauf, dass mit der Reintegration der Muster eine Enthierarchisierung, ein Aufbrechen alter Ordnungen einhergehen könnte. Die Ausschlusskriterien, die mit dem Projekt der europäischen Moderne verbunden waren, hatte Adolf Loos in seiner Polemik Ornament und Verbrechen im Jahr 1908 so
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scharf und anschaulich wie kein anderer formuliert.13 Im Verdacht stehend, Material, Arbeitszeit und Kapital zu vergeuden, produktiv und dekorativ, aber auch weiblich, unzivilisiert und wild zu sein, wurden Muster und Ornament in Europa vor mehr als hundert Jahren abgewertet, als Kunstgewerbe betitelt und als peinlicher Rest aus der Sphäre der Hochkunst ausgeschieden. Eben deshalb lassen sich heute mit Hilfe der Re-Implementierung traditionsreicher und farbenfroher Muster globale, politische und ökonomische Machtverhältnisse wirkmächtig in Frage stellen oder subvertieren. Als eine Art „Patchwork der Minderheiten“14 entwerfen Muster ‚fremder‘ Kulturen ein Bild der Hybridität15, das den Hegemonialansprüchen der westlichen Kunst zuwider läuft, was sie für Künstlerinnen, Designerinnen wie Kuratorinnen gleichermaßen unwiderstehlich macht: „Dann dienen sie als Mittel zur Kritik, an weiblichen Rollenmustern, an politischen Systemen, an Erwartungen und Konventionen. Dann bilden Ornamente aber auch eine Brücke – zwischen den Zeiten, den Traditionen, den Kulturen. Bekräftigt von Globalisierung und den transnationalen bzw. kulturellen Identitäten der KünstlerInnen, ist das Ornament heute nicht mehr Dekor, sondern eine globale Sprache.“16 Im Rahmen der von ihm kuratierten Ausstellung Ornament und Abstraktion stellte Markus Brüderlin bereits im Jahr 2001 die These auf, Muster und Ornament seien die heimlichen Passagiere der Moderne, und als solche hätten sie vor allem im Kontext der abstrakten Kunst ihre Wirkung entfaltet. Ob Wassily Kandinsky, Henri Matisse oder Anni Albers, sie alle adaptierten und transformierten handwerkliche Praktiken, Farben und Muster ‚fremder‘ Kulturen. Obgleich Markus Brüderlin sich ausdrücklich von der Vorstellung einer ‚Weltkunst‘ distanziert, wie sie in den 1950er Jahren beschworen wurde, denkt auch er darüber nach, „ob wir über das Ornamentale das Fühlen und Denken anderer Kulturen besser verstehen können. Kann das Ornament eine Brücke zu einer neuen Globalkunst sein?“17 Es schwingt auch hier die Hoffnung mit, Muster könnten als eine Art von Empathie-Transmitter, als eine universal verständliche Sprache fungieren, die Trennungen aufhebt und Kontrastierendes miteinander verbindet. Freilich als nonverbale Sprache, die als ein Repertoire visueller Zeichen offener und integrationsfähiger zu wirken in der Lage ist, als es das Wort vermag. Sigrid Schade hat zu Recht darauf hingewiesen, dass eine solche Lesart, die dem Wunsch nach non-verbaler transkultureller Verständigung entspringt, mit der Gefahr einer weiteren „Enthistorisierung des Ornaments, wie sie der Historismus paradoxerweise bereits vorgenommen hatte“18, einhergeht. Eines der zentralen Missverständnisse der europäischen Kultur beträfe die Funktion des Ornaments in außereuropäischen Kulturen: „Dieses Missverständnis verdankt sich ebendem Widerspruch, dass die Funktion und die Vorstellung von der westlichen Kunst seit der frühen Neuzeit aus einer Abspaltung und einer Abwertung u. a. des Ornaments bzw. des Ornamentalen hervorgegangen ist und dass die Kunst in ihrer Wiederaneignung des Ornaments via aussereuropäische Kulturen seit dem 19. Jahrhundert das angeblich Kunstlos-Reproduktive des Ornaments (als angewandte Kunst) leugnen und es zugleich als kunstvoll im Sinne westlicher Kunstkonzepte
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3 Jassir Arafat auf dem 7. Arabischen Gipfel in Rabat, Marokko, 1974
(als freie Kunst) deklarieren muss, um den westlichen Kunststatus aufrechterhalten zu können.“19 Muster und Ornament seien aber, so betont Sigrid Schade, weder ein historisch invariantes anthropologisches Phänomen noch eine Verpackung, „die einen unveränderbaren Inhalt durch Zeiten und Generationen transportiert“20. Deshalb schlägt sie vor, Muster und Ornament als Schnittstelle, als Funktion und als Schauplatz zu betrachten, „innerhalb und an denen sich Übersetzungen (inter-) kultureller, medialer und technischer Art ereignen“21. Welche unterschiedlichen funktionalen, semiotischen und politischen Bedeutungen einem bemusterten Textil zugewiesen werden können, das sowohl in materieller Form als auch als medial erzeugtes und verbreitetes Bild transkulturell kursiert, lässt sich beispielhaft an der Kufiya, einem gemusterten Kopftuch aus dem arabischen Raum, aufzeigen.22 Das Tuch, das Beduinen traditionell als Turban trugen, um sich gegen Sonne und Sand zu schützen, erhielt während des arabischen Aufstands von 1936 bis 1939 im von der Kolonialmacht Großbritannien besetzten Palästina eine politische Signalwirkung. Zum einen zeugte es von Verbundenheit mit der palästinensisch-arabischen Bewegung und vom Wunsch nach politischer, ökonomischer und kultureller Unabhängigkeit von der osmanischen Vergangenheit sowie von den kolonialen Einflüssen der Briten und Franzosen. Zum anderen wurde die Kufiya mit einer militanten nationalistischen Bewegung assoziiert, die auf Befehl des Großmuftis Mohammed Amin al-Husseini, einem fanatischen Antisemiten, handelte, der mit dem deutschen NS-Regime gemeinsame Sache machte. Vertreter der arabischen Oberschicht wurden gewaltsam gezwungen, anstelle des osmanischen Fes oder des europäischen Huts die Kufiya zu tragen. Durch den Nahostkonflikt rückte das Tuch in einen anderen politischen Kontext ein: Jassir Arafat, Anführer der Fatah-Organisation, trug es stets als Erkennungszeichen bei öffentlichen Anlässen, und zwar derart über die rechte Schulter gefaltet, dass das Dreieck in seiner Form den Umrissen Palästinas ähnelte (Abb. 3). Durch Fernsehbilder und Fotografien in Zeitungen und Zeitschriften präsent, wurde der „Arafat-Schal“, dessen kontrastreiche schwarz-weiße Bemusterung besonders
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gut in die Ära des Schwarz-Weiß-Fernsehens23 passte, zur Modeerscheinung, die es erlaubte, sich mit der Sache der Palästinenser zu solidarisieren, ohne über fundiertes Hintergrundwissen zu verfügen und große Worte machen zu müssen. Die Kufiya, einst ein sprechendes Mode-Accessoire in den Kreisen der Hippies und antiimperialistisch gestimmten Subkulturen, nahm in den 1990er Jahren rechtsradikale Konnotationen an. Als „Bluttuch der Judenvernichtung“ betitelt, wurde das Tuch zum Symbol der Verachtung Israels. Dieses Wechselspiel der Kontexte und Bedeutungen weist darauf hin, dass tradierte Muster als ein dem Text ebenbürtiges Aufzeichnungssystem wahrgenommen werden können, das im Hinblick auf die mit ihm verbundenen Haltungen, medialen Erscheinungsweisen, Riten, Mythen und Gemeinschaftswerte umsichtig zu erforschen wäre. Muster rücken dann in den Status einer Mnemotechnik ein, die zu mündlichen und performativen – und damit variablen – Überlieferungen Anlass geben kann. Doch nicht nur das. Ebenso wichtig wie eine solche innerkulturelle ‚Lektüre‘ ist es, Muster sowohl im Spiegel der ‚Selbstbilder‘ als auch der ‚Fremdbilder‘ verschiedener Kulturen zu betrachten. Voraussetzung hierfür dürfte sein, sich von der westlichen Textfixierung24 und der Einbindung in ein Verstehensparadigma zu lösen. Was nicht weniger hieße, als – um es in den Worten Jean-François Lyotards zu sagen – „daß wir Abendländer unsere ganze Raum-Zeit und unsere ganze Logik auf der Basis von Nichtzentralität, Nichtfinalität und Nichtwahrheit neu machen müssen.“25 Das Muster könnte mithin die Macht haben, jenes verdrängte „Unheimliche“ zurückzuholen, das Elisabeth Bronfen als das „verbindende Element zwischen den traumatischen Ambivalenzen einer persönlichen, psychischen Geschichte und den umfassenden Brüchen der politischen Existenz“26 beschrieben hat. Erzählen Muster in ihrer Hybridität also weit mehr von unserer angespannten Weltsituation, als uns bewusst ist? Einige Fäden dieser Erzählungen, die in der Kunstwissenschaft, in den cultural studies und postcolonial studies, in der Archäologie, in der Afrikanistik, in der Fotografie- und Architekturgeschichte und in der Kunst Verbreitung finden, werden im Folgenden von den in diesem Band versammelten Autorinnen und Autoren aufgegriffen und weitergesponnen. Der Band wurde durch eine Tagung vorbereitet, die vom 4. bis 6. Dezember 2013 in der Aula der HBK Braunschweig27 stattgefunden hat;28 anschließend wurden gezielt weitere Perspektiven ergänzt. Regine Prange widmet sich der Wiederkehr des Teppich-Paradigmas unter den Prämissen der postcolonal studies. Kritisch untersucht sie Ausstellungen in Wolfsburg, München, Paris und Mönchengladbach, die das Textile umkreisen und im neuen ‚mythischen Ornament‘ das Potenzial vermuten, sich von den Superioritäts-Imaginationen des Westens befreien, Dekorationssysteme rehabilitieren und die hierarchischen Muster der westlichen Kunstideologie destabilisieren zu können. Den Konstellationen von Objekten aus verschiedenen kunst- und kulturhistorischen Kontexten, von avantgardistischer und ethnographischer Kunst liegen unterschiedliche kuratorische Intentionen zugrunde: Mal verfolgt eine Ausstellung das Ziel, geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen sichtbar zu machen; mal bestätigt sie die Vorstellung, dass universelle anthropologische Konstanten in
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Ornament und Muster Gestalt annehmen. Die Problematik aber liegt vor allem darin, dass die Textilien aufgrund der tradierten Präsentationsform in den Status des Tafelbildes einrücken und dem vergleichenden Sehen – und damit dem europäisch kodierten Blick – ausgesetzt werden, womit die Gefahr einer weiteren imperialistischen Vereinnahmung außereuropäischer Kulturen einhergeht. Bärbel Küster reflektiert, ausgehend vom Konzept der „migrierenden Form“, das Roger Buergel und Ruth Noack 2007 anlässlich der documenta 12 in Kassel vorgestellt haben, die Deutungsmuster gegenwärtiger Globalkunst. In Auseinandersetzung mit einem ethnographischen Mammutwerk, Carl Schusters und Edmund Carpenters zwölfbändiger Publikation Materials for the Study of Social Symbolism in Ancient & Tribal Art. A Record of Tradition and Continuity (1986–88), vermag Bärbel Küster aufzuzeigen, dass essentialistische, universalistische oder spiritualistische Argumentationen im Umkreis der Global Art nicht selten eine Fortsetzung finden. So stellten Schuster und Carpenter Reihen weitverbreiteter, grundlegender Muster vor und etablierten anhand elementarer (anthropozentrischer) Bildvokabeln Genealogien. Von dieser Art „spiritueller Ethnographie“, die geistige Kräfte („esprits“) aufzuspüren vermag, durch die verschiedene Zeiten, Orte und Kulturen miteinander verbunden sind, ist auch die Auseinandersetzung mit der Globalkunst durchweht. Vermag die Kunstgeschichte etwa nicht ohne die Utopie der Kunst als Universalsprache auszukommen – gegenwärtig allerdings unter dem Vorzeichen der Transkulturalität? Annette Haug widmet sich dem Ornamentalen, ausgehend von der Überlegung, dass sich das Ornament, und mit ihm das Muster, zum einen als ästhetischer oder semantischer Überschuss, zum anderen – mit Niklas Luhmann – als das Grundprinzip des Entwickelns von Formen aus Formen betrachten lässt. Das Ornamentale besitzt, so Annette Haug, in jedem Fall die Fähigkeit, Kohärenz (Identität) und Differenz (Alterität) zu stiften. So zielt ihre Untersuchung frühgriechischer Gefäße des 8. und 7. Jahrhunderts auf eine Rekonstruktion von Bedeutungsgeweben ab, die sich an Ornamente und Muster anschließen. Anhand präziser Beschreibungen gelingt es ihr, die orientalisierende Phase in Athen als eine Zeit zu charakterisieren, in der das Interesse an naturhaften Darstellungen erwacht. Es kommen Bildthemen ins Spiel, die in einer neuartigen Bildsyntax und auch Erzählweise vorgetragen und mit andersartigen Ornamenten orchestriert werden. Carolin Höfler betrachtet Muster und Ornament unter dem Aspekt des Ordnungssinns; zentraler Anknüpfungspunkt ist dabei die experimentelle Architektur der 1990er Jahre. Im Feld des digitalen Entwerfens sind Muster und Ornament dreifach präsent: in der Verschränkung von Ornament und Struktur, in der nichtsprachlichen Affizierung des Betrachters durch das Ornament und in der Anpassung ornamentaler Materialsysteme an die Umwelt. Das Ornament tritt mithin nicht in ein dienendes Verhältnis zum Ornamentierten; vielmehr ist es Teil eines komplexen Geflechts von Effekten und Rückwirkungen. Exemplarisch unterzieht Carolin Höfler die Ornamenttheorie der iranisch-britischen Architektin Farshid Moussavi und das Konzept der Morpho-Ökologie der deutschen Architekten Michael Hensel und Achim Menges einer Analyse. Sie legt Traditionen und Strategien
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frei, die den Einsatz und die Interpretation von Mustern und Ornamenten in solchen Gestaltungsansätzen motivieren und prägen. Heike Behrend stellt die ostafrikanische Küste als einen kosmopolitischen Raum vor, der in ein transkulturelles Netz von Handelsbeziehungen eingebunden ist, das den Indischen Ozean umfasst und Arabien, Persien, China, Indonesien und Indien einschließt. Innerhalb dieser globalen Ökonomie fanden Textilien, vor allem Seide aus China und Baumwollstoff aus Indien, den Weg an die ostafrikanische Küste, die seit dem 8. Jahrhundert islamisiert worden ist. Die importierten Textilien wurden in lokale Praktiken eingebunden, transformiert und in Bedeutungszusammenhänge gestellt, die den reinen Kleidungsaspekt weit übersteigen. Kleidung wurde zur Geschichtsschreibung und zur Markierung und Erinnerung von Ereignissen benutzt. Mit Bruno Latour interpretiert Heike Behrend Muster als „immutable mobiles“, als ideale Medien des Transfers innerhalb und zwischen verschiedenen Kulturen, weil sie einerseits mobil und leicht zu transportieren sind, andererseits aber stabile Inskriptionen tragen. Muster und Beschriftung der Textilien liefern Codes für vieldeutige Botschaften, die es erlauben, etwas zu sagen, was nicht explizit gemacht werden darf. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich ab 1860 ein Medienwechsel. Die Geschichte der Fotografie, so wie sie in Europa erzählt wurde, hat eine Verknüpfung mit Textilien weitgehend ausgeschlossen. An der ostafrikanischen Küste aber bildeten Textilien ein der Fotografie vorgängiges Medium. Daher lässt sich die Fotografie, wie die bemusterten Gewebe, als sozialer Text ‚lesen’. Ülkü Süngün nähert sich unter Verwendung des Begriffs Transitional Objects, der von dem britischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald J. Winnicott eingeführt wurde, ihrer eigenen fotografischen Bildproduktion. Denn Transitional Objects, Übergangsobjekte, sind auch in ihren Fotografien präsent. Zumeist handelt es sich um Utensilien, die in Deutschland in türkischen Geschäften erworben und derart in Szene gesetzt und im Bild festgehalten wurden, dass sie eine Brücke zum Mutterland Türkei schlagen, ja ein Gefühl von Heimat geben und Trost spenden können. In mehrfacher Hinsicht werden hier mit fotografischen Mitteln Ornamente erzeugt. Einerseits auf der Ebene des Dargestellten: Die gezeigten Gegenstände und Objekte weisen Motive und Ornamente auf. Zudem wird eine ornamentale Strukturierung der Bildflächen durch die räumliche Anordnung und symmetrische Aufstellung der mehrfach verwendeten Objekte sowie durch die Steuerung der Schärfentiefe erreicht. Rainald Franz verortet Adolf Loos’ folgenreichen Vortrag und den gleichnamigen Aufsatz Ornament und Verbrechen in seinem historischen, kunstwissenschaftlichen und philosophischen Umfeld und widmet sich darüber hinaus kenntnis- und detailreich der Rezeptionsgeschichte. Die Tatsache, dass Ornament und Verbrechen erst 1929 auf Deutsch publiziert wurde, fast zwei Jahrzehnte nachdem Loos den Vortrag zum ersten Mal öffentlich gehalten hatte, machte eine ausgewogene und fundierte Diskussion in Mitteleuropa unmöglich. Loos’ Haltung gegenüber dem Ornament war weitgehend bekannt, aber die subtileren Argumente, die er in seinen öffentlichen Vorträgen vorgebracht hatte, wurden
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kaum zur Kenntnis genommen. Was die Zuhörer, die Gelegenheit hatten, Adolf Loos als Redner zu erleben, mitnahmen, war ein allgemeiner Eindruck: sein Generalangriff gegen das Ornament, die Prügel für alle, die noch immer Ornamente verwendeten, die Verbindung, die er zwischen Ornament und Verbrechen herstellte. Was die meisten in Erinnerung behielten, waren die unverblümten Aussagen, nicht die Nuancen. Zudem trug der überhitzte Ton des Pamphlets selbst zu Missverständnissen bei, die Adolf Loos mit Hilfe diverser Strategien zu korrigieren und aus der Welt zu räumen suchte – wohl mit geringem Erfolg. Noch heute wird der Titel des Aufsatzes nicht selten in „Ornament als Verbrechen“ uminterpretiert. Christiane Stahl lenkt den Blick auf Muster, die mit dem bloßen Auge nicht sichtbar sind, mit Hilfe der Mikrofotografie aber erkennbar und darstellbar gemacht werden können. Die Fotografie mit dem Mikroskop etablierte sich um 1860. Sie wurde als ideales Mittel angesehen, der subjektiven Beobachtung eines Naturphänomens ein scheinbar objektives Aufzeichnungsinstrument an die Seite zu stellen, das ohne die interpretierende Hand eines Zeichners auskam. So wurde die Mikrofotografie bald zum konstitutiven Element der Naturwissenschaft. Am Beispiel von Ernst Haeckel vermag Christiane Stahl die Verschränkung von Kunst und Naturwissenschaften aufzuzeigen. Haeckels Kunstformen der Natur hatten in der Zeit um 1900 einen enormen Einfluss auf alle Bereiche des Lebens und der Kultur. Im Bemühen, die „Kräfte des natürlichen Lebens“ sichtbar zu machen, wurde die biomorphe Gestaltung zum Wesensmerkmal der Kunst der Moderne. Dies trifft sowohl auf die Tapetenentwürfe von William Morris zu, die Blumen, Girlanden und Pflanzenornamente zeigen, wie auf die nach dem Vorbild Haeckels angelegten Bildmuster des belgischen Jugendstilarchitekten Victor Horta. Uta Coburger untersucht in ihrem Beitrag mit Akribie die Transferleistungen, die einem Füllmuster zugeschrieben werden können, das sich in der Forschung unter den Begriffen mosaïque oder quadrillage etabliert hat. Die unscheinbaren Rautenmuster passten sich perfekt in Ornamentfelder, Zwischenräume oder architektonische Felder ein, ergänzten durch ihre Abstraktheit ideal den neuen Ornamentstil um 1700 und boten zugleich durch ihre serielle Strenge einen Kontrast zu den Schnörkeln des Bandlwerks sowie zu den Ausschweifungen der Rocaille. Uta Coburger hat die königliche Herkunft des mosaïque, das unter Ludwig XIV. bei der Errichtung des Hôtel et Église royale des Invalides und bei der Umgestaltung des Chambre du Roi in Versailles Verwendung fand, ebenso sorgfältig erforscht wie dessen Vorkommen in der französischen Druckgrafik. Auch für kostbare Gegenstände wurde das mosaïque als Dekor in Erwägung gezogen, wie ein auf das Jahr 1698 datierter Kutschenentwurf für Wilhelm III. zeigt. Das mosaïque entpuppt sich als tradierte Kassettierungsform, die für den Invalidendom mit der Königslilie ein upgrade erfuhr, vermutlich durch Jean Berain in die Ornamentgroteske aufgenommen wurde, in der Folge als Muster des style nouveau für Interieurs und Angewandte Kunst vereinnahmt wurde und schließlich in ganz Europa und – über den asiatischen Porzellanmarkt – auch darüber hinaus Verbreitung fand.
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Mein eigener Beitrag befasst sich mit der Wertschätzung, die das sogenannte Delfter Blau seit den 1960er Jahren in der Kunst erfährt. Mit Blick auf Arbeiten von Sigmar Polke, Rosemarie Trockel und Jurgen Bey werden drei Phasen der künstlerischen bzw. gestalterischen Aneignung des Musters unterschieden: die Phase der ironischen Übertreibung, der postmodern-parodistischen Implementierung und der postironischen Geste des Zeigens. Das Delfter Blau erweist sich dabei als ein komplexes Muster: Es speist sich aus Zitaten, aus Verweisen und aus dem Nachhall chinesischer wie niederländischer Traditionen. Es lässt Rückschlüsse auf den Transfer von Herstellungsverfahren zu. Nicht zuletzt ist es Bestandteil eines Narrationsmusters, das von Handelsbeziehungen, von gegenseitiger Anerkennung, von Konkurrenz, von Überlegenheitsgesten und von Strategien der Bereicherung zeugt. Das Delfter Blau wird als ein hybrides Geschmacksmuster interpretiert, das über die Zeitgrenzen hinweg aus sich wechselseitig beeinflussenden interkulturellen Übersetzungspraktiken hervorgegangen ist. Susanne König wirft einen Blick zurück auf die 55. Biennale di Venezia im Jahr 2013. Hier griff der britische Künstler Jeremy Deller auf Muster von William Morris zurück und präsentierte sie als Teil seiner Installation English Magic im Britischen Pavillon. Deller wendete sich damit dem ersten Anschein nach gegen den Trend einer Globalen Kunst und suggerierte mit dem Titel seiner Ausstellung, dass er nur englische, also regional begrenzte Objekte und Themen ausstellen und behandeln würde. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass es eine derart fokussierte Betrachtung von Geschichte, Politik und Kultur überhaupt nicht gibt. Dellers English Magic entzaubert stattdessen den englischen Traum und verweist auf ein Netz von unzähligen regionalen, nationalen und internationalen Verbindungen. Diese Entzauberung findet auch im Hinblick auf William Morris’ Kunstund Arbeitsbegriff statt. Auch Morris’ Muster können nicht für eine ‚Einheitlichkeit‘ stehen, und deren außereuropäische Transfers sind bei weitem noch nicht abschließend untersucht worden. Sabine B. Vogel zeigt auf, dass Muster und Ornament in der zeitgenössischen Kunst keine ‚weltlosen‘ Anhängsel sind. Im Gegenteil: In den Werken aus der sogenannten MENASA-Region (Middle East, North Africa, South Asia) dient das Ornament dazu, gerade die Widersprüchlichkeiten unserer Welt ins Bild zu rücken. Künstler und Künstlerinnen greifen ornamentale Formen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen auf, um in unerwarteten Kombinationen aktuelle Bedeutungen entstehen zu lassen. Sie verwenden Muster und Ornament als zentrale Bedeutungsträger, die von politischer Unruhe, lokalem Aufruhr, globaler Instabilität zeugen, die für Auflehnung stehen – nicht belehrend, nicht wertend, sondern in der Dualität aus Schönheit und Bedrohung. Die überkommenen Funktionen des Ornaments, nämlich zu dekorieren, zu würdigen, zu strukturieren und durchaus auch zu transzendieren, werden nicht etwa außer Kraft gesetzt, sondern aufgegriffen und eingeschlossen. Bärbel Schlüter führt aus, welche künstlerische Strategie ihrer Installation incoming objects, die 2013/14 anlässlich der Ausstellung Das Muster, das verbindet in bzw. an der
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Kunsthalle Lingen zu sehen war, zugrunde liegt. Bärbel Schlüter wählte die äußere Gebäudewand der Kunsthalle, einer ehemaligen Lokhalle des Eisenbahn-Ausbesserungswerkes, als Bezugspunkt einer ortsspezifischen Installation. Sie fokussierte sich auf einen Wandabschnitt mit großformatigen Industriefenstern. Georges Teyssot hat Fenster generell als ein Werkzeug, das zwischen dem Subjekt und der Welt als Vermittelndes steht, bezeichnet. Eben dieser trennenden und verbindenden Funktion galt Bärbel Schlüters Interesse. Eine bestehende Ornamentierung aufgreifend, wurden ihre incoming objects – exakt entsprechend der Position des architektonischen Frieses aus vertieften Kassetten an der Außenwand – der Innenwand im gleichen Maßstab als erhabene Form aufgesetzt. Die im Streifenmuster auftretenden objects waren aus transparenter Baufolie und Tape geformt; sie nahmen in ihrer Stofflichkeit Bezug auf Baustellenverkleidungen, die vorübergehend ein Dahinter verbergen oder Öffnungen der Wand verblenden. Christian Janecke erweitert den Begriff des Ornamentalen in der heutigen Kunst. Muster und Ornament werden, so Christian Janecke, bislang entweder altmodernistisch perhorresziert bis ignoriert oder postmodernistisch als Konterkarierung der Moderne aus dem Giftschrank geholt oder im perpetuiert Ornamentalen als politisch korrekte Ablösung einer als männlich, individualistisch, autorschaftlich, abendländisch und tendenziell figürlich geprägten Tradition des ereignisverdichtenden Bildes begrüßt. Stets dreht es sich um das explizite, buchstäbliche und werkbestimmende Ornament, das man schon von Weitem erkennt, oftmals aufgrund einer Allover-Struktur. Ignoriert wird bislang hingegen jene Ornamentalität, die implizit, hintergründig, darin aber beinahe ubiquitär ist. Diese fasst Christian Janecke mit dem Begriff der ‚Selbstkuratierung‘, worunter er das selbstverständliche Profitieren des Künstler-Kurators von den institutionellen und räumlichen Rahmenbedingungen der Kunst versteht. Zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler feiern diese Rahmenbedingungen in ihren Werken, indem sie sie vervielfachen und integrieren. Diese Selbstbezüglichkeit der Kunst kann, insbesondere im Medium der Rauminstallation, dazu führen, dass die Rezipienten in die Ornamentalisierung oder Musterbildung einbezogen werden. Martina Dlugaiczyk widmet sich dem Ort Hallstatt in China. Das malerische Setting stellt eine Kopie des gleichnamigen achthundert Einwohner zählenden Alpendorfes in Österreich dar, welches zusammen mit dem Dachstein und dem Inneren Salzkammergut seit 1996 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Ziel ist, Hallstatt bzw. Wukuang Hashitate – so lautete die chinesische Bezeichnung des Bauprojektes – als exklusive Wohnanlage, als gated community zu etablieren. Als Mustervorlage diente dabei das österreichische Hallstatt. Festgelegt sind damit nicht nur die Strukturen des mehrfach kodierten Raumes respektive der gebauten Umwelt, sondern ebenso die sich mit den Vorlagen verbindenden Werte – quasi das Tugend- und Musterhafte. An die dem Muster eigene Reproduzierbarkeit bindet sich zudem ein Verbindlichkeitsanspruch – vor allem im gewerblichen Rahmen. Potenzielle Kunden können somit davon ausgehen, dass die bestellte Ware mit dem zuvor vorgelegten Muster identisch ist. Das Wiederholen solch ‚traditioneller‘ Muster wird von Martina Dlugaiczyk kritisch beleuchtet.
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Mein Dank gilt in erster Linie den Autorinnen und Autoren für die musterhaft pünktliche Überlassung ihrer Manuskripte. Dank gebührt Peter Rauch und Elena Mohr sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Böhlau Verlags, die angesichts des Themas sofort Begeisterung gezeigt und diese Publikation in ihr Verlagsprogramm aufgenommen haben. Mein Dank gilt Sandra Hartmann vom Böhlau Verlag für die präzise Herstellung des vorliegenden Bandes. Zu danken ist des weiteren Kai Behrendt und Julia Graf für die Gestaltung des Programms, des Plakats und des Buchcovers. Ulrike Kregel danke ich für das gewissenhafte Korrekturlesen. Herzlich danken möchte ich zudem Marjoleine Leever, die mich bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung zuverlässig und kompetent mit Rat und Tat unterstützt hat. Ferner gilt mein Dank den Mitgliedern des Instituts für Kunstwissenschaft und des Präsidiums der HBK, die die Tagung und die Publikation für finanzierungswürdig erachtet haben, sowie den Studierenden der HBK für ihre Beteiligung und für ihre Zustimmung, die der vorliegenden Publikation vorausgehende Tagung teilweise aus Studienbeiträgen zu finanzieren. Zu danken ist ebenso der Forschungskommission der HBK, die dem Präsidium die finanzielle Unterstützung der vorliegenden Publikation empfohlen hat. Ein Dank gilt überdies Katharina Sykora, die den Kontakt zu Heike Behrend hergestellt hat. Durch die Einladung von Heike Behrend, die im Rahmen der Tagung „Muster im Transfer“ vorgetragen hat, gab es eine fruchtbare Anbindung an das DFG-Graduiertenkolleg „Das fotografische Dispositiv“. Im Besonderen danken möchte ich den Programmverantwortlichen von PRO Niedersachsen – Wissenschaftliche Veranstaltungen, namentlich den Mitarbeiterinnen Kirsten Fuhrmann und Sabine Behrens des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, dafür, dass sie durch ihre Förderung die Tagung und die vorliegende Publikation möglich gemacht haben.
Anmerkungen 1
Gregory Bateson: Geist und Natur. Frankfurt am Main 1987, S. 16.
2
Jean-François Lyotard: Das Patchwork der Minderheiten. Berlin 1977, S. 81.
3
Dies ist, wie Arjun Appardurai beobachtet hat, eine Folge der Globalisierung wie der Digitalisierung: „Cultural objects including images, languages, and hairstyles now move ever more swiftly across regional and national boundaries. This acceleration is a consequence of the speed and spread of the internet and the simultaneous, comparative growth in travel, cross-cultural media and global advertisement. The power of global corporations to outsource various aspects of their activities, ranging from manufacture and distribution to advertising and commerce, has meant that the force of global capital is now multiplied by the opportunistic combination of cultural idioms, symbols, labor pools and attitudes to profit and risk.“ Arjun Appardurai: How Histories make Geographies: Circulation and Context in a Global Perspectice. In: Transcultural Studies 1/2010, S. 4–13, hier S. 4.
18 I Annette Tietenberg
4
Wiewohl Muster nicht ohne Berücksichtigung der Ornamentdebatte zu reflektieren sind, soll es hier vorrangig um Muster gehen. Das Ornament wird – im Sinne von Owen Jones’ Grammar of Ornament (1856) – als ein primär der Architektur verpflichtetes Ordnungssystem verstanden, das eine Grammatik vorstellt, die Muster und Ornament entkörperlicht, unabhängig von Größe und Machart betrachtet und von Herstellungspraktiken, Material und Trägermedien abstrahiert. Dieser Methodik bedienten sich jüngst wieder: Farshid Moussavi/Michael Kubo: Die Funktion des Ornaments. Barcelona/New York 2008. Das Muster wird von mir hingegen über seine enge, ja untrennbare strukturelle Verbundenheit mit dem Material, der Trägerstruktur und den Herstellungstechniken definiert und damit nicht als ‚Überschuss‘ interpretiert.
5
Sabine B. Vogel: Vom Widerspruch im Ornament. In: Die Macht des Ornaments. Hrsg. von Agnes Husselein-Arco/Sabine B. Vogel. Ausst.Kat. Belvedere Wien. Wien 2009, S. 9–23.
6
Barbara Barsch/Ev Fischer: Vorwort. In: Political Patterns. Ornament im Wandel. Kulturtransfers #3. Ausst.Kat. hrsg. vom ifa. Berlin/Stuttgart 2011, S. 7.
7
Es ließe sich eine Analogie zum „Doppelcharakter der Sprache“ herstellen. Vgl. Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metapher und Metonymie. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 1. Hrsg. von Jens Ihwe. Frankfurt am Main 1971, S. 323–333.
8
Bruce Glaser: Questions to Stella and Judd (1968). In: Minimal Art. A Critical Anthology. Hrsg. von Gregory Battcock. Berkeley/Los Angeles/London 1995, S. 148–164, hier S. 158.
9
Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main 1973/Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Rezeptionsästhetik. Hrsg. von Rainer Warning. München 1975, S. 126–162.
10 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1983, S. 7–43, hier S. 9. 11 Eine Gegenposition nehmen die Architekten Farshid Moussavi und Michael Kubo ein, die mit der a-historischen These aufwarten, vorgefundene Muster und Ornamente seien Rohmaterial zur Erzeugung von Affekten, dessen sich der Architekt mit Hilfe der Methode des Samplings bedienen kann, um neue Empfindungen hervorzurufen. Es ist gar von „architektonischen Affekten im städtischen Kontext“ die Rede. Des Weiteren bezeichnet Farshid Moussavi das Ornament als ‚leeres Zeichen’, das in der Lage sei, eine unendliche Anzahl von Resonanzen zu erzeugen. Farshid Moussavi: Die Funktion des Ornaments. In: Farshid Moussavi/Michael Kubo: Die Funktion des Ornaments. Barcelona/New York 2008, o.P. 12 Sabine B. Vogel: Schönheit und Schrecken, Konflikte und Kontroversen – Ornament heute. In: Political Patterns. Ornament im Wandel. Kulturtransfers #3. Hrsg. vom ifa. Berlin/Stuttgart 2011, S. 8–16, hier S. 7. 13 Adolf Loos: Ornament und Verbrechen (1908). In: Adolf Loos: Trotzdem. Gesammelte Schriften 1909–1930. Hrsg. von Adolf Opel. Wien 1982, S. 77–88. 14 Jean-François Lyotard: Patchwork der Minderheiten. Berlin 1977, S. 68. 15 Hybridität ist ein Schlüsselbegriff des cultural turn und relevant im Kontext der Erforschung von Transkulturalität. Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2011. Vgl. auch Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Die veränderte Verfassung von Kulturen. In: Dialog der Kulturen. Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien. Hrsg. von Kurt Luger/Rudi Renger. Wien 1994. S. 147–169/Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften. Hrsg. von Rebekka Habermas/Rebekka von Mallinckrodt. Göttingen 2004/Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert. 15 Fallstudien. Marburg 2010.
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16 Vogel 2009 (Anm. 5), S. 12. 17 Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog. Ausst.Kat. hrsg. von Markus Brüderlin. Köln 2001, S. 11. 18 Sigrid Schade: Das Ornament als Schnittstelle. Künstlerischer Transfer zwischen den Kulturen. In: SchnittStellen. Hrsg. von Sigrid Schade/Thomas Sieber/Georg Christoph Tholen. Basel 2005, S. 169–195, hier S. 171. 19 Schade 2005 (Anm. 18), S. 173. 20 Schade 2005 (Anm. 18), S. 177. 21 Schade 2005 (Anm. 18), S. 170. 22 Für diesen Hinweis danke ich Jens Hahne. 23 Zur Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko im Jahr 1970 wurde der traditionelle braune Lederball gegen einen schwarz-weiß bemusterten Lederball aus 12 schwarzen und 20 weißen Sechsecken eingetauscht. Es hatte sich herausgestellt, dass diese Bemusterung von den Zuschauern, die die Spiele zu Hause am Schwarz-Weiß-Fernsehen verfolgen wollten, am besten zu erkennen war. 24 Nach Jan Assmann ist die evolutionäre Errungenschaft der Schrift nach wie vor die vorrangig anerkannte Kulturleistung. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 46. 25 Lyotard 1977 (Anm. 2), S. 68/69. 26 Elisabeth Bronfen: Einleitung. Verortungen der Kultur. In: Bhabha 2011 (Anm. 15), S. 1–28, hier S. 16. 27 Zeitgleich war im Kunstmuseum Wolfsburg die Ausstellung Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der modernen Kunst von Klimt bis heute zu sehen, durch die Markus Brüderlin, Kurator und Direktor des Museums sowie Honorarprofessor an der HBK Braunschweig, diejenigen wagemutigen Referentinnen und Referenten führte, die sich trotz Sturms und Unwetters auf den Weg nach Wolfsburg gemacht hatten. Markus Brüderlin hatte versprochen, sich an diesem Band mit einem Text zu beteiligen. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen; Markus Brüderlin, ein sachkundiger Kenner der Geschichte(n) von Muster und Ornament, der den kunsthistorischen Diskurs mit Ausstellungen und Katalogen maßgeblich beeinflusst hat, ist im März 2014 verstorben. 28 Parallel fand eine von Meike Behm und mir kuratierte Ausstellung in der Kunsthalle Lingen statt, die den Titel Das Muster, das verbindet trug (http://www.stylepark.com/de/news/das-muster-dasverbindet/345650).
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Regine Prange
Die Wiederkehr des Teppichparadigmas Anmerkungen zur zeitgenössischen ‚Welt-Kunstgeschichte‘ *
Zu den Kernpunkten der durch Edward Saids Orientalism1 vorbereiteten postcolonial studies, deren Programm in den 1990er Jahren u. a. von Homi K. Bhabha formuliert worden ist und dessen Verankerung in der Kunstgeschichte in Deutschland Viktoria Schmidt-Linsenhoff auf den Weg gebracht hat, gehört die Revision der atlantisch-europäischen Hegemonie von Kunst- und Kulturtheorie. Der politische Prozess der Dekolonisation und die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen haben, im Rahmen postmoderner Diskurstheorie, zu einer Erneuerung der Reflexion der dem kolonisierten ‚Anderen‘ abgewonnenen Superioritäts-Imaginationen des Westens angestoßen. Galten noch bis in die 1980er Jahre die westlichen Metropolen als Zentren avancierter Kunstproduktion, findet diese heute weltweit statt, auch wenn die bedeutendsten Kunstmessen und Ausstellungen, die das zeitgenössische Kunstleben abbilden, nach wie vor, trotz der weltweiten Neugründung von Biennalen, in der westlichen Hemisphäre beheimatet sind, womit schon eines der Probleme postkolonialen Selbstverständnisses angesprochen ist, denen hier nachgegangen werden soll: Die Entgrenzung des europäischen Kunstraums scheint sich vor allem innerhalb der alteingesessenen westlichen Institutionen, Märkte und wissenschaftlichen Diskurse abzuspielen und somit unversehens an die Traditionen imperialistischer Vereinnahmung außereuropäischer Kulturen anzuknüpfen. Bhabha beschrieb diese Situation im ausgehenden 20. Jahrhundert: „By the mid 1990s, the international or global art show has become the prodigious exhibitionary mode of Western ‚national‘ museums. Exhibiting art from the colonized or postcolonial world, displaying the work of the marginalized or the minority, disinterring forgotten, forlorn ‚pasts‘ – such curatorial projects end up supporting the centrality of the Western museum.“2 Kann die heutige ‚Weltkunst‘ und ihre kuratorische Inszenierung also überhaupt, trotz ihrer Gebundenheit an die aus der Kolonialzeit stammenden Institutionen und Praktiken, Widerständigkeit gegenüber den hierarchischen Mustern der westlichen Kunstideologie entfalten? Initiierten die documenta X, durch die Workshops mit bedeutenden Vertretern der postkolonialen Theorie (neben Said waren Frantz Fanon und Gayatri C. Spivak eingeladen), gefolgt von Okwui Enwezors Documenta 11, die weitere prominente Vertreter der
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postcolonial studies wie Bhabha und Stuart Hall zu Gast hatte, einen ‚Paradigmenwechsel‘ im Feld der Ausstellungen moderner und zeitgenössischer Kunst?3
Vergleichendes Sehen als Dispositiv der Macht Zumal wenn mit der Entgrenzung okzidentaler Kultur auch die Unterscheidung zwischen autonomer und angewandter Kunst zur Disposition gestellt wird – eine allerorten gegenwärtige, mit postkolonialem Egalitätsbewusstsein geschmückte Leitidee heutiger Ausstellungspraxis nicht nur der großen Kunstmuseen, sondern auch der einer ‚Weltgegenwartskunst‘ sich öffnenden früheren Völkerkundemuseen und der Museen für angewandte Kunst – findet man sich in eine zutiefst europäische Gedankenwelt zurückversetzt, die schon mit der noch negativ konnotierten Bestimmung der Arabeske zum Modell einer ‚freien‘ Schönheit bei Kant keimhaft vorhanden ist und in der ästhetischen Utopie des ‚neuen Ornaments‘ entwickelt wurde, welches die historistische, in allen Kunstgattungen anzutreffende Geschmacksverirrung der westlichen Industrienationen reformieren sollte, und zwar nicht zuletzt anhand der für vorbildlich erachteten außereuropäischen Ornamentproduktion, die noch aus handwerklichen Methoden hervorging. Der Orient repräsentierte wie die europäische Kultur des Mittelalters die von Bhabha erwähnten „verlorenen Vergangenheiten“4, um deren Wiederaneignung der gesamte primitivistische Diskurs der frühen Avantgarden kreist. Mit Edward Said ist davon auszugehen, dass die vorgebliche Überlegenheit des Orients nicht seine soziokulturelle Realität meint, sondern eine Stilisierung, durch welche die Superiorität des Westens festgehalten, ja überhaupt hervorgebracht wurde. Für die künstlerische wie für die kunsthistorische und ornamenttheoretische Rezeption außereuropäischer Artefakte gilt, was vielfach kritisch konstatiert worden ist, dass diese allein als abstrakte Formwerte gehandelt werden, abgezogen von allen materiellen soziohistorischen Funktionskontexten. Dem vergleichenden Sehen zugeführt, werden alle Kulturen der Welt als Objekte einer ästhetischen Schau nivelliert, wie sie Heinrich Wölfflins antithetische Grundbegriffe, noch mit beschränkter Reichweite auf Renaissance und Barock, für die globalisierte Massenkultur des 20. und 21. Jahrhunderts bereitgestellt hat. Der formalistischen Zurichtung außereuropäischer Artefakte zum ‚Stil‘ entspricht Bhabhas Beobachtung eines suggestiven ‚Parallelismus‘ des modernen globalisierten Museums. Im Ausstellungsraum wie auf den Doppelseiten eines Buches oder Ausstellungskatalogs wird durch die parallele Präsentation gleiche Distanz dem westlichen wie dem nicht-westlichen Artefakt gegenüber verheißen; der europäisch kodierte Blickwinkel ändert sich nicht. Das ‚Andere‘ wird vielmehr der visuellen Erfahrung des souverän gedachten ästhetischen Subjekts zugeeignet, das durch die welthaft aufgespannte Blick-Perspektive einen Raum der Macht durchmisst.
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Rehabilitierung der Dekoration Nirgendwo zeigt sich die Aktualität der ästhetischen Utopie – und die Problematik ihrer implizit kolonialen Attitüden – so deutlich wie im gegenwärtigen Boom des Textilen, in der Wiederkehr des Teppich-Paradigmas, das in Gottfried Sempers Bestimmung der Teppichwand zur Urform aller Künste im ersten, der textilen Kunst gewidmeten Band seines Hauptwerks Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten (Abb. 1) konzeptuelle Begründung fand und im Paragone von postimpressionistischer Flächenkunst mit der des Orientteppichs als neoklassizistischer Begründungsmythos der malerischen Abstraktion entfaltet wurde. Joseph Masheck hat in einer umfassenden Auswertung der kunsttheoretischen Quellen die Karriere des Teppichparadigmas als eine „Theorie der Flächigkeit“ aufgewiesen, deren argumentative Schlagkraft mit der Durchsetzung dekorativer Flächigkeit nachließ und letztlich, seit dem Kubismus, für „reaktionär“ gehalten wurde.5 Bekanntlich wurde der Vergleich abstrakter Malerei mit Dekorationskunst meist in verunglimpfender Absicht angestrengt, wenn etwa Pollocks All-over mit dem unendlichen Rapport von Tapetenmustern in eins gesetzt wurde. Die Aneignung von Mondrians Neoplastizismus durch die Haute Couture eines Yves Saint Laurent (1965) zeigt exemplarisch den Zusammenbruch der frühmodernen Idee eines ‚anderen‘, merkantiler Degeneration entzogenen Ornaments. In der Gegenwart wird das Ende des mythischen ‚neuen Ornaments‘ jedoch widerrufen; ein neuer Schub der Rehabilitierung des Dekorativen hat eingesetzt und wird vielfach als Wiederaufnahme und Fortsetzung der Ornamentidee des späten 19. Jahrhunderts interpretiert. Die Wolfsburger Ausstellung Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Kunst der Moderne von Klimt bis heute proklamierte in diesem Sinne die „Geburt der Abstraktion aus dem Geiste des Textilen“6, anknüpfend an die bekannte Baseler Ausstellung Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, die im Jahr 2000 in der Fondation Beyeler in Riehen/Basel zu sehen war. Die abstrakte Kunst ging demnach nicht aus einer immanenten historischen Entwicklung der europäischen Industrienationen und dem Problem der Repräsentation in der bürgerlichen Gesellschaft hervor, sondern ist Ausdruck einer rein künstlerischen, nicht durch sozioökonomische oder politische Faktoren bedingten ‚Öffnung‘ des Okzidents auf den Orient. Der für beide Ausstellungen verantwortliche Kurator Markus Brüderlin vertritt eine andere Sicht auf die postkoloniale Situation, als sie durch die Autoren der postcolonial studies vertreten wird. Der moderne Kunstbegriff soll nicht revidiert werden. Vielmehr hofft Brüderlin, dessen Ausstellung – dies zu bemerken drängt sich hier auf – von der Volkswagen Financial Services AG („größter automobiler Finanzdienstleister Europas“, kommentiert Vorstandsmitglied Christiane Hesse) gefördert wurde, die dem modernen Kunstbegriff innewohnende „Idee der Universalität [...] als verbindendes Element im Gegensatz zur Globalisierung, die hauptsächlich ein Machtkampf multinationaler Konzerne um Märkte ist“7, ins Feld führen zu können. Das gute Ganze der Kunst soll sich dem falschen Ganzen des globalen Kapitalismus entgegenstellen.
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1 Gottfried Semper, Titelblatt von Der Stil mit handschriftlichen Korrekturen Sempers
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In verwandter Überschätzung gesellschaftsverändernder Kompetenzen der Kunst hatte Gottfried Semper durch die Rückbesinnung auf elementare Gestaltungsgesetze den schlechten Geschmack der Fabrikherrn reformieren wollen. Ähnlich wie Brüderlin argumentiert Hans-Günther Schwarz, explizit gegen Saids Thesen gerichtet: Der Orientalismus sei nicht bedingt durch das kolonialistische Staatsinteresse, er ziele nicht auf eine Dominanz des Westens und seines Subjektideals, sondern sei dem genuinen Einfluss des Orients geschuldet, mit dessen Hilfe man den „Bruch mit der geistigen und künstlerischen Tradition Europas“, vor allem den Bruch mit den „Gesetzen des europäischen Naturalismus“ herbeigeführt habe.8
Der neue Kanon des Textilen In Wolfsburg passierten die Besucher das mit einem abstrakten Netzmuster geschmückte Gewand eines Japaners vom Anfang des 19. Jahrhunderts und ein ägyptisches Mumiennetz, um im anliegenden Raum sich von Peter Koglers computeranimierter Installation aus dem Jahr 2008 (eine ähnliche aus dem Jahr 2000 wurde schon in der Fondation Beyeler ausgestellt) ‚umfangen‘ zu lassen, die an allen vier Wänden ein monumentales, sich von geometrischer zu arabesker Ornamentik verwandelndes Flechtwerk zeigte. Die Zusammenstellung von Objekten aus den verschiedensten kunst- und kulturhistorischen Kontexten, von avantgardistischer und ethnographischer Kunst zielte gemäß kuratorischer Intention nicht auf Erkenntnis geschichtlicher Zusammenhänge und Entwicklungen, sondern auf Sichtbarmachung universeller anthropologischer Konstanten, so wie schon Wölfflin im Pendeln zwischen Renaissance und Barock das normative Ideal des Klassischen durch seine Erweiterung auf einen vormals der Formlosigkeit geziehenen Stil aufrecht zu erhalten suchte. Statt, wie Schmidt-Linsenhoff empfahl, die Reflexion der Kriterien von Kanonbildung per se voranzutreiben,9 wird ein neuer, erweiterter Kanon aufgestellt, der, hierin auf das postkoloniale Modell der Hybridität anspielend, zugleich „plurale Identitäten“ erlaubt.10 Die neue klassische, Kulturen verbindende Konstante ist das Textile, wie das Ornament „eine Art ‚Weltsprache‘“11, die in Kunst- wie in Völkerkundemuseen thematisch werden könne. Im Sinne von Schwarz‘ Argument, dass der orientalische Teppich als Paradigma den durch die Antike gesetzten Realismus ablöste, und zwar ähnlich wie dies über Jahrhunderte der Antikennachahmung geschah, in der direkten Auseinandersetzung mit dem Vorbild, versuchte die Wolfsburger Ausstellung vielfach eine direkte Rezeption bestimmter Teppiche oder Tapeten zu belegen.
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Vom Stoff zum Bild? Problematik des Medienwechsels Selbst wo dies plausibel ist, in der Gegenüberstellung von Tapisserien von William Morris und solchen aus den Wiener Werkstätten oder auch eines anatolischen Kelims mit Bildern der Nabis-Künstler Édouard Vuillard, Pierre Bonnard und Henri Matisse (Abb. 2) – es ist gar nicht zu bestreiten, dass diese Künstler sich durch Textilien anregen ließen –, kann von einer direkten Übertragung vom Stoff ins Bild keineswegs die Rede sein, denn der Medienwechsel impliziert den Rekurs auf die figurale Tradition des neuzeitlichen Kunstbildes und seine Raumkonstruktion, die mithilfe der Teppich-Referenz negiert, jedoch nicht aufgehoben wird. Das Teppichgewebe selbst kennt die Hierarchie zwischen Figur und Grund nicht, die in der europäischen Moderne zur Revision ansteht. Hinzu kommt die individuelle Gestik des Pinselstrichs, für die in der Mechanik des Gewebes kein Platz ist. Kette und Schuss repräsentieren vielmehr die Orthogonalität des Rasters, stehen für das Einwandern des zweidimensionalen Rahmens ins Bildfeld und für den Widerstand gegen die Autorität der künstlerischen Schöpfung, wie sie in der neuzeitlichen disegno-Lehre niedergelegt ist. Da das Textilgewebe ohne die ideelle Qualität der Linie auskommt, gibt es hier keine ontologische Differenz zwischen Bildträger und Bild, stützt sich die moderne Malerei also auf die ‚egalitäre‘ textile Struktur, um ihrer historisch, im modernen Zivilisations- und
2 Henri Matisse, Lesende am Tischchen, 1921, Öl/Lwd., Kunstmuseum Bern
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(Kolonisations-)prozess erarbeiteten Abstraktheit die Aura des Urtümlichen und Heiligen zu verleihen. Der anschauliche Vergleich von Textilien und moderner europäischer Malerei führt somit keineswegs auf gemeinsame essentielle Wesensgründe zurück, sondern vollzieht lediglich das primitivistische Phantasma der historischen Avantgarden noch einmal nach. Erneuert wird die Spaltung des kolonialen Subjekts, das Bedeutung und Identität nur über die Projektion des ‚Anderen‘ generieren kann (weshalb die AvantgardeGeschichte der Arabeske wohl bei Gauguin beginnt). Verdrängt wird in dieser Projektion die dialektische Selbstbewegung der Geschichte des westlichen Kunstbildes, das durch die Materialisierung von Farbe und Bildträger medienimmanent Kritik an der malerischen Konstruktion eines fiktionalen, den heteronomen Stoff in die immaterielle Gestalt verwandelnden Ichs leistet. In dieser immanenten Formreflexion artikuliert sich Kritik am kolonialen Bewusstsein, nicht in den regressiven Utopien einer Rückgewinnung archaischer Kollektivität. Selbst wenn, was höchst unwahrscheinlich ist, Paul Klees Spätwerk von kongolesischem Raphiagewebe angeregt worden sein sollte,12 führt die entfernte formale Ähnlichkeit der schwarzen Lineamente nicht auf eine Gemeinsamkeit (Abb. 3a und 3b). Denn bei Klee geht es um die Präsenz des grob sackleinenen Bildträgers, der sich, da die Farbe in ihn eingesunken ist, einer Aushöhlung zum Grund entgegenstemmt und damit gegen die Metaphysik des malerischen Raums opponiert, ohne doch aus der Mediengeschichte des Bildes auszusteigen und sich der des Ornaments unterzuordnen. Die Exponate fügen sich der kuratorischen Idee nicht, im Gegenteil. Wenn Gerhard Richter, dessen monumentale Wandteppiche Iblan (Abb. 4) und Musa aus dem Jahr 2009 neben einer Brüsseler Tapisserie des 16. Jahrhunderts ausgestellt sind, nunmehr eigene
3a Paul Klee, O.T. [Gefangen/Diesseits-Jenseits/ Figur], um 1940, Öl, ausgesparte Zeichnung mit Kleisterfarbe auf kleistergrundierter Jute
3b Raphia-Gewebe, Bakuba-Ngongo-Region, Dem. Republik Kongo, 1. Hälfte 20. Jh., Raphiapalmfasern
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4 Gerhard Richter, Iblan, 2009, gewebter Jacquard-Wandteppich, Editionen CR 143, 267 x 378 cm
abstrakte Bilder digital spiegelt und das Resultat zu einem Gobelin weben lässt, ist dies offenkundig eine ironische Replik auf das Teppichparadigma und die Inthronisierung des textilen Ornaments als Weltsprache der Kunst. Indem Richter die jeder präexistenten Ordnung widerstrebenden Palimpseste seiner Mal- und Schabtechnik durch digitale Operationen der Regelmäßigkeit orientalischer Teppiche angleicht und wiederum – vermittelt über den digitalen Code – in das Medium des Jacquard-Gewebes übertragen lässt, macht er die ästhetische Inkompatibilität von textilem Ornament und Bild bewusst, deren hybride Zusammenführung allein durch die (im Westen entwickelte) Computertechnologie zu bewerkstelligen ist. Diese übernimmt heute die nivellierende Funktion, die in der frühen Kunstgeschichte noch ausschließlich durch die Fotografie und das durch sie ermöglichte vergleichende Sehen ausgeübt wurde. Angeleitet wie auch verschleiert durch die textile Metapher des ‚Netzwerks‘ kommt der Computertechnologie und ihrer transmedialen Gewalt faktisch die Rolle zu, die modernistische Idee des Universalen zu beglaubigen. Hierauf machte 2013 auch die Retrospektive des amerikanischen Malers Rudolf Stingel im Palazzo Grassi in Venedig aufmerksam (Abb. 5). Sempers Urhütte – denn die Teppichwand geht ja zurück auf das zwischen Pfählen ausgespannte, zugleich schützende und schmückende Mattengeflecht der in London 1851 ausgestellten „karaibischen Bambus-
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5 Rudolf Stingel, Untitled, 2013, Palazzo Grassi, Venedig
hütte“13 – wurde hier durch eine installative Verwandlung der Ausstellungsräume, die komplett mit dem vergrößerten digitalen Print eines (stellenweise stark verschlissenen) Orientteppichs ausgekleidet waren, ironisch-pompös reinszeniert.
Vergegenständlichung einer Metapher Weitere Ausstellungen nahmen die Teppichmetapher beim Wort. Die Münchner Schau Marokkanische Teppiche und die Kunst der Moderne, veranstaltet vom Staatlichen Museum für angewandte Kunst zur Wiedereröffnung der Pinakothek der Moderne im Herbst/ Winter 2013/14, verzichtete sogar ganz auf die Ausstellung von herkömmlicher europäischer Hochkunst. Die Besucher bewegten sich in einem Wald von schwerwollenen, massig herabhängenden, teilweise intensiv farbigen Teppichtexturen, deren grobe Materialität und sparsame geometrische Ornamentik im Gegensatz zur Raffinesse der persischen Teppichkunst steht (Abb. 6). Im repräsentativen Katalog, der den Exponaten ganzseitige Hochglanzreproduktionen und ausführliche Provenienzangaben widmet, wird allerdings der gängige Legitimationsrahmen für die im Titel der Ausstellung genannte Verbindung von angewandter und autonomer Kunst nachgereicht; man beruft sich auf das Interesse
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6 Ausstellung Marokkanische Teppiche und die Kunst der Moderne, 2013/14, Die Neue Sammlung, Pinakothek der Moderne, München
moderner Architekten wie Frank Lloyd Wrigt, Le Corbusier, Charles und Ray Eames am marokkanischen Teppich und deutet – wie in Wolfsburg – die abstrakte Bildkunst, hier ausschließlich aufgrund fotografisch kreierter Ähnlichkeit, als direkte Folge der Begeisterung für archaische Ornamentik. Der Architekt Jürgen Adam, Besitzer der Teppichsammlung und Hauptautor des Katalogs, stellt Werken Piet Mondrians, Joseph Beuys‘, Mark Rothkos, Gerhard Richters, Barnett Newmans, Wassily Kandinskys und Kasimir Malewitschs vermeintlich ähnliche Teppichwerke an die Seite, so dass über den Teppichvergleich auch die Einebnung der gesamten Geschichte der Moderne vollzogen wird. Die Gliederung des Bildteils bedient sich des Vokabulars aus Kandinskys Bauhausbuch Punkt und Linie zu Fläche (1926). Neben diesen gewaltsamen Bezügen zur modernen Westkunst finden sich informationsreiche Ausführungen zur kulturellen Bedeutung der Teppiche für die Nomadenstämme.
Die Materialität des Kunstwerks. Textil und „objecthood“ Einsichten in den Dialog zeitgenössischer Kunst mit dem Textilen ließen sich eher einem anderen Raum der Pinakothek der Moderne abgewinnen, wo eine Reihe von Strickbildern Rosemarie Trockels ausgestellt war. Eindrücklich zeigten besonders die Rorschach-Bilder
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7 Rosemarie Trockel, Ohne Titel, 1991, Wolle, 250 x 160 cm, Slg. Dr. Eleonore und Dr. Michael Stoffel, Köln
(Abb. 7), dass hier im Unterschied zum frühmodernen Teppichparadigma ein ‚wörtlicher‘ Bezug auf das Textile stattfindet, das als solches die Malerei ersetzt. Dennoch ist nicht das Textile gemeint, schon gar nicht das handwerkliche Metier archaischer Praktiken, denn Trockel lässt ihre Arbeit auf Strickmaschinen herstellen. Das Maschenbild trivialisiert im Geiste feministischen Widerspruchs den elitären Avantgardismus des maskulinen Künstlerindividuums und schreibt sich in die literalistische Diktion des Postmodernismus ein. Trockels Rorschach-Textilien antworten mit ihrer maschinellen Zeilenlogik des rechten Winkels auf Clifford Stills malerische Antimalerei und verweisen mit sympathetischer Gebärde auf Warhols (im nahen Museum Brandhorst ausgestellte) Rorschach-Bilder, deren Indifferenz die romantische Tradition der arabesken Klecksographie und die von Justinus Kerner propagierte Idee des sich in ihr offenbarenden universalen Bildungstriebes als das abbilden, was sie vermeintlich unterlaufen, als Klischee.14 Werke von Rosemarie Trockel, Eva Hesse, Louise
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Bourgeois und Mona Hatoum sind in Wolfsburg unter dem schönen Titel „Spiderwomen“ ausgestellt und treffend kommentiert von Laura Breede, ohne dass der Vergleich mit einer Seidenstickerei aus dem 15. Jahrhundert die Erkenntnis vermehren würde. Auf die in skulpturale Dimensionen vorstoßende Materialität des Textilen in der „Fiber Art“ und die wiederbelebten transmedialen Traditionen der Gobelin-Manufakturen bezog sich die Pariser Ausstellung Decorum. Tapis & tapisserie d’artistes im Musée d’Art moderne de la Ville de Paris. Auch diese Ausstellung argumentierte in den Grundlinien der ästhetischen Utopie des Teppichparadigmas, das von Joseph Masheck in einem Katalogessay aktualisiert wird15 und dem auch Anne Dressens programmatischer Essay16 dient. Wiederum imponiert die visuell-formalistische Gleichstellung von anonymen Teppichproduktionen aus aller Welt mit individualisierten westlichen Textilkunstwerken. Die Differenz zwischen Teppich und Bild wird wie die zwischen Neo-Avantgarde und klassischer Moderne eingeebnet, etwa in der Parallelisierung eines geometrisch gemusterten textilen Bilds von Rosemarie Trockel aus dem Jahr 1987 und dem gleichermaßen vertikalisierten Wollteppich von Sophie Taeuber-Arp von 1936.17 Diese Strategie formalistischer Parallelisierung, die sich vor allem auf optische Werte beruft, widerspricht im übrigen dem kulturkritischen Argument, die zeitgenössische Vorliebe für die Haptik des Textilen stelle sich gegen die Dominanz visuellvirtueller Erfahrungsqualitäten.18 Konstruiert wird ein Kontinuum des Teppichparadigmas, das die Zäsur der 1960er Jahre verschwinden lässt und gegen Clement Greenbergs medienimmanente Theorie der Flächigkeit auftritt. War Sonja Delaunays Patchworkdecke von 1911, wie auch in Wolfsburg vorgeschlagen, das erste abstrakte Kunstwerk?19 Es findet sich aber auch, anscheinend abseits von jenem traditionalistischen Entgrenzungsmythos und seiner illustrativen Beweisführung, ein kurzer Essay des Badiou-Schülers Alexandre Costanzo, der das postkoloniale Theorem der Heterotopie anhand von Michel Foucaults Vergleich der Werke Edouard Manets mit der Wirkung von Teppichen entwickelt.20 Demnach bringt Manet durch seine Abflachung der Repräsentation bereits eine Dinglichkeit des Bildes hervor, die dem Betrachter keine eindeutige Position vor dem Bild mehr zuweist, sondern zu einer „Verschiebung“ (déplacement) einlädt, einen „anderen“ Raum konstituiert als den der klassischen perspektivischen Ordnung. Die Horizontalisierung des Mediums Skulptur durch Carl Andres 10 Steel Row (1967), ein „Teppich“ aus 10 gleichförmigen, auf dem Boden ausgelegten Metallplatten, tritt in Costanzos Argumentation in eine direkte Nachfolge der angeblich dinghaften Gemälde Manets. Demnach gibt es in der Malerei der historischen Avantgarden kein antagonistisches Verhältnis zwischen Fläche und Raum; die Kategorie des Raums bleibt vielmehr grundsätzlich unangetastet in der Beschwörung des ‚Anderen‘, das seine vage Bedeutung durch eine Gartensymbolik des Teppichs erfährt, wie Foucault sie beschreibt: „Le jardin est un tapis où le monde entier vient accomplir sa perfection symbolique et le tapis est un jardin mobile à travers l’espace.“21 Foucaults Begriff der Heterotopie, dem der gleichfalls numinose ‚dritte Raum‘ in Bhabhas Theoriebildung korrespondiert,22 dient für Manet wie für Andre als Deutungsrahmen: Je nachdem, ob wir das Werk 10 Steel Row von außen betrachten oder die Platten betre-
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ten, nehmen wir es als Skulptur oder aber als Sockel wahr, auf dem wir selbst gleichsam zu Statuen werden. Es tritt, so Costanzo, also dieselbe Erschütterung der Betrachteridentität ein wie angesichts eines Manet-Gemäldes. Dass diese Methoden der Dehierarchisierung nicht in ihrer erheblichen Differenz und nicht als kritische Negierung der Kunst und ihrer Markierungen von Autorität, sondern mithilfe der Teppichmetapher als positive Bereitstellung eines ‚anderen Raums‘ gelesen werden, ist einer postmodernen Ästhetik der Befreiung geschuldet, die offenbar einige Affinität zu den frühmodernen Utopien der Kunstavantgarde hat. Es wäre also zu untersuchen, inwiefern die postkoloniale Theorie, sofern sie sich der Foucault’schen Philosophie bedient, nicht notgedrungen den von Bhabha kritisierten universalen „Parallelismus“ des vergleichenden Sehens unterstützt, denn es zeigt sich, dass Costanzos Anwendung von Foucaults Teppichmetapher, indem sie auf ein Ganzes der modernen und postmodernen Kunstgeschichte zielt und dazu eine Nivellierung von malerischem Flächenraum und minimalistischer „objecthood“ vornimmt, letztlich die museale Gleichstellung von westlicher Kunst und ethnografischem Artefakt unterstützt. Solchen Kurzschlüssen entging eine Ausstellung wie die von Rike Frank und Grant Watson kuratierte Schau Textiles: Open Letter. Abstraktionen, Textilien, Kunst, die von Juni bis November 2013 im Museum Abteiberg in Mönchengladbach zu sehen war, schon deshalb, weil sie sich als „work in progress“ verstand und vorerst nur eine Broschüre und keinen mit historischen Gesamtperspektiven und repräsentativen Bildvergleichen ausgestatteten Katalog zur Verfügung stellte, der erst für das Wiener Nachfolgeprojekt in der Generali Foundation geplant ist. Anders als die bisher betrachteten Großausstellungen konzentrierte man sich in Mönchengladbach auf die westliche Kunst, zum einen auf die Ästhetik der Bauhaus-Weberei, zum andern auf die Auseinandersetzung der postmodernen Avantgarden mit dem Status der Leinwand und vor allem wiederum auf die Umgangsweisen mit dem Medium Textil von der „Fiber Art“ bis heute. Ein Problem liegt gleichwohl erneut in der nur formalistisch überbrückten Distanz zwischen angewandter und bildender Kunst. Der räumlich hergestellte Zusammenhang etwa von Agnes Martins poetisch filigraner Grafik und einem Wandteppich der Bauhausweberin Grete Reichardt kann nur die optische Gemeinsamkeit des geometrischen Rasters geltend machen, wie dies auch in Wolfsburg der Fall ist; dort wird ein peruanisches Ajour-Gewebe mit der Allover-Textur eines Werks der minimalistischen Künstlerin verglichen. Dem „Parallelismus“ der westlichen Stilgeschichte ist schwer zu entkommen.
Kunst, Industrie und Wissenschaft. Der Teppich als Metapher des digitalen Bildes? Das einzige anonyme Exponat in der Mönchengladbacher Ausstellung – koptisches Gewebe aus der historischen Sammlung des Museums am Abteiberg (Abb. 8) – bietet sich indessen zu einer abschließenden Betrachtung der konkreten historischen Umstände an,
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8 Leinenfilet mit Leinenstickerei, ägyptisch (?), 13,5 x 10 cm, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach (Inv.nr. 315)
die mit der Vorbildfunktion des Textilen verbunden waren und die Anstrengung zu ihrer Erneuerung begründen helfen. Die Textilsammlung des Museums, so informiert die Ausstellungsbroschüre, wurde schon 1908 durch eine private Stiftung begründet und nach dem Zweiten Weltkrieg erweitert, immer unter der Devise, Anschauungsmaterial zu den Ursprüngen und Traditionen der Textiltechnik in einer Stadt verfügbar zu machen, die der Textilindustrie ihren Wohlstand verdankte. Die ursprüngliche Funktion der meist aus Gräbern stammenden Stoffe, die als Tunika, Umhang oder Kissenhülle gedient haben, ist allerdings unsichtbar, denn im Handel wurden die Stoffe, um sie als Muster einer möglichst breiten Zirkulation zuzuführen, zerschnitten. In den 1950er Jahren wurden diese Zuschnitte dann auf Kunstseide montiert und gerahmt, mithin dem Medium Bild anverwandelt – ein Ästhetisierungsprozess, der exemplarisch die ökonomischen und technologischen Hintergründe des Teppichparadigmas in der Bauhaus-Ära und darüber hinaus deutlich macht. Die Verwandlung des dekorativen Textils ins abstrakte Bild bzw. dessen Rückführung auf das textile Gewebe scheint auch, so legt der Informationstext nahe, durch Johannes Itten, der von Krefelder Textilunternehmern angeworben und von 1932 bis 1938 Gründungsdirektor der Höheren Fachschule für textile Flächenkunst Krefeld war, dokumentiert.
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In diesem Zusammenhang aber findet ein bekannter historischer Sachverhalt Erwähnung, der mit einem Schlag den archaisierenden Gestus des neokolonialen Teppichparadigmas ad absurdum führt und wohl deshalb bislang im globalen Textildiskurs kaum Betrachtung gefunden hat: Die Anfang des 19. Jahrhunderts erfundene Lochkarten-Technologie der Jacquardmaschine antizipierte die Logik des Computers und damit eine intermediale Ästhetik, die zum Beispiel die Medienkünstlerin Beryl Korot, unter Bezug auf die Technik des Webens, entfaltet hat. Die beliebige Übersetzbarkeit jedweder Information von einem Medium ins andere, gewissermaßen schon in Sempers „Stoffwechseltheorie“ als kanonische Forderung erhoben, ist durch den Entweder-Oder-Code der Computertechnik möglich geworden. Und dieser ist durch die Weberei, die auch vor Einführung der Lochkarte schon an einen Code gebunden war, Muster und Figuren nur transformiert über die Struktur von Kette und Schuss gestalten kann, bereits vorweggenommen worden. „Die Grundprinzipien technischer Bilderzeugung waren bei Geweben bereits verwirklicht“, konstatiert Birgit Schneider in ihrem Buch Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenweberei.23 Die Wiederaufnahme des Teppichparadigmas dürfte dem prekären ontologischen Status des digitalen Bildes geschuldet sein, dessen Bildcharakter obsolet scheint, denn die Verfahren des Scannings verarbeiten Bilder als „diskrete Punkte, Zeilen und Spalten in technischen Geräten“24, verlieren also ihre materielle Eigensubstanz, was die nostalgischen Perspektiven auf das Haptisch-Textile nicht in den Blick bekommen, während Trockel, Richter und Stingel deutlich auf die industriell-technologische Dimension des Textilen verweisen und dabei den Rastercode der Weberei mit den Codes des neuzeitlichen und des modernistischen Tafelbildes konfrontieren. Das vergleichende Sehen als kunsthistorische Praxis anthropologisiert hingegen die binäre Logik der Computertechnologie und die ihrer mechanischen Vorläufer.
Anmerkungen *
Wiederabdruck eines Beitrags, der im Juli 2014 in der Kunstchronik erschienen ist (Kunstchronik, 67. Jg., H. 7, S. 373–384). Dank gilt der Redaktion der Kunstchronik, insbesondere Christine Tauber, für die freundliche Genehmigung, den Text im Rahmen dieser Anthologie veröffentlichen zu dürfen.
1 2
Edward W. Said: Orientalism. New York 1978. Postmodernism/Postcolonialism. In: Critical Terms for Art History. Hrsg. von Robert S. Nelson/ Richard Shiff, 2. Aufl. Chicago/London 2003, S. 435–451, hier S. 449.
3
Alexandra Karentzos: Postkoloniale Kunstgeschichte. In: Alexandra Karentzos/Julia Reuter (Hrsg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden 2012, S. 249–266, hier S. 251.
4
Homi K. Bhabha: DissemiNation: Time, narrative and the margins of the modern nation. In: Homi K. Bhabha (Hrsg.): The Location of Culture. London 1994, 139–170.
5
Joseph Masheck: The Carpet Paradigm. Critical Prolegomena to a Theory of Flatness. In: Arts Magazine, Nr. 51, September 1976, S. 82–109, hier S. 95.
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6
Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Kunst der Moderne von Klimt bis heute. Ausst. Kat. Kunstmuseum Wolfsburg. Ostfildern/Ruit 2013, S. 34, S. 119.
7
Markus Brüderlin: Global Art – wie lässt sich der interkulturelle Dialog im Ausstellungskontext inszenieren? In: Kunst & Textil 2013 (Anm. 6), S. 342–353, hier 342 f.
8
Hans-Günther Schwarz: Der Orient und die Ästhetik der Moderne. München 2003, 26 f.
9
Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Kunst und kulturelle Differenz oder: Warum hat die kritische Kunstgeschichte in Deutschland den postcolonial turn ausgelassen? In: Kunst und Politik. Schwerpunkt: Postkolonialismus. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Bd. 4. 2002, S. 7–16.
10 Brüderlin 2013 (Anm. 7), S. 347. 11 Brüderlin 2013 (Anm. 7), S. 344. 12 Brüderlin 2013 (Anm. 7), S. 347. 13 Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler u. Kunstfreunde. Bd. II. München 1863, S. 276. 14 Friedrich Weltzien: Die Arabesken und der Bildungstrieb. In: Verwandlung der Welt. Die romantische Arabeske. Hrsg. von Werner Busch/Petra Maisak. Ausst.Kat. Frankfurter Goethe-Museum/ Hamburger Kunsthalle. Petersberg 2013, S. 349–356. 15 Joseph Masheck: Le Paradigme du tapis revisité. In: Decorum. Tapis & tapisserie d’artistes. Ausst. Kat. Musée d’Art moderne de la Ville de Paris. Paris 2013, S. 95–102. 16 Anne Dressen: L’Art transgenre du tapis et de la tapisserie (ou le retour du minoré). In: Decorum. Tapis & tapisserie d’artistes 2010 (Anm. 15), S. 25–36. 17 Decorum. Tapis & tapisserie d’artistes 2010 (Anm. 15), S. 86 f. 18 Decorum. Tapis & tapisserie d’artistes 2010 (Anm. 15), S. 30. 19 Decorum. Tapis & tapisserie d’artistes 2010 (Anm. 15), S. 26, Anm. 7. 20 Alexandre Costanzo: Les Espaces Autres. In: Decorum. Tapis & tapisserie d’artistes 2010 (Anm. 15), S. 31–36, hier S. 35. 21 Michel Foucault, Les Hétérotopies. Paris 2009, S. 32. 22 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, 55 ff. 23 Birgit Schneider: Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenweberei. Zürich 2007, S. 9. 24 Schneider 2007 (Anm. 23), S. 9.
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Bärbel Küster
Patterns that connect? Kunstwissenschaftliche Deutungsmuster Die Kuratoren der documenta 12, Roger Buergel und Ruth Noack, belebten 2007 eine Art kunsthistorischen Widergänger für ihr Ausstellungskonzept: In den Ausstellungsräumen wurden formale Ähnlichkeiten zwischen Kunstwerken verschiedenster Zeiten und Kulturen inszeniert und zu „migrierenden Formen“ erklärt. Im Vorwort des Ausstellungskatalogs schrieb Buergel: „[...] selbstverständlich hat Kunst auch eine lokale Geschichte. Interessant wird eine Ausstellung aber erst dann, wenn man sich von diesen Krücken des Vorverständnisses befreit und auf eine Ebene gelangt, auf der die Kunst ihre eigenen Netze zu spinnen beginnt. Das ist die eigentlich ästhetische Ebene; hier erweist sich die Ausstellung als Medium und kann hoffen, das Publikum in ihr kompositorisches Tun einzubeziehen.“1
In den Kunst- und Kulturwissenschaften musste dies als a-historische Herangehensweise und anachronistische Methodik Befremden hervorrufen. So kritisierte Belinda Grace Gardner, dass die „angeblich auf Bedeutung stiftenden Vernetzungen basierende Matrix, die die optische Verwandtschaft der Bildsprachen vorgibt, nicht immer tragfähig ist. [...] Doch läuft eine bewusst auf Kontextualisierung verzichtende, nonchalant das Unvereinbare verbindende Ausstellung Gefahr, ins Leere zu zielen [...]“2. Schärfer noch kritisierten Julia Voss und Niklas Maak den Ansatz der documenta 12 als „essentialistischen Rückwärtssalto der Ästhetisierung von Kunst“3. Buergels Forderung, Kunst solle ihre eigenen Netze spinnen, ist als Kapitulation vor der methodischen Reflexion zu lesen. Zugleich folgt sie einer langen Tradition künstlerischer und kunstpädagogischer Zuversicht, einem Kreativitätsversprechen und der Idee einer ‚Kunst für alle’, dass jeder Mensch mit diesen Vergleichen etwas anfangen kann. Wie wäre sonst die Hängung von Zofia Kuliks Selbstporträt The Splendour of Myself (II) neben zwei Porträts Rembrandts (Abb. 1) zu verstehen? Das leicht zu kritisierende Konzept „migrierender Formen“ weist zum einen auf Prozesse einer vom Kurator übernommenen Produktionsästhetik, wogegen aber der Essentialismus der documenta 12 auf der Seite der Rezeption liegt: Vereinbar werden beide im Sinne älterer Arts-and-Crafts-Konzepte und der Kunsthandwerksbewegung um 1900, von deren Vertretern Kreativität und ästhetische Wahrnehmung als Mittel unvoreingenommener und geteilter Welterfahrung verstanden wurden. Buergels Referenz liegt zu-
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1 Ausstellungsansicht documenta 12, 2007: Von links nach rechts: Rembrandt, Bildnis eines Mannes (möglicherweise Jan Harmensz. Krul), 1633 und Selbstbildnis mit Sturmhaube von 1634, beide Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, Schloss Wilhelmshöhe; Zofia Kulik, The Splendour of Myself (II), FotografieMontage, 1997
dem im ‚Bann des Ursprungs‘ bei der documenta I und ihren Visualisierungen der klassischen Moderne und sogenannter primitiver Kunst (Abb. 2).4 Jeder soll hier also erkennen können, dass Kuliks Selbstporträt etwas mit Rembrandt zu tun hat, weil die Kragen der Halskrause sich sofort verbinden. In den Hintergrund treten dabei spezifische Kontexte und eine Vielzahl beschreibbarer Unterschiede, von denen einige kurz benannt seien: Rembrandts Männer-Porträt ist kein Selbstbildnis, und Kulik bezieht sich ausdrücklich auf die Gewandung von Elizabeth I. und ihre Adaptation der spanischen Mode. Ihr postsozialistisches geometrisches Spiel mit flächenhaft ornamentierten, aufgelösten Einzelformen als nur noch entfernt körperlichen Erweiterungen des realistischen Fotoporträts hat keinerlei Referenz in Rembrandts Gemälden. Die Hängung ist insofern weniger vergleichend als konfrontativ, behauptet aber – wie 1955 – einen eigentlichen Zusammenhalt. Neuartig in der Spätmoderne, so sei als These vorangestellt, ist die intendierte Herstellung polyvalenter Ähnlichkeiten auf Seiten der Produktionsästhetik. Kunstschaffende wie Kulik erklären, von der Suche nach solcher Wesentlichkeit fasziniert zu sein.5 Kulik spielt mit Stereotypen von Authentizität wie dem Mandala oder der ikonischen Darstellung von Marienfiguren. Das Konzept der d 12 kann so auch weniger als anachronistisches kuratorisches Mittel gelesen werden, sondern selbst Gegenstand einer kritischen Ikonologie neuester Globalkunst (Global Art) werden. Denn als Buergel davon sprach, dass die Kunstwerke selbst „eigene Netze flechten“, übernahm er als ‚künstlerischer Leiter‘ eben diese entgrenzte Produktionsästhetik. Im Widerstreit liegen nach wie vor zwei Interpretationslinien. Die erste betont formalistisch eine Verbindung zwischen ‚ähnlichen‘ Formen, letztlich jeder Vergleich, der, wie auf der documenta I oder auch noch in der großen Primitivismus-Ausstellung in New York 1984 (Abb. 3), auf Ähnlichkeitsbeziehungen setzt, ohne konkrete Austauschprozesse zu dokumentieren, muss sich auf spirituelle oder universalistische Zusammenhänge berufen, wie sie latent auch in Buergels/Noacks Konzept der migrierenden Formen begegnen. Ihnen haftet nicht nur etwas Esoterisches an, sondern sie müssen sich seit den 1980er Jahren auch
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2 documenta I, 1955, Eingangsbereich Erdgeschoss Museum Fridericianum, Foto: Günther Becker, documenta archiv, Stadt Kassel
3 Ansicht der Ausstellung Primitivism in 20th Century Art. Affinity of the Tribal and the Modern, 1985, Museum of Modern Art (MoMA), New York
den Vorwurf eines imperialen Universalismus und Essentialismus gefallen lassen. Die zweite Interpretationslinie argumentiert materialistisch, ausgehend von Fragen gemein samer Produktion, geteilten Seh-Erfahrungen und der Ausbreitung konkreter Objekte, Techniken und Funktionen. Die Kunstwissenschaft hat sich methodisch, sei es in ikono graphischen Ansätzen, in new art history, sozialwissenschaftlichen oder auch kennerschaftlichen Perspektiven, immer im Bereich einer an konkreten materiellen Kontakten und Kontexten orientierten Wissenschaft verortet. Es soll im Folgenden deutlich werden, dass die offene oder latente Verwendung von essentialistischen, universalistischen oder spiritualistischen Argumentationen sich von älteren Publikationen bis in die Global Art fortgesetzt hat. Methodisch ergibt sich hier eine Art ‚blinder Fleck’. In der Kunstwissenschaft hat der Formalismus eine lange, mindestens bis zu Heinrich Wölfflin (1864–1945) und Alois Riegl (1858–1905) zurückführende, wechselhafte Geschichte. Die Spannung zwischen essentialistischer Wesenszuschreibung und der phänomenologischen Bildung von Vergleichsreihen hat die Theoretisierung des Gegenstands ‚Kunst‘ in Museen, Akademien und Universitäten bestimmt.6 Sprichwörtlich ist immer
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noch Wölfflins Vergleich des spätmittelalterlichen Schnabelschuhs mit den Formen der gotischen Kathedrale – eine „innere Form“ verbinde beide.7 Annähern möchte ich mich dem Fragenkomplex durch einen kunsthistorisch abgelegenen Seiteneingang, auf den Gardner in ihrer documenta 12-Kritik hinwies. Sie bezog die dortige Vergleichskultur auf ein ethnographisches Mammutwerk, Carl Schusters und Edmund Carpenters zwölfbändige Publikation Materials for the Study of Social Symbolism in Ancient & Tribal Art. A Record of Tradition and Continuity8, das in Kunstwissenschaftskreisen wenig rezipiert wurde, methodisch und personell jedoch eng mit der Wissenschaftsgeschichte des Fachs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Denn Carl Schuster (1904–1969) hatte in Harvard Kunstgeschichte und Orientalistik studiert, bevor er ausgedehnte Forschungen in Peking unternahm und Textilien zu sammeln begann. 1933/34 promovierte er in Wien bei Josef Strzygowski, u. a. über das Vogelmotiv in der chinesischen Stickerei.9 Schuster war beteiligt an der Gründung des Museum of Primitive Art 1954 in New York, dessen Sammlung 1976 in das Metropolitan Museum einging. Er lebte von Stipendien und arbeitete am American Museum of Natural History in New York.10 Er selbst hielt seine Forschungen in den 1950er Jahren bereits für verspätet, den Zeitpunkt einer Publikation für verpasst. Doch Edmund Carpenter (1922–2011), ein befreundeter Anthropologe, erarbeitete aus seinem Sammlungsarchiv posthum die zwölfbändige Publikation über den „sozialen Symbolismus“ hinter den Mustern und Ornamenten von „ancient and tribal art“, die 1986 und 1988 erschien.11 Zwölf Jahre später extrahierte er daraus den Katalog Patterns That Connect, dem er ein Vorwort voranstellte, das methodologische Kritik aufgriff. Schusters Werk grenzte sich gegen den Diffusionismus (Friedrich Ratzel) und die daraus hervorgegangene Lehre von Kulturkreisen (Leo Frobenius) ab. Weder dafür noch für Entwicklungstheorie oder Stilgeschichte der Ornamente habe sich Schuster interessiert, auch nicht für die ältere These einer „Psychischen Einheit der Menschheit“ (z. B. bei Adolf Bastian), die als Begründung des Auftretens ähnlicher Formen in unterschiedlichen Kulturen angeführt wurde.12 Sein Vorhaben sei vielmehr ikonographischer Natur; wenn er Beispiele aus Patagonien, Papua, Afrika und Australien nebeneinander reihe, dann nehme er diese nicht aus ihrem Kontext, wie ihm vorgeworfen wurde, denn deren Kontext sei eben die von ihm vorgeführte Ikonographie. In dieser Ikonographie zählten Kultur, Epoche, Stil wenig. Carpenter verteidigt Schuster: „Art & mythology are always at the service of man’s madness. When I compare a Papuan pattern with a Patagonian one, or juxtapose a modern motif and a mesolithic one, then assign a common origin to them all, don’t I fall into this same madness? Possibly I do. But the question really doesn’t matter: even if these comparisons are legitimate and these interpretations correct, no serious critic would accept them without further evidence.“13
Carpenter ging es um die Entzifferung kultureller Bedeutungen und Funktionen von Mustern in ihrer Beziehung zu symbolischen, auch rätselhaften Handlungen, aus welchen sie
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hervorgingen. Schuster zufolge hatten seit dem Paläolithikum bestimmte Muster überlebt, deren große Anzahl und weitreichende Übereinstimmung eine gemeinsame Bedeutung herstellten, selbst wenn Symbole zu unterschiedlichen Zeiten oder an verschiedenen Orten grundsätzlich auch Verschiedenes bedeuten konnten. In modernen Worten ausgedrückt, traten Schuster und Carpenter für eine basale und inklusive Ikonographie ein, deren empirische Fundierung sie trotz oder wegen der Einfachheit der behaupteten Bedeutungen nicht leisten konnten; die elaborierte und exklusive Ikonographie war dadurch nicht berührt. Der Code der Kunstwissenschaft akzeptiert diese Schlussfolgerungen nicht und muss sie als unwissenschaftlich ausschließen. Der zwölfbändige Corpus kann hier nur exemplarisch repräsentiert werden. Schuster/ Carpenter isolieren unterschiedliche Muster, die sie alle der Symbolisierung der Genealogie verpflichtet sehen. Das erste Beispiel ist der Baum, Ast oder Stamm als Symbol der Abkunft, dessen reduzierteste Form die Astgabel ist. Schuster sieht darin nicht die soziale Familie, sondern vielmehr eine kosmische Abkunft verbildlicht: Stammesgründer und ihre Nachfahren, weshalb sie häufig mit Gesichtern verziert und an einem rituellen Ort angebracht sind. Schuster bildet eine Reihe dazu, die von Kulturen auf Borneo, Neu-Irland, Indien, Turkmenistan bis hin zu europäischen mittelalterlichen Darstellungen, alchimistischen Traktaten oder Rechtskodizes wie dem Sachsenspiegel reicht.14 Solche Muster der Genealogie und Stammbäume findet er in Stoffen und ornamentalen Flächenverzierungen verschiedenster Kulturen und Zeiten bestätigt, in denen er ein Geflecht von menschlichen Figuren ausmachen kann (Abb. 4). Schon im Paläolithikum hätten Menschen ihre Verbundenheit mit den Ahnen in Muster gebracht und auf Stoffen, mit Körperbemalung und in Werkzeuge, Tonwaren geritzt überall mit hingenommen. Im Zentrum seiner Vergleiche steht deshalb eine stilisierte Menschenfigur, die Schuster selbst in rein geometrischen Mustern wiederfindet. Das Stundenglasmotiv spürt er zum Beispiel nicht nur in indianischen Flechtwaren und melanesischen Schnitzereien auf, sondern auch in Objekten aus der prähistorischen griechischen Siedlung von Tiryns, in Töpferwaren aus der Kupferzeit im Kleinasien und einer griechischen Amphore (Abb. 5). Die meisten Stundenglasmotive sähen zwar rein abstrakt aus, repräsentierten jedoch menschliche Figuren mit Extremitäten, die wiederum Genealogien versinnbildlichten.15 Konnte der Vorwurf, Schuster/Carpenter setzten „tribal“ und „ancient art“ mit dem europäischen Paläolithikum gleich und hielten so das Vorurteil über geschichtslose sogenannte Naturvölker aufrecht, damit entkräftet werden, dass es nicht um entwicklungsgeschichtliche Aspekte ging? Carpenter begegnete auf den Vorwurf der Dekontextualisierung, er löse keine Objekte aus ihrem Kontext heraus – nebenbei ein Vorwurf, der seit den 1960ern viele Forschungen mit allgemeinem Deutungsanspruch traf, so z. B. auch LéviStrauss’ Strukturalismus, den Marxismus oder die Psychoanalyse. Schuster schrieb, es gehe ihm, in den Worten Aby Warburgs ausgedrückt, um das Nachleben der Symbole der Genealogie seit paläolithischer Zeit und dieses sei objektiv gegeben. Aber auch die kulturwissenschaftliche Forschung rund um Aby Warburgs Bibliothek hatte mit dem Vorwurf zu
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4 Edmund Carpenter/Carl Schuster, Patterns That Connect. Schema und Beispiel eines Teppichs, dessen Muster Genealogien symbolisiert.
leben, sich nicht um Details der Überlieferung zu kümmern, die analoge Ähnlichkeitsbeziehungen als historisch – und damit wohl auch hermeneutisch – unhaltbar entlarvt hätten. Aby Warburgs Pathosformeln sind ein anderer methodischer Versuch, Symbole als Formenwanderungen aus einem psychischen Bedürfnis der Menschen zu begründen, Erregungsbilder, die er als überzeitlich reaktivierbar und aktualisierbar voraussetzt.16 Tatsächlich gehen Schuster/Carpenter zwar von der äußeren Erscheinung der Objekte aus, bleiben aber nicht bei ästhetisierender Betrachtung stehen. Anders als die documenta 12 bemühen sie sich, eine soziale Praxis hinter den Mustern und symbolischen Formen herauszuarbeiten. An dieser Stelle holt den Text jedoch sein Karteikarten-, also Arbeitsmittelstatus ein, denn an keiner Stelle wird die hier behauptete soziale Praxis in einzelnen
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5 Edmund Carpenter/Carl Schuster, Patterns That Connect. Beispiele des Stundenglasmotivs, interpretiert als genealogisches Muster.
Kulturen hinreichend vertieft. Vermutlich schreckte Carl Schuster in den 1960ern zu Recht vor einer Publikation zurück, die er auch methodologisch hätte rechtfertigen müssen. Wenn Carpenter sich in seinem Namen gegen die historisch-kontextualisierende Beschreibung einzelner Kulturen als einzig wissenschaftlicher Methode wehrte, stand er wissenschaftsgeschichtlich und -methodisch in den 1990ern auf völlig verlorenem Posten. Offensichtlich sollte hier eine quantifizierende Herangehensweise eigenes Recht entfalten, indem sie besonders weitverbreitete, grundlegende Muster gleichsam als elementare (anthropozentrische) Bildvokabeln etablierte. Was war das Erkenntnisinteresse dieser transkulturellen, universalen Muster-Theorie, wenn nicht der Beleg einer Einheit der Menschheit? Carpenter zitiert dafür in seinem Vorwort der Ausgabe von 1996 den tamilischen Gelehrten Ananda K. Coomaraswamy (1877–1947):
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„Only when it is found, that a given symbol [...] has a genetically consistent series of values in a series of intelligible contexts widely distributed in time and space, can one safely ,read‘ its meaning elsewhere. [...] It is in this universal, and universally intelligible language that the highest truths have been expressed.“17
Bei Schuster/Carpenter wird die Genealogie und die Einbindung in eine Ahnenreihe als eine solch universelle Wahrheit verstanden. Sie wird mit einer überwältigen Materialsammlung ausgeführt (Abb. 6). Das Konzept von Patterns That Connect führt zu kulturwissenschaftlichen Ansätzen der 1920er und 30er Jahre zurück – und damit zu Schusters Doktorvater Josef Strzygowski18. Strzygowski nahm in der sogenannten Wiener Schule eine Außenseiterposition ein, und seine Konkurrenz zu Max Dvorák, Alois Riegl und Julius Schlosser hatte methodische Gründe, die ihn von der Wiener Schule zutiefst trennten. Während Riegl in Stilfragen das Zentrum der hellenistischen ‚Weltkunst‘ verteidigte, sah Strzygowski die Bedeutung „autochthoner“ Kunstschöpfungen unabhängig von Europa im Orient als wesentlich an.19 Strzygowski wurde auch in Frankreich rezipiert. Er publizierte in der von Surrealisten gelesenen französischen Zeitschrift Documents – Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie aus dem Jahr 1929 (Bd. 1) zum Beispiel eine Untersuchung über die Formenähnlichkeiten in den Tempel-Architekturen weitentlegener Kulturen, die er im Zoroastrismus begründet sah. Sein letztes Argument gewinnt er aus der visuellen Ähnlichkeit.20 Strzygowskis Glaube an die Bedeutung von Formenähnlichkeit ist dennoch kein bloßer Formalismus, sondern an diffusionistische Modelle des Zusammenhangs gekoppelt. Bereits in den zehner und zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts erfuhren Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte eine Ausweitung auf „Weltperspektiven“, die nicht nur als hegemonial zu bezeichnen sind.21 Die Schülerschaft Strzygowskis in Indien, Serbien, der Türkei und anderswo unterstreicht dies beispielhaft. Der bereits zitierte Coomaraswamy22 beeinflusste mit seinen Studien über indonesische Kunst die britische Moderne, namentlich Jacob Epstein und Eric Gill.23 Sein Buch über die Mittelalterliche Kunst auf Sri Lanka erschien 1908 in der Kelmscott Press von William Morris – dem wichtigsten Vertreter der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung. Coomaraswamy legt in seiner Geschichte der indischen und indonesischen Kunst von 1927 einen gemeinsamen Kulturraum indo-sumerischer und indo-iranischer Altertümer (wo er übrigens Strzygowski zitiert) dar und entwirft eine gemeinsame frühasiatische Kunst des ‚Alten Orients’, der im 4. Jahrhundert v. Chr. vom Mittelmeer bis nach Indien reicht. Hier reflektierte er die Geschichtsschreibung: „Alles was dieser Kunstphase angehört, ist ebensosehr das gemeinsame Erbe Europas und Asiens, und ihre verschiedenen Formen, wie sie in Indien oder anderswo in verschiedenen Epochen bis zum heutigen Tage vorkommen, müssen eher als verwandt, denn als entlehnt betrachtet werden.“24
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6 Verschiedene dekorative Muster, die als Symbole von Genealogien interpretiert werden. Schematische Ansicht, Carl Schuster/Edmund Carpenter, Patterns That Connect
Er wählt die Formulierung „Verwandtschaft der Motive und Ornamente“ vor allem um die eigenständige Entwicklung indischer Kunst zu betonen. Man darf vermuten, dass dies auch einer weltanschaulichen Einstellung entsprach, denn als Mitbegründer einer spiritualistischen Philosophie des „Perennialism“, auch als „traditionalist school“ bekannt, betonte Coomaraswamy den gemeinsamen Ursprung aller religiösen und spirituellen Bewegungen der Welt. Ganz andere Zusammenhänge zwischen Kunstwerken stiftete Henri Focillons La vie des formes aus dem Jahr 1934. Focillon sah die Formen der Kunstwerke als Träger von Zeichen, deren Inhalte sich jedoch radikal ändern, entleeren und neue Bedeutungen annehmen können. Obwohl die Formen der Ähnlichkeit für ihn Anzeichen des Stils sind, sucht er keine materialistischen Gründe für Übereinstimmung und Ähnlichkeit.25 Vielmehr vollzieht er Ansätze „einer Art spiritueller Ethnographie“, die zeigen soll, wie die geistigen Kräfte („esprits“) verschiedenster Zeiten und Orte durch geheime Fäden verbunden sind und sich konstant in verschiedensten Kulturen wiederfinden.26
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Vergleichbare spirituelle Ansätze liegen André Malraux‘ Musée imaginaire (1947) zugrunde, das als Bild-Publikation maßgeblich an der Durchsetzung eines ‚Weltkunst’-Gedankens beteiligt war, aber editorisch auch auf bereits vorhandene, strukturell ähnliche Publikationsunternehmen zurückgriff.27 Nicht zuletzt verwendete Arnold Bode bei der documenta I wiederum Bildvorlagen aus dem Musée imaginaire für die Eingangshalle des Fridericianums – Höhepunkt der Malraux-Rezeption nach 1945 in Westdeutschland.28 Walter Grasskamp ist aktuell versucht, „den Kunstbildband als Einfallstor für die Universalisierung des Kunstbegriffs zu halten“29, aber dagegen sprechen die hier angeführten älteren Quellen aus anthropologischen, ethnologischen und kunsthistorischen Forschungen, die darüber hinaus mindestens bis zur Romantik zurückreichen. Die im Hintergrund des Weltkunstbegriffes waltende „Utopie des Humanen“30 und die Vorstellung von Kunst als anthropologischer Konstante wurde bereits um 1900 heftig diskutiert und künstlerisch produktiv gemacht.31 Die Vertreter des Konzeptes von Kunst als Universalsprache wie Malraux und Bode setzten den Bildvergleich als „optischen Nachweis der These einer Universalität der Kunst“ ein.32 Es ist jedoch ein weitverbreitetes Missverständnis, dass die Universalisierung der Kunst gleichbedeutend sei mit einer eurozentrischen Perspektive. In gebotener Kürze möchte ich darauf eingehen, dass bis heute auch die Deutungsmuster von Global Art/Globalkunst in der Kunstgeschichte nicht ohne diese Utopie der Kunst als Universalsprache auskommen – nur eben unter anderen Vorzeichen. Wolfgang Welsch legte in seinem Konzept der Transkulturalität Ende der 90er Jahre33 dar, dass Kulturen als sich wandelnde begriffen werden müssten, also nicht auf ein ‚eigentliches‘ Wesen reduziert und festgelegt werden dürften. In einem Zuge damit wird hier üblicherweise der europäische Universalismus kritisiert: Die europäische Moderne habe ihre eigenen ästhetischen, ethischen und politischen Maßstäbe als universal gültig vorausgesetzt und auf andere Kulturen projiziert, die somit nur als ‚fremde‘ rezipierbar waren. Das ist hinreichend kritisiert worden. Verstärkte Dezentralisierung oder Provinzialisierung europäischer Kunstgeschichte scheinen einem universalistischen Begriff der Kunst zu widersprechen, müssen aber als dialektische Bewegung von Global Art und eigentliches Signum von Kunstproduktion in Zeiten der durchgreifenden digitalen und ökonomisch-politischen Globalisierung verstanden werden. Denn per definitionem entwerfen universalistische Theorien eine auf Verallgemeinerbarkeit und Vergleichbarkeit gerichtete Kunstauffassung über Kultur- und Zeitgrenzen hinweg. Das nach universalen Kriterien Verallgemeinerte ist zugleich das Vergleichbare. Pointiert werden kann das in den universalen Menschenrechten. Wenn deren Grundrechte-Universalismus eine notwendige, obgleich veränderliche Utopie ist, wie Etienne Balibar und Alain Badiou herausgearbeitet haben, dann ist ohne diesen eine weltweite gemeinsame Geschichte und der Entwurf einer gemeinsamen, gerechteren Welt nicht denkbar.34 Der alte Universalismus der Moderne als imperiale Ausweitung westlicher Kategorien für eine zukünftige Weltgemeinschaft wurde zurecht kritisiert, an seine Stelle trat ein „relativer Universalismus“, als Gedanke gemeinsamer Verantwortlichkeit und Verbun-
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denheit. So verabschiedete Bruno Latours Wir sind nie modern gewesen lediglich den aggressiven, usurpatorischen Universalismus der Moderne, um in den lokalen und partikularen Strukturen des globalen Netzes einen relativen Universalismus aufrechtzuerhalten.35 Nora Sternfeld entwickelte in diesem Sinne ein Konzept des „strategischen Universalismus“, um zu verdeutlichen, dass gerade Künstler, die nicht ohne Weiteres an den globalen Umschlagplätzen von Kunst partizipieren können, sich auf die Universalität von Kunst berufen, um an der Welt der Kunst teilzuhaben.36 Ohne diese Strategie verlöre die Kunst einen großen Teil ihres utopischen Potenzials. Wenn also für die Globalkunst eine hierarchiefreie „neue Weltordnung“37 ausgerufen wird, formuliert man damit die zeitgenössische, neue Variante des alten Universalitätskonzeptes. Auch Global Art muss die Fiktion eines voraussetzungslos geteilten Kunst-Raumes aufbauen, der nicht allein ökonomischen Charakter hat, sondern letztlich auch auf der Idee einer Universalsprache Kunst aufbaut. 38 Selbst wenn regionale Unterschiede für eine globale Kunstgeschichte weltweit von Bedeutung bleiben, und sich lokale, partikulare Bezugspunkte durch die Arbeit an älteren künstlerischen Traditionen ebenso wie durch die Arbeit mit lokalen Problemen für viele zeitgenössische Künstler in den vergangenen Jahrzehnten eher verstärkten. Für die Transkulturalität der Global Art, für die voraussetzunglose Teilhabe an ihr, steht eine kunstwissenschaftliche Fundierung jedoch noch aus, um nicht zu sagen, es handelt sich um einen methodisch blinden Fleck, der von der Kulisse der Eurozentrismus-Kritik des Universalismus verstellt wurde. Dieser Beitrag kann freilich das methodologische Problem nur exponieren, nicht selbst Methode begründen. Darum sei ein Werkbeispiel an den Schluss gestellt, um die Problematik zu verdeutlichen: David Jablonowskis Objekt-Installation Kelly en Perles (3D) in Coop with Cameroonian Artist von 2011 greift kursierende, kulturell jeweils umkodierte Zeichen globaler Märkte auf und kritisiert mit seiner Installation herrschende Marktmechanismen (Abb. 7). Gezeigt wird ein Seidenschal der Pariser Marke Hermès, ein Luxusartikel, der seit 1937 jährlich mit neuem Design produziert wird und noch heute zum Modekult gehört. Auf ihm ist ein zweites Kultobjekt zu sehen, die Kelly Bag (eine durch Grace Kelly 1956 berühmt gewordene Handtasche aus Einzelanfertigung). In Kamerun war von unbekannt gebliebenen Handwerker-Künstlern das Design von Tasche und Schal in Perlenstickerei kombiniert worden, und dieses Perlenbild wiederum reproduzierte das Haus Hermès in seinem selbstausgerufenen Afrika-Jahr 1997 als Seidenschal – gleichsam als Zeuge der Globalität der eigenen Stilikonen. David Jablonowski, 1982 in Bochum geboren, will in der Adaption von Hermès die visuelle Ausbeutung bloßstellen, weil die Kameruner Künstler namenlos (und unbezahlt?) blieben. Die verschiedenen Aneignungen zeugen von mehr als drei Autorschaften dieses Werkes: Kameruner Perlensticker, Hermès, Jablonowski; aber auch Grace Kelly, das ikonische Foto von Grace Kelly mit der Handtasche im Magazin Life, dessen Fotograf und zuletzt der Taschenhersteller. Bemerkenswert am Umgang mit den beiden Stilikonen Carré Hermès und Kelly Bag ist aber auch, dass die Perlenstickerei vermutlich Unikat oder Kleinserie blieb. Wäre nicht auch denkbar gewesen, dass die
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7 David Jablonowski, Kelly en Perles (3D) in Coop with Cameroonian Artist, 2011, Seidenschal, Perlenstickerei/Aluminium, Sound (ipod), 65 x 67 x 4 cm
Kelly Bag in die populären gedruckten Stoffe (aus holländischer oder nigerianischer Produktion) aufgenommen und so die Insignien von Luxus viel weiter verbreitet worden wären. Jablonowski kritisiert zwar in seiner Installation den Ort der Aneignung von Hermès-Produkten in Kamerun etwas notdürftig und klischeehaft mit Trommelsound, kann dem spannenden Fall von mehrfacher Appropriation jedoch keine Informationen über die Produktion mitliefern und auch dem/r weiterhin anonymen Sticker/in keine Rechte zurückgeben. Bezeichnend an dem Fall sind auch die Verschiebungen zwischen Kunsthandwerk, Design und ‚Hochkunst’, in deren Orbit die Appropriation erst mit der Installation von Jablonowski eintritt: Zuvor bedienen sich sehr unterschiedliche Autoren global zirkulierender Zeichen und ihrer Reformulierungen, um ein Produkt zu realisieren. Jablonowski klagt mit seiner Strategie der Enttarnung von Marktstrukturen (einem „Fund“, von dem
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er 2012 ebenso profitiert wie Hermès 1996) nicht nur die Teilhabe der Kameruner Produzenten an einem gemeinsamen Markt ein, sondern auch einen gemeinsamem erweiterten Kunstbegriff. Die Kodierungsprozesse wären genauer zu untersuchen: Bedeuten Kelly Bag und Carré Hermès in Yaoundé das Gleiche wie in Paris? Welche lokalen Traditionen setzte die Stickerei fort und welche sind neu erfunden? Haben die Rautenmuster um die Tasche herum in Kamerun eine Bedeutung, etwa im Sinne von Schusters genealogischen „social patterns“? Dies alles sind Fragen, die mit einer irgendwie gearteten gemeinsamen Sphäre der Globalkunst und der „marktreflexiven Geste“39 der Installation, die ja auch schon in der Kameruner Stickerei vorhanden war, eher verwischt als pointiert werden. Der von Jablonowski eingeklagte symmetrische globale Markt dagegen ist Teil eines den alten Universalismus ersetzenden neuen Universalismus der Global Art. In dem Maße wie zunehmend im Fach auf die eigene Erzählmacht der Bilder gepocht wird, stellt sich auch das methodische Problem des latenten Universalismus in der Kunstwissenschaft aufs Neue.
Anmerkungen 1
Roger M. Buergel/Ruth Noack: Vorwort. In: documenta 12. Ausst.Kat. Hrsg. von der documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs GmbH, Kassel. Köln 2007, S. 11–12.
2
Belinda Grace Gardner: Grenzenlose Matrix. Die behauptete Form auf der documenta 12, Rezension, 6. Juni 2007, artnet.de. URL: http:www.artnet.de/die-behauptete-form-auf-der-documenta-12 [22.10.2013].
3
Julia Voss/Niklas Maak: So geht das alles nicht weiter. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 4. 11. 2007, Nr. 44, S. 25. http://www.art-and-science.de/PDF/BLOG-BLOG.pdf. (Archiv der 101 Verrisse).
4
Roger M. Buergel: Der Ursprung. In: Documenta Magazin 1. Köln 2007, S. 13–27.
5
Vgl. das Interview mit Zofia Kulik: http://www.kulikzofia.pl/english/ok3/ok3_czubak3_eng.html
6
Vgl. Altmeister moderner Kunstgeschichte. Hrsg. von Heinrich Dilly. Berlin 1990.
7
Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, München 1886, S. 46.
[10.10.2014].
8
Carl Schuster/Edmund Carpenter: Materials for the Study of Social Symbolism in Ancient & Tribal Art. A Record of Tradition and Continuity. Bd. 1 (Buch 1–4: Genealogic Patterns). New York 1986/ Bd. 2 (Buch 1–5: Family Tree). New York 1988/Bd. 3 (Buch 1–3: Rebirth). New York 1986.
9
„Das Vogelmotiv in der Chinesischen Bauernstickerei“ wird als Teil von Schusters Dissertation erwähnt in: Josef Strzygowski: Spuren Indogermanischen Glaubens in der bildenden Kunst. Heidelberg 1936, S. 326–244. Eine umfangreiche Publikation zur chinesischen Kunst zog Schuster im letzten Moment zurück, so dass seine größte Expertise bis heute unpubliziert blieb. Vgl. die äußerst detaillierte Biographie auf http://en.wikipedia.org/wiki/Carl_Schuster.
10 Später wurde seine Sammlung chinesischer Textilien und Stickereien vom Textil-Museum in Chicago angekauft, andere Stücke gingen 1960 an das Field Museum in Chicago und seine chinesischen Drucke stiftete er der New York Library. Als Schuster 1969 starb, hinterließ er ein umfang-
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reiches Archiv, das heute dem Museum der Kulturen in Basel gehört. Vgl. Schuster/Carpenter 1986 (Anm. 8), Bd. 1, Buch 4, Appendix 2, S. 933–952. 11 70 000–80 000 Fotonegative, 170 000 Zeichnungen, 400 Karten mit ca. 2800 Motiveinträgen/aufgeklebten Abbildungen, einige Dutzend Photomontagen, Museumsfiles mit Nachweisen einzelner Objekte, eine Bibliographie mit knapp 6000 Titeln und eine Bibliothek sowie 18 000 Seiten der Korrespondenz von Schuster. Vgl. Carpenter/Schuster 1986 (Anm. 8), Bd. 1, Buch 4, Appendix 2, S. 933–952. 12 Vgl. Martin Rössler: Die deutschsprachige Ethnologie bis ca. 1960. Ein historischer Abriss (= Cologne Working Papers in Cultural and Social Anthropology, 1). Köln 2007. 13 Edmund Carpenter/Carl Schuster: Patterns That Connect. Social Symbolism in Ancient and Tribal Art, New York 1996, S. 11. Carpenter verteidigt Schuster ähnlich in der Einleitung in: Schuster/ Carpenter 1986, Bd.1,1. 14 Vgl. Carpenter/Schuster 1996 (Anm. 13), Kapitel 2, S. 80–129. Die genealogischen Symbole findet Schuster in/auf einer Vielzahl von Objekten, die in der Edition von 1986 nach morphologischen Gesichtspunkten (in Figuren, in horizontalen Bändern, in Mäandern, in quadratischen Mustern etc.) geordnet sind. 15 „Most hourglass patterns, lacking anthropomorphic details, look purely ,geometric‘. Yet they represent human figures which share extended limbs [...] or about one another (hip-to shoulder) [...] or interlock, symbolically sharing limbs. [...] Of the two unconnected hourglasses, one is quatered, a key feature of genealogical iconography.“ Schuster/Carpenter 1986 (Anm. 13), S. 81. 16 Warburgs Pathos-Formeln führt Matthew Rampley auf die physiologisch-psychologischen Studien des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Robert Vischer und Herman Lotze zurück. Vgl. Matthew Rampley: From Symbol to Allegory: Aby Warburg’s Theory of Art. In: Art Bulletin, März 1997, Bd. LXXIX, Nr. 1, S. 41–55. 17 Zitat von Coomaraswamy in: Carpenter/Schuster 1996 (Anm. 13), Bd. 1,1, S. 8. 18 Suzanne Marchand: The Rhetoric of Artifacts and the Decline of Classical Humanism. The Case of Josef Strzygowski. In: Proof and Persuasion in History. Hrsg. von Anthony Grafton/Suzanne L. Marchand. Middletown/Conn. 1994, S. 106–130, bes. 117–120. 19 Strzygowski publizierte 1901 sein grundlegendes Buch Orient oder Rom; für viele Kulturen schrieb er Grundlagenwerke und wirkte so auch als Begründer verschiedener lokaler Kunstgeschichten (z. B. Serbien und Türkei). Vgl. Matthew Rampley: The Strzygowski school of Cluj. An episode in interwar Romanian cultural politics. In: Journal of Art Historiography, 8. Juni 2013, S. 1–21. Strzygowski gründete auch das Wiener Institut für vergleichende Kulturforschung. 20 Der Zoroastrismus bzw. Zarathustrismus (auch: Mazdaismus oder Parsismus) ist eine wohl zwischen 1800 v. Chr. und 600 v. Chr. vermutlich in Baktrien im heutigen Afghanistan entstandene monotheistische, in ihren frühen Ausprägungen auch dualistische Lehre, die in Persien und im zentralasiatischen Raum verbreitet war. Siehe „Zarathustra“, in: RGG, Bd. 6, Sp. 1866–1868 (W. Eilers). 21 Ulrich Pfisterer: Origins and Principles of World Art History. 1900 (and 2000). In: World Art Studies. Exploring Concepts and Approaches. Hrsg. von Kitty Zijlmans/Wilfried van Damme. Amsterdam 2008, S. 69–89. 22 Ananda K. Coomaraswamy, ein 1877 in Ceylon (heute Sri Lanka) geborener Botaniker, Geologe, Mineraloge und Philosoph, ausgebildet in London, wurde 1917 erster Kurator für indische Kunst im Museum of Fine Arts in Boston. Er verfasste zahlreiche regionale Kunstgeschichten der asiatischen Kulturen. Vgl. Ananda K. Coomaraswamy: Geschichte der indischen und indonesischen Kunst. Leipzig 1927 (dt. Ausgabe), bis in die 1960er Jahre unverändert aufgelegt. 23 Vgl. Rozina Visram: Asians in Britain. 400 Years of History. London 2002. Vgl. auch die Einführungen auf der Website des British Museum, London unter http://www.bl.uk/learning/histcitizen/ asians/influencingculture/culturalinfluences.html [10.10.2014].
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24 Ich zitiere die deutsche Übersetzung: Ananda K. Coomaraswamy: Geschichte der indischen und indonesischen Kunst (1927). 2. Auflage d. dt. Übers. Stuttgart 1965, S. 14. 25 Henri Focillon gab die damals geläufigen Erklärungen: Rasse, Milieu und zeithistorischer Moment. Henri Focillon: La vie des formes. Paris 1934, S. 23. 26 Focillon 1934 (Anm. 25), S. 23. 27 Vgl. Claudia Bahmer: Weltkunst. Formpsychologie und Kulturanthropologie in André Malraux‘ Kunstschriften. Berlin 2008/Walter Grasskamp: André Malraux und das imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon. München 2014/Susanne Leeb: Die Kunst der Anderen: Weltkunst und die anthropologische Konfiguration der Moderne. Diss. Basel 2013. Digital abrufbar unter: http:// opus.kobv.de/euv/volltexte/2013/80/pdf/leeb_susanne.pdf. 28 Vgl. Grasskamp 2014 (Anm. 27), 134–137/Harald Kimpel: documenta. Mythos und Wirklichkeit. Köln 1997. 29 Grasskamp 2014 (Anm. 27), S. 110. 30 Grasskamp 2014 (Anm. 27), S. 114. Er stilisiert den Almanach Der Blaue Reiter zum Ausgangspunkt der „Universalisierung des europäischen Kunstbegriffs“. Grasskamp 2014 (Anm. 27), S. 99. Zur Begründung in den älteren Traditionen vgl. bereits die Publikationsserie von George Boas und Arthur Oncken Lovejoy: A Documentary History of Primitivism and Related Ideas. Baltimore 1935 ff. 31 Bärbel Küster: Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900. Berlin 2003. 32 Grasskamp 2014 (Anm. 27), S. 135. 33 Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. In: Sichtweisen. Die Vielheit in der Einheit. Hrsg. von Freimut Duve (Edition Weimarer Klassik), Frankfurt am Main 1994, S. 84–122/Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung. In: Andreas Cesena und Dietrich Eggers: Thematischer Teil II: Zur Theoriebildung und Philosophie des Interkulturellen. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Hrsg. von Alois Wierlacher. Bd. 26. München 2000, S. 326–352. 34 Etienne Balibar: Paradoxes of Universality. In: Anatomy of Racism. Hrsg. von David Theo Goldberg. Oxford 1990, S. 283–294. Nach Balibar operieren selbst Rassismen mit dem Universalismus. Vgl. auch Alain Badiou: Paulus. Die Begründung des Universalismus (1977). München 2002/ Etienne Balibar: „Universalismus“. Diskussion mit Badiou auf der Plattform: http://translate.eipcp. net/transversal/0607/balibar/de [01.02.2014]. 35 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie [1991]. Frankfurt/M. 2008. 36 Vgl. Nora Sternfeld: Wem gehört der Universalismus? Online unter: http://translate.eipcp.net/ transversal/0607/sternfeld/de ([10.10.2013]. Vgl. auch die Tagung Dealing with the Universal. Art, Theory, Practice, veranst. von Bärbel Küster, Françoise Joly, Saskia Schabio u. Anette Bühler-Dietrich, Stuttgart, Institut Français 2011 (unpubliziert) sowie die Tagung Universalisms in Conflict. Post-colonial Challenges in Art History and Philosophy, Wien, Akademie der bildenden Künste, 2012 (unpubliziert). Zum notwendigen Universalismus gerade der engagierten Kunst vgl. T.J. Demos: The Ends of Exile. Towards a Coming Universality? In: Altermodern. Ausst.Kat. Tate Britain (Tate Triennal). Hrsg. von Nicolas Bourriaud. London 2009, S. 73–88. 37 Sabine B. Vogel: Globalkunst. Eine neue Weltordnung. In: Kunstforum International, Bd. 220, März-April 2013, S. 32–59/The Global Art World. Audiences, Markets, and Museums. Hrsg. von Hans Belting/Andrea Buddensieg. Ostfildern 2009/Hans Belting: Contemporary Art and the Museum in the Global Age. In: Contemporary Art and the Museum. A Global Perspective. Hrsg. von Peter Weibel/Andrea Buddensieg. Ostfildern 2009.
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38 Vgl. Bärbel Küster: ‚Weltkunst‘ und ‚Globalkunst‘ – Widersprüche eines kunsttheoretischen und künstlerischen Handlungsraums als Utopie von Entgrenzung. In: Wissen in Bewegung. Theoriebildung unter dem Fokus von Entgrenzung und Grenzziehung. Hrsg. von Gérard Raulet/Sarah Schmidt. Stuttgart 2014, S. 259–275. 39 Isabelle Graw: Der Große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity-Kultur. Köln 2008.
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Annette Haug
Ornament und kultureller Sinn Das Beispiel frühgriechischer Gefäße aus Athen Das Ornamentale kann über zwei unterschiedliche, geradezu konträre Betrachtungsweisen bestimmt werden. Auf der einen Seite lässt sich das Ornament und mit ihm das Muster als Überschuss beschreiben.1 Grund genug für die Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts, die Abschaffung des Ornaments zu postulieren. Allerdings ist es gerade dieser ästhetische und semantische Überschuss, dem die Ornamente ihre große kulturelle Bedeutung verdanken, lassen sie sich doch so als eigentlicher Ort des freien Spiels der Ästhetik begreifen.2 Auf der anderen Seite lassen sich Ornamente gerade nicht nur als verzichtbarer Zusatz und oberflächliche Hülle, sondern als zentrales Gestaltprinzip auffassen. Bei Niklas Luhmann ist das Ornament das Grundprinzip des Entwickelns von Formen aus Formen.3 Der Stil, der der Artikulierung von Ornamenten zugrunde liegt und der gerade in Ornamenten seine prägnanteste Ausdrucksform findet, stiftet Kohärenz (Identität) und Differenz (Alterität).4 Beide Perspektiven auf das Ornament unterstreichen damit, jeweils aus unterschiedlichen Gründen, die hohe Bedeutung, die das Ornamentale für die Stiftung von kulturellem Sinn besitzt. Im Folgenden soll es gerade um diesen Aspekt – die Rekonstruktion von Bedeutungsgeweben, die sich an Ornamente anschließen – gehen. Dafür wird mit den frühgriechischen Gefäßen des 8. und 7. Jahrhunderts aus Athen eine Objektkategorie gewählt, die auf sehr vielfältige Weise durch Ornamente strukturiert ist.5 Zunächst soll der historische Kontext, in dem die zu besprechenden Objekte ihren Ort haben, kurz umrissen werden.6 Nachdem die mykenische Palastkultur um 1200 v. Chr. ihr Ende gefunden hat, folgen auf dem griechischen Festland Jahrhunderte, die kaum archäologische Spuren hinterlassen haben (die sog. ‚Dark Ages‘). Man wird für diese Phase eine geringe Siedlungsdichte voraussetzen dürfen, größere Siedlungszentren (‚Städte‘) scheint es in dieser Zeit nicht gegeben zu haben.7 Die Situation ändert sich erst mit dem 8. Jahrhundert. Dann nimmt die Zahl der Gräber, auch die Zahl der Heiligtümer zu. Man hat diesen Prozess als Polisgenese beschrieben, die einhergeht mit einer Intensivierung der Handelskontakte, der Gründung von Kolonien, aber auch dem Entstehen panhellenischer Heiligtümer in Olympia und Delphi. Diese ‚Internationalisierung‘ hat zur Folge, dass in einigen griechischen Poleis, insbesondere in Korinth, verstärkt Vorstellungen und auch Bildfindungen des Nahen Ostens aufgegriffen werden. In Athen werden orientalische Dekorkonzepte vornehmlich mittelbar, über die Kontakte zu stärker akkulturierten Nachbarpoleis, rezipiert, weshalb eine ‚Orientalisierung‘ hier etwas später einsetzt. Erste An-
Ornament und kultureller Sinn I 53
1 Amphora in Athen, NM 804: Aufbahrungsszene (Prothesis), Mitte 8. Jh.
zeichen (wie das Auftreten von Mischwesen) fallen auch hier noch in das 8. Jahrhundert; erst im zweiten Viertel des 7. Jahrhunderts, mit dem sogenannten Mittelprotoattischen, ist allerdings ein tatsächlich tiefgreifender Wandel in den Bildkonzepten zu greifen. Dieser ist folglich auch und gerade als ein Kulturkontaktphänomen beschreibbar. Mit dem Übergang vom 8. zum 7. Jahrhundert kommt damit ein Zeithorizont in den Blick, in dem ‚fremdes‘ Formengut in Athen aktiv rezipiert wird. Mit der Frage nach dem inhaltlichen Status des Ornaments können die Modalitäten dieser Hybridisierung thematisiert werden. Nehmen wir vor diesem Hintergrund die Gefäße im frühen Griechenland in den Blick. Für den genannten historischen Horizont fehlen Schriftzeugnisse, die über die aufgeworfene Frage nach den Bedeutungshorizonten des Ornamentalen, insbesondere aber nach seiner identitätsstiftenden Funktion, Aufschluss geben würden. Die hier eingeschlagene methodische Annäherung setzt daher bei der ornamentalen Varianz an. Ornamentale Strategien, so die Ausgangsbeobachtung, fallen regional unterschiedlich aus, zugleich verändern sie sich im Laufe der Zeit. Über ornamentale (mithin also stilistische) Strategien kann folglich Zusammengehörigkeit und Abgrenzung artikuliert werden. Diese Form der Identitätsbildung kann implizit-unbewusst bleiben, aber auch explizit gemacht werden. Fällt die ornamentale Varianz besonders groß aus, so darf man vorsichtig annehmen, dass sie auch für die Zeitgenossen augenfällig war. In diesem Fall wird man eine bewusste Wahrnehmung der Unterschiede, mithin also auch eine semantische Aufladung ornamentaler Strategien, erwarten dürfen. Mit Blick auf die frühen Gefäße geht es also darum, stilistische Varianz zum Ausgangspunkt der Interpretation zu machen.
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Fassen wir diese Gefäße nun konkret ins Auge. Nach dem Ende der mykenischen Zeit besteht der Dekor aus geometrischen, fast durchgängig nicht-gegenständlichen Ornamenten, die sich regional unterscheiden.8 Eine Analyse hier ansetzen zu lassen, würde allerdings ins Spekulative führen, würde man doch verschiedene Ornamentsysteme, deren Konnotationen allesamt nicht bekannt sind, miteinander vergleichen. Fruchtbarer für einen solchen Ansatz sind verdichtete, figürliche Darstellungen, wie sie in Athen ab dem 8. Jahrhundert auftreten. Nun ließen sich unterschiedliche regionale Dekorkonzepte des 8. Jahrhunderts vergleichen,9 im Folgenden soll aber das Material aus einer Region, Attika, in seiner diachronen Veränderung näher betrachtet werden. Dieses Vorgehen bietet sich an, weil es zwischen dem 8. und dem 7. Jahrhundert zu einem massiven Wandel der dekorativen Strategien kommt. Ein erster vergleichender Blick auf ein Gefäß des mittleren 8. Jahrhunderts (Abb. 1) und ein Gefäß des mittleren 7. Jahrhunderts (Abb. 2) zeigt bereits, dass die Bildinhalte und mit ihnen die Art des Erzählens, die Form der Bildbegrenzungen, die interne Organisation der Bilder, der Umgang mit ‚Füllornamenten’, überhaupt die Formensprache als Ganzes, schon innerhalb der ersten hundert Jahre der Bildgeschichte einem erheblichen Wandel unterlagen. Ausgehend von derartigen Beobachtungen – einiges wird im Folgenden ausführlich zur Sprache kommen – hat man den tiefgreifenden Stilbruch, der sich Ende des 8. Jahrhunderts andeutet und dann vor allem im zweiten Viertel des 7. Jahrhunderts voll ausprägt, in der Forschung schon frühzeitig als Auflösung geometrischer Strukturprinzipien, mit Bezug auf das Formenrepertoire als Übergang von einer geometrischen zu einer flora-
Ornament und kultureller Sinn I 55
2 Oresteia-Krater in Berlin, Mitte 7. Jh.
len Ornamentwelt beschrieben.10 Während die Ornamente des 8. Jahrhunderts einem geometrischen Kompositionsprinzip unterworfen seien, ohne Gegenständliches zu repräsentieren, seien die Dekorwelten des 7. Jahrhunderts durch vegetabile Ornamente organisiert. An die Stelle von selbstreferentiellen geometrischen Ornamenten seien dann blütenhafte Rosetten und Pflanzen getreten. Dieser Vorstellung hat in den 1960er und 70er Jahren Nikolaus Himmelmann widersprochen, der bereits in den geometrischen Ornamenten Pflanzliches repräsentiert sehen möchte. Die Winkelketten, die auf der Athener Amphora (Abb. 1) zwischen den Trauernden zu sehen sind, wären folglich Repräsentationen von pflanzlichen Zweigen. Mit Blick auf die theoretischen Implikationen wäre mit Himmelmann also zu formulieren, dass auch das geometrische Ornament verschiedene ‚Grade an Gegenständlichkeit‘ besäße.11 Diese gegensätzlichen Deutungsoptionen machen einerseits die methodische Schwierigkeit sichtbar, wie man die Referenzebenen des Ornamentalen überhaupt bestimmt. Darüber hinaus haben sie aber weitreichende Implikationen für die Deutung des frühgriechischen Dekors in Athen. Der Wandel der Ornamentwelt im beginnenden 7. Jahrhundert geht mit dem massiven Auftreten von orientalischen Motiven einher. Es ist die Zeit, in der erstmals Kentauren, Sphingen und Greifen die Bilderwelt Athens bevölkern. Geht man davon aus, dass mit den neuen Ornamentformen auch ein inhaltlicher Bedeutungswandel
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einhergeht, so wäre die Orientalisierung im 7. Jahrhundert mit einer Vegetabilisierung der Ornamentwelt gleichzusetzen. Ganz anders aber die Schlussfolgerung, wenn man bereits die geometrische Ornamentwelt als prinzipiell ‚floral‘ versteht. Die Orientalisierung hätte dann nur Einfluss auf die Form, nicht aber auf das semantische System der Ornamentwelt. Die Frage nach der ‚Bedeutung‘ von Einzelformen soll zunächst von figürlichen Darstellungen ausgehend thematisiert werden. Auf den ‚geometrischen‘ Gefäßen des mittleren 8. Jahrhunderts (z. B. die Amphora Athen, NM 804, Abb. 1), ist der menschliche Körper selbst ornamental aufgefasst.12 Besonders deutlich wird dies an der kreisförmigen Kopfform und der dreieckigen Form des Oberkörpers. Der Figurenaufbau ist ornamental organisiert, das Ornament wird zur Grundform des Gestaltens schlechthin.13 Daraus folgt, dass geometrische Formen, die in einen spezifischen formalen Zusammenhang eintreten, gegenständliche Bedeutung annehmen können. Ein Dreieck bezeichnet im figürlichen Zusammenhang den menschlichen Oberkörper. Erst durch einen formalen Gestaltzusammenhang ergibt sich also überhaupt erst eine gegenständliche Referenz. Diese Referenz wird nur in sehr geringem Maße abbildhaft, sehr viel stärker aber strukturell hergestellt.14 Damit ist schon an dieser Stelle deutlich, dass dieselbe Ornamentform in unterschiedlichen Zusammenhängen Unterschiedliches bezeichnen kann. Der formale Gestaltzusammenhang organisiert, anders formuliert, gegenständliche Konkretisierungen – darauf wird zurückzukommen sein. Die Überlegungen zum ornamentalen Figurenaufbau machen für das mittlere 8. Jahrhundert sehr anschaulich, wie konkret das Ornament als Organisationsprinzip des Figürlichen eingesetzt wird. Von diesem Zwischenergebnis ausgehend, soll das Interesse im Folgenden ungegenständlichen ‚Füll‘-Ornamenten in ihrem Verhältnis zu gegenständlich-figürlichen BildElementen gelten. Diese Unterscheidung, die ältere Studien zumeist intuitiv eingeführt haben, soll hier explizit gemacht und als hermeneutisches Instrument zur Erschließung der Bedeutung der ungegenständlichen Bildelemente (‚Ornamente‘) genutzt werden. Die syntaktische Relation gegenständlicher und ungegenständlicher Elemente – etwaige regelhafte Kombinationsformen – soll Aussagen zur gegenständlichen Bedeutung (indexikalischen oder symbolischen Qualität) der geometrisch-abstrakten Formen erlauben. Während die gegenständlichen Bildfiguren die Bildhandlung konstituieren und üblicherweise auf den Bildrahmen als Standlinie bezogen sind (vgl. Abb. 1), sind die Füllornamente ungegenständlich, umgeben die Protagonisten, definieren ihren Handlungsraum, halten sie ‚auf Abstand‘15 und besitzen selbst kein Handlungspotenzial. Dadurch konterkarieren sie die figurative Bedeutung des Bildfeldes, weil sie ohne Bezug zum Rahmen frei auf der Bildfläche platziert sind. Die Füllelemente produzieren folglich eine ornamentale Qualität des Bildfeldes. Für beide Typen von Bildelementen gilt, dass sie im mittleren 8. Jahrhundert zumeist symmetrischen Kompositionsprinzipien unterworfen sind – Prinzipien also, die für die Verbindung des Einzelornaments zu repetierten Mustern, wie sie die Vasen überziehen, als ausgenommen charakteristisch gelten können.16
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Betrachten wir dazu die Amphora in Athen, NM 804 (Abb. 1), näher. Der Gefäßkörper ist von einem geometrischen Ornamentnetz überzogen, das in seinem repetitiven Charakter strengen Symmetrieregeln folgt. In der Bauchzone wird eine figürliche Darstellung – eine Aufbahrungsszene (Prothesis) – durch eine rechteckige Rahmung aus dem Dekornetz herausgehoben. Der Bildrahmen grenzt die Szene von der nicht-szenisch organisierten Umgebung ab. In Bezug auf das Bild fungiert die Rahmung als Standlinie der Figuren und ist somit Teil des Bildes.17 Sie verleiht dem Bild eine Ausrichtung, ein Oben und Unten, ein Rechts und Links. Zugleich ist die Rahmung aber auch Teil des Bänderdekors, der den gesamten Gefäßkörper rhythmisiert. In dem vom Rahmen umschlossenen Bildfeld wird eine Totenkline gezeigt, der sich von beiden Seiten Trauernde nähern. Die spiegelsymmetrische Anordnung – ein Charakteristikum ornamental organisierter Muster – wird hier als Grundprinzip der Bildorganisation eingesetzt. Betrachtet man die Trauerfiguren zu Seiten der Bahre für sich, so zeigt sich hier eine parataktische Reihung. Das Bild besteht jedoch nicht allein aus den figürlichen Handlungsträgern, sondern auch aus einer großen Zahl an nicht-gegenständlichen Bildelementen (‚Ornamenten‘). Diese haben – wie auch der ornamentale Gesamtdekor des übrigen Gefäßes – geometrische Gestalt und sind frei ‚schwebend‘ auf der Bildfläche platziert. Mit Blick auf die Bildsyntax ist nun von Interesse, dass die symmetrisch organisierten Trauerfiguren jeweils von denselben geometrischen Ornamenten umgeben sind. Sie werden durch eine Doppelwinkelkette, die von der Höhe der Schulter bis zum Boden reicht, sowie einem Strichstern voneinander getrennt. Allein die beiden bewaffneten Männer, die sich am linken Ende an die Trauergesellschaft anschließen, werden durch eine Winkelkette getrennt, die bereits auf Hüfthöhe endet. Dass Ornamente als Modus der Strukturierung eingesetzt werden, wird besonders an den Trauernden unter der Bahre kenntlich. Die Sitzenden werden hier nur durch einfache Winkelketten voneinander getrennt, über dem Schoß kann eine horizontale Zickzacklinie wie auch ein Strichstern angebracht sein. Die unter der Bahre Knienden werden durch Doppelwinkelketten getrennt, hinzu treten das sog. Stundenglas und eine Swastika. Offenkundig nehmen die Ornamente auf die Figurentypen Bezug. Wir greifen an dieser Stelle bereits eine zweite Qualität des Ornamentalen: die Fähigkeit, die visuelle Umgebung zu strukturieren. Bislang haben wir so getan, als sei eine Trennung von figürlichen Hauptelementen und ornamentalen Füllelementen eines Bildes unproblematisch. Tatsächlich finden sich aber einige Grenzfälle – und gerade diese Grenzfälle werden im Folgenden erhellend sein, wenn es um die Frage der kulturellen Bedeutung von ‚Ornamenten‘ geht. Im Falle eines Kraters aus Athen (Abb. 3) sind Elemente, die von den Bildakteuren ‚gehandhabt‘ werden, recht einfach als auf die Akteure bezogene Attribute anzusprechen. Dies gilt etwa für die Waffen der Krieger, die sich dem Leichnam zuwenden. Daneben können auch nicht-menschliche Akteure wie die Gespannpferde der Wagenlenker im unteren Fries, die unmittelbar auf das menschliche Handeln bezogen sind, ganz unproblematisch als Teil der Bildhandlung angesprochen werden. Nicht immer ist eine
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solche Klassifikation aber eindeutig. Einige Elemente eines Bildes sind nämlich figürlich gestaltet, ohne dass sie unmittelbar in die Bildhandlung einbezogen wären. Diesen ‚prekären‘ Elementen soll im Folgenden die Aufmerksamkeit gelten. Tatsächlich trifft dies insbesondere auf jene Tiere zu, die nur ‚lose‘ in die Bildkomposition eingefügt sind. Im gezeigten Beispiel gilt dies für die Vögel, die unter der Bahre ‚in der Luft‘ hocken. Üblicherweise hat man in der Forschung für sie nicht nur eine figürliche Referenz, sondern eine symbolische Bedeutung postuliert. Da Vögel wie auf dem Krater in Athen (Abb. 3) in Verbindung mit Bestattungsszenen auftauchen, käme ihnen eine funerärsymbolische Bedeutung zu.18 Es handle sich gewissermaßen um Todesvögel. Wenn Vögel in Verbindung mit anderen Sujets auftreten, so müsse es sich dieser Logik folgend ebenfalls um funeräre Sujets handeln. Häufig treten solche Vögel etwa auch bei Pferden und sogenannten Pferdeführern auf – auch diese Sujets wurden deshalb funerär gedeutet. Tatsächlich darf man dies aber mit guten Gründen zurückweisen: Treten doch Vögel mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Rollenbildern, etwa auch mit Wagenführern und Kriegern, auf (vgl. ebenfalls Abb. 3). Interessant ist vielmehr, mit welchen Rollenbildern Vögel üblicherweise nicht kombiniert werden: nämlich Frauen. Gerade die Kombination von Bildelementen hilft folglich weiter, wenn es um die Eingrenzung von Bedeutung geht. Vögel charakterisieren offenkundig den Handlungsraum des Mannes, das Draußen. Selbst wenn Szenen wie die Aufbahrung nicht im Freien, sondern im Hausinneren ihren Ort haben, sind die Vögel offenbar Anzeichen für die inhaltliche Charakterisierung der Handlungsträger. Sie fungieren als Attribute. Darf man diese Lesweise aber auf die nicht-gegenständlichen Ornamente übertragen? Wäre dies der Fall, so würden sich über die Kombination von figürlichen Bildelementen und unfigürlichen Ornamenten Aussagen zur semantischen Dimension des Ornaments treffen lassen. Tatsächlich begleiten innerhalb eines einzelnen Bildes, wie gesehen, bestimmte Ornamenttypen gleichgeordnete figürliche Bildelemente. Eine verbindliche symbolische Bedeutung einzelner Ornamentformen wäre aber erst dann erwiesen, wenn sich solche Strukturprinzipien nicht nur innerhalb eines einzelnen Bildes nachweisen, sondern sich auf die unterschiedlichsten Bildinhalte anwenden ließen. Diese Hoffnung hat sich bei der systematischen Durchsicht sämtlicher Kombinationsoptionen von Figurentypen und Ornamenttypen nicht oder kaum erfüllt. Für die Rekonstruktion von Bedeutungen des Ornamentalen muss daher ein anderer Weg eingeschlagen werden, den Himmelmann vorgezeichnet hat: die Analyse von Ähnlichkeitsrelationen zwischen figürlich identifizierbaren Elementen und nicht-figürlichen Elementen. Exemplarisch soll das Problemfeld an den Winkelketten als einem der wichtigsten spätgeometrischen Ornamente nachgezeichnet werden. Sie werden häufig eingesetzt, um vertikale Bildelemente zu trennen – so etwa die trauernden Frauen auf der Athener Amphora (Abb. 1). Himmelmann wollte diese Winkelketten mit einer gegenständlichen, nämlich vegetabilen Referenz belegen. Er hat für dieses Verständnis der Winkelketten auf die auffällige Ähnlichkeit dieser losen Winkelketten zu jenen ‚Win-
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3 Krater in Athen, NM 990, Mitte 8. Jh.
kelketten‘ hingewiesen, die durch eine mittige Linie miteinander verbunden sind und zweifelsfrei einen Zweig meinen.19 Solche Zweige können dementsprechend von Bildakteuren ‚gehandhabt‘ werden. Auf einem New Yorker Krater (Abb. 4) halten Frauen, die an der Bahre stehen bzw. sitzen, solche Zweige über den Leichnam. Ein weiteres Argument Himmelmanns bezieht sich auf Darstellungen, die erst im späteren 8. Jahrhundert auftreten. Dann können solche Winkel-Stängel aus der Bildbegrenzung heraussprießen, so dass auch die syntaktische Einbindung für eine gegenständliche Konkretisierung spricht.20 An den Beispielen haben wir nunmehr verschiedene Modi der Spezifizierung von Winkelketten kennengelernt, die aus einer Winkelkette eine Pflanze machen:
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1. die formale Modifizierung: die Verbindung der einzelnen Winkel mit einer durchgehenden Mittellinie, einem Ast (so auf New York, MMA 14.130.14, Abb. 4); 2. die Einbindung in das Geschehen: die Handhabung als Zweig (so auf New York, MMA 14.130.14, Abb. 4); 3. ab dem späteren 8. Jahrhundert: die Verortung im Bildrahmen, der den Zweig zu einer wachsenden Pflanze werden lässt. Darf man nun aber den Umstand, dass Winkelketten zu Pflanzen umgestaltet werden können, wie Himmelmann zum Argument machen, dass auch alle unspezifischen Winkel-
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4 New York, MMA 14.130.14, Mitte 8. Jh.
ketten eine vegetabile Grundbedeutung besitzen? Meines Erachtens ist dies nicht der Fall. Vielmehr greifen wir ein Phänomen, das hier bereits am ornamentalen Aufbau des menschlichen Körpers beobachtet wurde: Im 8. Jahrhundert können geometrische Formen gegenständliche Bedeutung annehmen, wenn diese durch den syntaktisch-formalen Zusammenhang hinreichend definiert ist. Damit können auch Pflanzen zur Darstellung kommen; eine Deutung aller Füllornamente als Pflanzen ergibt sich dadurch aber nicht. Dieses Ergebnis ist von großer Relevanz, weil hier deshalb Himmelmanns These, dass auch die Ornamentik des 8. Jahrhunderts vegetabil durchdrungen sei, verworfen wird. Bei den Füllornamenten des mittleren 8. Jahrhunderts handelt es sich, so die Konsequenz, zuvorderst einmal um selbstreferentielle Ornamente, sofern eine explizite gegenständliche Konkretisierung ausbleibt. Mit dieser Dekorwelt des mittleren 8. Jahrhunderts sollen nun Darstellungsformen des mittleren 7. Jahrhunderts verglichen werden. Die Kontrastierung der beiden Zeithorizonte wird eine Antwort auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Ornaments erlauben. Im mittleren 7. Jahrhundert haben sich die syntaktische Funktion des Füllornaments, aber auch seine Form verändert. Freilich können die verschiedenen Veränderungen, die hierher führten, an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet, wohl aber das Ergebnis benannt werden. Nun stehen sehr unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, mit Füllornamenten umzugehen. Auf der einen Seite stehen Bilder, bei denen die Hintergrund-Ornamente weitgehend zurückgenommen oder vollständig weggelassen sind. Dies gilt etwa für ein Fragment aus Aigina, Kraiker 585, das Krieger vor dem Hintergrund einer geschlossenen, nicht durch Füllelemente durchbrochenen schwarzen Grundfläche zeigt. Wenn solche kontextualisierenden Elemente wegfallen, bleibt der Handlungsraum unbestimmt, die handelnden Figuren sind auf sich selbst zurückgeworfen. Mit dem Wegfallen der Füllornamente ist aber insbesondere für die Konzeption der Bildfläche als Bildraum ein wesentlicher Schritt getan. Hatten die lose im Bildfeld platzierten Ornamente das Bildfeld immer auch als ornamentale Textur definiert, das Bild seiner Bildlichkeit zumindest partiell beraubt, seine illusionistische Kraft aufgehoben, so tritt diese Bildlichkeit dann,
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wenn die Füllornamente ausgelassen sind, prägnant in den Vordergrund. Die Figuren bemächtigen sich der Bildfläche, definieren sie als ihren (bildimmanenten) Handlungsraum. Daneben stehen aber auch im mittleren 7. Jahrhundert Bilder, deren Bildfeld durch eine recht große Zahl an Ornamenten ‚aufgefüllt‘ ist, so auf dem Oresteia-Krater in Berlin (Abb. 2). Bei diesem großen Gefäß findet sich der besonders prominente Dekor in der Bauch- bzw. Henkelzone. Unter einem Bildstreifen, der eine mythische Szene zeigt, läuft ein ‚konventioneller‘ Tierfries um, der zunächst betrachtet werden soll. Die parataktische Anordnung der Tiere wird orchestriert durch eine regelhafte Verteilung der Ornamente. Unter den Pferdekörpern ist jeweils ein kleiner Block mit Zickzacklinien eingesetzt, zwischen den Vorderhufen ist regelhaft eine Stegrosette platziert, während zwischen den Hinterhufen eine Hakenspirale aus dem Boden ragt. Etwas stärker variiert sind die Füllmotive zwischen den Pferden; es kann sich um Zickzacklinien, Stegrosetten, Winkelketten oder Tangentenkreise handeln. Durch die relativ regelmäßige Platzierung wird der repetitive Charakter des Frieses betont, durch die Abkehr von einer strikten Symmetrie wird zugleich aber auch ein Moment der Variation eingeführt. In der zentralen figürlichen Bildzone ist auf der besser erhaltenen Gefäßseite ein ungleicher Kampf dargestellt. Ein unbewaffneter Mann wird von hinten mit einem Schwert angegriffen. Eine Frau hat sich von dem Geschehen abgewandt, kommentiert es aber dadurch, dass sie eine Hand klagend zur Wange führt. Die Szene wird erst durch den Bezug auf einen Mythos (vielleicht die Orestie) verständlich. Gegenüber der zuvor besprochenen, älteren Prothesisszene hat das Bild an erzählerischer Dichte gewonnen. Damit geht einher, dass auf eine symmetrische Anordnung der Bildfiguren verzichtet wird. Das ungewöhnliche Geschehen bricht aus der konventionellen, ‚musterhaften‘ Ordnung aus. Diese Sprengung der Ordnung kommt auch im Umgang mit der Rahmung zum Ausdruck. Das Bild ist zwar oben und unten durch rahmende Bänder eingefasst, die seitliche Begrenzung ist hier aber unbestimmter. Rechts der Frau sind Standlinie und Henkelansatz durch eine senkrechte Linie verbunden; auf ihrer von den Akteuren abgewandten Seite krabbeln Insekten hinauf. Wieder besitzt die ‚Rahmenlinie‘ eine Gegenständlichkeit, nun aber nach außen, zu einem anderen Bildbereich hin. Mit der erzählerischen Dichte, die das Bild hier gewonnen hat, wird es offenkundig möglich, die Bildgrenzen polyvalent zu gestalten. Das beschriebene Geschehen wird hier aber nicht vor einem geschlossenen Grund ausgebreitet, vielmehr ist es durch eine nicht kleine Zahl von ‚Hintergrundelementen‘ durchsetzt. Winkelketten treten weiterhin auf, sind aber zu ganzen Blöcken zusammengefasst. Diese passen sich in ihrer Ausdehnung an den zur Verfügung stehenden Platz an. Hinzu treten gänzlich neuartige Elemente. Dies gilt für die Spiralhaken, die von der oberen und unteren Bildbegrenzung in das Bildfeld hineinranken, aber auch für die Stegrosetten oder in Mini-Rauten aufgelöste Rauten. Besonders bemerkenswert ist ein Spiral-PalmettenOrnament, das zwischen den Beinen des angegriffenen Mannes aus dem Boden ‚wächst‘. Von den zahlreichen Veränderungen, die in diesem Gefäß manifest werden, sollen zwei Aspekte interessieren: die syntaktische Organisation des Bildes und die formale Ver-
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änderung der Ornamente. Zunächst zur Syntax. Indem das Bild selbst keiner symmetrischen Organisation verpflichtet ist, wird auch das Füll-Ornament nicht mehr gebraucht, um diese symmetrische Struktur zu verstärken. Und doch wird es zur Akzentuierung und Kommentierung des mythischen Geschehens eingesetzt. Alle drei Akteure, die beiden Kämpfenden und die bestürzt wegschauende Frau, werden von Hakenspiralen getrennt, die von der Decke herabragen. Sie erzeugen eine gewisse Sequenzierung des Bildes. Die Akteure, seien sie auch noch so verschieden, werden in einen einheitlich definierten Horizont eingebunden. Auch die Stegrosetten schaffen einen Zusammenhang zwischen den Akteuren und doch stiften sie auch Varianz. Anders als im 8. Jahrhundert sind diese nämlich nicht auf einer einheitlichen Höhe (etwa auf Kopfhöhe), sondern leicht versetzt platziert. Schließlich werden Ornamente in diesem Bild aber auch eingesetzt, um Unterschiede zu betonen. Die beiden kämpfenden Protagonisten werden durch die Ornamente zwischen ihren Beinen unterschieden. Zwei schwarze Hakenspiralen und eine große, aus kleinen Rauten zusammengesetzte Raute begleiten den schwarz charakterisierten Aggressor, eine weiße Blüte und eine Stegrosette den weiß gegebenen Unterlegenen. Offenkundig können Ornamente die semantische Struktur des Bildes auch dann ‚untermalen‘, wenn dieses nicht nach Symmetriebeziehungen organisiert ist. Mit der neuartigen syntaktischen Einbindung der ‚Füll-Elemente‘ fällt eine formale Transformation zusammen. Einerseits kommt es zu einer stärkeren, gegenständlichen Konkretisierung von Einzelelementen, die eine pflanzliche Lesweise befördern. Stegrosetten wie auf dem Oresteia-Krater gemahnen sehr viel stärker an Blütenformen als dies die einfachen Punktrosetten des 8. Jahrhunderts getan hatten. Andererseits werden stilisierte Elemente im Bildrahmen verankert, aus dem sie ‚herauswachsen‘. Durch diese Rückbindung an den ‚Boden‘ wird ihre gegenständliche Lesweise als ‚Pflanze‘ befördert. Auf dem Oresteia-Krater gilt dies für das Palmetten-Element zwischen den Beinen des ‚hellen‘ Kriegers. Für die Hakenspiralen, die an die Bildbegrenzung angesetzt sind, lässt sich dies nur vermuten, tatsächlich fehlen aber solche Spiralen als reine Füllornamente. Auch für sie ist eine gegenständlich-pflanzliche Bedeutung zumindest naheliegend. In beiden Fällen reagieren die Protagonisten auf diese Pflanzen allerdings nicht, die Pflanzen stören den Bewegungsablauf der Krieger nicht. Sie sind anwesend-abwesend, Füllornamenten gleich. Auf anderen Gefäßen des mittleren 7. Jahrhunderts geht die vegetabile Durchdringung allerdings sehr viel weiter. Pflanzen erhalten einen prominenteren Platz im Dekor- und Bildgefüge. Auf der Amphora in Eleusis, Inv. 2630 (Abb. 5a–d), hat das Mythenbild in der Bauchzone die Rächung der von Perseus getöteten Gorgo Medusa zum Thema. Es ist in einer ganz ähnlichen Weise ornamental gegliedert wie das Kampfbild auf dem OresteiaKrater (Abb. 2) und folgt keiner symmetrischen Struktur. Einige Ornamente, die lose in die Komposition eingefügt sind, erzeugen Varianz. Unterschiedlich große Ornamente werden an unterschiedlichen Positionen der mythischen Figuren platziert. Selbst wenn zwei Gorgonen, also Gestalten desselben ‚Typs‘, aufeinander folgen, variieren die Ornamente.
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5 a–d Amphora Eleusis, Inv. 2630, Mitte 7. Jh.
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Während die Bildfiguren in der genannten Weise von auf der Bildfläche platzierten Füllornamenten umgeben sind, sind diese in der Umgebung der Gorgo deutlich reduziert. Der tote Gorgo-Körper wird, wie wir gleich noch sehen werden, in eine andere ‚Umgebung‘ gesetzt. Schon die Präsenz und Absenz von Füllornamenten strukturiert die Bilderzählung. Zur inhaltlichen Sequenzierung wird im vorliegenden Fall das Hakenspiral-Ornament eingesetzt. Die horizontal liegende, getötete Gorgo-Medusa wird von ihren noch lebenden Schwestern, Sthenno und Euryale, durch drei Hakenspiralen am oberen Bildfeldrand getrennt. Die Zusammengehörigkeit der beiden Schwestern manifestiert sich darin, dass sie nicht durch Hakenspiralen getrennt werden. Sie sind im Begriff, Perseus, den Mörder der Gorgo Medusa, zu verfolgen. Doch Athena, Schützerin von Perseus, tritt ihnen in den Weg. Drei Hakenspiralen, die zwischen vorderer Gorgo und Athena eingesetzt sind, unterstreichen den Einschnitt. Unmittelbar hinter Athena folgt der fliehende Perseus, der obere Abschnitt des Gefäßes ist hier aber nicht erhalten, so dass wir nicht wissen, ob auch hier eine Hakenspirale eingesetzt war. Hakenspiralen gruppieren offenkundig enger und weniger eng zusammengehörige Figuren. Ihr eigener semantischer Status oszilliert dabei zwischen einem weitgehend selbstreferentiellen Ornament und der gegenständlichen Repräsentation einer Pflanze – wachsen sie doch aus der Bildbegrenzung heraus. Bezeichnenderweise sind es nun gerade die Hakenspiralen, die in der ‚Umgebung‘ des toten Gorgo-Körpers, also in der Übergangszone zwischen Vorder- und Rückseite, formal modifiziert, nämlich vegetabilisiert werden. Von den lebenden Schwestern wird die Gorgo nochmals von ‚gewöhnlichen‘ Hakenspiralen getrennt, die von der oberen Bildbegrenzung herunterragen. Auf Höhe der Taille, unter dem Henkel, werden aus den Hakenspiralen vegetabilisierte Blüten, auf Höhe des Unterkörpers, am Übergang zur Rückseite, sind es fließend geschwungene Linien. An der unteren Bildfeldbegrenzung korrespondieren damit aus dem Boden wachsende, hochaufragende Pflanzen. In der Umgebung der Gorgo gewinnt die ‚Ornamentwelt‘ an gegenständlicher Konkretheit. Sie wird zur räumlichen Umgebung der Gorgo, ihr enthaupteter Körper befindet sich gewissermaßen in einem Blumenmeer.21 Auch auf der gegenüberliegenden Seite tritt der fliehende Perseus in einen solch gegenständlich charakterisierten Naturraum ein. Unter, aber auch vor seinen Füßen wachsen verschiedene Pflanzen ‚aus dem Boden‘. Der Freiraum unter dem Henkel wird hier von einem monumentalen Vogel eingenommen, der ihm entgegenfliegt. In den Henkelzonen werden Pflanzenelemente in sehr konkreter Weise auf die Bildfiguren bezogen und visualisieren dadurch eine naturhafte Umgebung. Pflanzen können folglich erstmals räumlich-situativ gedacht werden, ohne dabei freilich ihr attributives Potenzial verlieren zu müssen – sind es doch im genannten Beispiel gerade die Gorgo Medusa und Perseus selbst, die sich in besonderer Weise als ‚liminale‘ Wesen beschreiben lassen. Sie sind nicht nur am Rand der Bilderzählung, sondern auch am Rand der Welt, in der ‚Natur‘, platziert. Attributive Charakterisierung und naturräumliche Umgebung gehen ineinander. Es sind somit dezidiert naturhaft gestaltete Zonen, die den Übergang zur Rückseite des Gefäßes herstellen. Auch dort ist, so könnte man sagen, Natur repräsentiert, nun aber
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in einem ganz anderen Darstellungsmodus. Mit großzügigerem, schnellem Pinselstrich sind riesige, nicht-symmetrisierte Pflanzenranken realisiert, die das gesamte ‚Bildfeld‘ der Bauchzone ausfüllen. Der flüchtige Malstil wird hier geradezu zum Ausdrucksträger für die Wildheit der Natur. Gerade durch das Hineinragen der Gorgo in das Rückseitenfeld wird aber offensichtlich, dass diese wilde Natur auch als ‚Rahmung‘ des Geschehens der Vorderseite verstanden werden kann. An diesem Beispiel sind mehrere neuartige Phänomene greifbar. Spätestens im zweiten Viertel des 7. Jahrhunderts hat sich ein sehr viel freierer Umgang mit Pflanzenformen durchgesetzt. Pflanzen treten nun als isolierte und stilisierte Füllornamente ebenso auf wie als tatsächlich aus dem Boden sprießende, ‚naturalistische‘ Gebilde oder als stark ornamentalisiert-symmetrisierte Ranken-Bilder. Kommen wir vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen zur Ausgangsfrage des kulturellen Sinns des Ornamentalen am Übergang vom 8. zum 7. Jahrhundert zurück. Die Überlegungen zur Konstituierung von gegenständlicher Bedeutung sollten aufzeigen, dass das mittlere 8. Jahrhundert zwar die formalen Mittel besaß, über Ornamente gegenständliche Bedeutungen zu erzeugen. Nur im Ausnahmefall wurde aber davon Gebrauch gemacht, um Pflanzen darzustellen. Dies sollte sich schon im späteren 8. Jahrhundert allmählich ändern, bis mit dem zweiten Viertel des 7. Jahrhunderts Pflanzen geradezu omnipräsent sind. Sie sind nun häufig gegenständlich konkretisiert und als solche bisweilen sogar explizit in die Bildhandlung einbezogen. So vermögen sie eine naturhafte Umgebung einer Handlung anzuzeigen. Gleichzeitig nimmt die Zahl an gegenständlich konkretisierten Füllornamenten, die als Pflanzen identifizierbar sind, ebenfalls deutlich zu. Dadurch verändern die Bilder ihre Atmosphäre; an die Stelle streng geometrischer Elemente treten runde, schwingende, blütenhafte Formen. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus gerechtfertigt, die orientalisierende Phase in Athen als eine Zeit zu charakterisieren, die ein neues Interesse an naturhaften Darstellungen hat. Mit dieser Faszination vom Pflanzlichen fällt nicht zuletzt die Darstellung von wilden Tieren und Fabelwesen zusammen, die jetzt in großer Zahl in die Bilder Eingang finden. Mit dem 7. Jahrhundert kommen folglich neue Bildthemen ins Spiel, die in einer neuartigen Bildsyntax und auch Erzählweise vorgetragen wurden und mit neuen Ornamenten orchestriert wurden. Diese ornamentale ‚Hintergrundmusik‘ – um im musikalischen Bild zu bleiben – hat nicht nur ihre Struktur und Form, sondern so weit erkennbar, auch ihre inhaltlichen Assoziationen und ihre atmosphärische Stimmung verändert. Für das Ornament ‚im Transfer‘ bedeutet dies, dass sich die Kommunikationsinteressen in Athen zwischen dem mittleren 8. und dem mittleren 7. Jahrhundert erheblich verschoben haben. Mit der Faszination vom Orientalischen geht ein Interesse an neuen Inhalten und Formen einher, die sich gegenseitig zu durchdringen beginnen und zu einer gänzlich neuen, orientalisch inspirierten, aber sehr klar als attisch erkennbaren Dekorwelt führen.
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Anmerkungen 1
Ornament wird im Folgenden als isoliertes Einzelelement, Muster als gleichbleibende Struktur, als Rapport, begriffen.
2
So ließe sich die von Friedrich Schiller entworfene „Spieltheorie“ im Sinne einer ästhetischen Theorie auf das Ornament anwenden. Allerdings ist es gerade der Gedanke des Überschusses, an den sich auch eine moralisierende Ornamentkritik knüpfte, wie sie besonders explizit bei Adolf Loos formuliert wird; zur Debatte, wie sie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geführt wurde, vgl. Frank-Lothar Kroll: Ornamenttheorien im Zeitalter des Historismus. In: Die Rhetorik des Ornaments. Hrsg. von Isabelle Frank/Freia Hartung. München 2001, S. 163–175.
3
Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt 1998, S. 193. Diese Konzeptionalisierung erwies sich für die jüngere Ornamentforschung als besonders einflussreich, siehe exemplarisch Michael Dürfeld: Das Ornamentale und die architektonische Form. Systemtheoretische Irritationen. Bielefeld 2008; vgl. auch Vera Beyer/Christian Spies: Einleitung. Ornamente und ornamentale Modi des Bildes. In: Ornament. Motiv – Modus – Bild. Hrsg. von Vera Beyer/Christian Spies. München 2012, S. 13–23, bes. 15 f.
4
Zu Fragen der sozialen Signifikanz von Stil im frühen Griechenland vgl. Annette Haug: Die Entdeckung des Körpers. Körper- und Rollenbilder im Athen des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. Berlin 2012, S. 484–491.
5
Eine ausführliche monographische Diskussion des Phänomens ist in Vorbereitung.
6
Vgl. Haug 2012 (Anm. 4), S. 430–467.
7
Eine ausführlichere, aktuelle Darstellung dieses Zeithorizonts findet sich in dem Karlsruher Ausstellungskatalog Zeit der Helden. Die „dunklen Jahrhunderte“ Griechenlands 1200–700 v. Chr. Ausst.Kat. Badisches Landesmuseum Schloss Karlsruhe. Darmstadt 2008.
8
Einschlägig dazu John Coldstream: Greek Geometric Pottery. A Survey of Ten Local Styles and Their Chronology. Bristol 2008; siehe jüngst Anne Coulié: La céramique grecque aux époques géométrique et orientalisante (XIe–VIe siècle av. J.-C.). Paris 2013.
9
Zur stilistischen Varianz im Mittelmeerraum des 8. Jahrhunderts und ihren Gründen vgl. John Coldstream: The Meaning of the Regional Styles in the Eighth Century B.C. In: The Greek Renaissance of the Eigth Century B.C.: Tradition and Innovation. Proceedings of the Second International Symposium at the Swedish Institute in Athens, 1–5 June 1988. Hrsg. Von Robin Hägg. Stockholm 1983, S. 17–25.
10 Schon mit Beginn der systematischen Erforschung der geometrischen Gefäße wurden die geometrischen Ornamente als ungegenständlich aufgefasst. Vgl. Alexander Conze: Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst. In: Sitzungsberichte Kaiserl. Akad. Wien phil. hist. Klasse 64, 1870, S. 505–534; Alexander Conze: Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst. In: Sitzungsberichte Kaiserl. Akad. Wien phil. hist. Klasse 73, 1873, S. 221–250. In dieser Weise werden 8. und 7. Jahrhundert häufig noch immer unterschieden, siehe etwa Coulié 2013 (Anm. 8), S. 197. Zur frühen Debatte um die Gegenständlichkeit der geometrischen Kunst in der älteren Forschung vgl. Nikolaus Himmelmann: Über einige gegenständliche Bedeutungsmöglichkeiten des frühgriechischen Ornaments. Wiesbaden 1968, S. 25–29. 11 Himmelmann 1968 (Anm. 10), S. 13–19. Mit ‚Realismus‘ ist bei Himmelmann die abbildhafte Referenz eines Bildobjekts auf seinen Gegenstand gemeint, mit Idealismus seine inhaltlich-charakterisierende Qualität – siehe zum Pflanzenthema explizit Nikolaus Himmelmann: Grundlagen der griechischen Pflanzendarstellung. Paderborn 2005, S. 25: „Die ornamental-poetische Darstellung der Blume sieht von der realistischen äußeren Erscheinung ihres Gegenstandes ab und faßt demgegenüber seine in der Wirklichkeit so nicht sichtbaren idealen Eigenschaften wie Biegsamkeit,
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Sprossen, Ranken und dergleichen in einer einprägsamen Bildformel zusammen. Sie wird dadurch zum Muster für das, was die Klassizisten mit einem neuzeitlichen Begriff als die Idealität der griechischen Kunst bezeichneten, die sie nicht nur in den Göttergestalten, sondern auch in anderen Darstellungsbereichen wiedererkannten.“ Dieses Erkenntnisinteresse – das Verhältnis von Realität zu Idealität – würde man inzwischen sehr viel eher unter dem Aspekt der Konstruktionsleistung von Bildern verhandeln. Im Folgenden wird es jedoch nicht darum, sondern konkret um die Referenzleistungen des Ornamentalen gehen. 12 Dies ist schon lange erkannt worden, Vgl. Wilhem Kraiker: Die Anfänge der Bildkunst in der attischen Malerei des 8. Jahrhunderts v. Chr. In: Bonner Jahrbücher, 161, 1961, S. 108–120, bes. S. 116: „Das Ganze dieser Figur besteht aus Teilformen, die seine integrierten Bestandteile sind. Die Teilformen sind einfache Flächenformen, die in den Ornamenten schon ausgebildet waren oder sich aus ihnen entwickeln ließen.“ 13 Vgl. Niklas Luhmann, darauf Bezug nehmend Annette Haug: Das Ornamentale und die Produktion von Atmosphäre. Das Beispiel der Domus Aurea. In: Antike Bauornamentik. Grenzen und Möglichkeiten ihrer Erforschung. Hrsg. von Johannes Lipps/Dominik Maschek. Wiesbaden 2014, S. 219–239. Anders allerdings Wilhelm Kraiker: Ornament und Bild in der frühgriechischen Malerei. In: Neue Beiträge zur Klassischen Altertumswissenschaft. Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard Schweitzer. Hrsg. von Rainhard Lullies. Stuttgart 1954, S. 36–47, bes. 41, der diesen Zusammenhang negiert: „Das Figürliche ist in diesem Ornamentstil also nicht in das Ornament verwoben [...] und nicht aus dem Ornament entwickelt, es tritt von Anfang an neben das Ornament. Es ist also weder als Ornament noch aus dem Ornament zu erklären und wird von vornherein als etwas anderes und Eigenes begriffen.“ Zwar räumt auch er eine formale, nicht aber eine inhaltliche Beziehung von Ornament und Bild ein. Die folgenden Ausführungen werden dazu eine Gegenposition beziehen. 14 Kraiker 1961 (Anm. 12), S. 118 spricht von einem „funktionalen Zusammenhang“ der Teilformen. Und weiter: „Das Ganze wird also nicht durch formale Übereinstimmung seiner Teile mit dem Sehbild der wahrgenommenen Formen des menschlichen Körpers – die gar nicht dargestellt sind – zur ‚menschlichen Figur‘, sondern durch die Ordnung, in die die Teilformen gebracht sind.“ 15 Zum Aspekt der Vermeidung von Überschneidung vgl. Jeffery M. Hurwit: Image and Frame in Greek Art. In: American Journal of Archaeolgy, 81, 1977, S. 1–30, bes. S. 21. 16 Auch dieser Umstand ist in der Forschung der 1960er Jahre verschiedentlich beschrieben, siehe exemplarisch Renate Tölle: Frühgriechische Reigentänze. Waldsassen 1964, S. 24. 17 Nikolaus Dietrich: Figur ohne Raum? Bäume und Felsen in der attischen Vasenmalerei des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. Berlin 2010 Er definiert spätere Bildfindungen in ähnlicher Weise, stellt allerdings in Frage, dass damit ein – wenn auch rudimentärer – Bildraum erzeugt wird. Er definiert Räumlichkeit (mit Blick auf das 6. Jahrhundert) „als Verteilung der Bildelemente auf der Fläche des Bildfelds“ (S. 176). 18 Vgl. Bernhard Schweitzer: Herakles. Aufsätze zur griechischen Religions- und Sagengeschichte. Hildesheim 1922, S. 35–38 und Martin P. Nilsson: The Minoan-Mycenaean Religion and Its Survival in Greek Religion. Gleerup 1968, S. 330–340, 434, 491–496. Beide deuten die Vögel als Seele des Toten. Jack L. Benson: Horse, Bird & Man. The Origins of Greek Paintings. Amherst 1970, S. 28–31 und Gudrun Ahlberg, Prothesis and Ekphora in Greek Geometric Art. Göteborg 1971, S. 139–141 deuten sie als „ideograms of funeral“. Martin Guggisberg: Frühgriechische Tierkeramik. Zur Entwicklung und Bedeutung der Tiergefäße und der hohlen Tierfiguren in der späten Bronze- und frühen Eisenzeit (ca. 1600–700 v. Chr.). Mainz 1996, S. 303–308. Guggisberg hält für das Pferd einen Zusammenhang mit der Jenseitsreise für möglich, schließt aber auch andere symbolhafte Deutungen (chtonisch, solar) nicht aus; für die Vögel weist Guggisberg, S. 311–313 wie schon die
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Forschung vor ihm auf die Vorstellung des Seelenvogels einerseits, auf die Kombination mit Totenritualszenen andererseits hin und spekuliert über den Bezug von Pferd und Vogel zu Naturgottheiten. 19 Himmelmann 1968 (Anm. 10) benennt selbst die wechselnden gegenständlichen Bezüge der jeweils selben Ornamente, suggeriert im Fortgang seiner Untersuchung jedoch, dass er einzelnen Ornamenten nicht nur einen vegetabilen Ursprung, sondern eine vegetabile Bedeutung unterstellt (vgl. S. 39). Am Ende seiner Untersuchung (S. 68) formuliert er genau dies explizit: „Es erhebt sich die Frage, ob man auch dann nach der Gegenständlichkeit dieser Formen fragen kann, wenn sie in keinem bestimmten Erzählzusammenhang stehen. Ob mit anderen Worten das geometrische Ornament auch dann einen gegenständlichen Hintergrund besitzt, wenn es in hauptsächlich dekorativer Absicht verwendet wird.“ Im Folgenden wird er diese Frage bejahen, indem er auf die ältere mykenische und die jüngere früharchaische Stilphase verweist. Vgl. Himmelmann 1968 (Anm. 10), S. 32; erneut Himmelmann 2005 (Anm. 11), S. 17. Dort besitzen solche Füllornamente nämlich erkennbar gegenständlichen – meist vegetabilen – Charakter. Das Postulat einer solch übergreifenden Kontinuität ist für sich genommen aber noch kein Argument, gilt es doch auch für das Protoattische konkret nach den syntaktischen, zeichenhaften und ästhetischen Funktionen des Ornamentalen zu fragen. Zum Verhältnis von Winkelketten und Zweigen Himmelmann 1968 (Anm. 10), S. 59 mit Verweis auf eine Kanne und einen Kantharos in Kopenhagen (SG II), bei denen dieser Mittelstrich ausgelassen ist. 20 Siehe etwa auf der Halsamphora in Toronto, Inv. C 951. Hier sprießen solche Stängel zwischen den Beinen von Tänzern empor. Weitere solcher Winkel-Pflanzen wachsen im Schulterbildfeld dieses Gefäßes zwischen den Vorderläufen von grasenden Tieren. An ihre Stelle kann hier auch ein Vogel treten, der sich an der unmittelbaren Nähe des Wildes nicht zu stören scheint. 21 Als Wiese Himmelmann 2005 (Anm. 11), S. 57 mit Verweis auf Hesiod, Theog. 279. Vgl. auch Erika Simon: Die griechischen Vasen. München 1976, S. 41 f.
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Carolin Höfler
Das digitale Ornament als universale Form Mediale Strategien der Vereinheitlichung Ornament ohne Freispruch „Wann immer die Frage nach dem Ornament aufbricht, ist dies ein Zeichen eines grundlegenden Strukturwandels in der Architektur, eines Wandels, der mithin als Krise und tiefer Einschnitt in das etablierte Selbstverständnis der Disziplin erfahren wird“, so erklärt der Architekturtheoretiker Jörg Gleiter das Ornament zum „Katalysator für die Rekonzeptualisierung von Architektur“ und wähnt den Auslöser für die aktuelle Konjunktur des Ornaments im Übergang vom mechanischen zum digitalen Zeitalter.1 Ohne Frage sorgte der Einsatz des Computers in Architektur und Design für ein wiederentfachtes Interesse am Ornament.2 Impulse empfing die Auseinandersetzung vor allem durch die Möglichkeit der individualisierten Serienproduktion. „Vielleicht liegt es in der Natur der Sache“, mutmaßt der amerikanische Architekt Ben Pell in seiner Studie über Ornament und Technologie, „dass aus der Entwicklung digitaler Entwurfs- und Fertigungsmethoden, die auf den Prinzipien von Wiederholung und Differenzierung beruhen, eine intensive Beschäftigung mit der Gestaltung von Mustern hervorging.“3 Zur Auseinandersetzung mit dem Ornament führten aber auch die neuen Verfahren der computerbasierten Modellierung. Sie beförderten die Entwicklung von Mustern durch Tesselierung geometrisch komplexer Oberflächen.4 Eine bewegt geformte Hülle konnte so zum Tragwerk des ganzen Gebäudes weiterentwickelt werden, wie etwa beim Swiss Re Tower in London (2000–2004) von Norman Foster, der auf einem Fassadenskelett aus verschlungenen Helixsträngen ruht.5 Die im Kontext des digitalen Entwerfens wiederkehrende Rede von der ‚Renaissance‘ des Ornaments hat zu der vorschnellen Annahme verleitet, dass mit den neuen Mustern die Debatten der frühen Moderne überwunden seien und Adolf Loos’ vernichtende Kritik Ornament und Verbrechen (1908) endgültig an Einfluss verloren habe. Doch was vordergründig als ‚Freispruch‘ des Ornaments erschien, zeigt sich bei näherer Betrachtung als komplizierter Prozess, der zwischen Verweigerung und Fortschreibung tradierter Ornamentbegriffe der frühen Moderne oszilliert.6 So liegt dem digital bestimmten Konzept der Oberfläche als ornamentale Struktur eine Vorstellung der geometrisch-abstrakten Moderne zugrunde, die sich gegen das Ornament als
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etwas Appliziertes, rein Dekoratives, Schmückendes und Nicht-Funktionales richtet. Es ist ein Ornamentbegriff, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dem amerikanischen Architekten Louis Sullivan geprägt und im architektonischen Strukturalismus der 1950er und 1960er Jahre weiterentwickelt wurde. Ornament wird in dieser Perspektive nicht als Dekor oder addiertes Muster verstanden, sondern als elementare Ordnungsform, die vom Trägermedium losgelöst ist, oder genauer, mit dem Trägermedium verschmilzt. Hierbei wird die ordnende Funktion des Ornamentalen als ein ordinare gegenüber der schmückenden Funktion des Ornaments als ein ornare unterschieden. In diesem Begriff des Ornaments als Ordnungssinn liegt der zentrale Anknüpfungspunkt für die experimentelle Architektur der 1990er Jahre. Mit Blick darauf verfolgen zeitgenössische Verfechter eines digitalen Entwerfens das Phänomen des Ornamentalen in drei Bereichen: in der Verschränkung von Ornament und Struktur, in der nichtsprachlichen Affizierung des Betrachters durch das Ornament und in der Anpassung ornamentaler Materialsysteme an die Umwelt. Alle drei Bereiche sind insofern von übergreifender Bedeutung, als sie weniger ein dienendes Verhältnis des Ornaments zum Ornamentierten verkörpern. Vielmehr bezeugen sie ein komplexes Geflecht von Effekten und Rückwirkungen. Dieser Grundproblematik gilt der folgende Beitrag. Exemplarisch werden hierzu die Ornamenttheorie der iranisch-britischen Architektin Farshid Moussavi und das Konzept der Morpho-Ökologie der deutschen Architekten Michael Hensel und Achim Menges einer Analyse unterzogen und die Traditionen und Strategien freigelegt, die den Einsatz und die Interpretation der Muster und Ornamente in ihren Gestaltungsansätzen motivieren und prägen.
Die Funktion des Ornaments Farshid Moussavi veröffentlichte 2006 das Buch The Function of Ornament, in dem die Ergebnisse eines von ihr geleiteten Seminars an der Harvard University Graduate School of Design versammelt sind.7 Die Autorin hatte 1995, zusammen mit dem spanischen Architekten Alejandro Zaera-Polo, das Londoner Büro Foreign Office Architects (FOA) gegründet und sich seitdem mit avantgardistisch anmutenden Computerentwürfen international einen Namen gemacht.8 Das Buch präsentiert eine grafisch aufbereitete Formgeschichte der Fassade in der Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts. In vier Kapiteln werden Beispiele von Oberflächen aufgeführt, die von Gebäuden aus Europa, den USA und Japan stammen. Den historischen Anfang bildet das wohl bekannteste Werk von Louis Sullivan, das Warenhaus Schlesinger and Mayer (heute Carson Pirie Scott) in Chicago, das zwischen 1899 und 1904 in der damals noch neuen Stahlskelettbauweise errichtet wurde. Es folgen ikonische Bauten der klassischen Moderne und Nachkriegsmoderne von Frank Lloyd Wright, Ludwig Mies van der Rohe und Eero Saarinen. Diese Gebäude werden mit computerbasierten Architekturen der letzten zwanzig Jahre in Beziehung gesetzt, unter denen sich auch Projekte von FOA befinden.
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1 Zwei Beispielseiten aus The Function of Ornament von Farshid Moussavi/Michael Kubo, 2006. Fassadenmuster des Christian Dior Ginza Store von Kumiko Inui, Tokio, 2004
Jedes Fassadenbeispiel wird über zwei Doppelseiten mit eigens hierfür angefertigten Computerzeichnungen in Schwarz, Weiß und Grau vorgestellt, welche die verschiedenen Texturen und Muster grafisch vereinheitlichen und homogen formatieren (Abb. 1). Über die ersten beiden Seiten erstreckt sich jeweils eine Vorderansicht, welche die ästhetischstrukturelle Qualität der Fassade veranschaulicht. Die dritte Seite widmet sich der baulichen Konstruktion der Fassade und ihrem Verhältnis zum umgrenzten Raum. Die vierte Seite zeigt eine Schnittperspektive eines Fassadendetails. Moussavi verzichtet auf eine chronologische Darstellung der Fassaden und gruppiert sie stattdessen nach Themen. Die vier Kapitel, die das Buch gliedern, sind mit „Form“, „Structure“, „Screen“ und „Surface“ überschrieben und unterscheiden die Ornamente nach ihrer Tiefendimension.9 Als Leitlinie der inhaltlichen Einteilung dient die Entwicklung der ornamentierten Hülle von der architektonischen Skulptur über die tragende Konstruktion bis zur vorgehängten Fassade und zur medialen Haut. Mit dieser Entwicklung vom tiefen zum flachen Ornament verändert sich die Beziehung zwischen innen und außen. Je mehr die Fassade zur Oberfläche gerät und in einzelne Funktionsschichten zerlegt wird, desto stärker erscheint das Äußere vom Inneren getrennt. Als weitere Klassifikationen, welche die Fassadenornamente voneinander abgrenzen und ordnen, dienen die Kategorien „Material“ und „Affect“.10 Unter „Material“ versteht Moussavi weniger die stoffliche Beschaffenheit als die Art der Verwendung des Ornaments – sei es als Tragwerk, als Ausdruck des Inneren, als Zeichen, als Bild, als Farbe oder
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als Licht. Das „Material“ des Ornaments wird nach ihren Worten von „sichtbaren und unsichtbaren Kräften“ der Architektur bestimmt, die sich aus den jeweiligen städtebaulichen, funktionalen, wirtschaftlichen und technischen Bedingungen ergeben.11 Der Affekt bildet die dritte Kategorie zur Erfassung des Ornaments und steht mit „Tiefe“ und „Material“ in einem wechselseitigen Wirkverhältnis. Das Zusammenspiel von Tiefe und Material prägt die Erscheinung des Ornaments und ruft einen spezifischen Affekt hervor. Je nach Erscheinung des Ornaments kann das gleiche Material verschiedene Affekte erzeugen.12 Als Affekt bezeichnet Moussavi nicht eine subjektive Gemütserregung des Betrachters, sondern eine objektive Ausdrucksdimension der Architektur. Affekte sind für sie visuelle Eigenschaften des Ornaments wie „oblique“, „scaleless“, „vertical“, „random“, „modular“, „weighted“.13 Die Funktion des Ornaments erkennt Moussavi in der Erzeugung und Vermittlung von Affekten, womit sie das Ornament als etwas dem Objekt Immanentes zu etablieren sucht.
Bedeutung versus Affekt Mit der Zusammenführung von Tiefe, Material und Affekt wendet sich Moussavi programmatisch gegen die Konzeption der Fassade als Dekoration und Kommunikationsmittel, wie sie in den 1970er Jahren als Kritik an der ‚schweigenden‘ Architektur der abstrakten Moderne in den USA formuliert wurde.14 Zu den einflussreichsten Werken dieses Ansatzes gehört das manifestartige Buch The Language of Post-Modern Architecture (1977) des amerikanischen Architekturhistorikers und -kritikers Charles Jencks, in dem er die Architektur als ein der Sprache verwandtes Phänomen interpretierte.15 Für ein postmodernes Gebäude forderte Jencks die Verwendung sogenannter „Bedeutungskodes“, um es für den Benutzer oder Rezipienten kommunikationsfähig zu machen. Moussavi erklärt dieses Prinzip der semantischen Kodierung für überholt. Angesichts einer globalisierten Kultur und multikulturellen Gesellschaft erscheinen ihr jene Konventionen, die bestimmten Formen klar definierte Konnotationen zuweisen, als wirkungslos, da das Verständnis für kulturabhängige Symbole verloren gegangen sei.16 Das Ornament, das weniger sprachliches Zeichen als gestaltete Form sein will, werde dagegen von einem breiten Publikum verstanden, weil es unmittelbar sinnlich erfahrbar ist. Moussavi fordert eine radikale Entsemantisierung der Architektur, bei der das Ornament ein „leeres Zeichen“ wird, welches Resonanzen auslöst („ornament becomes an ,empty sign‘ capable of generating an unlimited number of resonances“17). Den Jenck’schen Begriff der Bedeutung ersetzt sie durch den Begriff des Affektes, womit sie grundlegend die Perspektive verschiebt – weg von der Architektur als Sprechakt hin zu einer Architektur als Formakt: „Affects engage people through aesthetic perception. Whereas meanings are dependent on an individual’s biographical background, affects are pre-personal intensities of built forms.“18
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Mit ihrer Vorstellung des Affekts als eine überindividuell wahrgenommene Intensität, die von der ästhetischen Form ausgeht, bezieht sich Moussavi offen auf den französischen Philosophen Gilles Deleuze.19 Keine Erwähnung findet hingegen dessen einflussreicher Interpret, der New Yorker Architekt und Theoretiker Peter Eisenman, den Moussavi nahezu wortgleich wiederholt. Eisenman verfasste zu Beginn der 1990er Jahre zahlreichreiche Aufsätze über die Architektur im Zeitalter elektronischer Medien, worin er das Konzept der Falte von Gilles Deleuze als räumliches Modell erläuterte. Mit Blick auf Deleuze definierte er den Begriff des Affektes als Gegenbegriff zum „Effekt“, den die funktionalistische Moderne in den Mittelpunkt der Gestaltung gerückt hatte. Während der „Effekt“ die einfache Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen Form und Gebrauchszweck oder Form und Bedeutung beschreibt, bezeichnet der „Affekt“ ein vielschichtiges, sensuelles Verhältnis zwischen physischer Umwelt und Rezipienten: „Affect in architecture is [...] the sensate response to a physical environment.“20 Eisenman zufolge ermöglicht die Architektur Erfahrungen, die vor allem körperlicher Natur sind und sich weniger sprachlich als sinnlich durch den Affekt erschließen, den die Architektur provoziert. Diese Form von Affekterregung geht für Moussavi vor allem vom Fassadenornament aus. Sie weist dem Ornament die Fähigkeit zu, das Empfinden, Denken und Handeln des Betrachters anzurühren, wobei sie dessen bewegende Wirkung nicht als Projektion des Betrachters auf das Ornament auffasst, sondern als Folge einer „Eigenkraft“ des Ornaments, die es durch seine Herstellung und Konstruktion erhält.
Ornament follows Nature Moussavis Strategie der Abstraktion des Ornaments äußert sich nicht nur in der grafischen Systematisierung der Fassadenmuster, sondern auch in ihrem Versuch, das Ornament aus der Moderne heraus zu rehabilitieren. Davon zeugt auch ihr Bekenntnis zu Louis Sullivan als bauendes und schreibendes Vorbild.21 Wie ein Zitat Sullivans mutet ihr Begriff des Ornaments an, der die Flächenfigur als Ausdruck einer inhärenten Vitalität beschreibt: „Ornament is the figure that emerges from the material substrate, the expression of embedded forces through processes of construction, assembly and growth. It is through ornament that material transmits affects. Ornament is therefore necessary and inseparable from the object.“22 Die untrennbare Dualität von ornamentaler Figur und baulichem Grund kennzeichnete auch Sullivans Vorstellung. Mit Blick auf den Beaux-Arts-Historismus verurteilte er die Verwendung eklektizistischer Versatzstücke und forderte in seinem bedeutenden Aufsatz Ornament in Architecture (1892) anstelle eines stuck on eine innere Verwandtschaft und gegenseitige Verstärkung von Ornament und Struktur: „Both structure and ornament obviously benefit by this sympathy; each enhancing the value of the other.“23 Wenn Moussavi von der Funktion des Ornaments spricht, dann bezieht sie sich unmittelbar auf Sullivans komplexen Funktionsbegriff. Sein viel zitierter Satz „form follows
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function“ ist in der Architekturtheorie oft als Aufruf fehlinterpretiert worden, die Funktion als Benützung des Gebäudes zu deuten und die Form aus der Analyse der Funktionsabläufe zu entwickeln.24 Sullivan plädierte jedoch nicht für eine sachlich-funktionalistische Architektur. Die architektonische Form – ob als Massenkomposition oder als Ornament – war für ihn ursächlich mit der Vorstellung von Natur und ihrer Wirkung verbunden. Die Vorstellung von der Entfaltung von Kraft und Wachstum als biologische Analogien ist zentral für Sullivans Denken und bestimmt seinen Funktionsbegriff: „Whether it be the sweeping eagle in his flight, or the open apple-blossom, the toiling work-horse, the blithe swan, the branching oak, the winding stream at its base, the drifting clouds, over all the coursing sun, form ever follows function [...].“25 Diesem Gestaltungsleitsatz folgend, erwächst auch das Ornament aus dem organischen Prinzip von Funktion und Form und bringt es zum Ausdruck. So entspringt das Ornament einer Wachstumslogik und hat sich, wie die Form des Gebäudes, nach der spezifischen Funktion zu richten. Das Ornament darf weder austauschbar noch aufgesetzt erscheinen, sondern ist mit dem materiellen und strukturellen Kontext eng verbunden, weshalb es stets eine individuelle Form annimmt („it had come forth from the very substance of the material and was there by the same right that a flower appears amid the leaves of its parent plant“26). Ein weiterer Anknüpfungspunkt für Moussavi bot Sullivans Bestimmung des Ornaments zur Affekterzeugung. Architektur wurde von Sullivan als „emotionaler Ausdruck“ aufgefasst, der sich sowohl über die abstrakte Gesamtform als auch über die ornamentierte Hülle mitteilt. Zusammen erzählen Form und Ornament die Geschichte von der lebendigen Architektur: „[...] a building [...] is in its nature, essence and physical being an emotional expression. This being so [...], it must have [...] a life. It follows from this living principle that an ornamented structure should be characterized by this quality, namely, that the same emotional impulse shall flow throughout harmoniously into its varied forms of expression – of which, while the mass-composition is the more profound, the decorative ornamentation is the more intense.“27
Körperlose Ornamente Indem Moussavi Sullivans Schriften zitiert und seine Bauten als Grundlage ihres Fassadenkanons ausweist, hebt sie die Bedeutung des Ornaments für die geometrisch-abstrakte Architektur der Moderne hervor. Mit der nicht neuen Idee, dass das Ornament der „heimliche Passagier“ der abstrakten Moderne sei, betreibt Moussavi eine Enthistorisierung des Ornaments, wie sie paradoxerweise der Historismus bereits geleistet hatte.28 In The Function of Ornament entwirft sie eine „reine“ Formgeschichte des Ornaments, indem sie die Fassadenmuster aus ihren zeitlichen und architektonischen Kontexten herauslöst und grafisch homogenisiert. Unterschiede zwischen vergangenen und gegenwärtigen, analogen und digitalen Ornamenten werden so bewusst verschleiert. Die Fassadenmuster werden
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wie überzeitliche, transhistorisch zu verstehende Architekturüberzüge vorgestellt, die sich allenfalls formalästhetisch unterscheiden. Zu diesem Eindruck trägt auch die zeichnerische Verflachung der Ornamente bei. Als Darstellungsformen dienen enträumlichte Ansichten und Schnittperspektiven ohne Tiefendimension. Latente Vorbilder für Moussavis Strategie der Entkontextualisierung lassen sich ausgerechnet in jenen Ornamentlehrbüchern aus dem 19. Jahrhundert entdecken, gegen die sich Sullivan mit seiner Forderung nach einer Korrespondenz zwischen Ornament und Struktur richtete. Die wirkmächtigste Zusammenstellung von Ornamenten verschiedener Kulturen und historischer Epochen als Systematisierungsversuch ist die Grammar of Ornament (1856) des englischen Kunstschriftstellers und Architekten Owen Jones. 29 Sein mit 112 Farbtafeln versehenes, lexikalisches Kompendium ist ein zentrales Archiv ornamentaler Gestaltung des 19. Jahrhunderts. Sämtliche Ornamente, die in Bildtafeln nach Kulturen und Epochen zusammengefasst sind, wurden von ihm grafisch vereinheitlicht und homogen formatiert, wodurch die Tafeln selbst ornamentalen Charakter erhielten. Die ursprünglichen Trägermedien der Ornamente spielen in seiner Darstellung keine Rolle. Jones’ Zeichnungen sind Abbildungen ‚körperloser‘ Ornamente, zweidimensionale Repräsentationen einer dreidimensionalen Gestaltung. Alle Ornamente werden in der Fläche wiedergegeben und als reines Formspiel zwischen Vorder- und Hintergrund inszeniert. Mögliche Bedeutungen der Ornamente, die sich aus den Funktionen der Trägermedien ergeben würden, sind bewusst ausgeblendet. Das Ziel, eine Stilgeschichte der Ornamente aller Kulturen und historischen Epochen zu schreiben, setzt deren Vergleichbarkeit voraus, wofür eine spezifische mediale Bearbeitung notwendig ist. Die Vergleichbarkeit der Ornamente wird bei Owen Jones durch die Auslöschung historischer, funktionaler und kulturspezifischer Lektüren hergestellt. Sein Kompendium fokussiert den Blick auf rein formale Eigenschaften zweidimensional repräsentierter Ornamente. Die grafische Vereinheitlichung der Ornamente erlaubt dann auch die massenmediale und indifferente Verbreitung von Formen zur beliebigen Weiterverwendung in Kunsthandwerk und Architektur, wie es der Historismus betrieben hat. Unter Zuhilfenahme dieser medialen Strategien versucht auch Moussavi, das Ornament in eine neue globale Kunstsprache zu verwandeln, die alle Unterschiede und Tiefen überspielt. Hierbei weist sie vor allem den bildlichen Strukturen eine zentrale Bedeutung zu, die sie unter den Kategorien „Screen“ und „Surface“ versammelt. Die scheinbar körperlosen Bilder der Bildschirme, die mit der vermeintlichen Hoffnung verbunden sind, dass sie in der globalen Medien- und Informationsgesellschaft in gleicher Weise verstanden werden, finden ihre Entsprechung in Fassadenornamenten, wobei die Fassaden selbst entmaterialisiert werden. Auf die Entkörperlichung der Ornamente zielt nicht nur das zeichnerische, sondern auch das architektonische Programm von Moussavi. In ihrem baulich realisierten Entwurf des John Lewis Department Store im englischen Leicester umkleideten Moussavi und ihr Partner Zaera-Polo ein Kaufhaus mit einer gemusterten Ganzglasfas-
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2 FOA: John Lewis Department Store and Cineplex, Leicester, UK, 2007–2008
sade (Abb. 2).30 Der ebenfalls in The Function of Ornament aufgeführte „Screen“ besteht aus zwei hintereinander angeordneten Glasflächen, die mit einem repetitiven floralen Frittenmuster versehen sind. Das von außen hochreflektierende Muster lässt die Transparenz der Fassade variieren und dient als Sonnenschutz. Es wurde so konzipiert, dass es fließende Übergänge von einer Scheibe zur nächsten bildet und somit als monumentales Großmuster erscheint. Durch die räumliche Schichtung der inneren und äußeren Musterung entsteht eine Bild mit Tiefenwirkung, das sich je nach Perspektive des Betrachters dynamisch verändert. Die kontinuierliche Glashaut, das spiegelnde Muster und die oszillierende Bewegung zwischen Zwei- und Dreidimensionalität lassen die Fassade entmaterialisiert erscheinen. Obgleich das Rankenornament eine Anspielung auf das Muster eines Polsterstoffes darstellen soll, den der Kaufhausbegründer John Lewis (1836–1928) in seinem ersten Textilwarenladen in Leicester führte, wird dieser historische Kontext durch die Behauptung eines scheinbar materiefreien Bildes auf einem Screen bewusst zurückgedrängt.31 Die ursprüngliche Funktion des Ornaments und der Objekte, die es trugen, spielen lediglich eine untergeordnete Rolle, was mögliche Bedeutungen und Wirkungsweisen vergessen lässt.32
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Materielle Schnittstellen Gegen die Reduktion des Ornaments auf ein abstraktes Bild wandten sich in jüngster Vergangenheit zahlreiche Architekten und Designer mit räumlichen Musterstrukturen, für deren Hervorbringung das Material von zentraler Bedeutung ist. Unbeeindruckt von der modernen Denkfigur der Entmaterialisierung, die in der computerbasierten Architektur der 1990er Jahren ein Comeback feierte, skizziert eine jüngere Gestaltergeneration einen Ornamentbegriff, der die vermeintliche Befreiung des Ornaments von Stoff und Ort aufhebt. Entgegen des oft entworfenen Szenarios von der Verflüchtigung des Materiellen im Zeitalter der elektronischen Medien beginnen gegenwärtige Ornamentexperimente in Architektur und Design mit dem Studium des Werkstoffes. Muster und Strukturen entfalten sich hierbei in einer neuen Dreidimensionalität, die ihnen eine körperliche Dimension zurückgibt. Exemplarisch für den Paradigmenwechsel von der Ent- zur Rematerialisierung des Ornaments stehen die programmatischen Entwürfe und Schriften der deutschen Architekten Michael Hensel und Achim Menges.33 Für sie enthalten Muster und Ornamente das Potenzial, heterogene Anforderungen an die Außenhülle zu integrieren. In Prototypen und Computersimulationen versuchen sie, diesem bisher wenig ausgeschöpften Potenzial des Ornaments näher zu kommen, indem sie die traditionelle Trennung zwischen klimatischer Hülle und technischer Konstruktion aufgeben. Die ornamentale Struktur fungiert in ihren Projekten als funktional tragendes Teil, raumgreifendes Element und zugleich als semipermeable Trennschicht, als Durchgangsmedium zwischen innen und außen, mithin als eine ‚Membran‘, die eine aktive Rolle bei der selektiven Übermittlung von Licht, Luft und Schall spielt. Um den verschiedenen Anforderungen an die Hülle als Tragwerk, Lichtmodulator und Luftregler zu begegnen, greifen sie auf Strukturansätze der architektonischen Nachkriegsmoderne zurück, die in der Ornamentforschung bisher wenig Berücksichtigung fanden. Zum einen bedienen sie sich des Prinzips der Elementarisierung, dem vor allem der modulare Systembau der 1950er und 1960er Jahre folgte.34 Zum anderen teilen sie die naturwissenschaftlich bestimmte Gestaltvision der sich selbst erzeugenden Form, die den Bauten und Projekten des deutschen Architekten Frei Otto zugrunde liegt.35 Otto betrachtete natürliche wie technische Strukturen als analoge Konstruktionen, die sich aufgrund von Materialeigenschaften und Umwelteinflüssen von selbst formen. Ausgehend von diesen beiden Ansätzen entwickelten Hensel und Menges ein Forschungs- und Entwurfsprogramm, in dem der Begriff des „Materialsystems“ von zentraler Bedeutung ist. Unter einem Materialsystem verstehen sie eine Flächenstruktur aus gleichzeitig raumbildenden, kraftabtragenden sowie energieleitenden und -speichernden Elementen, welche aus den spezifischen Eigenschaften der zur Verwendung kommenden Materialien und Herstellungsprozesse hervorgehen.36 Durch die Zerlegung in seriell angeordnete, performative Komponenten wird die Fläche zum strukturbildenden Muster.
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3 Achim Menges/Steffen Reichert: HygroScope – Meteorosensitive Morphology, Installation der ständigen Sammlung des Centre Pompidou, Paris, 2012
Grundlegender Unterschied zu bisherigen Ansätzen computerbasierter Formbildung ist, dass Hensel und Menges ihre ornamentalen Strukturen auf zweifache Weise hervorbringen. Ihr Entwurfsprozess beginnt gewöhnlich mit der Entwicklung eines Strukturelements aus einem spezifischen Material, das anschließend in ein parametrisches Computermodell übersetzt wird, welches die Materialeigenschaften nachbildet. Das Modell definiert keine konkrete Form, sondern ein allgemeines Schema von geometrischen Beziehungen, die mit Variablen und Konstanten beschrieben werden. Derartige Beziehungen sind zum einen die geometrischen Verhältnisse des Elements, zum anderen dessen materielle Eigenschaften, die in Form von Kennwerten numerisch nachgebildet werden und das Verformungsverhalten des Elements bestimmen. Programmiert werden darüber hinaus die Art der Fügung der Elemente und ihre Fertigung mittels computergesteuerter Maschinen. Dieses generische Modell bildet dann das Grundelement eines Verbundes. In dem Verbund sind die einzelnen Elemente interaktiv miteinander verknüpft, wodurch flexible Strukturen wechselseitiger Abhängigkeiten entstehen. Ein spezifischer Formentwurf entsteht erst dann, wenn den Variablen Zahlenwerte zugewiesen werden. Sobald das Element mit anderen Elementen in eine wechselseitige Beziehung tritt und bestimmte Anforderungen an Durchlässigkeit und Stabilität erfüllen soll, erhält es seine konkrete, individuelle Form.
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Eine solche parametrisch definierte Struktur erlaubt eine Elementvariation, die sie von den Musterstrukturen der Nachkriegsmoderne unterscheidet. Während in den 1950er und 1960er Jahren modulare Ornamentflächen aus standardisierten Einzelbauteilen gefertigt wurden, deren Anordnung einem regelmäßigen Ordnungsraster folgte, entwickeln Hensel und Menges ornamentale Strukturen aus individualisierten Elementen, die in einem flexiblen Raster zusammengesetzt sind. In den 1950er Jahren entwarf der aus Österreich stammende Bildhauer Erwin Hauer sogenannte „Architectural Screens“, reliefartige Wandpaneele, die mit modularen Öffnungen perforiert waren.37 Als halboffene Trennwände filterten und modellierten die Modulflächen das einfallende Licht auf gleichmäßige Weise. Im Unterschied zu diesen aus Gleichteilen gefügten Strukturwänden schaffen die individualisierten Materialsysteme von Hensel und Menges offene und geschlossene Bereiche, durch die der Lichteinfall unterschiedlich gestaltet werden kann. Während die modularen Schmuckwände von Hauer in Rahmenkonstruktionen eingesetzt wurden, bilden die Flächenstrukturen von Hensel und Menges tragende Bauteile, die je nach Lastfall lokal unterschieden werden. Mit der Einbeziehung unterschiedlicher Licht- und Lastverhältnisse rückt der Prozess der Formbildung in den Vordergrund des gestalterischen Interesses. Bei Hensel und Menges erweist sich der Aspekt des Prozesshaften als eine zentrale Kategorie ihres architektonischen Denkens, die ihren Umgang mit dem Ornament prägt. Durch die Betonung des Prozesshaften verlagert sich der Gegenstand der ornamentalen Gestaltung von der Schmuck- zur Strukturform, die im Idealfall genau dem Kräfteverlauf entspricht und wechselnde Licht- und Luft-Verhältnisse erzeugt.
Reaktive Oberflächen Um der Aufwertung des Materials gegenüber der bisher als dominant bewerteten Form des Musters Ausdruck zu verleihen, setzen Hensel und Menges vor allem biegsame, elastische und instabile Materialien ein, die gewissermaßen ein Eigenleben führen und selbstgenerierende Mechanismen der Formbildung befördern.38 Das Konzept der sich selbst produzierenden Form liegt auch jenen Strukturen zugrunde, die auf Klimaveränderungen durch selbsttätige Formveränderungen des Materials reagieren.39 Für die ständige Sammlung des Centre Pompidou entwickelte Achim Menges 2012 die Rauminstallation HygroScope – Meteorosensitive Morphology. In Zusammenarbeit mit Steffen Reichert entwarf er eine floral anmutende Holzmembranstruktur und umgab sie mit einer raumgroßen Glasvitrine (Abb. 3).40 Die Struktur besteht aus zusammengesetzten Kreisrippenkonstruktionen mit einer Beplankung aus geschlitzten Holzfurnierflächen. Im Unterschied zum kontrollierten gleichbleibenden Klima des Ausstellungsraumes werden in der Vitrine die Luftfeuchtewechsel von Paris simuliert. Sie bewirken eine Formveränderung der Struktur, die durch die hygroskopischen Eigenschaften des Holzes hervorgerufen wird. Bei hoher Luftfeuchtigkeit krümmen sich die Furnierelemente selbsttätig, wodurch sich eine Öffnung in der Deckfläche ergibt. Nimmt die Feuchtigkeit ab, schließt sich die Fläche wieder.
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Eine materialtheoretische Fundierung für ihre Idee sich selbst regulierender, ‚wetterfühliger‘ Systeme erhielten die Architekten durch ihre Auseinandersetzung mit der Bionik.41 Ihr Gestaltungsansatz ruht auf der Vorstellung, dass biologische Materialien durch die Differenzierung ihrer Struktur eine hohe Anpassungs- und Leistungsfähigkeit gewinnen.42 In einem von Hensel und Menges geführten Interview definierte der englische Biologe Julian Vincent den Begriff des Materials als eine im Austausch mit der Umwelt geformte Struktur: „[...] ein Material [muss], um auf die Umwelt reagieren zu können, Struktur haben. [...] Sie ist in großem Maße für die unterschiedlichen Eigenschaften von Materialien verantwortlich.“43 Mit Blick auf die Bionik betreiben Hensel und Menges eine Rehabilitierung und Nobilitierung des Ornaments, indem sie es vom postmodernen Verständnis eines nachträglich applizierten Schmuckelements entkoppeln und zum integralen Bestandteil einer „performativen Architektur“ befördern.44 Ihre Entwürfe zielen auf die Erschaffung ornamentaler Systeme, die als leistungsfähige Schnittstellen zwischen innen und außen fungieren. Wie Farshid Moussavi inszenieren Hensel und Menges das Ornament als universale Form, wenn auch auf eine andere Weise. Ihren Versuchen einer Vereinheitlichung liegt das Idealbild der Versöhnung von Architektur und Natur, von Kunst und Wissenschaft zugrunde. Sie streben nach einer Naturalisierung und Verwissenschaftlichung des Ornaments, indem sie natürliche Materialien verwenden, eine quasi-natürliche Strukturbildung initiieren und naturgebundene Umwelten simulieren. Entgegen der Vorstellung des Ornaments als etwas eigenhändig Gemachtes, propagieren sie ein naturwissenschaftlich orientiertes Konzept, wonach die ornamentale Struktur als etwas selbsttätig Bildendes verstanden wird. Sie betrachten Muster und Ornamente nicht als Werke künstlerischer Imagination, sondern als Ergebnisse wechselseitiger Wirkverhältnisse von Material, Struktur und Umwelt. Muster und Ornamente sind für sie nicht primär komponierte Objekte, sondern materielle Träger möglicher Wirkungen. Ihre Versuche der Naturalisierung zielen ebenso wie Moussavis Bestrebungen der Funktionalisierung auf die „Verewigung“ und Enthistorisierung des Ornaments. In ihrer Perspektive geraten Muster und Ornamente zu Zeugnissen universeller Naturgesetze, die losgelöst sind von jedem kulturgeschichtlichen Kontext.
Struktur in Kunst und Wissenschaft Der Begriff vom Muster als Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft beruht auf einem Strukturbegriff, der vor allem in der Nachkriegsmoderne seine Prägung fand. Mit ihrer Bezugnahme auf Erwin Hauer und Frei Otto vergegenwärtigen Hensel und Menges die Bedeutung der strukturellen Kunst und Architektur der 1950er und 1960er Jahre für die Grundlegung und Entfaltung der digitalen Ornamentsysteme. Was sie indes unerwähnt lassen, ist, dass es in den Nachkriegsjahrzehnten ein disziplinübergreifendes Interesse an abstrakten Mustern und Ornamenten gab, die als formal-bildliche Ansatzpunkte für die Zusammenführung von Kunst und Wissenschaft dienen sollten.
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4 György Kepes: Schneeflocke, mikroskopisch vergrößerter Viruskristall, Hokusai-Muster für ein Textilgewebe und Strukturstudie von Buckminster Fuller, 1966
Eine Schlüsselposition in dieser Debatte nahm das Werk des ungarischen Künstlers und Gestalttheoretikers György Kepes ein, der 1967 das Center for Advanced Visual Studies (CAVS) am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge gegründet hatte.45 Kepes’ Interesse an der Struktur unter informations- und wahrnehmungstheoretischen Prämissen manifestierte sich nicht nur in seinem künstlerischen Schaffen, sondern auch in seiner Lehrtätigkeit, seinen thematischen Ausstellungen und den hieraus hervorgegangenen Sammelbänden. Vor allem zwei der von ihm herausgegebenen sieben Bände der Schriftenreihe Vision + Value setzen sich mit Oberflächenstrukturen in verschiedenen Erscheinungsformen auseinander. Die Bände Structure in Art and in Science (1965) und Module, Proportion, Symmetry, Rhythm (1966) enthalten zahlreiche Musterbeispiele unterschiedlicher Herkunft und Funktion, die durch eine suggestive Montage organisiert sind.46 Die visuelle Argumentation der Bildserien läuft darauf hinaus, strukturelle Übereinstimmungen von Kunst-, Natur- und Technikformen sichtbar zu machen. So gerät etwa ein regelmäßiges Sechseck zum verbindenden Element zwischen einer hoch vergrößerten Schneeflocke, einem mikroskopischen Viruskristall, einem Hokusai-Muster für Textilgewebe und einer Leichtbaukonstruktion des Architekten Buckminster Fuller (Abb. 4). Die Bilder zeigen stets nur Ausschnitte von Strukturen, wodurch ihre Größen, Kontexte, Funktionen und Bedeutungen unbestimmt bleiben. Durch die äußerlichen Ähnlichkeiten wird dem Betrachter ein innerer Zusammenhang der Formen suggeriert, der Kepes’ Idee einer disziplinübergreifenden Struktur legitimieren soll.
Das digitale Ornament als universale Form I 83
Mit dem Begriff der Struktur zielte Kepes auf nichts weniger ab als auf eine neue Synthese der wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und künstlerischen Welt, womit er der modernen „Zersplitterung der Erfahrung“ und dem „Aufsprengen des Wissens in viele autonome Disziplinen“ begegnen wollte.47 In seinem Einleitungstext zum Band Structure in Art and in Science definierte er Struktur als „geschaffene Einheit von Teilen und Verbänden“ und erkannte in ihr ein „Beispiel dynamischer Kohäsion, in dem Haupt- und Zeitwort – Form und formen – gleichzeitig vorhanden und austauschbar sind: ein Beispiel zusammenwirkender Kräfte, verstanden als eine einzige räumlich-zeitliche Ganzheit“48. Ausgehend von dem aus der Chemie entlehnten Begriff der Kohäsion, der das Bindungsvermögen von Atomen und Molekülen innerhalb eines Stoffes bezeichnet, betrachtete Kepes die Struktur als einheitsstiftende Kraft, welche die künstlich errichteten Grenzen der Moderne zwischen einer subjektiven Kunst auf der einen Seite und einer an Objektivitätsidealen festhaltenden Wissenschaft auf der anderen Seite aufhebt. Durch die Zusammenführung von „Form“ und „formen“ betrieb er eine Neubestimmung des Strukturbegriffs: Er relativierte dessen gestaltorientierten Sinn und schlug einen prozessorientierten Strukturbegriff vor. Kepes’ Text ist von einem visionären Pathos getragen, verfolgt doch seine Argumentation die Absicht, eine in ihrer Komplexität nicht mehr zu erfassende, chaotische Welt durch Muster und Strukturen in eine anschauliche und damit beherrschbare Ordnung zu übersetzen. Kepes zufolge verkörpern Muster und Strukturen exemplarisch die angestrebte Harmonie der verschiedenen Wissenswelten und versinnbildlichen die Einheit der angenommenen Gegensätze zwischen Kunst, Technik und Natur. Durch die bildliche Zusammenführung von Kleinststrukturen und Großkonstruktionen werden Muster zudem als Versuche dargestellt, in einem Mikrokosmos den Makrokosmos zu rekonstruieren. Als abstrakte, maßstabslose Erscheinungen erwecken sie die Illusion einer Versöhnung von ‚großer‘ und ‚kleiner Welt‘.
Entwickeln von Formen aus Formen Kepes’ Begriff der ausgleichenden Form liegt auch dem Gestaltungsansatz von Hensel und Menges zugrunde, wonach Muster und Strukturen „zwischen dem Mikromaßstab der molekularen Zusammensetzung des Materials und dem Makromaßstab der Beschaffenheit eines Bauwerks“ vermitteln und gleichermaßen funktionale, statische und produktionstechnische Bedingungen erfüllen.49 Sie dienen als Versöhnungselemente zwischen Natur und Technik und zugleich als Schlüsselinstrumente, um der rational gesteuerten Gestaltfindung den Anschein eines naturhaften Formfindungsprozesses zu verleihen. Wie Kepes betrachten Hensel und Menges ornamentale Strukturen als stofflich-materielle Formen, die sich allein in der Dynamik ihrer immanenten Prozesse erschöpfen und ohne Beziehung zur Geschichte ihrer Herkunft und ihres Gebrauchs auskommen. In ihrer Perspektive bilden Oberflächendifferenzierungen die strukturelle Grundlage einer jeden Form in Natur
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und Architektur, die sich weniger durch eine Gestaltqualität als durch eine Prozessqualität auszeichnet. Im Austausch mit der Umwelt werden Muster und Strukturen zu Formbewegungen. Diese Vorstellung lässt unmittelbar an die Ornamentdefinition des deutschen Soziologen und Systemtheoretikers Niklas Luhmann denken, der im Ornament „die Grundform des Entwickelns von Formen aus Formen“ sah.50 Mit dem grundlegenden Perspektivwechsel vom Ornament als Schmuck- und Verzierungselement zum ornamentalen System als eine Grundform des architektonischen Formbildungsprozesses wird die moderne Abwertung des Ornaments aufgehoben. Dessen Rehabilitierung als einen Befreiungsschlag von der modernistischen Idee der allgemeingültigen und absoluten Form zu betrachten, wäre hingegen verfehlt. Denn die Suche nach einer universalen Sprache, die in die ästhetischen Formulierungen der Moderne als Abstraktion eingegangen ist, findet ihre Fortsetzung im Konzept der Selbstbildung der Form. Die Vorstellung der ornamentalen Struktur als eine sich selbst dirigierende Formenkombination lässt sich als Fortführung einer Traditionslinie verstehen, innerhalb derer Theoretiker, Architekten und Ingenieure nach einer Befreiung der Architektur von ästhetischen Vorgaben strebten.51 Die Polemik der Avantgarde des 20. Jahrhunderts gegen vorherrschende Stile oder gestalterische Systeme in Kunst und Architektur war Teil eines Paradigmenwechsels von der vorherbestimmten, transzendenten zur selbstgenerierten, immanenten Form. So erfolgt die gegenwärtige Reformulierung des Ornaments in Übereinstimmung mit dem eigengesetzlichen Natur- und Formbegriff der abstrakten Moderne. Die Protagonisten der neuen, dynamisch gewordenen Muster und Strukturen übernehmen sogar die Ornamentkritik der frühen Moderne, denn diese richtete sich gegen die Verwendung des Ornaments als etwas bloß Äußerliches und historisch Abgeleitetes. Dagegen werten sowohl Moussavi als auch Hensel und Menges ihre Muster zu allumfassenden generativen Architektursystemen auf, die von historischen Vorbildern entbunden sind. Die konzeptionellen Wurzeln dieser Strategie liegen im abstrakten Dogma der Moderne und ihrer ultimativen Innovationsforderung.
Anmerkungen 1
Jörg H. Gleiter: Zur Genealogie des neuen Ornaments im digitalen Zeitalter. Eine Annäherung. In: Archplus, 2008, H. 189, S. 78. Darüberhinaus: Jörg H. Gleiter: Rückkehr des Verdrängten. Zur kritischen Theorie des Ornaments in der architektonischen Moderne. Weimar 2002/Ornament Today. Digital Material Structural. Hrsg. von Jörg H. Gleiter. Bozen 2012.
2
Beispielhaft: Archithese, 2004, H. 2: Neue Ornamente; Archplus, 2008, H. 189: Entwurfsmuster. Raster, Typus, Pattern, Script, Algorithmus, Ornament.
3
Ben Pell: Modulierte Oberflächen. Ornament und Technologie in der Gegenwartsarchitektur. Basel 2010, S. 6.
4
Vgl. Javier Mozas: Wenn die Haut Struktur wird. Tragwerksentwurf des Guggenheim-Museums. Eine Großskulptur. In: Bauwelt, 88, 1997, H. 13, S. 690–693.
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5
Vgl. Alois Diethelm: Swiss Re London. Intelligenter Knoten. In: Steeldoc, 2004, H. 2, S. 10–17, URL: http://www.szs.ch/user_content/editor/files/steeldoc%20archipool/steeldoc_02_04_d_x.pdf [25.07.2014]
6
Oliver Domeisen: Ornament und Freispruch. In: Ornament neu aufgelegt/Re-Sampling Ornament. Ausst.Kat. des Schweizerischen Architekturmuseums (SAM). Hrsg. v. Oliver Domeisen/Francesca Ferguson. Basel 2008, S. 6–10.
7
The Function of Ornament. Hrsg. von Farshid Moussavi/Michael Kubo. Barcelona 2006. Zwei Jahre später erschienen weitere Ausgaben auf Deutsch, Spanisch und Japanisch.
8
Zu ihren bekanntesten Bauwerken gehört der 2002 fertiggestellte International Port Terminal in Yokohama, ein Fährterminal mit einem öffentlich zugänglichen Park auf dem Dach, der als topologisch verformte Ornamentfläche ausgebildet ist. Nach sechzehn Jahren gemeinsamer Tätigkeit trennten sich die Partner Moussavi und Zaera-Polo und gründeten jeweils ihr eigenes Architekturbüro. Vgl. The Yokohama Project. Foreign Office Architects. Hrsg. von Albert Ferré/Tomoko Sakamoto/Michael Kubo (= Verb Monograph). Barcelona 2002.
9
Vgl. Farshid Moussavi: The Function of Ornament. In: The Function of Ornament 2006 (Anm. 7), S. 9–10.
10 Vgl. Moussavi 2006 (Anm. 9), S. 10. 11 Vgl. Moussavi 2006 (Anm. 9), S. 10. 12 Vgl. Moussavi 2006 (Anm. 9), S. 10. 13 Vgl. The Function of Ornament 2006 (Anm. 7), S. 13. 14 Vgl. Moussavi 2006 (Anm. 9), S. 7. Moussavi bezieht sich hier vor allem auf den Begriff des „dekorierten Schuppens“ von Robert Venturi und Denise Scott Brown, der einen zunächst nichtssagenden Bau beschreibt, der erst durch die auf die Vorderseite applizierten Symbole seine Zeichenfunktion im öffentlichen Raum erhält. Vgl. Robert Venturi/Denise Scott Brown/Steven Izenour: Learning from Las Vegas. The Forgotten Symbolism of Architectural Form. Cambridge, Mass./ London 1972, 2. Aufl. 1977. 15 Vgl. Steffen Krämer: Charles Jencks und das Prinzip der Doppel-, Mehr- und Überkodierung. Kommunikation und Interpretation der postmodernen Architektur. In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2010, URL: http://www.kunstgeschichte-ejournal.net/archiv/2010/kraemer, URN: urn:nbn:de:0009-23-25309 [25.07.2014]. 16 „In the absence of a common language or system of understanding, the kind of communication proposed by Postmodernism could not reach the wider public. Inherited symbols remain dependent on a particular cultural moment or context and cannot survive changing conditions.“ Moussavi 2006 (Anm. 9), S. 7. 17 Moussavi 2006 (Anm. 9), S. 8. 18 Farshid Moussavi, Architecture and its Affects at the Arsenale, 13th Venice Biennale. URL: http://www. farshidmoussavi.com/node/21#architecture_and_its_affects_at_the_arsenale_13th_venice_biennale_ venice_21_12 [25.07.2014]. 19 Vgl. Farshid Moussavi: Glossary. In: Dies.: The Function of Form. Hrsg. von Daniel López-Pérez/ Garrick Ambrose/Ben Fortunato/Ryan Ludwig/Ahmadreza Schricker. Barcelona 2009, S. 44–45. 20 Peter Eisenman: The Affects of Singularity. In: Theory and Experimentation. An Intellectual Extravaganza. Hrsg. von Andreas Papadakis. London 1993, S. 43. Darüber hinaus: Peter Eisenman: Notations of Affect. An Architecture of Memory. In: Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten. Hrsg. von Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus. Berlin 2004, S. 504–511. 21 Vgl. Moussavi 2006 (Anm. 9), S. 8 und 10. 22 Moussavi 2006 (Anm. 9), S. 8. 23 Louis H. Sullivan: Ornament in Architecture (1892). In: Ders.: Kindergarten Chats (Revised 1918) and Other Writings (= The Documents of Modern Art, 4). New York 1968, S. 189.
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24 Vgl. Ákos Moravánszky: Einführung zu Louis Henry Sullivan. In: Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie. Hrsg. von Ákos Moravánszky. Wien 2003, S. 398. 25 Louis Henry Sullivan: The Tall Office Building Artistically Considered. In: Lippincott’s Magazine, H. 57, March 1896, S. 408. 26 Sullivan 1968 (Anm. 23), S. 189. 27 Sullivan 1968 (Anm. 23), S. 188. Darüberhinaus: Louis Henry Sullivan: Emotional Architecture as Compared with Intellectual. A Study in Objective and Subjective (1894). In: Ders.: Kindergarten Chats and Other Writings. Hrsg. von Isabella Athey. 1947, Reprint. New York 1979, S. 191–201. 28 Beispielhaft: Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog. Ausst.Kat., Fondation Beyeler. Hrsg. von Markus Brüderlin. Riehen 2001. 29 Vgl. Sigrid Schade: Das Ornament als Schnittstelle. Künstlerischer Transfer zwischen den Kulturen. In: SchnittStellen (= Basler Beiträge zur Medienwissenschaft, 1). Hrsg. von Sigrid Schade/Thomas Sieber/Georg Christoph Tholen. Basel 2005, S. 178–183. 30 Vgl. The Function of Ornament 2006 (Anm. 7), S. 108–111; John Lewis Department Store, Leicester. Glasfassade mir Spitzenoptik, URL: http://www.interpane.com/john_lewis_department_ store_411.html [25.07.2014]. 31 Vgl. Alejandro Zaera-Polo: Patterns, Fabrics, Prototypes, Tessellations. In: Architectural Design, 79, 2009, H. 6, S. 24. 32 Als programmatischer Höhepunkt der Entkörperlichung der Ornamente kann Moussavis raumgreifende Lichtprojektion Architecture and its Affects auf der 13. Architekturbiennale 2012 in Venedig gelten. Mit einer wandhohen, umlaufenden Videoprojektion gezeichneter Fassadenmuster und Hüllstrukturen verwandelte die Architektin den weitläufigen Ausstellungsraum im Arsenal in einen virtuell-immersiven Bildraum. Die dynamisch wechselnden Großprojektionen setzten die digitalen Ornamente als strahlend weiße, makellose und exquisite Strukturen in Szene, die von ihren architektonischen und städtebaulichen Kontexten entbunden waren. Vgl. Nico Saieh: Venice Biennale 2012: Architecture and its Affects/Farshid Moussavi. In: ArchDaily, 04.09.2012, URL: http://www.archdaily.com/?p=269585 [25.07.2014]. 33 Michael Hensel und Achim Menges lehren seit 2002 im Masterprogramm Emergent Technologies and Design an der Architectural Association School of Architecture (AA) in London. Hensel ist Gründungsmitglied des interdisziplinären Forschungsnetzwerkes Ocean und nimmt zurzeit eine Professur an der Oslo School of Architecture and Design wahr. 2005 wurde Menges an die Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main für die Studienschwerpunkte „Visualisierung und Materialisierung“ im Fachbereich Produktgestaltung berufen. 2008 wechselte er zur Universität Stuttgart, an der er das Institut für computerbasiertes Entwerfen neu einrichtete. Menges lehrt als Gastprofessor an der Harvard University in Cambridge/USA. Ihren gemeinsamen Forschungs- und Entwurfsansatz stellten die Architekten 2006 in der AA-Publikation Morpho-Ecologies dar. 34 Vgl. Michael Hensel/Achim Menges: Morpho-Ecologies. Towards an Inclusive Discourse on Heterogeneous Architecture. In: Morpho-Ecologies. Hrsg. von Michael Hensel/Achim Menges. London 2006, S. 20–22. 35 Vgl. Hensel/Menges 2006 (Anm. 34), S. 29–30. 36 Vgl. Michael Hensel/Achim Menges: Performance als Forschungs- und Entwurfskonzept. Begriffe und Bezugssysteme. In: Archplus, 2008, H. 188, S. 31. 37 Hensel und Menges beziehen sich offen auf die Arbeiten von Erwin Hauer als Vorbilder. Grundlegend: Erwin Hauer: Continua. Architectural Screens and Walls. New York 2004. Vgl. Hensel/Menges 2006 (Anm. 34), S. 21–22/Michael Hensel/Achim Menges: Materialsysteme 01: Von der universellen zur performativen Komponente. In: Archplus, 2008, H. 188, S. 39.
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38 Als Beispiel für diese Art der Formbildung führen die Architekten die Manipulation eines einfachen Papierstreifens an: Werden die Enden des Papierstreifens mit den Händen zusammengeführt, so ergibt sich wie von selbst eine Schlaufe. Die dem Papierstreifen innewohnenden Widerstandsmomente und die externen Haltekräfte der Hand stehen zueinander im Gleichgewicht und bilden sich in der Schlaufenform ab. Vgl. Hensel/Menges 2006 (Anm. 34), S. 43–52/Michael Hensel/ Achim Menges: Form- und Materialwerdung. Das Konzept der Materialsysteme. In: Archplus, 2008, H. 188, S. 20–22. 39 Achim Menges/Steffen Reichert: Reaktive Flächenstruktur. In: Archplus, 2008, H. 188, S. 44–45. 40 Achim Menges: HygroScope. Meteorosensitive Morphology. In: Archplus, 2012, H. 206/207, S. 7/ Achim Menges/Steffen Reichert: HygroScope – Meteorosensitive Morphology, 2012, URL: http:// www.detail.de/architektur/termine/hygroscope-meteorosensitive-morphology-019133.html [25.07.2014]. 41 Die Bionik ist eine junge wissenschaftliche Disziplin, die sich in den 1950er Jahren zunächst in den USA, Großbritannien und Deutschland entwickelt hat. Das Kunstwort „Bionik“ setzt sich aus den Begriffen „Biologie“ und „Technik“ zusammen, womit deutlich werden soll, dass Konstruktions-, Verfahrens- und Entwicklungsprinzipien aus der Biologie abgeleitet und auf technische Anwendungen übertragen werden. 42 Vgl. Julian Vincent: Grenzüberschreitungen Architektur – Biologie. Ein Gespräch mit Achim Menges/Michael Hensel. In: Archplus, 2008, H. 188, S. 101. 43 Vincent 2008 (Anm. 42), S. 101. 44 Michael Hensel/Achim Menges: Am Anfang einer neuen Architektur des Performativen. In: Archplus, 2008, H. 188, S. 16. 45 Kepes hatte in den 1930er Jahren mit László Moholy-Nagy zusammengearbeitet, erst in Berlin und London, später dann an dem von Moholy geleiteten New Bauhaus in Chicago. 1945 übernahm er den Lehrstuhl für Visual Design an der Architekturfakultät des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, das in den 1940er und 1950er Jahren zu den maßgeblichen Entwicklungszentren der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gehörte. Im Kontext dieser technisch orientierten Hochschule widmete er sich programmatisch der Malerei, Fotografie und Lichtkunst und befasste sich theoretisch mit Formen der Visualisierung in Kunst und Wissenschaft, was schließlich zur Gründung des Center for Advanced Visual Studies (CAVS) führte. Vgl. György Kepes. The MIT Years: 1945–1977. Paintings, Photographic Work, Environmental Pieces, Projects of the Center for Advanced Visual Studies. Ausst.Kat. Hayden Gallery, Massachusetts Institute of Technology. Cambridge, MA/London 1978. 46 Grundlegend zu Kepes’ Bildbegriff und Montagestrategie: Kirsten Wagner: Sternglaube und Formelwissen. Zur Entdeckung der Kunst in der Wissenschaft bei György Kepes. In: kritische berichte, 2010, H. 3, S. 60–69. 47 György Kepes: Einleitung. In: Struktur in Kunst und Wissenschaft. Hrsg. von György Kepes. Brüssel 1967, S. IX. 48 Kepes 1967 (Anm. 47), S. X. 49 Hensel/Menges 2008 (Anm. 38), S. 18. 50 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, S. 193. Hierzu grundlegend: Michael Dürfeld: Das Ornamentale und die architektonische Form. Systemtheoretische Irritationen. Bielefeld 2008. 51 Vgl. Detlef Mertins: Biokonstruktivismus. In: Lars Spuybroek: NOX: Machining Architecture. Bauten und Projekte. München 2004, S. 360.
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Heike Behrend
Textilien, Muster und fotografische Praktiken an der ostafrikanischen Küste Seit Jahrhunderten ist die ostafrikanische kosmopolitische Küste in ein transkulturelles Netz von Handelsbeziehungen eingebunden, das den Indischen Ozean umfasst und Arabien, Persien, China, Indonesien und Indien einschließt. Gleichzeitig bildete die Küste auch den Umschlagplatz für den Austausch mit dem afrikanischen Binnenland. Innerhalb dieser globalen Ökonomie fanden vor allem Textilien, Seide aus China und Baumwollstoff aus Indien, den Weg an die ostafrikanische Küste, die seit dem 8. Jahrhundert islamisiert worden ist. Hier wurden die importierten Textilien in lokale Praktiken eingebunden, transformiert und in Bedeutungszusammenhänge gestellt, die den reinen Kleidungsaspekt weit übersteigen. Stoffbahnen dienten nicht nur als Ware, sondern auch als allgemeines Äquivalent, als eine Form von Geld und Reichtum. Kleidung brachte Status und Prestige zum Ausdruck; sie schmückte den Körper und folgte lokalen Vorstellungen von Schönheit, Reinheit, Sittsamkeit und Scham; sie schützte den Körper nicht nur vor Kälte oder der Sonne, sondern die in den Stoff eingenähten Amulette oder seine Beschriftung mit Koranversen bewahrten den Träger auch vor dem Bösen Blick. Kleidung wurde zur Geschichtsschreibung und zur Markierung und Erinnerung von Ereignissen benutzt. Und sie dient bis heute vor allem Frauen als subtiles, indirektes Kommunikationsmedium: Muster und Beschriftung der Textilien liefern Codes für vieldeutige Botschaften, die erlauben, etwas zu sagen, was nicht explizit gemacht werden darf. Insbesondere im 19. Jahrhundert blühte der Textilhandel an der Küste. Westliche Reisende betonten nicht nur die große Vielfalt der Textilien – Hunderte von Stoffen mit je eigenem Namen –, sondern auch den schnellen Wandel der Muster, „die einander rascher jagten als in Paris“1 und die besondere Textil- und Modebegeisterung der Küstenbewohner. In diesen transkulturellen Raum fand auch um 1860 das Medium der Fotografie Eingang. Auf denselben Wegen wie die Baumwollstoffe gelangten die ersten Fotografen aus Indien an die ostafrikanische Küste. Die meisten von ihnen kamen aus Goa und errichteten – vor Europäern – ihre Fotostudios zuerst auf Sansibar und dann in Mombasa. Sie bestimmten wesentlich die fotografischen Konventionen, die sich an der Küste herausbildeten. In dem hybriden Raum vermittelten sie zwischen den europäischen Kolonialmächten und dem kolonialisierten Afrika als eine dritte Macht und unterliefen von Anfang an westliche Hegemonien.
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An der ostafrikanischen Küste bildeten Textilien ein der Fotografie vorgängiges Medium. Textilien als Technologie, als Medium, das soziale Bedeutungen kodiert, speichert und verarbeitet, gingen der Fotografie voraus und bezogen aus ihr wesentliche Regeln für die Darstellung der Person, die Verknüpfung von Figur und Hintergrund und für die Transformation von Gewebe in einen sozialen Text.2 Umgekehrt hat aber auch die Fotografie auf die Produktion von Textilien zurückgewirkt, nicht zuletzt dadurch, dass Fotos seit etwa 1980 nicht mehr nur in Alben oder Schachteln aufbewahrt, sondern durch neue technische Verfahren auf Textilien gedruckt, auf dem Körper getragen und auf Straßen und Festen bewegt und getanzt werden können. Die Geschichte der Fotografie, so wie sie in Europa erzählt wurde, hat jedoch Textilien als (vorgängiges) Medium weitgehend ausgeschlossen. Die vielfältigen Verbindungen zwischen den beiden Medien wurden kaum zur Kenntnis genommen und noch weniger in eine allgemeine Medientheorie der Fotografie miteinbezogen. Während die gängige Mediengeschichte der Fotografie im Westen im Rahmen der Kunstgeschichte vor allem die Rivalität von Malerei3 und Fotografie betonte und die wechselseitigen Interaktionen und Abgrenzungen zwischen beiden Medien nachzeichnete, blieb die Verbindung zu Textilien weitgehend unberücksichtigt, obwohl sich auch im Westen vielfältige Verknüpfungen zwischen beiden finden lassen. So experimentierten zum Beispiel Gelehrte im 19. Jahrhundert nicht nur mit Kupferplatten, Glas und Papier, sondern auch mit Textilien – Wachsleinen, Seide und schwarzem Leder – als Trägermedium für das Foto.4 Auch westliche Künstler haben immer wieder auf die Verbindung zwischen Fotografie und Textilien Bezug genommen, so Andy Warhol mit den in den 1980er Jahren entstandenen Serien aus zusammengenähten Fotografien. Christian Boltanski erklärte, dass für ihn Kleider eng mit der Fotografie verbunden seien: Ein Kleidungsstück ist – wie eine Fotografie – ein Objekt der Erinnerung an ein Subjekt: „Da ist der Geruch, da sind die Falten, das ist wie eine Hohlform im Vergleich zum Foto.“5 Und Stephan Schenk ließ für seine Installation Kreuzweg von 2014 vierzehn Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in großformatige Tapisserien übersetzen.6 Diese Übertragung von Fotografie in etwas Gewobenes erschafft eine völlig andere Bildlichkeit, ein Bild aus etwas Weichem, das mit Fäden durchsetzt ist, unterschiedliche Muster, Leichentuch und Schicksal evoziert und das Medium Fotografie radikal in Frage stellt. Beide, sowohl Textilien als auch Fotos mit ihren je eigenen Inskriptionen, können mit Bruno Latour als „immutable mobiles“7 betrachtet werden, als ideale Medien des Transfers innerhalb und zwischen verschiedenen Kulturen, weil sie einerseits mobil und leicht zu transportieren sind, andererseits aber stabile Inskriptionen liefern. Sie besitzen zwei Eigenschaften, Mobilität und Zeichenkonstanz, die sich steigern, immer neu kombinieren und in neue Medien übersetzen lassen. Im Folgenden möchte ich – in Fragmenten – eine Mediengeschichte der Fotografie in Afrika erzählen, die mit Textilien beginnt und einigen der Verbindungen, Transfers und Austauschprozessen zwischen den beiden Medien nachgeht. Dabei interessiert mich be-
90 I Heike Behrend
sonders, wie in beiden Medien vor dem Hintergrund eines (aktualisierten) Verbots figurativer Darstellung von Mensch und Tier das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von etwas zu sehen geben und dem Entzug von Sichtbarkeit, ausgehandelt wird.8
Zur Geschichte der kanga Im frühen 19. Jahrhundert – noch vor der Einführung der Fotografie – wurden Herkunft, Abstammung, Klassenzugehörigkeit, Prestige und Status durch die Qualität und Quantität von Textilien zum Ausdruck gebracht, mit denen eine Person ihren Körper bedeckte. Während Sklaven ‚nackt’, ohne Kopfbedeckung, nur mit den billigsten Textilien ihre Scham verhüllten, zeigten Aristokraten ihren Rang in der Fülle kostbarer importierter Stoffe, die mit Gold und Silber durchwirkt oder bestickt, auf kunstvolle Weise Körper und Kopf bedeckten. Ihre Frauen verhüllten auch das Gesicht, wenn sie sich außerhalb des Hauses befanden. Aristokratische Frauen brauchten nicht zu arbeiten; sie lebten in Seklusion und folgten spezifisch muslimischen Reinheitsgeboten, purdah genannt. Dazu gehörte auch ihre ‚Unsichtbarkeit‘ im öffentlichen Raum; wenn eine hochgestellte Frau das Haus verließ, trugen Sklaven eine Art Zelt aus Tüchern, shiraa genannt, das die Frau völlig der Sichtbarkeit entzog, aber ihre (unsichtbare) Präsenz umso mehr betonte (Abb. 1).
1 Frauen, in kangas gekleidet, tragen shiraa. Unbekannter Fotograf, um 1900 (Sammlung Behrend)
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Nach der Abschaffung der Sklaverei um 1890 war es vor allem die Bekleidung des Kopfes und des ganzen Körpers, wodurch ehemalige Sklavinnen ihren neuen – freien – Status bekundeten. Dabei griffen sie auf Baumwolltücher zurück, die als Kanga oder Leso bezeichnet und mit Hilfe moderner Drucktechnik zuerst in Indien und später dann in Manchester und in Helmond (Holland) und seit 1970 auch vor Ort in Kenia und Tansania produziert wurden. Mit elaborierten Verzierungen, Mustern, Beschriftungen und Farben versehen, deren Vorbilder sie aus dem lokalen Repertoire von standardisierten Mustern in Holzschnitzerei oder Gipsplastik in der Architektur von Häusern und Moscheen, aber auch aus Indien, dem arabischen Raum und dem Westen bezogen, gelang es den Frauen, neue ästhetische Konventionen zu erschaffen, die ihren Wert und ihren ‚freien‘ Status zum Ausdruck brachten. Das Wort kanga bezeichnet „Perlhuhn“ und diente wohl ursprünglich zur Bezeichnung eines weit verbreiteten Musters von weißen Punkten auf einem schwarzen Grund, eines Musters, das das Gefieder des Perlhuhns kennzeichnet.9 Kangas werden an der ostafrikanischen Küste auch als leso bezeichnet. Das Wort leso kommt aus dem Portugiesischen und wurde ursprünglich von Portugiesen im 16. Jahrhundert zur Benennung importierter Taschentücher verwendet. Die Taschentücher wurden lokalisiert und zum Wickeltuch weiterentwickelt, in dem man sechs Taschentücher in zwei Reihen à drei Tücher zusammennähte. Definiert werden kanga bzw. leso über ihren gedruckten Musteraufbau: eine rundumlaufende Bordüre, ein großes zentrales Feld und oft eine über der Bordüre angebrachte Inschrift.10 Dieser Musteraufbau mag von Orientteppichen, die an die Ostküste importiert wurden, übernommen worden sein. Das Kanga-Design ist symmetrisch aufgebaut. Sowohl geometrische als auch pflanzliche Muster (Früchte, Blätter von Pflanzen und Blumen) werden für die Bordüre benutzt. Während die Größe der kanga standardisiert ist, variieren und erweitern die Muster permanent das vorhandene Repertoire. Das große Mittelfeld der kanga dient als Fläche, um vor allem die Aneignung moderner Konsumwaren, neuer Medien oder Transportmittel zum Ausdruck zu bringen. So zeigten kangas aus den 1920er Jahren Teller und Tassen, später Flugzeuge und Autos, Raketen, Uhren, Brillen, Radios und heute Handys und Computer (Abb. 2). Am Rand der unteren Webkante einer kanga befinden sich Angaben zum Hersteller, Name und Ort der Tuchfabrik, die Registriernummer des Designs und manchmal auch der Name der Person, die das Muster erschuf und in Auftrag gab. Obwohl es sich hier um eine populäre Textil-Tradition handelt, gibt es also sehr wohl auch den Anspruch auf Autorschaft. Auf den kangas werden einzelne Motive rhythmisch in Serien reproduziert, oder das Motiv wird freigestellt. Muster können verschiedene Grade der Abstraktion erfahren oder eher naturalistisch abgebildet werden. Beide Tendenzen existieren nebeneinander, manchmal vereint auf derselben kanga. Und auch zwischen den einzelnen kangas werden Bezüge, eine Art bildliche und schriftliche Intertextualität hergestellt, die Formen der Parodie, des Zitats und der Anspielung einschließen.
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2 Kanga mit Handtasche, Sansibar, Tansania, um 1960 (British Museum, London)
Jeden Monat kamen und kommen neue kangas auf den Markt. Kangas tragen Namen, und diese Namen werden mit bestimmten Ereignissen und Festen verbunden. Unter Frauen herrscht die Regel, dass zu Festlichkeiten immer ein anderes, neues Gewand getragen werden muss. Das wiederholte Tragen desselben Kleidungsstücks in der begrenzten Öffentlichkeit zum Beispiel einer Hochzeit bringt Verachtung, Spott und den sozialen Tod. Durch das Verbot der Wiederholung erlangen Textilien eine zeitliche Markierung, Datierung und Historizität.11 Sie werden zu ‚Gedenkstoffen’, anhand derer Frauen bestimmte Ereignisse und Festlichkeiten erinnern. Kangas sind auch meist mit Sprichwörtern, Aphorismen oder Rätseln beschriftet, die frühen in arabischer Schrift. Schriftlichkeit hatte und hat an der ostafrikanischen Küste große Bedeutung und verleiht soziales Prestige. Aristokratische Frauen zum Beispiel waren des Lesens und Schreibens kundig und verfassten Gedichte und Aphorismen. Mit den Inschriften auf den kangas versuchten denn auch die ehemaligen Sklavinnen ihren Status zu erhöhen, indem sie ihren Körper mit einem Textil bedeckten, das beschriftet war und sie am Prestige der Schriftlichkeit partizipieren ließ. Arabische Inschriften erlaubten Frauen, sich mit der heiligen Schrift zu umhüllen – und dadurch Ansehen und Schutz zu gewinnen. Die neueren kangas tragen dagegen Beschriftungen in lateinischer Schrift.12 Durch die Inskriptionen von Sprichwörtern und Rätseln erlangen Textilien eine kommuni-
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kative Funktion, die Frauen ermöglicht, zum Beispiel ihrer Rivalin etwas mitzuteilen, was sie direkt niemals sagen dürften. Kangas wie andere Textilien und Objekte in Afrika bringen eine ästhetische Tradition ins Spiel, die auf Bewegung basiert. In der afrikanischen Kunst – und die schließt auch die Textilkunst ein – ist Bewegung von zentraler Bedeutung. Der menschliche Körper und Dinge wie Stühle, Löffel, Masken, Statuen, Textilien und Fotografien werden in Ritualen, auf Festivals und Paraden bewegt und ‚getanzt’. Unbewegte Objekte sind ‚tot’, und Masken, die nicht getanzt werden, müssen in einigen Regionen Afrikas mit einem Tuch verhüllt werden, so dass man sie nicht sehen kann, denn nur im Tanz, in der Bewegung, wenn sie ‚lebendig‘ sind, dürfen sie Sichtbarkeit erlangen. In Rhythmus und Bewegung gewinnen und verstärken sie die Kraft visueller Präsenz.13 Kleidung muss fließen, sie muss sich mit der Person, die sie trägt, bewegen. Erst dann entfalten die Muster, Formen und Farben die ihnen eigene Macht, Vitalität, Schönheit und Dynamik und entwickeln so in der Bewegung auch Wirksamkeit und Transformation. Kangas werden paarweise verkauft. Sie werden hauptsächlich von Frauen getragen, aber in der Intimität des Schlafzimmers auch vom Mann. Kangas begleiten Frauen durch den Lebenszyklus: spezielle kangas werden zur Hochzeit getragen, nach der Geburt eines Kindes, auf Beerdigungen und während der Trauerzeit. Frauen, die die gleichen kangas tragen, identifizieren sich miteinander, zeigen ihre Solidarität gegenüber anderen Frauen, die sie zum Beispiel im Tanz und Gesangswettstreit zu besiegen trachten. Kangas werden auch zu bestimmten Ereignissen angefertigt, um dann als Textil dieses Ereignis zu erinnern und um wiederum durch das Teilen des gleichen Stoffs politische Zusammengehörigkeit oder andere gemeinsame Interessen zum Ausdruck zu bringen. Und heute werden kangas auch Touristen zum Verkauf angeboten. Ausgehend von der ostafrikanischen Küste hat sich die kanga über ganz Ostafrika verbreitet bis in den Kongo, nach Burundi, Ruanda und Somalia und wird auch weltweit in der afrikanischen Diaspora getragen und geschätzt.
Textilien in Fotos (Exkurs nach West-und Zentralafrika) Als die Studiofotografie sich in Afrika etablierte, dienten vor allem Textilien als Hintergrund. Wie keinem anderen gelang es dem Fotografen Seydou Keita (1923–2001) aus Mali, in seine Porträts Textilien einzupassen. Dabei setzte er, wie er in verschiedenen Interviews betonte, anfangs Textilien als Hintergrund eher zufällig ein, weil er sich zu Beginn seiner Karriere teure gemalte oder bedruckte Fotokulissen nicht leisten konnte. Sein erster Hintergrund bestand denn auch aus einem Betttuch, mit dem er vier Jahre lang experimentierte.14 Bis zu seinem Tod vervollkommnete er die Kunst, textilen Hinter- und Untergrund mit den Kleidern und Posen der fotografierten Personen und ihren Accessoires zu verschieden gemusterten Schichten einer Fläche zu komponieren. Das Spiel von Symmetrie, Gleichge-
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3 Seydou Keita, Liegende Frau, Bamako, Mali, 1956–57 (Walther Collection)
wicht und Harmonie zwischen den dargestellten Personen und den Textilien sowie die kleinen eingebauten visuellen ‚Störungen‘ erzeugen eine Spannung und Dynamik, die Textilien eine zentrale visuelle Kraft einräumt und der Würde der Dargestellten nur zuträglich ist (Abb. 3). Wie sein Foto aus den Jahren 1956/57 einer auf einem Textil liegenden Frau deutlich macht, ist die Komposition des Bildes wesentlich von den Textilien geprägt. Die strukturellen Regeln und Muster der Textilien werden auf den gesamten fotografischen Flächen/ Raum ausgedehnt. Das schwarz-weiße, rechtwinklige Gittermuster des Untergrundes, auf dem die Frau liegt, könnte dabei als eine Reflektion der Webtechnik selbst angesehen werden, da die Gewebestruktur von Faden und Schuss im Gittermuster ihre Entsprechung findet. Das Foto hat keine Tiefe. Die abgebildete Frau scheint zu schweben; sie ist kaum vom Hintergrund abgesetzt, passt sich vielmehr in ihn ein. Gegen die ins fotografische Dispositiv eingebaute Zentralperspektive wird das Bild zu einer bewegten Fläche mit einer Komposition aus floralen und geometrischen Mustern. Es verschmilzt zu einem Gewebe aus Linien, Punkten und Karos in schwarz-weißen Tönen. In Abbildung 4 ist die Komplexität der textilen Assemblage noch weiter getrieben. Die verschieden gemusterten Stoffe schichten sich in ihren diversen Mustern und Farben auf der Bildoberfläche auf und lassen auch hier den Bildraum flach werden. Im Foto gelingt es, einerseits die
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4 Samuel Fosso, Le Chef: Celui qui a rendu l’Afrique aux Colons, Selbstporträt, Bangui, Zentralafrikanische Republik 1997
Stofflichkeit der Textilien im fotografischen Bildraum zu veranschaulichen und ihn gleichzeitig zu fragmentieren und dadurch auch zu rhythmisieren. Auch hier wird – wie bei Seydou Keita – auf Faltungen und Schattenbildungen, die Plastizität und Räumlichkeit herstellen, verzichtet. Der Stoff mit den Spiegeln an beiden Seiten liefert zusätzlich einen ironischen, selbstreflexiven Kommentar zum Selbstporträt des Fotografen. Fotografien übernehmen und verdoppeln also zahlreiche Funktionen von Textilien, zum Beispiel als Statussymbol zu fungieren oder ein Ereignis zu erinnern. Beide Medien agieren als Spur, als Index, und können in bestimmten sozialen Kontexten fetischistische Qualitäten annehmen und als Teil einer Person auftreten. Beide eignen sich auch, die Ab-
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wesenheit einer Person zu markieren und sie anwesend zu machen und beide können in Bewegung und Tanz ‚lebendig‘ werden. Beiden, Textilien und Fotos, ist eine relationale Kraft eigen; sie transformieren den Körper in eine Art Vehikel, um vor allem auch soziale Beziehungen sichtbar zu machen und sie gleichzeitig zu bestätigen und zu stärken. Beide dienen als Stoff des Sozialen. So wie der gemeinsame, geteilte fotografische Raum, so markiert auch der geteilte Stoff soziale Nähe. Die Fotografie verdoppelt Einheit und soziale Nähe, die durch das Teilen desselben Stoffes hergestellt wird (Abb. 5). Fotografie überführt Textilien in ein anderes Medium, das die Dargestellten in ihren Kleidern auf Dauer stellt, sie in gewisser Weise unsterblich macht. Und auch die auf den Textilien aufgebrachten Muster und Inschriften werden in den Fotos verdoppelt und liefern zusätzliche Subtexte, die von
5 Frauen, die den gleichen Stoff teilen, Parekh Studio, Mombasa, Kenia, um 1970 (Sammlung Behrend)
Fremden nicht unbedingt verstanden werden.
Ornamentalisierung von Fotografien In diesem letzten Teil meines Beitrags kehre ich an die ostafrikanische Küste zurück und möchte am Beispiel der Fotocollagen des Bakor Studios weitere Beziehungen zwischen Fotografie und Textil aufzeigen und auf das Verhältnis von Sichtbarkeit und ihrem Entzug vor dem Hintergrund des „Bilderverbots“15 zurückkommen. Ich stelle lokale Interventionen vor, die das Medium Fotografie so transformiert haben, dass es den sozialen, kulturellen und religiösen Werten des Islams der 1970er und 1980er Jahre entsprach. Das Bakor Studio auf Lamu, einer Insel im Norden der kenianischen Küste, liegt versteckt in einer der engen Straßen der alten Stadt. Es wurde in den 1960er Jahren von Omar Said Bakor (1932–1993) gegründet. Er war ein brillanter Bricoleur, ein selfmade man, der mit unterschiedlichen Montagetechniken experimentierte, „to make strange things possible and for fun“, wie einer seiner Söhne mir erklärte. In seinen Fotocollagen stellte Bakor auf eine spielerische Art eine Verbindung zu den afrikanischen Kunsttraditionen her, die Erstaunen und Überraschung zu erzeugen suchen.
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Wie die magischen Realisten und die Surrealisten in Europa experimentierte er mit den unterschiedlichsten Beziehungen zwischen Menschen und Dingen und transformierte auf radikale Weise ‚fotografische Realität’. Obwohl die Fotografie eigentlich die Simultaneität des realen Raums fixiert und garantiert, zerschnitt Bakor eben diesen Raum und erzeugte emphatische Zwischenräume zwischen verschiedenen ‚Fragmenten der Realität’. Wie ein Schneider, der einen Stoff zuschneidet, so schnitt Bakor Fotos in Stücke, um sie neu zusammenzusetzen. Die Schere wird vor diesem Hintergrund ein Arbeitsinstrument, das Fotografen und Schneider teilen. In Gambia wird, wie der Ethnologe Liam Buckley ge6 Bakor Studio, Lamu, Kenia, um 1975 (Sammlung Behrend)
zeigt hat, die (analoge) Fotografie so stark mit dem Akt des Schneidens assoziiert, dass Kameras als „scissors for seeing“16, als „Scheren zum Sehen“ bezeichnet werden. Das fotografische Bild ist hier nicht so sehr Abdruck oder Spur, sondern ‚cut’, ein Schnitt durch Raum, Zeit und
Papier, der immer auch auf das verweist, was sich im Off, im nicht Sichtbaren und Ausgeschlossenen befindet. Bakor schnitt Köpfe aus fotografischen Porträts aus und montierte sie in florale Muster. An der ostafrikanischen Küste bilden geometrische und florale Motive wie waridi (Rose), yungi-yungi (Wasserlilie), shoki-shoki (eine Art Lychee) sowie die Blätter verschiedener Pflanzen wie kulabu standardisierte Muster, „immutable mobiles“, die von einem Medium zum anderen wandern, von Textilien – kangas, Teppichen und Matten – zu Gipsreliefs, Holzschnitzereien und sogar Fotos (und zurück). Er ornamentalisierte also die Fotografie und bestätigte damit eine Tendenz innerhalb der islamischen Kunst, nämlich zu ornamentalisieren, was auch immer in ihren Bereich fällt (Abb. 6).17 Durch die Verbindung mit floralen Ornamenten werden die Porträts Teil einer Oberflächendekoration und verstärken somit die generellen Prinzipien islamischer Kunst: den Anti-Naturalismus und die Tendenz zur Abstraktion. Die Fragmentierung und dekorative Zusammensetzung der Oberfläche verhindert, dass das Porträt für sich allein steht. Stattdessen wird es zu einem Verbindungspunkt, einer Relay Station mit anderen eher abstrakten Einheiten. Tatsächlich wird dem Raum zwischen den Formen genauso viel oder sogar mehr Bedeutung beigemessen als den Formen selbst, und auf diese Weise trägt das Ornament dazu bei, zu verhindern, dass der Betrachter sich in dem Porträt verliert. Das Ornament wird zum Hindernis der Idolatrie. Auch die Motive auf Spielkarten haben den Fotografen Omar Said Bakor zu seinen Collagen inspiriert. Es waren wieder die Portugiesen, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts nicht nur die bereits erwähnten Taschentücher, sondern auch Spielkarten an die ostafrikanische Küste brachten. Die Swahili-Worte kopa (Herz) und shupaza (Pique oder umgekehrtes Herz) wurden aus dem Portugiesischen ins Swahili übernommen. In Bakors Collagen werden Herz und vor allem Pique, wie auf den textilen kangas, in ornamentale Elemente transformiert, in die das fotografische Porträt eingelassen ist (Abb. 7).
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7 Bakor Studio, Lamu, Kenia, um 1975 (Sammlung Behrend)
Ornamentalisierung der Porträts kann also als Versuch gesehen werden, vor dem Hintergrund des ‚islamischen Bilderverbots‘ die Bedeutung des fotografischen Porträts zu reduzieren, gleichzeitig aber auf die eigentlich verbotene Abbildung der Person nicht zu verzichten. Obgleich der Künstler im Islam in seinen Darstellungen die göttliche Schöpfung nicht wiederholen darf – das wäre Hybris –, gewinnt er durch die Ornamentalisierung die Freiheit, mit Fragmenten der göttlichen Welt in ihrer Abstraktheit zu spielen und sie zu neuen Einheiten zusammenzusetzen. Das Ornament in der islamischen Kunst wurde als eine symbolische Form interpretiert, die sich der westlichen Konvention der Zentralperspektive entgegenstellt.18 Obwohl die Linearperspektive in den fotografischen Apparat eingeschrieben ist, bewirkt die Ornamentalisierung der Fotografie den Kollaps der Dreidimensionalität und reduziert das Bild auf eine Fläche. Vor diesem Hintergrund kann die Ornamentalisierung der Fotografie nicht nur als der Versuch gesehen werden, die Zentralität des fotografischen Porträts zu mindern, sondern auch als eine Form der Subversion der dem Apparat eingeschriebenen Zentralperspektive. In zahlreichen von Bakors Collagen findet die romantische Liebe Darstellung. Er nutzte zwei Symbole, das Herz und die Rose, die beide ebenfalls zum Musterrepertoire der Küste gehören, um das Ideal der romantischen Liebesheirat zum Ausdruck zu bringen. Insbesondere indische Bollywood-Filme, die auf Lamu vor allem von jungen Frauen konsumiert werden, haben das romantische Liebesideal nochmals aufgewertet und dazu geführt, dass viele junge Leute auf einer romantischen Liebesheirat bestehen.
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8 Bakor Studio, Lamu, Kenia, um 1980 (Sammlung Behrend)
Dennoch hat die Aktualisierung von Vorstellungen weiblicher Reinheit, die die Geschlechtertrennung und die ‚Unsichtbarkeit‘ von Frauen im öffentlichen Raum und ihre Ausdehnung und Übersetzung in die Fotografie einschließt, bewirkt, dass viele muslimische Frauen zu verhindern suchen, dass ihre Porträts im öffentlichen Raum zu sehen sind. Fotos von ‚anständigen‘ Frauen sind dort nicht zu finden, denn diese sollten nur für den eigenen Ehemann und enge Verwandte sichtbar sein. Da aber gerade junge Männer auf ein Foto, auf dem sie zusammen mit dem anderen Geschlecht zu sehen sind, nicht verzichten wollten, fand Bakor Ersatz in der berühmten indischen Schauspielerin Sri Devi. Er montierte ihr Bild zusammen mit dem Porträt seiner jeweiligen Kunden in eine Collage. Dabei spielte er mit den Themen von Präsenz und Abwesenheit, Begehren und Imagination. Er mischte den Phantasie-Raum indischer Filme mit der Indexikalität der Fotografie und intensivierte das Spiel von Konformität und Überschreitung, indem er ein technisches Medium einsetzte, das imaginäre Überschreitungen der Geschlechtertrennung durch entkörperlichte Darstellungen im Foto möglich macht (Abb. 8). Auch in dieser Collage bildet Sri Devi eine ‚Deckerscheinung’, in deren Herzen sich das Gesicht eines Mannes und darüber das transparente Antlitz einer anderen Frau befindet, die eigentlich nicht hätte abgebildet werden dürfen. Sie erscheint auf der Oberfläche wie ein Schatten. Es ist, als ob diese Collage – wie die Fotos von Seydou Keita oder Samuel Fosso – aus verschiedenen Schichten bestehen, die je auf etwas darunter Verborgenes verweisen. Auch Fotos wären in diesem Zusammenhang vor allem eine Oberfläche, die zeigt, dass sie verdeckt und entzieht und gerade daraus ihre besondere Macht gewinnt.
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Anmerkungen 1
Elisabeth Linnebuhr: Sprechende Tücher. Frauenkleidung der Swahili (Ostafrika). Ausst.Kat. Lindenmuseum. Stuttgart 1994, S. 11.
2
Kerstin Pinther: „Wenn die Ehe eine Erdnuss wäre...“. Über Textilien und Fotografie in Afrika. In: Snap me One! Studiofotografen in Afrika. Hrsg. von Tobias Wendl/Heike Behrend. München 1998, S. 36–41.
3
Während in Europa die Fotografie im Schatten der Malerei um ihre Anerkennung kämpfen musste, konnte sie sich in Afrika auf einer von der Malerei nicht besetzten Leerstelle etablieren. Es gelang ihr in Afrika, nachhaltig auf die figürliche Malerei Einfluss zu nehmen und ihr als Vorbild zu dienen. Wendl/Behrend 1998 (Anm. 2), S. 11.
4
Ich möchte Timm Starl sehr herzlich für seine Informationen danken. Er nannte mir das Verfahren der „Pannotypie“, das von 1853 bis Anfang der 1860er Jahre angewendet wurde. Dabei dienten, wie oben im Text erwähnt, schwarzes Leder oder Wachsleinen als Träger für das fotografische Bild. Die Bilder waren jedoch sehr empfindlich, es bildete sich schnell Krakelee, weshalb man sie gewöhnlich unter Passepartout und in Rahmen aufbewahrte. Später, bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, wurden Fotografien auch auf Seide hergestellt und für Lampenschirme, Fächer etc. verwendet. In Japan experimentierten Fotografen sehr früh schon mit Seide als Trägermedium.
5
Christian Boltanski: Interview. In: Theories and Documents of Contemporary Art. A Sourcebook of Artists‘ Writings. Hrsg. von Kristine Stiles/Peter Selz. Los Angeles 1996, S. 238.
6
Stephan Schenk: Kreuzweg. Vierzehn Aufnahmen von Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Hrsg. von der Fotostiftung Schweiz. Winterthur 2014.
7
Bruno Latour: Visualisation and Cognition: Drawing Things Together. In: Knowledge and Society, 6, 1986, S. 1–28.
8
Heike Behrend: Contesting Visibility. Photographic Practices on the East African Coast. Bielefeld 2013.
9
David Parkin: Textile as Commodity, Dress as Text: Swahili Kanga and Women’s Statements. In: Textiles in Indian Ocean Societies. Hrsg. von Ruth Barnes. London/New York 2005, S. 47–67, hier S. 47.
10 Linnebuhr 1994 (Anm. 1), S. 21. 11 Vgl. Heike Behrend: The Terror of the Feast. Photography, Textiles and Memory in Weddings along the East African Coast. In: Photography in Africa. Ethnographic Perspectives. Hrsg. von Richard Vokes. Oxford 2013, S. 229–240. 12 Parkin 2005 (Anm. 9), S. 49 ff. 13 Robert Faris Thompson: African Art in Motion. Washington DC 1974. 14 Elizabeth Bigham: Issues of Authorship in the Portrait Photographs of Seydou Keita. In: African Arts, 32, 1, 1999, S. 56–67; 94–96. 15 Zum Problem des Bilderverbots siehe Behrend 2013 (Anm. 8), S. 77–81. 16 Liam Buckley: Studio Photography and the Aesthetics of Citizenship in The Gambia, West Africa. In: Sensible Objects. Colonialism, Museums and Material Culture. Hrsg. von Elizabeth Edwards/ Chris Gosden/Ruth B. Philips. Oxford 2006. 17 Oleg Grabar: Die Entstehung der Islamischen Kunst. Köln 1977, S. 262. 18 Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München 2008, S. 42.
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Ülkü Süngün
Transitional Objects Meine Fotoserie Transitional Objects1 (Abb. 1–6) ist eine fotografische Auseinandersetzung mit transkulturellen Erfahrungen, der Frage nach kultureller Identität und dem Heimatbegriff. Dieser Thematik gilt seit Jahren mein künstlerisches und forschungsbasiertes Interesse. Die Arbeit an der Fotoserie Transitional Objects hat mich zum Thema Ornament geführt. Ich möchte den Arbeitsprozess in diesem Text wiedergeben und dabei die drei Begriffe (inszenierte Objekt-) Fotografie, Ornament und Migration miteinander verweben und in Beziehung zu den Fotografien der Serie setzen. In meiner künstlerischen Arbeit greife ich oft auf die Fotografie als Medium zurück, um einen Zugang zu Themen, Orten und Dingen zu bekommen, zu denen ich ein ambivalentes Verhältnis habe. Der Prozess der Bildfindung ist begleitet vom Handeln im Bild-Akt2 und der Reflektion, die durch den Dialog mit dem Bild hervorgerufen wird. Im Entstehungsprozess präzisiert sich oft die – zu Beginn – unklare Frage, mit der ich an die Themen herantrete. Manchmal findet sie eine Antwort. Die mögliche nachträgliche Veränderung des Sehens durch das fotografische Bild, ja, der nur so mögliche Dialog mit dem Bild ist für mich einer der Hauptgründe zu fotografieren. Ausschlaggebend hierfür ist die spezifische Funktion der Fotografie als indexikalisches Zeichen 3 und das Prinzip seiner automatischen Genese. Die automatische Genese bezieht sich auf den rein technischen Entstehungsprozess der Fotografie. Hierzu Philippe Dubois: „Nur in diesem unendlich winzigen Moment [in dem der Lichttransfer vom fotografierten Objekt auf den lichtempfindlichen Träger stattfindet, Ü.S.], in dieser Erschütterung der Dauer ist das Foto die reine Spur eines Aktes, nur in diesem Moment unterhält es zu seinem Referenten eine Beziehung der vollständigen Unvermitteltheit, der wirklichen Ko-Präsenz und der physikalischen Kontiguität.“4 Nur für diesen Moment kann das Foto als „Botschaft ohne Code“ nach Roland Barthes bezeichnet werden, weil „nur hier [...] der Mensch nicht eingreift und nicht eingreifen kann, wenn er den grundlegenden Charakter der Fotografie nicht modifizieren will. Aber außerhalb des Aktes der Belichtung wird das Foto sofort wieder in die Codes gepresst und eingeschrieben“5. Diesen konstitutiven Moment beschreibt Dubois auch als Riss oder Punkt, in dem die Codes vergessen werden. Er wird aber eingekreist, eingekesselt und bestürmt von den kulturellen Formen der Repräsentation, von deren Arbeit die fotografische Botschaft weitestgehend bestimmt ist. Die Aufladung des Bildinhaltes mit Symbolik und Bedeutung oder die Hervorhebung materieller Eigenschaften des Mediums und somit seiner Präsenz sind weitere Ebenen, die sich um diesen Riss legen.6
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1 Ülkü Süngün, Transitional Objects, 2012, Fotoserie, bestehend aus insgesamt acht Fotografien, 150 x 100 cm, Farb-Pigmentdruck auf Aludibond
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Migrationsgeschichten und Entstehung einer Fotoarbeit Die Arbeit entwickelte sich im Spannungsfeld meines ambivalenten Verhältnisses zu türkischen Geschäften und Supermärkten in deutschen Städten, speziell in Stuttgart. Einerseits fühle ich mich als gebürtige Istanbulerin in ihnen heimisch, andererseits lösen die damit für mich verbundenen Rollenzuschreibungen Unbehagen aus. Meine Kindheit verbrachte ich mit meiner Familie in Deutschland, meine Jugend in Istanbul. Erst zum Studieren kam ich wieder nach Deutschland zurück und blieb. Ich gehe daher gerne in türkischen Geschäften in Deutschland einkaufen, weil ich meine Muttersprache hören und sprechen sowie in einer mir aus der Türkei vertrauten Art und Weise einkaufen kann; ich kann beispielsweise über den Preis verhandeln und Lebensmittel bekommen, ohne deren Geschmack etwas in meinem Leben fehlen würde. Doch die in den Geschäften erhältlichen Gegenstände sind Accessoires eines kulturellen Lebens, das mir teilweise fremd und unheimlich ist. Dies spiegelt sich auf der Ebene der dort vorgefundenen Objekte wieder: Durch ihre besondere Farbigkeit und das Wissen über ihren kulturellen Gebrauch faszinieren sie mich und ziehen mich stark an. Doch im selben Moment erscheinen mir einige Objekte sehr fremd, da ich sie entweder nicht kenne oder noch nie verwendet oder gekauft habe. Ich beziehe sie, urban und westlich orientiert aufgewachsen, eher auf einen ländlichen oder tief religiösen Lebensstil, der mir nicht vertraut ist. Mein Interesse an diesen Orten und an diesen Objekten war die Hauptmotivation für diese Arbeit. Zunächst begann ich von der Straße aus die Geschäfte und die Menschen zu fotografieren. Doch die Objekte, die mich faszinierten, waren nicht sichtbar. Ich bat in den Geschäften um eine Fotoerlaubnis, die ich zum Teil erhielt. Als ich dann jedoch mit meiner Ausrüstung in den Geschäften oder Restaurants erschien, wurde ich trotz Erlaubnis von irritierten Kunden angefeindet, in welcher Absicht ich denn fotografiere und wo das veröffentlicht werde. Ich konnte mein Anliegen nicht verständlich machen und erklären, dass es sich um ein Kunstprojekt handelt. Weil mein Handeln so befremdlich war, wurde ich auch in den Geschäften, für die ich eine Fotoerlaubnis eingeholt hatte, gebeten zu gehen. Alles Bitten half nichts. Um dennoch weiterarbeiten zu können, bemühte ich mich, über einen Besuch im Kahve7 des Viertels Zugang zu den vorstehenden Personen der Gemeinde zu bekommen. Ich gab mich als Lehrerin – zu Türkisch Hoca – an der Kunstakademie aus, was eine Notlüge war. Ich wolle mit meinen Studierenden ein Fotoprojekt machen und bitte zu Lehrzwecken um Bewegungsfreiheit in den Geschäften. Lehrer genießen ein gewisses Ansehen und so erwarb ich mir nach und nach Vertrauen. Trotz allem merkte ich, dass ich unter dieser enormen Anspannung vor Ort nicht arbeiten konnte. In meinen Bildern begegnete ich meinem ängstlichen Blick. Deshalb entschloss ich mich, die Dinge, die ich fotografieren wollte, zu kaufen oder gegen Kaution auszuleihen. Ich nahm die für mich interessanten Objekte aus ihrer ‚natürlichen‘ Umgebung heraus und begann, sie einzeln im Studio vor weißem Hintergrund zu fotografieren. Es waren vor allem preiswerte Massenprodukte, die größtenteils in China hergestellt werden. Mitunter
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fühlte ich mich wie eine erfolglose Ethnologin, die für ein Archiv die Objekte inventarisiert, da sie in der Feldforschung gescheitert war. Gleichzeitig nahm ich die – möglicherweise als kitschig zu bezeichnenden – Dinge sehr ernst und wollte sie durch die Fotografie neu sehen. Ich wollte sie verstehen, analysieren und mehr über sie erfahren. Ausgehend von diesem ‚Grundvokabular‘ an Objektfotografien, die der Kurator Adnan Yıldız als mein „persönliches ABC der Objekte“8 bezeichnete, habe ich dann Bildpaare zusammengestellt. Mit diesen konnte ich Geschichten erzählen über verschiedene Aspekte der türkischen Gesellschaft in Deutschland, etwa ihre Bräuche, religiöse Handlungen oder Hochzeitsrituale. Trotzdem offenbaren diese Bilder ihre Geschichte nur den Betrachterinnen und Betrachtern, denen die Objekte bekannt sind. Anderen bleiben sie häufig seltsam fremd. Viele Menschen außerhalb des türkischen Kulturkreises ‚erkannten‘ sie als etwas völlig anderes, was mich überraschte. Die erwartete Offenlegung von Zuschreibungspraktiken bezüglich ‚migrantischer Gegenstände‘ war nicht aufgegangen, da sie noch nicht mal als solche erkannt wurden. Der Wunsch, fotografisch genau zu analysieren, hatte dazu geführt, dass die Objekte zwischen meinen Fingern zerrannen. Beeinflusst durch die Reaktion der Betrachter, begann ich mich über die Objekte im Studio zu wundern. Die Möglichkeit des end- und ziellosen Fotografierens von Dingen erschreckte mich, sodass ich aufhörte, sie auf diese Weise zu fotografieren: Ich war in meinem Arbeitsprozess an einen Punkt gelangt, an dem es nicht weiterging. Um meine Situation zu reflektieren und die bisherige Arbeit zu hinterfragen, suchte ich das Gespräch mit Kunstwissenschaftlern, Philosophen, Kuratoren, Künstlern und Freunden, die in anderen Bereichen tätig sind.
Dekontextualisierung Eines der ersten Gespräche über meine Fotografien führte ich mit Kathrin Busch9, die die dargestellten Objekte ebenfalls nicht zuordnen konnte. Im Gesprächsverlauf wurden mir die Gründe hierfür klar: Durch die Wahl des neutralen weißen Hintergrunds hatte ich die Bild-Objekte isoliert. Aufgrund des fehlenden Maßstabs konnte nicht auf die tatsächliche Größe der Objekte geschlossen werden. Außerdem gab das Bild nur eine einzige Ansicht des realen Objektes wieder. Derart dekontextualisiert, waren die Bild-Objekte keinem Diskurs zugehörig und schwer zu ‚lesen’. Kathrin Busch forderte mich auf, mich für einen Diskurs zu entscheiden. Mir wurde klar, dass ich genau diese Entscheidung bisher mit allen fotografischen Mitteln versucht hatte zu vermeiden. Ich bemerkte auch, dass die Bedeutung, der Sinn und die Funktion der Objekte Konventionen und Codes unterliegen, die durch meinen kulturellen Bezug gebildet werden. Fehlt dieser, werden die Objekte vogelfrei und leer, sodass sich neue Identitätskonstruktionen an ihnen niederschlagen können. Roland Barthes fragt in seinem Aufsatz Die Semantik des Objekts10, wie die Menschen den Dingen Sinn verleihen. Um den Sinn zu erfassen, um ihn zu objektivieren und seine Bedeutung zu strukturieren, fordert er eine Distanz zum Objekt, die er durch ihre Reprä-
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sentation herstellt: Er entwickelt seine Überlegungen am Beispiel der Film- und Bildwerbung. Neben dem Verwendungszweck und der Funktionalität eines Objektes, das hierdurch zum Vermittler zwischen der Handlung und dem Menschen in der Welt wird, schreibt Barthes dem Objekt auch die Übermittlung von Sinn zu, „der die Verwendung des Objekts“ übersteigt: „Der Sinn entaktiviert das Objekt, macht es intransitiv, er weist ihm einen starren Platz in dem zu, was wir als ein lebendes Bild des menschlichen Imaginären bezeichnen könnten.“ 11 Das Bezeichnete der Objekte hängt für Barthes stark vom Leser ab. Dabei sind die Objekte mehreren Sinnlektüren zugänglich. Diese unterschiedlichen Sinnlektüren, bedingt durch Wissen, Kultur, Situation oder Psyche, seien auch im selben Leser möglich. Die Grenzerfahrung der Begegnung mit einem Objekt, das dem Leser unbekannt ist, sei Auslöser für ein Trauma und eine Unruhe und die Suche nach Sinn: „Ganz allgemein gibt es in unserer Gesellschaft keine Objekte, die nicht schließlich einen Sinn liefern und sich wieder in den großen Code der Objekte einfügen.“12 Er führt diese Bewegung der Objekte, die ich als Verwandlung bezeichne, auf das Ringen zwischen Funktion und Bedeutung zurück, die eine dritte Phase, die letzte Umwandlung des Zeichens in eine utopische, irreale Funktion erforderlich macht: „Die Funktion bringt das Zeichen hervor, aber dieses Zeichen wird in das Schauspiel einer Funktion zurückverwandelt. Ich glaube, gerade diese Umkehrung der Kultur in Pseudonatur kann die Ideologie unserer Gesellschaft definieren.“13 Die Produktion von Sinn der Bild-Objekte interessierte mich. Diese Differenz zwischen dem Objekt in einer außerbildlichen Realität und seiner Repräsentierung im Bild, also dem Bild-Objekt, bringt eine innere Distanz (zeitlicher und räumlicher Natur) mit sich. Darüber wird eine Verhandlung erst ermöglicht.
Übergangsobjekte Parallel zu meiner praktischen Arbeit setze ich mich mit Theorien auf den Gebieten der postcolonial studies und Migrationsforschung auseinander. Insbesondere die phänomenologische Abhandlung über das Fremde14 des Philosophen Bernhard Waldenfels beschäftigte mich sehr und warf viele Fragen in Bezug auf meine Fotografien auf. Ich kontaktierte ihn und so kam es zu einem mehrstündigen persönlichen Gespräch über ‚das Fremde’. Er bezeichnete beim Anblick meiner Bilder diese Bild-Objekte als meine Übergangsobjekte, die ich befrage. Der von Donald J. Winnicott15 eingeführte Begriff der Übergangsobjekte oder Transitional Objects war in Zusammenhang mit meiner Arbeit sehr produktiv für mich. Er bezeichnet Objekte, die ein Kleinkind während des Abstillens als Brust-Ersatz und Trost nutzt – es handelt sich oft um den Daumen, eine Stoffecke oder ein Kuscheltier. Damit überbrückt es die Zeit der Trennung und besitzt in einer solch passageren Situation ein gänzlich verfügbares Objekt. Da der englische Begriff Transitional Objects meine Absicht und Suche treffend beschrieb, wählte ich ihn als Titel für die Arbeit. Ich weise über den Titel die in meinen Fotos dargestellten Objekte aus den türkischen
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Geschäften demnach als meine Übergangsobjekte aus, die bei der Abwesenheit des Mutterlandes, meiner Heimat, Trost spenden. Dieser Begriff öffnete mir in meinen Fotografien einen Raum, in dem es noch keine klaren Zuweisungen, weder Objekte noch Subjekte gibt, und in dem ich durch das Spiel im Feld der Kunst Sinn, Bedeutungen, Objekte und Subjekte neu stiften kann. In dem zu Beginn beschriebenen Riss, in dem die Codes vergessen sind und von dem eine metonymische Kraft16 ausstrahlt, möchte ich den beschriebenen Raum ansiedeln. Mir wurde mein Wunsch bewusst, über diese Bild-Objekte meine deutsch-türkische Identität zu befragen.
Transkulturalität und künstlerische Strategien Wie setzen sich andere Künstler und Künstlerinnen mit ihrer kulturellen Identität auseinander? Eine für mich wichtige Position ist das Werk der Künstlerin Gülsün Karamustafa. Insbesondere interessiert mich ihr Umgang mit Objekten in ihren Installationen. Sie stellte ihre Arbeit Etiquette in Stuttgart aus.17 Diese zeigt eine Tischgesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts in Kombination mit einer Benimmfibel. „In diesem historisch anmutenden Salon wurden zum einen gesellschaftliche Konditionierungen festgeschrieben, zum anderen geschlechtsspezifische Rollen eingeübt.“18 Im Anschluss an ihre Ausstellungseröffnung hörte sich Gülsün Karamustafa in einem Gespräch meine Fragen an und riet mir: „Leg diese Kamera aus der Hand, berühr die Objekte und arbeite mit ihnen!“ Sie hatte mich durchschaut: Anstatt die begehrten Objekte zu berühren, hielt ich mich ängstlich am Fotoapparat fest und versteckte mein Auge dahinter. Ich nahm ihre Anregung auf und schloss mich mit den bisher durch spontanen und emotionalen Kauf erworbenen Objekten mehrere Tage im Fotostudio ein und begann mit ihnen zu spielen. Ich baute Installationen auf, verkleidete mich, zweckentfremdete Objekte, machte Selbstporträts, gab mich lustvoll den Farben und Mustern hin und fotografierte dies. So sind die ersten Bilder der Serie entstanden. In den Bildern und durch sie fand ich eine erste befriedigende Antwort auf meine Fragen. Für mich haben sie einen Raum geöffnet, in dem ich jenseits fester kultureller Zuschreibungen die Objekte aus ihrem Kontext losgelöst in neue Beziehungen und Sinnzusammenhänge stelle. Erst dadurch werden ihre Konnotationen sichtbar und hinterfragbar. Ihre mitgelieferten und von mir kulturell erlernten Funktionen und Bedeutungen weise ich zurück. Ich kombiniere sie neu, spielerisch und frei nach ästhetischen Gesichtspunkten und Kriterien, die dadurch sicht- und fassbar werden. Genussvoll begehe ich Tabubrüche, die sich erst in dem sie begleitenden Unbehagen für mich als solche entpuppen. Die visuelle Hierarchielosigkeit in den Fotografien wirkt zurück auf die Objekte. Im Bildraum werden scheinbar gleichstellend und schwerelos anmutend materielle Werte der Objekte belanglos und es treten visuelle Werte, andere Kategorien und Qualitäten wie Form und Farbe bedeutungsvoll in den Vordergrund. Die Referenz der Formen ist jedoch stets zu erkennen und spukt als Spur im Bild herum.
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2 Transitional Objects, 2012, Fotoserie, 150 x 100 cm, Farb-Pigmentdruck auf Aludibond
3 Transitional Objects, 2012, Fotoserie, 75 x 50 cm, Farb-Pigmentdruck auf Aludibond
– ramacı19 schreibt über meine Serie Transitional Objects: „Ihre Provenienz als Burcu Dog dezidierte Gegenstände von Migranten sollte dabei weniger verwischt als vielmehr befragt werden: In ihren Reinszenierungen, bei denen oftmals skulpturale Formen geschaffen und durch das Medium der Fotografie in die Zweidimensionalität überführt wurden, geht es um die Wirkmacht von Objekten und zugleich um Projektionen, denen sie als Stellvertreter für eine gesellschaftliche Gruppe ausgesetzt sind.“20 Gestartet bin ich mit phänomenologischen und ethnologischen Methoden und der Ausgangsfrage: Haftet diesen Dingen etwas aus ihrem kulturellen Kontext an oder bringt lediglich der Betrachter dieses Wissen mit? Doch auf dem unbestimmten Terrain der Fotografie erweisen sich für mich solche Festlegungen immer als haltlos.
Inszenierungen Mit den Fotografien ist die Erprobung unterschiedlicher Herangehensweisen verbunden: Die Aufnahmen halten über einen längeren Zeitraum aufgebaute Installation (Abb. 1, 4, 5, 6) als auch einen mir wichtigen Moment21 innerhalb einer Bewegung fest (Abb. 2, 3). Bei
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den Bildern mit der balancierenden Hand oder dem aufgestellten Fuß handelt es sich um die Momentaufnahme einer Situation, die im nächsten Augenblick kippt. Die Aufnahme musste viele Male wiederholt werden, bis der richtige Augenblick eingefangen war. Indem ich performativ absurde Gesten mit unterschiedlichen Requisiten zeige, wird der Bildraum zur Bühne für meine Selbstinszenierung. Über technische Entscheidungen wie durchgehende Schärfentiefe und fast schattenfreie Ausleuchtung erreiche ich einen sehr flachen Bildraum, der nahezu symmetrisch aufgeteilt ist. Der räumliche Hintergrund verschmilzt im Bild mit den frei stehenden, oft mehrfach verwendeten Bild-Objekten, die dadurch den Bildgrund strukturieren. Arbeitete ich im Bereich der Installation, wären auch nicht-symmetrische Ansichten möglich. Mich interessierte aber gerade die Symmetrie. Sie bringt für mich eine Form der visuellen, aber auch der inhaltlichen Balance und Ordnung der oft von mir aufgetürmten Objekte ins Bild. Die hergestellte Symmetrie fühlte sich gut und richtig an. Außerhalb des fotografischen Bildraumes bzw. der Bühne herrschte in meinem Atelier das absolute Chaos. Ein Zustand, der aber auch latente Bilder in sich barg. Durch die Verwendung von Tisch- oder Tagesdecken als Hintergrund wollte ich eine Art Schwindelgefühl erzeugen, so dass vertraute räumliche Orientierungspunkte kippen.
4 Transitional Objects, 2012, Fotoserie, 150 x 100 cm, Farb-Pigmentdruck auf Aludibond
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5 Transitional Objects, 2012, Fotoserie, 150 x 100 cm, Farb-Pigmentdruck auf Aludibond
Mit dem Kippen und Zusammenbrechen habe ich beim Aufbau der Installationen bewusst gearbeitet: In Transitional Objects, 2012 (Abb. 5) stehen die Teegläser zur Hälfte über der Kante des Sofra22; nur der kleine Teelöffel lässt sie durch seine Ausrichtung stabil stehen. Der Aufbau in Transitional Objects, 2012 (Abb. 4) ist sehr fragil; mehrmals ist er zusammengebrochen. Diese Fragilität und Instabilität setzte auch den Installationen ihre Grenzen. Die aufwendigeren Aufbauten benötigten vier bis sechs Wochen bis zu ihrer Fertigstellung. Waren die Probebilder nicht stimmig, fehlte ihnen etwas, begann ich, nach Objekten mit bestimmten Qualitäten in den türkischen Geschäften zu suchen. War das Bild zu überladen, nahm ich Dinge aus der Installation heraus und reduzierte. Das Hantieren mit den Objekten brachte über ihre Materialität Erinnerungen an beispielsweise die Blumen oder Handarbeiten meiner Großmutter zum Vorschein, was ich sofort ins Bild einbrachte. Über die Dauer des Arbeitsprozesses fanden auch Themen aus der aktuellen Tagespolitik ihren Weg ins Bild.
Migranten im Schrebergarten Anhand des einzigen Bildes der Serie mit eigenem Titel, Norddeutscher Schrebergartenverein führt Ausländerquote ein (Abb. 6), möchte ich mein Vorgehen genauer schildern und die Beweggründe für meine Entscheidungen transparent machen. Auslöser für das Bild war ein Ofen, den ich aus den Bergdörfern der Türkei kenne. Dieser Ofen wurde in einem Geschäft in Feuerbach, einem Stuttgarter Viertel zum Verkauf angeboten. Auf meine Frage: „Wer kauft den sowas hier mitten in Stuttgart?“, antwortete der Verkäufer Metin Deliacı sichtlich stolz: „Na unsere Leute, die Schrebergärten haben, die können ihr Obst und Gemüse gleich an Ort und Stelle einkochen. Ich verkaufe gerade mindestens zwei Öfen pro Woche.“ Ich war nicht nur überrascht, dass gärtnernde Migranten in dem allgemein als deutsch geltenden Schrebergarten angekommen waren, sondern auch, dass sie ihre Öfen dort installiert und ihre Bräuche etabliert hatten. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie auf dem Ofen Peperoni einkocht und Tomatenmark hergestellt wird. Ich konnte nicht widerstehen und kaufte einen Ofen. Beim Einladen ins Auto kam eine ältere Frau auf mich zu und meinte: „Der ist gut, ich hab auch so einen in meinem Schrebergarten. Hast du auch Hühner, so wie ich?“ Durch mein Projekt hatte ich Begegnungen und Gespräche mit Menschen, mit denen ich in meinem Alltag nicht in Berührung gekommen wäre. So gelangte ich an ein anderes Wissen, das ich in meine Bilder einbrachte. Zufälligerweise entdeckte ich im Internet einen Artikel zu einem Schrebergartenverein, bei dem während einer Mitgliederversammlung eine Ausländerquote eingeführt worden war.23 Wegen deutschlandweiter Empörung und der Drohung seitens der Stadtverwaltung, den Pächtervertrag zu entziehen, wurde diese Regelung aber wieder zurückgenommen. 24 So kam das Bild zu einem Titel. Eine biografische Notiz ist die glatte Petersilie, die in der Türkei verbreitet ist. Ich war nach meiner Re-re-migration anfangs sehr verwundert über
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6 Transitional Objects/Norddeutscher Schrebergartenverein führt Ausländerquote ein, 2012, Fotoserie, 150 x 100 cm, Farb-Pigmentdruck auf Aludibond
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die krause Petersilie in Deutschland, die ich damals noch nicht kannte. Erstmalig konnte ich mich über diese Verwunderung äußern. Mit den Tomatenmarkdosen zitiere ich auch augenzwinkernd Andy Warhol. Dem Status der Türkei als Gemüse- und Obstlieferant tragen die normierten Europaletten und Gemüsekisten Rechnung. Die blaue Plane liegt auf jedem Handwagen der mobilen Händler in der Türkei, somit ist diese Farbe für mich eindeutig konnotiert. Die Fotografien gaben mir die Möglichkeit, all diese verschiedenen Aspekte und persönlichen Bezüge miteinander zu verweben und sichtbar zu machen.
Ornamente und Fotografie Beim Betrachten der Fotografien wurde mir klar, dass ich mit fotografischen Mitteln Ornamente erzeugt hatte. Einerseits erreiche ich dies auf der Ebene des Dargestellten: Die gezeigten Objekte weisen selbst Motive und Ornamente auf. In den Transitional Objects stellt sich für mich der Sprung des wissenden und erkennenden Blicks in ein berührendes Sehen vor allem durch Form und Farbe des Gartenschlauchs (Abb. 1), der Behältergriffe und des Schlauches der Wasserpfeife (Abb. 6) als auch durch die Henna gefärbten Finger (Abb. 2) ein. Die ornamentale Strukturierung der Bildflächen erreiche ich durch die räumliche Anordnung und symmetrische Aufstellung der mehrfach verwendeten Objekte und durch die Steuerung der Schärfentiefe. Das Ornament fungiert als Vermittler zwischen Dargestelltem und Darstellung. Die Wirkweise eines solchen Bilddetails kann auch als visuelle Strategie im Bild betrachtet werden. Diese Aspekte verschränken sich für mich in den Transitional Objects in ein dichtes Gebilde, das dem Blick einen anderen Modus abverlangt. Mein besonderes Interesse am Ornament hat einen biographischen Ursprung. Es wurde durch die Beschäftigung meiner Mutter mit der Miniaturmalerei geweckt. Bei Ornamenten werden einzelne Bildelemente und Motive gespiegelt, verdreht und immer wieder eingesetzt. Die Produktion ist sehr zeitaufwendig, da sie höchste Konzentration und Können im Umgang mit Pinsel und Farbe abverlangt. Denn das Regelwerk für Miniaturen ist sehr starr. Die kleinformatigen Miniaturen entstehen oft arbeitsteilig, z. B. werden Bildbereiche mit arabischer Schrift eigens von Kalligraphen ausgeführt. In der Wiederholung und Reproduktion kultureller Meisterleistungen vor allem aus der osmanischen Zeit werden diese lebendig gehalten und erneuert. Sie dienen somit der kulturellen Selbstvergewisserung. Ob auf den Fassadenkacheln im Innenhof der Eyüp-Sultan-Moschee, im Harem des Topkapı-Palastes, in Dekorationen von Hotelfoyers oder auf alltäglichen Verpackungen, das Ornament ist in meiner Heimat allgegenwärtig. Was für eine besondere Wirkung haben Ornamente auf den Betrachter und was verlangen sie dem Blick ab? Verfolge ich ein einzelnes Motiv, versuche es mit meinen Augen zu isolieren und zu fassen, wird mir schwindelig. Das Ornament als Ganzes entgeht mir, es ist nicht zu durchdringen und zerstört. In der hermetisch erscheinenden Wiederholung der oft abstrakten und gesetzmäßigen Formen stecken endlose, verspielte und überraschende
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Variationen. Das Ornament scheint ohne Anfang und Ende zu sein. Die Struktur des Ornaments erzeugt einen visuellen Rhythmus. Es kommt keine Illusion von Tiefe zustande, denn mal springt der Hintergrund ins Auge, mal der Vordergrund, dann ein Motiv oder eine Farbe. Diese Hierarchielosigkeit lässt meine Aufmerksamkeit unfokussiert werden. Es ist ein anderer Modus der Betrachtung und des umherschweifenden Blicks. Unterschwellig können so Widersprüche, Zeiten und Kulturen, mit denen die Motive codiert und konnotiert sind, mit Leichtigkeit verwebt werden und sich trotzdem gegenseitig stabilisieren. Um die Wirkweisen des Ornamentalen in der Fotografie aufzuzeigen, beziehe ich mich auf Überlegungen von Maddalena Parise.25 Sie vergleicht am Beispiel früher Daguerreotypie-Porträts scharfe Bilddetails mit Ornamenten. Dabei wird mit dem Begriff des Ornaments eine visuelle Strategie bezeichnet und nicht ein Stil, Motiv oder Muster. Es geht eher um das Spiel eines Elements im ganzen Bild, um seinen Funktionsmodus im Gegensatz zu seinen spezifischen Merkmalen als formales Bildelement. Auf der einen Seite dekorieren, strukturieren oder legitimieren die Details die erzeugte Darstellung. Auf der anderen Seite sind es sowohl überflüssige, zusätzliche als auch störende Elemente, die vom Hauptmotiv ablenken.26 Die Bilddetails haben nach Parise eine doppelte Konnotation in Bezug auf ihre konstruierende als auch zerstörende Funktion im Bild, die sie als „ornamental“ bezeichnet. Der an gemalten Bildern und ihren Repräsentationsformen geschulte Blick wird dabei über- und herausfordert und kann sich so selbst begegnen, was ein Unbehagen auslöst.27 Der Einbruch des Zufalls durch unbeabsichtigt fest gehaltene Bilddetails bringt Parise zufolge eine zusätzliche Unruhe und Unordnung ins fotografische Bild.28
Ornament und Gesellschaft Das Ornament kann aber auch als Indikator für gesellschaftliche Veränderungen und sich verändernde Repräsentationssysteme betrachtet werden. Es wird dabei frei für neue Inhalte, wird Bedeutungsträger für bürgerliche und nationale Identitätskonstruktionen. 29 Dieser Aspekt des Ornaments bestimmte meine weiteren Überlegungen. Im Fotostudio kam ich mir bezüglich der Fotografien vor wie eine Teppichweberin, die sich in das erzeugte Muster mit einwebt. Das Subjekt schreibt sich durch die Geste des Fotografierens, als Rezipient oder als Referent, in den fotografischen Prozess des mit seiner referentiellen Situation untrennbar verbundenen Bild-Aktes ein.30 Auch positioniere und konstituiere ich mich durch das Fotografieren und mit den Bildern autonom als Künstlerin und Autorin sowohl in den türkischen Geschäften als auch im verhandelten Territorium einer „cross-cutting identity“. Daniel Bell schreibt hierzu: „One is that in a modern society there are, inevitably, multiple, plural interests, because we all have attachements and identities; [...] these are religious attachements, cultural differences, and a host of other loyalities and identities by which men designate themselves. All society is plural society.“31 Auf die Feststellung, dass in einer pluralen Gesellschaft Wertekonflikte unver-
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meidbar sind, so dass moralische Aspekte oft in ‚richtig‘ gegen ‚falsch’-Widersprüche münden, stellt er die Frage nach einem geeigneten Umgang mit solchen Fragen. Er fordert die ungestörte freie Meinungsäußerung und einen Freiraum, innerhalb dessen Indi-viduen ihre Wünsche und Bedürfnisse äußern können, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Doch wie soll dies in einer Gesellschaft geschehen, in der das Sprechen bereits reguliert ist? Entlang der Stoßkante von Widersprüchen sozialer und kultureller Identitätskonstruktionen der pluralen Gesellschaft habe ich das Feld der Kunst gewählt, um mich zu äußern und eben diese Zuschreibungen zu hinterfragen. Innerhalb dieses Diskurses möchte ich mich platzieren und meine Transitional Objects präsentieren, denn hier kann sich diese schmerzhafte Stoßkante herauskristallisieren und durch Sublimierung verhandel- und aushaltbar werden. Das Entweder-Oder entfällt dabei, wird zu einer von vielen Möglichkeiten der Neubelegung. Ich möchte diese Widersprüche anhand Transitional Ob– ramacı schreibt dazu: „Süngün posiert mit gejects, 2012 (Abb. 3) erläutern. Burcu Dog strecktem Fuß, was Assoziationen an den Spitzentanz auslöst, wobei sie auf einem Gebetsteppich agiert, der in vielen türkischen Geschäften zum günstigen Preis erworben werden kann und den Boden des Betenden als ‚rein‘ markiert. Süngün arbeitet in dieser Fotografie mit einer Deutungsvielheit, ist doch der Schuh in seiner Funktion nur durch Eingeweihte dekodierbar und kann in der Adaption der Künstlerin andere Assoziationen auslösen: Material (Leder), Farbe (Schwarz) und Gegenstand (Schuh) könnten auch auf sexuelle Praktiken wie S/M verweisen und das Objekt weniger als religiösen oder rituellen Gegenstand denn als erotischen Fetisch konnotieren.“32 Das sichtbar behaarte und in eine hautfarbene Strumpfhose gekleidete Frauenbein balanciert auch zwischen Inszenierungsformen von Weiblichkeit und Rollenzuschreibungen. In der Serie ist es das einzige Bild im kleineren Format (75 x 50 cm). Ein größeres Bein im Bild wäre zu säulengleich und stabil gewesen und hätte dadurch zu bedrohlich gewirkt. Es gab erleichternde Momente, in denen ich beim Anblick der absurden Installationen laut loslachen musste. Gleichzeitig erschrak ich aber, denn die aufgetürmten Objekte und Arrangements waren beängstigend. Diese innere Spannung war sehr anstrengend. Konnte ich diesen Zustand in den Fotografien herstellen, war das Bild fertig. Durch die Entscheidung für eine bestimmte Größe der Prints versuche ich eine Begegnung zwischen Bild und Rezipient zu ermöglichen, die diese Wirkung wiederholen kann.
Erschöpfte Objekte Die Serie Transitional Objects ist abgeschlossen; alle Installationen sind aufgelöst und abgebaut. Die bereits verwendeten Objekte betrachte ich als ‚erschöpft’; mein Interesse an ihnen versiegt, sobald ich sie für eine Fotografie eingesetzt habe. Selbst wenn noch nicht alle Fragen restlos beantwortet scheinen, ist ihre Dringlichkeit nicht mehr so groß, dass ich weiter fotografieren müsste. Ich habe mehrmals versucht, ein Archiv der verwendeten
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Objekte anzulegen. Doch das Resultat überzeugte mich nicht. Einerseits entwertet und schwächt solch ein materielles Archiv als künstlerische Arbeit meine Fotografien, da es unter anderem nicht symmetrische Ansichten auf die Objekte gewährt. Zweitens bemerkte ich, dass mir die ethnologischen Archivierungskategorien nicht anwendbar erschienen und die damit einhergehende Verwandlung dieser Objekte nicht erfassen konnte, worum es mir ging. Durch die Gespräche mit der Ethnologin und Orientexpertin Annette Krämer vom Linden Museum in Stuttgart konnte ich viel über museale Archive erfahren. Beim Besuch des Museumsmagazins aber rückten wertvolle Objekte aus der Türkei fein säuberlich eingeteilt und in den Magazinregalen aufbewahrt in eine unerträgliche Ferne für mich. Ich löste mein eigenes materielles Archiv auf. Um über ein Reservoir für latente Bilder zu verfügen und um mit den Objekten und Mustern weiter arbeiten zu können, habe ich begonnen, ein persönliches imaginäres Archiv in Buchform zu entwickeln. Als mein offenes materielles ‚Archiv‘ greife ich auf die türkischen Import-ExportGeschäfte und Supermärkte zurück. Abschließend gebe ich einige mir wichtige Kommentare von Rezipienten wieder, die meinen eigenen Blick auf die Bild-Objekte verändert haben. Nachdem zwei Bilder der Serie in einer Gruppenausstellung in Stuttgart gezeigt wurden, wurde Transitional Objects, 2012 (Abb. 2) daraufhin in der Stuttgarter Zeitung33 als der unvermeidliche Kehrwochenwitz kommentiert. Auch der Sammler Peter W. Klein fühlte sich mit diesem Bild sofort an seine schwäbische Heimat erinnert und erwarb Bilder der Serie. Zwar erstaunt mich diese Auffassung und Aneignung meiner Bilder, doch betrachte ich sie als gelungene Transformation ins Schwäbische. Einige Betrachter der Bilder entwickelten über sie eine Wertschätzung für die Objekte in den Import-Export-Läden, da sie sie mit meiner künstlerischen Arbeit in Verbindung brachten. Andere interessierten sich, angeregt durch meine Bilder, für die Objekte selbst. So suchte eine Bekannte die türkischen Geschäfte erstmalig auf und erwarb Mest-Schuhe, die sie als Hausschuhe nutzt. Andere kauften Decken, Planen oder Plastikhocker. So berühren und benutzen einige Betrachter meiner Bilder die Objekte, so wie ich es tat, um sie zu fotografieren.
Anmerkungen 1
Fotoserie, 2012: Acht Farbfotografien, 150 x 100 cm und 70 x 50 cm. Pigmentdrucke auf Aludi-
2
Philippe Dubois: Der fotografische Akt: Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Bd. 1. Amster-
bond. dam 1998, S. 63. Dubois zufolge ist der Bild-Akt eine gedankliche Synthese von Bild und Akt, über den das Bild definiert wird. 3
Charles S. Peirce führte in seinen Schriften die Zeichentheorie (Semiotik) und die Trichotomie (Icon, Index und Symbol) der Zeichen ein. Siehe Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Frankfurt am Main 1983, S. 64.
4
Dubois 1998 (Anm. 2), S. 89.
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5
Dubois 1998 (Anm. 2), S. 89.
6
Dubois 1998 (Anm. 2), S. 80.
7
Im Allgemeinen von Männern besuchtes türkisches Café bzw. Spielsalon.
8
Adnan Yıldız ist Kurator und z.Z. künstlerischer Leiter im Künstlerhaus Stuttgart.
9
Kathrin Busch lehrt Kulturtheorie und Kulturwissenschaften an der UdK Berlin.
10 Roland Barthes: Semantik des Objektes. In: Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main 1988, S. 187–198, bes. S. 195–198. 11 Barthes 1988 (Anm. 10), S 195–198. 12 Barthes 1988 (Anm. 10), S 196. 13 Barthes 1988 (Anm. 10), S 197. 14 Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt am Main 1997. 15 Donald J. Winnicott: Transitional Objects and Transitional Phenomena – A Study of the First NotMe Possession. In: International Journal of Psycho-Analysis, 1953, 34, S. 89–97. D. J. Winnicott gilt als englischer Begründer der Kinder-Psychoanalyse. In dem Artikel führt er den Begriff „Transitional Objects“ ein. 16 „Dies ist der metonymische und buchstäblich mobilisierende Trieb der Fotografie: sie geht von einer Nichtigkeit aus, einem bloßen Punkt [...], einem Singulären-Einmaligen, und plötzlich dehnt sie sich aus und affiziert und überwuchert das ganze Feld.“ Dubois 1998 (Anm. 2), S. 80. 17 Solo für ... Gülsün Karamustafa – Etiquette, Ausstellung der ifa-Galerie Stuttgart (04.02.2011– 09.04.2011). 18 URL: http://www.ifa.de/kunst/ifa-galerien/rueckblick/guelsuen-karamustafa.html [1.10.2014]. – ramacı lehrt am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität Mün19 Burcu Dog chen Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. – ramacı: Objekte der Migration. Zeitgenössische künstlerische Strategien und produk20 Burcu Dog tive Aneignungen. In: Dinge des Exils. Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch, Bd. 31, 2013, S. 49. Hrsg. von Doerte Bischoff/Joachim Schlör. München 2013. 21 Es ist der berühmte Bresson`sche „entscheidende Augenblick“. 22 Dies ist ein ca. 30 bis 40 cm hoher, runder Tisch, an dem man sich kniend auf dem Boden setzen kann. Er wird häufig für das gemeinsame Essen oder für das Ausrollen von Teigfladen verwendet. 23 Vanessa Steinmetz: Migrantenquote im Schrebergarten: Laubenpieper mit Integrationsproblemen. In: Spiegel Online Panorama. 10.12.2011. URL: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/migrantenquote-im-schrebergarten-laubenpieper-mit-integrationsproblemen-a-802810. html [1.10.2014]. 24 Vanessa Steinmetz: Migranten im Schrebergarten: Es soll Gras drüber wachsen. 16.12.2011. URL: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/migranten-im-schrebergarten-es-soll-gras-drueberwachsen-a-804162.html [1.10.2014]. 25 Maddalena Parise: Décor and Excess. The Ornamental Aspect of Photographic Likeness. In: Ornament. Motiv – Modus – Bild. Hrsg. von Vera Bayer/Christian Spies. München 2012. S. 59–89. 26 Vgl. Parise 2012 (Anm. 25), S. 60. 27 Besonders irritierend war das scheinbar gleichrangige visuelle Gewicht zwischen dem zentralen Hauptmotiv (Gesicht des Porträtierten) und den peripheren Details (Geste, Hände, Falten) und die fehlende stabile Hierarchie zwischen Vorder- und Hintergrund, was klassische Kompositionsregeln auf den Kopf stellte. Parise 2012 (Anm. 25), S. 63. 28 Parise 2012 (Anm. 25), S. 65. 29 Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments. Hrsg. von Gérard Raulet/Burghart Schmidt. Wien 2001, S. 7.
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30 „Es gehört zu den entscheidenden Konsequenzen dieser Logik des Index, dass sie das fotografische Bild radikal als etwas setzt, was nur in Verbindung mit dem Akt seiner Hervorbringung denkbar ist, mag es sich dabei um den Akt der Rezeption, der Produktion oder um den Referenten des Bildes handeln.“ Dubois 1989 (Anm. 2), S. 82. 31 Daniel Bell: The Winding Passage. Essays and Sociological Journeys 1960–1980. Cambridge, Massachusetts 1980. S. 243. – ramacı 2013 (Anm. 20), S. 50. 32 Dog 33 Georg Leisten: Ganz ohne Kehrwochenwitz geht es nicht. In: Stuttgarter Zeitung, Nr. 141, 21. Juni 2011, S. 26. Ausstellungskritik zur Gruppenausstellung „Wie geht’s Dir, Stuttgart?“, 18. Juni 2011– 31. Juli 2011, Künstlerhaus Stuttgart.
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Adolf Loos und die Folgen Adolf Loos hat mit seiner Schrift Ornament und Verbrechen eine Antwort auf eine Grundfrage der Ästhetik in Wien um 1900 gegeben, nämlich ob und wie Form geschmückt werden dürfe.1 Protagonisten in der Debatte zu diesem Thema waren in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Wien Josef Hoffmann und Adolf Loos: der eine als Mitbegründer der Sezession und der Wiener Werkstätte, der andere als Verfasser des Vortrags Ornament und Verbrechen. Der moralische Traditionalist Loos (Abb. 1), Feind der Stilkunst, widerstand mit seiner Forderung nach zeitloser Eleganz dem dekorativ-geschmackvollen Stil, den Josef Hoffmann mit der Wiener Werkstätte entwickelt hatte. Ursprünglich waren Loos und Hoffmann im Bestreben nach Erneuerung der Architektur und angewandten Kunst von durchaus ähnlichen Prämissen ausgegangen. Beide verbanden die Befürwortung der neuen Architektur im Sinne Otto Wagners und die Ablehnung des Ringstraßenstils. Im Gegensatz zu Hoffmann war Loos nicht Mitglied der Secession. Loos nahm dem Werk des Landsmannes Hoffmann gegenüber zu diesem Zeitpunkt noch eine freundlich-kritische Position
1 Porträt Adolf Loos, 1903
ein. „Mir fällt es schwer über Josef Hoffmann zu schreiben. Stehe ich doch im stärksten Gegensatz zu jener Richtung, die von jungen Künstlern nicht nur in Wien vertreten wird. Für mich ist Tradition alles, das freie Walten der Phantasie kommt bei mir erst in zweiter Linie“, schreibt Adolf Loos 1898 über Hoffmann.2 Zur ersten Verstimmung kommt es anlässlich der Ausgestaltung des neu errichteten Secessionsgebäudes vor dessen Eröffnung im Jahr 1898. Noch 1913 erinnert sich Loos: „Als ich vor fünfzehn Jahren an Regierungsrat Prof. Josef Hoffmann die Bitte richtete, das Sitzungszimmer des Sezession [...] einrichten zu dürfen, wurde mir das rundweg abge-
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schlagen [...].“3 Die Zurückweisung von Seiten Hoffmanns war wohl in der Erkenntnis begründet, dass Loos‘ Positionen denen der Secession diametral entgegengesetzt waren: „Wollte man vielleicht die alte Handwerkstradition? Gott bewahre“, schreibt Hoffmann 1901 in seinem Pamphlet Einfache Möbel.4 Für Loos ist es aber gerade die Handwerkstradition, an die es anzuknüpfen gilt: „Der Weg ist: Gott schuf den Künstler, der Künstler schafft die Zeit, die Zeit schafft den Handwerker, der Handwerker schafft den Knopf.“ Für Loos folgt daraus logisch die Ablehnung des Kunsthandwerks: „Ich aber frage: brauchen wir den angewandten künstler? Nein.“ Eben diese Geringschätzung des Kunsthandwerks aber führte zu einer „Brandmarkung als Nichtkünstler“ durch die Secessionisten, wie er es empfand.5 Josef Hoffmann wurde nach 1903 mit seinen streng geometrischen Entwürfen für die Wiener Werkstätte zum bevorzugten Ziel von Loos’ Polemiken auf dessen Feldzug gegen das Ornament: „Früher war wenigstens etwas zu spüren, was man meinetwegen angewandte Kunst nennen könnte. Aber seitdem müssen unsere Kanalgitter herhalten, den Dekor für Blumenvasen und Fruchtschalen zu liefern.“6 Loos nimmt für sich in Anspruch, durch das Vorbild der von ihm ausgeführten Wohnungseinrichtung für Otto Stoessl Josef Hoffmann zur Abkehr von Sezessionsstil und -kleidung veranlasst zu haben. „Als ich Hoffmann meine erste Wohnung vor dreißig Jahren zeigte, hat er sich erst europäisch angezogen. Von dieser Exkursion an sind alle Arbeiten von mir beeinflusst. Aber wie! Ein Clubfauteuil ist eine gepolsterte Kiste, eine Teekanne ein silberner Würfel. Peinlich.“7 Auch Hoffmanns programmatische Abkehr vom floralen Ornament zugunsten des Geometrismus in der Gestaltung der 14. Ausstellung der Secession (1902) ist für Loos, den „unangenehmen, ausgeplünderten Konkurrenten“, „nur ein Ornament“ des „glatten Propagators des neuen Stils“ Josef Hoffmann, „[...] der noch heute glaubt, mit [...] eingelegten Ornamenten seine Möbel verschönern zu können“8. Im Gegensatz zum an der Rhetorik eines Karl Kraus geschulten Adolf Loos (Abb. 2) nahm Josef Hoffmann zum Problem Form-Ornament öffentlich nur durch seine Entwürfe Stellung. Man kann jedoch seine neue Inklination zum Geometrischen in Form und Ornament, die ab der berühmten Gestaltung der Räume für die 14. Ausstellung der Vereinigung bildender Künstler Österreichs-Secession 1902 durch Hoffmann deutlich wird, auch mit einer Richtung der Diskussion um das Ornament in Wien um 1900 in Verbindung bringen, der Hoffmann sich verpflichtet zu fühlen schien. Der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl beschäftigte sich 1893 in Stilfragen gerade mit der Entwicklung und Bedeutung des „geometrischen Stils“ in der historischen Ornamentik. Entgegen der Theorie Gottfried Sempers, niedergelegt in seinem Hauptwerk Der Stil, der geometrische Formen in der Ornamentik aus materialistisch-technischen Prämissen im Weben und Flechten ableitete, erklärte Alois Riegl den geometrischen Stil urgeschichtlicher Kulturen zum Produkt „eines elementaren künstlerischen Schmückungstriebes“9. Riegl betont, die Entscheidung für eine formal reduzierte Form sei stets einem freien schöpferischen Kunstwillen entsprungen. Wie Adolf Loos vertritt auch Riegl im Bezug auf die Frage nach dem Ornament einen
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2 Adolf Loos: Titelblatt zu Das Andere. Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich: Geschrieben von Adolf Loos, 1. Jahr, 1903
puristischen Standpunkt. Anders als Loos lehnt er es aber nicht rundweg als Ausdruck einer primitiven Haltung ab, sondern er plädiert für eine logische Fortentwicklung des geometrischen Ornaments. Sein Ornament ist von Gebrauchszweck, Technik und Material unabhängig und hat ein rein künstlerisches Wesen, denn Riegls Überzeugung nach erscheint der Mensch im anorganischen Schaffen völlig ebenbürtig mit der Natur, und zwar auch dann, wenn er rein aus innerem Drang ohne alle äußeren Vorbilder tätig ist. In Riegls Definition eines „reinen Ornaments“ klingt viel von der „Phantasiekunst“ an, die Adolf Loos bei seiner Analyse der Arbeiten Josef Hoffmanns abgelehnt hatte. Dass die Gedanken Riegls, die er anhand von Objekten der angewandten Kunst als Kustos am k.k. österreichischen Museum für Kunst und Industrie entwickelt hatte, für die Lehrer der direkt mit der Institution verbundenen Kunstgewerbeschule wie Josef Hoffmann und Koloman Moser Anlass zur Reflexion gaben, erweist ein Artikel aus dem Kreis der Professoren. 1897, im Gründungsjahr der Secession, erschien in der einflussreichen Hauspublikation ein Beitrag unter dem Titel Das constructive Prinzip der Ornamentik.10 Der Autor war Hans Macht, Professor für Email an der Kunstgewerbeschule, und er schreibt dort: „Das Prinzip des Formens und Fügens auf seine einfachste Äußerungsart zurückgeführt, das constructive Prinzip, waltet in jeder der bis jetzt durchlaufenen Kunstperioden. Während aus organischen Motiven ohne ordnende Konstruktion keine befriedigenden Gestaltungen hervorgebracht werden können, wäre dies mit rein constructiven Gebilden, also geometrischen
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Formen, möglich.“11 Für Macht steht fest, „[...] daß das constructive Prinzip zu Bildungen führt, die ohne allen Zweifel als ureigenste Schöpfungen des künstlerisch wirkenden Menschen zu betrachten sind, [...] denen also die Natur kein Vorbild geboten hat.“12 Geometrismus und Konstruktion als Prinzipien der Ornamentik, angereichert mit dem Bekenntnis zur Flächendekoration, dies sind die theoretischen Prämissen, denen sich Josef Hoffmann und die aus seiner Schule und der Wiener Werkstätte hervorgehenden Entwerfer verpflichtet fühlten. Dabei geht es nicht um eine verabsolutierte geometrische Formgebung, die die traditionelle Bildkunst ersetzen soll, sondern um eine Erweiterung der künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne des Gesamtkunstwerks. Der Antagonismus der Moderne gegen die Dekorationswut des Historismus und der Glaube an die „evolution der kultur durch entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande“13 (Adolf Loos) besiegelten die Trennung von Ornament und Form in der Theorie der modernen Ästhetik.14 Der Form wurden fortan Aufgaben übertragen, die bislang das Ornament erfüllt hatte. 1923 schrieb Ernst Bloch unter dem Titel Hintergründe des Kunstwollens, er sehe „[...] die Konstruktion als Tertium comparationis zwischen Zweckform und Stilistik, als Form überhaupt heraufziehen“15. Im Katalog zur berühmten Werkbund-Ausstellung im Jahr 1924 Form ohne Ornament konnte Walter Riezler euphorisch schreiben: „Heute ist uns ‚Form‘ tiefster Ausdruck innerer Kräfte, unausweichbare Notwendigkeit und bester Prüfstein für die Lebendigkeit und Gesundheit einer Zeit.“16 Der Impuls zum Ausschluss alles Ornamentalen aus dem Projekt der Moderne war jedoch nur solange aufrechtzuerhalten, als der Glaube an die gesellschaftsverändernde Wirksamkeit der Abstraktion vorhielt. Zumindest auf dem Umweg der Dekoration fand das Ornament schon sehr bald wieder Eingang in die Moderne, denn nur mittels der Gestaltung konnte es der Abstraktion gelingen, Einfluss auf die Alltagswelt zu nehmen. Diese „Ornamentalisierung der Moderne“ war ein nach außen gewendeter Prozess, der bei vielen der Reformbewegungen der Avantgarde schon sehr bald nach ihrer Begründung einsetzte. Stellvertretend seien hier nur die holländische De Stijl-Gruppe oder das Bauhaus am Beginn der Moderne genannt, die als avantgardistische Strömungen den Weg der ornamentalen Verwertung und Entkoppelung von Form und Inhalt einschlugen. Hierin folgten alle avantgardistischen Bewegungen einem Wunsch nach Allgestaltung, der bereits frühe Reformbewegungen wie die Wiener Werkstätte geprägt hatte. Josef Hoffmann hatte schon 1905 im Arbeitsprogramm der Wiener Werkstätte geschrieben, dass „[...] die Arbeit des Kunsthandwerkers mit demselben Maß gemessen werden solle wie die des Malers und Bildhauers. [...] Wo es angeht, werden wir zu schmücken suchen“17, betont Hoffmann in Anspielung auf das Ornament: Mit der Etablierung der Moderne als ‚Stil‘ in den angewandten Künsten konnte auch die „Ornamentalisierung der Moderne“ einsetzen. Das Missverständnis der Kampfschrift Ornament und Verbrechen und das Abrücken von der daraus im öffentlichen Bewusstsein destillierten Phrase, die zum Topos in der
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Kunstkritik der Moderne verkam, werden in den Schriften Loos’ deutlich, vor allem im Text von 1924 Ornament und Erziehung, wo Loos schreibt: „[...] vor 26 Jahren habe ich behauptet, daß mit der Entwicklung der Menschheit das Ornament am Gebrauchsgegenstande verschwinde. [...] Ich habe aber damit niemals gemeint, was die Puristen ad absurdum getrieben haben, dass das Ornament systematisch und konsequent abzuschaffen sei.“ 18 Und weiter schreibt er, dass der Zeichenunterricht für angehende Künstler und Architekten vom Ornament auszugehen habe, denn „[...] das klassische Ornament bringt Zucht in die Formung unserer Gebrauchsgegenstände“19. Nur wenige haben jedoch diese späteren Äußerungen beachtet. Was alle lasen, war Ornament und Verbrechen selbst, und sie interpretierten eine Botschaft hinein, die sich deutlich von dem unterschied, was Loos damit mitteilen wollte. Aber zunächst herrschte meistens Stille. Die Tatsache, dass Ornament und Verbrechen erst 1929 auf Deutsch publiziert wurde, fast zwei Jahrzehnte nachdem Loos den Vortrag zum ersten Mal öffentlich gehalten hatte, machte jede gezielte Diskussion darüber in Mitteleuropa unmöglich. Loos’ Haltung gegen das Ornament war weitgehend anerkannt, aber die subtileren Argumente, die er in seinen öffentlichen Vorträgen vorgebracht hatte, fehlten weitgehend in den Texten, die über ihn geschrieben wurden.20 Die Publikation des Artikels in französischer Sprache im Jahr 1912 hatte zur Folge, dass zu Beginn die meisten, die mit dem Text vertraut waren, der Pariser Avantgarde nahe standen. Doch sogar in Frankreich gab es, abgesehen von einem kleinen Kreis um Le Corbusier, wenige spezifische öffentliche Kommentare dazu. Viele Menschen in Österreich und Deutschland hatten selbstverständlich zwischen 1910 und 1913 einen von Loos’ Vorträgen gehört (Abb. 3), einige wahrscheinlich öfter als einmal. Was sie mitnahmen, war ein allgemeiner Eindruck von seinen Argumenten: sein Generalangriff gegen das Ornament, die Prügel für alle, die noch immer Ornamente verwendeten, die Verbindung, die er zwischen Ornament und Verbrechen herstellte. Was die meisten in Erinnerung behielten, waren die unverblümten Aussagen, nicht die Nuancen. Und weil es zwei Jahrzehnte lang keinen greifbaren Text zum Nachlesen gegeben hatte, keinen Text, um die Eindrücke zu überprüfen, war das einzige, an das sie sich erinnerten, die Schärfe seiner Argumente und die boshaften Bemerkungen. Der Titel, an den man sich leicht erinnern konnte, gab die Antwort: Ornament und Verbrechen. Er verwandelte sich bald in die Gleichung: „Ornament = Verbrechen“. Dieser Schritt ging mühelos vonstatten. Der überhitzte Ton des Pamphlets selbst trug zu den Missverständnissen bei. Ornament und Verbrechen ist eine Streitschrift und alles andere als subtil. Nichtsdestoweniger ist es ein bemerkenswertes Dokument. Trotz all seines Pathos ist der Text wundervoll komponiert. Jeder, der Loos im Original gelesen hat, bemerkt sofort seine außerordentliche Gewandtheit als Schriftsteller. Kein anderer Architekt in einem deutschsprachigen Land hat mit solcher Eloquenz geschrieben. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Loos sich mit dem Schreiben genauso intensiv befasste wie mit dem Bauen. Die Tatsache, dass die engsten Freunde seiner frühen Jahre, Karl Kraus und Peter Altenberg, beide Schriftsteller
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waren, sagt viel darüber aus, womit er sich beschäftigte. Was Loos’ Prosa auszeichnet, ist nicht nur seine Direktheit – seine Schriften richteten sich immer an ein allgemeines Publikum, nicht nur an Architekten und Designer –, sondern auch seine Klarheit und seine sparsame Sprache. Es gibt nur wenige verschwendete Wörter und noch weniger abschweifende Gedanken. Keine Übersetzung hat je seinen transparenten Stil oder seinen Esprit vollständig erfasst. Allerdings hat Loos als Schriftsteller und Denker viel mehr mit Kraus (der für seinen bissigen Ton bekannt war) gemein als mit Le Corbusier. Seine unnachgiebige Kulturkritik weist ebenso viel ätzende Beschimpfungen und moralische Entrüstung wie großen Humor auf. Aber durch seinen Sarkasmus und Esprit wurde seine Botschaft verwischt. Loos war nicht wirklich der Meinung, dass Hoffmann und alle anderen, die Ornamente verwendeten, Kriminelle waren, aber er glaubte sehr wohl, 3 Plakat zum Vortrag Ornament und Verbrechen, 1913
dass die falsche Verwendung von Ornamenten aus sozialer und kultureller Sicht nicht richtig – und letztlich schädlich war.
Der Vergleich seiner Wiener Kollegen mit Kriminellen, die sich tätowieren ließen (eine Anspielung, die er vom italienischen Kriminalisten Cesare Lombroso entlehnt hatte), war für ihn ein Mittel, um seine Kritik einprägsam und gleichzeitig skurril zu machen.21 Was viele, wenn nicht fast alle, die das Pamphlet später lasen, vermissten, war der Humor.22 Im Jahr 1933 war Loos schon verstorben. Was Beobachter moderner Architektur zu diesem Zeitpunkt und später über ihn in Erinnerung behielten, war seine Einstellung gegen das Ornament und dass er einer der ersten gewesen war, der bei seinen Häusern auf die Ausschmückung des Äußeren verzichtet hatte. Es war jedoch nicht das Gebäude am Michaelerplatz, an das man sich als Erstes erinnerte, denn die aufwendige Marmorverkleidung des Erdgeschosses war nur schwer mit seinen Aussagen in Einklang zu bringen. Es waren eher seine Villen aus der Vorkriegszeit – Haus Steiner, Haus Scheu, Haus Horner –, die gekonnt und direkt die Wahrheit über seinen Krieg gegen das Ornament zu bestätigen schienen und direkt zur sachlichen Architektur der 1920er Jahre und danach wiesen. Loos wurde der Stammvater, der spirituelle Begründer des neuen Funktionalismus.
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Er tat viel, um den Mythos um seine Person zu fördern. Während der 1920er und frühen 1930er Jahre schienen zwei Herzen in seiner Brust zu schlagen. Einerseits korrigierte er manchmal lautstark die Missverständnisse im Hinblick auf seine Ansichten, andererseits machte er pauschale Aussagen, die nur bestätigen sollten, was die meisten bereits dachten – dass er der große ‚Vernichter‘ des Ornaments war. Seine kämpferischste Aussage machte er im Vorwort zu Trotzdem: „Aus dreißigjährigem kampfe bin ich als sieger hervorgegangen: ich habe die menschheit vom überflüssigen ornament befreit.“23 Dann wieder beklagte er sich bitter darüber, dass seine Rolle vergessen worden war: „Freilich, das echo, das zurücktönt, glaubt die stimme selbst zu sein. Das perfide buch die form ohne ornament, 1924 in Stuttgart erschienen, verschweigt meinen kampf und verfälscht ihn zugleich.“24 Die verfälschte Darstellung seiner Ansichten störte Loos – tatsächlich schien sie ihn sehr zu stören, obwohl es zeitweise den Anschein hatte, dass er bereit war, die getreue Wiedergabe seiner Überzeugungen gegen Publicity für seine Rolle in der Debatte über das Ornament einzutauschen. Aber letztendlich konnte er nie ganz die Tatsache akzeptieren, dass das, was er über das Ornament zu sagen hatte, so hartnäckig missinterpretiert wurde. Das Hauptproblem für ihn war die Vorstellung, er rufe dazu auf, das Ornament insgesamt abzuschaffen. In Ornament und Erziehung folgt auf die Frage: „Ob das ornament als ausdruck der unkultur aus dem leben überhaupt und besonders aus der schule entfernt werden soll?“25 folgende Antwort: „Das ornament verschwindet von selbst und die schule soll sich in diesen natürlichen prozeß, den die menschheit seit ihrem bestehen durchzumachen hat, nicht einmischen.“ Er fügte hinzu: „Vor sechsundzwanzig jahren habe ich behauptet, daß mit der entwicklung der menschheit das ornament am gebrauchsgegenstande verschwinde, eine entwicklung, die unaufhörlich und konsequent fortschreitet und so natürlich ist wie der vokalschwund in den endsilben der umgangssprache. Ich habe aber damit niemals gemeint, was die puristen ad absurdum getrieben haben, daß ornament systematisch und konsequent abzuschaffen sei. Nur da, wo es einmal zeitnotwendig verschwunden ist, kann man es nicht wieder anbringen. Wie der mensch niemals zur tätowierung seines gesichtes zurückkehren wird.“26 Das war eine transparente Erklärung seiner Ansichten – vielleicht die klarste, die er je gemacht hat. Die Botschaft, die die meisten jedoch mitnahmen, war eine andere. Loos hatte die vollständige Ausrottung der Ornament verlangt, und er tat dies, weil er das Ornament für ein Verbrechen hielt. Der deutsche Kritiker Paul Westheim sagte 1930 ganz offen, was später die Standardformulierung werden sollte: „Ornament nennt er schlechtweg Verbrechen.“27 Die Veröffentlichung von Ornament und Verbrechen in Trotzdem änderte nichts an dieser Ansicht; in der Tat verstärkte sie diese dem Anschein nach noch. Jeder, der den Artikel aufmerksam liest, wird schnell verstehen, dass Loos über die kulturelle Evolution schreibt und dass sein wesentlicher Punkt war, dass das Ornament verschwand, weil es altmodisch wurde. Das einzige Verbrechen betraf die, die es besser hätten wissen müssen – die modernen Designer – die weiterhin Ornamente hervorbrachten, obwohl deren Zeit vorbei
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war. Das Ornament, so insistierte Loos, war noch immer passend für alle, die Gefallen daran fanden, es zu erzeugen, und alle, deren kulturelles Niveau noch nicht so weit entwickelt war. Und ältere Ornamente behielten ihre Gültigkeit. An keiner einzigen Stelle seines Aufsatzes setzt er Ornament direkt mit Verbrechen gleich. Aber wie dem auch sei. Die Kombination von Ornament und Verbrechen war so mächtig und so praktisch, dass beide, die Verfechter und die Feinde der Moderne, sich damit begnügten, nicht näher hinzusehen oder weiter zu lesen. Und damit war der Eckpfeiler des Mythos geboren. Die Veröffentlichung von Trotzdem im Jahr 1931 kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Weltweit herrschte Depression, und es zeichnete sich der Aufstieg der faschistischen Herrschaft ab, daher hatten wenige Zeit für eine komplette Neubewertung. Die, die im nächsten Jahrzehnt über die Moderne schrieben – unter ihnen Nikolaus Pevsner und Sigfried Giedion – waren nur zu gerne bereit, Loos einen zentralen Platz in der frühen Bildung der neuen Ästhetik zuzuschreiben. Aber ihre Analysen waren bestenfalls oberflächlich.28 Es gab gelegentlich Ausnahmen. Ein kurzer Tribut, den Loos’ Cousin, Victor Loos, 1942 schrieb, bot eine prägnante und weitgehend richtige Darstellung seiner Hauptargumente über das Ornament.29 Solche Momente blieben jedoch selten und isoliert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer neuerlichen Diskussion über Loos’ Ornament und Verbrechen. Der entscheidende Moment kam 1957, als in der Architectural Review ein von dem englischstämmigen Kritiker Reyner Banham verfasster Artikel zum Thema publiziert wurde. Banham hatte zuerst mit Anthony Blunt am Courtauld Institute of Art studiert und später mit Giedion und Pevsner. Er war ganz besessen davon, die Grundlagen der Theorie der Moderne zu studieren und dieses Interesse hatte ihn zu Loos geführt. Er las Ornament und Verbrechen, wobei er es offenbar isoliert las, ohne den größeren Rahmen von Loos’ Ideen oder den Diskurs über das Ornament-Problem, der vor dem Ersten Weltkrieg geführt worden war, einzubeziehen. So schreibt er am Anfang seines Textes: „Für uns hat heute die Idee einer schmucklosen Architektur so nahezu den Status eines der zehn Gebote, dass es schwierig ist, sich vorzustellen, es sei der Gedanke nur eines Menschen und dass es viel einfacher ist, sich vorzustellen, sie entspringe dem kollektiven Unterbewusstsein der Pioniere des modernen Designs. Aber die überlieferten schriftlichen Zeugnisse der ersten zwanzig Jahre diese Jahrhunderts weisen nicht auf eine weit verbreitete Ablehnung der Dekoration hin.“30 Darauf lässt Banham eine gründliche Vernichtung der Logik von Loos’ Argumenten folgen. Der Text, wie er am Anfang offen bekennt, „ist noch heute, ein halbes Jahrhundert nachdem er geschrieben wurde, eine unglaubliche Leistung.“31 „Aber“, fügt er hinzu, „er hält einer zweiten Lektüre nicht stand. Das ist Schlagobers-Philosophie, die zu einem aufregenden Gericht auf dem Kaffeetisch aufschäumt, aber dann, bei näherem Hinsehen, zusammenfällt wie ein abkühlendes Soufflé. Es ist nicht ein logisch aufgebautes Argument, sondern eine Aufeinanderfolge von schnell dahergeredeten Spätzündern und Gedankensprüngen, die eine bedenkliche Ansammlung von Zeugenscharen zusammenhalten – Kaffeehaus-Freudianismus, Kaffeehaus-Anthropologie, Kaffeehaus-Kriminologie. Die Aussagen dieser unterschiedlichen
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Zeugen unterstützen einander nicht wirklich, aber sie müssen zu ihrer Zeit überzeugt haben, zum Teil, weil sie alle damals überzeugend waren, zum Teil weil sie neu und heiß waren [...].“32 Dann versetzt Banham Loos den Gnadenstoß: „[...] [Loos’] Position war klar: alle Formen der kulturellen Regression sind ein Verbrechen und eine Vergeudung, das Ornament ist eine kulturelle Regression und muss daher eine Vergeudung und ein Verbrechen sein, schlimmer als das, ein Sexualverbrechen.“33 Er tut alle Einschränkungen seines Arguments, die Loos akribisch herausgearbeitet hat, als reine Ausflüchte ab: „[...] ein weiterer Schock ist“, so schreibt er, „dass er das Thema mit ‚Weichmachern‘ absichert.“34 Banhams Lesart sollte alle, die in den darauf folgenden drei Jahrzehnten über Loos und seinen Artikel schrieben, beeinflussen. Seine Darstellung von Loos als einem etwas verstörten, aber weitsichtigen Eiferer sollte zum Standard werden, vor allem in der englischsprachigen Welt. Sie sollte ein Teil des konstanten Hintergrunds für die Botschaft der Moderne werden. Aber es waren nicht nur Theoretiker und Kritiker, die in Ornament und Verbrechen Kraft und Unterstützung fanden. Auch junge Architekten, die es als Glaubensfrage akzeptiert hatten, dass das Ornament seine Gültigkeit verloren hatte, fanden darin ein Mittel, ihre Position zu verteidigen. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg boten die Argumente von Loos gegen das Ornament, die üblicherweise nur oberflächlich zitiert wurden, eine Möglichkeit, auf das Thema des Ornaments zu verzichten, und die, die dieses Prinzip in Frage stellten, wurden zu Abtrünnigen. Aber Änderungen waren schon im Anzug. In den frühen 1960er Jahren begann eine Gruppe junger Österreicher – unter ihnen Friedrich Achleitner, Johann Georg Gsteu, Friedrich Kurrent und Johannes Spalt –, die an der Wiener Akademie der Bildenden Künste oder an der Technischen Universität studiert hatten, mit der Neubewertung von Loos, seinen Arbeiten und seinen Ideen. Später schlossen sich etwas jüngere Persönlichkeiten an, unter ihnen Hermann Czech, Wolfgang Mistelbauer, Burkhardt Rukschcio und Roland Schachel. Das Ergebnis war eine geschichtlich viel fundiertere und nuanciertere Darstellung, denn als Erben der Tradition der Wiener Moderne erfassten sie die Bedeutung von Loos’ kulturellem Ansatz. Eines der Ergebnisse dieser Neubewertung war die Publikation der ersten von zwei geplanten Bänden mit den Gesammelten Schriften von Loos, herausgegeben von Franz Glück im Jahr 1962.35 Auch durch die Publikation von Der Architekt Adolf Loos von Ludwig Münz und Gustav Künstler im Jahr 1964 konnten einige Missverständnisse ausgeräumt werden.36 Als zwei Jahre später die englischsprachige Version des Buches erschien, die eine mehr als brauchbare Übersetzung von Ornament und Verbrechen enthielt, erfassten einige sogar Loos’ feine Differenzierungen. Der amerikanische Historiker William Jordy schrieb beispielsweise in einer Besprechung des Buches im Journal of the Society of Architectural Historians, dass Loos das Ornament gar nicht gänzlich habe verbannen wollen. Der vollständige Text sei in diesem Punkt weitaus spezifischer. Wie Loos auch an anderer Stelle schreibe, ginge es darum, dass eine moralisch vertretbare Architektur durch Form und
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Material spreche, nicht durch aufgesetzte Dekoration.37 Joseph Rykwert anerkennt auch Loos’ evolutionären Ansatz; er schreibt einige Jahre später in London: „Loos stellt das Axiom auf: ‚evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande’.“38 Aber er stellte Loos wegen seiner Widersprüchlichkeit zur Rede (und übersah dabei, dass Loos in Wirklichkeit gar nicht widersprüchlich war). „Seine Schuhe, räumt er ein, sind über und über mit Ornamenten bedeckt. Straßenschuhe im englischen Stil, muss man annehmen.“39 Rykwert spricht mit Loos davon, dass die Anfertigung solcher Ornamente dem Schuster Freude mache und der Mann für seine Arbeit zurecht entlohnt werde. Dennoch zeigt Rykwert ein merkliches Verständnis für den Kontext des Traktats – auch wenn er sich auf einige der auffälligeren Tatsachen konzentriert –, indem er bemerkt: „Bis 1908, dem Jahr, in dem Ornament und Verbrechen erschien, hatte sich das Meinungsklima geändert. Sogar die führenden Wiener Mitglieder der Secession, wie Joseph Olbrich, arbeiteten in einem nüchternen, ornamentlosen klassischen Stil.“40 In den folgenden Jahrzehnten variierten die Darbietungen über Ornament und Verbrechen, es gab sowohl aufschlussreiche und sehr genaue, als auch höchst fehlerhafte und etwas abgehobene Deutungen. Im Jahr 1970, als Rykwert schrieb (es war der einhundertste Geburtstag von Loos), publizierte Willy Haas eine lebhafte Erinnerung daran, dass er vor dem Ersten Weltkrieg einen Vortrag von Loos gehört hatte.41 Es gab aber noch viel, viel mehr Autoren, die alles völlig falsch sahen. In seinem Buch The Evolution of Allure, aus dem Jahr 1996, schreibt George L. Hersey zum Beispiel: „1908 schrieb Loos einen Aufsatz mit dem Titel Ornament und Verbrechen. [...] Er verdammte alle architektonischen Ornamente als primitiv.“42 Schlimmer aber waren die Autoren, die Loos das Verbrechen, er wolle das Ornament für unsere Zeit gänzlich ausrotten (als ob das möglich wäre), oder andere ‚vermeintliche‘ Verbrechen vorwarfen. Bernie Miller und Melody Ward kritisierten Loos in ihrer Einleitung zu ihrem Buch Crime and Ornament: The Arts and Popular Culture in the Shadow of Adolf Loos wegen „rassistischer und frauenfeindlicher Beschreibungen, die ganz plakativ an der Oberfläche [des Textes] bleiben“43. Es gab aber auch einige kluge und umsichtige Darstellungen. Eine der besten kam von Ernst Gombrich in The Sense of Order: A Study in the Psychology of Decorative Art, die er zunächst als Teil der Wrightsman Vorlesungen am Institute of Fine Arts der New York University gehalten hatte. Obwohl auch hier die üblichen gelegentlichen inhaltlichen Fehler auftreten, gibt es echte Juwele der Einsicht. Er schreibt beispielsweise: „Die von Loos verkündete Ästhetik ging gewiss auf klassizistische Tradition zurück, die in jedem überflüssigen Ornament ein Symptom von Vulgarität sah. Aber seine Überzeugungen wurden auch verstärkt durch das Bestehen Ruskins und der englischen Reformer auf der Überlegenheit barbarischer und exotischer Überlieferungen. [...] Es war nur ein Schritt von dieser Überzeugung zu der Behauptung, daß der unbefriedigende Zustand des industriellen Zeitalters in Fragen des Ornaments in der Tat ein Symptom höherer Zivilisation sei.“44 Oder Gombrich wies darauf hin, dass Sullivan schon 1892 geschrieben hatte, „daß es ‚ästhetisch sehr zu unserem Vorteil wäre, wenn wir für einige Jahre gänzlich auf die Verwendung des Ornaments verzich-
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ten wollten, damit wir unser Denken ohne jedes Hindernis auf das Bauen von Häusern konzentrieren können, die wohlgeformt und anziehend aussehen, wenn sie nackt sind’.“45 „Die moralischen Beiklänge dieser Äußerung“, schloss Gombrich, „sind nicht zu verkennen“46, wobei er implizierte, dass Loos’ Position ebenso von einem ethischen Imperativ erfüllt war. Eine weitere brillante Zusammenfassung kam von Karsten Harries, publiziert an einem etwas ungewöhnlichen Ort: in seiner ausgezeichneten Studie bayerischer Rokoko-Kirchen aus dem Jahr 1983. Als er das Ornament-Thema von Loos dem Problem der überbordenden Dekoration im Bayern des späten 18. Jahrhunderts gegenüberstellt, wirft er die Frage auf: „Warum sollte man Ornament mit Verbrechen in Verbindung bringen? Man kann die unbehaglichen Kompromisse der Architektur des neunzehnten Jahrhunderts zwischen Form und Funktion aus ästhetischen Gründen kritisieren. [...] Aber ist dies eine Rechtfertigung dafür, jegliches Ornament zu verurteilen? Etwas als Verbrechen zu bezeichnen heißt, zu sagen, dass es einen ernsthaften Angriff gegen das Gemeinwohl darstellt. Ist das Ornament ein solcher Angriff? Loos sagt, ja. Ist das Ornament nicht eine schreckliche Verschwendung von Zeit und Geld, die man besser für Nahrung, Medizin und Bildung ausgeben sollte? Angesichts der Unterernährung und des Analphabetentums, die im Bayern des achtzehnten Jahrhunderts weit verbreitet waren, wie kann man da das Ornament verteidigen? [...] Die kulturelle Entwicklung, so wie Loos sie versteht, ist untrennbar mit wirtschaftlichem Erfolg verbunden.“47 In den letzten Jahren kamen andere gute und korrekte Darstellungen hinzu,48 obwohl es noch immer mehr Darstellungen gibt, die auf einer oberflächlichen Betrachtung und auf der simplen Gleichung „Ornament ist Verbrechen“ beruhen. Die Frage ist natürlich: Warum? Einerseits ist die Ursache sicherlich intellektuelle Trägheit. Loos wird immer von denen zitiert, die sich nicht die Mühe gemacht haben, seine Argumentation vollständig zu erfassen (in manchen Fällen scheinen sie sich nicht einmal die Mühe gemacht zu haben, sein Traktat zu lesen) oder den Kontext zu verstehen, in dem er arbeitete. Aber es gibt noch einen anderen Grund, einen der zweifellos den Kern trifft und zu erklären vermag, warum Ornament und Verbrechen so eine lange und spezielle Nachwirkung hatte. Es war schrecklich praktisch zu behaupten, dass Loos jedes Ornament von vornherein ablehnte. Die frühen Vertreter der Moderne taten es, um ihre Sache zu unterstützen, die späteren Kritiker der Moderne taten es, um die orthodoxen Modernisten anzugreifen, und die Historiker und Kritiker taten es, weil es eine glattere Erzählung oder Kritik ergab. Dass seine Vorbehalte dem Ornament gegenüber viel komplexer waren oder dass seine puristischen kubischen Gebäude üppige Interieurs, die im klaren Widerspruch zum Äußeren standen, verbargen, wurde übersehen, weil diese Dinge leicht zu übersehen sind. Es war einfach, die Kontinuität in seinen Ansichten und seiner Arbeit zu sehen, aber ungleich schwieriger, ihre scheinbaren Widersprüche zu erklären. Es war bequem und zweckdienlich, diese Unstimmigkeiten zu ignorieren, – bequem, weil es viel weniger intellektuelle Arbeit erforderte, die Teile der Arbeit von Loos, die nicht ganz zu dem neuen Glauben an die
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Moderne passten, zu ignorieren, zweckdienlich, weil es so nützlich und praktisch war, einfach Ornament mit Verbrechen gleichzusetzen. Loos und Ornament wurde ein perfektes Gespann, oder besser gesagt, eine perfekte Zutat, um jedes polemische Gericht zu verbessern. Es hatte die großartige Qualität eines totalen Arguments – und weil es so bekannt war, konnte man es als Stichwort verwenden. Loos lehnte jedes Ornament ab und das war, abhängig vom Standpunkt des Autors, entweder gut oder schlecht. Weitere Ausschmückungen hätten das Argument nur verwässert. Und so lebte Loos’ Vortrag weiter. Er wurde unverzichtbar und unumgänglich. Heute ist er ein fester Bestandteil der Moderne, ein typisches Merkmal des architektonischen Diskurses der Gegenwart. Wahrscheinlich wird er so lange weiterleben, so lange sich die Frage des Ornaments selbst stellt – oder, wie Loos meinte, bis das Thema durch die Entwicklung der Kultur irrelevant geworden ist. Noch Aldo Rossi schrieb 1982 über Adolf Loos: „Sein bester Text und der faszinierendste Titel, den es geben kann, Ornament und Verbrechen, ist eine Rechtfertigung des Ornaments und endet dementsprechend in der Unmöglichkeit.“49
Anmerkungen 1
Adolf Loos: Ornament und Verbrechen. Ausgewählte Schriften. Die Originaltexte. Wien 2000/ Debra Schafter: The Order of Ornament. The Structure of Style. Theoretical Foundations of Modern Art and Architecture. Cambridge 2003/Eduard Sekler: Josef Hoffmann. Wien 1982/Rainald Franz: Josef Hoffmann and Adolf Loos: The Ornament Controversy in Vienna. In: Josef Hoffmann. Designs. Ausst.Kat. IBM-Gallery, New York/MAK Wien. New York 1992, S. 11–16/Rainald Franz: Leben mit Loos oder der Kontext als Korrektiv. In: Leben mit Loos. Hrsg. von Inge Podbrecky/ Rainald Franz. Köln/Wien 2008, S. 7–16/Rainald Franz: Der Kulturbegriff bei Adolf Loos: Ein Vordenker der ‚Erweiterung’? In: Leben mit Loos. Hrsg. von Inge Podbrecky/Rainald Franz. Köln/Wien 2008, S. 89–107.
2
Adolf Loos: Ein Wiener Architekt. In: Dekorative Kunst, 1898, S. 227.
3
Adolf Loos: Meine Bauschule. In: Der Architekt, XIX, 1913.
4
Josef Hoffmann: Einfache Möbel. Entwürfe und begleitende Worte von Professor Josef Hoffmann. In: Das Interieur, II, 1901, S. 13 ff.
5
Adolf Loos: Die Überflüssigen. Zitat aus einem undatierten Briefentwurf (1930?). Abgedruckt in: Burkhardt Ruckschio/Adolf Schachel: Adolf Loos. Salzburg 1987, S. 53.
6 7
Adolf Loos: Wohnungsmoden. In: Frankfurter Zeitung, Nr. 340, 8.1.2.1907, S. 1. Adolf Loos: Zitat aus einem undatierten Manuskript. Abgedruckt in: Ruckschio/Schachel 1987 (Anm. 5), S. 63. Adolf Loos: Kulturentartung (1908). In: Adolf Loos: Trotzdem. 1900–1930. Hrsg. von Adolf Opel. Innsbruck 1931, S. 77.
8 9
Loos 1987 (Anm. 5), S. 63. Alois Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik. Wien 1893/Gottfried Semper: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik. Frankfurt am Main 1860 (Bd. I), München 1863 (Bd. II).
10 Hans Macht: Das constructive Prinzip der Ornamentik. In: Mitteilungen des k.k. österreichischen Museums für Kunst und Industrie, 1897, Nr. 144, S. 528 ff. Vgl.: Dieter Bogner: Das ‚constructive‘ Ornament – Der Beitrag Wiens zur Abstraktion. In: Ornament und Abstraktion. Kunst der Kultu-
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ren, Moderne und Gegenwart im Dialog. Auss.Kat. Fondation Beyeler. Hrsg. von Markus Brüderlin. Basel/Köln 2001, S. 36 ff. 11 Macht 1897 (Anm. 10), S. 528. 12 Macht 1897 (Anm. 10), S. 528. 13 Loos 2000 (Anm. 1). 14 Im Original lautet der Satz: „ich habe folgende erkenntnis gefunden und der welt geschenkt: evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande“. Adolf Loos: Ornament und Verbrechen. In: Loos 1931 (Anm. 7), S. 82. Vgl. Christopher Long: Ornament ist nicht wirklich ein Verbrechen. Über die lange und kuriose Nachwirkung von Adolf Loos’ legendärem Vortrag. In: Adolf Loos. Our Contemporary. Hrsg. von Yehuda Safran. New York 2011, S. 111–130. 15 Ernst Bloch: Hintergründe des Kunstwollens, in: Geist der Utopie, Frankfurt 1985, S. 29. 16 Walter Riezler: Die Form ohne Ornament. Werkbundausstellung. Stuttgart/Berlin/Leipzig 1924; Barbara Mundt: Form ohne Ornament? Angewandte Kunst zwischen Zweckform und Objekt. Ausst.Kat. Kunstgewerbemuseum Berlin. Berlin 1999. 17 Josef Hoffmann: Arbeitsprogramm der Wiener Werkstätte (1905). Nachdruck in: Der Preis der Schönheit. 100 Jahre Wiener Werkstätte. Hrsg. von Peter Noever. Ostfildern/Ruit 2003. 18 Adolf Loos: Ornament und Erziehung. In: Adolf Loos: Sämtliche Schriften. Bd. I. Hrsg. von Franz Glück. Wien 1962, S. 395. 19 Loos 1962 (Anm. 18), S. 395. 20 Es gab natürlich Ausnahmen. Der tschechische Schriftsteller und Kritiker Bohumil Markalous erwähnte beispielsweise ausdrücklich Ornament und Verbrechen in seinem Loos-Porträt. Bohumil Markalous: Männer unserer Zeit: Adolf Loos. In: Wohnungskultur 1924/1925. Nachdruck in: Konfrontationen: Schriften von und über Adolf Loos. Hrsg. von Adolf Opel. Wien 1988. S. 97–103. Vgl. auch Paul Westheim: Loos: Unpraktisches kann nicht schön sein. In: Die Form (1930). Nachdruck in: Konfrontationen 1988 (Anm. 20), S. 125–128. 21 Cesare Lombroso: L’uomo delinquente. Mailand 1876. Vgl: Cesare Lombroso: Palimsesti dal carcere: Raccolta unicamente destinata agli uomini di scienza. Turin 1888. Es gibt zahlreiche Wissenschaftler, die in Lombroso die Quelle für Loos’ Ideen über Kriminalität und Ornament sahen. Vgl. Mark Anderson: Kafka’s Clothes: Ornament and Aestheticism. In: The Habsburg Fin de Siècle. New York/Oxford 1995. S. 180–82/Jimena Canales/Andrew Herscher: Criminal Skins: Tattoos and Modern Architecture in the Work of Adolf Loos. In: Architectural History 48, 2005, S. 235–256; George L. Hersey: The Evolution of Allure, S. 131/Sherwin Simmons: Ornament, Gender, and Interiority in Viennese Expressionism. In: Modernism/Modernity 8, H. 2. April 2001, S. 245–276/Cesare Lombroso: Der Verbrecher, in anthropologischer, ärzlicher und juristischer Beziehung. Übers. von M.O. Fraenkel. 2 Bde. Hamburg 1887, S. 254. 22 Der Wiener expressionistische Dichter Albert Ehrenstein, der ein Mitglied des Kreises um Kraus und Loos war, schrieb beispielsweise, wie unterhaltsam es war, einen Vortrag von Loos zu hören. Albert Ehrenstein: Vom Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Schlafen, Essen, Trinken. In: Berliner Tageblatt, 28. November 1911. 23 „Aus dreißigjährigen kampfe bin ich als sieger hervorgegangen: ich habe die menschheit vom überflüssigen ornament befreit. ‚Ornament war einmal das epitheton für schön.‘ Heute ist es dank meiner lebensarbeit ein epitheton für ‚minderwertig‘.“ Loos 1931 (Anm. 7), S. 5. 24 Loos 1931 (Anm. 7), S. 5. 25 Loos 1931 (Anm. 14), S. 202–204. 26 Loos 1931 (Anm. 14), S. 202. 27 Paul Westheim: Loos: Unpraktisches kann nicht schön sein. In: Konfrontationen 1988 (Anm. 20), 127.
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28 Vgl. Siegfried Giedion: Space, Time and Architecture: The Growth of a New Tradition, 5. Ausg. Cambridge/Mass. 1974, S. 320–321. 29 Victor Loos: Das Haus auf dem Michaelerplatz: Ein Gedächtnismal für den Erbauer Adolf Loos. Nachdruck in: Alle Architekten sind Verbrecher. Adolf Loos und die Folgen: Eine Spurensicherung. Hrsg. von Adolf Opel/Marino Valdez. Wien 1990. S. 175–222. 30 Reyner Banham: Ornament and Crime: The Decisive Contribution of Adolf Loos. In: Architectural Review. 121, Februar 1957, S. 85–86 (Übers. des Autors Rainald Franz). 31 Banham 1957 (Anm. 30), S. 86. 32 Banham 1957 (Anm. 30), S. 86. An anderer Stelle beschreibt Banham den Aufsatz als „brillant, verworren und sehr wienerisch“. Reyner Banham: Guide to Modern Architecture. London 1962, S. 31. 33 Banham 1957 (Anm. 30), S. 87. 34 Banham 1957 (Anm. 30), S. 87. 35 Loos 1962 (Anm. 18), S. 395. Es sollte erwähnt werden, dass der zweite Band nie erschienen ist. 36 Ludwig Münz/Gustav Künstler: Der Architekt Adolf Loos. Darstellung seines Schaffens nach Werkgruppen/Chronologisches Werkverzeichnis. Wien/München 1964. 37 William M. Jordy: Rezension von Ludwig Münz und Gustav Künstler. Adolf Loos: Pioneer of Modern Architecture. In: Journal of the Society of Architectural Historians, 26, Dezember 1967, S. 322. Der amerikanische Historiker Henry-Russell Hitchcock wiederum begnügte sich damit, die alten Mythen zu wiederholen. In seinem Werk Architecture: Nineteenth and Twenieth Centuries schrieb er: „Im Unterschied zu anderen Österreichern seiner Zeit, war Loos hauptsächlich an der Architektur, nicht am Dekor interessiert – und tatsächlich schrieb er im Jahr 1908 einen Artikel, der behauptet, Ornament ist Verbrechen, eine Ansicht, die von keinem anderen Architekten seiner Generation geteilt wurde, zumindest von keinem seiner Wiener Kollegen.“ (Hier in Übers. des Autors Rainald Franz). Henry-Russell Hitchcock: Architecture: Nineteenth and Twentieth Centuries. Harmondsworth 1958, S. 352. 38 Joseph Rykwert: The New Vision. In: Studio International, 186, Juli-August 1973, H. 957, S. 18. 39 Rykwert 1973 (Anm. 38), S. 18. 40 Rykwert 1973 (Anm. 38), S. 18. Die Bemerkung über Olbrich und die Secession war auch nicht ganz korrekt. Olbrich, der einige Zeit ernsthaft krank gewesen war, starb im Jahr 1908. Aber schon davor gehörte er, wie die meisten frühen bedeutenden Mitglieder, nicht mehr der Secession an. Durch die Abspaltung der so genannten Klimt-Gruppe war es einige Jahre zuvor zu einer grundlegenden Veränderung gekommen. Olbrich, der zur Jahrhundertwende nach Darmstadt abgereist war, hatte wenig Kontakt mit der Wiener Szene. 41 Es sollte ihm jedoch nicht ganz gelingen. Haas fasste Loos’ Ansichten über das Ornament in der folgenden pauschalen Aussage zusammen: „Seine Philosophie umfaßte alle Funktionen des Lebens [...], aber sie kreiste um einen einzigen Gedanken: das Ornament in allen seinen Erscheinungsformen als Stigma des Verbrechens, des Primitiven und Barbarischen anzuprangern.“ Willy Haas: Ich sage Ihnen, alle Architekten sind Verbrecher: Adolf Loos, der Schrittmacher des modernen Bauens – Erinnerungen zu seinem 100. Geburtstag. In: Die Welt, 5. Dezember 1970, Nachdruck in: Alle Architekten sind Verbrecher 1990 (Anm. 29), S. 33–34. 42 George Hersey: The Evolution of Allure: Sexual Selection from the Medici Venus to the Incredible Hulk. Cambridge, Mass./London 1996, S. 131. 43 Bernie Miller/Melody Ward: Introduction. In: Crime and Ornament: The Arts and Popular Culture in the Shadow of Adolf Loos. Hrsg. von Bernie Miller/Melody Ward. Toronto 2002, S. 19. Jan Zwicky, der in derselben Anthologie schrieb, griff Loos auch wegen seiner vermeintlich ‚rassistischen‘ und ‚soziobiologischen‘ Kommentare an und behauptete, seine Argumentation sei „getränkt mit
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Fortschrittsmythologie“ und „sentimentalen Ansichten über die Klassenhierarchie“. Jan Zwicky: Integrity and Ornament. In: Crime and Ornament 2002 (Anm. 43), S. 205. 44 Ernst H. Gombrich: The Sense of Order: A Study in the Psychology of Decorative Art. Ithaca/New York 1979, S. 59–60. Hier zitiert nach: Ernst H. Gombrich: Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffems. Stuttgart 1982, S. 72. 45 Gombrich 1982 (Anm. 44), S. 71. 46 Gombrich 1982 (Anm. 44), S. 71. 47 Karsten Harries: The Bavarian Rococo Church: Between Faith and Aestheticism. New Haven/ London 1983, 247–48. (Hier in Übers. des Autors Reinald Franz.) 48 Vgl. Jörg H. Gleiter: Rückkehr des Verdrängten. Zur kritischen Theorie des Ornaments in der architektonischen Moderne. Weimar 2002. 49 Aldo Rossi: The architecture of Adolf Loos. In: Benedetto Gravagnolo: Adolf Loos. Theory and Works, Mailand 1982, S. 12.
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Vom Ornament zum Muster in der Mikrofotografie der Moderne Die Geschichte des Mikroskops zeigt, dass schon in der Frühzeit der Mikroskopie neben dem Wunsch nach Erkenntnis der Mikrowelten das Ziel eine dekorativ wirkende, zeichnerische Wiedergabe des Gesehenen war. So wurden in den Werken der ersten Mikroskopiker seit dem 17. Jahrhundert die Formen des Mikrokosmos in erstaunlich schönen Bildern dargestellt. Der Naturwissenschaftler wurde zum Zeichner auf höchstem Niveau. Robert Hooke war ein englischer Physiker, Mathematiker und Erfinder. Er baute mit Linsen das erste dokumentierte Lichtmikroskop. Damit erstellte er bis dahin unbekannte mikroskopische Zeichnungen pflanzlicher Zellen, die er in seinem Buch Micrographia 1665 veröffentlichte. Als eigentlicher Erfinder des Mikroskops gilt jedoch der niederländische Naturforscher Antoni van Leeuwenhoek. Er erlernte die Kunst des Linsenschleifens und baute seine eigenen einlinsigen Mikroskope, mit denen er bis zu 270-fache Vergrößerungen erreichte, was die Leistung der ersten Mikroskope bei weitem übertraf. Er führte wahrscheinlich als erster die Färbung mikroskopischer Präparate zur besseren Kontrastierung und Darstellung durch. Leeuwenhoek bestätigte die Entdeckung des Kapillarsystems und lieferte die erste genaue Beschreibung von roten Blutkörperchen. 1677 beschrieb er die Spermatozoen von Insekten und Menschen und widersprach der vorherrschenden Theorie von der Spontanzeugung der kleinsten Lebewesen. Er wies nach, dass sich Kornkäfer, Flöhe und Muscheln aus Eiern entwickeln und nicht, wie man damals glaubte, spontan aus Schmutz oder Sand. Leeuwenhoek hütete sein Geheimnis der Kunst des Linsenherstellens, so dass Bakterien erst wieder beobachtet werden konnten, als es im 19. Jahrhundert gelang, bessere mehrlinsige Mikroskope zu bauen. Mit der Mikrofotografie sollten nicht einfach nur Illustrationen in Fachaufsätze eingeschoben werden. Sie waren in ihrer ästhetischen Aufbereitung auch an jene Form angelehnt, die die Naturforscher aus Formenkatalogen der Naturgeschichte und mit Kupfertiefdrucken versehenen Tafelwerken kannten, zu denen vor allem Christian Gottfried Ehrenbergs Zeichnungen von Einzellern wie „Infusionsthierchen“ gehörten. Die Darstellungsform dieser naturkundlichen Arbeiten setzte einzelne Objekte nebeneinander. Die Mikrofotografen im 19. Jahrhundert sollten dann diese klassische Präsentationsform naturwissenschaftlicher Darstellung aufnehmen, um eine Vielfalt von Formen geordnet nebeneinanderzustellen. Damit wurden die Darstellungsformen der Naturgeschichte in das neue Medium der Fotografie transformiert.
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Als der Physiker François Arago am 7. Januar 1839 der Académie des Sciences in Paris die ersten Daguerreotypien vorstellte, benannt nach deren Erfinder Louis Jacques Mandé Daguerre, betonte er die unschätzbare Bedeutung dieses neuen Verfahrens für die Naturwissenschaften. Interessanterweise waren unter den Wissenschaftlern, die die neue Bildtechnik begeistert aufnahmen und wie Andreas Ritter von Ettingshausen für ihren Bedarf weiter entwickelten, viele Spezialisten der Mikroskopie. Dessen Mikro-Daguerreotypie des Schnitts durch den Stengel einer Clematis aus dem Jahr 1840 verdeutlicht, dass auch in der Frühzeit der Mikrofotografie die faszinierende Schönheit der mit bloßem Auge nicht wahrnehmbaren Mikrowelten die Naturwissenschaftler nicht unberührt ließ und der Blick durch das Mikroskop nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern häufig auch einen ästhetischen Reiz bot. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht bekannt, dass Daguerres englischem Konkurrenten William Henry Fox Talbot die mikroskopische Wiedergabe eines Libellenflügels auf einem Salzpapiernegativ bereits gelungen war. William Henry Fox Talbot gilt zusammen mit Daguerre als Erfinder der Fotografie. Talbot hatte sein Werk Pencil of Nature, wie er seine Kontaktnegative nannte, genauso wie Daguerre 1839 etabliert, aber im Gegensatz zu diesem nicht publik gemacht. Das Wettrennen gewann Daguerre aber nur kurzfristig. Denn während die Daguerreotypie ein Unikat darstellte, noch dazu seitenverkehrt, bestanden die Vorzüge des Verfahrens von Talbot, vom gewachsten Papiernegativ beliebig viele Abzüge machen zu können. Seine Talbotypie eines Mottenflügels gilt als die erste überkommene Mikrofotografie. Praktisch etabliert ist die Mikroskop-Fotografie seit etwa 1860. Die Mikrofotografie bot nicht nur die Möglichkeit, die für das bloße Auge unsichtbaren Formen des Mikrokosmos in ein sichtbares Abbild der Natur umzuwandeln und so die Forschungsergebnisse bildhaft zu verbreiten. Sie wurde auch als ideales Mittel angesehen, die subjektive Beobachtung eines Naturphänomens objektiv wiederzugeben, ohne die interpretierende Hand eines Zeichners oder dessen Gehirn dazwischen schalten zu müssen. Darüber hinaus erlaubte sie dem Forscher, sich nicht auf wenige charakteristische Fragmente beschränken zu müssen, sondern das gesamte mikroskopische Bildfeld zeigen zu können. So wurde die Mikrofotografie bald zum konstitutiven Element der Naturwissenschaft. Hinzu kam, dass in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts dank der Entwicklung des achromatischen Mikroskops die Entdeckung von Lepra-, Typhus-, Cholera-, Diphterie- und Tetanus-Mikroben durch Louis Pasteur und Robert Koch, der sich der Mikrofotografie bediente, die Erkenntnis von den Lebenswelten jenseits des Sichtbaren zur Überlebensfrage machte. Bislang hatte man geglaubt, es gebe lebendige Dinge, die unsichtbar sind, weil sie immateriell, aber von Gott oder einem Geist belebt seien. Jetzt wusste man, dass man diese lebendigen Dinge nur wegen ihrer geringen Größe nicht hatte sehen können. Wie Franziska Brons in ihrem Artikel Kochs Kosmos im Katalog Mikrofotografie – Schönheit jenseits des Sichbaren schreibt, der 2010 anlässlich der gleichnamigen Ausstel-
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1 Robert Koch, I M Mucedo 6 x, Köpfchenschimmel, Silbergelatine, Robert Koch-Institut Berlin, undatiert
lung im Museum für Fotografie und in der Alfred Ehrhardt Stiftung Berlin erschien, war Koch, obgleich ein versierter Naturzeichner, „bei Arbeiten über Bacterien auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestossen“ und hoffte, „dieses Hindernis durch Anwendung der Mikrofotografie beseitigen zu können“1. Nach Einschätzung seiner Zeitgenossen setzten Koch und seine Kollegen im Bereich der Mikrofotografie ab 1876 über Jahrzehnte hinweg neue Maßstäbe. Angesichts der zahllosen Fotografien, die das Robert Koch-Institut in Berlin bewahrt, kann man nicht umhin festzustellen, dass die Naturwissenschaftler auf der Suche nach Erkenntnis auch der Schönheit des Mikrokosmos erlegen waren (Abb. 1). Eine 1881 veröffentlichte Abbildung von Robert Koch legt Zeugnis ab von dessen Versuch, das Bild eines zuvor noch nicht erschlossenen Mikrokosmos durch eine Übertragung makroskopischer Naturbeobachtungen mit figurativer Bedeutung zu versehen. Die Abbildung wird zur Blumenwiese. Es lassen sich zahllose weitere Beispiele dafür finden, wie unbekannte mit bekannten Ansichten der Natur verknüpft wurden. Damit geht Koch zurück auf Robert Hookes Micrographia aus dem Jahr 1665. „Immer wieder erkannte der englische Gelehrte in den abstrakten Strukturen dessen, was erst durch das Mikroskop erkenntlich wurde, aus der täglichen Erfahrung bekannte Motive: Auf einer Nadelspitze tat sich ihm ein kleines Gebirge auf, in der Messerschneide entdeckte er Furchen und Täler.“2 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die ästhetische Betrachtung der Naturformen im Mikrobereich maßgeblich angeregt durch den Biologen Ernst Haeckel.
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Haeckel galt in seiner Zeit als der bedeutendste Evolutionsbiologe auf dem Kontinent, der weltweit als einer der ersten die Darwin’sche Lehre übernahm und verbreitete. Er war eine schillernde Erscheinung in der Geschichte der Naturwissenschaften, dessen Werke bis heute unsere Vorstellung von Natur prägen. Wie für Goethe war für Haeckel die Naturanschauung Grundinstrument einer wissenschaftlichen Naturerfahrung. Mit seiner Naturphilosophie des „Monismus“ versuchte er, die materialistische Weltanschauung als pantheistischen Religionsersatz zu etablieren. Sein populärwissenschaftlicher Bestseller Die Welträthsel von 1899 erreichte alleine in der deutschen Auflage eine halbe Millionen Exemplare und wurde sehr schnell in 27 Sprachen übersetzt. Darin entwickelte er eine evolutionsbiologisch begründete Weltanschauung, bei der er die zentrale Bedeutung der Biowissenschaften für die menschliche Kultur proklamierte. In Deutschland war die Resonanz durch Haeckels antiklerikale, plakativ materialistische Position besonders in der Jugendbewegung und auch in der Arbeiterschaft groß. Nach einem gemeinsamen Auftritt mit Karl Liebknecht in der Berliner Hasenheide 1914 kam es zu massenhaften spontanen Kirchenaustritten. Haeckel war nicht nur Wissenschaftler, sondern er war auch ein begnadeter Zeichner. Seine zwischen 1899 und 1904 publizierten Hefte Kunstformen der Natur waren von großem Einfluss auf die Kunst seiner Zeit. In diesen populären Verkaufsschlagern hatte Haeckel seine goetheanisch geprägte Natursicht mit Zeichnungen von Muscheln, Korallen, Schwämmen und mikroskopischen Vergrößerungen von Radiolarien sowie anderen Kleinstformen und -lebewesen veranschaulicht, die als Bildvorlage der Förderung von Bildender Kunst und Kunstgewerbe dienlich sein sollten (Abb. 2). Seine Kunstformen der Natur vermittelten eine bis dahin unbekannte ästhetische Betrachtung der Pflanzen- und Tierwelt, die gerade auch in Künstlerkreisen auf große Resonanz stieß, weil die Natur selbst als bildende Künstlerin auftrat. In der positivistisch-naturwissenschaftlich geprägten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere aber in der Zeit um die Jahrhundertwende hatten die Biowissenschaften umfassenden Einfluss auf alle Bereiche des Lebens und der Kultur. Im Bemühen, die „Kräfte des natürlichen Lebens“ sichtbar zu machen, wurde die biomorphe Gestaltung zum Wesensmerkmal der Kunst der Moderne. Das Organische wurde zum zentralen Begriff in einem Kulturkonzept, das kulturelle durch natürliche Kategorien erklärte. So wurden bereits im 19. Jahrhundert die Tapetenentwürfe von William Morris, die Blumen oder Girlanden zeigen und Pflanzenornamente abbilden, zum Maßstab eines beeindruckenden Innendekors. Auch die nach Haeckel-Vorbild angelegten Bildmuster des belgischen Jugendstilarchitekten Victor Horta wurden zur Vorlage überall dort, wo es um Dekor und Design ging. Was man für die korrekte Darstellung von Natur hielt, wanderte zu dekorativen Zwecken ins Wohnzimmer. Mit der Arbeit von Künstlern und Kunsthandwerkern fanden die Haeckel’schen Naturdarstellungen ihre Anwendung als Naturdesign. So griffen viele Künstler und Architekten tief in die Kiste der Haeckel’schen Offenbarungen. Als berühmtestes Beispiel gilt das Eingangstor zur Pariser Weltausstellung von 1900,
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2 Ernst Haeckel, Diatomea, Schachtellinge, in: ders., Kunstformen der Natur, Leipzig und Wien 1899– 1904, Tafel 4
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das der Architekt René Binet nach dem Bild einer Haeckel’schen Radiolarie konzipierte, die er ins Monumentale übertrug. Radiolarien und Diatomeen sind Meereseinzeller, einfach gesagt Algen, die zu den Photosynthese betreibenden Protisten zählen und für 50 Prozent des Sauerstoffgehalts unserer Erde sorgen. Radiolarien kommen als Plankton in den Meeren in sehr großen Mengen vor. Nach ihrem Absterben sinken sie ab, wobei die organischen Bestandteile zersetzt werden und nur das Skelettmaterial erhalten bleibt, das aus Siliziumdioxid besteht. Durch Haeckel wurde das mikroskopische Bild Vehikel einer von den Naturwissenschaften – und insbesondere der Biologie – getragenen Ästhetik, die die Vorbildfunktion der Natur für die Kunst in den Fokus rückte. Haeckels Werk fand zwar in ganz Europa große Verbreitung, aber von nachhaltendem, künstlerischem Einfluss war es vor allem im deutschsprachigen Raum. Haeckel hatte schon bei der Beschreibung der von der britischen Challenger-Expedition gesammelten Radiolarien über 3500 neue Arten benannt. Sein Atlas der Radiolarien von 1862 umfasst drei Bände mit 2750 Druckseiten und 140 detaillierten Bildtafeln. Aber Haeckel verwendete ausschließlich Zeichnungen, obwohl die Mikrofotografie längst respektable Ergebnisse erbrachte. So gelangen Gustav Fritsch bereits 1870 hervorragende Aufnahmen von Diatomeen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie bei aller Nüchternheit und Präzision der Darstellung bereits eine eigene ästhetische Qualität aufweisen. Mit Fritschs Aufnahmen wurden Kunstformen der Natur vor Augen geführt, auf kleinem Raum, in einer eigenen ästhetischen Präsentation, wie in einer Art mikroskopischen Schauvitrine. Entsprechend wurde die Herstellung von ästhetisch beeindruckenden Mikropräparaten, die keine naturwissenschaftliche Klassifizierung zum Ziel hatten, Ende des 19. Jahrhunderts professionalisiert. Diese Schaupräparate waren sehr teuer und dienten nicht nur im wissenschaftlichen Kontext als Dokument biologischer Strukturdiversifikationen, sondern demonstrierten die Ästhetik der Natur. Johann Diedrich Möllers Legepräparate zeigen, bis zu welcher Virtuosität diese Art der Präparationsbearbeitung gehen kann. Die Krönung seiner Meisterschaft ist das Universum Diatomacearum Moellerianum (Abb. 3). Diese einzigartige Typenplatte aus 4026, in 133 Reihen gelegten Diatomeen von unterschiedlichen Regionen der Welt ist ein von ihrem ursprünglich wissenschaftlichen Zweck abgekoppeltes Kunstobjekt. Es erscheint schwer vorstellbar, wie jemand eine so ruhige Hand haben kann, um über 4000 Diatomeen auf einem Glasplättchen auf weniger als einem Quadratzentimeter Raum versammeln zu können. Auch sehr eindrücklich ließ sich der Wiener Martin Gerlach durch Haeckels Werk dazu anregen, für die Erstellung seiner Vorlagenmappe für Kunsthandwerker Formenwelt aus dem Naturreiche (1902–1904) auf die Mikrofotografie zurückzugreifen. Gerlach fotografierte zu dieser Zeit noch nicht selbst und beauftragte den in Wien angesehenen Fotografen Hugo Hinterberger, Naturdinge so aufzunehmen, dass er mehrere flächenhafte Muster zu einem ornamentalen Tableau anordnen konnte.
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3 Johann Diedrich Möller, Universum Diatomacearum Moellerianum, Lichtdruck, 1891, Tafel 1
Martin Gerlach spielt bewusst damit, dass das Nebeneinander der naturalen Ornamente, normiert durch Größenausschnitt, Bildrahmung und das vereinheitlichende Schwarz-Weiß der Darstellung, eine eigene ästhetische Dimension gewinnt. In der Naturkunde wurden Serien nebeneinander gestellt, um den Blick für Differenzen zu schulen. In der künstlerischen Mikrofotografie wurde Differentes nebeneinander gestellt, um in den so zugeordneten Texturen Bildeinheiten zu schaffen und dem Mikrofoto eine eigene, künstlerische Dimension zu verleihen. Gerlach nahm hier Betrachtungsweisen vorweg, die über zwei Jahrzehnte später im Umfeld der Bauhaus-Avantgarde gängig wurden, indem er Mikrofotos mit unvergrößerten Strukturaufnahmen von Baumstämmen, Krokodilhäuten oder Borkenfraß auf einer Bildfläche anordnete. Das Mappenwerk Naturformen. Mikroskopische Vorbilder von Heinrich Schenk ist eine weitere künstlerische mikrofotografische Arbeit, die ohne Ernst Haeckels Vorbild nicht denkbar ist. Die Vorlagenmappe erschien um 1910 bis 1914 und enthält 96 Tafeln mit jeweils zwei Mikrofotografien, und zwar ausschließlich von Kristallformen. Der Verfasser des Vorworts, Karl Schmoll von Eisenwerth, sah Ernst Haeckels Kunstformen der Natur als „Lieferant ornamentaler Formen“. Schenk lag daran, Haeckels Formenschatz aus dem Mikrobereich um mikrofotografische Aufnahmen gewachsener Naturstrukturen zu bereichern, die als Flächenmuster die Vorlage für architektonische Dekorationselemente und kunstgewerbliche Ornamente bilden sollten. Den dreidimensionalen Zeichnungen von
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Radiolarien wurden nun die zweidimensionalen Flächenmuster kristalliner Formen hinzugefügt. 1913 erschien Romanus Schmehliks Artikel Aus der Werkstatt der Natur im Jahrbuch der künstlerischen Photographie. Unter den 16 Mikroaufnahmen waren auch farbige, in polarisiertem Licht aufgenommene Ansichten von Kristallen. Wie Schmehlik in seinem Artikel schrieb, war es sein Anliegen, „dank unserer heutigen Kenntnisse auf dem Gebiet der Mikroskopie, Photographie und Graphik für den ausführenden Künstler oder Gewerbetreibenden naturgetreue Vorlagen für Flächenmuster und körperliche Gegenstände nach Naturobjekten herzustellen“3. Im Vorwort zu seinen Kunstformen der Natur hatte Haeckel die objektive Wahrheit seiner naturgetreuen Zeichnungen betont: „Die moderne, bildende Kunst und das mächtig emporgeblühte Kunstgewerbe werden in diesen wahren Kunstformen der Natur eine reiche Fülle neuer und schöner Motive finden. Bei ihrer Zusammenstellung habe ich mich auf die getreue Wiedergabe der wirklich vorhandenen Naturerzeugnisse beschränkt, dagegen von einer stilistischen Modellierung und dekorativen Verwertung abgesehen: diese überlasse ich den bildenden Künstlern selbst“4. Seiner Auffassung nach konnte jeder, der die Quellen kannte, nach denen er seine Zeichnungen angefertigt hatte, sich überzeugen, dass er am Grundsatz der objektiven Darstellung festgehalten habe. Wenn er sich zu dieser Feststellung bemüßigt fühlte, so lag das darin begründet, dass er sich der Kritik erwehren musste, seine Zeichnungen seien stilisiert und die von ihm wiedergegebenen Formen kämen so in der Natur nicht vor. Um dieser Kritik zu entgehen, verwendete Haeckel in seinem Buch Die Natur als Künstlerin von 1913 neben seinen Zeichnungen erstmals auch Fotografien von Pflanzen, Tieren, Muscheln, Eiskristallen und Korallen, aber auch Mikroaufnahmen von Einzellern und vegetabilen oder kristallinen Strukturen, die er wissenschaftlichen Publikationen entnommen hatte. Im Vergleich zu seinen Zeichnungen hatte die Fotografie den Vorteil, dass sie – wie man damals noch annahm – die Natur objektiv wiederzugeben imstande sei, während der Zeichnung immer ein subjektiver Gehalt innewohne. Der Kritik an seinen Darlegungen gedachte er damit den Wind aus den Segeln zu nehmen. In seinem letzten Buch unter dem bezeichnenden Titel Kristallseelen. Studien über das anorganische Leben gipfelten 1917 seine Theorien in eine regelrechte „Kristallographie des Anorganischen“. Er zeigt auf, dass es Radiolarien gibt, die eine komplexe Architektur haben und stellt daneben Schneekristalle, die auch entsprechend kompliziert sind. Er gibt damit einen Blick frei auf eine lebendige Natur, die auch da, wo sie im Sinne des Biologen gar nicht lebendig ist, vermeintlich doch so etwas wie ein Seelenleben hat. Um das seelische Leben von Mineralien aufzuzeigen, weist er zwischen dem Verhalten von Kristallen und Lebewesen im Bild Analogien auf. Er fusioniert zwei Kristalle, die ineinander fließen, aber ihre Form, die sie einmal hatten, nach einem Schmelzvorgang wiederfinden. Die farbigen Ansichten verbildlichen zwar Wachstumsgesetze, zeichnen sich aber vor allem durch eine solche Schönheit der ornamentalen Form aus, dass der naturwissenschaftliche Beweischarakter in den Hintergrund gerät.
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Der hohe Abstraktionsgrad der Formen des Mikrokosmos wurde Mitte der 1920er Jahre von Künstlern, Fotografen oder Grafikern entdeckt, die sich bewusst auf naturwissenschaftliches Gebiet wagten und die ihre Bilder in Fotofachzeitschriften wie Das Deutsche Lichtbild, Das Atelier des Photographen, Photographische Rundschau oder Gebrauchsfotografie veröffentlichten. Hier gilt vor allem Carl Strüwe als Pionier der künstlerischen Mikrofotografie, der sich des Mikroskops bediente, um die neu aufgezeigten Möglichkeiten der Abstraktion in der fotografischen Schwarz-Weiß-Fläche auszuloten und die ästhetischen Möglichkeiten der naturwissenschaftlichen Mikrofotografie im Kunstkontext auszuwerten. Strüwe war Werbegrafiker und autodidaktischer Fotograf in Bielefeld. Strüwe verstand den runden Bildausschnitt, der dem mikroskopischen Sehfeld entspricht, wie ihn Heinrich Schenk noch verwendet hatte, als Beleg dafür, dass es sich eher um „kompositorisch diffuse Ablichtungen“ und nicht um künstlerische Fotografien handele. Er hingegen ersetzte das Tondo durch ein Tafelbild. Strüwe war bekennender Haeckelianer und war der Ansicht, Ernst Haeckels Zeichnungen seien „als vielseitig zu verwertender Ornamentenschatz“ 5 kaum beachtet worden. Strüwe war der erste, der den Formenschatz des Mikrokosmos erstmals in hoher ästhetischer Qualität zu bergen wusste, ohne damit unmittelbar dem Kunstgewerbe zuarbeiten zu wollen. Seine erste Mikroaufnahme eines Fischknochens datiert zwar schon 1926, aber zur Veröffentlichung seiner Mikroaufnahmen kam es erstmals 1935 in der Fachzeitschrift Gebrauchsfotografie, anschließend im Deutschen Lichtbild 1937 und weiteren populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie Atlantis oder Volk und Welt. Erst 1955 fasste er sein mikrofotografisches Gesamtwerk in der Buchveröffentlichung Formen des Mikrokosmos zusammen, das heute jedem Mikrofotografen bekannt ist. Haeckels Werk hatte nicht nur großen Einfluss auf die Künstlergenerationen des Jugendstils und des Expressionismus, sondern maßgeblich noch auf die Avantgarde-Bewegungen der 1920er und 1930er Jahre. 1925 wurde die Mikrofotografie durch den am Bauhaus lehrenden Begründer der Fotografie des ‚Neuen Sehens’, László Moholy-Nagy, als vordergründig objektiv-sachliches Abbild der Natur einer künstlerischen Verwendung zugeführt. In seinem berühmten Bauhausbuch Malerei, Fotografie, Film stellte Moholy-Nagy Röntgen-, Stellar- und Mikroaufnahmen aus Wissenschaft und Forschung seinen eigenen Fotoarbeiten und denen anderer Künstler gegenüber. Für ihn stellte die Kamera eine Möglichkeit zur Anwendung konstruktivistischer Wahrnehmungs- und Gestaltungstheorien dar, aus der neue ästhetische Einsichten resultieren konnten. Die mikroskopisch vergrößerte Ansicht einer Blattlaus bot eine „so noch nie gesehene“ Form und eröffnete damit neue ästhetische Experimentiermöglichkeiten für die künstlerische, die wie er es nannte „produktive Fotografie“. Moholy-Nagy verblüfften diese Aufnahmen durch die „gesteigerte Realität der Wirklichkeit“. Die Mikrofotografie ermöglichte es ihm, Existenzen, die mit „unserem optischen Instrument, dem Auge“, nicht wahrnehmbar oder aufnehmbar sind, mit Hilfe des fotografischen Apparates sichtbar zu machen. 1929 folgte Moholy-Nagys zweites Bauhausbuch Von Material zu Architektur, in dem er seine Vorkursarbeit am Bauhaus abschließend zusammenfasste und die stofflichen Er-
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scheinungen der Materialien als die vier Kategorien „Struktur, Textur, Faktur, Häufung“ darstellte. Moholy-Nagy bezeichnete eine Struktur als „die unveränderte Aufbauart des Materialgefüges“ und eine Textur als „organisch entstandene Abschlussfläche jeder Struktur nach außen“. Diese Begriffe wurden mit fotografischen Beispielen belegt, zu denen auch mikroskopisch vergrößerte Aufnahmen von Holz- und Metallstrukturen zählten. Dabei suggerierte er Formanalogien zwischen Mikro- und Makrokosmos, indem er die Luftaufnahme eines Gebirges neben die Aufnahme von vergrößertem Elektrolyteisen stellte und darunter schrieb: „die fliegeraufnahmen sind makroaufnahmen: ‚raumraffer’; eine erweiterung der beobachtung. hier enthüllen sich die großen – wie bei mikroaufnahmen die kleinsten – zusammenhänge.“6 Es handelt sich hier um eine Verselbständigung der Form mit hohem Abstraktionsgrad, womit eine vom Gegenstand losgelöste, assoziative Betrachtungsweise bewirkt wird. Diese Ästhetisierung machte bewusst auch solche Fotografien rezipierbar, deren eigentlicher Bildinhalt irrelevant war. Mit Moholy-Nagy wurde das im Mikroskop gesehene und zu abstrakten Strukturen transformierte fotografische Abbild in den Kunstrang erhoben. Auch Johannes Itten bezog sich in seinem so genannten Tagebuch von 1930, das die Grundlage bildete für seine Elementarlehre, auf die Darstellung von runden, quadratischen und dreieckigen Diatomeen, um seine vom Bauhaus geprägte Überzeugung darzulegen: „Dem geistig sehenden Menschen sind die drei Symbole Quadrat, Kreis, Dreieck nicht leere Formen, sondern verkörpern in sich die machtvollsten Kräfte der Schöpfung. Und wer das Buch der Natur als ein Formenbuch des Lebens verstehen will, der bedarf des Schlüssels, um das offenbare Geheimnis sich zu eröffnen. Wer dieses nicht aus sich selbst begreift, der wird es nie verstehen.“7 Im Vergleich des jedem Kenner der Mikrofotografie bekannten Carl Strüwe sind die Aufnahmen von Alfred Grabner noch zu entdecken. Grabner war ab 1933 Mitarbeiter der Firma C. Reichert in Wien, die neben Carl Zeiss zu den wichtigsten Entwicklern und Vertreibern von Mikroapparaturen gehörte. Die ästhetische Prägnanz seiner Mikroaufnahmen ist außerordentlich. Sie zeigt, dass Grabner seine Aufnahmen im Kunstkontext und auf der Höhe seiner Zeit entwickelte. Neben seiner Arbeit als Ingenieur schrieb der Amateurfotograf, Fotopublizist und Dozent in den 1930er und 1940er Jahren für die Zeitschrift Galerie. Nach Kriegsende gründete er die Zeitschrift Mikroskopie, bevor er eine Lehrtätigkeit an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien antrat, die er bis zu seiner Pensionierung 1961 innehatte. Der Tangentialschnitt durch eine Kopfhaut wurde von einem Arzt angefertigt, Ernst Redenz, und ist ein Paradebeispiel dafür, wie das strukturelle Sehen Einzug hielt in den Kanon der wissenschaftlichen Fotografie. Trotz seiner fachlichen Ausrichtung scheint Redenz die Musterbildung über den Inhalt des Bildes zu stellen, der im Grunde genommen eine ziemlich eklige Angelegenheit ist. Bilder wie diese kann man nur von Dünnschnittpräparaten erstellen, die man tiefgefrorenen Leichenteilen entnimmt. Wie er es geschafft hat, schon Ende der 1920er Jahre mikrofotografische Schautafeln von der ungewöhnli-
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chen Größe 50 mal 70 Zentimeter anzufertigen, die zudem über die gesamte Bildfläche eine außerordentliche Bildschärfe aufweisen, war nicht in Erfahrung zu bringen. Eines jedenfalls steht deutlich vor Augen: Hier war ein Naturwissenschaftler am Werk, der für seine didaktische Arbeit die ästhetischen und technischen Möglichkeiten der Mikrofotografie maximal ausreizte, um die Blicke der Betrachter zu bannen und die volle Aufmerksamkeit seines Auditoriums zu erlangen. Redenz, der auch stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen machte und dabei auf Muster aus populären Fotozeitschriften zurückgriff, bediente sich des neusachlichen Abstraktionsspiels in Perfektion. August Kreyenkamps fotografisches Werk umfasst neben der Dokumentation des Kölner Stadtbildes Landschaftsaufnahmen, Reisebilder und Kunstreproduktionen, aber auch Mikrofotografien von Pflanzen, Tieren und Kristallen. Kreyenkamp hatte an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert und als Maler in Köln gearbeitet, bevor er zur Fotografie wechselte und sich einen Namen als ‚Wissenschaftler mit der Kamera‘ machte. Kurz vor seinem Tod soll er gesagt haben: „Wieso es einen Gott gibt, versteht jeder, der einmal mit suchendem Auge in ein Mikroskop schaute!“8 Seine Mikroaufnahmen wurden 1930 erstmals in Köln ausgestellt und brachten ihm 1931 auf der Essener Ausstellung Das Lichtbild die Goldene Medaille ein. 1935 schrieb die Kölner Tagespresse über eine Ausstellung im Museum für Kunsthandwerk: „Die Bilder sind von einer ornamentalen und lebendigen Schönheit, die bald an Flugzeugaufnahmen einer Gebirgslandschaft, bald an den Fruchtteller einer Sonnenblume, an einen interessanten Tapetenentwurf und ein Muster von der Hand eines einfallsreichen Kunstgewerblers erinnern, aber es ist etwas ganz Neues, bisher noch nie Photographiertes, es sind einfache, natürlich zusammengewachsene Harzkristalle.“9 1934 erschien Oskar Prochnows Mappenwerk Formenkunst der Natur mit einhundert Bildtafeln im Berliner Ernst Wasmuth Verlag. Prochnow, der in seinem Vorwort ebenfalls auf Ernst Haeckel verwies, betrachtete Kunst und Natur als Einheit und auch er wollte dem aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Materialismus einen neuen ‚Biologismus‘ entgegensetzen. Er wollte Bilder zeigen, „wie sie die meisten Menschen bisher nicht gesehen haben, Bilder von der Formungskraft der Natur, von ihrer Formungskunst“10. Mit seinen vergrößerten Aufnahmen von Korallen, Kristallen und Mineralien sowie Mikrofotografien von Gelatineschichten, Pikrinsäurekristallisationen und Gesteinsdünnschliffen wollte er – ähnlich wie Romanus Schmehlik – „die Flächenkunst der Natur“ hervorheben. Otto Croy hat Zeit seines Lebens viele Bücher und Fachartikel veröffentlicht, Fachzeitschriften herausgegeben, etliche wichtige Auszeichnungen erhalten. Er wurde bekannt durch seine Bücher über Makrofotografie, aber er bewegte sich auch auf dem Gebiet der Mikrofotografie. Seine Mikroaufnahmen erschienen 1936 in der Zeitschrift Volk und Welt, wo sie einen Artikel begleiteten mit dem beredten Titel Kunst und Technik im menschlichen Körper. Interessant ist hier, dass den Autor dieses Artikels, einen Zoologen, vorwiegend der formale Assoziationsreichtum interessierte und er den Bildern von Croy Bildunterschriften hinzufügte, wonach ein Querschnitt durch die Niere der Musterung wie beim
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Seidenstoff gleiche, quergebänderte Muskeln wie Schlangenkörper aussehen würden und der Querschnitt durch eine menschliche Eizelle die Form einer offenen Muschel habe, in der eine Perle ruht. Heute sehr viel bekannter ist das Werk von Paul Wolff und seinem Mitstreiter Alfred Tritschler. Im Archiv Wolff & Tritschler befinden sich etwa dreihundert mit der Kleinbildkamera angefertigte Aufnahmen von Radiolarien und Diatomeen sowie von Pilzen, die durch ihre filigrane Erscheinungsform und hohe grafische Qualität bestechen. Drei dieser Mikroaufnahmen wurden in Paul Wolffs berühmten Buch Meine Erfahrungen mit der Leica 1934 veröffentlicht, die in den folgenden Auflagen seines Verkaufsschlagers jedoch keine Verwendung fanden. Über deren Entstehungshintergrund ist nichts bekannt. Aber es gibt deutliche Parallelen zwischen den Aufnahmen von Wolff und seinem Schüler Horst Reumuth, der „an eine wissenschaftliche Ordnung, Gruppierung oder Sortierung nach Art und Familie niemals gedacht“ hat und für den „allein die Schönheit der Ornamentik und ihr Wert“11 Anregung bei der Motivauswahl war. Paul Wolff, der 1951 verstarb, hätte auf eine gezielte Anfrage nach einer genauen Identifizierung der biologischen Formen sicherlich nicht antworten können. Alfred Ehrhardts Mikroaufnahmen entstanden im Labor des Hamburger Arztes Werner Ruge und wurden 1939 in dessen Buch Die Melodie des Lebens. Ein Bildbuch aus der Wende abendländischen Denkens veröffentlicht. Die bis zu 2500-fach vergrößerten Mikroaufnahmen dienten dem Arzt zur Verbildlichung seiner ganzheitlichen Lehre vom „Stufenbau der Ordnungsgefüge“, mit der er die aus dem 19. Jahrhundert stammende materialistische Weltanschauung in ein „neues biologisches Weltbild“ überführen wollte. Die Betrachtung immer größer werdender Ordnungsgefüge sollte darlegen, dass die unbelebte wie die belebte Natur nach einem schöpferischen Plan verfährt. Entsprechend zeigen Ehrhardts Aufnahmen die Entwicklung vom Einzelkristall zu Kristallgemeinschaften und von Einzellern über Pflanzenblätter, menschliche Blutkörperchen und Gehirnzellen zu einer Zellteilungsabfolge. Ruge betonte in seinem Vorwort, es sei Ehrhardts gestalterischem Können zu verdanken, dass die Aufnahmen „nicht starr und geronnen wirken, sondern daß sich in ihnen etwas von der Schönheit des bewegten Lebens widerspiegelt“12. In der Verbindung von Bild und Bildunterschrift sollten sich die Grundsätze der Theorie auch einem Leser erschließen, der nur die Bildseiten betrachten würde: Ruge spielte bei den Bildlegenden bewusst mit Formassoziationen, um seine biologistische Natursicht zu untermauern: Vitamin C wird zu einem „rhythmischen Gebilde“, eine kreisförmige Kristallgruppe wird von einer „regellos wachsenden Zerrform überwuchert“ und eine mehrzellige Pflanze wird als eine „in wundervoller Rhythmik aufgebaute zweckmäßige und klare Konstruktion“ beschrieben, und ein Blattgewebe wird mit einer alten Mauer verglichen (Abb. 4). Da Alfred Ehrhardt wie Carl Strüwe 1937 in der Zeitschrift Atlantis veröffentlichte, wird er dessen Mikroaufnahmen gekannt haben, die Strüwe als Synthese aus wissenschaftlicher Aussage und grafischer und fotografischer Disziplin verstand. Ähnlich hatte Werner Ruge Ehrhardts Mikroaufnahmen als naturwissenschaftliche Dokumente
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4 Alfred Ehrhardt, Zellenstruktur der Fichte (Längsschnitt mit Querwachstum), 800-fach, 1939, Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz
verstanden, die durch die künstlerische Gestaltung die Schönheit und Lebendigkeit der Natur transportieren würden. Ehrhardt ging wie Strüwe von der grafischen Ausdruckskraft der Formen im Bildviereck aus, um das Potenzial der mikroskopischen Naturdarstellung für eine wirkungsvolle, abstrakte Bildkomposition zu nutzen. Bei ihm, obwohl seine Aufnahmen unter der Anleitung eines Wissenschaftlers entstanden, wird die wissenschaftliche Bedeutung des Motivs zweitrangig. Ehrhardt war Ruge bekannt durch seine Aufnahmen abstrakter Strukturen von Sandformationen im Watt und in den Dünen der Kurischen Nehrung sowie durch seine Makrofotografien von Kristallen. Vielleicht hat der Wissenschaftler vorausgeahnt, dass der Künstler die Bildfläche seiner Mikrofotografien so gestalten würde, als handele es sich um abstrakte Landschaftsstudien oder makrofotografische Gesteinsmuster. 1932 und 1937 erschienen Aufnahmen von Romanus Schmehlik im Deutschen Lichtbild, die er als „auf optischem Wege zu symmetrischen Mustern geordnete Mikrophotogramme“ bezeichnete (Abb. 5). Er beschrieb sie als „Prismenbilder eines belanglosen mikroskopisch kleinen Körpers“, der „reizvolle Symmetrien zu zeigen“ habe. Diese Aufnahmen würden, so der damalige Kommentar, zunächst den Eindruck von Reproduktio-
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5 Romanus Schmehlik, Dreiteilig symmetrisches Muster, in: Das Deutsche Lichtbild, 1932, S. 112/113
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nen nach Stoffen, Tapeten oder Teppichen machen; „bei näherer Betrachtung aber sah man wohl, dass dieser Überfluß an Formen und Gebilden nicht manuelle Arbeit, nicht menschliche Erfindung sein konnte. Es wäre sicher nicht ohne Nutzen, die verdienstvolle Arbeit Schmehliks dem Kunstgewerbe zugänglich zu machen“13. Die Hinwendung zur Naturwissenschaft ist ein aus dem 19. Jahrhundert übernommenes Charakteristikum der Kunst der Moderne. Da sich seit Historismus und Jugendstil bis in die 1940er Jahre hinein viele freie und angewandte Künstler weiterhin am Vorbild der Natur orientierten, erhielt die populärwissenschaftlich formulierte Naturgeschichte Einzug in die künstlerische Auseinandersetzung mit den natürlichen Formenwelten. Dabei wurde in der Verwendung abstrakter Bildwelten ein Wandel vollzogen vom Ornament zum strukturellen Sehen am Bauhaus und weiter zur vom Naturvorbild losgelösten Musterbildung. Nicht von ungefähr: Schmehlik bot seine Aufnahmen als „Muster für Textilzwecke“ an.
Anmerkungen 1
Brief vom 14.7.1876 von Robert Koch an Seibert & Krafft, zitiert nach Franziska Brons: Kochs Kosmos. In: Mikrofotografie – Schönheit jenseits des Sichtbaren. Hrsg. von Ludger Derenthal/ Christiane Stahl. Ausst.Kat. Museum für Fotografie Berlin, Alfred Ehrhardt Stiftung Berlin, Technische Sammlungen Dresden. Ostfildern 2010, S. 25.
2 3
Brons 2010 (Anm. 1), S. 29. Romanus Schmehlik: Aus der Werkstatt der Natur. In: Die Photographische Kunst im Jahre 1913. Ein Jahrbuch für künstlerische Photographie. Hrsg. von Fritz Matthies-Masuren. Halle an der Saale 1913, S. 3–6.
4
Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur. Zwei Sammlungen (zehn Lieferungen) in zwei Mappen. Leipzig und Wien 1899–1904. Vgl. Ernst Haeckel: Kunstformen der Natur. Neudruck der Farbtafeln aus der Erstausgabe 1904. München 1998.
5 6
Carl Strüwe: Das neue Mikrofoto. In: Gebrauchsfotografie, 1935, S. 134. László Moholy-Nag: Von Material zu Architektur (Bauhausbücher, 14). Faksimile der 1929 erschienenen Erstausgabe. Neue Bauhausbücher. Hrsg. von Hans M. Wingler. Mainz 1968, S. 37.
7
Tagebuch von Johannes Itten. Beitrag zu einem Kontrapunkt der Bildenden Künste. Hrsg. vom Verlag der Itten Schule Berlin 1930, Exemplar 148/150, Bauhaus-Archiv Berlin, S. 10.
8
Nachruf. In: Rhein-Zeitung, 14.3.1950.
9
Anonym: Aus der Werkstatt eines Kölner Photographen. August Kreyenkamp zum 60. Geburtstag. In: Kölnische Zeitung/Stadt-Anzeiger, 16.11.1935.
10 Oskar Prochnow: Formenkunst der Natur. Berlin 1934, S. 6. 11 Horst Reumuth: Wunder der Mikrowelt. Stuttgart 1954, S. 5. 12 Werner Ruge: Die Melodie des Lebens. Ein Bildbuch aus der Zeit der Wende abendländischen Denkens. Mit 40 mikroskopischen Aufnahmen von Alfred Ehrhardt. Leipzig 1939, S. 7. 13 Romanus Schmehlik: Auf optischem Wege zu symmetrischen Mustern geordneter Mikrophotogramme. In: Photographische Rundschau, 1927, S. 184/185.
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Uta Coburger
Im Schatten des Ornaments Die Karriere des unscheinbaren mosaïque im 18. Jahrhundert Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen oder das Muster vor lauter Ornamenten nicht. Um 1700 erfolgte ein Wandel in der europäischen Ornamentmode, der nicht nur einfach einen neuen style bezeichnet, sondern auch auf das politische Machtgefüge des damaligen Europa hinweist: die neue Dominanz des französischen Ancien Régime. Das noch in den 1680er Jahren vorherrschende plastisch-vegetabile Dekor, das überwiegend an klassisch-antiken und italienischen Vorbildern orientiert war, galt nun als demodée. Der französische goût nouveau des späten Louis quatorze war abstrakter, leichter und weniger gravitätisch und ließ die heiter-irreale Renaissance-Groteske wieder auferstehen.1 An den europäischen Höfen wurde jene neue Mode – sowie die folgenden des Régence und Louis quinze – rezipiert und variiert, dem Vorbild des bewunderten wie gefürchteten roi soleil und seiner Nachfolger nacheifernd oder jene zu übertreffen suchend. Die ornamentalen Protagonisten des neuen Design, das elegante Bandlwerk und die bizarre Rocaille, rankten und räkelten sich nun bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem in den ehemaligen Reichsgebieten auf Kapitellen, Gewölbezwickeln, Porzellantassen, Abendmahlskannen, Kleiderschränken oder Konsoltischen in einer unerhörten Freizügigkeit, die in ihrem durch kunsttheoretische Akademien geprägten Ursprungsland Frankreich undenkbar gewesen wäre. Im Schatten der neuen Ornamentformen gediehen auch zahlreiche Füllmuster, die als Rauten, Spitzovale, Ovale oder Gitter, gefüllt oder ungefüllt, gemalt oder stuckiert die Ornamentik als wichtigen Teil der Ausstattungskunst begleiteten (Abb. 1).2 In der Fachliteratur werden jene omnipräsenten Muster entweder gar nicht oder als „Brokat“ – respektive „Tapetenmuster“ bezeichnet;3 einzig das Rautenmuster ist in der Frankreichforschung als mosaïque oder quadrillage etabliert. Die unkomplizierten Muster passten sich perfekt in Ornamentfelder, Zwischenräume oder architektonische Felder ein, ergänzten durch ihre Abstraktheit ideal den neuen Ornamentstil und boten zugleich durch ihre serielle Strenge einen Kontrast zu den Schnörkeln des Bandlwerks und den Ausschweifungen der Rocaille. War das Ornament schon stets ein ‚Anhängsel‘ der bildenden Künste, welches nie zu ‚frei‘ und ‚widernatürlich‘ sein durfte, so standen sowohl die Muster als auch das mosaïque, um das es im Folgenden gehen soll, in noch niedriger Hierarchie, wodurch sich ihr kunsthistorisches Schattendasein erklären könnte.4
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1 Ehemalige Zisterzienser-Abteikirche Aldersbach, Stichkappe, Ornamentik von Egid Quirin Asam, 1720
Die königliche Herkunft des mosaïque Ludwig XIV. (1638–1715) hatte 1670 seinen Kriegsminister François Le Tellier de Louvois (1641–1691) mit der Errichtung der bedeutendsten Stiftung seiner Regierungszeit, dem Hôtel et Église royale des Invalides, beauftragt.5 Die imposante Anlage diente als Hospiz für kriegsversehrte Soldaten, verfügte über eine angegliederte Soldatenkirche sowie einen imposanten Dom und setzte ein urbanistisches Ausrufezeichen am Rande der damals noch kleinteiligen Stadt. Das zentralperspektivische Ensemble ist nördlich durch Parterres zur Seine hin erweitert und strahlt südlich, von der Fassade des Doms ausgehend, durch eine patte d’oie in die Landschaft, die künftige Stadterweiterung der Rive Gauche kalkulierend. Doch schon Zeitgenossen wie der Festungsbaumeister des Sonnenkönigs, Sébastien Le Prestre de Vauban (1633–1707), stellten den Sinn des vermeintlich mildtätigen Großprojektes in Frage: „ce grand et beau dôme qui a tant coûté, on ne peut pas dire qu’il soit plus nécessaire aux Invalides qu’une cinquième roue à un chariot.“6 Jenen ‚großen und schönen Dom‘ kreierte Jules Hadouin Mansart (1646–1708). 1676 war es zu Differenzen zwischen dem ausführenden Baumeister des Hôtel, Libéral Bruant (um 1635–1697), und Louvois gekommen, da der Minister unzufrieden mit der bisherigen Genese der Anlage war. Hadouin Mansart nutzte die Gunst der Stunde und legte Louvois eine
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Modifikation der bereits im Bau befindlichen Soldatenkirche samt einem eigenen DomEntwurf vor, woraufhin ihm die Bauleitung übertragen wurde. Hardouin Mansarts Domentwurf zitiert das unrealisierte Projekt eines Bourbonenmausoleums an St. Denis seines Onkels François Mansart (1598–1666).7 Durch diesen Coup verdrängte Hardouin Mansart nicht nur Bruant, sondern profilierte sich auch gegenüber dem Premier architecte du Roi François d’Orbay (1634–1697), der sein Amt schließlich 1681 an den neuen Protegé Louvois‘ abgeben musste.8 Der 1676 bis 1706 errichtete Invalidendom verfügt über vielschichtige Funktionen. Funktional bildet Saint-Louis des Invalides den Chor der anschließenden Soldatenkirche. Architektonisch zitiert der Bau prominente Vorbilder, die Papstkirche St. Peter in Rom9 sowie die Grabeskirche in Jerusalem, und ist zudem als Konkurrenzprojekt des parallel entstehenden Neubaus von Christopher Wrens St. Paul’s Cathedral in London zu sehen. Die Interpretationen der inhaltlichen Bedeutung reichen von einer geplanten Reliquienkirche für Ludwig den Heiligen (1214–1270), dem Ahnherren der sich auch nach ihm benennenden Bourbonenkönige, bis hin zur Intention einer Grabeskirche für das Haus Bourbon: „L’église des Invalides aurait été un nouveau Saint-Denis pour la dynastie“.10 Die zwischen 1676 und 1691 entstandenen Entwürfe zeigen die Genese der Architektur wie der Ausstattung,11 jedoch blieb ein Bereich ungestaltet: der Tambourfries. Eine 1691 datierte Zeichnung (Abb. 2) zeigt einen Ausschnitt der späteren Gestaltung: ein Medaillon mit König Chlodwig I. (466–511) im Profil, umgeben von Rauten, die mit der bourbonischen fleur-de-lis gefüllt sind.12 Der realisierte Tambourfries umfasst im Relief zwölf Königsmedaillons vor liliengefülltem Rautenfond und bildet den dynastischen Hintergrund des Ausstattungsprogramms. Er zeigt, wie Jean-François Félibien des Aveaux (1658–1733) in seiner 1706 anlässlich der Weihe des Doms publizierten Description treffend konstatiert, „les portaits de douze des Roys de France les plus renommez par leur valeur & par leur vertus“13. Die Ahnengalerie beginnt mit Chlodwig I. und endet, naturellement, mit Ludwig XIV. Die liliengefüllten Rauten beschrieb Félibien lediglich als „une large bande semée de fleur-de-lis“14. Ikonographisch bildet der Medaillonfries am Tambour eine bedeutende Schnittstelle im Bildprogramm. Oberhalb, in der darüber liegenden Kuppel, sind die Verklärung des Saint Louis sowie die Apostel dargestellt, unterhalb, in den Pendentifs, die Evangelisten sowie die lateinischen Kirchenväter und das Leben des Saint Louis in den Kapellen – ganz dem tradierten inhaltlichen und räumlichen Anstieg entsprechend, vom irdischen zum himmlischen Bereich hinauf. Die französischen Könige stehen ausstattungshierarchisch ergo zwischen Aposteln und Evangelisten als Vermittler der christlichen Lehre. Sie visualisieren die Tradition der roi très chrétien, die mit Chlodwig als „saint fondateur de la France très chrétienne“ 15 beginnt und in Ludwig XIV. ihren Höhepunkt erfährt. Der Zusammenklang aller Ausstattungselemente des Doms offenbart den Willen des Sonnenkönigs, „einen Kirchenbau als Denkmal universalistischer Geltungsansprüche zu errichten“16. Das Rautenmuster mit der königlichen fleur-de-lis bildet den Fond einer bourbonischen Herrscherlegitimation und agiert als dekoratives Signet zur Inszenierung von ancienneté und histoire.17
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2 Agence Jules Hardouin Mansart (?), Médaillon représentant Clovis pour la frise ceinturant la base du tambour de la coupole des Invalides, 1691, Paris, Bibliothèque nationale de France
Zügig nach dem Tod der Königin 1683 initiierte Ludwig XIV. zahlreiche Umgestaltungen in Versailles. Die Umbauten leitete Jules Hadouin Mansart, der seit 1699 zum Surintendant des Bâtiments du Roi aufgestiegen war und nun die Aufsicht über sämtliche offizielle Bautätigkeiten des Königs besaß. Die Versailler Umgestaltungen, vor allem das Appartement du Roi und die Chapelle Royale, unterlagen den gleichen Bauverzögerungen wie die Fertigstellung des Invalidendomes, da aufgrund der intensiven Kriegstätigkeit der vorangegangenen Jahrzehnte und dem aktuellen Pfälzischen Erbfolgekrieg die Staatskasse leer war und zwischen 1694 und 1699 kein Budget für die Bauarbeiten zur Verfügung stand.18 Die wichtigste Veränderung im Zuge des neuen Appartements19 war die Verlegung des Schlafzimmers des Königs, des Chambre du Roi, in das Zentrum der Schlossanlage.20 Der König kontrollierte sämtliche Entwürfe der laufenden Arbeiten, veranlasste häufig Änderungen und bestellte selbst bei Abwesenheit vom Hof den Architekten zum wöchentlichen Rapport ein21 – sogar über die Gestaltung der Fensterkreuze bestimmte der König: „Sa Majesté ayant veu les croisées neuves faites pour sa chambre posées, en a trouvé trop gros et ordonné d’en faire d’autres (...).“22 Die Ausstattung der Räume im style nouveau erfolgte mit einer gold-weiß gefassten Boiserie mit Laub-Bandelwerk-Ornamentik und einem neuen Kamintypus, dem cheminée à la Royale, der sowohl im Chambre als auch in dessen Vorzimmer, dem Salon de L’Œil-de-Bœuf, eingesetzt wird.23 Fiske Kimball sieht in
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3 Versailles, Château de Versailles, Salon de L’Œil-de-bœuf, Detail der Boiserie, 1701
jenem Kamin „one of the most characteristic inventions of French decoration under the Louis’“24. Der Kamin zeichnet sich durch eine niedrige Marmoreinfassung samt großem darüber liegendem Spiegelfeld aus, dessen raumerweiternder Effekt den weniger formellen Stil unterstützte, den der König wünschte. Das Rautenmuster findet sich in dem neuen königlichen Appartement sowohl im Chambre als auch im Salon de L’Œil-de-Bœuf in Mustervariationen und unterschiedlicher Plastizität. Es füllt die Pilaster und Bekrönungen des neuen cheminée, gestaltet die Alkovenwölbung oberhalb des königlichen Bettes, bildet den Hintergrund des Puttenfrieses des Salon und füllt Laub- und Bandlwerkornamente sowie panneaux der Boiserie (Abb. 3). Gefüllt sind die goldgefassten Rauten jedoch im Unterschied zum Tambourfries des Invalidendoms meist nicht mit der königlichen Lilie, sondern entweder mit konturparallelen Rosetten oder, vorwiegend bei kleinteiligen Rauten, mit Punkten. Großflächige Dekorationen (Puttenfries, Alkovenwölbung) sind durch einen weißen Grund aufgelockert, auf dem sich Rauten und Rosetten in Gold abheben. In den Anweisungen zur Alkovengestaltung vom 28. August 1701 dürfte eine der frühesten Bezeichnungen des Musters überliefert sein: „un fonds de mosaïque richement orné“25. Der cheminée à la Royale samt mosaïque ist für Versailles zudem über eine 1700 datierte Entwurfszeichnung Hadouin Mansarts für die Gemächer der Prinzessin Conti26 belegt.
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Jules Hadouin Mansarts Chapelle Royale in Versailles entstand parallel zu den Umgestaltungen des Appartements sowie des Baus von Saint-Louis des Invalides und wurde 1710 geweiht; nach Mansarts Tod 1708 übernahm sein Schwager und enger Mitarbeiter Robert de Cotte (1656–1735) die Bauleitung.27 Ein früher Entwurf von 1684 verweist auf Saint-Louis des Invalides, doch die realisierte Schlosskapelle steht vielmehr in der Tradition königlicher Palastkapellen der Gotik und wurde im 18. Jahrhundert als „l’alliance heureuse entre le gotique et l’antique“ goutiert.28 Eine Reminiszenz an den Invalidendom findet sich jedoch: der mosaïque-Medaillon-Fries, der nun die Gewölbefresken der Königstribüne und der Chorapsis oberhalb des Gebälkes auszeichnet. Félibien erwähnt in seiner Beschreibung der Chapelle royale jenen Fries nicht, während hingegen in seiner Hymne auf die Emporenkolonnade die dortigen liliengefüllten mosaïque-Muster Würdigung erfahren: „Rien n’est comparable à la beauté & à la légereté de ces colonnes, que la délicatesse & le fini des trophées & des ouvrages de Mosaïque qui sont dans les paneaux de leurs socles, & la richesse de la balustrade qui regne au pourtour de cette Tribune.“29 Anhand mehrerer Entwurfszeichnungen von 1709/1710 sind projektierte Gestaltungen des Hochaltarantependiums der Chapelle Royale mit einem punktgefüllten mosaïque überliefert, so dass das Muster an liturgisch und architektonisch herausgehobenem Ort präsent gewesen wäre.30 Jene Entwürfe rekurrieren auf den Voeu de Louis XIII, die Neugestaltung des Chores von Notre Dame, Paris.31 1699 fertigte die Agence Jules Hadouin Mansart für Notre Dame einen Hochaltarentwurf mit Lilien-gefülltem mosaïque als Dekor des Antependiums sowie von Pilastern an.32 Spätere Entwürfe, ab 1708 durch die Agence Robert de Cotte, projektieren mosaïque-gefüllte Pilasterspiegel für die Chorwände, an denen, vergleichbar dem Tambourfries des Invalidendoms, das mosaïque Medaillons mit den Initialen des Königs rahmt.33 1712 wird der frühere Antependiumsentwurf nochmals aufgegriffen, jedoch ohne Gitter – als reiner Rauten formender Rapport aus fleur-de-lis, wie es seit dem Mittelalter als königliches Muster vielfach etabliert ist.34 Realisiert wurden bei beiden Antependien statt der königlichen Wappenblume figurative Reliefdarstellungen (Beweinung bzw. Grablegung Christi). Vergeblich protestierten die Kanoniker von Notre Dame gegen die neuen Entwürfe und hätten das mosaïque-Antependium und eine Ausstattung mit „très peu d’ornements“ bevorzugt.35 Die Gestaltung der Hochaltarantependien sowohl der Chapelle Royale als auch von Notre Dame mit Lilien-mosaïque hätte ein dynastisches Zeichen gesetzt als Symbol der Verankerung von Monarchie und Kirche in der Tradition der roi très chrétien. Die Entscheidung für narrative Reliefs dürfte auf den Wechsel in der Leitung der Bâtiments und Robert de Cotte zurückzuführen sein. Das mosaïque war nun – mit oder ohne Lilie – zum Ausstattungsmotiv innerhalb der wichtigsten Architektur- und Interieurprojekte Hardouin Mansarts unter Ludwig XIV. avanciert. In Kombination mit der fleur-de-lis transportiert das neu eingeführte Muster zugleich deren Symbolik: „À la fin du XVe siècle [...] les fleur de lis ne représentent plus désormais un individu ni une famille mais une entité: la France.“36 Auch in der Rezeption des Musters in Frankreich zeigte sich seine Wahrnehmung als königliches Signet. So rahmt
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in der 1760 publizierten Neuauflage der Description des Invalidendomes der mosaïqueMedaillon-Fries prominent das Titelblatt sowie weitere Kupfertafeln als Muster des „Ludovicus Magnus Rex Christiantissimus“37. Doch während der Französischen Revolution kehrte sich die Zeichenhaftigkeit ins Negative. Unzählige Lilien wurden entfernt und auch die fleur-de-lis der Emporenkolonnade der Chapelle Royale wurden gleich den Bourbonenherrschern in der französischen Revolution ‚guillotiniert’, so dass heute fast alle Rauten des mosaïque ihrer Lilien beraubt und leer sind.
Das mosaïque in der französischen Druckgrafik Das Muster fand über verschiedene Formen grafischer Vorlageblätter seine Verbreitung: in den Publikationen der königlichen Bauten, in Interieur- und Architekturentwürfen, in Ornamentgrotesken resp. Ornamententwürfen und schließlich in Vorlageblättern für sämtliche angewandten Künste. Ludwig XIV. ließ das Pavillonensemble seines maison de plaisance Marly-le-Roi unweit von Versailles als Zufluchtsort jenseits des höfischen Zeremoniells errichten.38 Da das Schloss 1816 abgerissen wurde, vermögen Stichwerke und Quellen als Orientierung dienen. Vermutlich experimentierte man im intimeren Marly und nicht im offiziellen Versailles erstmals mit dem leichteren Ausstattungsvokabular des style nouveau, bevor dieser in Versailles eingeführt wurde.39 April bis Juni 1699 wurden die neuen cheminée à la Royale für Marly beauftragt und vom Dessinateur du Roi Pierre Lepautre (1648–1716) als „Executés a Marly sur les Desseins de Monsr. Mansart Surintendant“ publiziert.40 Ein Kamin der Nachstiche zeigt großflächig mosaïque als Musterfeld zwischen Spiegelscheitel und Gesims,41 so dass die Verwendung von mosaïque in Interieurs Ludwig XIV. sowie als Dekorationselement des neuen Kamintypus erstmals in Marly in den 1690er Jahren anzusetzen sein dürfte. Auch der einflussreiche Cours D’Architecture von Augustin Charles d’Aviler (1653– 1701) wartet in der posthumen und vermehrten Ausgabe 1710 mit den neuen Kaminen in einem separaten Kapitel Cheminées nouvelles auf.42 Dem decorum entsprechend, sind die neuen Ornamente und das mosaïque der ‚leichteren‘ Ausstattung für weniger offizielle Räume wie ein Chambre à coucher oder ein Cabinet zugewiesen, während der Kamin für ein Chambre de Parade tradierte Ornamentik und Pilasterrahmung zeigt. In den entsprechenden Textpassagen ist das Rautenmuster in allen Ausgaben ab 1710 stets als Mosaïque beschrieben und zudem als nobilitierender Schmuck empfohlen: „Pour les rendre plus riches, on y entaille quelquefois une Mosaïque.“43 Kurioserweise erklärt der Index, die Explication des Termes d’Architecture, unverändert seit der Erstausgabe den Terminus „Mosaïque“ als Mosaikarbeiten: „un composé de petits morceaux“ 44 – ein typisches Beispiel für die damalige uneindeutige Terminologie. Als Beispiel für charakteristische Interieurentwürfe des style nouveau mögen zwei Blätter des Verlags Nicolas Langlois dienen, die vermutlich älteren Folgen beigegeben wurden und um 1700 datiert werden müssen.45 Das mosaïque füllt, rahmt und akzentuiert
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Spiegel-panneaux, Regalnischen einer Bibliothek oder – analog des Cheminée à la royale des Appartements du Roi – montans, Pilasterfüllungen. Durch die Bezeichnung des Musters als mosaïque wird über diese populären Blätter nicht nur das Muster, sondern auch seine Benennung transportiert. Vielleicht die bedeutendste Rolle beim Transfer des Musters nahm der Dekorations- und Ornamentdesigner Jean Berain (1640–1711), der Dessinateur de la Chambre et du Cabinet du Roi, ein,46 der das Muster in den undatierten Serien E, F und H seiner Œuvres einsetzte.47 Berain integrierte das mosaïque in seine Ornamentgrotesken und präsentierte es darin als ‚freies‘ Muster neben der neuen Ornamentik. Die mosaïque-Muster füllen meist Ornamentfelder und verleihen der schwerelosen Groteskenwelt Festigkeit. Vor allem ein Blatt der Serie F, in der Bandlwerk-gerahmte mosaïque-Felder Porträtmedaillons rahmen (Abb. 4), erinnert an den Tambourfries des Invalidendoms (Abb. 2). Auch Vorlagen für Interieurs schuf Berain. Sein in den 1680er Jahren entwickelter, viel rezipierter Plafond en forme impériale gestaltet die Decke nun durch eine mittige Rosette und die Ränder rahmendes Ornament.48 Jener Plafondtypus eignete sich vor allem für Kabinette und kleinere Räume und seine anfänglich vegetabile Ornamentik wich in den 1690er Jahren dem Grotesken-, Laub- und Bandlwerk samt mosaïque-Elementen. Eine Serie opulent verzierter Kaminentwürfe à la royale Berains widmete er deren Inventor Jules Hadouin Mansart.49 Als Kaminbekrönung entwarf Berain unzählige Variationen an Rautenmustern und Blütengittern, die nur noch entfernt an mosaïque erinnern. Berains Variationen des mosaïque-Musters besitzen einen leichteren und weniger grafischen Charakter als das ‚klassische‘ mosaïque. Besonders die Blütengitter – ungefüllten Rauten mit Betonung der Kreuzungen durch Blüten – verfügen über Zierlichkeit und Eleganz. Die vielseitige Verwendung des Musters im Schaffen Berains, seine Mustervariationen sowie seine Integration des mosaïque in ‚freie‘ Ornamententwürfe sind hinsichtlich der enormen Rezeption der Berain’schen Vorlagen von weitreichender Bedeutung. Die folgende, im Verlag Mariette erschienene Serie von Goldschmiedeentwürfen Massons50 bringt nun babylonische Sprach- und Musterverwirrung. Die Folge Nouveaux Desseins pour graver sur l’orfeverie51 breitet auf sechs Blättern die Anwendbarkeit der neuen Ornamentmode als Zierde für Kleiderbürsten, Puderdosen oder Teekannen aus. Verschiedene kleinteilige Füllmuster und mosaïque zieren auf Blatt 2 und 3 den Deckel einer Boette à Poudre, unbezeichnet oder Ornements benannt. Blatt 4 hingegen bezeichnet Diverses Mosaiques à graver sur la Thetiere, jedoch findet sich unter den runden, sternförmigen oder achteckigen Mustern kein mosaïque bzw. Rautenmuster. An dieser Stelle etwas vorgreifend auf die folgende europäische Rezeption des Musters, seien kurz die deutschen Nachstiche der Masson’schen Goldschmiedearbeiten erwähnt, die anhand ihrer Datierungen einen terminus ante quem für das französische Original liefern. 1710 erschien eine erste Ausgabe im Verlag Friedrich Leopold, Augsburg,52 1716 eine weitere Ausgabe,53 den französischen Text ins Deutsche übertragend. Der mosaïque-Begriff wird nicht beachtet, stattdessen wurden die in der französischen Vorlage unterschiedenen Ornements (Laub- und Bandlwerk) und mosaïque (Füllmuster) einheitlich als „Zierathen“ übersetzt.
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4 Jean Berain, Ornemens, Ornamentgroteske, Serie F, um 1700, Heidelberg, Universitätsbibliothek
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Das Muster war um 1700 fester Bestandteil der Vorlagenproduktion des style nouveau und auch als mosaïque bekannt, wobei der mosaïque-Begriff allerdings auch für andere kleinteilige Füllmuster verwendet wurde und nicht exklusiv an die Raute gebunden zu sein scheint. Die Verwendung der fleur-de-lis als Füllung der Rauten blieb den königlichen Ausstattungen vorbehalten und ist im druckgrafischen Bereich ausschließlich in der Wiedergabe der königlichen Ausstattungen zu finden.
Die Rezeption in Europa 54 Der Baron de Montesquieu lieferte angesichts des Baubooms des 18. Jahrhunderts das rückblickende Aperçu, dass „Versailles die deutschen Fürsten ruiniert habe“55. So entstand eine Variation von Marly-le-Roi in Mainz (Schloss Favorite), eine Versailles samt patte d’oie zitierende Residenz in Rastatt und ein Versailles um ein Fenster übertrumpfendes Schloss in Mannheim.56 August der Starke von Sachsen (1670–1733) hingegen zitierte die frühen Regierungsjahre des Sonnenkönigs, indem er in französischer ‚Retromode’, der durch Ludwig XIV. um 1670 etablierten „Rheingrafentracht“, bei der Hochzeit seines Sohnes 1719 auftrat. Jene pludrige und rüschige Robe entsprach so gar nicht der aktuellen schmal-eleganten Silhouette, aber sie setzte ein politisches statement, indem sie auf die Phase des politischen Aufstiegs des Sonnenkönigs rekurrierte.57 Mode und Architektur vermochten als Zeichen zu fungieren, konnten Geschichte transportieren und dienten der Herrscherallegorese; ebenso übermittelte die Wahl der Ornamente eine Aussage und ließ Allianzen oder Aversionen erkennen. Das bedeutendste Medium der Verbreitung von Architektur, Ornament und Ausstattungskunst stellten die zahllosen und meist undatierten Ornamentstichfolgen dar, die in den Verlagszentren Augsburg, Nürnberg und Amsterdam meist in kleinerem Format als Raub- und Nachdrucke publiziert wurden.58 Führende Verlage wie Christoph Weigel in Nürnberg oder Jeremias Wolff und Joseph Friedrich Leopold in Augsburg publizierten neben direkten Kopien auch Transformationen des französischen style nouveau. Vor allem das Ornamentvokabular der Berain’schen Ornamentgrotesken wurde für nahezu alle Ausstattungs- und Kunsthandwerksbereiche extrahiert und aufbereitet. Auch das mosaïque ist klassisch oder in Variationen omnipräsent in den Vorlageblättern vertreten; trotz der überwiegend fehlenden Datierungen der Grafiken kann man von einer Verbreitung des Musters im niederländischen und deutschen Ornamentstich ab 1700 ausgehen. Wie schnell die neue Ornamentmode samt mosaïque rezipiert wurde, belegen die folgenden Entwürfe und Ausstattungen, die nicht nur ein ‚Muster im Transfer’, sondern auch die Kommunikationswege der Künstler und das Rezeptionsverhalten der Auftraggeber nachvollziehbar machen.
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Ornamentgrafik und Entwürfe für die angewandten Künste Der Hugenotte Daniel Marot (1661–1752) war durch seinen Vater Jean Marot (1620–1679) und seine Mitarbeit bei Jean Lepautre (1618–1682) und Jean Berain mit der französischen Hofkunst eng vertraut. Nach dem Edikt von Fontainebleau 1685 verließ Marot Paris und arbeitete fortan in den Niederlanden für den dortigen Statthalter Wilhelm III. von Oranien, der ab 1689 auch König von Großbritannien war, und fand weitere Auftraggeber im Bürgertum. Marots Ausstattungsarbeiten und Entwürfe sind als wichtigste Multiplikatoren des style nouveau in den Niederlanden zu erachten. Ein 1698 datierter Kutschenentwurf für Wilhelm III. zeigt als Schmuck ausschließlich die neuen Ornamentgrotesken.59 Marots Laub- und Bandlwerk ist vegetabil und dicht, wodurch es sich von den filigraneren und abstrakteren Formen Berains unterscheidet.60 Gleich den Berain’schen Ornamentgrotesken sind hingegen gefüllte und ungefüllte mosaïque-Felder. Die Datierung des Kutschenentwurfes lässt den Rückschluss zu, dass Ornamentgrotesken Berains mit mosaïque bereits Mitte bis Ende der 1690er Jahren verbreitet wurden, also sehr wahrscheinlich noch vor den Interieur- und Kaminentwürfen. Die weiteren erhaltenen Ausstattungsentwürfe Marots umfassen alles Denkbare an Interieur- und Ornamententwürfen von Uhren über Himmelbetten bis hin zu Plafonds und präsentieren das mosaïque als steten Begleiter des Laub- und Bandlwerks.61 Der schwedische Hofbaumeister Nicodemus Tessin (1654–1728) wurde durch den schwedischen Gesandten in Paris Daniel Cronström (1655–1719) über französischen dernier cri auf dem Laufenden gehalten.62 Die Plafonds des Tessin’schen Stockholmer Stadtpalais‘ entwarf der Pariser Künstler René Chauveau en forme impériale mit Grotesken-Bandlwerk und dezent eingesetztem mosaïque. Über die um 1700 entstandenen Nachstiche der Plafonds durch Sébastien Leclerc (1637–1714) erhielten die Decken hohe Popularität. 63 Leclercs Nachstiche verwertete die Augsburger Kupferstecherin Maria Philippina Küsel (geb. 1676) um 1710 wiederum weiter.64 Sie extrahierte einzelne Ornamentkompartimente des Plafond de la Chambre du lit und publizierte sie separat. Die einzelnen Ornamente wurden dadurch vergrößert und ihres Kontextes beraubt, obwohl Küsel explizit auf die Lerclerc’sche Stichvorlage sowie den Tessin’schen Ursprung im Titel verweist – die Ornamente standen nun als universell einsetzbare Modelle für die dekorativen Künste frei. Das in Leclercs Stich kaum sichtbare mosaïque als Füllung der Bandlwerksockel ist in Küsels Transformation deutlicher herausgearbeitet und steht als Muster neben der Ornamentik. Die um 1700 aktuellen „Spitzenmuster“ und „Bizarren Seiden“ der tonangebenden französischen Seidenmanufakturen enthalten zahlreiche Blüten- oder Rosetten-gefüllte Rautenmuster sowie weitere Variationen an Gitterformen,65 die auf eine Rezeption des Musters in den textilen Entwürfen hindeuten.66 James Leman (1688–1745), einer der bedeutendsten Seidenweber und Textildesigner des frühen 18. Jahrhunderts, entstammte einer nordfranzösischen Webersippe, die aus Glaubensgründen nach England geflohen
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war. Einen Schatz stellt dank der handschriftlichen Datierungen Lemans textile design album dar,67 worin sich bei vielen, um 1710 entstanden Designs, Variationen an Blütengefüllten Rauten als Ergänzung der eleganten Dekore finden (Abb. 5). Einen bedeutenden Multiplikator für den style nouveau und das mosaïque bildet eine Anleitung zu fürstlichem Bauwahn von Paul Decker (1677–1713), der Fürstliche Baumeister Oder: Architectura civilis (1711).68 Deckers Baumeister dekliniert die idealtypische Gestaltung einer Residenz durch, vom Grundriss bis hin zur Wandabwicklung und Plafond, die jeweiligen Raumtypen und deren Funktionen reflektierend. Der Erfolg des Traktates, vor allem in den ehemaligen Ländern des Reiches, dürfte auch auf die Synthese französischer und italienischer Ausstattungsmode zurückzuführen sein, die Scheinarchitekturen Andrea Pozzos (1642–1709) neben Berain’schen Ornamentgrotesken und Interieurs au style nouveau anbietet, so dass Decker schon um 1720 zu den „Architekturklassikern“69 zählte. Die Ornamentausstattung der fiktiven Residenz legte Decker gemäß des decorum an, so dass vornehmlich Vorzimmer, Kabinette und Privatgemächer im style nouveau, das Audienzzimmer, die Galerie, der Große Saal sowie die Hofkapelle hingegen tradiert angelegt sind. Durchweg finden sich der cheminée à la royale sowie variantenreiche mosaïqueMuster, beides eindeutig von Berain inspiriert. Die kleinteiligen Muster nutzte Decker als Füllung von Pilastern, Panneaux, Lambrequins, Spiegelbekrönungen, Supraporten, Bandlwerkfeldern sowie in Ornamentgrotesken der Wände und Plafonds, so dass sich facettenreiche Anwendungsbeispiele für Baumeister wie Stuckateure bieten (Abb. 6).70
5 James Leman, textile design album, Entwurf vom 13.10.1711, London, Victoria and Albert Museum
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6 Paul Decker, Fürstlicher Baumeister Oder: Architectura civilis. Erster Auffzug der Fenster=Seite deß ersten Vorgemachs zu dem Audienz Zimer, 1711, Heidelberg, Universitätsbibliothek
Interieur Zu den frühesten Verwendungen des Musters in einer Innenraumausstattung außerhalb Frankreichs dürfte Schloss Lietzenburg zählen, nach dem frühen Tod seiner Bauherrin Sophie Charlotte von Brandenburg-Preußen (1668–1705) in Schloss Charlottenburg umbenannt. Den französischen Einfluss in der Schloss- und Gartengestaltung lieferte direkt Sophie Charlottes Cousine, die Herzogin von Orléans und Schwägerin des roi soleil, Elisabeth Charlotte von der Pfalz (1652–1722). Die Herzogin schickte 1695 einen Gartenarchitekten aus Paris nach Berlin, spannte den königlichen Gartenarchitekt André Le Nôtre (1613–1700) als Gutachter ein und nahm auch den ausführenden Architekten Johann Friedrich Eosander (1669–1728) während dessen kurfürstlich verordneter Studienreise 1700 in Paris unter ihre Fittiche: „Er hat alles gesehen, was zu sehen ist.“71 Die Ausstattung der Zweiten Wohnung Sophie Charlottes erfolgte 1702 bis 1704. Im Gegensatz zur schlichten Wandgestaltung (keine Boiserie, stattdessen profilierte Sockellambris, textile Wandbespannung, Gemälde, Kamine und Supraporten) sind die Plafonds prachtvoll mit zartem, goldgrundigem Grotesken-Bandlwerk ausgemalt. Mosaïque findet sich gefüllt oder ungefüllt in den Bandlwerksockeln der Supraporten sowie in den Plafonds. Eine Muster-Variante tritt im Toilettezimmer auf: ein Blütengitter, das an Berains Entwürfe erinnert. Interessanterweise folgen die Charlottenburger Kamine nicht dem in Paris gerade angesagten cheminée à la Royale, den Eosander bei seinem Crash-Kurs à la mode sicher gesehen hatte. Stattdessen wählte man Kamine à la Hollandoise mit Porzellankonsolen, oft in Kombination mit Spiegeln, wodurch sich eine Präsentationsmöglichkeit für die Porzellansammlung Sophie Charlottes bot.72 Über Daniel Marot dürfte ein früher, singulärer Mustertransfer nach Hessen erfolgt sein, da er ab 1704 den Umbau von Schloss Oranienstein für Henriette Amalie von NassauDietz betreute.73 In der Laub- und Bandlwerk-Ausstattung findet sich kein mosaïque, jedoch in den Kaminbekrönungen des ehemaligen Porzellankabinetts. Der um 1707/09 datierte Kamin entspricht, einer Residenz der Oranier angemessen, dem Typus der Holländischen Kamine. Die Kaminbekrönung ist durch stuckplastische Rauten gegliedert, deren Querregister alternierend mit Rosetten oder kleinen Konsolen für Porzellane gefüllt sind. Die Bekrönung bildet somit eine ungewöhnliche Verschmelzung der Verwendung von Porzellankonsolen des cheminée à la Hollandoise mit den durch Marly-le-Roy und Versailles etablierten cheminée à la Royale mit bekrönendem mosaïque-Feld. Unter dem Einfluss des kaiserlichen Hofingenieurs Johann Lucas von Hildebrandt entstanden um 1715 Bauten für zwei dem Habsburger Kaiserhaus nahestehende Fürsten, die eine sehr differente Frankreichrezeption aufweisen: Schloss Weißenstein in Pommersfelden für Lothar Franz von Schörnborn sowie Stadtpalais und Unteres Belvedere des Prinz Eugen von Savoyen (1663–1736) in Wien. Die überwiegend auf die Decken konzentrierte Stuckausstattung für Schloss Weißenstein schuf der Mainzer Hofstukkateur Daniel Schenk (o.J.) 1714 bis 1718.74 Die weiß-golden gefassten Bandlwerkgrotesken besitzen eine ‚unfranzösische‘ Plastizität des Stuckprofils, was auf den Studienaufenthalt des Stuckateurs
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im italienisch geprägten Wien zurückzuführen sein dürfte. Schenks mosaïque besteht aus weißen Rauten mit goldgefassten Kugeln, Blüten oder Rosetten als Füllung.75 Im Spiegelkabinett hingegen setzte der fränkische Kunstschreiner Ferdinand Plitzner (1678–1724) andere Formen von mosaïque ein: zarte, goldgefasste Rautengitter liegen in Kombination mit Laub- und Bandlwerk vor Spiegelfeldern oder Marketerien. Die mosaïque-Variation des Blütengitters setzte Plitzner großflächig als Spiegelbekrönung ein. Die Ausstattungsarbeiten für Prinz Eugens Stadtpalais hingegen rekurrieren überwiegend nicht auf die aktuelle Pariser Mode, sondern auf das frühe Louis quatorze.76 In den zurückhaltend eingesetzten Ornamentgrotesken mit Bandlwerk findet sich kein mosaïque; erst in der ab 1723 ausgestatteten Bibliothek wurden Rautenmuster eingesetzt. Eine Ausnahme bilden die um 1710 für das Konferenzzimmer geschaffenen Brüsseler Groteskentapisserien, die als rahmende Elemente zarte Blütengitter aufweisen77 und eine Vorlage für die ca. 1714 bis 1719 geschaffene Wandgestaltung des Groteskensaals des Unteren Belvedere boten. Salomon Kleiner veränderte allerdings in seinem Nachstich des Konferenzzimmers die Blütengitter zu ‚klassischem‘ mosaïque.78 Den italienischen Einfluss der Ausstattung lieferten wohl die ausführenden italienischen Künstler, die „in den Dienst eines Pariser Ausstattungsideals gestellt wurden“79. Auch die Ausstattung sakraler Bauten erfolgte in Süddeutschland ohne Berührungsängste au style nouveau, und eine frühe Verwendung von verschiedenen mosaïque-Formen ist Egid Quirin Asam (1692–1750) nachzuweisen (Abb. 1). Seine zwischen 1719 und 1721 entstandenen Stuckausstattungen von Rohr, Weltenburg und Aldersbach zeigen roséfarbige ungefüllte Stuckgitter als Bandlwerkfüllung sowie gemaltes ocker-goldenes mosaïque mit Rosettenfüllung von Laub- und Bandlwerkrahmen oder Zwickelfeldern.80 Der Transfer erfolgte vermutlich über Deckers Fürstlichen Baumeister, da der ältere Asambruder Cosmas Damian (1686– 1739) Deckers Plafond des Vor Cabinets um 1717 als Vorlage für die Michelfelder Scheinkuppel wählte.81 Neben dem bereits erwähnten breiten Einsatz des mosaïque in Deckers Baumeister zeigt auch der Plafondentwurf mosaïque-gefüllte Bandlwerkfelder.82 Auch Asams Stuck verfügt – mittels seiner Kontakte mit den norditalienischen Stuckateuren der CarloneSippe – über italienische Einflüsse, die er mit den neuen französischen Formen verband. Ab den 1720er Jahren zählen die Gittermuster – gemalt, stuckiert, geschnitzt, getrieben, gewebt oder gestickt – zum festen Ornamentrepertoire sämtlicher dekorativen und angewandten Künste. Vor allem in gemalter Form ergänzen die Muster zunehmend profane wie sakrale Interieurdekorationen, da durch Model große Flächen einfach geziert werden konnten. Zunehmend variierte man auch das Formrepertoire und spielte mit Kreuzen, Sternen, Kreisen oder abstrakt-geometrischen Mustern, die teils an die Muster der Masson’schen Goldschmiedeentwürfe erinnern. Die Ornamentmode änderte sich – den Bandln folgten um 1730 zarte Ranken und ab 1740 expressive Rocaillen, doch die Rauten und Gitter überdauerten als Füllmuster in diversen Variationen bis Ende des Rokoko. Auch in Neorokokodesigns vom 19. Jahrhundert bis heute wurden und werden die Gitterfüllungen und das mosaïque als charakteristisches Muster des 18. Jahrhunderts benutzt.
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Der Begriffstransfer Der begriffliche Transfer des mosaïque erfolgte im deutschen Sprachraum etwas später als die ästhetische Rezeption.83 In umfassender Weise sind Muster und Begriff 1720 in Johann David Fülcks Gartentraktat Neue Garten Lust anzutreffen.84 Die Muster variieren von Gittern mit Blütenfüllung über schachbrettartige Blütengitter bis hin zu Kreuzblumen-Quadrat-Rapport in Rautenform und einer ständigen Variation der Blüten und Gitterformen (Rauten, Ovale, Quadrate, Rauten mit gekappten Spitzen). Fülck verwendet mosaïque neben vegetabilen Laubwerkranken und Crothesques (Bandlwerk) als gleichwertige dritte Ornamentform und räumt den Mustern einen hohen Stellenwert ein, der innerhalb der Ornamentgrafik beispiellos ist (Abb. 7). Ein Schreiben des Arbeitgebers Fülcks, Rudolf Franz Erwein zu Schönborn (1677–1754), vom Januar 1720 belegt nicht nur die selbstverständliche Verwendung des Begriffs, sondern lässt die Vermutung zu, dass Fülcks undatierte Folge Allerhand neue Parterre,85 die ebenfalls mosaïque verwendet und bezeichnet, zwischen 1715 und 1719 vor der Neuen Garten Lust entstanden war und somit der Begriff vor 1719 inauguriert wäre.86 Als „mosaischer Dekor“ oder „mosaisch gemahlen“ wurden die Muster ab 1721 in den Katalogen der Wiener Porzellanmanufaktur Du Paquier bezeichnet.87 Die Rautenmuster bestehen überwiegend aus Adaptionen der Ornamentgroteske, wurden vornehmlich als Füllungen von Bandlwerkfeldern verwandt und avancierten zusammen mit dem Bandl-
7 Johann Daniel Fülck, Neue Garten Lust Oder: Völliges Ornament, zwei Parterreentwürfe, 1720, Heidelberg, Universitätsbibliothek
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werk zum Charakteristikum der Wiener Manufaktur. Sehr häufig wurden Blütengitter anstelle des ‚klassischen‘ mosaïque eingesetzt, die Motivparallelen in den Blütengittern des Groteskensaals des Unteren Belvedere sowie in den Parterre-Entwürfen Johann David Fülcks besitzen.88 Bei frühen Meißner Porzellanen wurden Rautenmuster oder Gitter ebenfalls als Übernahmen aus den Ornamentalen Vorlageblättern und vorwiegend bei Chinoiserien eingesetzt.89 Vor allem im Schaffen des 1720 von Du Paquier zu Meißen gewechselten Porzellanmalers Johann Gregor Höroldt (1696–1775) sowie der Augsburger Hausmaler-Dekore in weiß-goldener Chinoiserie findet sich vielfach mosaïque. In den Folgejahrzehnten nutzte man die Gittermuster auch als Flächenfüllung, um Felder visuell zu definieren: so zum Dekor einer Tellerfahne oder eines -spiegels in gemalter, staffierter oder reliefierter Weise. Die durch Gitterwerk durchbrochenen Porzellane, die sich besonders für Ränder anboten, eröffnen nicht nur den Gedanken an eine weitere Transformation des Rautenmusters, sondern schlagen eine ästhetische Brücke zu den treillagen der Gartenkunst.90
Ein Bedeutungsvorschlag Das Rautenmuster Jules Hardouin Mansarts hat europaweit Karriere gemacht und kann als Paradebeispiel eines ‚Musters im Transfer‘ gelten. Es durchwanderte die bildkünstlerischen Medien und hinterlässt seine Spur als Element des Kulturtransfers sowie der Verbreitung von Mode im 18. Jahrhundert. Nicht rezipiert wurde außerhalb Frankreichs das mosaïque à fleur-de-lis als französisch-königliches Signet, was einerseits seiner zeichenhaften Symbolik, andererseits dem schlichten Umstand geschuldet scheint, dass in den grafischen Vorlageblättern kein Lilien-gefülltes mosaïque verbreitet wurde. Ist das Muster nun eine Erfindung Hardouin Mansarts? Ein Blick in Augustin Charles D’Avilers Cours d’Architecture führt auf eine andere Spur. Schon in der Erstausgabe des Cours präsentierte D’Aviler Des Compartiments des Voutes et plafonds, Verzierungsmöglichkeiten bzw. Kassettierungsformen für Gewölbe, Bogen oder Decken.91 D’Aviler vertrat eine klassische Architekturornamentik gemäß des âge classique und verwahrte sich gegen die „Missbildungen der gotischen Architektur und den schlechten Geschmack seiner Masken, Chimären, Harpyien und ähnlicher Ornamentik“92. Die im Kupferstich abgebildeten Kassettierungsformen umfassen Muster aus Rosetten, Ovalen, Spitzovalen, Sechsecken, Achtecken, Kreuzen und polygonal geschweiften Formen sowie verschiedene Rosetten. Die Muster entsprachen dem Kanon, zudem hatte sie D’Aviler in Italien an Antiken sowie „les belles Eglises d’Italie“ studiert und in sein Traktat aufgenommen.93 Muster B. zeigt nun das rosettengefüllte Rautenmuster, das mosaïque, allerdings nicht unter dieser Bezeichnung, sondern Compartiment losange genannt. Als Hardouin Mansarts Mitarbeiter in dessen Agence stand D’Aviler in engem Kontakt zu den königlichen Ausstattungsarbeiten, und die zeitliche Parallelität der Erstausgabe des Cours und der Entwurfszeichnung
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des Chlodwigmedaillons (Abb. 2) 1691 scheint den Kreis zu schließen. Das mosaïque entpuppt sich als tradierte Kassettierungsform, die für den Invalidendom mit der Königslilie ein upgrade erfuhr, vermutlich durch Berain in die Ornamentgroteske aufgenommen wurde und folgend als Muster des style nouveau für Interieurs und angewandte Kunst vereinnahmt und in ganz Europa verbreitet wurde. Im Freisinger Mariendom benutzte Egid Quirin Asam 1723/24 sowohl die Muster B. losange als auch E. Figurez des Cours als Verkleidung von Gewölbe und Stichkappen, als gemalten Fond in Ocker-Gold.94 Der Kupferstich des neu gestalteten Dominnenraums zeigt offenkundig die künstlerische Intention jener meist als „Brokat“ oder „Tapete“ bezeichneten Goldmuster: das trompe l’œil eines Kassettengewölbes.95 Bezeichnet wurden die Muster im Vertrag mit dem Domkapitel 1723 als „Mosaique, und andere Füllungen“96 und ebenso in der Bistumschronik 1724 als „Mosaic“97. Doch dies ist nicht das Ende der Spurensuche; weitere Transfers zeichnen sich am Horizont ab. Lilien-gefüllte Rautenmuster waren in der französischen Buchmalerei der Gotik etabliert, und es wird noch zu prüfen sein, ob Hardouin Mansart für die Porträtgalerie der französischen Könige des Invalidendoms bewusst ein Muster wählte, das zusätzlich zu den Medaillons ancienneté transportierte.98 Nicht in die Vergangenheit, doch in die Ferne führt eine weitere Spur, die auf die Rautenmuster vor allem des Porzellans eingewirkt haben könnte: Rautenmuster der japanischen Imari- bzw. Arita-Porzellane, die über die Niederländische Ostindienkompagnie VOC ab 1700 nach Europa exportiert wurden. Doch der asiatische Porzellanmarkt reagierte auch marktorientiert auf europäische Konsumenten und ihre Vorlieben: Elemente des style nouveau flossen zurück nach Ostasien und beeinflussten die asiatischen Dekore für Exportporzellan, so dass viele Muster und Ornamente im wechselseitigen Transfer die Grenzen überflogen und Kontinente verbanden.
Anmerkungen 1
Grundlegend zum Ornament immer noch: Günter Irmscher: Kleine Kunstgeschichte des europäi-
2
Aufgrund der begrenzten Abbildungsanzahl des Aufsatzes hat d. Verf. angesichts der vorhande-
schen Ornaments seit der frühen Neuzeit (1400–1900). Darmstadt 1984. nen Fülle bei Beispielen ohne Abbildungen versucht, leicht über einschlägige web-Suchmaschinen sowie Museumsdatenbanken recherchierbares Bildmaterial auszuwählen. 3
Uta Coburger: Von Ausschweifungen und Hirngespinsten. Das Ornament und das Ornamentale im Werk Egid Quirin Asams (1692–1750). Göttingen 2011, S. 99–112. Die als mosaïque bekannten Rautenmuster werden vor allem in der deutschsprachigen Architekturgeschichte vorwiegend als „Brokat“ bezeichnet.
4
Ornamentierfreude löste stets heftige Ornamentkritik seitens der Kunsttheorie aus. Frank-Lothar Kroll: Zur Problematik des Ornaments im 18. Jahrhundert. In: Ornament und Geschichte. Studien zum Strukturwandel des Ornaments in der Moderne. Hrsg. von Ursula Franke/Heinz Paetzold. Bonn 1996, S. 63–77/Mario-Andreas von Lüttichau: Die deutsche Ornamentkritik im 18. Jahrhun-
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dert. Hildesheim/Zürich/New York 1986. Besonders unterhaltsam sind die Tiraden des sächsischen Hofbaumeisters Friedrich August Krubsacius (1718–1789) gegen die süddeutschen Ausschweifungen sowie des Wiener Architekten Adolf Loos (1870–1933), der ornamentale Verbrecher in weißgetünchten Zellen einsperren lassen wollte. 5
Alexandre Gady: Église royale Saint-Louis des Invalides. In: Jules Hadouin Mansart 1646–1708. Hrsg. von Alexandre Gady. Paris 2010, S. 146–165. Die sog. Reunionspolitik Ludwig XIV. zielte auf Annexion von Gebieten des Heiligen Römischen Reiches, auf die Frankreich einen rechtlichen Anspruch habe. Umgesetzt wurden die Gebietserweiterungen durch zahlreiche Kriege zwischen 1667 und 1697. Vor allem nach dem Devolutionskrieg, Holländischen Krieg und Reunionskrieg hatte Frankreich an Gebieten und Macht gewonnen, auch dank der tiefgreifenden Heeresreformen und des geschickten Agierens Louvois’, der nach jenen Kriegen 1684 in hoher Gunst stand.
6 7
Zit. nach: Gady 2010 (Anm. 5), S. 147. Dietrich Erben: Paris und Rom. Die staatliche gelenkten Kulturbeziehungen unter Ludwig XIV. Berlin 2004, bes. S. 354–357.
8
Gady 2010 (Anm. 5), S. 148–149.
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Zwei Entwürfe Hadouin Mansarts zeigen die Gestaltung des Vorplatzes durch vom Dom ausgehende Arkaden, deren ausgreifendes Halbrund die Peterskolonnaden zitiert.
10 Sowohl die angedachte Reliquienüberführung aus St. Denis als auch das Grablegeprojekt hätten den Invalidendoms zum neuen St. Denis erhoben, jedoch der König „zauderte“. Gady 2010 (Anm. 5), S. 164. Zudem hätte der Bau die gleichen Bestimmungen wie St. Peter erfüllt: Hauptkirche der Monarchie bzw. Kirche, Reliquienkirche des Patrons, Grabeskirche der Dynastie. Dazu Erben 2004 (Anm. 7), S. 344–345 sowie 354. Zudem: Klaus Malettke: Dynastischer Aufstieg und Geschichte. Charakterisierung der Dynastie durch bourbonische Könige und in der zeitgenössischen Historiographie. In: Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Hrsg. von Christoph Kampmann u. a. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 13–26. 11 Paris, Bibliothèque nationale de France, Fol HC 14(1); Ft 6 HC 14 (1). Gady 2010 (Anm. 5), S. 151–159. 12 Agence Jules Hadouin Mansart (?): Médaillon représentant Clovis pour la frise ceinturant la base du tambour de la coupole des Invalides. Paris, Bibliotèque nationale de France, département Estampes et photographie, FOL-HC–14(2). 13 Jean-François Félibien: Description de la nouvelle eglise de l’Hostel Royal des Invalides. Paris 1706, S. 77–80. Der Sohn André Félibiens war auch Historiograph des Sonnenkönigs. Neben der Beschreibung des Doms enthält der Traktat auch Kupfertafeln. Erben 2004 (Anm. 7), S. 368 sieht in den Medaillons eine Reflexion der Papstbüsten in St. Peter. 14 Félibien 1706 (Anm. 13), S. 77. 15 Anne-Marie Lecoq: La symbolique de l’État. In: Les lieux de mémoire. II La Nation, II. Hrsg. von Pierre Nora. Paris 1986, S. 145–192, hier S. 162. 16 Erben 2004 (Anm. 7), S. 342. 17 Zur Symbolik der fleur-de-lis: Lecoq 1986 (Anm. 15), S. 157–172. 18 Gady 2010 (Anm. 5), S. 159. Die Bauunterbrechungen und der Mangel an datierten Entwürfen erschweren eine exakte Chronologie der Arbeiten. 19 Das neue Appartement bestand ursprünglich aus acht Räumen, heute aufgrund von späteren Veränderungen reduziert auf sechs, deren bedeutendste im Mitteltrakt des Schlosses hinter der Galerie des Glaces liegen: Salon de L’Œil-de-bœuf, Chambre du Roi, Cabinet du Conseil. 20 Vormals wurden jene Räume zwischen Galerie des Glaces und Cour de Marbre als Verbindungstrakt zwischen den Appartements des Königspaares genutzt. Das neue Chambre du Roi liegt nun als formaler und ideeller Fixpunkt in der Mittelachse des Schlosses, an der Fassade über einen dreiachsigen Mittelrisalit mit Balkon hervorgehoben. Das Lit d’État steht darüber hinaus in der
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Mitte des Chambre und bildet nun das Zentrum des bourbonischen Kosmos, der über das tägliche lever und coucher des Königs determiniert ist. 21 Dank erhaltener Anweisungen und Abrechnungen sind exakte Datierungen ab 1700 überliefert. Alfred Marie/Jeanne Marie: Versailles au Temps de Louis XIV. Troisième Partie. Mansart et Robert de Cotte. Paris 1976. Zum Appartement du Roi: S. 288–304. 22 Marie/Marie 1976 (Anm. 21), S. 295. 23 Fiske Kimball: The development of the „cheminée à la Royale“. In: Metropolitan Museum Studies, 5, 1936, S. 259–280. Vermutlich wurde der Kamintypus erstmals in Marly-le-Roi, dem 1816 abgerissenen Lustschloss Ludwig XIV., eingeführt. Vgl. dazu die Kupferstichfolge Pierre Lepautre: Livre de Cheminées executées à Marly. Vermutlich Paris 1699. 24 Kimball 1936 (Anm. 23), S. 259. 25 Marie/Marie 1976 (Anm. 21), S. 295. 26 Jules Hadouin Mansart: Cheminée de Mad. la princesse de Conty a Versailles [...] le 15. Juin 1700. Paris Bibliothèque Nationale de France, HA–18 (2)-FOL. Die Prinzessin war die illegitime Tochter Ludwig XIV., die er mit dem Fürsten von Conti, einem Nebenzweig der Linie Bourbon-Condé, verheiratet hatte. 27 Alexandre Maral: La chapelle royale de Versailles. Programme iconographique. In: Revue de l’art, 132, 2001–2002, S. 29–42/Alexandre Maral: Chapelle royale (1688–1710). Subsiste, modifiée et restaurée. In: Jules Hadouin Mansart 1646–1708. Hrsg. von Alexandre Gady. Paris 2010, S. 215–228. 28 Maral 2010 (Anm. 27), S. 223. 29 Jean-François Félibien: Description de la Chapelle du Chasteau de Versailles, et des ouvrages de sculpture et de peinture. Paris 1711, S. 24. Zudem finden sich liliengefüllte Rautenmuster, leicht variierend, im Apsisumgang sowie am Altar des Heiligen Ludwig. Durchgehend ist das Muster in der Reliefausstattung der Erdgeschoss-Pfeiler anzutreffen, als Felderfüllung oder in angewandter Weise als Dekor der dargestellten liturgischen Geräte oder Waffen, was den Goldschmiedeentwürfen Massons entspricht. 30 Agence Robert de Cotte: Plusieurs différents dessins du maître-autel [...]. Paris, Bibliothèque nationale de France, Va 78e t.7. François Fossier: Les dessins du Fonds Robert de Cotte de la Bibliothèque nationale de France. Architecture et décor. Paris/Rom 1997, S. 571–574. 31 Katharina Krause: Der Voeu de Louis XIII. Die Chorausstattung von Notre-Dame in Paris unter Ludwig XIV. Diss. München 1988. München 1989. 32 Pierre Lepautre: Face de l’autel du costé de la nef [...]. Paris, Bibliothèque nationale de France, Va 442(6). 33 Pierre Lepautre: Autre dessein de baldaquin [...], Paris, Bibliothèque nationale de France, Va 442. Fossier 1997 (Anm. 30), S. 206–211. 34 François Antoine Vassé: Elévation dudit coffre d’autel. 1712. Paris, Bibliothèque nationale de France, Va 254b verso. 35 Krause 1989 (Anm. 31), S. 77. Laut Krause geht die stärker plastisch-figürliche Bildhauerausstattung samt der Hinwendung zum römischen Barock auf den neuen Leiter der Bâtiments Robert de Cotte zurück. Dazu S. 168–177. 36 Lecoq 1986 (Anm. 15), S. 157. 37 Description l’Église de l’Hôtel Royal des Invalides. A Paris chez Michel Audran. Paris 1760. Die Neuauflage zeigt je drei der Kupfertafeln der Erstauflage auf einer Seite, die mit mosaïque- und weiteren Ornamentrahmen eingefasst sind. 38 Das neue Pavillonsystem von Marly wurde 1679 nach Entwürfen Charles Le Bruns begonnen, dessen Einfluss jedoch nach dem Tod Colberts 1683 unter dessen Nachfolger als Surintendant, Louvois, zugunsten Hadouin Mansarts schwand. Die Innenausstattung erfolgte ab 1692.
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39 Stéphane Castelluccio: Mobilier et étiquette à Marly pendant le règne de Louis XIV. Bulletin du Centre de recherche du château de Versailles, 2012. URL: http://crcv.revues.org/11926 [24.08.2014]. 40 Lepautre 1699 (Anm. 32). 41 Abb. bei Kimball 1936 (Anm. 23), S. 272–273. 42 Augustin Charles D’Aviler: Cours D’Architecture qui comprend Les Ordres De Vignole [...]. Paris 1710, S. 171*5/171*6. Die Erstauflage des Cours erschien 1691 bei Nicolas Langlois in Paris, mehrere Raubkopien folgten in den 1690er Jahren, gedruckt in Amsterdam. Ab 1710 verlegte Jean Mariette, der nach dem Tod Nicolas Langlois’ 1707 den Verlag übernommen hatte, vermehrte Ausgaben des Cours. Bettina Köhler: ‚Architektur ist die Kunst, gut zu bauen’. Charles Augustin D’Avilers Cours d’Architecture qui comprend les Ordres de Vignole. Berlin/Zürich 1997. Köhler sieht die Vermehrung des Cours um dekorative Innenraumelemente als Reaktion auf die gestiegene Nachfrage nach aktuellen Interieurentwürfen. Als Bearbeiter wurde Jean Baptiste Le Blond, als Kupferstecher Pierre Lepautre gewonnen. Bes. S. 59–64. 43 D’Aviler 1710 (Anm. 42), S. 171*3. 44 D’Aviler 1710 (Anm. 42), S. 163. 45 Die Blätter sind z. B. gebunden an: Paris, Musée des Arts Decoratifs, Reserve JH 73 Nouveaux Dessins de Lambris de Menuiserie a Panneaux de Glace, [...] Cottar Architecte du Roi et autres. Paris Langlois [o.J.]. Die sechs Blätter der Folge von Cottar unterscheiden sich in der Typographie von den beiden angebundenen mosaïque-Blättern, die zudem einer anderen Paginierung folgen, so dass man von einer späteren Zutat ausgehen muss. Die kompletten acht Blätter finden sich zudem als Nachdruck bei Mariette sowie in der undatierten Kompilation L‘Architecture a La Mode ou sont les Nouveaux Dessins pour la Décoration des Bâtiments et Jardins, die Kupfertafeln der Verlage Langlois und Mariette vereint. New York, Metropolitan Museum, Acc. No. 30.64 (1–3); Paris, Bibliothèque Nationale, Dept. Arsenal, EST–679. 46 Jérôme de La Gorce: Berain. Dessinateur du Roi Soleil. Paris 1986/Roger-Armand Weigert: Jean I Berain. Dessinateur de la chambre et du Cabinet du Roi. Paris 1937. 47 Die Œuvres Berains erschienen in seinem Todesjahr 1711 als Zusammenfassung seines Schaffens. Leider sind die Entwürfe sowie die verschiedenen Serien nicht datiert und die Lebensdaten der für Berain tätigen Kupferstecher bringen auch wenig Licht in die dunkle Chronologie, da die meisten nach ihm starben. Die Serien mit alphabetischer Bezeichnung scheinen zudem keiner Chronologie zu folgen. Als terminus post quem muss nach den bisherigen Forschungen d. Verf. gelten, dass in keiner von Jean Dolivar (1641–1692) für Berain gestochenen Entwürfe mosaïque oder Füllmuster zu finden sind. Dies könnte, jedoch muss nicht bedeuten, dass mosaïque erst nach 1692 von Berain eingesetzt wurde. Ein Blatt der Œuvres ohne Serienbezeichnung, welches vermutlich der Serie D entstammt und von Dolivar gestochen wurde, besitzt als Baldachinfüllung ein Rauten-Kassetten-Muster (S. 20 des Exemplares der Heidelberger Universitätsbibliothek). 48 Ulrike Seeger: Abgekupfert, aufgefächert, angewandt. Maria Philippina Küsels Gemahlter Himmel. Zur Rezeption französischer Ornamentstiche via Augsburg. In: Architektur- und Ornamentgraphik der Frühen Neuzeit. Migrationsprozesse in Europa. Ausst.Kat. Forschungsbibliothek Gotha. Hrsg. von Sabine Frommel/Eckhard Leuschner. Rom 2014, S. 284–294, hier S. 284. 49 Jean Berain: Desseins de Cheminées Dediez A Monsieur Jules Hardouin Mansard Conseiller du Roy en tous ses Conseils, Chevalier de l’Ordre de S. Michel, Comte de Sagone, surintendant et Ordona general des Batimens, Arts et Manufactures de sa Majesté [...] J. Berain Delineavit. G. J. B. Scotin lainé Sculpsit. Avec privilege du Roy Ils Se vendent chez M.r Thuret aux Galleries du Louvre. Paris [o.J.]. Aufgrund der Titel Hardouin Mansarts kann die Folge frühestens 1699 entstanden sein, da der Architekt in jenem Jahr zum Surintendant sowie zum Comte de Sagone erhoben
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wurde. Wien, Museum für Angewandte Kunst, KI 10362 F–146 S–80 (13 Blätter); Heidelberg, Universitätsbibliothek, GF 360 RES (17 Blätter, Teil der Zusammenstellung Ornements). 50 Vorname und Lebensdaten bislang unbekannt. 51 Masson: Nouveaux Desseins pur graver sur l’orfeverie. Inventés et graves par le Sieur Masson. A Paris chez I. Mariette. Paris [o.J.]. Wien, Museum für Angewandte Kunst, KI 5933 F–115 S–23 Z–1; Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek, OS 1055. 52 Masson: Neue Vorrisse von Sachen die auf allerleÿ Goldschmidts Arbeit zu stechen und zugebrauchen seÿnd, inventirt durch Monsieur Masson, verleget und zu finden beÿ Ios. Friedrich Leopold. Augsburg 1710. Wien, Museum für Angewandte Kunst, KI 2323 F-115 S-28. Bislang ist der Verf. nur das Titelblatt der Folge zugänglich, das noch die Wappenfelder frei lässt. 53 Masson: Neue Vorrisse von Sachen die auf allerleÿ Goldschmidts Arbeit zu stechen und zugebrauchen seÿnd, inventirt durch Monsieur Masson, verleget und zu finden beÿ Ios. Friedrich Leopold. Cum. Privil. Sac. Cæs. Maje. Augsburg 1716. Augsburg, Kunstsammlungen und Museen, Grafische Sammlung, G11107-09, G11158-60. Kompletter Nachstich der Vorlage von Mariette, Titelblatt nun mit Wappen und Privileg. 54 Der folgende Abschnitt vermag im Hinblick auf den begrenzten Umfang des Aufsatzes nur parspro-toto die Verbreitung darstellen und beschränkt sich auf ausgewählte und datierte Beispiele. Eine gründliche Aufarbeitung der Verbreitung des Musters in den verschiedenen Bereichen – Architektur, Interieur, Ornamentgrafik sowie die Einzelbereiche der Angewandten Kunst – samt exakter Chronologie bedarf zudem noch weiterer Forschungsarbeit. 55 Zit. nach Thomas DaCosta Kaufmann: Das Theater der Pracht. Charlottenburg und die europäische Hofkultur um 1700. In: Sophie Charlotte und ihr Schloss. Ein Musenhof des Barock in Brandenburg-Preußen. Ausst.Kat Schloss Charlottenburg. München/London/New York 1999, S. 43–56, hier S. 48. DaCosta Kaufmanns differenzierter Blick auf die Epoche betont das Vorhandensein verschiedener Vorbilder trotz französischer Dominanz und verweist auf eine auch an Allianzen und Konfessionalität orientierte Rezeption der drei großen ‚Modelle‘ Oranien, Bourbon und Habsburg samt ihrer Residenzen. 56 Die Bauten wurden bald nach Ende des Krieges gegen Frankreich ab 1700 am Rhein begonnen. Die Auftraggeber – Reichsvizekanzler und Fürsterzbischof Lothar Franz von Schönborn, Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden und Kurfürst Karl Philipp von der Pfalz – orientierten sich, des vorherigen französischen Furors ungeachtet, an der Hofkunst Ludwig XIV. 57 Zudem präsentierte sich August in römischem Kaiserkostüm, während die Kaisertochter zuvor in einem Nachbau des venezianischen Staatsschiffs Bucentauro von Wien nach Dresden gereist kam. 58 Dank der fehlenden Datierung vermochte man variierende Folgen an Ornamentstichen zusammenzustellen, die als ‚neueste Mode‘ verkauft wurden und den Käufern, neben einzelnen aktuellen Entwürfen, auch ältere Designs unterjubelten. 59 Daniel Marot: Manefiecke Carosse van sÿn Majesteyt van Groot Bretagne gemaekt in de Haegh de 20 July 1698. Amsterdam, Rijksmuseum, RP-P-OB-76.324. 60 Berain entwarf eine Kutschenverzierung, die von Dolivar (also vor 1692) gestochen wurde und als Ornamentik Bandlwerkgrotesken, aber ohne mosaïque, benutzte. Wien, Museum für Angewandte Kunst, KI 10366 F-16 S-68 Z-5. 61 Die Folgen Marots wurden in seinen Œuvres versammelt, die spätestens 1712 erschienen. Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, Archit. 169. 62 Durch eine Studienreise war Tessin zuvor in Paris in Kontakt zu Jean Berain gekommen. 63 Sébastien Le Clerc: Plafond de la Salle et de la Chambre du lit d’un hostel basty a Stockholm appartenant a Monsieur le baron de Tessin. Wien, Museum für Angewandte Kunst KI 2298 F-144 S-9 Z-1 und KI 2298 F-144 S-9 Z-2.
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64 Seeger 2014 (Anm. 48). Maria Philippina Küsel: Gemahlter Him[mel] od’ Dil. Der Schlaffkam[mer]. Herrn Baron de Tessin [...]. Augsburg, um 1700/1710. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, M: Uh 81 (1). 65 Barbara Markowsky: Europäische Seidengewebe des 13.–18. Jahrhunderts. (= Kataloge des Kunstgewebemuseums Köln 8). Köln 1976, Kat. Nr. 483, 486, 490, 499 sowie 508. 66 Auch die Textilentwürfe Daniel Marots enthalten das Rautenmuster und finden sich in einzelnen Folgen und in seinen Œuvres. Prag, Museum of Decorative Arts, 00_025794_0194_P001; Wien, Museum für Angewandte Kunst, D 666 F-142 S-65 Z-5; D 666 F-142 S-65 Z-6. 67 London, Victoria & Albert Museum, E.1861. 68 Paul Decker: Fürstlicher Baumeister Oder: Architectura Civilis, Wie Grosser Fürsten und Herren Palläste/mit ihren Höfen/Lust-Häusern/Gärten/Grotten/Orangerien [...] nach heutiger Art auszuzieren [...]. Erster Theil. Augsburg 1711. Grundlegend zu Decker: Barbara Kutscher: Paul Deckers ‚Fürstlicher Baumeister‘ (1711/1716). Untersuchungen zu Bedingungen und Quellen eines Stichwerks. Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995. 69 Kutscher 1995 (Anm. 68), S. 49. 70 Decker 1711 (Anm. 68), S. 12, 15, 16, 17, 18, 20, 22, 32, 34, 35, 36, 39, 40, 43, 44, 45, 48, 49, 53, 54. 71 Guido Hinterkeuser: Von der Maison de palisance zum Palais royal. Die Planungs- und Baugeschichte von Schloss Charlottenburg zwischen 1694 und 1713. In: Ausst.Kat. Sophie Charlotte 1999 (Anm. 55), S. 113–124, hier S. 118. Auch Tessin lieferte Architekturvorschläge und vermittelte vermutlich Eosander an den Brandenburg-Preußischen Hof. 72 Vgl. die zahlreichen Entwürfe Daniel Marots zu den cheminées à la Hollandoise, die als Alternative (oder ‚Design-Konkurrenz’?) zu den cheminées a la Royale zu sehen sind. Z. B. Wien, Museum für Angewandte Kunst, KI 2267 F-146 S-50. 73 Baron Ludwig Döry: Die Stuckaturen der Bandlwerkzeit in Nassau und Hessen (=Schriften des Historischen Museums VII). Frankfurt a.M. 1954. 74 Werner Schiedermair: Schloss Weissenstein in Pommersfelden. Lindenberg 2003. 75 Große Galerie (1714), Tafelzimmer (1714), Arbeitszimmer (1715), Nußbaumzimmer (um 1718), Marmorsaal (vor 1718). 76 Ulrike Seeger: Stadtpalais und Belvedere des Prinzen Eugen. Entstehung, Gestalt, Funktion und Bedeutung. Wien/Köln/Weimar 2004. Seeger weist vielfach auf die nach Pariser goût „unmodische“ Ausstattung hin, die eine deutliche Referenz auf das frühe Louis quatorze beweist. Seeger vermutet darin einen Ausdruck der persönlichen Geschmackspräferenzen des Prinzen, da er die Jugendjahre des Prinzen in Paris im Umfeld des französischen Hofes markiert (S. 414–416). 77 Heute Turin, Palazzo Reale. Seeger 2004 (Anm. 76), S. 120–128. 78 Die beabsichtigte Drucklegung der Ausstattung erfolgte nicht, 20 Kupferstiche und fünf Vorzeichnungen sind erhalten. Seeger 2004 (Anm. 76), S. 14. 79 Seeger 2004 (Anm. 76), S. 75. 80 Coburger 2011 (Anm. 3), S. 105–107. 81 Kutscher 1995 (Anm. 68), S. 182. 82 Decker 1711 (Anm. 68), S. 39. 83 Vgl. die angeführte Goldschmiedeserie Massons. 84 Johann David Fülck: Neue Garten Lust oder Völliges Ornament so bey Anlegung Neuer Lust- und Blumen als auch Küch- und Baum Gärten höchst nöthig und dienlich. Augsburg 1720. Mosaïque findet sich auf ca. Dreiviertel aller Parterreentwürfe. Der Traktat ist nicht datiert, aber gesichert 1720 datierbar. Vgl. dazu Uta Hasekamp: Nachwort zur Faksimile-Ausgabe. In: Johann David Fülck: Neue Garten Lust oder Völliges Ornament so bey Anlegung Neuer Lust- und Blumen als auch Küch- und Baum Gärten höchst nöthig und dienlich. Reprographischer Nachdruck der Erst-
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ausgabe Augsburg. Worms 1994, S. I-XVI. Hasekamp belegt auch die Umsetzung von mosaïqueFlächen in Gartenanlagen ab 1720, japanisches Arita-Porzellan rezipierend. 85 Johann David Fülck: Allerhand Neue Parterre und Blumen Stück. Bestehend in Broderie als Mosaique Crotesque und gaçons wie solche in grosse Lustgärten können Employirt und angelegt werden. Nürnberg o.J. Wien, Museum für Angewandte Kunst, D 434 F-150 S-10. 86 Hasekamp 1994 (Anm. 84), S. II. 87 Rainald Franz: Das „Laub- und Bandlwerk“. Ein Ornament als Signet des Kunsttransfers in Mitteleuropa des frühen 18. Jahrhunderts. In: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, 60, 2006, S. 418–427, hier 418. Herzlichen Dank an Rainald Franz für diesen Hinweis. 88 Z. B. Teekanne, um 1730, Wien, Liechtenstein Collection, G 96.5.014 a-b; Deckelterrine mit Unterschale, um 1730/40, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Porzellansammlung, PE 4215. 89 Z. B. Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Porzellansammlung, E.Nr. 14805; Barbara BeaucampMarkowsky: Europäisches Porzellan und Ostasiatisches Exportporzellan, Geschirr und Ziergerät. Köln 1980, Kat. Nr. 29d. 90 Eine seltene Ausnahme eines Feldergrenzen ignorierenden Musters bilden Meissner Porzellandekore mit Schachbrettmuster und „fliegenden Eichhörnchen“, um 1740, japanisches Arita-Porzellan rezipierend. Die quadratischen Musterfelder sind angerissen quer über Fahne und Spiegel gelegt, so dass der Eindruck eines ausgeschnittenen Musterblattes oder Textilabschnittes, das auf dem Teller aufliegt, evoziert wird. Z. B. Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Porzellansammlung, Inv. Nr. PE 7735; Bamberg, Sammlung Ludwig Bamberg. 91 D’Aviler 1691 (Anm. 42), S. 342–346. Verschiedene Vorlagen für Kassettierungen waren üblich in den „Säulenbüchern“. 92 D’Aviler 1691 (Anm. 42), S. 342: „C’est pourqouy quelque difforme que soit l’Architecture Gothique par le mauvais goût de ses Mascarons, Chimeres, Harpies, Guimberges & autres semblables ornemens, [...].“ 93 D’Aviler 1691 (Anm. 42), S. 344. Die Arbeiten sollten aus Stuck mit weiß-goldener Fassung sein. 94 Das alternierend mit mosaïque die Stichkappen zierende Oval-Stern-Muster entspricht hingegen nicht D’Avilers Form C. Ovale. 95 Cosmas Damian Asam (Zeichner)/Franz Josef Mörl (Stecher): [...] forma Insignis Ecclesiae Cathedralis B. V. M. Frisingensis, quam [...]. München 1724. Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek, OS 3960. 96 Coburger 2011 (Anm. 3), S. 104. 97 Karl Meichelbeck: Kurtze Freysingische Chronic. Freising 1724, S. 354. 98 Meinen herzlichen Dank an Katharina Krause, Marburg, sowie Robert Suckale, Berlin, für ihre Hinweise auf jene möglichen Vorläufer.
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Annette Tietenberg
Delfter Blau als peinlicher Faktor, Parodie und postkoloniale Pathosformel Wir schreiben das Jahr 1968. Mit dem Bild Carl Andre in Delft lässt Sigmar Polke die Düsseldorfer Kunstszene wissen, was er von Minimal Art und von Mustern hält: Beides kommt ihm komisch vor. Als Bildgrund setzt Polke einen bemusterten Stoff ein, wobei er ein Muster wählt, das – gemeinhin unter dem Namen Delfter Blau bekannt1 – einst nieder ländische Fayencen ausgezeichnet hat (Abb. 1). In den 1960er Jahren war das Delfter Blau zum Bestandteil der Populärkultur geworden, fand es doch, nachdem seine erlesene Herkunft aus königlichen Manufakturen in Vergessenheit geraten war, im industriellen Zeitalter mit breiter demokratischer Zustimmung als d-c-fix-Selbstklebefolie, Sofakissen und Plastiktischdecke zur Dekorierung von Küchen, Badezimmern und Schrebergärten Verwendung. Carl Andre hingegen galt damals unter Künstlern als Geheimtip, wenn ihm auch bereits das Etikett „Minimal Art“ anhaftete. Konrad Fischer, der sein alter ego, den Künstler Konrad Lueg, eben erst produktionstechnisch wie namentlich hinter sich gelassen hatte,2 um als Galerist tätig zu werden, hatte am 21. Oktober 1967 seinen in einer ehemaligen Hofdurchfahrt eingerichteten Ausstellungsraum in der Düsseldorfer Neubrückstraße 12 mit dem in Europa noch weitgehend unbekannten Carl Andre eröffnet. Fischer war durch fotografische Reproduktionen von Carl Andres Bodenarbeiten in der amerikanischen Zeitschrift Artforum auf den Künstler aufmerksam geworden und lud diesen kurz entschlossen nach Düsseldorf ein. Carl Andre realisierte daraufhin in situ die ortsspezifische Bodenarbeit 5 x 20 Altstadt Rectangle, eine Anordnung von insgesamt hundert Stahlplatten. Polke muss sie dort gesehen haben, denn schließlich kannten sich Sigmar Polke und Konrad Lueg gut; nicht zuletzt hatten sie im Jahr 1963, zusammen mit Gerhard Richter und Manfred Kuttner, in der Galerie Junge Kunst in der Düsseldorfer Kaiserstraße 31A ausgestellt.3 Die Eröffnung der Galerie seines langjährigen Künstlerkollegen und -konkurrenten Lueg/Fischer dürfte Polke wohl kaum verpasst haben. Ein Jahr später, im Oktober des legendären Jahres 1968, als Jörg Immendorf gemeinsam mit Chris Reinecke die Aktionsform LIDL erfand und mit einem schwarz-rot-goldenen Klotz am Bein vor dem Bundestag in Bonn auf- und abmarschierte, hatte Carl Andre seine erste Museumsausstellung. Und zwar im dreißig Kilometer von Düsseldorf entfernt gele-
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1 Sigmar Polke, Carl Andre in Delft, 1968, Acryl, Dispersion/Stoff, 88 x 75 cm, Sammlung Speck, Köln
genen Mönchengladbach, wo Johannes Cladders, der mit den Galeristen Alfred Schmela und Konrad Fischer in engem Kontakt stand, kurz zuvor die Leitung des Städtischen Kunstmuseums an der Bismarckstraße übernommen hatte. Anlässlich der Ausstellung in Mönchengladbach realisierte Carl Andre die beiden Bodenfelder 8001/8002 Mönchen-
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gladbach Square, zwei gleich große Quadrate aus je 36 Stahlplatten.4 Die jeweils nach dem Schema sechs mal sechs ausgelegten quadratischen Platten schließen sich zu einem quadratischen Handlungsfeld zusammen (Abb. 2). Format und Größe der Bodenarbeit leiten sich von einem Standardmaß ab. Sie sind produktionstechnisch und materialimmanent begründet und in ihrer Präsentationsform – ein Quadrat gebildet aus Quadraten – strukturell selbstreferentiell. Dass Carl Andres Arbeit damals bei Künstlern wie Kuratoren erhebliches Interesse weckte, zeigt sich unter anderem daran, dass der Ausstellungsmacher Harald Szeemann in der Vorbereitungsphase der Ausstellung When Attitudes Become Form eigens nach Mönchengladbach reiste. In seinen Aufzeichnungen notierte er: „18.11. 20 Uhr: Besuch der Carl-Andre-Ausstellung im Städtischen Museum Mönchengladbach mit Jean Leering, Direktor des Stedelijk-van-Abbe-Museums Eindhoven, und Jean-Christophe Ammann.“5 Sigmar Polkes Antwort auf Andres 8001/8002 Mönchengladbach Square (1968)6 heißt lapidar: Carl Andre in Delft (1968)7. Das Bild im überschaubaren Format von 88 x 75 Zentimetern besteht aus einem handelsüblichen Dekostoff, wie er bis heute für Tischdecken, Vorhänge und Küchenhandtücher Verwendung findet. Bedruckt ist er mit dem traditionellen blau-weißen Muster Delfter Kacheln: In alternierender Reihung wechselt sich das
2 Carl Andre, 8001 and 8002 Mönchengladbach Square, 1968, Stahl, 2 Quadrate à 0,8 x 300 x 300 cm, bestehend aus je 36 Stahlplatten à 0,8 x 50 x 50 cm, Städtisches Museum Abteiberg Mönchengladbach. Erworben mit Hilfe des Landes NRW
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Motiv eines Segelboots mit dem Motiv einer Fregatte und dem Motiv einer stilisierten kreisumrundeten Blüte ab. Die Motive sind jeweils in schwarze Rechtecke eingelassen, womit eine äußere Umrandung – oder, gegenständlich gedeutet, eine dunkle Verfliesung der Kacheln – imaginiert wird. Auf weitere illusionistische Effekte, etwa eine Andeutung von Räumlichkeit der dargestellten Kacheln, wurde zugunsten der Überführung in die Fläche und einer Betonung der Stofflichkeit verzichtet. Polke hat den industriell bedruckten Stoff so verwendet, wie er ihn vorfand; unverändert zog er ihn auf einen Keilrahmen auf. Wie Martin Hentschel anmerkt, ist die „künstlerische Bearbeitung“, die Polke vornahm, „denkbar reduziert; mit weißer Dispersionsfarbe ist ein Rahmen um ein Ensemble von sechs mal sechs Kachelbildern gezogen. Auf dem unteren weißen Rand ist mit Schwarz – in vergrößerter Schreibmaschinentype – der Schriftzug Carl Andre in Delft eingebracht. Indem Polke an den seitlichen Bildkanten den bedruckten Stoff wieder hervorblicken läßt, macht er – und darin besteht eine Analogie zu Andres Arbeitsweise – eine Differenz zwischen vorgefertigtem Material und künstlerischer Intervention ganz transparent“8. Die Analogie wirkt reichlich bemüht. Ohne Anstrengung zu erkennen ist hingegen, dass Andres Bodenarbeit und Polkes Bild nicht eben viel gemeinsam haben, wäre da nicht der brückenschlagende Bildtitel, den Polke als unübersehbaren Kommentar im Bild platzierte und so – dem Muster formal untergeordnet – zum Bestandteil des Bildes machte.9 Dazu bemerkt Julia Gelshorn: „Der integrierte Bildtitel ermöglicht es Polke nicht nur, sich von den Darstellungsmitteln zu distanzieren, sondern gleichzeitig deren Ideologie zu ‚untergraben’. Die gleiche Funktion übernimmt der Titel Carl André in Delft, der in vergrößerter Schreibmaschinentype auf eine gemalte Umrandung in das Gemälde von 1968 eingefügt ist.“10 Es ist also die in Polkes Bild unübersehbar zur Sprache gebrachte textuelle Referenz, die einen Vergleich mit Carl Andres Bodenarbeit provoziert. Tatsächlich tritt unter Anwendung der kunsthistorischen Methode des „vergleichenden Sehens“ 11 eine Reihe von Gemeinsamkeiten zutage: der intendierte Rückgriff auf ein „industriell verfertigtes Material“12 bzw. auf ein Standardformat, das demonstrative Offenlegen der Konstruktionsweise, die Negation von Handschrift – bei Polke durch die Verwendung einer maschinellen Schrifttype und bei Andre durch die Abwesenheit der Spuren eines Arbeitsprozesses sowie durch das Streben nach größtmöglicher Materialgerechtigkeit13 – und nicht zuletzt die Reflexion der seriellen Reihung als Produktionsprinzip, hier durch die Addition von jeweils sechs mal sechs gleichartigen Elementen vor Augen geführt. Deutlicher fallen die Unterschiede ins Gewicht. Während Sigmar Polke ein Gemälde verfertigt, ist Carl Andres Metier die Skulptur. Während Polke dem Illusionismus huldigt, interveniert Carl Andre konkret im Raum. Während Polke ein fertiges Endprodukt an der Wand fixiert, legt Andre den variablen, an keiner Stelle arretierten und dadurch veränderbaren Vorschlag14 einer Form auf dem Boden aus. Während Polke im Muster das Rechteck – und damit das traditionelle Bildformat – durchdekliniert, vervielfältigt Andre das Quadrat.15 Während Polke ein systemimmanentes kunstinternes Verweis- und Bezugs-
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system aufruft, ja sich in die Tradition der gegenständlichen Malerei und des Paragone16 einschreibt, installiert Andre eine Arbeit, die, zumindest idealiter, selbstevident ist und nichts repräsentiert als sich selbst. Nicht nur in produktionsästhetischer, auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht erweist sich die Diskrepanz zwischen beiden Werken als erheblich. Während Polke durch die Integration von Muster und Schriftzug in das Bild die Kulturtechniken des Sehens wie des Lesens zugleich abruft,17 provoziert Andre eine multisensuelle ästhetische Erfahrung im Nonverbalen und Außertextlichen. Während Polke dem Betrachter ein begrenztes ästhetisches Gebilde, das von einem gemalten Rahmen umschlossen ist und konventionell auf Augenhöhe präsentiert wird, zur Anschauung überlässt, fordert Andre den Ausstellungsbesucher dazu auf, eine ganzkörperliche Erfahrung zu machen, indem er ihn dazu animiert, ein ästhetisches Feld zu betreten. Dass eben dieser Erfahrungshorizont intendiert ist, lässt sich aus einer Bemerkung schließen, die Carl Andre 1970 gegenüber Phyllis Tuchman machte: „Man kann in der Mitte stehen und gerade nach vorn schauen, und man sieht die Skulptur überhaupt nicht, weil die untere Grenze des Sichtfeldes jenseits der äußeren Kante der Skulptur liegt. Man kann also mitten in einer Arbeit stehen und sie überhaupt nicht sehen – und das ist vollkommen in Ordnung.“18 Carl Andres ästhetisches Feld lässt sich demnach als Aufforderung an den Betrachter verstehen, sich selbst innerhalb eines im Prinzip unendlichen Prozesses der Wahrnehmung zugleich als Wahrnehmenden und als Wahrzunehmenden wahrzunehmen.19 Diese Tautologie findet ihre Entsprechung in der Redundanz der Form: eine geometrische Grundfigur, ein Quadrat, zusammengesetzt aus Quadraten, eine in der Natur nicht vorkommende Idealform, sich im Kleinen wie im Großen genug, fungiert als Sockel. Dieser vermag die Ausstellungsbesucher – wenn auch nur minimal – zu erhöhen und lädt zugleich dazu ein, mit Schuhsohlen und Absätzen malträtiert, ja mit Füßen getreten und dadurch – metaphorisch gesprochen – erniedrigt zu werden. Angesichts dieser Enthierarchisierungsstrategie hat Alexandre Costanzo den Versuch unternommen, das Theorem der Heterotopie, das Michel Foucault im Hinblick auf eine Bildräumlichkeit formulierte, wie Manet sie entwarf, um dem Betrachter keine eindeutige Position vor dem Bild zuzuweisen, auf Carl Andres 10 Steel Row (1967) anzuwenden.20 Foucault spricht davon, dass Manets Bilder zu einer „Verschiebung“ (déplacement) einlüden und insofern einen ‚anderen‘ Raum jenseits der abendländischen zentralperspektivischen Ordnung konstituierten. Die Konfrontation mit Andres teppichartigen Bodenskulpturen, die ebenso gut als Feld wie als Sockel wahrzunehmen sind, kann, so Costanzo, zu einer ähnlichen Erschütterung der Betrachteridentität führen, wie sie im 19. Jahrhundert die Begegnung mit einem Gemälde von Manet auszulösen vermochte.21 Polkes Carl Andre in Delft wäre demnach die Rückübersetzung eines solchen nicht-cartesianischen Raumes in ein klar begrenztes Bildfeld, das trotz seiner Bemusterung das All-over-Prinzip aushebelt: Es trägt seine Rahmung in sich. Zudem ist Polkes Bild konventionell an der Wand zu befestigen, wodurch tradierte Betrachtererwartungen hinsichtlich der Präsentation
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von Kunst im Ausstellungsraum erfüllt werden.22 Es werden also die Vorzüge der neuzeitlichen Tafelbildmalerei vorgeführt und nachbuchstabiert. Zweifelsohne aber ist Polkes Carl Andre in Delft vor allem eines: ein Rekurs.23 Und zwar ein Rekurs, der, mit Benjamin Buchloh24 und Ingeborg Hoesterey25 gesprochen, als parodistische Aneignung bezeichnet werden darf.26 Eine Parodie ist ihrer lexikalischen Definition nach ein „in unterschiedlichen Medien vorkommendes Verfahren distanzierender Imitation von Merkmalen eines Einzelwerks, einer Werkgruppe oder ihres Stils [...], bei der konstitutive Merkmale der Ausdrucksebene [...] übernommen werden, um die jeweils gewählte(n) Vorlage(n) durch Komisierungs-Strategien wie Untererfüllung und/oder Übererfüllung herabzusetzen.“27 Ein ernster oder erhabener Inhalt wird durch einen banalen oder komischen ersetzt. Je größer die Fallhöhe, desto deutlicher ist der Effekt der Parodie spürbar. Angesichts von Polkes Carl Andre in Delft stellt sich nun die Frage, ob hier tatsächlich ein ernster, gar erhabener Inhalt durch einen banalen oder komischen ersetzt worden ist. Martin Hentschel geht von einer derartigen Umwertung aus: Er bezeichnet Carl Andres Werk als „das offiziell Geltende“28, während ihm, im Gegensatz dazu, Sigmar Polkes Bild wie „ein ungerufen wiederkehrender Fiebertraum“ vorkommt, der sich einstellt, „wo Andres skulpturale und verbale Diktionen vom Virus des Unernsten, des Kitschigen und Banalen infiziert werden: vom Nichtigen, das darin zum Geltenden wird.“29 Das Muster spielt in diesem Bewertungs- und Umwertungsprozess eine entscheidende Rolle, doch sei hier zunächst zur Klärung der Wertigkeiten der historische Rahmen näher beschrieben, innerhalb dessen Polke seine humoristischen Kapriolen schlägt. Belegt ist, dass Polke, kurz nachdem er Carl Andre in Delft fertiggestellt hatte, Carl Andres Arbeiten wiederbegegnete, und zwar in der Ausstellung Minimal Art. Diese Ausstellung, die auch in Den Haag und Berlin Station machte, war vom 17. Januar bis 23. Februar 1969 in Düsseldorf in der Städtischen Kunsthalle zu sehen. Versammelt waren Werke u. a. von Carl Andre, Ronald Bladen, Dan Flavin, Tony Smith, Sol LeWitt und Robert Smithson30. Wie diese genuin amerikanische Kunst im Rheinland aufgenommen wurde, lässt eine Rezension von Gottfried Sello erahnen, die am 24. Januar 1969 in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ erschienen ist:
„Wer war der erste Minimal-Künstler? Nicht Tony Smith oder irgendein anderer Amerikaner. Sondern, sehr richtig, das PSR-Studio weiß es besser, Walter Ulbricht, denn er baute schon 1961 die Mauer. ‚Die Mauer Ulbrichts erfüllt alle Erfordernisse der Minimalart: 1. einfache geometrische Elemente, z. B. Rechteck, Kubus usw., 2. vom Rechteck ausgehend: Aufbau eines Quaders (Baustein), Aufbau eines übergeordneten Quaders (Mauer).’ So las man’s im hektographierten Pamphlet, das zur Eröffnung der Minimal-Art-Schau in der Düsseldorfer Kunsthalle kostenlos verteilt wurde. Wen wollten die Verfasser mit ihrem Mauerwitz treffen, die Minimal-Art oder den Genossen Ulbricht? Einen Stock tiefer im Kom(m)ödchen versteht man sich besser auf politische Witze. Das Pamphlet war aber immer noch das bei weitem
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Geistvollste, was gegen die Minimal-Art geäußert wurde: Ein älterer Oppositioneller am Treppenaufgang riet den Besuchern, sie sollten die Minimal-Dinger einfach kaputtschlagen. Die jungen Leute vom PSR-Studio (das heißt: politisch soziale Realität) forderten Diskussion. Die Menge blockierte die Zugänge. [...] Um einen glimpflichen Ablauf zu garantieren, empfiehlt es sich, für alle Fälle einen Eröffnungsredner und eine Band bereitzuhalten. Jürgen Harten konnte seine Rede über Minimal-Art in einem Ausstellungsraum verlesen, während im Treppenhaus die Diskussion im Gange war. Und Albert Mangelsdorff konnte mit der Deutschen All-Star-Band die sporadisch aufflackernde Unruhe lautstark übertönen. Schade, daß über alle möglichen demagogischen Platitüden diskutiert wurde, nur nicht über das eigentliche Streitobjekt, die Minimal-Art. Sie ist, nach Artikel 5 der Mini-Artikel von PSR, ‚Demonstration der Bildlosigkeit, Selbstgespräch der Ästhetik, Eine Flucht in die Form’. Nach Ansicht der Veranstalter (Katalogvorwort) dagegen „wäre es falsch, sie als ästhetisierend mißzuverstehen. Minimal-Art will die Umwelt verändern, [...] Minimal-Art stellt teure Überlieferungen radikal in Frage und verkündet das Ende des Originalgenies. Minimal-Art übt Gesellschaftskritik [...] hat philosophische und soziologische Hintergründe [...] ist eine konkrete Utopie.“ Man fragt sich, ob die Kontrahenten überhaupt noch von der gleichen Sache reden – entweder ästhetische Hypertrophie oder Gesellschaftskritik, Minimal-Art kann nicht beides zugleich sein. Und man kann das kontradiktorische Spiel bis ins Unendliche fortsetzen. Minimal-Art ist Verschleierung, Ablenkung von der amerikanischen Realität, von Vietnam, vom Rassenkonflikt. Sie ist der Versuch, die Grenze von Kunst und Realität aufzuheben. Neonröhren, Fußbodenplatten, Blechkästen werden als Kunst ausgegeben. Statt ‚Rhetorik der Pariser Schule die Fachsprache des amerikanischen Maschinenhandels’ (Hilton Kramer über David Smith). [...] Die Minimal-Art hat zwar gerade erst in Deutschland Premiere. Aber bei dem raschen Verschleiß an Stilentwürfen ist sie, kaum zur Kenntnis genommen, schon wieder passé. Da wird ein Stil in New York als aktuell verpackt und eingeschifft, bei der Landung in Europa ist er noch immer frisch und neu. Aber bis er vom Gemeentemuseum in Den Haag nach Düsseldorf gelangt ist, hat er erheblich an Überraschungseffekt verloren. Und wenn die Minimal-Art später in Berlin (Akademie der Künste) landet, ist sie nur noch ein historisches Phänomen, reif fürs Museum.“31
Polke konnte sich bei der Konzeption von Carl Andre in Delft, soviel dürfte anhand der Rezension aus dem Jahr 1969 deutlich geworden sein, darauf verlassen, dass sein soziales Umfeld, die Kunstszene im Rheinland, die Minimal Art – und damit auch die Arbeitsweise von Carl Andre – größtenteils kritisch sah. Die Minimal Art war im Kontext der 68er-Bewegung32 bei weitem nicht das „offiziell Geltende“33, das Martin Hentschel in Carl Andres Position vermutete, das Erhabene, das von Polke ‚erniedrigt‘ werden konnte.34 Die Minimal Art stand vielmehr – die Kritik von Gottfried Sello ist hierfür ein Indiz – in Kreisen der 68er im Verdacht, unpolitisch, reduktionistisch, materialfetischistisch, korrupt, phallozen-
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trisch, dekorativ – kurz gesagt: eine aus europäischer Sicht wenig ernst zu nehmende amerikanische Stilrichtung zu sein.35 Polke wertet also nicht etwas ‚Großes‘ ab, er macht die Nichtigkeit des ‚Niedrigen‘ sichtbar. Somit enthält seine Parodie eine ironische Komponente, wobei es sich um eben jene Form der Ironie handelt, die der Schriftsteller Jean Paul, selbst ein begnadeter Ironiker, folgendermaßen beschrieben hat: Humor sei imstande, das Erhabene umzukehren, das Große zu erniedrigen und das Kleine zu erhöhen, um beide zu vernichten, „weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts“36; die Ironie hingegen erhöhe das Kleine, „ohne ihm das Große an die Seite zu setzen“37. Jörg Heisers Überlegungen gehen in eine ähnliche Richtung, denn er attestiert Polke für die späten 1960er Jahre eine „ödipale Ironie, die sich und den Vätern nicht die an dieser Stelle falsche Genugtuung einer direkten Konfrontation gibt“38. Polkes „Haltung des Sich-dumm-Stellens“ sei, so Heiser, eine „gesteigerte Form ironischer Verfeinerung“39. Hier kommt nun der bemusterte Dekostoff ins Spiel. Hatte Polke, ähnlich wie Konrad Lueg und Daan von Golden, an anderer Stelle mit der malerischen Imitation populärer Musterstoffe experimentiert, so verzichtet er in diesem Fall darauf, das niederländische Kachelmuster in einem Akt malerischer Wiederholung in ein Original zu überführen und dadurch aufzuwerten. Vielmehr kommt „das Simulakrum als Küchenaccessoire“40 daher, oder anders gesagt: Polke setzt den bedruckten Stoff als Readymade ein. Dadurch übernimmt der bemusterte Dekostoff eine Doppelfunktion: Er ist Bildträger und Bildmotiv zugleich. Polke zieht also – ebenso wie Carl Andre – das materialistische Prinzip der Skulptur dem idealistischen Prinzip der Malerei vor und erreicht dadurch, was die unter dem Stilbegriff Minimal Art subsumierten amerikanischen Künstler explizit anstrebten: Buchstäblichkeit41 oder, um den entsprechenden amerikanischen Fachterminus zu verwenden, „literalism“42. Das Muster wird mithin von Polke nicht umgedeutet oder mittels einer malerischen Geste transformiert, sondern dem Publikum in seiner buchstäblichen Bedeutung als ein verachtetes und erniedrigtes Überbleibsel einstiger Hochkultur, als ein Menetekel der Geschmacksverirrung vor Augen geführt. Das Kleine, das Polke zur Hochkunst erhebt, ohne, um mit Jean Paul zu sprechen, ihm das Große an die Seite zu stellen, ist zweifelsohne das ins Bild gesetzte Muster. Denn das Muster ist sichtbares Zeichen einer historisch bedingten Erniedrigung, die Polke nicht in Gang gesetzt hat. Die Erniedrigung ist vielmehr das Ergebnis einer erfolgreichen Popularisierung, die nicht davor Halt gemacht hat, die handgeformte und handbemalte Delfter Fayence-Fliese, die im 17. und 18. Jahrhundert als Kostbarkeit gehandelt wurde, in einen beliebig reproduzierbaren Dekostoff, in ein „kitschiges Derivat“43 zu verwandeln. Aus Delfter Fliesen, die – wie man bis heute an repräsentativen Kaminverkleidungen in Schlössern sehen kann – einst gesuchte Sammelobjekte an europäischen Höfen waren, sind – und zwar ganz ohne das Zutun Polkes – in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit „Gespenster aus der Massenkultur“44 geworden, die in kleinbürgerlichen Haushalten herumspuken.
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Die Pointe besteht also darin, dass Polke augenzwinkernd Carl Andres ernsthafte, reduzierte und auf Materialgerechtigkeit abzielende bildhauerische Geste mit einer doppelt negativ konnotierten kulturellen Praxis auf eine Stufe stellt. Die formale Analogie von Carl Andres Squares zur Delfter Fliese, die im 19. Jahrhundert aus der Hochkunst ausgegliedert und in das Kunstgewerbliche verwiesen wurde und die nun im 20. Jahrhundert in Form von Dekofolien, Geschirrtüchern oder Plastiktischdecken ein Nachleben im Alltäglichen führt, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Zeitbezogenheit von Wertschöpfungsprozessen in der Kunst.45 Während Andre mit Materialien wie Stahl und Aluminium arbeitet, die Dauerhaftigkeit symbolisieren – er spricht gegenüber Phyllis Tuchman davon, dass seine Werke „uns ganz sicher überleben“46 werden – entlarvt Sigmar Polke die Vorstellung vom Ewigkeitswert der Kunst als Irrglauben. Die Minimal Art gerät dadurch unter Verdacht, eine bloße Modeerscheinung oder – wie Clement Greenberg es formuliert hat – „ein Look der Nicht-Kunst“47, ein Anzeichen des „fortgesetzten Eindringens des ‚Guten Design‘ in das, was vorgibt, avantgardistische anspruchsvolle Kunst“48 zu sein. Das Delfter Kachelmuster fungiert mithin als Gegenstück zum ‚gutem Design‘ und – nach Freud – als ein Anzeichen der Wiederkehr des Verdrängten. Das Muster gibt sich – ganz im Sinne von Adolf Loos‘ Ornamentverständnis, das wiederum auf Sigmund Freud rekurriert – als ein Restbestand der im Kulturalisierungsprozess der bürgerlichen Kultur verdrängten Triebe zu erkennen. Polke speist das Muster, das im 19. Jahrhundert abgewertet und aus der Hochkunst ausgeschieden worden ist, also wieder in die Hochkunst ein, um durch die formale Analogie Carl Andres künstlerische Praxis unter Kitschverdacht stellen zu können.49 Wer darüber lacht, signalisiert kunsthistorische Kompetenz, wenn nicht gar Einverständnis: Nur wer weiß, dass das Muster ein marginalisierter, ja ein peinlicher Faktor ist, vermag Lustgewinn aus der Tatsache zu ziehen, dass das Verdrängte im Feld der Kunst sichtbar und obendrein der auf Erhabenheit abzielenden Minimal Art untergeschoben wird. Mit Carl Andre in Delft bekennt sich das Muster also gleich in doppelter Hinsicht zur ihm immanenten Wiederholungsstruktur: zum einen definitorisch begründet im Rapport, zum anderen in seiner kulturellen Konnotation als peinliche Wiederkehr des Verdrängten. Analog zum Wortwitz, der das verdrängte Unbewusste zur Sprache bringt, tritt das Muster bei Polke als Bildwitz50 auf, der das verdrängte Unbewusste zur Anschauung bringt. Polkes Ironisierungsstrategie geht allerdings nur dann auf, wenn das Muster in seiner Rolle als das Marginalisierte oder, um mit Martin Hentschel zu sprechen, als das „vom Virus des Unernsten, des Kitschigen und Banalen“51 Infizierte verbleibt. Insofern stellt Carl Andre in Delft zwar gültige Wertschöpfungsmodelle der Kunst, insbesondere die Relevanz der Minimal Art, in Frage, nicht jedoch die kulturelle Subordination von Muster und Ornament, wie sie in Europa seit dem 19. Jahrhundert stattgefunden hat. Ganz anders sieht die Sache bei Rosemarie Trockel aus, auch wenn sie für das Strickbild Freude aus dem Jahr 1988 (Abb. 3) ebenfalls auf das Delfter Kachelmuster zurückgreift.52 Dieses tritt bei Trockel in der Reduktion auf ein einziges geläufiges Motiv, das Segelschiff, auf, wobei analog zum Stoff, den Polke verwendet hat, senkrechte und waagerechte
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3 Rosemarie Trockel, Freude, 1988, Wolle, 210 x 175 cm, Sammlung Speck, Köln
Linien das Bild gliedern und zugleich illusionistisch auf die Verfugungen von Kacheln anspielen. Während Polke rechteckige Fliesen präferiert, weil diese in Opposition zu Carl Andres Quadraten stehen, sind die von Rosemarie Trockel evozierten Fliesen quadratisch, wodurch sie in ihrer Reihung formal mit dem hochrechteckigen Bildformat kollidieren. An den Rändern angeschnitten, setzt sich das Muster imaginär jenseits der Grenzen des Tafelbildes fort, was Ruth Noack zu folgender Beobachtung veranlasste: „das All-Over-Prinzip
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der Gitterstruktur macht die Fläche zum Bild eines Systems. Dieses System wird an drei Seiten über den Rahmen hinausgeführt.“53 Wo Sigmar Polke den gemalten Rahmen so konzipierte, dass dieser das Bildmotiv – das Muster – in seinem Gleichmaß einfasst, lässt Rosemarie Trockel lediglich am unteren Bildrand eine breite beigefarbene Sockelzone frei, in der der Schriftzug Raum findet. Beide Bilder, Carl Andre in Delft und Freude, weisen aufgrund der Verwendung eines Schriftzugs eine emblematische Struktur auf, doch differiert der Grad an Verbundenheit der Schrift mit dem Bildträger. Polke wählt die Schriftgröße so, dass der Text für den Bildbetrachter leicht lesbar ist; eine Schreibmaschinentype imitierend anonymisiert und standardisiert er seinen Kommentar. Dass die schriftliche Stellungnahme dem Bild, wie bei einem Werktitel üblich, als letzter Schritt hinzugefügt wurde, ergibt sich logisch aus dem Produktionsprozess. Erst muss Polke den Stoff auf einen Keilrahmen gespannt haben; anschließend übermalte er ihn an den Rändern mit weißer Farbe, so dass der Eindruck einer Rahmung entstehen konnte; erst dann ließ sich der Schriftzug auftragen. Polkes Malerei entfaltet sich somit sukzessive, Schicht um Schicht. Rosemarie Trockel hingegen hat das Strickbild nach ihren Entwürfen maschinell herstellen lassen, d. h. Bildmotivik und Schriftzug sind gleichermaßen mit dem Gewebe – und damit mit dem Bild – verwoben,54 Schrift und Muster sind miteinander ‚verstrickt‘ und gleichzeitig, d.h in einem Produktionsschritt entstanden. Zudem verwendet Trockel eine Schreibschrift, verhandelt mithin den Ausdruck des ‚Persönlichen’, der in einer Handschrift mitschwingt, wobei, wie Julia Gelshorn bemerkt, die Schreibschrift „in ihrer kalligrafischen Perfektion nicht mehr die maschinelle Herkunft verleugnet“55. Bezeichnenderweise erscheint der Schriftzug „Freude“ spiegelverkehrt. Die erschwerte, schleppende Lektüre ist ein Hinweis darauf, dass das gesamte Bild auf links gestrickt ist, was als Metapher des Textilen weitere Assoziationen – von „linkisch“ über „links orientiert“ bis hin zu „anders gestrickt“ – zulässt. Unter Berücksichtigung der Prämissen, die über Jahrzehnte für Trockels Werk angenommen wurden56 – Deborah Drier etwa nennt Trockel, in Anspielung auf die gleichnamige Comicfigur sowie auf den Ovid’schen Mythos der Arachne, „Spiderwoman“57, um sie in die Tradition ‚weiblicher‘ Kunst einstellen zu können – wird der spiegelverkehrte Schriftzug zumeist als strategische Infragestellung tradierter Geschlechterrollen gedeutet. Ist die Wiederholung im Strickmuster also eine ‚Masche’, um ein Wiederholungsmuster im gesellschaftlichen Bedeutungsgewebe aufzubrechen? Trägt die maschinelle Reproduktion das Potenzial in sich, die tradierten Grenzziehungen zwischen ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Schaffensprozessen, zwischen freier und angewandter Kunst außer Kraft zu setzen? Ohne Zweifel ist ein Perspektivwechsel intendiert: Die Freude ist dem Betrachter, der Betrachterin verstellt; Freude zu empfinden oder Zugang zu ihr zu finden, setzt eine Verkehrung der Leserichtung – von rechts nach links – und eine imaginierte Umkehr der textuellen Struktur voraus. Die Überwindung negativer Klischees war laut Aussage der Künstlerin im Jahr 1988, dem Entstehungsjahr von Freude, eines ihrer vorrangigen Ziele. So äußert Rosemarie
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Trockel gegenüber Doris von Drathen: „Warum ich zu den Strickbildern gekommen bin, hat einen ganz anderen Hintergrund: Das ist auch wieder eine Annäherung an den Themenkreis ‚Geschichte der Künstlerin’; die Frage etwa interessiert mich, warum früher oft Ausstellungen von Künstlerinnen schlecht waren, warum sie Materialien nehmen aus Heim- und Herdbereich usw. Deshalb das typische und sehr belastete Material: Wolle. Ich will wissen, ob das negative Klischee überwunden werden kann, wenn der handwerkliche Aspekt aus dem ganzen Komplex herausfällt, wenn das Strickmuster vom Computer gesteuert entsteht. Ich wollte wissen, woran es liegt, daß eine Arbeit von Frauen früher und heute oft als peinlich eingestuft wird, ob das von der Umgehensweise mit dem Material abhängt, oder ob das wirklich an dem Material liegt.“58 Bezogen auf Freude hieße das: Freude tritt erst dann unverstellt zutage, wenn das „negative Klischee überwunden wird“59, wenn eine Verkehrung stattgefunden hat, wenn das ‚Kunstgewerbliche’, das seit dem 19. Jahrhundert negativ gesehen wird, sich in ein Positives rückverwandelt hat. Diese Umkehr, die Trockel in Bezug auf die Wertschätzung der Materialien und der ‚typisch weiblichen‘ Formen von Produktivität einfordert, tangiert auch das Muster. Dies war Trockel durchaus bewusst, wie folgende Aussage belegt: „Während ich mich für die Strickarbeiten mit traditionellen wie aktuellen Mustern auseinandergesetzt habe, wie sie von Frauenzeitungen angeboten werden, so zum Beispiel ein Schottenmuster, das auch wieder eindeutig belegt ist, begann für mich eine Sicht auf das Phänomen Muster. Oft sah ich Muster, mit denen ich mich auseinandergesetzt hatte, auf der Straße wieder und fand eine merkwürdige klassenspezifische Zuordnung dieser Muster. Das möchte ich noch weiter verfolgen [...].“60 Die Zugehörigkeit der mit dem Delfter Kachelmuster bedruckten Surrogate zur Sphäre des Kleinbürgerlichen hatte Polke dazu veranlasst, der Minimal Art eine Dosis Delfter Blau zu verabreichen. Ironisch gewendet ließ sich eine Bodenarbeit von Carl Andre dadurch auf einer Stufe mit den Niederungen des kunstlos-reproduktiven Musters rezipieren. Rosemarie Trockel hingegen hält die klassenspezifische Zuordnung von Mustern nicht für einen Witz, sondern für „merkwürdig“61, sprich, für bemerkenswert und seltsam zugleich. Das Unbehagen, das die Distinktionsmuster im öffentlichen Raum bei ihr ausgelöst haben, findet seinen Widerhall in der Kunst: In Freude ist nicht zu übersehen, dass das Delfter Blau nicht das notwendige Format hat und als Bildmotiv im wahrsten Sinne des Wortes unpassend ist. Es wird von Trockel auch nicht passend gemacht. Vielmehr zeigt sich an den Rändern, dass das Muster außerstande ist, den Vorgaben, die sich aus dem Wertesystem westlicher Hochkunst ableiten, zu entsprechen. Dem All-over-Prinzip verpflichtet, wuchert es über die Grenzen des Tafelbildes hinaus: Es kennt kein Zentrum, keine Originalität und keinen Ursprung, denn es reproduziert sich aus sich selbst heraus. Die postmoderne Wissenschaft zeichnet sich nach Jean-François Lyotard dadurch aus, dass sie „die Erfindung neuer ‚Spielzüge‘ und neuer Regeln von Sprachspielen in den Vordergrund gerückt“62 habe. Ein weiterer auffallender Zug des postmodernen wissenschaftlichen Wissens bestehe, so Lyotard, in der „Immanenz des Diskurses über die Regeln, die
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seine Gültigkeit ausmachen“63. Die Regeln, denen der Diskurs folgt, wenn er freie und angewandte Kunst, kritische und dekorative Kunst verschiedenen Sphären zuweist, befragt Rosemarie Trockel auf ihre Gültigkeit, indem sie – im Gegensatz zu Polke – dem Muster nicht mit Beifall heischender Ironie begegnet, sondern es in der Verkleidung einer postmodernen Parodie in die Kunst der Gegenwart einspannt.64 Ebenso wie Polke holt sie das Muster, das im 19. Jahrhundert in das Feld des Unzivilisierten, Primitiven, Unterentwickelten, Rückständigen, Dekorativen und Weiblichen verwiesen worden war, in die Hochkunst zurück, freilich nicht, um auf diese Weise den Wert einzelner Kunstwerke auf den Prüfstand zu stellen, sondern um zu hinterfragen, ob die Platzierung des Musters im Randständigen und Abseitigen legitim ist. Ihre Vorgehensweise ließe sich wohl am ehesten als Paralogie bezeichnen, womit Lyotard ein Stadium der Nichtübereinstimmung, eine Störung, einen abweichenden Gebrauch von Wörtern und Zeichen begrifflich fasst. Lyotard siedelt die Paralogie auf der Vorstufe eines Bedeutungswandels an. Der Bedeutungswandel, die Umkehr wird von Trockel buchstäblich eingefordert: In linkischer Schrift macht die Künstlerin kenntlich, dass die negative Markierung des Musters sich weder von selbst versteht noch unabänderlich sein muss. Zuschreibungen sind revidierbar, Wertungen können sich wandeln. Beschränkt sich Rosemarie Trockel bei ihrem Zugriff auf das Delfter Kachelmuster vielleicht gerade deshalb auf das Motiv des Schiffs, auf ein christliches Symbol der Reise, des Übergangs von einem Zustand in einen anderen? Von parodistischen Effekten kann beim Rückgriff des Designers Jurgen Bey auf das Delfter Muster ebenso wenig die Rede sein wie von einer Paralogie. Jurgen Bey, der – wie Hella Jongerius – nach einem Studium an der Design Academy Eindhoven mit dem Amsterdamer Designkollektiv Droog in einem Umfeld, das Designtheorie, Gesellschaftstheorie, Design-Entwürfe und Designvertrieb als Einheit begreift, zusammenzuarbeiten begann, erhielt 2001 den Auftrag, den Empfangsbereich für den Hauptsitz der Versicherung Interpolis in Tilburg auszustatten. Das Foyer befindet sich in einem Neubau, den das Unternehmen 1996 bezogen hat und der im Zuge der Umsetzung eines neuen Arbeits- und Büro-Konzepts entstanden ist. Ausgangspunkt war die Idee eines „integral working environment“, die der Architekt und Unternehmensberater Erik Veldhoen entwickelt hatte und die er folgendermaßen umschreibt: „That means that the organisation must be aware, from the very start, that it is embarking of the integral design (or redesign) of the virtual, physical and mental working environment, but also that the voyage has to be undertaken with the necessary care (tighly structured process) and with the well-balanced (i.e. not excessive) participation of the staff. [...] After all, the biggest challenge is to redesign the mental environment.“65 Veldhoen erinnert sich daran, dass der Reiz des Projekts darin bestand, den Identifikationsgrad der Mitarbeiter mit dem Unternehmen zu erhöhen: „[...] it allowed us to work on a project from the ground up and see 1.500 employees gradually come to feel, as the projects advanced, that they were coming home.“66 Auch bei der Umgestaltung des Foyers, die 2002 ihren Abschluss fand, wurde von einem Designer wie Jurgen Bey erwartet, dass er über geeignete Mittel und Wege verfügt,
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4 Jurgen Bey, Inneneinrichtung Foyer, 2002, Ohrensessel, Textilien, Interpolis, Den Haag
einen Raum, der dazu dienen sollte, Kunden in Empfang zu nehmen und kleinere Konferenzen oder Meetings abzuhalten, heimelige Wärme ausstrahlen zu lassen. Jurgen Bey fasst die Gestaltungsaufgabe auf seiner Website folgendermaßen in Worte: „The reception-rooms are treated like a Sunday-room and designed through out the wealth and beauty the country side interior shows.“67 Bey entschied sich, einen Teil der Firmengeschichte in Mustern zu erzählen (Abb. 4). Auf Teppichen und textilen Wänden prangt eine barock anmutende Blumenpracht in den landestypischen Farben Blau und Weiß. Mit dem floralen Dekor, das Zier- und Nutzpflanzen im Stile des Delfter Blau miteinander vereint, implementiert Bey ein Zeichensystem, das signalisiert, dass es sich bei Interpolis um ein genuin niederländisches Unternehmen handelt, noch dazu um eines, das seine Wurzeln in einem genossenschaftlichen Zusammenschluss von Bauern und Gärtnern hat. Mit seiner Motivwahl reagierte Bey nicht zuletzt auf ein Manko. Weder der Name Interpolis noch das Aussehen des Firmensitzes strahlten etwas spezifisch Niederländisches aus. Durch die Bemusterung des Foyers aber gewinnt das Unternehmen deutlich an Lokalkolorit und nationaler Identität. Der Rückgriff auf das Delfter Blau signalisiert hier also regionale Verbundenheit und Geschichtsbewusstsein, entbehrt jedoch, besonders in Anbetracht der riesigen, übertrieben historistischen Ohrensessel, die als Ruhezonen für Mobiltelefon- und Internet-User gedacht sind, nicht einer gewissen Ironie. Diese lässt sich, mit Jörg Heiser, am treffendsten als „Postironie“ bezeichnen: „Die Postironie ist eine Akzentverlagerung. Es ist nicht mehr
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etwas Komisches, das um einen total ernst gemeinten Kern kreist; sondern etwas zutiefst Ernstes, das den Beigeschmack zulässt, dass es auch lustig gemeint könnte.“68 Das zutiefst Ernste, das mit der Reimplementierung des Delfter Blau in die Räume des niederländischen Unternehmens Einzug hält, resultiert aus der Herkunft des Delfter Blau: Denn das Muster ist nicht nur als ein willkommener Anlass zu betrachten, es sich wohlig in der glorreichen Geschichte der Niederlande einzurichten, es ist auch ein Symptom des „kolonialen Unbewussten“69. Das Muster Delfter Blau zeugt nicht zuletzt von einem Kulturen, Kontinente und Grenzen überschreitenden Handelstransfer, der vor mehr als vierhundert Jahren einsetzte. Delfter Fayence ist ein Sammelbegriff für zinnglasierte Keramik, die in den Niederlanden seit dem 17. Jahrhundert hergestellt wird. Das Dekor imitiert chinesische Vorbilder oder lehnt sich an diese an. Die auf derartige Fayencen spezialisierten Manufakturen ließen sich aufgrund der Nähe zu Delftshaven, das heute ein Teil Rotterdams ist, in Delft nieder; zudem war die Nähe zu ’s Gravenhage, dem heutigen Den Haag, von Vorteil, weil dort – am Regierungs- und Verwaltungssitz – Diplomaten und Gesandte verkehrten, die bereit waren, hohe Summen in Repräsentationssysteme zu investieren. Die Ostindische Kompanie (VOC) hatte in ’s Gravenhage seit ihrer Gründung im Jahr 1602 eine Niederlassung. 1615 versteigerte sie am dortigen Standort chinesisches Porzellan, was eine wesentliche Anregung zur holländischen Produktion von Porzellan mit blauer Unterglasurmalerei darstellte und sich in der reichen Bürgerschaft der Niederlande geschmacksbildend auswirkte. Das erste chinesische Porzellan, das die Niederlande erreichte, stammte von der 1602 vor St. Helena von Portugiesen aufgebrachten San Jago; zwei Jahre später wurde das portugiesische Handelsschiff Santa Catarina in der Straße von Malakka von Niederländern gekapert. Die Beute ließ die Ostindische Kompanie nach Holland verschiffen und versteigern.70 Auktionen fanden 1604 in Amsterdam, 1609 und 1614 in Middelburg und 1615 in Delft statt. Die Ladung der Santa Catarina erbrachte bei Versteigerungen einen Erlös von dreieinhalb Millionen Gulden. Das war mehr als das Doppelte des Kapitals, das der Englischen Ostindien-Kompanie zur Verfügung stand. Kein Wunder, dass Chinesisches Porzellan in den Niederlanden seither ein überaus begehrter Artikel war. Um den Markt bedienen zu können, begannen holländische Töpfer um 1615 damit, das blau-weiße Wan-Li Porzellan zu imitieren. Die chinesischen Muster gingen zumeist auf Druckvorlagen zurück, etwa aus Jan Nieuhofs Het Gezantschap der Neerlandtsche Oost-Indische Compagnie. Im Laufe der Zeit rückten immer mehr niederländische Motive in die chinesischen Dekore ein; holländische Fregatten, Darstellungen des Herings- und Walfangs, aber auch europäische Muster wie das mosaïque71 wurden in ‚asiatisierter‘ Form integriert (Abb. 5). Diese hybriden Dekore wiederum weckten Interesse im asiatischen Raum. So hieß es 1729 in einem Bericht: „Das Delftsche Porzellan, überall begehrt und nach allen fernen Gegenden versandt, nimmt so sehr zu, daß bereits neunundzwanzig Porzellanfabriken gefunden wurden, und weil diese Ware weit und breit vertrieben werden kann, kann man leicht begreifen, daß viel Arbeitsvolk nöthig, um das dazu nötige Material vorzubereiten, zu formen
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5 Zwölfeckiger Teller Vergoldetes Delft, Delfter Fayence, 1. Viertel des 18. Jahrhunderts, Durchmesser 34 cm, Musée nationale de Céramique, Sévres
und zu bemalen [...]; selbst Ostasien, woher doch das feinste kommt, strebt sogar danach, mit dieser Delfter Ware zu prunken.“72 Wurde ab dem 17. Jahrhundert in China eigens für den Geschmack der Europäer produziert, so lernten chinesische Sammler im 18. Jahrhundert die europäischen Adaptionen Wert zu schätzen. Statt in traditionelles chinesisches Porzellan investierten sie zunehmend in das ‚Fremde‘ und das ‚Andere’, das in ihren Augen weitaus seltenere Delfter Blau, das in Farbe, Material und Herstellungsart vertraut wirkte, aber motivisch regionalspezifische Abweichungen aufwies. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als in Deutschland und England Surrogate der Delfter Fayencen unter Verwendung von Tonschneide- und Pressmaschinen hergestellt wurden, geriet das traditionsreiche Muster unter Kitschverdacht. Das Delfter Blau ist mithin keine bloße Übernahme, kein bloßer chinesischer Import, sondern ein hybrides Geschmacksmuster, das aus sich wechselseitig beeinflussenden interkulturellen Übersetzungspraktiken hervorgegangen ist. Sicher ließe sich behaupten, dass das Delfter Blau anschaulich vor Augen stellt, dass die Niederlande ihren einstigen Reichtum und ihre europäische Vormachtstellung der Seefahrt, dem Handel und den Kolonien zu verdanken haben. Doch bliebe diese Blickrichtung zu sehr auf Europa beschränkt; die Rollen der Profiteure und der Ausgebeuteten wären zu eindimensional umrissen. Das Delfter Blau ist ein weitaus komplexeres Muster: Es speist sich aus Zitaten, aus Verweisen und aus dem Nachhall chinesischer wie niederländischer Traditionen (Abb. 6). Es lässt Rückschlüsse auf den Transfer von Herstellungsverfahren zu. Und nicht zuletzt ist es Bestandteil eines Narrationsmusters, das die Fäden von Handelsbeziehungen, von gegenseitiger Anerkennung, von Konkurrenz, von Überlegenheitsgesten und von Strategien der Bereicherung aufgreift. Es ist das Ergebnis einer Transformation von Raum und Zeit, eines Handelns auf Distanz.73
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6 Jurgen Bey, Inneneinrichtung Foyer, 2002, Textile Wandbespannung (Detail), Interpolis, Den Haag
Wie exemplarisch an Sigmar Polke, Rosemarie Trockel und Jurgen Bey vor Augen geführt, lassen sich, grob unterteilt, drei Phasen der künstlerischen bzw. gestalterischen Auseinandersetzung mit Muster und Ornament voneinander unterscheiden. Die ironisch-parodistische Aneignung in den 1960er Jahren basiert auf einer Festschreibung der eurozentrischen Abwertung des Musters. Aus der postmodernen parodistischen Implementierung des Musters in die Kunst resultiert in den 1980er und 1990er Jahren eine Infragestellung des Wertekanons europäischer Hochkunst. Die postironische Geste des Zeigens, die für die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts charakteristisch ist, lässt im Zusammenspiels des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ Historizität aufscheinen und stellt das Muster in den Kontext der Fremd- und Selbstbildung kultureller Traditionen mittels Repräsentation. Als ein narratives Element, das seine Wirkungskraft jenseits des Verbalen entfaltet, rücken Muster im 21. Jahrhundert diskursiv in den Status eines instabilen Elements der Verknüpfung ein. Als Auslöser, Unterworfene, Katalysatoren und Zeugen einer Weitergabe von Generation zu Generation, von Kulturkreis zu Kulturkreis können Muster im Transfer Ausdruck jenes „inter“ sein, das Homi K. Bhabha als „das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen“74 bezeichnet hat. Ob Muster wie das Delfter Blau Einblicke in jenes da-zwischen eröffnen, ob sie eine projektive Vergangenheit
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wachrufen können, die zu historischen Narrativen der Alterität Anlass gibt, oder ob sie als postkoloniale Pathosformeln wiederum in das eurozentrische Konzept einer universalen Weltsprache eingebunden werden, bleibt abzuwarten.
Anmerkungen 1
Delfter Blau, auf Niederländisch „Delfts blauw“, ist ein Sammelbegriff, der sowohl niederländische Fayencen, die seit dem 17. Jahrhundert gefertigt werden, als auch eine spezifische Herstellungsart, eine spezifische Farbausprägung und ein Dekor bezeichnet. Da sich das Dekor im 20. Jahrhundert von seinem traditionellen Träger, der Fayence, gelöst hat und auf unterschiedliche Materialien und in verschiedene Kontexte migriert ist, wird mit Delfter Blau im Folgenden das Muster bezeichnet, das sich im Rückgriff auf typische Motive, die sich in Blau vom weißen Grund abheben und einem Rapport unterworfen sind, herausgebildet hat.
2
Vgl. Ich nenne mich als Maler Konrad Lueg. Ausst.Kat. P.S. 1 Contemporary Art Center, New York/ Kunsthalle Bielefeld/Stedelijk Museum voor Actuele Kunst (S.M.A.K.) Gent. Hrsg. von Thomas Kellein. Bielefeld 1999/Brigitte Kölle: Die Kunst des Ausstellens. Untersuchungen zum Werk des Künstlers Konrad Fischer/Lueg (1939–1996). Dissertation, Universität Hildesheim 2005/Brigitte Kölle: Konrad Fischer. Okey Dokey. Köln 2007.
3
Vgl. Leben mit Pop. Eine Reproduktion des Kapitalistischen Realismus. Manfred Kuttner, Konrad Lueg, Sigmar Polke, Gerhard Richter. Ausst.Kat. Kunsthalle Düsseldof. Hrsg. von Elodie Evers/ Magdalena Holzhey/Gregor Jansen. Köln 2013, S. 45–58.
4
Die Ausstellung fand vom 18. Oktober bis 15. Dezember 1968 im Städtischen Museum Mönchengladbach statt. Carl Andres Bodenarbeiten wurden vom Museum erworben und befinden sich seither in der Sammlung. Eine Bodenarbeit aus dieser Reihe war, so erinnert sich Franz Meyer, im Rahmen der Ausstellung When Attitudes Become Form 1969 in der Kunsthalle Bern zu sehen: „In der Nähe am Boden Carl Andres 3 x 3 m messendes Quadrat aus 6 x 6 Walz-Stahlplatten, eines der (nach dem ersten Ausstellungsort benannten) Mönchengladbach Squares von 1968.“ Franz Meyer: Ein Zeitzeuge berichtet. Wenn Attitüden Form werden. In: Im Blickfeld. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle. Ausstieg aus dem Bild. Hrsg. von der Hamburger Kunsthalle. H. 2 1997, S. 9–25, hier S. 16. In der im Ausstellungskatalog publizierten Werkliste ist aufgeführt: Steel Piece, 1968, 0,8 x 300 x 300 cm, Sammlung Konrad Fischer, Düsseldorf. Vgl. When Attitudes Become Form. Ausst.Kat. Kunsthalle Bern. Bern 1969, o. P.
5
Jean-Christophe Ammann/Harald Szeemann: Von Hodler zur Antiform. Geschichte der Kunsthalle Bern. Bern 1970, S. 144.
6
Udo Kittelmann hat 1989 im Kunstforum der Städtischen Galerie im Lenbachhaus eine direkte Konfrontation von Polkes Bild mit einer Bodenarbeit von Carl Andre inszeniert. Als Pendant wurde Carl Andres Roaring Forties (1988) ausgewählt, was von Udo Kittelmann im Katalog mit dem Verweis auf die „Beharrlichkeit des Künstlers“ plausibel gemacht wird, aber vermutlich seine Gründe eher in der Verfügbarkeit einer Leihgabe von Konrad Fischer hatte. Vgl. Udo Kittelmann: Vor Ort. In: Carl Andre – Sigmar Polke. Eine Gegenüberstellung. Ausst.Kat. Kunstforum Städtische Galerie Lenbachhaus München. Freising 1989, o.P. Gabi Czöppans Kritikpunkt aus dem Jahr 1989 lautet: „So gezielt Polkes Bildkommentar damals Andres Werk charakterisierte, so skeptisch muß man heute die Absicht einer Ausstellung beurteilen, die zwei Werke zeigt, deren Beziehung zueinander die eine bereits vor über zwanzig Jahren formulierte. Selbst die türkis gekachelte Umgebung des Kunstortes ist nur eine künstlich herbeizitierte Relation. In Wirklichkeit haben die
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Einzelwerke und der Ort nichts miteinander zu tun. Kittelmanns Anliegen läßt sich allenfalls didaktisch deuten.“ Gabi Czöppan: Carl Andre – Sigmar Polke. In: Kunstforum, Bd. 104, 1989, S. 389. 7
Rainer Speck erwarb das Bild 1972 in der Galerie Michael Werner, Köln. Seither ist es Bestandteil der Sammlung Speck, Köln. In der selben Sammlung befindet sich auch Rosemarie Trockels Wollbild Freude.
8
Martin Hentschel: Sigmar Polke: Carl Andre in Delft. In: Kunstforum, 1992, Bd. 120, S. 133–143, hier S. 134/135. Erstveröffentlichung unter dem Titel: Weg und Irrlicht. In: Carl Andre – Sigmar Polke. Eine Gegenüberstellung. Ausst.Kat. Kunstforum Städtische Galerie Lenbachhaus München. Freising 1989, o.P. Vgl. auch: Martin Hentschel: Die Ordnung des Heterogenen. Sigmar Polkes Werk bis 1986. Dissertationsschrift Ruhr-Universität Bochum 1991, S. 305–311.
9
Zur Veränderung des Status eines Titels, der in das Werk einrückt, vgl. Jacques Derrida: Titel (noch zu bestimmen)/Titre (à préciser). In: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. Hrsg. von Friedrich A. Kittler. Paderborn/München/Wien 1980, S. 15–37. Zur Funktion und kunsttheoretischen Einordnung von Bildtiteln, die mit Jacques Derrida als Eigenname und Parergon, mit Steven Bann als Index, mit Peter Wagner als Ikonotext und mit Gérard Genette als Paratext gefasst werden können, vgl. Tobias Vogt: Titel und Ikonotext. Barnett Newmans Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue und Dan Flavins untitled (to Barnett Newman). In: Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text. Hrsg. von Silke Horstkotte/ Karin Leonhard. Köln 2006, S. 119–132.
10 Julia Gelshorn: Aneignung und Wiederholung. Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke. München 2012, S. 91. 11 Vgl. Vergleichendes Sehen. Hrsg. von Lena Bader/Martin Geier/Falk Wolf. München 2010. 12 Hentschel 1992 (Anm. 8), S. 134. 13 Vgl. Günter Bandmann: Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Helmut Koopmann/Adolf Schmoll gen. Eisenwerth. Frankfurt am Main 1971, S. 129–157/Günter Bandmann: Bemerkungen zu einer Ikonologie des Materials. In: Städel Jahrbuch. Neue Folge, 2, 1969, S. 75–100/Thomas Raff: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe (Münchner Beiträge zur Volkskunde 37). München 1994/Material in Kunst und Alltag (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 1). Hrsg. von Dietmar Rübel/Monika Wagner. Berlin 2002. 14 Der in seiner Arbeitsweise Carl Andre verwandte Dan Flavin gab seinen Werken oftmals den Titel Proposal, um die Rigidität einer ästhetischen Setzung zur Disposition zu stellen. Carl Andre fand eine andere Lösung, um die Variabilität bzw. Potenzialität seiner Bodenarbeit zu betonen. Er stellte in der Galerie Konrad Fischer eine Zeichnung aus, die weitere Kombinationsmöglichkeiten der gleichen Anzahl von Metallplatten vor Augen führt. Vgl. Kölle 2005 (Anm. 2), S. 136. 15 Das Quadrat kann als Sinnbild des russischen Konstruktivismus gedeutet werden. Damit steht es in der Tradition der Wiederaufnahme des russischen Konstruktivismus durch Künstlerinnen und Künstler, die der Minimal Art zugerechnet werden. Vgl. Benjamin H.D. Buchloh: Die Konstruktion (der Geschichte) der Skulptur. Die Rezeption des Konstruktivismus und die Plastik der sechziger Jahre. In: Skulptur Projekte in Münster 1987, Ausst.Kat. hrsg. von Klaus Bußmann/Kasper König. Köln 1987, S. 349–378. 16 Der Begriff Paragone kann reduziert auf die Rangfolge der Künste, die Gattungshierarchie, angewandt werden, aber auch auf das Thema der Konkurrenz in der Kunst – nicht nur zwischen den Kunstgattungen, sondern auch zwischen Künstlern, Kommunen, Institutionen – zielen. Vgl. Benedetto Varchi: Paragone. Rangstreit der Künste. Hrsg. von Oskar Bätschmann/Tristan Weddigen. Darmstadt 2013. 17 Das Bild Carl Andre in Delft ließe sich somit im Kontext der Ikonotext-Forschung im Hinblick auf seine manifeste Intermedialität untersuchen. Vgl. Lesen ist wie Sehen 2006 (Anm. 9)/Blick und Bild im Spannungsfeld von Sehen, Metaphern und Verstehen. Hrsg. von Tilman Borsche/Johann
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Kreuzer/Christian Strub von Fink. München 1998/Icons – Texts – Iconotexts. Essays on Ekphrasis and Intermediality. Hrsg. von Peter Wagner. Berlin/New York 1996. 18 Phyllis Tuchman: Ein Interview mit Carl Andre. In: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive. Hrsg. von Gregor Stemmrich. Dresden/Basel 1995, S. 141–161, hier S. 149. 19 Vgl. Annette Tietenberg: Das uneingelöste Versprechen einer unmittelbaren Wahrnehmung oder Wie die Minimal Art in Verruf geriet. In: Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Hrsg. von Michael Hauskeller. Zug 2003, S. 362–379. 20 Vgl. Regine Prange: Die Wiederkehr des Teppichparadigmas. Anmerkungen zur zeitgenössischen ‚Weltgeschichte’. S. 32 in diesem Band. 21 Alexandre Costanzo: Les Espaces Autres. In: Decorum. Tapis et tapisseries d’artistes. Ausst.Kat. Musée d’Art moderne de la Ville de Paris. Paris 2013, S. 31–36, hier S. 35. 22 Carl Andre erinnert sich: „Most visitors thought the gallery was empty [...], to most peoply, empty walls meant an empty gallery.“ Briefwechsel Carl Andre mit Barbara Kölle. In: Kölle 2005 (Anm. 2), S. 138. 23 In Analogie zum Begriff der Intertextualität in der Literaturwissenschaft finden in der Kunstwissenschaft die Termini Interikonizität bzw. Interpikturalität zur Kennzeichnung der Relationen zwischen Bildern Verwendung. Sie rekurrieren auf Aemulatio-Konzeptionen, wie sie in der antiken Rhetorik und Poetik vorkommen. Vgl. Christoph Zuschlag: Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität. In: Lesen ist wie Sehen 2006 (Anm. 9), S. 89–99. Das Bild Carl Andre in Delft zeugt von einem eben solchen Wettbewerb unter den Künstlern. 24 Vgl. Benjamin H. D. Buchloh: Parody and Appropriation in Francis Picabia, Pop, and Sigmar Polke. In: Artforum, Bd. 20, März 1982, 31–33. 25 Ingeborg Hoesterey: Pastiche: Cultural Memory in Art, Film, Literature. Blomington/Indianapolis 2001. 26 Frederic Jameson und Stefan Römer haben alternative Begriffe vorgeschlagen, die ebenfalls in der Tradition des Zitierens, Kopierens und Paraphrasierens in den Künsten stehen, die mit der spezifischen Arbeitsweise Polkes in den 1960er Jahren aber nur bedingt korrespondieren. Frederic Jameson interpretiert Polke bereits in den 1960er Jahren als postmodernen Künstler, denn er geht davon aus, dass es nach ‚dem Tod des Künstlers‘ generell keine Parodien mehr geben könne. Es seien nurmehr Pastiche, so genannte „blanke Parodien“ ohne jeden Anteil von Ironie denkbar. Frederic Jameson: Postmodernism and Consumer Society. In: The Anti-Aesthetics. Essays on Postmodern Culture. Hrsg. von Hal Foster. Seattle/Washington 1983, S. 111–125, hier 113–114. Auch Stefan Römer zieht – mit Bezug auf Gérard Genette – die Begriffe ‚Travestie‘ bzw. ‚Pastiche‘ der ‚Parodie‘ vor. Er argumentiert folgendermaßen: Da sich Polkes Arbeiten auf ein „bestimmtes Modell der Produktion (Malerei) und Präsentation (Ausstellungsraum) beziehen, können sie als Pastiche (spielerische Nachahmung) bezeichnet werden: einerseits weil sie mit dem Pinsel auf Leinwand aufgetragen sind, was traditionell für künstlerischen Ausdruck steht, andererseits weil sie mittels eines optischen Geräts auf die Leinwand projiziert und neutral übertragen wurden, was sich auf die industrielle Produktionsweise beziehen läßt. Diese Kombination bedeutet für die Vorlage, daß sie in ihrer Erscheinung wesentlich verändert wird; ein farbiges Ölgemälde wird zu einem in Farbe, Kontrast und Format unterschiedlichen Klischee reduziert.“ Polkes Carl Andre in Delft ist keine Malerei in diesem Sinne, sondern ein Readymade. Insofern tritt Römers Begriffsdefinition nicht zu. Stefan Römer: Der Begriff des Fake. Dissertationsschrift Humboldt-Universität. Berlin 1998, S. 35. 27 Theodor Verweyen/Gunther Wittung: Parodie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Georg Braungart/Harald Fricke u. a., 3 Bde., Bd. III, Berlin u. a. 2010. S. 23–27, hier S. 23/24. 28 Hentschel 1992 (Anm. 8), S. 136. 29 Hentschel 1992 (Anm. 8), S. 135. 30 Die Teilnahme von Robert Smithson ist ein Indiz für die Unschärfe des Stilbegriffs „Minimal Art“.
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31 Gottfried Sello: So neu und schon so museal. In: Die Zeit. Kultur, 24. Januar 1969, Nr. 4. 32 So führt Franz Meyer, Direktor des Baseler Kunstmuseums und Harald Szeemanns Vorgänger als Direktor der Kunsthalle in Bern, im Rückblick den Erfolg der Ausstellung When Attitudes Become Form (1969), darauf zurück, dass deren Fokussierung auf anti-autoritäre Gesten dem Zeitgeist entsprach. Der anti-autoritäre Impetus, der Carl Andres Arbeiten innewohnt, wurde im europäischen Kontext dadurch erst bemerkt. Meyer schreibt: „Wir wissen, was 1968 für die Mentalitätsgeschichte bedeutet. Mit Vehemenz verlangte damals eine protestierende Jugend eine Befreiung von allen Zwängen und eine grundlegende Veränderung sozialer und politischer Gegebenheiten.“ Meyer 1997 (Anm. 4), S. 10. 33 Hentschel 1992 (Anm. 8), S. 136. 34 Dies ist aufgrund der von Carl Andre angestrebten Enthierarchisierungsstrategie in der Kunst und der Tatsache, dass es sich bei der ‚Vorlage‘ um eine Bodenarbeit handelte, auch nur schwer vorstellbar. 35 Besonders prägnant wird diese negative Grundeinstellung gegenüber der Minimal Art zusammengefasst in: Jutta Held: Minimal Art – eine amerikanische Ideologie. In: Neue Rundschau. 83, H. 4, 1972, S. 660–677. Wiederabdruck in: Minimal Art 1995 (Anm. 18), S. 444–470. 36 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (1804). In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Abt. I. Bd. 5. Frankfurt am Main 1996, Kap. 18, § 31. 37 Paul 1996 (Anm. 36), § 31. 38 Jörg Heiser: Im Ernst – von polemischer Ironie zu postironischer Vernetzung in der Kunst des Rheinlands und überhaupt. In: Neues Rheinland. Die postironische Generation. Ausst.Kat. Museum Morsbroich. Hrsg. von Markus Heinzelmann/Stefanie Kreuzer. Berlin 2010, S. 13–21, hier S. 14. 39 Heiser 2010 (Anm. 38), S. 14. David Campbell verweist in diesem Zusammenhang auf die Relevanz, die Dada und Fluxus für die deutschen Künstler der Generation von Sigmar Polke hatte und vermutet die Wurzeln von Polkes Humor in eben diesem Kontext. David Campbell: Plotting Polke. In: Sigmar Polke. Back to Postmodernity. Hrsg. von David Thistlewood. Liverpool 1996, S. 19–39. 40 Hentschel 1991 (Anm. 8), S. 309. 41 Vgl. Rainer Metzger: Buchstäblichkeit. Bild und Kunst in der Moderne. Köln 2004. 42 Vgl. Michael Fried: Art and Objecthood. In: Minimal Art. A Critical Anthology. Hrsg.von Gregory Battcock. Berkeley/Los Angeles/London 1995, Reprint von 1968), S. 116–147 (Erstveröffentlichung in: Artforum, Sommer 1967, Bd. 5, Nr. 10, S. 12–23). 43 Hentschel 1992 (Anm. 8), S. 135. 44 Heiser 2010 (Anm. 38), S. 14. Heisers Aufsatz eröffnet zudem eine weitere, Ironie regelrecht provozierende Deutung des Motivs Segelboot in Carl Andre in Delft. In seiner Untersuchung von Polkes Vitrinenstück erwähnt Heiser, dass darin die Präsentation eines Katalogs der ersten documenta eine wesentliche Rolle spielt. Der Katalog ist so aufgeschlagen, dass links ein Porträt von Max Beckmann, rechts ein Foto von Teilnehmern der Jury-Sitzung der Kölner Künstlerbund-Ausstellung von 1952 zu sehen ist. „Willi Baumeister – 1950 maßgeblich an der Neugründung des Künstlerbunds beteiligt – soll während der Jury-Sitzung zur ersten Überblicksausstellung 1950 gesagt haben: ‚Segelschiff haben wir noch nicht, das muss hinein’.“ Heiser 2010 (Anm. 38), S. 13. 45 Vgl. Boris Groys: Über das Neue. München 2007/Julia Genz: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch. München 2011. 46 Tuchman 1995 (Anm. 18), S. 151. 47 Clement Greenberg: Neuerdings die Skulptur. In: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive. Hrsg. von Gregor Stemmrich. Dresden/Basel 1995, S. 324–333, hier S. 331. 48 Greenberg 1995 (Anm. 47), S. 332. 49 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Martin Hentschel, denn er schreibt: „Indem Polke Andres reifste Form künstlerischer Realisation mit einer Jahrhunderte alten Dekorationsform kurzschließt, versagt er ihr ihren avantgardistischen Anspruch.“ Hentschel 1991 (Anm. 8), S. 309.
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50 Julia Gelshorn verwendet ebenfalls den Begriff „Bildwitz“. Julia Gelshorn: Inhalt auf Reisen. Zur Lesbarkeit bildlicher Referenzen bei Rosemarie Trockel und Martin Kippenberger. In: Lesen ist wie Sehen 2006 (Anm. 9), S. 133–153, hier S. 139. 51 Hentschel 1992 (Anm. 8), S. 136. 52 Trockels Freude ist bereits mehrfach als Zitat bzw. als Antwort auf Sigmar Polkes Carl Andre in Delft interpretiert worden. Vgl. Stephan Schmidt-Wulffen: Ich kenne mich nicht aus. In: Noema, 1989, Nr. 22, S. 28. Der Fokus liegt auf der Bezugnahme zu ‚männlichen‘ Autorschaftsmodellen und auf dem Umgang mit der patriarchalen Ordnung in der Kunst. So weist Julia Gelshorn darauf hin, dass Trockel auf „berühmte männliche Vorbilder wie Marcel Duchamp oder Joseph Beuys“ rekurriere. Gelshorn 2006 (Anm. 50), S. 138. Melanie Mariño bezeichnet Trockels künstlerische Aneinigungsstrategie als „Mimikry“, wobei Mariño betont, dass Trockel es auf ein „falsches Wiedererkennen“ anlege und sich so die Autorität des imitierten Vorbilds aneigne. Melanie Mariño: The Parody Aesthetic. In: Tracing Cultures. Art History, Criticism, Critical Fiction. Hrsg. vom Whitney Museum of Modern Art. New York 1994, S. 92–115. 53 Ruth Noack: Der Witz ist gut – das Bild ist besser: Sigmar Polke, Carl Andre und Rosemarie Trockel. In: Notfalls leben wir auch ohne Herz. Exemplarisches aus der Sammlung Speck. Ausst.Kat. Kunsthalle Wien. Wien 1997, S. 145–153, hier S. 151. 54 Julia Gelshorn verweist darauf, dass aufgrund der strukturellen Differenz zwischen Bild und Text eine Analogie zur Imprese vorliegt. Gelshorn 2006 (Anm. 50), S. 143. 55 Gelshorn 2006 (Anm. 50), S. 141. 56 Vgl. Véronique Bacchetta: Rosemarie Trockel: Provokation und poetisches Rätsel. In: Parkett, 1992, Nr. 33, S. 32–39/Mariño 1994 (Anm. 52), S. 93–115/Gelshorn 2006 (Anm. 50), S. 135. 57 Deborah Drier: Spiderwoman. In: Artforum, September 1991, Bd. 30, Nr. 1, S. 118–123. 58 Rosemarie Trockel: Endlich ahnen, nicht nur wissen. Ein Gespräch mit Doris von Drathen. In: Kunstforum, 1988, Bd. 93, S. 210. 59 Trockel 1988 (Anm. 58). 60 Trockel 1988 (Anm. 58). 61 Trockel 1988 (Anm. 58). 62 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Wien 1986, S. 157. 63 Lyotard 1986 (Anm. 62), S. 159. 64 Mariño rekurriert in diesem Zusammenhang auf Lacans Begriffe der Maskerade und der Mimikry. Mariño 1994 (Anm. 52), S. 108. 65 Erik Veldhoen: The Art of Working. The Integral Meaning of our Virtual, Physical and Mental Working Environments. The Hague 2005, S. 62. 66 Veldhoen 2005 (Anm. 65). 67 http://www.studiomakkinkbey.nl/list/projects/3034_interpolis [15.07.2014] 68 Heiser 2010 (Anm. 38), S. 19. 69 Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Das koloniale Unbewusste in der Kunstgeschichte. In: Globalisierung/Hierarchisierung. Kulturelle Dominanz in Kunst und Kunstgeschichte. Hrsg. von Irene Below/ Beatrice von Bismarck. Marburg 2005, S. 19–38. 70 Daniel F. Lunsingh Scheurleer: Delft. Niederländische Fayencen. München 1984, S. 33. 71 Vgl. den Beitrag von Uta Coburger in diesem Band. 72 Carl Blümlein: Delft und seine Fayencen. Sammlung gemeinverständlicher wirtschaftlicher Vorträge. H. 309. Hamburg 1899, S. 32. 73 Vgl. Anthony Giddens: Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics. Standford 1994, S. 4. 74 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2011, S. 58.
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Susanne König
Global Transfer William Morris’ Muster im Kontext von Jeremy Dellers English Magic auf der Biennale von Venedig 2013 Das Ausstellungswesen hat das Muster entdeckt und diesem Thema gleich mehrere Ausstellungen in München, Paris, Mönchengladbach, Wolfsburg und Bielefeld gewidmet. 1 Während im Ausstellungskontext vor allem das Muster der Stoffe, Teppiche und Tapisserien als neuer Ursprung der abstrakten Kunst gefeiert wird, befragt die Wissenschaft Muster nach ihrem Inhalt und Kontext sowie nach den Ursachen und Auswirkungen ihres Transfers. Wie aktuell das Thema des Mustertransfers ist, belegt die 55. Biennale di Venezia, die im Jahr 2013 stattfand. Hier griff der britische Künstler Jeremy Deller auf Muster von William Morris zurück und präsentierte sie als Teil seiner Installation English Magic im Britischen Pavillon. Wie kommt ein junger Künstler dazu, Stoff-, Teppich-, Tapisserien- und Kachelmuster aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert in seine Installation zu integrieren? Welche Inhalte werden transportiert? Und welche Wechselwirkungen ergeben sich zwischen den historischen Mustern und dem gegenwärtigen Kontext? Die Arts-and-Crafts-Bewegung, deren Hauptprotagonist William Morris war, ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine Künstlergruppe ihre Befragung nach der ‚richtigen‘ ästhetischen Ausdrucksform in eine Reflexion gesellschaftlicher und politischer Bedingungen überführte. Ob sich jedoch die utopische Sehnsucht nach einer neuen politischen, sozialen und religiösen Gesellschaftsform auch in ihren Mustern ausdrückt, soll Gegenstand der folgenden Überlegungen sein. Zudem wird es um die Frage nach der grundlegenden Möglichkeit eines entsprechenden Wissenstransfers gehen. Es ist also danach zu fragen, ob Muster überhaupt als Träger einer kulturellen und politischen Identität, in diesem Fall gar als Heilsversprechen fungieren können. Sicher werden Mustern an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit politische Inhalte zugeschrieben – so auch den Mustern der Arts-and Crafts-Bewegung. Jedoch ist diese politische Einordnung der meist abstrakten Ornamente nur dem Eingeweihten oder Wissenden bekannt. Zudem scheinen Signifikant und Signifikat im Muster der Artsand-Crafts-Bewegung willkürlich und von den einzelnen Protagonisten teilweise sogar konträr zugeordnet worden zu sein. Trotzdem werden Morris’ Mustern Inhalte zugeschrieben, was es möglich macht, innerhalb des zeitgenössischen Kunstkontextes auf die Ideen der Arts-and-Crafts-Bewegung zu rekurrieren, um aktuelle gesellschaftliche Gegebenheiten zu interpretieren und zu kommentieren. Dies soll im Folgenden dargestellt werden.
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Gerda Breuer fragt zu Beginn ihres Buches Ästhetik der schönen Genügsamkeit oder Arts and Crafts als Lebensform nach der Aktualität der Arts-and-Crafts-Bewegung. Ihr Fazit lautet: Die Ideen der Arts-and-Crafts-Protagonisten müsse man wohl „angesichts postmodernen Zeitgeistes als heillos überholt“2 bezeichnen. Den Engländern wird lediglich zugestanden, die Ahnen und Heroen der Moderne zu sein. Dies setzt eine Argumentationslinie von Nikolaus Pevsner fort, der seinem Klassiker der Architekturgeschichtsschreibung aus dem Jahr 1936 den Titel Pioneers on Modern Design from Morris to Gropius3 gab. Pevsner sah William Morris und seine Gefolgsleute als eine der drei wichtigen Quellen für die Moderne an. Demnach hinterließen die Arts-and-Crafts-Protagonisten Spuren im Jugendstil, im Werkbund und im Bauhaus, danach versiegte der Einfluss in Deutschland. In Großbritannien belegen die zahlreichen Publikationen zu Morris sowie die verschiedenen Sonderausstellungen und die ständige Präsenz seiner Werke in musealen Dauerausstellungen jedoch noch heute seine Popularität. Morris’ Aktualität bestätigte Dellers Venedig-Beitrag. Morris war gleich mehrfach präsent: als lebensgroße Figur auf die Wand gemalt, als Schöpfer seiner handbemalten Kacheln Membland Hall tile panel (1876) (Abb. 1), geschmückt mit einem Muster aus gerollten Akanthusblättern und Blüten, sowie als Erfinder des gerahmten Stoffmusters Evenlode (1883) (Abb. 2). Ergänzt wurde sein Stoffmuster Evenlode um die zugehörigen Druckplatten, die das von Morris wieder eingeführte Handdruckverfahren zum Ausdruck bringen. Indem Deller die teilweise zerstörten Druckplatten in einer typischen Museumsinszenierung an die Wand hängte, glichen sie mehr einem Fossil aus prähistorischer Zeit (Abb. 3). Das Thema der Ausstellung von Jeremy Deller zeichnet sich schon beim Betreten des Pavillons ab.4 Über der Tür hängt der Name des Länderpavillons „Gran Bretagna“ in italienischer Sprache, flankiert von David Bowies Songtext „I searched for form and land“ und „for years and years I roamed“ aus seinem Welthit The man who sold the world (1970). Deller bezeichnet seine Ausstellung nicht, wie dem Ort nach zu erwarten gewesen wäre, als britisch, sondern als englisch und wandelt damit erstmals über seinen Titel English Magic den britischen in einen englischen Pavillon um. Eine weitere Verbindung knüpft sich an den Titel English Magic: Er scheint in einer ironischen Geste auf die immer wieder zitierte, von Jean-Hubert Martin kuratierte Ausstellung Magiciens de la terre im Centre Georges Pompidou aus dem Jahr 1989 zu verweisen.5 Diese Ausstellung wird im Diskurs der vermeintlichen Global Art als erster institutioneller Beitrag und somit als Anfangspunkt einer globalen Kunst genannt, da in der Ausstellung westliche und außereuropäische Künstler zusammen ausgestellt wurden. Magiciens de la terre suchte den Zauber der Erde und richtete damit den Blick auf den ganzen Globus, während Deller den englischen Zauber fokussiert. Mit dem Titel seiner Arbeit attackiert Deller den Pavillon in zweifacher Weise. Auf der einen Seite kritisiert er das umstrittene Konzept der Länderpavillons der Biennale, das künstlerische Arbeiten als nationale Repräsentation ausstellt. Auf der anderen Seite werden Europa- oder Globalisierungsdebatten in einer ironischen Geste konterkariert.
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1 William Morris, Membland Hall tile panel, 1876, handbemalte und glasierte Kachelplatten aus Ton, 160 x 91,5 cm, hergestellt von William de Morgan
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Während die Welt sich vernetzt und im Zuge der Globalisierung zusammenwächst, verweist die Arbeit von Deller auf innenpolitische Separierungstendenzen, die schon im Jahr 2003 auf der Biennale von Venedig sichtbar geworden waren, als man einen eigenen schottischen, einen eigenen walisischen und einen – wenn auch wegen finanzieller Schwierigkeiten momentan geschlossenen – eigenen nordirischen Pavillon eröffnete. Deller greift somit regionale Forderungen auf und kreiert einen eigenen englischen Pavillon, da sich ja auch Wales, Schottland und Nordirland nicht mehr durch den britischen Pavillon vertreten lassen wollen. So befasst sich English Magic mit den guten und schlechten Seiten, den Licht- und Schattenseiten 2 William Morris, Evenlode, 1883, Baumwolle
der englischen Gesellschaft und Geschichte.
Diese Vorgehensweise, die sich auch in der Ausstellung selbst verfolgen lässt, erinnert an Michel Foucaults Unterscheidung zweier Formen politischer Praxis, die er in einem Gespräch an den „universellen“ und den „spezifischen“ Intellektuellen knüpfte.6 Während sich der „universelle“ Intellektuelle als freies Subjekt und als Repräsentant der Allgemeinheit verstehe, setze der „spezifische“ Intellektuelle im lokalen Bereich an, der seine unmittelbaren eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen berühre. In English Magic bezieht sich der englische Künstler als eine Art „spezifischer Intellektueller“ auf die Strukturen, in die er selbst involviert ist, und verfolgt nicht die Strategie eines „universellen Mahners“, der die ganze Welt erklären möchte. Deller knüpft so – diesem foucaultschen Modell entsprechend – als „spezifischer Intellektueller“ an die unterschiedlichen regionalen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomene Englands an. Seine Analyse der englischen Gesellschaft erfolgt auf einer synchronen und auf einer diachronen Ebene, indem er in sechs Räumen Objekte aus unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Orten ausstellt: Zum einen ist dies eine Ansammlung von Faustkeilen aus dem Neolithikum und dem Paläolithikum, Fundstücke aus dem Tal der Themse oder der Region um London.7 Im nächsten Raum stellt er Fotos der am 29. Januar 1972 gestarteten Tournee von David Bowie anlässlich seines neuen Albums Ziggy Stardust aus,
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3 Jeremy Deller, English Magic. Evenlode, Holzschnitte, Design von William Morris. Courtesy William Morris Gallery, London Borough of Waltham Forest. Installation: British Pavilion, 55. Biennale di Venezia, 2013.
mit dem dieser den kommerziellen Durchbruch erreichte, und kombiniert sie mit den fast gleichzeitig entstandenen Fotos des Bloody Sunday in Nordirland, bei dem am 30. Januar 1972 bei einer Demonstration in Londonderry 26 Personen von britischen Soldaten angeschossen oder erschossen wurden, was in den folgenden Jahren zu mehreren Racheakten der IRA führte.8 Der nächste Raum thematisiert, wie am 17. Juli 2003 der UNO-Biowaffenspezialist David Kelly ums Leben kam, nachdem er dargelegt hatte, wie die britische Regierung Daten manipuliert hatte, um die Irak-Invasion zu rechtfertigen.9 Sein Porträt befindet sich unter Zeichnungen, die bei einem von Deller veranstalteten Workshop mit Inhaftierten in einer Vollzugsanstalt entstanden sind, wobei die meisten Inhaftierten ehemalige Soldaten des Irak- und Afghanistankriegs waren. Diesen realen Begebenheiten stellt Deller fiktive zukünftige Ereignisse gegenüber, so zum Beispiel eine große Demonstration gegen die Steuer- und Bankenpolitik in St. Helier auf Jersey am 12. Juni 2017.10 Jersey ist eine britische Kanalinsel, die weder zum Vereinigten Königreich noch zu deren Kronkolonien gehört, sondern allein dem britischen Königshaus untersteht und somit Kronbesitz ist – und daher eine eigene Steuer- und Bankenpolitik betreiben darf, womit sie sich zu einer Steueroase entwickelt hat. Neben den politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Themen widmet sich Dellers Ausstellung dem Tierschutz, indem er einen riesigen Greifvogel, eine Kornweihe, zeigt, der einen Range Rover mit den Krallen packt.11 Das Ereignis bezieht sich auf Gerüchte, wonach Prinz Harry und dessen Freund William van Catsem zwei in England seltene Kornweihen auf der Jagd erschossen haben sollen. Da die Tierkadaver nie gefunden wurden,
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konnte man sie dafür nicht haftbar machen. Bei Deller rächt sich der Vogel an dem Auto, aus dem er angeblich geschossen wurde. Neben den verschiedenen gesellschaftlichen Ereignissen der Vergangenheit und der Zukunft repräsentiert Deller die Gegenwart mit dem am 18. März 2013 produzierten Film Ooh-oo-hoo ah-ha ha yeah, der alle Ereignisse der Ausstellung sowohl im Film als auch in den Ausstellungsräumen selbst durch die überall gut hörbare Filmmusik miteinander verbindet.12 Deller analysiert demnach politische, soziale und nationale Fragen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und vereint diese in seiner Ausstellung, im Film und bei einer guten Tasse englischen Tees. Entgegen der ironischen Ankündigung im Ausstellungstitel zeigt Deller jedoch in seiner Ausstellung, dass eine Beschäftigung mit nationalen englischen Themen eben nicht ausschließlich aus einer englischen Perspektive erfolgen kann, sondern stets sowohl britische als auch globale Themen mit umfasst. Während der Ausstellungstitel English Magic zunächst auf einen traditionellen Kulturbegriff verweist, indem er sämtlichen Globalisierungsdebatten zum Trotz ein nationales – englisches – Anliegen formuliert, verkörpert und vermittelt Deller mit seinem Projekt ein Sozial- und Geschichtsverständnis, das auf Wolfgang Welschs Begriff der Transkulturalität beruht: „Das Konzept der Transkulturalität entwirft ein anderes Bild vom Verhältnis der Kulturen. Nicht eines der Isolierung und des Konflikts, sondern eines der Verflechtungen, Durchmischungen und Gemeinsamkeit.“13 Dellers angeblich lokale Ausrichtung zeigt sich jedoch nicht nur in der Thematisierung Englands, sondern er bezieht auch den venezianischen Ausstellungsort mit ein. Dies zeigt die Wandmalerei im nächsten Raum. Damit kommen wir zum zentralen Thema meines Aufsatzes, nämlich zur Arts-and-Crafts-Bewegung. Hier malte Deller den Sozialisten Morris überlebensgroß, wie er gerade die Luxusyacht Luna des russischen Oligarchen Roman Arkadjewitsch Abramowitsch ergreift und in die venezianische Lagune wirft (Abb. 4). Abramowitsch legte bei der letzten Biennale nicht nur mit seiner Yacht an der Waterfront vor den Gardini an und versperrte damit den Einheimischen, den Touristen und den Biennale-Besuchern die Aussicht auf die Lagune, sondern ließ das monströse Schiff auch noch großzügig absperren und eignete sich damit den öffentlichen Raum zweifach an.14 Gegenüber Morris’ sozialistischer Rache sind seine beiden Musterarbeiten gehängt: Membland Hall tile panel und Evenlode (Abb. 1, Abb. 2). Es mag erstaunen, dass ausgerechnet der seit langem verstorbene Künstler Morris hier zum Rächer wird, doch innerhalb von Dellers Raum-Zeit-System ist dies durchaus nachvollziehbar. Warum er jedoch daneben auch noch Morris’ florale Muster ausstellt, bleibt zunächst einmal offen. Bevor jedoch diese Frage beantwortet werden kann, gilt es, einen Blick auf die Muster der Arts-and-Crafts-Bewegung zu werfen und zu untersuchen, ob individuelle und kollektive sowie regionale oder nationale Identitäten in diesen Mustern angelegt sind bzw. sein können. Vorab soll die Frage geklärt werden, ob sich die Objekte der Arts-and-Crafts-Bewegung in die Global-Art-Diskurse einordnen lassen. Der heterogene Begriff der Global Art wird, wie Christian Kravagna in seinem Essay Für eine postkoloniale Kunstgeschichte des
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4 Jeremy Deller, English Magic. We sit starving amidst our gold, gemalt von Stuart Sam Hughes
Kontaktes15 erläutert, mit drei unterschiedlichen Vorstellungen verbunden. Für die einen begann die Global Art mit der Ausstellung Magiciens de la terre im Jahr 1989 und erreichte ihren Höhepunkt, als sich der Kunstdiskurs durch weltweite Biennalen, Kunstmessen, den Kunsthandel sowie durch weltweit agierende Kuratoren und Künstler globalisierte.16 Global Art ist demnach der Nachfolgestil der zeitgenössischen Kunst und geht von einem transkulturellen Kulturbegriff im Sinne von Wolfgang Welsch aus, während vorherige Kunstrichtungen noch von Vorstellungen eines traditionellen, inter- beziehungsweise multikulturellen Kulturbegriffs geprägt gewesen sein sollen.17 Diese drei Konzepte eines Kulturbegriffs gehen laut Welsch noch von einem ursprünglich separierten Kulturbegriff aus. Nach dieser Definition von Global Art hätte demnach die Arts-and-Crafts-Bewegung als eine Bewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Berechtigung, an diesem Diskurs teilzunehmen. Auf der anderen Seite stehen die Vertreter einer Global Art, die das Bild einer „immer schon transkulturellen Kunstgeschichte“18 entwerfen und aufzuzeigen suchen, wie die europäischen Künstler durch außereuropäische Kunst beeinflusst wurden, etwa Vincent van Gogh durch den japanischen Holzschnitt oder Pablo Picasso durch die afrikanische Plastik. Doch auch diese Fragen einer transkulturellen Kunstgeschichte wurden nicht erst durch das Phänomen der Global Art, sondern bereits davor im Kontext der Moderne gestellt. Stattdessen geht Kravagna davon aus, dass man – und dieser Meinung möchte ich mich hier anschließen – die „Dichotomie westlicher und außereuropäischer Kunstgeschichte“19 nur überwinden kann, wenn man „Austauschbeziehungen
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und Wechselwirkungen zwischen Modernitäten und Modernismen in verschiedenen Regionen der Welt unter Berücksichtigung ihrer kolonialen und postkolonialen Machtverhältnisse“20 untersucht. Es geht dabei um „konkrete Kontakte und Allianzen zwischen Akteuren und Akteurinnen statt um Kategorien wie Einfluss und Rezeption“21. Dabei stellt sich nun die Frage, ob diese Kontakte und Allianzen schon immer bestanden haben und weiter bestehen und entsprechend nachgewiesen werden können oder ob es sich, gerade bei der Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht doch eher um Einflüsse und Rezeptionen handelt, die wir im globalen Transfer aufzeigen können, vor allem wenn es sich um solche Phänomene handelt wie Muster, die nicht ohne Weiteres einem bestimmten Urheber zugeschrieben werden können. Um die Frage zu beantworten, warum Deller nun die Muster von Morris in seine Arbeit integriert, sollen im Folgenden zunächst die Konnotationen der Muster der Arts-andCrafts-Bewegung und dann die der Muster von Morris vorgestellt werden, um so deren Vielschichtigkeit aufzeigen zu können. Die Arts-and-Crafts-Bewegung entwickelt sich als Gegenbewegung zum Viktorianismus und zum Eklektizismus. Dabei strebte sie keinen radikalen Bruch mit der Geschichte an, wie dies später die Vertreter der Moderne unternahmen, sondern suchte sich schleichend von dieser abzusetzen. Im Gegensatz zu dem bevorzugten Stilpluralismus des Viktorianismus fokussierten die Reformer das Mittelalter. Doch schon die Gotik-Rezeption der drei Protagonisten Augustus Welby Northmore Pugin, John Ruskin und William Morris weist große formale und inhaltliche Unterschiede auf. So sah beispielsweise Augustus Welby Northmore Pugin in der Erneuerung der Gotik den Katholizismus vertreten, während John Ruskin sich für ein protestantisches England einsetzte und dieses in der Gotik-Rezeption verkörpert sah. Dass zur Zeit der Gotik lediglich der Katholizismus vorherrschte und dieser sich vor allem in der Architektur der Kathedralen zum Ausdruck brachte, erklärt Pugins Bestrebung der Gotik-Rezeption. Pugin verband jedoch seinen katholischen Enthusiasmus mit Nationalismus und beißender Gesellschaftskritik.22 Er vertrat die Ansicht, dass italienische oder griechische Architektur- und Ornamentstile, wie sie in der Neoantike oder in der Neorenaissance verwendet wurden, nicht dem nationalen Stil der Engländer entsprechen würden. Die Gotik hingegen war für ihn der historische Stil des Nordens und verkörperte in seinen Augen eine regionale englische Architektur und Ornamentsprache.23 In vielen Punkten teilte Ruskin die Ansichten Pugins. Er unterschied jedoch zwischen „building“, einem rein funktionalen und konstruierten Gebäude, und „architecture“, einem Gebäude mit dekorativer Kunstform, und vertrat dabei die Auffassung, dass erst der Bauschmuck einen bloßen Bau zu einem Kunstwerk mache.24 Damit unterschied er sich von Leon Battista Albertis Ansicht, die später viele Architekten und Designer übernahmen, dass das Ornament lediglich eine schmückende Ergänzung sei, aber nicht zum Wesen der Architektur gehöre. Für Ruskin war das Ornament notwendige Voraussetzung ‚wahrer Schönheit’. Wahre Schönheit ist für ihn nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem eine ethische Aufgabe, da ein schönes Werk eine moralische Wahrheit verkörpere. Diese moralische
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Wahrheit erlangt das Werk, wenn der Künstler oder Handwerker ein glückliches und moralisch makelloses Leben führt. Ruskin ging davon aus, dass der mittelalterliche Handwerker ein solches moralisch makelloses Leben führte, da die Rationalisierung der Arbeit erst mit der Renaissance einsetzte. Die Arbeitsteilung zwischen dem Entwurf und der Ausführung oder gar Teilausführung, wie sie dann in der Industrialisierung zur Normalität wurde, führte für Ruskin zum Verlust der Entscheidungsfreiheit und damit zum Verlust der Arbeitsfreude und -zufriedenheit; Karl Marx umschrieb diesen Verlust der Arbeitszufriedenheit als „Entfremdung der Arbeit“25. Nur wenn Künstler und Handwerker, Entwerfer und Ausführender wieder ein und dieselbe Person sind, so Ruskin, wird die Arbeit zufriedenstellen und moralisch sowie ästhetisch ansprechende beziehungsweise ‚schöne‘ Objekte hervorbringen. Ruskins zweite Voraussetzung für eine gute Architektur und somit für ein gutes Ornament betraf die Vorlagen für das Ornament selbst. Das Ornament sollte nicht einfach den gotischen Stil kopieren; vielmehr sollte die Natur selbst Vorbild sein. So wie sich der gotische Stil die Natur zum Vorbild genommen hatte, diente sie jetzt Ruskin als Ornamentvorlage. Dabei kopierte jedoch das gotische Formenrepertoire nicht einfach die Natur, sondern drang in sein Wesen ein. Genauso wie der gotische Stil die Natur nicht einfach kopierte, sondern ‚übersetzte’, sollte man Ruskin zufolge nun das Ornament von der Natur ableiten.26 „Die Trias von Handwerkertum, Naturalismus und mittelalterlicher Zunftherrlichkeit“27 erklärt Ruskins Ablehnung gegenüber dem Historismus und einem Vorgehen, bei dem beispielsweise einfach nur der Stil der Renaissance kopiert wurde. Er lehnte auch bloße Kopien außereuropäischer Ornamente ab, da sie für ihn nicht naturalistisch waren. Diese „ganz bewußte naturverneinende Grundhaltung des Orientalen [...] wertet Ruskin nicht als konsequenten Ausfluß religiöser Überzeugung, sondern als Symbol moralischer Unreife“28. Dass nicht alle naturalistischen Ornamentlehren gleich in eine Form von Gotizismus oder Anti-Orientalismus führen, belegen Owen Jones und Christoph Dresser, die beide ihre Theorien – im Gegensatz zu Ruskin – später auch in die Praxis überführten. Owen Jones legte seine theoretischen Annahmen in dem Musterbuch The Grammar of Ornament im Jahr 1856 dar, für das Christoph Dresser einige Bildtafeln gezeichnet hatte.29 Dieses reich bebilderte und kommentierte Buch stellt Ornamente aus unterschiedlichen Regionen und Zeiten vor, wie beispielsweise aus Ägypten, Griechenland, Rom, Byzanz, Indien, Persien, China, der islamischen Welt sowie dem Mittelalter oder der Renaissance. Die Fülle dieser kulturpluralistischen Grundhaltung des Verfassers spiegelt die differenzierte Haltung den einzelnen Ornamenten gegenüber. Jones glaubt, dass es überall positive wie auch negative Beispiele gebe. Jedoch sollten weder das Motiv der Vergangenheit noch die Vorgaben der Natur das Ornament ersetzen, sondern als Inspirationsquelle fungieren – auch für Jones ist eine reine Wiederholung eben kein Werk. Ganz ähnlich wie Ruskin formuliert nun Jones, dass die Umsetzung der im Naturvorbild innewohnenden Grundstruktur zum künstlerischen Erfolg führen würde. Während Ruskin diese Naturbilder jedoch
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nicht im islamischen Ornament vermutete, entdeckt Jones sie genau dort. Gerade das islamische Ornament reduziere den natürlichen Gegenstand auf eine abstrakt-geometrische Gestaltung und transzendiere „diesen dann zu einer schematisch vereinfachten Dekorationsform“30. Alle Mustervorlagen sollten lediglich zweidimensional sein und keine Plastizität vortäuschen. Sie sollten als Impuls für die „Erneuerung ornamentalen Kunstschaffens“31 dienen, indem eine durch „Geist und Phantasie des Künstlers gefilterte Naturnachahmung“ 32 entstehe, die dann den Erfordernissen der Zeit angepasst werden könne. Obwohl Jones in seinem Buch immer wieder die Gefahr der bloßen Wiederholung ansprach und sich entsprechend bewusst war, dass sein Musterbuch als reine Vorlage missbraucht werden könnte, vermochte er genau dies nicht zu verhindern: Das Werk wurde tatsächlich zu einer begehrten Kopiervorlage. William Morris war sicherlich der wichtigste Vertreter der Arts-and-Crafts-Bewegung. Dabei sind besonders seine Muster für Textilien, Tapeten und Tapisserien hervorzuheben. Doch in der Konnotation seiner Muster unterscheidet er sich von seinen beiden Vorgängern. Weder katholische noch protestantische Deutungen wie bei Pugin und Ruskin finden sich hier. Stattdessen schloss sich Morris Ruskins sozialistischer Vorstellung an, dass nur ein ethisch gutes Objekt auch ein ‚schönes‘ sein könne. Für den umstrittenen Sozialisten, der auf der einen Seite mehreren sozialistischen Vereinigungen angehörte und in seiner kleinen Schrift How I Became a Socialist33 sich für eine klassenlose Gesellschaft einsetzte und auf der anderen Seite 1874 seine eigene Firma Morris & Co. gründete und die Vorteile eines Firmenbesitzers genoss, sind die Muster ein gutes Beispiel, an denen auch seine sozialistische Haltung abgelesen werden kann – auch wenn sich dies weniger am Produkt als an den Produktionsbedingungen zeigt, wie im Folgenden noch dargestellt werden soll. In der Gestaltung seiner Muster lehnte sich Morris an Ruskin an und setzte dessen Forderung um, wonach ein Muster nicht nur eine Kopie sein dürfe, sondern eine Synthese aus Ornamentvorlage und Naturbetrachtung sein müsse. „Seine oft nach allen Seiten rapportfähigen großflächigen Ornamente bestehen aus undulierenden, mit Blüten, Früchten und oft eingestellten Tieren versehenen, konturbetonten und flächig mit wenigen Binnenzeichnung stilisierten Blattranken vor einfarbigem (auch schwarzem) Fond.“ 34 Anregungen für seine herbarienblattartigen Pflanzenstilisierungen holte er sich aus den Pflanzenkompendien früherer Jahrhunderte sowie im orientalischen Bereich aus den Ornamentkompendien wie der Grammar of Ornament (1856) von Owen Jones und dem South Kensington Museum. Auch Morris war – wie Jones und im Gegensatz zu Ruskin – offen für Einflüsse außereuropäischer Muster. Vielfach werden dabei die Muster erst entleert und dann mit neuen Bedeutungen gefüllt, die oft beliebig zugeordnet sind. Das Rosenmuster aus China und das Ardabil-Teppichmuster aus dem Iran sollen im Folgenden als Beispiele dienen. Während andere Vertreter der Arts-and-Crafts-Bewegung eine ausgiebige Reisetätigkeit in ferne Länder pflegten, wie beispielsweise Thomas Wardle nach Indien oder Christopher Dresser nach Japan, blieb William Morris zwar im europäischen Raum, besuchte dafür je-
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5 Unbekannter Designer, Chinesische Tapete, vielleicht Guangzhou, 1725–1775
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doch häufig das damalige South Kensington Museum, das heutige Victoria and Albert Museum. „Das Resultat seiner Besuche im South Kensington Museum [...], das er nach eigenen Angaben so häufig besucht hat ‚wie kaum ein anderer Mensch‘, war deutlich an seinem Muster abzulesen.“35 So fand Morris dort auch chinesische Stoffmuster als Vorlagen – wobei wir heute wissen, dass viele der chinesischen Stoffmuster entweder europäische Stoffe waren, die chinesische Stoffe oder die Vorstellung von chinesischen Stoffen kopierten, oder chinesische Stoffe, die in China für den europäischen Markt hergestellt wurden und demnach mehr dem europäischen Wunschdenken als dem chinesischen Original entsprachen.36 Typisch für die chinesischen Muster war die Darstellung von Blüten und Blättern an sonst kargen, dünnen Ästen vor hellem, pastellenem, einfarbigem Hintergrund (Abb. 5). Solche Darstellungen haben Morris in seinen Mustern Small Stem (1868), Large Stem (1868) und Coiling Trail (1868) (Abb. 7) beeinflusst. Diesen chinesischen Transfer beschreibt auch May Morris, die Tochter und Mitarbeiterin von Morris: „Sie waren weißgrundig und einige waren Kopien der hübschen altmodischen, glänzenden [...] Chintze. Ich erinnere mich an zwei chinesische Rosenmuster, ein großes und ein kleines, und an ein ziemlich offenes Muster in der Art wie ‚Coiling Trail‘.“37 Vor allem Morris’ Muster aus den 1860er Jahren weisen diesen chinesischen Einfluss auf, der durch realistisch gemalte Blumen und den dazu im Gegensatz stehenden einfarbigen Hintergrund charakterisiert ist. Ein weiteres Beispiel für Morris’ außereuropäische Beeinflussung ist der Ardabil-Teppich (1530) (Abb. 6), für dessen Ankauf vom damaligen South Kensington Museum er im Jahr 1892 ein Gutachten verfasste. Der Teppich wurde von Morris als „vollkommen“ und „lückenlos schön“ bewertet und wurde dann im März 1893 für 2000 Britische Pfund vom Museum gekauft.38 Er stammt aus dem Grab von Scheich Safi Al-Din Ardebili in Ardabil, einer heute im Iran liegenden Stadt.39 Das Muster des Ardabil-Teppichs hat Morris weiterentwickelt und beispielsweise in seinem Tapetenmuster Small pink and white flower übernommen. Auch das Muster Clover, das sein Mitarbeiter Henry Dearle entworfen hat, wurde maßgeblich von dem Teppich beeinflusst (Abb. 8). Dieser Mustertransfer zeigt, wie leicht die Muster und Ornamente entleert und mit neuen Inhalten gefüllt werden können. Das Originalmuster gehörte zur Ausstattung eines Refugiums, verlor bei Morris aber diese Funktion. Morris übernahm nur einen Teilausschnitt und stilisierte ihn stark, sodass der Einfluss nur noch schwer zu erkennen ist. Beide Beispiele zeigen, dass Morris nicht nur ein außereuropäisches Motiv übernahm und in einer weiterentwickelten Form präsentierte, sondern sich auch dessen Farbwahl aneignete, die nicht mit der in Großbritannien vorherrschenden Farbwahl übereinstimmte. Morris’ „Vorliebe für leuchtende Primärfarben [stand] nicht im Einklang mit der Mode der hochviktorianischen Epoche, die für bedruckte Textilien komplizierte, vielfarbige florale Muster auf weißem Grund bevorzugte und für Samt und Seiden dunkle, tiefe Töne“40. Besonders die chinesischen Farbwahlen und -kombinationen übten großen Einfluss auf ihn aus. Da für eine konkrete Vergleichbarkeit von Objekten die Urheberschaft eine wichtige Rolle spielt, muss diese für die Erörterung des Mustertransfers untersucht werden.
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Hier zeigt sich erneut Morris’ sozialistische Haltung. Morris arbeitete vielfach im Kollektiv. Zusammen mit Peter Paul Marshall, Charles Faulkner, Edward Burne-Jones, Ford Madox Brown, Dante Gabriel Rossetti und Philip Webb gründete er im Jahr 1861 die Firma Morris, Marshall, Faulkner & Co. Hier entstanden Gemeinschaftsarbeiten wie beispielsweise das Red House (1859). Erst als Ford Madox Brown und Dante Gabriel Rossetti im Jahr 1874 aus der Firma austraten, wurde diese aufgelöst, und William Morris gründete im darauffolgenden Jahr seine eigene Firma Morris & Co. Die Firmenstruktur, die mit ihm als Firmenbesitzer und mit seinen Angestellten einem kapitalistischen Betrieb glich und deshalb vielfach kritisiert wurde, forderte in ungewöhnlicher Weise die Mitgestaltung von den Arbeitern ein. So wurden beispiels-
6 Unbekannter Designer, Ardabil-Teppich (Detail), Iran, 1539–40, Wolle und Seide, 530 x 1044 cm
weise „die Stickerinnen ermutigt, sich kreativ an ihrer Arbeit zu beteiligen und Farben und Stickarten selbst auszuwählen“41. Dies zeigt, dass Morris eben nicht in gängige Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverhältnisse zurückgefallen war, sondern weiterhin gemäß der handwerklichen Fähigkeiten seiner Arbeiter eine selbständige Arbeit förderte und forderte. Umso erstaunlicher ist, dass die Arbeiten selbst alle unter seinem Namen und nicht unter dem seiner Arbeiter aufgeführt wurden.42 Die Gründe der schwierigen Identifizierung der Urheberschaft sind vielfältig, meist ließen sich jedoch die Arbeiten von Morris einfach besser verkaufen. So akzeptierten alle fest für Morris arbeitenden Designer, wie beispielsweise May Morris und Henry Dearle, dass sie keine Erwähnung fanden, und die freien Designer, deren Entwürfe einge-
7 William Morris, Coiling Trail, 1868, bedruckte Baumwolle, Breite: 91,5 cm
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8 John Henry Dearle, Tapetenmuster Clover, Reprint ca. 1955, Druck auf Papier, produziert von Morris & Co.
kauft wurden, dass sie lediglich mit ihren Initialen benannt wurden. Auf den Arts-andCrafts-Ausstellungen nach 1888 wurden sogar die Arbeiten von Kundinnen, die nach seinen Entwürfen entstanden waren, als Arbeiten von Morris ausgestellt. Alles, was aus den
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Ateliers von Morris & Co. stammte, galt als „Arbeiten von Morris“ oder als „Arbeiten nach den Entwürfen von Morris“, auch wenn dies nicht eindeutig der Fall war. „Diese Verwirrung entstand dadurch, daß man im 19. Jahrhundert die Angewohnheit hatte, William Morris mit Morris & Co. gleichzusetzen.“43 Designer wie May Morris und Henry Dearle haben jedoch nicht nur dies akzeptiert, sondern auch die Entwürfe von Morris als Vorbild genommen. Morris & Co. fungierte hier wie ein Corporate Design, dem sie sich unterordneten. So sind beispielsweise die Entwürfe von Henry Dearle denen von Morris so ähnlich, dass kaum zu erkennen ist, von wem die Arbeiten stammen. Auch wenn Dearles spätere Werke eigenständiger wurden und seine künstlerische Fähigkeit immer ausgeprägter war, weisen sie noch eine große Nähe zu Morris auf. Dies ist auch bei den Arbeiten von May Morris, der Tochter von Morris, zu erkennen, die ab 1885 die Leitung der Stickabteilung übernahm. „Es ist schwierig, ihre Leistung objektiv zu beurteilen; sie hat die gleiche Kompositionstechnik wie ihr Vater und die gleichen künstlerischen Eigenheiten.“44 Gerade die Frage der Autorschaft verdeutlicht das diffuse Bild von Morris’ sozialistischer Haltung und deren Umsetzbarkeit. So steht auf der einen Seite die Freiheit der gestalterischen Produktion seitens der Arbeiterinnen und Arbeiter, die allenfalls durch deren Fähigkeiten begrenzt wurde, während auf der anderen Seite die Urheberschaft durch die „Marke Morris“ verdeckt wurde und die Beteiligten selbst, wie es scheint, nicht darauf drangen, namentlich genannt zu werden. Zuschreibungsmodi wie Original, Handschrift und Autor bestimmten über viele Jahrhunderte die Merkmale der Kunst. Im Zuge der Demokratisierungsprozesse in den 1960er Jahren wurden solche Merkmale jedoch vielfach innerhalb der Kunst aufgegeben. Das Merkmal der Handschrift, an das sich sonst das Original und die Autorschaft knüpft, hatten sich die Anhänger der Arts-and-Crafts-Bewegung schon hundert Jahre davor zu eigen gemacht, als sie sich mit ihren Alltagsobjekten gegen die industrielle Massenproduktion wandten und ihre Objekte wieder in Handarbeit herstellten, jedoch um den Arbeiter zu einem ‚glücklichen Arbeiter‘ zu machen, der sich nicht mehr dem Diktat der maschinellen Arbeitsteilung fügen musste. Auf diese Aspekte – Original, Handschrift und Autor – verweisen die Stoff- und Kachelmuster von Morris sowie seine Druckplatten, die Deller in seine Installation English Magic integrierte. Gerade Morris’ Tapetenmuster zeigen seine sozialistische Haltung, da es reine Handarbeit ist. Man mag Morris kritisieren, dass er in seiner zweiten Firma als Kapitalist agierte und teilweise auch nicht ganz auf Maschinen verzichten konnte – in seinen Tapeten-, Stoff- und Kachelmustern setzt er zumindest wieder alte Handarbeit ein. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts verwendete beispielsweise die Textilindustrie zur Herstellung von Textildrucken die Methode des Walzendrucks. Morris hingegen erwarb alte, ausrangierte Holzdruckstöcke, um wieder die traditionelle Methode des Handdrucks anzuwenden.45 Das Ganze stellte sich komplizierter dar, als Morris anfänglich angenommen hatte, und machte zur weiteren Verwendung den Einsatz von Chemikalien erforderlich. Der grundlegenden Methode des Handdrucks blieb Morris letzt-
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endlich aber treu, und er erlangte damit vor allem unter seinen Künstlerfreunden großes Ansehen. Diese Holzdruckstöcke hat nun Deller neben die Arbeiten von Morris gehängt und verweist damit sowohl auf die handwerklich hergestellten Arbeiten als auch auf Morris’ sozialistische Haltung, die in seinen Produktionsverfahren zum Ausdruck kommen und ganz im Sinne von Karl Marx einen Appell gegen die „Entfremdung der Arbeit“ darstellen. Deller wendet sich dem ersten Anschein nach gegen den Trend einer Globalen Kunst und suggeriert mit dem Titel seiner Ausstellung, dass er nur englische, also regional begrenzte Objekte und Themen ausstellen und behandeln würde. Bei näherer Betrachtung zeigt sich dann aber, dass es eine solche fokussierte Betrachtung von Geschichte, Politik und Kultur überhaupt nicht gibt. Dellers English Magic entzaubert stattdessen den englischen Traum und verweist auf ein Netz von unzähligen regionalen, nationalen und internationalen Verbindungen. Diese Entzauberung findet auch bei den Arbeiten von Morris statt. Morris’ Muster haben in England Kultstatus. Es gibt heutzutage fast nichts in England, was man nicht auch mit seinen Mustern bedruckt finden kann. Dabei suggerieren diese Muster die Vorstellung des ‚typisch Englischen’. Morris’ floraler Landstil mit seinen immer wiederkehrenden Mustern ist geradezu gleichbedeutend mit einem typisch englischen Stil – so typisch, wie Pugin die Gotik als nordischen Stil betrachtete, unwissend, dass die Gotik ihren Ursprung in Frankreich hatte. Und so mag auch wenigen Betrachtern bekannt sein, dass Morris für viele seiner Muster auch außereuropäische Vorlagen verwendet hat. Zwar verweist der Titel Evenlode auf den gleichnamigen englischen Fluss, der in die Themse mündet, doch Morris’ Kachelplatten Membland Hall tile panel (1876) stellen Akanthusblätter dar, die hauptsächlich in tropischen und subtropischen Gebieten der Welt wachsen und zum Charakteristikum der korinthischen Kapitelle der griechischen Säulenordnung wurden (Abb. 1). Die Bezeichnung Arts-and-Crafts-Bewegung vermittelt kein einheitliches Bild. Auch William Morris’ Muster können nicht für eine ‚Einheitlichkeit‘ stehen, und deren außereuropäische Transfers sind bei weitem noch nicht abschließend analysiert worden. Spannend ist jedoch, dass Jeremy Deller in einer gewissen Art und Weise an die Forderung von Christian Kravagna anknüpft, da er „konkrete Kontakte und Allianzen zwischen Akteuren und Akteurinnen“46 untersucht und deren politisches, soziales und kulturelles Beziehungsgeflecht darlegt.
Anmerkungen 1
Vgl. Decorum. Tapis et tapisseries d’artistes contemporains. Ausst.Kat. Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris. Paris 2013/Marokkanische Teppiche und die Kunst der Moderne. Hrsg. von Jürgen Adam. Ausst.Kat. Pinakothek der Moderne München. Stuttgart 2013/Textiles: Open Letter. Abstraktionen, Textilien, Kunst. Begleitheft/Ausst.Kat. Museum Abteiberg. Mönchengladbach 2013. Vgl. auch: http://www.museum-abteiberg.de/fileadmin/bilder/ausstellungen/textiles/Dokumente/ TEXTILES-OPEN_LETTER_Broschuere.pdf/Kunst & Textil. Stoff als Idee und Material in der Moderne von Klimt bis heute. Ausst.Kat. Kunstmuseum Wolfsburg. Ostfildern 2013/To open eyes.
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Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute. Hrsg. von Friedrich Meschede. Ausst.Kat. Kunsthalle Bielefeld. Bielefeld 2013. 2
Gerda Breuer: Ästhetik der schönen Genügsamkeit oder Arts and Crafts als Lebensform. Programmatische Texte, erläutert von Gerda Breuer. Braunschweig/Wiesbaden 1998, S. 9.
3
Vgl. Nikolaus Pevsner: Wegbereiter moderner Formgebung: von Morris bis Gropius. Erstausg. in dt. Sprache. Hamburg 1959.
4
Vgl. Jeremy Deller. English Magic. Ausst.Kat. British Pavilion, 55th International Art Exhibition – la Biennale di Venezia. Hrsg. vom British Council. London 2013. Zur Ausstellung ist außerdem ein Begleitheft mit Erläuterung der einzelnen Ausstellungsräume erschienen. Vgl. Jeremy Deller. English Magic. Leporello. British Pavilion, 55th International Art Exhibition – la Biennale di Venezia. Hrsg. vom British Council. London 2013.
5
Vgl. Magiciens de la terre. Ausst.Kat. Le Centre Georges Pompidou. Hrsg. von Jean-Hubert Mar-
6
Vgl. Michel Foucault: Wahrheit und Macht. Ein Interview von A. Fontana und P. Pasquino. In:
tin. Paris 1989. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 21–54, hier S. 44 ff. 7
Vgl. Caroline McDonald: Rock and Revolution. Prehistoric Stone Tools. In: Deller 2013 (Anm. 4), S. 33–36.
8
Vgl. Jeremy Deller: Bevan tried to change the nation. Various cities and town across the UK, January 1972 – July 1973. In: Deller 2013 (Anm. 4), S. 71–81.
9
Vgl. Jeremy Deller: You have the watches, we have the time. Harrowdown Hill, Oxfordshire, UK, 17 July 2003. In: Deller 2013 (Anm. 4), S. 71–81.
10 Vgl. Jeremy Deller: I want to be invisible. St. Helier, Jersey, 12 June 2017. In: Deller 2013 (Anm. 4), S. 19–26. 11 Vgl. Jeremy Deller: Room 1. The Sandringham Estate, Norfolk, UK, 24. October 2007. In: Deller 2013, Leporello (Anm. 4). 12 Vgl. Jeremy Deller: Ooh-oo-hoo ah-ha ha yeah. Abbey Road Studios, London, 18 March 2013. In: Deller 2013 (Anm. 4), S. 61–69. 13 Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Zur veränderten Verfaßtheit heutiger Kulturen. In: Migration und Kultureller Wandel. Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kulturaustausch. Hrsg. vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa). 45. Jg., 1995, 1. Vj., Stuttgart 1995, S. 39–44, hier S. 44, auch URL: http://www.forum-interkultur.net/uploads/tx_textdb/28.pdf [4.11.2013]. 14 Vgl. Jeremy Deller: We sit starving amidst our gold. Venice, Italy, 1 June 2011. In: Deller 2013 (Anm. 4), S. 37–41. 15 Vgl. Christian Kravagna,: Für eine postkoloniale Kunstgeschichte des Kontakts. In: Texte zur Kunst, Sept. 2013, 23. Jg., Heft 91, S. 110–131. 16 Vgl. Kunstforum International, Bd. 220. Globalkunst – Eine neue Weltkunst. Hrsg. von Sabine B. Vogel. März–April 2013. 17 Vgl. Welsch 1995 (Anm. 13), S. 39–44. 18 Kravagna 2013 (Anm. 15), S. 113. 19 Kravagna 2013 (Anm. 15), S. 111. 20 Kravagna 2013 (Anm. 15), S. 111. 21 Kravagna 2013 (Anm. 15), S. 111. 22 Vgl. Peter Davey: Zur Architektur der Arts and Crafts-Bewegung. In: Arts and Crafts. Von Morris bis Mackintosh – Reformbewegung zwischen Kunstgewerbe und Sozialutopie. Ausst.Kat. Institut Mathildenhöhe. Hrsg. von Gerda Breuer. Darmstadt 1994, S. 63–76, hier S. 66. 23 Vgl. Davey 1994 (Anm. 22), S. 66.
Global Transfer I 213
24 Vgl. Frank-Lothar Kroll: Das Ornament in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts. Hildesheim 1987, S. 94 f. 25 Vgl. Kroll 1987 (Anm. 24), S. 97 f. 26 Vgl. Kroll 1987 (Anm. 24), S. 98 f. 27 Kroll 1987 (Anm. 24), S. 100. 28 Kroll 1987 (Anm. 24), S. 101. 29 Vgl. Owen Jones: The Grammar of Ornament. London 1868. 30 Kroll 1987 (Anm. 24), S. 103. 31 Kroll 1987 (Anm. 24), S. 104. 32 Kroll 1987 (Anm. 24), S. 104. 33 William Morris: How I became a socialist. In: The collected works of William Morris. Signs of change. Lectures on socialism. Hrsg. von William Morris. Vol. XXIII. Harmondsworth 1968, S. 277– 281, hier S. 277. 34 Günter Irmscher: Ornament in Europa. 1450–200. Eine Einführung. Köln 2005, S. 159. 35 Linda Parry: William Morris. Textilkunst. Herford 1987, S. 17. 36 Vgl. Friederike Wappenschmidt: Chinesische Tapeten für Europa. Vom Rollbild zur Bildtapete. Berlin 1989. 37 May Morris: Morris as a Designer. In: William Morris, Artist, Writer, Socialist. Hrsg. von May Morris. New York 1966. Bd. I, S. 34–61, hier S. 44. Auf deutsch zitiert nach: Parry 1987 (Anm. 35), S. 36. 38 Vgl. History of the Ardabil Carpet, In: Victoria and Albert Museum, URL: http://www.vam.ac.uk/ content/articles/h/History-of-the-ardabil-carpet/ [2.12.2013]. 39 Vgl. History of the Ardabil Carpet 2013 (Anm. 38). 40 Parry 1987 (Anm. 35), S. 38. 41 Parry 1987 (Anm. 35), S. 17. 42 Vgl. Parry 1987 (Anm. 35), S. 29. 43 Parry 1987 (Anm. 35), S. 29. 44 Parry 1987 (Anm. 35), S. 29. 45 Vgl. Parry 1987 (Anm. 35), S. 36. 46 Kravagna 2013 (Anm. 15), S. 111.
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Das Ornament als Joker I. In den letzten Jahrhunderten wird das Ornament mal als Anhängsel der ‚wahren‘ Kunst beschrieben, wie in der Theorie von Leon Battista Alberti, mal als Rahmen für ‚bessere Kunst‘ verstanden, wie es Goethe in seiner Schrift Von Arabesken vorschlug, mal als ein Element betrachtet, dass die Schönheit der architektonischen Form oder – wie bei Wilhelm Worringer nachzulesen – der Lebensbewältigung diene, weil es ordnet und die metaphysische Beunruhigung der Weltwirklichkeit überwindet. Keine dieser Beschreibungen und Einordnungen trifft auf die im Folgenden vorgestellten Werke der zeitgenössischen Kunst zu. Während bisherige Ornamenttheorien die Schönheit, den Hang zur Einheit betonen, treten ornamentale Formen in der zeitgenössischen Kunst vor allem kontrastvoll auf: Schönheit und Schrecken gehören hier zusammen, das Gleichmaß der Formen ist nicht mehr widerspruchsfrei und verspricht längst keine Einheitlichkeit mehr. Noch einem weiteren, wesentlichen Charakteristikum kunsthistorischer Ornamenttheorien widersprechen die folgenden Werke: Ob Wilhelm Worringer oder Georg Lukács, das Wesen der ornamentalen Kunst wird immer wieder in deren Abstraktheit begründet. Denn auch die gegenständlichen Elmente würden nicht als Gegenstand, sondern als eine Struktur behandelt, würden schematisiert. Georg Lukács spricht in seiner Ästhetik aus dem Jahr 1963 gar von der „Weltlosigkeit“ des Ornaments. In der Abstraktion sieht er ein Ausblenden der Probleme und Widersprüchlichkeit der Lebenswirklichkeit, eine Ent-Aktualisierung realer Gegebenheiten. Für die zeitgenössische Kunst trifft das Gegenteil zu: In den Werken vor allem aus der sogenannten MENASA-Region (Middle East, North Africa, South Asia) dient das Ornament dazu, gerade die Widersprüchlichkeiten unserer Welt ins Bild zu rücken. Die Künstler und Künstlerinnen greifen ornamentale Formen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen auf, um im Verknüpfen und in unerwarteten Kombinationen aktuelle Bedeutungen entstehen zu lassen.
II. August 2010, Sialkot. In der nordpakistanischen Grenzstadt zu Indien werden zwei Teenager von einer aufgebrachten Menschenmenge brutal getötet. Ein Video zeigt Polizisten, wie sie untätig daneben stehen. Das pakistanische Fernsehen strahlt das Video landesweit aus – es wird zum Ausgangspunkt einer Werkserie von Imran Qureshi.
Das Ornament als Joker I 215
Qureshi ist ausgebildet in der traditionellen Miniaturmalerei am College in Lahore. Das Ornament ist ein wichtiges Element dieser Malerei, dient zum Schmücken, Dekorieren, Akzentuieren. Am Ende des Studiums werden die Studenten darin bestärkt, mit ihren Fertigkeiten eine eigene, künstlerische Sprache auszubilden. Sie sollen innerhalb der Tradition ein eigenes Vokabular finden. Qureshi geht diesen Weg. Er verbindet die historische Formensprache mit zeitgenössischen Inhalten, indem er Elemente der Tradition aufgreift und bricht: Gold ist eigentlich nur ein Schmuck-Element; Qureshi nimmt es in unkonventioneller Verwendung als Blattgrund (Abb. 1).
1 Imran Qureshi, This Leprous Brightness, 2010, Gouache/Papier, 33 x 25 cm (Teil einer Serie von sechs Papierarbeiten)
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2 Imran Qureshi, Wuzu I, Außeninstallation, Singapur Biennale 2006
Qureshi geht noch einen Schritt weiter. Miniaturen sind von kleinem Format. Qureshi verlässt diese Tradition, wenn er Körperabdrücke von seinen Füßen, Händen und sogar vom gesamten Körper einsetzt. Der weitreichendste Schritt allerdings ist die Entscheidung, eine traditionelle, florale Form zum zentralen Bedeutungsträger zu erheben: Blütenblätter (Abb. 2). In der islamischen Buchkunst enden die Buchstaben oft in Blättern oder stilisierten Blüten. Die meisten haben festgelegte symbolische Bedeutungen. Die Schmuckelemente aus blatt- und blütenartigen Mustern symbolisieren Hoffnung und Leben. Qureshi isolierte dieses eine Element und deplaziert die geranderten Blätter, zunächst auf seinen Tafelbildern, seit Ende der 1990er Jahre direkt auf Böden wie in der Wandmalerei zur 1. Singapur Biennale, die er auf dem Dach einer Moschee auftrug. Der Titel des Werkes ist Wuzu, also der moslemische Reinigungsprozess vor dem Gebet. Sind diese Ornamente, diese stilisierten Blütenblätter Dekoration – oder autonome Bilder? Dazu Qureshi: „Auch wenn sie eine starke symbolische Bedeutung trugen, waren diese Elemente (früher) gleichzeitig auch Dekoration. Wenn man jedoch Ornamente nur um der Verzierung willen einfügt, wird ein Kunstwerk leblos.“1 Nach dem Lynchmord spitzt Qureshi die Verwendung der floralen, ornamentalen Formen noch weiter zu: Er bedeckt seinen Körper mit roter Farbe, um den Abdruck eines Menschen zu erhalten. In diesen Ganzkörperabdrücken – Abdrücken von Händen und von Füßen – entwickeln sich die Formen aus dem Körper heraus, „als eine Form der revolutionären Hoffnung“2, wie er es sagt. Zur 11. Sharjah Biennale trägt er die ornamentalen Formen auf den Boden eines Innenhofes auf. Auf den ersten Blick erscheint die in-situ-
Das Ornament als Joker I 217
3 Abdulnasser Gharem, Men at work, 2010, Industrielack auf Gummistempeln/indonesisches Sperrholz, 85 x 120 x 0,9 cm (aus der Serie Restored Behaviour, 2010)
Malerei wie ein Massaker, das hier stattgefunden haben mag. Doch dann erkennt man die feinen, wunderschönen weißen floralen Formen. Diese Formen sind mit der Farbe des Blutes verschmolzen: „Es liegt etwas fast Paradoxes zwischen Gewalt und Schönheit, zwischen Leben und Tod, die auf derselben Bildfläche erscheinen.“3 In Qureshis Werken ist das Ornament kein Schmuck, kein Beiwerk, sondern das zentrale, das bedeutungstragende Bildelement, ein Bild für Leben, für die Hoffnung, die aus der Gewalt herauswächst. 1982 wurde in Saudi-Arabien ein Tal nach schweren Regenfällen überflutet. Die Bewohner flüchteten auf die Brücke, die über den Fluss führte – sie war aus Beton und schien stabil. Alle versammelten sich dort, mitsamt ihrer Habe. Die Flut kam. Die Brücke stürzte ein. Alle starben. Später wurde eine neue Straße gebaut. Die beiden Enden der alten Brücke blieben stehen. Im Jahr 2007 sprühte Abdulnasser Gharem auf diese Reststraße das Wort Siraat, in einer kalligraphisch-ornamentalen Weise, wieder und wieder. Siraat, das heißt soviel wie Pfad, oder Weg. Es ist der spirituelle Pfad, den jeder gehen muss, bezieht sich aber auch auf die Brücke, auf das Ereignis – wie ein Denkmal. Gharem ist hauptberuflich in der saudi-arabischen Armee tätig. Er hat keine künstle rische Ausbildung und geht unkonventionelle Wege. Seine Gemälde malt er nicht mit Farben, sondern er setzt sie aus Gummistempeln zusammen – ein alltägliches Material, das von Verträgen, zwischen Menschen, zwischen Staaten, erzählt. Seine Themen nehmen direkt politisch Stellung (Abb. 3).
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„In Men at work geht es um Brutalität, um den Krieg. Es geht um den Kontrast zwischen Krieg und Religion, um Illusionen“, sagt Gharem im Interview.4 Die Arbeit Men at Work: In der Kuppel einer Moschee sehen wir die Schatten von Soldaten, die Gewehre im Anschlag. Sie dringen in das heilige Haus ein, bringen Unruhe in das Gleichmaß der Kuppelornamente. Die Arabeske betont noch einmal den religiösen Kontext dieses Ortes. Einzelne Ornamente sind von rot-weißen Sicherheitslinien umfasst, mit denen Sperrungen markiert werden. Geht es nur um den Kontrast zwischen „Krieg und Religion“, wie es Gharem formuliert?5 Oder wird hier der Kontrast zwischen islamischen und westlichen Ländern, die militärische Bedrohung, die vom Westen für den arabischen Kulturraum ausgeht, über das Ornament symbolisch verbildlicht? Gharem bleibt in seinen Interviews sehr vorsichtig und überlässt es dem Betrachter. In seinem Bild jedoch nimmt er durch das Ornament Stellung, denn die Arabesken haben ihre Unschuld verloren, stehen nicht für einen „transzendierenden Unendlichkeitsdrang, der alles Welthafte stilisiert“ (Lukács), sondern für einen weltlichen Konflikt. Zena el Khalil wuchs in Lagos, London und New York auf; erst kurz nach dem Bürgerkrieg kam sie in den Libanon. „Der Krieg hatte eine komplette Zersplitterung unserer Realitäten zur Folge“, erklärt sie. „Wir hatten kein gemeinsames Verständnis mehr, wer wir waren oder worin unsere Geschichte bestand. Die Verwendung von Ornamenten erlaubte mir, eine Verbindung mit dem Libanon und meiner Geschichte herzustellen. Der Übergang von der Verwendung des Ornaments als dekoratives Element zu einem konzeptuellen Element fand so 1994 nach meinem Umzug nach Beirut statt.“6 2006 bombardiert Israel Beirut. Nach dem 15-jährigen Bürgerkrieg (1975–1990), in dem irgendwann jeder gegen jeden kämpfte, ist die Stadt gerade erst wieder aufgebaut worden – und wieder setzt die Zerstörung ein, vor allem im südlichen Teil der Stadt. Zena el Khalil beginnt einen Weblog, in dem sie von ihren täglichen Erfahrungen in der mal kriegsähnlichen, dann wieder ganz normalen Situation berichtet. Parallel dazu entstehen ihre Bilder. Wie bei Qureshi, so steht auch bei el Khalil das Ornament für Hoffnung, für Leben – und zwar als ein der Tradition verbundenes Bildelement. In Hope (2005) und Sketches for Militia Magenta (2007) ist ein junges Mädchen zu sehen, das schießt – und damit ein blumenhaftes Ornament auslöst. Es ist eine Art Kleinmädchentraum, der die Wirklichkeit mit dem Wunsch verbindet und in dem das Ornament die heile Welt symbolisiert. Der waffenund todbesetzten Wirklichkeit setzt el Khalil eine rosa Plüsch- und Blümchenwelt entgegen, in der die Arabesken ein wesentliches Versprechen auf Glück beinhalten: „Die Arabeske ist formal und ordentlich. Beirut hingegen ist ein einziges Durcheinander und völlig chaotisch. Ich mag die Ironie, weil sie die Welt um mich herum heute in Beirut beschreibt. [...] Früher halfen Arabesken den Menschen, Gott zu finden. Ich suche zwar nicht nach Gott, aber diese wiederholenden Tätigkeiten machen mich glücklich. Ich fühle mich der umfassenderen Energie da draußen verbunden, der kollektiven Energie, an der wir alle teilhaben. Und es ist sehr erfüllend, Perfektion und Chaos zu kombinieren – in gewis-
Das Ornament als Joker I 219
4 Zena el Khalil, Hope, 2005, Acryl/Lwd., 60 x 120 (aus der Serie Sketches for Militia Magenta II, 2005)
ser Weise ist das eine Reflexion des Lebens!“7 Hier kommt eine traditionelle Bestimmung von Ornament zur Sprache, die in den Bildern allerdings in höchstem Maße gebrochen wird – die „umfassenderen Energien“ sind an weltliche Gewalt gebunden (Abb. 4). Sowohl in Gharems als auch in el Khalils Bildern treffen die Arabesken auf Waffen – was die Interpretation nahe legt, dass das Ornament die friedliche islamische Kultur, die Waffen dagegen den bedrohlichen Westen symbolisieren. Beide Künstler wollen dieser Interpretation nicht zustimmen, sondern weit über diese politische Lesbarkeit auf ein universales Problem hinweisen: auf die Gleichzeitigkeit von Bedrohung und Hoffnung. Das Ornament hat einen neuen Kontext erhalten. 2008 wurde Aisha Khalid eingeladen, im Queen´s Palace in Kabul auszustellen. Beeindruckt vom Ausmaß der Zerstörung in der afghanistanischen Hauptstadt, reagiert sie mit einer in-situ-Arbeit: Sie überträgt eine rote, geometrische Grundform direkt auf die Wand. Die Form erinnert an eine Wunde, an ein Einschussloch. Für die Ausstellung Die Macht des Ornaments im Belvedere in Wien im Jahr 2008 malt sie das Bild Kabul: Es sind abstrakte Formen, die aus geometrischen Ornamenten bestehen. Sie sagt: „Ich arbeite seit zehn Jahren mit geometrischen Mustern, vor allem Quadraten, die ich durch Farbschichten teile, um so geometrische Raster zu schaffen. Diese Arbeiten waren abstrakt, doch worüber sie sprachen war gesellschaftlich, politisch und persönlich.“8 Die Ausstellung aus Kabul wanderte nach Venedig und war 2009 während der Biennale Venedig zu sehen. Dazu die Künstlerin: „Die Arbeit hatte nun eine neue Bedeutung, da sie sich in Europa befand und einem europäischen Publikum gegenübertrat. In der Arbeit Face it habe ich die Einschusslöcher nicht auf die Wand gemalt, sondern auf Spiegel – die Formen wurden auf die Körper der Betrachter projiziert und bedeckten den gesamten Raum.“9 Aisha Khalid lebt in Lahore und ist ebenfalls in Miniaturmalerei ausgebildet. Sie ist die Partnerin von Imran Qureshi. Auf der bereits erwähnten Sharjah Biennale 2011 zeigte sie einen drei Meter großen Schal, betitelt Kashmir Shawl. Die Muster entstammen der
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Region Kaschmir, auch die Wolle kaufte sie dort. Doch statt das Ornament hineinzuweben, entstehen die traditionellen Paisley-Formen mit vergoldeten Stahlnadeln, die durch den Stoff hindurch gestochen sind. Die Rückseite des Schals ist rötlich. Hier stehen die spitzen, goldenen Enden der Nadeln heraus. Sie merkt an: „[...] Tradition und Schönheit kommen zusammen. Die Kaschmiris bringen das in ihren Schals zum Ausdruck, während sie in der von Indien besetzten Kaschmir-Region leben.“10 Aisha Khalid will mit diesem Schal die verborgene Geschichte des Volkes von Kaschmir erzählen: „Die Menschen reden von der Schönheit des Schals, doch das Leid des Volkes von Kaschmir ist ihnen gleichgültig.“11 In den bisher genannten Werken kommt das Ornament im Gewand einer Verzierung, eines hübschen Schmucks daher – und erweist sich beim zweiten Blick als das zentrale, bedeutungstragende Element, das nicht von Glück, sondern von Leid erzählt. Bei Qureshi und el Khalil dient es als Bild der Hoffnung, bei Gharem und Khalid als kontrastierendes Element. Es ist kein Rahmen, kein Beiwerk, sondern das inhaltliche Zentrum. Es ist eine Form, die mit politischen Bezügen aufgeladen ist, eine Form, die im Gestern, in der Tradition verankert ist, diese auch explizit zitiert, und in einem neuen Kontext aktualisiert. Das Ornament in diesen Werken dient nicht, wie es Worringer schrieb, zur Überwindung der metaphysischen Beunruhigung, sondern referiert im Gegenteil auf eine konkrete, weltliche Beunruhigung. Es ist nicht neutral, weder in seiner Form noch Bedeutung noch Herleitung. Es erhält eine Mittlerfunktion, steht zwischen Gestern und Heute, zwischen Ordnung und Chaos, ist voller Schönheit und weist doch auf Schrecken hin. Das Ornament hat seine Unschuld verloren. Eine große Frauenfigur nimmt die rechte Bildhälfte ein. Sie ist von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt und hebt eine Hand, abwehrend oder warnend. Hinter ihr ist eine Mauer aus Arabesken zu sehen. Will sie zurückweichen und wird von dem Ornament daran gehindert, oder umgibt das Ornament sie schützend, während sie sich einer Bedrohung gegenüber sieht? Adriana Czernin zeigt uns hier das Ornament in einer Doppelfunktion: Einerseits als Käfig und Gefängnis, als Inbegriff der Unfreiheit in seiner zwanghaften Gleichmäßigkeit; andererseits als Schutz, der den gesamten Raum mit Harmonie füllt. Noch etwas kommt hier in den Blick: das Ornament als Rollenmuster, als gesellschaftliches Korsett für Frauen, als Zwang zum Schönsein. Das Ornament als Bildelement, um über die Rolle der Frau in der Gesellschaft zu reden, ist ein wichtiges Thema in Aisha Khalids Werk, ebenso im Werk von Maria Hahnenkamp aus Wien. Im Gespräch über ihre Arbeit spricht Czernin vom Ornament als „Dekoration, die unser Leben verhübschen soll“, von der „erstickenden Verlogenheit“ dieser Dekoration, vom Wiederholungszwang, vom Verlust des leeren Raums durch das Ornament, das gleichzeitig ein Gitter ist – aber auch vom Streben nach dem Idealen, vom geometrischen Ornament als dem „Komplexesten überhaupt“12. Das Ornament ist voller Widersprüche. Und immer wieder wird deutlich, wie weit es seine Unschuld verloren hat, wenn es als zwanghafte Füllmasse beschrieben wird. Und genau das bestimmt Czernins Werke: das Bedroh liche, das das Ornament hat, wenn Frauen davon eingezwängt sind.
Das Ornament als Joker I 221
Parastou Forouhar wuchs im Iran auf. Ihre Eltern waren führende Oppositionelle, die am 21. November 1998 in Teheran in ihrem eigenen Haus vom iranischen Geheimdienst ermordet wurden. Ihre Tochter Parastou lebte damals bereits in Deutschland und studierte Kunst. „Erstmals habe ich Ornamente eingesetzt, nachdem ich den Iran verlassen hatte und eine Identitätskrise durchlebte. Auf der Suche danach wurde ich auf die Muster aufmerksam, die mir meine Identität in einer flachen Art und Weise wieder herzustellen imstande schienen.“13 Erinnert sei hier an Zena el Khalil, die ebenfalls ihre kulturelle Identität im Ornament suchte. Aber Parastou Forouhar sucht nicht die Kontemplation, sondern die Rebellion: „Das war Anfang der 1990er, ich begann gerade mein Studium und arbeitete erstmals mit Computern. Ich entdeckte, dass der Computer das Thema Ornament zu etwas ganz anderem werden lässt. In den altpersischen Kulturen sind Ornamente mit einer zeitaufwendigen und kontemplativen Arbeit verbunden. Der Computer dagegen hat das in einer radikalen, frechen Art unterminiert. Der Computer bot mir die Oberfläche an, ohne religiöse Hingabe dazu zu fordern.“14 Forouhar setzt das Ornament als eine „aufkaschierte Ordnung“, wie sie es nennt, ein. All ihre Werke entstehen im Zusammenhang mit dem Mord an ihren Eltern, entstehen vor der Folie eines repressiven, politischen Regimes: „Ich habe von Anfang an Ornamente als Camouflage verwendet, um die schöne Oberfläche mit politischen Themen zu verbinden. Die Illusion der Ordnung, die uns Ornamente anbieten – das hat mich dann immer mehr interessiert. Die ornamentale Ordnung ist eine Parallele zu einem politisch-totalitären System, beidesmal wird jede Abweichung, wird Individualität zur Störung, zerstört die Ausgewogenheit und damit das System wie eine Laufmasche. [...] Das hat auch mit meiner Biographie zu tun, mit meinem Gefühl, aus einer schönen Welt vertrieben zu sein – die Schönheit bleibt zwar, aber ich sah darin auch das Andere, die Kehrseite. Meine Eltern wurden 1998 ermordet. [...] Ich setze die Muster ein, um die Betrachter anzuziehen und im zweiten Blick mit dem Verborgenen, Schrecklichen zu konfrontieren.“15 In ihrem Werk Zeit der Schmetterlinge (2011) entwirft sie wunderschöne, bunte Schmetterlinge mit faszinierenden Mustern, kreiert aus den Insekten eine Tapete, und konfrontiert uns in einem zweiten Blick mit einer grausigen Realität (Abb. 5). Denn jeder Schmetterling hat eine klar definierte Bedeutung bzw. steht über den Titel in einem politischen Zusammenhang. Forouhar erklärt: „Khavaran bezieht sich auf das Massengrab im Süden Teherans, wo die Bahaie Gemeinde, aber auch die Hinrichtungsopfer in den 1980er Jahren begraben wurden. 22. November ist der Todestag meiner Eltern. Ashura bezieht sich auf den gleichnamigen, höchsten Trauertag im Islam, an dem die Schiiten des Todes von Iman Hussain gedenken und an dem die Demonstrationen im Iran 2009 vom Militär brutal niedergeschossen wurden. Ewin ist das berüchtigte Gefängnis in Teheran, in dem seit Jahrzehnten politische Gefangene festgehalten werden. Kahrizak ist ein geheimes Gefängnis im Süden Teherans, in dem die Gefangenen nach dem Aufstand im Sommer 2009 festgehalten und einige von ihnen zu Tode gefoltert wurden. Nachdem das
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bekannt wurde, hat man dieses Gefängnis geschlossen und den dafür Zuständigen vor Gericht gestellt – das war ein Schauprozess. Das war auch das erste Mal, dass Vergewaltigungen von Männern und Frauen im Gefängnis öffentlich thematisiert, dieses Tabu erstmals gebrochen wurde. Das Furchtbarste daran ist, dass das religiös legitimiert sein soll. 80Ericezeit erinnert an die Angststarre, die in diesen Jahren in Iran herrschte, in den Jahren meiner Jugend.“16 Parastou Forouhar betont, dass im Ornament eine harmonische Welt dargestellt ist, ein „Zeichen der göttlichen Allmacht und ihrer Schönheit.“17 Aber: „Was sich der ornamentalen Ordnung nicht unterwirft, ist nicht darstellbar und damit nicht existent, wird in die Peripherie der Unwürdigkeit verbannt, zur Vernichtung verurteilt.“
18
5 Parastou Forouhar, Zeit der Schmetterlinge, 2011, Tapete mit 7 Schmetterlingsmotiven, digitale Zeichnung/Fotopapier, 200 x 288 cm
III. Zum Abschluss möchte ich noch einen ganz kurzen Blick auf das Thema „Ornament und Islam“ werfen, denn der Großteil der erwähnten Künstlerinnen und Künstler stammt aus islamischen Kulturen. In der kunsthistorischen Auseinandersetzung mit dem Ornament werden im Hinblick auf den islamischen Kontext immer wieder die Abstraktion und die religiöse Bedeutung der gleichmäßigen Muster betont. Das Ornament, so heißt es, versetze den Betrachter in eine weltlose, geistige Grundstimmung. Worringer sieht im islamischen Ornament einen streng metaphysischen Charakter, einen das Einzelräumliche transzendierenden Unendlichkeitsdrang, der alles Welthafte stilisiert. Ganz entgegen Worringers Überhöhung siedelt der in Kalkutta geborene, in London lebende Raqib Shaw das Ornament in der Welt der Erotik an. Shaws Malerei erinnert an die Miniaturmalerei, ist wie ein Wimmelbild voller einzelner Szenen, die parallele kleine Geschichten erzählen. Immer wieder vermengt er dabei demonstrativ und provokant Techniken und Themen der islamischen und der westlichen Kunstgeschichte. In seiner Serie Garden of Earthly Delights trifft Hieronymus Boschs Garten der Lüste auf die Miniaturmalerei und zeigt uns eine orientalische, psychedelische, surreale und pornografische Welt. Für die Ausstellung Die Macht des Ornaments im Belvedere in Wien malte Shaw ein Diptychon, das die islamische Tradition der Bücherverzierungen aufgreift. Doch nicht ein
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religiöser Text steht inmitten des zauberhaften Ornamentrahmens. Ganz im Gegenteil: Die Verzierung schmückt keine Schrift, sondern pornographische Szenen. Die Schönheit des Ornaments – verstärkt durch emaillierte Pflanzenranken, Gold, Glitter und Glitzer – ist kontrastiert mit Verfall und Gewalt: Die männlichen Fabelwesen im Bildinneren sind gefesselt, ihre Körper werden mit Scheren und Messern malträtiert. Die Gewalt dient dabei offensichtlich der Luststeigerung; auf einem Teil des Diptychons ist ein Wesen im Moment des Orgasmus dargestellt. Und der Rahmen ist keineswegs ein getrennter Bereich, denn überall kommen aus den Weinranken Würmer gekrochen (Abb. 6). Kitschige Lieblichkeit und körperliche Qual, Lust 6 Raqub Shaw: ...And the paisleys on my lapels have long whithered away I, 2008, Teil eines Diptychons, Acryl. Glitter, Email, Strass und mixed media/Papier/Holzrahmen, 134,5 x 107 cm
und Schmerz, Tradition und Gegenwart, kultureller Kontext und private Vorlieben, spirituelle und weltliche Welten – alles ist vermengt, allerdings nicht wie bei Qureshi, Gharem, el Khalil und Khalid in einem gesellschaftspolitischen Zusammenhang, sondern in Shaws Welt aus privaten Obsessionen. De-
monstrativ wendet sich Shaw damit gegen die Verneinung jeglicher Sinnlichkeit des traditionellen islamischen Ornaments. Diese Tradition selbst, so könnte man interpretieren, war schon immer brüchig, sind die Ornamente doch voller Weintrauben und Würmer.
IV. Entgegen Georg Lukács’ Postulat, im Ornament würden die Spannungen des gesellschaftlichen Lebens ausgeklammert, haben wir gesehen, dass das zeitgenössische Ornament im Gegenteil auf eine Verbildlichung der Spannungen zielt – ja, es sich sogar umgekehrt verhält: Gerade Ornamente vermögen es, in einer visuell verständlichen Sprache die kulturellen, politischen und religiösen Spannungen unserer Zeit zu verbildlichen, vermögen es, die enormen Umbrüche unserer Zeit, mit allen Zweifeln, aller Gewalt, allen Ungerechtigkeiten und Zwängen zu thematisieren. Dieses enorme Potenzial entwickeln die Werke aus einem feinen Wechselspiel mit den mimetischen Formen, denen das Ornament, gleich ob geometrisch oder floral, als radikale Opposition zur Seite gestellt ist. In manchen Theorien wird das Ornament gekennzeichnet als Stilbarometer, als Verdeutlichung psychischer Stimmungen, als Spiegelbild des Selbst- und Wertverständnisses
224 I Sabine B. Vogel
einer Epoche. Riegl, Worringer und Lukács sind sich einig darin, im Ornament einen wesentlichen Ausdrucksträger der geistig-weltanschaulichen Grundgestimmtheit eines Kulturkreises zu sehen, den das Ornament widerspiegelt. In den hier vorgestellten Werken sehen wir ebenfalls eine Grundgestimmtheit, allerdings nicht mehr eines einzigen Kulturkreises, sondern einer Vermischung und Vermengung verschiedener Kulturen, Traditionen und Zeiten. In diesen Ornamenten wird keine Weltferne vermittelt. Die zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler verwenden das Ornament als zentralen Bedeutungsträger, der von politischer Unruhe, lokalem Aufruhr, globaler Instabilität zeugt, der für Auflehnung steht – nicht belehrend, nicht wertend, sondern in der Dualität aus Schönheit und Bedrohung. Interessanterweise werden damit die überkommenen Funktionen des Ornaments, nämlich zu dekorieren, zu würdigen, zu strukturieren und durchaus auch zu transzendieren, nicht außer Kraft gesetzt, sondern aufgegriffen, eingebaut. Das Ornament in der zeitgenössischen Kunst übernimmt damit eine wichtige Funktion: Es spiegelt unsere Zeit wider wie keine andere Form, nicht als Innovation, nicht als individuelles Element, sondern im Appell an ein global kollektives, ein prä-modernes, prä-koloniales Gedächtnis. Diese Stellung kann es einnehmen, weil das Ornament zugleich der Hintergrund der Botschaft ist – im Sinne von Traditionen, an die angeknüpft werden kann – und der Weg, denn es erlaubt eine selbstbewusste Verwendung tradierter Elemente und zeugt somit von einem neuen Selbstbewusstsein der Künstlerinnen und Künstler in islamischen Kulturen. Ja, ich gehe noch einen Schritt weiter: Am Ornament in den Werken dieser Künstlerinnen und Künstler lässt sich die Entwicklung einer neuen, weltpolitischen Situation ablesen: die Aufwertung des geopolitischen Ostens – denn in den meisten Fällen wird die Arabeske, das typisch arabische Ornament, verwendet. Dahinter steht nicht die Idee eines orientalistischen Romantizismus wie in der dekorativen Ausstattung unserer Kaufhäuser, sondern die Entscheidung, die Arabeske als Puzzlestück einer kulturellen Identität zu nutzen und mit neuem Inhalt zu füllen. Das Ornament ist darin ein Joker.
Anmerkungen 1
Sabine B. Vogel: Interview mit Imran Qureshi. In: Political Patterns. Ornament im Wandel. Kulturtransfers #3. Ausst.Kat. Hrsg. vom ifa. Berlin/Stuttgart 2011, S. 64–66, hier S. 65.
2
Vogel: Interview mit Imran Qureshi 2011 (Anm. 1), S. 66.
3
Vogel: Interview mit Imran Qureshi 2011 (Anm. 1), S. 64.
4
Sabine B. Vogel: Interview mit Abdulnasser Gharem. In: Political Patterns 2011 (Anm. 1), S. 42–43, hier S. 43.
5
Vogel: Interview mit Abdulnasser Gharem 2011 (Anm. 4), S. 43.
6
Sabine B. Vogel: Interview mit Zena el Khali. In: Political Patterns 2011 (Anm. 1), S. 56–57, hier S. 56.
7
Vogel: Interview mit Zena el Khali 2011 (Anm. 6), S. 57.
Das Ornament als Joker I 225
8
Sabine B. Vogel: Interview mit Aisha Khalid. In: Political Patterns 2011 (Anm. 1), S. 48–50, hier S. 49.
9
Vogel: Interview mit Aisha Khalid 2011 (Anm. 8), S. 50.
10 Vogel: Interview mit Aisha Khalid 2011 (Anm. 8), S. 50. 11 Vogel: Interview mit Aisha Khalid 2011 (Anm. 8), S. 50. 12 Sabine B. Vogel: Interview mit Adriana Czernin. In: Political Patterns 2011 (Anm. 1), S. 28–29, hier S. 29. 13 Sabine B. Vogel: Interview mit Parastou Forouhar. In: Political Patterns 2011 (Anm. 1), S. 34–36, hier S. 34. 14 Vogel: Interview mit Parastou Forouhar 2011 (Anm. 13), S. 34. 15 Vogel: Interview mit Parastou Forouhar 2011 (Anm. 13), S. 34/35. 16 Vogel: Interview mit Parastou Forouhar 2011 (Anm. 13), S. 35/36. 17 Sabine B. Vogel: Vom Widerspruch im Ornament. In: Die Macht des Ornaments. Ausst.Kat. Belvedere. Hrsg. von Agnes Husslein-Arco/Sabine B. Vogel. Wien 2009, S. 9–23, hier S. 16. 18 Vogel 2009 (Anm. 17), S. 16
226 I Sabine B. Vogel
Bärbel Schlüter
Doubleface oder Anbindungspunkte der Installation incoming objects in der Kunsthalle Lingen „Doubleface“ ist ein Begriff für ein Gewebe, das aus zwei kompletten, trennbaren Stofflagen besteht und infolgedessen beidseitig verwendbar ist. Im Allgemeinen zeichnet ein Doppelgewebe aus, dass seine Warenseiten in Dichte, Farbe oder Material unterschiedliche Strukturen aufweisen können.1 Dieser Gewebetyp findet beispielsweise bei Mänteln, Decken, aber auch bei Wandbespannungen seinen Einsatz. Indem das Gewebe mit einer zusätzlichen Struktur ausgestattet ist, wird nicht nur die gestalterische Vielfalt und Wendemöglichkeit betont, vielmehr erlaubt eine solche Konstruktion aus ineinandergefügten Schichten, ein Hohlgewebe zu erzeugen und damit die Stabilität und das Volumen zu verstärken. Bindungstechnisch bestimmen Möglichkeiten wie An- und Abbindung, Bindekette oder Bindeschuss die Art der punktuellen oder linearen Verbindung der beiden Gewebeschichten und damit auch die Gesamtstruktur aus Stofflage und Hohlraum. So werden bei der Technik der Anbindung in regelmäßiger Anordnung Verbindungspunkte von der Abseite zur Oberseite eingewebt, um eine kammerartige Struktur zu schaffen. Das heißt, der Begriff „Doubleface“ verweist auf eine doppelte Ansichtigkeit und zugleich auf die Konstruktion von dreidimensionalen, volumenhaltigen Umhüllungen. Die Unterscheidung in Außenseite und Innenseite wird nahezu austauschbar. Die Vorgehensweise, eine Unterseite/Abseite von Umhüllungen (vorübergehend) aufzuwerten ist – im übertragenden Sinne – auch im Bereich von Baustellen im Hochbau und an Außenwänden zu beobachten. Schichten aus Kunststoffplanen und Netzen nehmen kurzzeitig den Charakter von straffen Wandbespannungen oder dreidimensionalen Hüllen ein. So erhalten freigelegte Brandwände einen Überzug, der die Ansicht der zum Vorschein gekommenen Spuren verschleiert und zugleich die (Bau-)Lücke in Erscheinung treten lässt, oder es werden Wandfüllungen und -durchbrüche temporär eingegrenzt. Diese Art der Überformung der Wand, die zunächst einmal rein funktionalen Vorgaben folgt, aber deren spontane Bauweise oder Installation eigenwillige Verknüpfungen zwischen dem Davor und Dahinter entstehen lassen, nehme ich in meinen fotografischen Recherchen unter dem Titel Musterbau in den Blick (Abb. 1, Abb. 2, Abb. 3). Die Sammlung erzählt von alltäglichen Eingriffen, kleinen Gesten und ephemeren Ummantelungen an städtischen Fassaden, von provisorischen Doppelschichtungen und Übergangszonen.
Doubleface I 227
1 Bärbel Schlüter, aus der Sammlung Musterbau, 2008, Fotografie
2 Bärbel Schlüter, aus der Sammlung Musterbau, 2008, Fotografie
3 Bärbel Schlüter, aus der Sammlung Musterbau, 2005, Fotografie
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Die Strategie der Anbindung von innerer Seite und äußerer Seite der Wand greife ich dagegen in der Installation incoming objects, Kunsthalle Lingen, 2013/2014, auf. Dort war ich eingeladen, anlässlich der Ausstellung Das Muster, das verbindet die äußere Gebäudewand der Kunsthalle als Bezugspunkt einer ortsspezifischen Installation einzubinden. Für den künstlerischen Eingriff waren die Wandabschnitte mit den großformatigen Industriefenstern als mögliche Stellen im Gespräch. Anknüpfend an Vorgehensweisen früherer Rauminstallationen – an Arbeiten wie Konsumverein 08.06 oder Sorst 09.06, bei denen ich die Fensteröffnungen des jeweiligen Ausstellungsraums mit reliefartigen Tafeln ausstopfte, die aus der Fassadenebene in den öffentlichen Raum der Straße hinausragten und als Teilabformungen von Möbelstücken Spuren von Innen- und Außenräumlichem verschränkten –, richtete sich meine Aufmerksamkeit auf das Wandelement Fenster, genauer gesagt, auf dessen trennende und verbindende Aufgabe. In dem Aufsatz Fenster. Zwischen Intimität und Extimität bezeichnet Georges Teyssot das Fenster als Werkzeug, das „zwischen dem Subjekt und der Welt als Vermittelndes steht“2. Denn, so Teyssot, es verbinde die Dinge der Außenwelt mit uns und definiere zugleich gegensätzliche Räume: „die Außenwelt und das Interieur, [...] das Sichtbare und das Unsichtbare, das Öffentliche und das Private“3. Diesem Wechselspiel galten meine Beobachtungen. Bei einer ersten Ortsbegehung überprüfte ich die Gegebenheiten des Ausstellungsraums sowie des Gebäudes, der ehemaligen Lokhalle des Eisenbahn-Ausbesserungswerkes.4 Der Raum des Kunstvereins ist in seinem Charakter von der Dimension der Industriehalle geprägt: von hohen, grob verputzten Wänden, von dem Hallendach mit den Raum überspannenden Oberlichtern, von der markanten Industriedecke mit ihren Unterzügen für die Versorgungstechnik. Dieser historischen Architektur ist eine Wandverkleidung vorgeblendet, die als Display die Ausstellungsfläche definiert. Eine etwa sechs Meter hohe Vertäfelung hebt sich hellweiß von der kalkverputzten Mauerfläche ab. Lediglich die Wandsegmente, in denen die Fenster eingefügt sind, bleiben im ursprünglichen Zustand erhalten. Damit tritt der Ausstellungsraum als Raum im Raum zum Vorschein, ohne jedoch als weiße Kiste in sich geschlossen zu sein. Die Abschnitte der Wand, die ein Fenster fassen, vermitteln vielmehr zwischen Werkhalle und Kunsthalle. Auch von außen gesehen prägt das Zusammenspiel von oberer und unterer Wandschicht die Fassadenarchitektur. Eine allseitig umschließende Struktur gliedert im fortlaufenden Rhythmus die langgestreckten Außenwände, ohne eine Front- oder Eingangsseite zu betonen. In regelmäßiger Reihung wiederholen sich Fassadenabschnitte, die kompositorisch aus den Elementen des Fensters und eines säulenartigen Vorsprungs zusammengesetzt sind und deren Oberfläche aus rotem Ziegelstein gemauert ist. Oberhalb der Fenster und der vertikalen Vorsprünge verläuft ein reliefartiger Fries aus kalkweißen Feldern, die vertieft in der gemauerten Oberfläche eingelassen sind (Abb. 4). Diese Art Architekturornament betont zum einen die horizontale Ausdehnung des Gebäudes, die Strecke, und erinnert zum anderen an Gestaltungsformen großer Fassadenflächen, die darauf zielen, durch sogenannte blinde Fenster eine Öffnung der Wand vorzutäuschen. Werden Blind- oder Scheinfenster für ge-
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4 Kunsthalle Lingen, äußere Wand
wöhnlich als plastische, geometrische Gliederungs- oder Schmuckelemente verwendet, so verweisen sie auch auf die doppelte Schicht von Blendwerk und konstruktiver Mauer oder auf die Verbindung von Öffnung und Wand. Diese Beobachtungen zu Referenzen der inneren und äußeren Seite der Außenwand, von Interieur und Exterieur kommentiere ich durch die Setzung von Anbindungspunkten auf der ‚Rückseite‘ der Fassade. Entsprechend der Position des architektonischen Frieses aus vertieften Kassetten werden incoming objects in gleichem Maß als erhabene Form der Innenwand aufgestülpt. Damit nimmt die Arbeit einen Platz außerhalb der Display-Wände der Kunsthalle ein (Abb. 5, Abb. 6). Die objects sind aus transparenter Baufolie und Tape geformt; sie nehmen in ihrer Stofflichkeit Bezug auf Baustellenverkleidungen, die vorübergehend ein Dahinter verbergen oder Öffnungen der Wand verblenden. Es geht also
5 Bärbel Schlüter, incoming objects, 2013/2014, Detail
230 I Bärbel Schlüter
6 Bärbel Schlüter, incoming objects, ortsspezifische Installation, Kunsthalle Lingen, 2013/2014, Kunststoffplane, Tape, Kantholz
darum, die Struktur der zweiten Seite der Wand mitzudenken, die Verdoppelung der blinden Fenster anzudeuten, auf die Möglichkeit des Nicht-Gesehenen und des Nicht-ZuSehenden anzuspielen, gegensätzliche Räume zu vermitteln, kurz gesagt, es geht um nicht mehr und nicht weniger als um incoming objects.
Anmerkungen 1
Vgl. Thomas Meyer zur Capellen: Lexikon der Gewebe, 2. erw. Aufl., Frankfurt am Main 2001/ Ursina Arn-Grischott: Doppelgewebe in der Handweberei. Ein Lehrbuch für doppel- und mehrschichtige Gewebe. Bern/Stuttgart/Wien 1997.
2
Vgl. Georges Teyssot: Fenster. Zwischen Intimität und Extimität. In: ARCH+, Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Bd. 191/192: Schwellenatlas – Von Abfallzerkleinerer bis Zeitmaschine. Berlin 2009, S. 52–59, hier S. 53.
3 Ebd. 4
Der Kunstverein Lingen hat seinen Standort, dem Bahnhof gegenüberliegend, in der umgebauten Industriehalle des ehemaligen Eisenbahn-Ausbesserungswerks, das heute Büros, Kulturinstitutionen und die Universität beherbergt. Im nordwestlichen Bereich der Halle IV befindet sich der
Doubleface I 231
Ausstellungsraum des Kunstvereins mit Blick auf das Bahnhofsgelände. Im Zuge der Umnutzung des ehemaligen Industriegebäudes ist einerseits die äußere Erscheinung, die Backsteinfassade einer Industriearchitektur um 1900, detailgerecht restauriert. Im Gebäudeinneren ermöglichen andererseits containerähnlich eingefügte Räume eine Erweiterung der Gebäudeflächen und die Nutzung als Büro und Veranstaltungsort.
232 I Bärbel Schlüter
Christian Janecke
Selbstkuratierung Über Kunst vor dem Muster ebendieser Kunst Wer sich mit Blick auf moderne und jüngere Kunst dem Ornament oder – etwas anders – auch dem Muster widmete, tat dies bis vor nicht allzu langer Zeit noch aus der Defensive: Obwohl die Moderne das Ornament aus sich ausscheiden wollte, war es zurückgekehrt; obwohl Abstraktion und Verflächigung in der modernen Malerei das Akzidentelle, reduktionistische Ansätze später das Mannigfaltige zurückzudrängen suchten, hatten sich ebendort unabweisbare Allianzen zum Ornament gezeigt, mitunter sogar zum unfreiwillig Dekorativen; obwohl Primitivismen im frühen 20. Jahrhundert mit dem Pathos innerer Notwendigkeit und expressiv (wo nicht dezidiert expressionistisch) auftraten, konnte damit auch die Ornamentik jener Kulturen, an denen man Inspiration genommen hatte, Durchlass finden. Noch die programmatische Postmoderne der 1980er Jahre, wo sie sich beispielsweise in Paraphrasen geometrischer Abstraktion gefiel, bestätigte dieses Szenario, indem nun mit Bedacht vielleicht ein ornamentaler Saum auf entsprechend ‚modernen‘ Strukturen prangte, um deren Illegitimität bzw. Überwundenheit zu erweisen. Spürbaren Rückenwind erhielten Begründungen des Ornaments erst unter den Vorzeichen von Gender, Postkolonialität und Globalisierung: profitierend von der hier vollzogenen Aufwertung oder überhaupt erst einmal der Einbeziehung von weiblich konnotierten Kulturtechniken, von Handwerk, von schmückenden, körperbezogenen Praktiken, von Anregungen aus Kulturen des Bilderverbots. Rechnet man als Hintergrund die postmoderne Delegitimierung von Autorschaft oder besser umgekehrt: die Aufwertung autorschaftsloser Schöpfungen hinzu, so leuchtet ein, dass und warum das Ornament(ale) in der Gegenwartskunst eine gewisse Konjunktur hat. Dennoch meine ich, dass einem Verständnis des Ornamentalen in der heutigen Kunst nicht wirklich gedient ist, wenn man es entweder noch immer altmodernistisch perhorresziert bis ignoriert oder es zweitens postmodernistisch als Konterkarierung der Moderne aus dem Giftschrank holt, oder indem man drittens und neuerdings glaubt, im perpetuiert Ornamentalen die politisch korrekte Ablösung einer als männlich, individualistisch, autorschaftlich, abendländisch und tendenziell figürlich geprägten Tradition des ereignisverdichtenden Bildes begrüßen zu müssen. Denn dabei dreht sich alles nur um das explizite, buchstäbliche und werkbestimmende, zweifellos ein gewisses Segment der Gegenwartskunst behauptende Ornament, das man gegebenenfalls dann auch schon von Weitem erkennt, oftmals aufgrund prinzipieller Allover-Struktur. Indessen dreht es sich dabei nie um
Selbstkuratierung I 233
jene Ornamentalität, die bloß implizit, hintergründig, darin aber beinahe ubiquitär ist – und um die es hier gehen soll. Mustergültig und ungeniert findet sie sich eher in der älteren Kunst, nämlich als all das, worauf Moderne und woran sie sich stieß, wovon sie umgeben war, und auch dort als etwas kaum Hinterfragtes, eher als jene Sphäre, die der Kunst einfach noch anhing, aus der sie hervorging, die ihr Rückhalt gab. Auch hier ist wiederum nicht die Rede von jenem Ornament, das es nach dem Willen der frühen Avantgarden unbedingt zu vermeiden, aus dessen Bann es auszubrechen, von dem es die Kunst zu entschlacken galt. Vielmehr darf man an noch überwiegend kunsthandwerklich dominierte, aus dem Fundus zumeist eines Neo-Stils schöpfende Ensembles des späteren 19. Jahrhunderts denken. Zu verbuchen wären sie auf der Seite historistischen, bürgerlichen, aber genauso auch volkstümlichen Lebensgefühls und Kulturverständnisses, dem es ganz selbstverständlich war, dass etwa ein Denkmal auf öffentlichem Platze, eine Inschrift auf einem Grabstein oder vielleicht das Porträt eines bedeutenden Menschen in eine jeweils dem betreffenden Werke förderliche Rahmensituation einzubetten sei. Letztere musste zwar nicht zwangsläufig ornamental sein, wie man am Beispiel der Panoramen ersehen kann, bei denen oftmals ein Untergeschoss das Publikum aufnahm, um es vermittels zahlreicher Bilder auf die fulminante Illusion als der eigentlichen Attraktion in der danach zu erklimmenden, darüber liegenden großen Rotunde einzustimmen. Aber es konnte ein ornamentales Verhältnis derart bestehen, dass das einen Kern Umgebende diesen Kern bedeutsamer erscheinen ließ, und mitunter nur schon dadurch, dass dessen Motivik, dessen Botschaft in entschwerter oder verdünnter Weise nun diesen Kern umlagerte, wie man es aus der Umsetzung von Bildprogrammen nach barockem concetto kennt. Ein derartig asymmetrisches Verhältnis eines bedeutsamen Innern zu seinem unbedeutenderen Äußern, das sich räumlich als ornamentierende Abstaffelung und Arrondierung, zeitlich als würdevolle Rahmung eines Ereignisses durch gebührendes Vor- und Nachher ergab, empfinden wir heute als hoffnungslos altmodisch, aufs Politische übertragen wohl als reaktionär. Als gelungen erschiene uns eine entsprechende Anlage und Gruppierung von Formen vermutlich nur noch bei einer Torte oder im Falle von Blumen gerade noch bei einem Hochzeitssträußchen. Doch bedarf es gar keiner Nostalgie, keines Hangs zum Kitsch, keiner Sentimentalität für den Zierrat von Spitzendeckchen, um die hier infragestehende Art von Ornamentalität erträglich zu finden. Denn nur schon in der Werbung ist sie allgegenwärtig. Das beworbene Produkt tritt dort ja typischerweise in einer fingierten Umgebung auf den Plan, von der man nicht zu entscheiden wüsste, ob das Produkt bereits auf sie abgefärbt hat – oder ob besagte Umgebung im Gegenzug als plausibilisierendes Setting für jenes wirkt. Zumal dank neuerer digitaler Techniken der Bildbearbeitung und insbesondere -generierung begegnen wir diesem Prinzip heute überall. So lassen sich im Handumdrehen Textur, Farbe und Relief einer Erdbeere auf völlig andere Dinge applizieren, vielleicht auf einen Tetra-Pack oder auf jene Zunge, die, so die Reklame-Logik, entsprechend ‚erdbeerigen‘
234 I Christian Janecke
1 Alicia Framis, Blood Sushi Bank, 2000. Installationsansicht Migros Museum, Zürich
Joghurt genossen hatte. Bei diesem Effekt geht es nun weniger um das verallgemeinert ‚Erdbeerige‘, denn eher darum, es als Eigenschaft von der konkreten Frucht ablösbar und in Folge applizierbar auf alles andere zu machen.1 (Man kann sich dabei an den Kunsthistoriker Hans Sedlmayr erinnern, wie er Mitte der 1950er Jahre unter dem Eindruck der seinerzeit international auftrumpfenden abstrakten Kunst eine in den Bildtiteln sich abzeichnende Substantivierung von Adjektiva diagnostiziert und übrigens als durchaus angemessen erachtet hatte, so dass, wie er an einem fingierten Beispiel ausführt, ein entsprechendes Bild statt auf Mondnacht besser auf Mond-Nächtliches zu taufen sei.2) Wenn nun aber das Erdbeerige nicht auf der Erdbeere bleibt – wie soll man es anders denken denn als Muster!? Wie soll man es, wo es die einzelne, mittig thronende, noch ganz konkrete Erdbeere arrondiert, anders denken denn als Ornament? Meine Schilderung dieses Verhältnisses in der Werbung war allerdings gar kein Selbstzweck, denn dieses Verhältnis gleicht auf verblüffende Weise jenem, das sich nicht allein in volkstümlichen bis historistischen, von Avantgarde-Allüren unbeleckten Sphären des späteren 19. Jahrhunderts, sondern auch in der jüngeren und jüngsten Kunst immer wieder zeigt, ja das dort derart omnipräsent ist, dass es vielleicht deswegen niemandem mehr auffällt. Die Rede ist hier insbesondere vom Medium der Installation. Ein keineswegs spitzfindiges, sondern durchaus repräsentatives Beispiel gäbe Alicia Framis’ Blood Sushi Bank (2000), wo eine Blutspendestation und eine Sushi-Verkostung, gleichsam Rücken an Rücken lokalisiert auf langsam rotierender Drehbühne, angeboten (und symbolisch stärker als im wirklichen Leben miteinander verschränkt) werden sollen (Abb. 1). Die teils tribünenartige, teils abschirmende, teils die Welt medizinischer Dienste wachrufende, offen zylindrische Begrenzung als Wartebereich für gewillte Partizipienten wird dabei zum schwachen, aber kontinuierlichen Nachhall der im Zentrum angeschlagenen Sprache. Das Surrounding bzw. Setting dieser Installation steht mithin, wie beim
Selbstkuratierung I 235
Theater, in einem Ausstattungsverhältnis zur Einlage, zum Inneren, zum Kern des Anliegens. Wobei man der Genauigkeit halber erwähnen sollte, dass das auf dem wirklichen Theater eingesetzte Bühnenbild – wo es sich seiner dienenden Aufgabe noch nicht zugunsten postdramatischer Emanzipation in ein ‚theatrales Objekt‘ entledigt hat – dem Spiel Lokalisierung, Atmosphäre, mitunter Wandlung, stets aber Hintergrund geben soll. Im unübersehbaren Unterschied zur filmischen, der Spielhandlung auf Schritt und Tritt gleichziehenden Szene wirkt ein solches Bühnenbild symbolisch überhöht, naturalistisch oftmals nur angedeutet, lässt es Motive des Stückes im Zuschauer anklingen. Der alte, von modernen und jüngeren Vertretern des Faches freilich verschmähte Begriff der ‚Theaterdekoration‘ trifft daher zwar nicht alles, aber vieles von dem, was vom Bühnenbild zu erwarten ist, übrigens auch und gerade von jenen puristisch entleerten Bühnenräumen, die mit jeglicher Illusion und jeglichem Schmuck abgerechnet haben wollen: Während der ornamentale Rapport einer gekachelten wirklichen Küche niemandem mehr auffallen dürfte, würde er auf der Bühne überaus bedeutsam – so wie noch auf unfreiwillige Weise in funktionalistischen Tiergehegen, bei denen man sich ja immerzu fragt, wie der Affe mit dem Raster des ihm auferlegten Lebenshintergrundes zusammengehen könnte. Wer nun argumentieren würde, das Bühnenbildnerische einer Installation sei doch gegebenenfalls gar kein Makel, dem würde ich recht geben. Allerdings attestiert die heutige Kunsttheorie und -geschichte der Installation das Bühnenbildnerische entweder nur dort, wo es seitens des Künstlers explizit gesucht wurde, wie vielleicht bei Kabakov, oder es ist damit nur jene ‚theatricality‘ im Sinne Michael Frieds gemeint, die bekanntlich auf etwas völlig anderes zielt.3 Zum Selbstverständnis der Installationskünstler gehört das dergestalt prototypisch Bühnenbildnerische jedenfalls kaum, und sie würden eine Diagnose als unschmeichelhaft empfinden, derzufolge ihre Werke im Wesentlichen funktionierten als Hinterlegung des Eigentlichen mit Uneigentlichem. Bei aller Liebe, die manche fürs Parergonale aufzubringen gewillt sind, passt es doch keineswegs in die Rhetorik von Installationskunst, dass sie statt eines tendenziell an jeder Stelle evokativen, sinnträchtigen, ästhetische Erfahrung provozierenden Gebildes eher etwas hervorbringt, das hinsichtlich seiner Anordnung, der in ihm unterschwellig wirksamen Hierarchie von Kern und Mantel, von bedeutsamem Anliegen und Garnierung, gar nicht sonderlich anders funktioniert als jener alte Plunder vormoderner und antimoderner Sinn-Ensembles, von dem eingangs die Rede war. Freilich könnte man sich fragen, warum es anders funktionieren sollte, wo es doch bei einem gehörigen Teil von Installationen, wir können jetzt auch Projektkunst hinzunehmen, darum geht, in irgendeiner Weise mit den Betrachtern zu interagieren. Und einerlei, ob es sich nun um die eher orthodoxen, seinerzeit angestrengt auf Praxisrelevanz erpichten Beispiele einer ‚Kunst als Dienstleistung‘ handelt, wie man sie aus den 1990er Jahren kennt, oder ob die interaktionistisch-partizipative Agenda sich ins Anspielungshafte sublimiert hat wie in unserem jüngeren Beispiel – wo sie es mit der gemimten wie mit der modellierten oder der paraphrasierten Sphäre der Kommunikation aufnimmt, kann auch die Kunst nicht mehr ‚mit der Tür ins Haus fallen‘. Stattdessen lässt sie sich ein
236 I Christian Janecke
auf Kernbereiche, in denen es um etwas geht, und auf Peripherien bzw. Höfe, in denen die Betrachter entlastet sind von der Dringlichkeit des jeweils Thematisierten. Dabei bleibt es eine Frage der aktuellen Richtung eines Betrachterimpulses, ob man also gerade im Begriffe ist, solch ein Werk in Erfahrung zu bringen und dessen Peripherien als Vestibül, also als Einstimmung erlebt, oder ob man sich eher bereits schon wieder aus der Sphäre des Werkes herausstiehlt und daher nurmehr den Nachhall, die Ausschmückung, in gewissem Sinne die Ornamentalisierung seiner Botschaft vernimmt. Bislang herausgearbeitet wurde, dass und wie es ausgerechnet innerhalb von Werken der jüngeren Kunst zu Verhältnissen von Kern zu Mantel, von geballtem Anliegen zu dessen quasi ornamentaler Verdünnung in umgebendem Kranze kommt, wie sie eher in außerkünstlerischen bis kunstindifferenten Sphären älterer Zeit vorherrschten. Dass das tatsächlich einigermaßen paradox ist, wird klarer, wenn man sich nur vor Augen hält, dass etwa Theorien vom White Cube4 ja geradezu vom Gegenteil ausgegangen waren, von einer um jeden Preis ablenkungsfreien Umgebung, die es dem Kunstwerk erst erlaube, relativ zu dieser puristisch neutralisierten Sphäre seine jeweilige Botschaft zu entfalten; oder wenn man die notorische Rahmenlosigkeit moderner und jüngerer Kunst in Betracht zieht, derzufolge Abgrenzung zum Außen, Überleitung bzw. Vermittlung zu diesem Außen, schließlich Schmuck (also all das, was ein Rahmen, allgemein gesprochen, leistet5) offenkundig als überflüssig erachtet wurden: Wie es scheint, sind aber sowohl die Neutralisierungen besagten White Cubes als auch die Rahmungen einfach migriert bzw. deriviert in die Werke selbst. Und damit sind wir bei dem Phänomen angelangt, um das es im Weiteren gehen soll, nämlich bei der von mir sogenannten ‚Selbstkuratierung‘6 – und der Rolle, die ornamentalisierende Effekte dort spielen. Doch was meint zunächst diese Neuwortschöpfung? ‚Selbstkuratierung‘ könnte heißen, dass Künstler heute den Kuratoren das Heft aus der Hand nehmend (oder aus der Not des Nicht-ausgestellt-Werdens die Tugend des Sich-selbst-Ausstellens machend) dazu übergehen mussten, sich selbst öffentlichkeitswirksam darzubieten; dass sie zusehends ihr eigener (Produzenten-)Galerist, Website-Gestalter, Agent und Kritiker wurden – von der Ankündigung bis zur Dokumentation, von der Terminabstimmung bis zur wirklichen Ausstellung. Doch geht es mir statt um solche Selbstsorge heutiger Künstler um eine merkwürdige Praxis der Kunst selbst, die nun in plausibilisierender Wirkung (und nur mitunter auch Absicht) ihr Inneres nochmals in Light-Version als Nahumgebung oder als eigene Peripherie hervorbringt. Um auch hier ein drohendes Missverständnis zu vermeiden: Nicht gedacht ist an jene Integration der Rahmenbedingungen eines Werkes in das Werk selber, wie sie im Zuge einschlägiger Kontextkünste seit langem diskutiert wurde: von Peter Weibel7 oder zuvor schon und mit Blick auf die autorisierende Kraft einer Institution von Arthur C. Danto8, anders bei Brian O’Doherty9. Und auch nicht gedacht ist an jene von Institutionskritik beseelte Kunst der 1990er Jahre, die Applaus einstreichend jene Hand biss, von der sie gefüttert wurde; und auch nicht an David Joselits neuerdings prominent gewordene Forderung einer ihre Rahmenbedingungen gleichsam mit malenden, erst darin legitimen Malerei.10
Selbstkuratierung I 237
Statt all solcher wie auch immer selbstreflexiv sich hervortuender Unternehmungen der Kunst, in denen es ja tendenziell gerade um die Thematisierung, das Aufzeigen von vorzugsweise institutionellen, ideologischen und seltener auch medialen Rahmenbedingungen geht, fasse ich unter ‚Selbstkuratierung‘ die gewissermaßen affirmativ alltägliche Variante eines wie selbstverständlichen Profitierens von solchen Rahmenbedingungen – und eben nur von solchen, die als direkte, dem jeweiligen Werkagens affine Nahumgebung bzw. Peripherie beschreibbar wären, die ihm als sein ‚Hof‘ zugehören, die den Kern des Werkes nicht kompromittieren, sondern ihm lieber schmeicheln, nämlich prinzipiell nicht anders, als ich es eingangs an Beispielen antimoderner oder von der Moderne unberührter Einlassungen der Kunst in präludierende Szenarien geschildert hatte. Das kann, um jetzt beim Medium der Installation zu bleiben, mit buchstäblicher Ornamentalisierung oder Musterbildung einhergehen. Mitunter besteht eine Installation fast nur daraus, wie man es allzu gut kennt von Yayoi Kusamas zur regelrechten Immersion ins Ornamentale einladenden Räumen seit den 1960er Jahren und noch bis hinein in jüngere Zeit.11 Doch gibt es in solchen Fällen, die etwas von einer begehbaren Allover-Struktur haben, freilich gar nichts mehr, wofür das Ornament sein Amt versieht – die uns interessierende Konstellation der Selbstkuratierung entfällt. Anders hingegen bei den tapezierten Wandhintergründen des ehemals Leipziger, jetzt Berliner Künstlers Tilo Schulz, die dann im rechtwinklig gerasterten Rapport komplementärfarbig zur orangefarbigen Wand oder in lockerer Kreisscheibenverkettung immer wieder den jeweiligen Serientitel – body of work: the ideal exhibition. category: painting oder poster design – vorweisen (Abb. 2). Jeweils im Vordergrund einer solchen Szenerie findet sich dann gerne ein für mehrere Nutzer kompartimentierter Arbeitstisch nebst beigestellten Stühlen, oder es laden eckenabgerundete Sitzpostamente im Ambient-Look die Betrachter alias Nutzer dazu ein, sich mit der im Werktitel jeweils indizierten Kategorie zu beschäftigen. Die Frage, warum eine solche ganz im Geiste der 1990er Jahre die Vermittlung bestimmter Kategorien und Topoi der Kunst thematisierende, teils sie institutionskritisch erörternde Arbeit just einen durchmusterten Hintergrund braucht, wird bezeichnenderweise nie gestellt. Wohl, weil die Ant-
2 Tilo Schulz, body of work: the ideal exhibition, category: poster, design, 1999. Installationsansicht Kunsthalle Bremen, Courtesy Dogenhaus Galerie Leipzig
238 I Christian Janecke
3 Navin Rawanchaikul, Pha Kao Mar on tour, 1997–2001. Installationsansichten 2. Berlin Biennale 2001/ Treptowers
wort uns zu der Einsicht führen müsste, wie erstaunlich altbacken die persuasio hier verläuft. Ausgerechnet Arbeiten, in denen die Herantretenden sich unter dem Leitbild einer esthétique relationelle als diskursfreudige Nutzer ernstgenommen fühlen dürfen, verfahren mithin ungeniert nach denselben Anordnungsprinzipien wie einst Hyacinthe Rigauds Darstellung Ludwigs XIV. (1712), wo die politisch jedermann verständliche Symbolik auf umgebenden Draperien ganz ähnlich funktionierte – nur dass bei Tilo Schulz der Platz des Souveräns vakant geworden ist für willige Mitmacher. Ein weiteres Beispiel für das hier interessierende Phänomen gäbe die zur Berlin Biennale 2001 in den Treptow Towers gezeigte Arbeit des Thailänders Navin Rawanchaikul, deren Titel Pha Khao Mar on tour sich auf jenes karierte, hierzulande eher an Küchenhandtücher erinnernde Tuch bezog, welches die Besucher nicht nur von einer Palette wegund auf ihre eigenen Reisen mitnehmen durften, sondern von dessen reichhaltigen Nutzungsmöglichkeiten als Lendenschurz, Kletterhilfe, Rucksack, Sporthose, Hut, Sieb, Bett-, Unter- oder Reizwäsche auch Videos im Innern dieser Arbeit kündeten (Abb. 3). Dieses Innere wurde gebildet durch ein nahezu quadratisches, unter eine Empore bescheiden eingezogenes Zelt, zusammengenäht aus den nämlichen Tüchern – wofür letztere ja eigentlich gar nicht vorgesehen waren. Wozu also dieser Selbstbezug? Offenkundig, um mittels
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einer gewissermaßen Pha-Khao-Mar-artigen Raumhülle all die thematisierten Nutzungsvarianten als entschwertes Echo nachklingen zu lassen. Die von Georg Simmel12 einst und eher mit Blick auf das, was hinter ihm lag, denn mit Blick auf das Kommende betrachtete Aufgabe des Rahmens – Trennen, Vermitteln, Schmücken – ist es, die hier, wenn auch nun in temporär räumlicher Umhüllung, auf geradezu einschlägige Weise wiederkehrt. Und so wie der Rahmen dem, der auf ein Bild bereits sich eingelassen hat, nach konservativem Verständnis unbehelligte Schwelgerei vergönnt und zugleich noch Unentschlossene einlädt, seine Schwelle zu überschreiten – nicht viel anders ist es bei Rawanchaikul das Untersichsein derer, die das Zelt bereits betraten und nun dank Selbstkuratierung ganz unter Auspizien dieser Arbeit ebendieser Arbeit begegnen, dem sich die Näherungsmöglichkeit der erst noch Herantretenden beigesellt, derer also, die noch nicht in the know agieren. Mitunter ist Selbstkuratierung etwas, von dem nicht ohne weiteres klar ist, ob es sich um einen künstlerischen oder kuratorischen Eingriff handelt. Wenn beispielsweise auf der Berliner abc (2013) Ryan McGinley seine neuromantisch jugendkulturellen Fotosujets in ein Patchwork vergleichbarer, nun aber eher dem Ganz- oder Halbfigurenporträt verpflichteter Nackedeis einbettet, so ergibt erst die Nachfrage, dass dieses Schüren von Aufmerksamkeit nicht auf das Konto der Frankfurter Galeristen von Bischoff Projects geht, sondern vom Künstler selbst inszeniert worden war. Interessanter-, wenn auch nicht paradoxerweise sorgte die explizitere, da nahansichtig porträthafte Nacktheit dieses Fototapeten-Hintergrundes dafür, dass relativ dazu die von ihm gerahmten Szenerien schon fast wieder prüde wirkten. Hier könnte man sagen: Gerade nochmal gut gegangen, weil immer noch der Künstler Regie führte. Indessen ahnen wir, dass dort, wo das uns interessierend ungeniert Ornamentale einer dem Kunstwerk affirmativ huldigenden Nahumgebung etwas ist, das nicht nur Autonomie- und Kritisierbarkeitsmaximen über Bord wirft, sondern zugleich auch die moderne Vorstellung vom Künstler als eines Gegenübers. Vielmehr dürfen und sollen dort dann alle an einem Strang ziehen, will uns das Phänomen der Selbstkuratierung also zurückgeleiten in jene konzelebrative Haltung, von der man am wenigsten geglaubt hätte, sie passe noch zur jüngeren Kunst. Erinnern wir uns, was dies betrifft, zunächst an die von Udo Kittelmann 2009 verantwortete Thomas Demand-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie, an die dort vorgenommene Thematisierung bundesrepublikanischer Ikonen, d. h. genauer jener erstaunlich schlichten bis schäbigen Orte, an denen zeitgeschichtlich, politisch Wichtiges oder vielleicht auch nur ein seinerzeit empörendes Verbrechen geschehen war (Abb. 4). Dabei nun wartete Demands Werk uns nicht allein mit den für ihn kennzeichnenden Raffinierungen auf: dass alles ‚echt‘, also analog und riesig und ganz scharf fotografiert war, aber das Fotografierte, wie man ja wusste, sich doch nur auf zuvor minutiös gebastelte (und hinterher mit Bedacht entsorgte) Pappmodelle bezog, und dass man Botho Strauß höchstpersönlich dazu hatte bringen können, tiefsinnige (oder auch nur tiefergelegte) Sentenzen, bedachtsam dargeboten in Vitrinen, beizusteuern. Damit nicht genug, hing nämlich nun ein Großteil der Arbeiten vor riesigen Wänden aus dickem Vorhangstoff, der bis zur Decke reichend die Ausstellung hinterlegte und raumaufteilerisch gliederte. Dieser Vorhang-
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4 Thomas Demand, Nationalgalerie, 2009. Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie, Berlin
stoff, an eine unbeschreibliche Mischung aus bundesrepublikanischem Mief von Bürgerhaus-Theater und ein wenig auch an ‚Bonner Bühnen der Politik‘ erinnernd, konvenierte in seinen faktisch bloß reliefhaft sich erstreckenden, jedoch per Kehle und Wulst kraftvoll intonierten Tiefenräumlichkeiten durchaus den Effekten, die sich innerhalb der Bildwelten Demands dann ja auch immer wieder einstellen. Und insofern könnte man bereits auf dieser Ebene von einem weiteren und prominenten Beispiel gelingender Selbstkuratierung sprechen. Es handelte sich ja keineswegs um jene Art ‚Große-Oper‘-Vorhänge à la 1980er Jahre, die sich mit Tusch wegziehen oder lüften ließen oder Entsprechendes wenigstens signalisierten, sondern um Vorhänge, die gleich einer extrem reliefierten Tapete längst zum Muster von Vorhanghaftem geworden waren – und die genau damit die Rolle eines plausibilisierenden Atmosphäre-Gebers aufspannten, ohne sie zu überspannen. Bleiben wir jetzt bei Thomas Demand, und sogar bei Vorhängen, allerdings ganz anderen, die er zwei Jahre später für das Frankfurter Städel Museum realisierte, genauer für den alten Metzler-Saal als Ort und gewissermaßen riesigen Bildträger dieser Arbeit. In etwas betulicher Schlichtheit soll der Titel Saal (2011) wohl anzeigen, dass hier die Funktion einer solchen Räumlichkeit überhaupt Thema wird (Abb. 5); zugleich schwingt die Anspielung auf
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5 Thomas Demand, Saal, 2011. Installationsansichten Metzler-Saal. Städel Museum, Frankfurt am Main
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repräsentative Funktionen mit, zumal wo in diesem historischen Festsaal des Städel die geldstarke Frankfurter Großbürgerschaft ihr mäzenatisches Stelldichein hat. Wie der Eintretende, der es nicht schon zuvor aus der Presse erfahren hat, rasch bemerkt, sind die hohen Wände dieses Saales nicht wirklich mit Vorhängen bedeckt. Vielmehr hat man diese Wände, mit Aussparung der Fenster und Türen, auf applizierter Plattenverkleidung nach Art eines Trompe-l’œil mit lebensgroß fotografisch dargestellten Vorhängen versehen, realisiert im Transferdruck auf Kunstfaser. Ein Blick nur schon auf die unteren Kanten und Ecken zeigt, was wir, an René Magritte geschult, an Thomas Demand eben so lieben sollen: Obwohl es kein Vorhang ist, ist es doch echte Fotografie; obwohl nur das Modell eines Vorhangs abfotografiert wurde, wirft es doch einen echten dunklen Schlagschatten aufs Parkett, usw. Doch was oder wen genau schmückt dieses vertikal strukturierte Vorhang-Ornament, wo es ob seiner kühlen Medialität doch kaum dazu angetan ist, etwaigem immersiven Begehren stattzugeben? Meines Erachtens ist das hier niemand anderes als die festliche Besucherschar selbst, zu der das Vorhang-Rundum in ein Ausstattungsverhältnis tritt – nämlich genauso, wie man es von einem von des Gedankens Blässe noch nicht angekränkelten Konzept für einen Festsaal erwarten dürfte (und wie es sich, wir sahen es, oftmals in künstlerischen Installationen wieder zeigt als ein Verhältnis der Wände zu einem thematisch versiert auftretenden Innern). Mit anderen Worten ist Gegenstand der hier vorgenommenen Selbstkuratierung größten Stils weder ein Kunstwerk noch der Nukleus eines solchen, sondern das Publikum. Genauer gesagt sind es die Mitglieder jenes Städelschen Museumsvereins, der im Übrigen auch Auftraggeber und Besitzer dieser Arbeit ist. Ein veritabler Schachzug: Denn so lässt sich repräsentativer Pomp in neoaristokratisch purpurnem Velour zugleich ausüben und ostentativ in konzeptueller Pointe brechen. Wer nur ansatzweise der Meinung ist, meine Deutung verfahre zu streng oder sozialneidisch, der begebe sich im nämlichen Haus wenige Meter weiter in das Vestibül vor der großen Treppe in den unterirdischen Neuanbau für die Gegenwartskunst. Gewiss nicht zufällig sieht man sich dort – nun als alltäglicher Besucher mit Tages- oder Jahreskarte – in Empfang genommen durch eine Selbstkuratierung der fürwahr etwas gröberen Art: John Armleders Mosaic Mirror Wallpiece (1991) wurde dort eigens für die 2012 neugeschaffene Raumsituation modifiziert (Abb. 6), um nun alle Vorbeiflanierenden in ein Mosaik eckiger Spiegelfragmente zu zerlegen – das auf uns heutige Digitalgeprüfte ein wenig wie riesige Pixel à la Angela Bulloch oder Sarah Morris wirkt, und das doch jenen alten DiscokugelCharme versprüht, der seinerzeit, Anfang der 1990er Jahre und allemal für den RevivalModus heutiger Rezeption genug Trash-Faktor aufgebaut hat(te), um als kunstwürdig durchzugehen. Die glamouröse Funktion des gewaltigen Musters aus kleinen quadratischen Glasspiegelchen ist dann freilich nicht nur eine des Schmückens; sie ist, im Zeitalter von Betrachterpartizipation auf allen Kanälen, auch eine der Gewährung von Bildteilnehmerschaft für ankommende Otto Normalverbraucher im Museum. Doch wie? Man erinnere sich des Vergleiches halber nur an John McCrackens Verspiegelung des Entrées im Kasseler Fridericianum zur documenta 12 (2007). Laut Auskunft der dort
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6 John Armleder, Mosaic Mirror Wallpiece, 2012, Installationsansicht Städel Museum, Frankfurt am Main
bestallten jungen Ausstellungsführer war es ja das hehre Anliegen dieser Arbeit, den Eintretenden, die partout nur sich selbst nebst Scharen weiterer Besucher farblich leicht gedimmt im Spiegel wiederfanden, schlagartig vor Augen zu führen, es ginge vor allem um sie selbst. Und dabei lassen wir jetzt einmal offen, ob dort eher am kollektiven Mittendrinsein sich berauscht oder ob doch Reflexion über das von uns unhintergehbar selbst zu Investierende ästhetischer Erfahrung angestachelt wurde. Im Unterschied dazu nun geht es bei der Re-Inszenierung von Armleders Arbeit dann doch profaner zu. Ihre Sache ist weder die in Kassel aufgebrachte Pfingstbewegung noch jene ältere und derbere Art einer Exponierung der Betrachter, die man mit dem einst von Warhol vorgedachten kurzfristigsten Berühmtsein (zeitlich) oder der von Erwin Wurm et alteri angebotenen kurzfristigsten Heraushebung des Besuchers aus dem Pulk aller Übrigen (räumlich) verbinden könnte. Vielmehr haben wir es hier mit einer unablässigen Präsenz wechselnder Besucher als perzeptuell faschierter zu tun: Dergestalt verschont von der Zumutung gespiegelter eigener Individualität wie auch derjenigen der Anderen, verbürgt ausgerechnet das Muster, genauer erst die Musterwerdung, die Kommunion des Publikums mit der Kunst. Selbstkuratierung heißt dann zwar, dass nicht länger bloß der Kern oder Inhalt eines Kunstwerkes seinen plausibilisierenden Resonanzhof erhält, sondern nun auch wir als Museumsgänger – doch eben nurmehr im Modus jener Art von Empfangenwerden, welches ein jeder dann leider kaleidoskopisch sich selbst bereiten muss.
Anmerkungen 1
Christian Janecke: Maschen der Kunst. Springe 2011, hier der Eintrag ‚Traduktionismus‘, S. 198– 207.
2
Hans Sedlmayr: Die Revolution der modernen Kunst. Hamburg 1955, S. 34.
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3
Vgl. hierzu die unübertroffene Diskussion der Thesen Frieds (Art and Objecthood, 1967) bei Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main 2003, S. 40–78.
4
Brian O’Doherty: In der weißen Zelle/Inside the White Cube. Hrsg. von Wolfgang Kemp. Berlin 1996.
5
Man denke an Gottfried Semper (Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Frankfurt a. M. 1860) oder auch an Georg Simmel, der das schmückende Moment allerdings auf den Spielraum von Ein- und Abgrenzung einschränken will (Georg Simmel: Der Bildrahmen – Ein Ästhetischer Versuch. In: Der Tag. Nr. 541, 18. November 1902 (Berlin). URL: http://socio.ch/sim/verschiedenes/1902/bildrahmen.htm [16.07.2014]).
6
Vgl. Janecke 2011 (Anm. 1), hier den Eintrag ‚Selbstkuratierungskunst‘, S. 181–185./Christian Janecke: Selbstkuratierung, Ausstattungsverhältnisse, Bei-sich-bleiben. Über einige in Vergessenheit geratene und einige neuerliche Gepflogenheiten der Malerei. In: The Happy Fainting of Painting. Ein Reader über zeitgenössische Malerei. Hrsg. von Gunter Reski/Hans-Jürgen Hafner. Köln 2014, S. 68–72.
7
Kontext Kunst. Ausst.Kat. Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz. Hrsg. von Peter Wei-
8
Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen: eine Philosophie der Kunst. Frankfurt a. M.
bel. Köln 1994. 1991. 9
Vgl. Doherty 1996 (Anm. 4).
10 Vgl. David Joselit: Painting Beside Itself. In: October, 130, 2009, S. 125–134; dazu kritisch Janecke 2014 (Anm. 6). 11 Vgl. z. B. Yayoi Kusama: Dots Obsession, Consortium Dijon 2000. 12 Vgl. Simmel 1902 (Anm. 5).
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Martina Dlugaiczyk
Surrogate Cities* in China und Europa Stories about Musterhaus, Musterland, Mustervorlage, Mustertheorie, Mustersammlung, Mustermann ... Täglich werden Schwäne und Enten zum Gründeln positioniert, Bäume und Sträucher gerichtet, Berge versetzt und Leitsysteme in Gold gehüllt. Die Idylle muss perfekt sein. Dafür werden der Marktplatz mit zünftiger Blasmusik untermalt, die Geranien gerichtet, das Dirndl geschnürt. Hallstatt heißt der Ort, China das Land. Das malerische Setting stellt eine Kopie des achthundert Einwohner zählenden Alpendorfes in Österreich dar, welches zusammen mit dem Dachstein und dem Inneren Salzkammergut seit 1996 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Gleichermaßen pittoresk wie gedrängt am Berg gelegen, mit zum Teil auf Pfählen im See gebauten Häusern und der Haupterschließung mittels Schiff bot Hallstatt mit einer Gesamtfläche von nur knapp sechzig Quadratkilometern beste Voraussetzung für eine Kopie. Dafür streiften mehrere Monate chinesische Touristen quasi in geheimer Mission durch die Gemeinde und fotografierten Details, machten Skizzen und vermaßen Häuser, das Gefälle der Gassen, die Landschaft, den See. Zusammengeführt ergaben die Daten erst ein Modell, dann Hallstatt 2.0 (Abb. 1). Für diese Form der Realität, die Mitte
1 Sebastian Acker & Phil Thompson, Hallstatt, China, Film Stills, 2012
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2012 nach nur einem Jahr Bauzeit ihrer Bestimmung übergeben wurde, verausgabte der staatseigene Stahlkonzern China Minmetals, der auch auf dem Immobilienmarkt tätig ist, umgerechnet 650 Millionen Euro. Bislang ist jedoch nur eines der Gebäude, das Musterhaus, zu besichtigen.1 Ziel ist, Hallstatt bzw. Wukuang Hashitate – so lautete die chinesische Bezeichnung des Bauprojektes – als exklusive Wohnanlage, als gated community zu etablieren. Ort, Berg und See stellen somit ein Luxusviertel der boomenden Kreisstadt Boluo in der südchinesischen, stark von Industrie und Brachflächen geprägten Provinz Guangdong dar. In Österreich reagierte man auf diese Form der Aneignung mit Befremden, gleichwohl der Pressesprecher von Minmetals beschwichtigte, Hallstatt hätte rein als Mustervorlage gedient, letztlich „sei es eine hochwertige Wohnanlage, die sich an der typisch österreichischen Architektur anlehnt“2. Die Wahl und Vermarktung westlicher Architekturen im asiatischen, insbesondere im chinesischen Raum dient dabei vornehmlich der Inszenierung einer als fortschrittlich empfundenen Lebenswelt. Demnach verbindet sich mit dem Begriff des Musters, der Mustervorlage Form und Inhalt. Gemeint sind nicht nur die Strukturen des mehrfach kodierten Raumes respektive der gebauten Umwelt, sondern ebenso die sich mit den Vorlagen verbindenden Werte – quasi das Tugend- und Musterhafte. Bereits im Grimm’schen Wörterbuch wird ein Muster als „was man zeigt“ definiert und von „ital. mostra, franz. monstre, später montre“ abgeleitet. „Das wort, seit dem 15. Jahrh. bei uns eingebürgert, [...] [meint] die eines zur schau und zur probe vorgezeigten stückes, einer kunstgewerblichen arbeit, nach der man andere liefern konnte.“3 Ferner verweisen die Gebrüder Grimm über die vornehmlich aus Frankreich und Italien kommenden musterbildenden Vorgaben auf die „abhängigkeit vom ausländischen geschmack“4. Der Musterbildung haftete also von jeher eine gesellschaftspolitische und bisweilen eine nationale Komponente an. An die dem Muster eigene Reproduzierbarkeit bindet sich zudem ein Verbindlichkeitsanspruch – vor allem im gewerblichen Rahmen. Potenzielle Kunden können somit davon ausgehen, dass die bestellte Ware mit dem Muster – „welches zur Kopie dient“ – identisch ist.5 Dies ist insofern für den chinesischen Raum von Bedeutung, da ein Großteil der anvisierten Klientel Hallstatt/Österreich nicht kennt – nun aber kennenlernen will. In ihrer Funktion als Träger von kulturellem Wissen stärkt somit die Kopie das Original. Dass vermeintlich Paradoxe dabei ist, dass in China der Begriff der Kopie nicht negativ besetzt ist, da dem Original nach traditioneller Vorstellung eine Prozesshaftigkeit innewohnt. Analog dazu kann auch die Kopie nicht statisch sein. Dafür steht etwa der Begriff shanzhai, der übersetzt Bergdorf bedeutet und Bezug auf eine überlieferte Geschichte nimmt, in der Banditen Waren von den Reichen stahlen, um Arme damit zu unterstützen. Dieser Subtext unterliegt der Shanzhai-Kultur bis heute, wenngleich unter gänzlich anderen Bedingungen. Wichtiger ist indes, dass die Vorlagen keineswegs nur imitiert, sondern erweitert und damit gleichsam verbessert bzw. massenkompatibler gemacht werden.6 Das gilt nicht zuletzt auch für das Bergdorf österreichischer Prägung, dennoch gilt es als mustergültig. Nicht unerheblich dürfte dabei das Label UNESCO-Weltkulturerbe sein. Mediale Aufmerksam-
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keit erhielt das Bauprojekt durch die Protestwelle, die „Hallstatt. Das Original“ – so der aktuelle Werbeslogan – durchlief.7 Vorwürfe von Architekturspionage, Fälschung bis Raub-Bau, um nur einige Schlagworte zu nennen, oszillierten im alpinen Raum. Die Gegenseite reagierte hingegen mit Unverständnis und setzte den Bau fort. Prominentestes und gleichsam kuriosestes Beispiel dürften in der Diskussion um den Schutz des geistigen Eigentums die kopierten Baupläne der Stararchitektin Zaha Hadid sein. Es handelt sich dabei um eine Auftragsarbeit für das Immobilienunternehmen SOHO in Peking. Nun wächst die Kopie des drei Türme umfassenden Gebäudekomplexes in der MegaMetropole Chonqing derart rasant empor, dass die Kopie tatsächlich vor dem Original fertig werden könnte.8 Letztlich kann China bereits eine gewisse Tradition in Bezug auf copy towns vorweisen. Dazu gehört etwa das 2001 entwickelte Konzept One City Nine Towns. Shanghai als Megacity mit über 20 Millionen Einwohnern, Tendenz steigend, stellt dabei das Zentrum dar, von dem ausgehend neun Satellitenstädte entwickelt wurden, um das Wachstum der Stadt in die Region abzuleiten. Zudem schlugen die Planer als kulturpolitischen Ansatz vor, über die copy towns auf die koloniale Vergangenheit hinzuweisen. So entstanden Musterstädte und -siedlungen nach westlichem Vorbild. Während beispielsweise die britische Aktins Group für Thames Town verantwortlich zeichnete, verpflichtete man Albert Speer und Partner, obwohl sich diese gegen ein Klischee-Deutschland mit Fachwerkhäusern ausgesprochen hatten, für Anting German New Town. Das Konzept sah folgendes vor: „Wichtige städtebauliche Prinzipien und charakteristische Elemente deutscher Bautradition waren Basis für das vielfältige und nachhaltige Konzept. Multifunktionale Blockstrukturen, eine Funktionsmischung im Stadtzentrum, öffentliche Plätze und fußgängerfreundliche Straßenräume bestimmen das Stadtbild. Während fünfstöckige Gebäudeblocks die Hauptstraßen säumen, reduziert sich die Gebäudehöhe auf vier- und dreistöckige Strukturen innerhalb der Wohnblocks und zu den Siedlungsrändern. [...] Der von AS&P geplante und realisierte Anteil umfasst circa tausend Wohnungen, ein Ausstellungszentrum, eine ‚Muster-Siedlung‘ sowie ein 5-Sterne Business Hotel.“9 Damit ist in der Nähe von Shanghai eine deutsche Stadt entstanden, die nicht nur aussieht wie eine vermeintlich deutsche Stadt. Gleichwohl stehen auch hier das Branding und die Vermarktung kultureller Werte im Vordergrund. Unter dem Label Neues Bauen wurde bereits in China um 1900 eine „deutsche Musterstadt“10 angelegt – Tsingtau (chin. Qingdao). Es handelt sich dabei um eine Handelsstadt in der Provinz Shangdong, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1914 als deutscher Kolonial-Stützpunkt fungierte. „Die Hauptstadt, die einzige Stadt und der einzige europäische Wohnplatz in unserem Schutzgebiete ist Tsingtau, die grüne Insel.“11 Offizieller Baubeginn erfolgte mit Erlass der Bauordnung 1898, wobei ausschließlich deutsche Architekten, Baufirmen und Baustoffe zum Einsatz gelangten, während die Angestellten in der Mehrzahl Chinesen waren. Nach den ersten Prototypen entstand eine auf Repräsentation abzielende Stadt nach deutschen Vorbildern und stadtplanerischen Konzepten
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2 Tsingtau. Stadtansicht mit Christuskirche. Residenz des Gouverneurs. Landhäuser am Hohenloheweg. Strandhotel an der Auguste-Viktoria Bucht, 1902–1914
(Abb. 2). „Bei der Bebauung unseres Pachtgebietes in China hatte die Verwaltung erfreulicherweise alle Erfahrungen des zeitgemäßen Städtebaus und der Grundstücksnutzung zu Rate gezogen. Der Bebauungsplan von Tsingtau war deshalb ein mustergültiges Werk, das die Anerkennung aller Fachleute fand. Unter der Mitwirkung tüchtiger Architekten entstanden bald viele Privatbauten, die hier im fernen Osten als Zeugen der deutschen Wohnbaukunst sich mit allen Ehren zeigen konnten.“12 Sämtlichen Wohn- und öffentlichen Gebäudetypen ist dabei als neues Element die Veranda eigen, womit zum einen auf die klimatischen sowie hygienischen Bedingungen reagiert wurde und zum anderen es anscheinend galt, einen eigenen Tsingtau-Baustil zu entwickeln. Letzteres lässt sich etwa daran ablesen, dass es nicht wenige Schmuckveranden gab, die vom Gebäude aus nicht zu betreten waren. „Im Ergebnis zeigte sich Tsingtau bis 1914 einerseits als eine architektonische Inszenierung kolonialer Macht mit unverkennbar wilhelminischen Zügen, andererseits durch die großzügige und flächige Landhausbebauung als ein kleinstädtisches Idyll. Durch den Verzicht auf Übernahme chinesischer Bauformen innerhalb der ‚Europäerstadt‘ entwickelte sich keine eigenständige multikulturelle Architektursprache, sondern ein funktional-beschauliches Stadtbild, welches maßgeblich von aktuellen Tendenzen der baulichen Entwicklung in Deutschland geprägt war. Gegenüber China – aber auch gegenüber den anderen Kolonialmächten an der chinesischen
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Küste – wurde Tsingtau von seinen damaligen deutschen Bewohnern als deutsche ‚Musterstadt‘ verstanden, die eine Vorbildfunktion für weitere Stadtneugründungen und -erweiterungen erfüllen sollte.“13
Muster im Transfer In zeitgenössischen Berichten schwärmte man: „Tsingtau konnte die alte Heimat ersetzten“, da ein „‚blühendes deutsches Gemeinwesen‘ entstanden [war], ein ,perfektes, kleines deutsches Musterland‘ [...] – ein Musterlager deutschen Könnens“14. Dies bezog sich keineswegs allein auf die Architektur, vielmehr galt es auch das Interieur – seien es Stoffe, Möbel, Teppiche oder Geschirr – nach Mustervorlagen zu gestalten. Günther Plüschow, Oberstleutnant und Marineflieger, schrieb 1914 dazu: „Jetzt ging‘s an die Inneneinrichtung der Wohnung. Ich hatte eine ganze Anzahl von Bildern über Wohnungseinrichtungen aus der Kunst15, und mit diesen zog ich zu unserem tüchtigen Chinesentischler und bestellte danach eine Einrichtung, es ist geradezu erstaunlich, mit welcher fabelhaften Geschicklichkeit die Chinesen alles nachmachen können, und dabei in unglaublich kurzer Zeit und ganz besonders billig.“16 Neben diesen Dingwelten, die allesamt einer bestimmten Formvorlage folgen, versuchte man ferner – ähnlich wie in Hallstatt/China – sich die sozialen, ökologischen und kulturellen Faktoren, die für die Wahrnehmung eines Ortes oder Produktes bedeutsam sind, anzueignen. Während in der ursprünglichen Industriebrache durch den Aushub des Sees Berge entstanden, die, bis sie in ihrer Terrassierung begrünt sind, durch Planen mit Flora-und-Fauna-Motiven (Abb. 1) abgeschirmt werden, kreierte man in Tsingtau Sprachbilder. So notiert Paul Goldmann als Berichterstatter der Frankfurter Zeitung 1899: „Der Loschan hat [...] allen Anspruch darauf, ein deutsches Gebirge zu werden. Man könne an ein Stück der deutschen Alpen denken, das auf die Wanderschaft gegangen ist und sich in China niedergelassen hat.“17 Diesem Sinnbild deutscher Landschaft versuchte man frühzeitig mit gezielter Aufforstung zu begegnen. „Waldblumen duften zwischen den jungen deutschen Tannen, die erst in Mannshöhe um mich nicken.“ Um das ‚Bild‘ perfekt zu machen, wehte „der frische Seewind [...] den Klang von Militärmusik in meine Hügelwelt, ‚ich bin ein Preuße‘ jubelten die Instrumente“18. Diese Form der vermeintlich heimischen Geräuschkulisse praktiziert man auch noch ein Jahrhundert später in Hallstatt/China. Tsingtau ist zudem bis heute bekannt für sein vor Ort gebrautes deutsches Bier Tsingtao der gleichnamigen – ehemals Germania – Brauerei. Aneignungsprozesse in ihren heterogensten Ausformungen interessieren auch den französischen Künstler Cyprien Gaillard. 2011 präsentierte er in den KW Institute for Contemporary Art in Berlin eine raumgreifende Skulptur, bestehend aus 72 000 importierten und in Kartons verpackten Bierflaschen der türkischen Marke Efes (Abb. 3). Aufeinander gestapelt bildeten sie die gleichmäßigen Stufen einer Pyramide. Besitznahme und Einverleibung – also das Erklimmen der ‚Pyramide‘ und Trinken des Bieres durch das Publikum –
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3 Cyprien Gaillard, The Recovery of Discovery, 2011, Pappe, Glas, Metall, Bier. Ca. 12 x 8 x 4,25 m, KW Institute for Contemporary Art, Berlin
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zerstörten das ‚Monument‘ sukzessive.19 Die Marke Efes spielt dabei auf Ephesos und die dortigen Tempelanlagen an, die heute als Fragmente oder in Rekonstruktion über die Welt verteilt zu finden sind. Sinnreiche Analogien entstehen nicht zuletzt über die Bierflaschen, welche über den gesamten Ausstellungsort verstreut, nunmehr ohne Inhalt, abgestellt wurden. Zusammen mit der unmittelbaren Handlungsanweisung, nämlich der raumgreifenden und bis in das Oberlicht hinaufragenden Skulptur ganz konkret und zugleich im übertragenen Sinne habhaft zu werden, ist es Gaillards Anliegen, die Strukturen des Kolonialismus aufzuzeigen. Hier deutet sich bereits die Komplexität der Bezüge an. Gaillard, der sich in seinen Arbeiten wiederholt mit dem Umgang historischer Baukultur auseinandergesetzt hat, verweist damit auf das Prinzip des displacement respektive den historischen wie aktuellen Umgang mit dem Themenkomplex cultural heritage. „So untersucht er in seinen Arbeiten immer wieder die absurden Aspekte dystopischer Architekturen und verbleibender Ruinen, wobei stets der Prozess der Ausgangspunkt für seine Arbeiten ist.“20 Als Bonmot prangte auf der Einladungskarte allein und ohne weitere Hinweise das Signet der UNESCO. In welcher Form „Hallstatt/China“ die Delegation aus „Hallstatt. Das Original“ zur Eröffnung eingeladen hat, ist nicht bekannt. Der Transfer von Architekturen ändert die Geschichte des Ursprungsortes, sei es durch die Überführung von Architekturen oder Kulturdenkmälern in andere Kontexte oder durch neu generierte Wahrnehmungsmodi und Aneignungen. So folgte der Eröffnung in China der Boom in der Weltkulturerbe-Region Hallstatt-Dachstein-Salzkammergut. Laut zahlreicher Presseberichte haben sich die Prognosen bestätigt: Mit der Kopie steigt die Sehnsucht nach dem Original. Der Zustrom von Touristen aus dem asiatischen Raum in die Idylle stieg um etwa fünfzig Prozent. Hallstatt reagiert, schult sich im Umgang mit asiatischen Gästen, die ihrerseits nicht selten in (vermeintlich) österreichischer Tracht den Kulturraum bevölkern. Sie versuchen sich in das Bild einzuschreiben und konstruieren es zugleich. Geschäftsideen wie etwa das Dirndl to go begünstigen diese Form des Transfers.21 Die Frage, was nach den copy towns samt rücklaufendem Massentourismus übrig bleibt und in welcher Form, hinterfragt auch Gaillard kritisch mit seiner Skulptur The Recovery of Discovery. Sinnreich überließ er es den Ausstellungsbesuchern, wo sie die von ihnen geleerten Efes-Bierflaschen abstellen wollten. Erst das daraus sich entwickelnde inhaltsreiche Bild Form ohne Inhalt vollendet die auf Performanz angelegte Skulptur in ihren mehrschichtigen Bedeutungsebenen. „Eine Kopie ist kein Betrug, ein Faksimile keine Fälschung, ein Abguss kein Verbrechen und eine Rekonstruktion keine Lüge. Über Jahrhunderte basierte die Ausbildung von Künstlern und Architekten auf dem Kopieren von Mustern und Vorlagen und die Entwicklung von Kunst und Architektur vollzog sich über Nachahmung, Anpassung, Zitat und Wiederholung.“22 Dass das Kopieren von architektonischen Mustervorlagen in China, wo den copy towns immer die Idee unterliegt, in mehrfacher Weise reproduzierbar zu sein, im Transfer jedoch nicht gänzlich gelingt, zeigen die Beispiele Tsingtau, Anting New Town und Hallstatt.23 Obwohl die Auftraggeber bzw. Bauherren überaus heterogen – Deutsch-
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land als Kolonialmacht, chinesische Staatsmacht in Kooperation mit einem deutschen Architekturbüro sowie ein chinesischer Großkonzern – und somit keineswegs einseitig motiviert sind, bleiben die Städte nahezu unbewohnt. Anting New Town seit nunmehr über einem Jahrzehnt. Die Liste der, um es auf die Spitze zu treiben, Musterstädte mit Musterhaus für Familie Mustermann ließe sich fortsetzen, etwa um die in der Nähe von Chengdu entstandene British Town, die das englische Dorchester kopiert. Dabei ist allen Städten eigen, dass sie als Bild funktionieren, mehr noch als Bild vom Bild, da sie beliebte Kulissen für Hochzeitsfotos darstellen. Aneignungsprozesse, die sich im Bewohnen und Beleben der Architektur ausdrücken, finden nicht statt, die Form bleibt ohne Inhalt. Um lebendige Systeme zu schaffen, hat der in Wien geborene und in den USA lebende Architekt, Philosoph und Systemtheoretiker Christopher Alexander die sogenannte Mustertheorie entwickelt.24 Dahinter steht die Idee, jedes Element – sei es der Natur, der Kunst oder in besonderem Maße der Architektur entnommen – nach dessen jeweiligem Ordnungsgefüge zu befragen, um nachfolgend „das Gemeinsame und das Unterscheidende all dieser Gegenstände und Strukturen [verstehen zu lernen]. Was ist dem Blatt, der Buddhastatue und der Alhambra gemeinsam? Wie sind sie in ihrer Struktur und Funktion zu verstehen? Welche Eigenschaften sind ihnen gemeinsam? Aus welchen Prozessen entstehen sie? Zuletzt: Wie kann man dieses Wissen zur Gestaltung der Welt zusammenführen?“25 Bereits in seinem Buch A Pattern Language von 1978 stellte Alexander mehr als zweihundertfünfzig Architekturmuster vor, wobei er sich vornehmlich auf drei Hauptbereiche fokussierte: 1. Regionale und städtische Strukturen. 2. Vielfalt der Muster in Verbindung mit Gebäuden. 3. Konstruktionsdetails an und in Gebäuden.26 Muster gilt es demnach als modular zu verstehen. „Lebendige Systeme entstehen durch viele, oft Tausende von Einzelentscheidungen. Jede Entscheidung betrifft eine Transformation, oft die Anwendung und Adaptierung eines Musters.“27 Alexander definiert demnach ein Muster als Lösung für ein Problem in einem Kontext. Letztlich steht der prozessuale Anwendungszusammenhang im Vordergrund, den es mit den gegebenen Bedürfnissen und Funktionen abzugleichen gilt. In den copy towns hingegen wurden grundlegende chinesische Bauprinzipien missachtet, quasi die Muster nicht ausgelesen. So weisen in Anting die Fenster der Blockbauten vorwiegend nach Osten und Westen, während Chinesen Wohnungen mit Nord-Süd-Ausrichtung bevorzugen, da nach traditionellem Wertesystem etwa in den nach Süden orientierten Zimmern das Familienoberhaupt residiert. Hinzu kommt die offene WohnblockStruktur, während die chinesischen Hofhaus-Anlagen organisatorisch wie architektonisch nach innen gerichtet sind. Hierin liegt ferner die ungeheure Popularität der gated communities begründet. Nicht der Sicherheitsfaktor – wie etwa in den USA – sondern die „abgeschlossene Nachbarschaft“ – so die chinesische Übersetzung des Begriffes Wohnanlage – steht dabei im Vordergrund. Hallstatt wird es kein zweites Mal in China geben, aber der Bauboom im copy townSegment wird aller Voraussicht nicht abebben. Letztlich gilt es entgegen der westlichen
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Interpretationsmuster, Hallstatt als ‚historischen Stadtkern‘ zu begreifen, um den sich in konzentrischen Kreisen angelegt, die eigentlichen, ganz auf die Bedürfnisse der chinesische Klientel ausgerichteten Wohnquartiere befinden.28 Damit ist man wiederum sehr nah an der urbanen Struktur deutscher Städte, in denen man im Zentrum im besten Falle flaniert, einkauft, schaut, bestaunt, aber nicht wohnt. In China reagierte man brüskiert auf die Protestwelle und das Missverständnis; schließlich bestünde in Europa eine lange Tradition, chinesische Gärten nachzubauen. Und mehr noch. Der historische Blick zurück ins 17. und 18. Jahrhundert zeigt, dass in Europa die außerordentliche Begeisterung für China bzw. für das, was man unter dem Label chinesisch subsumierte,29 nicht selten zur Errichtung chinesischer Dorfanlagen führte, die – idyllisch am See oder Fluss gelegen – bisweilen mit ‚Bewohnern‘ ausgestattet wurden.30 Als Beispiel sei auf die Dorfanlage Mulang in Kassel verwiesen, die während der Regierungszeit des Landgrafen Friedrich II. (1760–1785) als Teil einer gartenarchitektonischen Gesamtplanung errichtet wurde.31 Dabei handelte es sich nicht im klassischen Sinne um Staffagebauten, da die Anlagen zumeist als Meiereien genutzt wurden, um die Residenz mit Milchprodukten zu versorgen. Den Mittelpunkt des Dorfes bildete die chinesische Pagode, die bis heute mit ihren achteckigen, nach oben spitz zulaufenden und nach unten ausschwingenden sowie mit Glöckchen versehenen Dachaufbauten auf die chinoisen Ursprünge verweist.32 Es waren vor allem diese Dachformen, die man als ‚typisch chinesisch‘ deklarierte, die letztlich aber Architekturphantasien darstellen, die sich des reichen Motivschatzes chinesischer Porzellane bediente. Gleichwohl in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwa Reiseberichte oder das stilbildende Werk von William Chambers Design of Chinese Building (1757) vorlagen, muss jedoch das Wissen um reale chinesische Bauelemente weiterhin als kryptisch bezeichnet werden.33 Inwieweit die Vorstellung von China, also das Bild vom Bild, konstruiert wurde, lässt sich am Beispiel des Chinese House in Stowe exemplarisch aufzeigen, welches um 1738 als Folly, als Staffagebau errichtet wurde.34 Der schlichte Holzbau mit drachenbekröntem Dachaufbau ist von außen reich mit narrativen Szenen verziert, die über das Tierreich, Fauna und Flora, Kunsthandwerk (Porzellan) und Architekturen das ferne wie exotische Reich der Mitte visualisieren sollten. Geschickt wurde dabei der Staffagebau in die Bildabfolge integriert (Abb. 4) und somit ein selbstreferentielles System kreiert. Bereits frühen Berichten ist zu entnehmen: „The Outside of the House is painted in the Taste of that Nation, by Mr. Slater [Francesco Sleter].“35 Versatzstücke dieser ehemals im Garten erprobten Architekturen bestimmen bis heute nicht unerheblich das in Europa gängige China-Bild. Hallstatt repräsentiert Österreich. ‚Traditionelle‘ Muster wiederholen sich. Diesem allseitigen copy and paste-Verfahren erwachsen anderseits neue, zeitgenössische Architekturen. So errichtete die Architektengruppe Urbanus um Xiaodu Liu, Yan Meng und Hui Wang 2007 in der chinesischen Kopistenhochburg Dafen, wo weit mehr als zehntausend Maler in Akkordzeit Gemälde nach westlichem Vorbildern für den Weltmarkt kopieren, ganz bewusst nicht den Louvre oder Prado en miniature, sondern das
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4 The Chinese House, 1739, Stowe, Buckinghamshire
Dafen Art Museum, welches in einer eigenen, modernen wie unverwechselbaren Architektursprache entwickelt wurde, um in der sprichwörtlichen copy town zur Profilbildung Chinas beizutragen.36
Anmerkungen *
Der Titel ist inspiriert vom gleichnamigen Orchester-Zyklus des Komponisten Heiner Goebbels. Hinter der Musik von Surrogate Cities steht die Idee, Impulse aus Texten, Zeichnungen und Strukturen von Stadtplänen zu beziehen, den jeweils eigenen Sound von Megastädten wie Berlin, New York, Tokio oder St. Petersburg, aber auch historisch-musikalische Bruch- und Fundstücke einzubeziehen. Als digitaler Speicher dieser akustischen Materialien kommt dem Sampler eine wichtige Rolle zu. Die Uraufführung fand 1994 statt. 2001 erhielt Surrogate Cities eine Grammy-Nominierung in der Kategorie Best Classical Contemporary Composition.
1
Sebastian Acker & Phil Thompson haben sich mit dem Phänomen der copy towns – insbesondere mit Hallstatt – 2012 filmkünstlerisch auseinander gesetzt. http://sebastianacker.com/project/hallstatt-china/. Sebastian Acker & Phil Thompson, London, gilt der Dank für die kollegiale Bereitstellung der Film-Stills.
2 3
Zit. nach Peter Junken: Made in China. In: Der Tagesspiegel, 7. August 2011. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961, hier Bd. 12, Sp. 2761. An die Definition „was man zeigt“ knüpft sich auch die Bedeutung des
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‚prüfenden Schauen‘, die als Musterung später Eingang in die Sprache im militärischen Bereich gefunden hat. 4
Grimm 1854–1961 (Anm. 3).
5
Zu diesem Absatz vergleiche u. a. Birgit Schneider: Muster, Textilien und Codierung: Elemente einer alternativen Mediengeschichte der Reproduktion. In: Reproduktion. Techniken und Ideen von der Antike bis heute. Eine Einführung. Hrsg. von Jürgen Probst. Berlin 2011, S. 247–265.
6
Vgl. dazu Byung-Chul Han: Shanzhai. Dekonstruktion auf Chinesisch, Berlin 2011/Thomas Adebahr: Shanzhai. Researching the Culture of Copying. Weißensee School of Art Berlin. Berlin 2010/Martina Dlugaiczyk: Aura für alle. Kopien als Denk-Muster – Kulturtransfer zwischen Ostasien & Westeuropa. In: Die Ausstellungskopie. Mediales Konstrukt, Materielle Rekonstruktion, Historische Dekonstruktion. Hrsg. von Annette Tietenberg. Köln 2015, S. 95–112. Analog zu diesem Text ist der vorliegende Beitrag im Rahmen des ERC Advanced Grant-Projekt artifex, Universität Trier, entstanden.
7
http://www.hallstatt.net/
8
Kevin Holden Platt: Architektur-Piraten in China. Der große Bau-Klau. In: Spiegel online, 4. Januar 2013. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/architektin-zaha-hadid-muss-in-china-gegen-plagiatoren-bauen-a-875621.html [15.10.2014].
9
Homepage von Albert Speer und Partner: http://www.as-p.de/projekte/stadtplanung/9199-anting-new-town.html „Da die Nachfrage nach Apartments in Anting New Town absehbar das jetzige Angebot übersteigt, ist die Erweiterung ‚Anting East‘ bereits in Planung.“
10 Stefanie Hetze: Ein Musterlager deutschen Könnens. Das deutsche ‚Pachtgebiet‘ Jiaozhou in zeitgenössischen Darstellungen. In: Berlin und China. Dreihundert Jahre wechselvolle Beziehungen. Hrsg. von von Kuo Heng-yü. Berlin 1987, S. 89–102, hier S. 89. 11 Friedrich Behme und M. Krieger: Führer durch Tsingtau und Umgebung. Wolfenbüttel 1904, S. 5/ Thomas H. Hahn: Die erste photographische Dokumentation Tsingtaus: Dr. Behme und seine Bilder. In: Tsingtau. Ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte in China 1897–1914. Hrsg. von HansMartin Hinz/Christoph Lind. Eurasburg 1998, S. 159–164. Nach Fertigstellung des Manuskriptes stellte sich heraus, dass der Urgroßvater der Autorin – Ernst Schlote – 1905 in Tsingtau für die Königlich Preußischen Eisenbahn Hauptwerkstätte Leinhausen/Hannover gearbeitet hat, wovon sich u. a. Fotoalben erhalten haben. 12 M. Heeren: Einfamilienhaus in Tsingtau. In: Deutsche Bauhütte 19/20 (1915), S. 160, Abb. S. 164. 13 Christoph Lind: Heimatliches Idyll und kolonialer Herrschaftsanspruch: Architektur in Tsingtau. In: Hinz/Lind 1998 (Anm. 11), S. 96–105, hier S. 105. 14 Hetze 1987 (Anm. 10), S. 89–102, hier S. 89 und 100. 15 1885 gründete Friedrich Bruckmann das Periodikum Die Kunst für Alle (hrsg. von Friedrich Pecht) und 1897 das Magazin Dekorative Kunst. Beide waren ab 1900 in einer Gesamtausgabe unter dem Titel Die Kunst zusammengefasst. 16 Günther Plüschow: Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau. Berlin 1927, 1. Auflage 1916, S. 27 ff., zit. nach Hetze 1987 (Anm. 10), S. 99. Das Buch erreichte bis 1927 fast eine Millionenauflage. 17 Zit. nach Hetze 1987 (Anm. 10), S. 91. 18 Zit. nach Liu Weijian: Vom ‚jungen Deutsch-China‘ zum ‚heiligen Boden des Verständnisses‘: Tsingtau (Qingdao) im Spiegel der deutschen Literatur. In: Hinz/Lind 1998 (Anm. 11), S. 191–195, hier S. 192. 19 Im Eingangsbereiche des KW Institute for Contemporary Art, Berlin wurde der Besucher informiert: „Das Betreten der Skulptur erfolgt auf eigene Gefahr. Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass die Tragfähigkeit der Bierkisten mit Gebrauch abnimmt.“ Später war das Betreten der Ausstellung nur noch nach schriftlicher Einwilligung möglich. Den KW Institute for Contemporary Art, Berlin sei für die Bereitstellung des Bildmaterials gedankt.
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20 Vgl. Susanne Pfeffer: Cyprien Gaillard: The Recovery of Discovery. Köln 2011, S. 9. 21 Irmgard Rieger: Der Klon eines Alpen-Dorfs in Guangdong, China. In: Die Welt online, 3. Juni 2012. Mittlerweile ist das Unternehmen auch in den sozialen Netzwerken vertreten. http://www. welt.de/kultur/article106410359/Der-Klon-eines-Alpen-Dorfs-in-Guangdong-China.html [15.10.2014]. 22 Winfried Nerdinger: Zur Einführung – Konstruktion oder Rekonstruktion historische Kontinuitäten. In: Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte. Hrsg. von Winfried Nerdinger. München 2010, S. 10–14, hier S. 10. 23 Für Hallstatt/China und Anting New Town wurden bereits während der Planung Erweiterungen bzw. Formen des wiederholten Übertrags des Musters an anderer Stelle anvisiert. 24 Vgl. dazu die kompakte Einführung von Helmut Leitner: Mustertheorie. Einführung und Perspektiven auf den Spuren von Christopher Alexander. Graz 2007. 25 Leitner 2007 (Anm. 24), S. 36. 26 Christopher Alexander: A Pattern Language: Towns, Buildings, Construction (Center for Environmental Structure). Oxford 1978. 27 Leitner 2007 (Anm. 24), S. 96. 28 Vgl. dazu etwa Dieter Hassenpflug: Der urbane Code Chinas. Basel 2009. Vgl. dazu auch das Luftbild der Anlange, welches sich nur selten veröffentlicht findet, da das Idyll Hallstatt im Vordergrund steht. http://www.euractiv.de/globales-europa/artikel/chinesen-kopieren-dorf-in-sterreich-004969 [15.10.2014]. 29 Im 18. Jahrhundert wurde chinesisch, orientalisch, indianisch, persisch und östlich oft synonym gebraucht. 30 Vgl. Wolfram Schäfer: Von ‚Kammermohren‘, ‚Mohren‘-Tambouren und ‚Ost-Indianern‘. Anmerkungen zu Existenzbedingungen und Lebensformen einer Minderheit im 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Residenzstadt Kassel. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung N.F.. Marburg 1988, H. 23, S. 35–79. 31 Vgl. Isabell M. Steinhauer: Das Dorf Mulang im Schlosspark Wilhelmshöhe. Ein Kleinod der Chinoiserie- und Dörfchenmode in der Gartenliteratur des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Regensburg 2003/Nigel Temple: Das chinesische Dorf der Landgrafen von Hessen im Park Wilhelmshöhe. In: Porzellan aus China und Japan. Die Porzellangalerie der Landgrafen von Hessen-Kassel. Hrsg. von Ulrich Schmidt. Kassel 1990, S. 87–106. 32 Vgl. dazu u. a. Dieter Hennebo/Alfred Hoffmann: Geschichte der Deutschen Gartenkunst. Bd. III. Hamburg 1963, S. 28–31 (Kap. Chinamode und Staffagenhäufung). 33 Vgl. William Chambers: Designs of Chinese Buildings, Furniture, Dresses, Machines, and Utensils: to which is annexed a Description of their Temples, Houses, Gardens. London 1757. Chambers hat zwei Reisen nach China absolviert. 1760 wurde er zum Hofarchitekten in London berufen. 34 The National Trust: Stowe. Landscape Gardens. A Comprehensive Guide. London 1997, S. 45. Der Staffagebau wurde nach 1750 mehrfach versetzt; 1997 erfolgte die Rekonstruktion. Für die Gartenanlage zeichnet ab 1730 William Kent verantwortlich. 35 Description of the Gardens of Lord Viscount Cobham at Stow in Buckinghamshire. Northampton 1744, S. 17. Für den Hinweis und die Quelle sei Stefan Schweizer, Düsseldorf, gedankt. 36 Zum Kopistendorf Dafen und dem Phänomen der dort produzierten Gemäldekopien westlicher Vorbilder vgl. Dlugaiczyk 2015 (Anm. 6).
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Autorinnen und Autoren Heike Behrend ist Ethnologin. Sie forscht zu Themen wie Religion, Gewalt und Gender und untersucht im Rahmen einer Medienanthropologie vor allem fotografische Praktiken in Afrika. Sie lehrte als Professorin für Ethnologie am Institut für Afrikanistik der Universität zu Köln (bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2012). Studium der Ethnologie, Soziologie und Religionswissenschaften in München, Wien und Berlin. Habilitation 1993 mit der Arbeit Alice und die Geister. Krieg im Norden Ugandas. Sie hatte Gastprofessuren und Fellowships in Paris an der Ecole des Hautes Etudes, an der Northwestern University, der University of Florida, in Wien, Tokio und an der University of Western Cape in Südafrika. Kuratorin der Ausstellungen Snap me one! – Studiofotografen in Afrika, 1998 im Münchner Stadtmuseum, 1999 im Tropenmuseum Amsterdam, 2000 im Haus der Kulturen der Welt Berlin (zusammen mit Tobias Wendl, Kerstin Pinther, Henrike Grohs); Studio Photography as a Dream Machine, 2010 in der Tokyo University of Foreign Studies (unter der Mitwirkung von Hiroki Ishikawa, Shino Wakana und Masanori Oda). Uta Coburger ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin für die Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim. Neben ihrer Mitarbeit an diversen Ausstellungsprojekten sowie Publikationen betreute sie zwei Jahre kommissarisch die Sammlung Angewandte Kunst. Ihr Magister-Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie, Kunstpädagogik und Psychologie schloss sie 2000 mit der Studie Der Rohrer Himmelfahrtsaltar Egid Quririn Asams. Ein Beispiel des theatrum sacrum im bayerischen Spätbarock ab. 1997–2000 Mitarbeiterin in den DFG-geförderten Forschungsprojekten Erinnerungskulturen und Perge an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2001–2003 Stipendiatin der Hessischen Graduiertenförderung. 2004–2006 Kunsthistorikerin an der Frankfurter Galerie für zeitgenössische Kunst und Kunsthandlung für Klassische Moderne Hanna Bekker vom Rath. Promotion 2007 an der JLU Gießen mit einer Studie über Das Ornament und das Ornamentale im Werk Egid Quirin Asams (1692–1750). 2007–2009 wissenschaftliches Volontariat an den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim. 2013/14 Lehrbeauftragte am Institut für Kunstgeschichte der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Aktuell betreut sie als Projektleiterin und Kuratorin die Sonderausstellung Barock. Nur schöner Schein? (2016/17) in Kooperation mit dem Kunsthistorischen Museum Wien. Martina Dlugaiczyk ist Postdoc im ERC-Forschungsprojekt artifex an der Universität Trier. Studium der Kunstwissenschaft, Mittleren und Neueren Geschichte sowie Politologie; 1994 Magister mit einer Arbeit über Peter Paul Rubens. 1994–1995 wissenschaftliche Mitarbeit am Corpus figürlicher Grabmäler des Mittelalters im Raum Hessen. 1996–1998 Graduiertenförderung des Landes Hessens. 2001 Promotion an der Universität Kassel mit einer Dissertation über die politische Ikonographie des Waffenstillstandes von 1609 zwischen den Südli-
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chen und Nördlichen Niederlanden. 2001–2006 freie Mitarbeit in Museen in Hildesheim (Dom-Museum), Kassel (Schloss Wilhelmshöhe), Paderborn (Diözesanmuseum) und Printmedien. Lehrtätigkeiten an den Universitäten Aachen, Kassel und Düsseldorf. 2003–2006 Vertretung der wissenschaftlichen Assistenz am Institut für Kunstgeschichte der RWTH Aachen, 2007–2012 ebenda wissenschaftliche Assistentin und Kuratorin des Reiff-Museums; 2009–2012 Postdoc-Stipendiatin der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder. Rainald Franz ist Kustode der Sammlung Glas und Porzellan des MAK-Österreichisches Museum für Angewandte Kunst/Gegenwartskunst, Wien und zuständig für sammlungsübergreifende und EU-Projekte im MAK. Studium in Wien, München, London, Rom und Venedig. Seit 1992 im MAK; 1996–2011 Stellvertretender Leiter der Bibliothek und Kunstblättersammlung des MAK. Ab 2000 Provenienzbeauftragter im MAK. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen, Veranstalter von Symposien, etwa Gottfried Semper und Wien, Wien 2007, Leben mit Loos, Wien 2008. Lehrbeauftragter am Institut für Konservierung und Restaurierwissenschaften der Universität für angewandte Kunst, Wien. 2007–2013 Präsident der ICDAD-International Committee of Decorative Arts and Design. 2011–2013 Vorsitzender des Verbandes Österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker. Annette Haug ist seit 2012 Professorin für Klassische Archäologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 1996–1998 Studium der Klassischen Archäologie, Kunstgeschichte und Ur- und Frühgeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 1998– 1999 Studium an der Université Paris IV und der Université Paris I. 1999–2000 Fortsetzung des Studiums in Heidelberg. 2000 Forschungsaufenthalt am King’s College Cambridge; 2000–2003 Deutsch-französische Promotion an den Universitäten Heidelberg und ParisSorbonne. 2003–2004 Post-doc-Stipendium der Gerda-Henkel-Stiftung am Deutschen Archäologischen Institut Rom im Rahmen des Forschungsprojekts Bildwelt – Lebenswelt im antiken Rom und im Römischen Reich. 2004–2005 Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts. 2005–2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Klassische Archäologie Leipzig. 2007–2008 Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander-von-HumboldtStiftung, University of Oxford, Lincoln College. 2008–2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Klassische Archäologie Leipzig. 2009 Habilitation an der Universität Leipzig. 2010 Lehrstuhlvertretung mit Übernahme der Geschäftsführung am Institut für Klassische Archäologie Leipzig. Umhabilitation an die LMU München. 2010–2012 Heisenberg-Stipendium der DFG, angesiedelt am Institut für Klassische Archäologie der LMU München. Carolin Höfler ist seit 2013 Professorin für Designtheorie und -forschung an der Köln International School of Design der Fachhochschule Köln. 2013 BMBF-Förderung für das Forschungs- und Ausstellungsprojekt Out of Control. Formationen kollektiver Räume im ehemaligen IBM-Haus in Berlin. Studium der Kunstgeschichte, Neueren Deutschen Literatur und Theaterwissenschaft sowie der Architektur in Köln, Wien und Berlin. Promotion mit
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der Arbeit Form und Zeit. Computerbasiertes Entwerfen in der Architektur am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2001 bis 2003 Stipendiatin des Hochschul- und Wissenschaftsprogramms des Landes Schleswig-Holstein und Lehrbeauftragte an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Von 2003 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Mediales Entwerfen im Department Architektur der TU Braunschweig, ab 2009 Akademische Rätin. Forschungsschwerpunkte: Kulturtechniken des Entwerfens, Diagrammatik der Architektur, digitale Form, Materialsysteme, mediale Durchdringung des öffentlichen Raumes und Methodenfragen der Interdisziplinarität. Christian Janecke ist Professor für Kunstgeschichte an der HfG Offenbach. Seiner Dissertation zu Zufall und Kunst (1993/95) folgten Bücher zur Modetheorie – Tragbare Stürme. Von spurtenden Haaren u. Windstoßfrisuren (2003); Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung (2004) und Gesichter auftragen. Argumente zum Schminken (Hrsg. 2006) – sowie zu Verhältnissen von Kunst und Theater, darunter Performance und Bild/ Performance als Bild (2004) und Johan Lorbeer – Performances und bildnerische Arbeiten (1999). Neben weiteren monographischen Schriften wie Christiane Feser. Arbeiten/Works (2008) entstanden zahlreiche Aufsätze zur jüngeren Kunst, oft in systematischer Hinsicht, teils zu Wechselwirkungen mit Design und Wissenschaft. Zuletzt erschien die Publikation Maschen der Kunst (2011). Susanne König ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe am Historischen Institut der Universität Paderborn und freie Mitarbeiterin an der Hamburger Kunsthalle sowie am Bucerius Kunst Forum in Hamburg. 2009– 2011 Lehrkraft für besondere Aufgaben am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Universität Siegen. Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg, an der Hochschule für Künste in Bremen und an der Universität der Künste in Berlin. 2008 Promotion an der Universität Hamburg mit einer Dissertationsschrift zum ‚Musée d’Art Moderne, Département des Aigles‘ von Marcel Broodthaers in seinem kulturellen, sozialen und politischen Kontext. Studium der Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Stuttgart sowie des Kulturund Medienmanagements an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Bärbel Küster ist Professorin für die Kunstgeschichte der Moderne am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der TU Berlin, wo sie Bénédicte Savoy vertritt. Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Pädagogik in Kiel, Hamburg, Berlin und Frankfurt am Main. 2000 Promotion über Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900. 2001–2010 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart. 2007–2009 Habilitationsstipendium des Deutschen Forums für Kunstgeschichte, Paris. Seit 2009 Vertretungsprofessuren Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunst- und Medientheorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und an der HfG Karlsruhe. 2012/13 Fellow im Mar-
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garete von Wrangell Exzellenzprogramm. Zahlreiche Publikationen zu transkulturellen Aspekten der Kunst- und Museumsgeschichte. Zur Zeit Leitung des Drittmittelprojektes Zeitgenössische Fotografie in Bamako und Dakar. Eine Oral History, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes (TURN), Kuratorin der Ausstellung Bamako-Dakar. Westafrikanische Fotografie heute, Stadthaus Ulm, 2014. Regine Prange ist seit 2001 Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Kunstgeschichte, Kunst- und Medientheorie an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Studium der Kunstgeschichte, Neueren Geschichte, Klassischen Archäologie und Soziologie in München und Berlin. 1990 Promotion an der FU Berlin zum Thema: Das Kristalline als Kunstsymbol. Zur Reflexion des Abstrakten in Kunst und Kunsttheorie der Moderne. 1991–1997 wissenschaftliche Assistentin am Kunsthistorischen Institut Tübingen. 1997 Habilitation mit einer Schrift zum Thema Das ikonoklastische Bild. Piet Mondrian und die Selbstkritik der Kunst. Nach Vertretungsprofessuren in Berlin (Humboldt-Universität) und Frankfurt am Main von 1999 bis 2001 Professorin für Kunstgeschichte in Marburg. Forschungsschwerpunkte: Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere Geschichte der abstrakten Malerei; Utopien und Theorien der modernen Kunst; Geschichte des Faches Kunstgeschichte und seiner Methoden; Ästhetik des Kinofilms. Aktuelles Arbeitsfeld: (De-) Konstruktion des Subjekts in Kunst und Medien. Bärbel Schlüter studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig Freie Kunst. Seit 1988 Ausstellungen und ortsspezifische Arbeiten. 1999 und 2001 Werkstipendium und Arbeitsstipendium der Stiftung NORD/LB ÖFFENTLICHE Braunschweig. Lehr- und Forschungstätigkeiten: 2001–2008 künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Architektur und Landschaft, Experimentelles Gestalten und Modellieren der Leibniz Universität Hannover, 2008 Gastwissenschaftlerin am Institut für Kunst und Gestaltung, TU Wien, 2009–2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft, HBK Braunschweig. Seit 2012 Lehrbeauftragte in Kunstwissenschaft und künstlerischer Gestaltung an verschiedenen Hochschulen. 2013 Promotion an der HBK Braunschweig Im Raum der Fassade: temporäre Installationen (Silke Schreiber Verlag, München 2014). Christiane Stahl ist seit 2002 Leiterin der Alfred Ehrhardt Stiftung. Studium der Kunstgeschichte an der Ecole du Louvre in Paris und der Kunstgeschichte und Theater- und Filmwissenschaft an der FU Berlin. Ab 1993 wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Historischen Museum Berlin, an der Bundeskunsthalle Bonn und in der Galerie Karsten Greve in Köln, Mailand und Paris. 2005 Promotion über Alfred Ehrhardts fotografisches Frühwerk. Seitdem Vorträge und Publikationen zur klassischen und zeitgenössischen Fotografie. 2006–2014 Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh), seit 2007 Mitglied der Deutschen Fotografischen Akademie (DFA). 2010 Umzug der Alfred Ehrhardt Stiftung nach Berlin, seitdem Mitglied im Beirat des Europäischen Monats der Fotografie Berlin.
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Ülkü Süngün lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Stuttgart. Sie studierte Bildhauerei an der Kunstakademie Stuttgart bei den Professoren Werner Pokorny, Udo Koch und Felix Ensslin. Im April 2013 wurde ein von ihr neu gestalteter Gedenkort in Stuttgart eingeweiht, der an die vom Killesbergpark deportierten jüdischen Bürgerinnen und Bürger erinnert. 2012–2013 realisierte sie in Kooperation mit lernort gedenkstätte, Jugendhausgesellschaft Stuttgart, und der Zentrale für Politische Bildung BW ein Modellprojekt, das an einer Schule die Thematik Holocaust Gedenken im Kunstunterricht behandelte. 2013 Lehrauftrag an der Stuttgarter Kunstakademie zum Thema Ornament und Fotografie mit begleitender Ausstellung in der Stiftung Anton Geiselhart in Gundelfingen. 2013 zeigte sie ihre Fotoarbeiten in der Gruppenausstellung Ankommen im Kunstwerk, der Sammlung Alison und Peter W. Klein in Nussdorf. 2015 Debütanten-Einzelausstellung im Bahnwärterhaus der Villa Merkel in Esslingen. Annette Tietenberg ist seit 2007 Professorin für Kunstwissenschaft mit dem Schwerpunkt Kunst der Gegenwart an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK). 2014 Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg. 2012/13 Co-Kuratorin der Ausstellung Das Muster, das verbindet in der Kunsthalle Lingen (gemeinsam mit Meike Behm). Mitherausgeberin des Bandes Patterns. Muster in Design, Kunst und Architektur. Basel 2005 (mit Petra Schmidt und Ralf Wollheim). Studium der Kunstwissenschaft und Neueren deutschen Philologie in Bonn und Berlin. Promotion an der TU Berlin zur Rezeptionsgeschichte der amerikanischen Künstlerin Eva Hesse. Von 1996 bis 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik der UdK Berlin. Kuratorin bzw. Co-Kuratorin zahlreicher Ausstellungen (u. a. NGBK Berlin, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main). Lehraufträge, Gast- und Vertretungsprofessuren an den Universitäten Frankfurt am Main, Marburg, Wuppertal und Köln sowie an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg und an der Burg Giebichenstein, Halle an der Saale. Forschungsschwerpunkte: Authentifizierungsstrategien in Kunst und Design, Kunst und Design im Weltraumzeitalter, interkulturelle Transfers von Muster und Ornament. Sabine B. Vogel ist freie Kritikerin und Kuratorin sowie Universitätslektorin an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Sie studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und promovierte in Kunstgeschichte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien zum Thema Biennalen – Kunst im Weltformat. Sie kuratierte u. a. die Ausstellungen Die Macht des Ornaments, Belvedere, Wien 2009 und Political Patterns, ifa Galerie Berlin und Stuttgart 2011. Publikationen in Artforum (New York), Weltkunst (Berlin), Die Presse (Wien), NZZ (Zürich). Herausgeberin des Bandes Globalkunst, Kunstforum International, Bd. 220, April 2013 sowie des Bandes Erweiterte Skulptur, Kunstforum International, Bd. 229, September 2014.
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Bildnachweise
Annette Tietenberg 1 © Juergen Teller, http://images.zeit.de/lebensart/mode/2011-10/teaser-artikel-westwood/teaser-artikel-westwood-540x304.jpg 2 Foto: Thomas Wagner 3 © Hulton-Deutsch Collection/CORBIS
Regine Prange 1 Harry Francis Mallgrave: Gottfried Semper. Ein Architekt des 19. Jahrhunderts. Zürich 2001, S. 279 2, 3a+b, 4 Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Kunst der Moderne von Klimt bis heute. Ausst.Kat. Kunstmuseum Wolfsburg/Staatsgalerie Stuttgart. Hrsg. von Markus Brüderlin Ostfildern/Ruit 2013, S. 11, 121, 122, 275 5 Foto: Thomas Wagner 6 Foto: Rainer Viertlböck 7 Rosemarie Trockel. Post-Menopause, Ausst.Kat. Museum Ludwig Köln. Hrsg. von der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig. Köln 2005, S. 110; © VG BildKunst, Bonn 2015
Bärbel Küster 1 Foto: Bärbel Küster 2 Foto: Günther Becker, documenta archiv Stadt Kassel 3 Foto: Katherine Keller. Copyright: The Museum of Modern Art Archives, NY Acc. n.: IN1382.11. © 2014. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florenz 4 Edmund Carpenter/Carl Schuster: Patterns That Connect. Social Symbolism in Ancient and Tribal Art. New York 1996, S. 81 5, 6 Aus: Edmund Carpenter/Carl Schuster: Patterns That Connect. Social Symbolism in Ancient and Tribal Art. New York 1996, S. 81; Bd. 1,1, S. 61 7 http://anotherartblog.com/wp-content/uploads/David_Jablonowski.jpg
Bildnachweise I 267
Annette Haug 1, 3 München – Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke, Photothek 2 CVA Berlin (1) Taf. 20 4 Gudrun Ahlberg: Prothesis und Ekphora in Greek Geometric Art, SIMA 32. Göteborg 1971. Abb. 25 5 a Heidelberg – Seminar für Klassische Archäologie, Photothek 5 b–d 3rd Ephorate of Prehistoric and Classical Antiquities. © Hellenic Ministry of Culture and Sports/Archaeological Receipts Fund
Carolin Höfler 1 The Function of Ornament. Hrsg. v. Farshid Moussavi/Michael Kubo. Barcelona 2006, S. 158, 160 2 Foto: Satoru Mishima; URL: http://lavieblog.pixnet.net/album/photo/172912151 [25.07.2014] 3 URL: http://www.grasshopper3d.com/photo/hygroscope-front-side [25.07.2014] 4 Modul, Proportion, Symmetrie, Rhythmus. Hrsg. v. György Kepes. Brüssel 1969, S. 82–83
Heike Behrend 1, 5–8 Sammlung Behrend, Berlin 2 British Museum, London 3 Walther Collection, Burlafingen 4 Aus: Chris Spring: Angaza Afrika. African Art Now. London 2008, S. 224
Ülkü Süngün 1–6 @ Ülkü Süngün, Stuttgart
Rainald Franz 1 © MAK Archiv Archív/Archive 2 © Rainald Franz
268 I Bildnachweise
Christiane Stahl 1 Robert Koch-Institut Berlin 2 Aus: Kunstformen der Natur, Leipzig und Wien 1899-1904, Tafel 4 3 Aus: Johann Diedrich Möller, Universum Diatomacearum Moellerianum, Lichtdruck, 1891, Tafel 1 4 Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz 5 Aus: Das Deutsche Lichtbild, 1932, S. 112/113
Uta Coburger 1, 3, 4, 6, 7 Foto: Uta Coburger 2 © Bibliothèque nationale de France 5 © Victoria and Albert Museum, London
Annette Tietenberg 1 Polke. Eine Retrospektive. Die Sammlungen Friedrich Burda, Josef Froehlich, Reiner Speck. Ausst.Kat. Museum Friedrich Burda, Baden-Baden/Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien. Hrsg. von Götz Adriani. Ostfildern 2007, S. 34. © The Estate of Sigmar Polke, Cologne/Köln/VG Bild-Kunst, Bonn 2015 2 Carl Andre. Sculptor 1996. Krefeld at home. Wolfsburg at large. Ausst.Kat. Museen Haus Lange und Haus Esters/Kunstmuseum Wolfsburg. Stuttgart 1996, S. 151. © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 3 Rosemarie Trockel. Hrsg. von Sidra Stich. München 1991, S. 81. © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 4, 6 Patterns. Muster in Design, Kunst und Architektur. Hrsg. von Petra Schmidt/Annette Tietenberg/Ralf Wollheim. Basel 2005, S. 54 5 Henry-Pierre Fourest: Delfter Fayencen. Stuttgart 1981, S. 113
Susanne König 1 URL: http://collections.vam.ac.uk/item/O8046/tile-panel-morris-william/ (21.09.2014) 2 URL: http://collections.vam.ac.uk/item/O270843/evenlode-furnishing-fabric-williammorris/ [21.09.2014] 3 © Courtesy British Council. Foto: Cristiano Corte
Bildnachweise I 269
4 URL: http://venicebiennale.britishcouncil.org/timeline/2013/image/1154 [21.09.2014], Foto: Cristiano Corte 5 URL: http://collections.vam.ac.uk/item/O218600/wallpaper/ [21.09.2014] 6 Linda Parry: William Morris Textiles. London 2013, S. 204 7 URL: http://collections.vam.ac.uk/item/O54307/the-ardabil-carpet-carpet-unknown/ [21.09.2014] 8 URL: http://collections.vam.ac.uk/item/O251440/clover-wallpaper-dearle-john-henry/ [21.09.2014]
Sabine B. Vogel 1 Aus: Political Patterns. Ornament im Wandel. Ausst.Kat. hrsg. v. der ifa-Galerie Berlin/ Stuttgart. Kuratorin: Sabine B. Vogel. Wolkersdorf 2011, S. 75 2 Aus: Die Macht des Ornaments. Ausst. Kat. hrsg. v. Agnes Husselein-Arco/Sabine B. Vogel. Wien 2009, S. 32 3 Aus: Political Patterns. Ornament im Wandel. Ausst.Kat. hrsg. v. der ifa-Galerie Berlin/ Stuttgart. Kuratorin: Sabine B. Vogel. Wolkersdorf 2011, S. 46/47 4 Aus: Political Patterns. Ornament im Wandel. Ausst.Kat. hrsg. v. der ifa-Galerie Berlin/ Stuttgart. Kuratorin: Sabine B. Vogel. Wolkersdorf 2011, S. 63 5 Aus: Political Patterns. Ornament im Wandel. Ausst.Kat. hrsg. v. der ifa-Galerie Berlin/ Stuttgart. Kuratorin: Sabine B. Vogel. Wolkersdorf 2011, S. 37 6 Aus: Die Macht des Ornaments. Ausst.Kat. hrsg. v. Agnes Husselein-Arco/Sabine B. Vogel. Wien 2009, S. 110
Bärbel Schlüter 1–6 © Bärbel Schlüter
Christian Janecke 1 Foto: Mancia/Bodmer-FBM Studio, Galerie Micheline Szwajcer, Antwerpen. In: Nicolas de Oliveira/Nicola Oxley/Michael Petry: Installation Art in the New Millenium. London 2003, S. 116 2 Foto: Lars Lohrisch, Bremen. In: German Open. Gegenwartskunst in Deutschland. Ausst.Kat. Kunstmuseum Wolfsburg. Hrsg. von Gerard Hadders. Ostfildern-Ruit 2000, o. S.
270 I Bildnachweise
3 Fotos: Haupt & Binder. Webseite: Universes in Universe. Welten der Kunst. Kunstszenen, Akteure, Events im globalen Kontext. URL: http://universes-in-universe.de/car/ berlin/bien2/trep/d-trep-01.htm [27.07.2014] 4 Paola Nicolin: Achtung Berlin! Interview mit Stanislaus von Moos, veröffentlicht am 12. März 2013 auf Domus Web. URL: http://www.domusweb.it/content/dam/domusweb/en/interviews/2013/03/12/achtung-berlin/big_407851_6414_07_254_N591.jpg [27.07.2014] 5, 6 Foto: E. Wagner
Martina Dlugaiczyk 1 [http://sebastianacker.com/project/hallstatt-china/] 2 Hinz/Lind 1998, S. 98–102 3 Foto: o.l. Uwe Walter, o.r. anna k.o., u.r/l Josephine Walter 4 Foto: Martina Dlugaiczyk
Bildnachweise I 271
ANNETTE TIETENBERG (HG.)
DIE AUSSTELLUNGSKOPIE MEDIALES KONSTRUKT, MATERIELLE REKONSTRUKTION, HISTORISCHE DEKONSTRUKTION
Sie begegnen uns in Museen, Kunsthallen und Kunstvereinen: Ausstellungskopien. Gefertigt werden sie, um materiell verloren gegangene Kunstwerke zu ersetzen. Dabei sind sie das Ergebnis eines medialen Transformationsprozesses. So werden Tatlins »Eck-Konter-Relief« oder Schwitters’ »Merzbau«, die das Bild der »klassischen Moderne« geprägt haben, auf der Basis historischer Fotografien nachgeahmt. Auch Arbeiten der 1960er- und 1970erJahre – einst konzipiert, um Zustände der Veränderung zu durchlaufen und spurlos zu verschwinden – werden rekonstruiert. Ist dies eine dienliche Form, einstige Ausstellungssituationen erlebbar zu machen? Oder verstellt die Ausstellungskopie den Zugang zur künstlerischen Praxis? An konkreten Beispielen gehen die Autorinnen und Autoren solchen Fragen nach. 2015. 344 S. 102 S/W-ABB. FRANZ. BR. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-22120-1
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar