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German Pages 396 [408] Year 1959
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P LATO N LOGOS UND MYTHOS
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UND
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BERLIN
DURCH
AUFLAGE
1959
WALTER DE G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG / J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG
/ GEORG REIMER
/ KARL J. TRÜBNER
/ VEIT & COMP.
© Archiv-Nummer 42 61 58 — Printed in Germany. — Copyright 1958 by Walter de Gruyter & Co. — Erste Auflage bei Bondi, Berlin 1933. — Alle Redite des Nachdrucks, der photomechanisch eil Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. — Druck: Deutsche Zentraldruckerei, Berlin
M E I N E R TOCHTER MAINA R I C H T E R
Inhalt Vorwort Geschichtliche Erinnerung
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I. BUCH: PLATONS KAMPF UM ATHEN I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.
PROTAGORAS - Die Erwedning JON UND HIPPIAS - Kampfansage gegen den Geist der Gesellschaft APOLOGIE - Der Heros KRITON - Das Bekenntnis zur Vaterstadt LACHES — Die Erzeugung der Erzieher CHARMIDES - Werbung um Jünglinge LYSIS — Werbung der Jünglinge um Knaben EUTHYPHRON - Der Zweifel an Athen GORGIAS - Der Zorn über Athen
19 44 50 68 74 83 95 105 110
II. Buch: DIE STAATGRÜNDUNG IM GEISTE X. ERSTE REISE NACH SIZILIEN UND MENEXENOS - Die Versöhnung mit Athen XI. MENON - Gründung der Akademie XII. EUTHYDEMOS UND KRATYLOS - Philosophische Vorbereitung: Logik und Sprache ANHANG: GESPRÄCHE ZWEIFELHAFTER HERKUNFT Piatons Wirkung auf die Jünger XIII. PHAIDON - Die schauende Seele XIV. DAS GASTMAHL - Der zeugende Geist XV. DER „STAAT" - Bildung des Neuen Adels XVI. PHAIDROS - Piatons Seele und Sthicksal
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III. BUCH: DENKEN U N D TUN XVII. THEAITET - der Verzicht auf Athen XVIII. ZWEITE REISE NACH SYRAKUS UND DER PARMENIDES - Die Spaltung zwischen Denken und Tun XIX. SOPHIST UND STAATSMANN - Logische Übungen und Heroische Winke XX. DIONS SCHICKSAL UND PLATONS BRIEFE AN DIE PLATONIKER IN SYRAKUS - Politik und Religion XXI. PHILEBOS - Das höchste Gut XXII. DIE GESETZE — Der Religionsgründer XXIII. TIMAIOS - Das Platonische Testament
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Nachwort zur zweiten Auflage Bemerkungen Zeittafel
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Vorwort Amt und Vorrecht der Philosophie ist Betrachtung der Welt-Ganzheit. Mag der philosophische Mensch vorbereitend sich Kenntnisse erarbeiten, so ist er wahrhaft Philosoph doch nur im Augenblick, der ihm im Bilde das Gesamt zeigt. Sinn der Welt, Sinn des Lebens, Sinn der Philosophie sind konzentrische Kreise. Dies hohe Vorrecht ist wie billig an schwersten Verzicht geknüpft. Wer darf sich diese Berufung anmaßen! Auch höchste Geisteskraft verleiht kein Anrecht darauf, denn wir wissen nicht, wann je eine Gegenwart wiederkehrt, in welcher der Sinn des Ganzen sich menschlich im Philosophen erfüllen kann, und die Frage ist erlaubt, ob seit Piaton jemals einer den Namen Philosoph in dieser Bedeutung beanspruchen durfte. Solange sich dies nicht erfüllt hat, heißt Piaton verstehen auch echte Philosophie treiben — denn er selber hat auch dem Streben, nicht nur der Vollendung diesen Namen zugestanden. Die Wissenschaft braucht und verbraucht Stoffe für ihr Gebäude und darf auch Piaton als Einen dieser zahllosen Stoffe behandeln. Wenn sie aber in Jahrhunderten nicht fruchtlos gesammelt und geforscht hat, dann hat sie selbst zu der Erkenntnis geführt: Piaton ist kein Stoff in diesem Sinne, er ist eine persönliche formende Kraft. Er läßt sich nicht beherrschen durch stoffliche Eingliederung, denn er wandelt und bildet dien, der ihn als Bild ili sich aufnimmt: er ist stärker als wir. Wer sich nicht wandeln kann, dem ist das Lesen seiner Werke eine schwere und verworrene Aufgabe, denn die Begriffsnetze pflegen sein Bild zu verzerren, und von den Größten, die wie Goethe auf ihrem Höhenweg ihm brüderlich zuwinken dürfen wie ein Riese» dem andern, reden wir hier nicht. Wenn irgendein Philosoph hat Piaton das Recht, als Welt für sich, Gefüge von Landschaften und Gestalten, Freunden und Gegnern, Kämpfen und Siegen, Lehren und Mythen, Schmerzen und Ekstasen betrachtet zu werden. Das wäre die eigentlich-philosophische, es wäre die Platonische Betrachtung. Hat er doch selbst seinen Meister nicht geschichtlich gedeutet, nicht systematisiert, sondern mit dichterischer Kraft die Welt geschaffen, in der die eigene Gestalt zusammenwuchs mit der des Sokrates. Ganz unerwogen bleibe, ob die dichterische Gestaltung Piatons möglich wäre. Unsere Aufgabe begrenzt sich im Studium seiner 1
Hildebrandt, Piaton
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Werke und Briefe, aber unziemlich wäre es, sich bei dieser Betrachtung dem Platonischen Willen und Geist bewußt entgegenzustemmen. Vieles lehnt sich gegen so hohe Wertung auf. Einem Zeitgeist, der mit dem Verzicht auf jeglichen Glauben auch dem Glauben an sich selbst, den Geist, entsagte, bedeutete „Platonisch" das Rein-Gedankliche, Tatenlose und wer nur ans Grob-Stoffliche glaubt, dem wird Piaton zum Ideologen. Als man schließlich vor der politischen Leidenschaft Piatons die Augen nicht mehr verschließen konnte, da glaubte man ihm doch jeden Sinn für die Wirklichkeit abstreiten zu dürfen, da sein Plan nicht verwirklicht wurde. Aber nicht der Augenblickserfolg ist Maßstab der Größe, und kein Heros hat sein Wunschbild unmittelbar verwirklicht. Alexander zwar eroberte sein Reich im Sturm, aber es zerfiel bei seinem frühen Ende, und Christi Reich schien durch den Kreuzestod im Keime erstickt, aber es entfaltete sich in Jahrtausenden. Wer will Piatons Größe heute schon abzirkeln, da niemand weiß, wo seine Auswirkung endet? In geistigen Reichen entscheidet nicht der augenblickliche Machtgewinn, denn das Pathos der gewaltigen Forderung kann unerwartet in Urenkelgeschlechtern wieder zutage quellen. Zwar kann Piaton nicht zeitlos und unbedingt Vorbild und Richter sein, denn jede Weltwende hat ihr eigenes Gesetz. Er ist Gründer des abgelaufenen Weltalters, nicht nur als Anstoß des Beginnens, sondern als ewige Gestalt, die in verschiedenen Zeiten sich mit verschiedenen Kräften regt. Das Scheitern seines politischen Willens, der Damm, mit dem seine Mitwelt ihn umringt, hat seine schöpferischen Kräfte so gestaut und in den innern Ring getrieben, daß er durch geistige Steigerung und Vollendung der Ahnherr der geistigen Geschlechter wurde. Sein lebendiger Kreis, die Akademie, soll noch heute aller höheren Bildung durch diesen Namen Anspruch auf Würde verleihen . . . als Gipfel aller Philosophie, als Gründer der Wissenschaft ist Piaton anerkannt . . . man weiß, daß er den geistigen Raum schuf, in dem das Christentum als Hierarchie und dogmatisches Gebäude errichtet werden konnte . . . und als das höchste Mittelalter in der Dichtung seinen Ausdruck fand, da waren es Piatons Träume von Paradies, Hölle, Planetensphären, die endlich sich in der gemäßen Gestalt vollenden: in Piaton wurzeln die geistigen und seelischen Grundmächte der europäischen Bildung überhaupt, und darum kann auch er wie „die Natur" und „die Antike" als erneuende Gottheit angerufen werden, wo die Säfte des Lebens stocken. Daher auch die große Gefahr, daß immer von neuem blasser Idealismus, rein-geistige Nachahmung mit Platonischer Zeugekraft verwechselt wird. Wie in der katholischen Hierarchie, im ehelosen Priesterstaat und, im Sinne der Politeia Krieger und Geistlichen in eine Person verschmelzend, in den geistlichen Ritterorden angeblich utopische Forderungen Piatons schon erfüllt wurden, ist oftmals dargelegt. Lange Jahrhunderte schien allerdings Aristoteles über Piaton gesiegt zu haben — aber Aristoteles 2
selbst ist Halb-Platoniker und sein großes Weltbild, das Beste seiner Lehre, ist Platonisches Erbe, so daß im christlichen Mittelalter Kraft und Gegenkraft aus Piaton stammt und das durchaus Unplatonische im Spiel der geistigen Kräfte fast wirkungslos verhallt. Die Aristotelische Scholastik wird zerbrochen von den Mystikern, Erben des Neu-Platonismus und Gründern eines vertieften Christentums. In der Renaissance aber wurde Piaton selbst, zumal in der Florentinischen Akademie, als Erwecker der Persönlichkeit, als Zerbrecher erstarrender Formen des Christentums ins Leben gerufen. Der „Timaios", der auf das Weltbild des Mittelalters unbewußt so stark als religiöses Buch gewirkt hatte, trat nun verwandelt und verwandelnd als Vorbild und Anstoß in die weltliche Naturforschung: Kepler, Galilei, Giordano Bruno empfanden sich als Platoniker (oder der Legende des „Timaios" folgend als „Pythagoreer"). Wie seltsam, daß in Piaton die Wurzeln liegen für die so verfeindeten Richtungen: der pantheistischen Naturphilosophie der Renaissance, die in Goethe und Schelling zu kurzem Tagwerk erwacht, und der exakten mathematisierenden Naturforschung, die mit der Zeit so gründlich von ihrem philosophischen Hause abrückte, als ob sie sich ihres königlichen Ahnherrn zu schämen hätte. Eine echte Flamme Platonischer Menschheit schlägt im Norden auf dem kargen Boden der Altmark auf. In Winckelmann zündet der „Phaidros" und schmilzt ihn um zu einem neuen großen Heiden, ohne dessen Erscheinung Herder, Goethe, Hölderlin nicht hätten werden können, was sie waren . . . Dann legt Schleiermacher den Grund der Piatonforschung, doch mußte diesem feinen Geiste die auf das Wirkliche gerichtete Leidenschaft, der zeugende Kern seiner Persönlichkeit, fremd bleiben, und weit eher würde man in seinen Einleitungen zuviel von aufklärerischem Verstände als vom Lebensgefühl der Romantik finden. Der spezialistischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts mußte Piaton fremder und fremder werden. Er wurde ihr zum Stifter und Musterbild der „Begriffswissenschaft", denn daß seine „Idee" nichts anderes sei als der naiv „hypostasierte" Begriff, wurde herrschendes Dogma. Woher stammt diese unfruchtbare Legende? Daß die Aufklärer und Kant ihn aus Reiner Vernunft her begreifen wollten, ist natürlich. Aber nach Winckelmann, Herder, Goethe schien eine so einseitige Deutung des Heroen nicht mehr möglich, und der Jüngling Schelling schien berufen, die Platonische Philosophie zu erneuern. Mag man von seinen Systemen denken, wie man will, mag man selbst vermuten, daß dieser übermenschliche Platonische Anspruch den Jüngling in einer Zeit blendete, in der der Philosophie die höchste Führung des menschlichen Geistes nicht mehr beschieden war — so genügt es hier, nur daran zu erinnern, daß Schelling, der als Knabe Piatons Mythen sammelt und bis zum Ende vom Mythos Piaton geleitet wird, nicht Kantianer, nicht Fichteaner, sondern Platoniker ist. Schelling erkennt in Piatons Gesprächen Kunstwerke I*
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und Organismen, und der Sinn von Piatons Lehre ist für ihn Anschauung, Bild, Gestalt, nicht Begriff. Jener Piaton der Begriffe aber stammt von Schellings einstigem Freunde und Anhänger. Hegel hat in denkwürdigen Worten die welthistorische Größe Piatons anerkannt, aber diese Größe ist für den Entwicklungsenthusiasten eben nur „historisch". Auch seine Lehre vom objektiven Geist enthält viel Platonisches, aber das Halbe ist oft Feind des Ganzen. Er spottet über die Leute, die in der Philosophie zurückkehren wollen, sei es zum religiösen Glauben, sei es zum Piatonismus. „Beides sind Momente, die ihren wesentlichen Standpunkt und Stellung haben; aber sie sind nicht Philosophie unserer Zeit!" Wie richtig als zeitloser Satz, daß es kein Zurück gibt — wie falsch als Kündung über die wirkenden Kräfte in der eigenen Zeit: als Fortschrittsglaube! Niemals erfüllt der Sinn des Lebens sich im reinen, von menschlicher Gegenwart abgelösten Denken. Die von Hegel berufene Geschichte hat seine Zuversicht, mit seiner „Philosophie unserer Zeit" über Piaton hinausgestiegen zu sein, als Hochmut gestraft. Um so bitterer, daß die Entwicklung trotz dieses Gerichtes über Hegel nicht einmal „Fortschritt" war: das Beste seiner Lehre gab sie preis, aber den verderblichen Keim, den Hang zur austrocknenden Begrifflichkeit, hat sie mit mütterlicher Liebe gehegt und großgezogen. Die Geschichte der Platon-Deutung in jenem geistigen Verlaufe ist selbst ein Beispiel dieser Entartung. Hegel findet wohl die Form der Platonischen Dialoge schön und anziehend, aber besessen vom „Begriffe" sieht er nur ästhetische und private Zufälligkeit darin und nicht mehr die lebendige Ganzheit in Piatons Werk, in der jede Deutung gründen muß. Vor Mythen, die Hölderlin und Schelling verehren, warnt Hegel, daß man sie nicht als höchste Wahrheit nehme. Ob aber die Mythen im Bilde höchste Wahrheit ausdrücken, an die das Begriffswort nicht heranreicht — eine Frage, die sogar Kant bejaht hatte — diese Frage scheint Hegel sich nicht mehr gestellt zu haben. Sein Bild des Menschentums verblaßt, weil er Kunst und Natur dem Begriff opfert. Wenn er noch groß war, weil sein Begriffsnetz der Widerschein einer großen inneren Anschaung war, wenn erst die folgende Zeit seinen „Begriff" ausdörrte und danach jenen blutlosen „Piaton der Begriffe" herauspräparierte, so ist des jungen Schelling Hellsieht zu bewundern, da er so früh den unterirdischen Riß des Jahrhunderts erkannte. Als Hegel 1807 durch seine „Phaenomenologie des Geistes" seine Unabhängigkeit von seinem Führer, dem genialen Jüngling erklärte, erkannte dieser den heillosen Gegensatz zwischen dem Reich Goethes und dem 19. Jahrhundert. Er antwortet, stolz die verhüllten Angriffe übergehend „. . . Das, worin wir wirklich verschiedener Überzeugung oder Ansicht sein mögen, würde sich zwischen uns ohne (!) Aussöhnung kurz und klar ausfindig machen und entscheiden lassen; denn versöhnen läßt sich freilich alles, 4
Eines ausgenommen. So bekenne ich, bis jetzt Deinen Sinn nicht zu begreifen, in dem Du den B e g r i f f der A n s c h a u u n g opponierst." Das ist sein unwiderruflicher Abschied . . . Anschauung gegen Begriff! Der Bruch des Jahrhunderts! Hegel blieb Sieger und wurde der Führer zwischen Goethes Reich und dem geistigen Interregnum des späteren Jahrhunderts. Als Goethe mit dem Bekenntnis, daß dies Jahrhundert übersteigerten technischen Fortschritts und geistiger Mittelmäßigkeit nicht aufzuhalten sei und daß er, vielleicht mit noch wenigen, der letzte einer Epoche sei, die sobald nicht wiederkehre, aus dem Leben geschieden war, verblich auch Schellings Wirken. Hegel aber wirkte über seinen Tod, über den Zusammenbruch der Philosophie überhaupt weiter: seine Begrifflichkeit wucherte in immer bleicheren Trieben — wenn auch seine abstrakten Epigonen nichts von Philosophie wissen wollten und sich selbst für Empiriker einer bluthaften oder sachlichen Wirklichkeit hielten. Nur Schopenhauer bewahrte, bis ins Greisenalter unbeachtet, in seiner Verehrung der Platonischen Idee einen Funken von Goethes Feuer, genug, um durch seinen Nachfolger einen großen Brand zu entfachen. So paradox es klingt: erst der große Gegner, Nietzsche, hat Piatons Leidenschaft aus der Seele verstanden. Wie kein anderer hat er den Zusammenbruch des modernen Geistes, den „Fortschritt" als rasendes Abwärts bekämpft. Er war Seher und kannte die Not der neuen Gründung, in ihm war die Leidenschaft, sie wirklich zu vollziehen — darum verstand er Piaton im Innersten, als die Gelehrten bloß um seine Gewänder würfelten. In Piaton erkannte er den Gründer des ablaufenden Weltalters, mit ihm, dem „neidisch geschauten Vorbilde" glaubte er um das neue Reich kämpfen zu müssen, aber immer wieder sind es Platonische Bilder, Mythen, Gesten, die seine neuen Gedanken wecken und ihn den steilen Weg in die Höhe drängen. Er empfindet, trotz Mißdeutung seiner Lehre, Piaton als wirkende Lebensmacht, und darum sind seine Angriffe noch eine höhere Ehrung als das selbstgefällige Lob mancher Kritiker. Romantisch ist er weder in seiner Liebe zu Piaton noch in seinem Haß, romantisch war nur seine Hoffnung, sich selbst und seine Zeit reif zu wähnen, daß er Piatons Kranz auf sein eigenes Haupt setzen dürfe. Piatons Göttlichkeit haben von Aristoteles bis Nietzsche alle Empfänglichen verehrt, wo nicht erkenntnistheoretische Gerüste das Heiligtum verdeckten. Als zuletzt die methodische Wissenschaft in sich skeptischer wurde, da wollte sie den unfruchtbaren Streit beenden, indem sie den Menschen Piaton in die Mitte stellte. — Aber den Menschen zu sehen ist das Schwerste, und die wissenschaftliche Schulung hat nicht ungestraft ein Jahrhundert lang das Gegenteil getan. So verwechselte man, hilflos der Zeitmode folgend, den Menschen mit dem Privatindividuum, suchte Schlafrock und Weckuhr und labte sich am „Allzu-Menschlichen". Um Gottes willen nur nichts Göttliches im Menschen! — so schien eine Art protestantischer Gewissensangst zu predigen, die nicht mehr religiöse 5
Einkehr, nur noch Verlegenheit der Entwurzelten bekundete . . . Dann hat Friedemann den Menschen Piaton mit seinem göttlichen Hauch, die Gestalt, die alle Liebe zum leibhaften Dasein, alle Blühkräfte der Natur in sich bewahrt, in seinem Buche sichtbar gemacht. Doch war er so getrieben vom Bilde des Heros, daß er in drängender Zeit seine Fülle in die knappste Form preßte, eine genaue Kenntnis der Platonischen Werke beim Leser voraussetzend. Andere haben in der Folge Piatons staatliche Aufgabe, oder den Gegenpol davon, die schöpferische, das Rationale sprengende Seele, in seinen Mythen, gezeigt. Dann wurde im Bereich der neuen Sicht jedes Platonische Gespräch als Einzelwerk in seiner Architektur untersucht und erläutert. Doch fehlt noch die Darstellung, welche die einzelnen Werke mit dem Gesamtwerk und Schicksal verbindet und — ohne Willkür der Deutung und ohne Vergrübelung in Probleme — schlicht betrachtet, was sich im Blick auf das Gesamtwerk notwendig ergibt. Man hat das Problem aufgestellt, ob man Piaton „harmonisieren" oder „die Brüche in seiner Entwicklung anerkennen" solle. Die Frage beweist, wie wenig man mit Piaton anzufangen weiß: ist er der Heros, dann sind Risse nur im Auge des Betrachters. Der schöpferische Mensch muß sich in den verschiedenen Gezeiten verschieden äußern — gerade weil Er der Gleiche bleibt und das Gleiche will. Er selbst hat uns den Weg gewiesen: die Einheit, die Idee in einer Sache zu suchen, dann werde man sie auch finden, und nur der Fund dieser Einheit kann die Richtigkeit der Deutung verbürgen. Vier Momente können den überreichen Stoff gliedern: l.Die dialektisch entwickelte Lehre, 2. Die Mythen, 3. Die Gestaltenwelt im Werke, 4. Piatons politische Aufgabe und das Schicksal in seiner Zeit. Im Zuge des 19. Jahrhunderts lag es, nur das Erste, das logische System, ernst zu nehmen und alles andere eher als störendes Rankenwerk zu betrachten, von dem man den Stein säubern müsse, um die Inschrift selbst zu lesen. Heute kann man das Ergebnis dieser Methode feststellen: unsäglich widerspruchsvoll sind die Deutungen der Einzelwerke und der Gesamtlehre, weil seine Lehre ohne sein Schicksal und seine Gestalt nur ein Bruchstück bleibt, weil sie kein freischwebendes System ist. Der rechte Weg zur Einheit des Ganzen muß vom entgegengesetzten Ende ausgehen, von Piatons politischer Aufgabe, von der Sendung in der lebendigen Gemeinschaft seiner Weltstunde, von der Landschaft Attika. Man hat vor nicht langer Zeit die Echtheit der Briefe, die uns den Schlüssel zu seinem Schicksal, zur politischen Leidenschaft geben, damit zu widerlegen geglaubt, daß man sagte, es sei unplatonisch, von sich selbst zu reden. Aber erst dann wird man den Zugang zu den Werken finden, wenn man gefühlt hat, in welchem Sinne Piaton immer von der eigenen Person redet: Im schöpferischen Menschen ist Sache und Person nicht zu scheiden. Piaton hat das Meiste seiner Reden und Mythen dran Erwecker Sokrates in den Mund gelegt: er selbst und Sokrates Bild wandeln sich gemeinsam. 6
Den ersten Anstieg zur Deutung Piatons werden uns einige Stellen zeigen, in denen das, was in seinem Werke Sokrates sagt und tut, nicht zum geschichtlichen Sokrates stimmt, in denen Plato also in Wirklichkeit nur von sich selber spricht. Von ihnen ausgehend werden wir deuten dürfen, wie das Bild des Sokrates zugleich das Bild des Platonischen Wollens und Tuns ist. Diese Linie bezeichnet die Einheit des Gesamtwerkes und weist uns den Weg, die Hauptgedanken, jedes Einzelwerkes zu finden und es als Glied des ganzen Organismus zu begreifen. Wer sich selbst in Piatons Dialoge versenkt hat, dem wird eine solche vereinfachende, weil auf Einheit, auf ein tätiges Ziel gerichtete Betrachtung oberflächlich und verstandesmäßig vorkommen. Aber uns in die Tiefe von Piatons Wesen zu führen, wäre vielleicht eher dem Dichter möglich. Hier ist nur die Aufgabe gestellt, die aller weiteren Arbeit, mag sie philosophisch, geistesgeschichtlich, philologisch sein, vorausgehen muß: die einzelnen Werke zu verstehen aus der Gesamtpersönlichkeit. Das Ewig-Gültige des Platonischen Wesens hat sich nicht in zeit- und raumloser Theorie ausgedrückt, wie meist naiv vorausgesetzt wird und wie die irreführende Parallele mit Kant vortäuschen konnte: es zeigt sich unserm Auge nur in seiner besonderen Verbundenheit, in der einmaligen irdischen Sendung. Lehre, Mythen, Gestaltenwelt finden ihre Einheit im herrscherlichen Willen. Dann hat man aus Piatons Worten gelesen, daß er das Wesentliche seiner Lehre gar nicht im Werke ausgesagt habe, und bemüht sich, die eigentliche Lehre durch grübelnde Forschung zu rekonstruieren. Aber das war der Sinn seiner Worte nicht: Piaton sprach aus, daß seine Lehre überhaupt nicht sagbar sei und daß sie nur im Kreise seiner Vertrauten durch seine persönliche Gebärde aufleuchte. Das Buch wird niemals die persönliche Gegenwart ersetzen, aber wenn wir die Bücher als Ausdruck seines Wollens und Tuns verstehen, so wird uns doch ein Abglanz seiner Person und seiner Gebärde sichtbar. Und wenn der Titel dieses Buches mehr die Methode als das Ziel bezeichnen sollte, so würde er lauten: Piatons Schicksal in seinen Werken. Wir wollen hier nicht Systeme konstruieren, nicht Geheimnisse erraten, nicht in Probleme verstricken: nur was Piatons in so wunderbarer Weise erhaltene Werke jedem sagen können, der sie hingegeben und unbefangen aufnimmt, soll deutlich herausgehoben werden. Dazu muß man sich freilich aus den Empfindungen modernen Lebens, aus dem Begriffsnetz modernen Denkens lösen und Piatons Reden und Winke verstehen als Äußerungen eines Mannes, der sich des Gegensatzes zu Seiner Gegenwart, und seiner großen zeitlichen Sendung bewußt war: das neue Bild und Gesetz zu bringen in einer Zeit des Widerstreites aller entfesselten Gedanken und Instinkte, die nicht mehr fähig war, die Herrscher im geistigen Reiche zu denken auch als Herrscher im wirklichen Staate wie Lykurg und Pythagoras. 7
Geschichtliche Erinnerung Wenn es das Mißverständnis des nur spiegelnden, nicht zeugenden Geistes ist, Piaton als Ideologen zu betrachten, der sich von Raum und Zeit löst, um ein abstrakt-ewiges System zu gründen, dann wird man ihn nicht deuten können, ehe man sein Bild in die geschichtliche Landschaft s e i n e s Athen, s e i n e s Hellas gerückt hat. Zwar liest sich die Mehrzahl seiner Werke, ohne daß man sonderlich an jene geschichtlichen Ereignisse erinnert wird, und so wurden sie schon im hellenistischen Zeitalter gelesen, das mit seinem Tode beginnt. Aber gemeint sind die Werke als lebendige Gespräche mit Zeitgenossen, denen mit Piatons Wort auch die Geschichte, die Luft, die gesamte Gegenwart Athens gegeben war. Als er geboren wurde (428), hatte sische Krieg drei Jahre gedauert. Die ihrer höchsten Höhe, aber das innere schönste und glänzendste Zeitalter der dem Ende zu.
der „dreißigjährige" PeloponneMachtmittel Athens standen auf Gefüge begann zu wanken: das Menschheitsgeschichte neigte sich
Er war dreizehn Jahre alt, als Athen, von Alkibiades verführt, den verhängnisvollen Zug gegen Syrakus unternahm. Kein Zweifel, daß er von nun an die tragischen Geschicke Athens, den unaufhaltsamen Sturz, als persönliches Unglück miterlebte. Blickte er damals, im Widerstreit der Parteien, auf die ruhmvolle Geschichte Athens zurück, um einen festen Halt in der Beurteilung der Entschlüsse zu finden, so galt ihm als Sonne, die für immer seine politische Sicht bestimmte, die Schlacht von Marathon, die jetzt 75 Jahre zurücklag. Griechenlands Größe vollendet sich im Sieg über die Perser, in heroischer Gesinnung, die sich in kriegerischer Tat und tragischer Dichtung erfüllt. Aischylos nahm an der Marathonischen Schlacht als fünfunddreißigjähriger Krieger teil, und die Inschrift, die er später für seinen Leichenstein verfaßt hat, spricht nur vom Mitkämpfer der Marathonschlacht, nicht vom Sieger im Agon der tragischen Dichtung. Als 480 die Griechen bei Salamis über die persische Flotte siegten, nahm Aischylos wieder am Kampfe teil, der sechszehnjährige Sophokles tanzte im Siegesreigen, und Euripides wurde im gleichen Jahre geboren. Das sind die drei Tragiker, von denen Piaton oft Verse in seinen Gesprächen wiederholt, wenn ihm auch Homer und Hesiod, die heiligen Bücher der Alten, noch mehr bedeuten. 8
Es war das Recht seines Blutes, wenn er auf dem aristokratischen Geiste bestand. Sein Vater Ariston leitete sein Geschlecht vom Könige Kodros ab, seine Mutter Periktione war mit Solons Geschlecht verwandt, wie auch ihr Vetter Kritias und ihr Bruder Charmides, die späteren Tyrannen, etwas von Solons staatsmännischem und dichterischem Erbe bewahrt haben. Welchen Eindruck der Oheim Charmides auf Piaton gemacht hat, sagt uns sein „Charmides". Kritias hat durch die Rückberufung des Alkibiades entscheidend auf Athens Geschick eingewirkt, und dieser Alkibiades war es, der auf die Phantasie des Knaben aufs Stärkste gewirkt hat, lockend und warnend, durch sein Genie und sein© Maßlosigkeit. Er wurde Symbol des Schicksals der hellenischen Nation überhaupt. Piatons Stiefvater Pyrilampes war einflußreicher Staatsmann im Kreise des Perikles, so daß Piaton durch Blut, Erziehung, Umgang den Anspruch auf politische Macht in Athen erheben durfte, den andere durch geistige Arbeit und Betriebsamkeit mühselig zu erringen suchten, und man versteht, wie stolz er auf die Sophisten herabsah, die in der fremden Stadt, ohne jeden natürlichen Anspruch auf Macht, sich ihren Einfluß durch gleißende Redekunst erwarben. Die Kenntnis der führenden aristokratischen und demokratischen Kräfte war ihm in engster Familie vertraut, aber der wundervolle Glanz des Perikleiischen Zeitalters blendete ihn nicht. So sehr er an den Bewegungen des neuen Geistes teilnahm: für den Staatsmann blieb Solon sein Vorbild, für den Volksgeist Marathon. Themistokles, der Salaminische Sieger und Gründer der attischen Seemacht, des Alkibiades neidisch geschautes Vorbild, galt ihm wenig, und seine Flucht nach Persien mochte ein warnendes Vorzeichen sein. Seit dem Scheitern des Themistokles zeichnen sich zwei Linien der attischen Politik ab: eine gemäßigt aristokratische, nationale, die darum Ausgleich mit der althellenischen Vormacht Sparta sucht, und eine schein-demokratische, machthungrige, die die unbedingte Herrschaft in Hellas erstrebt. Kimon, der Sohn des Marathonsiegers, verwirklicht als Gründer des attischen Seereiches dennoch jene alten gebändigten Kräfte und stellt den athenischen Geist in seiner Person aufs Schönste dar. Gegen ihn wendet sich Perikles, der seine persönliche Macht auf eine fortschreitende Demokratisierung Athens gründet, die Macht der Flotte vergrößert und den Gegensatz zu Sparta steigert. 460 war jene Spannung, zum Austrag gekommen, und symboli'scherweise fiel 'die Entscheidung im Kampf um das uralte Erbe, den Areopag. Dieser ehrwürdige hohe Rat, mächtig durch seine Geltung im ganzen Griechentum, hatte durch seine Tatkraft in den Perserkriegen sein Ansehen noch vermehrt. Er war als Bollwerk aristokratischen Erbes in der Solonischen Verfassung erhalten geblieben und mußte notwendig in Gegensatz geraten zu den fortschrittlichen demokratischen Kräften. Während Kimon in Ägypten Krieg führte, wurde der Areopag seines politischen Vorrechtes 9
beraubt und als jener, zurückgekehrt, diese umstürzlerische Maßnahme aufheben wollte, wurde er selbst verbannt. Die Schein-Demokratie hatte gesiegt. Aber es darf im Blick auf die wenige Jahrzehnte später einsetzende Entartung gesagt werden, wie noch die formenden Kräfte des älteren Hellenentums sich damals im schönen Maß und in der Einordnung der1 Person und der Partei in die Ganzheit der Vaterstadt bekundeten. Kimon bewies auch in der Verbannung seine unbedingte Hingabe für Athen, und Perikles nutzte seine Macht mit weiser Zurückhaltung aus, denn er wünschte den Gegensatz zu Sparta nicht zu überspannen. Er selber veranlaßte, daß sein Gegner Kimon, der ehemalige Liebling des Volkes, nach fünf Jahren aus der Verbannung zurückgerufen wurde. Nach dessen Tode folgt unter Perikles die Glanzzeit Athens, die Zeit der höchsten Reife, nicht des Säens, die bis zu Piatons Geburt dauert. Piaton würde in Kimons Reihe gehören, aber er redet nicht von diesem Helden der Seemacht. Um so wichtiger, daß der gewaltige Aischylos in den Kampf des Volkes um den Areopag als Dichter eingegriffen hat. Nach den großen Perserschlachten hatte er durch seine „Perser", das Urbild der Siegesfeier, auch den Feind geehrt und Heraklitisch die Gegensätze geeint. Dann ging er wie später Piaton nach Sizilien, an den Hof des großen Hieron. Nach Athen zurückgekehrt unterlag er dem jugendlichen Nebenbuhler, dem Liebling Athens Sophokles. Wie die hohen Leistungen der griechischen Kultur dem edlen Wettkampf, dem Agon entsprossen, so scheint die Niederlage auch die Kraft des Tragikers gestählt zu haben: mehr als fünfzigjährig schuf er seine größten Werke „Prometheus" und „Orestie". Diese mit der großen mythischen Verherrlichung des Areopag in den „Eumeniden" wurde 458, also bald nach der Entrechtung des Areopag und Kimons Verbannung aufgeführt. Sophokles, diese herrliche Verleiblichung des Perikleischen Alters (496 bis 406), starb, als Piaton 23 Jahre alt war. Euripides (480 bis 406) ist ein zehn Jahre älterer Zeitgenosse des Sokrates. Während Sophokles den unbefangenen volkstümlichen Götterglauben ausdrückt, frißt an Euripides der Zweifel der sophistischen Aufklärung. Die Dichter zeigen die Widersprüche des geistigen Lebens, die Piaton überwinden soll. Denn es ist für das Schicksal von Sokrates und Piaton entscheidend, daß Athens Volk, so fortschrittlich demokratisch es gesonnen war, doch im Glauben und Kult konservativ blieb. Euripides, der große Dichter des Hellenismus, kann in Athen gegen den gläubigen Sophokles nicht aufkommen. Aber im berechtigten Mißtrauen gegen Aufklärung und Sophisten war das Volk nicht imstande, ihr Gegenteil, aufbauende Philosophie, schöpferischen Geist von ihnen zu unterscheiden. Vielleicht ist diese Geistfeindschaft, diese Flucht vor dem schöpferischen Geist, wenn die Gefahr des abstrakten und zersetzenden Geistes erkannt wird, der natürliche Tod reifer Kulturen. 10
Anaxagoras, der die Philosophie in Athen heimisch machte, hat als erster unter der Geistfeindschaft zu leiden. Sein mittelbarer Einfluß war bedeutend, und er ist es, der nach Piatons Zeugnis dem Geiste seines Freundes Perikles den hohen Flug verlieh. Seine Lehre vom weltordnenden Nus stimmte wunderbar mit der politischen Gesinnung der Zeit, der in Perikles' Geist zentralisierten Macht des attischen Seebundes zusammen. Auch Euripides hat ihn sehr verehrt. Aber das Volk betrachtete den forschenden Mann mit Mißtrauen, so daß er, nach Ausbruch des Peloponnesischen Krieges der Gottlosigkeit angeklagt, sein Leben durch Flucht retten mußte. Doch soll er kurz danach, in Piatons Geburtsjahr, 72 Jahre alt, gestorben sein. Der Chorführer der eigentlichen Sophisten ist der Abderit Protagoras, Zeitgenosse des Sokrates und Euripides. Er hielt sich mehrfach in Athen auf, und der Einfluß des bezaubernden Redners auf die attische Bildung war groß. Auch er ist dem Perikles befreundet, von Euripides hoch geschätzt. Die Zusammenkunft des Sokrates mit den berühmten Sophisten, die Piaton im „Protagoras" dramatisch erzählt, wäre kurz vor den Ausbruch des großen Krieges zu setzen. Er hatte unter dem Mißtrauen des Volkes nicht weniger zu leiden als Anaxagoras und Sokrates: auch er wurde der Gottlosigkeit verklagt und ertrank auf der Flucht nach Sizilien. Das scheint 411 geschehen zu sein — dann wäre Piaton siebzehn Jahre alt gewesen. Ehe die Tragödie verwelkt war, blühte die Komödie auf: Im Geburtsjahr Piatons trat der junge Aristophanes zum ersten Male vors Volk. Er kämpft für die ritterliche Zucht der Marathonzeit, gegen die fortschreitende Demokratie und Piaton fand an seinem anmutigen Werk größten Gefallen. In seiner Komödie rät er zum Frieden mit Sparta und greift den Demagogen Kleon, den Gerber, an. Kleon steht auf der Höhe der Macht, und kein Schauspieler wagt, ihn zu parodieren — Aristophanes selbst muß seine Rolle spielen. Aber die bewahrenden Kräfte pflegen das Neue zu mißkennen: gerade dieser Aristophanes ist Träger jenes geistfeindlichen Irrtums, dem Sokrates erliegt. 424 läßt er in den „Wolken" Sokrates namentlich auftreten und lädt ihm in unbegreiflicher Verkennung und ganz willkürlich alle Torheiten und Verkehrtheiten auf, die Sokrates an den Sophisten bekämpft. Er will die Sophistik als närrische Grübelei, Verderbnis der Jugend, Zersetzung von Gesetz und Glauben stempeln — aber verbildlicht in jenem stadtbekannten Philosophen! Er selber verleiblicht die Gesinnung, die das alte Gut bewahrt, vor der modernen Zersetzung warnt, aber nicht fähig ist, von ihr die neue Schöpfung und Synthese zu unterscheiden. Ihr versagt er sich im Aberglauben, daß es ein Zurück gäbe. In solchen Wirbeln der Übergangszeit versteht der Mensch seine Verbundenheit mit dem Ganzen nicht mehr. Die Einsamkeit des aufbauenden Genius deutet sich an: Sokrates verfeindet sich die Anhänger der alten Zucht, 11
weil er nur im neuen Leben die Rettung weiß, und verfeindet sich die fortschrittlichen Geister, weil er ihre Gesetzlosigkeit verdammt. Ein Vierteljahrhundert nach Aufführung der „Wolken" hat Athen jenes ungerechte Urteil an Sokrates vollzogen, und da diese Komödie als Buch fortwirkte, so scheint Aristophanes, wie die Apologie andeutet, an der Hinrichtung des Sokrates mitschuldig zu sein. Piaton, unter dessen Kopfkissen man nach dem Tode die Werke des Aristophanes gefunden haben soll, betrachtet solche Feindschaft unter großen Männern als bloßen Irrtum, bedingt durch die Wirrnis der Zeit. Ohne Bitterkeit setzt er auch dem Dichter im Symposium ein Denkmal: Aristhophaneis harrt nach dem geistigen Wettkampf mit den letzten Zechern neben Sokrates aus. Das sind die Dichter, denen Piaton seine Paideia verdankt. Seine hohe Meisterschaft, durch kleinste dramatische Züge den lebendigen Sinn seiner Werke zu vergegenwärtigen, stützt die Überlieferung, Piaton habe in früher Jugend Dramen gedichtet und sie verbrannt, als er Sokrates kennenlernte. Er verbrannte die Brücken hinter sich, weil er in Sokrates erkannte, daß nur auf neuem Ufer ein schönes Leben zu gründen sei. Doch erweckt der Name „Perikleisches Athen" mehr das Bild der tempel- und bildgeschmückten Stadt. In den fünfzehn Jahren vor Ausbruch des großen Krieges wurde das schönste Baudenkmal der Welt, der Parthenon, unter Pheidias' Leitung gebaut. Wie die tragischen Helden auf höchster Ebene stehen, auf der sie, sterblich und unterliegend, doch mit Göttern wetteifern dürfen, so weiß Pheidias das Menschliche und Göttliche im Verein darzustellen, den Menschen in sieghafter Schönheit und Vollendung, den Gott in menschlicher Leiblichkeit. Diese Epoche höchster Kunst reicht noch in Piatons Kindheit, und in seiner Kunst der Menschendarstellung mit den schlichterhabenen Mitteln dürfen wir einen Abglanz jener Bildwerke sehen. Pheidias ist ihm der Bildhauer schlechthin. Was aber bedeutet es, daß unmittelbar die bildende Kunst in Piatons Werk sich so wenig spiegelt? Hat er gespürt, daß diese vollendete Kunst ein Ende ist und ein neues Leben aus anderen Quellen gespeist werden muß? In Piatons Alter erwirbt Praxiteles unsterblichen Ruhm, aber seine Werke sind weder Aufbruch eines neuen Weltalters noch Bewahrung des alten. Wenn bei Pheidias die Menschen Götterstufe erreichen, so wandeln bei Praxiteles Götter sich in anmutige Menschen. Pheidias ist noch ganz Ausdruck eines staatlichen Gesamtgeistes: sein Glaube ist schöpferisch, seine Kunst ist fromm. Praxiteles' Kunst löst sich aus dieser Gebundenheit. Perikles, der Maßvolle und Schöne, konnte die Macht doch nur durch Zugeständnisse an den wuchernden Demagogismus bewahren. Das ist der Grund, warum Piaton ihm einmal den Rang des großen Staatsmannes bestreitet, denn ein Hirt, unter dessen Obhut die Herde ver12
wildere, sei kein guter Hirt. Perikles konnte dem Verhängnis Griechenlands nicht wehren. Als 431 der Peloponnesische Krieg ausbrach, zeigte sich erschreckend, wie weit unter der glänzenden Decke die Zersetzung des staatlichen Geistes um sich gefressen hatte: im Augenblick schwerster Gefahr, die ein Zusammenfassen der Kräfte erforderte wie nie seit den ersten Perserschlachten, wurde in widerwärtiger Weise gegen das Haupt des Staaites gehetzt. Die fortschrittlichen Demokraten, von Kleon geführt, kämpften gegen Perikles ebenso wie die Aristokraten.. Er wurde verklagt, und da man ihn selbst nicht stürzen konnte, verwundete man ihn in seinen Freunden. Wie in jener Zeit höchster Formkraft sich noch die zersetzenden Kräfte symbolhaft auswirken, so treffen sie den Mann, der uns die Form der klassischen Zeit vergegenwärtigt, und bringen jenen Periklesfreund Pheidias in den Kerker, in dem er kurz danach gestorben sein soll. Auch die Anklage entbehrt nicht des tragischen Schimmers. Wie immer, wenn die Kultur auf ihren Gipfel gestiegen ist, werden ihre Schöpfer von den nachrückenden Bürgern der Selbstvergötterung bezichtigt. So fand man Gottesfrevel und Hybris des Pheidias darin, daß er in adligem Bewußtsein sein eigenes Haupt und das des Perikles in den Marmor dfes Athena-Schildes gebildet hatte. Dann stürzte man den andern großen Freund des Perikles, Anaxagoras, weil er behauptete, die Sonne sei ein glühender Stein. Perikles mußte zufrieden sein, dem greisen Philosophen rechtzeitig die Flucht aus Athen zu ermöglichen. Der bitterste Angriff aber war die Anklage gegen Aspasia, die Mutter seines Sohnes. Der stolze Perikles, den die Komödie dem olympischen Zeus verglich, ließ sich herab, unter Tränen die Volksversammlung, seine Richter anzuflehen, ihm nicht die Schmach ihrer Verurteilung anzutun. Wohl ließ das Volk sich diesmal umstimmen, aber die Ausartung der Demokratie, die Herrschaft der Straße, die Athens Zusammenbruch erklärt, ist allen sichtbar geworden. Man mißversteht die Geistesgeschichte, wenn man den erst von Piaton herausgearbeiteten Gegensatz der echten Philosophie zur Sophistik als schon damals bewußt und wirkend voraussetzt. Zum Kreise des Perikles gehören ungeschieden Philosoph und Sophist. Es ist nicht so, daß die frühen Sophisten sichtlich und willentlich die Zersetzung des Staates und des Glaubens ins Werk setzen. Sie suchen eine neue Bildung, die vom Volk und von Aristokraten in gleicher Weise abgelehnt wird. So hemmungslos das Volk die neue Freiheit entfesselt, so reaktionär wehrt es sich gegen den neuen Geist, die „Sophistik", zu der es, wie Aristophanes, den Anaxagoras und Sokrates unterscheidungslos rechnet. Was Piaton sich gegenübersieht, ist keine andere Idee, kein großer Gegner, es ist eine dumpfe Spannung, ein höchst verworrenes Chaos, in dem die eigensüchtige Parteileddenschaft giftig wuchern kann. Das Chaos zu gestalten, wird er allmählich als seine Aufgabe erkennen, 13
und der Weg dahin ist, daß er aus dem beweglichen Zeitgeist die Philosophie erlöst, indem er die Sophistik überwindet. Als die Gefahr aufs höchste stieg, legte das Volk unter dem Druck der nahen Gefahr die Macht wieder in die Hand des so mißhandelten Perikles. Die dumpfe Drohung des Endes äußert sich in der blutigen Leidenschaft, die den Beginn des hellenischen Bruderkrieges entstellt. Die Erfahrungen dieses Krieges sind es, die sich später in Piatons Forderung verdichten, daß Hellas sich als Nation fühlen soll und daß ein Bruderzwist nur mit äußerster Schonung ausgekämpft werden darf. In den Anfang fällt, nach langer Belagerung, die sich durch einen strengen Winter erstreckt, die Eroberung von Potidaia. In diesen Kämpfen zeichnete sich Sokrates durch Unerschrockenheit aus und rettete dem verwundeten Alkibiades Leben und Waffen, wie dieser im Symposion erzählt. Sokrates war damals vierzig Jahre, Alkibiades, der als sein Liebling galt, etwa zwanzig. Im zweiten Kriegsjahr bricht in Athen die Pest aus (Hippokrates!), der 429 Perikles zum Opfer fällt. Das ist etwa ein Jahr vor Piatons Geburt. Perikles' Tod bezeichnet vollends den Umschlag der klassischen „Demokratie" in wilden Parteikampf und Pöbelherrschaft: Kleon, der Gerber, führt den Staat. Die Athener, die Landschlacht fürchtend, haben sich hinter die Mauern zurückgezogen, ihre Güter werden verwüstet, die großbäuerliche Gesinnung wird entwurzelt, der Pöbel vermehrt. Der junge Aristophanes rät von der Bühne zum Frieden. Sparta selbst bietet 425 den Frieden an — Kleon verwirft ihn. Im folgenden Jahre werden die Athener bei Delion von den Böotern entscheidend geschlagen. Auf der wilden Flucht müssen Alkibiades und der Feldherr Laches die unerschütterliche Ruhe des Hopliten Sokrates bewundern. Kleon fällt 422, und Alkibiades, einst Mündel des Perikles, wird Führer der Demokraten. Nikias, der Feldherr, Führer der Aristokraten, hat anfangs das Übergewicht und schließt 421 Frieden mit Sparta, aber nach drei Jahren bewirkt Alkibiades den Wiederausbruch des Krieges. Schon 427 war der große Sophist Gorgias als Gesandter von Leontinoi nach Athen gekommen und hatte mit Erfolg die Hilfe gegen Syrakus erbeten. Seine gewaltige Redekunst hat in Athen dauernde Spuren, auch unmittelbar in Piatons Werk hinterlassen. Nun kam 416 wieder eine Gesandtschaft sizilischer Städte, um in Athen zum Kriege gegen Syrakus zu werben. Gegen Nikias setzt Alkibiades, der in einem großen Angriffskriege seine und Athens Macht begründen wollte, den Kriegsbeschluß durch. In diesem Jahre läßt Piaton sein Symposion spielen, in dem Alkibiades, der verwöhnte Liebling des Volkes, in seinem Glänze, aber neben Sokrates sich heimlich seiner Gefahr bewußt, sich bewundern und fast auch bemitleiden läßt. Im folgenden Jahre konnte der dreizehnjährige Piaton den Auszug der Flotte, geführt von Nikias und Alkibiades, anstaunen. Aber bald mußte er die furchtbaren Schä14
den, der Parteiwirtschaft miterleben. Im entscheidenden Augenblick der attischen Geschichte wurde Alkibiades verklagt, seines Amtes entsetzt und vor Gericht gefordert. Wäre er noch Sokratiker gewesen, so hätte er sich dem Gericht gestellt und hätte wahrscheinlich gesiegt. Seine Gegner sahen diese Gefahr und gaben ihm Gelegenheit, zum Feinde zu flüchten. Athen verurteilte ihn zum Tode — er berät Sparta zum wirksamsten Angriff gegen Athen. Schwerlich wollte er die Vaterstadt zerstören, aber er wagte die bedenklichsten Mittel, um eine cäsarische Macht über ganz Hellas zu erringen. Was nun geschieht, wirkt entscheidend auf Piatons Schicksal ein. Alkibiades hätte über Syrakus siegen können — Nikias, krank und abergläubisch, führt Athens Heer in jenes entsetzenvolle Ende. Aber nachdem Sparta das Übergewicht erlangt hat, löst Alkibiades seine Verbindung, befreundet sich dem Satrapen Tissaphernes und sucht Versöhnung mit der Vaterstadt. Dort stürzen die Oligarchien unter Theramenes die demokratische Verfassung. Die attische Flotte weigert sich, den Umsturz anzuerkennen, und ruft Alkibiades nach Samos, der den Oberbefehl übernimmt. Geschickt hält er sich im Parteikampf neutral, bleibt fern von Athen, wo inzwischen ohne sein Zutun die oligarchische Regierung wieder gestürzt wird. Auf Veranlassung von Piatons Oheim Kritias wird Alkibiades nach Athen zurückberufen, aber er nimmt erst den Kampf gegen Sparta auf, siegt in zwei Seeschlachten, erobert Byzanz und kehrt nun 408 als Triumphator und Retter Athens mit gewaltiger Beute nach achtjähriger Trennung in die Vaterstadt zurück. An diesem einzigartigen Tage des attischen Schicksals, höchster Hoffnung, doch zweifelhafter Zukunft, war Alkibiades wenig über 40 Jahre, und Piaton, nun gereift, dies Schicksal zu erleben, war 20 Jahre alt. „Das war ein Tag, wie ihn Athen noch nie gesehen hatte. Die ganze Stadt steht am Ufer bis zu den Höhen der Munichia hinauf; e i n Jubelruf begrüßt den nahenden Helden." Die Parteien sind sich einig, die Not ist beseitigt, und Alkibiades ist der Retter, der einzige Mann, für den man den Göttern dankt. Er hält eine versöhnende Ansprache und wird zum unumschränkten Feldherrn zu Wasser und zu Lande ernannt — eine Macht, wie sie selbst Perikles nicht besaß. (Curtius.) In diesen Tagen wird Piaton den Zauber dieses seltenen Mannes erlebt haben, der immer wieder in den Dialogen schimmert. Erst später wird er sich ganz bewußt geworden sein, daß Alkibiades an dem Tage Griechenlands Zukunft verriet, als er vom Wege Sokratischen Geistes abbog. (Symposion.) Der Jubel Athens war nicht von Dauer, denn die Parteisucht war nicht geheilt. Sein furchtbarer Gegner Lysander wird Flottenführer und verbündet sich mit Kyros d. J., und als 407 ein Unterfeldherr gegen Alkibiades' Verbot eine Schlacht wagt und besiegt wird: da entsetzt das wankelmütige Athen Alkibiades des Befehls. Die attische Flotte wird eingeschlossen, Spartas Sieg scheint entschieden. Zwar flackert 15
Athens K r a f t noch einmal auf, als es eine neue Flotte rüstet und den großen Sieg bei den Arginusen erringt. Dann aber folgt jener Gerichtstag, der anzeigt, daß von Parteileidenschaft zerfleischt das Volk sein Verderben selber heraufbeschwört. Die siegreichen Feldherrn werden verklagt und von der verhetzten Volksmenge verurteilt, weil sie im Sturmwetter die Schiffbrüchigen nicht retten, die Leichen nicht bergen konnten. Über diese unselige Verhandlung hat Piaton in der Apologie berichtet, denn der Held in diesem Chaos war Sokrates. Als nämlich ein Verteidiger dem ungesetzmäßigen Verfahren widersprach, verlangte das Volk, auch jeden Einspruch mit dem Tode zu bestrafen. Die Prytanen wollten der tobenden Menge nachgeben, aber Sokrates, Vorsitzender durchs Los, ließ sich durch keine Gefahr bewegen, gegen das Gesetz zu handeln. Dennoch wurden die Feldherrn, unter ihnen der Sohn des Perikles und der Aspasia, hingerichtet. Das wirft ein grelles Licht auf das allgemeine Chaos, dem nicht' anders als durch eine völlige Wiedergeburt begegnet werden konnte. Man versteht die Sokratisch-Platonische Sendung nicht, wenn man hier an klare Fronten wie etwa althellenische Werte und moderne Verderbnis glaubt: der staatliche Geist selbst ist vernichtet, und mitten aus Verfall und Verworrenheit bricht die schöpferische Tat des Geistes auf. Jener merkwürdige Theramenes, Sophistenschüler und selbst einer der 10 Feldherren, hat diesen abscheulichen Protest gegen die Amtsgenossen ins Werk gesetzt — und war doch kein verächtlicher Staatsmann, gemäßigter Aristokrat wie Piaton, später von Aristoteles gelobt. E r mag die Parteisucht f ü r eine schlimmere Gefahr gehalten haben als den Verlust der Seemacht. Diesem Geist: sophistischer Klugheit, unbedenklicher ParteipoLitik, tritt allein Sokrates entgegen, der im Geist der Wahrheit und des Gesetzes die Heilung des Staates erhofft. Bis dahin konnte niemand Sokrates von der Sophistik unterscheiden. Die vorsokratische Philosophie war beherrscht vom Gedanken der Substanz. Die Sophisten glauben nicht mehr an Substanz, und es ist deutlich, daß solcher Skeptizismus zersetzend wirken muß. Auch Sokrates gibt vor, Substanz nicht zu kennen, nichts zu wissen — aber seine Haltung in der tobenden Menge zeigt überzeugender als jemals die logische Diskussion den reinen Gegensatz: er selber trägt diese Substanz in sich, er i s t Substanz. Auch er kritisiert wie die Sophisten im Einzelnen die vaterländische Verfassung, aber dennoch unterwirft er sich, solange er sie nicht ändern kann, unbedingt ihrem Gesetz, denn in der individuellen Willkür erkennt er das Verderben seiner Zeit. Die sophistischen Herakliteer sahen den Sinn der Lehre Heraklits im navza. psu. Sokrates stellt instinktiv die echte Lehre Heraklits wieder her: das Volk soll kämpfen um sein Gesetz wie um seine Mauer. Das Gesetz muß im Menschen stark sein, sonst kann Athen seine Mauer nicht verteidigen (Piatons Kriton). 16
So notwendig diese Haltung war — im Augenblick mußte sie politisch unfruchtbar bleiben, weil keine politische Macht hinter ihm stand, ja sie konnte eine juristische Pedanterie des Sonderlings scheinen. Aber ist sie es nicht, die Piatons, des damals dreiundzwanzigjährigen, Lebensweg erleuchtet hat: nur nach Überwindung der Sophistik sei die Rettung möglich? ! Athen, das diese warnende Geste nicht sehen wollte, war gerichtet. Lysander zerstörte die Flotte, ließ 3 0 0 0 Athener niedermetzeln und löste den Seebund auf. 401 mußte Athen sich ergeben, die Mauern wurden geschleift, es durfte nur 12 Schiffe behalten. Im „Menexenos" hat Piaton ausgesprochen, was er bei diesem Vernichtungsfrieden empfand. Aber er nimmt Anteil an der von Lysander eingesetzten oligarchischen Regierung der „dreißig Tyrannen", zu denen seine Oheime Kritias und Charmides und auch jener Theramenes gehören. Nur aus dieser Weltstunde, nicht als zeitloses Gespräch ist Piatons Werk in seiner Grundfügung zu verstehen. Glücklicherweise belehrt uns darüber der VII. Brief, den er im 76. Lebensjahr schrieb, das wichtigste Zeugnis für sein Leben wie für die Deutung seiner Lehre, dessen Echtheit heute unzweifelhaft ist: „Als ich jung war, geschah mir das Gleiche wie vielen andern: ich gedachte, sobald ich erst mein eigener Herr wäre, midi sogleich den öffentlichen Geschäften des Staates zuzuwenden. Und mich betrafen in der Geschichte der Stadt folgende Ereignisse: da die damalige Verfassung von vielen geschmäht wird, geschieht der Umsturz, und Herrscher der Gegenverfassung wurden 51 Männer, 11 in der Stadt, 10 im Peiraieus — für den Markt und was es sonst in beiden Orten zu verwalten gab — 30 aber übernahmen die unumschränkte Gewalt über alles. Es traf sich, daß von diesen einige mit uns verwandt und vertraut waren, und sie zogen mich sogleich hinzu, da mir diese Tätigkeit zukäme. Und was ich erlebte, war bei meiner Jugend nicht zu verwundern. Ich glaubte nämlich, daß jene in ihrer Verwaltung den Staat aus einem ungerechten Leben in den gerechten Zustand überleiten würden und richtete meinen Geist eifrigst darauf, was sie tun würden. Und als ich dann sah, wie diese Männer in kurzer Zeit erreichten, daß die vorherige Verfassung golden erschien — zu allem andern gaben sie meinem Freunde Sokrates, dem schon betagten Manne, den 'ich mich nicht scheute, den Gerechtesten seiner Zeit zu nennen, den Auftrag, gemeinsam mit andern einen gewissen Bürger festzunehmen und zur Hinrichtung zu führen, damit er freiwillig oder unfreiwillig an ihrer Sache teilhätte, er aber gehorchte nicht und wollte Alles lieber erdulden, als Genosse ihrer gottlosen Taten zu werden — als ich das alles ansah und nicht Weniges, was sonst noch vorfiel: da wurde ich erbittert und wandte mich ab von diesem Unheil." Das ist nicht gelegentliche Erinnerung, sondern die späte verantwortliche Begründung seiner Lebensentscheidung. Kein Wunder, daß sich der vierundzwanzigjährige Jüngling den „Tyrannen" anschließt, 2
Hildebrandt, Platon
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denn sie sind geführt von seinen Verwandten, dem ebenso geistreichen wie willensstarken Kritias und dem edlen Charmides. Er muß sich sehr bald von ihnen abgewandt haben, da der Terror des gewalttätigen Kritias nur ein Jahr dauert. Thrasybul sammelt die Demokraten 403 in Theben, stürzt die Oligarchie, und bald ist die alte Verfassung wieder hergestellt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Piaton nach dieser politischen Enttäuschung durch erweckende Schriften zu wirken sucht und die drei ersten Dialoge vor Sokrates' Tode verfaßt. Vier Jahre nach der Wiederherstellung, 399, geschah das mythische Ereignis der Philosophiegeschichte, der gesetzlich vollzogene Mord an Sokrates. Der Vorgang ist von Piaton anschaulich beschrieben, aber die eigentlichen Beweggründe bleiben im Dunkeln. Der VII. Brief besagt: „Nicht lange danach brach die Herrschaft der dreißig und die ganze Verfassung von damals zusammen. Noch einmal, wenn auch sachter, trieb mich das Verlangen, in Gemeinschaft und Staat zu handeln. Es geschah ja in jener Zerrüttung vieles, was einen erbittern konnte, und es war nicht zu verwundern, daß im Umsturz manche an ihren Feinden zu heftige Rache nahmen. Dennoch übten die damals Rückkehrenden große Mäßigung. (Piaton erklärt also mit Thrasybuls Versöhnlichkeit die zweite irrige Hoffnung, an einer gegenwärtigen Regierung Athens teilnehmen zu können.) Wieder aber wollte das Schicksal, daß einige der Machthaber unsern Freund, jenen Sokrates, vor Gericht zogen und die ruchloseste Anklage erhoben, die unter allen am wenigsten auf einen Sokrates paßte, denn als Gottesfrevler klagten die einen an, verurteilten und töteten die andern denjenigen, der damals an der ruchlosen Verhaftung eines ihrer verbannten Freunde nicht hatte teilnehmen wollen, als sie noch selbst im Elend der Verbannung lebten. Als ich dies betrachtete und die Menschen, die die Politik betrieben, und die Gesetze und Sitten, da schien es mir, je mehr ich es durchschaute und im Alter vorrückte, um so schwieriger, die Staatsgeschäfte richtig zu verwalten . . . Das geschriebene Recht und die Sitten verfielen in einem kaum glaublichen Fortschritt, und es erfaßte midi, der ich anfangs so voller Eifer für die staatliche Tätigkeit gewesen war, als ich die Augen darauf richtete und Alles durcheinander wirbeln sah, am Ende ein Schwindel..." Piaton wird zum Seher, der auf dem Grunde des Zeitgeschehens das Chaos sieht, Schwindel befällt ihn, als er daß Gewoge ins Auge fassen will: damals erkennt er die ungeheure Größe seiner Aufgabe: noch nie wurde Ähnliches gewollt! Aber er steht ganz allein, kein andrer Sokrates-Freund ist zur schöpferischen Tat fähig: allmählich wird er sich der Sendung bewußt, den neuen Menschen zu schaffen, und nur auf der Jugend beruht sein Hoffnung.
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SEIN
ERSTES
BUCH
KAMPF
UM
ATHEN
I. P R O T A G O R A S Die
Erweckung
Piatons Wesen drückt sich aus im Werke, und wir brauchen über die Unkenntnis der privaten Einzelheiten nicht zu trauern. Aber e i n e Kunde wäre uns teuer: wie geschah die Erweckung des Jünglings Piaton durch seinen Meister? Politische Gründungen werden begreiflich aus der Wechselwirkung und Einung vorhandener Kräfte, aber die neue Schöpfung des Lebens kann weder in der Person des einsamen Großen allein, noch in der Wechselwirkung der Menge verständlich werden. Wenn das Denkbild des Einsamen die Schwelle des fremden Du überschreitet, tritt die geistige Herrschaft zum erstenmal in Erscheinung. Christus wird Herr, als Petrus den Gottessohn in ihm erkennt. . . Goethe, als Schiller ihn fast wider Willen zur Freundschaft zwingt. . . Nietzsches Aufstieg wurzelt in der Liebe zu Richard Wagner, und der notwendige Bruch bedeutet Verzicht auf Herrschaft, unselige Einsamkeit: die Geistesgeschichte hat kein anderes Vorbild so anschaulich und lebendig überliefert wie dies Doppelgewächs des großen Erweckers und des größeren Jüngers — Sokrates und Piaton leben fort in der Einen Gestalt, dem Platonischen Sokrates, dem Standbild Platonischer Dichtung. In diesem Bilde ist das Beste des wirklichen Sokrates gesteigert und verewigt, zugleich aber verschmolzen mit dem Rein-Platonischen, so daß oft zweifelhaft bleibt, ob Sokrates oder Piaton redet. Aber niemand hat von der Stunde dieser geistigen Geburt berichtet. Die Legende, daß Sokrates, als man den Knaben zu ihm brachte, in ihm den Schwan, das Apollinische Tier erkannte, von dem er die Nacht zuvor geträumt hatte, gibt zwar einen Widerschein wie, vermittelt durch den „Phaidon", in der späteren Zeit ein Verständnis f ü r die Göttlichkeit dieses Weltenaugenblickes erwacht war — besagt aber nichts über die Beschwörungskünste, mit denen Sokrates den feurigen, geistig-empfänglichen, selbstbewußt heiteren Epheben emporriß in das höchste Geschehen. Liest man aber Piatons Werk unbefangen als Ausdruck des Erlebens des gewaltigen Mannes, nicht als zufällige Sammlung ausgedachter Gestalten und erarbeiteter Gedanken, so wird man in dieser Welt auch die heilige Erweckungsstunde nicht missen, überliefert zwar in geschicht2*
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lieber Treue, aber in kunstvoller Erfindung, die uns der Frage enthebt, wie viel oder wie wenig von dem wirklichen Vorgange erhalten ist. Das wahrhaft einleitende und erste große Werk Piatons (wenn nicht sein erstes überhaupt) ist der „Protagoras". Er beginnt mit dem Vorspiel, in dem Sokrates den Efeben Hippokrates erweckt, mit einem längeren Vorspiel als irgendein anderer Dialog. Dieser Hippokrates ist unbekannt und bleibt auch in Piatons Werken verschollen, auch hören wir nicht, wie er den ganzen „Protagoras"-Kampf aufnimmt. Piaton setzt der eigenen Erweckungsstunde, so dürfen wir vermuten, ein Denkmal. Es wäre Abschwächung gewesen, sein Bekenntnis zu Sokrates, das er durch sein gesamtes Leben abzulegen sich schwur, in billigen Worten auszudrücken: So erklärt sich der Mangel des Schlusses, den man in diesem dramatischen Werk nach dem langen Vorspiel besonders erwartet. Sokrates erzählt: „Diese Nacht, noch vor Tagesgrauen, pochte Hippokrates ungestüm mit dem Stabe gegen die Tür, und als ihm jemand öffnete, stürmte er sofort herein und rief mit lauter Stimme: Sokrates, bist du wach oder schläfst du? — Ich erkannte seine Stimme und fragte: Das ist doch Hippokrates? Was willst du, berichte, ist denn etwas geschehen? — Nein, erwiderte er, oder doch nur etwas Gutes. — Das ist recht, sagte ich, aber was ist es denn, weswegen du zu solcher Stunde kommst? — Protagoras ist da! sagte er, und dabei trat er dicht an mich heran. — Allerdings, antwortete ich, schon seit vorgestern. Und du hast es eben erst erfahren? — Weiß Gott, sagte er, erst gestern abend. Dabei tappte er nach dem Bett, setzte sich zu meinen Füßen . . . " Er erzählte voller Eifer, wie er am späten Abend von Protagoras' Ankunft hörte und eigentlich sofort zu Sokrates eilen wollte, dann aber doch erst, nach der besonderen Anstrengung des Tages, etwas geschlafen habe, nun aber sofort gekommen sei. „Da ich seinen Mut und sein Ungestüm kenne, so sagte ich: Was hast du also? Tut dir Protagoras etwas zuleide? — Und er antwortete lachend: Ja, bei den Göttern, er allein ist weise, und mich macht er nicht dazu. — Aber beim Zeus, sagte ich, wenn du ihm Geld gibst und ihn darum bittest, so wird er auch dich weise machen. — Wenn es doch, o Zeus und alle Götter, nur darauf ankäme! Weder mein Vermögen noch das meiner Freunde will ich dann schonen. Gerade deswegen bin ich ja bei dir, damit du meinetwegen mit ihm verhandelst! Ich bin doch noch zu jung, und außerdem habe ich Protagoras niemals gesehen noch sprechen gehört — ich war ja noch ein Kind, als er das letztemal hier war. Aber Sokrates, alle preisen diesen Mann und sagen, er sei der größte Redner." Hippokrates will ungestüm gleich zu Protagoras aufbrechen, Sokrates erinnert ihn, daß es noch finstere Nacht ist. Aber er erhebt sich vom Bett, beide treten auf den kleinen Hof hinaus und gehen dort in der Finsternis auf und ab, um das Wagnis zu überlegen. Die Entscheidung ist nicht gering: Hippo20
krates würde sich durch einen Vertrag in eine mehrjährige Ausbildung durch den Sophisten begeben. Das Honorar, einige tausend Drachmen, ist nicht das Wichtigste. Aber hat Hippokrates bedacht, was es heißt, seine Seele dem Lehrer hinzugeben? Sokrates fragt in gründlicher Prü fung, zu welchem Beruf ihn Protagoras ausbilden solle, wie etwa Pheidias zum Bildhauer. Es ist schlicht-erhabene Kunst, wie hinter so nüchtern-begrifflicher Befragung das höhere Erwachen aufdämmert. Sokrates fragt wieder: „Wenn nun weiter jemand dich dies fragte: Was aber willst du denn selber werden, wenn du zu Protagoras gehst? — Er aber errötete — denn schon dämmerte ein wenig der Tag, so daß man es sehen konnte — und sagte: im Sinne des Gesagten — offenbar: um ein Sophist zu werden. — Und du, sagte ich wieder, würdest dich, bei den Göttern, nicht schämen, dich selber vor den Hellenen als ein Sophist zu erweisen? — Doch, bei Zeus, Sokrates, wenn ich gestehen soll, wie ich in Wirklichkeit denke." Wie streitet man um begriffliche Entscheidungen Piatons, wo das Wichtige schon Bild geworden: im Erröten des verwöhnten Efeben, kaum sichtbar im ersten Morgendämmer. Der Ruhm des weisen Protagoras hat seinen höchsten Ehrgeiz gereizt, aber mit Einer Frage erschüttert Sokrates den Knaben und weckt in seinem Blut das höhere Wunschbild: ein vornehmer Athener will Führer in Athen, vielleicht in Griechenland werden — wie hoch steht er über den Sophisten, die nicht das Bürgerrecht in einer hellenischen Großmacht haben, den landfremden, rechtlosen Rednern . . . Die philosophischen Kämpfe in diesem Dialoge sind so vielfältig und gegenwendig, die Deutungen daher so widerspruchsvoll, daß nur im Vorspiele, dem Prologe des Dramas, die Lösung gesucht werden kann. Sokrates, der angebliche Rationalist, leuchtet hier als Genie der Erziehung: er gibt dem Jüngling nicht die richtige Lehre, sondern er stellt im glücklichen Augenblicke die fruchtbare Frage und wirft den Funken der Scham in die Seele. Niemand kennt wie er die unbewußten Regungen der Jünglinge, weil niemand sie so liebt. Mit der Frage: „Schämst du dich nicht, dich als Sophist zu erweisen" hat er den rücksichtslosen Knaben in den nachdenklichen Jüngling verwandelt. Die Entscheidung fällt vor der Untersuchung: Beide sind einig, daß Hippokrates einem weit höheren Wunschbilde als dem Sophistenruhme nachjagen muß. Das Ergebnis des Dialoges steht fest, und viele Deutungen der folgenden dialektischen Kämpfe sind bereits hinfällig. — Vorbild sind die Sophisten nicht, vielleicht aber nützliche Fachlehrer? Mit dieser Frage hilft Sokrates dem Jüngling gütig aus der Verlegenheit, in die er ihn stieß. Vielleicht wolle er zu Protagoras in die Lehre nicht als Lehrling zum Meister, sondern nur zur Vervollkommnung der „Bildung", wie vordem zum Schreiblehrer, Musiklehrer, Turnlehrer. Das antike Wesen der Paideia, der wahren Bildung, ist damit kurz, aber scharf gekenn21
zeichnet. Es gibt eine Lehre für den fachlichen Beruf ¿Ttt xsxvTi SrjjiioupYoc ioo\ievor und das Erziehungsideal des Kaloskagathos etu matSeta, d>c xov tStwtYjv xai xov ¿Xeufrepov rapsTtsi. Wenn aber die Sophisten sich anheischig machen, Lehrer der gesamten Bildung zu sein, dann haben sie das gleiche Ziel wie Platon-Sokrates, dann gibt ihnen der Schüler seine Seele preis. Also nicht gründlich genug kann man prüfen, ob man seine Seele wagen darf — und Hippokrates, der die Zeit nicht abwarten kann, sich in ihre Lehre zu begeben, muß gestehen, er wisse noch nicht einmal, was ein Sophist ist. Sokrates-Platon will der Gestalter des neuen Menschen sein. Aber aussprechen darf er das nicht: er muß warten, bis im Zusammensein im Jüngling dies Wissen wach wird. Das Tiefste wird gezeigt, nicht gesagt. Über diesem Frühdialog schwebt die Frage: Hippokrates muß wählen zwischen Sokrates und Protagoras. Schon fiel die Entscheidung, daß Protagoras dem adligen Athener das wahre Vorbild nicht sein kann. Aber kann er nicht trotzdem durch Weisheit und Redekunst dem attischen Jüngling gerade das verleihen, was ihn zum Herrscher macht? Hippokrates scheint so zu denken. Doch die Redekunst lernt man nicht gesondert, sie muß verbunden sein mit der Kunde der Sache, über die man zu reden hat. Alle Kenntnis ist Nahrung der Seele, und Sokrates rügt, daß die Menschen, die die Nahrung des Körpers so ängstlich prüfen, mit der Seelennahrung so gedankenlos umgehen. Er vergleicht die Sophisten Kaufleuten, die mit Nahrungsmitteln der Seele handeln und zum Gelderwerb in den Städten herumziehen. (Raffael stellt sie auf der „Schule von Athen" mit dieser geldheischenden, seltsamerweise bisher verkannten Gebärde dar.) Krämerhaft preisen sie ihre Waren an, aber ob diese der Seele nützlich oder schädlich sind, vermögen sie selbst nicht zu beurteilen. Und doch ist Einkauf der Seelennahrung gefährlich, denn diese kann man nicht in Gefäßen heimtragen und von Kundigen prüfen lassen, keimt doch der Gedanke ohne Wehr sogleich fördernd oder schädigend in der Seele. Mit dieser heute fast vergessenen Wahrheit macht Sokrates dem Jüngling die verhängnisvolle Entscheidung fühlbar. Sie wollen den Sophisten im Haus des Kallias besuchen: dort mag Hippokrates selber schauen und den Wert der Person schätzen lernen. Die Sophistenprobe ist das Thema des eigentlichen Dialogs. Nach kurzer Dämmerung ist es Tag, und beide begeben sich zum Hause des reichen Kallias, in dem namhafte Sophisten sich versammelt haben. „Kaum hatte der Türhüter auf unser Klopfen das Tor geöffnet und uns erblickt, so rief er: Aha! Wieder Sophisten! — E r hat keine Zeit! Dabei ergriff er mit beiden Händen die Tür und warf sie mit voller Gewalt zu. Nun klopften wir noch einmal, er aber erwiderte hinter der geschlossenen Tür: Menschen! Hört ihr denn nicht!? E r hat keine Zeit!" Sokrates erklärt, sie seien keine Sophisten und wollten nur Protagoras, nicht Kallias sprechen, bis jener sie, sehr wider22
willig zwar, endlich einläßt. Dem rohen Sklaven gelten die Sophisten, die Freunde seines Herrn, als Narren und unnütze Brotesser. Will Piaton mit so groben Mitteln die gefährdete Achtbarkeit der Sophisten ganz zerstören? Im Gegenteil; er erinnert an die Stimme des Volkes nur, um sie abzulehnen. Jener Eunuch verachtet die Sophisten, aber er rechnet Sokrates ein! Und so denkt das Volk Athens bis zum Todesurteil, so denkt selbst ein Aristophanes, der Preiser ritterlicher Zucht. Niemand weiß, wer Sokrates ist. Damals, als das Protagorasgespräch spielt, ist Sokrates etwa 40 Jahre alt, noch unberühmt, Protagoras, der Weltberühmte, mehr als 50 (oder 70?). Der durch Piaton f ü r ewig geformten Gegenüberstellung Sokrates und Sophisten war sich damals vielleicht Sokrates selbst nicht in solcher Klarheit bewußt. Die öffentliche Meinung, ob Masse oder Adelspartei, war sich einig in der Feindschaft gegen die Sophistenbildung, gegen dies Unbequeme, Neue, Geistige, Fremde. Aber einige Männer und noch mehr Jünglinge, welche die Sophisten schätzten, waren da: die Geistigen, Führenden, die Auslese der Gesellschaft, die nicht an Parteidogma und Schlagwort glaubten, sondern neue Wege, geistige Waffen für den Kampf um die Herrschaft suchten: Perikles, Euripides, die Jugend. Sie alle wollen Sokrates seiner Gesinnung nach nicht herabsetzen, wenn sie ihn zu den Sophisten redinen, und die folgenden Dialoge werden zeigen, wie gern Piaton die Anerkennung Sokrates' durch die vornehmsten Geister Athens betont. Das ist der einzige Lebenskreis, der außer den Schülern doch einige Bedeutung für ihn hat. Im Menon tadelt Sokrates denn auch ganz unverhohlen den Anytos, der ohne Prüfung die Sophisten verdammt. Mit einem groben Für und Wider: Sokratische Tugend und Sophistische Unmoral, ist jedes Verständnis für diesen Kampf, für die Urbane Ironie der sokratischen Angriffe verschlossen, die nur durch feinere Abtönung der mehrfältigen Beziehungen beider Lebensmächte verständlich werden. Sokrates-PIaton weiß, daß sein Weg unendlich steiler ist als der der Sophisten, daß niemand ahnt, wohin er führt: er sieht, daß die sophistische Bewegung die einzige ist, mit der ein Streit sinnvoll ist. So kann Piaton den Boden lockern — denn immer muß er seine Weisheit in sich zurückstauen: Er spricht immer nur das aus, wofür der Geist der Hörer vorbereitet ist. Sokrates kann auch vom Größten der Sophisten nichts mehr lernen, — wenn er aber auf die Jugend wirken will, die ja wie Hippokrates blind dem Ruhme des Protagoras nachläuft, dann bleibt ihm dennoch nur der eine Weg, sich im Zweikampfe mit Protagoras, dem unebenbürtigen doch nicht unwürdigen Gegner, zu bewähren. Er fordert Protagoras heraus, wie Goethe den Wieland, nicht als Fremdesten sondern als nächsten und wichtigsten Gegner seiner Gegenwart. Das sind die Schichten des Gesprächs: Im Hintergrunde die Erprobung der Sophisten, durch die Hippokrates gewarnt werden soll. Im Vordergrunde der ritterliche Zweikampf mit 23
dem hochberühmten Protagoras, in Gegenwart der Vertreter des geistigen Athen, durch den sich Sokrates Anerkennung und Wirkungsraum erkämpft. Ritterlich, wie im Bilde Sokrates, kämpft Piaton selbst. Hüte man sich, die Urbane Ironie zum höhnischen Lachen des Besserwissens zu verzerren. Wenn Piaton am großen Sophisten lächelnd die menschliche Eitelkeit aufweist, so hebt er ihn ab vom echten Philosophen, nimmt ihm aber nicht Geist und Würde, nicht den Rang in einer so erlesenen Gesellschaft wie im noch Perikleischen Athen. Er schmückt gleichsam das Opfer, das er seinem Gotte darbringen muß, aufs Schönste. Sokrates und Hippokrates betreten den Hof des reichen Hauses. Ihr Blick fällt zuerst auf Protagoras selbst, der in der Säulenhalle auf und ab schreitet. Ihm zur Seite schreitet der Hausherr Kallias, ein Verwandter des Perikles, auf der andern der junge Charmides, der Oheim Piatons, dann zwei Söhne des Perikles. Es folgen weitere Athener und viele Fremde aus anderen Städten. Piaton vergleicht ihn, wobei wir an den Rattenfänger denken, scherzhaft dem Orpheus: „Er bannt durch seine Stimme wie Orpheus, sie aber folgen um seiner Stimme willen, denn sie sind gebannt." Wie dieser Schwärm dem Zauberer folgt, das ist ein berühmtes Bild geworden: Jedesmal, wenn er und die vorderen Begleiter am Ende der Halle Halt machen, so treten die hinten Nachfolgenden auseinander, schwenken nach beiden Seiten im Halbkreis herum und schließen sich hinter dem vergötterten Sophisten in bewundernswerter Ordnung zusammen, um auf dem Rückweg abermals hinter ihm herzugehen. Aber Piaton entfaltet die Sophistik in ihrem Glänze. In der Säulenhalle gegenüber thront Hippias auf einem hohen Lehnsessel und unterweist seine Anhänger in der Astronomie und Himmelskunde. In einem Nebenraum aber ist der alte Prodikos zu sehen — als Tantalos bezeichnet ihn Sokrates — noch auf dem Bett liegend in viele Decken und Felle gehüllt. Er unterrichtet seine Schüler in grammatischen Fragen. Die Hörer beider Sophisten kennen wir zum Teil als Gäste des späteren Symposions, und als noch Alkibiades, der Schöne, und Kritias eintreten und sich dem Sokrates anschließen, da ist diese mythische Tafelrunde fast vollzählig vereint. Sokrates führt Hippokrates dem Protagoras zu. Er stehe an Begabung hinter keinem Altersgenossen zurück und habe das Verlangen, sich Ruhm im Staate zu erwerben. Dies aber glaube er am besten in der Lehre des Protagoras zu erreichen. Protagoras antwortet in einer wohlgefälligen Ansprache. Gefährlich ist das Handwerk der Sophisten, und fast alle großen Künstler und Dichter sind Sophisten, haben aber, um sich nicht der Verfolgung seitens der Regierungen auszusetzen, ihre Lehren in Kunstwerken verborgen. Er aber halte dies Versteckspiel für schädlich, er bekenne sich offen zu seinem Berufe, Sophist zu sein, und 24
er habe nun sein hohes Alter erreicht, ohne daß ihm diese Offenheit geschadet habe . . . Denkt man an Protagoras' Ende, so klingt eine tragische Ironie auf. Dies Sophistengespräch wäre kurz vor dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges, etwa 432, zu denken. Als aber Piaton das Gespräch s c h r e i b t , da ist Protagoras als Sophist in Athen zum Tode verurteilt und ist auf der Flucht nach Sizilien ertrunken. Und wenn der Dialog auch vermutlich vor Sokrates' Hinrichtung geschrieben ist, so hatte doch auch dieser schon zweimal wegen seines politischen Verhaltens in Lebensgefahr geschwebt. In dieser tragischen Gefahr gehören Sokrates und Protagoras zusammen. Die kleine Ansprache enthält einen Satz, dessen grundlegende Wichtigkeit wohl nicht bemerkt wurde. „Wer als Fremder in die großen Städte kommt und in ihnen die besten der Jünglinge gewinnt, daß sie ihren Umgang mit den anderen aufgeben, mit Verwandten und Nichtverwandten, mit Älteren oder Jüngeren, um nur mit ihm zusammenzusein, damit sie durch den Umgang mit ihm besser und tüchtiger werden, der muß sich sehr in acht nehmen bei seinem Wirken. Denn nicht gering ist der Neid, der ihm daraus erwächst, und allerlei Feindschaft und Verfolgung!" Das also ist das Programm des Protagoras! Nicht allgemeine Bildung, nicht aufklärende Zersetzung, oder wenn Zersetzung, doch nur zur Vorbereitung der neuen Gemeinschaft. Sein Ziel ist das der großen Gründer: das Herausbrechen der besten Jünglinge aus der bestehenden Gesellschaft, die Gründung einer eigenen Gefolgschaft, die imstande ist, das Leben der Gemeinschaft zu reformieren. Ein großes, revolutionäres Ziel, dessen Gefährlichkeit nicht verborgen bleiben kann. Den großen politischen Parteien muß er verhaßt sein: der konservativen, weil er das Neue will, den Demokraten, weil er aristokratisch gesonnen ist und nur die wenigen Besten um sich scharen will. Welche Überraschung! Dies Programm ist identisch mit dem von Sokrates-Platon! Jener Leitsatz ist so entscheidend in Piatons Leben und Werk, daß wir dieses niemals begreifen, wenn wir jenen nicht an die Spitze stellen. Man hat sich allmählich gewöhnt, an Piaton auch das politische Wollen ins Auge zu fassen, aber man findet es erst in den späteren Schriften. In Wirklichkeit ist sein Machtverlangen anfangs um so gespannter, als er die Tat gewaltsam zurückdrängen muß. Die besten Jünglinge aus der Gesellschaft herausbrechen, sie zu Jüngern machen — den ersten Meißelschlag tut Sokrates, als er am Anfang dieses Jünglingswerkes den Efeben Hippokrates zum Erröten bringt. Und wenn Sokrates in ihm die Begierde noch schürt, im Staate berühmt zu werden, dann zweifeln wir nicht, daß die Tatlust des Hippokrates keine andere ist als die des jungen Piaton selbst. Die seltsame Übereinstimmung des sophistischen und des Somatischen Programmes am Anfang seines Werkes gibt eine unerwartete Lehre: Mit dem richtigen Programm, mit einer Doktrin und Ideologie, 25
ist noch gar nichts getan. Sinn hat es nur, wenn die große und echte Person dahintersteht, wenn Wort und Mann in pythagoreischer Harmonie zusammenstimmen. Um ihren Leitsatz können diese Gegner nicht streiten, denn sie haben, nach dem Wortlaut, den gleichen: also besteht die Sophistenprobe darin, ob sie auch zu ihrem Worte stehen, ob sie echt sind. Hat Protagoras überhaupt das Recht, ein so anspruchsvolles Programm vertreten zu dürfen? Noch maßt sich Sokrates diese hohe Sendung nicht an, aber er weiß, daß er der einzige ist, der sie vorbereitet — damit ist der Schlüssel zum Dialoge gegeben . . . Protagoras will danach dem erwünschten Schüler Sinn und Ziel seines Unterrichtes erklären und da er durchblicken läßt, daß er dazu gern eine größere Hörerschaft hat, so werden alle Gäste, auch die beiden anderen Sophisten mit ihrem Gefolge zusammengerufen und erwartungsvoll tragen sie alle eifrig Bänke und Sessel zusammen, um dem Gespräch weiser Männer zuzuhören. Noch vor der Probe hat Protagoras sich als unecht erwiesen: er will ja die Jünglinge gern aus ihrem Verkehr herausbrechen, für sich haben, aber kaum ist ihmHippokrates vorgestellt, so verzichtet er auf die Prüfung, ob er wirklich zu den besten gehöre, so denkt er nichts anderes, als vor den Konkurrenten mit dem vornehmen Schüler und seiner Redegewandtheit zu prunken. Welcher Gegensatz! Sokrates hat im dunklen Hof an nichts anderes gedacht, als den Jüngling zu warnen, rechtzeitig zu wecken, hat sich selbst als den Nichtwissenden ausgegeben, damit jener um so eifriger nach der Wahrheit suche — für Protagoras ist es ein Spiel der Eitelkeit in dem vornehmen Kreise. Das Ziel des Unterrichts ist Arete: wieder zeigt sich, daß SokratesPlaton und Protagoras auch im Begriff der Arete übereinstimmen. Sie ist staatliche Tüchtigkeit, nicht im rein ethischen Sinne, sondern zugleich im Sinne der staatsmännischen Fähigkeit: auf der Agora bewährt sie sich, und wer vollkommen agathos ist, der muß also auch der größte Staatsmann sein. Piatons JVerk ist mißverstanden, wenn man das vergißt. Aretq ist die althellenische, männliche und dem Staat dienende Tüchtigkeit, ein Wert, den bald die sophistische Aufklärung zersetzt, den Piaton aber aufgreift und zum höchsten Ethos entfaltet. Auch Protagoras sieht in der Erziehung zur Arete das Ziel seines Unterrichtes. Nun fragt Sokrates folgerichtig, ob denn diese Arete überhaupt lehrbar sei. Damit ist die engere Aufgabe des Gespräches gestellt. Protagoras macht sich anheischig, die Tugend zu lehren — er muß sie also für lehrbar halten. — Der Grundsatz der Sokratisch-Platonischen Lehre ist aber der Satz: Tugend gleich Wissen. Wenn sie aber Wissen ist, dann muß sie wohl auch lehrbar sein. Also auch in diesem engeren Thema des Gesprächs scheinen Sokrates und Protagoras einig zu sein. Welchen tiefen Sinn der so rationalistisch klingende Satz vom 26
Tugend-Wissen in Piatons Werk hat, kann sich erst im späterein Werk zeigen, doch kann man keinen Platonischen Dialog lesen, solange man den naheliegenden aufklärerischen Sinn darin vermutet. Unsere volkstümlich-christliche Tugend ist Unschuld und guter Wille — solche Tugend ist unabhängig vom Wissen. Die hellenische Arete ist aber nicht bloßes Wollen, sondern Können! Arete ist nicht moralische Sauberkeit, die man von jedem verlangen darf, sondern sie ist, wie die ganze griechische Kultur, ein agonischer Begriff: sie ist die Vollkommenheit des Siegers. Man nennt die erste Gruppe der Dialoge „Tugenddialoge", um auszudrücken, daß Piaton hier theoretisch das zeitlose Wesen der Tugend erforscht. Wohl überwölbt die Sehnsucht, die ewigen Formen zu erkennen, sein ganzes Werk, aber dessen Entfaltung, sein Schicksal überhaupt läßt sich nur verstehen, wenn man an den Anfang den klar bewußten Willen zur Wiedergeburt des attischen Staates stellt. Arete ist vor allem Kraft des großen Staatsmannes, Charakterkraft und staatsmännische Einsicht vereint. Klarer als Worte ist das Bild Hippokrates: Sein Wunschbild von Arete ist die politische Größe. Er errötet beim Gedanken an die viel beneidete Weisheit des Protagoras. Diese Weisheit ist nicht wahre Arete, weil dem Athener der entwurzelte Sophist nicht als Staatsmann gelten kann. Der Satz von Tugend-Wissen heißt aber in die Besonderheit der geschichtlichen Stunde übertragen: Heute genügt nicht der Adel des Schwertes, wir brauchen einen Adel des Geistes! Da bei dieser theoretischen Übereinstimmung der Gegner dem Wechselgespräch der Anlaß fehlt, wendet Sokrates einen Kunstgriff an, der ihm sehr verdacht wird: er bestreitet — anscheinend gegen seine bessere Überzeugung — die notwendige Grundlage der Sophistenerziehung: die Lehrbarkeit der Tugend. Protagoras antwortet, wie es dem berühmten Redner und Denker ziemt. Er bietet zur Klärung Mythos und logische Hede (Logos) an und gibt beides. Anmutig — wieder möchte man an Wieland denken — erzählt er, wie Prometheus bei der Erschaffung der Kreaturen es dem Epimetheus auf dessen Bitten überläßt, jede mit den notwendigen Fähigkeiten und Waffen auszustatten. Epimetheus, der nie vorausschauende, verteilt diese Gaben und hat alles verbraucht, als zuletzt der Mensch an die Reihe kommt: der Mensch bleibt nackt und waffenlos. Als Prometheus das sieht, weiß er keinen anderen Rat: er stiehlt die an das Feuer geknüpfte Kunst (Sophia) des Hephaist und der Athene und beschenkt mit ihr den Menschen. Aber die staatliche Einsicht (die eigentliche Arete) bringt er dem Menschen nicht, denn furchtbar verwahrt ruht sie in der Burg des Zeus. Die Menschen haben gewerbliche Künste, haben Sprache und Gottesdienst — aber sie können keine Staaten bilden und werden darum Beute der wilden Tiere. Als Zeus erkannte, daß das Menschengeschlecht dem Untergange nahe sei, 27
sandte er ihnen Hermes, um ihnen Ehrfurcht und Recht, a£5(oc und S ixif), als die Grundlagen des Staates zu bringen. Diese Eigenschaften aber gehören nicht wie die Künste den Sonderberufen, sondern allen Bürgern. Protagoras glaubt nicht oberflächlich-optimistisch, daß jeder Mensch diese Staatstugend besitze, sondern es ist eine ethische Forderung. Dies Gesetz verkündet sein Zeus zuletzt: „Jeder, der nicht imstande ist, teilzunehmen an Ehrfurcht und Recht soll getötet werden als eine Krankheit des Staates." Dieser Mythos birgt den schönen Gedanken, daß Staatstugend ein Besitz der Gemeinschaft sein muß, daß alle Bürger die Jugend in ihrem Sinn erziehen und dies höchste Lebensamt nicht dem Fachmanne allein überlassen bleibt. Sokrates — so führt Protagoras aus — sei zu anspruchsvoll. Er solle einmal in ein wildes Barbarenvolk geraten, um zu erkennen, wie hoch vergleichsweise die Tugend in Athen entwickelt sei! Aus diesem Grunde, gibt er ihm recht, sei es allerdings schwierig, nun im Besonderen noch Lehrer der Tugend zu werden. Wenn jeder sie in der Kindheit lernt wie seine Muttersprache, dann sei es schwer, Jünglinge durch Unterricht noch weiter zu fördern. So hat Protagoras in elegantester Form nicht nur Sokrates' Bedenken gegen die Lehrbarkeit der Tugend widerlegt, sondern gleichzeitig erklärt, wie der Schein entstehen muß, die Tugend sei nicht zu lehren. Die Bürger werden es gern hören, daß sie alle Erzieher sind, aber Protagoras fährt in gefälliger Bescheidenheit fort, daß die Sophisten nicht überflüssig seien. Wenn sie auch nur um weniges den andern an Einsicht voraus sind, so sei das in dieser wichtigen Angelegenheit sehr hoch zu schätzen. Zu diesen glaube er auch zu gehören, vor den anderen erziehe er zum Guten und Schönen, und darum sei er auch seines Lohnes wert . . . Vergeblich sucht man, vom herkömmlichen Gegensatz Sophistik und Sokratik geleitet, in dieser Rede Unmoral und Widersinn. Nicht Sinn und Gesinnung dieser Rede ist es, was Piaton ablehnt. Wichtige Lehren von ihm knüpfen später an diesen Mythos der Staatsbildung Strafe und Erziehung. Ja, wer dies Werk unbefangen, ohne Vorurteil gegen die Sophisten, aber auch ohne Entwirrung des tiefen Sinnes liest, der wird denken: Protagoras ist der Weise, der verständige Erzieher, der geistreiche Redner, den die offene Forderung des rechten Lohnes nicht befleckt — Sokrates dagegen der spitzfindige Begriffsklauber, der die anderen verwirrt und selbst doch das rettende Wort nicht findet. Sokrates erscheint als das, was man — einen Sophisten zu nennen sich gewöhnt hat. Und in der Tat wird die „gebildete" Gesellschaft immer den Vermittler Protagoras lieben und ehren und dem in jedem Sinne unkäuflichen Sokrates, der felshaften Substanz, fremd aus dem Wege gehen. Der Zweikampf Sokrates-Protagoras ist die Pforte zu Piatons Lebenswerk. Sokrates hat, anscheinend wider seine Überzeugung, den Gegner mit der Behauptung herausgefordert, Tugend sei nicht lehrbar, 28
der Beruf des Sophisten sei hinfällig. Protagoras klärt in sinnvollem Bilde diesen Irrtum auf und skizziert die ideale Erziehung in idealer Gemeinschaft: Tugend ist Gemeinbesitz, der ungerechte Bürger wird hingerichtet. Man hat ernsthaft behauptet, Sokrates stehe hier auf niederer Stufe und wolle aus Eitelkeit mittels trügerischer Fangschlüsse den Gegner überwinden. Kaum glaubhaft, daß Sokrates jemals auf solcher Stufe stand, und ganz unmöglich, daß ein Piaton ihn, als er Greis war oder gar nach dem Tode (etwa aus „psychologischem" Interesse?) auf so niederer Stufe habe darstellen wollen! . . . War schon die Gleichheit im Leitsatz des Protagoras und des Piaton sehr überraschend, so wird der Unterschied ihrer tieferen Überzeugung, der jetzt verdeutlicht werden muß, für den Gang der üblichen Piatondeutung ein Paradoxon sein. Protagoras ist der Gläubige des „Idealstaates", Piaton der unerbittliche Erkenner der gegenwärtigen Wirklichkeit. Er hat wie nur je Weise und Seher das Leben durchschaut. Er spricht nicht förmlich von der Gegenwart, aber man darf den ,Protagoras' nicht ohne dauernde anschauliche Vorstellung dessen lesen, was damals tief und schmerzlich in die Seele jeden Atheners eingegraben war. Das Gespräch spielt kurz v o r dem Peloponnesischen Kriege, geschrieben und gelesen wird es nach dem Kriege, in der Zeit tiefster Erniedrigung Athens. Jeder Grieche vernahm hinter diesem redenden Protagoras gleichsam die Worte der Moira: „Protagoras! Du Tor! Du willst die edelsten Staatsmänner erziehen und bist doch blind für die Verderbnis allen staatlichen Geistes?! Schon im nächsten Jahre wirst du sehen, daß Perikles, dessen unbedingte Macht du bewunderst, vom undankbaren Volke verleumdet und verklagt wird. Dies Volk, dessen jeden Bürger du von Zeus selbst mit Ehrfurcht und Rechtsgefühl beschenkt wähnst, so daß sie alle rechte Erzieher sind, wird den großen Phidias einkerkern, den weisen Anaxagoras zum Tode verurteilen, und der Olympier Perikles muß mit Tränen Aspasia losbitten. Dann wird Alkibiades von dir belehrt, von Sokrates gewarnt, von diesem Volke verdorben, in seiner Maßlosigkeit ganz Hellas an den Abgrund stoßen und, wenn er dann, zum Manne gereift, Athen rettet, wird dies zuchtlose Volk den Untergang Athens heraufbeschwören. Du zwar wirst es nicht ansehen, denn zuvor wird dich das Volk, dem du als dem gerechtesten schmeichelst, wegen Gottlosigkeit verurteilt haben, und du findest deinen Tod auf der Flucht. Danach wird in der Raserei des Feldherrnprozesses Sokrates — dem hier die Tugend und ihre L e s barkeit eine unbeantwortbare Frage ist — der einzige sein, der aus .Ehrfurcht und Rechtsgefühl' handelt. Dieser Kritias aber, euer geistreichster Schüler, wird als Tyrann das Volk peinigen, weil er nichts von Ehrfurcht und Recht gelernt hat." Protagoras' Ideal der gerechten Bürgerschaft ist schön — vielleicht hat Piaton das Marathongeschlecht ihm näher gefunden — aber es war durch einen Abgrund getrennt von 29
der damaligen Gegenwart, dem demagogischen Chaos Athen. Nur ein echter Grieche durfte auf so düsterm Hintergrunde die Anmut seiner Komödie spielen lassen. Wie ritterlich faßt sie den Gegner an. Den Sophistengeist muß Piaton verdrängen, aber den dumpfen Sophistenhaß des Volkes bestätigt er nicht, sondern zeigt, daß Protagoras wohl das Gute gewollt habe und daß seine Schuld nur darin bestand, auf die Gerechtigkeit der Athener, als auf ein Gottesgeschenk zu vertrauen. Will man eine strafende Ironie im Gespräch vernehmen, so trifft sie das zuchtlose Athen, nicht den freundlichen Redner. Der scheinbar gleiche Grundsatz: „Tugend ist lehrbar" entspringt bei Protagoras und Piaton einem entgegengesetzten Lebensgefühl. „Jeder Bürger hat Tugend, lehrt Tugend, wenn auch wir Weisen sie noch ßteigenn," denkt Protagoras. „Nie war die Arete so völlig aus Athen entwichen. Aus welchen unerforschten Gründen kann sie neu geschöpft und neu gelehrt werden?" fragt Piaton. Daß Protagoras diese Zersetzung des Griechentums, nun allen Lesern vor Augen, damals, als die Komödie spielt, als Perikles noch regiert und äußerlich Athen noch im höchsten Glänze steht, nicht wittert, ist zu begreifen: er ist ja Ausländer, der nur besuchsweise nach Athen kommt. An dieser Stelle, vielleicht zum erstenmal in der Welt, zeichnet sich der Gegensatz von Literatur und echtem Worte ab. Protagoras, Kenner der Philosophie und sehr „bewandert", steht den wirkenden Zeitmächten fremd gegenüber. Nur ein gebürtiger Athener kann das Heil bringen. Ist es Sokrates? — — So hätte damals kein Grieche fragen können, aber nach der Katastrophe des Krieges mußte diese Frage in den Erkennenden mit Gewalt aufbrechen und nur der, in dem sie widertönt, kann dem Gespräch folgen . . . Warum eröffnet Sokrates mit der Behauptung, die Tugend sei nicht lehrbar, das Gespräch? Stellt er in Sophistenart eine Falle? — Das Gespräch entwickelt sich natürlich und echt, wenn man nur ausgeht von jener menschlichen und geschichtlichen Voraussetzung und nicht von zeitlos abstrakten Fragen. Sokrates will prüfen, nicht überlisten. Wohl weiß er, daß Protagoras der Retter nicht sein kann, aber vielleicht ist er als denkender Lehrer nicht wertlos. Wenn Sokrates, um das Gespräch einzuleiten, sich zum Sprecher des Volkes macht und sagt: „Alle Athener sind der Meinung, daß niemand Unterricht in der Tugend nötig habe, daß jeder Bürger sie aber besitze", so stellt er keine Falle, sondern gibt dem Sophisten Gelegenheit, die Grundsätze seines Unterrichtes darzulegen. Warum versagt dieser so völlig? Hat er doch, nämlich in der an Sokrates und Hippokrates allein gerichteten Ansprache, die richtige Antwort gegeben. „Die Vielen merken überhaupt nichts", sie haben also keine wahre Arete und können nicht erziehen. Nun aber spricht Protagoras zur ganzen Versammlung und will dieser als Volksredner imponiern. Darum widerlegt er zwar Sokrates, gibt aber sehr 30
gewandt zugleich dem Volke recht. Seinen Leitsatz, die edelsten Jünglinge aus der Gesellschaft herauszubrechen, einen neuen Adel zu bilden, scheint er vergessen zu haben. Man muß die Geschmeidigkeit des Volksredners, der sich ganz der Umgebung anpaßt, aber auch seine Charakterlosigkeit bewundern. Mann und Wort stimmen nicht zusammen. Sokrates zweiter Einwand gegen die Lehrbarkeit der Tugend ist die Tatsache, daß die Söhne großer Staatsmänner keineswegs selbst große Staatsmänner wurden. Es fällt eine Andeutung, daß die jungen Söhne des Perikles, die als Hörer zugegen sind, sich später nicht bewährten. Wie kann Tugend lehrbar sein, wenn die besten Lehrmeister keinen Erfolg haben. Auch diese Frage ist durch Protagoras' Programm im Sinne des Sokrates beantwortet: wenn er die besten Jünglinge auswählen will, so weiß er, daß die Erziehung wenig vermag, wenn der Zögling nicht hervorragend veranlagt ist. Aber er scheut sich, das öffentlich im demokratischen Athen zu wiederholen. Vor allem fragte Sokrates nach Inhalt und Nutzen der Protagoreischen Lehren (318). Er darf die Kunde erwarten, aus der die neue Bildung, der neue Adel genährt werden, das Gesetz, in dem die Nation Halt finden soll, denn den staatlichen Gehalt der Lehre, nicht Fortsetzung der Schulwissenschaft, hat Protagoras ausdrücklich verheißen. (318 D). Darüber aber gleitet Protagoras leicht hinweg. E r kümmert sich nicht um die Zwietracht der hellenischen Stämme, er versteht gar nicht den Sinn der mit Gewalt auf das in der Schicksalsstunde Notwendige hindrängenden Fragen des Sokrates, und seine geistreiche Rede rennt beziehungslos an der Not der Zeit vorbei, ohne sie auch nur zu berühren. Unausgesprochen hat die Prüfung ergeben, daß Protagoras kein Lehrer ist. Aber vielleicht ist er ein Lernender? Kann man ihm die Wirklichkeit verständlich machen? Ist er zur philosophischen Besinnung fähig? Nur mit größter Vorsicht darf Sokrates den berühmten Redner in solche Prüfung verstricken. Er dankt für die große Belehrung, bekennt sich überzeugt — und hat nur eine „Kleinigkeit" noch zu fragen. Protagoras sei ja nicht wie die großen Staatsredner, die wie eine angeschlagene Glocke noch lange weitertönen, wenn man sie nur eine Kleinigkeit frage, Protagoras verstehe ja vielmehr, auf die Fragen einzugehen und kurz zu antworten . . . Immer von neuem bemüht sich Sokrates so mit Sanftmut und Schmeichelei seinen Prüfling in die tiefere dialektische Untersuchung zu verstricken. Sokrates hat bei aller Bescheidung erfahren, daß niemand weiser ist als er und daß in dieser Stunde auf i h m das Geschick der Welt ruht (Apologie). Was aber hindert ihn, wenn er im Vorspiel so schonungslos die Sophisten gekennzeichnet hat, nun öffentlich die eigene Lehre zu verkünden? Warum verliert er sich in ein schwankendes, langwieriges Zwiegespräch, das den Rahmen der dramatischen Dichtung 31
sprengt und philosophisch ergebnislos endet? — Seine Stunde ist noch nicht gekommen. Das Höchste weiß er selbst noch nicht und das Große, was er weiß, darf er nicht sagen, denn noch würde ihn niemand verstehen. Seine Haltung als Nicht-Wissender ist zum Teil echt, zum Teil ironische Mauer gegen das verderbliche verfrühte Preisgeben seines Geheimnisses. Die frühe Stunde verlangt, daß Sokrates die Leidenschaft des Suchens in allen wandlungsfähigen Hörern entfacht, und seine dämonische Leidenschaft, die Hörer, auch unzulängliche, in seine „dialektische" Untersuchung zu verstricken, beweist, daß er mit der Weltstunde im Einklänge ist. Gegen die Oberflächenweisheit der Sophisten stellt er die Not des Suchens: das besagt das Wort Philosophos. Wo alle Wesenserkenntnis fehlt, ist Redekunst Lüge. Darum darf man den Sinn dieses Dialoges auch im Kampf der dialektischen Methode gegen die rhetorische finden. Wenn der Gemeingeist erloschen, der Staat im lebendigen Sinne zerstört ist, dann muß das neue Vorbild in einer Einzelseele gesucht werden, dann muß eine Erkenntnis außerhalb der äußerlichen Erfahrung gefunden werden. Wie aber kann der Eine die Gültigkeit seines Bildes den anderen bezeugen, wenn er sich nicht auf göttliche Offenbarung berufen darf. Eine Untersuchungs- und Beweismethode für neue Erkenntnis hatte Zenon, der Eleat, erfunden, eine „dialektische" Methode. Auch die „apriorische" Erkenntnis stammt aus „Erfahrung", aus innerer Erfahrung nämlich, und es ist der Sinn der Dialektik, diese innere Anschauung auf ihre Gültigkeit zu prüfen. Wenn der Denker die Zustimmung der Untersuchenden erzwingt, so ist ein wichtiger Schritt für die Gültigkeit dieser Anschauung getan. Aus dieser Methode konnte sich folgerichtig das logische und mathematische Denksystem der Wissenschaft entwickeln, und im Alter hat Piaton das Größte darin geleistet. Das verführt zur naheliegenden Illusion, das wissenschaftliche Begriffssystem, die logische Methode sei sein wahres Ziel gewesen und alle menschliche Weisheit, alle dichterische Schau nur trüber Ballast der unvollkommnen Versuche: Piatons Denken ist konkrete Weisheit — moderne Wissenschaft bedeutet Entsagung, technische Arbeitsteilung, Beschränkung auf die „Gelehrtenrepublik". Piaton will Weisheit, die in der einen heroischen Einzelseele Raum hat, die die Zukunft eines ganzen Volkes trägt. Darum sind fast alle Dialoge sinnlos unter der Voraussetzung einer rein-wissenschaftlichen Absicht. Mag die eleatische Dialektik abstrakt scheinen, so sprengt der junge Piaton sogleich diese Verengung. Abstrakt klingen einzelne Fragen, aber daß die Weiterführung kreuz und quer verläuft und kein rationaler Aufbau entsteht, zeigt an, daß die Gespräche auf ein ganz anderes Ziel gerichtet sind: immer der ganze Mensch ist es, der sich, sogar in logischer Untersuchung, bewähren muß, zu „beweisen" im engern 32
Sinne versucht er selten, sondern es ist Epideixis, das Zeigen, der Seele Greifbar-Machen. Die spätere Wissenschaft gibt Beweise, die mit logischen und rechnerischen Umwegen den abstrakten Verstand zur Anerkennung zwingen, aber als Gesamtbild nicht faßbar sind: der Verstand, nicht die Anschauung, nicht der Mensch ist befriedigt. Wie sollte solche Wissenschaft dem helfen, der als Herrscher das Menschenbild aufrichtet, das Sinn der Erziehung und des Staates bestimmt? Nur aus der Lebendigkeit der Platonischen Dialektik kann man die folgende denkwürdige Erklärung dieser Methode verstehen. Protagoras, der Redner, ist mit dem Schein zufrieden, und Prüfung des Wahrheitsgehaltes scheint ihm pedantische Kleinlichkeit. Sokrates verweist ihm das: „Mir aber liegt nichts daran, dein ,wenn du willst' und ,wenn es dir so scheint' zu p r ü f e n , s o n d e r n m i c h u n d d i c h . Dies ,1 c h' u n d ,D u' aber meine ich in dem Sinne, daß der Gedanke (Logos) so am besten geprüft wird, wenn man das ,wenn' ausschaltet." (331 C.) Das ist der geheimnisvolle und lebendige Sinn der platonischen Erkenntnismethode, des Unterredens, des AiaXsysafrai. Ausdrücklich schließt Sokrates aus, daß er damit die persönliche Anschauung des Ich und Du untersuchen wolle (nur in dieser Auffassung läßt sich 333 C mit der vorigen Stelle ohne Widerspruch verbinden): diese Prüfung bedeutet ihm vielmehr das Aufsteigen ewiger Wahrheit. Piatons Dialektik ist Kampf um die Seele. Das philosophische Ich kann — die Ursache ewiger Spannung — sich nicht in sich selbst entfalten, es braucht den Raum der andern Seele. Darum will Piaton nicht wie Zenon die Anerkennung eines Satzes erzwingen, sondern die Seele des Hörers befruchten. Aber dieser Kampf ist langwierig, und die Stufen dieses Geschehens bilden ganz verschiedene Formen der Dialektik. Die unterste ist das Zerbrechen alter sinnlos gewordener Formen des Denkens, leergewordenen Glaubens, Entlarvung des Wissensdünkels. Dies Aufbrechen des festgestampften Bodens ist die Stufe, die in den frühen Dialogen und später in den Anfängen der Dialoge notwendig ist. (Protagoras, Thrasymachos, Gorgias.) Die zweite Stufe ist die Übereinkunft über die Umgrenzung der Begriffe, die man den Gesprächen mit schon willigen Teilnehmern zugrunde legen will, um nicht an einander vorbeizureden (Phaidros). Ist aber der Schüler gereift, dann versichert die dialektische Zwischenfrage das gegenseitige Verständnis, und der Sinn der Dialektik erfüllt sich, wenn der Hörer auf einen Wink selber den Gedanken entfaltet oder doch die notwendige Frage stellt. Schließlich sind auch die Zwischenfragen nicht mehr nötig, und die Weisheit des Meisters wird ohne Hindernisse mit der Seele der Jünger eins. (Dann vermutet der Kritiker, Piaton habe sich nicht Zeit genommmen, den Stoff dialogisch zu formen.) Der denkbar oberflächlich verstandene Satz der Tugendlehrbarkeit ist bei Piaton denkbar tief. Wissen ist nicht rationale Einzelmeinung, 3
Hildebrandt, Piaton
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sondern Erkenntnis der Weltordnung, aus der die echte Tat fließt. Tugend ist Wissen — aber niemand besitzt dies Wissen. Tugend ist lehrbar, aber dies Lehren ist Kampf der Seele mit der Seele, kein rationales Mitteilen. Den unaufgeschlossenen Menschen kann niemand belehren: darum stellt sich Sokrates mit ihm auf die gleiche Ebene des völligen Nichtwissens, bis die echte Leidenschaft des Suchens aufbreche. Protagoras, der Eitle, will den Schein, als ob er von Sokrates lernen könne, vermeiden — Sokrates will ihn hineinreißen in das echte Suchen: das ist die Spannung, die man im äußerlich ergebnislosen Gespräch erkennen muß. Die unterste Stufe der Dialektik kann den Anschein bloßen Streitens, der Eristik, der „Sophisterei" haben, da dem Gegner zuerst das „Nicht-Wissen" bewußt werden soll: Sokrates lähmt, wie mit dem elektrischen Schlage der Zitterrochen. Das ist nicht Wettkampf der Eitelkeit, sondern Prüfung des Hörers. Dialektische Untersuchung besteht darin, daß der Stärkere führt . . . darum muß der Schwächere zuvor zur Einsicht gebracht werden. Da die neue Erziehung aus der Tugenderkenntnis fließen soll, versucht Sokrates über die Zwischenstufe, daß alle Tugenden eine Einheit bilden, Protagoras zum Hauptsatze vom Tugendwissen zu leiten. Protagoras, der mißtrauisch diese Hilfe für Fallstricke eines Gegners hält, läßt sich auf diese Stützung seines eignen Berufes nicht ein und wird bald zu einem kläglichen Bild der Unsicherheit (vgl. 333c). Und als Sokrates die Frage stellt, ob das Gute denn schlechthin nützlich sei, bricht Protagoras aus der Bahn und setzt wieder das Segel seiner vollen Beredsamkeit. Logisch betrachtet ist er völlig im Recht: „nützlich" ist ein durchaus relativer Begriff. Der Mist z. B. ist nützlich für die Wurzeln der Pflanze, schädlich aber, wenn man ihn auf die jungen Sprößlinge deckt. Er hat recht — aber auch seine breite Rede ist nicht nützlich, sie erstickt wie der Mist den jungen Sprößling der philosophischen Untersuchung. Im Zuge dialektischer Philosophie hätte gelegen, daß Protagoras die Überlegenheit des Sokrates1 anerkannt und sich seiner Führung anvertraut hätte. Aber der philosophische Funke springt auf ihn nicht über, und er sieht, wie es zu geschehen pflegt, die Aufgabe der Zwiesprache im Rechtbehalten, nicht in der Förderung der Wahrheit. Darum setzt er an Stelle der Untersuchung wieder den rhetorischen Anprall, dem er den Ruhm verdankt. Sokrates bittet sanft, da er selbst zu den vergeßlichen Menschen gehöre, möge doch Protagoras die Antworten nicht länger ausdehnen, als nötig sei, aber der Redner erwidert schlagfertig: „Solang wie d i r nötig scheint oder mir?" Zugleich beruft er sich auf die Bedingungen des öffentlichen Beifalls. „Lieber Sokrates, ich habe schon mit vielen Männern im Wettkampf der Rede gestanden. Hätte ich aber das getan, was du von mir verlangst, hätte ich nämlich das Gespräch immer so geführt, wie der Gregner es vorschrieb, dann hätte ich 34
über niemanden gesiegt, und der Name des Protagoras würde nichts bedeuten bei den Hellenen." Das ist das kindlich-unbefangene Bekenntnis der Redner-Eitelkeit gegenüber dem Wahrheit-Sucher. Nur darf man nicht glauben, daß Protagoras durch dies Bekenntnis der Eitelkeit in seinem öffentlichen Ansehen geschädigt werden soll. Die Anerkennung des Wettkampfes ist das Grundgesetz des griechischen Lebens, und Protagoras gehört mit seiner Gesinnung zum vornehmen Griechentum der Olympischen Spiele. Auf der öffentlichen Bühne die Blöße des Gegners zu erspähen und rücksichtslos auszunutzen: das ist die Kampfregel. So empfinden die vornehmen Gäste im Hause des Kallias das Zwiegespräch ganz wie Protagoras als sportlichen Wettkampf. Und auch Sokrates sucht den Agon — aber den Agon auf höherer Ebene. Diese öffentlichen Redekämpfe werden durch bloße Gewandtheit, durch den Beifall der Menge entschieden, während Sokrates, den Beifall der Menge verachtend, allein die Findung der Wahrheit als Maßstab und zugleich als Kampfpreis gelten läßt. Da gibt es keinen Preisrichter als den Gegner selbst, wenn er sich überzeugen läßt — oder die Jugend, die dem Stärkeren folgt. Im Grunde stellt Piaton den ursprünglichen Sinn der Olympischen Kämpfe her, nach dem nicht der der Menge Gefällige siegt, sondern der wirklich Überlegene, wobei man gern bedenkt, daß Piaton selber auf den Isthmischen Spielen als Ringer gesiegt haben soll. Protagoras, der angeblich einen neuen Adel bilden will, buhlt um den Beifall der Menge: er kann nicht empfinden, nach welchem Wettkampf Sokrates sich sehnt. Eine weitere Prüfung ist sinnlos. Sokrates will sich mit einer durchsichtigen Höflichkeitslüge aus der Gesellschaft entfernen. Aber auch Kallias und seine Gäste haben das Gespräch wie Protagoras nur als sportlichen Zweikampf verstanden und verlangen, den Endkampf zu sehen. Kallias selber faßt Sokrates gleichzeitig bei der Hand und am Mantel, um ihn zum Bleiben zu zwingen, und während die anderen sich in Vorschlägen erschöpfen, unter welcher Regel die Fortsetzung des Kampfes beiden Gegnern zuzumuten sei, äußert der „weise" Hippias seine sportliche Auffassung am kindlichsten. Wenn er vorschlägt, ein Unparteiischer solle beobachten, daß zwischen der langen und kurzen Redeweise ein richtiges Mittelmaß gehalten werde, so muß es ihm gänzlich entgangen sein, daß zwischen rhetorischer und dialektischer Methode ein Abgrund klafft, der jede Vermischung ausschließt. Dagegen zeichnet sich der junge Alkibiades aus, der zwar auch die Fortsetzung des Zweikampfes begehrt, aber den Unterschied von Rhetorik und Dialektik verstanden hat. Mit dem Eifer und dem Tone dessen, der in der Gesellschaft die erste Rolle zu spielen gewöhnt ist, greift er ein: Sokrates habe ja bereitwillig eingeräumt, daß Protagoras ihm in der „Langrednerei" überlegen sei, in der Dialektik aber, nämlich in der Kunst Rechenschaft zu geben und sich geben zu lassen, werde 3"
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er schwerlich irgendeinem Menschen den Vorrang einräumen. Wenn Protagoras das zugebe, so werde Sokrates befriedigt sein. Wolle er ihm aber den Vorrang streitig machen, dann müsse er sich auch wirklich in die dialektische Methode fügen. (336) Nicht nur Alkibiades wird durch diesen Eifer für den Ruhm des Meisters gezeichnet, denn gleichzeitig wird die Selbstschätzung des Sokrates neben Protagoras sichtbar. Durch sein Schweigen erkennt er jene Äußerung des Alkibiades an. Wenn Protagoras ihn ein wenig gönnerhaft behandelt, so läßt er sich das vom Älteren mit unnachahmlichironischer Schmeichelei und dennoch durchaus ritterlicher Höflichkeit gefallen, aber seinen Zweck, den Gegner in die dialektische Untersuchung zu verstricken, hat er damit nicht erreicht. Aber er denkt nicht daran, bescheiden hinter Protagoras zurückzustehen, und billigt darum, daß sein Schüler Alkibiades dem berühmten Manne die Wahrheit sagt. Wenn Protagoras schon den wahren Rang nicht erkennt, so ist der Sinn, so müsse er zum mindesten Sokrates als gleichen Ranges anerkennen. Mag also Alkibiades die Methode des Protagoras entlarven: Er antworte auf bestimmte Fragen mit langen Reden, um die Hörer von der Hauptsache abzulenken, und die Hörer vergäßen den Gedankengang — niemals aber Sokrates, wenn er sich auch scherzhaft vergeßlich nenne. Dafür leiste er, Alkibiades, Bürgschaft. — Wer das Drama lebhaft vor sich sah, vergaß nicht, daß Hippokrates diesen Reden — zweifellos mit glühendem Eifer — gefolgt ist. Wie ein Blitz muß ihm bei den Worten des glänzenden Alkibiades aufgeleuchtet sein: dieser hilfsbereite Sokrates, den er eben nachts vertraulich gestört hat, ist größer als der weltberühmte Protagoras, dessen Glanz ihm die Sinne verwirrte. Jetzt beginnt sich die Erweckung zu vollenden. In der folgenden Zwischenszene kommt die Kunst des Lustspiels zu ihrem Recht: Sokrates sieht nur im höheren Agon, im Ringen um die Erkenntnis Gewinn — der Wettkampf, zu dem die anderen ihn zwingen wollen, liegt unter seiner Würde. Dennoch vermag er, ein seltsamer Zwiespalt, sich auch diesem sportlichen Kampf nicht unbedingt zu entziehen und läßt sich lächelnd auf die Rednerbühne drängen. Eben die Blindheit des Hippokrates mußte ihm zeigen, daß er einmal wenigstens die Sophisten mit ihren eigenen gesellschaftlichen Waffen überlegen schlagen muß, wenn er staatlich wirken, wenn er von der Jugend zum Meister gewählt werden will. Dann ist Protagoras, der berühmteste der Sophisten, der würdigste Gegner, das schönste Opfer. Aber zum Verständnis des Gespräches darf man nicht vergessen: Sokrates behandelt diesen sportlichen Agon als Komödie, und er versucht immer wieder, den Gegner auf die hohe Ebene des Agons, des Kampfes um die Erkenntnis, der dialektischen Untersuchung emporzuziehen; Protagoras solle zuerst Fragen stellen, solange er wolle. Sokrates will antworten und ihn dadurch mit seiner dialektischen Methode vertraut 36
machen! (338 D) Danach werde er, Sokrates, wieder fragen. Er will nicht glänzen, sondern befruchten, und es ist nicht seine Schuld, wenn Protagoras, eitel und unbelehrbar, ausweicht. Protagoras fügt sich der Gesellschaft und eröffnet den zweiten Waffengang (Kap. 26—32). Wieder ist sein Leitsatz richtig: „Ich bin überzeugt, Sokrates, der wichtigste Bestandteil der Bildung zum Manne sei die Kenntnis der Dichtungen." Alsbald aber zeigt sich, wie oberflächlich, ja lächerlich Protagoras diesen Satz mißbraucht, da er in einem Gedicht des Simonides einen Widerspruch bemerkt zu haben glaubt und damit Sokrates bloßzustellen hofft. Diese Kinderei wird Sokrates denn doch zu einfältig, und da er sieht, daß die Sophisten es nicht anders wollen, erwacht einmal auch die Lust zum Possenspiel in ihm. Wenn sie denn durchaus ihren rhetorischen Hahnenkampf haben wollen, so sollen sie ihn gründlich haben, mag er denken. Er ruht nicht eher, bis er Protagoras, nebenbei auch gleich Prodikos und Hippias, die drei Berühmtheiten der Gesellschaft, zu Boden geschlagen hat. Dies Bild aus dem Wettkampf ist geboten, weil Sokrates selbst diese Parodie als Faustkampf darstellt. Er erzählt, daß ihm, als Protagoras für seine Simonideskritik stürmischen Beifall der Hörer erntete, schwindelig geworden wäre und schwarz vor den Augen, als ob er von einem Faustschlag getroffen wäre. Um sich zu sammeln, habe er Prodikos zu Hilfe gerufen, den Sophisten, den seine Methode spitzfindiger Unterscheidung der sinnverwandten Worte bekannt gemacht hat. Ihm schlägt er, dessen Methode nachahmend, eine Deutung der Simonides-Verse vor, die den Widerspruch beseitigen würde. Geschmeichelt stimmt ihm Prodikos zu — da erklärt Sokrates, Prodikos scherze wohl nur, denn diese Deutung sei offentsichtlich falsch. Nachdem er so Prodikos mit gutmütigem Spott auf seinen begrenzten Rang verwiesen, bietet er an, seine eigene Deutung des ganzen Gedichtes darzulegen, und er hält, da alle ihn eifrig bitten, eine lange Rede aus dem Stegreif. Darin liegt der Witz des Lustspiels. Eben hat Sokrates mit größter Mühe erreicht, daß dialektisch, mit kurzen Antworten unterredet werden soll, hat die rhetorische Überlegenheit der Sophisten anerkannt, sich selbst vergeßlich gescholten, und nun, fast mit Gewalt auf die Kampfbühne gezerrt, beweist er, daß er den berühmten Gegner selbst in dessen wohlvorbereitetem Thema mit einer langen Rede aus dem Stegreif übertrifft. (Hier schlägt Piatons Lust am Agon durch, der wie Goethe gern auch fremderer Kunstübung das Muster aufstellt.) Diese Rede ist das mit Bosheiten geladene Gegenbild der großen Protagorasrede. Die Lakedämonier seien die echten Sophisten, Meister der Weisheit, darum halten sie ihre Weisheit geheim und reden wenig. Wo es aber die Gelegenheit erfordert, da treffen sie mit einem kurzen gedrungenen Wort wie gewaltige Speerwerfer. Mit solchem Speerwurf trifft Sokrates den Gegner, wenn er daran erinnert, daß die Spartaner die fremden Sophisten aus der Stadt 37
verweisen. Seine Deutung des Simonides-Gedichtes ist nicht objektivphilologisch, sondern nur Mittel, eigene Anschauung aus fremdem Werke zu lesen. So wird zuletzt hinter der Maske des Pittakos offenbar Protagoras selbst getroffen: „Über die wichtigsten Dinge bist du im Irrtum und glaubst doch die Wahrheit zu lehren — das ist es, warum ich dich tadle!" Hippias, selber der berühmteste Dichtererklärer, ist, da er die Bosheit dieser Parodie nicht begriffen hat, von der Rede entzückt, und er würde sogleich eine ähnliche Rede, die er auf Vorrat hat, vom Stapel lassen, wenn Alkibiades nicht geistesgegenwärtig ihn hinderte. Sokrates, nun als Redner bewährt, in der Dichtererklärung den Sophisten weit überlegen, kehrt aus der Komödie in den Ernst zurück und trifft die Sophisten, ja die Gesellschaft mit strenger Rüge überhaupt: er erklärt d i e s e Art Beschäftigung mit den Versen für ein Merkmal niederer Bildung. Über die Meinungen der Dichter, die man nicht selbst befragen könne, lange zu streiten sei überflüssig, und solche Unterhaltung gleiche den Gelagen roher und ungebildeter Männer, die, weil sie keine eigenen Gedanken haben, die Stimmen der Flötenspielerinnen mieten müssen. Sich selber im Wechselgespräch zu prüfen, sei gebildeter Männer würdig. Sokrates hat gesiegt, das Spiel konnte schließen — dann hätten wir eine Satire, kein Gespräch der Weisheit. Damit niemand glaube, daß Sokrates an solchem Siege läge, hat Piaton — vergeblich! — den dritten Waffengang angeschlossen: noch einmal bemüht sich Sokrates, den Sophisten in die Halle der Dialektik zu führen. Protagoras spürt, daß in diesem ritterlichen Gegner ein Größerer über ihn gekommen ist, und gar zu gern würde er sich stillschweigend aus der Arena entfernen. Doch fassen Alkibiades und die anderen ihn bei der Ehre und erinnern ihn an die Verabredung. Schweren Herzens entschließt er sich zum dritten Waffengange. (Kap. 33—40.) Dieser letzte Gang aber ist nicht mehr, wie gröblich mißdeutet wird, ein Wettkampf. Protagoras ist nicht Lehrer, nicht Gegner — vielleicht kann er noch lernen? Das eigentliche Lustspiel ist beendet, und die dialektische Methode fordert, daß Sokrates sich mit dem Schüler erst auf die gleiche Ebene des Nichtwissens stellt. Ganz ausdrücklich redet darum Sokrates noch einmal dem Sophisten zum Frieden zu. Sie wollen nicht streiten, sondern gemeinsam die Erkenntnis suchen, deren auch er noch nicht teilhaftig sei (348 B). Und nun geschieht etwas Merkwürdiges: Als Sokrates eine tiefgründige Frage stellt, da weicht der berühmte Protageros nicht mehr aus, sondern bittet Sokrates, die Untersuchung dieser Frage in seiner dialektischen Methode zu führen! (351 E). Ein Denkmal der Magie, mit der Sokrates die Hörer zu wirklichen Teilnehmern, die Gegner zu Schülern macht, der Sieg im höheren Agon! Wie kann man damit die Auffassung vereinen, daß Sokrates den vertraulich gemach38
ten Protagoras absichtlich in die Irre führen will? Diese hämische Kampfesart wäre weit niedriger als die sophistische. Begreiflicherweise hält Protagoras in der Bescheidung, sich vertrauensvoll vom Jüngeren führen zu lassen, nicht durch. Sokrates setzt mit der Untersuchung ein, wo sie vorher stehengeblieben war. Die Tugenden bilden eine organische Einheit wie die Teile des Gesichtes. Davon glaubt Protagoras eine Ausnahme machen zu sollen: die Tapferkeit, da gerade die Tapferen oft der übrigen Tugenden ermangeln. Nun ist Sokrates' geheimes Ziel, das Wesen der Tugend in der Erkenntnis zu erweisen (die „Einheit" ist nur die Zwischenstufe dazu), und gerade die Sophisten, die Lehrer der Tugend sein wollen, hätten das größte Interesse, diesen Satz anzuerkennen. Der Fortgang ist sehr bezeichnend für den erzieherischen, nicht logischen Gang der Dialektik. Aus Protagoras' irrigen Erklärungen versucht nämlich Sokrates — logisch unberechtigt, gleichsam Fehler durch Fehler kompensierend, aber den richtigen Weg weisend — die Wahrheit zu lesen, daß Tapferkeit gerade durch Erkenntnis zur Tugend würde, von sinnloser Tollkühnheit unterschieden. Statt die sachliche Andeutung zu nutzen und sie logisch richtig zu begründen, klebt Protagoras- allein am Logischen. Er widerlegt richtig den absichtlichen Fehler, aber da er vom Ziel, auf dem doch der Sophistenberuf gründet, abirrt, so verirrt er sich in Rechthaberei (350 C-E). Dialektik ist nicht logisches Streiten, sondern gemeinsames Schreiten zu einem Ziele. Nicht Sokrates, sondern die sachliche Lage ist hier ironisch. Sokrates mag sich freuen, daß Protagoras wenigstens formal richtig sich an der Untersuchung beteiligt und ihm der in die Hand gespielte kleine Triumph die Rolle des Geführten erleichtert. Geduldig legt er den Grund tiefer. Er steigt hinab zu dem schwierigen Grundproblem, ob das Gute, also das Ziel der Tugend, identisch sei mit der Lust, mit dem Angenehmen. Er zeigt ihm seine Methode meist im Gespräch mit einem fingierten Teilnehmer: indem Sokrates beide Rollen zugleich spielt, gibt er das denkwürdige Muster der reinen dialektischen Methode. Dieser Teilnehmer ist die Menge. Sokrates führt Protagoras gleichsam an der Hand, um ihm zu zeigen, wie er der Menge Unterricht geben soll. Diese Menge schätzt die Erkenntnis gering. Sie wendet das gleiche ein, was man heute gegen das Sokratische Tugend-Wissen einwendet: der Mensch wird durch Lust und Unlust zum Bösen verführt, und bessere Einsicht erweist sich als machtlos. Und wieder sind Sokrates und Protagoras im Grundsatz, daß Erkenntnis und Weisheit die stärkste Kraft im Menschen sei, völlig einig. Von diesem Grundsatz wollen sie gemeinsam die Menge überzeugen. Sokrates weist nach, daß diese Rede von der Überwindung der Erkenntnis durch die Lust widersinnig sei. Der natürliche Mensch will die Lust, das heißt: das Gute und das Angenehme sind für ihn identisch. Wenn nun seine Einsicht trotzdem irgendeine Lust verwirft, so doch nur deshalb, weil diese Augenblicks39
lust ihm später viel Unlust bereiten wird. Also gerade, wer nur die Lust als Gutes anerkennt, muß die Erkenntnis, die Meßkunst für die Lüste und Unlüste, für den augenblicklichen Genuß und die späteren Folgen haben. Wer falsch handelt, wird durch die Unwissenheit, nicht durch die Lust besiegt, denn gerade Lust tauscht er nicht ein, sondern Unlust. Die Athener können also nichts Besseres tun, als ihre Söhne zu den Weisen in die Lehre zu schicken. — Da stimmen die Sophisten begeistert ein . . . Man schließt hieraus, Piaton sei damals Hedonist gewesen, und wirklich sieht man, daß theoretisch Protagoras wieder der „Idealere" ist, da er das Gute von dem Angenehmen trennt und die Meinung der Menge für belanglos hält. Sokrates sieht „realer"! Daß der Mensch nach Lust strebt, ist ihm natürliche Gegebenheit, die durch Moralisieren nicht aus der Welt geschafft wird. Dennoch ist ausgeschlossen, daß er hedonistisch empfindet (er ist Eudämonist, darüber später), und seine Ausführung besagt nur: Selbst dann, wenn man die Lust als Ziel des Menschen anerkennt, muß man die Weisheit als führendes und messendes Prinzip anerkennen. Protagoras, der blind idas Ziel verkennt, möchte gern widersprechen, muß aber schweren Herzens von Frage zu Frage, wenn auch nur noch kopfnickend, zustimmen. Im Augenblick, als das Lebensprinzip der Sophisten, die Lehrbarkeit der Tugend nämlich, zum Siege gelangt, möchte er sein Spiel verloren geben und mißmutig aus der Untersuchung ausscheiden. Wider Willen hat Sokrates noch einmal im Wettkampf gesiegt, aber nur darum, weil Protagoras sich nicht vertrauensvoll seiner Führung hingeben kann. Diesen seltsam-widersinnigen Verlauf der Untersuchung faßt Sokrates schonend aber deutlich so zusammen: Wenn dieser Ausgang des Gespräches menschliche Gestalt und Stimme annähme, dann würde er sie beide auslachen: „Wunderlich seid ihr, Sokrates und Protagoras! Du, nachdem du anfangs sagtest, die Tugend sei nicht lehrbar, ereiferst dich zu beweisen, daß sie Erkenntnis i s t . . . wodurch sie doch am meisten als lehrbar erscheinen würde . . . Protagoras dagegen, der anfangs voraussetzte, sie sei lehrbar, ereifert sich offenbar dafür, sie sei alles andere eher als Erkenntnis, und dann wäre sie doch am wenigsten lehrbar." Bedeutet dieser künstliche Frontwechsel eine Kriegslist? Sicherlich hat Sokrates seine Überzeugung im Laufe des Gespräches nicht gewechselt — das behauptet er nur, um seine allzu steile Überlegenheit über den Gegner zu mildern — aber er hat auch nicht die Lehrbarkeit der Tugend angezweifelt, um Protagoras auf eine falsche Fährte zu locken, sondern offensichtlich ihm damit die dankbare und leitsatzgemäße Aufgabe gestellt, die Lehrbarkeit der Tugend zu beweisen. Das will Protagoras auch, und wenn er immer wieder vom Ziele abirrt, so liegt dies nur daran, daß er nicht fähig ist, das Ziel im Auge zu behal40
ten, und aus Mißtrauen und Rechthaberei dem Weiseren widerspricht. Der Abstand zwischen beiden ist so groß, daß Sokrates zum Schluß in urbaner Form als Richter sprechen darf: Ihm habe in der Fabel des Protagoras Prometheus, der Vorausdenker, gefallen. Protagoras selbst aber gleiche dem Epimetheus, dem Danachdenker. Nun, da alles durcheinander gerüttelt sei (erste Stufe der Dialektik!), seien sie soweit, das Wesen der Tugend zu untersuchen, danach erst, ob sie lehrbar sei. „Ich nehme mir darum den Prometheus zum Vorbilde, und um für mein ganzes Leben vorauszudenken, betreibe ich all dies, und wenn du wolltest, möchte ich, wie ich schon anfangs sagte, es am liebsten mit dir gemeinsam durchforschen." Das besagt noch einmal: Als Suchenden würde er Protagoras aufnehmen. Solche Seelengröße, sich dem Größeren unterzuordnen, darf man von Protagoras nicht verlangen. Aber klug und urban ist auch er, um die Bedeutung des Sokrates „neidlos", wie er wenigstens sagt, anzuerkennen und ihm späteren Ruhm zu prophezeien. Die Einladung zur weiteren dialektischen Untersuchung lehnt er ab, denn es sei Zeit, sich anderen Dingen zuzuwenden. Die Gesellschaft mag in dieser gönnerhaften Anerkennung eine Ehrung sehen — Sokrates muß sie als Anmaßung stolz, wenn auch in höflicher Ironie zurückweisen: „Ja, so soll es geschehen, wenn es dir gefällt. Denn auch für mich war es längst Zeit, dahin zu gehen, wo ich schon sagte, aber dem schönen Kallias zuliebe habe ich mich verweilt." Diese gesellschaftliche Lüge erinnert daran, daß ein Sokrates vom Protagoras gewiß nichts zu gewinnen habe, denn daß Sokrates immer Zeit hat, wo hohe Erkenntnis gesucht wird, das geht aus der Fortsetzung hervor, die allerdings am Anfang des Dialoges steht. Sokrates trifft auf dem Rückweg einen Freund und hat Muße, ihm das ganze Gespräch zu wiederholen: so schließt sich in seltsamer Weise das Geschehen zum Ringe. Mit der Frage dieses Freundes, woher denn, Sokrates komme, beginnt das Werk. Selbstverständlich wohl von der Jagd auf die Schönheit des Alkibiades, der ja immer noch schön sei, wenn ihm auch der Bart schon voller keime? — So wird mit dem ersten Satz Auge und Geist in die Zeit versetzt: Alkibiades nähert sich den zwanzig, Sokrates den vierzig Jahren, und solche Freundschaften verursachen in Athen die Spannung des geistigen Lebens. Aber die folgende Erzählung beweist dann: nicht nach des Protagoras' Weisheit jagt Sokrates als der wahren Schönheit, nicht nach dem schönen Kallias, wie er am Schluß scherzt, nicht nach dem schönen Alkibiades, wie der Freund voraussetzt — es ist die Schönheit des geistigen Aufblühens des Fast-noch-Knaben Hippokrates, in die Sokrates den goldenen Keim senken will. Das ist das Wort des Platonischen Sokrates. Was aber bedeutet der Dialog in Piatons Werk und Sendung? Das sachliche Ergebnis ist gering, denn nichts ist gefunden als der Einsatz: die Tugend ist im 41
Bereich des Erkennens zu suchen. Und das ist der Wesenszug, der heute Bedenken und Widerspruch weckt. Ist Sokrates Schulmeister, daß er lieber unterrichtet als kämpft? Ist der Satz vom Tugend-Wissen nicht Rationalismus, der die gesunden Triebe und Instinkte, die nur im Dunkel des Unbewußten gedeihen, ausdörrt und vergiftet? So etwa lautet Nietzsches Anklage gegen Sokrates und den angeblich durch ihn vergifteten Piaton. Nur Piatons Gesamtwerk und Schicksal kann die Antwort geben, doch sahen wir schon im „Protagoras" ganz andere Kräfte am Werke als den Rationalismus. Zwar will Piaton, als Gründer, ein neues Weltbild, eine neue Rangordnung schaffen, zu deren Verständnis er die Jünger nur stufenweise, durch seine dialektische Methode führen kann. Das verhindert ihn jahrelang, auf die höchsten Fragen schon einzugehen. Die Geringfügigkeit, jaNichtigkeit des Ergebnisses vieler Frühdialoge, wenn man nach dem rational geformten Satz fragt, belehrt uns aber, daß nicht darin, sondern im lebendigen Gesamtbild mit allen Mythen, Gebärden, Winken der schöpferische Wert beschlossen ist. So kann der Erzieher (wie im „Staat" die Musik) die Wahrheit bildhaft einprägen, für die die dialektische Stufe nicht hinreicht. Piaton ist nicht fähig, eine parodistische Rede auszuspinnen, ohne sie mit tiefen Andeutungen zu beladen: die Kunstform, gibt ihm damit ein weißes Blatt, auf dem er vordeutet, was im dialektischen Vorgange noch keinen Platz hat. Der Scherz in der Simonides-Deutung liegt darin, daß jeder aus dem Gedicht die eigene Meinung herauslesen kann (Kap. 28—31). Sokrates legt nicht ohne Willkür die eigene Lehre hinein. Simonides meine: Schwer ist es, ein guter Mann zu werden — aber dem Menschen unmöglich, es dauernd zu sein. Daß der bedeutende Kritias, der geniale Alkibiades Teilnehmer sind, mußte auf jeden Leser des Dialoges eine aufregende Wirkung haben. Kritias, der tyrannische Frevler, dessen Sturz und Tod vermutlich der Entstehung des Dialoges kurz vorausgeht, wird vom Volke gerade als Beweis angeführt, wie schädlich die Lehre des Sokrates war. Darum gibt Piaton hier den Wink, was wirkliche dynamische, nicht stoffliche Erkenntnis sei: nicht das bloße Wissen, das doch Kritias und Alkibiades dauernd behalten haben, sondern die echte philosophische Gesinnung, die den Menschen wirklich beherrscht. Es ist schwer, auf die höchste Ebene der Erkenntnis zu gelangen, es ist nur dem Gotte möglich, dauernd auf ihr zu wandeln, denn der Mensch muß um den Z u s t a n d wahrer Erkenntnis jeden Tag von neuem kämpfen. — Piatons Satz vom TugendWissen reicht in unergründliche Tiefen. Arete wird ein agonischer Begriff höchster Spannung. Sie ist mehr als die männliche Bürgertugend, denn sie ist zuletzt auch die höchste Erkenntnis des Einen, der den Staat lenken, der ihn erneuern kann, weil er den Sinn des Weltganzen begriffen hat. Nicht stofflich, nicht statisch ist dies „Wissen" zu verstehen, sondern dynamisch. Der dynamische Punkt im „Protagoras" 42
aber ist der Augenblick, in dem Sokrates den Wunsch des Hippokrates, den auszusprechen dieser sich scheut, verkündet und billigt. „Dieser Hippokrates hier, ein Athener aus einem vornehmen und glänzenden Geschlecht, aber auch in der Veranlagung allen Altersgenossen ebenbürtig, begehrt, wie mir scheint, im Staate Ruhm zu erwerben" (316 B). Noch sucht Hippokrates in Protagoras den Führer, Sokrates will ihn in sein eigenes Strombett leiten — das ist der letzte Sinn des Agons . . . Daß diese staatliche Leidenschaft des Hippokrates der Urgrund ist, bestätigt der VII. Brief! (Siehe oben Seite 17 f.) In dieser Leidenschaft muß der junge Piaton sich anfangs für die glänzenden Redner auf attischem Boden begeistert haben, als er Sokrates schon schätzte und sich doch dem armen Mann des Volkes ein wenig überlegen fühlte — bis ihm einmal die Schuppen von den Augen fielen und er erkannte: Sokrates ist der wahre Große, er allein das Leben, aus dem seine eigne staatliche Sendung aufwachsen kann. Erst in Jahren mag die Erkenntnis gereift sein, daß er selbst berufen sei, den neuen Staat zu gründen, den einzigen, der vor den Augen des unerbittlichen Rhadamant Sokrates Gnade fände. Hier im „Protagoras" reift diese Erkenntnis. Darum findet sich keine Andeutung, wie die Sophistenprobe auf den Epheben wirkt: Piatons Werk und Leben soll diese Wirkung darstellen. Das Wunder der geistigen Sohnschaft wird Wirklichkeit: der Geist des alternden Sokrates erneut sich im Leibe des schönen adligen Piaton, ein Geschehen, das für uns in der Wirkung des großen Sehers und Quellenfinders Herder auf das Blut des Jünglings Goethe, die Verleiblichung seiner Sehnsucht seinen von Platonischem Geiste belebten Mythos fand (Goethes Briefe an Herder 1771.) Und wenn im mythischen Reiche die Gestalten zusammenwuchsen, daß wir zweifeln, sollen wir Sokrates, sollen wir Piaton sagen, so bestätigt Piatons eigenes Wort aus dem II. Brief (es bleibt echt, selbst falls der Brief nicht echt wäre) dies Wunder: „Eine Schrift Piatons gibt es nicht und wird es nicht geben, denn was jetzt so genannt wird, ist von dem schön und jung gewordenen Sokrates." Sokrates ist der Nichtwisser, weil seine Weltstunde die suchende sein muß. Aber kein ärgeres Mißverständnis, als ob er damit die Abwendung des Geistes vom Staatsleben, wie sie in der Antike nach Piatons Tode heraufdämmert, oder das Ideal der Neuzeit, eine unendlich fortschreitende und sich verästelnde, aber nie als Staat, als Tat sich verwirklichende Erkenntnis als Heil des Menschen verkünde! Zwar muß der Mensch immer von neuem das Beste suchen, um das Schöne kämpfen, zwar denkt Sokrates nicht selber Gründer und Herrscher des Staates zu werden: aber die nächste Zukunft, nicht unendliche Ferne soll die staatliche Erfüllung bringen. Der Verfall duldet keinen Aufschub. Daher seine ewige Jagd auf schöne Jünglinge, denn darin beruht sein Lebenssinn, daß er Einen Täter und Vollender, einen ävrjp ipiazoz 43
finde. So empfinden Sokrates und Piaton und ahnen schwerlich, daß das Schicksal die geistige Vollendung über alles Maß gewähren, die staatliche Auswirkung über ein Jahrtausend verzögern würde. Wie dürfte der junge Piaton seinen Reformplan schon offen verkünden! Nicht einmal die Suchenden stehen schon bereit: Piaton muß die Leidenschaft des Suchens erst wecken! Darum die dichte Verhüllung seiner Lehre und Hoffnung! Nur soviel läßt er durchschimmern: Allein in der Erkenntnis ist heute das Heil zu suchen. Noch ist nicht Zeit zu fragen, wie Arete gelehrt werden kann (das hat Zeit bis zum „Menon") — lernt zuerst schauen, ob Einer da ist, der ihr Wesen, das Wesen des Staates erkennt! . . . Diese seiner Jugend angemessene Haltung dennoch in der Gestalt des Heros darstellen zu können, ist Piatons Kunst: er stellt den Meister verhältnismäßig jung und noch vor dem Verfall Athens dar. Und dennoch ist derselbe Sokrates schon die mittegebende, die rangbestimmende Gewalt. Alle Gestalten des Dialoges trägt Sokrates gleichsam in sich selbst: erweckend, widerlegend, vorwärtsstoßend, führend, strafend. Kein Gedanke der Gegner, der nicht gerichtet würde durch seine Stelle in der geahnten Weltordnung. So ordnen sich Protagoras und die geringem Sophisten, der kluge Kritias und der eifrige Alkibiades als Gestalten ein, und selbst der einzige wirkliche und furchtbare Gegner des Sokrates, die attische Menge, wird hier als ewiges Wesen im Geiste des Sehers dargestellt. Ihr ist der Hedonismus erlaubt — aber die Herrschaft des Geistes muß sie anerkennen. So regt sich schweigend im jungen Verfasser der höchste Anspruch, Sokrates' Forderung zu erfüllen und die höchste politische Macht wieder zu knüpfen an die Weisheit.
II. J O N U N D
HIPPIAS
K a m p f a n s a g e gegen den G e i s t der G e s e l l s c h a f t Inhaltlich bilden beide kleinen Gespräche einen Anhang zum „Protagoras", womit über die zeitliche Folge nichts gesagt sein soll. Auch in diesen Gesprächen hält Piaton seine Lehre zurück und bleibt auf der Vorstufe der Dialektik: Verwirren, Zweifel erregen an dem nur zum Schein noch bestehenden geistigen Gefüge des Staates, Leidenschaft des Suchens. Der „Protagoras" hat den Anspruch der Sophisten entwurzelt, Lehrer der Nation, Führer der adligen Jugend zu sein. Hier greift Piaton die gesellschaftliche Unterhaltung, Vorträge der Dichtungen und über Dichtungen an, die zu einem leeren Spiel „geistiger Interessen" entartet sind. (Theater und Literatur würde man heute sagen.)
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Jon, der berühmteste und sieggekrönte Homer-Rhapsode, trägt nicht nur die Dichtungen vor, sondern deutet sie auch und glaubt als größter Interpret Anspruch auf den goldenen Kranz der Homeriden zu haben. Zu Sokrates' Verwunderung aber erklärt er, nur Homers Werke zu verstehen und über alle anderen Dichter nicht urteilen zu können, ja er bekennt sich dazu, beinahe einzuschlafen, wenn er von anderen Dichtern höre. Ein widersinniges Spezialistentum. Wer Wissen und Kunst, Episteme und Techne, der Dichtung hat, muß jede Dichtung verstehen. Der Satz vom „Tugend-Wissen" rückt damit aus dem Kreise der „Moral" in die Formen allen tätigen Lebens. Episteme ist nicht vom Leben gesondertes Erkennen, sondern unmittelbar mit dem lebendigen Tun verschmolzen. Jeder menschliche Beruf hat seine Episteme oder Sophia, und die dem Handeln zugewandte Seite der Episteme heißt Techne, so daß diese Begriffe, Episteme und Techne, fast gleichbedeutend gebraucht werden können. Aber Episteme weist nach der Seite höchster Einheit, philosophischer Welterkenntnis, während Techne auf den eingeschränkten Beruf deutet. Solch Wissen ist immer Norm-Erkenntnis. Das Weltganze umfaßt nur die philosophische Episteme, aber auch jede Berufs-Episteme muß eine Ganzheit sein. Als solche Ganzheiten, die aber (im Gegensatz zur Neuzeit) nicht weiter spezialisiert werden dürfen, nennt Piaton Dichtung, Malerei, Bildhauerei, Heilkunde, Baukunst. Jon will Homer kennen als den Besten der Dichter: da aber das Beste Norm seiner selbst und des Schlechten zugleich ist, müßte er auch die schlechteren Dichter verstehen — denn verstehen heißt messen an der Norm. Vorausgesetzt wird, daß der Dichter und sein Interpret aus philosophischer Einsicht in das Lebensgesamt reden — oder aus göttlichem Rausch. Davon ahnt Jon nichts, und soviel er über Homer zu reden vermag, so sind es stoffliche Einzelheiten. Diese, so muß er zugeben, können nur vom Sachverständigen richtig beurteilt werden (die Stelle vom Wagenrennen durch einen Wagenlenker) und er flüchtet sich in seiner Eitelkeit dahin, in diesen Sachkenntnissen die höchste für sich, den Rhapsoden, in Anspruch zu nehmen. Er als bester Homer-Rhapsode sei auch der beste Feldherr unter den Hellenen! Damit ist er in Athen, in hochkriegerischer Zeit, als Dummkopf erwiesen. Protagoras wird gemessen an der Gestalt des Philosophen, aber dies zierliche Gespräch (fast rokokohaft in der Form) empfängt seine Tiefe aus anderer Entgegensetzung: der Interpret der Dichtung wird am wahren Dichter gemessen. Darin drückt sich die zweifache Wurzel der Natur Piatons aus. Er redet vom Dichter, der ohne Bewußtsein als Mundstück der Gottheit redet, und rückt damit die Dichtung in einsame Höhe. „Denn alle rechten Versdichter sagen nicht aus Kunst, sondern gotterfüllt und besessen alle jene schönen Dichtungen, so auch die rechten Liederdichter, wie auch die Korybanten nicht in Besonnenheit 45
tanzen . . . sondern wenn sie in die Harmonie und den Rhythmus eingegangen sind, so rasen sie, und besessen wie die Bakchen schöpfen sie Honig und Milch aus den Flüssen . . . Es sagen ja doch die Dichter zu uns, daß sie aus Honig-Quellen in den Gärten und Schluchten der Musen ihre Melodien ernten und uns bringen wie die Bienen, im Fluge wie diese. Und sie reden wahr. Denn ein leichtes Wesen ist der Dichter und beflügelt und heilig, und nicht eher imstande zu dichten, bis er vom Gotte erfüllt ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. Denn solange er diese zu eigen hat, ist jeder Mensch unfähig zu dichten und zu weissagen." Wie vom Dichter die göttliche Kraft überströmt in Rhapsoden und Hörer, dafür fand Piaton jenes berühmte Bild vom Magnetstein. Wie am Stein der magnetische Eisenring haftet und seinerseits weitere Ringe fesselt, so hange der Dichter an der Muse, am Dichter Rhapsode und Schauspieler, und an diesen die Zuschauer. „Der Gott aber zieht durch alle diese die Seele wohin er will, indem er die Kraft der einen an die der anderen hängt." Dichter und Denker erscheinen als Gegensätze. Kein Wunder, daß ein rationalisiertes Zeitalter deutete: Piaton, vordem selbst Dichter, der aber seine Dichtungen verbrannt hat, verfemt nun im Übereifer der Jugend Dichtung als unvereinbar mit Philosophie. Diese triviale Deutung, durch Piatons Mythen widerlegt, ist hier sinnlos. Jon befleckt nicht die Dichtung durch seine Zugehörigkeit, denn der Nachweis, daß er von Dichtung so himmelweit entfernt ist wie von Philosophie, ist die scherzhafte Spitze des Gespräches. Als Sokrates die dichterische Mania gepriesen hat, ist Jon geschmeichelt, daß auch er ein Ring der magnetischen Kette sei. Und Sokrates fragt: „Wenn du Verse vorträgst von Odysseus oder von Achill, bist du dann bei Besinnung oder gerätst du außer dir und glaubt deine Seele enthusiastisch bei den Dingen zu sein, von denen du sprichst, sei es in Ithaka oder in Troja oder wo sonst die Dichtung spielt?" „Welch klares Zeugnis nennnst du da", sagt Jon. „Wenn ich nämlich etwas Trauriges sage, so füllen sich meine Augen mit Tränen, wenn aber etwas Furchtbares und Schreckliches, so sträuben sich mir die Haare vor Furcht und es pocht mir das Herz." Da prüft Sokrates listig: „Weißt du denn auch, daß ihr auch viele von den Zuschauern in den gleichen Zustand versetzt?" und der ärmliche Tropf antwortet eifrig: „Sehr wohl weiß ich das! Ich beobachte sie ja jedesmal oben von der Bühne aus, wie sie weinen und die Augen aufreißen und staunen über das, was ich vortrage. Ich muß nämlich scharf auf sie acht geben: denn wenn ich jene zum Weinen bringe, dann kann ich selbst nachher lachen, wenn ich das Geld einstreiche, wenn jene aber lachen, so muß ich weinen, weil ich mein Geld einbüße." Er ist entlarvt als Schwindler, der nicht der Dichtung, nicht einmal der Eitelkeit, sondern allein dem Gelde zuliebe spielt. Die Ergriffenheit ist 46
erlogen, wie könnte er sonst gleichzeitig mit solcher Besonnenheit die Kasse berechnen. Niemand ist dem göttlichen Enthusiasmus ferner. Soll zwischen der Dichtung Homers, der Piaton hier seine Verehrung bezeugt, und der Philosophie eine Kluft aufgerissen werden? Wird Jon nicht gerade dadurch lächerlich, daß er, der Halbgebildete, sich ohne göttliche Berufung dem Homer so nahe stellt? Wenn aber der Raum diesmal erleuchtet ist von b e i d e n , Dichtung und Philosophie, wie kann sich Piaton dann mit dem armseligen Jon beschäftigen? Diese Frage stellt Goethe in seiner einzigen Besprechung eines Platonischen Dialoges, und wenn er auch bekennt, den Gedankengang, Ironie und Ernst nicht ganz zu durchschauen, so hat er doch Jons Persiflage erkannt und gegen alle neuen Ehrenrettungen besteht sein Urteil, daß dieser Tropf, „der berühmte, bewunderte, gekrönte, bezahlte Jon in seiner ganzen Blöße dargestellt" werden sollte. Den Zweck davon fand er nicht, aber den Weg dahin zeigte er. Man müsse zuerst Piatons Motive verstehen und dann den p o l e m i s c h e n F a d e n , der in jeder philosophischen Schrift versteckt sei, entdecken, denn die Gespräche Piatons seien nicht allein a u f etwas, sondern auch g e g e n etwas gerichtet. Er selbst konnte den Gegenstand dieser Polemik nicht finden, weil Piaton damals nur als zeitloser Denker, nicht als politischer Bekämpfer seiner Gegenwart und Staatgründer sichtbar war. Piaton braucht Raum für sein Neues Leben, er muß das Unkraut jäten. Jon mag neben Sokrates noch so nichtig erscheinen, er ist dennoch ein gefährlicher Feind, wenn er als trügerischer Virtuose die Jugend berauscht, die Sokrates mit herbem Wort erwecken soll. Nicht Jon, sondern seine Hörer, die mit ihm die Würde der Dichtung entweihen, wenn er ohne Geist und ohne Seele den Heldengesang von der Bühne dröhnt, werden in diesem unscheinbaren und doch so strengen Dialoge gegeißelt. Wir kennen ein Gegenstück zu diesem Rufe an eine heroische Jugend aus neuer Zeit. Nietzsche hat gegen seinen dennoch tief verehrten Meister den „Fall Wagner" geschrieben, nicht um i h n , sondern um mit dieser „Farce" das Publikum zu höhnen, die Jünglinge, die zu Höherem fähig, aus der Musikschwelgerei zu reißen. Das hat er selbst bekannt. „Hippias", der kleine Dialog dieses Namens, rundet die Trilogie. Hippias ist mit Protagoras durch den Sophistenberuf, mit Jon durch die Art des Auftretens geeint. Wenn Jon sich im würdigen Gewand des Rhapsoden, mit goldenem Kranze darstellt, so trägt der eitle Hippias, der in Olympia als Rhetor streitet, nichts am Leibe, was nicht Erzeugnis eigener Kunstfertigkeit ist. Er hat sein Festgewand gewebt, den persischen Gürtel geflochten, die Schuhe geschnitten, den Fingerring geschmiedet. Auch Epen, Dramen, Dithyramben, Prosa hat er verfaßt: so steht er, der Allerweltskönner neben dem engstirnigen Spezialisten 47
Jon, und der überall gefeierte Redner wird den ehrgeizigen Jünglingen verführerisch sein wie Protagoras. Eben hat er eine Prunkrede gehalten, und Eudikos verstrickt danach Sokrates in ein Gespräch mit jenem. Eudikos vertritt wieder die noch unentschiedene Jugend: E r hat Verständnis für Sokrates, ohne schon die Leerheit des Hippias zu durchschauen. Wie Jon sich von echter Dichtung abhebt, so Hippias vom echten Olympischen Agon. Die wahren Kämpfer müssen (wie im Simonides-Gedichte) immer von neuem um Äußerstes ringen, denn immer agathos zu sein, ist nicht menschenmöglich. Hippias aber maßt sich an, immer des Sieges sicher zu sein, und herablassend bietet er auch Sokrates an, jede seiner Fragen zu beantworten. Das ist nur möglich, weil er nicht die Fragen des Denkers, sondern das Schein-Bedürfnis der ungebildeten Masse befriedigt. Hippias ist dem echten Agon so fern, wie Jon der Dichtung, darum preist ihn Sokrates ironisch ob seiner Weisheit selig, fordert ihn aber im gleichen Atemzuge auf, seine wahre Erkenntnis zu bewähren: „Nun aber sage uns endlich über Achill und Odysseus, wer von beiden ist besser, und in welchem Sinn meinst du das?" Das ist die Aufforderung zum echten Wettkampf vor dem Schiedsgericht der Wahrheit. Hippias hat Achill für besser als Odysseus erklärt, denn Achill ist wahrhaftig und einfältig, Odysseus aber polytropos, vielgewandt, verschlagen. Sokrates ist in Homers Dichtung sehr bewandert und wendet ein: auch Achill sage die Unwahrheit. Hippias findet, da Achill die Unwahrheit unabsichtlich sage, sei es nicht unmoralisch. Die Moral der griechischen Aufklärer stimmt also mit unserer ( c h r i s t l i c h e n und Kantianischen) überein. Piaton, der Erneuerer, empfindet zugleich alt-hellenisch. Seine Arete ist nicht Tugend des reinen Willens, sondern Kraft des Retters. Der Dummkopf, der Wahrheit sagen möchte, aber nicht weiß, ist nicht agathos. So prüft er Hippias: Odysseus wisse also die Wahrheit, wenn er auch die Unwahrheit sage, Achill habe dies Wissen nicht, also sei er der untüchtigere, der schlechtere. Der Schnellläufer kann schnell und langsam laufen, und der Wissende kann am besten täuschen. Also: W e r v o r s ä t z l i c h f e h l t , i s t b e s s e r a l s d e r , d e r u n a b s i c h t l i c h f e h l t . Hippias kann den Irrgang in dieser Beweisführung nicht erkennen, und er ist klug genug, schließlich auf die logische Widerlegung zu verzichten und dennoch, aus seinem Gefühl heraus, zu entgegnen: „Das kann ich dir unmöglich zugeben." Da der Instinkt wesentlicher ist als logische Schlüsse, stimmt Sokrates ihm zu: „Auch ich mir selbst nicht einmal, Hippias, und doch erscheint es sich jetzt notwendig so aus unserer Rede zu ergeben. Aber unstet schwanke ich, wie ich zuvor sagte, hierin auf und ab, und niemals scheint es mir das gleiche. Nun ist es ja nicht verwunderlich, wenn ich und andere Laien derart schwanken. Wenn aber auch ihr schwankt, ihr Weisen, das ist allerdings auch für uns etwas Furchtbares, wenn 48
wir nicht) einmal bei Euch den Halt finden in unserem Schwanken." In dieser ironischen Verzweiflung drückt sich stärker als in andern Gesprächen die logische Ergebnislosigkeit, zugleich aber in der Heiterkeit dieser Ironie das Bewußtsein aus, daß Piaton gegenüber dieser moralischen aber bloß gedachten Lehre der Sophisten die wahre Lösung schon in der Hand hat. Audi unterläßt er nicht ganz, anzudeuten, wo sie zu suchen ist, indem er dem logischen, doch unglaubwürdigen Schluß, daß der vorsätzlich Fehlende der agathos sein müsse, die kleine Klausel beigefügt hat: „wenn es einen solchen gibt." Das wiese einem Klügeren als Hippias den Weg zum Satz vom „Tugend-Wissen". Weisheit bekundet sich darin, daß der Weise das Gute nicht nur will, sondern tut. Arete ist Weisheit und Können. Jeder will das ihm „Gute", darum ist nicht Vorsatz, vielmehr Unwissenheit der tiefe Grund des Fehlens. Folgt nun — so spitzt sich dies Gespräch zu, daß der Philosoph niemals die Unwahrheit sagen kann? Unabsichtlich nicht, sonst wäre er nicht wissend. Vorsätzlich nicht, wenigstens nicht zum Schaden der anderen, sonst wäre er nicht gut, also im tiefen Sinne nicht wissend. Aber kann der Weise nicht zum Vorteil der anderen lügen? — Das ist der Fall Sokratischer Ironie, und die vielwendige Ironie macht das heitere Gewebe dieses Spieles. Hippias will mißmutig das Gespräch abbrechen, weil Sokrates ihn „vorsätzlich" verwirre, und Sokrates weicht aus, er tue das nicht vorsätzlich, nicht gern (373 B). Das ist eine ironische Lüge, denn er verwirrt den Eingebildet-Weisen absichtlich, nach der Kunstregel dialektischer Methode. Doch ist es zugleich ironische Wahrheit, denn nicht, um ihn zu verwirren, verwirrt er ihn, sondern um ihn durch die Verwirrung zur besseren Erkenntnis zu führen. Es ist Hippias Schuld, wenn er sich vom besten Lehrmeister nicht führen läßt. Sieghaft heiter schließt auch dies Gefecht. Hippias rühmt Achill als besten Helden, nämlich wegen seiner Wahrhaftigkeit und Einfalt — keine Tugenden für Piaton, wenn sie nicht auf wahrhaftem Wissen beruhen. Aber dies Zerrbild Achills, das so entsteht, gleicht — dem Hippias selbst! Er sagt die Unwahrheit aus Dummheit, nach seiner Lehre moralisch kein Vorwurf, in Piatons Sinne das Gegenteil echter Arete. Und die dreifach geschichtete Ironie erreicht den Gipfel, wenn Sokrates ihm vorwirft, er täusche ihn wie Odysseus, da doch Sokrates gerade selbst der Odysseus ist, der den Gegner mit überlegenem Wissen in die Irre führt. Achill würde durch die Wahrheitsliebe des Hippias so wenig der beste Held sein wie mit der Tollkühnheit im Sinne des Protagoras. Sokrates aber, als der Weise, vereinigt in seiner Person die Tugenden, die Hippias in den drei Helden fand: Weise wie Nestor, listig wie Odysseus, tapfer und wahrhaftig wie Achill. Als Nestor und Odysseus erwies er sich in den besprochenen Gesprächen, als Achill zeigt ihn die tragische Bewährung der Apologie. (28 C.) 4
Hildebrandt,
Piaton
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III.
APOLOGIE Der Heros
Der erste, der negative Teil der Aufgabe ist erfüllt: Piaton hat sich deutlich von seinem Zeitalter gesondert. Die Nation war vom Chaos bedroht, das sich nirgends furchtbarer ankündete als in Athen. Die Erneuung der Gemeinschaft war notwendig, aber wo das Heil finden, da sehr wenige auch nur zu suchen verstanden? Allzunah liegt solchen Zeiten der Ruf zur Rückkehr. Zurück zum frommen Glauben der Väter, zu den Göttern, die Athens Größe heraufgeführt hatten. Tod den Trägern eines neuen Geistes, eines neuen Glaubens. Anaxagores und Protagoras waren die Opfer dieses Rufs. Piaton verschmäht den billigen Vorteil, in diesen Ruf einzustimmen und damit seinen Meister für alle sichtbar von den sophistischen Gegnern zu unterscheiden. E r verhehlt nicht, daß er den ersten Sophisten, den tappenden Geistern immer noch näher stehe, als der politisch radikal-fortschrittlichen, im Geistesleben aber dumpf oder unaufrichtig am Alten haftenden Volksmenge. Verantwortliche Feinde sind allein die athenischen Demagogen. Schon die ersten Dialoge sind welthistorische Winke, daß eine große Wendezeit da ist. Sie zeigen an, daß dem staatlichen Chaos das Chaos der Seele entspricht. Ein neues Lebensgefühl muß sich gründen, und dazu bedarf es der unbedingten Norm, aus der alle Wertungen fließen: das bedeutet die grübelnde Frage nach dem Wesen der Arete. Wenn es im Staat nicht mehr lebendig ist, wo anders soll es gefunden werden als im Geist, in der schöpferischen Person? Noch hat niemand die Norm gefunden, aber das Weltgeschick hängt davon ab, ob man sie findet. Darum ist keine Mühe zu groß, sie zu suchen, und Schädling ist, wer die Menschen überredet, man habe die Norm, habe das ewige Gut, und nicht sei es nötig, danach zu trachten. Nicht als Revolutionäre greift Piaton die frühen Sophisten an, sondern im Gegenteil als Männer, die der stockigen Gegenwart, der dumpfen Menge noch allzu ähnlich sind. Piaton war gefeit, denn er fühlte den Urkeim des neuen Lebens seit der Erweckung durch Sokrates in sich wachsen. Noch mußte es Geheimnis bleiben, der Plan sich in der Seele entfalten, bis die Zeit reif wäre. Aber das weiß er, daß nur aus der Ganzheit das Lebendige geboren wird, und die Seele des künftigen Staates ist ihm schon gegeben in der Person des Sokrates. Mit einer Zähigkeit, die pedantisch scheinen konnte, hat Piaton bisher scheinbar ergebnislose Untersuchungen geführt, als ob ihm an nichts anderem läge als an logischer Richtigkeit. Nun ist es Zeit, zu sehen, daß all dies wirklich sophistisch-fruchtlos wäre ohne die einmalige, rational nie enträtselte Gestalt des S o k r a 50
t e s ! Zwar zögerte er mit der adligen Zurückhaltung, in der er die eigene Norm-Lehre verschloß, noch lange mit der völligen Ausgestaltung seines Sokrates-Bildes. Der selbst aber in Person greift in das äußere Geschehen ein und vollzieht eine Tat, welche die Geschichte der Philosophie in zwei Teile gliedert, wie die Geschichte der Religion durch Christi Tod gegliedert wird. Durch seine tragische Bewährung vor dem Volksgericht wird für den geistigen Menschen die Lage der Welt wie durch einen Blitz erhellt. So völlig ist der staatliche Sinn entartet und ins Gegenteil gewandelt, daß der Weiseste und Gerechteste hingerichtet wird! Das ist das Volk — angeblich durch Ehrfurcht und Recht der beste Erzieher! Wo Wort und Tat, Geist und Macht auseinanderfallen, Weisheit zur Rhetorik, zur „Literatur" entartet ist, da bewährt Sokrates die Echtheit und Einheit seines Wesens: er allein ist die Substanz, aus der die Zukunft sieh, aufbaut, und aus seiner Person strahlen die entgegengesetzten Lehren, die das geistige Leben der Antike beherrschen. Wie aber konnte tödliche Feindschaft entstehen zwischen der Stadt und ihrem treuesten Bürger? Es ist wahr, Sokrates hat die demokratische Gesinnung (die inzwischen zum Zusammenbruch geführt hat) freimütig getadelt, aber nicht als Anhänger der Oligarchen, sondern er war Feind jeder selbstsüchtigen Parteipolitik, jedes Staats-Mißbrauches. Mit gleichem Todesmut wie der tobenden Volksmenge im Feldherrnprozeß stellte er sich danach den blutigen Tyrannen entgegen. Er lehnte eine von ihnen befohlene Verhaftung eines Demokraten ab, und nur der Sturz der Tyrannen bewahrte ihn vor der Rache. So sollte man denken, daß die hergestellte gemäßigte Demokratie, die selbst den Oligarchen verzieh, einen solchen Bürger, der vordem von führenden Staatsmännern hochgeschätzt wurde, als Vorbild im Staate geehrt hätte — aber aus undurchschaubaren Gründen erhob sich der Prozeß. Grund der Verurteilung ist keine Parteileidenschaft, kein ernster Haß, sondern die mißmutige Trägheit, die das Volk der großen geistigen Forderung entgegenstellt. Wohl ist es bereit, sich für die weithin sichtbare und jedem verständliche Tat des Edlen zu begeistern. Welches Recht aber hatte der ärmliche Müßiggänger mit seiner überstiegenen. sittlichen Forderung, seiner lästigen Mahnung zum Denken, wenn er alles Tun und Lassen des Volkes und der Regierenden vor seinen Richterstuhl zog? Wer kümmerte sich ernstlich um seine Lehre, nachdem der Reiz der Neuheit verflogen! Aber daran dachte jeder gern, wie ihn Aristophanes (der Aristokrat!) vor 25 Jahren als Sophisten, Aufklärer» Jugendverderber verspottet hatte. Zwar hegten sie selbst den altväterischen Glauben nicht mehr, aber öffentlich sagen durfte man das; nicht, denn die größte politische Freiheit wollten sie haben, aber um. so mehr hofften sie durch äußerliche Pflege der religiösen Konvention 4«
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der gefährlichen Zersetzung einen Damm entgegenzusetzen — und sie trafen blindlings den schöpferischen Geist, das Werkzeug der Rettung. Niemand hatte Sokrates etwas vorzuwerfen, die wenigsten wünsditen seinen Tod. Aber der Menge scheint es erzieherisch, den ungewöhnlichen Menschen gewöhnlich zu machen. Dieser unerhört Stolze sollte sich vor dem Volksgericht demütigen, damit jeder sähe, er sei auch nicht anders als andere. Allein von der Art seiner Verteidigung hing das Urteil ab. Piaton hat nicht für gut befunden, die Erschütterung seiner Seele über den Frevel Athens an seinem Meister bekanntzugeben, und jede Neugier seinem persönlichen Leben gegenüber ist unziemlich. Wir fragen, wie er das große Geschehen einfügte in seine welthafte Sendung. Er mußte zeigen, daß die Willkür der Menge den neuen Lebenskeim nicht bedrohen konnte: Sokrates war der Triumphierende, sein Tod eine Offenbarung. Der Gründer und König des Staates, auch des geistigen Staates, ist Sokrates nicht, denn der Erwecker der Leidenschaft des Suchens ward in Lehre, Werk, Schicksal nicht der Vollender und hinterließ das Erbe seiner Sendung dem größeren Jünger: Sein Opfertod ist das verpflichtende Symbol dieser Erbschaft. Die Zuspitzung des logischen Denkens, die Erhöhung des Bewußtseinsgrades erweist sich zutiefst bedingt durch die unerklärliche Gegebenheit der leibhaften Person. Das Rationale bleibt sinnlos ohne das Irrationale, das Daimonische. Jener Satz von Tugend-Wissen und Tugend-Einheit, dessen Rationalität doch dem rationalen Kritiker besonders widerspruchsvoll erscheint, schöpft den lebendigen Sinn allein aus dem Irrationalen: Im weisen Sokrates . . . in der einmaligen Person ist auch Besonnenheit, Gerechtigkeit, Frommheit, Tapferkeit gegeben. Wenn die Hellenen instinktiv diesem Wissen viel näher waren als die abstrahierenden Neueren, so mußte die Größe der Person doch sichtbar werden durch leibhaftes Geschehen. Wir dürfen vielleicht aus Piatons Erinnerung, die sich in der Hippokrates-Szene verdichtet, vermuten, daß auch er die Größe des Meisters nicht ganz erblickt hatte. Da kommt der Prozeß, durch den Sokrates sein Wort besiegelt, und in der sieghaften Überwindung des Sterbens durch die seligen Gespräche der letzten Tage wird seine Seelengröße der Welt offenbar. In seinem doch so Sokrates-feindlichen Erstlingswerk sagt Nietzsche: „Der s t e r b e n d e S o k r a t e s wurde das neue, noch nie geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend — vor allem hat sich der typische hellenische Jüngling, Piaton, mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen." Das war die Vollendung, noch nicht die Verklärung. Piaton, damals noch nicht dreißig Jahre, fühlte sich zur Aufgabe noch nicht gereift, die Gestalt des Meisters darzustellen, und bedurfte noch höchsten Er52
lebens, bis er in „Phaidon" und „Symposion" den großen Wurf wagte. Jetzt war das Gebot der Stunde, die Erinnerung festzuhalten und die Reden des Meisters als unvergängliches Denkmal zu bewahren. Ehe Sokrates in Piatons Seele zum Staatgründer, zum Abbild der Welt aufwuchs, mußte er den Kämpfer gegen seine Zeit, das Bild des Tapfern und Frommen aufstellen. Mit dem Stilgefühl der attischen Hoch-Zeit verzichtet er auf die dramatische Darstellung des Prozesses, denn wie hätte er ohne Haß und Grimm die stumpfe Menge, die ungerechten Richter, nachbilden können. Meisterhaft wahrt er den Abstand, den er diesem mythischen Vorgange gegenüber empfindet, durch Unterdrückung jeder persönlichen Regung, und wenn er hier, das einzige Mal in allen Werken, seine persönliche Gegenwart zeichnet, so heftet er damit nur das Siegel der geschichtlichen Wahrheit und verantwortlichen Zeugenschaft an seinen Bericht. Beim Verzicht auf die persönliche Darstellung der Gegenspieler wird doch der Widerstand der Menge gegen das Genie, die ewige träge Naturkraft, mit der man nicht rechten darf, als Hintergrund der Sokratischen Kundgebung merklich, und daß Meietos, der Hauptkläger, zu einigen Silben gezwungen wird, ist knappester Hinweis auf die Nichtigkeit der treibenden Männer. Alles Zeitlich-Zufällige ist ausgeschieden und der geschichtliche Vorgang ins Ewig-Mythische erhoben. Piaton hat die drei Reden des Sokrates ohne Randbemerkungen, gleichsam in drei monumentale Tafeln eingegraben, in der Geschichte aufgestellt, so daß sie in stolzer Schlichtheit und göttlicher Reinheit durch ihr eigenes Erz die Zeiten überdauern. Die erste Rede beginnt: „Welchen Eindruck, ihr Männer von Athen, meine Ankläger auf euch gemacht haben, weiß ich nicht . . . ich' selbst allerdings hätte bei ihren Worten beinahe mich selber vergessen — so überzeugend sprachen sie. Wahres haben sie, offen gesagt, allerdings gar nicht gesprochen. Am meisten unter ihren vielen Lügen erstaunt mich aber die, daß sie sagten, ihr müßtet euch vor mir hüten, um nicht von mir getäuscht zu werden, denn ich sei gewaltig im Reden." Daß er aber kein Redner sei, werde ja jeder sogleich bemerken. Würde es ihm in seinem Alter doch auch schlecht anstehn, wie ein Knabe eine Rede vorzubereiten. Die reine Wahrheit freilich wolle er sagen — wenn das die Ankläger verstünden unter Gewaltigsein im Reden, dann sei er allerdings ein Redner, der sich mit ihnen nicht vergleiche. Die Richter möchten es ihm also nicht übelnehmen, wenn er nicht nach der Übung der Gerichtsprozesse vor ihnen rede, sondern so, wie er es auf der Straße und auf dem Markte gewohnt sei. Diese Rüge des verlogenen Gerichtsverfahrens trifft seine Richter, das Volk Athens, und wenn er sich die Redekunst abspricht, so haben zwar die Ankläger mit ihrer Warnung nicht ganz Unrecht, denn wirklich ist seine Rede geeignet, den empfänglichen Menschen tief zu er53
schüttern. Aber Sokrates hat dennoch Recht zur verächtlichen Abwehr, denn er wirkt allein durch die schlichte Wahrheit und darf zürnen, wenn die verlogenen Ankläger diese Wahrheit als rhetorische Lüge verdächtigen. Zuerst wendet er sich gegen die eigentliche Anklägerin, die seit einem Menschenalter vergiftete öffentliche Meinung! Sie sei ein furchtbarerer Feind als die drei Kläger, und ihr werde er erliegen, denn er könne sie nicht vor Gericht fordern und kämpfe gegen einen Schatten. Dies sei der Sinn der Verleumdung: „Sokrates frevelt und treibt Unfug, indem er die Dinge unter der Erde und am Himmel erforscht und der schlechteren Sache zum Siege verhilft und dasselbe die anderen lehrt." So habe ihn Aristophanes in der Komödie dargestellt und ihm viel Geschwätz in den Mund gelegt über Dinge, von denen er nicht das mindeste verstehe. Das Volk aber glaube, wer solche Forschungen treibe, der glaube auch an Götter nicht. Niemand werde bezeugen, daß er diese Dinge erforscht habe, niemand, daß er sich wie die Sophisten anheischig gemacht, die Erkenntnis der menschlichen und staatlichen Tugend zu haben und sie für Geld lehren zu können. Damit rückt er von der geltenden Philosophie, von Anaxagoras und den Sophisten ab. Dennoch legt er vor Gericht, zur unbedingten Wahrheit verpflichtet, die ironische Maske des Nichtwissens ab: er bekennt, in gewissem Sinne weise — und damit unter den Lebenden der Weiseste zu sein! Den Weg dieser Überzeugung will er erzählen, weil nur so die Entstehung jener Verleumdung und Mißgunst sich erklärt. Das ist eins der wichtigsten Dokumente über Sokrates' Philosophie und Schicksal. Er erzählt, daß sein Freund Chairephon vor langen Jahren das Delphische Orakel befragend die Antwort der Pythia erhielt, daß niemand weiser sei als Sokrates! Er aber, Sokrates, habe den Gottesspruch nicht verstanden, da er sich doch bewußt war, ganz und gar nicht weise zu sein. Er begibt sich, um den Spruch zu prüfen, auf die Suche nach einem, der zweifellos weiser sei als er. So geht er zuerst zu einem berühmten Staatsmann, der dem Volke und am meisten sich selbst weise zu sein schien, ohne es wirklich zu sein. Da er ihn darüber in öffentlichem Gespräch aufzuklären versucht, macht er sich jenen und zugleich viele andere Hörer zu Feinden. Da erkennt er, weiser als jener zu sein. Denn der bildet sich ein zu wissen, wo er nicht weiß: Sokrates aber weiß sein Nichtwissen. Vom Orakel Apollons getrieben, sucht er weiter, seine Feinde vermehrend, und er findet, daß die berühmtesten Staatsmänner fast die dürftigsten sind. Von jenen geht er zu den Dichtern. Während diese nicht aus Weisheit dichten, sondern aus natürlicher Anlage und im Enthusiasmus, Sehern und Wahrsagern vergleichbar, glauben sie dennoch, auch in den übrigen Dingen weise zu sein, von denen sie nichts verstehen. Zuletzt besucht er die Handwerker, und bei ihnen findet er wirkliches Wissen, sie sind in ihrem Beruf „weise", 54
sophoi, aber ihr Irrtum ist der gleiche: weil sie in ihrer Techne weise sind, glauben sie, auch in den größten Dingen sehr weise zu sein — so daß ihre Torheit die „Weisheit" überdeckt. Sokrates aber schätzt die eigene weise Unwissenheit höher als jene echte, aber auf das Handwerk beschränkte „Weisheit". Nur aus diesem anschaulichen Vorgange sind Piatons Grundbegriffe zu deuten, die gründlich mißkannt werden, weil man sie mit modernen Abstraktionen gleichsetzt. Der „Jon" zeigte, daß in den menschlichen Berufen „Weisheit" (Sophia, etwa: Theorie) und „Kunst" (Techne, etwa: Praxis) als innere und äußere Seite der beruflichen Tüchtigkeit (Arete) innig zusammengehören. Verwirklicht ist dieser Zustand aber nur bei den Handwerkern, die, zwar auf niederer Stufe, „Weisheit und Kunst" in vorbildlicher Vereinigung besitzen und darum von Sokrates immer wieder gern als Beispiele gebraucht werden für das, was auf der höchsten Stufe so gründlich fehlt, daß man gar nicht daran denkt, es zu suchen. Die Dichter stellen wohl das Lebens-Ganze dar, aber nicht aus Erkenntnis, und müßten die Weisheit des Gesamtlebens und damit die s t a a t l i c h e Arete haben — wenn nicht ihre Dichtung unmittelbar aus göttlicher Eingebung stammte. Das ist keine Herabsetzung der Dichter als solcher, denn Piaton bezeichnet sie im Gegensatz zu den Staatsmännern als agathoi: aber das Wissen, aus dem Leben und Staat geordnet werden sollen, können auch sie ihm nicht mitteilen. (22 C.) In dieser Weltstunde soll beim Staatsmann die ersehnte Rettung, die höchste und umfassende Erkenntnis liegen — daß Sokrates sie bei den Staatsmännern am gründlichsten vermißt, deutet auf die Kritik im „Gorgias" voraus. Da keiner, auch Sokrates nicht, schon im Besitz dieser Weisheit ist, ist S u c h e n das beste Teil, und niemand irrt weiter vom Ziel, als der selbstgefällige „Weise", der Sophist. Nur das bedeutet Apollons Lob des Sokrates und dessen Erinnerung an den alten Delphischen Spruch: „Tvojik aauxov", Erkenne dich selbst, die menschliche Unwissenheit, denn nur wer den Dünkel alles überlieferten, alles wohlfeil und alltäglich gewordenen, alles nicht neugeborenen Wissens abgeworfen hat, dient echter Weisheit. Darum kann Sokrates nicht ruhen, überall die Leute anzuhalten, ihnen ihre Unwissenheit zu beweisen, damit nicht länger der Dünkel des Bürgers die Keime des neuen Lebens ersticke. Stolz bekennt er den Erfolg seiner Bewegung: Von selbst folgen ihm die wohlhabenden Jünglinge (sie haben ja die meiste Muße), hören bei seinen Unterredungen zu und prüfen dann auch ihrerseits die Menschen, die sich einbilden, etwas zu wissen (23 C.). Es ist in der Tat wahrscheinlich, daß Sokrates wider Willen Unmut erregt hat, wenn die Jungen klüger wurden als die Alten und im Verlangen nach belebender Weisheit das hergebrachte Wissen zersprengten. Den Sinn des neuen Geistes konnten die Leute nicht verstehen, ihr eigenes Nichtwissen wollten sie nicht eingestehen, so griffen sie zum nächsten Mittel: 55
ohne Prüfung behaupteten sie, Sokrates verderbe die Jugend durch seine Irrlehre. So stolz tritt Sokrates vor die Richter, nicht um sich zu reinigen, sondern um zu siegen. Nicht Richter sieht er in ihnen, sondern Unwissende und Hilflose, die ans Licht zu führen ihn Apollon beauftragt hat. Die drei Ankläger aber behandelt er, ohne jede Miene des sanftmütigen Märtyrers, mit harter Ironie als Feinde. Ihre beschworene Anklage laute: „Sokrates frevelt, indem er die Jugend verdirbt und an die Götter, an welche die Stadt glaubt, nicht glaubt, sondern an andere neue dämonische Wesen." „Ich aber behaupte, ihr Männer von Athen, Meietos frevelt, weil er in ernster Sache Scherz treibt und leichtsinnig Menschen auf den Tod verklagt, indem er sich stellt, als sei er bemüht und besorgt um Dinge, um die er sich nie im geringsten bekümmert hat. Daß es sich so verhält, will ich zu beweisen suchen. Tritt heran, Meietos, und antworte!" Meietos ist zur Antwort verpflichtet und antwortet auf die dialektischen Fragen so hilflos, daß jeder sieht, er hat niemals über das Wesen der Erziehung nachgedacht. Die Theorie des Protagoras-Mythos kehrt in zugespitzter Form wieder, denn Meietos bejaht, daß jeder Bürger Athens die Jugend miterziehe und bessere — Sokrates als der Einzige sie verderbe. Durch dies Paradoxon schimmert unverkennbar die umgekehrte Wahrheit. Sokrates ist der einzige Erzieher, und das Volk verdirbt den Nachwuchs. Dann drängt Sokrates beim Vorwurf des Gottesfrevels den Kläger zur Steigerung, er glaube überhaupt keinen Gott, und er bekennt, daß er die dämonische Stimme in sich höre, aber gerade sie sei der Beweis seines Gottglaubens. Dämonen sind Götter oder Kinder von Göttern, und die dämonische Stimme beweist das Dasein der Gottheit. Damit sind die Ankläger widerlegt, und Sokrates wendet sich wieder an die Richter. Alle machtvollen Töne klingen auf — nicht aus rhetorischer Kunst, nicht aus dialektischer Lehre, sondern aus Erregung des großen Herzens. Noch hofft er, am Lebensende die Scheidewand zu durchbrechen, die das Volk vom Heros trennt und — die Ankläger mit verächtlicher Handbewegung beiseite schiebend — spricht er zum Herzen der noch nicht verstumpften Menschen. Warnend reckt er die Hand: Nicht jenen Anklägern, sondern der Verleumdung und Mißgunst der Menge (AiaßoXnj %ai cp^-ovoc xwv noXXwv) werde er erliegen. „Denn diesen sind schon viele edle Männer erlegen und werden ihnen, glaube ich, auch noch erliegen. Es ist ja wohl nicht zu besorgen, daß dies in mir sein Ende findet!" Töricht ist Xenophons Vermutung, Sokrates habe absichtlich durch seine Verteidigung das Urteil heraufbeschworen, denn alles was den rechtlichen Menschen überzeugt, hat Sokrates gesagt, aber freilich nicht als demütiger Bürger, sondern als der die Bürgerschaft verwandeln will. Und das ist wohl glaublich, daß niemand diesen Stolz verstand außer Piaton. 56
Das Urteil ist Frevel und Sokrates wäre mitschuldig, wenn er das Gericht zu diesem Frevel verführte. Ihm selbst können die Ankläger kein Leid zufügen, denn er sieht den Tod und andere Strafen nicht als Unglück an und spricht das stolze Wort, welches das Beste der Stoiker vorwegnimmt: „Schaden werden sie mir nicht, weder Meietos noch Anytos. Sie vermöchten es ja nicht. Denn es widerspricht, wie ich glaube, dem göttlichen Fug, daß der bessere Mann geschädigt werde vom schlechteren." Unrecht-Tun ist größeres Übel als Unrecht-Leiden — ein christlicher Gedanke, aber gegründet auf das Bewußtsein, daß Arete die höchste Kraft ist. Da müßten die Richter empfinden, daß nicht nur die Kläger, nein sie selber, die Richter, als die Beschuldigten vor dem zum Schein Verklagten, vor dem Richter Sokrates stehen. Unerschütterlich fährt er fort: „Daher, ihr Männer von Athen, bin ich jetzt weit entfernt, mich um meiner selbst willen zu verteidigen, wie jemand glauben könnte, sondern um euretwillen, damit ihr euch nicht versündigt an dem Geschenk Gottes, indem ihr mich verurteilt." Und auch diese Kühnheit steigert er zum Bilde, daß der Gott selbst ihn der Stadt beigegeben habe, wie einem großen und edlen, aber wegen seiner Größe etwas trägen Rosse den notwendigen Stachel. Eine glaubenslose Zeit glaubt in ihrem Sinne Sokrates und Piaton zu ehren, wenn sie beide vom Bewußtsein ihrer göttlichen Sendung freispricht und in ihnen das BescheidenMenschliche rühmt. Mag auch Platonischer Wille das Übermenschliche des Meisters gesteigert haben, so betrachten wir zuerst doch die Sokratisch-Platonische Einheit, aber selbst für die Kenntnis des „historischen" Sokrates ist gerade die Apologie die wichtigste Quelle. Eine wörtliche Wiederholung kann sie nicht sein," aber Piaton läßt seinen Sokrates nur sagen, was aus dem Wesen des wirklichen ihm notwendig erschien. Sokrates, ganz menschlich, doch übermenschlich zugleich durch sein heroisches Amt: das ist der Sinn der Apologie. Die auffallendste Abweichung dieser Apologie von der Xenophons und zugleich vom historisch Wahrscheinlichen besteht in Sokrates' Verteidigung gegen den Vorwurf des Gottesfrevels. Das Wesen antiker Frömmigkeit ist Kultus, nicht Dogma, wie auch die Göttersagen in ihrer urzeitlichen Wildheit dem damaligen Empfinden fremd geworden waren. Noch weniger war die Seelen-Prüfung auf geheime Gesinnung denkbar. Sokrates hat die staatlichen Kultvorschriften fromm befolgt, und die Bezeugung dieser Tatsache war die naheliegende Verteidigung. Piaton hat diese Verteidigung verschmäht! Die bloße Gesetzes-Erfüllung war für Sokrates selbstverständlich und darum nicht bemerkenswert, die Erfüllung aber des damaligen konventionellen, seiner lebendigen Kraft schon beraubten Kultes war etwas Zeitlich-Zufälliges, für Sokrates' ewiges Wesen nicht mehr Bezeichnendes. Dagegen rückt Piaton die juristisch bedenkliche Berufung auf das Daimonische in die Mitte, denn 57
dies Daimonion ist Ausdruck der in Sokrates selbst wirkenden göttlichen Kraft. Xenophon vergleicht Sokrates' daimonische Gabe mit der Kunst der Wahrsager und Vogeldeuter und verschweigt den Unterschied, daß diese ein staatliches Amt bedeutet, Sokrates aber in der eigenen Seele ohne staatliche Befugnis die Gottes-Stimme vernimmt. Der Rationalist deutet diese Stimme gern als Gewissen oder „Takt" — nur daß der klare Wortlaut aller Berichte diesen Versuch widerlegt. Der All-Weise würde in Allem richtig handeln, aber der Menschlich-Weise vermeidet das ungerechte Tun, ohne Erfolg und Schicksal vorauszusehen. „Das Größte haben die Götter sich selbst vorbehalten und den Menschen ist es nicht offenbar." (Memorab. I. 1, 8). Dafür weist Sokrates die Menschen an die Orakel, wie er sich, selbst in der Apologie auf den Spruch der Pythia beruft. Aber auch in sich selbst vernahm er die göttliche Stimme, wenn auch meist nur abmahnend, wo er am falschen Wege steht, so doch regelmäßig genug, daß er bei dem Schweigen der Stimme vertrauen durfte, den rechten Weg eingeschlagen zu haben. Nur das Sokratische Erlebnis und der Platonische Glaube, nicht seine rationalen Erklärungen sind bemerkenswert. Sokrates' Daimonion hat keine Ähnlichkeit mit Gewissen und Gott-Nähe jeder protestantischen Einzelseele, denn es ist nichts gemein Menschliches, sondern persönliches, ja fast übermenschliches Vorrecht des einzigen Sokrates. Es ist ein Bruch mit der erstarrten athenischen Staatsreligion, aber eine Erneuung alt-hellenischen Gottesglaubens : auch homerische Helden vernehmen die Stimme der Götter. Das Erlebnis des Sokrates ist neuer Ausdruck des Volksgeistes. Die Substanz des Mannes bewährt sich darin, daß die verblassende Umwelt ihm gegenüber zu einem Verhalten von zeitloser Geltung gezwungen wird: Das sinkende Athen muß wie alle glaubenslosen Zeiten, die den Kult und die alltäglich gewordenen Göttervorstellungen in der Angst ihres verschwiegenen Unglaubens bewahren möchten, gerade das ursprüngliche und echt volkstümliche Glaubenserlebnis als übermenschliche und gottlose Anmaßung bekämpfen. Darum vermeidet Piaton, Sokrates mit der konventionellen Religiosität der Stadt Athen zu verknüpfen, und richtet den Blick nur auf das Ur-Erlebnis. Dennoch ist richtig, daß Piaton im Daimonion viel weniger als andere Sokrates- und Platon-Anhänger das Wunder betont. Das Schöpferische in Sokrates, der Einbruch eines ganz neuen Lebensgefühles in ein alterndes Volk ist für ihn das Daimonische, Göttliche, und er würde dies größere Wunder nur verschleiern, wenn er den Blick an das im engeren Sinne Wunderbare fesselte. Erst spät, im Gastmahl, findet er den reinen Ausdruck dafür: Sokrates ist als der Erotiker der Daimonische, der Mittler zwischen Mensch und Gottheit. Jetzt sieht er im Daimonion die Gottheit des Weltgeschehens, mit der Sokrates in unausdeutbarem Bunde steht. Ihre Stimme hatte Sokrates verhindert, sich in Athen der tätigen Politik und 58
damit dem frühen Tode zu weihen (31 C — 32 E), ihr ist es zu danken, daß Sokrates wachsen konnte zum Vorbild des Platonischen Weltalters. Das Daimonion ist der pathetische Urgrund der Apologie, für den heute das Verständnis geschwächt zu sein scheint. Wenn Piaton das Bild noch gesteigert hat, so wird dadurch sein eigner h e r o i s c h e r Wille nur um so größer bezeugt. Daimonisch ist unbestimmter Ausdruck, kann die herrschende Gottheit, aber auch (Epigramm auf Dions Tod) die Widergötter bedeuten. Sokrates redet also zurückhaltend von der „übermenschlichen" Stimme. Daß er sich aber der göttlichen Sendung bewußt ist, sagt er unverschleiert durch Berufung auf Apollons Orakel. Nicht als wäre Sokrates erst dadurch sich seiner philosophischen Aufgabe bewußt geworden — Befragung wie Antwort des Orakels setzt die bewährte Weisheit voraus — aber in dieser Rede, die sich ihrer unbedingten Wahrhaftigkeit rühmt, nimmt Sokrates mit Selbstbewußtheit seine persönliche Beauftragung durch Apollon ebenso wie das Zeugnis seiner alle lebenden Menschen überragenden Weisheit in Anspruch. Und hierin erweist sich, daß die Athener orthodox aber glaubenlos dem Urheiligtum Delphi nicht mehr trauen, wenn sie gegen Apollons Spruch Sokrates verurteilen — und daß Piaton und Sokrates der alten Gläubigkeit verwandt sind, denn wenn ihnen die alte Göttersage keine w ö r t l i c h e Wahrheit bedeutet, so wissen sie doch in der Welt dieser Gestalten eine stärkere Wahrheit als in sophistischer Logik. Der Inhalt der Sendung erscheint gering, da Sokrates nur das eingebildete Wissen zerstören will, um göttlicher Weisheit den Weg zu bereiten. Um so erhabener der Opfertod, mit dem er den göttlichen Auftrag unbedenklich besiegelt. Bescheiden im Nichtwissen hält er es doch nicht für unbescheiden, an Mut sich mit dem größten Griechen-Heros zu vergleichen. Bedeutungsvoll beruft er sich auf die „Halbgötter", die Hemitheoi, die vor Troja kämpften, und vor allem auf Achill. Denn als diesen die Mutter, die Göttin, warnt, wenn er Patroklos räche und Hektor fälle, dann müsse er selber sogleich sterben, schätzt er das Sterben gering, denn weit größere Furcht hatte er davor, als ein Schlechter weiterzuleben und den Freund nicht zu rächen, und er erwidert: „Stürbe ich doch sogleich, nachdem ich den Frevler gebüßt hätte, daß ich hier nicht verharre, zum Gespött, bei den Schiffen, eine eitle Last der Erde." Man wird sich damit abfinden müssen, d!aß Sokrates, angeblich ein Vorbild der Logiker und apathischen Stoiker, in diesem hohen Augenblick die Leidenschaft der Blutrache nicht verdammt (28 CD). Mit der Berufung Achills wird im Bilde die Frage nach der Tapferkeit in den Frühdialogen beantwortet. Sokrates verleiblicht die Tapferkeit wie Achill, denn auch dieser ist nicht tollkühn wie der Tapfere des Protagoras oder einfältig wie der Tapfere des Hippias, weil er wie Sokrates das Wissen hat, daß der Tod an sich kein Übel ist und dem nichts gilt, der den göttlichen Ruf vernimmt: der erste Fingerzeig, daß 59
die dialektische Methode nicht der einzige Weg zur Weisheit ist. Achill ist Vorbild der Tapferkeit, Tapferkeit ist Arete, ist nicht ohne Weisheit. Wer glaubte, daß Piaton in „Jon" und „Apologie" als Rationalist sich in Gegensatz zur göttlichen Inspiration, zur Theia Moira der Dichter stellt, hat die Platonische Weisheit mißverstanden, denn dieser Ausdruck „göttliche Moira" wird von Sokrates nachher wieder aufgenommen, und er nimmt sie in allerhöchstem Maße für sich selbst in Anspruch. „Mir aber ist dies zu tun, wie ich bekenne, vom Gott auferlegt durch Wahrsagung und Träume und in jeder Weise, in der mir jemals irgendeine andere göttliche Moira welches Werk auch immer zu tun aufgetragen." Dialektik prüft und läutert die Weisheit, aber die vollendete Weisheit redet selber die Sprache der Leidenschaft, und ihr Dienst ist f ü r Piaton Kriegsdienst. Wie Sokrates in der Schlacht, bei Potidaia und Delion, auf dem Posten ausharrte, so weiht er sich unbedingt dem Dienst des Gottes. Darum muß er den Athenern, falls sie ihn schonen wollten unter der Bedingung, daß er in Zukunft schweige und auf sein Werk verzichte, im voraus erwidern: „Ich schätze und liebe euch, Männer Athens . . . gehorchen werde ich aber mehr den Göttern als euch, und so lange ich atme und die Kraft habe, werde ich nicht ablassen, die Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zu belehren, wen ich immer von euch antreffe, in der gewohnten Art ansprechen: ,Mein Bester, ein Athener bist du, aus der größten und in Weisheit und Stärke ruhmreichsten Stadt und du schämst dich nicht der Sorge um das Geld, daß du soviel wie nur möglich aufhäufst, und um Ruf und Geltung, aber um Einsicht und Wahrheit und um die Seele, daß sie so gut werde wie möglich, kümmerst und sorgst du dich nicht?' . . . Solches nämlich, sollt ihr wissen, befiehlt der Gott, und ich wenigstens glaube, daß noch niemals ein größeres Gut euch im Staate widerfahren ist, als dieser mein Dienst, den ich dem Gotte leiste." (29 C — 30 A.) Hegels selbstbewußte Ablehnung aller grundlosen Bescheidenheit und Demut, die beim Philosophen ein Frevel sei und Sünde wider den Heiligen Geist, würde stimmen zur Sendung des Sokrates und seinem Bewußtsein, das im mythischen Gleichnis vom Pferde und der Bremse den Ausdruck fand. (30 E — 31 C.) Man zweifelt, ob Piaton die Bremse meine oder den Sporn, aber er spielt hier mit dem Doppelsinn. Der Träge, der im Schlummer den Stich spürt, wehrt ihn gedankenlos ab und dreht sich auf die andere Seite. „Ihr aber werdet vielleicht wie die Schlaftrunkenen, wenn man sie weckt, verdrießlich um euch schlagen und mich auf Anytos Rat leichtsinnig töten, dann aber das übrige Leben bis zum Ende weiterschlafen, es sei denn, daß Gott um euch besorgt euch einen anderen entsendet." Der ganz wache, der göttlich erweckte Mensch aber empfindet den gleichen Schmerz als den Sporn des Gottes, der das Geschöpf zum höchsten Ziele lenkt und stachelt. Diese Sprache wäre Hybris, wenn nicht die Geschichte ihre Wahrheit bestätigt 60
hätte. Als ob er selbst noch verhüten wollte, daß ein mutloses Zeitalter den Gottgesandten ablehnen und nur das menschliche Individuum schätzen könnte, bekennt er sein Übermenschliches: „Daß aber gerade ich ein solcher bin, der vom Gotte der Stadt geschenkt ist, mögt ihr hieraus abnehmen: Nämlich nicht Menschlichem gleicht es, daß ich das Meinige insgesamt vernachlässigte und ohne mich um das Eigene zu kümmern, so viele Jahre standgehalten habe . . .!" Die Errichtung solchen Eigenbildes vor dem Volke ist der Wesensgehalt der Apologie, und wenn Sokrates die eigentliche Verteidigung nicht ganz unterläßt, so gibt er sie nebenher, als ob er sich ihrer schäme. Er erinnert, wie er im Kriege und in den Bürgerpflichten furchtlos sein Leben daransetzte. Wirkungsvoller konnte er vor dem Frevel nicht warnen als durch die Erinnerung an den Feldherrn-Prozeß, in dem er fast als einziger dem Volksgericht widerstand, denn die übereilte Hinrichtung der sechs Feldherren hatte man alsbald bereut. Er benennt auch die Zeugen, die angeben sollen, daß er ihren Söhnen und Brüdern nie zum Schlechten geraten habe. Aber er kann nicht anders: Er ist Richter, nicht Angeklagter. Er rügt die Entartung des demokratischen Gerichtes, wenn er sich entschuldigt, daß er nicht nach dem allgemeinen Brauch durch Bitten, Tränen, Vorführen der Kinder die Richter zu erweichen suche. Solch lächerliches Trauerspiel sei weder seiner noch der Stadt würdig. Die Richter schwören, Recht zu sprechen, und dürfen das Recht nicht nach Gunst verschenken. Dann schließt er mit bitterem, wenn auch verhülltem Vorwurf, der die widerliche Verlogenheit dieses Prozesses trifft. Die Richter, die unbekümmert um ihren Eid nach ihrer Stimmung das Urteil fällen, beweisen, daß sie nicht mehr an die Götter, die Rächer der Meineide, glauben. Er selbst glaubt an sie und handelt, wie der Glaube befiehlt, und ihn, den Gläubigen, wollen wegen Gottlosigkeit die selbst Ungläubigen richten. „Aber ich glaube an die Götter, Männer Athens, wie keiner meiner Ankläger. Euch und dem Gotte stelle ich anheim, das Urteil über mich zu fällen, wie es für mich das Beste sein wird und für euch." Nach dieser eigentlichen Verteidigung stimmen die Richter über schuldig oder nichtschuldig: 281 Stimmen für schuldig, 220 für nichtschuldig. Meietos hat den Tod beantragt, und es ist am Angeklagten, den Gegenantrag für das Strafmaß zu stellen. Eine widerspruchsvolle Aufgabe für Sokrates, der sich stolz auf den göttlichen Auftrag berufen hatte. Macht er sich nicht mitschuldig, wenn er wider besseres Wissen seine Bestrafung beantragt? — Was er verdient habe um die Stadt? Wenn er nach Wahrheit und Gerechtigkeit schätzen solle, etwas Gutes! Er stelle den Antrag auf Speisung im Prytaneionü Verdiene er doch diese Ehrung mehr als die Sieger der Olympischen Spiele. „Jene bewirken, daß ihr glücklich scheint, ich — daß ihr 61
es seid." Das klang wie Hohn, wie Herausforderung der Richter. Sokrates fühlt das selbst, aber er hat es so nicht gemeint. Er spricht versöhnlich mit ihnen, es möge ihnen wohl wie Überheblichkeit klingen, was er sagte, aber nur die Zeit sei zu kurz, daß er sie überzeuge. Es ist Platonisch und Sokratisch zugleich, daß er das Maß ehrt und nicht doktrinär sein Recht verficht, nachdem er gesetzmäßig, wenn auch ungerecht verurteilt ist. Verbannung ist offenbar die Strafe, die der Meinung des Gerichtes entspricht. Soll er sich diese zuerkennen? Aber was soll ihm, dem Siebzigjährigen, ein Wandern durch die Fremde, und welche Stadt werde ihn ertragen, da es die Vaterstadt nicht kann? Die Mißstimmung der älteren Bürger deutet er nun aus tieferen Gründen. Sie ist nicht nur Folge oberflächlicher Eitelkeit, sondern des schmerzlichen Risses zwischen den Älteren und Jüngeren, der die notwendige Folge der Sokratischen Weisheit ist. Die Jugend ahnt den neuen Lebenssinn und stellt unerwartete Anforderungen an die Mitmenschen, die Älteren aber verstehen nichts von alledem und zürnen, daß ihnen die Jugend entfremdet wird. Sokrates bedeutet den Geisteskrieg! „Weiß ich doch gar wohl, wohin ich auch komme, werden meinen Worten die Jünglinge lauschen wie auch hier. Und wenn ich diese abweise, so werden sie selbst midi ausweisen, indem sie die Älteren dazu überreden. Wenn ich sie aber nicht abweise, so weisen doch ihre Väter und Verwandten um ihretwillen mich aus." Wenn einmal sein Wort in die Herzen gedrungen ist, so zürnt das ältere Geschlecht, wenn er redet — und wenn er schweigt, das junge. Es ist der fast gewalttätige Eifer der Anhänger, den manche Dialoge heiter spiegeln, der den Begnadeten von Stufe zu Stufe treibt. Doch fragt Sokrates selbst, ob er schweigend und zurückgezogen in der Verbannung den Rest seines Lebens hinzubringen imstande sei. Die erste Rede war noch getragen von der Siegeshoffnung, die Anerkennung seiner göttlichen Sendung zu erzwingen. Das ist vorbei, äußerlich ist er unterlegen, und von da an ist ein leiser Ton der Entsagung zu hören. Das Volk ist eine Naturgewalt, mit der er nicht rechtet und hadert, darum begnügt er sich mit der schlichten Feststellung, daß die Menschen ihn nicht begreifen können, wenn er sich auf Gottes Auftrag berufe. Nun aber legt er ein Bekenntnis ab, das an Wert jener göttlichen Berufung gleichkommt. Vorher sprach er mit fast soldatischem Gehorsam von diesem Auftrage, der an den kalten, jede natürliche Neigung ausschließenden Pflichtbegriff Kants, den dieser mit einem bei ihm so seltenen Pathos gepriesen hat, erinnert, wie der Gleichmut dem Tode gegenüber an die stoische Apatheia. Hier aber verrät Sokrates, daß er zugleich seiner natürlichen Leidenschaft folgt, denn er ist beseelt von unbändigem Drange, zu denken, zu forschen und seine Mitmenschen aufzustacheln. „Wenn ich dagegen euch sagte, das größte Gut für den Menschen sei gerade dies: an jedem Tage Gespräche über die Tugend zu führen und über die 62
anderen Dinge, über die ihr midi unterreden hört, um zugleich mich und die anderen zu prüfen, daß aber ein Leben ohne solche Prüfung dem Menschen nicht lebenswert sei, so werdet ihr diesen Worten noch weniger glauben. Es verhält sich zwar so, wie ich behaupte, ihr Männer, doch davon zu überzeugen ist nicht leicht." Das ist das Zeugnis für den Einklang seines Logos, Daimon, Ethos. Die beste Bezeichnung für die treibende Kraft im Sokratisch-Platonischen Werke ist Heraklits: Yjfroc dvftptoTtüH Sai[jL(i>v . . . Sokrates trotzt nicht. E r erklärt, warum andere Strafen ihn schlimmer treffen als der Tod. Nur eine gibt es, die kein wirkliches Übel ist: die Geldbuße. E r bietet alles, was er hat — aber er ist arm. So schließt die zweite Rede: „Ich vermöchte euch vielleicht eine Mine Silber zu entrichten. Diese Buße also erkenne ich mir zu. Piaton aber hier, ihr Männer Athens, und Kriton, Kritobul und Apollodor heißen mich, dreißig Minen zu beantragen, sie selbst wollen bürgen. So viel also erkenne ich mir zu, diese aber werden euch zuverlässige Bürgen sein für das Geld." Zum zweiten Male stimmen die Richter ab, zwischen den beiden Anträgen: Tod oder 30 Minen Geldbuße. Da bei der ersten Abstimmung die Stimmen, die auf schuldig erkannten, nicht stark überwogen, so war die Geldbuße zu erwarten. Die Richter wählen die Todesstrafe. Der Grund dieser Umstimmung muß in der zweiten Rede liegen, denn ungünstige Zeugen sind offenbar inzwischen nicht aufgetreten (34 A). Die Annahme, daß die Schätzung der Geldsumme als zu niedrig, als Verhöhnung von den Richtern empfunden sei, geht fehl. Sokrates bietet 2 4 0 0 Mark, das Dreißigfache seines Vermögens, die gleiche Summe, um die der Kriegsgefangene Piaton vom Sklavenmarkt losgekauft wurde. Die Freunde selbst, Piaton an der Spitze, schlagen ihm diese Summe ausdrücklich vor, und Sokrates nimmt bezeichnenderweise ihren Vorschlag ohne Einschränkung an, seinem Grundsatz folgend, daß den Freunden alles gemein sei. Wäre diese Geldbuße unangemessen, so würde Piaton sich hier selbst der Mitschuld an Sokrates' Tode bezichtigen. In der ersten Rede mußte Sokrates sich oft mit der Gebärde (17) äopußsixs avSpsc "Aiirjvaici gegen den Lärm des Unwillens wahren, der besonders heftig wird, als er mit Nachdruck wiederholt, er werde sich durch kein Verbot in seinem öffentlichen Berufe hemmen lassen, solange er lebe. In der Tat eine Herausforderung! Wenn trotz dieser 2 2 0 Richter den kühnen Angeklagten für nichtschuldig erklären, dann muß der Eindruck seiner Gerechtigkeit für jeden Unbefangenen überwältigend gewesen sein. Aber es liegt in der Natur einer Körperschaft, auch wenn sie den Willen zur Gerechtigkeit hat, instinktiv ihre eigene Geltung höher zu schätzen als den reinen Dienst an der Sache. Sokrates erklärt in der dritten Rede die Ursache: wenn er um Gnade gefleht und gejam63
mert hätte, dann würde er nidit unterlegen sein. Wäre die Frage nach der Schuld der maßgebende Grund gewesen, dann hätten alle Richter, die vorher für nichtschuldig stimmten, ja noch weit mehr, sich jetzt für die leichtere Strafe entscheiden müssen. Nun ist aber überliefert, daß noch 80 Richter mehr als vorher für das Todesurteil stimmten. Das ist der Beweis von der Unredlichkeit des Urteils, und wer es billigt, hat kein Rechtsgefühl. Vor dem ersten Urteil haben ihm viele Richter sein kühnes Auftreten nicht verdacht. Es war eine erlaubte Verteidigungsart, und der überlegenen Entlarvung der Ankläger wird man mit sportlichem Vergnügen, dem Pathos der göttlichen Sendung als rhetorischer Leistung mit Bewunderung gefolgt sein. Nach dem ersten Urteil aber war die Lage von Grund aus verändert: Sokrates war schuldig — er hatte um Gnade zu flehen: das war das Mindeste, was er der souveränen Macht des Gerichtes schuldete. Die Sokratische Wahrheit, vorher erlaubt, war nun ein Verbrechen, nachdem das Gericht auf eine andere Wahrheit „erkannt" hatte. Die Berufung auf Apoll gefiel als rhetorisches Bild, während der Antrag auf Speisung im Prytaneion, als ob er gar nicht schuldig gesprochen, eine Beleidigung des Gerichtes und damit der Demokratie schien. Von der Unruhe, von der die erste Rede begleitet wird, deutet die zweite Rede nichts an. Bei dieser Eröffnung lag wohl das Todesurteil in der Luft, und die Richter werden mit eisigem Schweigen der Rede gefolgt sein. Nach dem Leichtsinn des ersten Urteils ergibt es sich, daß die Mißhandlung der Gerechtigkeit ihre Rache in sich trägt und zu Folgen drängt, die man nicht bedacht hat. Jetzt glaubt man wirklich, nicht zurückzukönnen, ohne die Autorität der Verfassung zu gefährden. Die leichtsinnigen Richter müssen verurteilen — aber nicht wenige mögen geahnt haben, daß die geistige Macht schon vertauscht ist, mögen den Schauder im Nacken gespürt haben, daß der zum Schein Verurteilte an ihnen selbst das Urteil vollzieht. Dies Gericht vollzieht Sokrates in der dritten Rede, nach der Verkündung des Todesurteils. Er zürnt nicht mehr, er weilt in anderer Luft und heiligt sich für den Übergang in neue Lebensform, aber die Wahrheit muß er noch sagen als schicksalhafte Stimme der Gerechtigkeit: „Um einer kurzen Zeitspanne willen, ihr Männer von Athen, wird an euren Namen von denen, welche die Stadt schmähen wollen, die Schuld geheftet werden, daß ihr den weisen Sokrates hingerichtet habt. Weise nämlich werden sie mich nennen, wenn ich es schon nicht bin, um euch einen Schimpf anzutun. Hättet ihr nur eine kurze Zeit gewartet, so wäre euch das von selbst zugefallen. Ihr seht ja mein Alter, mein Leben steht auf der Neige und naht sich dem Tode." Doch kann Piaton nicht wünschen, diese scheinbare Niederlage als Schwäche des Sokratischen Wortes aufgefaßt zu sehen. Sokrates verschmäht die Redetechnik, daß 64
er aber durch Kraft des Herzens und der Wahrheit ein großer Redner ist, das will der Jünger am Bilde des Meisters ausprägen und läßt ihn sagen, daß er nicht aus Unvermögen des Wortes, aizopia. Xoywv unterlegen sei, sondern aus Unvermögen an Dreistigkeit und Schamlosigkeit. Darum habe er nicht, wie sie verlangten, gejammert und geklagt, denn dies sei seiner unwürdig. So vertauscht er die Rollen. „Ich trete nun ab, des Todes schuldig erklärt von euch — jene aber sind der Nichtswürdigkeit und Ungerechtigkeit schuldig erklärt von der Wahrheit." Damit sind die Ankläger und Athen in Wirklichkeit schuldig gesprochen. Die Richter, die ihn schuldig sprachen, erkennt Sokrates als wirkliche Richter nicht an (40 A). Nachdem er stolz Athen verurteilt hat, verkündet er selbst die Strafe! Sie sei schwerer als die Todesstrafe, die es an ihm vollziehe, dennoch in seinem Sinne ein Gut, denn so wenig wie Christus kann Sokrates dem Gegner ein wirkliches Übel zufügen. Die Buße soll darin bestehen, daß seine Jünger mit noch größerem Eifer als er selbst von den Athenern Rechenschaft über ihre Lebensweise verlangen, daß Athen sein Unrecht einsehen und seinen Sinn ändern muß! Mit diesem Richterspruch wendet sich Sokrates f ü r immer von Athen ab und wendet sich an seine Freunde und an die wahren Richter, die für seine Freisprechung gestimmt hatten. Muß er nicht fürchten, daß seine Anhänger an der neuen Bewegung irre werden und sie als gescheitert betrachten? Er muß sie trösten und will mit dem Lächeln des Siegers vom Schlachtfeld scheiden. Der Tod, dem er verfallen, kann kein Unheil, er muß sein Glück sein. Er ist zuversichtlich im Wissen: „daß es für den guten Mann kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tode, und daß die Götter seine Angelegenheiten nicht vernachlässigen." Aber es widerspricht der vollkommenen Menschlichkeit Piatons, durch ethische Strenge (wie die Stoa und Kant) das Leben zu verarmen. Noch einmal beruft Sokrates sein Daimonion und schließt daraus, daß es schwieg, als er sich dem Gericht stellte, nicht nur, daß er moralisch recht gehandelt habe, sondern daß der Tod wirklich für ihn ein Glück sei. Diese Entscheidung ist bedenklich: nimmt Sokrates die Gebärde des Siegers an um den Preis, die Weltflucht zu lehren, da er den Tod liebt? Aber vergebens sucht man in dieser Haltung nach weltflüchtigem Gefühle. Sokrates hofft auf Fortsetzung seines persönlichen Lebens im Jenseits, das dort nur noch, stärker und erfüllter sei: das ist die stärkste Lebensbejahung. Wenn er hier nur selten zulängliche Hörer und Mitsuchende fand, so wird er nach dem Tode, wie er hofft, die großen Helden des homerischen Zeitalters antreffen, um mit ihnen, wie er es für unaussprechliche Glückseligkeit erklärt, das Wesen der Tugend zu erforschen. Daß diese über den Tod hinauswirkende Leidenschaft nicht aufgeht in rationaler Wissenschaft, beweist schon die Berufung auf Daimonion und Traumverkündung (im Kriton), hier aber auch die Verehrung der Dichter, deren Gesinnung man doch als Gegensatz zur Sokratisch-Pla5
Hildebrandt,
Piaton
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tonischen Philosophie aufzufassen gewöhnt ist. Denn nachdem Sokrates, mit einem Seitenblick auf die falschen Richter in Athen, die mythischen Richter im Hades gepriesen hat, fährt er fort: „Oder auch mit Orpheus zu verkehren, mit Musaios und Hesiod und Homer, wie teuer möchtet ihr wohl das erkaufen?! Ich wenigstens will viele Tode sterben, wenn das wahr ist." Es ist nur eine Steigerung der Lebensbejahung, wenn Sokrates dem Todesgedanken seinen Schrecken nimmt. In dieser Zuversicht ist er der Sieger, doch eingedenk seines Nichtwissens schließt er mit dem Ton erhabener Unerschütterlichkeit die Apologie: „Aber es ist Zeit zu gehen, mir um zu sterben, euch um zu leben, doch wer von uns zum besseren Werke schreitet, ist allen verborgen außer dem Gotte." Das ist jener dämonische Sokrates, jener geistige Vater des gottähnlichen Weisen, der der Nachwelt den wahrsten Bericht hinterlassen hat. Müßig wäre die Frage nach der Wirkung dieses Ereignisses auf den Jünger. Piaton wäre nicht Piaton ohne dies Erlebnis, es ist der beste Teil seines Selbst, und Sokrates ist nicht tot: er lebt fort in Piatons Blut. In dieser Verjüngung wird er nun teilnehmen, mehr als ein halbes Jahrhundert, an den Geschicken, den geistigen Eroberer-Fahrten und Siegen seines Sohnes, in sich wandelnder Gestalt, doch wunderbar die gleiche Person. Die Größe und Schönheit Piatons fließt aus dieser unbedingten Verehrung eines solchen Meisters, aus dem Zusammenwachsen mit dem Erwecker zu einer Gestalt. Er konnte höher steigen als jener, denn zu dessen aufwühlender Leidenschaft des Suchens besaß Piaton auch das in immer neuer Liebe ergriffene Vorbild der lebendigen Person, das als immer neue Deutung forderndes Geheimnis ihn sicher führen konnte, wo alles „Denken" versagte. In der Apologie steht die Gestalt des Sokrates noch ganz als Vorbild, noch vor dem In-Eins-Wachsen mit Piaton: Sie ist die Wurzel des Platonischen Werkes. Wenn Forscher, wie selbst Schleiermacher, in der Apologie (und „Kriton") überhaupt keine philosophischen Gedanken finden, so suchen sie im Platonischen Werk mehr das wurzellose System als den lebendigen Organismus. Die Natur des Geistes birgt die Gefahr, daß er sich sondert vom übrigen Leben und in seiner eigenen „Weiterentwicklung" das LebensGanze bedroht oder ein bloßes Scheinleben fristet. Der volle Einklang von Denken und Tun, von Geist und Macht als die wahre Fülle des Lebens ist ein seltenes Geschehen. Häufig aber sind Zeiten, in denen man die Lebensentfremdung, die Auszehrung in „Wissenschaft" und „Schrifttum" gar nicht mehr wahrnimmt, weil ihre Ablösung vom Leben eine so völlige und „selbstverständliche" geworden ist, daß niemand mehr wirkliches Leben in ihnen sucht. Die von Heraklit und Parmenides erborgte Weisheit war bei den Sophisten nicht Ausdruck des Lebens, sondern verantwortungsloses Spiel des Geistes. Ihre Scheinweisheit gefiel, und niemand fragte, ob sie mit Tat und Blut ihre Lehre bewährten. Sokrates zertrümmert diese Scheinweisheit und bewährt seine eigene 66
Person als die vollkommene Einheit von Leben und Bewußtsein, von Denken und Tun. Wenn alles verfiel, eins blieb unversehrt: die Mannheit, die Bewährung bis in den Tod. Die vorsokratischen Philosophen hatten denkend die Substanz gesucht . . . die skeptischen Sophisten glaubten an keine Substanz und waren selbst Bilder der Substanzlosigkeit. Sokrates fand noch nicht das Wort für sie, aber er selber war die Substanz. Da schien durch die Hinrichtung seine hohe Aufgabe, die Rettung des Staates durch den G e i s t , vernichtet, seine Lehre widerlegt zu sein. In dieser Stunde konnte es für Piaton nur das Gelöbnis geben: im Zeichen des Sokrates den Krieg fortzuführen bis zur sieghaften Vereinigung von Geist und wirklicher Macht. Wie er jene Missetat an Sokrates politisch beurteilt, berichtet er im VII. Briefe (vgl. oben S. 18). Welche Lehre er aus der Hinrichtung des Gerechtesten entnahm, ist nicht ausdrücklich, doch deutlich genug gesagt. Er gibt die Absicht auf, sich irgendeiner neuzubildenden Regierung anzuschließen, er ist reif geworden für die Überzeugung, daß nur ein Sokrates-Jünger den Staat führen und retten kann. Er wendet sich nicht im Groll vom Staat ab — sondern hofft auf den Kairos, die göttliche Fügung, zur politischen Tat. Nur aus der Theia Moira fließt die Tat des Staatsmannes wie das Werk des Dichters. Erst jetzt versteht er Sokrates' Zurückhaltung von der Politik: jedes Kompromiß mit anderen Politikern ist unmöglich, und er muß selbst, durch neue Anhänger, die neue staatliche Gesinnung erzeugen. Das ist der Wendepunkt, dessen Bekenntnis man zwischen den Zeilen des VII. Briefes finden kann. (325 D — 326 A.) Erst durch dies Erlebnis ist Piaton ganz zum Verständnis des Sokrates und zugleich zu seinem Vollender und Vollstrecker seines Willens gereift. Wenn er die Apologie als ewige Tafel zum Gedächtnis des Sokrates aufrichtete, so hat er wie mancher große Künstler doch nicht unterlassen, eine Rune einzuschneiden, die auf ihn selbst deutete. Ohne Grund hat man behauptet, daß die ganze dritte Rede reine Erfindung Piatons sei, da man unmöglich den Verurteilten zu Worte kommen ließ . . . Diese Rede besteht aus drei sehr verschiedenen Teilen. Der erste wendet sich an das Gericht, und die formelle Erklärung, daß Sokrates ebenso wie die Ankläger das Urteil annehme, bedeutet (39 B), daß gesetzlich dem Verurteilten das Wort zu einer Erklärung zustand. Der letzte Teil ist der Abschied von den Freunden vor der Abführung ins Gefängnis, und schwerlich hätte ihn Piaton erfunden, wenn er dem Brauche widersprach. Zwischen diesen beiden Teilen steht nun ein kurzer Absatz, der allerdings als künstlerische Erfindung Piatons aufzufassen ist, denn hier deutet er auf sich selbst: das ist jene Weissagung, zu der Sokrates sich befähigt glaubt, weil er dem Tode nahe sei. (39 C D.) „Ich sage euch, ihr Männer, die ihr mich hinrichtet, euch wird alsbald nach meinem Tode eine, bei Zeus, viel schwerere Buße treffen als die Todesstrafe, die ihr an mir vollzieht. Jetzt nämlich habt ihr so gehandelt in der Mei5«
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nung, euch der Rechenschaft über euer Leben zu entziehen. Ich aber sage euch, das Gegenteil wird geschehen. M e h r werden es sein, die euch überführen, die ihr bis jetzt nicht bemerkt habt, weil ich selbst sie zurückhielt. Um so mehr werden sie euch peinigen, als sie jünger sind, und ihr werdet um so mehr grollen. Denn wenn ihr glaubt, durch Hinrichtungen die Menschen abzuhalten, daß euch niemand schilt, ihr l e b t e t nicht recht — so d e n k t ihr nicht recht. Eine solche Abwehr nämlich ist weder ganz möglich noch ist sie e d e l . . . " Der allzuengen Deutung dieser Weissagung steht die Apologie selbst entgegen, da Sokrates sagte, daß seine Schüler durch die Methode des RechenschaftForderns den Bürgern lästig fielen: Sokrates hat sie also nicht unbedingt zurückgehalten, und der Ton liegt auf dem Wort „mehr". Die richtige Deutung ergibt sich aus der oben erwähnten Stelle des VII. Briefes, daß Piaton seinen eigenen Freundeskreis schaffen will. (325 D.) Er verkündet in dieser Weissagung, daß durch den Mord an Sokrates die Sokratische Bewegung nur an Macht gewinnen werde, und darf das weissagen, weil er in sich die Kraft zum Siege fühlt. Den Sinn der Weissagung geben drei Verse wieder: Den fremden schadern aber ruft getrost: Hemmt uns! untilgbar ist das wort das blüht. Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!
IV.
KRITON
D a s B e k e n n t n i s zur V a t e r s t a d t Durch jene Drohung in der Apologie ist Piatons Verhältnis zur Vaterstadt noch nicht geklärt. Athen hatte den größten und gerechtesten Bürger verurteilt. Sokrates hatte den ungerechten Richtern ihr Amt abgesprochen. Das politische Chaos schien hoffnungslos. Da mußte sich Piaton versucht fühlen, sich von Athen loszusagen, und vielleicht war die Geste, daß er nach der Vollziehung des Todesurteils sich für einige Zeit nach Megara wandte, der Ausdruck solcher Erwägung. Die gültige Antwort gibt erst der „Kriton", eine Antwort, die für sein Staatsgefühl und damit für seine Philosophie von hoher Bedeutung ist. Während die Apologie den wirklichen Sokrates darstellt, gibt der „Kriton" zum erstenmal Kunde von der wunderbaren Doppelgestalt Sokrates-Platon. Piaton wählt Sokrates nicht zur Maske seiner selbst. . . auch im „Kriton" ist die Darstellung des wirklichen Sokrates der Anlaß . . . aber es liegt im schöpferischen Vorgange, daß mit ihr die Eigen68
Darstellung unlöslich in Eins verschmilzt: daraus entsteht die mythische Bildkraft. Gegen das Heroenbild der Apologie blieb ein Einwand: Sokrates war trotz der Verteidigung unterlegen: sein Tod schien bloßes Leiden, keine freie Tat. Das heischt die Ergänzung des „Kriton". Die Freunde haben die Flucht vorbereitet, Sokrates kann das Gefängnis verlassen, aber er entscheidet sich frei, dem Gesetz, auch wo es mißbraucht wurde, im Tode zu dienen. Noch in der Nacht hat sich Kriton den Zugang in die Zelle des Freundes zu verschaffen gewußt, denn die bevorstehende Rückkunft des heiligen Schiffes ist ihm gemeldet, und es ist die letzte Stunde zur Flucht. Nun sitzt er am Lager des Freundes und kann sich doch nicht entschließen, dessen sanften und ruhigen Schlummer zu unterbrechen. Beim ersten Morgendämmer erwacht Sokrates. Dieser Kriton, die bildhafteste Gestalt unter den Freunden, ist nicht fähig, wie die andern dem Gedankenfluge des Sokrates zu folgen, aber er ist dennoch, sein Altersgenosse, ihm der menschlich nächste, sein sorgsamer Pfleger, fast rührend einfältig — eine Mahnung, Sokrates nicht intellektuell zu mißdeuten. Man darf keine philosophische Tendenz in seinen Gründen suchen, denn soviel Instinkt hat er, daß Sokrates in der Philosophie keinen Grund zur Flucht finden wird: er muß sein Gefühl zu bereden versuchen. Kriton gefährdet sich selbst, wenn er dem Verurteilten zur Flucht verhilft, aber aus Zartgefühl schützt er vor, er fürchte die öffentliche Meinung, die ihn verurteilen werde, wenn er den Freund im Stiche lasse. Sokrates durchschaut den Freund, aber er kann nicht anders, als diese unphilosophischen Gründe philosophisch zu prüfen. Es ist sein Amt, die ethische Norm des Tuns zu finden und ihr bis in den Tod zu dienen, und seine ganze frühere Lehre würde ihm ein Kindergeschwätz scheinen, wenn er aus Furcht das innere Gebot verletzte. Er verwirft Kritons Läßlichkeit und bekennt sich zur Eigenart, „daß ich nichts anderem in mir gehorche, als d e m Logos, der mir im Nachsinnen als der beste erscheint" (46 B). „Logos" ist schwerer wiederzugeben als zu verstehen. Das alte Wort „Sinn" dürfte ihm am nächsten kommen, denn Logos ist der zum Bewußtsein kommende Instinkt, der „Sinn" in allem Wirken und Denken. Das Nachsinnen, die Selbstbestimmung gibt die Richte des Handelns, wie Goethes Ausdruck bedeutet: „Denken und Tun"! Aber wie das alte „Sinn" noch nahe dem „Herz" ist, so bezeugt geradle dieser Dialog, daß .Logos' nicht Logik oder reiner Begriff ist, sondern das Handeln nur darum leiten kann, weil er der geistige Ausdruck für ein gefühlsmäßiges lebendiges Geschehen ist! Wenn Sokrates die Rücksicht auf die öffentliche Meinung verspottet, so ist das eine kühne Kundgebung Piatons zur besonderen Weltstunde, zur Hinrichtung des Sokrates, kein abstrakter Grundsatz. Kriton sagt, die Verurteilung beweise, daß die Meinung der Menge uns schwerstens schädige, 69
worauf Sokrates mit hoher Ironie antwortet: „Wenn die Vielen doch nur ja fähig wären, das größte Unheil zu bewirken, damit sie doch auch das höchste Gut vermöchten! Dann wäre es wohl bestellt! So aber sind sie zu keinem fähig. Sie sind ja doch nicht imstande, weder jemanden vernünftig noch unvernünftig zu machen, sondern sie tun, wohin der Zufall sie treibt." Die Menge steht jenseits von Gut und Böse — er vergleicht sie spielenden Kindern, mit denen er nicht rechten kann wegen ihrer frevelhaften Gerichtstagung. Fast mitleidig spricht er von diesen Mördern, „die leichtsinnig töten und ebenso wieder beleben würden, wenn sie es könnten, ohne jede Vernunft." (48 C.) So denkt Piaton, weil er Griechenland am demagogischen Taumel der Menge scheitern sieht. Daß diese verächtliche Abschätzung kein Ausdruck individualistischer Willkür ist, zeigt die überraschende positive Sinngebung, auf welche der ganze Dialog zielt: die unbedingte Verehrung des Gesetzes in seiner einmaligen konkreten vergänglichen Form, im Gesetz Athens! Das ist das Ziel des Gespräches, und daß Piaton dahin durch seine dialektische Methode — wenn auch hier in freiester Form — gelangt, bezeichnet am besten deren lebendigen und beweglichen Sinn. Es ist jenes berühmte Auftreten des Gesetzes, der Nomoi Athens in Person, in welchem der Dialog gipfelt! Man pflegt das als bloßen stilistischen Kunstgriff zu betrachten, während wir hier doch einmal schauen dürfen, wie in dem Griechen das Gesetz lebt und wirkt. Sokrates hat behauptet und seine Verurteilung hat erwiesen, daß die Leitung des Staates durch ausgeloste Laien eine Sinnlosigkeit ist und daß diese Verfassung Athens verderblich ist. Piaton hat eingesehen, daß er eine neue Staatsgesinnung und eine neue Verfassung schaffen muß. Wie verträgt sich das mit der Verfassung als heiliger Person? „Nomos", schwerer zu übersetzen als „Logos", ist etwas Seelenhaftes, von der Starrheit eines mechanischen Natur-Gesetzes so fern wie von der des juristischen. Tiefer ins Werdende greifend umfaßt es auch das ungeschriebene Gesetz, den geltenden Brauch. Nomos ist die Prägung, geprägte Form, die lebend sich entwickelt, Seele des konkreten Staates. Der einzelne Mensch ist nur durch den Nomos, der die Zeugung regelte, die Erziehung vorschrieb, das Leben sicherte, er pflichtet daher den Nomoi höhere Ehrfurcht als den Eltern. Sokrates läßt die Nomoi und das „Gemeinsame" der Stadt ihn selbst, falls sie ihn fluchtwillig fänden, mahnen: „Sage mir, Sokrates, was hast du im Sinn zu tun? Heißt das nicht, daß du durch dein Unternehmen uns, die Gesetze und den gesamten Staat, an deinem Teile zu zerstören gedenkst?" Sokrates könne einwenden, daß dieser Staat ihn ja ungerecht verurteilt habe, aber das gebe nicht das Recht, das gesprochene Urteil zu mißachten. Der einzelne Bürger steht dem Staate nicht gleichberechtigt gegenüber, sondern wie der Sohn dem Vater, wie der Knecht dem Herrn. „Oder ist das deine Weisheit, daß du vergaßest, verehrungs70
würdiger als Mutter und Vater und alle Ahnen sei das Vaterland, erhabener, heiliger und in höherem Range bei Göttern und den Menschen, die Vernunft haben?!" Wie man im Kriege trotz Wunden und Todesgefahr nicht weichen dürfe, so dürfe man sich auch der schwersten Strafe des Gesetzes nicht entziehen. Seltsamerweise hat man sich bisher nicht gewundert, daß Piaton so anschaulich breit und doch pathetisch gesteigert nicht von einer apriori gegebenen Wahrheit, von wissenschaftlicher Sicherheit, sondern vom Einmalig-Gegebenen, vom konkreten Gebilde als Quelle des Lebens und der aufbauenden Ehrfurcht spricht: von der Seele der Vaterstadt, vom historisch gewordenen attischen Gesetz. Er baut das Leben auf ein Mittleres zwischen ewiger Form und Einzelmenschen, auf die historische, geistig-konkrete Gegebenheit. Die geistesgeschichtliche Bedeutung dieses Einsatzes hat man übersehen. Die Philosophie birgt, bei einseitiger Entwicklung, die Gefahr, zugunsten der ewigen Gesetze alle gewachsenen leibhaften Gebilde, wie eben den Nomos eines konkreten Staates, durch Aufklärung zu ersetzen. Die wichtige sophistische Lehre jener Zeit, die Entgegensetzung von Physis und Nomos (oder Thesis), von Natur und Gesetz drückt diese Tendenz als überzeugende Formel aus. Ohne den Vorgang der großen Milesier, die hinter der wechselnden Erscheinungswelt die echte Natur, die ewige Substanz geschaut hatten, wäre diese nicht falsche, doch wenig tiefe Auffassung nicht möglich gewesen. Aber die aufgeklärte Betrachtung mußte die Relativität der staatlichen Gebilde, der Nomoi, als willkürlicher menschlicher Satzung gegenüber dem ewigen Naturgesetz immer deutlicher machen. Der üblichen Deutung zufolge hätte Piaton diese Scheidung von Physis und Nomos auf die Spitze treiben müssen. Physis (im damaligen echten Sinne!) und Idee gehören als das Ewige, Seiende bei ihm aufs Engste zusammen. Die sinnliche Erscheinungswelt, das Leibhafte, ebenso die historisch bedingten, menschlich geschaffenen Nomoi soll Piaton verachtet und nicht verstanden haben. Aber er verehrt diese Nomoi! Selbstverständlich kennt er jene sophistische Lehre (er läßt sie von Hippias im „Protagoras" aussprechen, 337 D), ebenso selbstverständlich kann er das Ewige, die Physis, nicht im Range beeinträchtigen: er erkennt aber die unbedingte Scheidung von Physis und Thesis, von Natur und Menschensatzung nicht an. Da er sie auch nicht logisch widerlegen kann, so nimmt er (unplatonisch im traditionellen Sinne) für diesen ersten Grundsatz der Lebenshaltung Unterschiede in der Menschennatur an, die dialektisch nicht zu klären und die unüberbrückbar sind! „Denn ich weiß wohl, daß dieses wenigen richtig scheint und scheinen wird. Welche also überzeugt sind und welche nicht, zwischen denen gibt es keine gemeinsame Beratung, sondern notwendig müssen sie sich gegenseitig verachten, wenn einer des anderen Beschlüsse sieht." (Kriton 45 D.) 71
Man sollte bei Heraklit die Wurzel jenes Relativismus der Sophisten vermuten — wenigstens solange man der ungeklärten Tradition folgend ihn verwechselt mit den sophistischen Herakliteern und ihrer „FlußLehre". Das Gegenteil ist richtig: In Heraklit wurzelt die Platonische Lehre. „Kämpfen soll das Volk für seinen Nomos wie für seine Mauer" (fr. 44), ein Satz, der gerade jetzt für Athen tragische Bedeutung hat, denn der Heldenmut, mit dem es seine Mauer verteidigt hatte, war vergebens, nachdem es seinem Nomos untreu geworden war. Heraklit löst das Rätsel, wie Sokrates, der angebliche Rationalist, das Menschen-Gebilde verehren, Piaton auf die Unterscheidung von ewigem und menschlichem Gesetz verzichten kann. „Nähren sich doch alle menschlichen Nomoi aus dem einen göttlichen" (fr. 144). Das ist die Tafel, die über Piatons Lebenswerk hängt. Und es ist die Verbildlichung der Heraklitischen Sätze, wenn die athenischen Nomoi ihre Reden mit der Warnung, falls Sokrates doch fliehen sollte, beschließen: „Dann werden wir dir zürnen, solange du lebst. Dort drüben aber werden unsere Brüder, die Nomoi im Hades, dich unfreundlich empfangen, da sie wissen, daß du auch uns, an deinem Teile, zu vernichten versucht hast." Sokrates verbirgt nicht, daß sein Logos durch daimonische Besessenheit aus dem Weltgesetz, nicht aus logischer Aufklärung fließt. „Versteh mich wohl, Kriton, mein lieber Gefährte, ich glaube dies zu vernehmen so wie die Korybanten die Töne der Flöte zu vernehmen glauben, und in mir dröhnt der gleiche Hall dieser Reden fort und macht, daß ich nichts anderes hören kann. Also begreife, wenn du gegen meinen jetzigen Entschluß etwas sagen willst, so wirst du vergebens sprechen . . . " Und da Kriton nur noch schweigen kann, so tröstet der Todbereite den Freund: „Also gib dich darein, Kriton, laß uns so handeln, denn dahin führt uns der Gott." Die Deutung des Dialoges als einer „Rechtfertigung" der Freunde oder gar des Sokrates selbst verdient keine Widerlegung! Aber die Reden der Nomoi stehen zum ersten Zwecke, das Sterben des Sokrates als freie Tat zu erweisen, in auffälligem Mißverhältnis. Der lange Nachweis, daß der Staat vernichtet wird, wenn das Gesetz nicht mehr herrscht, übertreibt die Bedeutung der Flucht eines Verurteilten, der dadurch nur die ungerechte Hinrichtung in eine Verbannung mildert, und somit, wie die Apologie sagt, dem Rufe der Vaterstadt nur nützen würde. Eine doktrinäre Übertreibung der Grundsätze ist aber unplatonisch. Was hat nun gar die mehrfache Warnung, der Bürger dürfe gegen seinen Staat nicht Gewalt anwenden, mit Sokrates zu tun?! „Frevel ist es, Gewalt anzuwenden gegen Vater und Mutter, viel mehr aber gegen das Vaterland." (50 E 51 CD.) Erst wenn man sie auf Piaton selbst und seine Aufgabe bezieht, bekommen diese Sätze Leben. Der Zusammenbruch Athens, der Terror der Oligarchen, der Frevel der Demokraten am 72
Weisen, der die Zukunft in sich trug, konnten Piaton vor die Entscheidung stellen, entweder Athen für immer zu verlassen — oder die Verfassung mit Gewalt zu stürzen. Der „Kriton" bedeutet die Überwindung beider Gefahren, des Verzichtes und der Gewalt. In der Apologie verurteilt Piaton das Volk — der „Kriton" ist in Gegensatz und Einklang die harmonische Ergänzung: Piaton leistet dennoch der Vaterstadt den Schwur, mit der Ehrfurcht des Kindes ihr Recht zu wahren. Immer tiefer erkennt er die Notwendigkeit der Umwandlung, aber hier setzt er sich selbst die Grenze: dieser Wandel darf nur auf gesetzlichem Wege geschehen. „Nomoi" bedeuten hier nicht die starre Form der zufällig bestehenden Verfassung, sondern die dauernde Lebensform des Staates, die sich in wechselnden Verfassungen äußern kann. Der Staat kann sich gleichsam in seinem Kinde erneuern, aber dieses Kind muß nach den Gesetzen des Staates erzeugt sein. Daß wirklich die Verfassungsänderung gemeint ist, beweist der wiederholte Satz, daß man entweder auch Unrecht vom Vaterland leiden muß — oder es ü b e r r e d e n zu dem, was wirklich Recht ist. Das bezieht sich nicht auf Sokrates, denn solange er sich verteidigte, lag noch kein ungerechter Befehl vor, und als er zum Tode verurteilt war, war nicht mehr Gelegenheit, die Stadt zu überreden. Diese Stellen sind ein Anzeichen, daß Piaton die entartete Verfassung durch Überredung in eine gerechte zu verwandeln gesonnen ist. Das Gewicht dieses politischen Bekenntnisses erweist sich erst im weiteren Verlauf: Piaton hat zeit seines langen Lebens die Schranke geachtet, die er sich einmal gesetzt hatte, und auch im bittersten Schicksal wurde sein Wesen nicht von einem Bruch versehrt, den die Brüchigen in ihm suchen. Seine Formel dafür war, daß er im Basileus nomimos, dem gesetzlichen Herrscher, die Erfüllung suchte und als Tyrannen nur den gesetzwidrigen Gewaltherrscher verfemte. Die Unterstützung Dions im Feldzuge gegen Dionys II. könnte als Widerspruch gegen diese Ehrfurcht vor dem Gesetz erscheinen, aber gerade die Erklärung, die er im VII. Briefe darüber mitteilt, beweist, daß er der Überzeugung der Jugend treu geblieben war. Dions Überzeugung war, „die Syrakuser müßten glauben frei zu sein, wenn sie nach den besten Gesetzen lebten" (324 B), er kämpfte also nicht gegen den Nomos des Vaterlandes, sondern wollte nach Überwindung der Tyrannis Sizilien den wahren Nomos bringen. Nur kann man diesen Begriff des Nomos, dieser lebendigen Form, in der die Ganzheit sich leibhaft begrenzt, im Gegensatz zum starren „Gesetz" kaum lebendig genug auffassen. Gegenüber dem Irrweg, in Nation oder Rasse den unbedingten Wert zu setzen, sei erinnert: im „heiligen Maß" des Schönen vollendet sich erst der Sinn der SokratischPlatonischen Welt. Sokrates verlangt nicht, daß der Einzelne sich als unfreies Werkzeug der Vaterstadt betrachte: er ist ihr Kind, aber wenn 73
er reif ist, darf er frei wählen. Sokrates lobt das attische Gesetz, daß der Bürger das Vaterland verlassen und ungehindert sich mit aller Habe in ein anderes Land begeben darf. Aber er stellt den Satz auf, daß der Bleibende durch sein Bleiben heilig gelobt hat, unbedingt dem Gesetz zu gehorchen. Der nationale Nomos ist nicht unbedingt verpflichtender Wert, er leitet seinen Wert heraklitisch aus dem Welt-Nomos ab und muß ihn den Seelen seiner Bürger fühlbar machen. Die attischen Nomoi stellen den Wert ihres Gehaltes dem Sokrates zur Prüfung, dieser lobt auch die Verfassungen von Lakedaimon und Kreta, aber seine Liebe gehört dennoch dem ewigen Athen. Darin, daß Piaton diese Lehre, die dem Menschen seinen Ort in der TVelt anweist, unmittelbar aus seinem (bisher verkannten) erdgebundenen Sinn schöpft und sie auch nachträglich nicht in systematische Begriffe gliedert, bekundet sich in ihm die vollkommene Fuge von Freiheit und Gesetz, von Gefühl und Erkennen.
V. L A C H E S D i e E r z e u g u n g der E r z i e h e r Piaton hat sich abgehoben von der chaotischen Gegenwart und Sokrates' Denkmal als Vorbild der Erneuerung aufgerichtet. Er glüht vor Eifer, selbst der Retter zu werden, und man erwartet, daß er nun seine Lehre vom neuen Ethos und vom neuen Staat verkünden müsse. — Beides tat er erst nach Jahrzehnten in der Politeia. Schleiermacher glaubte, Piaton habe nach vorgefaßtem Plane seine Gespräche als systematischen Lehrgang der Reihe nach verfaßt. Das ist falsch, aber nicht so falsch wie die naturalistische Auffassung, daß sich Schrift nach Schrift, eine unorganische Kette, planlos entwickelt habe. Zwar nicht der theoretische Lehrgang, aber der staatliche Wille bestimmt die organische Einheit. Nur vom Ziel, wie Goethe wußte, nicht vom System aus ist auch der Sinn der Werke zu deuten: den Leitfaden gab Piaton selbst im VII. Brief. Man faßt die frühen Dialoge als Tugenddialoge zusammen. Wenn man darunter, wie üblich, eine Abwendung vom politischen Geschehen und eine Versenkung in theoretische Untersuchung versteht, so kann man nicht gründlicher irren. Nachdem Piaton, wie erwähnt, an Sokrates' Tod erinnert hat, schreibt er die Sätze, die man bei seinem Gesamtwerk im Sinn haben muß: „Und als ich dies und die Männer, welche die Geschäfte des Staates führten, und gar die Gesetze und Sitten mit ansah, da erschien es mir, je mehr ich es begriff und an Jahren zunahm, um so schwieriger zu sein, den Staat richtig zu lenken. Denn offenbar war es unmöglich, ohne 74
Freunde und zuverlässige Gefährten zu handeln, und solche zu finden war nicht leicht, denn nicht mehr waltete der Väter Sitte und Lebensführung in unserer Stadt — andere neue zu gewinnen (!) aber war so leicht nicht möglich. Das geschriebene und ungeschriebene Gesetz verfiel in einer erstaunlichen Geschwindigkeit, so daß mich, der ich zuerst erfüllt war von großer Leidenschaft, im Staate zu wirken, als ich da hineinschaute und sah, wie alles durcheinanderwirbelte, schließlich ein Schwindel befiel. Zwar ließ ich nicht ab, auszuschauen, wie es hiermit und dem gesamten Staatswesen doch einmal besser werden könnte und wartete immer auf den rechten Augenblick zum Handeln — zuletzt aber mußte ich erkennen, daß sämtliche Staaten der Gegenwart übel regiert werden. Denn der Zustand ihrer Gesetze ist geradezu unheilbar, es sei denn, das Schicksal begünstige ein wunderbares Unternehmen! Ich mußte es aussprechen zum Ruhme der wahren Philosophie: sie allein befähigt uns, das Gesetz zu schauen im Staat und Einzelleben überhaupt. Darum würden des Übels die Menschengeschlechter nicht ledig werden, bevor nicht das Geschlecht der rechten und wahren Philosophen zur Herrschaft im Staat gelangt oder die im Staat Herrschenden wirklich philosophisch würden durch eine göttliche Fügung. Mit dieser Überzeugung kam ich auf meiner ersten Reise nach Italien und Sizilien." (325 C—326 B.) Das ist die kurze Umschreibung der Platonischen Sendung in der Überschau des Greises. Sie gipfelt im obersten Leitsatz der Politeia. Deren Hauptgedanke steht also längst fest ehe Piaton, 389, die erste Reise nach Sizilien antritt. Aber das Bewußtsein, daß die Sokratische Philosophie den Staat retten soll, schwebt schon über den ersten Gesprächen („Protagoras"), und nur aus dem Drang der politischen Aufgabe sind auch die folgenden Dialoge zu deuten: das besagt, falls es noch nötig sein sollte, jener Satz, daß er trotz der schweren Erschütterung durch Sokrates' Tod nicht abließ, nach dem Augenblick zur politischen Tat zu schauen. Wenn man neuerdings endlich unter dem Druck des VII. Briefes anerkennt, daß Piaton schon anfangs sich seiner politischen Aufgabe bewußt war, so ist damit wenig getan. Man muß begreifen, daß auch die frühen Dialoge keine zeitweise Abwendung von der Politik zur reinen Theorie, sondern nur ein zähes Weiterarbeiten an der politischen Aufgabe bedeuten. Daß er in fast übermenschlicher Zucht noch zwei Jahrzehnte sein Wort von Philosophie und Herrschaft in die Brust zurückstaut, beweist in dieser ungeheuren Spannung der Tatleidenschaft den überragenden Sinn für Wirklichkeit und Notwendigkeit des auf die Gegenwart gerichteten Mannes, den man als zeitlosen Ideologen und weltflüchtigen Schwärmer zu sehen sich gewöhnt hat. Auch das sagen jene Sätze. Er hat schwindelnd ins Chaos gestarrt und weiß, daß seine Lehre vom Staat, wenn er sie jetzt der Öffentlichkeit anvertraut, als sinnloses Opfer in den Wirbel gerissen wird. Freunde, 75
die seinen Plan durchführen könnten, sind nicht mehr zu finden und müssen neu geschaffen werden: die Frage der Erziehung steht am Anfang. Aber wie ist Erziehung möglich, solange keine heile Gesellschaft, kein wahrer Staat da ist? Es gibt noch keine Lehre und der zum Staatslenker Berufene muß auf sein Daimonion vertrauen, daß er Einzelne erliest und ihre Führernatur entwickelt. Piaton ist der begnadete Menschenbildner, er kann ein Wort sagen, das die Berufenen fesselt und doch das Geheimnis wahren. Nicht daß er damals schon Ideenlehre und Staatsverfassung in Einzelheiten gesehen hätte. Aber das leitende Bild stand reif in seinem Geiste und bewahrte ihn vor jedem unfruchtbaren Tun. Nur kleine Menschen trauen dem Großen die Kraft nicht zu, den schöpferischen Gedanken von der Jugend bis zum Alter fest im Griff zu behalten. Er bekennt im VII. Brief seine Irrtümer, er würde auch bekannt haben, wenn damals, mit 30 Jahren, sein Denken nicht reif war zur Tat — aber er sagt deutlich: die Zeit war damals nicht reif für ihn. Nur darum enden die Frühdialoge scheinbar ergebnislos. Ihre reife Kunst des Widerlegens und Führens schließt aus, daß dies eine Folge des Noch-nicht-Wissens ist: Es ist kunstreiche Wahrung des Geheimnisses bei dem Menschenfischer, der seine Angelhaken auswirft. Der „Laches" führt uns ans Anfangsproblem: Woher kommt uns der Erzieher. Man hat sich über die Zahl der Personen des Dialoges gewundert, weil man nicht verstand, daß Piaton diese Frage nicht aus dem leeren Raum, einer zeitlosen Lerntheorie geklärt haben wollte. Die Marathonische Zeit ist ihm Vorbild, und er würde nicht behaupten, daß ihr die Arete fehlte. Aber auf die folgenden Geschlechter hat sie die Arete nicht übertragen können, darum braucht die Gegenwart die neue Quelle der Erziehung, das menschliche Vorbild, nicht die Lerntheorie. Diese besondere Gegenwartslage will Piaton als menschliche Wirklichkeit, also „genetisch", nicht als abstraktes Theorem darstellen. Das Gespräch spielt in der Zeit des Nikias-Friedens, 421—418, mindestes elf Jahre nach dem „Protagoras". Perikles und auch Kleon sind tot, aber darin, daß Nikias, der Aristokrat, die politische Führung des Staates hat, äußert sich vorübergehend der Wunsch nach Besinnung und Mäßigung. Sokrates wäre 50 Jahre, mag aber, da er öfters seine Jugend betont, etwas jünger gedacht sein. Die Gestalt des Sokrates beginnt jetzt zugleich für Piaton, der das 30. Jahr überschritten hat, einzutreten, und es ist glaublich, daß Piaton von nun an oft des Sokrates Alter dem eigenen annähert. Jener Nikias und sein Gefährte Laches sind Hauptteilnehmer des Gespräches. Aber die geistige Not der Zeit, die auf das Heldenalter der Perserkriege gefolgt ist, vertreten die beiden Söhne des berühmten Aristides und des auch nicht ruhmlosen Thukydides. Jene sind unbe76
deutende, vielleicht ein wenig gedankenschwache alte Herren, und sie sagen selbst, was sie darstellen: sie klagen, daß ihre großen Väter sie nicht zu erziehen verstanden haben. Die Verdoppelung der unbedeutenden Figur deutet an, daß sie die Not ihres ganzen Geschlechtes vertreten. Die hilflose Suche nach dem Erzieher ist der Ton jener Jahre des beginnenden Niederganges. Die Knaben freilich wissen es besser, sie sprechen unter sich viel von Sokrates und wissen ihn zu rühmen, der den alternden Vätern unbekannt ist. Doch ist die Kluft zwischen den Lebensaltern noch nicht so breit wie in der Zeit der Apologie: Vornehme und bedeutende Athener haben Verständnis f ü r Sokrates und achten ihn hoch. Gegen die dumpfe öffentliche Meinung, die an der Hinrichtung schuld ist, stellt Piaton die Verehrung des edleren Athen. Aristides noch hat den Vater des Sokrates als nahen Freund verehrt (180 E), der Feldherr Laches rühmt Sokrates' Tapferkeit bei der Niederlage von Delion, und Nikias bekennt, daß er gern seine Lebensauffassung von Sokrates prüfen und richten lassen werde, denn dem könne man sich nicht entziehen, wenn man sich mit ihm in ein Gespräch einlasse, und er wolle gern, solange er lebe, von anderen lernen. Nikias, der reichste, wegen seines Charakters geehrteste und damals auch mächtigste Mann in Athen, läßt sich willig vom „jungen" Sokrates prüfen und belehren, und er erkennt seine Überlegenheit — die athenischen Kleinbürger aber sind gekränkt, wenn Sokrates, der inzwischen alt geworden, sie zu belehren wagt, und sie nehmen die unedle Rache des gesetzlichen Mordes! Diese große Rüge ist im Vorspiele versteckt. Niemand ist Erzieher außer Sokrates! Das ist der Sinn des ganzen Gespräches, während Piaton den Gehalt seiner Lehre noch verschweigen muß. Ein modischer Fechtlehrer Stesileos, der das Kunstfechten nach eigener Theorie lehrt, gibt den niederen Anlaß für das Gespräch, da die Väter wissen möchten, ob er wohl der rechte Erzieher für ihre Söhne sei. Nikias und Ladies, die beiden Feldherren, wären die besten Sachverständigen dafür — aber Nikias lobt die neue Kunst, und Laches hält sie für lächerlich. Sokrates greift ein und lehrt, daß man nicht aus technischen Einzelheiten, sondern aus dem lebendigen Gesamt die Erziehung beurteilen müsse und darum nicht der Soldat, sondern der Kenner der Seele der Sachverständige sei. Der Erzieher muß das Ziel, die Arete, kennen. Aber da Piaton seine Lehre von der Arete noch nicht preisgeben darf, so schlägt Sokrates vor, daß man zuerst den einen Teil der Tugend untersuche: die Tapferkeit. Er leitet auf einen Irrweg, aber dieser Fehlversuch soll um so eindringlicher zeigen, daß Arete und Sophia nur als Ganzes gesucht werden können. Der einfache Laches glaubt das Wesen der Tapferkeit leicht umschreiben zu können, aber er faßt sie zu gegenständlich, zu eng, und 77
Sokrates verwickelt ihn in Widersprüche. Da greift der im Denken geübte Nikias ein. Er hat oft von Sokrates gehört, daß Tugend in Erkenntnis besteht, also sei auch Tapferkeit Erkenntnis, sie sei, wie er erklärt, die Erkenntnis des Gefährlichen und des Sicheren. Aber diese Erkenntnis ist, wie sich bald ergibt, als teilhaft nicht möglich, sie muß aus der Erkenntnis des Ganzen fließen. Vollkommene Erkenntnis aber ist die Tugend selbst und bezeichnet daher nicht die Eigenart der Tapferkeit. Würde Sokrates dies bis zum Kern verfolgen und zeigen, daß dies Ganze dem Menschen nur im Organismus des Staates kenntlich würde, so wäre er mitten in der Lehre der „Politeia". So aber bleibt die Untersuchung ergebnislos, und wir sind angewiesen, in den Personen den Gehalt des Dialoges zu suchen. Ladies, der heftige alte Krieger, wenig mit Wissen und Grübelei beschwert, stellt selber die triebhafte Seite der Tapferkeit dar. Zwar reißt ihn das Sokratische Suchen mit, doch hält sein Denkeifer nicht lange aus, er wird ungeduldig und schilt auf die Erklärungen des Nikias, die seinem einfachen Tatsachenverstand unbegreiflich sind. Nikias aber hat schon manches von der Sokratischen Lehre erfaßt und er hat Freude daran, weiter zu lernen: er vertritt das Denken wie Laches den Instinkt. Wenn man glauben mußte, Nikias sei darum der „Sokrates-Nähere", so erweist sich das als Schein der intellektuellen Oberfläche. Wie muß es den Gläubigen des konventionellen Sokrates-Bildes überraschen, daß Piaton den „unphilosophischen" Laches als den Echteren dem l e r n b e g i e r i g e n Nikias gegenüberstellt. Und doch gab schon das erste Wort den Wink: Der Dialog ist Laches gewidmet. Und Laches gibt mit wunderbarem Instinkt f ü r das Echte sogleich das Losungswort des ganzen Gespräches. Er bekennt, Redefreund und Redefeind zu sein. Wenn er über Tugend und Weisheit einen Mann reden höre, der wirklich ein Mann sei und dessen würdig, was er sage, dann sei er von Grund aus froh bei dem Anblick, wie der Sagende und das Gesagte harmonisch und ziemlich zusammenklingen. Ein solcher scheine ihm eigentlich recht musisch zu sein, da er nicht Lyra oder andere Spielwerke, sondern (las eigene Leben zum schönsten Einklang füge, einstimmig W o r t u n d W e r k , nach der dorischen, der einzigen echt-hellenischen Tonart. Wenn er nur die Stimme eines solchen höre, werde er froh, und man sehe ihm den Redefreund an. Wer aber umgekehrt verfahre, der sei ihm zuwider, um so mehr, je besser er zu reden verstehe, so daß er dann als Redefeind erscheine. Noch habe er die Reden des Sokrates nie gehört, aber seine Taten habe er gesehen und habe ihn würdig befunden der schönen Reden. (188 C—E.) Ein Wort in Piatons Werke von höchstem Gewicht: Ein Mann darf nichts Schöneres reden, als seinem Charakter entspricht! Das war schon das unausgesprochene Bedenken gegen Protagoras, jetzt aber schließt Laches durch seinen Blick für die Menschen den Kampf zwischen Sokra78
tes und der früheren Sophistengeneration ab. Die Bewährung des Sokrates durch den Tod hat Laches schon vorausgesehen durch seine Haltung im Felde von Delion. Er sieht in Sokrates die Substanz, die in der Geistesgeschichte ewig wirkt, in den Sophisten den schönen Schein, der dem echten Manne zuwider ist. Was Piaton hier dem Laches über die dorische Harmonie von Wort und Werk in den Mund legt, ist sein Lieblingsgedanke, die „pythagoreische Harmonie". (Darum forscht er nach Pythagoras' Erben, als er der. Heimat den Rücken kehrt!) Nikias will trotz seines Alters noch lernen, auch Laches will es, aber — so glaubt er den Spruch Solons ergänzen zu müssen, nur von den Tüchtigen! (189 A.) Nun erst versteht man, warum das Gespräch so regelrecht die beiden Krieger nebeneinander stellt zum Bilde dafür, wie leibhaft das Platonische Wissen gemeint ist. Laches hat Sokrates nie reden hören, aber aus der Haltung des Mannes in der Schlacht leuchtet ihm die Erkenntnis: das ist der Weise, das ist der Erzieher, und kaum ist von Erziehung die Rede, so weist er auf ihn hin. Nikias hat schon oft an Sokrates' Untersuchungen willig teilgenommen, aber ihm fehlt das Wissen des Laches, weil er nichts s i e h t ! Audi er lobt Sokrates als Erzieher — aber nur, weil er den tüchtigen Lehrer Dämon empfohlen habe. Aus dem Denken und Lernen hat er nicht erkannt, daß Sokrates der Erzieher und Staatbildner ist — eine Erkenntnis, die Laches aus: der leiblichen Haltung des Sokrates in der Schlacht aufging! Sein Lob der pedantischen Kunstfechterei des Stesileos begründet Nikias höchst unplatonisch. Die Jünglinge würden bei solcher leiblichen Übung nicht Muße zu anderer jugendlicher Unterhaltung haben. Er ahnt nicht, daß Sokrates zuerst die Jugend durch die philosophische Bewegung erwecken will, daß erst aus der Philosophie echte Tapferkeit erwachsen soll. Er stellt dar, wie auch bei ehrlichem Willen die aristokratische Bildung versandet, ungeistig wird, weil ihr das schöpferische Blut fehlt. Er, der den Sokratischen Satz ,Tugend ist Erkenntnis' vertritt, „weiß" diesen Satz gar nicht im Platonischen Sinne. Laches dagegen beurteilt den Stesileos ganz richtig im Platonischen Sinne, weil er instiktiv aus dem Ganzen urteilt. Die Spartaner, die besten Kriegskenner, kümmern sich nicht um ihn . . . er selbst hat sich nie im Kriege ausgezeichnet... als er einmal Gelegenheit hatte, seine Kunst praktisch zu erproben, hat er sich lächerlich gemacht: das genügt für Laches, diesen Mann und seine Theorie ohne Prüfung abzulehnen . . . Als Laches und Nikias in der Untersuchung versagt haben, neckt Laches den alten Gefährten, daß er trotz seiner von Dämon entlehnten Weisheit die Aufgabe nicht gelöst habe. Nikias ist eitel und empfindlich: er sei doch immerhin weitergekommen als Laches, und was noch fehle, das werde er im Verkehr mit Dämon, den jener höhne, ohne ihn zu kennen, noch nachholen. So glaubt er instinktlos an den Fach79
menschen, an die Lösung der höchsten Frage durch Einzelkenntnisse und hat Sokrates' Mahnung vergessen, daß nur aus einer (der Sokratischen) Mitte diese Fragen zu lösen sind. Und Laches, der viel .weisere', gibt die einzige wahre Antwort: „Du freilich, Nikias, bist ja weise! Ich aber gebe gleichwohl unserm Lysimachos und Melesias den Rat, in der Frage der Erziehung der Jünglinge auf dich und mich zu verzichten, aber von diesem Sokrates hier, wie ich gleich anfangs sagte, nicht abzulassen. Und wenn auch meine Söhne das Alter hätten, würde ich das gleiche tun." — Da stimmen Nikias und Lysimachos bei, und das wesentliche Ergebnis scheint gesichert. Sokrates ist der einzige Erzieher! Aber scheinbar wird auch dies durch den Nichtwisser Sokrates abgelehnt: auch er sei noch nicht reif zum Erzieher. Dürfen wir diesen Verzicht ernst nehmen? Der dorische Einklang von Mann und Wort ist Bedingung des Erziehers. Schon sind die ersten Sophisten vom Kampfplatz geschieden, weil in ihnen der mangelhafte Mann selbst noch das an sich wahre Wort entwertet. Aber nun wird am Beispiel des Nikias die herbe Lehre verkündet, daß selbst der adlige Athener, der berühmte Feldherr und Staatsmann, lernwillig und klug, dennoch nicht zulänglich ist: nur die Gottheit vermag, Mann und Wort in Einklang zu setzen. Dem Athener, der das Verhängnis miterlebt hatte, muß die versteckte Warnung schaurig gedröhnt haben. Ihm mochte die Beschreibung des Laches, in der Stesileos, der von Nikias gelobte, mit dem selbsterfundenen Sichelspeer, der sich im Takelwerk des Schiffes verfängt, höchst lächerlich wird, wie das Satyrspiel auf die grausige Tragödie des Nikias und seines Heeres klingen. Die sizilische Katastrophe, durch das Bild der Athener in den Steinbrüchen allen Zeiten eingeprägt, wurde verschuldet durch Nikias' Zaudern, der wohl klug genug, alle Bedenken zu sehen, zu schwach war zum Entschluß, und als er endlich entschlossen war, sich dem Spruch des Wahrsagers unterwarf, wegen der Mondfinsternis den dringlichsten Rückzug aufzuschieben! Dieser Aberglaube, das Zeichen seiner Halbheit, bedeutet das Verhängnis. Er dient veralteten Vorstellungen, die von den Sophisten, ebenso auch von Sokrates, von dem er doch lernen wollte, geringgeschätzt werden. Er ist nicht fähig, sich vom neuen Geiste wandeln zu lassen. Darauf weist Piaton, denn nicht nur greift Laches den Gefährten wegen der Wertung der Wahrsager an, auch Sokrates selbst gibt ihm die klare Lehre: Der Kriegskundige darf nicht dem Wahrsager dienen, sondern muß ihn beherrschen in den Dingen, die der Feldherr besser beurteilen kann. Sokrates glaubt an sein Daimonion und an Traumzeichen, aber er läßt diese nur in Gebieten gelten, in denen uns die Sachkenntnis, die er überall fordert, nicht gegeben sein kann. (195 D - 1 9 6 A. 198 E - 1 9 9 A.) Welche tiefe Sorge muß Piaton zu so grausamer Rüge getrieben haben! Der Satz „Tugend ist Erkenntnis", die neue „Dialektik", konnten so leicht in den verhängnisvollen Irrtum münden (sie tun es noch 80
heute!), daß man durch bloßes intellektuelles Lernen zu Arete und Sophia komme. Tugend und Weisheit sind ihm keine autonomen Begriffe (wie bei Kant), sondern jeweils das Maß der Gemeinschaft, die Frucht der Schicksalsstunde, und nur der Größte erkennt im Zeitlichen das ewige Gesetz. Die brüchige Weisheit des Nikias disharmoniert zu seinem Werke und Amt, darum ist er, der dialektisch-eifrige, weit unterlegen dem unbefangenen und einfachen Laches. Es ist eine hohe Warnung vor dem Weltgesetz, kein persönlicher Tadel, wenn Piaton schweigend auf das grausige Ende des edlen, das Beste wollenden, opferbereiten Mannes, dem aber die instinktive Empfänglichkeit für den neuen Geist fehlte, deutet. Nikias ist zum Erzieher aber auch zum Schüler ungeeignet, weil dem Worte der Mann mangelt — bei Laches mangelt umgekehrt noch dem Manne das Wort. (194 A.) Er ist tapfer, aber er kann die Tapferkeit nicht im Logos fassen. Er wäre Erzieher geworden, wenn er selbst durch Philosophie erzogen wäre. Nicht nur im Werk, auch im Geist besitzt er die Tapferkeit, und nur wenig Anleitung fehlt, daß er zur rechten Erkenntnis dringen kann. „Ich wenigstens bin bereit, nicht abzulassen, wenn ich auch solcher Reden ungewohnt bin. Hat mich doch ordentlich eine Kampflust ergriffen in dieser Frage, und ich bin wirklich höchst ärgerlich, wie ich so gar nicht auszusprechen imstande bin, was ich doch im Geiste habe. Ich bilde mir doch ein, mir vorzustellen, was die Tapferkeit ist, und ich verstehe nicht, wie sie mir eben gerade entwischte, so daß ich sie nicht mit dem Worte packen konnte und nicht sagen, wie sie ist." Laches hat die Tapferkeit im Blut und zürnt sich, daß er sie nicht ganz ins Bewußtsein heben kann. Er hat die Anlagen des echten Piatonschülers — aber nun ist er zu alt, um Schüler zu sein und Lehrer zu werden. Sokrates allein ist die vollkommene Harmonie von Wort und Werk, und aus ihm tönt kein Laut, der nicht Widerhall der ganzen Person wäre. Er allein ist der wahre Erzieher. Aber ist sein Logos schon vollendet und ausgebaut zur Lehre für den Staat und die Jugend? Er selbst lehnt dies ab, denn auch ihm fehle die Erkenntnis. Sokrates der Weiseste und Nichtwissende, der einzige Erzieher und doch noch nicht Erzieher — nur aus der einmaligen Weltstunde, in der Piaton sich zugleich offenbart und versteckt, kann man diesen Widerspruch deuten. Im VII. Brief bekannte Piaton, daß er nicht vom geistigen oder mechanischen Fortschritt der Zeit, sondern allein aus göttlicher Fügung die Rettung hoffte. Sokrates weist auf den toten Punkt der Entwicklung: Ein Erzieher zeugt den andern. Aber ausweisen kann sich der Erzieher nur dadurch, daß er entweder auf den eignen Lehrer weist oder auf den Zögling, der sich schon bewährt hat. Wie aber soll jemals diese Reihe anheben, wenn überhaupt noch kein Erzieher da ist? Das ist die Lage seiner Weltstunde, die Sokrates mit aller Offenheit und Ironie zugleich 6
Hildebrandt, Piaton
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darstellt. (185 D—187 B.) Aus dieser Schicksalsverlegenheit hilft nur göttliche Fügung — oder eine Art Ur-Zeugung der Erzieher. Sokrates ist nicht eigentlich Erzieher, er ist weniger und ist mehr. Eine Erziehung im weiteren Sinn, ein Erfassen der ganzen fähigen Jugend, würde erst nach der wirklichen Neugründung des Staates möglich sein. Aber Sokrates ist der Daimon, der ohne Erzieher, von Apoll berufen, den Genius des Staates wachrufen soll. Er ruft Männer und Jünglinge auf, damit die wenigen, die daimonische Zeichen schon deuten mögen oder vom echten Gefühl ergriffen sind, sich vereinen und in ihrer Mitte das neue Menschenbild gestalten. Darum lehnt er am Schluß, als alle in ihm den gesuchten Erzieher erkennen wollen, mit diesen Worten ab: „Ich aber sage euch, ihr Männer — denn niemand ist ausgenommen — wir alle gemeinsam müssen für uns den besten Lehrer suchen, der zu finden ist, denn wir bedürfen seiner . . . alsdann aber auch für die Jünglinge, und weder Geld noch irgend etwas sonst dürfen wir dabei sparen. Ich warne davor, weiter so in unserer jetzigen Haltung zu beharren! Sollte aber jemand über uns spotten, daß wir in solchem Alter noch f ü r angemessen halten, in die Schule zu gehen, dann, glaube ich, müsse Homer unser Schild sein, welcher sagt: ,Ein schlechter Begleiter ist dem darbenden Manne die Scham.' So wollen auch wir den Spötter seiner Wege gehen lassen und zusammen die Sorge für uns selbst und unsere Jünglinge auf uns nehmen." Ein drohender Wink Piatons! Sokrates vergleicht die verarmte, nach dem Erzieher hungrige Gegenwart mit Odysseus, der als Bettler den Vergeudern seines Reichtums naht! Und wirklich birgt sich in der Bescheidung der höchste Anspruch. Sokrates-Platon ist da, die unberufenen Freier zu vernichten und den Genius des Staates, den echten Nomos, wieder in sein verwaistes Haus zu führen. Ihm erlaubt die Sendung nicht, Lehrer einer beliebigen Jugend zu sein: er will für sich die Träger der Zukunft erlesen. Darum empfiehlt er Nikias' Sohn an Dämon, darum stellt er die Erfüllung der anderen Wünsche mit dem letzten Worte des Dialoges in Frage: „So Gott will". Wer darf darin eine banale Sicherheitsklausel sehen! Der attische Leser verstand den Wink leicht: Aus den Söhnen des Lysimachos und Melesias ist nicht mehr geworden als aus dem des Nikias. Die Schlußformel besagt: die fruchtbare Gemeinschaft mit Sokrates hängt nicht ab von Wohlwollen und menschlichem Entschluß, sie ist das freie Geschenk der Gottheit. Zwischen der Zeit, in welcher das Gespräch spielt, und der, in welcher es Piaton verfaßt, liegen zwei Jahrzehnte, liegt Sokrates' Tod. Verstehen kann man es zuletzt nur, wenn man es in Piatons Plan und Schicksal sieht und fragt, was es auf dem Wege zu seinem Ziel ausdrücken und bewirken soll. Warum schränkt Piaton durch sein Urteil über Nikias die Anwendbarkeit der dialektischen Belehrung so unge82
heuer ein, daß sie nur dem Jünger von echtem Geblüte zuträglich und erträglich sein konnte? Der siebente Brief gab die Antwort: Piaton dachte wohl niemals daran, eine wissenschaftliche Schule zu gründen, sondern er bedarf der willig ergebenen Jüngerschaft, mit der er die Verfassung bestimmen, den neuen Geist verwirklichen kann. Tapferkeit war die notwendige Anlage. Nur wer die Todesgefahr geringschätzte, konnte ihm recht dienen, nur wer das individuelle Glück opfern konnte, war fähig, die neue Aufgabe zu verstehen und in ihr das höhere Glück zu finden. Damit verliert das Trübe und Schaurige, was das Gespräch, für sich allein betrachtet, haben könnte, seinen Stachel. Auch jene Nikias-Katastrophe liegt fast zwei Jahrzehnte zurück. Auf Piaton bezogen wandelt sich der Sinn. Das Wunder, auf das Piaton im Staatsleben harrte, war im Geistigen schon geschehen, Erzieher waren durch Schicksals-Fügung aus dem Chaos entstanden. Sokrates hatte sich als E r z i e h e r im höchsten Sinne erwiesen durch seinen Zögling Piaton, und dieser darf sich jetzt als Erzieher ausweisen durch Berufung auf seinen Meister: an der Stelle jener klaffenden Leere hat sich der Kreis heilbringend geschlossen. Die Gemeinschaft der Männer, an die hier der Ruf des Sokrates geht, wird erst spät im Phaidon dargestellt. Daß nunmehr aber Piatons eigener Ruf nicht mehr an die Gesamtheit der Männer, sondern schon, eignen Herrscher- und Erziehertums gewiß, siegesfroh an die Jugend sich wendet, besagen die folgenden Gespräche.
VI.
CHARMIDES
W e r b u n g um J ü n g l i n g e Nach der winterlichen Strenge der ersten Schriften, in der er sich vom gegenwärtigen Athen abgrenzt, die Verderbnis der Stadt geißelt ohne noch das rettende Wort zu sprechen, ist Piaton jetzt in seinen eigenen Süden getreten. Niemals hat er die Süße des öffentlichen Lebens in Athen (das Symposion gibt eine geschlossene, vom Lärm der Öffentlichkeit gesonderte Feier) so sinnenhaft empfunden, wie im „Charmides" und „ L y s i s " . Allerdings ist es Vergangenheit, was er darstellt: der Peloponnesische Krieg hat begonnen, aber seine zerstörenden Kräfte noch nicht wirken lassen — es ist die Zeit zwei Jahre vor Piatons Geburt. Sokrates kehrt von der winterlichen Belagerung Potidaias (431/30) nach langer Abwesenheit nach Athen zurück. Wie er sich ausgezeichnet und dem jungen Alkibiades das Leben gerettet hat, davon deutet das Gespräch nichts an, da Sokrates selbst der Erzählende ist. Der erste Satz atmet das Wohlbehagen, nach Krieg und Winter wieder im gelieb6*
83.
ten Athen zu sein, wo er die Stätten der gewohnten Gespräche aufsucht und in eine Palästra eintritt. Chairephon springt erregt auf ihn zu und führt ihn zu Kritias und vielen anderen Bekannten, die ihn ausfragen nach der letzten blutigen Schlacht. Nachdem er allen geantwortet hat, stellt er nun selbst die Frage, die den Nerv seiner Lebensaufgabe bezeichnet, „wie es gegenwärtig um die Philosophie stünde und um die Jünglinge . . . ob sich unter ihnen welche durch Weisheit oder durch Schönheit oder durch beides zugleich besonders hervorgetan hätten." Das ist die Lebensluft Sokratisch-Platonischer Philosophie: Nach Jünglingen, nach schönen Jünglingen fragt Sokrates, und die Schönheit gilt, selbst wenn die Weisheit noch nicht merkbar. Was die Liebe zu schönen Jünglingen im Weltgefühl und -gefüge bedeutet, wird erst das Symposion deuten, doch wird hier schon sichtbar, daß diese sinnliche Spannung zwischen Mann und Jüngling keinerlei Beziehung hat zu sexuellen Abartungen, mit denen ein reizbedürftiges Zeitalter sich betriebsam beschäftigt, denn Piaton stellt die geistigsinnliche Lebensluft Athens, keine privaten Eigenheiten dar. Xenophon greift mit seinem Symposion wohl die Ausartung der Männerliebe an, weil sie der Ehe und Aufzucht von Kindern im Wege steht, aber es ist um so lehrreicher, daß er zugleich die reine Liebe zu schönen Knaben gerade so sinnenhaft und glühend feiert wie Piaton. Die Wiedergeburt des Staates ist nicht anders möglich als durch Weckung eines neuen Lebensgefühls, aber die Eigenart der Natur Piatons, die ihn für diese Aufgabe befähigt, ist sein besonders geistiger und zugleich besonders leidenschaftlicher Eros, und nur dieser wahrhaft erotische Lebensstrom kann die unnachahmlichen geistigen Gebilde tragen, die jedem Nicht-mit-Fühlenden undeutbar bleiben. In Athen herrscht eine so gesteigert-männliche Kultur, daß auch der Charme des Menschen zumeist im Jüngling verleiblicht sein muß. Dafür ist ein Aphorismus eben dieses Kritias bezeichnend: „Am männlichen Körper ist das Weibliche am schönsten und am weiblichen das Umgekehrte." Das ist ein Paradoxon des Sophistenschülers, das man durch die griechische Plastik jener Zeit begrenzen muß, aber es besagt richtig, daß gerade in einer männlichen Gesamtkultur der Jüngling Anmut haben muß. Eine Verweibung des Mannes hat Kritias, dies Raubtier von Adel und Geist, niemals meinen können. Auch in unserer Gesellschaft bedeutete die Begünstigung des galanten Spiels zwischen den Geschlechtern noch keineswegs eine Lockerung der Sitte. Manches davon klingt in Athen im Verhältnis von Mann und Jüngling mit an, und nur in dieser Luft ist der „Charmides" möglich. Er spielt im edelsten Kreise, und die Sitte ist hier so streng, daß Sokrates sich scheuen müßte, mit dem jungen Charmides ein Gespräch anzuknüpfen, wenn nicht dessen Vormund Kritias zugegen wäre . . . 84
Das Gespräch antwortet auf jene erste, den Denkern andrer Zeit verwunderliche Frage dramatisch, und wirklich dramatisch ist die Steigerung, mit der die glänzende Schönheit des Epheben Charmides durch ihre Wirkung fühlbar wird. Charmides ist Piatons Oheim, und Sokrates selbst erinnert ihn an den Adel seines Geschlechtes, das mit Solon verwandt ist. Kritias, der bedeutende Politiker und Schriftsteller (zuletzt Führer der 30 Tyrannen), ist sein Vetter und zugleich Vormund, denn Charmides ist eben erst aus dem Knabenalter getreten, während Sokrates 40 Jahre, Kritias wohl noch nicht 30 alt ist. Auf jene Frage des Sokrates blickt Kritias nach der Pforte der Palästra, und da ein großer Schwärm von Jünglingen hereindrängt, antwortet er: „Was die Schönen anbelangt, Sokrates, so wirst du sogleich selber sehen. Denn diese da, die eben hereinkommen, sind gerade die Vorläufer und Verehrer dessen, der, gegenwärtig wenigstens, als der Schönste gilt." Er nennt ihm den Charmides, den Sokrates vor seiner Abwesenheit von Athen noch als Knaben kennen lernte, und während er noch rühmt, wie groß und schön er inzwischen geworden, tritt der Gepriesene selbst ein. Da bekennt Sokrates, daß er kein Kritiker der Schönheit sei, denn in ihrer Blütezeit erschienen ihm fast alle Epheben schön. „Aber Charmides erschien mir da wunderbar an Größe und Schönheit. Auch die andern schienen mir alle in ihn verliebt, so erschüttert und verwirrt waren sie, als er eintrat, und viele andere Verehrer folgten ihm noch nach. Bei uns Männern war das ja weniger verwunderlich, aber ich bemerkte auch an den Knaben, daß keiner von ihnen, auch die kleinsten nicht, den Blick von ihm verwandte: nein alle schauten auf ihn wie auf ein Götterbild!" Da Sokrates entzückt ist von seinem schönen Antlitz, schwärmt Chairephon: „Wahrlich, wenn er sich entkleiden wollte, würdest du ganz vergessen, daß er ein Antlitz hat, so vollkommen ist die Schönheit seiner Gestalt." Da alle andern ihm zustimmen, ruft Sokrates: „Beim Herakles, so muß dieser Mann ja unwiderstehlich sein — wenn etwa nur noch ein Einziges Kleines sich an ihm findet!" — „Was doch?" fragt Kritias. „Wenn dazu kommt, daß er auch der Seele nach wohlgewachsen ist", erwidert Sokrates. „Ja, auch der Seele nach ist er sehr schön und gut", bestätigt Kritias, worauf Sokrates vorschlägt, sie wollen dann doch eher als die leibliche Gestalt die Seele entkleiden und anschauen — sei er doch ganz in dem Alter, gern an einem Gespräch teilzunehmen . . . Das ist das Ziel: „Kaloskagathos", Schönheit an Leib und Seele. Piaton legt den Ton auf die „Seele", woraus der Irrtum entstand, der alle späteren Entwicklungen kritiklos schon auf die frühe Keimpflanze überträgt, daß Piaton der große Dualist sei: Er schmähte Leib und Erde and liebte Seele und Jenseits, er suchte Begriff und Erkenntnis und verachtete die Sinne und die Tat. Da der „Phaidon" — und er allein — diese Auffassung zu begründen scheint, so ist jedes andere Gespräch zu 85
befragen, ob es sie bestätige oder widerlege. Dazu gehört, daß man niemals die Platonischen Worte voreilig gleichsetzt unseren konventionellen Begriffen, sondern sie zurückverfolgt zum lebendigen Grunde, bis man erkennt, was das Wort im Munde der Person, der Satz im Organismus des ganzen Gespräches bedeutet und ist. Kein Gespräch zeigt schöner als „Charmides", was für Piaton der Leib ist. „Kalos" ist nicht nur Schönheit des Körpers, sondern ebenso der Seele (wie Kritias Antwort beweist), gleich wie agathos nicht nur Wertnorm der Seele, sondern zugleich Tauglichkeit des Leibes und des Werkzeuges meint. Wohl geht das Kalon von der sinnlichen Erscheinung aus, da aber (Sokrates' Antwort) das „Anschauen" auf das geistigseelische Auge übertragen wird, so mündet das Kalon in das höchste Wertmaß und wird zum Edlen schlechthin (160 D). Umgekehrt das Agathon. Es ist das Ziel alles Strebens schlechthin und ebenso die Tauglichkeit des Mittels: darum sinkt es, wo es nicht vom Leben und Denken der Gemeinschaft als höchste Einheit erhoben und bewahrt wird, auf die Ebene des dem Individuum Vorteilhaften, der gemeinen Nützlichkeit („Gorgias"). Kalos heißt edel an Leib und Seele, agathos durch Charakter und Körper tüchtig. Dann dient die konventionelle Rede von „Ästhetik" und „Ethik" zu nichts anderem, als den Blick auf das Wesentliche zu sperren. Der Leib ist nicht toter Stoff, er ist beseelter Organismus, er ist also die Einheit selbst von Seele und Körper. Nur deshalb vermeidet Piaton nicht überall mißverständliche begriffliche Ausdrücke, weil damals die Gefahr eines Auseinandertretens von Körper und Seele, die das geistige Leben des späten Europa schädigt, noch wenig bedrohlich schien. (Vgl. aber Nikias und Ladies.) Darum unterscheidet er nicht zwischen stofflichem Körper und beseeltem Leibe: beides heißt Sorna. Nun aber liegt es im Schweregesetz des Körpers, daß er in trägeren Zeiten leicht das Übergewicht über die flüchtigere Seele gewinnt. In Athen, auf dem Gipfel sinnlicher Kultur, hatte Piaton nicht nötig, auf den Reiz der körperlichen Schönheit zu weisen, wohl aber zu warnen, über ihr die Schönheit der Seele nicht zu vergessen. Daß aber auch die seelische Schönheit sich nicht anders ausdrückt als in leiblichen Erscheinungen, das ist die lebendige Ur-Gegegebenheit, die hier den Namen Charmides trägt. Die Entscheidung heißt wieder nicht Wissen gegen sinnlichen Instinkt, sondern Wissen als höchste und gereinigte Form des Instinktes . . . Gern ist Kritias bereit, das Gespräch zwischen seinem Mündel und Sokrates einzufädeln. Er schlägt vor, Charmides unter dem Vorwande zu rufen, daß der Gast ein Mittel gegen sein Kopfweh wüßte, und fragt Sokrates, ob er Bedenken gegen diesen kleinen Betrug habe. „Durchaus nicht", antwortet dieser, „wenn er nur kommt". Charmides tritt zur Bank. Da alle seine Nähe wünschen und ihm eifrig Platz machen, reicht die Bank nicht aus. Der letzte am einen Ende muß aufstehen, 86
der am anderen Ende wird zur großen Heiterkeit der andern platt auf den Boden geworfen. Charmides setzt sich zwischen Kritias und Sokrates. Dieser bekennt, was er dabei empfindet: „Da aber, mein Freund, war ich es, den sogleich die Verlegenheit ergriff, und es war aus mit meiner früheren Kühnheit, mit der ich mir zugetraut hatte, so ganz unbefangen mit ihm zu reden. Als dann gar Kritias zu ihm sagte, daß ich es wäre, der das Heilmittel wüßte, und er mit einem unbeschreiblichen Blick mir ins Auge sah und anheben wollte zu fragen, und als in der Palästra alle zu dichtem Kreise um uns zusammenströmten: da, mein Teuerster, blickte ich ihm auch unter sein Gewand, und die Flamme schlug in mir auf, und ich war nicht mehr bei mir. Und ich gedachte, wie sehr sich Kydias auf die Liebe versteht, da er jemanden vor einem schönen Knaben warnt: ,Es hüte das Reh sich, vors Angesicht zu treten des Löwen, um Anteil der Beute zu fordern, daß es nicht selbst zur Beute werde.' Schien ich mir doch selbst von einem solchen Raubtier gepackt zu sein." — Ist das Ernst oder Ironie? Erst „Symposion" und „Phaidros" erzählen von Piatons umschmelzender Leidenschaft, zugleich aber im Bekenntnis des Alkibiades von der strengen und unbedingten, den damaligen Athenern fast unbegreiflichen Selbstzucht des Sokrates. Der Dialog handelt von der Sophrosyne, der Besonnenheit und Selbstbeherrschung, und Sokrates muß das stärkste Vorbild auch dieser Tugend sein. Das ist nur möglich, wenn er starke Begierde fühlt, deren Bändigung hohe Kraft fordert. Die Erregung und Verlegenheit wird von Sokrates in heiterer Selbstironie übertrieben, aber schal wäre diese Ironie, wenn sie nicht die wirkliche Leidenschaft voraussetzte. Sokrates wird durch die Schönheit bis in die äußersten Adern seines Blutes und Geistes erschüttert, darum wirbt er um die schönsten Jünglinge wie hier um Charmides. Das ist der Stein des Anstoßes. Nicht des moralischen, denn so spießbürgerlich will heute niemand scheinen, daß er an der Verehrung der nackten menschlichen Schönheit Anstoß nimmt. Jeder sehnt sich da wenigstens nach antikischer Unbefangenheit, und kaum einer erdreistet sich, in Piatons Werk bei aller sinnlichen Glut die reinste Luft und das sittenstrenge Maß zu bezweifeln. Nicht im Moralischen nimmt man Anstoß, sondern an der wunderbaren Verknüpfung der Philosophie, die man doch ein wenig krampfhaft der objektiven Wissenschaft gleichsetzen möchte, mit leiblicher Schönheit. Was hat diese zu tun mit der schwerfälligen Dialektik des Sokrates? Ist das sachlich gerechtfertigt oder zufällig-individuelle Eigenart, oder ist es gar artistische Allegorie der begrifflichen Wahrheit? In der Tat, der Eros zu leiblicher Schönheit bleibt fremdes Element, wenn man in der Sokratisch-Platonischen Philosophie nur exakte Wissenschaft sucht. Wenn man die Philosophie aber als schöpferische Begier erkennt, auf der Erde die Schönheit zum Siege zu führen, die Gottheit zu verleiblichen, dann ahnt man etwas von 87
diesen naturhaften Zusammenhängen. Auch die Anerkennung Platans politischer Leidenschaft genügt nicht: Erst in der Erschaffung des vollkommenen Menschen findet seine Leidenschaft ihr ebenbürtiges Ziel — und dafür kann auch der Staat nur Mittel sein. Die Anfangsfrage ist nicht zufällig, sondern gültig für Piatons Lebenswerk: die Frage nach der Philosophie und den schönen Jünglingen, denn beides vereint wäre die Vollendung, die dem Sokrates selbst die Natur versagt hat. Wohl kann ein Häßlicher durch Geist und Leistung Träger der geistigen Bewegung werden. Wohl kann — wie oft! — der Schöne im Dienste versagen: aber immer ist der Schöne nicht nur leibliches Abbild der Vollkommenheit, sondern er allein kann die Hoffnung wecken, den Vollkommenen zu zeugen. Im Augenblick nämlich, in welchem der wahrhafte Kaloskagathos die Herrschaft der Erde gewänne — würde die Erde für Piaton vollkommen. Die Schönheit ist der Funke, der den Brand der Philosophie entfacht. — Charmides also fragt Sokrates nach dem Heilmittel und zeigt dabei, daß er Sokrates schon kennt, denn „unter uns Altersgenossen ist nicht wenig die Rede von dir". (So reden die Knaben, wie auch im „Ladies", viel von dem doch lange abwesenden Sokrates.) Sokrates sucht nun den Übergang vom Kopfschmerz des Charmides zum philosophischen Ziele — nicht schwer für den, dem Philosophie und Eros, Seele und Leib eine Einheit bilden. Allerdings habe er das Heilkraut, aber mit dem habe es besondere Bewandtnis: zu seiner Wirkung ist noch ein Zauberspruch nötig. Dies Mittel stammt von Zalmoxis, dem Gottkönig der Thrakier. Auch die griechischen Ärzte wissen, daß sie das erkrankte Auge nicht für sich behandeln dürfen ohne den ganzen Kopf und den erkrankten Kopf nicht ohne den ganzen Körper, aber Zalmoxis war weiser und lehrte, daß man den kranken Körper nicht behandeln dürfe ohne die Seele. Die Behandlung der Seele aber geschehe durch Zaubersprüche — das seien die schönen Reden, denn sie bewirken die Besonnenheit, und wo die Seele besonnen sei, da sei die Heilung des Körpers leicht. Niemanden dürfe der Arzt behandeln, der ihm nicht zuerst die Seele zur Behandlung biete. Er selbst habe geschworen, von dieser Vorschrift nicht abzuweichen. Wenn Charmides zuerst die Seele besprechen lasse, so wolle er ihm danach das Heilkraut auf den Kopf legen — wo nicht, so werde er ihm nicht helfen können. Die Bedeutung dieser Stelle ist anscheinend bisher übersehen. Piatons Ruhm ist das Dogma von der unsterblichen Seele, und dies scheint den Leib zu entwerten. Aber Piatons Werk richtet sich fast ganz auf irdisches, auf staatliches Leben, — und dafür gibt die Lehre des Zalmoxis (der ja selbst die Unsterblichkeit lehrt) das erleuchtende Bild: der Körper ist das Organ der Seele, wie das Auge das Organ des Kopfes. Körper und Seele sind eine Einheit (die w i r als Leib bezeichnen), aber die Kraft der Einheit, die Führung des Ganzen ruht in der Seele. (Weniger wichtig ist bei Piaton 88
die Lehre, daß die Seele auch ohne Körper bestehen kann, worin die christliche Anschauung oft die Hauptsache sehen will.) So steht der Zweck des Gespräches fest: in Charmides soll die Besonnenheit erweckt werden. Gegeben ist das Thema: Was ist Besonnenheit, Sophrosyne? Diese Untersuchung beginnt im Gegensatz zur abstrakten Methode mit dem leibhaften Versuch. Sokrates fragt, ob Charmides denn die Besonnenheit besitze, und als ihm Kritias das eifrig mit hohem Lobe bestätigt, begünstigt er den Stolz des Epheben weiter durch die Erinnerung an seine adlige Herkunft. Wenn Charmides also die Besonnenheit schon besitze, sei die Besprechung nicht nötig, und er könne das Heilmittel sogleich auflegen. Also befragt er Charmides selbst, ob er genug Besonnenheit besitze oder ihrer noch bedürftig sei. Eine schwere Probe f ü r den Abgott der Palaistra, nach solchem Lobe. Seine Antwort ist leibhaft: er errötet. „Da wurde Charmides zuerst rot und erschien nur noch schöner, denn diese Schamhaftigkeit stand seinem Alter wohl an. Dann aber war auch seine Antwort nicht unedel." Er sagte nämlich, Bejahung und Verneinung der Frage falle ihm gleich schwer. Denn wenn er sich unbesonnen nenne, so scheine das unnatürlich, und er strafe Kritias und viele andere Lügen, wenn er sich aber selbst lobe, so scheine er anmaßend. Mit dieser Antwort macht uns Piaton unsere eigne Unwissenheit bewußt, durch die wir zwischen besonnen und unbesonnen schwanken. Wir werden mitgerissen in die Untersuchung, die doch aporetisch enden wird. Gehört nicht zum Wesen der Besonnenheit die Besinnung, was sie selbst sei? Charmides soll sie erklären, und er versucht: eine Art Ruhe, gemessene Haltung in Gang und Rede. Sokrates hat anderen Geschmack und findet meist die schnellen und starken Handlungen, leibliche und seelische, schöner als die langsamen. Die Schönheit aber ist f ü r Leib und Seele als höchster Wert anerkannt! Charmides ging von der ä u ß e r e n Haltung aus, darum leitet ihn Sokrates: „Noch einmal, Charmides, schärfer spanne deinen Geist, um i n d i c h selber hineinzuschauen, und erwäge, wozu diese Besonnenheit dich macht und wie sie wohl sein muß, um dich dazu zu machen. Das alles denke zusammen, und sage recht und kühn, als was sie dir erscheint." Und nach solcher Wesenschau findet dieser, sie sei etwas wie Aidos, Scham oder Ehrfurcht. Darin erweist sich das Gespräch als Parallele zum „Ladies". Ladies und Charmides, die beiden Namengebenden, stellen die gesuchte Tugend leibhaft durch Anlage und Haltung dar, sie haben eine Vorstellung von ihr und können doch die eifrigst gesuchte Erklärung nicht finden. Das aber liegt nicht daran, daß ihnen nur die klare Bewußtheit ihrer Eigenen fehlt — denn die Unbewußtheit allein könnte wohl eine weitere Schönheit der Arete bedeuten — sondern es liegt in der Weltstunde beschlossen, daß die Tugenden ohne Erkenntnis der neuen Lebensnorm gar nicht verwirklicht werden können. Darin schießt der 89
Sinn aller aporetischen Gespräche zusammen: Sokrates fordert in Wirklichkeit gar nicht die Bewußtheit der Tugenden, weil diese f ü r sich genommen gar nicht denkbar ist, sondern er fordert die Erkenntnis des höchsten Lebensbildes, in dem alle Tugend und alle Erkenntnis ihren Halt finden. Darum hebt Sokrates, sehr undidaktisch aber sehr pädagogisch, das Richtige an der Erklärung des Charmides gar nicht heraus. Die Aidos trägt Charmides wirklich in sich, sowohl als Ehrfurcht, wie auch, wenn wir Xenophon glauben dürfen, als Schüchternheit vor der Öffentlichkeit. Das Vorhandene, vielleicht zu stark Vorhandene, braucht Sokrates nicht erst noch anzuerkennen: er will den Mangel zeigen. So scheut sich Sokrates nicht, Aidos im niederen Sinne aufzufassen und die Erklärung mit der Erinnerung zurückzuweisen, daß Aidos als Scheu und falsche Scham am notwendigen Werke hindern kann. Nun schlägt Charmides eine Erklärung vor, die er von einem anderen gehört habe, ohne sie schon verstehen zu können: die Besonnenheit bestehe darin: „das Seinige zu tun." „Du Schelm", unterbricht ihn Sokrates, „von Kritias hast du das gehört oder von einem andern der Weisen." „Von einem andern offenbar — von mir wenigstens nicht", wehrt Kritias sofort ab. Charmides weiß also nun, daß Kritias nicht verraten sein will und antwortet klug: „Aber Sokrates, was macht es denn aus, von wem ich es gehört habe." Sokrates muß zugeben, es mache nichts aus. Ja er spricht hier den „allgemein" (zeitlos und raumlos) gültigen Satz der objektiven Erkenntnis aus: Niemals nämlich darf man darauf sehen, wer etwas sagte, sondern ob es wahr ist oder nicht. — Bedenklich ist nur, daß Laches ganz anderer Ansicht war und der blassen Allgemeingültigkeit die gegenwärtige Wirklichkeit entgegensetzte, daß es auf den Mann ankomme, der das Wort sage. Sogleich zeigt sich, daß auch Sokrates jenen Grundsatz hier gar nicht ernst nimmt, sondern ihn als Kriegslist benutzt, um (im Widerspruch zu ihm!) den Urheber der Erklärung aus dem Bau zu locken. Er zieht jene Erklärung, die gar nicht fern ist der Platonischen Wahrheit, mit sophistischer Kunst ins Lächerliche. Charmides wird an ihr irre und wünscht brennend den Wettkampf zwischen Sokrates und Kritias. Er will weder den Vetter verraten noch auf den Redekampf verzichten, so wählt er den Mittelweg, indem er mit gelinder Bosheit Kritias aufstachelt: „Es wäre doch möglich, daß jener Erklärer selbst nicht wußte, was er meinte." Dabei lächelt er und blickt auf Kritias, ihn so verratend. Nun kann sich Kritias nicht mehr halten, da ihn längst der Ehrgeiz peinigt, vor den Jünglingen zu glänzen. Er bekennt sich zum Satz und will ihn vertreten. Dies scherzhaft-kleine Beispiel erinnert an die Platonische Haltung im Leben überhaupt. Wohl sucht er die Wahrheit als ewige, in sich gültige Idee, aber ganz unmöglich ist es, diese Idee rational auszu90
sprechen oder gar durch rationale Erwägungen zu finden. Sie bleibt an die Persönlichkeit gebunden, und erst dann ist der Versuch erlaubt, sich ihrer Deutung zu nähern, wenn im Agon der lebendigen Gespräche sich gezeigt hat, welcher Führung man vertrauen darf. Sokrates, der Führer, kämpft mit Kritias, dem Verführer, um die Seele des Charmides, und bis der andere bereit ist, die Führung des Weisen anzuerkennen, darf dieser das eingebildete Wissen selbst mit sophistischen Mitteln erschüttern. Nun beginnt der eigentliche Streit um das Wesen der Sophrosyne, ergebnislos eben, weil es ein Streit ist, weil Kritias (wie Protagoras) nicht geführt werden, sondern glänzen will. Kritias steht auf der Wende, von der Sokratischen Ebene auf die sophistische zu sinken. Darum ist diese Untersuchung schwierig und ihre Deutung sehr widerspruchsvoll. Dennoch verbildlicht sich die Einheit des Platonischen Gesamtwerkes besonders schön in diesem Beispiel, zumal die Lösung dieser frühen Aufgabe, die Piaton sichtlich schon weiß, wohl nahelegt, aber nicht ausspricht, von ihm wörtlich an seinem Lebensende, im „Timaios" gegeben wird: Besonnenheit sei: d a s T u n u n d E r k e n n e n d e s S e i n i g e n u n d s e i n e r s e l b s t . (72 A.) Das sind die drei Teile der richtigen Erklärung, die schon der unruhige Kritias in die Hand nimmt und doch nicht vereinen kann. Diese Formel muß das Rätsel lösen. „Das Seinige tun" ist ja die erste Erklärung des Kritias. Er entspricht Nikias, wie Charmides dem Laches: Intellektuell vertritt er den Platonischen Grundsatz und scheitert doch, weil er seinem Instinkte nicht entspricht, weil ihm die wahre Sophrosyne nicht im Blut liegt. „Was ist das Meinige" ist die notwendige Frage, die sich an seine Erklärung anschließen muß. Wie Nikias antwortete Kritias mit der Erweiterung der Sophrosyne, die sie der Tugend überhaupt gleichsetzt: sie ist „das Gute tun". Ein richtiger Hinweis auf die Platonische Tugendlehre, die Einheit der Tugend — nur daß ihn Kritias selbst nicht nutzt. (163 E.) Sokrates hilft ihm, daß die Erkenntnis seiner selbst oder des Seinigen vorausgehen muß. Wieder ganz Platonisch stellt Kritias das Apollinische „Erkenne dich selbst" als Tafel auf, aber er ist nicht fähig, das Tun und Erkennen zu vereinen und gibt darum seine erste richtige Erklärung auf, um jetzt die Besonnenheit auf die Selbsterkenntnis zu b e s c h r ä n k e n . (165 A.) Die Lösung liegt nahe: Kritias muß nur beides, Erkennen und Tun, zusammenfassen und dann allerdings über der Sophrosyne noch die Erkenntnis des Guten, auf das er eben schon gewiesen hat, anerkennen. Und dahin will ihn Sokrates mit der Frage führen: Die Sophrosyne als die Erkenntnis seiner selbst — welches schöne Werk bewirkt sie uns? (165 D.) Kritias aber, der wie Protagoras die Untersuchung als Wettkampf mißdeutet, vermutet eine Falle des Sokrates und weicht nach der entgegengesetzten Seite aus: er übersteigert den 91
Begriff Erkenntnis, statt ihn Platonisch auf das Werk zurückzubiegen, in die äußerste Erkenntnis um ihrer selbst willen. Diese Deutung gründet nicht nur in jener Timaios-Stelle, sondern auch in Kritias' Antwort. Er wirft Sokrates vor: „Du gehst nur darauf aus, midi zu widerlegen, und kümmerst dich nicht um das, wovon die Rede ist." (166 C.) Solcher Vorwurf einem Sokrates gegenüber kann nur Platonische Ironie sein: gerade in diesem Augenblick versucht Sokrates fast gewaltsam den Eitlen ans Ziel zu führen. Besonnenheit ist nun nach Kritias nicht mehr Erkenntnis s e i n e r selbst, sondern i h r e r selbst, sie ist nur noch Erkenntnis der Erkenntnis als solcher. Wenn doch das Führende und Wesentliche im Menschen die Erkenntnis ist, dann scheint wirklich die Erkenntnis der Erkenntnis die höchste Selbsterkenntnis zu sein. Von vielen Platon-Deutern, besonders den Neu-Kantianern, müßte diese Erklärung sogar gebilligt werden. Es sind drei Momente dieser übersteigerten Erkenntnis: eine äußerste Abstraktheit (sie soll ja auf jeden Gegenstand verzichten, allein die Erkenntnis als solche betrachten) — die Erkenntniskritik — und die Erkenntnis um ihrer selbst willen. Wie überraschend, daß, logisch betrachtet, Sokrates das Gewicht auf den zähen Kampf gegen die Erkenntniskritik legt! (165 C—175 D.) Sokrates versucht, zu beweisen, eine solche Erkenntniskritik sei unmöglich! Diese Ablehnung beweist, da sie logisch kaum haltbar ist, wie verhaßt jene Piaton sein muß. Sokrates will denn auch die Frage in der Schwebe lassen, ob sie m ö g 1 i c h sei, und legt als höchstes Wertmaß dies an, ob sie denn, wenn sie möglich wäre, nützlich sein würde! Logisch klingt es verlockend, die Spitze der Wissenspyramide mit der Erkenntnis der Erkenntnis, einer Art „Wissenschaftslehre", zu krönen. Piatons Feindschaft gegen diese Erkenntnis, die sich in sich selbst befriedigt, muß in der Persönlichkeit wurzeln, und sie wird uns anschaulich durch das Gegenständliche, mit dem er jene Abstraktion verdrängt. Zuerst das kritische Urteil des Staatsmannes, der in jedem Menschen das Wissen ( = Können) und Nichtwissen erkennt und darum jeden Posten in Staat und Wirtschaft mit dem fähigsten Manne besetzt. „Und so würde, von der Besonnenheit verwaltet, das Hauswesen wohl verwaltet sein und der so regierte Staat und alles andere, worüber Besonnenheit herrschte." (171 E.) Aber selbst dies Lob zieht Sokrates zurück. Kritias staunt und — scheinbar sehr Sokratisch — erwidert er: „Wahrlich nicht leicht wirst du ein anderes Ziel des Gut-Lebens finden, wenn du das Erkenntnismäßig-Leben gering schätzt." Dies ist doch in der Tat das Sokratisch-Platonische Leben, und die Scheidung von Wissen und Nichtwissen schien bisher das hohe Richteramt des Sokrates. Aber dieser treibt Kritias zur nötigen Ergänzung: nicht Erkenntnis schlechthin, sondern allein die Erkenntnis des Guten und Üblen gewährt den höchsten Nutzen, den des Glückes, der Eudaimonia. Denn ohne sie weiß 92
jeder Fachmann, was für seine Zwecke richtig ist, aber ob sein Tun im Ganzen zu Heil oder Unheil ausschlägt, kann er nicht beurteilen. (174 B, C.) Der Ton, mit dem Sokrates die Antwort des Kritias begrüßt und auslegt, zeigt an, daß damit die Lösung ganz nahe ist. Irrig ist die Deutung, daß Besonnenheit und Erkenntnis des Guten gleichgesetzt werden. Alle „Tugenddialoge" zeigen, daß zwar ohne diese keine Tugend möglich ist, aber sie enden darin, daß die einzelnen Tugenden doch nicht identisch sein können. Sie bilden („Protagoras") eine organische Einheit wie die Teile des Gesichtes. Wie auch moderne Kritiker weist Kritias Sokrates' Hilfe ab, der das E r k e n n e n mit dem Tun verknüpfen will. Darauf deutet das Ende. Kritias will seine Erkenntniskritik ( = Besonnenheit) noch über die Erkenntnis des Guten setzen. Das lehnt Sokrates ab. Man darf schließen: die Erkenntnis des Guten ist der Gipfel, der Halt allen Denkens und Tuns, die Besonnenheit liegt unter ihr. Alle Tugendgespräche zielen auf Erfüllung in der Gestalt Sokrates, auf die Lehre im „Staat". Dieser gibt zwar nicht so wörtlich die Antwort wie der Timaios, dafür um so anschaulicher. Die Besonnenheit setzt die Weisheit, die Erkenntnis des Guten — und die dumpfen Triebe voraus, sie besteht darin, daß die Begierde sich der Weisheit unterwirft. Sie ist im Staat besonders die Tugend des unteren Standes, der sich von den Philosophenkönigen beherrschen läßt. Sie ist die Tugend der Jünglinge, die vom Weisen lernen. Sie ist die Tugend jedes Menschen, der in sich selbst die Begierde dem Geist unterwirft. So ist Sokrates im „Charmides" Vorbild der Besonnenheit, denn in seiner erotischen Leidenschaft unterwirft sich die Lust dem geistigen Schöpferwillen, aber als der Weise ist er Herrscher der Besonnenen. Kritias, der Kluge, dient dem Weisen nicht — die Eitelkeit zernagt seine Besonnenheit. Charmides, der Jüngling, bedarf der Besonnenheit am meisten, und er stellt sie leibhaft dar, anfangs als oberflächliche doch anmutige Scheu, zuletzt, da er am Abstand des Sokrates seinen eigenen Mangel empfindet, in der Überwindung der knabenhaften Scheu, in seiner beglückten Hingabe an den Genius. So schließt das Gespräch schön gerundet wie nur wenige mit dem Bilde des Froh-Gewonnenen. Der Zauber des Weisen, der die Jünglinge weckt, diese Charis, die zwischen beiden waltet, hat hier die heiterste Farbe, denn Piaton liebt die schalkhafte Kühnheit als Begleiterin der Sophrosyne. Die einmal gewonnenen Jünger sind so eifrig, daß sie nicht folgen, sondern Sokrates mit Gewalt vorwärts zu treiben scheinen. (Apologie. Staat.) Charmides flüstert dem Vormunde den Entschluß zu, von nun an täglich Sokrates zu folgen, und Kritias hat damals trotz seiner Eitelkeit noch die edle Besonnenheit, ihn in seinem Entschluß zu bestärken. Sokrates fragt, was sie beraten, und Charmides scherzt: „Nichts mehr, denn unser Beschluß ist schon gefaßt." „Wie, mit Gewalt?" fragt Sokrates, „ohne mir die Wahl zu lassen?" „Mit Gewalt, denn mein Vormund befiehlt es ja. Beschließe 93
also auch du darauf, was du tun wirst!" „Da bleibt ja", antwortet Sokrates, „nichts mehr zu beschließen. Wenn du nämlich etwas erreichen willst und gar noch mit Gewalt, dann wird kein Mensch imstande sein zu widerstehen." Das „Erkenne dich selbst" des Delphiers, das dies Gespräch beherrscht, hat das Mißtrauen großer Denker, wie Goethe und Nietzsche, erregt. Aber Piaton verbietet jede Zergrübelung, und sein Maß bleibt immer der leibhafte Mensch, das Geschöpf des Weltganzen. Für ihn gibt es nicht die Formel „Ich und die Welt", denn weder das Denken noch der Mensch stehen frei neben der Welt. Das Tvio^i aauxov am Tempeltor heißt: Schau auf Gott und erkenne, daß d u nur Mensch bist. Oder ins Platonische übersetzt: Schau auf die Idee des agathon und ordne dich im Staat auf die dir gebührende Rangstufe. Charmides soll in sich schauen — während er zugleich auf Sokrates schaut: Da überfällt ihn die Ahnung fremder Weisheit, und er beugt sich gern in den Dienst, der ihm die Erhöhung eigenen Ranges verheißt. Das bedeutet, daß Piaton die Sophrosyne der Jünger fordert, um Führende zu werden — wie er in der Politeia die Sophrosyne des ganzen Adels, ja des Volkes fordert, damit der Staat entstehe. — Das ist die Schwelle zur Platonischen Lehre. Das zweite ist die Steigerung der Sokratischen Gestalt. Kritias und Charmides gehörten zu den verhaßten Tyrannen, und es ist ein Wagnis, Sokrates gerade im Verkehr zu zeigen, der als Begründung seiner Verurteilung mit angesehen wurde. Das Gespräch aber lehrt, daß Kritias niemals jener Tyrann geworden wäre, wenn er sich Sokrates' Führung anvertraut hätte. Charmides dagegen war durch die Beteiligung an der terroristischen Regierung wenig belastet. Piaton selbst hatte sich anfangs jener Regierung angeschlossen, und daß Charmides, nachdem er sich einmal Kritias angeschlossen, mit ihm stand und fiel, wird ihm kaum ein Athener zum Vorwurf gemacht haben. Er mußte fallen, aber sein persönliches Andenken blieb unbefleckt. Das beweist Xenophon, der, um Sokrates zu reinigen, behauptet, daß Kritias niemals sein echter Jünger war, während er gerade in Charmides den edlen Anhänger, der sogar von Sokrates zur Politik getrieben wird, darstellt. Das dritte ist, daß Piaton sichtbar in die Gestalt und den Rang des Meisters hineinwächst. Zum ersten Male deutet dies Gespräch auf den ihm durch Geburt und Schicksal angemessenen persönlichen Führungsanspruch. Charmides ist Oheim Piatons, und der Ruhm seines adligen Geschlechtes wird kaum weniger von diesem Gespräch bestrahlt als die persönlichen Vorzüge. Sokrates sagt zu ihm: „Ich glaube, daß schwerlich irgendein anderer hier unter uns würde ausweisen können, aus welchen beiden Athenischen Häusern sich ein schönerer und besserer Sproß erwarten ließe als aus den beiden, von denen du stammst" 94
(157 E). Jeder Athener, der diesen Satz hört, denkt daran, daß Piaton selbst aus diesem Solonischen Geschlechte stammte! Weiter sagt Kritias von seinem Vetter: „Er ist philosophisch und, wie die andern und er selbst glauben, sehr dichterisch." (154 E.) Worauf Sokrates antwortet: „Dies Schöne, mein lieber Kritias, eignet euch schon von lange her durch die Verwandtschaft mit Solon", und er verlangt, sogleich den Charmides zu sprechen. Piaton ist dem Charmides so nahe verwandt wie Kritias, und so gehörte er zu dieser Dreiheit, auch wenn diese Zusammenstellung philosophisch und dichterisch' nicht unmittelbar an ihn erinnern müßte. Wer in Piatons Werk neben dem Gedankenbau auch die Welt der anmutigen und gewichtigen, fördernden und bekämpfenden, glücklichen und tragischen Gestalten zu schauen geneigt ist, wird nicht verwundert sein über das sichere und feinste Gefühl, in dem Piaton froh im Ruhme seines Geschlechtes auf die eigene Person deutet, kühn genug, gerade die beiden Tyrannen darzustellen, zu stolz, um öffentlich von ihnen abzurücken, zu gerecht, um die attische Demokratie durch diese Darstellung zu reizen! Wunderbar aber ist, wie gerade dies Gespräch (wie auch das nun folgende) keinen Hauch von der Not der Zeit atmet. Es ist der Durchbruch des Platonischen Lebensgefühles, die Stimmung des inneren Sieges. Ob ein bestimmtes Erlebnis vorliegt, wissen wir nicht, aber gefühlsmäßig spürt Piaton — anders als Protagoras, der mit seiner Flöte den Schwärm verführt — den Zauberstab in seiner Hand, mit dem er die besten Jünglinge lockt, das Beste in ihnen zum Leben weckt. Schon fühlt er die Kraft der neuen Lebensform, in welcher er, wie der VII. Brief sagt, das einzige Heil des Staates gefunden hat.
VII.
LYSIS
"Werbung der J ü n g l i n g e um K n a b e n „Laches" und „Charmides" sind im sinngemäßen Aufbau nahverwandt, aber Lebensgefühl und Absicht verschwistern noch enger den „Charmides" mit dem „Lysis": der Himmel des glücklichen Lebensjahres wölbt sich gemeinsam über beiden. Doch bedeutet diese Ähnlichkeit kein Verharren, denn gerade aus dem Bewußtsein mächtigen Vorwärtsschreitens quillt jenes Glücksgefühl. Der Jüngling Charmides, fast noch Knabe, und der Knabe Lysis, fast schon Ephebe, sind durch wenige Lebensjahre getrennt und stehen dennoch zu Sokrates in ganz verschiedenem Verhältnis: sie gehören in der Geisteswelt zwei verschiedenen Generationen an und bedeuten zwei Ringe um die wirkende Keimzelle 95
Platonischen Lebens. Piaton sucht nicht den abgesonderten Freundeskreis, der sich an seinen Werken ergötzt — er will in wenigen Jahren die Gefolgschaft sammeln, die den Staat erneuen soll. Mit vierzig Jahren steht der Grieche auf der Höhe und wirbt um den zwanzigjährigen Jüngling als geistigen Sohn und künftigen Folger (Sokrates und Alkibiades, Piaton und Dion). Die eben gewonnenen Jünglinge erwecken aber in der Freude der Erleuchtung die oft nur wenig jüngeren Knaben, so daß sich Paare bilden, wie sie in der Heiligen Schar zusammengehören. Eine Gruppe der jüngsten Jugend lebt im Gegensatz zum öffentlichen Spiel der großen Gymnasien in der kleinen kürzlich erst gebauten Palaistra, welcher Lysis ihren Glanz verleiht. Im „Charmides" zeigt Sokrates, wie er seine Jünger kürt, im „Lysis" dem erstmals liebenden Jüngling, wie er einen Knaben erziehen soll. Dieser Sokrates Piatons lebt nicht am Markte unter Handwerkern . . . er atmet in vollen Zügen die Luft der Gymnasien. Er kommt gerade von der Akademie und geht den nächsten Weg, ohne das Innere der Stadt zu betreten außen an der Stadtmauer entlang, dem Lykeion zu. An diesem Wege, einer kleinen Pforte der Mauer gegenüber, liegt jene neue Palaistra, die Sokrates noch gar nicht kennt. Wie ist es denkbar, daß ein Sokrates diese Palaistra, zwischen den Hauptgymnasien gelegen, nicht besuchte?! Kein Zweifel, er muß lange von Athen abwesend geblieben sein. Da seine einzige Abwesenheit der Feldzug von Potidäa ist, so ist die Zeit dieses Gespräches bestimmt. Zwischen dem Spiel des „Charmides" und dem des „Lysis" liegen höchstens wenige Tage. Vermutlich ist dieser auch unmittelbar nach dem „Charmides" wohl nach gemeinsamem Plane abgefaßt. (Das gegen den Versuch, ihn in die Nähe des Symposion zu rücken.) Diese kleine Palaistra bedeutet eine Brutstätte des Platonischen Geistes. Wie in „Laches" und „Charmides" so ist auch hier Sokrates' Name im Munde der Jugend, und es unterrichtet ein Verehrer des Sokrates, den dieser als tüchtig anerkennt, wenn auch die Bezeichnung Sophist andeutet, daß er so wenig wie Kritias ein echter Sokrates-Jünger ist. Die Gruppe der Jünglinge, noch im frühesten Jünglingsalter, steht außerhalb des Tores auf der Straße, als Sokrates des Weges kommt. Hippothales, wohl 17 Jahre alt, zum ersten Male von Eros ergriffen und ganz vom Bilde des schönen Lysis besessen, hält Sokrates fest und lädt ihn ein, bei ihnen einzutreten, denn „es werde sich lohnen". Von Sokrates im Einzelnen befragt, erzählt er, daß sie selbst — jene Gruppe der Jünglinge — und „noch viele andere Schöne" hier in der Ringschule zu verweilen pflegen, und an ihren Gesprächen möchten sie am liebsten gerade Sokrates beteiligen. Als Hippothales in ihn dringt, daß er doch jene „andern" drinnen ansehe, weiß Sokrates, der Kenner der Jünglingsseele, daß Hippothales nur seinen Geliebten zeigen will und, überhörend, daß jener von den „vielen" Schönen sprach, fragt er eindeutig, 96
wer denn „der Schöne" sei. Jener, der kindlich vertraulich und mit rechtem Instinkt von Sokrates Förderung seiner Liebe hofft, ist doch zu scheu, den Namen des Geliebten auszusprechen. Ausweichend antwortet er, daß jedem von ihnen ein anderer schön erscheine. Vergeblich! denn Sokrates weicht nicht vom Ziele: „Wer aber denn dir, Hippothales? Das mußt du mir sagen! Er aber wurde rot, da er so gefragt wurde. Und ich fuhr fort: Ja, Hippothales, du Sohn des Hieronymus, das brauchst du mir nicht erst zu sagen, ob du verliebt bist oder nicht: weiß ich doch nicht allein, daß du liebst, sondern daß du tief schon verstrickt bist in die Leidenschaft. Ich bin wohl sonst gering und unnütz, das aber ist mir irgendwie von Gott verliehen, daß ich sogleich den zu erkennen vermag, der liebt, und den, der geliebt wird. Als er das hörte, errötete er nur noch mehr." Da fährt Ktesippos übermütig dazwischen, der etwas ältere Freund, aus vornehmem Geschlecht und von sicherem Auftreten. Er ist philosophisch schon etwas bewandert und läßt den Freund in derber Neckerei seine Überlegenheit spüren, um in dem hilflos Verliebten und Empfindsamen das männliche Selbstbewußtsein zu wecken. „Wie geistreich, Hippothales! daß du jetzt rot wirst und dich sperrst, Sokrates den Namen zu sagen, wo er doch, wenn er nur eine kurze Weile mit dir gesprochen hat, auf die Folter gespannt sein wird, so oft wird er ihn hören! Uns wenigstens, Sokrates, hat er die Ohren gefüllt und taub gemacht mit dem Namen des Lysis . . . " Immer wieder spottet er, wie er mit Reden und Gedichten den Geliebten preise, ja wie sie sogar den Gesang seiner Lieder über sich ergehen lassen müssen. Dabei erfahren wir, daß Lysis von altberühmtem Adel ist, und nicht nur die vielen stadtbekannten Siege des Großvaters, sondern auch die Verwandtschaft des zeusentstammten Geschlechtes mit Herakles, die jener besingt, sind selbst dem niedrigsten Volke längst bekannt. Aber Ktesippos macht sich mit übermütigem Zynismus seiner Jahre lustig über den altmodischen Ruhm und die vorsintflutlichen Geschichten, mit denen der Freund seine überschwengliche Werbung bestreitet. Der „Charmides" hat uns belehrt, daß Piaton auf den Ruhm altadliger Herkunft selber stolz ist, und keine Miene Sokratischer Ironie berechtigt zur Deutung, daß Piaton in Hippothales eine unechte Leidenschaft rügen will. Sokrates hört nicht auf Ktesippos' Spott, denn sobald er erfahren hat, daß Lysis der Geliebte ist, lobt er den Verliebten: „Trefflich, Hippothales, wie durchaus adlig und kühn ist die Leidenschaft, die du da gefunden hast." Das kindhafte Vertrauen des Hippothales ist gerechtfertigt: Sokrates billigt seine Wahl, und nur um seine Liebe zu fördern, verweist er ihm als erfahrener Berater das Ungeschick der ersten Werbung. Wer den Geliebten gewinnen will, darf ihn nicht hochmütig machen durch Lobeserhebungen, sonst macht er das Wild scheu, nach dem er jagt. Und erjagt er es nicht, so ist der Spott um so größer, je mehr er es vorzeitig pries. Erst den Gewonnenen soll man 7 Hildebrandt, Piaton
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preisen. Hippothales kennt sein Ungeschick, darum habe er sich ja Sokrates vertraut und bitte ihn um Rat, wie er sich dem Geliebten angenehm machen könne. Raten sei nicht leicht, meint Sokrates, aber er will es ihm einfach zeigen, er will selbst mit Lysis reden wie ein Jüngling, der um einen Knaben wirbt. Mit dieser Aufgabe ist der Inhalt des ganzen Werkes gegeben, und wieder ist Sokrates sogleich und unbedenklich mit einer Kriegslist einverstanden, wo es gilt einen Schönen zu fangen. Lysis soll durch ein Gespräch zwischen Sokrates und Ktesippos angelockt werden — er hört ja schon gern solchen Gesprächen zu — und Hippothales wird sich hinter den beiden während des ganzen Gespräches versteckt halten, denn in der Zaghaftigkeit der ersten Liebe fürchtet er, daß seine Gegenwart dem Geliebten lästig sei. So ist der szenische Höhepunkt des Kunstwerkes vorbereitet. Sokrates tritt am Arm des Ktesippos in die Palaistra, die andern folgen. Es ist der Hermeientag, das Fest der Knaben, die darum im Innern die Opfer versehen haben, nun aber mit den Jünglingen zusammen sein dürfen. „Drinnen fanden wir die Knaben, die geopfert und die heiligen Bräuche wohl schon vollzogen hatten. Nun spielten sie Knöchelspiele, und alle waren festlich geschmückt. Die meisten spielten draußen auf dem Hofe, aber andere spielten in einer Ecke des Ankleideraumes „Gerade und ungerade" mit sehr viel Knöcheln, die sie aus ihren Körbchen langten. Andere standen um sie herum und schauten zu. Ihrer einer war Lysis. Er stand unter den Knaben und Jünglingen und trug einen Kranz. Durch sein Aussehen zeichnete er sich aus, würdig, nicht allein schön genannt zu werden, sondern schön und gut." Wie ähnlich dem „Charmides", doch wie neu, ja wie unerhört! Immer deutet Sokrates auf den höchsten Anspruch, hinter dem alles Gegenwärtige weit zurückbleibt. Die vollendete Arete ist ja die Weisheit des Staatsretters, die Sokrates selbst noch nicht zu besitzen bekennt. Auch Charmides wird Kaloskagathos genannt, aber von seinen Verehrern, während ihn Sokrates überzeugt, daß er vielleicht die Vorstufe, die Sophrosyne, noch nicht ganz erstiegen habe. Hier aber beim ersten Anblick des Lysis, ohne auf die Leistung zu warten, ohne nur nach dem Wissen zu fragen, allein durch das Bild des nachdenklichen Knaben ergriffen, erkennt ihm Sokrates den Kranz zu: Kaloskagathos, das höchste Ziel, unübersetzbar, da Piaton ja erst allmählich durch sein ganzes Werk in dies Wort die eigene neue Kraft füllt. „Kalos" malt Seele und Leib, es heißt also schön und edel schlechthin. „Agathos" beurteilt die wirkende Kraft und ist im Platonischen Sinne von der höchsten Weisheit nicht zu trennen. Und Sokrates blickt nur auf den dreizehnjährigen Knaben, um Edel tum und Zucht in ihm anzuerkennen! Was man dem Dialektiker Piaton nicht glauben will, was Ladies und Charmides zeigten, das sagt jener schlichte Satz wunderbar klar: Piaton verehrt die Weisheit des Blutes. 98
Das lebendige Geheimnis scheint in diesem Bilde zu ruhen. Ein Grabstein bezeugt, daß dieser Lysis aus adligstem Geschlecht wirklich, lebte, aber sonst gedenkt seiner die Geschichte so wenig wie das weitere Platonische Werk. Piaton muß wohl bei Abfassung des Gespräches gewußt haben, daß Lysis sich nicht in den Sokratisch-Platonischen Dienst eingefügt hat. Wir sind gezwungen, Piaton, wenn wir ihn als Einheit und Gestalt sehen wollen, aus seiner Lebensaufgabe zu deuten, aber hier wird uns bewußt, daß diese Methode den Nachfahren nicht das Letzte enthüllen kann. Hier einmal trifft uns ein Schimmer des Erlebens, das in zeitlicher Sendung, in staatlichem Werke nicht aufgeht. Piaton erblickt in diesem Knaben von edelstem Blute etwas, was er nicht mehr bemessen darf am Dienst in seinem Werke, und wenn jener, der eigenen Stimme folgend, diesem Werke ausweicht, so mag Piaton um den Scheidenden trauern, ohne ihn an der Norm eigenen Lebenswerkes zu messen: das Mal der Vollkommenheit ist seinem Bilde aufgeprägt. . . Sokrates schreitet mit seinen Begleitern an der Gruppe der spielenden Knaben vorbei und gibt sich den Anschein, Lysis nicht zu beachten. Am entgegengesetzten Ende der Halle, wo es ruhig ist, sitzen sie nieder und beginnen ein Gespräch. Hippothales beurteilte den Geliebten richtig, denn Lysis achtet nicht mehr auf die spielenden Gefährten. „Oft wendete er sein Haupt, um zu uns herüberzuschauen, und hatte sichtlich die größte Lust, sich zu uns zu gesellen. Eine Zeitlang war er unschlüssig und wagte nicht allein heranzutreten. Da kommt Menexenos vom Hofe hereingesprungen, und als er mich und Ktesippos gewahrt, kommt er heran und setzt sich zu uns. Da Lysis ihn sah, kam er hinterher und setzte sich auch mit neben Menexenos." . . . Menexenos ist der gleichaltrige Freund des Lysis. Der Freundschaft ist dies ganze Gespräch gewidmet, und ihre wechselnde Bedeutung wird Bild in den Paaren dieses Gespräches. Außer Sokrates finden sich vier Gesprächsteilnehmer, und diese vier bilden zugleich doch vier Paare. Ktesippos und Hippothales, das Jünglingsfreundespaar, Lysis und Menexenos, die Knaben. Aber Menexenos ist zugleich verwandt und vertraut mit Ktesippos und sieht im Älteren den Führer. Die Freundschaft aber, die Sokrates meint, ist eine andere, leidenschaftlichere, erotische. Sie ist hier noch nicht Wirklichkeit, denn Sokrates soll sie ja erst stiften, aber sie ist da als Spannung und einseitige Leidenschaft: Hippothales liebt, und Lysis ist spröde. Wer dies Paar nicht als Mitte des Gespräches im Sinne behält, der kann den wirren Gang des folgenden Gespräches nicht enträtseln. Sokrates richtet an beide Knaben einige vordeutende Fragen — da wird Menexenos zum Opfer gerufen, und Sokrates wendet sich an Lysis allein. Dies erste untersuchende Gespräch — das anmutigste Bild der häuslichen Erziehung in der vornehmen Athenerfamilie — soll den verwöhnten Knaben daran erinnern, daß er noch nichts ist. Er weiß, wie 7*
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die Eltern ihn lieben, und doch darf er weder das Gespann des Vaters noch den Webstuhl der Mutter (ohne Schläge befürchten zu müssen) berühren, was sogar die Sklaven dürfen — wenn sie nämlich dazu ausgebildet sind. Der Knabe muß Fähigkeiten erwerben, „Weisheit" erlangen, dann wird man ihm Rechte einräumen und, wenn er die höchste Einsicht erlangt, ihm auch die Leitung der Stadt übertragen. So zeigt er dem Knaben seinen Mangel, macht ihn bescheiden — aber nicht demütig, da er zugleich seinen Ehrgeiz auf das hohe Ziel richtet. Ein Sokrates kann nicht Kunstgriffe für die Verliebten geben, er muß die Bedeutung der höchsten Liebe, ja diese selbst zum Klingen bringen, darum spricht er zugleich zum Liebenden und Geliebten und allen Jünglingen, die sich um ihn scharen. Man folgt der arg verschlungenen Untersuchung nur, wenn man bedenkt, daß Sokrates zu Knaben redet und darum gleich anfangs die eigentliche Lösung gibt, um dann zu prüfen, wie weit jene diese Belehrung schon auszuwerten verstehen. „Denn wenn du weise geworden bist, Kind, werden alle dir Freund ('.fiAoc) und alle dir verwandt (ofaewc) sein. Denn dann wirst du tauglich und gut sein" (210 C). Das ist nahe Diotimens Lehre, daß es die Idee des Guten ist, um deretwillen der Freund den Freund, in Befruchtung und Empfängnis, liebt! Zwar wird die andre Richtung des Heraklitischen Kreisweges, der Eros des Weisen zum Jugendlich-Schönen, der Phaidros-Eros, hier in Gegenwart der Knaben nicht beredet — daß aber diese bluthafte Liebe, die das Gute im Schönen zeugt, der Urgrund dieses Gespräches ist, besagt der verborgene Hippothales, besagt die Ergriffenheit des Sokrates beim Anblick des schönen Knaben. — Menexenos ist zurückgekehrt, und Sokrates führt die Untersuchung mit beiden Knaben fort. Glücklich preist er die beiden, daß sie so jung schon das hohe Gut der Freundschaft erworben haben, aber die Ironie dieses Lobes fordert eine weit höhere Bewegung. Die spannungslose Spielkameradschaft ist noch kein Wert im Dienst des Sokrates, Spannung und Leidenschaft zu erregen ist seine Sendung. Aus den scherzhaften Einleitungsworten klingt die andere Tonart: Andere haben eine Leidenschaft (Epithymia) für Gold, Pferde und edle Hunde, er aber seit seiner Kindheit die Begierde nach dem echten Freunde. So weist er die Knaben auf bluthafte Triebe, und sein erster Fingerzeig ist es, daß er die eigne Leidenschaft erotisch nennt. (211 D, E.) Dann lockt er Menexenos, der auf seine eristische Geübtheit schon ein wenig stolz ist, durch alle Schwierigkeiten, die sich aus diesem scheinbar so einfachen Begriff der Philia ergeben. Ist das Geliebte das ,Liebe' oder das .Liebende'? Die Erklärung des Menexenos, Freundschaft sei ein wechselseitiger Begriff, klingt befriedigend, paßt aber mehr auf die Freundschaft der Gleichen, die spannungslose Kameradschaft der Knaben und auch der beiden Jünglinge, während Sokrates an Hippothales denkt, dessen Liebe zu Lysis ja noch e i n seitig ist. (Unbegreiflich die Kritik, Piaton habe hier 100
Freundschaft und Eros noch nicht unterscheiden können, da er doch nichts will, als Freundschaft zum Eros steigern.) Nur aus dem UnbedingtHöchsten, der Idee des Agathon empfängt Platonische Freundschaft ihren Sinn. Zwar wird das Wort selbst noch nicht gesagt, aber zum erstenmal scheint dieser höchste Gedanke durch den leichten Schleier. Das Gute ist das wahre Ziel aller Liebe, der Selbst- und Endzweck, bei dem jede Frage nach einem weiteren Zweck sinnlos wird. Wer das Gute vollkommen besäße, der hätte kein Bedürfnis und brauchte keinen Freund, denn er wäre — so ist wohl zu ergänzen — eins mit Gott. Den Weg dorthin aber findet niemand ohne Freunde. — Wie fern dieser antike Eros der christlichen Nächstenliebe bleibt, wird erst der „Phaidros" ganz anschaulich machen. Im „Lysis" deutet nur das geheimnisvolle oixeiov auf das Ziel. Solange der Mensch sich nicht kennt, trägt er doch ein unbestimmtes Ahnen des höchsten Gutes, das er zu verwirklichen fähig wäre, wenn das Geschick ihn riefe, und trifft er den rechten Freund, so empfindet er das in ihm als das Eigene, Verwandte, olxetov. Wahre Freunde sind ähnlich, denn sie bergen in sich das gleiche oixeiov, sind verwandt — aber sie sind nicht gleich, denn einer fühlt es schon als Reichtum, den er schenken muß, der andere als Mangel, der nach Erfüllung sucht. Das scheidet den Eros von Kameradschaft. Diesen Sinn der langen Untersuchung will Sokrates aber die Knaben nur ahnen lassen, denn immer wieder verwirrt er durch logische Schwierigkeiten das nahe Ergebnis, bis er schließlich bekennt, bei dieser Verworrenheit werde ihm ganz schwindelig. (216 C). Jetzt spüren sie zum ersten Male die Schwierigkeiten des Geistes, zugleich aber die Möglichkeit, durch den Geist in eine ungeahnte Welt des Gefühles geführt zu werden. In der Tat wäre diese logische Untersuchung nicht allzu erfreulich, wenn sie nicht anschaulich würde als Gebärde des Großen in seinem bezaubernden Umgange mit anmutigsten Knaben. Unbegreiflich ist die Verkennung, daß Piaton damit den liebenden Jünglingen eine Rüge habe erteilen wollen, weil jeder Leser sie selbst ergänzen könnte. Noch die Gesetze besagen, daß Eros gesteigerte Philia ist. (837 A.) Der Gegensatz ist die sexuelle Begierde zwischen Genossen des gleichen Geschlechtes. Die Verliebtheit des Hippothales ist nicht solche Begierde, sie ist die noch ungeklärte Vorstufe des bluthaften echten Eros — sonst hätte unmöglich Sokrates seine Liebe gepriesen und ermuntert. Der „Lysis" spielt wie der „Charmides" in der vornehmsten Gesellschaft und ihrer strengen Jugendüberwachung, und wenn diese Jünglinge von einer begehrlichen Knabenliebe der Spartaner wußten, so darf man nicht folgern, daß die unbefangene Äußerung des Eros zumal im besonders jugendlichen Kreise dieser Palästra von solcherlei Absichten berührt sei. (Vgl. Xenophons Gastmahl.) Wie anders hätte sonst Sokrates noch mitten im Gespräch sich nach Hippothales umwenden können, um ihm zu sagen: „So, Hippothales, muß man mit dem Liebling reden." (Doch fällt ihm 101
ein, daß er jenen nicht verraten soll.) Wohl ist Ktesippos im Geistigen Führer des Menexenos, aber Träger der erotischen Spannung ist nur Hippothales . . . Im „Laches" taucht hinter der Tapferkeit das Gute als W i s s e n auf, im „Charmides" hinter der Besonnenheit das Gute als T u n . Diese künstliche Verschränkung, in der tathafteste Tugend mit Erkenntnis, besinnlichste Tugend mit Auswirkung des Guten verbunden ist, schließt beide Gespräche sinnfällig zusammen. Beide Seiten der Idee des Guten sind angedeutet, und nun ergänzt der „Lysis" die Vorbereitung, indem er die Freundschaft als Begierde und als den W e g zur Vollendung darstellt. Nach christlicher Lehre ist die Liebe selber die höchste Tugend, und in dieser Berührung zeigt sich zugleich der Gegensatz: der Weg zum Guten ist bei Piaton die Liebe als erotische Leidenschaft. In den drei Gesprächen stehen den intellektuellen Partnern — Nikias, Kritias, Menexenos — die besser mit Sokrates zu r e d e n verstehen, die drei Namengebenden gegenüber, die, im Logos noch ungewandt, dennoch durch ihr Blut weit empfänglicher sind für den verborgenen Gehalt des Sokratischen Wesens. Als Menexenos nach kurzer Abwesenheit zurückkehrt (fast in der Mitte des ganzen Gespräches), wendet sich Lysis mit einer kindlichen Gebärde, ein Wahrzeichen echter Platonischer Kunst, an Sokrates. Er flüstert „sehr kindlich und zutraulich" (philikos, die Freundschaft zu Sokrates erwacht!) Sokrates ins Ohr, damit es Menexenos nicht höre: „Sokrates, sage doch auch dem Menexenos, was du mir gesagt hast." Jener wendet ein, daß Menexenos als Schüler des Ktesippos sehr streitgeübt, eristisch sei. Lysis gibt das zu, aber gerade aus diesem Grunde wünscht er, daß der „Freund" ein wenig „gebändigt" wird. Das ist ein Wink für die Auffassung dieser Knabenfreundschaft. Menexenos ist der Intellektuellere, im Denken Überlegene, aber Lysis erkennt in richtigem Instinkt diese Überlegenheit nicht an und sieht in ihm nicht den Führenden. Die Spielkameradschaft enthält nicht den Keim des zeugerischen Platonischen Eros. Sokrates billigt dies Gefühl des Lysis, denn er fügt sich dem Wunsch und verwirrt den Kameraden. Bald muß Menexenos bekennen, keinen Ausweg zu wissen. „Haben wir etwa unsere Untersuchung von vornherein falsch angelegt?" fragt ihn darauf Sokrates, und Lysis entfährt es: „Ja, das ist es, glaube ich. Und da er es sagte, wurde er rot. Also war das Wort ihm wohl wider Willen entschlüpft, weil er mit ganzer Seele auf das merkte, was gesprochen wurde. So hatte er sich auch vorher sichtlich, während er lauschte, verhalten." (213 D.) Sokrates ist erfreut über diese Philosophia des Lysis, wie er den geistigen Eifer nennt, und er richtet das Wort jetzt wieder an ihn. Der Wechsel des Tones ist bezeichnend. An Menexenos wandte er sich mit leichter Ironie, Lysis faßt er mit Gedanken, die dessen tieferem Gefühl entsprechen. Wirklich hätten sie den falschen Ausgang genommen, sie müßten zurück102
kehren und Ausschau halten im Sinne der Dichter, „denn diese sind uns gleichsam Väter der Weisheit und Führer", und von ihnen stamme der Spruch, daß der Gott selbst sie einander zuführe und zu Freunden mache (214 A). Das deutet auf die wahre Lösung des Gespräches, ja auf die höchste Lösung im Phaidros, aber darum biegt Sokrates gleich wieder ab . . . Er führt nahe an den Aristophanes-Mythos im Gastmahl, der wiederum die Vorstufe des höchsten Eros, der Phaidros-Lehre ist. Der Liebende findet im Geliebten das ihm Ureigene, das Verwandte, was ihm dennoch fehlt, also vor der Geburt zu seiner Qual entrissen sein muß, das geheimnisvolle Oikeion. Im Geliebten ahnt und begehrt er die Vollendung: der Liebesbund ist von der Gottheit vorausbestimmt! Das ist der Ursprung der Begierde, die Liebe und Eros heißt. „Auf das Verwandte aber muß Eros und Freundschaft und Begierde gehen, nicht wahr, Menexenos und Lysis? — Sie bejahten. — Ihr beide aber, wenn ihr doch Freunde seid, müßt irgendwie von Natur einander verwandt sein! — Offenbar, sagten sie. — Und wenn irgendeiner den andern begehrt, ihr Knaben, sagte ich, oder ihn liebt — niemals würde er ihn begehren oder lieben oder gern haben, wenn er nicht verwandt wäre dem Geliebten, sei es von ganzer Seele, sei es in einer Gesinnung oder Art oder Haltung der Seele. — Ganz gewiß, antwortet Menexenos — L y s i s a b e r s c h w i e g . " Der zartfühlende Knabe spürt die erotischen Schwingungen in der Luft früher als der derbere Menexenos, er ahnt jetzt, worauf Sokrates hinaus will, und spröder Stolz regt sich in seinem Blute. Er hat recht: Sokrates hat den Logos von der Kameradschaft zum Liebesbund geführt: „Notwendig aber muß der echte Liebhaber, der sich nicht nur als solcher verstellt, wiedergeliebt werden von seinem Liebling. Lysis und Menexenos nickten jetzt nur noch kaum merklich, Hippothales aber wird vor Freude abwechselnd bleich und rot." Dies Erblassen und Erröten ist das Zeichen echter Leidenschaft, und die Befangenheit seiner ersten Liebe entspricht der Sprödigkeit des edlen Lieblings. Sokrates hat die Leidenschaft des kindlich-Vertrauenden gelobt, er hat ihm gezeigt, wie er werben soll. Aber er hat seine Wünsche über Erwarten erfüllt: die Seele des Geliebten ist für die Stimme der Liebe vorbereitet. (Nirgends bleibt eine Lücke für die Mißdeutung, der Jünglings-Eros solle gerügt werden, wodurch aus der Dichtung eine Unterhaltung über die Moral würde.) Alles Weitere muß Sokrates s e i n e m Herrn, dem Eros, überlassen, denn nur einen Schritt weiterzugehen wäre Erniedrigung für den werbenden Hippothales, der nun sich selbst bewähren muß. Sokrates biegt, da nun die Knaben befangen sind, das Gespräch gewaltsam wieder in die logische Untersuchung um. Zwar deutet sie auf die Lösung, die Sinngebung des Eros durch das höchste Agathon, aber Sokrates fragt so, daß dieser Gedanke die Untersuchung nicht abzurunden, sondern zu verwirren scheint. Wieder steht man am Anfang, um neu zu beginnen — da endet ein shakespearisch-grotesker 103
Schluß das Ganze: Wie Daimonen auf der Bühne dringen die Pädagogen polternd in diesen geistigen Raum, sie rufen beide Knaben, um sie nach Hause zu bringen. Vergebens versuchen Sokrates und sein Gefolge, sie zu verjagen, sie wollen nicht hören, brummen und schelten in ihrer barbarischen Redeweise, zumal sie am Feiertage ein wenig bezecht sind. Jene müssen sich fügen, wobei Sokrates den Knaben versichert, daß er auch sich nun ihrer Freundschaft zuzähle. — Mit diesem Scherz, daß die Pädagogen ihre Zöglinge vom wahren Erzieher fernhalten, schließt Piaton die anmutige Dichtung seines glücklichsten Jahres. Die Durchglutung der Freundschaft von der schöpferischen Idee, vom neuen Lebensgesetz, das ist ihre Steigerung zum Platonischen Eros, macht die Spannung dieses Gespräches. Gezeigt wird den Knaben, daß sie den Jüngling, der ihren ureigenen Geist in ihnen weckt, wiederlieben müssen, gezeigt wird der Ant-Eros, aber verschleiert bleibt der Eros, denn den Knaben würde geschmeichelt, wenn er in seiner Wirklichkeit gezeigt würde, und ihre nötige Spannung würde vorzeitig gelöst. Dies Verschleiern erschwert das Verständnis, wie denn auch notwendig die logische Deutung fehlgeht, wenn sie nicht auf die Gestalten des Gespräches schaut. Nicht die Knaben, aber die liebenden Jünglinge müssen den Sinn des Eros verstehen, und nur so kann Platon-Sokrates selbst als Gestalt verständlich werden. Ist er der „echte Liebhaber"? Und warum jagt der Verliebte nach dem Geliebten, da er doch das Ziel der Liebe, die schöpferische Idee, stärker in sich trägt? „Gastmahl" und „Phaidros" werden die Antwort geben, aber auch hier fehlt die Andeutung nicht. Sokrates sagt zu Lysis, als alles verworren scheint: „Dann wird am Ende doch, wie das alte Sprichwort sagt, das Schöne das Liebe sein. Es gleicht ja auch einem Weichen, Glatten, Gesalbten. Darum entwindet es sich sogleich und entschlüpft uns, weil es solche Eigenschaften hat." Dieser Hinweis auf das Entschlüpfen besagt, daß die eigentliche Lösung ganz nahe wäre, aber das Bild des gesalbten Schönen nähert sich verfänglich der Vorstellung von schönen Knaben — Sokrates muß gewaltsam abbiegen: „Ich meine nämlich, das Gute sei das Schöne." Damit bleibt er durchaus im Kreis seiner Lehre, denn sein Wunschbild, das Vollkommene, ist das Gute und Schöne zugleich. Aber Eros bedeutet nicht diese Stufe der Vollkommenheit, sondern den Weg zu ihr: Eros beruht auf der (relativen) Polarität von Schön und Gut: der weise Sokrates als Jäger nach schönen Jünglingen. Von zwei Seiten fällt auf Platon-Sokrates das Licht. Für die liebenden Paare trägt er in sich jenes Ur-Liebe, die Idee des Guten selbst: Er ist gesandt, die bloße Kameradschaft oder die bloße Begierde zum Eros zu läutern, zu steigern. Für sie alle endet der Sinn ihrer Liebesbünde in Sokrates. In ihm aber richten sich die Ströme des Liebens zugleich nach beiden Seiten, nach der schöpferischen Idee selbst und nach außen auf alle diese Jünglinge, die er mit seinem Geiste beseelt. 104
Dies Lebensgefühl der hohen Weltzeit: Sokrates in Jünglinge verliebt und ihre Liebe zu Knaben ermunternd starb mit Piaton und war den Folgezeiten unverständlich. Selbst Nietzsche staunt: „man traut seinen Augen nicht, gesetzt schon, daß man Piaton traut!" Wunderbar war aber nicht, was heute anstößig scheint, denn dies war alte hellenische Sitte, wunderbar war nur, wie Sokrates-Platon dies erregte Fluidum zum Fahrzeug des neuen staatschöpferischen Geistes formte. Der Agon ist der Boden hellenischer Kultur, und Wettkampf um höchste Staatskunst hat Raum nur in männlicher Gesellschaft, die durch Liebe zum Weibe gefährdet wird. („Der Ritter, der sich verliegt" ist das warnende Motiv selbst in Minnesängerzeit.) Die Absicht der leitenden Männer, die seelische Leidenschaft für die Frau fernzuhalten vom Leben der künftigen Krieger ist also nicht verwunderlich, wohl aber daß dieser männliche Lebensraum gefüllt und in sich geschlossen blieb, daß der Sokratisch-Platonische Geistesstaat eins wurde mit der Jünglings- und Knabenliebe, nachdem sie die zu körperhafte Liebe der Spartaner ausgeschlossen hatte. Der Wunsch, daß jeder der gewonnenen Jünglinge einen neuen Liebeskreis um sich bilden soll, damit der Keim gewaltig zum Baum sich verästle, mag die staatliche Aufgabe allzu zweckhaft betonen, aber der „ L y s i s " erinnert, daß diese staatliche Aufgabe nur Ausdruck des unsagbaren Welttriebes, der unlöslichen Fuge von Blut und Geist ist. Lysis ist wohl Bild der Enkel, die in ihrer Vielheit den Staat gründen sollen, aber die Erschütterung des Sokrates zeigt an, daß er zugleich Abbild der Vollkommenheit ist. Wenn der Knabe von so schönem Wesen zum König und Retter Griechenlands heranwüchse, dann wäre Piatons schönster Traum erfüllt. Wenn er aber einen anderen Weg ginge, dann bliebe er doch immer das Bild des Vollkommenen, das für den Griechen in der Gestalt des Jünglings sich am nächsten offenbart, bliebe er Bild des schönen Lebens, um deswillen allein die Staatgründung Sinn hat. Auch er hat Piatons Blut in die Wallung gebracht, aus der der Plan des Staates für „Göttersöhne" erblüht.
VIII.
EUTHYPHRON
Der Z w e i f e l an Athen Noch fehlt die vierte Platonische Tugend, die Gerechtigkeit, und es lag nahe, diese staatliche Tugend zu verbinden mit dem entscheidenden Wort an Athen, mit der Lehre vom Staat, wie es viel später in der „Politeia" geschah. In der Tat hat damals Piaton den Dialog über die 105
Gerechtigkeit begonnen, den „Thrasymachos", den er später als Vorspiel in die „Politeia" aufnahm. Was konnte den in politischer Leidenschaft Glühenden bewegen, seinen Hauptgedanken zwei Jahrzehnte zurückzuhalten? Es müssen mächtige Widerstände gewesen sein, die Piaton beinahe aus der so kühn beschrittenen Bahn geworfen haben. In der Lebensbeschreibung würde hier also der „Thrasymachos" folgen, wenn nicht die Scheu verböte, aufzulösen, was Piaton zusammenfügte. Aber man muß eingedenk sein, daß hier die gefährliche Entscheidung seines Schicksals anhebt. Wir müssen den folgenden Dialog um den innern Sinn dieses Geschehens befragen. Wer nur den „Euthyphron" läse, würde schwerlich einen dichterischen Verfasser vermuten. Diesmal schafft Sokrates keine Atmosphäre um sich und steht beziehungslos im kalten Raum. Auch im „Jon" und „Hippias" steht er neben fremden Gegnern, aber umgeben von der eignen wohlgemuten Stimmung . . . auch in Apologie und „Kriton" steht er in fremdem Raum, aber er füllt ihn ganz mit seinem Wesen: nur hier bleibt der Raum ganz leer, und die harte Entgegensetzung Euthyphrons, mit dem ihn keinerlei Regung verbindet, zeichnet die Einsamkeit fast quälend scharf. Euthyphron ist Pfaffe und Wahrsager — aber er „sagt wahr", was die Leser schon als unwahr wissen: den glücklichen Verlauf des Prozesses gegen Sokrates. (3 E.) Er ist widerlegt wie Jon, der angeblich gottbegeisterte, in Wirklichkeit die Kasse berechnende Schauspieler. Aber von solcher Heiterkeit glänzt kein Schimmer an diesem Tage, auf den die Anklage gegen Sokrates ihren Schatten wirft. Im „Charmides" und „Lysis" atmen wir mit den ersten Zügen die Luft der Gymnasien, der geistigen Heimat des Sokrates — der erste Satz des „Euthyphron" zeigt die Fremde an: Sokrates ist aus seinem Element gerissen und leidet vor dem Gerichtsgebäude unter der ihm widrigen Umgebung. Euthyphron: „Was ist geschehen, Sokrates, daß du den Unterhaltungen im Lykeion entsagt hast und dich hier aufhältst bei der Halle des Basileus? Du hast doch wohl nicht einen Rechtsstreit mit dem Basileus wie ich?" Sokrates: „Nein, Euthyphron, wenigstens bezeichnen es die Athener nicht als Rechtsstreit, sondern als Strafanzeige." Euthyphron: „Was sagst du? Eine solche hat jemand gegen dich eingereicht? Denn daß du es warst, der jemanden anzeigte, kann ich mir doch nicht denken." Euthyphron ist wohlwollend, denn als Wahrsager glaubt er sich dem Sokrates, der seines Daimonion wegen verklagt ist, verwandt. Aber Sokrates ist dies Wohlwollen zuwider. Er beweist dem Dunkelmann seine Unwissenheit, aber die scharfe Ironie, mit der er es tut, ist nirgends heiter, und die unnahbare Strenge, mit der er den Trennungsschnitt vollzieht, ist nicht immer durch Urbanen Ton versteckt: „Aber nimm dich zusammen, du Entrückter! Es ist doch wirklich nicht schwer zu begreifen, was ich sage!" (12 A.) 106
Untersucht wird diesmal das Wesen der Frömmigkeit, die im Protagoras als fünfte der Tugenden aufgeführt wurde, so daß man begrifflich das Gespräch als letzten „Tugenddialog" auffassen könnte. Wesentlich gehört es nicht mehr in diese Gruppe, denn es wendet die Seele nicht hin zur Schau der Arete und des Guten: Es faßt den Feind, nicht das Ziel ins Auge. Der Form nach ist es aporetisch, aber deutlich ergibt sich, daß Frömmigkeit nur ein Teil der Gerechtigkeit ist. Das Ziel wäre im Unterschied zu den anderen Dialogen rein verneinend: Frömmigkeit ist keine eigene Tugend, ihre gesonderte Untersuchung ist überflüssig. Tatsächlich gelten seitdem nur die vier Platonischen Tugenden der Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit. Fromm ist nach Euthyphrons Erklärung das, was den Göttern lieb ist. Sokrates ist der umgekehrten Meinung: man muß zuerst wissen, was gerecht und fromm ist, dann darf man schließen, daß dies den Göttern lieb ist. Verfolgt man diesen Gegensatz logisch, so kann man den Gegensatz von Offenbarungs- und Vernunftreligion finden und in Sokrates den Vertreter der Lehre sehen, die Kant am schärfsten formuliert hat. Hier aber ist nur die Rede vom „Euthyphron" und vom damaligen Geisteszustand Athens. Ein offenbartes Gesetzbuch hatten die Griechen nicht, und das ethische Gefühl für Gerechtigkeit war im Kriege chaotisch verwirrt. Piaton muß, um den Staat zu bilden, eine neue Gerechtigkeit in Athen erzeugen. Können ihm dafür die ältesten Mythen noch Vorbild sein, in denen Kronos seinen Vater entmannt und seine Kinder verschlingt, bis Zeus wiederum den Vater in Fesseln schlägt? Euthyphron verlangt das allen Ernstes, und er ist stolz darauf, daß er nach dem religiösen Vorbilde und streng nach dem Gesetz Klage gegen den eigenen Vater, der versehentlich einen Sklaven umkommen ließ, erhoben hat. Sokrates setzt ihm entgegen, wenn wirklich diese Mythen vom Götterkriege wahr seien, dann sei dem einen Gott lieb, was dem andern leid sei, dann sei aus ihnen keine feste Norm der Frömmigkeit abzunehmen. Das muß selbst Euthyphron begreifen. Es ist kein neuer Gedanke: Schon Homer deutet einen Zwiespalt zwischen alten Mythen und neuem Ethos an, denn die Haltung der Helden ist oft edler als das mythische Götterleben. Xenophanes und Heraklit bekämpfen die alten Mythen zugunsten einer geläuterten ethischen Gottesvorstellung. Sokrates ist hierin kein Aufklärer und verzichtet nur wie alle Gebildeten auf einen altertümlichen Mythenglauben, der als Symbol des Urzeit-Lebens heilig scheinen mag, dem Griechen der damaligen Zeit aber, wenn er ihm als ethisches Vorbild gelten sollte, als Fratze erscheinen mußte. Euthyphron ist lächerlich rückständig. Nach der philosophischen Vorstellung schon der Vorsokratiker stammt alles Gute von den Göttern (14 E). Euthyphron widerspricht dem nicht und versucht eine neue Erklärung: Frömmigkeit sei richtiges Beten und Opfern. Solchen Verkehr mit den Göttern bezeichnet Sokrates ver107
ächtlich als Tauschhandel. Denn die Menschen bitten um das, was sie brauchen, und als Entgelt opfern sie doch wohl den Göttern, was jene brauchen. Aber solcher Handel wäre sinnlos, denn die Götter entbehren ja nichts. Offenbar ist die Frömmigkeit die Erkenntnis des Guten und der Verrieht des von Gott gewollten Werkes — dann fällt die Frömmigkeit mit der Tugend überhaupt zusammen. Dies verneinende und formale Ergebnis kann nicht der Zweck des ganzen Gespräches sein. Aber im Gegensatz zu den früheren Gesprächen wird die gesuchte Tugend auch in den Gestalten nicht dargestellt. Sokrates' Frömmigkeit ist in Apologie und „Kriton" schon mythisches Bild geworden, aber gerade in diesem Gespräch ist er nichts anderes als prüfender Denker, widerlegender Gegner, ohne Raum für die eigene Frömmigkeit. Euthyphron ist immerhin das Gegenbild zur Frömmigkeit. In der Richtung auf die Ideenlehre bildet „Euthyphron" allerdings eine Steigerung und nähert sich dem „Menon" (5 D. 6 D). Aber das Interesse an dieser Frage ist logisch und methodisch, ohne das Gespräch in die Sphäre hohen Erlebens zu heben. So sah ein Erklärer richtig, daß nicht die Untersuchung der Frömmigkeit das Ziel sei, aber er kam dem wahren Ziel nicht näher, als er annahm, Piaton habe seinen Meister „verteidigen" wollen. Die „Gegenüberstellung" Sokrates mit jenem Narren kann niemals „siegreiche Verteidigung" sein, wenn doch die Frage erlaubt wäre, ob Piaton durch diese Zusammenstellung nicht der Würde seines Meisters etwas vergab. Und vor wem sollte er verteidigt werden? Vor dem Volke, den Vielen? — da doch für Piaton die Frage nur lauten kann: ist diese Volksmenge entschuldbar? Er hatte im Kriton schon geantwortet: Die Menge bedarf keiner Entschuldigung. Da sie nicht weiß, was Gut und Schlecht ist, kann man mit ihr so wenig rechten wie mit einem Naturelement. Acht Jahre mögen zwischen „Kriton" und „Euthyphron" liegen. Wie ist es möglich, daß Piaton, der in Apologie und „Kriton" so gemäßigt und in solchem Abstand über jenen Prozeß gesprochen hat, den Athen der Philosophie gemacht, nun nach langer Zeit so feindselig den Prozeß wieder aufnimmt? Das ist nur denkbar, weil er immer inniger sich mit Sokrates als eine Einheit erlebt. Sokrates dient nicht als Maske — er lebt im Wesen des Erben, der sein Lebenswerk nicht anders denken kann als im Bilde des Meisters. Darum kann man den Puls des Gespräches an den Stellen fühlen, an denen Piaton aus Sokrates redet. Als Wahrsager glaubt sich Euthyphron verwandt dem Sokrates, der seines Daimonion wegen angeklagt ist, und er bestätigt ihm: „Darum sind wir alle ihnen verhaßt. Aber man muß sich nur nicht um sie kümmern, sondern seines Weges gehen!" Sokrates klärt sogleich den Gegensatz: Euthyphron werde wohl seiner Wahrsagerei wegen verlacht, aber das sei ja so gefährlich nicht. „Denn die Athener kümmern sich, wie ich glaube, nur wenig um einen, den sie für bedeutend halten, wenn er nur nicht bestrebt ist, die andern seine Weisheit zu lehren. Von wem sie aber 108
glauben, daß er auch andere weise machen will, dem zürnen sie, sei es aus Neid, wie du sagst, oder aus anderen Gründen." Euthyphron ist es gleichgültig, was die anderen über ihn denken, und Sokrates verstärkt noch die Unterscheidung: Jener stehe im Rufe, sich rar zu machen und niemanden seine Weisheit zu lehren, während er selbst dafür bekannt sei, daß er jeden, der ihn hören wolle, unentgeltlich unterweise. (3 C D.) Sokrates, der Nichtwisser der frühen Gespräche und zumal der Apologie, der auch die anderen ihres Nichtwissens überführen will, ist hier also zum Lehrer geworden, der die andern an seiner Weisheit teilnehmen lassen will. Piaton wahrt ihn nicht gegen den Vorwurf des Gottesfrevels, sondern sagt deutlich: nur aus der Abneigung der Athener gegen den Mann, der die neuen Anhänger sammelt, stammte jene Verfolgung. Dieser Mann aber ist vor allem Piaton selbst, und seine letzten drei Gespräche sind nichts als Werkzeuge dieses Willens. Wir ahnen, nach der Hochstimmung des ersten Erfolges ist er auf den stumpfen Widerstand der Gesellschaft gestoßen. Piaton beginnt irre zu werden an dem Treueschwur, den er im „Kriton" Athen geleistet hat, und der „Euthyphron" ist der erste herbe Vorwurf: Den bösartigen Narren Euthyphron, der gegen den eigenen Vater frevelt und diesen Frevel durch lächerlichen Aberglauben heiligen will, lassen sie laufen, weil es ihm nicht Ernst ist um sein Amt und er als doktrinärer Sonderling nicht teilhat an lebendiger Gemeinschaft. Sokrates aber richten sie hin, der fromm und vorbehaltlos dem neuen Geiste dient. An Euthyphron wagt sich kein Ankläger, weil er gerissen genug ist, die Blößen des Gegners auszuspähen (5 A), während Sokrates, nur auf seine Sendung bedacht, den Demagogen leicht unterliegt. Euthyphron und der Ankläger des Sokrates sind einander feind, aber Sokrates findet die feindlichen Brüder noch allzu ähnlich. Beide haben noch niemals nachgedacht über das Wesen der Gerechtigkeit und Frömmigkeit, über Staat und Erziehung, und doch haben sie den Übermut, ihre Anklage zu erheben gegen den Mann, vor dem sie Ehrfurcht haben müßten. Sokrates vermutet, man habe ihn verklagt, weil er dem veralteten Glauben an Gewalttaten und Kriege der Götter widersprochen habe: das ist die Frage, in der Meietos und Euthyphron gemeinsam seine Gegner sind (6A). Zu welchem Zwecke sollte Piaton diese Ansicht, die doch äußerlich die Anklage stützt, ohne Not an dieser Stelle erwähnen, wenn er Sokrates „verteidigen" wollte? An dieser Stelle ist der Knoten zu lösen. Von Sokrates' Widerwillen gegen die rohe Sage ist nichts bekannt, wohl aber von dem Piatons im „Staat" — kein Wunder, da sich diese Urgötter zum vollendeten Götterhimmel ähnlich verhalten wie der Tyrann zum Gesetzes-König. Piaton stellt neben Sokrates diesen Finsterling Euthyphron als boshafte Karikatur des Volkes, das Sokrates, den Wahrhaft-Frommen, auf Grund veralteter Glaubensformeln hinrichtete! Zwar lachen die Athener über den Narren, der sich auf älteste Sagen beruft 109
und halten seine Klage wider den Vater für Wahnsinn. Wie aufreizend, wenn Piaton ihnen vorhält: Ihr seid schlimmer als dieser Narr, den ihr verachtet! Die Analogie von Euthyphrons Vater zu Sokrates, der durch Weisheit und göttlichen Auftrag würdig wäre, Vater Athens zu heißen, ist gerade an dieser Stelle (5 B) ausdrücklich angezeigt. Aber Euthyphron verklagt den Vater, der immerhin gefehlt hat, Athen aber richtet den Mann hin, der das Urbild der Gerechtigkeit ist. Und nicht genug. Euthyphron selbst bemerkt etwas Wesentliches: er nennt das Vorgehen gegen Sokrates einen Frevel am Herde der Stadt, er erkennt instinktiv in diesem Sokrates das heilige Herdfeuer des Staates (3 A). Unbegreiflich wäre, daß Piaton dem Narren dies Wort in den Mund legte, wenn er nicht die Rüge des Volkes damit hätte übersteigern wollen: Ihr seid noch närrischer und boshafter als jener boshafte Narr! Sokrates wurde das Symbol von Piatons Sendung. Piaton wühlt nicht im längst Vergangenen und verteidigt nicht den Getöteten, denn es ist eine sehr gegenwärtige Not, die ihn zum Angriff treibt. Er kennzeichnet die Gegenmächte: das Haften an vermoderten Formen und den dumpfen Haß gegen den Mann, der die ihm Folgenden zum neuen Leben befeuert und im Bewußtsein geistiger Sendung die Hand nach der Macht ausstreckt. Man möchte das Gespräch so kennzeichnen: auf dem Hintergrunde düsterer Wolken heben sich, von Strahlen der tiefstehenden Sonne noch überscharf beleuchtet, jene beiden Gestalten ab. Dem törichten Auge scheinen sie ähnlich, beide Fanatiker der Gerechtigkeit, beide verhöhnt wegen des Vertrauens auf ihre Stimme. Das offene Auge sah jenen übermütig und lieblos durch Wissen der entarteten Formel, diesen aus Liebe zur Schönheit sich verjüngenden Lebens ehrfürchtig vor dem göttlichen Geheimnis. In keinem Gespräch ist solche Qual spürbar, aber erst im „Gorgias" bricht das Gewitter des Gerichtes los.
IX. G O R G I A S D e r Z o r n über A t h e n Da Piaton den allgemeinen Widerstand erlebt, hat er nicht mehr die Geduld zu untersuchenden, nur vorbereitenden Gesprächen und kann doch jetzt noch weniger seinen Gedanken der Menge preisgeben: Der Thrasymachos bleibt unvollendet liegen, ein ganz neuer Ton verrät die innere Umwälzung. Sokrates fragt nicht bloß nach der Gerechtigkeit, er vergegenwärtigt sie durch sein Wesen in solcher Wucht, daß er selbst als der gerechte Richter erscheint. Wohl ist er im Kriton der Gerechte, aber der duldende. Im „Gorgias" ist er gesteigert zum Bild des Gerichts mit 110
dem Schwert in der Hand. Daß dies möglich war, ohne daß Sokrates und Piaton politische Macht besaßen, liegt in der eigentümlichen Kunst dieses Werkes. „Gorgias" und „Phaidon" sind die beiden Werke, die in der Antike durch ihr fremdes Lebensgefühl, den Vorklang stoischer Bescheidung und christlicher Ethik, den tiefsten aufwühlenden Eindruck gemacht haben. Sind nicht im „Gorgias" der Verzicht auf weltliche Macht, im „Phaidon" der Verzicht auf die sinnliche Welt Rufe zur Askese, die Piatons Wesen sonst fremd ist? Die Gefühlsart beider Gespräche muß in ihrer Tiefe, aber auch in ihrer Begrenzung verstanden werden, damit Piaton nicht im Wesen mißdeutet wird. Es ist nicht bloß Übersichtsbedürfnis, wenn wir den „Gorgias" durch seine Stellung als Abschluß der ersten Periode hervorheben, denn hier hat Piaton bewußt den Schnitt vollzogen: denkt er überhaupt an weiteres Schriftwerk . . . oder fordert er gar den Tod heraus? . . . Gorgias, der nicht mehr junge und schon berühmte Redner, weilt in Athen als Führer der Gesandtschaft des sizilischen Leontinoi, das um Hilfe gegen Syrakus bittet. Das Gespräch spielt 427. Perikles ist kürzlich gestorben, Piaton ist geboren, es ist das vierte Jahr des großen Krieges. Das Gespräch, eins der längsten, gliedert sich übersichtlich in drei Teile: das Gespräch mit Gorgias, das mit Polos, das mit Kallikles. „Krieg und Schlacht" sind die ersten Worte, der stimmende Akkord. Kallikles ruft sie scherzhaft Sokrates zu, um ihn zu erinnern, daß man zu entscheidenden Ereignissen pünktlich eintreffen muß, denn Sokrates trifft mit Chairephon ein, als Gorgias seine große Prunkrede beendet hat. Sokrates nimmt den Scherz auf und verbessert, zum Fest also komme er zu spät — mit dieser Wendung andeutend, daß er gerade im rechten Augenblick zu Krieg und Schlacht komme. Wirklich rüstet man zur Schlacht: noch halten sich beide Heerführer zurück, aber die Vorposten beginnen ein Gefecht. Sokrates gibt Chairephon den Auftrag, die eröffnende Frage an Gorgias zu stellen, und Polos, der Schüler des Gorgias, erwidert auf diesen Zug, indem er für genügend hält, daß er selbst an die Stelle des Meisters tritt, der der Ruhe bedürfe. Dies Vorspiel deutet an, daß es nicht auf bloße Meinungen, um die Sokrates und Gorgias sich streiten, ankomme, sondern auf die formende Wirkung, die von ihnen auf das jüngere Geschlecht ausgeht, auf die Saat also, die Piaton selbst, da er schreibt, aufgehen sieht. Ein schneller Wink, an die Gegenwartsbedeutung zu denken: vom jüngern Geschlecht ist die Rede, und Piaton selber stellt sich zum Entscheidungskampf. Unvergeßlich einprägsam ist der Beginn. „Was soll ich fragen?" fragt Chairephon, und Sokrates antwortet nur: „Wer er ist!" Wie fern ist diese Frage, die das Werk beherrscht, dem abstrakten, zeitlosen Begriffe111
Suchen! In der wirkenden Gegenwart, in der Persönlichkeit weiß Piaton die wahre Substanz. Die Frage: Wer bist du? ist der Hammerschlag, mit dem er die Figuren seines Bereiches prüft, ob sie aus Erz bestehen oder aus Lehm. Wenn wir aber nicht das Wesen durchschauen, fragen wir nach der Wirkung auf die Mitmenschen, weswegen Chairephon weiterfragen soll, welches der Beruf des Gorgias sei. Sokrates will erfahren, wieweit sich Gorgias der hohen Verantwortung der Menschenformung bewußt sei, aber beide Rhetoren tönen auf diesen Hammerschlag nur das Lob der Rhetorik, ihr Selbstlob, ohne zu verstehen, was Sokrates meint. Gorgias will sich beschränken, Lehrer der Redekunst, Techniker zu sein. Die philosophische Lehre dieses nächst Protagoras größten Sophisten ist unbedingt skeptisch, nihilistisch und gibt ihm damit das Recht, auf die Philosophie zu verzichten und sich zu begnügen mit der gemeinen Menschenmeinung, über die alle philosophische Forschung doch nicht hinaus kann. Hier hebt sich die Sophistik als Philosophie auf, und es geschieht ganz in Gorgias' Sinne, wenn Piaton von seiner philosophischen Leistung absieht. Dieser Verzicht klingt bescheiden, aber diese Bescheidung ist eine ungerechte Bequemlichkeit, da sie verknüpft bleibt mit dem höchsten Anspruch, daß dem Redner die größte Macht im Staatsleben zufalle. Das ist der Bruch des Gorgias. Eine oberflächliche Deutung will in diesem Gespräch nur eine Untersuchung über die Rhetorik sehen. Die wirkliche Aufgabe ist die höchst gegenwärtige Frage: wer soll herrschen im Staat — Redekunst oder Gerechtigkeit?! Gorgias wird durch Sokrates' Fragen in einen Widerspruch verwickelt, aber es heißt Piaton nach dem Maße kleinlicher wissenschaftlicher Rechthaberei deuten, wenn man Sokrates hier als listigen Fallensteller versteht. Er prüft ernsthaft das Wesen, und (wie im Protagoras) gibt er da, wo die Begriffler die Schlinge vermuten, dem Gegner die stärkste Hilfe: er drängt Gorgias auf die höchste Stufe — auch Gorgias fordert nun, daß der Redner die Gerechtigkeit erkennen und damit selbst gerecht sein muß. E s ist nicht die Schwäche seiner Logik, sondern seines Charakters, daß er sich auf dieser höchsten Stufe nicht hält und doch wieder fordert, daß der Redner nicht für die Ungerechtigkeit seiner Schüler verantwortlich gemacht werden dürfe. Zwar für die Entgleisung des Schülers kann selbst ein Sokrates nicht verantwortlich gemacht werden — daran soll die Anwesenheit des Alkibiades unter den Hörern erinnern. Entscheidend ist, daß Sokrates solchen Schüler aus seiner Umgebung verbannt, und er bedrängt Gorgias, daß er die gleiche Verantwortung übernehme. Dieser könnte sich logisch auf die These zurückziehen, daß die Gerechtigkeit nicht zum Wesen der Redekunst gehöre, aber ein Rest von ethischem Ernst hindert ihn: er ahnt, daß die höchste Würde der Rhetorik nicht ohne Teilhabe an der Gerechtigkeit gültig ist — und doch zaudert er, die Verantwortung für die Schüler zu übernehmen, da er seinen Gefährten Polos verleugnen müßte. 112
Piaton behandelt ihn schonend. Hat er doch selbst mit dem Schmuck des Gorgianischen Stiles gespielt, und nur leise deutet Sokrates an, daß jetzt nicht Zeit zur Prunkrede ist. Er versichert sich zuerst, daß Gorgias ohne Empfindlichkeit mit ihm die Wahrheit suchen wolle, und ganz fehlt der Wahrheitsdrang bei Gorgias doch nicht, denn er veranlaßt nachher sogar Kallikles, das Gespräch nicht abzubrechen, obwohl er den Sieg des Sokrates spüren muß. Wie ist dies zu erklären, daß Gorgias auf eine Entscheidung verzichtet und doch die weitere Untersuchung wünscht? — Als Piaton das Gespräch verfaßt, lebt Gorgias noch geehrt und hochbetagt in Thessalien. Mit unvergleichlichem Geschick stellt ihm Piaton noch jetzt die damals unbeantwortete Frage zur Entscheidung, die keineswegs dem Greise eine Sinnesänderung zumutet. Gorgias selbst will ja gerecht sein: er soll nur ungerechte Schüler von sich abstoßen und nicht als „Redner" im eigentlichen, im höchsten Sinne des Wortes anerkennen. Auf die Schüler aber fallen nun die vernichtenden Schläge. Gorgias vertraut wie Protagoras auf den ethischen Instinkt aller Menschen und sieht nicht, wie unter der Oberfläche die Zersetzung wütet. Sie blicken vorbei an der Wirklichkeit! In solcher Zeit, in der alles von der Findung des neuen Gesetzes abhängt, ist jene sophistische Zuversicht die verhängnisvolle Irreführung. Wenn Sokrates sich mit so geringen Geistern abgibt, so ist es die Not, die Piaton zu dieser Geste zwingt. Wie kann er die Verderbnis der Gegenwart eindringlicher darstellen als in den Schülern des Gorgias! Protagoras und Gorgias wollen Lehrer sein, wo ihrer Weisheit, sie wollen Vorbilder sein, wo ihrer Arete das Beste fehlt. In der Entscheidungsstunde führt der geringe Fehl in den Abgrund wie der grobe, und ihre Anhänger, die von ihnen Macht ohne Gerechtigkeit verlangen, sind ebenso schuldig wie die Lehrer . . . Polos, der junge Vertraute des Gorgias, ist ein aufgeblasener Redner. Als er die Verlegenheit seines Meisters bemerkt, herrscht er Sokrates an: Ob er im Ernst so über die Redekunst spreche?! Gorgias habe sich doch nur geschämt, nicht auch die Gerechtigkeit für den Redner in Anspruch zu nehmen, und dadurch sei wohl ein gewisser Widerspruch in seine Rede gekommen. „Aber auf so etwas das Gespräch hinauszuspielen, ist sehr ungebildet." Jeder wisse, was gerecht sei, darum brauche der Redner es nicht zu lehren. Das tiefe Bedenken in Gorgias hält er für oberflächliche Scham — und Gorgias schweigt. Höhnend erwidert Sokrates dem Unverschämten: „Schönster Polos, darum bemühen wir uns ja so eifrig um Anhänger und Söhne, daß wir, wenn wir selbst alt werden und straucheln, euch Jüngere haben, die in Worten und Werken unser Leben wieder aufrichten. So auch jetzt, wenn Gorgias und ich in dieser Untersuchung straucheln, tritt du heran und richte uns auf. Du bist ja gerecht." Nimmt man dazu gleich den späteren Hohn: „So schwach an Gedächtnis trotz deiner Jugend? Was soll daraus 8
Hildebrandt,
Piaton
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werden, Polos?" so bemerkt man die Schärfe, die diese Jahre Piatons kennzeichnet („Thrasymachos", „Euthyphron", „Gorgias"), wenn auch der Vorklang in der Apologie dem Erzfeinde Meietos gegenüber zu hören ist. Da der eitle Polos sich anfangs in Gorgianischer Manier vernehmen ließ, so macht Sokrates zur Bedingung, er müsse auf lange Reden verzichten und kurz antworten oder fragen. „Wie denn?" fährt Polos auf, „ich soll nicht reden dürfen, solange ich will?" Und Sokrates antwortet: Das wäre freilich hart, wenn Polos gerade in Athen, wo doch die größte Redefreiheit herrsche, auf sie verzichten solle. Aber auch für ihn, Sokrates, wäre es hart, wenn er nicht das Recht haben sollte, nach Hause zu gehen, um die langen Reden nicht zu hören. So bequemt sich Polos, selbst die Fragen zur dialektischen Untersuchung zu stellen. E r denkt nur an den Ruhm der Redekunst. Sokrates setzt ihm scharf entgegen, sie sei überhaupt keine „Kunst", keine Techne, sondern eine bloße „Empirie", Erfahrung, Routine. Wissen und Kunst sind zwei Seiten der gleichen Sache, und da die Rhetorik auf Episteme verzichtet, ist sie nicht Techne. Sie ist eine Art „Schmeichelei", da sie den angenehmen Schein sucht, nicht das Gute selbst. Methodisch ist es eine Vorstufe spätplatonischer Logik, wenn er nicht empirisch beweist, sondern durch eine konstruktive Übersicht deutlich macht. Es gibt vier echte Künste, denen vier Schmeichelkünste entsprechen. Man hat die Lösung, die Piaton noch für sein Hauptwerk aufsparen muß, aber den Aufmerksamen erraten läßt, übersehen. Der Gesetzgeber entartet zum Sophisten, der Richter zum Redner. Sie entarten, weil beide Künste in Einem vereint sein müssen: im wahren Staatsmann, im Philosophen! Das ist die verborgene Quelle des Gespräches. Noch ist nicht Raum für den Philosophen als Gesetzgeber. Als Bild für ihn wählt Piaton auf dem leiblichen Gebiet den Arzt, für den Redner aber den Zuckerbäcker. Was würde geschehen, wenn die Kinder zu wählen hätten zwischen beiden? Sokrates klagt, daß die Kinder und das kindische Volk dem Zuckerbäcker folgen, der sich anmaßt, das dem Leibe Zuträgliche zu verstehen — den Arzt aber lassen sie verhungern. Auf Sokrates, den Arzt, den sie getötet haben, deutet diese Klage, aber nicht nur auf ihn . . . Was kümmert das Polos! Er rühmt die Tatsache, daß der Redner fast unbeschränkt wie die Tyrannen über das Leben der Mitbürger schalte, die Redekunst die größte Macht verleihe. Mit der überscharfen Formulierung, die den Gorgias auszeichnet, widerspricht Sokrates: weder Tyrann noch Redner habe wirkliche Macht. . . Dies Paradox ist nicht ohne Wahrheit. Sokrates scheidet Mittel und Zweck. Tyrann und Redner habe die Scheinmacht, das gewünschte Mittel durchzusetzen, wenn ihm aber, wie die Rhetoren voraussetzen, die wahre Erkenntnis nicht eigne, so erreiche er seinen wahren Zweck nicht. Setzt ein Redner den Krieg durch, in dem der Staat unterliegt und der Redner getötet wird, so bedeutet sein Willkürerfolg doch keine wirkliche Macht. Wahre Macht kann nur der Weise 114
erwerben. Sokrates vergleicht den Redner einem Manne, der einen Dolch unter dem Mantel trägt und prahlt, er könne jeden töten. Aber was sei diese „Macht", wenn er dafür als Mörder gestraft werde? In der weiteren Untersuchung zwingt Sokrates den Gegner zum Bekenntnis, Gerechtigkeit, nicht Macht sei das höchste Gut. Dann aber folgt der Satz, der eher christlich als antik klingt: Unrecht-Leiden ist besser als Unrecht-Tun. Ja, selbst dem Frevler sei Strafe besser als Straflosigkeit. Kaum glaublich, daß der frivole Polos zu diesem Bekenntnis gezwungen wird, das ihm absurd scheint. Alles folgt aus seinem Zugeständnis, Gerechtigkeit sei „schöner" als Ungerechtigkeit. Aber warum er dies Zugeständnis macht, wird kaum verstanden, weil man Piatons entscheidende Normbegriffe Kalon und Agathon nicht versteht. Wer voreilig mit unseren Begriffen schön als ästhetisch, gut als ethisch auffaßt, dem muß jene Untersuchung sinnlos erscheinen. Kalos nämlich bedeutet ursprünglich das leiblich und ethisch Schöne, das für jeden Schöne und Löbliche. Das „Gut" aber ist identisch mit dem Ziel jedes Individuums, denn das Ziel des „Wollens" an sich ist eben „das Gut". In Zeiten heilen Staatsgefühles fallen das individuelle und das universale Ziel zusammen, da der Einzelne will, was der Gesamtheit gut ist. In sophistischer Aufklärung aber fallen Individuum und Gemeinschaft auseinander. Noch empfindet man die Gerechtigkeit als schön, aber die Begierde des Individuums hat sich davon gelöst und empfindet als „das Gut" privaten Vorteil, Macht, Genuß. Diese Spaltung ist es, die Sokrates im Volke vorfindet, mag es die Sophisten lieben oder hassen. So will auch Polos gerecht sein oder kann doch im demokratischen Athen nicht wagen, rückhaltlos die tyrannische Willkür zu preisen, aber er setzt als menschliche Urgegebenheit voraus, daß jeder das Gesetz als Zwang, die Gerechtigkeit als Opfer, aber den privaten Vorteil als „Gut" empfinde. Er ist der Spießbürger im Löwenfell: Das Gesetz konventionell anerkannt, die Tyrannis verboten, aber die Macht eines Tyrannen als unsägliches Glück beneidet! Solche Leute verstehen nicht, daß Lebensgesetz und Glückverlangen in der heilen Gemeinschaft zusammenstimmen, und daß man auf frevlerischen Gewinn ohne Neid verzichten kann. Nur Piaton weiß, daß zuerst wieder die Triebe des Menschen in Einklang gebracht werden müssen . . . Wer hier nur logisches Gefecht im Aberglauben an Begriffe sieht, der kann in diesem hilflosen Zusammenknicken des Polos nur leeres Spiel finden. Aber Piaton stellt entgegengesetzte Menschenarten dar! Daß Polos Gerechtes als schön anerkennt, folgt aus seiner Lage in der Gesellschaft, ist keine logische Unvorsichtigkeit, wie seine Gesinnung aus der verwunderten Frage spricht: „Wie, Sokrates, würdest du nicht auch die Freiheit vorziehen, in der Stadt zu tun, was dir beliebt, und würdest du nicht neidisch, wenn du einen andern siehst, der, wen er will, töten kann oder seines Vermögens berauben und ins Gefängnis werfen?" (468 E.) Daß Sokrates den Frevler nur bemitleidet, hält er für Verstellung. 8*
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Wäre es Piatons Ziel gewesen, die übliche Unmoral verstandesmäßig zu widerlegen, so konnte er hier den „Gorgias" schließen und manches spätere Werk war überflüssig. Das aber ist nur Vorspiel im Kriege, die Gerechtigkeit zur lebendigen Staatsmacht zu erheben, und zu diesem Zweck setzt er alle andern Mittel der Überzeugung: geschichtliches Vorbild, anschaulichen Mythos, religiöse Drohung, selbst rednerisches Pathos ins Werk. Vom „Agathon" als individuellem Ziel gehen sie alle aus, aber Sokrates knüpft es ein in das universale Ziel, die Schönheit, die als allgemeingültig anerkannt wird: damit formt er das Agathon um zum unbedingten Ziel der Gemeinschaft und der Welt. Diese Sinnesart spricht sich aus in der Auffassung der Strafe. Tun und Leiden sind bei jedem Geschehnis einander gleich. Wenn der Schlagende heftig schlägt, so wird der Geschlagene heftig geschlagen. „Wie das Tun tut, ebenso leidet das Leidende." Die Strafe ist, wenn gerecht, auch schön, also schön auch für den Bestraften — bessert sie doch seine Seele. Darum ist es ein Unglück dem Frevler, wenn er seine Strafe nicht findet. Das klingt begrifflich, entspricht aber dem sicheren Gefühl, daß der Mensch nicht als bloßes Individuum zu betrachten ist. Der Einzelne ist Glied eines Geschehens, aus dem er nicht zu lösen ist, nur der Eine Pol der kreisenden Wirklichkeit. Strafe ist nicht Rache am Einzelnen, sie ist Herstellung der Weltharmonie. So rational spricht Piaton es nicht aus, weil es ihm gefühlsmäßige Wirklichkeit ist, aber er drückt es aus als Künstler. Was will es anderes besagen, wenn er die Lehrschrift verschmäht und keinen Gedanken anders der Welt vertraut als verleiblicht innerhalb der Bilder seiner Kunstwerke, als in Ort und Stunde, lebendiger Gestaltenwelt richtig bestimmt, eingeordnet ins Weltgeschehen! Das Gewicht der Person, nicht Logik, entscheidet die ethische Schlacht. Der wahre Prüfstein ist der Mann, der nur Tatmensch sein will und die Philosophie verachtet: das ist Kallikles. Polos ist Ausländer, und so gern der Athener deren Rhetorik lernt, so achtet er sie doch nicht für voll, und der echte Krieg beginnt, als Kallikles, der Athener, der Politiker, an die Front tritt. Trotz seiner Verehrung für Gorgias, der in seinem Hause wohnt, lehnt er ab, Sophist zu sein. Erbfeinde Piatons sind nicht die großen Sophisten — das sind erst die auf jene folgenden a t t i s c h e n Politiker! Kallikles ist wirkliche Person, nicht Maske eines anderen Staatsmannes. Aber Piatons Aufgabe ist es nicht, diesen groben Menschen um seiner selbst willen der Nachwelt zu bewahren: er vertritt den Typus der damaligen Politiker. Kein Vorbehalt kann helfen, daß auch Gorgias für sie die Mitverantwortung trägt. Kallikles schlägt heftig zu. Es sei wohl Scherz, was Sokrates sage! Gorgias und Polos hätten nur aus Scham Zugeständnisse gemacht, die sie in Widersprüche verstrickten. Wenn Polos die Gerechtigkeit „schön" finde, so dürfe man den sophistischen Begriff der Unterscheidung von Natur und menschlicher Satzung, Physis und Nomos (der in der Tat ein 116
wichtiger Grundsatz philosophischer Untersuchung ist), nicht vergessen. Nach menschlichem Gesetz wäre Unrecht-Leiden schöner als Unrecht-Tun, von Natur aber sei es umgekehrt. Echter Natur entspricht die Herrenmoral, Gerechtigkeit aber ist Sklavenmoral, vom großen Haufen erdacht, um die Starken niederzuhalten. Die Natur dagegen heische, daß der Tüchtige mehr habe als der Schlechte. (483 D.) Das ist Nietzsches Morallehre, doch übersieht man, daß Sokrates sie nicht ganz ablehnt, vielmehr ihren wahren Sinn herausarbeitet! Kallikles muß zugeben, daß er nicht das Recht der rohen Kraft, sondern des Edlern, Einsich tsvolleren meine, und sein Recht nicht das Mehrhaben schlechthin, sondern das Herrschen sei. (489 B bis 491 C.) Daß das Gute herrschen soll, ist Platonisch. Aber meint es Kallikles im Platonischen Sinne? Das prüft Sokrates durch die plötzliche Frage, ob denn die Herrschenden sich selbst beherrschen. Das wäre ja offenbar die Geltung der Naturgesetzlichkeit auch im Einzelnen, und der Nomos würde heraklitisch als Ausdruck des Weltgesetzes erkannt: das Gute muß wie in der Natur so im Einzelmenschen das Schlechte beherrschen. Das ist der Gedanke des Gespräches. (491 D.) Die Frage nach dieser „Besonnenheit" deckt die bisher verhüllte Kluft auf . . . Kallikles spottet frech: „Wie süß du bist! Diese Schwachköpfe meinst du, diese Besonnenen!" Nun erst zeigt er seine nackte Natur. Gerecht und schön sei es, möglichst große Begierden zu haben und überall zu befriedigen. „Schwelgerei und Zuchtlosigkeit und Freiheit, wenn man sie nur befriedigen kann, das ist die wahre Tugend und Glückseligkeit. Das andere aber, diese Zierereien, widernatürliche Übereinkünfte der Menschen, sind leeres Geschwätz und nichtswürdig!" (492 C.) Sokrates antwortet mit bitterer Anerkennung: „Gar nicht unadlig ist es, mit welcher Offenherzigkeit du im Redekampf angehst. Du nämlich sagst jetzt deutlich, was die anderen denken, aber nicht sagen wollen." (Kallikles will Aristokrat und Freigeist sein und beweist Mut — aber was er ausspricht, ist die gemeine Gesinnung der Menge.) Gegenüber dem Individualismus, hier zu tierischer Gier übersteigert, bleibt die universale Ethik beziehungslos. Piaton braucht ein gesteigertes Bild: das Tier im Menschen beschwört er mit Bildern urtümlicher Religion. E r vergleicht die unersättliche Begierde mit dem löcherichten Fasse der Danaiden und führt das Gleichnis weit aus, aber vergebens — Kallikles bekennt sich zu dieser Unersättlichkeit (—494 C.) Wieder lobt Sokrates diese Schamlosigkeit, aber die Ironie wird vernichtender: Kallikles, der jede Moral für falsche Scham erklärte, solle sich nur ja nicht schämen! Aber auch er selbst wolle sich nicht schämen. Ob wirklich jede Lust „gut" sei? Ob der Krätzekranke, der sich nach Herzenslust kratze, ein glückseliges Leben führe? Nun schützt Kallikles Scham vor und findet es unschicklich, von solchen Dingen zu reden. Aber da er auf seinem Satze beharrt, läßt Sokrates nicht ab: ob er auch den Sinnenkitzel der Kinäden 117
für glückselig halte? Doch der Schamlose schämt sich nur der Belehrung und weigert sich, den Irrtum einzugestehen. Doch braucht Sokrates nur den Widerspruch zu zeigen, in dem jener sich längst bewegt. Er hat als gut die Einsichtigen und Tapferen anerkannt, er muß zugeben, daß die Feigen oft mehr Lust empfinden als jene — also kann die Lust als solche nicht der Maßstab des Guten sein. Wenn es gute Lust und schlechte Lust gibt, so steht die Norm des Guten über beiden. (—500 B.) Man mag zweifeln ob wirklich die Gleichung des Guten als ethischen Maßstabes und als Lebenszieles des Einzelnen logisch bewiesen sei. Sie ist vorbereitet durch das Gespräch mit Polos, denn sie gehört eng zusammen mit der Überführung des individualistischen Gutes in das universale Gute, aber sie ist Ausdruck Platonischer Wesensart, nicht Ergebnis seiner Logik. Sokrates soll die neue Lebensnorm wie einen Fruchtbaum aus dem verwüsteten Boden hervortreiben. Dem Zeitgeist der Habsucht, der nach Rednerart mit dem Schein zufrieden ist, setzt er die wahre Kunst entgegen, die, philosophisch, auf der Erkenntnis der Natur beruht. Dem eitlen Tun der Politiker, die ohne staatliches Ziel nur den Stimmungen der Menge schmeicheln, setzt er entgegen die Werke der bildenden Kunst. Zwar lehnt er hier die Dichtung ab, weil auch sie nur Redekunst sei. Wie er aber nachdrücklich eine echte Redekunst sucht, die Dienerin der Philosphie sei, so lehnt er offenbar die Dichtung seiner Zeit ab, weil sie ihr höchstes Amt, die Erneuung des Staates aus dem Geiste, nicht wahrnimmt. Um so anschaulicher sagt die bildende Kunst das dinglich-gestalthafte Ziel. „Nicht wahr, der rechte Mann, der nur um des Besten willen sagt, was er sagt, wird nichts anderes in den Tag hineinreden, sondern er wird auf ein Etwas blicken, so wie auch alle anderen Werker auf ihr Werk blicken und niemand von ihnen, was er ans eigne Werk fügt, planlos zugreifend anfügt, sondern so, daß ihm eine gewisse Gestalt (Eidos) das erreiche, woran er schafft. Wie du die Maler, die Baumeister, die Schiffbauer und die anderen Werker sehen kannst, wenn du willst, wie in eine bestimmte Ordnung jeder jedes fügt, was er fügt und zwingt, eins ans andere sich geziemend zu passen und zusammenzustimmen, bis er das ganze Werk wohlgeordnet und schöngegliedert vollendet hat." (503 D, E.) So überwältigt ihn (unmöglich eine Parodie auf Gorgias) das Pathos des Gegenstandes. Hier wird im Augenblick der Gipfel seiner Lehre sichtbar. Auch Ärzte und Erzieher bilden den Leib im Blick auf das schöne Ganze, die Gestalt, und so wird deutlich (wie auch 500 C vorweggenommen), daß der Philosoph der große Werker, der Demiurg ist, der Seele und Staat auf das schöne Bild hin formt. Nietzsches: „Trachte ich denn nach dem Glücke? Ich trachte nach meinem Werk!" klingt an. Nicht der Genuß, sondern das Bilden nach der schönen Idee ist Sinn des Lebens — wird aber auch wahres Glück. Zwei Worte sind es, die hier den Anstieg zu seinem Gesetz und zum Glück der Ganzheit bahnen: Taxis 118
und Kosmos. Sie führen über das Gefüge der „Politeia" endlich im Timaios zur seligen Schau der Sternenreigen, die das Vorbild der Ordnung in der Seele sind, zu Schönheit, Glück und göttlicher Vollkommenheit. So machen schon im „Gorgias" (504 A. 506 A.) Taxis und Kosmos, Ordnung und schöne Gliederung, die Seele auch makarios und eudaimon, selig und beglückt. (507 C.) Mit solchen Tönen versucht Sokrates den dumpfen Widerstand eines Kallikles, Piaton den der ganzen Nation zu brechen. Der „Gorgias" ist Zeichen des neuen Weltgefühles, des neuen Weltalters. Aristoteles berichtet, daß ein korinthischer Landmann das Werk las, seinen Acker und Weinberg verließ, um in Piatons Kreis der neuen Lehre zu leben: in ihm klang der große Ruf wider. Selbst ein Kallikles spürt, daß Sokrates' Worte eine Revolution verheißen: „Denn wenn du im Ernst sprichst und wenn es wahr ist, was du sagst, wie wäre dann nicht unser menschliches Leben geradezu auf den Kopf gestellt und täten wir nicht überall das Gegenteil von dem, was wir tun sollen?" Da wirkt nicht mehr dialektische Untersuchung. Durch die Drohung mit Jenseitsgericht und Höllenstrafen wächst der „Gorgias" zur religiösen Gewalt, die ihn unverkennbar zum Vorläufer des katholischen Weltbildes macht. Sokrates schildert höchst anschaulich diesen Gerichtstag im Hades. Wenn Piaton sonst bei seinen Mythen erinnert, sie seien nur Gleichnisse, so versichert er diesmal, seine Lehre klinge wie ein Mythos, sie sei aber die Wahrheit. Nach dem Gesetz des Zeus gelangen die Seelen der Gerechten auf die Insel der Seligen, die der Ungerechten zur Bestrafung in den Tartaros. Anfangs irrten die Richter oft, denn noch vor dem Tode fand das Gericht statt, so daß die Seelen verhüllt und bekleidet waren mit dem Leibe. Darum befiehlt Zeus, daß Richter und Gerichtete zum Gericht erst antreten nach dem Tode, ohne Leib, als nackte Seelen, und er bestellt zu Richtern die eigenen Söhne: Minos, Rhadamant, Aiakos. Wie aber der Leichnam noch die Spuren trägt von dem, was der Leib während des Lebens erlitten hat, wie der Leichnam des Sträflings entstellt ist durch Narben von den Züchtigungen, so tragen nun auch die nackten Seelen die Spuren des Lebens, das die Menschen geführt haben. Dann möge der Hadesrichter oft an der Seele des vielbeneideten Tyrannen oder Großkönigs nichts Heiles mehr finden, „sondern ganz vergeißelt ist sie und voller Narben der Meineide und Ungerechtigkeit, weil jede seiner Taten in der Seele sich ausprägte, und alles an ihr ist verkrümmt durch Lüge und Prahlerei, und nichts an ihr ist gerade, weil sie ohne Wahrheit wuchs. Er sieht sie gänzlich verwachsen und verunstaltet durch Willkür, Völlerei, Überhebung, Zügellosigkeit in ihren Handlungen. Hat er das erblickt: so sendet er sie ohne Verzug, ihrer Ehren beraubt, ins Verlies, wo sie die Leiden dulden soll, die ihr gebühren." Die Lehre der Seelenwanderung hat Piaton noch nicht geäußert, und wie weit seine Erzählung wörtlich gilt, stehe dahin. Aber er versichert, 119
es sei kein Märchen, kein Altweiberglaube. Wahr ist, daß unsere Seele nach dem Tode fortlebt und unser schönes oder häßliches Tun ihr künftiges Schicksal bestimmt. „Gorgias" und „Phaidon" sind die beiden Brückenköpfe auf der antikischen Seite zum Übergang nach dem Lebensgefühl des christlichen Ufers. Das Christentum verdankt der unbedingten Ethik und dem Bilde der Jenseitswelt des „Gorgias" viel, doch bleibt die Frage, ob Piaton christlich fühlt und die Auflösung der Antike ins Werk setzt. „Absage an die Welt" nennt man den „Gorgias", und es ist wahr: er fordert Verzicht und Opfer. Aber nicht der Verzicht ist das Wesentliche, sondern daß er das Tor ist zum heiligen Staat, zum schönen Leben. Asketisch muß das nur unser christlich erzogener Sinn verstehen. Piatons Reich ist V o n D i e s e r W e l t ! Wer seine Sendung bejaht, wird in ihrem Dienst, in weltlicher Vollendung sein Glück finden. Nicht unantikisch ist seine Botschaft: auch Prometheus opfert sich seinem Werk, und die Überzeugung vom Einen Allmächtigen gehört zur vorsokratischen Philosophie. In diesem Heroen-Geist fordern Sokrates und Piaton Gerechtigkeit nicht als Absage an die Welt, sondern als Rettung des Staates. Das sei auch gegen Nietzsche gesagt, der Piaton schon „angemuckert" fand. Der Kreuzestod des Platonikers Hermias, die tathafte Erfüllung der „Gorgias"-Lehre, ist ganz antik und hat so wenig mit Askese wie mit der christlichen Ekstase der Märtyrer zu tun. Aber die Höllenstrafen! Entstammt diese Phantasie nicht dem Ressentiment des Unterliegenden, dem Trost der Rachehoffnung? Bei den Christen der Frühzeit, nach furchtbaren Verfolgungen, schwoll dies Ressentiment zu einer fast schöpferischen Gewalt an. Sollte der Keim dieser Gesinnung, die so sehr der Platonischen Wesensart widerspricht, im „Gorgias" liegen? Woher stammt Piatons Zorn? — Die Antwort liegt nahe: Rache für Sokrates. Aber schon in der Apologie hat Piaton dessen Schicksal mit wunderbarem Abstand behandelt, im Kriton dem Vaterland Gehorsam geschworen — wie soll jetzt, neun Jahre später, die Rachsucht sein klares Bewußtsein, daß man mit der Menge nicht rechten und hadern kann, übertäuben? Ja mehr! Piaton weist ausdrücklich darauf hin, daß sein Feind Kallikles nicht die mindeste Schuld am Tode des Sokrates hat. Kallikles schilt ja, das Ende des Sokrates voraussagend, dessen künftigen Ankläger einen üblen und nichtsnutzigen Mann (486 B), und im Sinne des „gesunden Menschenverstandes" rät er ihm wohlwollend, sich die rhetorischen Mittel zu verschaffen, um solchen Anklägern widerstehen zu können. Wenn Sokrates dennoch so bitter gegen Kallikles kämpft, so hat Piaton höchst nachdrücklick im Bilde dargestellt, daß hier der Kampf nicht um persönliche Rache, sondern allein um die Platonische Staatsidee geht. Das Wohlwollen des Kallikles ist weit gefährlicher als der Haß der Mörder! . . . Bei der Frage, was Piaton über sich selbst sagt, muß eine Stelle sofort auffallen: Kallikles findet, die Philosophie sei eine schöne Sache für die Jugend . . 120
wer aber später noch ihr seine Zeit opfere, verdiene Schläge. „Wenn er auch wohlveranlagt ist(!), muß ein solcher Mann dennoch unmännlich werden, da er die Hauptplätze der Stadt und ihre Märkte meidet, auf denen nach dem Dichterwort die Männer sich hervortun, und es ist sein Schicksal, untergetaucht in einem Winkel, wo er mit drei oder vier hübschen Knaben wispert, sein übriges Leben zu leben, ohne daß jemals ein freies, großes, kühnes Wort aus seinem Munde tönt." (485 D.) Wie sehr widerspricht das dem Bilde des wirklichen Sokrates! Der verweilt auf den Märkten, gibt Ratschläge für das Leben, greift die Tyrannen an. Jene Worte von den drei oder vier hübschen Knaben beziehen sich auf Piaton selbst, auf den Piaton des „Charmides" und des „ L y s i s . " Auch die weitere Mahnrede ist sehr glaubhaft als „wohlwollende" Warnung für den jungen Piaton, unglaubhaft als Warnung eines jungen Mannes dem gereiften Sokrates gegenüber. So besonders, wenn Kallikles in den Schlußversen mahnt, von den Untersuchungen abzulassen und die Kunst der Tat zu üben, den andern dies Geschwätz und Windbeuteleien zu überlassen, durch die das Haus verarme. Nein, denen solle er nachahmen, die sich Vermögen, Ruhm und viele andere Güter erwerben! . . . Kallikles hat Berührung mit Piatons Familie! Er ist verliebt in Demos, Piatons Stiefbruder, den Knaben von berühmter Schönheit. Dessen Vater Pyrilampes, der zweite Gatte der Periktione, ist ein bedeutender Staatsmann aus dem Kreise des Perikles. E s ist nicht ausgeschlossen, daß Kallikles dem Piaton eine ähnliche Mahnrede gehalten hat und daß Piaton uns hier eine großartige Erinnerung hinterlassen hat an den Gegensatz des verständigen häuslichen Rates zur Besessenheit durch die Sokratische Sendung. Jene bitteren Worte gegen „Charmides" und „ L y s i s " möchte Piaton wohl allerdings schwerlich in sein Werk aufgenommen haben, wenn sie nicht der wörtliche Ausdruck einer damals öffentlich gegen Piaton gerichteten Kritik gewesen wären. Piaton dichtet in seine Gesprächen die Gestalt des wirkenden, ewigen, lebendigen Sokrates, nicht zeichnet er, wie man meint, das Bild des historischen. Wäre der II. Brief unecht, so bliebe doch jenes Wort Platonisch: „ E s gibt darüber keine Schrift Piatons und wird keine geben, was aber jetzt so genannt wird, ist von dem schön und jung gewordenen Sokrates." Schöner und tiefer kann niemand die Einheit der beiden in ihrer göttlichen Sendung bezeichnen, Piatons Hingabe und Stolz, der sich selber fühlt als den schön und wieder jung gewordenen Sokrates.Darum ist Piatons Zorn über jene giftige Mahnung so wenig eine persönliche Empfindlichkeit wie ein erwachendes individuelles Geltungsbedürfnis dem Meister gegenüber — dieser Zorn ist Antwort der schöpferischen Kraft gegen die würgenden Kräfte der Gegenwart. Wer Piaton angreift, zieht Sokrates noch einmal vor Gericht, und wer Sokrates angreift, trifft Piaton im Lebenskern. (Man kann solche Anspielungen kaum lebendig, „unliterarisch" genug verstehen. Wenn Polykrates den Sokrates zehn 121
Jahre nach seinem Tode angreift, so meint er ohne Zweifel Piaton, und der „Gorgias" steht zu dieser Kampfschrift in polemischer Beziehung.) Kallikles' Mahnrede ist nicht Waffe im Wettkampf, sondern ein giftiger Pfeil. Der höhnische Hinweis auf das Wispern im Winkel mit drei oder vier Knaben rührt an Piatons offene Wunde: Noch sind die Hoffnungen des „Charmides" und „Lysis" unerfüllt, noch die Jünger nicht geschart, die ihm die Macht verleihen. Sein Führungsanspruch hat nur den Widerstand erweckt. (Vgl. VII. Brief. 325 D.) Dem Vorwurf, die Philosophie sei eitel Geschwätz, steht er waffenlos gegenüber. Wenn es ihm nicht gelang, durch sie die neue Herrschaft zu gründen, dann war ihm — damals — die Philosophie wirklich nicht viel mehr als Geschwätz. Dennoch konnte er nicht zurücktreten von der übernommenen gewaltigen Aufgabe. Er sah die Nation in sich zusammenbrechen, er war überzeugt, die rettende Kraft in sich zu tragen, er hatte geglaubt, seine Weltstunde sei gekommen — nur das Letzte, Leichteste schien noch zu fehlen: der Entschluß des Volkes, sich seiner Führung anzuvertrauen. Das war die ungeheure Spannung dieses Weltenaugenblicks: Er konnte nicht vorwärts, nicht zurück. Diese Qual des Sehers, dessen Kassandraruf auf taube Ohren trifft, entlädt sich als Prophetenzorn, und um sich Gehör zu erzwingen, droht er mit dem Höllengericht! Aus seinem religiösen Urgefühl und seinen kosmischen Kräften führt er den gewaltigen Unterbau auf für sein politisches Führertum. Hier fällt die Entscheidung seines Schicksals. Um dem Stoß gegen die ungestalte, dumpfwiderstrebende Menge die wirkende Bildkraft zu verleihen, muß Piaton jene in eine Figur zusammenraffen, und er wählt den gebildeten sophistischen Politiker, der bewußt und schamlos aussprechen kann, wodurch die Masse getrieben wird, ohne daß sie es weiß und bekennt. Das ist Kallikles' Aufgabe. Er vertritt, aus Selbstsucht, die „Herrenmoral", und mancher freut sich an ihm, der die gleichen Gedanken bei Nietzsche verfemt. Man findet, Kallikles sei doch „ein ganzer Kerl". (Ein böses Zeichen, wie die Deutschen ihre großen Männer behandeln!). Aber das Wahre an der Schöpferethik wird von Sokrates-Platon bestätigt, während Kallikles, weit entfernt von Nietzsches Geist, die Macht als bloßes Mittel erstrebt, die tierischen Gelüste zu befriedigen. (492 B.) Daß Kallikles von Herzen gewöhnlich ist, beweist jene Mahnung an Sokrates, vor allem ans Geldverdienen zu denken (486 C), da doch Nietzsche im Verlangen, der Menschheit ein hohes Ziel zu verleihen, „animae magnae prodigus" ist wie Platon . . . Aber als „ganzer Kerl" wird dieser gewöhnliche Charakter immer angestaunt — ich möchte sagen, Sokrates deutet mit schonungsloser Ironie an, daß es keinen „halberen" gibt. (481 D, E.) Er selbst sei verliebt in Alkibiades und in die Philosophie, Kallikles aber in Demos, den Sohn des Pyrilampes, und in den Demos, die Gemeinde von Athen. „Ich habe immer wieder bemerkt, daß du, wie gewaltig du auch bist, deinem Liebling nicht 122
widersprechen kannst, was er auch sagt und welche Ansicht er vertritt, sondern du windest dich hin und her. In der Volksversammlung, wenn du etwas sagst, und die Gemeinde der Athener lehnt die Ansicht ab, dann schwenkst du um und redest, was jene wünschen." Ebenso gehe es ihm beim Sohn des Pyrilampes, dem schönen. Ein eitler Redner nach Polos Art setzt doch durch, was er will, wenn diesem Willen auch der Sinn mangelt. Kallikles aber verzichtet selbst auf diese unechte Macht bis zur Lächerlichkeit: er sagt nur, was das Volk will. Er möchte Tyrann sein, und ein Tyrann könnte wohl so denken wie jener, aber er würde sich hüten, seine Absicht auszuschwatzen. In der Tat hat Kallikles, der sich so gewaltig aufspielt, als Politiker nichts erreicht, denn nur Piaton hat seinen Namen überliefert. Unmöglich darf man gar sein „Wohlwollen" für Sokrates rühmen, da doch schon der „Euthyphron" anzeigte, wie widerwärtig Piaton solch Wohlwollen ist. Dem unverschämten Gönner gegenüber genügt nicht die gewohnte Ironie: Sokrates steigert sie diesmal zum höchst dramatischen Angriff. Kallikles ist Demagoge, der den Verfall des Vaterlandes für seine niedere Lust ausbeuten will. Als Person könnte er nicht neben einem Sokrates stehen, aber er wird bedeutend als Sprecher der stummen Menge, des Widerstandes gegen den Genius. Der „Gorgias" ist äußerste Spannung! Piaton steht allein und verdammt das Volk in seiner Gesamtheit, ja, um es noch in seiner Wurzel zu treffen, verdammt er selbst die Helden des großen Jahrhunderts. Er verurteilt Perikles und Themistokles, selbst Miltiades und Kimon. Die ersten beiden sind Gründer der gegenwärtigen Politik — aber die andern beiden? Der Grund ist überraschend: Er nennt diese Staatsmänner wegen ihres Schicksals, das sie mit Sokrates gemein haben: das Volk hat ihnen mit Undank gelohnt. Jene aber hatten die Macht, und doch sind unter ihrer Herrschaft die Menschen schlechter geworden, sie selbst sind schuld, daß die Menschen undankbar wurden. Sokrates aber wurde die Macht nicht übertragen, deshalb ist er nicht schuld, daß die Athener nicht besser wurden. Das ist kein Moralisieren. Unverkennbar drängt das ganze Gespräch auf die Entscheidung: die Rettungsstunde naht erst, wenn ein Kommender die Weisheit des Sokrates verbindet mit der Macht des Perikles. Das geheime Thema des Gorgias heißt nicht, wie wir leben, sondern wie wir herrschen sollen. Piatons Hauptsatz, daß entweder die Philosophen herrschen, oder die Herrscher Philosophen werden müssen, stand längst schon fest, als er den „Gorgias" verfaßte. Die Zeit der genialen Machtpolitiker war vorbei und die Not erheischte den Erneuerer des Volkes. Der Sinn des „Gorgias" ist mißverstanden, wenn man die Front der Philosophie und Ethik gegen die praktische Staatskunst und Redekunst herausarbeitet. Abgelehnt ist der verantwortungslose Sophist, der gesetzlose Redner, der routinierte Staatsmann, und ihnen gegenüber steht 123
die totale Kraft des philosophischen Staatsmannes, dessen Wort und Tat harmonisch in Philosophie wurzelt. Das ist keine Abkehr von Welt und Wirklichkeit, denn Sokrates beansprucht hier, unsokratisch aber sehr platonisch, der Potenz nach dieser echte Staatsmann zu sein. Hier steht das kühne Bekenntnis: „Ich glaube, daß ich mit wenigen Athenern, um nicht zu sagen als Einziger, mich mit wahrer Staatskunst befasse und als einziger in der Gegenwart Politik betreibe!" (521 D.) Da dieser Anspruch dem Volke als groteske Anmaßung erscheint, verstärkt ihn Piaton durch den tragischen Akkord. Hat er vorher den Philosophen dem Arzt, die sophistischen Politiker dem Zuckerbäcker verglichen, hat ihn Kallikles immer wieder mit Warnungen vor der Lebensgefahr in Athen bedrängt, so wahrsagt nun Sokrates, jenen Vergleich breit ausmalend, daß er als Arzt des Volkes, der nicht süße Genüsse, sondern schmerzliche Behandlung verordne, dem Tode verfallen sei. Mag Piaton an Sokrates denken, so spricht er doch von der eigenen Lebensgefahr! Die Apologie verhieß, daß nach dem Tode des Meisters die Jünger das Volk um so schärfer stacheln würden — das erfüllt jetzt der „Gorgias" (522 C). Piaton ist in Lebensgefahr, und Möglichkeit des Erfolges sieht er nicht — er sieht Individualismus, Selbstsucht, Zersetzung. Das Bild dieses Chaos ist Kallikles, darum versucht Sokrates fast gewaltsam, diesen gewöhnlichen Menschen umzuformen. Wenn Piaton in seiner religiösen Phantasie dessen Bild dem dummen Teufel nähert, so leuchtet überraschend doch auch Luzifers Glanz an ihm auf. Zum Hedonismus des Schweines hat er sich schamlos bekannt, aber einmal findet er Worte für den Voluntarismus des Löwen. Er sagt vom Recht des Stärkeren: „So also handeln wir der Natur und, beim Zeus, dem Gesetz gemäß, dem der Natur nämlich, allerdings nicht nach dem, das wir selbst zu dem Zweck setzen, die Besten und Stärksten unter uns schon in der Jugend einzufangen wie junge Löwen und sie durch Gesang und Zaubersprüche zu bändigen, indem wir behaupten, es müsse alles gleich sein, und dies sei eben das Schöne und Gerechte. Wenn aber, meine ich, ein Mann ersteht von zulänglicher Natur, der schüttelt alles ab, zerbricht es und ist frei, indem er all unsere Verträge, Gaukelwerke, Zaubersprüche, alle widernatürlichen Gesetze zu Boden tritt. So erhebt er sich, der Knecht, und offenbart sich als unser Herr, und daraus strahlt das Recht der Natur." Diese Kallikles-Worte sind sehr nahe Piatons eigenster Leidenschaft. In der Ablehnung der sklavischen Gleichheit sind Piaton und Kallikles einig, der löwenstarke König ist aber das Wunschbild Piatons — wenn seine Herrschaft Gerechtigkeit ist! So darf Kallikles reden, weil Piaton in ihm den Versucher in der Gegenwelt darstellt. Piatons Zorn lag am Rande der Verzweiflung. Auch er ist Mensch, auch er fühlt die Qual des Opfers ohne Sinn. E r war nicht der einfache Volksmann wie Sokrates, gehörte zum vornehmsten Adel, stand schon einmal (im 24. Lebensjahre) den Regierenden nahe, und nur Sokrates schien ihn aus glänzender Bahn zu werfen. Jetzt näherte er sich dem vierzigsten Jahre, die 124
Vereinsamung war sein Erfolg, ein Tod wie der des Sokrates die drohende Gefahr — wie verführerisch mußte da die Stimme des bösen Ratgebers klingen, ein Bündnis mit Athen zu schließen, die Laufbahn einzuschlagen, die zu Macht, Ruhm, Reichtum führt. Es ist die Schicksalsstunde Piatons. Um standzuhalten, genügt ihm nicht, wie man wohl meint, die philosophische Erkenntnis. Er tut das Gerechte um seiner selbst willen, aber im Augenblick der Hoffnungslosigkeit bedarf er des religiösen Trostes: des Lohnes im Jenseits. Und gegen den Versucher ist die letzte Waffe die Verweisung ins Inferno . . . Kallikles ist beides: Gegner und Versucher. In die Wunde des Mißerfolges hat er gleich anfangs sein schärfstes Gift getropft. Das Beharren bei der Philosophie sei schmählich. „Denn wenn dich jemand festnehmen und ins Gefängnis werfen ließe, dich eines Frevels verleumdend, so weißt du, daß du nichts hättest, was dir hülfe, sondern dir würde schwindeln und du würdest den Mund aufsperren und kein Wort hervorbringen. Und vor Gericht getreten würdest du, wenn dein Ankläger auch noJi so unfähig und verrucht wäre, zum Tode verurteilt, wenn er diese Strafe beantragt. . . . Einen solchen (wie dich) darf man ja, um es grob auszudrücken, hinter die Ohren schlagen, ohne Rechenschaft geben zu müssen." Man pflegt hier eine Andeutung auf Sokrates zu vermuten. Das ist unberechtigt, so nahe es auch liegt. Sokrates ist nicht vor dem Urteil im Gefängnis, er schweigt auch nicht vor Gericht: Piaton redet von einer Drohung, die ihn selbst betraf. (486 A—C.) Wir können uns vorstellen, wie solche Vorhaltung auf Piaton, dies „Ungetüm von Stolz" gewirkt haben mag. Er gibt nach langer dramatischer Steigerung die pathetische Antwort am Schluß. In jenem Mythos von den Hadesrichtern ruft er zuletzt Kallikles selbst vor das Höllengericht, in scharfer Antithese jene Worte des Kallikles vom attischen Gericht auf das im Hades übertragend. „Fahren aber lasse ich die Ehren bei der Menge der Menschen. Die Wahrheit erforschend versuche ich als der Beste, soviel an mir ist, zu leben und, wenn ich sterbe, zu sterben. Ich rufe auf auch alle andern Menschen, so sehr ich es vermag, wie ich auch die heranrufe zu diesem Leben und zu diesem Gerichtstage, von dem ich verkünde, daß er allen irdischen Gerichtstagen die Wage hält. Und ich sage dir zum Schimpf: du wirst nicht imstande sein, dir selbst zu helfen, wenn die Buße dich trifft und das Urteil, das jetzt ich dir verkündete. Nein! Wenn du vor den Richter trittst, den Sohn der Aigina, und dieser dich greifen läßt, wirst dort du den Mund aufsperren und schwindelig werden nicht weniger als ich in diesem Leben . . und vielleicht wird auch dir einer den schmählichen Backenstreich versetzen und dich besudeln auf jede Weise!" (526 D—527 A.) Der „Gorgias" ist dem „Protagoras" verwandt wie die Tragödie dem Lustspiel. Die gewitterhafte Spannung hallt aus im Zorn über das Volk, 125
der die Erinnerung an den Tod des Meisters laut übertönt. Bewußt und trotzig begibt sich Piaton in die Gefahr: Damals hat der korinthische Krieg verheißungsvoll begonnen, und Athen jubelt Konon zu, der die geschleiften Mauern wieder errichtet hat. Aber errungen war Konons Erfolg mit Hilfe des Erbfeindes, des Persers, und der verderbliche Bruderkampf mit Sparta war erneuert. Wie mußte Athen gereizt und beleidigt sein, wenn Piaton sagte, die großen Staatsmänner Themistokles und Perikles hätten die Stadt nicht wahrhaft groß, sondern hätten sie nur aufgedunsen, aber innerlich brüchig gemacht. „Denn ohne an Besonnenheit und Gerechtigkeit zu denken, haben sie mit Häfen, mit Werften, mit Mauern, Zöllen und dergleichen Possen die Stadt angefüllt." Und gar als Peitschenhieb mußten die Athener es empfinden, da kürzlich der Sold für die Volksversammlung wieder eingeführt wurde: Perikles habe die Athener „zu einem faulen, feigen, geschwätzigen, geldgierigen Volke" gemacht. Die Tyrannis des Löwen mußte Piaton ablehnen, da jeder ihre verderblichen Folgen erblicken konnte. Darum hatte er im „Kriton" dem Gesetz Treue geschworen. Aber zugleich billigte er das attische Recht, daß der Unzufriedene auswandere. Jetzt mußten ihm Bedenken aufsteigen, ob die Wiederholung des Opfertodes sinnvoll wäre. So ist die Vermutung erlaubt, daß Piaton kurz nach der Veröffentlichung des „Gorgias" Athen verließ und sich ins italische und sizilische Griechenland begab.
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ZWEITES BUCH
DIE STAATGRÜNDUNG IM GEISTE
ERSTE REISE N A C H SIZILIEN U N D „M E N E X E N O S" D i e V e r s ö h n u n g mit A t h e n Durch die Bewährung im „Gorgias" ist Piaton „geworden, was er war". Ausgeträumt ist der Traum, durch sein Charisma sich der Herrschaft über Athen unmittelbar zu bemeistern. Doch ist der „Gorgias" nicht, wie das religiöse Pathos vortäuschen kann, asketische Abkehr von der Welt: er ist der Abbruch der Brücken, die ihm unter Verzicht auf die göttliche Sendung eine Anpassung an die gegebenen Verhältnisse, das Einlenken in die herkömmliche politische Laufbahn ermöglichen. Er ist der Sieg über den Versucher. Um den Sinn der Sendung rein zu bewahren, schiebt er die Tat auf. Zuerst muß er seinen g e i s t i g e n S t a a t gründen, eine Gemeinschaft, die sich heraushebt aus dem bestehenden Parteiwesen, die Menschen erzieht — aber erzieht zu echten Staatsmännern. Nur mit verwandelten Menschen ist der Staat zu erneuen. Darum rechnet Piaton nicht mehr mit Monaten oder Jahren, sondern mit Jahrzenten — denn daß seine Idee Jahrhunderte und Jahrtausende zur Auswirkung bedürfen würde, war ihm nicht bewußt. Der Weg zu dieser Gründung, zur Akademie, war die Unterbauung der Sokratischen Ethik durch eine das Gesamtleben durchdringende „Theorie", deren Horizont mit einem religiösen Weltbilde umschlossen wurde. Aus der Leidenschaft für Mensch und Staat, nicht aus wissenschaftlichem Streben ist sie zu verstehen, denn ein logisch deduziertes, starres System, dem Aristoteles bewußt zustrebt, hat Piaton ebenso bewußt gemieden. Um dem Geheimnis der schöpferischen Seele nachzugehen, zerbrach er immer wieder die mit Erstarrung drohenden Fachbegriffe und -formein, und damit niemals sein Weltbild zum Dogma gefriere, faßte er sein UrErlebnis in wechselnde dichterische Mythen. Der „Gorgias" läßt spüren, wie ihn in der schwersten Erschütterung die ungeheure Macht der Pythagoreischen Jenseitsbilder überfiel, die er durch die Sokrates-Freunde Simmias und Kebes kennen lernen konnte. Vielleicht war das nicht das Entscheidende. Nach dem Verzicht auf unmittelbare Machtausübung mußte der Pythagoreische Orden das Vorbild 127
seines Wirkens werden: die geschlossene philosophisch-religiöse Gemeinschaft, die ihren Lebenssinn in sich selber fand, zugleich aber die Adelsherrschaft über Unteritalien errungen hatte. Der Orden als solcher war zersprengt, aber seine geistigen Erben, die sich Pythagoreer nannten, lebten in Unteritalien. Sie waren darum das Ziel der großen Reise. Was aber suchte er in Syrakus? — Gerade diese Wahl bezeichnet Piatons Sinn für die nationale Wirklichkeit: Syrakus ist die starke militärische Westmark der Griechen gegen Karthago. Im Osten hätte er vielseitigeres Leben, philosophische Lehre gefunden, aber zugleich die traurige Uneinigkeit der Griechen, die schmähliche Umwerbung des Perserkönigs, die gerade jetzt im Korinthischen Kriege zum Verlust der kleinasiatischen Griechenstädte führte. In Philosophie, Ethik, Gesetzeslehre konnte Piaton gewiß nichts finden bei dem Tyrannen Dionys I. Er ging dennoch nach Syrakus, an den Platz der Staatsmacht, des soldatischen Geistes den Barbaren gegenüber. Daß er seine Aufgabe so auffaßte, sei aus dem VII. Briefe (vgl. oben S. 75) erinnert. „. . . Darum werden des Übels die Menschengeschlechter nicht ledig werden, bevor nicht entweder das Geschlecht der rechten und wahren Philosophen zur Herrschaft im Staat gelangt — oder die im Staat Herrschenden wirklich philosophisch werden durch göttliche Fügung. Mit dieser Überzeugung kam ich auf meiner ersten Reise nach Italien und Sizilien." Damit steht fest, daß Piaton den Blick von Athen auf alle ihm bekannten Staaten richtete, daß er seinen Staatsgeist Philosophie nannte und daß er wohl auf die Möglichkeit eines göttlichen Geschickes — ein solches mochte ihm Dions Eros scheinen — hoffte, das ihn zum Retter des Hellenentums berief. Der Schlußsatz unterscheidet zwei Möglichkeiten der Rettung. Die erste, daß die Philosophen Herrscher werden, war in Athen vorläufig gescheitert, aber bei den Pythagoreern kann er solche Möglichkeit tiefer begründen. Die zweite, daß ein Tyrann Philosoph wird, war vielleicht einmal in Syrakus zu verwirklichen. E s ist nicht ausgeschlossen, daß Piaton zuerst nach Ägypten reiste, dessen alte unwandelbare Staatsform als Gegenpol zum heftigen Aufstieg and Niedergang in Hellas der Kenntnis wert sein mußte. (Später zeigten die Priester in Heliopolis die Gemächer, die er bewohnt haben soll.) Dann hätte er Theodoros in Kyrene aufgesucht, um sich in der Mathematik auszubilden. Gesichert ist sein Aufenthalt 389 und 388 in Unteritalien und in Sizilien. Der große unmittelbare Gewinn der Reise sind die Pythagoreische Lehre und zwei Freunde: Archytas und Dion. Sokrates wirkt weiter als das erweckende Vorbild, aber durch einen feurigen Hauch belebt, wird nun die Pythagoreische Tradition zum Quell des Platonischen Lebens. Die Seelenwanderungslehre, welche die Ewigkeit der Seele verbindet mit der Zucht ihrer leibhaften Erscheinungsform, mußte Piatons religiöse Ge128
fühls- und Phantasie-Welt (Apologie, „Gorgias") befruchten wie ein Frühlings regen. Jetzt, in Italien, wurde er sich ganz seines geistigen Reichtums bewußt. Während das irdische und astronomische Weltbild den großartigen Rahmen für vergangenes und künftiges Geschehen gab, während die Mathematik zum Geistesmittel wurde, die Welteinheit aufzubauen und bis in die Einzelheiten der Physik zu verfolgen, wurde die Harmonielehre zum Element, in dem Denken und Tun, Seele und Welt, Erde und Himmel ihren Einklang finden sollten. So steht Piaton vor dem Pythagoreismus. Diese Lehre ist ihm weder begrifflicher Lernstoff noch Forschungsprinzip an sich, sondern das Mittel des religiös-politischen Ordens, des herrscherlichen Tatwillens. Unser Wissen vom Gründer Pythagoras selbst ist so unbestimmt, daß man nur von der Lehre der Nachfolger, der der Pythagoreer zu reden pflegt. Jener soll Ägypten bereist und, als er bei der Rückkehr nach Samos die Heimat vom Tyrannen Polykrates geknechtet fand, der Insel für immer den Rücken gekehrt haben. Diese Tyrannis war demokratisches Gewächs, während echte Herrschaft für Pythagoras Adelsherrschaft bedeutet. E r wanderte aus nach Kroton, der damals mächtig aufblühenden hellenischen Kolonie in Unteritalien, und gründete jenen Orden, der sich allmählich der Herrschaft über Unteritalien bemächtigte. Der Glaube des Ordens ist schwer von der orphischen Religion zu trennen. Das Ordensleben gründete sich auf asketisch-einfaches Leben, auf strenge Unterordnung unter die Oberen und schweigenden Gehorsam. Verpönt war der Verrat der Geheimlehre. Das führende Dogma scheint die Lehre der Seelenwanderung gewesen zu sein. Piaton fand diese Staatsform nicht mehr vor. Im V. Jahrhundert hatten die Demokraten die Macht des Bundes zertrümmert und das Ordenshaus in Kroton in Brand gesteckt. Nur zwei Pythagoreer sollen gerettet sein: Lysis, der nach Theben ging und der Lehrer des Epaminondas wurde — und Archippos, der sich nach Tarent rettete. Dieser Ardiippos ist der Vorgänger des Archytas, dieses philosophisch bedeutendsten der nahen Freunde Piatons. Archytas ist Staatsmann, und es gelingt ihm — nach Piatons erster Reise — die Führerschaft Tarents zu erwerben und damit der einflußreichste Staatsmann Unteritaliens zu werden. Er ist ein Kenner der Lehre Demokrits und bedeutend als Mathematiker und Physiker. Wenn auch der Orden nicht mehr bestand, so ist es schwerlich berechtigt, den Kreis um Archytas als „unechte" Pythagoreer zu bezeichnen und die echten in den orphischen Bettelmönchen zu sehen. Jener trug in sich die schöpferische Philosophie und Staatskunst des Pythagoras und überließ den orphischen Priestern die entartende Religion. Der Pythagoreer Philolaos, der ebenfalls gegen Ende des Jahrhunderts nach Theben gekommen war und durch seine Schüler Simmias und Kebes auf Sokrates und seinen Kreis gewirkt hatte, scheint sogar die Lehre von der Seelenwanderung preisgegeben zu haben. Daß 9
Hildebrandt, Piaton
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aber Archytas die mathematischen und physikalischen Studien vertiefte und damit die Staatskunst verband, war nicht unpythagoreisch, und welchen Grund hätte dieser berühmte Mann haben sollen, seinen Ruhm mit dem erborgten Namen zu verschleiern — zumal im demokratischen Tarent! Die naturphilosophische Lehre dieses Kreises um Archytas ist die „Pythagoreische Philosophie", die Piaton seinem Werke eingefügt hat. Piaton hat sie der Welt gerettet, und durch ihn wurde sie eine ungeheure Quelle der europäischen Renaissance: er ist der Vollender, der alle Bruchstücke Pythagoreischen Lebens wieder zum Ringe schmiedet. . . Von Italien setzte Piaton über nach Sizilien und wurde in der mächtigen Hauptstadt Syrakus am Hofe Dionys I., des soldatischen Gewaltherrschers, aufgenommen (durch Schillers Gedicht zum populären Bilde des Tyrannen schlechthin geworden). Dieser Machtzeit Siziliens war eine größere um ein Jahrhundert vorausgegangen. Als die Griechen im Mutterlande bei Salamis die Perser besiegten, siegten sie auch in Sizilien über die Karthager. Perser und Karthager standen im Bündnis, aber in seiner schönsten Zeit bewährte sich Hellas ruhmvoll im Kriege gegen zwei Fronten. Pindar besang die großen Herrscher und weilte wie Simonides und Aischylos am Hofe Hierons I. in Syrakus. Erhabene Reste der dorischen Tempel zeigen noch heute das Gepräge jener Zeit, aber das Bild ihrer Zerstörung erinnert zugleich an den Verfall der Nation, der in Piatons Jugendzeit fiel. Es war der dorisch-ionische Bruderzwist des Peloponnesischen Krieges, der durch den unseligen Plan des Alkibiades auf Sizilien übergriff. Nachdem sich die Athener vor Syrakus verblutet hatten, unterlagen die Hellenen des Westens den Karthagern: Agrigent, Selinunt, Himera wurden in einem Jahre zerstört. In dieser äußersten Gefahr der hellenischen Flanke hatte Dionys I. die Herrschaft an sich gerissen, die Karthager zurückgedrängt und Syrakus zur gewaltigen Festung gemacht, deren Reste wir heute bewundern. Als Piaton an diesen Hof kam, versuchte er den Tyrannen für seinen Staatsgedanken zu gewinnen: Dionys sollte eine gerechte und gesetzmäßige Verfassung gründen, die Tyrannis in ein Königtum verwandeln und den Nomos als Gott anerkennen. Piaton weilte lange genug, um Dion, den Schwager des Tyrannen, den Jüngling von vornehmem Adel und fürstlichem Reichtum, für immer zum Jünger zu gewinnen. Dann aber kam es zum gefährlichen Bruch mit dem Tyrannen. Da ist es für den nüchternen Wirklichkeitssinn Piatons sehr bezeichnend, wie er vom persönlichen Feinde spricht: Er nennt — nach dem Tode Dionys I. und der Besiegung Dionys II. durch Dion! — jenes „das einzige Geschlecht, welches damals eure Väter in höchster Not einsetzten, als die äußerste Gefahr das Sizilien den Hellenen bedrohte, ganz durch die Karthager entvölkert und barbarisch zu werden. Denn damals wählten sie Dionysios als jungen und kriegerischen Mann für die ihm gebührende Führung des Krieges, 130
als älteren Ratgeber aber den Hipparinos, zur Rettung Siziliens als unbeschränkte Herrscher, und nannten sie, wie man sagt, Tyrannen. Und mag man nun glauben wollen, daß göttliches Geschick und Gott selbst, oder die Tüchtigkeit der Führer, oder auch beides zusammen im Verein mit den Bürgern die Rettung bewirkt habe, so möge jeder das deuten, wie er wolle: Rettung aber — das bleibt bestehen — wurde den damals Lebenden gebracht! So ist es geschehen und darum ist es gerecht, daß alle den Rettern Dank sagen!" (VIII. Brief. 353 A, B.) Höchst Platonisch, im Sinne der üblichen Auffassung aber ganz unplatonisch. Vom Frevelmut, unter dem Piaton persönlich zu leiden hatte, mag etwas vielleicht in die Tyrannenbilder der Mythen eingegangen sein, aber mit der nationalen Gestalt des Dionys hat er sein privates Erlebnis nicht vermengt. Piaton, der unbedingte Ethiker, der Unrechtleiden dem Unrechttun vorzieht, denkt nicht daran, den einst gefürchteten Tyrannen zu moralisieren. Er erkennt dem Retter des Hellenentums in Sizilien ausdrücklich die Arete, die Tugend zu, denn die große Tat des Staatsmannes ist in sich Arete, muß in sich doch etwas von Gerechtigkeit haben. (Von der Überspitzung im „Gorgias" ist er zurückgekommen.) Die Worte über die Rettung, die Soteria, klingen wörtlich an die Worte über seine eigene Aufgabe an (VII. Br. 326 B): Er selbst wartet auf die göttliche Schickung, die ihn zur politischen Tat beruft. Ihm, dem angeblich wirklichkeitsfremden Systematiker, ist gleichgültig, ob man die Tat des Großen als göttliche Schickung oder als menschliche Leistung oder als Wirkung der Umstände deutet: nur sehen soll man die Tat des Retters und ihm dankbar sein. Bei solchen Worten scheint es nicht unmöglich, daß Piaton, im Zorn über Athen, an eine dauernde Tätigkeit am Tyrannenhofe gedacht hatte. Aber es kam zum Bruch mit Dionys. Vielleicht stand dieser nur auf Dions Bitten von der Hinrichtung des Weisen ab, vielleicht überantwortete er ihn dem Gesandten Spartas, da Sparta und Athen im Kriege lagen. . . Fest steht, daß Piaton auf Aigina feil stand auf dem Sklavenmarkt. Ein reicher Kyrenäer, Annikeris, erkannte ihn dort und kaufte ihn für 30 Minen frei. So war der Stand des Schicksals, als er, unfreiwillig und wie ein Gescheiterter, im Jahre 388 oder 87 nach Athen zurückkehrte. Zum Propheten des „Gorgias" vor der Abreise gab die Wiederkehr nach dem mißlungenen Abenteuer einen bedenklichen Mißklang. Dennoch war die Reise keineswegs ergebnislos. Damals war ihm der KalliklesHohn, das Bild des mit drei oder vier Knaben im Winkel Hockenden aufgeprägt — jetzt war er zurückgekehrt mit den Erfahrungen einer großen Reise, der Freundschaft eines Archytas, der Jüngerschaft eines Dion, der dem Thron am nächsten stand, und daß er sich durch seinen Freimut mit dem Tyrannen überworfen hatte, konnte ihm in Athen, das sich in zunehmender Feindschaft mit diesem befand, nur Sympathien 9*
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erwerben. Der Prophet, der in der Fremde durch Person und Wort gewirkt hatte, konnte nun auch im Vaterland etwas gelten: es hing von seinem Auftreten ab, wie sich sein Verhältnis zu den Athenern gestaltete. Er selbst wird sidi in der Fremde bewußt geworden sein, daß er sich von Athen nicht lösen konnte. Wenn nun das Gift des Kallikles-Hohnes geschwächt war, so war es an Piaton, die Schärfe des „Gorgias", die sein Verhältnis zu Athen zu zerstören drohte, zu entgiften. Dazu bot sich bald nach der Rückkehr die Gelegenheit: der Korinthische Krieg wurde beendet durch den Antalkidasfrieden. Seit Sokrates Tode war die Politik im Mutterlande ein Ausdruck der zunehmenden Zerrüttung. Sparta hatte die Niederlage seines Gegners ausgenutzt, um Griechenland zu tyrannisieren, und es war begreiflich, daß Athen sich den anderen Staaten anschloß, als diese den Spartanern in den Rücken fielen, während Agesilaos in Kleinasien die Perser besiegte. Es waren die Hilfsgelder des Nationalfeindes, des Perserkönigs, mit denen Konon die Mauern Athens wieder aufbaute: das war die Politik, die Piaton im „Gorgias" gegeißelt hatte. Nun hatte umgekehrt Sparta sich mit den Persern verbündet. So schmählich war das Ende darum, weil Sparta den Großkönig zum Protektor Griechenlands machte, ihm die Griechenstädte Kleinasiens preisgab und sich auf ihn stützte, um die Griechenstädte des Mutterlandes zu unterdrücken. Nur Athen wurde geschont, um es nicht in das Bündnis mit den Kleineren zu treiben. Das ist das schmähliche Ende des Ruhmesalters der Perserkriege. Zu diesem für Athen glimpflichen Frieden ergreift Piaton das Wort und schreibt einen Epitaphios auf die Gefallenen: das ist der „Menexenos". Eine öffentliche Prunkrede ist seinen Grundsätzen so zuwider, daß man lange den Menexenos für gefälscht hielt und ihn dann, da dies sich als unmöglich erwies, als bloße Karikatur deutete. Wer nach der Welterschütterung durch unsere Kriege diese Rede liest, wird diese Verständnislosigkeit des XIX. Jahrhunderts kaum noch begreifen. Zwei Gründe bewogen Piaton, dies eine Mal der Rhetorik entgegenzukommen. Wenn er in Athen die Führung der Jugend in Anspruch nahm, so trat er äußerlich in Wettbewerb mit anderen Lehrern der Bildung, deren Hauptmittel die Rhetorik war. Es mußte Piaton reizen, zu zeigen, daß seine Ablehnung nicht der Teilnahmslosigkeit entsprang, indem er jenen ein Vorbild für eine nationale Rede hinstellte, wobei der geschraubte Stil am Anfang der Rede beweisen soll, daß Piaton diese Mittel des Prunkes spielend beherrscht. Wessen der Staatsmann an Redekunst bedarf, wird er auch in Piatons Schule lernen, der nur die Rhetorik als Selbstzweck verpönt. Das betrifft die rhetorische Form, der wahre Zweck aber ist, wie gesagt, die Versöhnung mit Athen. Einmal wenigstens drängte es ihn, der Vaterstadt zu gestehen, was ihn trotz allem gefühlsmäßig an sie fesselte. Das Weltgeschick legt ihm die bittere Aufgabe des Mahners und Tad132
lers auf, aber hier, dies eine Mal, bei der Feier für die Kriegsgefallenen, darf er dem Volk zeigen, wie sein Herz für Athen und seinen Ruhm schlägt. Wie fern ist ihm die Pflicht der kalten Treue, denn ausdrücklich hat er ja im Kriton das Recht des Auswanderns gelobt: es war das einzigartige Athen, das glänzende und gedemütigte, der schöpferische Herd von Hellas, für den selbst noch das Opfer verführerisch war. Wie man Kindern, um sie nicht zu entmutigen, wohl das echte Ziel als schon erreicht vormalt, damit die schwächeren getröstet, die klügeren aber, den Abstand bemerkend, erst recht angespornt werden, so zeigt Piaton am Feiertage seinem Volke das Schöne, was sie eint, das Verfehlte aber deutet er versteckt für die Denkenden an, mit leichter Ironie vielleicht, der aber jede Bitterkeit, wenn auch nicht der schmerzliche Zug fehlt. So ist der Ton des „Menexenos". Der Grundakkord dieser Rede ist „Freiheit". Die Freiheit, die Piaton meint, ist die Freiheit der Nation, die sich verwirklichen kann nur in der Einigkeit der Hellenen gegen die Barbaren. Athen hat noch im Antalkidasfrieden die Idee der Nation vertreten, die Sparta an den Großkönig verriet. Oft hat es im Rausch der Demokratie die „Freiheit" zu klein, zu parteiisch ausgelegt, woran Piaton mehrmals durch eine ironische Färbung des Wortes erinnert. Heute aber darf er mit ganzem Herzen gegen Sparta zu Athen stehen, und er scheut sich nicht, die reine Idee des Hellenentums, den reinen griechischen Stamm, in Attika zu finden. Er stellt diesen Gedanken höchst eindrucksvoll im alt-attischen Mythos der Autochthonie, der Erdentstammtheit dar. Er will die edle Geburt, die Eugeneia der Gefallenen preisen. (237 A.) Ihre Urmutter ist Attika. Andere Stämme leben in fremdem Land, sie werden von einer Stiefmutter ernährt, nur die Athener werden von der echten Mutter erzogen und nach ihrem Ende werden sie, wie die Gefallenen hier, wieder vom Schoß der Gebärerin aufgenommen. Wert ist dies Land des Preisens, da doch selbst die Götter sich um seinen Besitz entzweit haben. Andere Länder gebaren allerhand Getier, reißendes und weidendes. Attika allein erhielt sich rein von reißenden Tieren und wählte zur Geburt sich den Menschen. Ja, Piaton sieht den Beweis, daß Attika in Wirklichkeit den Menschen geboren hat. Der Gebärenden quillt die Nahrung für das eigene Kind, während der Frau, der man ein Kind unterschob, der Busen leer bleibt. Es ist aber nicht die Erde, die dem Weibe nachahmt Schwangerschaft und Geburt, sondern das Weib der Erde, Attika allein aber entquoll damals menschliche Nahrung: die Frucht des Weizens und die Olive. Dann gab es seinen Kindern zu Herrschern und Lehrern die Götter, die sie die Künste lehrten, im Bedarf des Lebens und im Gebrauch der Waffen. Mit so schönen Gedanken schmückt Piaton sein Attika. Wie sollte ein Hauch Ironie sie trüben, da sein Stolz den landfremden Sophisten gegenüber doch immer die echte Geburt war. Freilich erlaubt ihm nur die feierliche Stunde, vor der Befleckung der Eugeneia die Augen zu schließen. Im 133
letzten Jahrhundert hatte die Hafenstadt ein bedenkliches Gemisch angeschwemmt, gegen das er im „Gorgias" das böse Wort vom aufgedunsenen Athen gesprochen, während er hier (237 B) nur leise an die landfremden Metoiken erinnert. Sonst darf er heute davon schweigen, da Athen den hellenischen Gedanken beim Friedensschluß am reinsten vertrat. Die Frühzeit attischer Geschichte haben die Dichter in ihren Mythen dargestellt, und mit ihnen will der Redner nicht wetteifern. Aber die Heldenzeit der Perserkriege will er preisen, und er, der angebliche Dichterfeind, wirbt um die Dichter, damit sie in Gesängen und Dichtungen jene Täter verherrlichen. (239 C.) Wie öfters, wenn er in dichterischer Bewegung redet, nähert sich hier seine Prosa durch Gorgianischen Redeschmuck der poetischen Sprache. In der Mitte der Rede richtet er sein nationales Symbol auf: die Marathonschlacht. Sie ist die Tat der Athener, denn alle bebten, nur Athen beharrte in ruhiger Sicherheit. Aus dieser Schlacht kann jeder erkennen „wie groß die Arete derer gewesen sein muß, die bei Marathon die Barbarenmacht auffingen und den Übermut ganz Asiens züchtigten, um als erste die Siegeszeichen über die Barbaren aufzustellen, den anderen zu Führern und Lehrern geworden, daß die Macht der Perser nicht unbesiegbar sei, sondern alle Menge und aller Reichtum der Arete weicht!" Das ist das umfassende Symbol: der echte Sinn der Freiheit — Freiheit der Nation . . und der echte Sinn von Arete und Macht — Überwindung von Stoff und Zahl. Den Sieg von Salamis stellt Piaton, seine Abneigung gegen die Seemacht unterdrückend, daneben, um dann die Reinigung der Meere von persischen Schiffen zu preisen. Namen werden der Sitte gemäß im Epitaphios nicht ausgesprochen, weder göttliche noch menschliche, aber in ihren Taten sind gerühmt: Miltiades, Themistokles, Kimon, die drei Helden, deren Tadel der schärfste Ausdruck des „Gorgias"-Zornes war. Von Perikles schweigt Piaton jetzt. Auf diesem Hintergrunde hebt sich der unselige Peloponnesische Krieg ab. Piaton nimmt an, daß Athen die Freiheit der Griechenstaaten gegen Spartas Gewaltherrschaft verteidigte, er rühmt die Mäßigung des Nikiasfriedens, der den Kampf zwischen Hellenen als Bruderzwist, nicht als Krieg behandelt, ja er versichert, daß ohne den frevelhaften Parteikampf Athen Sieger geblieben wäre. Aber nach jenen Verdiensten um Hellas welcher Undank! Athen wurde der Mauern beraubt, sein auswärtiger Besitz wurde ihm genommen, es durfte nur noch 12 Schiffe halten. Piaton sagt: „Mit dem Furchtbaren und Unerhörten an diesem Kriege meinte ich, daß die anderen Hellenen bis zu dem Grade der Eifersucht gegen unsere Stadt gerieten, daß sie sich nicht scheuten, dem Erbfeinde, dem Großkönige Gesandte zu schicken, um ihn, den sie im Bunde mit uns einst vertrieben hatten, zu ihrer Hilfe wieder zurückzuholen, den Barbaren gegen Hellenen, und so gegen unsere Stadt alle Hellenen und 134
Barbaren zu verbünden. Darin aber wurde offenbar die Stärke und Tüchtigkeit unserer Stadt." (243 B.) Denn Piaton findet, daß dieser Haß nur durch den Ruf der Unbesiegbarkeit Athens entstanden sei und daß es ohne die innere Zerrissenheit unbesiegbar geblieben wäre. Endlich kommt die Rede auf die Gegenwart, den Korinthischen Krieg. Sparta hat Hellas an den Perser verraten . . die Städte, deretwegen Athen in den Krieg getreten, hatten Hilfsgelder empfangen und die Griechen Kleinasiens preisgegeben: nur Athen hatte sich bis zuletzt widersetzt. Darum rühmt sich Piaton der Heimat und nimmt den Gedanken ihrer Autochthonie, der den Anfang dichterisch schmückte, nun als pathetischen Schlußakkord der eigentlichen Gedenkrede wieder auf: „So edel und großherzig, so fest und heil und so von Natur barbarenfeindlich ist das Wesen unserer Stadt, weil wir ganz rein hellenisch sind und unvermischt mit den Barbaren. Denn kein Pelops, Kadmos, Aigyptos, Danaos und solche andere viel, die von Natur Barbaren, nach dem Gesetz Hellenen sind, wohnen mit uns. Als Hellenen selbst, nicht Mischlinge, wohnen wir hier. Daher ist der Stadt ein reiner Haß eingepflanzt gegen die fremde Natur. — Dennoch standen wir auch diesmal wieder allein, weil wir nicht einwilligen wollten in eine so schändliche und unfromme Tat: Hellenen zu verraten an Barbaren!" (245 D.) Mag Piaton einer rhetorischen Übertreibung sich bewußt sein, so verdient dennoch der häßliche Gedanke, daß er die Gefallenen des letzten Krieges, ja auch der Perserkriege verspotten und parodieren wollte, kein Wort der Widerlegung. Nur gerade der Schlußsatz klingt wie Ironie: „Tüchtige Männer waren auch jene, die den König befreiten und die Spartaner vom Meere vertrieben. Sie alle rufe ich euch ins Gedächtnis." (246 A.) Doch muß man zum Verständnis solcher Worte an die Athener denken, die das alles erlebt und besprochen hatten, so daß leiseste Andeutung genügte, wo deutliche Darstellung banal wäre. Piaton hat angedeutet, daß Athen, als es Sparta angriff und den Großkönig befreite, einer unechten, weil unnationalen Freiheit nachjagte und daß sich selbst damals die Athener eines offenen Bündnisses mit dem Perser geschämt hätten. (244 D, E bis 245 A.) Der König, den sie befreiten, hat nun dem Gegner Sparta zum Siege verholfen: das ist eine sehr bittere Ironie, aber die Ironie des Schicksals, nicht der Platonischen Rede. Und diese Bitterkeit ist längst verschmerzt, da der Friede, dank der besonderen Politik Spartas, gerade für Athen unerwartet günstig ausfiel. Jener Satz ist keine verletzende Kritik und erinnert nur sachlich und ziemlich: Jene fielen als Opfer einer falschen Politik, aber ihr Tod für das Vaterland ist darum um nichts weniger ehrenvoll. — Nach diesem eigentlichen Epitaphios richtet Piaton, angeblich von den Gefallenen, als sie ins Feld zogen, beauftragt, das Wort an die Hinterbliebenen. Diese Ansprache ist getragen vom Sokratisch-Platonischen Ethos in seiner Reinheit, das denen unverständlich blieb, die den 135
Trost der Witwen vermissen. Die Feier ist staatlich, nicht familiär, sie dient der Staats-Idee, und nur aus ihr nimmt sie ihr Feuer. Alle Güter des Lebens empfangen den Wert aus Tapferkeit und Gerechtigkeit, und würdelos ist es, den Ruhm der Vorfahren zu genießen und zu verbrauchen, ohne ihn zu vermehren. Nur eine maßvolle Trauer ist schön. „Denn — so läßt Piaton die Gefallenen vor dem Tode sprechen — unser Leben wird ein Ende finden, das für die Männer das schönste ist, daher ziemt euch, es mehr zu preisen als zu beweinen." Auch die Angehörigen tröstet Piaton mit der Sorge des Staates. Der pflegt die Eltern, ist Vater für die Waisen und schmückt die Söhne, wenn sie volljährig werden, mit der vollen Rüstung, damit die Werkzeuge der väterlichen Arete sie erinnern, den väterlichen Herd zu beschirmen. Der Staat wird alljährlich die Toten ehren mit gymnastischen und musischen Kampfspielen. „Dessen seid gedenk, und ihr werdet das Unglück sanfter tragen. Den Gestorbenen und Lebendigen werdet ihr so am liebsten sein und so am leichtesten pflegen und gepflegt werden. Nun aber verrichtet, ihr und alle andern, gemeinsam dem Gesetze gemäß die letzte Totenklage, und dann geht nach Hause." — Piaton wäre nicht Piaton, wenn sein Werk nur geschichtliche Rückschau wäre. Hellas siecht am Gegensatz von Sparta und Athen, Athen am Gegensatz von Aristokratie und Demokratie, und wenn Hellas wieder groß werden soll, dann muß zuerst der Riß in Athen geheilt werden: Darum gedenkt er neben den Kriegsgefallenen auch der Opfer des Bürgerkrieges. Wieder rühmt er, der Aristokrat, die Mäßigung der hergestellten Demokratie nach dem Fall der dreißig Tyrannen, aber er bittet das Volk, auch mit dem Andenken dieser Besiegten — sein Oheim Charmides gehört zu ihnen — endlich Frieden zu schließen. Die Amnestie soll auch die Toten versöhnen. „Auch der in jenem Kampf von beiden Seiten Gefallenen müssen wir gedenken und sie nach bestem Vermögen in solchen Feiern durch Gebet und Opfer versöhnen, indem wir zu ihren jetzigen Herren beten, da ja auch wir versöhnt sind. Denn sie bekämpften einander nicht aus Bosheit oder Feindschaft, sondern aus Mißgeschick. Zeugen sind wir selbst dafür, wir Lebenden. Sind wir doch von gleichem Geschlecht wie jene und verzeihen einander, was wir uns antaten und voneinander litten." (244 A.) Das kann Sokrates nicht sagen, hier spricht aus Sokrates' Munde Piaton. Er ist vom gleichen Geschlechte wie jene, und was er von diesen erlitten hat, das ist die Hinrichtung des Sokrates. Schöner und würdiger konnte der Adlige dem Demos nicht die Versöhnung anbieten. Damit erst empfängt die wichtigste Stelle, in der Piaton auf sich selber als den neuen Gründer hinweist, ihren Sinn, denn als gröbste Ironie galt es, wenn er sagt: „Die Verfassung war die gleiche, damals wie jetzt eine A r i s t o k r a t i e . . . Der eine nennt sie Demokratie, der andere an136
ders, wie es jedem beliebt. Sie ist aber in Wahrheit eine Aristokratie unter der Billigung der Menge . . . Die Macht ruht in der Stadt hauptsächlich bei der Menge, Ämter und Gewalt aber überträgt sie immer denen, welche die Besten scheinen." (238 C, D.) Diese paradoxe Zuspitzung scheint eine Verhöhnung der auf die Demokratie eifersüchtigstolzen Athener. Aber es ist zu bedenken, daß Piaton von den Oligarchien und allem Parteiwesen sich f ü r immer losgesagt hat, daß er die Ausnutzung des Staates durch bevorrechtigte Familien, die Knechtung der echten Bürger, denen er autochthone Abstammung zuschreibt, ablehnt. Die Besten sollen herrschen, dem Volkswohl, dem Gesetz dienen. Der Isogonie entspricht die Isonomie (239 A), das sagt er hier dem Volk, in Syrakus den Tyrannen, denn auch Könige sind dem Gesetz Untertan. (VII, Br. 326 D. VIII. Br. 354 C.) Sein Vorbild ist das Marathon-Athen: dem Namen nach Demokratie, in der Gesinnung aristokratisch. Was Piaton hier dem Volk von Athen sagt, läßt sich so umschreiben: „Ihr nennt mich einen Aristokraten, aber ich will mit keiner Partei zu tun haben. Einig sind wir in dem Wunsche, daß Amt und Führung den Besten übertragen wird: so sind wir alle Aristokraten. Gelingt euch die rechte Wahl, so ist es ganz gleichgültig, ob formal eine Aristokratie oder Demokratie besteht." Wer aber ist der rettende Staatslenker? — Wenn Piaton noch sagt: „Nur eine Regel gilt: wer f ü r weise und gut gehalten wird, herrscht und regiert!" so wissen die Athener, daß seit Sokrates' Tod Piaton als Erster diesen Vorzug f ü r sich beansprucht. Er macht hier den Vorschlag, die demokratische Verfassung bestehen zu lassen, ihm selbst aber die Führung des Staates zu übertragen — das ist der Weg, den sein Freund Archytas geht, der in aristokratischer Gesinnung die Führung über das demokratische Tarent übernimmt. Erklärt, nicht gerechtfertigt wird die frühere Mißachtung einer solchen Platon-Rede durch das seltsame Rahmengespräch. Sokrates trägt die Rede vor — dreizehn Jahre nach seinem Tode. Er erzählt, daß er sie von Aspasia gehört habe, ja daß sie ihn beinahe verprügelte, weil er so schwer lernte. Was bedeutet dieser groteske Humor an solcher Stelle? Ohne Kenntnis des „Gorgias" und seiner Vorgeschichte ist dies Vorspiel tatsächlich unverständlich, denn es ist mit der Rede selbst der Epilog zu jenem großen tragischen Gespräch, und wenn die Rede jene Gewitterstimmung löst durch ihre gehaltene Würde, so läßt das Vorspiel den „Menexenos", gemessen an Piatons tragischer Sendung, dennoch als Satyrspiel erscheinen. Gleich die ersten Worte geben die Antwort auf den Kallikles-Hohn, daß Sokrates den Markt und die Plätze nicht besuche und im Winkel verweile. „Vom Markt her" beginnt der „Menexenos", und der Sinn der Platonischen Philosophie als politischer Erziehung, nicht winkelsüchtiger Grübelei, wird sogleich sichtbar, da Menexenos erklärt, er werde in die Politik eingreifen, wenn Sokrates ihn f ü r frei dazu erkläre, eher nicht. Damit ist Piatons Führungswille, den man so 137
gern leugnen möchte, unbedingt anerkannt. Und wenn Kallikles höhnte, daß kein freies, großes kühnes Wort aus seinem Munde töne, so ist die ganze Rede die große und freie Antwort darauf. Indessen mußte diese Versöhnungsrede fast notwendig so mißverstanden werden, als ob Platon seinen „Gorgias" förmlich widerrufen wollte und durch seine Rhetorik im Sinne der Sophisten zur politischen Macht zu kommen versuchte. Das wäre der Bruch mit seinem bisherigen Werke, der Bruch mit Sokrates gewesen. Ein solches Mißverständnis mußte er, selbst auf die Gefahr hin, den empfindlichen Geschmack der Ästheten zu verletzen, mit der groben Ironie des Vorspiels verhindern. Dies kleine Gespräch rückte die Rede nicht ihrem Gehalt und Ernst nach, wohl aber in ihrer Bedeutung für Piatons politisches Auftreten in jenen Jahren an die richtige Stelle. Wir sahen am „Gorgias", daß damals um Sokrates gestritten, Männer der Gegenwart aber gemeint wurden. Unter anderen hatte Aischines, der Sokrates-Anhänger niederer Abkunft, sich die Unterstellung erlaubt, daß selbst Sokrates von der Aspasia gelernt hätte. Diese Art, seinen Heros in die Literatur zu ziehen, empörte Platon. Mit ebenso gedrängtem wie bissigem Witz macht er solche Beeinflussungshypothesen lächerlich und deutet stolz an, wie überflüssig die Fragerei sei, ob eine Rede von Sokrates oder von Platon stamme. Denn der hingerichtete Sokrates kann freilich nicht dreizehn Jahre später eine Rede halten, wohl aber der wieder jung und schön gewordene Sokrates!! Die Antwort für die, welche den Sokrates-Platon-Mythos verneinen. Eine Prunkrede vor dem Volke entspricht freilich dem Range dieser mythischen nicht. Auch dies deutet jener Scherz an, daß Aspasia die Erfinderin, daß bloße Sehmuckrede Frauenwerk sei. Das drückt die hohe Anforderung aus, die Platon sich selbst stellt, denn in Wirklichkeit ist die Rede sehr männlich und enthält weit über den äußern Zweck den großen Ruf zur nationalen Erneuung. Es ist darum nur leichte Ironie, wenn er spöttelt, daß man sich von solchen Feiertagsreden drei Tage lang wie berauscht und auf den Inseln der Seligen fühle, bis man dann allmählich in die Wirklichkeit zurückfinde. Aber er sagt auch sachlich, warum selbst seine Rede nicht mannhafte Tat ist. Sie soll über die griechischen Stämme richten und sie zur Einheit führen: wären nicht nur die gelobten Athener, sondern auch die getadelten Spartaner zugegen, und gelänge es Platon, den Bund der Nation zu besiegeln, dann wäre seine Rede eine männliche Tat. (235 D.) Nur als Ausnahme durfte sich Platon solche Feier gestatten, denn wenn er noch mehr Staatsreden von Aspasia verspricht, so ist das die ironische Andeutung, daß es die erste und letzte war — daß man aber erwägen soll, ob nicht die Platonischen Logoi die wahren Staats-Logoi sind . . . Die Antike hat trotz dieser Selbstironie den Wert der Rede besser gewürdigt als das 19. Jahrhundert. Noch in Ciceros Zeiten wurde Piatons „Menexenos" alljährlich in Athen zur staatlichen Totenfeier vorgetragen: 138
Selbst im rhetorischen Wettkainpf blieb Piaton Sieger. Uns ist die Rede das kostbare Dokument, wie er zu seinem Volke redet, wenn er einmal seinen ewigen Rang vergißt und ganz gegenwärtig von Herz zu Herz mit seinen Athenern spricht. Aber unmöglich dürfen wir darüber die große Einschränkung vergessen: Die Versöhnung ist kein Kompromiß, sich mit andern Staatsmännern und den Parteien einzulassen! Die Versöhnung heißt nur, daß er ohne Zorn wartet. Durch den „Menexenos" bietet Piaton dem Volke an, die Führung des Staates im Sinne einer nationalen Politik zu übernehmen. Nach diesem einmaligen Angebot wird er sich jeder Äußerung zur gegenwärtigen Politik enthalten und nur im eigenen Kreise, in der Akademie, die wahren Staatsmänner erziehen: mag ihn nun die göttliche Fügung zur politischen Tat berufen oder sein Wirken sich dauernd als geistiges Reich entfalten.
XI.
MENON
G r ü n d u n g der A k a d e m i e Wann Piaton die Akademie, die über neun Jahrhunderte bestehen sollte, bis auf Drängen der christlichen Kirche Justinian sie gewaltsam auflöste, und die heute noch ihren Namen den „höheren" Bidungsanstalten leihen muß, gründete, ist nicht genau bekannt, doch muß dies nidit sehr lange nach der ersten italischen Reise, im Gedanken an den Pythagoreischen Orden, geschehen sein. Der „Menon" führt uns in die Gesinnung des Schulstifters ein und ist vielleicht wirklich die „Programmschrift" gewesen. Eine geschlossene Schule hatten bisher nur die Pythagoreer gebildet. Während Sokrates sich auf der Straße an jedermann wandte, der ihn hören wollte oder nicht wollte, fand Piaton die Sokratische Auswirkung schon zu verbreitet und wahllos vermischt. Er durfte seine Philosophie nicht popularisieren, er mußte sie begrenzen, seine Anhänger streng auswählen, um einen überpersönlichen Leib zu schaffen, durch den er unmittelbar die Herrschaft erränge. Diese Hoffnung ist vorbei seit der „Gorgias"-Wende. Nun aber schuf er den begrenzten Raum, gesondert von der Hauptstadt und doch in ihrer unmittelbaren Nähe, wo nach seinem Vorbilde der neue Mensch werden sollte. Piaton lehrte anfangs im Gymnasium der Akademeia — woher diese Flur ihren Namen empfangen hat, weiß man nicht — und erwarb dann ein Grundstück daneben, auf dem er sein Stift errichtete, um dies der Genossenschaft zu schenken. Dies übernahm den Namen Akademie. Der Ort, an dem die Akademie lag, ist ganz genau nicht bekannt, aber die Land139
schaft in der Nähe des Kolonos-Hügels — heute ist sie wüst — ist uns von Sophokles als höchst anmutig mit Gärten, Feldern und Olivenpflanzungen, dem heiligen Hain, berieselt von dem verteilenden Kephisos, beschrieben. Sie lag an der schönsten Vorstadt, und der Weg ins Innere der Stadt führt durch den Friedhof, dessen herrliche Denkmäler heute noch stehen. Eine Hetairie, ein geheimer politischer Verein, wie er vom Staate nur allenfalls geduldet wurde, war Piatons Lebensplan ungemäß. Die Festigkeit des inneren Nomos, deren die damalige Welt der verfallenden Staaten entbehrte, mußte er im Wesen seiner Stiftung verewigen, damit sie — auch unabhängig von seinem leiblichen Leben — die berstenden Staaten um Jahrhunderte überdauern könnte. Das war im Pythagoreischen Sinne möglich in der Form einer Thiasos, einer religiösen Kultgemeinschaft. Die Platonische Stiftung war staatlich anerkannt als Heiligtum der Musen, womit wohl die Verehrung des Musageten Apollon in die Mitte gerückt war. Nach Piatons Tode scheint man Apollons Geburtstag und den Piatons als denselben gefeiert zu haben, denn Piaton wurde, wo als wahre Gottheit die Idee des Guten geschaut wurde, als leibhafter Träger dieser Idee fast göttlich verehrt. Aber man darf nicht glauben, daß Piaton durch, diese Gründung bewußt auf staatliche Auswirkung verzichtet und sich in wissenschaftliche Forschung versenkt habe, denn der weitabgewandten Arbeit ist der Geist der Akademie fast ebenso fern wie den seligen Gärten Epikurs. Zwar hat das Schicksal entschieden, daß Piaton die Herrschaft über jenes Athen nicht ergreifen durfte und daß er gerade deswegen in der Akademie ein geistiges Werk für die Ewigkeit schuf. Dennoch war dessen Fülle nur darum möglich, weil er diesen Verzicht nicht anerkannte, sondern sein geistiges Werk immer den Menschen in seiner Ganzheit, den Weisen als den wahren Staatsmann darstellt. Der Sinn der Akademie ist die E r z i e h u n g d e r P h i l o s o p h e n k ö n i g e , nicht der Gewinn der reinen Wissenschaft. Die Organisation einer Forschung, die nach vielen, vielen Generationen endlich einst ein wissenschaftlich bewiesenes Weltbild ergeben soll, war nie sein bewußter Zweck. Er selber, in Person, heischte alle Vollendung menschlicher Weisheit, und wenn ihm bei Lebzeiten die staatliche Herrschaft versagt bliebe, so sollten nach seinem Tode die Jünger, die unmittelbaren geistigen Söhne, die Tat vollziehen. Einzig aus dieser Deutung sind die Schriften dieser zweiten Periode im Zusammenhang zu verstehen, und wenn er die Bahn zur Tat frei gehabt hätte, hätte er nicht nötig gehabt, seinen „Staat" zu s c h r e i b e n . . Aber die Seele des geistigen Staates konnte nicht die Lehre der Pythagoreer sein: nur die lebendige Gestalt, nur das eigene Erlebnis ist wahrhaft schöpferisch. Also war die Schau und Verehrung der SokratesGestalt der wahre Gottesdienst in der Akademie. 140
Darum genügt für die Aufnahme in die Platonische Stiftung nicht wissenschaftliche Befähigung, denn nur aus gesamtmenschlicher Eignung, kriegerischer und staatsmännischer, leitet sich solche Berufung her, wie Werke und Briefe oft anzeigen und die gesteigerte Auslese der Philosophen in der Politeia bestätigt. Das Lebensgefühl, das solche Gemeinschaft erzeugt, ist Eros, und es scheint, daß auch dieser Gott in der Akademie kultisch verehrt wurde. Piaton wurde nach seinem Tode selbst gleichsam der Gott dieser glühenden Freundschaft, der Philia, und als solchem wurde ihm ein Altar geweiht. Aristoteles hat den Kult der Freundschaft, dessen Zauber er noch in der Akademie empfand, gleichsam in die klassische Lehre übertragen, aber den Rausch des Beginns, den Platonischen Eros der Frühzeit, hat er nicht miterlebt. Die Worte Philosophie und Erkenntnis verloren bei Aristoteles, nicht erst heute, das tathafte Feuer, das Piaton nicht immer theoretisch klärt, gerade weil es in ihm noch unangefochtene Wirklichkeit ist. Mehr in seiner Lebensentscheidung als in seiner Logik muß man den Beweis dafür suchen. Als er, fast zwanzig Jahre später, von Dion nach Syrakus gerufen wird, stellt er folgende Erwägungen an: E s ist ihm — er ist sechzig Jahre alt — ein schwerer Entschluß, eine so weite und politisch bedenkliche Reise anzutreten, und die Leitung der Akademie ist ihm eine verlockendere Tätigkeit. Daß er sich Dion, dem geliebten Jünger, verpflichtet fühlte, ist begreiflich, aber erstaunlich sind die Worte, die er im Geiste diesem in den Mund legt, falls er seinem Rufe nicht gefolgt wäre: „Mein Schicksal bringt dir zwar weniger Schande, aber die P h i l o s o p h i e , die du immer preist und von den anderen Menschen entwürdigt findest, wie sollte die nicht mit mir zusammen verraten sein, so viel an dir liegt?!" (VII. Brief. 328 E.) - Wunderlich, daß man sich über diese Worte nicht gewundert hat! Denn unzweifelhaft galt den Gelehrten die Akademie als wahrer Sitz der Philosophie, die Reise nach Syrakus aber als tadelnswerter Übergriff eines Dilettanten in die politische Tätigkeit. Hier aber sagt Piaton, nachdem er das Scheitern seiner mit geringen Hoffnungen gepflegten Unternehmung erlebt hatte: Selbst nicht die Ur-Akademie, sondern der Ort, wo um die reale Königsmacht der Philosophen politisch und kriegerisch gekämpft wird, ist der wahre Hauptort der lebendigen Philosophie . . . Als Piaton die Akademie gründete, vollzog sich eine weltgeschichtliche Entscheidung höchsten Ranges. Indem er das Compromissum mit der gegenwärtigen Politik ablehnte, überließ er gegen seinen Willen das staatliche Leben Athens und des engeren Hellas dem Verfall — er selber aber wuchs nun in seine eigene Gestalt, die in den folgenden Jahrtausenden, wenn auch mit immer anderem Gesicht, wach wird, wo in Zeiten der Not sich der Geist erneuert. Nur für die Augen des modernen Geistes konnte sein Gesicht die Züge des Suchers der begrifflichen Formel annehmen. Ewige Gestalt wurde er, weil er ganz in seiner Gegenwart wir141
ken, seine Nächsten zu Herrschern gestalten wollte — weil er das neue Menschenbild aufrichtete. Dies Bild und Gesetz konnte anschauliche Welt werden in der Dichtung — es konnte geklärt und gedeutet werden durch die Philosophie Dahin waren zwei Wege denkbar. Seher war Piaton, weil er das Bild der neuen Lebensnorm in sich trug. Diese schaffende Norm kann Gestalt und menschliches Bild werden durch Dichtung — oder sie kann entwickelt werden als Lehre. An dieser Stelle entscheidet die Platonische Gestalt ihren Wuchs, und wegen dieser Entscheidung regt sich in unserer Weltstunde das skeptische Bedenken. Nach zwei Jahrtausenden der Übersteigerung des Geistes, nach einem Jahrhundert seelenloser Abstraktion ist man gegen nichts mißtrauischer geworden als gegen den „Geist", den man mit der Ratio verwechselt. Warum entschied sich in Piaton, der in der Jugend gedichtet hatte, der Geist für die Philosophie? Das Wesentliche der Frage wäre nicht durch die Feststellung der persönlichen Veranlagung beantwortet, denn gemeint ist, warum in jener Weltstunde der schöpferische Geist sich am gewaltigsten im Philosophen verleiblichen konnte. In jener Zeit war das dichterische Feuer in Athen eben erloschen, und wenn die allgemeine künstlerische und dichterische Tradition sehr fein war, so war für einen Welterneuerer der Anstoß von der Seite der Kunst her nur umso aussichtsloser. Durch die Ideenschau aber wurde dem Geist ein Bild erschlossen, das durch seine Neuheit berauschen mußte, und es wäre kein Wunder, wenn selbst der Weiseste vorübergehend die Hoffnung nährte, daß Leben und Weltall einmal durch ein logisches Denksystem umfaßt werden könnten. Aber diese logische Methode ist nur Ein Zug im Bilde Piatons, und nur das einseitige Interesse des modernen Denkens hat aus ihm sein Wesen zu erklären versucht. Damals standen Dichter und Philosoph nicht fremd nebeneinander wie Goethe und Kant. Wenn Piaton nicht den Weg des Dichters geht, so bleibt er als der Weise doch Dichter. Er hat die ewigwirkende Gestalt des Sokrates geschaffen und mit einer Welt von Gestalten umgeben, und in seinen Mythen hat er der Folgezeit und dem größten Dichter des Christentums den dichterischen Gehalt gegeben. Das ist die Ganzheit, in die man seine „Ideenlehre" einordnen muß. Der „Menon" ist das Tor, durch das wir die Akademie betreten. Er kennzeichnet den Unterschied der zweiten Periode der Werke von der ersten, und er faßt aus diesem Grunde aus den früheren Gesprächen zusammen, was diese als methodische Vorstufe für die vollendete Platonische Lehre bedeuten. Auch in den früheren Schriften sah Piaton sein Ziel bildhaft vor sich, aber er sprach seine Lehre nicht aus. Er griif die Gegner an und lockte seine Jünger, weil er die politische Tat vorbereiten wollte. Das war vorbei. Er will jetzt sein Wesentliches den Jüngern durch Lehre geben und die Tat der göttlichen Fügung anheimstellen. Allerdings hat er das theoretische Fundament dieser Lehre inzwischen durch Er142
fahrung und Wissen auf seiner großen Reise sehr vertieft: sie auszubauen ist nun die große Aufgabe. Aber der Sinn der Lehre bleibt tathaft, und ihr Ausbau bleibt lebendiges Geschehen menschlicher Gemeinschaft. Die dialektische Methode, vordem meistens scheinbar zerstörend, offenbart sich allmählich immer deutlicher als Schwelle zur hohen Erkenntnis, als tragendes Gerüst des neuen Lebens. Der Teilnehmer Menon gehört dem vornehmen Adel Thessaliens an und ist jung, schön, reich. Von den Sophisten hat er gelernt, ist aber willig, von Sokrates zu lernen, darum näher der Reihe des Kritias und Alkibiades, als des Polos, Kallikles, Thrasymachos. Die Frage aus dem „Protagoras" wird aufgeworfen: Was ist Tugend? ist sie Erkenntnis? ist sie lehrbar? Menon glaubt, wie die Sophisten, das erste schon zu wissen und fragt doch nach dem dritten. Sokrates muß ihn seines Nichtwissens überführen. Diese Wiederaufnahme des Früheren ist nur Vorbereitung. Dies Gespräch muß sogleich den Sinn dieses Nichtwissens, der Aporie als ersten Stachels, als Übergang in die neue Lehre erweisen, und es prägt diesen Sinn in ein unvergeßliches Bild. Menon erkennt, tief betroffen, daß er nichts weiß. Jetzt versteht er, was er so oft gehört hat: Sokrates sei selbst ratlos, und die andern mache er ratlos. Darum vergleicht er, um seine eigene Erfahrung zu beschreiben, Sokrates einem Zitterrochen, der durch seinen elektrischen Schlag den lähmt, der ihn berührt. So fühlt er sich durch seine Gründe betäubt: „Denn in Wahrheit, an Seele und Mund bin ich gelähmt und habe nicht, was ich antworten könnte. Und doch habe ich schon tausendmal über die Tugend viele Gedanken ausgesprochen und vor vielen Menschen, und recht gut, wie mir wenigstens schien. Jetzt aber vermag ich überhaupt nicht zu sagen, was sie i s t ! " Sokrates solle nur Athen nicht verlassen, denn anderswo werde man ihn für einen Zauberer halten! (80 A, B.) Den Sinn dieser Betäubung, die Piaton selbst mit seinen aporetischen Gesprächen erzeugt hat, muß er nun endlich einmal erhellen. Denn es ist in der Tat der gewichtigste Einwand, den man bisher gegen die Sokratisch-Platonische Philosophie erhoben hat, daß sie durch ihre Kritik, ja sogar durch die helle Bewußtheit der Gründe die Tatkraft des Handelnden lähme, und viele werden den zur frischen Tat bereiten Menon dem forschenden Sokrates, wie Fortinbras dem Hamlet, vorziehen. Die Wucht solcher Einwände hat Piaton, der wie kein anderer den Zauber unbefangener und instinktsicherer Jugend empfand und darstellte, schmerzlich gefühlt, wie er Kallikles als Verhöhner der Philosophie in fast grausamer Selbstbetrachtung dem eigenen Wollen entgegenstellt. Aber der Seher hat keine Wahl: er sieht das Chaos, sieht, daß das Allerweltswissen der Sophisten hilflos ist — wie ist der Ausweg anders zu finden als durch neue Erkenntnis! Jugendlichere Zeiten konnten sicherer auf einer Ebene geringer Bewußtheit leben — es ist die Lage der Welt und des Geistes, die eine tiefere und bewußtere Erkenntnis fordert. Das 143
Wissen der Sophisten ist in den frühen Gesprächen als trügerisch, die von ihnen erzogenen Staatsmänner sind als Zerstörer des Staates erwiesen. Nun ist die Zeit, zu zeigen, wie der Weise, nachdem er die Seele ihres Wahnes entkleidet hat, aus ihren eigenen Tiefen das Heil, die notwendige Erkenntnis hervorlockt. Jetzt kann nur die Erweckung der wirklichen und sachlichen Erkenntnis helfen. Der Nachweis dieser Möglichkeit durch den praktischen Versuch ist jene berühmte Unterrichtsstunde am jungen Sklaven des Menon. Piaton will in dieser Form nicht seine höchste Erkenntnis vorführen, er gibt nur ein elementares Beispiel für die produktive Kraft des menschlichen Geistes. E r verdankt es seiner Einsicht in die Mathematik, daß er einen der wichtigsten Grundsätze der Psychologie und der Philosophie mit wissenschaftlicher Überzeugungskraft herausarbeitet. . . Diese Sokratische Unterrichtsstunde ist zur Legende geworden und gilt als Beweis, daß die Erkenntnis aus dem unwissenden Menschen herausgefragt werden kann, ohne daß der Wissende selbst etwas lehrt. Diese Illusion hat Piaton nie gehegt, denn er stellt ganz den wirklichen Verlauf dar. Sokrates gibt dem Knaben auf, ein Quadrat von zwei Fuß Seitenlänge zu verdoppeln. Dieser glaubt, das Quadrat von vier Fuß Seitenlänge müsse doppelt so groß sein, und da Sokrates ihm zeigt, daß dies viermal so groß sei, schlägt er das Quadrat von drei Fuß Seitenlänge vor. Als ihm Sokrates auch hier den Irrtum nachweist, ist der Knabe in der Betäubung des Nichtwissens, aus der allein das Suchen nach der wahren Erkenntnis hervorbrechen kann. Nun erklärt Sokrates dem Suchenden an der Figur den Begriff der Diagonale, er zeigt ihm das Quadrat über der Diagonale, und wenn dies der Knabe auch nicht sogleich begreift, so sieht er schließlich doch ein, daß dies das gesuchte doppelte Quadrat ist. Damit hat Sokrates, nach gründlicher Vorbereitung, in ihm den Pythagoreischen Lehrsatz in seiner einfachsten Form wachgerufen. Nichts fand der Knabe von selbst. Aber als die klare, bildhafte Vorstellung in ihm wachgerufen war, entscheidet er sich auf die Frage richtig mit J a oder Nein. Erworben hat er eine reine mathematische Einsicht, eine Erkenntnis a priori, ein apodiktisches Wissen. Daß solche Erkenntnis, die Wurzel echter Wissenschaft, in der Seele ruht, sie wohl von außen erweckt werden muß, aber in ihrer unmittelbaren Einsichtigkeit und ihrer unbedingten Gültigkeit nicht durch Lehre oder Wahrnehmung von außen erklärt werden kann, darin sieht Piaton mit Recht die Schwelle seiner Lehre — denn er war die gewaltige Person, die wagen durfte, was einem Kant weit gefährlicher w a r . . . Woher die Mißdeutung dieses klassisch genau beschriebenen Vorgangs, als gäbe es nun keine Lehrer mehr, als brauchten die Menschen nur zu forschen, um die wahre Erkenntnis in sich zu finden, ja als sei dieser „Eigensinn" Platonische Arete! Wie soll Piaton, der Gründer der Akademie, der seine Hörer Jünger nennt, die Unmöglichkeit des Lehrens behaupten! Nur das Lehren 144
im groben Sinne, daß der Wissende seine Kenntnisse gleichsam in ein leeres Gefäß schüttet, ist unmöglich. Nur die angeborenen, noch unbewußten Vorstellungen kann der Erzieher aus dem Schlafe wecken. Wer diese Einschränkung begriff, der darf, wie Piaton ausdrücklich feststellt, das echt-dialektische Untersuchen auch wieder ein „Lehren" nennen! (87 B.) Lebendig und seelenhaft bleibt in Piatons „Apriori" vereint, was bei Kant in Sittengesetz und theoretische Erkenntnis zerrissen ist. Darum erweist sich diese Einsicht zugleich als Seelenkunde, die der von Leibniz vorangeht. Die schlummernden Vorstellungen — das ist die Lehre vom „Unbewußten", deren ein mechanistisches Zeitalter entraten zu können glaubte. In wem jene, wie jetzt im Sklaven, erwacht sind, der hat wahre Vorstellung, richtige Doxa, aber wahre Erkenntnis erringt er erst, wenn er sie durch Wiederholung und Übung sichert. (86 D.) Das sind die drei Stufen, die im Leben nicht zu trennen sind. Schon auf dieser Stufe hat Piaton die jähe Trennung von Episteme und Doxa, die man ihm nachsagt, ausgeschaltet! Wissen ist in der Wesenheit nichts anderes als Vorstellung oder Meinung, und die richtige Vorstellung genügt, um richtig zu handeln. Der „Menon" beseitigt die Gefahr der drohenden Spaltung, denn nur durch ihre Verkettung im Ganzen, nicht durch ihren Gehalt unterscheiden sich beide. Wer eine richtige Vorstellung vom Wege nach Larissa hat, der vermag so gut zu führen wie der, der den Weg selbst gegangen ist, der wirklich Wissende. Woher aber die verschiedene Wertung, wenn beide doch nach Larissa führen? Es sind keine logischen oder transzendenten Gründe, die Piaton dieser Scheidung zugrunde legt, sondern die schlichte Wirklichkeit des Lebens. Die richtigen Vorstellungen gleichen den Kunstwerken des Daidalos: Erweckt fliegen sie davon, wenn man sie nicht bindet. Das Binden der Vorstellungen aber geschieht durch die Erkenntnis der Gründe, und durch sie wird die Vorstellung zum Wissen. Das Wissen besteht aus den zu einem sinnvollen Zusammenhange organisierten richtigen Vorstellungen. Das Wissen des Weges besteht darin, daß man ihn wirklich gegangen ist, die Landschaft kennt, denn die bloße richtige Vorstellung kann dem Wanderer wohl genügen — wenn sie nur nicht im Augenblick, in dem man sie braucht, davonfliegt. (97 A—98 B.) Soll die Akademie dieser Weg zum Wissen sein, zur Erkenntnis des Ganzen führen, aus der der Staatsmann seinen Plan im Hier und Jetzt herleitet, so muß sie den Weg zur sogenannten „Ideenlehre" führen. In der Tat ist für deren Verständnis der „Menon" ein unentbehrliches Zeugnis, denn er ist der lebendige Vorgang ihres Entspringens, er gibt die Blickrichtung, wenn wir sie aus ihren Triebkräften verstehen wollen, wogegen man vergeblich nach dem in der Geschichte spukenden Gespenst der Idee als abstraktem Begriff suchen wird. Das erste Gleichnis für das Wesen der Idee ist das „Artbild" der Biene. (72 B.) Irreführend redet man in dem Sinn vom „Gattungsbegriff", als werde durch Abstraktion 10 Hildebrandt, Piaton
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aus vielen Bienenbildern ein anschauungsloser Begriff. Hätte Piaton das gemeint, so hätte er es im Menon deutlich gesagt. Aber keine Rede davon. Wer das Bild Einer Biene aufgefaßt hat, wem also die wahre Vorstellung erweckt ist, der erkennt an diesem Bilde alle Bienen. Das ist das Ursprüngliche. Erst danach wird er verschiedene Formen der Bienen unterscheiden. Das ist Gleichnis, nicht Ziel. Ebenso trägt der Mensch eine Vorstellung der Norm in sich, aus der er die Tugend in den verschiedenen Formen als Tugend überhaupt erkennt. Diese Vorstellung muß vorausgehen, denn wie sollte sonst der Mensch darauf kommen, aus den, optisch gesehen, ganz verschiedenen Handlungsweisen ganz verschiedener Menschen durch logisches Abstraktionsverfahren den einen Begriff Tugend zu präparieren? Dieser sekundäre Vorgang interessiert Piaton kaum jemals, am wenigsten jetzt, denn gerade der „Menon" geht von der Theorie der schlummernden Vorstellungen, also vom Gegensatz aus. Dem Menschen ist ein Gefühl für die Lebensnorm angeboren — wenn wir es in unsere Sprache übersetzen dürfen — und die Aufgabe der Akademie ist es, dies Gefühl durch die Aufhellung des sinnvollen Zusammenhanges, durch Nachweis der „Gründe" zu wahrer Erkenntnis zu erheben. Diese Erkenntnis ist am Ziel, wenn sie ihren Gegenstand, die Lebensnorm, die Arete mit dem geistigen Auge als Gestalt erschaut, als Eidos oder Idea, nicht als Leerform im Sinne Kants, nicht als Begriff, sondern als formende Form, als schöpferische Weltkraft. Da an dieser Deutung das Verständnis seiner ganzen Lehre hängt, sichert sie Piaton sogleich durch ein zweites Beispiel. Wenn Mann und Weib stark sind, so sind sie stark „durch das gleiche Eidos und die gleiche Stärke. Und für die Stärke als solche macht es keinen Unterschied, ob sie im Mann oder im Weibe ist". E s gibt einen Widersinn, wenn man hier Eidos mit Begriff übersetzt, denn das Wesen des Begriffes ist es doch nicht, selbst das Wirkende zu sein. Das Eidos ,Kraft' ist nicht das von ihr abgelöste Wesen, sondern die Kraft selbst als ewig wirkende Substanz. (72 E.) Auch diese Kraft ist nur Gleichnis für Piatons Arete, denn ebenso sei es für die Arete gleichgültig, ob sie im Knaben oder im Manne oder im Weibe wirke. (73 A.) Sie selbst ist eine Kraft, welche die Menschheit durchflutet, während sie in verschiedenen Menschen verschiedene Erscheinungsformen annimmt. Sie verleiht der Welt die Einheit, den Sinn, die Schönheit, die Wirklichkeit. Auf diesen Glauben, nicht auf ein methodisches Theorem „Ideenlehre" baut Piaton den Tempel seiner Akademie. Nicht in der Erkenntnistheorie, wie es der mathematische Versuch nahelegt, sondern im religiösen Kosmos verwurzelt Piaton seine gründende Lehre. Wenn im Menschen die mathematische Wahrheit als etwas Zwingendes evident wird, tatsächlich wie eine Erinnerung an etwas, was er doch in diesem Leben noch niemals gelernt hat, so muß er es im Vorleben gelernt haben. Unsere Seele hat in andern Leibern gelebt, und 146
unser Lernen ist Wiedererinnerung, Anamnesis. Damit baut Piaton sein Werk auf die Pythagoreische Seelenwanderungslehre. Von Männern und Frauen, weise in der Göttergeschichte, von Priestern und Priesterinnen, die über den Sinn ihres Berufes Rechenschaft zu geben wüßten, auch von Pindar und anderen Dichtern göttlicher Artung habe er die Lehre gehört: Unsterblich sei die Seele des Menschen . . . wohl ende sie bald im Tode, bald aber erstehe sie wieder, und niemals werde sie zunichte. Weil sie oft wiedergeboren wurde, habe sie alles erfahren und braucht nur mehr erinnert zu werden. „Denn da die ganze Natur verwandt ist und die Seele alles gelernt hat, so hindert nichts, daß, wer nur an Eines erinnert wird, was die Menschen lernen müssen, alles übrige selbst finde, wenn er nur tapfer ist und nicht müde wird im Suchen." (81.) Sichere Wahrheit ist diese Lehre nicht. Sicher ist, daß man in der Seele mathematische Einsicht findet, glauben darf man, daß man auch die Erkenntnis der Lebensnorm in ihr findet, denn solcher Glaube fördert die Erkenntnis, während der sophistische Skeptizismus den Menschen träge macht und daher nur den Weichlichen angenehm ist. Aber die Seelenwanderungslehre ist religiöse Ausstrahlung jener Überzeugung in den Kosmos und ein ewiges Zeugnis dafür, aus welchen Tiefen der Seele Piatons philosophisches Denken gespeist wurde. (80 E, 81 D.) Doch ist es freilich ein Verkennen des Platonischen Gesamtwerkes, wenn man glaubt, daß nun in religiöser Theorie oder in der Schau des Weltganzen sein Tatwille zu Ende laufe. Platonische Erkenntnis erfüllt sich nur in der Tat, und der Weise bleibt weiter der wahre Staatsmann. Wer den Wegen seiner Kunst nachgeht, der findet bewundernd den tathaften Sinn seiner Lehre in diesem Mythos am Eingang in die Akademie verflochten. Es muß doch etwas zu bedeuten haben, wenn er ohne logische Verknüpfung hier die Verse Pindars einschaltet: Welchen Menschen nämlich Persephone uralten Leidens Buße abnimmt, deren Seelen gibt sie wieder im neunten Jahre der oberen Sonne, aus welchen hervorgehen glanzvolle Könige und Männer gewaltig an Kraft und groß an Weisheit. Künftige Zeit werden sie heilige Heroen unter den Menschen genannt. Für Wiedergeburt und Wiedererinnerung hätte er viele andere Verse anführen können, aber was in diesen Versen dröhnt, spricht zugleich seine herrschenden Gedanken aus, das Bewußtsein des Königsphilosophen! Das ist das Pathos, das einem Zeitalter der Vermassung so unleidlich ist. Zwei Gruppen unterscheidet jener Dichter, die Könige und die Männer groß an Weisheit. Die Verschmelzung der beiden ist Piatons Heilslehre. Als Piaton den „Ladies" schrieb, klagte er, daß es den Erzieher noch nicht gebe, daß er gleichsam durch Urzeugung entstehen müßte. Als er 10*
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nach Italien reiste, war er überzeugt, wie er später im VII. Brief (326 A, B) bekennt, daß nur durch Wunder und göttliche Fügung die Rettung möglich sei. Immer schwerer schien ihm diese Rettung zu werden, aber in Italien wurden seiner Hoffnung dennoch in der Seelenwanderungslehre die Quellen dieses Heilswunders sichtbar — wenn er selbst, der als Sproß vom alten Königsstamm des Kodros galt, jener wiedererweckte heilige Heros, König und Weiser zugleich, wäre! Vom höchsten Range, den er symbolisch beansprucht, blickt er auf die Bitterkeit des „Gorgias" zurück. Helden wie Themistokles hat er damals verurteilt, weil sie den Verfall des staatlichen Ethos nicht hindern konnten. Davon schweigt er jetzt. In Syrakus ist seine Erfahrung der äußeren Notwendigkeiten gewachsen. Der Held, der die Nation rettet gegen den Ansturm der Barbaren, Perser oder Karthager, ist der Verehrung wert, und es ziemt nicht, ihn moralisch zu bekritteln. (VII. Brief. 353 B.) Jetzt nennt er auch Perikles „großartig weise", denn auf Grund der neuen Einsicht stuft er jene Staatsmänner anders ein. Echte Erkenntnis des Ganzen, der Lebensnorm haben sie zwar nicht gehabt, aber im Augenblick der staatlichen Not wurde in ihnen die „richtige Vorstellung" wach, unter deren Leitung ihnen die nötige Tat gelang. Woher ihnen der rettende Einfall kam, können Menschen nicht erklären: also kam er ihnen durch, „göttliche Eingebung". Aber in der Zeit des Peloponnesischen Krieges blieb der göttliche Eingriff aus, und selbst die Siege vermehrten das Unheil der Nation. In dieser Gefahr des Menschentums glaubten Sokrates und Piaton, daß der Mensch selbst nach Gründen suchen, das Ganze im Zusammenhang erforschen müsse, um mit den Mitteln des Geistes die Rettung in seinen Griff zu bekommen. Das ist kein Verzicht auf die Theia Moira, denn Piaton weiß, daß auch dem Weisesten die Tat nur durch göttliche Fügung gelingt: auch wenn die Erkenntnis errungen ist, bleibt ihre Verknüpfung mit der tatsächlichen Macht noch weiterhin dem Gott anheimgestellt. Wer diesem Begriff in „Jon" „Apologie" „Menon" einen ironischen Ton beilegen wollte, der muß sich durch den VII. Brief eines Besseren belehren lassen. Bestehen bleibt der frühere Einwand gegen die genialen Staatsmänner: sie können keinen Sohn und Nachfolger erziehen! Sie finden ja den Weg nach Larissa nur durch den glücklichen Einfall. Sie können vor der Tat sich nicht ausweisen als Staatsmänner und nach der Tat ihre Nachfolger nicht erkennen und unterweisen. In dieser Weltstunde, im drohenden Chaos, sind sie, die den alten Orakelsängern mit ihren unvermittelten Einfällen gleichen, nicht mehr Vorbild. Jetzt ist die Stunde des Göttlich-Weisen. Sokrates führt nun die Rede dahin, daß es einen wissenden Lehrer noch nicht gebe. Also ist schließlich die Tugend doch nicht lehrbar? Aber diesen scheinbar aporetischen Schluß hebt das mythische Symbol auf: Wenn es denn doch einen Staatsmann gebe, der durch sein Wissen auch 148
andere Staatsmänner erziehen könne, der wäre unter den Lebenden wie Teiresias unter den Toten, denn einzig er im Hades hat Besinnung, die anderen sind schwirrende Schatten. So vergleicht mit großartigem Anspruch Piaton sich selbst dem mythischen Seher, der die Könige warnt und rügt, und stellt dessen Bild gleichsam ins Giebelfeld über die Pforte der Akademie, in der er die künftigen Könige zeugen will. So durchdringen im Wiederkunftsmythos ewige Lehre und gegenwärtigste Sendung sich aufs innigste. Die dreifache Frage, mit der das Gespräch einsetzte, ist anschaulich, wenn auch nicht förmlich beantwortet: Die Arete muß durch Natur gegeben sein, als Urbesitz der Seele . . . dann muß sie erweckt werden durch Bild und Lehre . . . und zuletzt muß sie geübt werden durch Wiederholung und tätige Bewährung. Erst durch Zusammenschluß aller Kräfte ist — als seltene Vollendung — die wahre Episteme und Arete möglich. Es entspricht dem Gehalt dieser Lehre, daß sie nicht begrifflich ausgesprochen wird: Denn wer die rechte Anlage in sich trägt, der findet den Weg zur Arete auf diese Winke, wem jene aber fehlt, dem soll auch die begriffliche Formel nicht verraten werden, und er mag weiter wie die Sophisten unfruchtbar über das Wesen der Tugend diskutieren. Die Arete ist ein Gewächs, das langsam im Begnadeten wächst, und nur seltene Erben sind wahre Philosophen (Politeia). Nur so kann der verfemte Satz: „Tugend ist Wissen" verstanden werden . . . Wie lebendig schließt in diesem einfachen Gespräch immer ein Teil mit seinem Gegensatz zusammen, so daß es zum Abbild der menschlichen Fülle und Ganzheit in Piatons Wesen wird: Aus dem mathematischen Lehrsatz ergibt sich die Seelenwanderungslehre . . . die subtile Dialektik schlägt um in den Teiresias-Anspruch des Königssprossen . . . und in das besinnliche Gespräch über die Erziehung weht plötzlich ein gespentischer Hauch, wenn ganz unvermittelt Anytos, der künftige Ankläger, nidit auftritt, sondern unvermutet als dabei sitzend angesprochen wird. Die Kritiker, die daran Anstoß nahmen, hätten ahnen müssen, daß Piaton, der Meister szenischer Kunst, das nicht aus Ungeschick geschrieben habe. Ein Schauer aus anderer Welt soll den Leser berühren, wenn er erst gegen Ende von der Wahrnehmung überrascht wird, daß neben Sokrates während des Gespräches sein Mörder Anytos gesessen hat, wie auch nicht deutlich gesagt wird, daß er sich entfernt. Solange das Zwiegespräch zwischen Anytos und Sokrates dauert, wird nicht die mindeste Beziehung zu Menon hergestellt, obwohl doch zweimal mit Nachdruck hervorgehoben wird, daß Menon und Anytos Gastfreunde sind. Dieser gleicht den Schatten, die Teiresias umschwirren. E r ist Sokrates' Mörder, denn der törichte Meietos, wohl nur sein Werkzeug, wäre gescheitert, wenn nicht Anytos seinen bedeutenden öffentlichen Ruf für die Todesstrafe eingesetzt hätte. Undenkbar, daß Piaton fünfzehn Jahre nach Sokrates Tode, nach der Gefaßtheit im „Kriton", nach 149
dem Zorn im „Gorgias", der Versöhnung im „Menexenos" sich bewogen gefühlt hätte, mit den Urhebern persönlich abzurechnen. Anytos muß eine symbolische Bedeutung haben: er repräsentiert die dumpf und modrig gewordene Seele des alten Athen, die sich blind gegen den Retter auflehnt, wie Kallikles den zersetzenden Zeitgeist der selbstsüchtigen Neuerer vertritt. Da das Gespräch nach den Lehrern der Arete fragt und Sokrates an die Sophisten erinnert, die sich dessen berühmen, fährt Anytos entrüstet auf und verurteilt die Sophisten ohne sie zu kennen, wie er zugibt — wie er Sokrates tötet, ohne ihn zu verstehen. Piatons Bosheit liegt darin, daß Anytos, ohne es zu wissen, die Lehre des von ihm verachteten Protagoras vorträgt: jeder Athener sei zum Lehrer der Tugend geeignet. Auch scheint er nicht einmal zu wissen, daß sein Gastfreund Menon ein Verehrer des Gorgias ist. Sokrates, der die Sophisten nicht so grob ablehnt, hat dagegen Menons Sophistenliebe in wenigen Minuten erschüttert. E r setzt dann jener Lehre von der Erziehung durch alles Volk die Tatsache entgegen, daß nicht einmal die tüchtigsten Staatsmänner ihre Söhne erziehen können. Diese Beobachtung Piatons, die für ihn die Notwende der staatlichen Erneuung bedeutet, will Anytos gar nicht bestreiten, aber in seiner engstirnigen Denkweise sieht er dennoch nur hämische Absicht in dieser Behauptung, und mit der Wut des gereizten Stieres droht er Rache. Sokrates wisse doch, es sei leicht, besonders leicht aber in Athen, den Mitbürger ins Unglück zu stürzen. Anytos ist als Verbrecher aus Rachsucht, aus Haß gegen das Geistige gezeichnet. Piaton versetzt ihm noch einen Stich, er sei so empört, weil er sich selbst zu jenen großen Männern rechne, wie j a auch berichtet ist, daß seine Söhne nichts taugten. Piaton öffnet die Akademie nicht, ohne auf den dumpfen Widergeist Athens, der sein Werk zu erwürgen droht, zu weisen, indem er jenen Mörder auftauchen und wie ein neuer Teiresias ihn als schwirrenden Schatten verscheuchen läßt. Daß jener im ganzen Werk eine Hauptrolle spielt und daß diese seltsame Episode eine höchst bedeutsame Gebärde Piatons ist, beweist der Schlußsatz: Menon soll den Gastfreund besänftigen, damit er Athen nicht Unheil bereite! Also beschwört Piaton bei der Gründung der Akademie den modrigen Geist Athens, daß er nicht seinen Frevel an dem Soter, an Piaton selbst, wiederhole! Was aber bedeutet Menon, der nach der Schlacht bei Kunaxa die griechischen Feldherren an die Perser verraten haben soll, an dieser Stelle? Vermutlich hat Piaton ihn für den Verräter gehalten, denn er erinnert an seine ererbte Gastfreundschaft mit dem Großkönige. Dennoch ist Menon, der junge und schöne fürstliche Thessaler ein Schüler, wie er ihn wünscht, wie die leicht ironische, aber doch in der Platonischen Art werbende Schmeichelei beweist, mit der Sokrates auf den verwöhnten und anspruchsvollen, doch leidenschaftlich-empfänglichen und auch ehrfürchtigen, zum Herrschen bestimmten Mann eingeht. Daß er 150
hier als Symbol eines umworbenen Jüngers für die Akademie steht, ergibt ein Satz, der sonst sinnlos bliebe. Mitten in der theoretischen Untersuchung sagt Sokrates zu ihm, er werde die bessere Erklärung erkennen, wenn er nicht, wie er gestern sagte, v o r d e n W e i h e n Abschied nehmen müsse, sondern bliebe, um sich weihen zu lassen. (76 E.) Das steht, wie im Gastmahl, für die Weihen der Philosophie, und die untere Weihe ist der Eintritt in die Akademie. Aber Schicksal und Charakter treiben ihn, an der Pforte umzukehren, sich ins Abenteuer zu stürzen, ehe er die Platonische Weihe empfing — er scheitert wie Kritias und Alkibiades. Diese drei erinnern, daß der Staat zerfällt, wenn nicht die begabtesten Jünglinge in geistige Zucht genommen werden. Die dumpfbeharrende Staatstreue wie die des Anytos ist ein stehender Morast. Nur solche Jünger ruft Piaton, die (ihrer Selbstzucht überlassen den Staat zu sprengen fähig sind) von den Weihen des Sokratisch-Platonischen Geistes verwandelt, zur Erneuerung der Nation fähig werden sollen.
XII. E U T H Y D E M O S U N D
KRATYLOS
Philosophische Vorbereitung: Logik und Sprache Mit der Gründung der Akademie war das Hauptwerk, die Staatslehre, weit hinausgeschoben, denn es galt zunächst die jungen Schüler vorzubereiten. Im Menon hat Piaton eindringlich die Methode dargestellt, dem Schüler das Nichtwissen bewußt zu machen, ihn zu lähmen. Das ist notwendig, aber gefährlich, wenn es als Methode um ihrer selbst willen, als Mittel des bloßen Rechthabens betrieben wird: dann wird Dialektik zum sophistischen Spiel und schließlich zur sinnverwirrenden Streitkunst, zur Eristik. Piaton hatte in den frühen Dialogen die Feinde durch Dialektik widerlegt. Nun aber war diese Kampfmethode in immer weitere Schichten der Jugend gedrungen und entartet. Man übersah, daß dies Widerlegen unfruchtbar blieb und nur den Boden für die Saat aufpflügen sollte. Den Unterschied zwischen Dialektik und Eristik für immer festzulegen, ist die Aufgabe des „Euthydemos". Äußerlich erinnert er an die frühen Antisophistengespräche, aber im Gehalt wird der Unterschied der neuen Stufe deutlich. Vom „Protagoras" bis „Georgias" kämpft Piaton um seine Existenz als Sokrates-Verjünger gegen eine feindliche Umwelt. Im „Menon" legt er den Grundstein der eigenen Welt. Durch seine Angriffe grenzt er diese Welt ab, läßt sich aber im tieferen Sinne nicht wirklich ein mit den Gegnern oder dem Volke. Das Brüderpaar Euthydemos und Dionysodoros sind Vertreter der heruntergekommenen Eristik, Clowns, die keine Widerlegung verdienen, 151
aber dem Weisen ungetrübtes Vergnügen bereiten. Kriton macht Sokrates ernsthafte Vorhaltungen, daß er sich mit solchen Narren einließ — also nicht um der Sokrates-Gestalt willen, sondern um seiner Akademie willen schreibt Piaton dies Gespräch. Es ist allzunatürlich, daß die Anfänger gern zu logischen Fangschlüssen ihre Zuflucht nehmen, wenn sie sich bedrängt fühlen (wie eben noch Menon). Aber wirklich sollen sie ein wenig von solchen Finten wissen, damit sie sich vom Gegner nicht verwirren lassen. Aristoteles hat, fußend eben auf dem „Euthydem", diese Fangschlüsse ernsthaft theoretisch behandelt. Eines so pedantischen Ernstes hat Piaton diese Dinge nicht gewürdigt, sondern sie in geistvoller Laune als glitzerndes Geschwätz wiedergegeben, so daß die Schüler den Unsinn lachend wahrnehmen, aber die logische Aufklärung selber hinzutun müssen. Das ist der eristische Scheinkampf im Gespräch. Das ist nur ein Bruchteil des Gehaltes. Der Gründer der Akademie muß Angriffe gegen seine Lehre zurückweisen und legt mit unübertrefflicher Bosheit den närrischen Brüdern die logischen Grundsätze seines Feindes Antisthenes in den Mund. Dieser, der Vorläufer der Kyniker, hatte die Gorgianische Skepsis zur Formel gesteigert, daß es unmöglich sei, einen Widerspruch zu sagen. Solchen logisdien Nihilismus, der sich im Grunde selbst aufhebe, macht Piaton mit diesem bis heute geltenden Argument zum Gespött. (283 E—288.) Mit souveräner Kunst läßt er dann mit dem Unsinn des Euthydemos den Tiefsinn des „Menon" anklingen. Dieser beweist, wer etwas weiß, weiß alles. Das klingt wie die Anamnesislehre, nach der die Wahrnehmung des Einzeldings die Erinnerung an das ewige Wesen und, durch den Zusammenhang, an den Kosmos wachruft. (Menon 81 C, D.) Diese Lehre mußte, solange sie nicht weiter ausgestaltet war, die Spötter reizen, und sie mögen höhnend Piatons Weisheit so parodiert haben, wie es nun die beiden Narren tun. (293 B—296.) Deutlich ist auch (300 E 301) die Beziehung auf die Ideenlehre, die in plattester Weise und handgreiflich mißverstanden wird. Piaton zeigt seine Überlegenheit über solche Gegner damit, daß er sie nicht widerlegt — nur herzlich über sie lacht. Einmal darf sich auch der Weise so unterhalten — aber er straft sie dennoch, denn in den gebührenden Rang müssen sie eingeordnet werden: Sokrates läßt sie gleichsam durch den jungen Schüler Ktesippos ein wenig verprügeln . . . Piaton hat nämlich, um gegen das frivole Spiel der Eristiker mit der Jugend das Bild des wahren Erziehers zu setzen, jene drei eristischen Scheinkämpfe unterbrochen durch zwei dialektische Gespräche des Sokrates und Kleinias. Er beginnt auf dieser zweiten Stufe seine Lehre an den Tag zu bringen, was hier zwar nur so weit geschehen darf, als es dem Schüler, der noch ein Knabe ist, verständlich bleibt. Die beiden Sophisten wollen diesen schönen und klugen Knaben aus vornehmem Geschlecht — er ist der Vetter des Alkibiades — für sich gewinnen und 152
verwirren ihn immer wieder mit ihren schein-logischen Finten. Damit ahmen sie, die Affen Piatons, die untere Stufe der Dialektik nach, aber ohne Ernst, ohne seelische Verantwortung: ohne Sinn. Sokrates nimmt sich liebevoll des Knaben an, beruhigt ihn, versichert, die Sophisten hätten nur gescherzt und würden schon ihre wahre Meinung noch sagen. Wie sie das machen sollen, will er ihnen zeigen. Er führt Kleinias im ersten Zwiegespräch zum Zugeständnis, daß Glück nur durch Erkenntnis zu erringen, daß Erkenntnis darum das höchste Gut sei. Aber sogleich grenzt er diese von der ziellosen Scheinlogik jener Sophisten ab: diese betreiben eine auf sich selbst bezogene Wissenschaft, durch die man nichts über die Eigenschaften der Dinge lernt. (272 B). Solche Mathemata ohne Pragmata lehnt Sokrates (dessen Ziel doch angeblich solche Abstraktion sein soll) als bloße Spielerei ab! Nicht Erkenntniskritik, sondern Erkenntnis des Gegenstandes ist Philosophie. Das führt er in dem zweiten Zwiegespräch mit Kleinias auf die Höhe. Alle irdischen Güter sind nicht unbedingt gut, denn unter Umständen können sie uns auch schaden. Das höchste Gut ist also die Erkenntnis, wie wir alle Dinge gebrauchen müssen, damit sie von Nutzen sind. Eine bedenkliche Lehre, die der Verehrer der Wissenschaft ungern hört. Soll man vor jeder Forschung nach dem Nutzen fragen? So ist der Sinn nicht. Gerade in der Akademie werden viele Kenntnisse gelehrt, welche von den Gegnern und der Menge für höchst nutzlos gehalten werden, und gerade sie verteidigte Piaton, indem er auf die wissenschaftlichen Vorstudien Mathematik und Sternkunde, in der Akademie bahnbrechend gepflegt, verweist (290 B, C). Aber über diesem Einzelwissen muß die Erkenntnis der Lebensnorm stehen, die jedem Wissen Sinn und Rang verleiht. Platonischer „Nutzen" ist nur der kosmische hohe Wert! Ja mehr als das. Die Erkenntnis soll nicht nur den Gegenstand kennen und seinen wahren Wert bestimmen: sie soll ihn schaffen. „Einer solchen Erkenntnis bedarf es für uns, schöner Knabe, in welcher das Erschaffen und das Wissen, wie man das Erschaffene anwenden muß, zusammengewirkt ist." (289 B.) Selbst die Staatskunst, die königliche Kunst, erfüllt an sich diese Bedingung nicht, sie schafft nicht den Staat. Es ist die staatsgründende Kunst der Politeia, die Piaton vorschwebt, von der er hier aber nichts verraten darf: Darum geht es Sokrates scheinbar hier wie den kleinen Kindern, die vergeblich den Schwalben nachjagen. (291 B.) Die Schönheit des Werkes beruht darin, daß trotz dieses Abbiegens von der Suche nach der Königskunst die gegenwärtige Aufgabe dieses Tages immer wieder leiblich erfüllt wird: diesen schönen Knaben zur Weisheit und Arete zu lenken, ihn den falschen Erziehern zu entziehen. (275 A, B, 282 E.) Sokrates wird Vorbild der Erzieher, indem er Eros gegen Eris stellt. Er ist der wahre Erotiker, immer den Knaben suchend, der einst ein „schöner und junger Sokrates" zu werden bestimmt scheint. Und gleichzeitig begünstigt er das geistige Bündnis zwischen 153
Jüngling und Knaben, denn der neue Geist kann nur in Freundespaaren lebendig werden. Sokrates schlägt vom „ L y s i s " die Brücke zum „Symposion", wenn er erinnert: Weisheit sei das höchste Gut. Von Verwandten und solchen, die sich Liebhaber nennen, von Freunden und Bürgern müsse der Mensch allererst Weisheit erflehen. „Und nicht ist es verwerflich, Kleinias, noch strafwürdig, um dieses willen zu fronden und dienen dem Verliebten oder irgendeinem Menschen, was auch immer man dienen will im schönen Dienst: wenn man im Eifer ist, weise zu werden." (282 B.) Daß hier der noch sehr junge Ktesippos berufen ist, den schönen Knaben durch seinen Eros für die Philosophie zu erwecken, harmoniert damit, daß er „schön und tüchtig von Anlage, wenn auch noch sehr übermütig wegen seiner Jugendlichkeit" genannt wird. Ktesippos, durch den auch Menexenos der Philosophie gewonnen ist, ist beim Tode des Sokrates zugegen. („Phaidon.") Er gehört also dem engen Kreise an und steht hier für den echten Jünger der Akademie. Darein läuft die scherzhafte Spitze des Gespräches aus: Piaton läßt die Eristiker durch einen sehr jungen Schüler in den Sand werfen. Diese Fertigkeit verlangt er von den Akademikern und gestattet ihnen dann auch den Triumph, damit vor ihren Geliebten zu glänzen. Ktesippos behandelt die beiden Narren fast so grob, wie sie es verdienen, denn das darf er, der vornehme Athener, sich diesen hergelaufenen Gauklern gegenüber erlauben, und straft sie damit für die Mißhandlung seines Kleinias. (283 D bis 284 E.) Aber zugleich lernt er den beiden auch ihre Wortklaubereien ab und schlägt sie mit ihren eigenen Waffen. So gilt das Gespräch fast ganz der Unterweisung im Innern der Akademie, während das Rahmengespräch sich kampfbereit nach außen wendet. Die sehr heitere Einleitung macht sich lustig auf Kosten der Schriftsteller, die in Sokrates den ewig lernenden Greis, nicht den großen Erwecker sehen. Da auch von den Wissenschaften der Akademie die Rede ist, so geht das Bild Sokrates' in das Piatons über, während im Schlußgespräch kaum noch verhüllt Piaton von sich selber spricht. Kriton rügt in aller Bescheidenheit, daß Sokrates sich mit dem närrischen Brüderpaar abgab und berichtet, daß ein gestern anwesender Redner darin den Beweis sah, daß jetzt alle Beschäftigung mit der Philosophie unwürdig sei. Kriton selbst ist von diesem Zweifel angesteckt, denn er hat nicht begriffen, wie hoch Sokrates durch seine Ironie sich über alle Berührung mit jenen Sophisten hinausgerückt hat. Zweifellos zielt diese Stelle auf Piatons bedeutendsten und auch von ihm geachteten Mitbewerber um den Rang des Erziehers zur wahren Bildung, auf Isokrates. Dieser verzichtet wie Gorgias auf die echte Philosophie, aber er verzichtet auch auf die unmittelbare politische und gerichtliche Tätigkeit: er schreibt Reden und unterrichtet in Redekunst als Mittel der Bildung. Er will mitten zwischen Philosoph und Staats154
mann stehen — er ist geringer als beide. Piaton aber — das ist der leichtverhüllte Sinn — will vollkommener Philosoph und vollkommener Staatsmann zugleich sein und, soweit es dazu nötig ist, auch Redner. Er zeigt Isokrates, daß der Redner eine Stufe niedriger steht, wie er ihn im „Phaidros" erinnern wird, daß er trotz seiner Begabung der Philosophie untreu wurde. Menschen und Dingen den Rang anweisen ist ja sein hohes Amt, aber kränken will er damit den Mitbewerber, der auch das Beste will, nicht: „Doch muß man jeden Mann schätzen, der eine Sache darstellt, die nur irgendwelche echte Erkenntnis enthält, und der mannhaft daran geht, sie durchzuarbeiten." Kriton selbst ist Urbild des echten menschlichen Freundes, der doch nicht fähig ist, die Sendung des daimonischen Erweckers zu begreifen. Er zweifelt am Schluß, ob es geraten ist, seine Söhne der Philosophie zuzuführen — es ist ihm entgangen, daß kein anderes Heil gegeben ist als in seinem Freunde. Dies letzte spricht Piaton nicht aus, da er selbst eins ist mit Sokrates, und er begnügt sich mit dem milden Rat: In der Philosophie seien, wie in jedem Beruf, die Schlechten zahlreich, die Tüchtigen selten. Darum solle Kriton nur die Philosophie an sich prüfen und, wenn er mit Sokrates übereinstimme, sie selbst im Verein mit seinen Söhnen pflegen. So wendet sich Piaton in Stolz und Milde an Athen, um die edelsten Jünger für seine hohe Schule zu werben. Ironisch ist er gegen Narren und Widerwillige. Dem redlichen Zweifler gibt er nur den menschlichen Fingerzeig und überläßt das Beste dem Daimon. Ganz verzichtet er auch in dieser Zurückhaltung nicht auf seinen königlichen Anspruch der Deutung. Einmal bricht, zur höchsten Betonung, dies Rahmengespräch mitten in das Hauptgespräch hinein. Sokrates legt dem Kleinias bedeutende Sätze in den Mund, die fast die Lösung, die Verschmelzung von Königskunst und Philosophie, verraten. Kriton unterbricht den Erzähler: Das habe der Knabe nicht gesagt, sonst bedürfe er keines Lehrers mehr. Sokrates meint, dann habe es wohl Ktesippos gesagt. Kriton lehnt das ebenso ab. Und Sokrates scherzt weiter: Dionysodor und Euthydem hätten es gewiß nicht gesagt. Er habe es doch aber gehört. Sollte es gar ein noch größerer gesagt haben? — Ein wunderbares Beispiel für die raumschaffende, vielschichtige Ironie Piatons. W i r wissen, daß er der Größere ist, der allein so sprechen konnte. Anmutig scherzend legt er dem gelehrigen schönen Knaben seinen größten Gedanken in den Mund, nur andeutend, um ihn sofort umständlich zu verhüllen. Dies Herausbrechen aus der Erzählung betont, daß hier das Wichtigste gesagt wird. Kriton erkennt die Bedeutung dieser Gedanken — und erkennt doch Sokrates nicht, ja zweifelt am Wert der Philosophie überhaupt. Noch ist Athen weit von der Reife, einem Piaton, dem Königsphilosophen, die Herrschaft zu übertragen. 155
Im „Kratylos" verzichtet Piaton ganz auf die äußeren Kämpfe und zieht sich ins Innere der Akademie zurück. Ein Rahmengespräch fehlt, Kratylos und Hermogenes sind wenig gestaltet und stehen für ältere Mitglieder der Akademie, die eigene Ansichten vertreten. Diese Ansichten scheinen historisch auf Euthyphron und Kratylos zurückzugehen, aber sie müssen in der Abfassungszeit des Gesprächs weiter entwickelt sein — wie ja auch unsere Wissenschaft diese Grundfrage noch nicht entschieden hat. E s ist das erste rein „theoretische" Gespräch, der Vorläufer der späten Reihe von „Theaitet" bis „Philebos", während es stofflich betrachtet dem „Euthydem" nah verwandt ist. In jenem wird die Philosophie gesäubert von der Scheinlogik, die das Denken verwirrt, weil sie die ungeklärten Worte wie starre unveränderliche Dinge behandelt. Nun mußte die lebendige, sich wandelnde S p r a c h e selbst erforscht und ihre Beziehung zur wahren Erkenntnis festgestellt werden: nach der Logik die Sprache als Mittel der Erkenntnis und des Irrtums. Hermogenes lehrt, die Sprache sei ein durchaus willkürliches und konventionelles Zeichensystem. Was uns Löwe heißt, könnte ebensogut Pferd heißen, je nach Übereinkunft. Dann hat die Sprache an sich nicht den mindesten Erkenntniswert. Kratylos dagegen lehrt, daß für jedes Ding ein von Natur ihm gemäßer Name bestehe. Worte, die in diesem Sinne nicht „richtig" sind, erkennt er gar nicht als Worte an. Ist das zutreffend, so muß man aus den Namen selbst das Wesen der Dinge ablesen können. Piaton lehnt diese verstiegene Lehre des Kratylos ab. Wenn der Sprachschöpfer die richtigen Worte für die Dinge fand, so muß er doch zuerst das Wesen der Dinge erkannt haben, um danach die Worte zu bilden. Die Erkenntnis der Dinge muß der Bildung der Sprache v o r a u s gehen, und der Philosoph, als Kritiker der Sprache, muß das Wesen der Dinge unabhängig von der Sprache betrachten. Aus bloßer Sprachforschung kann keine Wesenserkenntnis steigen. Diese Abwehr der Sprachanalytiker war offenbar damals für die Philosophie notwendig, und sie nimmt, wenn man alle ironischen Versuche mitrechnet, den größten Teil des Gespräches ein. Aber vorher lehnt Piaton auch die entgegengesetzte rationalistische Lehre des Hermogenes ab. Er ehrt die lebendig-gewachsene Sprache zu sehr, als daß er ein bloßes Zeichensystem ohne Eigenwesen und -wert in ihr sehen könnte. E s gebe wirklich ein Ideal der Sprache: wenn die Worte aus den Elementen, den Lauten, aufgebaut wären entsprechend dem Aufbau der Welt aus den Elementen (den Ideen?). Er zeichnet selbst, wenn auch vorsichtig, die Grundzüge eines solchen Systems. Im R sieht er das Zeichen der Bewegung, im J das Feine, überall leicht durchdringende, im D Bindung und Ruhe, im L das Glatte und Glänzende usw. Der Sprachschöpfer mußte also die Laute in den Namen mischeii, wie der Maler Purpur und Weiß zur Gesichtsfarbe. (422 B—427 D.) 156
Aber dann weist er ebenso ausführlich nach, daß man nicht wirklich nach dieser Methode rückwärts das Wesen der Dinge erkennen kann, indem man die wirkliche Sprache aufdröselt. Um eine phantastische Sprachanalyse zu widerlegen, hätte er nicht so viele Worte gemacht. Audi für die Methode, aus etymologischen Ableitungen das Wesen der Dinge zu erkennen, überschüttet er uns mit einem Sprühfeuer von Beispielen, deren Überfülle zwar die Willkür und Falschheit der Methode zeigt, zugleich aber ausschließt, daß er so unermüdlich uns durch leere Scherze narrt. Sprache ist nicht der schöpferische Geist selbst, aber sie ist sein höchstes und ehrwürdigstes Mittel, sein Leib. Der Leib ist unmittelbarer Ausdruck des Geistes, dennoch findet man durch seine Zergliederung nicht zum Geist zurück. Wieder ist Piaton unbewußt mit Heraklit im Einklang, wenn er die Sprache auf den „Gesetzgeber" zurückführt. Heraklit lehrt, das Gesetz des Staates zu ehren, weil es sich nährt vom göttlichen Gesetz — so nährt sich nach Platon das Gesetz der Sprache vom göttlichen. Aber in der Zeit des Verfalles genügt es nicht, daß das Volk die Sprache bewahrt, es bedarf des Philosophen, der auf das Wesen der Dinge selbst schaut. Platon lehnt die rationale Lehre des Hermogenes ab, um Geist, Reichtum, Leben der gewachsenen Sprache ins Bewußtsein zu bringen. Weil er das Wesen der Sprache nicht „erklären" kann, begnügt er sich mit der im „Menon" begründeten Methode, möglichst viele schlafende Doxai, Vorstellungen ins Bewußtsein zu heben. Die rauschhaft gehäuften Beispiele der Etymologie widerlegen ironisch den wissenschaftlichen Anspruch dieser Methode, entwickeln zugleich aber das lebendige Sprachgefühl der Schüler. Nicht umsonst weist er auf diesen Sinn der Doxai nachdrücklich hin. (420 B, C). Platon findet sein Wissen weder vom a priori gegebenen Satz aus deduzierend noch von empirischen Tatsachen aus induzierend und abstrahierend — sondern er schafft den Raum in der Seele, in dem eine Fülle von Vorstellungen herumwirbelt, damit sie reichlich belebt ist, ehe der Geist einseitig sucht, geschweige dogmatisch vorwegnimmt. Es ist, als ob man, nach Griechenland befragt, nicht begänne, seine Grenzen zu definieren, vielmehr vorschlüge Athens Akropolis, Olympias Tempel, des Parnaß Schneegipfel, Arkadiens Weizenfelder . . . alles wäre „logisch" ganz falsch und würde doch beitragen, die wahre Vorstellung der Landschaft zu erzeugen. Indem Platon solcherweise mit Theorien und Beispielen spielend das Bewußtsein von der Sprache erweckt, verwebt er auch den Kampf für seine Lehre in dies Spiel und verknüpft diese beiden Sprachtheorien mit philosophischen Dogmen, die seine Ideenlehre bedrohen. Es sind die skeptischen Lehren, welche jede Erkenntnis überhaupt bedrohen. Platon verdankt Heraklit viel und erkennt für die körperlichen Dinge die Lehre vom ewigen Werden und Vergehen als 157
richtig an. Aber die Herakliteer wie Kratylos — wir dürfen sie wohl als Sophisten bezeichnen — hatten dies Fließen, das Heraklit dem ewigen Logos und dem Gesetz unterordnete, zum alleinigen Prinzip gemacht und damit jede Möglichkeit echter Erkenntnis geleugnet. Piaton vollendet Heraklits Lehre, indem er im Geist und Logos das EwigSchöpferische findet: die Idee. Die Theorie des Hermogenes, daß die Sprachbildung reine Willkür sei, setzt Piaton zur radikalen Theorie des Protagoras in Beziehung, daß alle Erkenntnis individuell, das heißt wahr sei für jedes zufällige Individuum, niemals verbindlich für andere. Ebenso schaltet Antisthenes Ansicht, daß ein Widerspruch überhaupt nicht möglich sei, jede verbindliche Erkenntnis aus. Aus dieser überflutenden Skepsis rettet nur die „Ideenlehre", auf die Piaton noch nie so deutlich wies wie hier, denn immer wieder blitzt in den abwegigen Gedankenspielen die Erinnerung an die „Idee" auf. Zwar schon im „Protagoras" strebt verhüllt alles Denken auf die Idee in ihrer wesentlichen, wenn auch ungeklärten Form: auf die Lebensnorm, die Arete, und immer war dies Streben die Leidenschaft des Schaffenden. Diese schaffende Idee (angedeutet auch im Menon und Euthydem), zugleich Arete des Staatgründers, entfaltet sich zur Sonne der Welt in Symposion und Politeia. Jetzt aber, im Kratylos, scheint es, als ob Piaton einige Jahre dem Ziel ausweicht und sein Glück in der Akademie, in der reinen Schau findet. Nun redet er kaum von der tathaften Spitze der Idee, sondern vom Glück des Erkennens, des Beharrens, der Ewigkeit. Hier setzt (wenn auch vorbereitet in „Gorgias" und „Menon") die Bewegung ein, die im „Phaidon" ihren ewigen Gipfel erreicht. Es ist sehr irreführend, Piatons Lehre als „Idealismus" zu bezeichnen, wenn man darunter auch Kantianismus, Phänomenalismus, Neukantianismus versteht. Piaton erschüttert die Geltung der Sinnenwelt nicht. Unverrückbar haben die gewachsenen Dinge ihr eigenes Wesen, ihre Usia, in der sie beharren, wie auch die Phantasie mit ihnen umspringt. Ebenso selbständig sind die Handlungen, denn auch sie sind eine Art des Seienden. Damit weist Piaton die Willkür des sophistischen Subjektivismus zurück, und nichts lag ihm ferner als die Hybris des absoluten Fichteschen Ich. (386 A bis 387 A.) Aber wenn dem Handwerker das Weberschiffchen zerbricht, so bleibt in seinem Geist doch die Idee, das Urbild, nach dem er das neue fertigt. Nicht das Abbild des alten, denn er kann das neue in anderem Stoff, in anderer Form ausführen, sondern das Urbild, das von der Kenntnis des Zweckes bestimmt ist. (388 u. 389.) Aber auf Zweck und Nutzen ist diesmal Piatons Seele nicht gerichtet. Er sieht die Vergänglichkeit der Dinge, der staatlichen Formen, er sieht, wie die Sophisten selbst noch das Erkennen in diesen Wirbel reißen: da findet er im Geist, in der eignen Seele, den einzigen Halt und spottet der Menschen, bei denen 158
Geist und Gesetz selbst vom heraklitischen Flusse ergriffen werden. (440 C, D.) Durch Gedächtnis und Erkenntnis wird die Seele zum ruhenden Pol, den die fließenden Dinge umkreisen. Das blitzt auf in etymologischen Scherzen, aber ernst bleibt die Mahnung, die rettende Wahrheit: es gibt Erkenntnis, und es gibt Erkanntes — das Schöne, das Gute. (437.) In diesem Bedürfnis nach geistigem Halt regt sich der asketische Hauch des „Phaidon", und aus dem Götternamenspiel taucht mit dem Namen Hades eine fast schmerzlich-süße Todesphilosophie auf. Hades sei der vollendete Meister der Weisheit, der große Wohltäter. Daß er nur mit Seelen verkehre, die frei vom Leibe, gereinigt von dessen Übeln und Begierden sind, sei wahrhaft philosophisch. Er sei der Wisser alles Schönen und feßle die Seelen mit dem stärksten aller Bande an sein Bereich: durch die Begierde nach der Arete. (403, 404.) Dieser Hades führt vom „Gorgias" zum „Phaidon". Piaton hat für wenige Jahre in der Beschaulichkeit der Akademie den Frieden gefunden, und der Traum seiner „Ideen" beglückt ihn. „Betrachte doch, wunderlicher Kratylos, was mir so oft im Traume erscheint. Ob wir sagen dürfen, das Schöne selbst und das Gute und ein Jegliches sei etwas Wirkliches . . . Jenes selbst also laß uns betrachten, nicht ob irgendein Antlitz schön ist oder etwas dergleichen, und dies alles zu vergehen scheint, sondern es selbst, laß uns sagen, das Schöne — ist es nicht ewig so, wie es ist?" (439 C, D) . . . Dies Traumbild erfüllt sich im Mythos „Phaidon" . . .
GESPRÄCHE ZWEIFELHAFTER
HERKUNFT
P i a t o n s W i r k u n g auf die Jünger Echtheitsfragen sollen hier nicht erörtert werden, dazu ist die Fülle des anerkannten Werkes zu gewaltig. Aber was bedeuten einige angezweifelte Werke für Piatons Bild, wenn sie gerade nicht von ihm selbst, wohl aber von seinen Jüngern stammen? Einem Kunstfreunde wird nicht beikommen, ein Phidiasisches Kunstwerk nur deswegen als „elendes Machtwerk" zu schmähen, weil er beweisen will, daß Phidias nicht in Person den Meißel führte, aber gegen das antike Schrifttum hat sich solche Schmähsucht eingenistet. Der Verehrer des Platonischen Werkes wird es als kostbares Geschenk hinnehmen, wenn in einigen „unechten" Werken der Jünger sich Piatons Gestalt spiegelt und die lebendigen Gespräche, die er mit ihnen führte, widerhallen. Wäre es nicht denkbar, daß einige Werke in der Akademie als echt hingenommen wurden, weil Piaton sie liebte und unter seinen Werken bewahrte? 159
Wenn auch für den ersten „Alkibiades" sich jetzt ein Forscher mit besonderer Wärme eingesetzt und die angeblichen Beweise seiner „Unechtheit" ausgeräumt hat, so sträubt sich doch ein Gefühl gegen die Vorstellung, daß Piaton nach dem Alkibiades im „Protagoras", vor dem im Symposion, dessen Begegnung mit Sokrates in diesem etwas steifen Ernst darstellen konnte. Gesinnung und Lehre sind Platonisch, aber man vermißt die von unnachahmlichem Scherz belebte Luft, in der Sokrates mit den Jüngern verkehrt, und die Lehren des daimonischen Nichtwissers klingen etwas dogmatisch. Sucht man aber im „Alkibiades" den Spiegel, für das Verhältnis Piatons zu den Jüngern, so bemerkt man einen ehrfürchtigen Abstand vom daimonischen Meister. Wohl steht Sokrates in dem geschichtlichen Denkmal, der Apologie, als der Daimonisch-Große, sonst aber birgt er sich, um die Schüler zum gemeinsamen Suchen zu locken, in halbironischer Bescheidenheit. Nun aber, nach dem Wirken des Stifters in der Akademie, wird den Jüngern dessen übermenschliche Größe bewußt. Seine Liebe ist durch Dion gebunden, und Töne wie im „Charmides" und „ L y s i s " mögen in den Räumen der Akademie nicht mehr in vollem Zauber erklungen sein. Der Abstand war größer, das Daimonische wurde scheuer empfunden . . . Hamann, Herder, Goethe haben um des Daimonions willen Sokrates als Genie-Symbol der Sturm- und Drangzeit empfunden und ihn unbedingter verehrt als Piaton. Aber das 19. Jahrhundert hatte eine Idiosynkrasie gegen das Daimonische und hat gerade in ihm den Grund gefunden, Gespräche abzulehnen. Ehrfürchtig und streng ist im „Alkibiades" Sokrates' Verhältnis zum Jüngling aufgefaßt. Solange den Epheben die Liebhaber umschwärmten, hielt sich Sokrates fern. Nun, da Alkibiades zwanzig Jahre alt ist und die anderen Liebhaber, vorher durch die Jugendblüte angelockt, ihn verließen, wird Sokrates nicht mehr vom Daimonion gehindert, naht mit der Hoffnung, ihn zu gewinnen. Er lehrt ihn, daß der eigentliche Mensch die Seele ist, da sie den Leib leitet. Der Leib ist das Eigentum der Seele. Wer also den schönen Leib des Alkibiades liebt, der liebt ihn nicht selbst. Darum haben ihn die Liebhaber verlassen. „Wer aber die Seele liebt, der läßt nicht ab, solange sie nach dem Besseren strebt." (Das klingt für Platonische Ausdrucksweise etwas rational.) Sokrates findet, daß die Seele des Alkibiades erst jetzt erblühe, und der gewonnene Jünger bittet, daß jener ihm treu bleibe und verspricht seinem Rat zu folgen: „Beeifere dich also darum, sehr schön zu sein!" (128—131 D.) Der Schönheit des Zieles entspricht die Schönheit des angetretenen Weges, der anfängt beim delphischen „Erkenne dich selbst"! Sokrates erinnert, daß, was sich selbst sehen will, sich spiegeln kann gerade an dem Ort, dem die Kraft des Sehens innewohnt — nämlich in der Pupille seines Gegenübers. Das ist Symbol der höchsten, der dialektischen Selbsterkenntnis, denn ebenso soll die Seele 160
sich selbst spiegeln in der Seele des Freundes, und zwar am edelsten Ort dieser Seele, am Ort der Weisheit, der göttlichen Fähigkeit. (132 C bis 133 B.) Auch diese Seiten nährten das Mißverständnis, Piaton habe Leib und Welt verachtet, um schon christlich allein das Seelenleben zu pflegen. Aber gerade der „Alkibiades" bestätigt auch für die Akademie, was die Frühdialoge ergaben: Piaton erzieht den Willen zur Herrschaft! Alkibiades, der Zwanzigjährige, hält sich für reif, die Staatsmänner Athens auszustechen, und Sokrates rügt nicht diesen Ehrgeiz, sondern die in ihm enthaltene Bescheidenheit! Nicht an Demagogen soll er sich messen, sondern er soll sich rüsten, daß er einst sich an den Königen Spartas und Persiens messen darf. An Reichtum, Macht, Adel sind jene ihm ungeheuer überlegen: sie stammen ab von einer reinen ununterbrochenen Reihe von Königen und, während Alkibiades' Erzieher ein alter thrakischer Sklave war, preist Piaton die erlesene Erziehung der Perserprinzen kaum ohne Neid. Wenn also die Perser innewerden, daß der jugendliche Alkibiades sich mit ihnen messen will, so werden sie annehmen, daß er bei solchem Unterfangen auf seine Weisheit vertraue, die das Einzige der Rede werte bei Griechen sei. Hören sie aber, daß er seine eigene Unerzogenheit bekennt und, wenn sein Liebhaber auf seine Ausbildung dringt, sich auch ohne sie für gut genug zum großen Werke hält, so werden sie ihn für toll halten. Zum wahren „Erkenne dich selbst" gehört, den Wert des Gegners zu erkennen, der nur durch Übung und Kunst überwunden werden kann. So fern ist Sokrates von der Rückwendung der Seele auf sich selbst. Er steigert den Ehrgeiz des Jünglings, Herr von Griechenland zu werden, um Persien zu besiegen! Nirgends ist der Gegensatz zum Antisthenisch-Kynischen, das man hier hat finden wollen, so hart herausgearbeitet als in dieser Linie, die von Sokrates zu Alexander dem Großen führt. Ein Alkibiades hätte vielleicht die Nation im Platonischen Sinne erneuern können. Sokrates beruft sich, wenn Alkibiades' Vormund der mächtige Perikles sei, so sei sein eigener Vormund Gott selbst, „der Gott, der nicht zuließ, Alkibiades, daß ich vor dem heutigen Tage ein Gespräch mit dir führte. Im Vertrauen auf ihn sage ich, daß dein Aufstieg (deine Epiphanie) durch niemand anderen geschehen wird, als durch mich!" Das ist Piatons göttliche Sendung, den Sprossen zu erziehen, der Griechenland zur Größe führt. Es ist glaubhaft, daß er selbst das nicht aussprechen durfte, daß er aber hochbeglückt war, wenn ein Jünger das rechte Wort fand. . . . Aber etwas frostig bleibt der Anfang, daß Sokrates vom schönen Alkibiades sich fernhält, solange andere in ihn verliebt sind, und die Vorstellung, daß sich nunmehr Alkibiades von Sokrates belästigt fühlt, weil dieser ihn überall zu verfolgen scheint und doch heute zum ersten Male anzureden wagt. (104 D.) Abgesehen von „Prot a g o n s " und „Gastmahl" ist das unglaubhaft, wenn beide sich längst 11 Hildebrandt, Piaton
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kennen und oft in den Gymnasien sahen. Auf den längst getöteten Alkibiades wird sich das Gespräch kaum beziehen: ist Alkibiades Maske für Dion? Dion ist zwanzig Jahre, als Piaton nach Syrakus kommt, und der Fremde mag lange auf die Gelegenheit f ü r ein erweckendes Zwiegespräch mit dem Prinzen gewartet haben, denn der stolze Dion wird ihm anfangs nicht entgegengekommen sein. Wenn Piaton nicht der Verfasser ist, so kann es ein naher Freund sein, dem er vieles von sich selbst und Dion erzählt hat. Noch mehr Mißfallen als der „Alkibiades" hat sich der „Theages" wegen des Daimonions zugezogen. Der Verfasser dieses Gesprächs folgt weniger als der des „Alkibiades" Piatons Gedankenfluge, aber sein Gefühl ist ganz von ihm bestrickt. Nicht was er lehrte, aber wie er die Jünger bezaubert, zeigt die Schrift. Piaton mag, ohne besonderen Wert darauf zu legen, Ereignisse aus Sokrates Leben erzählt haben, die man wohl als zweites Gesicht deuten konnte. (Das gleiche tat Goethe in Dichtung und Wahrheit.) Im Bewußtsein des Schülers verschmilzt dies Wunderbare mit dem Zauber der Persönlichkeit Piatons, und er webt versteckt eine Art Liebeserklärung in die Schrift. Das Gespräch knüpft an den „Ladies". Es ist von den gleichen beiden Söhnen die Rede, aber was dort dem Gott anheimgestellt wurde, das geschieht hier wirklich: der Vater des Theages führt den Sohn auf dessen Drängen dem Sokrates zu. Theages ist leidenschaftlich und hochherzig wie Alkibiades. Noch ist sein Denken ungezügelt, und er spricht den tiefsten Trieb seiner Seele aus: mächtig über alle Menschen, unbeschränkter Tyrann — ja l i e b e r n o c h e i n G o t t z u w e r d e n . Der Wille zur Macht und zur Vergottung spricht sich hier in einem Atem aus, und — wie im „Alkibiades" — ohne daß Sokrates widerspricht. (125 E.) Als erreichbare Vorbilder nennt er allein Themistokles und Perikles. Wieder stellt es Sokrates dem Daimon anheim, ob er Theages erziehen darf, und erzählt ihm (das klingt unplatonisch) von seiner Wundergabe. Dann kommt der Verfasser, logisch schlecht vermittelt, zum eigentlichen Zweck: Er bringt in der Maske des Aristides Piaton die eigene Huldigung. „Ich will es dir sagen, Sokrates! Zwar, bei den Göttern, klingt es unglaublich, doch ist es wahr! Belehrt nämlich wurde ich niemals von dir, wie du selbst weißt. Ich machte Fortschritte, wenn ich mit dir zusammen war, auch wenn ich mit dir im gleichen Hause, doch nicht im gleichen Gemache war. Mehr aber, wenn im gleichen Gemache. Audi schien es mir viel mehr, so oft ich im gleichen Gemache verweilte, wenn ich dich, während du redetest, anschaute, als wenn ich anderswohin blickte. Die größten und meisten Fortschritte aber machte ich, wenn ich an deiner Seite saß, mich an dich hielt und dich anfaßte. Nun aber, sagte er, hat jenes Vermögen mich ganz verlassen." (130 D, E.) 162
Damit ist die Vorstellung vom daimonischen Sokrates weiterentwickelt, aber die Auffassung widerspricht nicht der Platonischen. Sokrates-Platon selbst redet vom Daimonischen, wie es dem Heros ansteht, wie von seiner Heimat und Behausung, von naturhaft-Gegebenem. Die Jünger verehrten es von der unteren Stufe her aufblickend. Im „Alkibiades" fordert es als heilige Weltordnung eine ehrfürchtige Unterwerfung, im „Theages" enthüllt es dem Jünger die Wunder der Liebe. Schon im „Euthydemos" erzählt Sokrates, daß er durch Gottes Fügung auf seinem Platze saß, und, als er sich erheben wollte, das gewohnte daimonische Zeichen ihn hinderte. (272 E.) Da das ganze Gespräch der Erziehung des Kleinias gilt, so ist sie das Ziel der daimonischen Stimme und göttlichen Fügung. Jener Satz verschmilzt die kosmischen Mächte des Heros und des Welt-Ganzen. Gott lenkt im Willen, nicht durch mechanische Notwendigkeit, das Weltgeschehen zum Guten, und Sokrates ist der Daimonische, der Einzige, der die göttliche Warnung vernimmt. (Damit sind die üblichen Angriffe gegen das Daimonion widerlegt.) Was aber das Daimonion im Verkehr mit den Jüngern anlangt, so stimmt der „Theages" fast wörtlich mit dem „Theaitet" überein. (150 C—151.) Zwar geht im Theages das Daimonion, mehr gefühlsmäßig als begrifflich, in die erotische Zuneigung über. Aber gerade das ist echt Platonisch, denn im Gastmahl ist Eros der große Daimon und Seelenführer. Wenn die daimonische Stimme (meist!) nur abmahnend ist, so ist es darum, weil das treibende Daimonion, der Eros, auch ohne Vermittlung der geformten Worte unmittelbar die Seele in Besitz nehmen kann. Und dies erotische Daimonion preist Diotima. Wieviel ist um diesen daimonischen Sokrates gestritten, da man an den menschen-wandelnden Eros nicht glaubte. Bei Goethe findet man einen vollen Ausdruck für dies Phänomen, in dem sich übergeschichtliche Bedeutung und geheimnisvolle Gewalt der vertraulichen Nähe verschmelzen: Seine eigene Erweckung durch Herder sieht er im Bilde Sokrates-Alkibiades, wenn er statt des Heiligen den großen Menschen an seine Brust drücken möchte und rufen: „Mein Freund und mein Bruder! . . . Wär ich einen Tag und eine Nacht Alkibiades, und dann wollte ich sterben." Aber dann beteuert er: „Herder, Herder, bleiben Sie mir, was Sie mir sind. Bin ich bestimmt, Ihr Planet zu sein, so will ich's sein, es gern, es treu sein. Ein freundlicher Mond der Erde . . . " Es ist die gleiche Gesinnung, die sich schüchterner in jener zarten Bitte des „Theages" ausspricht. Auch dies Gespräch ist kostbar als einziger Bericht eines Jüngers, der sich an Piaton schmiegt wie Phaidros an den begeisterten, Phaidon an den totgeweihten Sokrates.
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XIII. PH AI D O N Die schauende Seele Mit den vier vorbereitenden Gesprächen ist der Weg bereitet für Piatons entscheidendes Wort. Aber sein Reichtum an Erlebnis und Erkenntnis ist nun so gewaltig, daß er ihn nicht mehr in ein Buch drängen kann: er verteilt ihn auf seine vier unsterblichen Meisterwerke Phaidon, Symposion, Politeia, Phaidros. Die eigentliche „Lehre" enthält das Dritte, aber Piaton stellt sie nicht in den luftleeren Raum, er schafft zuvor die seelische Welt, in der sie wurzeln kann. Als er mit dem Gorgias-Fluch auf die politische Macht in Athen verzichtet hatte, fand er im Pythagoreertum Italiens eine zweite geistige Heimat, in welcher das Sokratische „Gute an sich" zur „Ideenlehre" sich entfalten konnte. Dieser Weg ist im „Menon" vorgezeichnet. Die Scherze, die im „Menexenos" und im „Euthydemos" die Person des Sokrates umspielen, schienen anzudeuten, daß Piaton die Maske fallen lassen will, um selbst zu reden. Nun geschieht das Wunderbare: gerade wo er seine eigenste Lehre am mächtigsten ausspricht, wächst er am innigsten mit dem Meister zusammen. Die Apologie war das historische Sokrates-Denkmal, durch das Piaton sich selbst f ü r immer an Erbe und Sendung mahnt. Im „Phaidon", im Gedächtnis an den Endes-Tag, wird die Verschmelzung von Erwecker und Erwecktem zur Dichtung — ein Wunder, das aller Erklärung spottet. Der „Phaidon", in Jahrtausenden wohl das berühmteste und gelesenste Werk Piatons, wurde die Schwelle des christlichen Zeitalters. Doch fragen wir hier nur, wer Piaton war und was in seiner Weltstunde sein Werk bedeutete. Denn der christlich Erzogene, der den „Phaidon" liest, wird zweifeln, ob Piaton noch echter Hellene bleibt oder asketisch der Welt entsagt. Aber dem „Phaidon" folgt das weltfrohe „Gastmahl", der machtgründende „Staat", der liebeglühende „Phaidros" — wir müssen den „Phaidon" nach dem Gesamtwerk, nicht dieses aus dem „Phaidon" deuten. Im „Phaidon" schweigt das politische Machtverlangen. Hier kommt die tiefste seelische Schicht zum Reden, die nicht im zweckhaften Wollen, in der zeitlichen Sendung aufgeht, weil sie selbst der Urboden ist, in dem diese Sendung wurzelt. In der damaligen Welt sind Lebensnorm und Rangordnung nicht mehr sichtbar, darum muß Piaton aus dem „Untern Borne" das Urbild des neuen Menschen schöpfen. Daß solche Norm überhaupt existiere, hatte das sophistische Zeitalter geleugnet, welchen Relativismus der junge Piaton bekämpft hat. Nun aber hat er in der Lehre der Wiedererinnerung und in der Entdeckung apriorischer Wahrheiten, wie der geometrischen, die beglückende Gewißheit gefun164
den, daß aus der Tiefe der Seele die Norm gefördert werden kann. Dieser Findung der Idee und ihrer mythischen Feier dient der „Phaidon". Hier scheiden sich die Auffassungen. Kam Piaton in die Welt, um die Ideenlehre zu begründen? Kein Selbstzeugnis besagt das. Er will den Staat heilen und regieren, da aber kein Gesetz mehr heil ist, so muß er im Urgesetz das Heil suchen. Denn woher soll in chaotischer Zeit, da alle Kraft zersetzend wirkt, die Rettung kommen, wenn nicht aus dem Urgesetz, der schöpferischen Weltkraft, die Piaton „Idee des Guten" nennen wird? . . . Daß es ewige Denknormen gibt, eines der wichtigsten Ergebnisse der Philosophie, das bedeutet Piaton nichts als den bloßen Anlauf zum Denken, eine Einsicht, die er als „abgedroschen" bezeichnet. Aber daß er in der eigenen Seele die Lebensnorm findet, nach der die Welt seufzt, ist Piatons berauschende Gewißheit. Der Seele muß die höchste Würde verliehen sein, wenn sie das Gefäß des Urgesetzes werden kann — sie muß ewig oder doch fast ewig sein, wenn aus ihr die ewige Idee reden kann. Der Seele die Herrschaft wieder zu verleihen, ist Piatons Beruf, denn nur sie vermag die Welt zur Schönheit zu ordnen. Nicht die relativistischen Sophisten sind die Feinde — sind sie doch Folge und Symptom, nicht Ursache des Verfalles — aber ein furchtbarer Feind der Seele gewinnt damals die Macht über die Denkenden: der Materialismus. Welche Macht und Würde steht der Seele noch zu, wenn sie nichts als die Begleitung der zufälligen Atomwirbel ist?! Auch der „Phaidon" ist eine Kriegserklärung. . . Doch die Lehre, daß auch jede Einzelseele als solche ewig sei, erregt Bedenken. Piaton hat bisher die Selbstsucht der Individualisten als Verderben der Nation gebrandmarkt, um die Einzelnen wieder dem „Schönen Leben" der Gesamtheit dienstbar zu machen. Begründet diese Seelenlehre nicht den wahren Individualismus? — Piaton wandelt auf dem schmälsten Grat mit dem Bewußtsein, daß jeder Schritt nach rechts oder links gleich tödlich ist, und sein ist die Verantwortung, die beiden Hälften des Lebens zu verknüpfen. Die Anerkennung eines unpersönlichen Seelenprinzips verführt zum quietistischen Pantheismus, zum Verzicht auf Willen und Tat. Man glaubt diese Lockung im „Phaidon" zu spüren, aber die Ahnung dieser Gefahr mag Piaton getrieben haben, mit unerhörter Kunst die Verehrung des überindividuellen Seelenprinzips zu verschmelzen mit der Heiligung der persönlichen Seele, der großen einen Seele des Sokrates. Auch die Ideenlehre barg die Gefahr, das Heil in der Abstraktheit, unpersönlich, unanschaulich, zu suchen, aber Piaton gelingt das Unerhörte: er baut in der Seele anschaulich das Weltall auf, und diese Seele ist dennoch nicht unpersönlicher Geist, sondern Seele des Sokrates. Gesetz und Lehre bringen dem Menschen kein Heil, wenn sie nicht in menschlicher Gestalt gegeben sind. Darum steht an der Schwelle des neuen Weltalters der verklärte Sokrates, und 165
man darf bei dieser Verklärung im Jüngerkreise auch das Gesetz der Politeia nicht vergessen: Die Philosophenkönige sollen nach dem Tode als Halbgötter kultisch verehrt werden. (540 B.) Niemals ist das Bild der Welt derart verwoben worden mit der seelischen Leibhaftigkeit einer einmaligen Stunde, dem ruhigen Gespräch im innigen menschlichen Kreise, in der die schmerzliche Spannung ihre Lösung findet, und durch die strenge philosophische Bemühung weht bei allen Schwankungen der philosophischen Deutung ein dichterischer Hauch wie nur aus den größten der ewigen Symbole des Menschtums. Wir hören die Kunde von Sokrates' Sterben und sein letztes Gespräch nicht unmittelbar: Phaidon berichtet sie längere Zeit danach auf einer Reise in der Peleponnes, in Phlius. Die Kunde verbreitet sich durch Griechenland, sie wirkt durch schlichte Wahrheit und läutert sich doch zum Geist der Legende. Eine seltsame Bewegung zwischen den Gegensätzen wird hier in unwiederholbarer Weise zur stetigen Form: Ferne und Gegenwart, Ewigkeit und Einmaligkeit, Schlichtheit und Pathos, Freude und Trauer . . . Phaidon, der Erzähler, ist bekannt als Liebling des Meisters in seinen letzten Jahren. Nicht sehr lange vor dessen Tode ist er als kriegsgefangener Jüngling nach Athen gekommen, unwürdig als Sklave behandelt, aber durch Sokrates' Vermittlung freigekauft. Später wird er als Haupt der Elischen Schule bekannt. Ausführlich erzählt er von der Festgesandtschaft zur Apollon-Feier auf Delos, durch welche der Tod des Sokrates mehrere Wochen aufgeschoben wurde. Das ist jedem Athener genau bekannt, aber diesmal spricht Piaton zu fernen Völkern und späten Zeitaltern. Die Haft des Schuldlosen ist milde, und täglich weilen Freunde bei ihm zu Besuch. Am frühen Morgen aber nach der Rückkehr des heiligen Schiffes verkünden ihm die Elf-Männer, daß er nach Sonnenuntergang sterben muß, und nehmen die Fesseln ab, die er bisher trug. Als jene die Zelle verlassen, dürfen die Freunde eintreten. Sie finden Xantippe mit dem kleinsten Kinde zugegen, sie jammert nach Weiberart und füllt den Raum mit trivialen Klagen. Sokrates blickt Kriton an und sagt zu ihm: „Kriton, sorge dafür, daß einer sie nach Hause geleitet." Einige Gefährten des Kriton begleiten sie fort, während sie schreit und sich die Brust schlägt. Das heißt nicht, daß Sokrates einmal übernommene Pflichten von sich schiebt, denn als er sich zum Tode bereitet, empfängt er noch einmal die Familie. Aber die heilige Abschiedsfeier — so dürfen wir wohl seine Geste deuten — darf nicht gestört werden durch den ganz privaten Jammer. Die Gäste der Feier überliefert Piaton der Nachwelt: Apollodor, Kriton, Kritobulos, Äschines, Antisthenes, Ktesippos, Menexenos, Simmias, Kebes, Eukleides und einige andere. Aristipp war an jenem Tage auf Aigina. Piaton darf in solcher Urkunde sich selbst nicht verschweigen. „Piaton aber war, wie ich glaube, krank." . . . Alle sind von einer 166
wunderlich-schwankenden Stimmung ergriffen. Denn Sokrates war so eudaimon, so unverzagt und großherzig ging er dem Tode entgegen, daß Mitleid und Trauer nicht aufkommen konnten und alle vertrauten, daß er durch göttliche Fügung den rechten Weg gehe, aber doch hemmten die Gedanken an seinen Tod die rechte Freude des Gespräches, so daß zwischen Freude und Schmerz, Lachen und Weinen die Gemüter schwankten. Doch Sokrates rührt nur das Erfreuliche, denn der schmerzende Druck der Fesseln ist nun einem Wohlgefühl gewichen, als er mit der Hand den Schenkel reibt. Er liest ein Lebensgesetz daraus: Schmerz und Lust sind notwendig aneinander geknüpft. Auf Kebes' Frage, warum Sokrates im Gefängnis Verse gedichtet habe, erzählt er, daß die Träume ihm immer die gleichen Worte wiederholten: „Sokrates, mach dich ans Werk und dichte!" Darum hat er einen Lobgesang auf seinen Gott, auf Apollon gedichtet. Das läßt er dem Frager Euenos bestellen und fügt, scheinbar unvermittelt, dazu, Euenos möge, wenn er doch Philosoph sei, ihm möglichst bald in den Tod folgen. Dieser paradoxe Gruß schlägt das Thema des Gespräches an: Philosophieren heißt Sterben! Doch wird dies Gebot mit pythagoreischer Frömmigkeit eingeschränkt: wir dürfen uns nicht selbst den Tod geben. Die Götter haben uns hier auf einen Wachtposten gestellt, den wir nicht eigenmächtig verlassen dürfen . . . Oder wir sind die Herde der Götter, und sie würden zürnen, wenn wir durch eigenwilligen Tod sie ihres Eigentums berauben. Doch ist auch dies Verbot nicht unbedingt: die Notwendigkeit erlaubt, uns selbst den Tod zu geben. Sokrates' eigener Tod ist das Vorbild, notwendig und frei zugleich, denn gestern hat er die von Kriton vorbereitete Flucht abgelehnt, und heute abend wird er den Becher trinken, bevor die Frist abgelaufen. Der Sinn des ganzen Gespräches ist: Freiheit in der Erfüllung des Gesetzes. Dem sterbenden Sokrates wird das Sterben zum Bilde der Philosophie. (63 B—69 E.) Wenn der Philosoph sich von körperlichen Genüssen abwendet zur reinen Erkenntnis, so bleibt diese getrübt durch die körperlichen Werkzeuge, und die schauende Seele wird verwirrt durch körperliche Lüste und Schmerzen. Nur die freie Seele erfaßt das Wesen der Dinge in seiner Reinheit: die Trennung der Seele vom Körper ist die Vollendung des Philosophen . . . Immer kehren in dieser Dichtung die Gedanken zurück zur menschlichen Mitte, zur Religion und zum Sterben des Sokrates, und diese Rede schließt mit der Berufung auf die Mysterien, ja, er selbst, der angebliche Logiker, in Wahrheit Apollon-Diener, bekennt sein Leben, seine Erhöhung der Seele über den Körper als einen dionysischen Rausch! Die Stifter der Mysterien künden doch, daß die Ungeweihten im Schlammpfuhl des Hades liegen, die Geweihten aber bei den Göttern wohnen. Denn, sagen sie, der Thyrsosschwinger sind viele, der Bakchen aber wenige. „Diese aber sind" — bekennt Sokrates — „keine anderen als die, welche richtig 167
philosophiert haben. Deren einer zu werden auch ich im Leben, soviel an mir lag, nichts fehlen ließ und auf alle Weise mich bemühte". Das ist die bedeutende Stelle, unter deren Eindruck Piaton der Nachwelt als der große Weltflüchtige erschien. Wie war es möglich, daß er, der Staatgründer, der Verehrer leiblicher Schönheit, das Sterben preist?! — Vollkommen ist die Größe des Meisters erst durch seine Bewährung im Tode sichtbar geworden, und jetzt, lange Jahre danach, findet Piaton die ewige Bedeutung dieser Tat im schwankenden Geistesleben: die Pythagoreische Harmonie zwischen Wort und Werk. Der sterbende Sokrates verklärt sich zum Heros, dem der neuen Religion: das gelassene Sterben des Einen wird Symbol der Philosophie überhaupt. Das besagt die kurze Rede, die Sokrates darum mit ernstem Scherze als Widerspiel seiner Verteidigungsrede vor dem Volksgericht behandelt. Die Freunde klagten ihn mit liebevollem Tadel an, daß er ohne jeden Schmerz von ihnen Abschied nehme. Wenn er als Sieger scheiden will, so muß er den Tod selbst als Übergang zum Glück empfinden, und er muß seine Richter überzeugen, daß er ein Recht dazu hat. — Sokrates hat die Freunde nicht überzeugt. Wohl billigen sie die Forderung, daß der Philosoph unabhängig werde von körperlichen Bedürfnissen, aber die Gebildeten jener Zeit, selbst die Pythagoreer, zweifeln an der Ewigkeit der Einzelseele. Um die Anerkennung dieser Unsterblichkeit müht sich Piaton mit immer neuen Beweisen. Das ist die Schwierigkeit des „Phaidon". Zuerst erweckt er die urtümlichen orphischen, auch von Heraklit gepflegten Lehren. Es gibt eine große Anzahl von Seelen, aber neue werden nicht geschaffen. Wenn nun die Seelen der Gestorbenen nicht im Hades verharrten, um zu neuen Geburten auf die Erde zurückzukehren, so müßten die Menschen aussterben. (70—72 D.) Im ersten Beweise sichert Piaton diesen Glauben durch die Verbindung mit der Anamnesislehre des Menon. Wenn die Seele aus ihrer Tiefe Erkenntnisse heraufholt, die sie in diesem Leben nie gelernt hat, dann muß sie schon vor der letzten Geburt gelebt haben. (Erkennt man das Leben der Seele vor der Zeugung an, dann entspricht es in der Tat dem wissenschaftlichen Denken, an die Ewigkeit der Seele zu glauben und auf die sonst notwendige Neuschöpfung der Seelen aus dem Nichts zu verzichten. Auch denkt man hier an die Monadenlehre von Leibniz.) Das ist das wichtigste Argument für die Ewigkeit der Seele, wenn auch nicht der persönlichen Einzelseele: daß der Knabe in sich selbst mathematische weltbeherrschende Wahrheiten des Raumes findet, liegt himmelhoch über aller mechanistischen Welterklärung. Hier aber dringt Piaton weiter bis zur Ideenlehre, denn zuletzt ist es ihm nicht um den logischen Beweis der Unsterblichkeit zu tun: er will die Gewalt und Umfänglichkeit der Seele zeigen — will sie verwirklichen! Die Seele trägt die Wertnorm, durch die wir, nach Piaton, das Wesen der Dinge erst 168
erkennen, das Schöne selbst und das Gute, das Gerechte, das Fromme selbst, „ d u r c h d i e w i r d a s s i e g e l n , w a s i s t . " (75 C.) „Wenn nun das Schön und Gut und alle solche Wesenheit wirklich ist, auf die wir alle unsere Wahrnehmungen beziehen und die wir wiederfinden als unseren früheren Besitz und jene damit vergleichen, dann muß notwendigerweise, wie diese wirklich ist, auch unsere Seele schon vor unserer Geburt sein." (76 D, E.) Unsere Seele ist ewig, weil sie ewige Werte und Formen in sich trägt, nicht weil sie den „Begriff" des Ewigen bildet. Der ganze Beweisgang (70 A—77 A) macht die Vorstellungen alter Religion und vorsokratischer Philosophie lebendig, in denen die Seele sich des Ewigen bewußt wird. Damit aber hat sich das Ziel des Beweises verschoben. Jetzt ist mehr vom Ewigen in der Seele überhaupt, als von Tod und Unsterblichkeit der Einzelseele die Rede. So nämlich faßt Simmias das Ergebnis zusammen: Nichts sei ihm so evident wie die höchste Wirklichkeit des Schön und Gut. Sokrates habe ihn überzeugt, daß unsere Seele vor der Geburt in gleicher Weise wirklich sei wie jene Wesenheiten. Damit habe sich der Logos ins Schöne gerettet. — Diese Hinwendung zur Weltseele, diese platonische Erhebung kann die Beängstigungen des naiven, den Instinkten hingegebenen Menschen nicht heilen. Darum muß der zweiflerische Kebes den Einwand machen, daß die Seele, wenn sie auch vor der Geburt bestand, doch beim Tode vernichtet werden könnte. Die Seele könnte ja bei der Trennung vom Leibe vom Winde verweht werden, zumal wenn einer, wie Sokrates scherzt, während eines Sturmes stirbt. Diese kindliche Vorstellung hat Sokrates schon durch jene Lehre vom Kreislauf widerlegt. Kebes ist wohl als Denker befriedigt, aber er bittet Sokrates, auch das Kind im Menschen, das dennoch den Tod wie ein Gespenst fürchte, zu beruhigen. Der rät mit leichtem Spott den Zweiflern, die Sophisten in Hellas und bei den Barbaren aufzusuchen, um die Sache ins klare zu bringen. Das besagt: Wer den geistigen Aufstieg nicht mitlebt, wer aus dieser erhabenen Todesfeier, aus der Person des Sokrates nicht Heilung trinkt, der möge mit Sophisten und Barbaren diskutieren! (78 A.) Aber diesen Anlaß, die Untersuchung zu vertiefen, verschmäht er nicht. Anknüpfend an die Lehren der „Naturphilosophie" fragt er, ob die Seele zu den zusammengesetzten Dingen gehöre oder zu den einfachen, denn im ersten Falle muß sie fürchten, auch wieder aufgelöst zu werden, im zweiten kann ihr das nicht geschehen. Aber diese Untersuchung wird hier nur gestreift, um die Ideenlehre gegen die stofflichgerichtete Naturwissenschaft abzugrenzen. (78 C.) Alles Sichtbare, Körperliche ist dem Wandel unterworfen — einfach, unzersetzlich, ewig ist die unkörperliche Idee. Deutlicher wird nun die Wendung, daß Piaton nicht aus Trostbedürfnis oder aus Angst vor dem ewigen Tode handelt: im Grunde redet er nicht vom Sterben, sondern vom hohen Glück des 169
philosophischen L e b e n s . Am ewigen Leben hat der Mensch teil, wenn er die ewigen Ideen betrachtet. „Wenn sie selber aber durch sich selbst (nicht durch die Sinneswerkzeuge) schaut, dann bricht sie auf zu dem Reinen und immer Seienden und Unsterblichen und gleich sich Verhaltenden und, weil sie mit ihm verwandt ist, hält sie sich immer zu ihm, wenn sie selbst zu sich selber kommt und es ihr erlaubt ist, und dann hat sie Ruhe gefunden vor dem Schweifen, und im Verhältnis zu jenen Dingen verhält sie sich immer auf gleiche Weise, weil sie solche berührt. Und dieser ihr Zustand heißt Phronesis." (79 D.) Mit Unrecht hat man sich gewöhnt, im logischen Beweis der Unsterblichkeit das Gerüst des Gespräches zu suchen. Auf sie, ja auch auf die Ideenlehre, entfällt nur ein kleiner Teil dieser langen zweiten Rede. (78 B—84 B.) Die treibende Kraft des Gespräches ist, die Allmacht der gereinigten, dem- Ewigen zugewandten Seele, die Seligkeit des Platonischen Lebens darzustellen. Der Feind ist deutlich bezeichnet: es sind die Menschen, die nur den Stoff an sich für wirklich halten und die Wirklichkeit des Geistes leugnen. Viel weniger die Irrtümer der Sinne, als die Verstrickung des Menschen in das niedere körperliche Geschehen verfemt Piaton. Hier klingt es asketisch, ist aber doch nicht Weltflucht, sondern schöne Gestaltung der Welt. Ist doch das Göttliche der Seele, daß sie königlich den Leib beherrscht. Reine Betrachtung, Phronesis, ist die Nahrung der Arete, die aber in irdischer Auswirkung sich verwirklicht. Aus dem Anblick des Ewigen quillt auch die Tapferkeit, mit der Sokrates den Tod besiegt. In diesem Augenblick finden alle aporetischen „Tugenddialoge" ihre Lösung: In Sokrates vollenden sich alle Tugenden. Religion und Gefühl drängen das begriffliche Denken zurück. Nach dem Tode steigt die gereinigte Seele auf zum Götterraum, während die niederen Lüsten verhaftete sich nicht vom Körper lösen kann. Sie bleibt schwerfällig, erdhaft und sichtbar, denn man sieht sie als Gespenst um Gräber schleichen. Solche Seelen werden bald wieder eingekörpert in Tiere, die ihrer Lebensweise entsprechen: Schlemmer in Esel, Räuber und Tyrannen in Wölfe, Habichte, Geier. Solche, die bürgerliche Tugend durch Gewohnheit und Übung, aber ohne philosophische Einsicht erwarben, werden zu Ameisen, Bienen oder auch wieder zu Menschen. Nur die philosophischen steigen zu den Göttern auf. (81—82 B.) Sokrates schließt damit, daß man nach solchem Leben nicht zu fürchten brauche, daß die Seele zerstiebe, und niemandem wird entgangen sein, daß er nicht das Sterben, sondern das reine starke Leben, sein Leben gepriesen hat. Piaton läßt hier das Gespräch durch eine lange Pause der Ergriffenheit unterbrochen sein, und wenn Sokrates, der in die Rede verliebte, so lange schweigt, so deutet er an: es bedarf der ruhigen Schau der ganzen Seele, wo das Wort nicht zulangt. „Als Sokrates so gesprochen 170
hatte, trat eine Stille ein, die lange dauerte. Er selbst aber war, wie man ihm ansehen konnte, noch ganz in das Gesagte versunken, wie auch die meisten von uns." Sokrates braucht nicht Beweise, daß seine Seele nicht zerstieben wird, und alle „Beweise" sind nur Hilfsmittel für die noch tastenden Jünger. Je größer ein Mann ist, um so weniger bedarf er des Jenseitstrostes. Piaton sieht die Welt verschönt und verklärt durch das lebendige Dasein des Sokrates. Nicht das Wesen, nur Krönung und Symbol dieses Lebens ist das sieghafte Sterben, verklärt vom Gedanken an noch schöneres Weiterleben. Alle ehren dies Denken als religiöse Überzeugung, und keiner zieht sie in die philosophische Erörterung ausgenommen die beiden Theoretiker Simmias und Kebes, die miteinander flüstern, bis Sokrates sie auffordert, ihre Bedenken zu äußern. Dies Schweigen gliedert das Gespräch in zwei Teile. Die „Idee" beherrscht das Ganze, aber anfangs entspricht sie noch dem Sokratischen Denken und wird dann für die Aufnahme der Ideenlehre vorbereitet durch Elemente der Vorsokratiker, durch Wiedererinnerungs- und Seelenwanderungslehre. Im zweiten Teil aber gibt Piaton die methodische Grundlage seiner eigentlichen „Ideenlehre". Jedesmal, wenn Piaton auf Sokrates eine neue Erkenntnis überträgt, versteht er mit schöner Gebärde anzudeuten, daß der in ihm wachsende Sokrates ein Neues erlebt. Da Simmias fürchtet, Sokrates könne durch ihren Widerspruch in der Todesstunde verstimmt werden, wundert sich dieser, seine Freunde nicht überzeugt zu haben, daß er den Tod nicht als Unglück empfinde. Auch von den Singschwänen glaube man, daß ihr Gesang eine Klage über den nahenden Tod sei. Das aber sei Lüge. Sind sie doch Apollons Tiere, und in der Vorahnung des Todes singen sie am lautesten, weil sie sich freuen, zum Gotte zu gelangen, dessen Diener sie sind. Als Apollons Tiere mit Seherkraft begabt sehen sie das Glück des künftigen Lebens und singen aus Entzückung. „Ich aber glaube, ein Dienstgenoß der Schwäne zu sein und heilig demselben Gotte und eine nicht geringere Sehergabe vom Herrscher empfangen zu haben und ebenso wohlgemut aus dem Leben zu scheiden." Diese Apollinische Lehre ist die Ideenlehre: Piaton hat seine kostbarste Erkenntnis dem sterbenden Sokrates in den Mund gelegt. Aber auch das besagt dieser Eingang: Piaton will sie als göttliche Offenbarung, nicht als Ergebnis begrifflichen Denkens geehrt wissen. Sie bezaubert uns im Bilde des dichterischen Mythos. Trotz dieses Seherstolzes verteidigt Piaton seine Lehre gegen die Widerkraft. Das sind nicht die zeitgebundenen Sophisten, die von ihm längst überwundenen Gegner: es ist sein gefährlichster Feind, die überindividuelle Idee des wissenschaftlichen Materialismus. Der Seher ahnt in ihm seine furchtbarste Gefahr, und dieser Sicht entstammt das hohe Pathos des „Phaidon". Wenn er die Königsmacht der Seele gründen 171
will, so muß er zuerst sein Reich sichern gegen die materialistische WeltEntseelung und -Entgötterung: gegen die Stoffgläubigkeit. Piaton macht sich den Kampf nicht leicht, denn plumpe Vertreter der Körpergläubigkeit haben keinen Zutritt zur Kammer des todgeweihten Sokrates. Simmias trägt eine Lehre vor, die Pythagoreischen Geist in sich trägt und noch kaum bewußt nur den Keim jenes Materialismus hegt. Er vergleicht den Leib mit einer Leier. Wenn Sokrates sage, die Seele sei ewig, weil sie nicht dem Auge, nur dem Denken erkennbar sei, so könne man mit gleichem Rechte von der Leier sagen, daß ihre Harmonie etwas Unsichtbares, Unkörperliches, Schönstes und Göttliches sei — aber dürfe man daraus schließen, daß die Harmonie dieser Leier fortbestehe, wenn ihre Saiten zerrissen seien? Der Schluß, daß die stofflichen Teile der Leier nicht länger bestehen könnten, als die göttliche Harmonie, sei unberechtigt. W i r würden das heute ausdrücken: die Seele sei nur eine Funktion des Leibes . . . W i r spüren aus dem folgenden, wie sehr Piaton den Zauber dieses Bildes der Leier, den es auf alle haben muß, die ein folgerichtiges und klares Weltbild suchen, an sich selbst erlebt hat. „ W i r alle waren — läßt er Phaidon weiter erzählen — als wir diese Einwände gehört hatten, wie wir uns später gegenseitig gestanden, verstimmt, weil wir durch die frühere Rede fast überzeugt nun wieder verwirrt schienen und zurückgestoßen in den Unglauben nicht allein gegen die schon gesagten Gründe, sondern auch gegen das, was noch gesagt werden würde — ob wir überhaupt zur Entscheidung fähig seien oder die Sache an sich unsicher wäre." Aber selbst diese scharfe Cäsur genügt Piaton nicht, um das Folgende zu betonen. Wie das Urgespräch ruht, so wird dann selbst Phaidons Bericht unterbrochen. „Bei den Göttern, — ruft Echekrates, der ganz die Spannung dieser weltgeschichtlichen Entscheidung miterlebt — das finde ich verzeihlich. Denn, da ich dies von dir gehört habe, drängt es sich mir selber auf: welchem Logos dürfen wir ferner noch vertrauen? Wunderbar nämlich ergreift mich diese Lehre, jetzt und immer, daß unsere Seele eine A r t Harmonie sei, und ausgesprochen klang sie wie eine Erinnerung, als ob es mir früher schon so gedeucht habe." Man spürt die Angst dieses Hörers, daß Sokrates vielleicht in letzter Stunde gescheitert sei: er verlangt, genau zu hören, nicht nur ob Sokrates die Gegenlehre widerlegt, sondern ob er auch in Haltung und Stimmung als Sieger sich bewährte . . . Phaidon kann ihn beruhigen. Oft habe er Sokrates bewundert, aber nie sei er von ihm so begeistert gewesen wie damals. Er fühlt richtig, was doch so wenige Leser bisher verstanden: Sokrates steht sicher im Diesseits und kennt keine Todesfurcht, da ihn, wie die „Apologie" besagt, auch der ewige Schlaf nicht schrecken würde. Aber sein Werk, das neue Leben ist bedroht, wenn die Jünger an die Unsterblichkeit nicht glauben, denn dieser Glaube scheint ihm der Anker des Staates. Phaidon versteht, warum Sokrates
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den widersprechenden Jünglingen so gütig und milde antwortet: „wie er sogleich wahrgenommen hatte, was an uns durch jene Reden geschehen war, und wie gut er uns dann heilte und gleich wie Flüchtlinge und Geschlagene zurückrief und uns ermutigte, ihm Folgschaft zu leisten und mit ihm auf den Logos den Blick zu richten." Hier gipfelt Platonische Kunst, echteste Kunst, die allein der von der Idee Ergriffene, nicht der ästhetische Techniker kennt. Phaidon, der junge Liebling, berichtet, wie er selbst während des Gespräches auf einem Schemel zu Füßen des Meisters saß. „Da ließ er seine Hand über meinen Kopf gleiten und griff mein Haar im Nacken zusammen, denn er liebte bisweilen in meinem Haare zu spielen — und frug: morgen also, mein Phaidon, wirst du wohl diese schönen Locken scheren lassen? — Ich glaube wohl, Sokrates, erwiderte ich. — Nein, nicht wenn du mir folgst! . . . Heute noch wollen wir beide, ich und du, unsere Haare scheren lassen, wenn uns wirklich unser Logos stirbt und wir ihn nicht wieder ins Leben zurückzurufen vermögen! Ich aber, wenn ich du wäre und jener Logos mir entkäme, täte den Schwur wie die Argeier, nicht eher das Haar wachsen zu lassen, bis daß ich in der Schlacht besiegt hätte den Logos des Simmias und Kebes. — Aber es heißt, sagte ich, daß mit zweien selbst Herakles es nicht aufnehmen kann. — Also ruf auch mich, sagte Sokrates, als deinen Jolaos zu Hilfe, solange es Tag ist." Das Pathos dieser Stelle zeigt an, daß hier das Herz des Dialoges schlägt. „Solange es Tag ist", vor seinem letzten Sonnenuntergang will Sokrates noch eine Herakles-Tat bestehen: die Ausrottung der Lehre des Simmias und Kebes — das ist sein apollinischer Drachenkampf gegen die Stoffgläubigkeit. — Das Kampfziel ist bisher kaum verstanden, weil Simmias und Kebes (Piaton faßt die Widerlegung beider in eine Schlacht zusammen) nicht selbst Materialisten sind. Simmias ist Dualist, und seine Lehre widerspricht kaum einer abgeblaßten Ideenlehre. Die Harmonie ist ihm ein Göttliches, das sich an der Materie verwirklicht, aber durch sie nicht erklärt wird. Aber Piaton ahnt, was die Geschichte bestätigt hat: ein solcher Dualismus führt zum Materialismus. Piatons Leidenschaft fordert eine Seele, die im Leibe, über die Körper herrscht: die persönliche Willensfreiheit. Ohne sie bleibt das Trachten nach der Lebensnorm sinnlos und der Platonische Weg, das Volk zu retten, versperrt. Darum erinnert er gegen das Bild der toten Leier an Odysseus, der seine Brust schlägt und das eigene Herz schilt: „Dulde, mein Herz, noch hündischer hast du vormals g e d u l d e t . . . " So sagt Homer, weil er weiß, die Seele sei keine vom Körper abhängige Harmonie, sondern seine göttliche Regentin. (94 D, E.) Aber erst die Widerlegung des Kebes ist entscheidend, ja ist eins der wichtigsten Dokumente, von dem das Verständnis der Ideenlehre abhängt. (95 E—106 E.) Piaton verknüpft es in höchster Kunst mit der Person des Sokrates und knüpft diese zugleich in den 173
Gang der Philosophiegeschichte ein. Zum ersten Male stellt er den Ethiker Sokrates als Wendepunkt der Philosophie hin — mehr eine Tat als eine Beschreibung. „Ich begehrte, solange ich jung war, wunder wie sehr nach dieser Weisheit, die man Kunde von der Natur nennt." Das Wesentliche dieser Historia ist es, die Ursachen aller Dinge, also die Ursachen des Werdens und Vergehens, zu kennen. So klar war dieser Grundsatz noch nie gewertet: die Unterscheidung einer Welt der ewigen Dinge und der Welt des Werdens und Vergehens. In diesem Gedankengange liegt für Piaton unter diesen naturkundlichen Theorien der Ton auf der ganz modern-mechanistischen Anschauung, daß unser Gehirn die Wahrnehmungen hervorbringt, daß aus diesen das Gedächtnis und die Vorstellungen entstehen, aus welchen die Erkenntnis sich aufbaut. (96 B.) Anfangs schien ihm diese Naturkunde die Phänomene des Werdens, deren anschaulichstes das Wachstum ist, recht wohl zu erklären: die Atome des Knochens treten zusammen und bilden den Knochen, die Fleischatome das Fleisch. (Anaxagoras.) Gegen diese einleuchtende Lehre wehrt sich aber tiefere Besinnung, philosophische Verwunderung: wie ist Veränderung, Bewegung überhaupt möglich? Ist doch schon der erste Anfang, die Erklärung der Zwei unlösbar widerspruchsvoll: die Zwei soll einmal durch die Verdoppelung der Eins, dann wieder durch die Teilung derselben Eins erklärt werden. Piaton hat teil an der Verwunderung des Parmenides über Veränderung und Werden . . . In solcher Verwirrung hörte Sokrates aus einem Buche des Anaxagoras vorlesen, daß der Geist, der Nus, Ursache aller Dinge ist. Darüber freut er sich und deutet diese Lehre so, daß der Nus jedes Ding an den Ort stellt, wo es sich am besten verhält. Dann ist das Weltall erklärt, die Philosophie vollkommen, wenn man von jedem Ding erkennt, daß es so, wie es ist, am besten ist, oder wenn man — anders ausgedrückt — in jedem Ding dessen besondere Arete findet. In dieser Freude liest er des Anaxagoras Bücher, ohne zu säumen. Aber seine Hoffnung wird schwer enttäuscht: statt des schöpferischen Geistes findet er nur mechanische Erklärungen. Anaxagoras hatte Freude am Weltmechanismus, und er schien ihm so sinngemäß, daß er ihm als Ausdruck und Beweis des ordnenden Gottes galt. (In dieser Anschauung steht er noch Newton näher als Leibniz.) Das stand dem Zeitalter des regierenden Perikles an. Nun aber, da eine Staats e r n e u e r u n g aus dem Grunde der Seele her notwendig war, konnte solcher Blick nicht das Heil bringen. Wohl ist die Schau des Weltalls auch Piatons höchste Lust, aber die nackte Mechanik befriedigt ihn nicht: er mußte sie verstehen als bloßes Mittel des weltschaffenden, des auf einen Zweck gerichteten Geistes. Der Zweck alles Strebens ist das Gute, der Geist ist nichts anderes als der Wille zum Guten. Anaxagoras könnte erwidern, daß sein Kosmos das Gute und Schöne, das Ziel des Nus sei, aber Piaton will in sich selbst den 174
Sinn dieses Zieles tragen und in seinen Jüngern den göttlichen Funken wecken. Piaton lehrt W i l l e n s f r e i h e i t ! Was hilft es, mit Anaxagoras den Geist als metaphysisches Prinzip anerkennen! Das fortschreitende Wissen befriedigt sich dann in der mechanischen Seite der Welt, und die Seele wird überwuchert vom Mechanismus — das ist der Gang des Dualismus, wie ihn für Europa Descartes eingeleitet hat. Dagegen gibt es nur ein Heil: die Anerkennung der leibhaften Seele, der Schöpferkraft und Freiheit der persönlichen Seele. Für sie kämpft Piaton in Wahrheit — die Unsterblichkeit der persönlichen Seele ist nur ein Mittel dafür. Ohne Leib-Seele-Einheit fallen Geist und Stoff tot auseinander. In diesem einen Punkt muß man Piatons Lehre deutend ergänzen, da sonst unverständlich bleibt, warum er Anaxagoras, der doch kein Materialist ist, so emphatisch angreift. Denn mit aller Kunst ist auf diese Stelle die Wucht des Angriffes gerichtet. Mit verschwiegenem Fingerzeig hat Platon-Sokrates vormals auf sich als rettenden Meister gewiesen, kühn in der Apologie sich als Geschenk Gottes bezeichnet — nur hier aber zeigt er sich unverhüllt in seinem persönlichen Tun als Vorbild, das den Sinn der Welt offenbart. Dem Anaxagoras — so wendet Piaton ein, indem er wunderbar kühn Sokrates neben das Weltall stellt — dem Anaxagoras sei es mit seiner Welterklärung gegangen wie jemandem, der zwar zuvor sagt, daß Sokrates alles durch den Geist tue, dann aber, um die Ursache seines Tuns zu erklären, seine Knochen und Gelenke, die Muskeln und Mechanik seiner Bewegungen beschreibe und nun als Ursache dafür, daß er hier auf dem Bett säße, die Spannung seiner Muskeln und die Beugung seiner Knie angebe. „Und ähnliche Ursachen würde er für unsere jetzige Unterhaltung angeben, indem er sie durch Töne und Luftschwingungen und Stimmen und tausend andere Dinge erklärt, nur aber die wahre Ursache zu nennen vergißt, nämlich: weil die Athener es für besser befanden, mich zu verurteilen, deswegen habe ich wieder für besser befunden, hier zu sitzen, und für gerechter, zu bleiben und die Strafe auf mich zu nehmen, die sie befahlen. Denn, beim Hunde! ich dächte doch, längst wären diese Sehnen und Knochen in Megara oder Böotien, fortbewegt durch die Vorstellung des Besten, wenn ich es nicht für gerechter und schöner gehalten hätte, statt zu fliehen und davonzulaufen, jede Strafe zu dulden, die die Stadt verhängt!" (97 B - 9 9 A.) Sokrates ist Sieger. Sein Tod ist kein Erleiden, sondern freier Entschluß, bewährende Tat, denn die Freunde haben ihn fast mit Gewalt zur Flucht gedrängt. („Kriton.") Und hier stellt er den eigenen freien Willen als Symbol der Welt dar, denn auch das Weltganze ist die freie Tat des Nus, der das Gute verwirklicht. Die moderne Deutung, verführt durch die ganz unplatonische Scheidung von Geist und Natur, möchte hier eine Ablehnung der Naturphilosophie erkennen. Aber gerade der „Phaidon" zeigt, daß für Piaton Phi175
losophie zuletzt auch Naturphilosophie sein muß, ganz abgesehen von seiner hohen Vorliebe für „Naturwissenschaft". Aber er ordnet die „Physik" seiner Idee ein und unter, wie er den Körper der Seele unterordnet. Audi Sokrates könnte ohne den Mechanismus der Muskeln und Knochen nicht nach Megara fliehen, aber diese Mechanismen sind nur Mittel, nicht Wesen seines Tuns. Die wahre Philosophie besteht darin, die Ursache zu finden, durch welche die mechanischen Ursachen überhaupt erst als Ursache wirken können. (99 A—C.) Die Sage berichtet, Piaton habe alle Werke Demokrits verbrennen wollen. Und wenn man heute weiß, daß er diesen nicht wenig verdankt, so bleibt der Sinn jener Sage doch richtig: den Sinn jener Lehre, die mechanistische Weltdeutung, hat Piaton für das christliche Weltalter verbrannt, ja sie (soweit sie die Welt „erklären", nicht bloß eine Methode der Naturforschung sein will) f ü r immer besiegt. Seit diesem Argument und dieser großen Geste des Sokrates gibt es keine materialistische Philosophie mehr, sondern nur noch einen materialistischen Verzicht auf wahre Philosophie. Piaton beginnt den neuen Einsatz, da die gegebene Philosophie in Materialismus versandet, in Skeptizismus sich verflüchtigt. Das Erbe der Pythagoreer und des Heraklit hatte er seinem Weltbilde eingeschmolzen: dann aber muß ihn das Erlebnis des Parmenides ergriffen haben. Er hatte, von Sokrates geführt, so hingegeben auf die unwandelbare Lebensnorm geschaut, daß ihn nun das Parmenideische Erstaunen ergriff, wie eine Bewegung, ein Werden überhaupt möglich sei. Das Ewige beginnt ihm wirklicher zu erscheinen als das Werdende. So scheint es, als ob Piaton sich abwende von der leiblichen Werdewelt und nur auf die Gebilde des Denkens, auf das Starre und Unbewegliche blicke. Er war ausgezogen, die praktische Lebensnorm, das Gute als Rettung des Staates zu finden. Nun, da er es hat und vergleicht mit der früheren Philosophie, sieht er den Ring sich schließen: die Idee des Agathon ist zugleich die Substanz der Welt, die schöpferische Kraft, der Nus. Damit ist die eigene Lehre Piatons fest begründet. Aber Piaton macht sich keine Illusionen. Das Gefüge von Ursache und Wirkung, der Bau der Welt im Einzelnen ist damit nicht erkannt und erklärt. Noch fehlt ihm das feste Fahrzeug oder die göttliche Lehre (85 D), mittels derer er die Fahrt des Lebens unbedingt sicher unternehmen könnte. Die dogmatische Philosophie hat nicht gehalten, was sie versprach. Mit dem Verzicht auf die kausale Philosophie unternimmt er die „zweite Fahrt" zur Erforschung der Weltursache: die Methode der Ideenschau (99 C, D). In diesem Augenblick, dem „Phaidon", bedeutet seine Ideenlehre Verzicht, — v o r l ä u f i g e n Verzicht. Wenn Piaton wüßte, die Erde schwebt in der Mitte des Weltalls', und wenn er dann verstünde, es ist für das Ganze am besten, daß es so ist — dann wäre er befriedigt. Aber er bemerkt, daß seine Erkenntnis nicht ausreicht und daß die natur176
wisenschaftlichen Hypothesen in der Luft schweben. Darum verzichtet er, die kausale Kette des wirklichen Geschehens im Einzelnen zu erklären. Der Forscher will die Eigenschaften der Dinge kausal erklären. Piaton will einen bescheideneren Weg gehen: er will sich mit der Erklärung begnügen, dieser Gegenstand ist schön, weil er am Schönen selbst, an der Idee des Schönen teilhat. Das klingt bescheiden und „einfältig", wie Piaton selber sagt. Mit Behagen zeigen die Logiker, daß dies Urteil keine neue Kenntnis enthalte, weil es rein analytisch sei. Sie tun dem Satz noch zuviel Ehre an, denn er ist auch kein analytisches Urteil, er ist eine leere Tautologie: Dies Ding ist schön, weil es schön ist. Diese logische Leerheit hätte ein Hinweis sein sollen, daß Piaton hier nicht von Urteil und Schluß redet, sondern ein ursprüngliches Erleben unmittelbar ausdrücken will. Wer die Schönheit einer Bildsäule anderen vermitteln wollte, der würde erfahren, daß man nach der exakten, rein räumlichen Beschreibung auch eine häßliche Nachbildung fertigen könnte. Logisch begründen läßt sich ihre Schönheit nicht. Winckelmann verlieh, nach der eindringlichsten sinnlich-leibhaften Schau, seiner Beschreibung des Apoll ihre Begeisterungsfähigkeit, die ein neues Zeitalter wachrief, nur durch Worte, die sich an Anschauung und Gefühl wendeten und fast dichterisch den Leser in die hohe Sphäre der Schönheit hoben. Nietzsche, ohne sich klar zu sein, wie Platonisch er dachte, riet „der jungen Seele", sich an das zu erinnern, was von ihr einst geehrt und geliebt worden sei, was sie beherrscht und beglückt habe: an dieser Stufenleiter zu ihrer eigenen Höhe werde sie ihr Grundgesetz erkennen. „Denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermeßlich hoch über dir . . . " Solche Erweckung, nicht das Spiel mit „hypostasierten Prädikatsbegriffen" ist die wahre Einleitung für die Phaidonische Ideenlehre. Der Satz, etwas ist schön, weil es teilhat an der Idee des Schönen, bedeutet, daß unsere Seele eine Erlebnismöglichkeit birgt, die mit dem schönen Gegenstande in unerklärlicher Wechselbeziehung steht. Der höchste Sinn der Philosophie aber ist, das sinnliche, oberflächliche Gefühl dieser Schönheit — Tausende liefen an dem Marmor vorbei, bis E i n e r kam, der seine Schönheit ganz erlebte — zum vollen geistigen schöpferischen Erlebnis zu entfalten. Die Logik dringt nicht in diesen Weltgrund, ja sie führt fort von der Sphäre des Erlebens der Schönheit, in dem unser Verstand Subjekt und Objekt nicht mehr scheiden kann. (Goethe aber fand, durch eigene Naturerkenntnis belehrt, für jenes Urerlebnis den bezeichnenden Namen: „Urphänomen". Nachdem gerade das 19. Jahrhundert sich von dieser „einfältigen", doch unerschöpflich tiefen Erkenntnis abgewandt hat, hat die neue Philosophie sich der Phaidonischen Seite der Ideenlehre genähert durch den Begriff der „Wesenschau".) Um zu dieser Wesenschau zu gelangen, wendet sich Piaton ab von den sinnlichen Wahrnehmungen, um die Dinge „im Sinn", in Ge12 Hüdebrandt, Piaton
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danken, en logois zu betrachten. Dieser Ausdruck ist die Quelle unendlicher Mißverständnisse! Man scheidet mit Kant die Erkenntnis in sinnliche Anschauung und in Begriff und glaubt, daß Piaton die sinnliche Anschauung verwarf, um sich in die Begriffe, wie man logoi übersetzte, zu versenken. Man glaubte, die Askese des Lebens habe er im „Phaidon" gesteigert zur Askese des abstrakten Verstandes. Aber nicht die sinnlich leibhafte Anschauung, nur die bloße Wahrnehmung lehnt Piaton ab. Wahrnehmung ist gebunden an den vergänglichen Stoff, in dem sich das wesenhafte Bild realisiert, sie ist getrübt durch unser zufälliges Interesse, sie ist beengt auf einen kleinen Ausschnitt von Raum und Zeit. Aber die geistige Anschauung enthüllt durch Reinigung, erhöht durch Sinngebung das wahre Bild. Viele Dinge macht uns erst das Wort des Dichters sichtbar. Vor der sinnlichen Wahrnehmung, nicht vor der sinnlichen Anschauung warnt Piaton den Erkennenden. Er kehrt sich nicht ab von der leibhaften Welt, aber er zeigt in den vergänglichen Dingen das ewige Bild, wozu der nicht mehr fähig ist, der mit Kant den unheilbaren Schnitt zwischen sinnlicher Anschauung und begrifflichem Denken gezogen hat. Darum werden die einfachen „Sinnesqualitäten" für Piaton zu Ideen: Licht, Ton, Wärme . . . Das ist keine „Naivität", denn er weiß, wie die Pythagoreer den Ton durch Luftschwingungen, das Licht durch Ausstrahlungen erklären, aber diese Erklärungen führen nicht bis zur ersten Ursache. Hinter Atombewegungen und Mechanismen steht die Schöpferkraft, die Licht und Ton schuf, weil so die Welt schön wurde. Es ist die Idee des Guten, welche als fayuc Satjiovta, als gotthafte Kraft, die Welt ordnet und zusammenhält. (99 C.) Ideen sind nicht, wie die Erkenntniskritiker wünschen, Formen des erkennenden Geistes: sie sind Weltkräfte, wirksam im Subjekt und Objekt. Der alte Glaube lebt in Piaton in neuer Gestalt auf: Wie Schönheit, Mut, Klugheit im Menschen unmittelbare Auswirkung der Götter waren, so sieht Piaton die Weltkräfte als göttliche Idee, Gestalt, Form. Nicht von der sinnlichen Anschauung, sondern von der abstrakten Erklärung der Physiker sieht Piaton hier ab. Er verwirft sie nicht, aber wie sie in der Erkenntnis nur abgeleitet, so ist sie in der Wirklichkeit nur Mittel. Der Physiker will das Geheimnis des Lichtes enträtseln, seine Wege verraten — Piaton will sein Geheimnis erleben: er schaut das Urphänomen, das ewige Licht. Aber verharren will auch er nicht in der reinen Schau, sondern aus ihr den Bau der Welt deuten und erkennen. Hier ist das seit Nietzsche so mißtrauisch bewertete Bekenntnis zum „System". Von der Idee aus will Piaton das Geschehen in der Werdewelt unter dem Naturgesetz erkennen. Piaton lehnt also die Erforschung der empirischen Welt nicht ab, er betrachtet wie der Naturforscher das Naturgesetz, das Ewige im Naturgeschehen, nur daß er von der Idee ausgeht, nicht von mechanischen Einzelheiten. Aus natürlicher Erfahrung bringt er sich das Gesetz zu 178
Bewußtsein: der Gegenstand Schnee verbindet sich nie mit der Idee, der Weltkraft Wärme. Und gleichermaßen kann die Seele — für den Griechen untrennbar von der Idee „Leben" — sich niemals verbinden mit der Idee „Tod". Schnee wird vernichtet, wenn die feindliche Idee „Wärme" naht, aber die Seele kann nicht vernichtet werden, denn im Augenblick der Vernichtung würde sie sich ja mit der feindlichen Idee „Tod" verschmelzen. _ Sie wird nicht vernichtet, sie ist unsterblich, sie flieht an einen andern Ort. Das klänge wie eine unlogische Erschleichung, denn dieser Beweis setzt voraus, daß zuvor die Seele als persönliche Substanz neben dem Körper da ist. Aber dieser Beweis ist ja vorher durch die Wiedererinnerung, wie selbst der Zweifler Kebes zugab, dadurch erbracht, daß die Seele längst vor der Geburt gelebt hat. Setzt man dies voraus, dann klingt der Schluß doch überzeugend: wenn irgend etwas unsterblich ist, dann ist es — nächst Gott — diese unsterbliche Seele. Vergleicht man mit dieser Aufweisung der weltschaffenden Kraft in der Seele die etwas lächerliche Hypothese Demokrits, der die Seele aus leichtbeweglichen runden Atomen zwischen den eckigen Atomen des Körpers erklären will, dann rückt die Größe von Piatons Tat ins Licht. Die kritischen Vergnügungen seiner Nachfahren macht er überflüssig, da er im Folgenden ausdrücklich auf die mathematische Sicherheit seiner Beweise verzichtet. Schweift er doch selbst ein wenig spöttisch von diesen „Beweisen" ab: die Jünger sollten nur immer weiter forschen, da die Sache doch noch nicht ganz klar sei — sie würden schon die Wahrheit dieser Lehre einsehen, und dann würden sie nichts weiter mehr erforschen . . . (bis 107 B). Wie der Weltschöpfer das schöne All schafft, so soll der Philosoph das Gute und Schöne schaffen, nicht allein erkennen. Selbst der „Phaidon" fordert zuletzt nicht die Schau, sondern die Verwirklichung des Bildes. Kaum hat Sokrates die ewig Unbefriedigten zur Not besänftigt, so sagt er, was ihm in der letzten Stunde am Herzen liegt: die Unsterblichkeitslehre verleiht all unserem Tun das Gewicht der Ewigkeit. Aus gleichem Grunde lehrt der Katholizismus Ewigkeit von Lohn und Buße, und Nietzsche die ewige Wiederkehr. Nicht im Preise des Todes, sondern in der Erweckung der Jünger erfüllt sich der Sinn des „Phaidon", denn wenn die Seele unsterblich ist, dann erfüllt sich der Weltsinn in Reinheit und Schönheit des beseelten Lebens. Nicht im Tode, sondern im ganzen Leben geschieht die Ablösung vom Übel, tragen wir doch auf unserer Wanderung ins Jenseits nichts mit uns als das in diesem Leben wesenhaft Erworbene: Bildung und Wuchs. (So überwächst der Erwecker des diesseitigen Lebens den Gläubigen der Anamnesis und des Jenseits.) Nun endlich, der Mühsal des Beweisens enthoben, überläßt Sokrates die feiernde Seele ganz dem Fluge ihrer Phantasie. Es ist die Erzählung vom irdischen Paradiese, in der die Vielseitigkeit des schwierigen Werkes ihr Symbol findet. Sokrates, im Geist schon hoch über die Erde entrückt, 12*
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sieht sie als Kugel und auf ihr den bekannten Länderkreis, das Mittelmeergebiet mit der damals bekannten Welt, als eine unter vielen andern Gruben. Wie an deren Boden sich das Meerwasser gesammelt hat, so sammelt sich über dem Wasser die Luft. Käme man aber bis zum oberen Rande dieser Grube, so gelangte man erst in der Höhe an die wahre Erdoberfläche, die also gleichsam das Ufer unseres trüben Luftmeeres darstellt. Diese wahre Erdfläche ragt in den reinen Äther, der das All erfüllt. In dieser Landschaft hausen Götter und verklärte Menschen. Die glühende Sinnlichkeit in der Schilderung dieses irdischen Paradieses widerlegt jeden Verdacht, Piaton habe Unanschaulichkeit und Abstraktion erstrebt. „Es wird erzählt, mein Gefährte, daß diese eigentliche Erde, wenn einer sie von oben betrachtet, anzuschauen ist wie jene Bälle, die man aus zwölf Lederflecken in bunten Farben zusammennäht. Aber die Farben, die unsere Maler verwenden, sind gleichsam nur Proben für jene dort oben. Denn dort bestehe der ganze Erdboden aus solchen, nur noch, leuchtenderen und reineren Farben. Sei doch ein Teil purpurfarbig und von wunderbarer Schönheit, ein anderer dem Golde gleich, wieder ein anderer weiß, reiner weiß als Gips und Schnee — aus diesen und anderen Farben sei er zusammengesetzt und aus noch mehreren und schöneren, als wir je gesehen haben. Denn auch diese Vertiefungen selbst, die mit Wasser und Luft gefüllt sind, gewähren dort den Anblick von Farbe, da sie in der Buntheit der anderen Farben schillern, so daß sie als eine einzige ununterbrochene Farbenerscheinung prangen. Und ganz in Entsprechung eines so beschaffenen Landes wachsen dort die Gewächse, Bäume und Blumen und Früchte, aber auch Gebirge und Felsen seien im entsprechenden Verhältnis dort oben schöner an Glätte und Klarheit und Farbe. Sind doch von diesen unsere so begehrten Edelsteine nur Splitter, diese Karneole und Jaspide und Smaragde und die andern. Dort aber gibt es nichts als so Geartetes und noch Schöneres." Der angeblich weit- und sinnenfeindliche Piaton kann sich nicht ersättigen an der Beschreibung dieser wahren Welt, am Glänze ihres Goldes und Silbers und der Fülle ihres Lichtes, die zu betrachten ein Schauspiel für selige Beschauer sei! Tiere und Menschen hausen in jener Ätherlandschaft, und in ihren heiligen Hainen und Tempeln wohnen die Götter in Wirklichkeit. Um wieviel die Luft reiner ist als das Meer, um so viel ist der Äther reiner als die Luft, um so viel sind die Menschen droben edler und gesünder als die hier unten. Bedeutsam, daß jene Menschen droben nicht auf ihre Sinne verzichten. Gesicht, Gehör, Geruch sind bei ihnen schärfer, und sie sehen Sonne und Mond nicht durch das trübende Medium der Luft, sondern durch den Äther so, wie sie wirklich sind. Hier tritt uns das „Ideal" aus antikem Lebensgefühl gegenüber: keine transzendente Forderung, keine abstrakte Gegenwelt, denn es ist die wirkliche leibhafte Welt, nur gesteigert und geläutert in ihrem eigenen Sein, zu reinstem Licht, zu sattester Farbe. 180
Das mag nur Symbol sein: Der Hinweis, den Sokrates den Jüngern als letzten Segen gibt, muß der wichtigste in Piatons Werk sein, und nur aus ihm dürfen wir das Lebensgefühl des Werkes deuten. Aber die Weltschau endet nicht im Paradiese. Wenn die Seele den freien Willen zur Tat hat, dann muß das ewige Gewicht der Entscheidung durch Paradies und Hölle verwirklicht sein. Sokrates beschreibt den gigantischen Bau der Kugel, auf der es vielerlei Gruben neben unserer Mittelmeerwelt gibt. (Piaton überschätzt also stark die Erdgröße.) Eine dieser Gruben ist der Tartaros, der die ganze Kugel durchbohrt. Von ihm gehen gewaltige Ströme aus, die sich um die ganze Erde wälzen und wieder in ihn zurückkehren. Umgürtet wird die Kugel vom Okeanos, in umgekehrter Richtung zu diesem läuft auf der unteren Halbkugel der Acheron herum, der sich dann in den Acherusischen See einsenkt. Der Pyriphlegeton windet sich größtenteils durchs Erdinnere hindurch und durchfließt ein gewaltiges Meer von Schlamm, Feuer und siedendem Wasser. Ihm wieder entgegengesetzt windet sich der Kokytos durch wildeste, grausige Landschaft, in der er den See bildet, welcher der Styx heißt und nach dem die ganze Landschaft die Stygische genannt wird. Pyriphlegeton und Kokytos strömen am Strande des Acherusischen Sees auf beiden Seiten vorbei, ohne sich mit dessen Wasser zu vermischen, denn sie stürzen gesondert in den Tartaros. Dieser Strand des Acherusischen Sees ist Vorbild des Fegefeuers. Die Seelen derer, die zwischen Gut und Böse lebten, fahren im Kahn über den Acheron, um am See Lohn und Strafe zu empfangen. Die Verbrecher dagegen werden in den Tartaros gestürzt, wo die Unheilbaren in Ewigkeit bleiben. Die Heilbaren aber werden nach einem Jahr durch die Brandung nach dem Acherusischen See zurückgeschleudert in einen der Höllenströme. Von da rufen sie die Seelen, an denen sie einstmals das Verbrechen begangen haben, und flehen sie um Gnade an. Wenn diese es gestatten, so steigen sie, ihres Übels erledigt, an den Strand, wo nicht, so werden sie in den Tartaros zurückgeschwemmt, und diese Qual wiederholt sich, bis sie von ihren Opfern erhört werden. Wer ein frommes Leben führte, braucht die unterirdische Wanderung nicht anzutreten, sondern steigt auf zum irdischen Paradiese. Von noch höheren Orten, dem Empyreum entsprechend, will Piaton hier nicht reden. Denn sogleich macht der Philosoph den nötigen Vorbehalt und wendet zum Schluß die Weltschau von Hölle und Paradies auf die Mahnung zum Wirken im Diesseits. Dieser Weltmythos ist ein Denkmal der unbegreiflichen Größe Piatons und bleibt dem undeutbar, der die Allegorie einer besonderen Lehrmeinung in ihm sucht. Heraklitisch bändigt er die Gegensätze aller Seelenkräfte: Leidenschaft des reinen Geistes und Entzücken an leibhafter Schönheit, glühende Schau und Wendung zum tätigen Leben, Wissenschaft und Dichtung. Weil das katholische Weltbild in ihm auf181
keimt, wird dieser Mythos als Weltflucht mißdeutet, aber er ist das hohe Symbol eines Lebens, in dem all unser geistiges Leben wurzelt: er umfaßt Homer und Dante und stellt die Einheit von Antike und Christentum dar. Weltflüchtig kann das Denken selber sein: im Verzicht auf Anschauung in der Abstraktion. Piatons Mythos erinnert, daß alle wahre Erkenntnis im Urphänomen wurzelt, sei es in räumlicher Anschauung, sei es im gefühlsmäßigen Erleben von Schön und Gut. — Dann glaubt man hier einen weltflüchtigen Verzicht auf Naturerkenntnis, eine Wendung zum reinen Denken zu finden. Aber diese Trennung hat Piaton nie anerkannt, denn Idee ist schaffende Kraft und darum echteste „ N a t u r". Die damalige Naturbetrachtung lehnt er nur deshalb ab, weil sie zum schöpferischen Urgründe und zum Sinn der Welt nicht dringt. Wie sehr er aber im „Phaidon" die Erkenntnis des Naturganzen sucht, hat man seltsamerweise übersehen. Sokrates hat vorher den Naturphilosophen vorgeworfen, daß sie die Welt aus mechanischen Ursachen deuten wollen. So nehme Anaxagoras an, daß die Erde eine flache Scheibe sei und von einer großen Luftmasse getragen werde, die nicht nach oben entweichen kann, weil die Erdscheibe zu breit sei. Er selbst verlangt dagegen die Erklärung aus dem Sinn: man müsse zeigen, daß die Erde so, wie sie sei, am besten sei. Auf die ursächliche Erklärung schien er zu verzichten. Überraschenderweise führt aber Piaton zuletzt im Mythos die Welterklärung da, wo jene versagten, zu Ende: der „Phaidon" ist der geschichtliche Ort, an dem die Kugelgestalt der Erde verkündet wird! Vielleicht nannte Parmenides die Erde kugelförmig, aber wirklich durchgeführt dürfte diese Lehre erst von den Pythagoreern um Archytas sein, und Piaton, ergriffen von der Großartigkeit des neuen Bildes, verkündet es hier — wenn auch nicht als sichere Tatsache — im Testament des Sokrates! Die Erde schwebt als Kugel in der Mitte der Welt. Darum bedarf sie keiner Stütze, denn die Anziehung nach allen Richtungen der Himmelskugel gleicht sich aus. Im Weltraum gibt es kein Oben und Unten, und die Schwere ist nach dem Mittelpunkt der Erde gerichtet. Piatons Weltbild steht selbst nach modernem Begriff hoch über dem des Anaxagoras. Zweckmäßig ist diese Ordnung, da sonst die ungeheure Erdmasse vom Fixsternhimmel angezogen und den Weltbau zerstören würde. Zweckmäßigkeit in Piatons Sinne zielt immer auf den Wert des Gesamts und ist untrennbar von der höchsten Schönheit. Platonische Naturphilosophie heißt Erkenntnis und Schau der Vollkommenheit. (Leibniz' Theodicee gegen Newtons göttlichen Uhrmacher.) Dennoch stellt er zugleich die grausige Häßlichkeit des Eingeweides der Erde dar, weil er die Gegenwelt braudit, in die er die Gegenkräfte zum „Gut und Schön" verbannt. Aber selbst diese phantastische Beschreibung ist ein Versuch, der Naturerklärung. Alle Vertiefungen der Erde hängen unterirdisch mit dem Tartaros zusammen: die ungeheure schau182
kelnde Bewegung ist Ebbe und Flut der Meere. Quellen, Überschwemmungen, Winde, Erdbeben, selbst das meteorologische System soll durch diese Theorie erklärt werden, und einen der Arme des furchtbaren Pyriphlegeton hat Piaton in Sizilien selbst gesehen: es sind die Lavaströme des Ätna. Weltflucht im eigentlichen Sinne wäre die Jenseitsliebe, die Bemängelung des Diesseitslebens, die Askese. Welch Glück Sokrates auch die Näherung an die ewigen Gefilde bedeutet, so dient der Mythos doch mehr der schöpferischen Gestaltung der leiblichen Welt. Piaton spricht wenig vom Fegefeuer, da dieses die leibliche Welt mit ihrer Mischung des Guten und Schlechten nur spiegelt. Sein Blick senkt sich liebend ins Paradies — denn es ist nichts anderes als das Gute der leiblichen Welt geläutert und gesteigert zum Vorbilde, nach dem diese Welt sich formen soll. Damit dies geschehe, müssen die Feinde durch ewige Strafen bedroht werden. Auch Piaton darf über sein Höllentor die Aufschrift setzen: „Aus Recht gab mir der Sdiöpfer meine Stelle Die göttliche Gewalt hat mich geweitet Die erste Liebe und die höchste Helle." Das seltsame Zwischenreich des Acherusischen Sees — hausen die Seelen im Wasser, Sumpf oder am Strande? — mag an die Notwende einer freien Willensentscheidung mahnen: der menschliche Wille muß entscheiden, ob in der zwiespältigen irdischen Landschaft das Bild der paradiesischen Schönheit siegen soll oder die grausige Öde der stygischen Wildnis! Diesen lebenformenden Sinn des Mythos bestätigt der Schluß der Rede. Niemand könne wissen, ob sich alles wirklich so verhalte, aber etwas Ähnliches müsse man wohl annehmen, wenn doch die Seele unsterblich sei. Solchen Mythos zu glauben sei ein schönes Wagnis, dann werde man den rechten Weg finden, der Arete und der Weisheit leben, die körperlichen Lüste geringschätzen und die Seele mit dem eigensten Schmuck: Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Großherzigkeit, Wahrhaftigkeit zieren. Die Freiheit des Willens, schon im „Kriton" erwiesen, bewährt aber Sokrates selbst im Vollzuge des Urteils: als das Gespräch seinen Sinn erfüllt hat, als Sokrates Abschied genommen, notwendige Anordnungen getroffen und selbst gebadet hat, um den Frauen diese Arbeit zu sparen, gibt er den Auftrag, ihm das Gift zu bringen. Kriton will ihn zurückhalten: noch sei die Sonne nicht ganz untergegangen und stehe noch oben am Berge. Andere Verurteilte hätten noch über die angesetzte Frist die Lebensfreuden genossen. Jene taten recht, erwidert Sokrates, denn sie glaubten, dabei zu gewinnen. Er habe recht, wenn er nicht so tue. „Denn ich glaube nichts zu gewinnen, wenn ich den Trank ein wenig später nehme, und würde mir lächerlich scheinen, wenn 183
ich so fest am Leben hinge und sparen wollte, wo nichts mehr ist. Also folge mir und tue nicht anders." Die wunderbare Schönheit des Abschiedes bedarf keiner Deutung, denn wie die schlichteste Gebärde hier vom Ewigkeitsschimmer erglüht, ist er zu einem in der menschlichen Geschichte ewig wirkenden Bilde geworden. Die Dichtung bewahrt den Zauber der einzigen Stunde: wie die Rede der Apologie im großen Raum wiederklingt, so will dies letzte Gespräch im Jüngerkreise immer nur in engerer Freundesgemeinschaft in seinem natürlichen Tone klingen. Was aber bedeutet das Opfer des Hahnes? Nietzsche will in ihm das Geständnis sehen, daß Sokrates am Leben litt wie an einer Krankheit. Der „Phaidon" selbst widerlegt solche Deutung. Der Hahn ist das Lösegeld für Asklepios, wenn einer im heldischen Tod, ohne Krankheit, aus dem Leben schied. Liegt das Geheimnis der Schönheit nicht darin, daß man an Sokrates unter aller Sieghaftigkeit und Heiterkeit, im schönen Platonischen Maß doch ein wenig den Schmerz des Abschiednehmens spürt? Schon am Schluß jenes Mythos verrät er, daß er ihn singt als Zaubergesang, als Tröstung auf seinem Wege ins Ungewisse. ( 1 1 4 D . ) Und als nun, da er den Becher gelehrt — gern hätte er daraus den Göttern einen „festlich hohen Gruß" gespendet — die Freunde ihre Tränen nicht länger zurückhalten und einer von ihnen ungestüm jammert, da tadelt sie Sokrates: „Was tut ihr, ihr Wunderlichen! Aus diesem Grunde besonders habe ich die Weiber fortgehen lassen, damit sie sich nicht in dieser Art vergingen. Habe ich doch gehört, daß man in Andacht sterben muß. Also seid stille und haltet an euch." Den Schmerz sollen sie dämpfen, nicht den Tod wirklich als Glück empfinden: Sokrates ist der ruhigste, weil er den Schmerz am stärksten beherrscht: der große Menschenbildner formt zuletzt sein eigenes Bild zum schönsten Sterben. Es ist der sieghafteste Tod, den wir kennen, denn Christus siegt nicht im Sterben, sondern in der Auferstehung. Sein Sterben ist namenlose Qual, sein Tod ist das Verbrechen der Welt, ein Weltdrama, bei dem die Erde birst und die Sonne finster wird — das Scheiden des Sokrates ist sanft wie die letzten Strahlen der Sonne, die noch am Berge stehen. Nicht der Auferstehungsglaube überwindet hier den Tod, sondern die Gelassenheit des Mannes, der in seinem geistigen Sein schon auf der Ebene der Ewigkeit steht. Während durch die Kreuzigung des Jünglings Jesus eine unversönliche Kluft zwischen Himmel und Erde aufbricht, gleitet Sokrates, der Greis, ohne Riß aus dem irdischen Paradies ins himmlische. Jesu Tod ist der Aufbruch einer neuen Urzeit, Sokrates' Tod, ein neues Weltalter andeutend, bleibt doch als Bild der reifen Kultur, die er abschließt. Beide Mythen mußten sich einen, um den christlichen Raum zu schaffen. 184
Im „Gorgias"-Zorn über die würgenden Gegenkräfte hatte Piaton das Bild einer neuen Religion, einer Jenseits-Verge-ltung ausgestrahlt — nun strahlte aus der Liebe zu Sokrates und der Bewunderung seines Sterbens das höhere Bild, die Läuterung des Weisen, die Seligkeit des Schauens, das paradiesische Licht: er schafft im „Phaidon" den neuen Weltraum, in dem die Seele atmen und selig werden kann, aber nicht die Seele an sich, in mystischer All-Einsamkeit, sondern die Schar persönlicher Seelen in kosmischer Rangordnung. Auch Dante schuf, vom politischen Schicksal in seiner politischen Leidenschaft gehemmt, den ungeheuren Weltraum, in dem ewig die höchstpersönlichen Seelen tun und leiden. Aber Piaton war nicht aus Athen verbannt: wie konnte er sich in Welträume verlieren, in denen ihm die Erde wie ein bunter Lederball erschien? . . . Der Daimon trieb ihn, und es bleibe unentschieden, wie weit das Bewußtsein seinen Weg erhellte. Sokrates hatte noch hoffen können, durch Denken die rettende Norm zu finden, Piaton erkennt im Fortgange der Zeit, daß er aus tieferem Grunde schöpfen, daß er außerhalb der Erde den Archimedischen Ort finden muß, von dem er sie in Bewegung setzt. Hier einmal darf er ganz von seiner staatlichen Sendung schweigen, um in kosmischer Selbsteinkehr den Boden zu schaffen, der sein staatliches Werk tragen kann. Andre Sokrates-Jünger entsagen der Tat und suchen die Ruhe, Piaton allein rettet in die Philosophie das Feuer der großen Täter: aus dieser Gesinnung reift in ihm seit vielen Jahren die Politeia. Niemals aber scheint er diesem Werke ferner als im „Phaidon" — erst das Symposion zeigt an, wie aus der glühendsten Schau der strengste Tatwille entsteht.
XIV. D A S
GASTMAHL
Der zeugende Geist „Phaidon" und „Gastmahl" vereint bilden den Gipfel Piatons. Beide Gespräche fordern und ergänzen sich gegenseitig, und eine Deutung Piatons aus einem der beiden allein bleibt notwendig teilhaft. Im läuternden Feuer des „Phaidon" scheint Piaton seine irdische Sendung aus dem Auge zu verlieren, und man kann sich schwer vorstellen, wie er von hier den Weg zum politischen Handeln zurückfinden soll. Vollendet ist der Piaton des asketisch-christlichen Weltgeistes, aber erst das Gastmahl bringt den Mann, unter dessen Zeichen sich in der Renaissance das Menschtum verjüngte. Goethe, der auch im Weltgeschehen den Rhythmus seines menschlichen Herzens spürte, sprach von „Diastole und Systole". Eine gewaltige Diastole ist der „Phaidon", in dem Piatons 185
Seele sich zu einer Welt weitet. Die Systole ist das „Gastmahl", das die neuen Kräfte der Seele wieder zusammenfaßt und tätig auf den einen Punkt des „Hier und Jetzt" richtet. Die Weltkraft aber, die aus kosmischen Weiten sich einengt zur Werbung um die menschliche Einzelgestalt, ist der Eros — Eros führt Piaton von der Weltschau zurück zum Menschen und um des Menschen willen zur Gründung des Staates. Jene Dichtung vom todbesiegenden Heros barg die Gefahr des Mißverständnisses, daß Piaton die Weltflucht lehre. Ein heiliger Asket konnte die Nation nicht zur Wehr gegen die Barbarenmächte erneuen, darum mußte auf den Hymnos der heroischen Totenfeier der Hymnos folgen, der Sokrates in seiner unverwüstlichen Lebenskraft und Erdenfreudigkeit darstellte: Unberührt von der Todesgefahr in der Schlacht, gleichgültig gegen Frost, leicht bekleidet und barfuß durch den Schnee wandernd, oder von einem Gedanken gefesselt, den Tag über durch die Nacht bis wieder zum Morgen auf einem Fleck stehend, unablässig vom Eros zu den Jünglingen getrieben, gefeit gegen jede sinnliche Verführung und doch, wo er einmal in das Fest einer weiteren Runde sich einläßt, selbst darin noch der stärkste, der als letzter Zecher wach bleibt, als einer nach dem andern in Schlummer sinkt. An diese blühende Lebenskraft und -lust muß man denken, um zu wissen, daß an diesem Manne die asketische Haltung nie Zeichen der Schwäche sein kann. Wie das „Symposion" die Brücke zum Staat schlägt, so ist der „Phaidon" rückwärts mit dem „Menon" innig verklammert und darum die Reihenfolge Menon . . . Phaidon, Symposion, Staat kaum zweifelhaft. Die Entstehungszeit des Symposion dürfte um 379 anzunehmen sein: Piaton nähert sich dem 50. Lebensjahre. Das Jahr, in dem das Gastmahl wirklich stattfand oder doch von Piaton gedacht wird, ist 416. Noch ist Alkibiades in Athen, der Liebling des Volkes, übermütig im Glanz der Macht — es ist kurz vor dem unheilvollen Kriegszuge gegen Syrakus. Diesmal ist das historische Jahr wichtig, denn Piaton wendet alle Kunstmittel auf, jene Feier gegen die kritische Zweifelsucht aller Zeiten als vorbildliches Geschehen zu sichern. Aristodemos hat selbst an diesem berühmten Gastmahl teilgenommen und andern ausführlich davon berichtet. Unter ihnen ist Phönix, der die Erzählung nur unklar aufgefaßt und einigen reichen Handelsmännern davon erzählt hat. Sie wollen nun von Apollodoros, den sie als fanatischen Anhänger des Sokrates kennen, Genaueres hören, und dieser ist auf die Erzählung gut vorbereitet, weil er kürzlich schon andern davon berichten mußte. Zwischen dem Gastmahl und diesem fingierten Vorgange des Erzählens liegen mehr als acht Jahre. So nehmen wir wahr, wie jenes Ereignis jahrelang immer weitere Kreise zieht und Sokrates schon lange vor dem Tode zur Legende wird. Diese künstlich vermittelte Wiedergabe rückt also nicht den Gegenstand selbst in dämmerige Vergangenheit, sondern zeigt ihn um so gegenständlicher in der gegenwärtig sich ausbreitenden 186
Wirkung, als der jugendliche Apollodor, dem Rande der Jüngerschaft angehörend, mit fanatischem Eifer selbst die unsokratischen Erwerbsleute zu bekehren versucht. Auch die Zuverlässigkeit des Berichtes ist durch die Vermittlung nicht beeinträchtigt, denn Apollodor hat sich von Sokrates selbst, mit dem er täglich zusammen ist, den Bericht in allen Einzelheiten bestätigen lassen. Das einmalige Ereignis, vom Dichter zur Legende geformt, wird ewig wirkende Wahrheit: das ist der höchste Sinn des Namens „Mythos" . . . Agathon, der Dichter, hat mit seiner Tragödie gesiegt, und er gibt zur Nachfeier dies Gastmahl. Die Gäste verzichten auf gemietete Flötenspielerinnen und auf zwangsmäßiges Zechen, um durch eigene Rede die Feier zu erhöhen. Von den Preisreden auf Eros werden uns sieben überliefert. I. Phaidros, sehr jung, empfänglich für Philosophie, wenn auch noch ohne selbständiges Urteil, begeistert für Eros, bescheiden gegenüber den Älteren, wacht eifrig darüber, daß die Gespräche nicht von der schönen Aufgabe abweichen, dem Gotte Eros das würdige Fest zu bereiten . . . Viele, die dem Werke als Kunstgebilde ein billiges Lob spenden, verkennen, ja mißhandeln seine künstlerische Wesensart. Unfähig, den Maßstab des Bildners statt dessen der Gelehrten anzulegen, fragen sie bei jeder Rede: was beweist sie begrifflich Neues — und wenn das Ergebnis gering scheint, erklären sie Rede und Redner für Karikaturen. Solche Kritiken gehen fehl. Nur aus dem organischen Zusammenhange des Gebildes kann jede Rede auf das befragt werden, was sie für Verstand, Phantasie, Gehör, Stimmung bedeutet, denn nirgends wird im Gastmahl die Einheit der Dichtung durchbrochen. In dieser Runde wird Eros nicht nur gepriesen, sondern er selber befeuert, lockt und neckt, straft und lohnt die Gäste. Es ist eine vollkommene Feier, in der wohl Spannung und Widerspruch, aber nicht Neid und Feindschaft zu Worte kommen. Der Gipfel des Werkes, und damit des Platonischen Werkes überhaupt, ist die Sokrates-Diotima-Rede und Piatons Kunst bahnt in den fünf früheren Reden von allen Seiten den Weg zu diesem Gipfel. Er unterweist nicht systematisch, denn wie der Künstler die Instrumente spielt, bringt er die verwandten Seelen zum Tönen. Die Reden versteht nur, wer den Beitrag zur Feierfreude, keinen Ausweis der Gelehrsamkeit in ihnen sucht. Der Eros, den Piaton verherrlichen will, ist der Daimon der zeugenden Weltkraft, der staatlichen Gründung, der Ruhmbegier. Der junge Phaidros schlägt mit bewundernswertem Gefühl die rechten Töne an, die Ethos und Weihe des Abends andeuten. Er spricht nicht vom weichlichen Knaben, dem Bilde des Genusses, das sich in der damaligen Kunst zu regen beginnt, er redet vom archaischen Gott, der weltschaffenden Urkraft mit den ehrwürdigen Worten von Hesiod und Parmenides. Es ist der kriegerische Eros Spartas, der den Helden Mut einbläst, der eine Schar, wie die Heilige der 187
Thebaner, zu solcher Ehrliebe begeistert, daß niemand angesichts des Geliebten etwas Geringes tun kann. Doch herrscht das schöne Maß in diesem wesenhaft-männlichen Eros: er ist nicht ans Geschlecht gebunden, denn Phaidros nennt als erstes Beispiel Alkestis, die, vom heroischen Eros beseelt, für den Gatten zum Hades schreitet, als Gegenbeispiel aber den weichlichen Mann, Orpheus, den Musiker, den die Götter strafen, weil ihm der Opfermut des wahren Eros mangelt. Nicht die Gattin selbst, nur deren Schatten geben sie ihm mit — ein leiser Vorklang der Diotimarede und der Ideenlehre. Alkestis bereitet das Eindringen Diotimens in den männlich-erotischen Kreis vor, und Orpheus verbildlicht den Gegensatz zu Sokrates, den musikalischen Agathon, der als Nichtphilosoph statt der wirklichen Idee den Schatten umarmt und darum unfruchtbar bleibt. (179 D, 212 A.) Dieser Liebeskampf zwischen Sokrates' zeugender Weisheit und Agathons unvollkommener ist die Achse des Werkes, worauf das Vorspiel deutet, in dem Sokrates in ironischer Umkehrung diesem die wahre Weisheit zuschrieb, sich selbst nur einen Traum davon. (175 E.) Das wahre Vorbild des heroischen Eros aber ist Achilles, der darum auf die Inseln der Seligen Entrückte, dessen Bild der Knabe selbständig zu deuten wagt. Achill ist der schönste Grieche, Patroklos ist der ältere: also sei Patroklos der Liebende. Hier opfere sich der Geliebte für den Liebenden, und das verdiene höchsten Ruhm, denn im Verliebten, nicht im Geliebten, lebe der Gott Eros. Das ist nicht Piatons Meinung, doch rührt Phaidros die beiden Rätsel des Eros an, welche erst Diotima und Alkibiades im Bilde beantworten. (178 A—180 C.) Man hat sich gewundert, daß Piaton keinerlei Interesse mehr an Griechenlands Politik, besonders auch nicht am Werke des Epaminondas bezeigt habe. Ist aber nicht diese Phaidros-Rede ein rühmender Zuruf an die Befreier Thebens? Dieser Bewegung des Epaminondas fehlt nicht die Ähnlichkeit mit der Platonischen, sie stammt aus den gleichen Wurzeln: dem Pythagoreischen Staatsgeist und der Sokratischen Ethik. Die Spartanische Vergewaltigung Thebens war die natürliche Folgerung aus dem von Piaton gebrandmarkten Antalkidas-Frieden. Auf diese nachLysandrische Politik erstreckt sich Piatons Verehrung für Dorisches Leben nicht mehr. Die Rede des Phaidros ist wohl zu deuten als die begeisterte Zustimmung zur heiligen Schar, die Epamindonas 379 gründete. Wenn dann Pausanias die Tat des Harmodios und Aristogeiton preist, so mußte jeder Grieche an die Befreiungstat des Pelopidas denken, in deren Jahre vielleicht das Symposion gedichtet wurde. Damals empfand Athen die stärkste Freundschaft für Theben. (Erst als Theben Spartas eigene Macht bedrohte, trat Athen auf dessen Seite — so wird auch Piaton empfunden haben.) Auch wenn Aristophanes den gewalttätigen Dioikismos der Arkader (385) erwähnt, ist es möglich, daß Piaton damit im gleichen Sinne eine Warnung an die Spartanische Tyrannei 188
andeutet. Dazu passen gut die verschiedenen Nachrichten, daß Piaton bei der Gründung von Megalopolis (369) zur Gesetzgebung aufgefordert sei und seinen Schüler Aristonymos dorthin gesandt habe. II. Pausanias, der ältere und ernste Athener, folgt nicht dem von Urmythos und Spartas Männlichkeit begeisterten Jüngling. Nüchterner betrachtet er das Leben der Gegenwart und bleibt an die bürgerliche Ordnung Athens gebunden, während er Eros als moralisches Problem erwägt. Seine Rede enthält viel Platonisches, ohne zum Gipfel zu führen. Gegen Phaidros wendet er ein, man dürfe Eros nicht schlechthin preisen, denn es gebe zwei Eroten, den Sohn der Aphrodite Urania und den der Aphrodite Pandemos. (Wir könnten dafür etwa die Unterscheidung in Eros und Sexus setzen.) Nun kennt Pausanias aber den höheren Eros nur zwischen Männern, während der wahllose, also die Geschlechtslust, alle Formen annehmen kann. (Nicht dies Empfinden ist es, was Xenophon in seinem Symposion angreift, denn es ist die Grundlage der hellenischen Kultur. Auch Xenophon verehrt die erotische Liebe zu Jünglingen als die Geistig-Höhere, die vom Sexus rein bleiben soll, vom Manne aber verlangt er die Sexualität als bürgerliche Pflicht der Familiengründung und Fortpflanzung. Pausanias redet von Männerfreundschaft, geistigem Eros, nicht von Familiengründung.) Spartas kriegerische Kultur ruhte auf den erotischen Freundschaftsbünden, und diese wieder blieben streng und gesetzmäßig eingeordnet in die staatliche Lebensform. Wo aber diese Bünde, wie in Athen, nicht eingeordnet blieben in den Sinn des Staates, da waren sie in Gefahr, zum persönlichen Hedonismus zu entarten. Über diese Gefahr sinnt Pausanias nach, und er verbannt aus dem erotischen Bereich alles verantwortungslose Spiel, er verbietet die Liebe zu unbärtigen Knaben und stellt an den Bund Forderungen, durch die er einer für das ganze Leben geschlossenen Ehe vergleichbar wird. Aber die sexuelle Lust schließt er nicht (wie Xenophon und Piaton es tun) aus. Die Liebenden müssen sich genau kennen, um sich später sicher die Treue zu halten. Es scheint ein Widerspruch in der Moral, daß man den kühnen Werber ebenso lobt wie den Geliebten, der sich spröde versagt. Aber gerade durch diese Forderung, durch diesen Agon wird die Liebe erst edel, denn sie gibt dem Liebenden wie dem Geliebten die Gelegenheit, sich zu bewähren. Pausanias ist ganz Bürger seines Athen. Darum ist sein hohes Erosbild jenes Paar, dem Athen der Legende nach die Freiheit verdankt: Harmodios und Aristogeiton. Stolz bekennt er, daß die Besten der Griechenstämme, Lakedaimon und Attika, diesem Eros als dem Genius der nationalen Freiheit huldigen, während er bei anderen Griechenstämmen als dumpfe Hingabe, ohne jene Bewährung im Kampfe erscheint und bei Ioniern und Barbaren ganz verworfen wird. Seine Be189
gründung ist für die hellenische Ethik bezeichnend: er betrachtet diesen heroischen Eros als der Philosophie und der Gymnastik zugehörig, und er vermutet, daß die barbarischen Despotien diesen Eros verfemen, weil solche Freundschaftsbünde ihre Herrschaft bedrohen. Pausanias verspricht durch solche Rede dem schönen Agathon ewige Treue und versucht, ihn für immer an sich zu fesseln, aber er ordnet seine Liebe auch der hellenischen Ethik ein. In Piatons Sinne verwirft er die Männerfreundschaft, die mehr am Körper als an der Seele des Freundes hängt und damit zur Sexualität entartet . . . wie Piaton preist er den Eros, der zur großen Tat befeuert und läßt nur den Liebesbund um der Arete willen gelten . . . und hier begann nun für den griechischen Hörer die Spannung des Werkes: ist die Lösung des Pausanias, die Trennung des leiblichen und seelischen Eros, der lebenslängliche Freundschaftsbund auf Grund geistiger Verwandtschaft die richtige und von Piaton gewollte Lösung? . . . (180 C—185 C.) III. Wie im Rhythmus des Dramas wechseln Spannung und Ruhe. Eryximachos, der Arzt, führt aus dem begrenzten, aber ganz gegenwärtigen und alle erregenden Problem in die allgemeinste naturphilosophische Betrachtung. Pausanias ist ganz Athener, Eryximachos vertritt die Wissenschaft, in der sich Heraklits ionische Philosophie und sizilische Medizin vereinen. Eros ist die Weltkraft überhaupt, die Sterne und Wetter regiert und auch im Menschenleibe die Säfte mischt. Dankbar nimmt er die Scheidung in edlen und unedlen Eros auf: Der edle Eros ist Harmonie, schafft Ordnung im All, Gesundheit im Menschen— der unedle ist ausschweifend, bringt Unwetter und Seuchen in die Welt und macht den Menschen krank und gottlos. Die Preisrede steigt dahin, daß der edle Eros Freundschaften stiftet selbst zwischen Mensch und Gott. (185 E bis 188 E.) Auch dieser kosmogonische Eros ist eine Stufe in Piatons Lehre, wie der Arzt denn manchen Platonischen Gedanken zu vertreten hat. Aus der Gefahr, in die der athenische Eros, wie Pausanias zeigt, geraten ist, kann ihm Piaton nicht anders helfen als durch die makrokosmische Weltschau. Aber von seiner vorsokratischen Philosophie her kann Eryximachos die Frage nicht lösen. Wenn Pausanias den edlen und unedlen Eros schied, dabei aber Körper und Seele auseinanderriß, so führt Eryximachos den Schnitt in dazu senkrechter Ebene, scheidet Ordnung und Unordnung, aber nicht das Höchst-Seelische vom NiedrigKörperlichen. Aristophanes trifft diese naturalistische Denkweise mit dem scharfen Pfeil seines Spottes. Er wundere sich, wie der edle, im Leibe waltende Eros ein solches Gegurgel und Geniese erfordere — wie es ihm Eryximachos zur Heilung seines Schluckens verordnet hatte. Pausanias wies auf das dringliche moralische Problem, Eryximachos auf das philosophische System — aber gegenüber der Einleitungsrede des Phaidros, die knospenhaft das Ganze enthält, bedeutet dies Redenpaar der beiden Problematiker wohl eine Bereicherung des Gedanken190
stoffes, eine Steigerung des Verstandes, aber sie sagen wenig von der Leidenschaft des echten Eros. IV. Aristophanes rügt diesen Mangel! Er will anders reden als die beiden, denn ihm, dem Dichter, scheint es, als ob die Menschen bisher noch niemals die Gewalt des Eros empfunden hätten. Wir ahnen, daß durch das nächste Redenpaar Leidenschaft und Gefühl des Eros Bild und Klang werden. Aristophanes deutet den Gott durch jenen ewigen Mythos von der Urform der Menschen, die ehemals das Doppelte waren der jetzigen Menschen: sie waren rund, hatten zwei Gesichter, vier Arme, vier Beine. Aber sie waren gewaltig und überheblich, so daß Zeus sie, um sie zu bändigen, in zwei Hälften zerschnitt, so wie sie heute leben. Da suchte sehnsüchtig jeder Mensch die zu ihm gehörige Hälfte, und wo sie sich fanden, umschlangen sie sich mit den Armen, in der Begierde zusammenzuwachsen, so daß sie vor Sehnsucht in Untätigkeit und Hunger umkamen . . . Diese Leidenschaft, die Ganzheit der Natur wieder herzustellen, ist Eros. Das gehört zum Geiste der alt-hellenischen Mannestucht des Aischylos und Pindar. Aristophanes preist die Männerliebe, in Athen Vorrecht des freien Mannes, ebenso wie Pausanias. Aber was bei diesem Sitte einer besonderen Zeit scheint, das verwurzelt Aristophanes in der Urgegebenheit des Weltalls. Jene Urformen der Menschen stammen, wie sie ja auch rund sind, von den Gestirnen ab. Es gab drei Geschlechter: das männliche, das von der Sonne abstammt, das weibliche von der Erde, das gemischte vom Monde. Die Hälften, die aus der Spaltung der Sonnenabkömmlinge hervorgehen, sind die männlichsten Männer und vom Eros zum Manne erfüllt. Die Ehe gehen sie nur ein, weil das Gesetz es verlangt, aber ihre eigentliche Aufgabe ist die Staatskunst — das deutet auf die Platonische Lösung und vermittelt zwischen Pausanias Männerfreundschaft und Piatons Leidenschaft. Aristophanes faßt im Bilde zusammen, was Pausanias und Eryximachos brachten: die heroische Steigerung des Eros und seine Weitung ins Kosmische. Aber erst jene Leidenschaft und Sehnsucht sind die Stufen des Sokratischen Aufstiegs. Der mit heiterster Sinnlichkeit gemalte Mythos reicht in Tiefen der menschlichen Seele, in denen Heiterkeit und hoher Ernst nicht mehr zu scheiden sind. Hier gelang, was nur großen Dichtern gelingt, daß durch das ganz gegenständliche, sinnliche Bild das Geheimnis, die ewige Idee hindurchschimmert. Vom Gefühl her führt nichts so nahe an die Platonische Idee als diese unstillbare Sehnsucht nach einem Außer-Uns und uns doch nahe Verwandtem! Wenn Hephaist vor das liebende Paar trete und sie frage, ob er sie zusammenschmieden solle, so daß sie selbst im Hades nur eine Person wären, dann sähen sie — weiß Aristophanes — ihr brennendstes Begehren erfüllt. Die gesteigerte Leidenschaft gilt ihm als Ausdruck einer hohen unbegreiflichen Weltkraft. „Denn es kann doch wohl nicht die 191
aphrodisische Gemeinschaft sein, deretwillen der eine dem andern sich mit solcher Freude und so großem Eifer vereint — nein, etwas anderes will offenbar die Seele der beiden, was sie nicht aussprechen kann, aber in Zeichen verkündet sie ihr Wollen und in Rätseln." Das sind Winke, die der höchsten Dichtung nahe sind wie der Weisheit. Piaton hat sich auch im dichterischen Agon hoch bewährt, da er einen Aristophanes mit solcher Dichtung beschenken konnte. Die notwendige Scheidung der edlen und unedlen Liebe, die Pausanias moralisch, Eryximachos kosmisch versucht hat, ist in Frage gestellt. Ist es dem Menschen gestattet, den Gott Eros in zwei göttliche Eroten zu zerschneiden oder Leib und Seele zu trennen, um einen zu preisen, den anderen zu verdammen? Alles ist wieder verirrt. Aristophanes ist vor der Natur der Frommere. A und 0 seiner Rede ist, daß man eine Religion, eine Kirche des Eros begründen, ihm Heiligtümer und Altäre bauen, ihm Opfer darbringen müsse, da er der Heiland der Menschen sei. Er will es lehren, die Hörer sollen die Lehre ausbreiten. Dieser Gedanke der Religionsgründung bereitet die Diotimarede vor — aber da vorher vor dem unedlen Eros gewarnt wurde, steigert sich die Spannung, ob Sokrates diese Religion anerkennen wird. V. Agathon, der junge, schöne, verwöhnte Dichter, der Sieger und Gastgeber, lockert noch einmal die Spannung. Es schweigt die Beunruhigung durch die beiden Denker, es schweigt der Wille des Aristophanes — doch sinkt die Höhe des Gespräches nicht wieder, denn beide Dichter halten es auf der hohen Stufe des Erlebens. Agathon führt durch den Ton der Weihe zum Gipfel der Diotimarede: er beginnt mit hymnisch gehobenem Ton, um im vollen Hymnos zu enden. Er findet in Eros alle Schönheit, alle Arete, alles Glück. Aristophanes fordert den Gottesdienst, Agathon vollzieht den Gottesdienst im Gesang des Hymnos. Dennoch sind beide auf ihrer Ebene polare Gegensätze. Aristophanes' Eros ist der männliche, strenge — Agathons Eros der jugendlich zarte, der beseligende. Aristophanes fühlt staatlich, tathaft und bildet als Plastiker, Agathon berauscht sich am schönen Klange der Rede, und das „Musische" beginnt sich nun dem „Musikalischen" zuzuwenden. Aristophanes stellt das klassische Ethos des frühen V. Jahrhunderts dar, Agathon ist der Vorläufer des weicheren IV. Er endet mit dem Ruf an alle Männer, in den Hymnos des Eros einzustimmen und ihm zu' folgen. „Aristodem erzählte" (durch diese Unterbrechung der schlichten Erzählung wird der Satz betont) „als Agathon gesprochen hatte, hätten ihm alle Gäste zugejubelt, wie würdig seiner selbst und des Gottes der Jüngling geredet habe." (Gegenüber dem Einklang einer solchen Runde klingt der Krittler-Chor des XIX. Jahrhunderts etwas dürftig.) 192
In der Tat: In der Stimmung ist die Spannung gelöst, die Aufgabe erfüllt, die Erosfeier aufs Schönste abgeschlossen. Niemand zweifelte, daß Sokrates das Denken in ganz andere philosophische Tiefen führen könne: aber zur Feier, nicht zur Forschung sind die Gäste an diesem Abend vereint. Daß Agathon mit dem Hymnos schließt ohne neue Fragen anzuregen, ist künstlerische Einsicht. Symbolisch sind diese fünf Reden die abschließende Abendfeier des älteren Hellenentums, in der man die Fragen übertönt, die das Zeitalter mit seinen alternden Kräften nicht lösen kann. An einen Sokrates ist keine Frage gerichtet, und er muß bekennen, daß er zu dieser in sich geschlossenen Form des Festes nichts hinzutun kann. VI. Aber unter dieser fertigen Form spürt Sokrates verschwiegene und unerschöpfliche Kräfte der Seele. Muß man sie unterdrücken, um die schöne Lebensform nicht zu gefährden, oder ist notwendig, sie heraufzuführen und die alte Form zu zerbrechen? Das ist die Frage der Weltstunde. Piaton weiß, daß nur aus seiner Lehre der Aufstieg möglich ist in ein höchstes Glück, eine schönste Lebensform, wie sie das gegenwärtige Hellas unversehrt und ganz echt nicht mehr gewährt: das ist das Ziel der Diotima-Lehre. Sokrates tritt den fünf Reden, die das Lebendige der bestehenden Kultur andeuten, als Träger des künftigen Lebens gegenüber. Uralter Mythos, frühe Philosophie, modernes Wissen, kriegerische Tüchtigkeit, Eros Pindars und der großen Lyriker, staatliche Freiheit: alles klang zusammen und wurde zuletzt übertönt von einer neuen Tonkunst, die Bild und Gedanken überrauscht und das Jahrhundert beendet. Als der dem Neuen, erst Entstehenden Zugewandte trägt Agathon etwas auch vom Platonischen Geiste: das Seelenhafte, Ruhende, Hymnische — aber in diesem Anklang wird auch der Gegensatz des großen Erneuerers deutlich, denn die Phaidonische Ruhe und Sicherheit der Seele ist für Piaton nur die Ruhe, die Diastole, in der sich gewaltige Schöpferkraft reinigt und sammelt — bei Agathon ist sie „Herbstgesang" und Glückverlangen des Endes. Dieser Gegensatz von Abend und Morgen ist Achse des Symposion, wie dieses die Achse in Piatons Gesamtwerk. Die im „Phaidon" gespannte Frage: Ist Piaton in dem Sinne Vorläufer des Christentums, daß er Zerstörer und Beender des echten Hellentums sein muß? wird hier beantwortet. In den fünf Reden faßt er Gestalten und Kräfte des Griechentums seit Homer als Vollender zusammen, nicht als rückgewandter Erhalter, sondern als Schöpfer, der das Echte und Widerstrebende zu neuem Gusse schmilzt, denn nur als sich Wandelndes kann das Hellenentum in der Zeit seiner Gefahr seine Höhe bewahren. Agathon, dem Vollender der Feier, muß er zuerst wehe tun, wenn er die neue Idee pflanzen will. Das Neue muß gegen das Neue kämpfen, denn das Alte stirbt von selbst ab. Sokrates stellt den Wegweiser auf: Dialektik oder Gorgianische Kunst der schönen Klänge? Aber in Wirk13 Hildebrandt, Piaton
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lichkeit baut die Dialektik nur die unteren Stufen, denn bald wird die Lebensmacht unmittelbar Wort. Mit einem kühnen und aufreizenden Angriff erschüttert Sokrates das ganze Ergebnis des Abends und stellt sich, zur ganzen Tafelrunde in Gegensatz. Er wagt die Behauptung (im „Phaidros" wird er sie widerrufen!): Eros ist überhaupt kein Gott! . . . Das mußte griechischen Ohren blasphemisch klingen. Agathons verführerischer Hymnos ist Ausdruck eines in sich befriedigten Gefühles, eines spannungslosen Genießens, das sich gegen die Not der Zeitwende abschließt. Aber gesättigter Eros ist nicht mehr Eros, nicht mehr Sehnsucht und Verlangen. Dieser Liebe fehlt Begier nach Ruhm und Wirken, fehlt Kraft, den Staat zu heilen — dieser Liebe fehlt Spannung. Sokrates aber ist in die Welt gesandt, die große Spannung zu erneuern. Das war anfangs sein Kampf gegen Sophisten, gegen Athen: alle glaubten, das gegenwärtige Leben sei im Marke gesund — Er zeigte den Verfall. Nun aber, da der Verfall allen Denkenden offenbar ist, suchen selbst viele Sokratiker in der Philosophie den Garten, in dem sie unberührt von den Kämpfen der Zeit den Geist genießen können. Nirgends aber lockt das Genießen so verführerisch wie in der Kunst. Dafür ist Agathon das Symbol. Piaton allein steigert noch die Sokratische Spannung, und er, der angebliche Weltflüchtige, tritt jenem weitabgewandten Genießen entgegen. Sokrates muß gegen die Anmut des Agathonischen Eros die Not, den Hunger, das Ewig-Unbefriedigte, ja Häßliche im Blute des Eros zeigen. Gegen das in der Tafelrunde gegenwärtige Athen muß ein unbeschreiblicher Akkord aus mythischer Ferne und vertrauter Nähe laut werden, das unenträtselte Geheimnis von Piatons eigenem Wach-Werden: die Fremde aus Mantinea, die Priesterin Diotima, die den Jüngling Sokrates in die Weisheit des Eros einweiht. Ein Bild, das als Bild gewirkt hat, wenn auch der Sinn nie auszuschöpfen ist. Durch die Legende der Geburt des Eros weist Diotima auf die nie endende Spannung in seinem Wesen. Penia, die Armut, hat ihn an Aphroditens Geburtsfest empfangen von dem im Rausche schlafenden Poros, dem Erfinder-Geist. (In der Übertragung sage ich „Reichtum", um den Ton der Legende zu erhalten.) Eros ist nicht Sohn der Göttin, sondern gleichaltrig. Als Sohn dieser beiden Gegensatznaturen ist Eros immer bedürftig, nicht zart und schön, wie Agathon glaubt, sondern hart, rauh, listig. Barfuß und heimatlos lagert er auf den Straßen. Aber vom Vater hat er geerbt, tapfer, verwegen, eifrig dem Schönen und Guten nachzustellen, ein gewaltiger Jäger und Fallensteller, erfinderisch und nach Weisheit gierig, sein lebenlang philosophierend, bald aufblühend, bald hinsterbend. Was er erwirbt, zerfließt ihm wieder, so daß er schwankt zwischen Weisheit und Torheit, zwischen Arm und Reich. So „realistisch" malt Piaton, der „Idealist", den Eros, um Agathons idealisiertes Bild zu verdrängen. Der „Phaidon" wies Par194
menideisch auf das unwandelbar Ewige, das Gastmahl zeigt höchst Heraklitisch in der Spannung das Grundgesetz der Werdewelt. So darf Sokrates beschreiben, denn der Nichtwisser hat sich als wissend im Erotischen bekannt: er selbst ist die Verkörperung des jagenden und gejagten Eros. Einen Augenblick schien es, als habe Sokrates die Erosfeier gesprengt — aber das kann der Erotiker Piaton nicht zulassen. Sokrates unterwirft sich selbst dem Eros, wenn er um die Gunst seines Gegners, des schönen und klugen Agathon wirbt. Wer das nicht sehen will, dem bleibt die Anmut dieser Dichtung verborgen. Piaton selbst hat Tragödien gedichtet wie Agathon, und für den Reiz der Gorgianischen Rede hatte er eine Vorliebe, wie denn der Schluß der SokratesRede an Agathons Hymnos anklingt, vom Phaidros-Mythos zu schweigen. So wirbt hier Sokrates um Agathon nach der Regel, die er selbst im „Lysis" gab: er zeigt ihm seine Schwäche und erweckt dann das „Verwandte". Gütig bekennt er: einst dachte er wie jener und sein höheres Wissen verdanke er als Geschenk nur Diotima. (201 E.) Pausanias und Aristophanes haben allein den rein männlichen Eros als edel und hoch dargestellt. Das ist die Spannung, die nur verdeckt, nicht gelöst war. Wie entscheidet Piaton diese hellenische Frage? Schon daß er Diotima, einer Frau, die Antwort in den Mund legt, zeigt an, daß er, das Weltganze überschauend, nicht einseitig entscheiden will, bedeutet aber auch den Anspruch, nicht als Sprecher der Männer, sondern der Menschheit zu entscheiden. Pausanias' Eros entspricht der gewöhnlichen Vorstellung der Platonischen Liebe: seelische und auch reinmännliche Liebe. Um dieser Ähnlichkeit willen muß Diotima, die Fremde, eingreifen, damit auf anderer Ebene der Platonische Eros sichtbar wird. Pausanias will mit seiner Lehre Agathon für immer an sich fesseln, sie ist im Ziel selbstsüchtig: das Freundespaar soll in der geistigen Liebe, im dauernden Bunde sein „privates" Glück finden. Das ist das Lebensziel. Auch Piatons Eros will das Glück, aber er sucht das Glück an anderem Orte als in selbstsüchtiger Befriedigung. Eros ist d i e schöpferische Weltkraft, und nur als schöpferischen Trieb gibt es echten Eros. Der Unterschied zwischen Pausanias und Piaton ist nicht leicht zu umschreiben, weil die Begriffe „leiblich, sinnlich, geistig" leere Schalen geworden sind, und diese Begrifflichkeit deutet sich leise schon an in der rationalen Moral des Pausanias. Sein Eros soll ausgehen von der Seele, aber dann mischt sich das körperliche Bedürfnis dieser moralischen Liebe bei. Der Weg geht von der Seele zum Körper. Der „Idealist" Piaton betrachtet den Eros ganz animalisch, und Diotimens Beschreibung des Zeugungstriebes, höchst real und höchst mythisch zugleich, ist bis heute der kaum übertroffene Wesensausdruck der Liebe. Nur größte Menschen sind fähig, auf höchster Stufe der Geistigkeit so völlig die „Vernunft des Leibes" zu bewahren, „dem Sinn der 13«
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Erde treu zu bleiben", wie Nietzsche fordert — und irrigerweise an Piaton vermißt. Wer den „Phaidon" als Weltflucht deutet, müßte zweifeln, daß „Phaidon" und „Gastmahl" vom gleichen Dichter, geschweige noch aus den gleichen Jahren stammen könnten. Und doch stehen beide unter dem gleichen Triebe der Verewigung. Der „Phaidon" begründet — in ihrer eignen Tiefe das Ewige, die Idee zeigend — den Reichtum der Seele. Das „Gastmahl" weist den Weg, wie auch die Sterblinge, im irdischen Leben, an der Ewigkeit teilhaben dürfen. Eros ist Ewigkeitstrieb und verwirklicht sie durch Zeugung. Diesmal schweigt Piaton von der Unsterblichkeit der Seele, ist er doch auf dem Wege zum „Staat", der ganz auf die i r d i s c h e Ewigkeit gegründet werden muß und durch eine Betonung des Jenseitsreiches gefährdet würde. Die Lehre von den ewigen Seelen bleibt kosmischer Boden des Menschenstaates, aber da sie, die ihm so sehr am Herzen lag, im „Menon" und „Phaidon" vollendet ist, ist im Gastmahl die Einschränkung auf das leibliche Leben notwendig, und Piaton kann sie um so leichter zurückstellen, wo anderes wichtiger ist. Nur ein knappster Hinweis schaltet die Verbindung mit „Phaidon" mehr aus, als daß er sie herstellt. Als in der Zeugung die irdische Unsterblichkeit erkannt ist, heißt es: „Durch diese Einrichtung hat Sterbliches an der Unsterblichkeit teil, der Leib und alles übrige . . . das Unsterbliche durch eine andere." (208 B.) Da der „Phaidon" den Materialismus für immer besiegt hat, darf Piaton im Gastmahl um so unbefangener die wahre Naturerkenntnis in sein Werk einbauen. Wie die Menschheit durch Sterben und Zeugung wechselnd sich erhält, so wechselt auch im Menschenleibe dauernd der Stoff, und doch bleibt für uns, auch wenn aller Stoff gewechselt hat, die Person als solche dieselbe. (Diese Analogie Piatons ist in der modernen Zellenlehre theoretisch durchgeführt.) Ebenso wechseln dauernd Gedanken und Gefühle, und nur das Gedächtnis stiftet zwischen ihnen die Einheit. Wie im Phaidon Parmenides' Gedanke in die Ideenlehre, so geht im Gastmahl Heraklits Intuition vom Werden, aber zum klaren Bilde der Natur ausgebildet, in die höchste Philosophie ein. Piaton erreicht an dieser Stelle auch die höchste biologische Erkenntnis selbst noch für unsere Gegenwart. Denn wo wäre die Einheit der Wachstumskraft im Einzelnen und in der Gattung, im Leibe und im Geiste, großartiger und klarer geschaut als in der Diotima-Rede? (206 B—209 E.) Seltsam, daß man über die so wichtigen Seiten hinweggleitet, da Piatons Gesamtschau undenkbar ist ohne diese reale Naturerkenntnis. Nicht nur, daß dies Wissen von der beseligten Schau des „Phaidon" überleitet zur strengen und gewollten „Zuchtwahl" des Staates, vielmehr büßt der ganze Erkenntnisbau seinen organischen Wuchs ein, wenn man die Diotima-Rede als „unplatonisch" ausschaltet. 196
Piaton geht den Weg, den Eryximachos tastend suchte: Eros ist Weltkraft. Aber der Arzt, obwohl nicht Materialist, drohte doch das Geistige ins Körperliche hinabzuziehen — darauf zielt Aristophanes' Spott. Pausanias hat den Unterschied des seelischen und leiblichen Eros zeigen wollen. Es ist das entscheidende Ergebnis des Gastmahls, daß Piaton diese Trennung verwirft. Wohl zeigt er im Vergänglichen das Ewige, die Idee, wo aber vom Wirken in der Menschenwelt die Rede ist, da lehnt er die Trennung von Leib und Seele ab. Das ist eine in der Geistesgeschichte bedeutungsschwere wenn auch meist übersehene Tatsache, und man darf sich nicht durch einzelne anderslautende Sätze irreführen lassen, wenn in Piatons Werk als Ganzem diese Lehre triumphiert. Als Weltkraft ist Eros ungeschieden leiblich und geistig. Diotima sagt von der leiblichen Zeugung: „Dieser Vorgang aber ist göttlich, und dies ist im sterblichen Wesen das Unsterbliche: die Befruchtung und die Geburt." Erst so, nachdem die Welt rund, Eros als zeugende Naturkraft gesichert ist, nimmt Sokrates wieder auf, was vorher zum Ruhme des rein männlichen Eros gesagt wurde. Denn wo die schöpferische Naturkraft sich reinigt und verdichtet zum schöpferischen Geist, der sich erhebt über die körperliche Fortpflanzung, da ist der Mann der Träger und der erotische Bund zwischen Männern die höhere Erfüllung. Dies Geistige aber wirkt bei dem Griechen in der Schaffung des Staates, wie denn die Hinleitung der schöpferischen Kraft in den Staat der Sinn des Gastmahls ist. Eros treibt den Philosophenkönig — ein Wort, das immer erinnert, Piatons Aufgabe sei die Vereinigung von Weisheit und Macht — den Jüngling zu suchen, in dem er den Erfüller der eigenen Aufgabe erwecke. Das ist die Zeugung der geistigen Söhne. In ihr ist körperliche Gier nur noch Verunreinigung, die Piaton, strenger als die andern, verwirft. Das ist kein Rückfall in die Spaltung von Leib und Seele, denn nur der durch Begrifflichkeit abgestumpfte Sinn verwechselt mit dieser Spaltung die betrachtende Sonderung von Geist und Körper. Der Leib ist schon Einheit von Seele und Körper. Wenn Charmides errötet, so ist zwischen leiblich und seelisch kein Unterschied, und alles, was wir von der Seele erfahren, ist leiblich geformt, geht durch Sinne, ist sinnlich. Darum sagt Aristophanes die tiefe Deutung, daß alles Körperliche Symbol einer geheimen höheren Wirklichkeit ist. Nichts ist verkehrter, als Piatons Eros in dem Sinne geistig zu nennen, daß er Gegensatz des leiblichen Eros sei. Sein Eros wirkt vom Leibe auf den schönen Leib, vom schönen Bild durch die Sinne, er zeugt in der Seele. Auch im „Staat" wird als schönste Verwirklichung des griechischen Lebens der schöne Jüngling bezeichnet, das Feuer, das den Philosophen entzündet — denn woher käme ein Streben ohne lebendiges Ziel? Nur Zeugung der Philosophenkönige, nicht bloße Übertragung des Wissens, kann Eros sein. Diotima spricht aus der Weis197
heit, daß alles Zeugen, ob körperlich oder geistig, der einen Urkraft entstammt. Wunderbar dient die griechische Sprache diesem Gedanken, da sie nicht oberflächlich-optisch, mehr sinnhaft als sinnlich redet. Das Wort für Zeugen und Gebären ist das gleiche, und trächtig sind Mann und Weib. Gerade das, wovor die Kritiker scheuen, nämlich daß von leiblicher Schönheit die Rede ist, offenbart die übersinnliche Urkraft, die dem, was modernen Ohren naturalistisch klingen könnte, die höchste Weihe verleiht. Denn alle Zeugung hat nur im Schönen statt, und vor dem Häßlichen verschließen sich ihre Quellen, so daß die Wehen der Trächtigkeit nicht gelöst werden . . . Piaton erkennt und erlebt die Urkraft und ihren Sinn und weiß darum, welche Form sie in dieser Weltstunde annehmen muß, damit die Ewigkeit sich in der Gegenwart erfüllen kann. Der männliche Eros spartanischer Jugend, der die Jünglinge in kriegerischer Zucht und Ruhmsucht zusammenband, war die Form einer anderen Weltstunde, die jetzt in Athen, wo um die geistige Wiedergeburt der ganzen Nation gerungen wird, ihren reinen Sinn, ihre sittliche Unbefangenheit verloren hat. Das fühlte Pausanias und forderte statt dessen den seelischen Bund zwischen Männern. Diese dauernden Bünde, die Pausanias so moralisch, Aristophanes so leidenschaftlich fordert, lehnt Piaton ab! Der zur Empfängnis bereite Jüngling muß sich ganz dem Einen Liebenden hingeben, der in ihm die Arete zeugt, aber der Meister der Weisheit, der die schöpferische Idee in sich birgt, kann sich nicht an Einen binden, er muß in vielen zeugen, denn der irdische Sinn dieser Zeugung ist die Schaffung des Staates, zuerst des geistigen Staates. Heilig ist Eros nur, solange er schöpferisch ist — die Freundesbünde wie der des Pausanias-Agathon sind das nur, wenn sie der höhern Idee dienen. Wer zur Weisheit gelangt ist, dem scheint es zu gering, die Schönheit nur Eines Jünglings zu pflegen — er will ja viele geistige Söhne erzeugen. (210 D.) . . . Das ist das Auswirken in ausschwingenden Kreisen, wie es im Vorspiel sichtbar ist. Das ist Piatons Lösung: Eros als staatbildende Kraft, die die liebenden Paare, daß sie nicht in Vereinzelung verdorren, zusammenfaßt zur Akademie, zum geistigen Staat. Wer dagegen einwendet, die Liebe zum Einen sei das höhere Ur-Erlebnis, verglichen mit der staatlichen Aufgabe, der hat darin recht, daß das Gastmahl eine Ergänzung fordert: erst im „Phaidros" erfüllt sich das kosmische Geschehen. Niemand kennt die ungebrochene animalische Gewalt des Eros besser als Diotima. Aber die Gefahr der „Profanierung des Leibes", die in jenem durch den höheren Grad der Bewußtheit droht, läßt sich nicht besiegen durch das moralische Gesetz des Pausanias. Nur die beiden Ur-Erlebnisse Piatons heiligen den Eros: im Gastmahl der staatbildende Eros zu Sokrates, im „Phaidros" der gottbildende Eros zu Dion. Kaum scheint es möglich, diesen Eros, den gefährlichen WerdeDaimon zu vereinen mit der ewigen Gottheit, der Idee des Guten. Aber 198
Diotima bereitet, die Idee dem Werdereich verwebend, die Erfüllung vor, worin sich am schönsten zeigt, daß Piaton nicht aus der Wirklichkeit ins Reich der Idee flüchtet, sondern zu ihr nur aufsteigt, um das Leben der Gemeinschaft zu befruchten. Der Gipfel von „Phaidon" und „Gastmahl" (und Staat) ist eins: das Erlebnis der höchsten Idee, der wahren Sonne. Diotima säumt nicht, den letzten Schritt mit dem Tone höchster Weihe zu feiern. (210 A bis 212 A): „Soweit könntest wohl auch du, Sokrates, in den Geheimdienst der Liebe geweiht werden. Ob du aber reif bist für die letzte Schau und oberste Weihe, um deretwillen ja auch dies alles ist, wenn einer am rechten Wege teilnimmt, weiß ich nicht." Damit erinnert sie an Athens größtes Heiligtum, die Mysterien von Eleusis. Dort war die dritte und oberste Weihe nach der Wanderung und Irrsal durch Finsternis zuletzt die plötzliche und beseligende Schau des vollen eleusinischen Lichtes, die Schau des heiligen Kultbildes der Demeter. So reißt Diotima durch den irdischen Weg der Zeugungskraft plötzlich hinauf zur Schau des höchsten Kultbildes, der Idee des Guten, der ewigen Schöpfungskraft. Phaidros und Aristophanes forderten den Gottesdienst für Eros, während Piaton seine Gottheit bestreitet. Aber jene errichten ihm nur im Reiche der alten Religion einen Altar — Piaton verleiht ihm, in heiliger Nüchternheit sich die schwärmerische Preisung versagend, dennoch die höhere Macht: Eros wird einziger Führer zur höchsten Gottheit, Gründer einer n e u e n Religion. Er vermittelt den Umgang von Göttern und Menschen, er erst „bindet das All in sich selbst zusammen". (202 E.) Eros ist, wie Aristophanes fand, die Sehnsucht nach der Ganzheit — aber nicht, wie er es deutete, zur Ganzheit bloß der ursprünglichen Menschen, sondern zur Weltganzheit, durch Vereinigung mit der Gottheit. Hier fällt Piaton sein Urteil über die weltgeschichtliche Entartung: wer nicht durch Eros an die Götterwelt gebunden ist, der ist ein Banausos. Die Rettung der Menschheit hängt ab von der Stiftung des neuen Kultes, der Krönung der Idee des Guten zur obersten Gottheit. Im „Phaidon" war die Idee selige Schau, Glück des reinen Erkennens. Im „Gastmahl" aber ist sie Urkraft der Welt, durch den Mittler Eros die zeugende Kraft! Damit vollendet sich im Bilde die Lehre von der Idee. Dieser Eros ist nicht wie mancher Gelehrte wünscht, eine Allegorie des Wissensdurstes, denn immer wieder prägt Diotima ein, sie meine die Urleidenschaft, den Eros zum Leibe: „Denn wer in der rechten Weise dieser Sache nachgeht, der muß jung beginnen, den schönen Leibern nachzugehen, und zuerst, wenn der Geführte richtig geführt wird, Einen schönen Leib lieben und in ihm schöne Worte zeugen, dann aber erkennen, daß die Schönheit in irgendeinem Leibe der im anderen Leibe verschwistert ist und, wenn man das seinem Wesen nach Schöne verfolgen soll, es sinnlos wäre, nicht die Schönheit in allen 199
Leibern für ein und dasselbe zu halten. Dies erfahrend zeigt er sich in alle schönen Leiber verliebt und wird nachlassen, den Einen allzu heftig zu lieben, weil ihm das jetzt gering und klein erschiene. Aber danach wird er die Schönheit in den Seelen für verehrungswürdiger halten als die im Leibe, und wenn einer, der an Seele löblich ist, nur geringe Blüte hat, so ist es ihm genug, und er liebt und sorgt um ihn, und er zeugt und sucht solche Gedanken, welche die Jünglinge tüchtiger machen, um ihn zu zwingen, daß er auch in der Lebensführung und im Gesetze das Schöne erschaue . . . und von der Lebensführung muß er zur Schönheit in den Erkenntnissen schreiten." Hier untersucht Piaton nicht, sondern zeigt auf die Leidenschaft — er definiert den Jünglingen nicht den „Begriff" Schönheit, sondern lehrt sie, Einen Knaben zu lieben, Einem Meister zu dienen. Der Stifter der Akademie aber steht auf höherer Stufe, er liebt viele Jünglinge, liebt die lebendige Gemeinschaft, das Gesetz — denn daß der Nomos keine begriffliche Einzelheit, sondern lebendige Einheit, die fast persönliche Seele des Staates bedeutet, lehrt schon der „Kriton". Diotima führt hinauf zur geheiligten Idee, sie führt zum Gipfel aller Philosophie. Piaton hat später im VII. Brief bekannt, daß er den letzten Sinn seiner Lehre niemals schriftlich mitgeteilt habe, weil dieser Sinn nur in der menschlichen Gemeinschaft lebendig und sichtbar werde. Hier im Gastmahl wird uns wenigstens dieses Erlebnis, die Glut dieser Erkenntnis dichterisch überliefert. Immer wieder erinnern Diotimens Worte, daß sie, die Priesterin, die Stufen der mystischen Weihe führt. Wechselt sie das Bild, oder findet der Mensch sich auf der Oberfläche des Luftmeeres in der ätherischen Region des „Phaidon", wenn er am Ende des Aufstieges „aufs weite Meer des Schönen sich begebend und ausschauend, viele schöne Worte und prächtige erzeugen wird und Gedanken in verschwenderischer Liebe zur Weisheit, bis er dort gekräftigt und gewachsen solche Erkenntnis in ihrer Einheit erblickt, welche die Erkenntnis jenes Schönen ist"? Das ist das Ziel der Liebe, „ein Wunderbares, im Wesen Schönes, jenes selbst, deswillen auch alle früheren Mühen waren". Sie feiert diese Idee mit rauschvollen Worten, die an Parmenides' Lehre von Einem Ewigen Unwandelbaren anklingen. „Ewig seiend und weder werdend noch vergehend, weder wachsend noch abnehmend, weiter nicht hierin schön, hierin häßlich, und nicht bald ja, bald nein . . . auch nicht für manche schön, für manche häßlich — und wieder wird sich das Schöne ihm nicht offenbaren wie ein Antlitz oder Hände oder etwas anderes Leibliches, auch nicht als Wort oder eine Erkenntnis: sondern als ein mit sich selbst, für sich selbst ewig eingestaltiges Sein." In solchem Augenblick erfüllt sich der Weltsinn. „Und hier, wenn irgendwo, geliebter Sokrates, sagte die Fremde aus Mantinea, ist das Leben dem Menschen lebenswert, wo er das Schöne selbst schaut . . ." 200
Begreiflich, daß man aus dieser Glut Piaton als Mystiker deutet, und wirklich ist hier die Geburtsstunde der Mystik des Neuplatonismus und des katholischen Mittelalters. Aber als ob er fürchte, man werde einst diesen Rausch als mystische Entrückung des einsamen Denkers deuten, erinnert er immer wieder, daß der Eros zu schönen Jünglingen nicht nur unterste Stufe dieser Himmelsleiter sei, sondern daß er allein bis an die Pforte führt. Immer wieder wird die Deutung versucht, daß dieser Eros, wenn nicht nur Allegorie, doch nur der jugendliche Eintritt in den Gang wissenschaftlicher Forschung sei. Hier aber findet sich die Entscheidung: Piatons Philosophie ist nicht abgesonderte Forschung, sie ist schöpferisches Leben, ist Eros zur Jugend, und ohne diesen leibhaften Eros kann die Weisheit nicht wahrhaft wachsen. Die Mantineerin weckt in seiner Seele, was Sokrates im Gastmahl wirklich erlebt: seine Erschütterung beim Anblick der schönen Knaben und Jünglinge, der schön geputzten, die ihn fast hindert zu essen und zu trinken, damit er sich nur ganz versenke in die schöne Schau und das Zusammensein. In solcher Mania erblickt der Weise mit geistigem Auge die Idee der Schönheit selbst, sonnenhaft rein und ungemischt, da er Vergängliches vergißt und Ewiges erkennt. Höchste Weisheit quillt aus der Nähe lebendigster Schönheit . . . Die Idee der Schönheit wird eins mit der Idee des Guten — sie ist die Zeugerin der wahren Arete: „Oder ist dir nicht bewußt: dort allein ist ihm bestimmt, blickend mit dem Auge, von dem das Schöne sich erblicken läßt, nicht Schattenbilder der Arete zu gebären, sondern wahre Arete, weil er das Wahre umarmt? Wer aber wahre Arete gebiert und ernährt, dem ist vergönnt ein Götterfreund zu werden, und wenn irgendein Mensch, darf er unsterblich sein!" Piatons Geheimnis, selten verstanden, ist in diesen Worten zu ahnen. Im Erlebnis der Schönheit geschieht das Höchste. Dem Menschen gelingt es, wie einst Penia sich dem Poros zur Seite legte, sich von der Gottheit befruchten zu lassen. Zum Wesen der Idee des Guten gehört, daß sie die Welt formt, den Dingen ihr Wesen, ihren Sinn, ihre Arete verleiht. Das geschieht nur durch Eros, ohne den es keine geordnete Welt, keinen Kosmos gäbe. Sokrates, dem Gotte gegenüber reine Penia, reine Begierde, ist der Heros, in dem sich das Volk mit der Gottheit vereint: Er selbst ist ja daimonisch, ist der erotische Mittler — und darum der Welt gegenüber der von der Idee Trächtige, der Reiche, Poros. Wie die Ahnherren Abraham und Kadmos ihr Volk körperlich zeugten, so muß der Gottgesandte die Menschen in der Seele neu erzeugen, „das schicksal nährend für ein ganzes volk". Das unterscheidet Piaton von den Mystikern. Die Schau der ewigen Schönheit ist nur Augenblick der Befruchtung, ist die Wende, in der er umkehrt, um nach entzückter Empfängnis die wirkliche Arete in die Welt zu gebären. Während im „Phaidon" die erkennende Schau sich ausbreitet, 201
Seele und Welt erfüllt, steigt sie im „Gastmahl", von Eros getrieben, wie der senkrechte Strahl des Springbrunnens auf, um sofort zum Falle sich wendend in viele Tropfen zu zerstieben. Piaton verharrt nicht in der Schau, sondern wendet sich sogleich seiner Aufgabe in Zeit und Raum zu: das aber ist die Gründung des Staates. Der Grieche verbindet sich nicht individuell dem Gott und der Welt: er ist Mensch nur durch seine und in seiner Zugehörigkeit zum Staate. Nur in der Weltstunde, in der der Seher die Entseelung des Staates erkennt, treibt ihn, wenn er zugleich der geborene Retter ist, der Schmerz um den Untergang des schönen Lebens bis zur Einung mit dem Gott. Nur Liebe gebiert die Welt neu. Das ist der tiefste Sinn des mißhandelten Satzes vom „Tugendwissen". Wer die Einheit des Guten und Schönen erblickt, der ist von Gott befruchtet, der muß wirkliche Arete gebären — und diese Geburt ist dem Griechen die Staatgründung. Höchste Arete ist Staatskunst. Pausanias und Aristophanes sehen am Eros das Staatliche, und Diotima selbst sagt von der höchsten Stufe geistiger Zeugung: „Weitaus die größte und schönste Erkenntnis ist die für die Ordnung der Staaten und Verwaltungen, die den Namen Besonnenheit und Gerechtigkeit hat." Dieser „Staat der Gerechtigkeit" ist die „Politeia". (209 A.) Und als Beispiel der geistigen Zeugung nennt sie: Homer, Hesiod, Lykurg, Solon, also die beiden Dichter, die das geistige Hellas gründeten, und die beiden Staatsgründer von Sparta und Athen. Wo begriffliche Deutungen sich gegenseitig verwirren, ist nichts so erleuchtend wie die Nennung persönlicher Vorbilder. Aus der Schau der Idee will Piaton den neuen Mythos, die Dichtung, den Nomos schaffen: Er will Homer und Lykurg, Dichter und Gesetzgeber in einer Person sein. Sein Wunschbild ist kein früherer Philosoph, sondern Lykurg, der die Gesetze, seine Kinder, zurückließ als Retter von Lakedämon, ja von ganz Hellas. „Jenen Gesetzgebern sind auch viel Heiligtümer entstanden wegen solcher Kinder, wegen menschlicher Kinder aber noch keinem." (209 D, E.) Und wer einwendet, es habe solche Heiligtümer kaum gegeben, der müßte erkennen, daß Piaton für sich selbst und Sokrates solche Heiligtümer fordert. Diotima hat das Höchste gesagt, in mystischer Rede, die nur in gehobener Stunde natürlich ist. Aber das im Geist Geprägte soll menschliches Bild werden: das ist im Gastmahl die Aufgabe des Alkibiades. Alkibiades bricht als leibhafter Rausch und sinnliche Fülle in diese geistige Luft — ein Aufeinanderprall zweier Lebensformen, die immer das Auge der Künstler entzückt hat. Dennoch sind es nicht fremde oder gar feindliche Welten, sondern einstmals tief-verflochtene Naturen: der Liebende und Geliebte — nur daß man nicht weiß, wer in Wahrheit der Liebende, wer der Geliebte ist. Noch ist Alkibiades das Bild schönen Lebens, einer „süß-unsinnigen Verschwendung", deren beglückende Anmut nirgends durch Sorge und Bedenken getrübt wird, 202
und nur der Weinrausch deutet leise an, daß so verschwenderische Fülle auch die Gefahr des Unmaßes birgt. Bekränzt mit einem dichten Kranz von Efeu und Veilchen, das Haupt mit Bändern umwunden, die Flötenspielerin am Arme, so steht er mit seinen Begleitern an der Tür und rühmt sich seiner Trunkenheit. E r grüßt die Männer, er wolle Agathon, den schönsten und weisesten, mit seinen Bändern schmücken — ob er danach am Gastmahl teilnehmen dürfe oder mit seinen Genossen wieder aufbrechen müsse? Da jauchzen alle ihm zu und laden ihn ein. E r setzt sich zwischen Agathon und Sokrates, umarmt jenen und windet ihm die Bänder ums Haupt. Da, sich umwendend, erkennt er Sokrates, springt auf und ruft: ,Beim Herakles! Was ist das?! Sokrates, du hier?! Mich zu belauern liegst du wieder hier, wie du j a gewöhnt bist, zu erscheinen, wo ich dich am wenigsten vermute. Was willst du jetzt hier? Und warum liegst du gerade auf diesem Platze und nicht bei Aristophanes oder sonst einem, der komisch ist und sein will, sondern hast es fein gesponnen, daß du gerade neben dem Schönsten liegst?!' Um Agathon, den Sieger in der Tragödie, den Gastgeber der Feier, bewegt sich scherzend das Spiel im „Gastmahl". Pausanias ist sein Liebhaber, wie alle wissen, aber heute wirbt Sokrates um ihn mit seiner Weisheit, und nun drängt sich Alkibiades zwischen Sokrates und Agathon, da jeder der beiden ihn allein lieben soll. Sokrates ruft Agathon zu Hilfe, denn die Liebe zu Alkibiades mache ihm viel zu schaffen. Seit er in ihn verliebt sei, dürfe er keinen Schönen mehr ansehen, sonst drohe jener aus Neid und Eifersucht mit Gewalttat. Agathon möge sie doch versöhnen. ,Nein! Keine Versöhnung zwischen dir und mir!' ruft Alkibiades. ,Aber dafür sollst du mir ein andermal büßen! Doch jetzt, Agathon, gib mir von den Bändern zurück, damit ich auch ihm hier das wunderbare Haupt umwinde und er mir nicht vorwerfe, daß ich dich schmückte, dann aber ihn, der nicht wie du, allein gestern, sondern immerdar in den Reden alle Menschen besiegt, nicht schmückte!' Zugleich nahm er von den Bändern, umwand sie dem Sokrates und legte sich nieder. Die andern scheinen ihm zu nüchtern, er ernennt sich selbst zum Herrn der Tafel, läßt ein großes Kühlgefäß, acht Becher fassend, mit Wein füllen, trinkt es leer und läßt es neu gefüllt Sokrates reichen — doch weiß er vorher: soviel Sokrates auch trinkt, er wird niemals trunken. Aber die andern Gäste verlangen, auch er solle auf Eros reden. Alkibiades lehnt das ab und gibt Sokrates den Spott zurück: der werde ihn mißhandeln, wenn er in seiner Gegenwart einen andern als ihn lobe, sei es Mensch oder Gott. Auf Sokrates selbst aber, fällt ihm dann ein, könne er eine Lobrede halten. Piaton zeigt mit dieser Wendung an: Die Rede auf Sokrates ist zugleich die auf Eros, denn der daimonische Sokrates ist selber der Daimon Eros: nicht schön, aber ewig auf der Jagd nach dem Schönen, die gespannte Zeugungskraft. So stellt ihn Alkibiades dar als Silen oder 203
Satyr. Aber Piaton scheut sich nicht vor dem Höchsten. Sokrates ist nicht nur Zeugungskraft und Führer, er ist das Ziel selbst, ist auf Erden der Träger des Göttlichen. Das ist der Grund, warum Piaton diesmal Eros nicht als Gott anerkennen konnte. Sokrates selbst wird aus dem Schüler der Diotima zum Kultbild der Religion, die Phaidros und Aristophanes forderten, Diotima in der Seele begründete — und das höchste Kultbild kann nicht der sehnsüchtige Daimon, sondern muß das Ziel der Sehnsucht, das Ewige, die göttliche Idee sein. Dies Platonische Geheimnis darf nur der trunkene Alkibiades enthüllen — ohne Einwand des Sokrates, den er doch aufgefordert hat, jeden Irrtum zu berichtigen. Durch die Zustimmung des Sokrates: „Aber gewiß gebe ich die Wahrheit zu und verlange, daß man sie sage" dürfen wir auch die Alkibiades-Rede als von Piaton beglaubigt betrachten (214 E). Sokrates Silenhaftigkeit ist nur irdische Hülle, sein Nichtwissen nur ironisches Spiel, denn das Seelenauge erkennt die andere, die göttliche Schönheit: Im Innern trägt er wie die ausgehöhlten Silenfiguren aus Stein das eigentliche Götterbild. „Ob aber jemand die Götterbilder seines Innern gesehen hat, wenn er ernst und aufgeschlossen war, weiß ich nicht. Ich aber habe sie einmal gesehen, und mir schienen sie so göttlich und golden zu sein, daß ich glaubte, sogleich tun zu müssen, was Sokrates auch fordere." (215 A, 216 E, 222 A.) So schließt sich in unbeschreiblicher Leibhaftigkeit das Gastmahl: Sokrates selbst forderte durch Diotimens Mund den Weisen, der von Gott befruchtet den Staat schafft — der trunkene Alkibiades, der nicht zugegen war, gibt dennoch die Antwort: Sokrates selber ist dieser Weise, der Ahnherr des neuen Staates, er ist, vom Volke aus gesehen, der Göttliche, das Kultbild der neuen Religion. Müßiger Wortstreit, ob Piaton von „wirklicher Vergöttlichung" des Menschen redet. Der Sterbling „Sokrates" ist nicht Zeus oder Apoll, und Piatons Werk lebt nicht in der Sphäre handgreiflichen Wunders. Daß aber diese irdische Welt vom göttlichen Nus durchwaltet wird . . . daß diese Götterkraft dem Menschen als leibhaftes Gebilde gegeben wird . . . daß sie in dieser Weltstunde allein in der heiligen Einheit Sokrates-Platon sichtbar und sie allein Mitte des neuen Kultus werden kann, das ist in Piatons Werk oft unter der Oberfläche erkennbar, hier im „Gastmahl" aber mit glühender Gewißheit verkündet. Das Gastmahl ist Abglanz des höchsten Augenblickes, des Augenblickes, in dem der große Mensch sich seiner Ewigkeit bewußt wird — ein Widerspruch, der für den Menschensinn durch das Bewußtsein der Erzeugung des Gleichen gelöst wird. Von nun an gibt es keinen höheren Aufstieg mehr im Gesamtwerk: alles Spätere ist Ausgliederung und Erfüllung dieser höchsten Stunde . . . Alkibiades löst die große Spannung des Gespräches und damit auch den Phaidros-Satz, der sie schon andeutet: „Göttlicher nämlich ist der Liebende als der Geliebte, der Gott ist ja in ihm." (180 B.) Der schöne 204
Knabe, der in sich die große Leidenschaft nicht erlebt hat, sieht im andern, im Liebenden, das Göttliche. Das ist edel — dennoch kann Sokrates es nicht gelten lasse. Aller Welt-Eros muß schließlich doch ein Letztes sehen, in dem seine Sehnsucht Ziel und Ende findet, das „erste Liebe", wie es im „Lysis" hieß. Darum ist nicht Eros, sondern die Idee des Guten das Göttliche. Ziel des Eros ist nicht mehr die Körperschönheit, die der Jüngling zuerst als eigentliche Schönheit verehrt, sondern die göttliche Schönheit, die alles Schöne erzeugt, das heißt, d e n L e i b z u r S c h ö n h e i t f o r m t . Damit aber findet in den erotischen Bindungen die Umkehrung statt. Im philosophischen Jüngling erwacht die Leidenschaft für den Älteren, den Erwecker, den Träger der Idee. Phaidros weiß es noch nicht — Alkibiades hat es mit allen Schmerzen durchlebt. Diese Freundschaftsbünde zu Zweien bleiben nicht Selbstzweck und Erfüllung, sie sind unüberspringbare Stufe zum echten Aufstiege — aber das „Erste Liebe" muß sie tragen, die Platonische Idee. In den Jüngern erwacht die Leidenschaft für Sokrates-Platon, und nur so kann die Gemeinschaft der Akademie, die Vorform eines neuen Reiches entstehen. Sokrates wirbt um die Jünglinge wie ein Verliebter (ob das wirklich „Ironie" ist, lehrt der „Phaidros"), dann kehrt der Eros sich um, und sie verlieben sich in ihn. Nicht als Eros, sondern als Träger der Idee ist Sokrates der Göttliche — aber durch diese Trächtigkeit wird er selbst zum Eros. (206 C.) Diese Umkehrung des hellenischen Eros war Sokrates' Geheimnis, und dies Geheimnis verrät Alkibiades, als er mit der Offenherzigkeit des Rausches die Stunde seiner tiefsten Demütigung erzählt. Als er bemerkte, daß Sokrates in ihn verliebt war, wollte er (ganz im Sinne des hellenischen Eros) ihn und seine Weisheit für sich gewinnen durch Hingabe seines blühenden Leibes. „Darauf sagte dieser sehr ironisch und so recht nach seiner Art und Gewohnheit: Mein lieber Alkibiades, du scheinst mir wirklich nicht dumm zu sein, wenn das etwa wahr ist, was du über midi sagst, und eine Kraft in mir ist, durch welche du besser würdest. Eine unerklärliche Schönheit sähest du in mir und eine von deiner Wohlgestalt gar sehr verschiedene. Wenn du in dieser Erkenntnis mit mir in Gemeinschaft zu treten und Schönheit gegen Schönheit auszutauschen versuchst, so gedenkst du mich nicht wenig zu übervorteilen, und versuchst statt des Scheines die Wahrheit des Schönen •zu erwerben und denkst wirklich Gold gegen Kupfer einzutauschen." Das ist der Wandel des althellenischen Eros in den Platonischen, und Alkibiades klagt um deswillen Sokrates vor dieser Tafelrunde des Hochmuts an. Doch ist ihm kleinlicher Neid so fern, daß er diesen „wahrhaft Daimonischen und Wunderbaren" als göttlich preisen muß. Als ob er ahne, daß diese Unterscheidung körperlicher und seelischer Schönheit leicht asketisch mißdeutet werden könne, fügt er ganz unvermittelt das 205
Lob der fast mythischen Lebenskraft Sokrates' ein. An seine Trinkfestigkeit erinnert das Gastmahl von Anfang bis Ende, aber im Denken ist er noch standhafter — einmal stand er einen vollen Tag und eine volle Nacht ins Denken versunken an einem Ort bis zum Gebet an die aufgehende Sonne — im Winterfrost lief er barfuß, daß die Soldaten sich verhöhnt glaubten — und bei der Flucht des Heeres blickte er furchtlos um sich, so daß kein Feind ihn zu behelligen wagte. Sokrates Begegnung mit Alkibiades, des Philosophen mit dem Staatsmann, bereitet die „Politeia" vor. Piaton ist nicht in die Welt gekommen, um einer „zeitlosen" Wahrheit willen, denn die „Idee" ist „der fußbreit festen grunds" von dem aus er das Volk erneuern will. Er muß Weisheit und Macht vereinen. Auf den unmittelbaren Griff nach der Macht hat er verzichten müssen, und er fand den Rat: die Philosophenkönige zu erziehen. Alkibiades war einst Schüler des Sokrates und ist jetzt der führende Staatsmann: In ihm selber vollzieht sich die Entscheidung des Staats-Schicksals. Bleibt er im geistigen Reiche des Sokrates, dann muß er warten, bis dieser ihm bedeutet, daß es Zeit zur Tat sei. . . will er zur vorzeitigen Tat schreiten, so wird er Sokrates untreu. Ein Beispiel des Jüngers, der sich zum Warten entschließt, ist, nach seinem Bekenntnis im Vorspiel der Gefallenenrede, Menexenos. Grund genug für diese Widmung. Alkibiades versteht ganz den Ernst der Sokratischen Forderung — aber viel größer ist für ihn, den Liebling des Volkes, die Lockung der Schmeichler und um so viel schwerer die Entscheidung. Auf Macht, Ruhm, Glück — oder doch, was so scheint — soll er verzichten, soll warten, bis — vielleicht nie — die Stunde kommt, die ihn zur großen Tat beruft. Er selbst bekennt es: „Ja, ich weiß auch jetzt noch, wenn ich meine Ohren preisgeben wollte, so würde ich nicht stark genug sein, sondern wieder dasselbe erleiden. Denn er zwingt mich, einzugestehen, daß mir noch vieles fehlt und ich doch mich selbst vernachlässige, aber Athens Geschäfte betreibe. Also gewaltsam wie vor den Sirenen die Ohren zuhaltend strebe ich zu entkommen, damit ich nicht, b i s i c h e i n a l t e r M a n n b i n , b e i i h m s i t z e . " Er, der Verschwender, kann sich selbst nicht aufsparen. Wie mußte es Piatons Seele ergreifen, wenn ihm das Bild des schönen Helden auftauchte, den Sokrates geliebt, für den er selbst einst geschwärmt hatte, wenn er erwog, daß dieser vielleicht berufen war, Macht und Weisheit zu vereinen und die Selbstzerfleischung Griechenlands zu hindern, aber durch die Menge verführt die Stunde nicht abwartete. Kurz auf jenes Gastmahl folgt die sizilische Katastrophe — das ist der grausige Hintergrund, auf dem diese Feier, der letzte zauberhafte Nachklang eines schönen Zeitalters, sich abhebt. Nur wer daran denkt, wie jeder Athener daran dachte, wird die leiseste Gebärde bei dieser Begegnung mit der andächtigen Aufmerksamkeit lesen, ohne die ihr Sinn nicht gefühlt werden kann. . . 206
Zum ersten Male tritt der schöpferische, übergeschlechtliche Eros als Urkraft geistiger Reiche in das menschliche Bewußtsein! Welche Ehrung für Sokrates, daß dieser verführerische und mächtige Jüngling so unbedingt diese geistige Macht anerkennt! Ihm ist Sokrates Lehre nicht „Theorie", sie ist bakchantischer Rauch, ist die Wut des von der Natter Gebissenen. E r kann seine ganz persönliche Abweisung durch Sokrates nicht trennen von der Philosophie selbst. „Ich aber bin schmerzlicher gebissen und da, wo der Biß am meisten schmerzt — am Herzen oder an der Seele, wie man es nennen soll, bin ich getroffen und gebissen von den Worten der Philosophie, welche wilder als Nattern festhalten, wenn sie eine junge und nicht stumpfe Seele gefaßt haben . . . " Das bedeutet nicht eine Eigenart des Alkibiades, denn ohne Widerspruch zu finden, zählt er auch die andern Gäste auf: „Ihr seid alle geeint im Wahnsinn und in der bakchischen Wut der Philosophie." Solche Mania wird der „Phaidros" preisen, aber viel sagt schon Alkibiades. E r findet, mit Homerischen Helden dürfe man wohl Perikles und Brasidas vergleichen, aber das Wunder Sokrates sei nicht Menschen ähnlich, sondern Wesen wie Silenen und Satyrn. Mit der mythischen Flötenmusik des Marsyas vergleicht er Sokrates Redegewalt, nur daß des Weisen Worte tiefer in die Seele dringen als die Musik. Niemals habe selbst Perikles mit seiner Redekunst die Menschen so tief erschüttert wie Sokrates, und wenn er dessen Worte hörte, so klopfte ihm das Herz stärker als den korybantischen Tänzern, und Tränen entströmten seinen Augen: denn er fühlte sich von diesem neuen Marsyas wie geknechtet. Aber er wird hin und her gerissen zwischen Sokrates' Macht und der Schmeichelei des Volkes. Jetzt ist Sokrates' geliebtester Anhänger dem geistigen Reiche abtrünnig geworden und buhlt mit der Menge. Wieder ein Gipfel in Piatons Kunst, wie dies für Sokrates, Alkibiades, Piaton und Athen tragische Geschehen in die heitere Ebene reiner Geistigkeit gehoben wird. Alkibiades hat Sokrates mit dem höchsten Lobe gehuldigt, aber auf der scherzhaften Oberfläche der Feier soll diese Rede zugleich eine Rache für den Hochmut des Sokrates sein. Um den schönen Agathon geht der Kampf. Ihn warnt Alkibiades, daß Sokrates wie ein Verliebter den Jüngern nachgeht, in Wirklichkeit sie aber sich dienstbar macht, wenn sie im Weisen den wahrhaft Schönen erkennen. So warnt er Agathon, um ihn für sich zu gewinnen. Wie er auf der Kline zwischen beiden liegt, so will er, der Verwöhnte, allein von beiden geliebt sein. Mit einem Wink durchkreuzt Sokrates diesen Plan: er ruft Agathon auf seine Seite. Nach der höchsten Preisung der Triumph des Sokrates: Agathon wollte ihm gefallen, jetzt weiß er, er müßte ihm dienen, aber dennoch folgt er lieber dem Erzieher Sokrates als dem Verführer Alkibiades. Sokrates moralisiert nicht: Kein Vorwurf, als der Knabe Alkibiades ihn verführen wollte, jetzt kein Vorwurf wegen der Untreue. Aber im Bilde fällt die Entscheidung: Alki207
biades liegt als der Überflüssige neben den beiden, wo er verlangte, von beiden geliebt zu werden. Er ist ausgeschlossen vom geistigen Reiche und kann nur murren: „Das ist es ja, so sind wir es gewohnt. Wenn Sokrates da ist, kann kein anderer etwas von den Schönen haben" . . . Schließlich entartet die Feier zu wildem Lärm und Zechen, weil Fremde durch die offene Tür hereinströmen. Dann wird es allmählich still, auch der Erzähler Aristodemos ist eingeschlafen. Beim Hahnenschrei erwacht er und sieht nur noch Sokrates, Aristophanes und Agathon. Wie vorher die Rede kreiste, geht nun noch die Weinschale rechts herum. Sokrates beweist den beiden Dichtern, daß derselbe Dichter Tragödie und Komödie zu dichten verstehen müsse. (So hat Piaton neben den „Protagoras" den „Gorgias", neben den „Phaidon" eben das „Symposion" gesetzt.) Aber jene folgen nur schläfrig. Aristophanes schläft ein, dann, als es Tag ist, auch Agathon. Da erhebt sich Sokrates, begibt sich ins Lykeion, um zu baden, und bringt seinen Tag zu wie sonst . . . So schreitet auch Piaton, nun gestärkt durch die Weihe der nächtlichen Feier, den daimonischen Aufstieg zur Idee, am heilig-nüchternen Morgen zu seinem Tagewerk — dies Tagewerk ist die „Politeia".
XV. D E R „ S T A A T " Bildung des neuen Adels Wer Piatons irdische Aufgabe mehr als sein Wesen anschaut, darf die „Politeia" sein Hauptwerk nennen. Doch soll man darüber die Stimmen der Jahrtausende nicht überhören, die wechselnd „Timaios" und „Phaidon", „Gastmahl" und „Phaidros" und dann wieder den „Staat" als Hauptwerk empfanden. Mit „Phaidon und Symposion", diesem untrennbaren Paar, erreicht Piaton die Höhe eignen Ur-Erlebens und damit die Höhe des Menschseins überhaupt. Wenn er im „Staat" der große Erzieher und Gründer ist, so ist er in jenen Werken der Abgesandte der ewigen schöpferischen Weltkraft, der göttliche Mensch. Weil er Verfall des Staates und Entgötterung des Lebens erkannte, mußte er aufs neue den Funken vom Himmel rauben. Erst nach jenem kosmischen Erleben kehrte er zur zeitgebundenen Aufgabe, zum politischen Werke zurück . . . Die staatsordnende Arete war seine Leidenschaft, die ihn früh, wie der VII. Brief bezeugt, zu seinem Hauptsatz führte, daß Macht und Philosophie in einer Hand vereint sein müßten. Damals schrieb er das Gespräch über die Gerechtigkeit, den „Thrasymachos". Aber in dieser Zeit muß er jene furchtbare Erschütterung erlebt haben, deren feuriger 208
Widerschein der „Gorgias" ist. Vermutlich wäre der Thrasymadios ein verschleierter Aufruf zur Platonischen Erneuerung des Staates, zur Philosophenherrschaft geworden — aber Athen verachtete damals jede geistige Führung. Als er erkennen mußte, daß er sich gegen die Polosund Kallikles-Naturen im Staate nicht durchsetzen könne, legte er den „Thrasymachos" zurück und schrieb ein ganz anderes Gerechtigkeitsgespräch, die Kampf- oder Racheschrift „Gorgias". Er wußte nun, daß ohne „göttliche Schickung", fast ein Wunder, sein Werk nicht gelingen konnte, und er tat alles, um sich auf den göttlichen Ruf vorzubereiten: bei den Pythagoreern und in Syrakus. Zurückgekehrt sucht der nun Vierzigjährige durch den „Menexenos" seine Versöhnung mit Athen und begründet die Akademie. Seiner politischen Leidenschaft ist nun ein Zug von Entsagung beigemischt. Vielleicht darf er selbst nicht nach der Herrschaft greifen, aber in der Akademie will er die künftigen Herrscher erziehen. In dieser Gesinnung schreibt er den „Staat". Piaton mag 56 Jahre alt sein, als er dies Werk beendet. Der tödliche Widerstreit des „Gorgias" findet erst in ihm seine Lösung, so daß beide Werke nur in ihrer Beziehung aufeinander recht verständlich werden, und wie der „Staat" diese zwei Jahrzehnte überspannt, drückt sich in der unerhörten Architektur des Platonischen Gesamtwerkes aus: der unvollendete, vor dem Gorgias geschriebene „Thrasymachos" wird Brükkenpfeiler im „Staat". Er wird als Vorspiel Symbol der ganzen vorbereitenden Zeit im Werke der Vollendung . . . Genau in der Mitte des Werkes steht Piatons Hauptsatz: „Wenn nicht die Philosophen Könige in den Staaten werden oder die jetzt Könige und Herrscher genannten echt und zulänglich philosophieren, so daß staatliche Macht und Philosophie in Eins zusammenfällt, und wenn man nicht mit Gewalt ausschließt die vielen Naturen, die jetzt jedes vom anderen gesondert befahren: so ist des Übels kein Ende für den Staat, ja wie ich glaube, für das Menschengeschlecht überhaupt . . . " Das ist der Satz, unter dessen Lichte die „Politeia" dem folgenden Zeitalter als eine Utopie erschien. Und wenn man gar den Platonischen Philosophen verwechselte mit dem Kathedergelehrten, der den Staat nach Lehrsätzen a priori regieren würde, dann schien Piatons Staat närrisch. Doch wer den „Staat" las, weiß, daß Piatons Philosoph das Gegenteil des abstrakten Gelehrten ist: der Mann, der sich im Kriege wie in der Staatskunst gleich bewährt hat und erst dann, als der Lebenserfahrenste, auf Grund der Ideenschau, der Lebensnorm, dem Staat Ziel und Wesen zu verleihen vermag. Um so verwunderlicher, daß Piaton selbst seinen Hauptsatz, viel stärker noch, als es unserer Zeit erscheinen würde, als unerhörtes Paradoxon darstellt. In drei großen Wogen läßt er die Widerkräfte heranrollen, bis er uns endlich — in der Mitte, nicht am Anfang — hinaufträgt zum Prinzip. Ist dieser Satz vom herrschenden Philosophen denn 14 Hildebrandt, Piaton
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etwa unhellenisch? Pythagoras, der Ordensgründer, blieb Vorbild des philosophischen Geistes, und unter den „sieben Weisen" Griechenlands waren Staatsmänner wie Periander und Solon. Anaximander als Staatgründer, Parmenides als weiser Staatsmann, Heraklit als Führer des Adels, Empedokles als Volkskönig — sind das den Griechen unnatürliche Vorstellungen gewesen? Perikles verdankte dem Freunde Anaxagoras den hohen Gedankenflug, Archytas ist mächtiger Staatsmann, und die Erhebung des Epaminondas ist eine philosophische. Der Philosoph als Staatsmann ist eine echt hellenische Vorstellung — nur im Athen des Niedergangs ist er es nicht mehr. Im richtigen Instinkt wendet sich das Bürgertum gegen die sophistische Intelligenz, aber echte Philosophie und echte Dichtung unterscheidet es nicht von Rhetorik und Literatur: mit der zersetzenden Sophistik unterdrückt es die aufbauende und zukunftträchtige Sokratisch-Platonische Bewegung. Das war die hoffnungslose Lage Athens, als Piaton den Staat schreiben w o l l t e und den Gorgias schreiben m u ß t e . Er wollte Urhellenisches, nicht Utopisches, und als der große Realist, der er war, hat er dies ungeheure Hemmnis für seine Wirkung in den Widerständen gegen seinen Hauptsatz in der „Politeia" mit so großem Nachdruck dargestellt. Nur so konnte die „Politeia" sinnfällig als die Schrift des Siegers nach dem Scheitern im Gorgias in Erscheinung treten. I. Das Gespräch über den „Staat" führt uns in die Luft der Akademie, aber der Raum, in dem es stattfindet, ist ein ganz anderer, ist nicht einmal Athen selbst, sondern nur der Piräus. Indem Piaton die vollendete Lehre in seiner Vergangenheit, im „Thrasymachos", verwurzelt, verwurzelt er zugleich seine Staatgründung in der Geschichte Athens. Piräus, Hafenstadt, Seemacht — das ist ja f ü r Piatons strenges Gefühl das unmarathonische, das unhellenische Athen. Man feiert das Fest der thrakischen Göttin Bendis. Sokrates tadelt nicht, er betrachtet den Aufzug und betet zur Göttin — aber er sieht die Gefahr von Handel und Hafen, und gewiß verstanden die Athener die Ironie: „Schön erschien mir gewiß der Festzug der Einheimischen, aber nicht minder glänzend nahm es sich aus, wie die Thraker aufzogen." Die Hellenen feiern also mit den Barbaren und wie die Barbaren. Sokrates hat denn auch nicht die mindeste Lust, den prächtigen, zum erstenmal statthabenden Fackelzug zu Pferde abzuwarten, er drängt nach Hause und muß fast mit Gewalt zurückgehalten werden. Die zusammengewürfelte Gesellschaft im Hause des reichen Polemarchos ist das Bild der attischen Gesellschaft, in der die griechischen Stämme sich mischen. Das Gespräch ist etwa im Jahre 409 zu denken, als Athen nach den Siegen des Alkibiades in höchster Hoffnung schwelgt. Außer dieser zersetzenden Gegenwart ist Sokrates aber auch das älteste Geschlecht, das noch aus der heroischen Perserkriegszeit stammt, 210
entgegengestellt. Kephalos, der Vater des Polemarchos, ein sehr würdiger Greis, spricht nicht zufällig von Themistokles, dem Gründer des seemächtigen Athen. Auch Kephalos ist Erwerbsmann, aber er hält edles Maß zwischen Verehrung und Verachtung des Geldes. Reichtum gibt ihm das Mittel der seelischen Beruhigung, weil der Wohlhabende weder Gott noch Mensch etwas schuldig zu bleiben brauche. Die Beschreibung des Greises läßt einen Strahl des edleren, schon abgestorbenen Zeitalters auf ihn fallen, den letzten Strahl althellenischer Prommheit und Schönheit. Er sitzt in einen Sessel gelehnt, das Haupt bekränzt, denn er hat eben geopfert, und sein herzlicher Empfang beweist, wie er Sokrates verehrt. Aber als Sokrates nach längerem ethischen Gespräch dies auf philosophische Höhe führt, da ermüdet Kephalos. Er geht, um wieder ein Opfer zu verrichten, aber da er zugleich dem Sohne Polemarchos das Gespräch vererbt, so denkt er offenbar nicht an Rückkehr — er legt sich zum Schlafe. Kein Zweifel, daß diese kleinen Züge am Anfange des Hauptwerkes ihre große bildliche Bedeutung haben. Sokrates-Platon ist mit jener ältesten Generation freundlich verbunden, sie aber kann ihm nicht folgen, denn sie vermag die Notwende dieses Genius nicht zu begreifen. Sie legt sich schlafen, als der Kampf beginnt. — Piaton weiß: es gibt kein Zurück. Kephalos denkt bei seinem Wort „Gerechtigkeit" nur an die persönliche Verpflichtung Gott und den Menschen gegenüber, eine Pflicht, der man durch Geld genügen kann. Dieser dürftige Begriff der Gerechtigkeit genügt ihm dennoch, denn er ist ja in einer Zeit und Gesellschaft erzogen, die den Einzelnen trägt, so daß ihm die tiefere Gerechtigkeit triebhaft gegeben ist. Er ist ein Bild einfacher hellenischer Arete ohne philosophische Erkenntnis. Ist das aber nicht das wahre Vorbild: der Mensch als Gewächs der Gemeinschaft, geformt durch das Leben, das alle beseelt, nicht durch den Verstand? War Piaton so rationalistisch, daß er nur eine Gerechtigkeit anerkannte, die auf dem bewußten Begriff der Gerechtigkeit beruhte? — Schwerlich hat ein Philosoph bis auf Nietzsche die Notwendigkeit irrationaler Wachstumskräfte, der Leiblichkeit, des Eros, der Mania tiefer erkannt als Piaton. Die Kunde Diotimens beweist es. Wie schön beschreibt auch im „Protagoras" der große Sophist diese erziehende Kraft des Volkes — nur eins sah er nicht: daß diese erziehende Gemeinschaft längst nicht mehr bestand, daß in Wirklichkeit schon Zersetzung und Chaos den wahren Staat aufgelöst hatten. Für den Realisten Piaton blieb keine Wahl: aus der Idee und der Welterkenntnis mußte der neue Staat gegründet werden. Darum führt er selbst das Gespräch mit Kephalos zur Philosophie. Jene alte Generation hat in ihrer Vernachlässigung der Philosophie die Söhne nicht zu erziehen vermocht, wie Piaton immer wiederholt und im 14*
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„Ladies" gegenständlich macht. Hier zeigt es sich an Polemarchos. Im Handelsgeist des Kephalos erzogen ist sein Gefühl für das gerechte Leben noch eingeschränkter. Obwohl er frisch genug ist, dem Gedankengange des Sokrates zu folgen, sieht er in der Gerechtigkeit nur die Ehrlichkeit des Kaufmannes. Erst der zweite Vertreter der gleichen Generation, der Sophist Thrasymachos, ermöglicht durch seine Gegnerschaft ein tieferes Gespräch. Das wenigstens hat Thrasymachos doch erkannt, daß die Gerechtigkeit in dieser Weltstunde nicht mehr reale Gegebenheit ist: sie ist Problem. Aber während die alte Generation ohne Gefährdung die Gerechtigkeit auf die eigene Person bezieht, weil nämlich diese Person fast unbewußt noch getragen ist von der Gerechtigkeit der Gemeinschaft, erhebt Thrasymachos gerade den Mangel dieser Anschauung, die individualistische Beschränktheit des Blickes, zum Grundsatz der Tugend und steigert ihr Wesen damit zur nacktesten Selbstsucht. Wie ein Bruder des Kallikles scheut er sich nicht, folgerichtig, die vollendete Ungerechtigkeit als die wahre Tugend zu bezeichnen. Gegen solchen Flegel kann Sokrates nicht mit der Waffe reiner Dialektik kämpfen. Er kämpft mit der Waffe der Meinungen und der Ironie, um zuerst Raum für seine Idee zu schaffen. Da er selbst zuletzt seinen Irrweg bekennt, lohnt es sich nicht, etwaige logische Fehler aufzuspüren, aber höchst wirkungsvoll ist es, wie Piaton im Vorspiel schon das Wesen lebendiger Gerechtigkeit in großen Zügen sichtbar macht. Piatons Dikaiosyne ist nicht bloße individuelle Verpflichtung der Geldleute, noch weniger die Torheit und Schwäche der Untertanen: seine Gerechtigkeit enthält Kraft des Herrschers, ja staatschaffende Weltkraft. Darum muß Piaton zuerst den Sinn des Herrschertums läutern. Er stellt dem Thrasymachos, der darin nur plumpen Eigennutz sieht, eine wichtige Deutung des „Amtes" entgegen, indem er den Sinn des Amtes vom Lohn des Amtes aufs schärfste sondert. Gewiß soll jedes Amt auch den gebührenden Lohn erhalten, aber für den Träger des Amtes besteht keine Beziehung zwischen dessen Sinn und der Größe des Lohnes. Der rechte Hirte geht auf in der Sorge um die Herde, während der Lohn nur der Notdurft entspricht. Diese hohe Deutung von Amt und Werk, keine Gleichung zwischen Geld und edler Leistung lassend, verneint ebenso die moralische Äquivalenztheorie der redlichen Kaufleute wie die unmoralische Selbstsuchtslehre des Thrasymachos. Außerhalb aller individuellen Rechnung ist sie der fruchtbare Grundsatz der Ethik. (340 C—342 E. 345 C - 3 4 7 D.) Wie weit Piatons Gerechtigkeit von einer abstrakten Tugendmoral entfernt ist, mag daraus hervorgehen, daß er überraschend daneben stellt, selbst eine Räuberbande könne nicht ohne Gerechtigkeit leben! So tief greift dieser Begriff in die lebendigen Wurzelkräfte. Man hat das Gewicht dieser Stelle bisher nicht gefühlt, weil Piatons Dikaiosyne 212
so viel kräftiger ist als unsere „Gerechtigkeit". Darum will sie Piaton nicht etwa zu einer allgemeinen Eigenschaft aller Lebewesen machen: er sieht in der Räuberbande, deren Glieder die gegenseitige Treue halten, wirklich Kraft, die er an hochgebildeten, aber vom wirkenden Leben abgesonderten Forschern vermißt. Gerechtigkeit ist die formende Kraft, welche die widerstrebenden Kräfte der einzelnen Seele, der Räuberbande und des Staates, zur wirkenden Gestalt zusammenfügt. Nun verstehen wir, warum Piaton im Tyrannen den ärgsten Feind, zugleich aber sein Wunschbild des Staatserneuerers sehen kann. Jedes lebende Wesen hat wie auch jedes seiner Organe sein eigenes „Werk" und dafür seine eigenartige Arete. Das wendet Piaton nun auf die Seele selbst an. Hier (353 D) erfahren wir, was das „Werk" der Seele, der Sinn ihrer Gerechtigkeit ist: eiu^eXsiaO-at, ßooXeueafrai. Die Aufgabe der Seele ist Herrschaft über den Leib und über den Staat! Die Vorsorge des Hirtes um die Herde, das Herrschen schlechthin, das Beschließen, welches kluge Erwägung und die im „Phaidon" erwiesene freie Willenskraft umschließt. Damit ist die Platonische Lösung in allgemeiner Form gegeben, die nun im „Staat" ihre besondere, der Welt-Entscheidung angemessene Ausprägung finden soll. Oberflächlich erledigt nun Sokrates das schwierigste Problem: Gerechtigkeit ist die Tugend der Seele, der Gerechte lebt gut, also ist er glücklich, also ist die Gerechtigkeit förderlich. Thrasymachos, der sich anfangs wie ein wildes Tier aufspielte, ist von der Wucht des Sokratischen Geistes gezähmt, ja, was Sokrates noch niemals sah, er errötet. Er ist mit der Beweisführung zufrieden — Sokrates selbst dagegen ist unzufrieden: man rede über die Gerechtigkeit, ohne gesagt zu haben, was sie überhaupt sei. So endet das Prooimion mit dem Sokratischen Nichtwissen der frühen aporetischen Gespräche. II. Das „Gorgias"-Problem, ob der Gerechte der Glückliche sei, wird zum Rahmen der ganzen „Politeia". Der Moralist befriedigt sich mit der Forderung, im Gerechtsein das Glück zu empfinden. Der Realist Piaton sieht, daß diese Lehre nur für Ausnahmemenschen gilt, für jene, „die aus göttlicher Natur sich des Unrechts enthalten"! (366 D.) N o t w e n d i g ist der Staat, damit das edle Leben sich verwirkliche — aber m ö g l i c h ist er bei der tatsächlichen Artung des Menschen nur, wenn sie mit Glück in weltlicherem Sinne belohnt werden. Welcher Wechsel vom I. zum II. Buch, von bunter Gesellschaft zur reinsten Platonischen Luft! Nur mit den beiden Jüngern Glaukon und Adeimant führt Sokrates das Gespräch — es sind die beiden Brüder Piatons. Da sie sich später nicht auszeichneten, so wird Piaton mehr beabsichtigt haben, als ihnen mit seinem Hauptwerke ein Denkmal zu setzen. Und wenn Sokrates sie mit dem Zitate anredet: „Söhne Aristons, des ruhmreichen Mannes göttlich Geschlecht", so konnte nie213
mand übersehen, daß diese Anrede Piaton selbst befaßt, daß er auf die Brüder verteilt die eigene Natur des Sokrates-Jüngers darstellt. Dieser Wechsel ist zugleich Bild jener großen Wende in Piatons Schicksal. Einst kämpfte Piaton mit der Gegenwart, jetzt baut er im eigenen Kreise die Zukunft auf. Wo Piaton mit zwei Jüngern redet, da ist das geistige Reich schon Wirklichkeit, und die altersschwache Gegenwart versinkt, wie der Greis Kephalos sich schlafen legt. Aber vergessen hat Piaton jenen menschlichen Raum des Vorspiels nicht: er soll als Schattenwelt den Hintergrund für das neue Licht geben. Abends kamen die Gäste ins Haus des Polemarchos mit dem Vorsatz, danach bei Nacht den Fackelzug zu Pferde anzuschauen. Daß man das nicht vergesse, erinnert Thrasymachos am Schluß des Vorspieles an die Bendisfeier, als er, um einen leidlichen Abgang zu gewinnen, scherzt, mit seiner Nachgiebigkeit bewirte er Sokrates zum Festschmaus. Und Sokrates führt dies Bild weiter. Wenn nun, das eigentliche Werk einleitend, das Platonische Brüderpaar eingreift, mit der Widerlegung, die einem Thrasymachos genügte, ganz unzufrieden, weil es die Not und die Glaubenslosigkeit der Zeit unendlich tiefer empfindet als dieser . . . und wenn nach den langen Reden dieser beiden Sokrates die Schwierigkeit der Aufgabe bekennt und doch, solange er Atem hat, der verleumdeten Gerechtigkeit beistehen will . . . wenn dann alle ihn bitten, diese Untersuchung zu führen, obwohl es sich um ein großes Werk handle: dann empfand jeder Leser, daß Sokrates wie im Gastmahl die übliche Feier gesprengt hat. Den nächtlichen Fackelzug vergessend lauschen die Gäste die Nacht hindurch gebannt dem „Schlangenbeschwörer", der vor ihren Augen den unerhörten Bau des Staates — der Philosophie — des Weltalls aufführt. (368 C, 369 B.) Diese Bezauberung und Bekehrung, die der Leser an sich selbst erleben soll, stellt Piaton, wie auch sonst, im Werke nicht dar — das wäre abschwächende Vorwegnahme. Glaukon und Adeimant reißen die Kluft auf zwischen sophistischer Gegenwart und akademischer Wiedergeburt. Sie tadeln Thrasymachos, daß er so leicht nachgab, und vertreten den immoralischen Standpunkt des Sophisten weit scharfsinniger und mit einer gemäßigteren, aber um so überzeugenderen „Genealogie der Moral", um damit der Sokratischen Lehre den notwendigen Widerhalt zu geben. Piatons eigenstes Bekenntnis leuchtet im Bilde auf: Mit der Gegenwart, der gestaltlosen, lohnt kein Streit. Seine Jünger müssen selbst noch dieser Gegnerschaft ihre Gestalt leihen, und sie müssen sogar an schöner Beredsamkeit dem routinierten Sophisten überlegen sein. Die Sophistik als politische Bewegung ist mit der Gründung der Akademie ausgeschaltet. Glaukon macht jenes Problem vom Glück des Gerechten durch die Sage von Gyges und seinem Ring anschaulich. Wer ist seiner Gerechtigkeit so sicher, daß er sich allen Unrechtes und Raubes enthalten würde, 214
wenn der Ring, der ihn unsichtbar macht, vor jeder Entdeckung und Befleckung seines Rufes schützte? Ist es denn wirklich die Gerechtigkeit selbst oder nicht vielmehr der Schein und Ruf der Gerechtigkeit, der im Leben glücklich macht? Sokrates müsse beweisen, daß der Gerechte glücklich sei, auch wenn er ungerecht scheine und darum zu Tode gemartert werde. Er müsse beweisen, daß der Ungerechte unglücklich sei, auch wenn er im Schein der Gerechtigkeit ein herrliches Leben führe. Wenn Glaukon an die Schärfe und Strenge des Sokratischen Geistes erinnert, so hat Adeimant mehr von religiöser Phantasie und Seelenkunde, in der Piaton seinen Erwecker überstrahlt. Schonungslos schildert er die Aushöhlung der Religion. Selbst wenn man Götter nicht leugne, hoffe man doch, auch sie durch den Schein zu betrügen. Oder wenn jene die Wahrheit wissen, so wird man sie durch Opfer und Geschenke beschwichtigen, und selbst gegen die Hadesstrafen helfen die entarteten orphischen Mysterien. Mit solchem dringlichen Eifer melden die Jünglinge Unglauben und Haltlosigkeit der Zeit. Kein Wort des Moralisierens. Sie nehmen diese Entgötterung der Welt als Gegebenheit, ja sie deuten ihren Sinn. Dennoch sind sie ganz getrieben von der Not dieser Zeit und hören nicht hin, wenn Sokrates durch ein Scherzwort ihren Eifer zügeln will. So will Piaton die Jünger: sie sollen die Realität scharfsinnig und unerbittlich erkennen — und sie dürfen es, weil sie vom Glauben an ihn, den Retter, erfüllt sind. Andre mögen Lohn und Schein der Gerechtigkeit preisen, aber Piaton soll ihnen die Gerechtigkeit in ihrer reinsten und unbedingten Gestalt zeigen. (367 D.) III. Das ist die schwierige, philosophisch kaum lösbare Aufgabe des ganzen Werkes: Ist der Gerechte unbedingt glücklich? Piatons besondere Lösung ist weniger theoretisch als staatgründend. Zwar sagt er's nicht ausdrücklich, aber wichtiger, daß er in Wirklichkeit versucht: den Staat zu gründen, in dem der Gerechte sich glücklich entfaltet. Hier bekennt er, daß es schwer sei, in der Einzelseele die Gerechtigkeit zu finden. Im ganzen Staat, gleichsam in sehr großen Buchstaben geschrieben, werde die Gerechtigkeit leichter zu erkennen sein. Das ist Piatons halbironische Art, von allen Gegenständen ins Herz der eigenen Sendung zu führen. Niemals ist ihm der Staat nur Modell für seine Lehre. Er trachtet nach dem Staate — und nach der Gerechtigkeit trachtet er, weil er erlebt hat, wie Griechenland durch tyrannische Willkür zugrunde geht. Seine Gerechtigkeit ist zugleich staatliche Kraft, nicht asketische Moral. Der Vergleich von Einzelseele und Staat ist der fruchtbare Leitgedanke des ganzen Werkes. Er ist weit mehr als bloße Analogie: tatsächlich sind es dieselben Weltkräfte, die in Einzelseele und Staat geordnet werden müssen, tatsächlich derselbe herrschende Wille, der Staat und Seele ordnet. Auch der Staat lebt durch die Seele und stirbt, 215
wenn er seelenloser Mechanismus wird. Piaton legt gleichzeitig den Grund aller Staats- und Gesellschaftslehre, wie der Geist- und Erziehungslehre, wenn er in Einer Eingebung im Staat die Seele, in der Seele den Staat sucht. Er beschreibt das Wesen des Staates genetisch. Genetisch in der Sprache Goethes, in der das Wort nicht die Zufälligkeit der historischen Entwicklung, sondern die ideale Entwicklung des Sinnes, die jener zugrunde liegt, meint. Diese Entwicklung geht durch drei Stufen. Die erste ist der „gesunde Staat", die zweite der „wuchernde", die dritte der wahre Platonische Staat. Nun aber wird der Staat, den Sokrates den „gesunden" nennt, von Glaukon kurz und verächtlich als „Schweinestaat" abgelehnt — ohne daß Sokrates widerspricht. Auf den ersten Blick verwirrend! Ist der „gesunde Staat" Normbild oder der dritte Platonische Staat? — Piaton hat das Fichte-Hegelsche Schema im Bilde vorweggenommen: der gesunde Staat — Setzung, der wuchernde — Gegensetzung, der Platonische — Synthese. Woher stammt die Antithese? Dem „gesunden" Staat fehlt nicht die arkadische Anmut, wenn die Leute Weizengebäck auf reinlichen Blättern herumreichen, Wein in mäßiger Menge trinken, sich zu Götterfesten bekränzen und nachts auf Myrtenstreu schlafen. Glaukons Wort „Schweinestaat" ist nicht Schimpfwort, wohl aber Ablehnung dieser kynischen und ungeistigen Bedürfnislosigkeit. Er verlangt, daß die Männer „auf Polstern liegen, von Tischen speisen und die übliche Zukost und Leckereien haben". Der entscheidende Augenblick! Sokrates erhebt keinen Einwand gegen diese Wünsche der Jünger, obwohl er erkennt, daß sie dann weiter vielerlei Fleischspeisen, Salben, Hetären, Kuchen und schließlich Kunstwerke und Theater verlangen werden. Vielleicht eine Erinnerung an den historischen Sokrates, wenn er mit leichtem Bedauern von jenem Staat zu scheiden scheint, aber er moralisiert nicht, er verlangt kein asketisches Zurückdrängen der Lebensform. Wenn die Jünglinge einen reicheren Staat verlangen, sollen sie ihn haben — aber dann brauchen sie ein Heer, denn dann wird das begrenzte Vaterland nicht genügen. Aus diesem Entscheid entwickelt sich der gesamte Platonische Staat: die Bürger müssen erzogen werden zu Kriegern, sie müssen erzogen werden, wie sich später zeigen wird, zu Philosophen und Herrschern. Der Krieg wird zur Antithese des „gesunden" Staates. Dieser ist nicht, wie es zuerst schien, der primitive, kynische Staat, sondern er ist überraschenderweise der pazifistische Staat! Es gibt Tagelöhner, es gibt Geld, Außenhandel mit andern Ländern! Aber dennoch leben diese Händler, man weiß nicht warum, vegetarisch! Handel, Vegetarismus, friedliche Gesinnung — das Bild des friedlich-zufriedenen Menschen gegenüber dem kriegerischen. Piaton entscheidet mit Heraklit: Krieg ist der Vater aller Dinge. Der gesunde Staat ist ängstlich-konservativ. Seine Bürger erzeugen mit Maß Kinder, um ebenso die Gefahr der 216
Armut wie des Krieges zu meiden. (372 B.) Diese Furcht vor Armut beweist, daß Piaton nicht den kynischen, sondern den genußsüchtigen aber ängstlichen Menschen meint. Auf die Kehrseite seiner Mäßigung deutet erst das Gegenbild des kriegerisch-wuchernden Staates. Jener hegt keine höheren Wünsche, er ist ungeistig. In diesem wuchern die Begierden, aber mit ihnen werden auch die geistigen schöpferischen Kräfte frei: bildende Kunst, Dichtung, Drama. Aber mit den edlen Kräften wuchern entsprechende Laster. (373 B, C.) Wieder bewundert man den Realisten Piaton. Er entschuldigt nicht den wuchernden Staat mit seinen schöpferischen Kräften, ja unterscheidet hier nicht einmal zwischen Gut und Böse. Er läßt ihn einfach aus den sinnlichen Bedürfnissen Glaukons gelten. Ohne Lob oder Tadel erkennt er die Tatsache an, und der unausgesprochene Gedanke des Erziehers wird sein: Was sollen Jünglinge wie Glaukon und Adeimant, also die besten, in jenem pazifistischen Staate, im Staat ohne Heldentat, ohne Ruhm, ohne Dichtung. Er tadelt die sinnlichen Begierden der Jünger nicht, wenn sie dafür den Dienst in Krieg und Philosophie auf sich nehmen. Aber er sieht zugleich die Gefahr des hemmungslosen Wucherns, und ihr das neue Gesetz entgegenzusetzen ist seine Sendung. Das ergibt die dritte Staatsform, die Platonische. Die Erziehung der Krieger rückt damit in den Mittelpunkt der Politeia. Versunken ist das Idyll des „gesunden" Staates: in der Mitte auch des dritten Staates steht der Krieger. Seine Paideia erhält ihre besondere Prägung dadurch, daß nur von der Bildung solcher Jünglinge die Rede ist, die durch ihre Anlage zu Kriegern geeignet sind: hart gegen Feinde, sanft gegen die Bürger. Ist es denkbar, daß ihr Blut diese Gegensätze in sich trägt? Den Realisten Piaton beunruhigt der logische Widerspruch nicht: Edle Hunde sind zugleich scharf und zahm, also wird es auch edle Jünglinge von gleicher Natur geben. (375 A—376 A.) Die althellenische Erziehung, das Gleichgewicht der gymnastischen Erziehung für den Leib, der musischen für die Seele, behält Piaton bei. Der Beginn ist das Wichtigste, denn dem jungen und zarten Wesen läßt sich am leichtesten die Prägung aufdrücken. Darum muß den Kindern in Götter- und Heldensage das schönste Lebensbild aufgerichtet werden. Um dieser vornehmsten Aufgabe willen muß Piaton das schönste Gewächs des „wuchernden" Staates, die Dichtung, zumal Homers Gesänge mit einer Strenge beschneiden, die den Ästheten verletzt. Gewalttat und Trug darf das Bild der Götter, Haltlosigkeit und Jammer das der Helden nicht entstellen. (376 E—401 A.) Ein „literarisches" Zeitalter, das sich viel darauf zugute tat, Religion, Kunst, Wissenschaft objektiv und getrennt zu genießen, und sehr empfindlich jederlei ethische Wertungen in der Kunst verfemte, konnte in dieser langen Ausführung einen Angriff gegen die Kunst überhaupt sehen. Was Piaton aber sucht, ist die Lebensnorm, die aus Einer Kraft das Ganze neugebiert, und 217
die Unterscheidungen Religion, Kunst, Wissenschaft haben Platonischer Schöpfung gegenüber etwas Blutloses, fast Komisches. Darum beleuchtet sein Urteil über die Kunst sein Wesen am hellsten. Er sieht — wie Nietzsche — den Lebens- und Kultursinn darin, daß alle ihre Äußerungen von Einem Stile durchdrungen werden. Er tritt der Nation mit dem Anspruch gegenüber, ihr seinen Stil aufzuprägen, nach dem Verfall des freieren homerischen Lebensstils einen strengen, bewußteren Stil zu schaffen. Zwar handelt er weniger dichtend als durch das Denken gesetzgebend, aber dem dichterischen Gestaltungstriebe Homers ist er nicht entfremdet. Dichtung und Religion darf er nicht trennen, denn beide sind eins in seiner Philosophie. Seine Norm, die Idee des agathon, wird auf dieser vorphilosophischen Stufe noch nicht benannt — sie ist dennoch schon gegenwärtig im Bilde der Gottheit. Daher läutert Piaton so streng Homers Götterhimmel: er ist der Schöpfer der neuen Gott-Idee, denn für den menschlichen Sinn ist die Idee des Guten nicht vom Gott zu unterscheiden. Gott ist Urheber alles Guten. (379 C.) Piatons Idee ist das Ewig-Unwandelbare, darum schilt er Homer, daß er sich die Götter in Mensch und Tier verwandeln läßt. Gott ist der Schönste, Beste, Vollkommene. Wenn er sich verwandelte, könnte er sich nur in Schlechteres verwandeln, und das widerspräche dem Wesen des Guten. Gott kann nicht täuschen. Die Mythendichtung muß ja täuschen, aber sie darf nur schön täuschen, sie darf in ihrer Bildersprache die Götter nur schön darstellen. (378.) Diese Lehre ist nicht „moralisierend". Die schlimmste Täuschung, die wesentliche, ist bei Piaton nicht wie bei den Moralisten die Lüge, sondern der Irrtum! Die bewußte Lüge ist äußeres Wort, ist Mittel — der Irrtum aber ist inneres Wort und beherrscht die Seele selbst. Das ist nicht moralisch, nicht kantianisch geurteilt, aber echt philosophisch. Dennoch frönt Piaton nicht der absoluten Wahrheit. Vielleicht sei an der Ursage vom Götterfrevel doch etwas Wahres, meint er, den Blick in die Furchtbarkeit der Natur selbst nicht scheuend, aber der Jugend dürfe man das Geheimnis nicht mitteilen: man müsse es dreifach umhegen. (378 A.) Auch an die Qualen im Hades, mit denen doch im Schlußmythos die Gegner bedroht werden, sollen die Krieger wenig denken, damit ihre Tapferkeit nicht gelähmt werde. (386 B.) Piaton jagt nicht einer absoluten Wahrheit nach, sondern Wahrheit nennt er die lebenfördernde Norm. Diese Gottheit und wandellose Idee wird das geahnte Vorbild der adligen Jünglinge. Die Wandellosigkeit ist der Stern des beharrenden und gegen jedes Schicksal gewappneten Charakters. Darum darf, wie Gott sich nicht verwandelt, der Edle niemals im Schauspiel das Niedere darstellen — es sei denn einmal im Scherz — denn es verdrießt ihn, in die verachteten Formen der Schlechteren einzugehen. (396 D.) Sollte 218
es nicht erst unter Platonischem Einfluß geschehen sein, wenn Goethe in der Pädagogischen Provinz (Wanderj. II 9) zur gleichen Strenge gegen das Schauspielerwesen sich entschließt? Mag der Haß gegen alle parodierende Verzerrung des Edlen auch ihm angeboren gewesen sein, so hatte er doch nicht nur in „Wilhelm Meisters theatralischer Sendung", sondern auch in den „Lehrjahren" die Bühne als sehr wesentliches Erziehungsmoment geschätzt und bis in sein höheres Alter mit ihren Kräften gewirkt. In der menschlichen Sphäre sondert sich das Wesen des Guten in zwei Pole: in das Strenge, Eifrige, Scharfe und das Sanfte, Besonnene, Maßvolle. (Der gleiche Gegensatz, der auch im „Politikos" gilt.) Die Krieger bedürfen beider Elemente, doch deutet jenes mehr auf das Kriegerische, dieses mehr auf das Philosophische und Herrschende des vollkommenen Menschen. Das erste wird gestählt durch Leibesübung, die für sich leicht zur Rauheit, das zweite durch musische Kunst, die für sich leicht zur Weichheit führt. Das Heldenepos ist Bild dieses Ethos. Es soll schlicht erzählend sein, und nur, wo es dies edelste Ethos darstellt, darf es sich zur „direkten" Rede, zur dramatischen Nachahmung erweitern, denn das Vergnügen der Nachahmung, und damit das schauspielerische Deklamieren ist verächtlich. Das heroische Epos fordert ein psalmodierendes Hersagen: In Einer Tonart und in Einem Rhythmos, mit geringen Modulationen soll man hersagen, damit der Vortrag „sich selber nahe bleibt". (397 A, B.) Das gilt auch für Lied und Gesang, denn alle Musenkunst ist beherrscht vom Worte. Nach ihm muß Tonart, Rhythmus, Melodie sich richten. Das Überwiegen der Harmonik und Tonfarben, also was wir heute Musik nennen, ist verboten, nur die Saiteninstrumente Kithara und Lyra sind erlaubt, die bescheiden dem Gesänge dienen, und nur für die Hirten die Syrinx. Das ist keine Geringschätzung der Musik, sondern die Anerkennung ihrer unerhörten Gewalt. Piaton erinnert, daß die Gesetze für Harmonie und Rhythmos nicht verändert werden können, ohne die Verfassung des Staates zu verändern! Darum muß die Musik dem Worte dienen, wie der Lebensstil der Idee! — Die Zahl der Tongeschlechter wird beschränkt. Von den sechs Tongeschlechtern werden nur zwei als Ausdruck des starken adligen Lebens geduldet: das dorische als Ausdruck der männlichen kämpfenden Haltung, das phrygische als Ausdruck der besonnenen maßvollen Haltung. (398 C bis 400 A.) Piaton fühlt den Zauber großer Dichtung selbst noch in der Vermittlung des Schauspielertums, aber er verbannt das Unechte um des Echten willen. „Also wenn ein Mann, der durch seine Kunst alles und alle Dinge n a c h a h m e n kann, in unseren Staat käme, um sich selbst und seine Dichtungen zur Schau zu stellen, so würden wir ihn kniefällig verehren als einen Heiligen, Wunderbaren, Süßen, aber doch sagen, daß es solchen Mann in unserem Staate nicht gebe noch geben 219
dürfe, und nachdem wir Salböl über sein Haupt gegossen und es mit Binden bekränzt hätten, würden wir ihn in einen anderen Staat geleiten, wir selbst aber würden mit strengerem und herberem Dichter und Sagenerzähler umgehen, um des Wohles willen, der uns die Rede des Gebührlichen nachahmt und das Gesagte in jenen Formen sagt, die wir im Anfang zum Gesetz machten, als wir Hand an die Erziehung der Krieger legten." (398 A, B.) Mit dieser Verweisung meint Piaton nicht die großen Dichter der Vergangenheit, sondern die gegenwärtigen Verwandlungsvirtuosen wie Jon. Er will die Homerische Dichtung auf das beschränken, was auch zu seiner Zeit noch aufbauende Kraft ist, er will das ausschalten, was in der veränderten Gesellschaft nur noch als „literarisch" genossen wird. Es ist die Poikilia, die Verwirrung der wuchernden Kultur, die Piaton ausrotten will. Er will der Zeit einen Typos — welches Wort hier oft wiederkehrt — seinen Stempel, seinen reinen Stil aufprägen im Geistigen und Körperlichen. Wir staunen, wie klar sich Piaton dieses Wollens bewußt ist. Aus dem Ethos folgt alles Edle in Geist und Körper. Plötzlich aber ist nicht mehr von Dichtung, sondern von Baukunst und allen bildenden Künsten die Rede. Architekten und Künstler, die Boshaftes, Zuchtloses, Kleinliches, Haltloses in ihren Werken darstellen, werden verbannt. (400 D—401 A.) Piatons Leidenschaft bricht durch: die Formung der schönen Jünglinge. Plötzlich ist sein Staat nichts als frisches Weideland und reine Hochgebirgsluft für die jungen Seelen. (401 C.) Die Seele des Staates offenbart sich — unvermittelt für den rationalen Verstand — als Eros zu schönen Jünglingen. Erst in der Schönheit erfüllt sich der Sinn von Notwendigkeit und Nutzen, von denen anfangs die Rede war. Nun wird der Wert der Musik erkannt. Rhythmos und Harmonie folgen dem Logos, aber sie dringen schon dem Kinde tief ins Innerste der Seele, so daß schon vor dem Verständnis des Wortes Leib und Geist zugleich von edlem Ethos geformt werden. So bewirkt „diese herrliche Tugend der Musenkunst" schon im Kinde, daß es später das Schöne als verwandt empfindet, das Häßliche ablehnt (401 D—402 A). Das Schönste aber ist zugleich das Liebenswerteste: der Mensch, dessen Leib so schön ist wie seine Seele. Diese Liebe ist gefährdet durch geschlechtliche Lust. Aus staatlicher Notwendigkeit, nicht aus Moral, erläßt Piaton das „strenge Gesetz", es dürfe der Liebende zwar mit dem Liebling umgehen, ihn anfassen und küssen wie der Vater den Sohn „um des Schönen willen", aber niemals dürfe der Schein entstehen, daß er diese Grenze überschreiten wolle. Sonst treffe ihn der Tadel, unkundig der Schönheit und unmusisch zu sein. — Daß damit die Seele des Staates bezeichnet ist, beweist das Schlußwort über die geistige Erziehung: „Muß einmal doch das Musische sich erfüllen in der Liebe zur Schönheit." (403 C.) 220
Nur ganz kurz behandelt Piaton neben der musischen die körperliche Erziehung. Wahrer Mann heißt für ihn auch Kämpfer sein, darum ist die Erziehung hart und kriegerisch, aber unharmonische Ausbildung zu übersteigerter Sportleistung lehnt Piaton mit Verachtung ab. In der Lebensweise prägt sich der strenge Stil wie in der Dichtung. Vegetarische Kost jenes „Schweinestaates" ist für die Krieger als Vorbild ungenügend. Eher kann die Kost der homerischen Krieger als Vorbild dienen: Fleisch braten sie am Spieß, während das umständliche Kochen verboten ist. Weiter sind verboten Trunkenheit, Gewürze, syrakusische Schwelgereien, korinthische Dirnen und attische Semmeln (403 E bis 404 D). Diese scherzhafte Kürze genügt für das Körperliche — berichtigt sich doch Piaton sogleich, daß die richtige Körperbildung von selbst aus der richtigen Bildung der Seele folge. Trotz seiner Seelenwanderungslehre erkennt er für das irdische Leben die Sonderung von Leib und Seele nicht an — sehr bedeutsam für den Sinn seiner Lehre! Entschieden lehnt er die naturalistische Lehre (das mißverstandene „mens sana in corpore sano") ab. Einige orphische Anklänge dürfen uns nicht in der Erkenntnis beirren, daß für Piaton die Seele nicht „im" Körper stecken kann — sie ist die Kraft, die den Leib, als ihr Organ, ergreift, formt, regiert, und im Leben sind Leib und Seele Eins. (403 D.) Darum behandelt Piaton die falsche geistige und leibliche Lebensweise gemeinsam. Der Ungebildete findet die Gerechtigkeit nicht in sich und sucht sie beim Richter, darum wuchert die Zahl der Richter und Anwälte. Schwelgerisches Leben fördert die Krankheiten, so daß der wuchernde Staat viele Ärzte heischt. Piatons Staat erlaubt nur wenige Richter und Ärzte. Piaton sieht, daß kranke Handwerker, denen der Arzt langwierige Kuren verordnet, dazu keine Zeit haben. Sie gehen sogleich wieder an die Arbeit und werden von selbst gesund, oder sie sterben eben. Das lobt Piaton, und er macht sie zum Vorbild der Reichen: Auch diese sollen nicht ewig kuren, denn wer nicht seinem Werke leben kann, hat kein Daseinsrecht im Staate. Also wird Gesetz, daß der Arzt nur die an Leib und Seele Wohlgeratenen pflegen darf, die leiblich Mißratenen und die Unheilbaren aber sterben lassen muß, während der Richter die geistig Mißratenen tötet. (410 A.) Der Tod ist für Piaton kein Übel, die Todesstrafe eine milde Strafe. Hat er doch selbst wegen der Hinrichtung des Sokrates nur wenig gehadert. Weil das Leben schön und stark ist, wenn es frei von Todesfurcht bleibt, hat er so dringlich die Ewigkeit der Seele gelehrt. Wichtiger als Heilkunst ist Gymnastik und gesunde Lebensweise. Bewußt und instinktiv ist aber diese „Hygiene" Piatons, wie in Sparta, Eugenik, und er erinnert schon hier, daß von den Mißratenen auch mißratene Nachkommen zu erwarten sind. (402 D.) Der Körper ist durch die Seele bestimmt — aber auch umgekehrt: der Zweck körperlicher Übungen ist nicht der Körper, sondern die Seele, 221
wie die Leibesübungen den Mut steigern sollen! So vollendet sich der Gedanke der Leib-Seele-Einheit. Wer allein in Leibesübungen erzogen wird, der wird wohl mutig, dann aber, wenn er amusisch bleibt, wird er wild, rauh, tyrannisch, denn ihm fehlt die Gabe des gewinnenden Wortes. Wer aber allein musisch oder — fast gleichbedeutend — philosophisch erzogen wird, der ist in Gefahr, weich und zahm zu werden. Der Künstler der Erziehung, der Herrscher, verbindet musische und leibliche Bildung zur harmonischen Bindung: besonnen und tapfer. Aber die unharmonische Mischung ist: feig und roh. (410 B—412 A.) „Wer also am schönsten mit der musischen die Leibeskunst mischt und im richtigen Maße auf die Seele überträgt, den werden wir mit größtem Recht einen Vollendet-Musischen und einen Ganz-Harmonischen nennen, weit mehr als den, der die Saiten stimmt." Das ist im Umriß die Erziehung der Krieger, die wahre Erziehung. Wo aber sind die Herrscher? — Sie werden erlesen aus dem Kreise der Krieger, nachdem sie sich bewährt haben als Knabe, als Jüngling, als Mann durch unwandelbaren Eifer für den Staat und beharrlichen Charakter. Wenn Piaton bisher die Krieger auch als Wächter des Staates, als Phylakes bezeichnet, so will er nun diesen Namen auf die Herrscher beschränken und die übrigen Krieger als Helfer, Epikuroi bezeichnen. Die Benennung der drei Platonischen Stände als Nährstand, Wehrstand, Lehrstand ist nicht ganz treffend. Es ist das Volk der Bauern und Handwerker da, ohne Rechte, ohne Erziehung. Dann die Adelskaste, die ein Heer von etwa 1000 Kriegern stellt. Dagegen bilden die Herrschenden kaum eine eigene Kaste: erst im fünfzigsten Jahr werden sie aus der Kriegerkaste erlesen. Sie sind Archonten, Beamte, die ihr Amt periodisch versehen. Vom wahren Herrscher und Gründer des Staates redet Piaton nicht, denn er ist leibhaft dargestellt in Sokrates: Sokrates-Platon erfindet den heiligen Gründungsmythos, auf dem der Glaube an die Verfassung ruhen soll. Piaton verkennt nicht die große Gefahr, daß der Adel alle staatliche Macht, das waffenlose Volk keine besitzt. Seine Lösung erinnert in mancher Beziehung an die von der katholischen Weltordnung verwirklichten Formen. Dem Adel ist individuelles Eigentum verwehrt, und das Volk muß die Mittel für dessen gemeinsame Lebenshaltung schaffen. Geld ist durch den Handelsverkehr beschmutzt, und die reinen Hände der Wächter dürfen es nicht berühren. Wer Haus und Gut besitzt, fühlt sich als dessen Verwalter, die Wächter aber stellen die Staatsidee in ihrer Reinheit dar, sie leben allein ihrer Aufgabe und Leidenschaft: dem Staat. (419—421.) An ihr Werk, an das Glück der Gesamtheit sollen sie denken, nicht an ihr persönliches Glück — ob sie nicht gerade darum am glücklichsten leben, diese Frage wird aufgeschoben. Wie schwer, die Erwerbenden zum Verzicht auf die Macht, die Mächtigen zum Verzicht auf das Eigentum zu bewegen! Piaton weiß, nur der 222
persönliche Glaube, nicht voraussetzungslose Wissenschaft gründet Staaten. Nicht im Begriff, nur im Mythos offenbart sich das höchste Wissen, der den Weisen als Gleichnis, dem Volk als schlichte Wahrheit gelten soll. Glaukon stimmt zu, daß nicht das gegenwärtige Geschlecht, wohl aber das folgende die Kraft zu diesem Glauben haben kann (415 D). Es ist die gleiche Lehre, die der junge Nietzsche aufnimmt, um einer verdorrenden Zeit entgegenzutreten: „Ohne Mythos geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab . . . Die Bilder des Mythos müssen die unbemerkt allgegenwärtigen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen sich der Mann sein Leben und seine Kämpfe deutet; und selbst der Staat kennt keine mächtigeren ungeschriebenen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt." Piatons heiliger Mythos lehrt: Aufzucht und Erziehung, welche die Männer erlebt haben, seien nur ein Traum gewesen. Wirklich seien sie unter der Erde aufgewachsen, ausgebildet mit allen Waffen und Geräten, und dann ans Licht gestiegen. Die vier Geschlechter sind bestimmt durch den Stoff, aus dem sie gebildet sind: Den Herrschern ist Gold beigemischt, den Kriegern Silber, den Handwerkern Kupfer, den Bauern Eisen. So sollen sie eingedenk sein, daß sie erdgeborene Brüder sind, aber zugleich, daß durch die natürliche Vererbung der Unterschied dieser Geschlechter festgelegt ist. Denn die Herrscher erzeugen Herrscher, die Krieger wieder Krieger und so die Handwerker und Bauern. Ein Gesetz gilt unwandelbar und soll — eine dumpfe Warnung vor Demagogen und Tyrannen — als Orakel bewahrt werden: „ d a ß d e r S t a a t untergehen muß, wenn ihn ein e i s e r n e r oder k u p f e r n e r W ä c h t e r b e w a c h t ! " (415 C.) . . . Piaton schaut zurück, denn das Bild des Staates ist entworfen. Sinn von Mensch und Staat ist, im Gegensatz zum zersetzten Athen, ganz Eins und ein Ganzes zu sein, im Einzelgebilde das All, das Parmenideische £v xao ruav, darstellen. Piaton sagt dies Wort nicht, aber seine Gedanken umkreisen es. Der Staat darf darum nicht größer werden, als daß er durchaus noch eine Einheit bleiben kann, jeder Bürger nur das Eine Werk treiben, zu dem er geboren ist, damit er selber Einer bleibt und nicht vielspältig wird. (423 C, D.) Welch Gegensatz zur modernen „Arbeitsteilung". Piaton verlangt selbst für Bauern und Handwerker die Einheitlichkeit ihres Berufes, damit sie ganze und runde Menschen bleiben. Je höher aber der Menschenwert, um so weniger wird der Beruf „spezialisiert". Die Krieger sind Abbilder des Staatswesens, die Philosophen-Herrscher aber im Geiste Träger des Weltganzen, in dessen Sinne sie den Staat ordnen und führen. 223
Piatons Staat ist ein hellenischer Kleinstaat ohne äußeres Reich. Aber die Ganzheit der Nation hat er darum nicht vergessen: sie ist vertreten durch den Apoll in Delphi, von dem die größten und schönsten Satzungen ausgehen müssen. Piaton knüpft an diese heilige Tradition von Hellas an, den Mittelpunkt von Großgriechenland, aber man spürt aus der Kürze der Erwähnung, daß er selbst wenig Hoffnung auf sie setzt. (427 B.) Er will den Rest des Heiligen nicht antasten, aber das künftige Delphi der Nation ist für ihn die Akademie. — „Gegründet wäre somit der Staat!" bekennt Sokrates stolz (427 D). Gerechtigkeit, nicht Staat, war Aufgabe des Gespräches. Wenn aber der Staat vollkommen gut ist, so muß er die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit in sich tragen. (Die auch genannte fünfte Tugend Frömmigkeit hat Piaton, der irdisch Gesonnene, in die Gerechtigkeit aufgehen lassen.) Daß dieser lebendige Zusammenhang der vier Tugenden den Hellenen schlechthin überzeugend ist, mag man sich so vergegenwärtigen: Gerechtigkeit ist die Kunst richtigen Handelns, also die Arete schlechthin. Um richtig zu handeln, bedarf es der Erkenntnis des Zieles, der Weisheit. Aber auch den Wissenden verwirrt Gefahr und selbstsüchtige Furcht. Darum bedarf er des Mutes, der Mannhaftigkeit. Aber dauernd lenken sinnliche Begierden von Ziel und Gesetz ab: darum bedarf es viertens der Besonnenheit, um die Seele dem Gebot der Weisheit zu öffnen. Danach begreift man, wie Piaton die drei Seelenvermögen und die drei Stände im Staate als gleichen Wesens erkennt. Leicht sind in der menschlichen Seele zu scheiden die beiden Pole des Geistigen, Denkenden — und des Begehrlichen (zugleich Affekt- und Gefühlsmäßigen). Aber diese anerkannte klare Trennung befriedigt Piaton nicht: denn wie wäre nach der scharfen, moderner Wissenschaft so beliebten Trennung die lebendige Einheit möglich? Platonisch ist der Begriff eines Mittleren, Verbindenden „Thymoeides", das Mut und Zorn umfaßt. Wir nennen es „Eifer". Das Begehrliche ist das Dumpf-Triebhafte, die niedere Sinnlichkeit, die den Geist befehdet, seine Herrschaft bedroht. Der Eifer aber ist der Wille im höheren Sinn, der dem Geiste dient, ihn schützt, sich „begeistern" läßt. So vergleicht Piaton den Geist mit dem Hirten, den Eifer mit dessen Hunden, die Begierden mit der Herde (oder wildem Getier). Ungezwungen ist damit der Vergleich von Einzelseele und Staat gegeben: Der Geist ist der Herrscherstand, der Eifer der Kriegerstand, das Begehrliche das Volk. Das ist keine leere Analogie. Wirklich ist die Tugend im Staat nur, weil sie im Einzelnen wirkt, und wirklich ist sie im Einzelnen nur, weil er in der menschlichen Gemeinschaft wirkt. Nicht der Vergleich, sondern die Vermählung des Einzelnen mit dem Staat ist das PlatonischWesentliche. Die Weisheit ist bei den Herrschern, aber wenn die seltenen Weisen herrschen, wenn Krieger und Volk ihnen gehorchen, wird 224
durch sie der Staat als Ganzes weise. Wenn die Krieger (die Herrscher gehören zu ihnen) tapfer sind, ist der Staat als Ganzes tapfer. Die dritte Tugend, die Besonnenheit, besteht darin, daß das Geringere im Menschen dem Besseren, dem Geist dient (442 C, D), aber so schematisch denkt Piaton nicht, daß er nun die dritte Tugend einfach dem dritten Stand zuteilt. Dieser soll gehorsam sein und damit eine Seite der Besonnenheit darstellen, aber da ihm die Weisheit fehlt, kann er in sich selbst die Sophrosyne nicht ganz verwirklichen. Das vermag erst das Zusammenwirken von Herrscher und Volk: die Wirklichkeit im gegenseitigen Bewirken, in der Ganzheit zu erkennen . . . Zu diesem Zweck hat Piaton von jenen drei Tugenden gesprochen, ehe er auf die Gerechtigkeit selbst kommt. Denn sie trägt am stärksten dies Gepräge der Ganzheit. Gerechtigkeit heißt, daß jeder das Seine tut, zu dem er geboren ist und das der Staat von ihm verlangt. (433 A.) Zwar erkennt allein der Weise Aufgabe und Bild des wahren Staates und in ihm den Sinn der Gerechtigkeit und verwirklicht sie wahrhaft erst durch Herrschaft. Träger der höchsten Arete sind nur Philosophenkönige. In ihrem Dienst aber, als Organe im staatlichen Zusammenhang, stellen die andern Stände die Bilder der Arete dar. Nur so ergibt sich ein einheitlicher Sinn dieses Teiles. Unverhüllt spricht ihn Piaton nicht aus, um nicht das in Freiheit schwelgende Volk zurückzustoßen, solange er selbst noch auf die Herrschaft hofft. Daß aber die Gerechtigkeit im Weisen beruht, zeigt sich darin, daß die Herrscher zugleich Richter sind. Und wie Piatons Philosophie dynamisch, nicht statisch zu verstehen sei, sagt jener erleuchtende Satz: „Suchst du nach etwas anderem, was die Gerechtigkeit sei, als dieser Kraft (Dynamis), welche solche Männer und Staaten schafft?" (443 B.) Und wenig später erklärt er, die Erzeugung der Gerechtigkeit bestehe darin, die Teile der Seele in die Lage zu bringen, daß sie sich der Natur gemäß untereinander beherrschen und beherrscht werden. (444 D.) Gerechtigkeit ist also die staatschaffende Kraft — und wer anders ist dieser Schöpfer als Piaton selbst und in diesem Augenblick?! Im christlichen: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen", kann sich solches Wollen von Staat und Volk ablösen. Weder die weltflüchtige Sehnsucht noch das Bedürfnis nach zeitloser logischer Definition ist in Piaton gegeben. Er will Anderes: er weckt in der Jugend ein neues Lebensgefühl, den Glauben an diese Platonische Gerechtigkeit, so daß ihr ein Leben ohne sie schal und gemein erscheint. IV. Der Schluß des IV. Buches endet das erste Drittel des Hauptgespräches. Der Staat ist gegründet als Bild der Gerechtigkeit, die eigentliche Aufgabe scheint erfüllt, und mit verdächtiger Eile drängt Sokrates, den Verfall des Staates als Ausdruck und Folge der Ungerechtigkeit darzustellen. Vergebens, die Hörer halten ihn auf mit scherz15 Hildebrandt, Piaton
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hafter Gewalt. Das betont den Übergang zum zweiten Hauptteil dramatisch. Die Hörer erinnern, daß Sokrates eine Andeutung auf Frauenund Kindergemeinschaft fallen ließ, und verlangen Ausführung dieses wichtigen Kapitels. Selbst Thrasymadios kommt noch einmal zu Worte . . . wir merken, daß wir nicht in der Akademie, sondern im Hause des Polemarchos sind, wir werden erinnert an das, was jene über dem Mythos der Staatgründung vergessen: Bendis-Feier und Fackelzug. Damit verschiebt Piaton die Darstellung des ungerechten Staates in den III. Hauptteil und fügt nun als Mitte und Krönung den II. Hauptteil ein (Buch V, VI, VII), der den Staat unter die schöpferische Idee des Guten stellt. Bezogen auf Piatons irdische Sendung ist diese philosophische Begründung des Staates und der Erziehung das entscheidende Wort im Lebenswerk. Aber diesem wesentlichen Stück des „Idealismus" hat Piaton noch einen Abschnitt vorgesetzt, der von Weib, Kind, Krieg und Nationalpolitik handelt und dessen Vereinigung mit jenem wegen seiner Betonung der Zuchtwahl bis zur Berufung auf die Viehzucht den Verehrern des Idealismus unbegreiflich bleibt. (V. 1—16.) Aber wie Platonisch ist diese Bindung der Gegensätze! Nachdem Wesen und Heil des Staates als seine Einheit und Ganzheit erwiesen sind, soll nun im philosophischen Teil „die Sonne" der Idee als Ursache dieser Einheit aufgehen, aber zuvor muß der Staat ganz leibliche und bluthafte Einheit geworden sein. Dies wunderbare Gleichgewicht von Blut und Geist, Leib und Seele ist Piatons Eigenstes. Da nicht das ganze Volk so eins werden kann, so ist es der staatliche Stand, der Adel, der in unerhörtem Grade zur Familie, ja zur Person zusammenwächst. Die Einheit von Wohnung und Speisung ist schon gefordert: die folgenden 16 Kapitel, scheinbar willkürlich zusammengereiht, fügen sich zusammen unter dem Begriff: Einheit des Blutes. „Der Staat soll somit Einem Menschen so nah als möglich kommen. So wie, wenn einem von uns ein Finger verletzt wird, die ganze Gemeinschaft es wahrnimmt, die sich über den Leib bis zur Seele hin auf die eine Verfassung des in ihr Herrschenden erstreckt, und sie ganz in ihrer Gesamtheit die Schmerzen des leidenden Teiles mitempfindet . . . Widerfährt also einem der Bürger irgend etwas Gutes oder Übles, so wird solcher Staat am ehesten sagen, es sei s e i n Geschick, und er wird sich in seiner Ganzheit mitfreuen oder mitbetrüben." (462 CD) Piatons radikales Mittel, diese Einheit zu erzwingen, ist das Verbot der Einzelfamilie. Der Adel in seiner Gesamtheit bildet Eine Familie, eine Zeugungs- und Blutgemeinschaft. Die Eltern kennen nicht ihre Kinder, die den Müttern sogleich abgenommen und der gemeinsamen Erziehung zugeführt werden. Sie betrachten alle adligen Kinder als ihre eigenen. Da alle Muttermühen den Frauen abgenommen sind, würden ihre Kräfte brachliegen. Aber Piaton glaubt, daß die weibliche Natur zu allen männlichen Leistungen befähigt sei, wenn auch zu jeder in gerin226
gerem Grade. Die adlige Frau wird in Gymnastik und Dichtung, zu Amt und Krieg ebenso erzogen wie der Mann. Der Spott über nackt turnende Frauen kümmert ihn nicht. Vor nicht langer Zeit sei es den Hellenen, wie jetzt noch den Barbaren, häßlich und lächerlich erschienen, als zuerst die Kreter, dann die Lakedaimonier sich bei den Wettspielen nackt sehen ließen. Damals durfte man spotten — heute ist erwiesen, daß diese Entkleidung gut und daß lächerlich ist, wer im Ringen um das Schöne einen anderen Maßstab anerkennt als das Gute. (442 A, 457 A.) Piaton rügt so scharf die trägen Verhöhner alles Neuen, weil er ahnt, daß an diesem dumpfen Widerstande seine Gründung scheitert. Wie ist Piaton dem Weibe gegenüber gesonnen? Soll auch die Frau herrschen? — Nur wenige Könige sind als Herrscher gedacht, und wenn das Weib an Fähigkeit zurücksteht, wird es schwerlich diese höchste Stufe ersteigen. Und andererseits ist in den adligen Frauen 'das Weibliche unterdrückt: sie sind Amazonen, sind schwächere Männer. Der wahre Geliebte des Adels bleibt der Jüngling, er ist Träger der Schönheit, die andere Stämme nur an der Frau suchen. Das Leben der Adelskaste ist Leibwerdung des männlichen Geistes. Und doch ist Piaton nicht weibfeindlich. Vor dem Staat, im Gastmahl, Diotima! Nach dem Staat, im Phaidros, Sappho! Wo Piaton das volle kosmisch-geistige Leben lebt, da will er im männlichen Kreise die Frau, ganz weiblich und doch höchst geistig, nicht entbehren. Aber als adligen Träger im bestimmten Staat, als Sondergruppe, die seine Sendung verwirklicht, will er nur den Mann und das männlich erzogene Weib. Nach staatlicher Notwendigkeit, nicht nach Piatons Geschmack wäre hier zu fragen! Diese Einheit der Adelsfamilie dient zugleich schärfster Zuchtwahl. Piaton ist, nach dem Vorbilde Spartas, geistiger Gründer der „Eugenik". Junge Völker besitzen Instinkt für die Notwendigkeit der Zuchtwahl, der im Zeitalter des Handels und Verkehrs zu schwinden pflegt. Doch braucht kaum gesagt zu werden, daß Piatons Gesinnung mit Rassenwahn und Rassenhaß nichts zu tun hat, aber er hält es für vornehm, bei Gründung einer Familie nicht chaotischen Trieben zu folgen, sondern der Verantwortung für edle Nachkommenschaft bewußt zu sein. Die am Ende des 19. Jahrhunderts von den angelsächsischen Völkern sich ausbreitende eugenische Bewegung brachte gewiß die Gefahr, das Seelische und Geistige über dem Rein-Biologischen zu vergessen, so daß man ihr entgegenhielt, der Geist habe nichts mit der Viehzucht gemein. Piaton aber, der große Führer des „Idealismus" beruft sich unbefangen auf die Viehzucht. Heilig sind ihm die „nützlichen" Gebräuche (458 E). Wie unter rassigen Hunden (gennaios, das bedeutet für die Bürger „adlig") zur Zucht immer die besten erlesen werden müssen (459 A), so kann die Menschenart nur auf der Höhe bleiben, wenn dauernd die Fortpflanzung der Besten gefördert, der Entarteten gehemmt wird. Für Piaton war die Leib-Seele-Geist-Einheit noch nicht 15*
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zersetzt, und Träger der ewigen Seele war das Edle Tier. Auffallend bleibt dagegen, daß er die Lehren der Tierzucht zu einseitig verwendet: Er betont stark die Inzucht, die Reinheit des Stammes und beachtet wenig, daß Inzucht und Kreuzung sich dauernd ergänzen müssen. Nicht das mindeste hat sein utopisches Gesetz, schlecht und grob als „Weibergemeinschaft" bezeichnet, mit „freier Liebe" zu tun, denn die Zeugung ist streng dem heiligen Gesetz der Eugenik unterworfen. Die „Hochzeiten" — kurze Verbindungen, mit heiligen Riten gefeiert — werden von den Herrschern geregelt, denen für diese wichtigste Aufgabe des Staates der heilige Betrug erlaubt ist: sie bestimmen zum Schein durchs Los, wirklich nach dem Gesetz der Zuchtwahl die Hochzeiten. Edle sollen oft mit Edlen, Schlechte selten mit Schlechten zeugen. Wohl läßt man auch Schlechte mit Schlechten zeugen, aber ihre Nachkommen läßt man, ohne Wissen der Eltern, umkommen: ein grausames Mittel, das vielleicht gemildert erscheint durch Aufhebung der Einzelfamilie. So muß es geschehen „wenn anders die Herde auf dem Gipfel bleiben soll". (459 E.) Doch gelten diese Regeln — Platonisch maßvoll — nicht in ägyptischer Starrheit, weder als Natur- noch als Staatsgesetz. Schlechte Nachkommen des Adels sind dem Volke, edle Nachkommen des Volkes dem Adel zuzuführen. Weder darf der Adel in Sicherheit des Erbes erschlaffen, noch das Volk in Hoffnungslosigkeit verbittern. Die Kriegführung ist Ausdruck der Einheit dieser Adelfamilie. Vorn in der Schlacht kämpfen Männer und Frauen, während die Kinder, auf schnellen Pferden beritten, als Zuschauer teilnehmen. Den Sieger kränzen die Epheben, und kein Jüngling und kein Mädchen darf ihm den Kuß weigern. Dann sorgen die Herrscher, daß ihm die meisten Hochzeiten durchs Los zufallen. (468.) Auch im Fragwürdigen ist Piatons Folgerichtigkeit, seine Zielstrebigkeit im Blick aufs gesamte Leben erstaunlich: Sinn des Staates ist Züchtung edler Menschen. Was zusammenhanglos zu folgen scheint, eint sich unter dem Begriff „bluthafte Einheit". Piatons Staat ist klein, damit der Adel eine wirkliche Familie bilden kann (anscheinend besteht diese nur aus mehreren Tausenden), er ist nur denkbar als Glied der ganzen Nation, des hellenischen „Genos" (469 B), ohne welche Einheit die Hellenen Knechte der Barbaren würden. Piaton prägt zum ersten Male den Begriff „Nation" scharf aus. Stammesverwandtschaft wird vorausgesetzt, ohne streng bewiesen oder gefordert zu werden. Innerhalb der Nation darf es keine Kriege geben, nur Bruderzwiste. Hellenen dürfen sich nur bekämpfen als solche, welche die spätere Freundschaft nicht vergiften. Kein Hellene darf Hellenen einzeln versklaven oder als Staat entrechten. Gefallene müssen, nach Abnahme allein der Waffen, unversehrt zur Beerdigung ausgeliefert werden. Waffen der besiegten Hellenen dürfen nicht in Tempeln als Trophäen aufgestellt werden. Man darf nicht plündern und zerstören, die Fruchtbäume des Gegners nicht abschlagen, son228
dem nur abernten (469 B—471 C). „Denn der hellenische Stamm ist mit sich selber vertraut und blutsverwandt, dem barbarischen aber fremd und abgeneigt." (470 C.) Niemals war bisher so dringlich Friede und Freundschaft für alle hellenischen Stämme gefordert. So wäre der Traum erfüllt, die Nation zur Einheit, zum Leibe geworden. Für Piaton wäre damit noch nichts geschehen: dieser Leib hat nur Sinn, wenn ihn die göttliche Idee beseelt: das ist die Forderung der „Politeia", ist Piatons irdische Sendung. Die Idee ist Krönung des Staates und zugleich das Mittel, ihn zu verwirklichen. Es ist Adeimant, der eifrig und zweifelnd die Frage stellt, ob solches Staatsbild zu verwirklichen sei?! Das ist der Einwand der Jahrtausende, welche die Politeia eine Utopie nannten. Wie lastend muß der Realist Piaton diesen Einwand gefühlt haben, wenn er, von vielen andern Hinweisen abgesehen, jetzt seiner Widerlegung 18 Kapitel widmet. (473 E— 502 D). Er sucht den Punkt in den bestehenden Staaten, von dem aus mit der geringsten Veränderung der wahre Staat zu schaffen wäre. Das führt endlich nach langer Spannung zum Hauptsatz, in dem Idee wie Verwirklichung des Staates wurzeln: dem Satz, daß die Philosophen Herrscher, oder die Herrscher Philosophen werden müssen. (473 D.) Das ist der Satz, den die dritte Woge von Schmach und Gelächter überbranden wird, wie Sokrates fürchtet. Und Adeimant bestätigt, daß Viele und nicht die Schlechtesten gleichsam die Kleider abwerfen und mit der ersten besten Waffe auf ihn losstürmen werden. Wie eifrig stellt sich Piaton durch diese Widerstände als den „Unzeitgemäßen", den Kämpfer gegen sein Zeitalter dar, den man nicht lesen, sondern lieben oder hassen muß. Platonischer Philosoph wird nur der von Natur vor allen Ausgezeichnete. Er ist nicht der abstrakt Forschende, sondern der Schaubegierige, der philotheamon. Äußerster Gegensatz sind die im oberflächlichen Sinn Hörbegierigen, die auf allen musikalischen Veranstaltungen der neuen Mode herumlaufen, als ob sie ihre Ohren vermietet hätten. (475 D—476 C.) Kein größerer Irrtum, als daß Piaton den Blick ablenken will von der irdischen Welt: er lehrt die Dinge betrachten und sie richtig erkennen, indem man in ihnen die ewigen wirkenden Kräfte erkennt. Darum heischt die Erziehung höchste Welterfahrung in Amt und Krieg. (484 D.) Erfahrung und transzendentale Erkenntnis ist im Philosophen ungeschieden, und alle Kleinigkeitsrechnerei ist seiner Seele zuwider, die nach dem Allganzen strebt im Göttlichen wie im Menschlichen. (486 A.) Da er das Weltganze sieht, verliert der Tod den Schrecken für den Tapferen . . . da er nicht gierig ist, ist er gerecht, milde, besonnen . . . er muß leicht lernen und schwer vergessen: also ist er die maßvolle und anmutige Natur. (486 B—E.) Daß solcher Philosoph der geborene Herrscher ist, gibt auch Adeimant zu. Aber 229
noch beunruhigt ihn die allgemeine Erfahrung, daß die meisten, die über die Jugendzeit hinaus philosophieren, verderben, während selbst die Besten für den Staat unbrauchbar werden. Gegen diesen großen Einwand hat Piaton schon im „Gorgias" seine ganze Kraft aufgeboten. Er eröffnet die Verteidigung damit, daß er dem Gegner — recht gibt. Zuerst: auch der gelungene Philosoph ist — wie Sokrates selbst — im Staate unbrauchbar! Piaton deutet diese Tatsache im Gleichnis. Der Staat ist ein Schiff auf der Fahrt, aber der Eigentümer (das souveräne Volk) ist halbblöde. Die Schiffer streiten sich um das Amt des Steuermannes, obwohl sie diese Kunst nicht gelernt haben und gar nicht für lehrbar halten. Sie umschmeicheln den Schiffseigentümer und nennen den einen tüchtigen Steuermann, der jenen am besten überredet, den wahren Steuermann aber, der nach den Sternbildern schaut, einen Sterngucker und Schwätzer. Wenn auf solchem Schiff der wahre Steuermann das Steuer nicht führt, wenn er „unbrauchbar" ist, so ist es nicht seine Schuld. Denn nicht der Weise soll das Volk bitten, daß er es führen darf, sondern das Volk soll zum Weisen kommen und ihn um die Führung bitten. Ein echt Platonisches Bild. Der Lauf der Sterne ist für Piaton das Gesetz des Weltganzen, aus dessen Schau er die Norm für das Leben empfängt. Aber diese Sternschau verdrängt nicht die Schau des irdischen Lebens. Der Steuermann muß alles zur Kunst Gehörige, auch Menschen, Winde, Land und See kennen — der Blick auf den Polarstern, die Idee des Guten, nur sichert die Findung der Bahn. (488, 489.) Unbrauchbar also ist Sokrates-Platon nur im schlechten Staate. — Aber warum verdirbt die philosophische Natur so oft im Staate? Piaton denkt an Alkibiades. Es ist eine der wichtigsten Rückverweisungen in Piatons Werk, daß er die Philosophennatur in der kühlen Luft des Staates, hier in der Mitte des Buches, verwebt mit dem Rausche der Diotima-Rede, mit dem geistigen Eros, dem Zeugungs-Augenblick des Philosophen, der die Idee umarmt. Daß bei dieser Verwebung im Gastmahl gerade das Wirkende, Staatliche, im Staate das Erkennende betont wird, schließt die beiden Werke als aufeinander bezogene, sich ergänzende um so inniger zusammen. (490 B.) Je stärker Pflanze oder Tier von Natur sind, um so stärker entfalten sich auf falschem Boden ihre Fehler. Kein größerer Feind der Mittelmäßigkeit als Piaton! „Oder glaubst du, daß die großen Untaten und die äußerste Bosheit aus einer gemeinen Anlage entstehen und nicht vielmehr aus einer feurigen, aber in ihrer Aufzucht verdorbenen Natur, daß aber eine schwache Natur weder im Guten weder im Bösen jemals etwas Großes bewirken wird?" (491 D, E.) Das Gericht über die Sophisten im Gorgias wird hier zum Gerichtstag über Athen. Nicht der Rede wert, wenn einige Sophisten einige Jünglinge verderben. Aber das Volk Athens verderbe die philosophische Natur und alle Jugend über230
haupt. Wer kann sich wehren gegen den Einfluß seiner gesamten menschlichen Umgebung? Nur einem ist es gelungen, weil der Gott ihm beistand: Sokrates-Platon! (492.) Für die großartig-philosophische, aber dennoch in demagogischer Luft in Parteipolitik verdorbene Natur ist Alkibiades das Beispiel. Wie verführerisch ist der dröhnende Widerhall des Lobes der Volksmenge, wie erschütternd die Beschimpfung, ja Todesgefahr für den widerstrebenden Jüngling. Seltsame Lage! Die Sophisten sind es ja, die vom Volk gehaßt und verachtet werden. Aber Piaton verschmäht es, diese Entzweiung seiner Gegner auszunutzen: er wirft sie verächtlich in einen Topf. Wie muß es die Menge erbittern, wenn Piaton ihr vorhält, ihre Gesinnung sei die gleiche wie die der verachteten Sophisten! Die Sophisten aber rügt er, daß sie würdelos ihrem urteilslosen Gegner, der Menge, schmeicheln. Unvergeßlich vergleicht er: die Sophisten behandeln die Menge, wie die Wärter ein großes und gewaltiges Untier, indem sie lernen und lehren, wie man seine Wutanfälle und seine Begierden behandeln muß, wie ihm nahen, wie es anfassen, wie besänftigen. Was aber an diesen Begierden schön und gut ist, das kümmert sie nicht. Sich vor den Launen der Bestie ducken, heißt ihnen Weisheit und Erziehung. „Wunderlicher Erzieher, beim Zeus!" (493 C.) Selbst in der „Politeia" bricht einige Male die tiefe, aus staatlichen Gründen verhüllte Urkraft der Philosophie hervor, die in „Symposion" und „Phaidros" ihren ewigen Ausdruck findet: die bacchische Wut! Wie könnte Piaton, der leidenschaftliche, die Philosophie für ein unbedenkliches Heilmittel halten! Er kennt ihre Gefahr: „Ist doch alles Große gefährlich und das Schöne, wie es heißt, in Wirklichkeit schwer." (497 D.) Da leuchtet das große Ziel, die Bildung des Königsphilosophen auf. Wirklich sei ja das Mißtrauen der Leute den Philosophen gegenüber begreiflich, „denn einen Mann, der bis zur höchsten Vollkommenheit der Tugend angeglichen und mit ihr in Einklang gebracht wurde in Werk und Wort, den haben sie in einem Staate solcher Art noch niemals herrschen sehen". Wenn aber einmal im Laufe der Zeit die Notwendigkeit eintreten werde, daß die Philosophen den Staat formen, dann würde ein solcher Staat entstehen, wie Sokrates ihn beschrieben hat. Dies Wort beweist, daß Piatons Werk von der Notwendigkeit der besonderen Weltstunde, nicht von einem zeitlosen Postulat a priori redet. Schwer, nicht unmöglich sei die Verwirklichung. (498 E—499.) Belanglos sei der Widerstand der Menge: sie werde folgen, wenn der wahre Herrscher sie zu ihrem Vorteil überrede. Aber nur unter der Ideensonne des Guten wachsen solche Herrscher: das ist die Krönung des Platonischen Werkes . . . Wer aber das System der „Ideenlehre" sucht, der wird sich wundern, daß eigentlich nur Bruchstücke davon in den Gesprächen zu finden sind. Ein Hauptstück dieser Lehre findet sich hier im „Staat" (502—521), aber das 231
Wesentliche ist im Gleichnis, im Mythos gegeben — was die vergaßen, die Piatons Mythos und Begriffswissenschaft scharf trennen zu dürfen glauben. Wie der Philosoph Gründer des Staates ist, so ist die Idee des Guten Gründerin der Welt. Durch „Phaidon" und „Symposion" ist Sokrates der Erwecker geworden, der dem Staate Mitte und Maß gibt. Aber die Gegenwart verschmäht den gesetzgebenden Philosophen. Darum ist Piaton getrieben, den Meister als Mittler der höchsten schöpferischen Kraft im Weltgrunde zu verwurzeln, seiner Sendung die religiöse Weihe, den großen kosmischen Hauch zu geben. Im Agathon, in der schöpferischen Weltkraft selbst, muß er die neue Lebensnorm entdecken. Aber wie zeigt sich im Menschen dies Urgute an? Ist nicht die Lust das Gute? Der Moralist hat es leicht, diese eudaimonistische Deutung abzulehnen und das Glück aus der ethischen Rechnung auszuschalten, da er nicht an die Schönheit der Welt glaubt, wenn ihm nicht die Eudaimonia ihr Ziel bleibt. Piatons Untersuchungen sind für uns schwierig, weil unsere Unterscheidung ethisch — ästhetisch so völlig Unplatonisch, Unhellenisch ist. Dem Hellenen ist die Gerechtigkeit das Schöne, das Glück ist das Gute. (Nur so ist der Kampf im Thrasymachos und Gorgias verständlich.) In der individualistischen Zeitgesinnung waren schön und gut, Gerechtigkeit und Glück auseinandergebrochen. Das ist der Riß des Weltgefühles und damit der drohende Bruch des Weltgefüges, den zu heilen Piaton gesendet ist. Er erneuert das alte staatliche Gefühl, in dem schön und gut eins waren, weil es der Lebensinstinkt so heischt. Piaton weiß, daß eine strenge abstrakte Gerechtigkeit nicht heilen kann. Ohne Lust und Glück würden die lebendigen Quellen aller Wachstumskräfte des leibhaften Menschentums fehlen. Piaton geht nicht den Weg der Entsagung wie Demokrit, Kyniker, Stoiker, denn das Blut des echten Hellenen treibt ihn zur rauschhaften Hoffnung, den Staat zu verwirklichen, in dem der Gerechte auch der Glückliche ist. Darum faßt er die eigentliche „Politeia" (Buch II—IX) als eine Begründung für diese Möglichkeit zusammen. Er konnte nicht übersehen, daß nicht wissenschaftliches Beweisen, sondern Lebensgefühl und Glaube entschieden: Wirkender Glaube, nicht grübelnde Wissenschaft ist der Sinn seines Werkes. Die glaubensschaffende Kraft muß heilig, sie muß die Gottheit selbst sein: das ist die Idee des Agathon. Die Idee vereinigt wieder Geist und Willen, Erkenntnis und Wirklichkeit — sie ist die Schweißung des zerbrochenen Ringes! Anfangs drückt sich Piatons Suchen und Erkennen der Lebensnorm in der „Idee" aus, und diese Lust des Erkennens vollendet sich im „Phaidon" zur Wesensschau. Aber niemals bedeutet die Idee den subjektiven Begriff, sie ist immer das begriffene, das geschaute Wesen, die Dynamis, die Kraft. Nur verhält Piaton selbst sich zur Idee anfangs als 232
Suchender und Erkennender, dann, seit dem Gastmahl, als Empfangender und Zeugender. Wenn er die Wärme des Feuers, das Weiß des Schnees als Idee begreift, so klingt es logisch, ist aber vollkommen leer, zu sagen: Er erhebe den Prädikatsbegriff zur Idee. Er steht, so paradox es klingt, den Physikern viel näher als den Logikern: Auch für sie ist die Wärme eine Energie, das Weiß ein Ausdruck der Lichtenergie — und sie würden lachen, wenn man ihnen vorwürfe, sie hätten nur einen Prädikatsbegriff hypostasiert. Mit einer Entgegensetzung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft kommt man Piaton nicht näher. Zwar schien Piaton im „Phaidon" auf die Erkenntnis des wirklichen Geschehens und des Weltbaues verzichten zu wollen, um sich mit der „zweiten Fahrt", der Erkenntnis des Wesens, der Wesensschau, unter Absehen von den vergänglichen Dingen zu begnügen. In Wahrheit aber erweist sich diese zweite Fahrt nur als Umweg, um zur einen und einzigen, wirkenden und wirklichen Ursache, der Idee des Guten zu gelangen und aus ihr die gestaltete Welt abzuleiten. Er leugnet nicht die Wirkung der mechanischen Ursachen, aber sie alle empfangen ihre Wirklichkeit und ihren Sinn nur aus der Idee des Agathon, dieser Urkraft der Welt. Dies „Gute" ist nicht dem „Moralischen" gleich, denn dies ist nur eine seiner Seiten. Auch das Auge hat seine Tugend, seine Güte, die darin besteht, daß es sehen kann. Piatons Weltschau ist die höchste Vollendung der Weltschau, die im Sein der Welt einen Sinn erlebt. Die „Teleologen" glaubten einst das verständig-zweckhafte Wirken Gottes in der Schöpfung bis ins Einzelne ablesen zu können, die Materialisten glaubten nur an ein sinnloses Naturgesetz und verwarfen jede Teleologie als unwissenschaftlich. Dann empfand es Nietzsche als seine Aufgabe, der Menschheit wieder einen Sinn, ein Telos zu schenken, und verzehrte sich in diesem Ringen. Wie hoch steht Piaton über solchen Gegensätzen. In der Schau der Welt erlebt er ihren Sinn, und kraft dieses Sinnes findet er in der Seele das Ziel, das er dem Volke gibt. Wer das als Teleologie ablehnt, mag die Zukunft fragen, ob eine andere sinnvolle Philosophie möglich wird als die Platonische. Piaton findet in der Welt Schönheit, Ordnung, Zweckmäßigkeit, und da diese Eigenschaften harmonieren, so führt er sie auf die Einheit, die schöpferische Idee als Ursache zurück. Die Kritiker spotten, daß er in diese Idee hineinlege, was er ursächlich aus ihr entwickeln wolle, weil sie nicht nachempfinden, daß er die Welt schauen, nicht logisch oder physikalisch deduzieren will. Hält man gegen diese Weltschau die Versuche, aus toten Atomen oder rein quantitativer Energie Welt, Leben, Geist erklären zu wollen, so ist Piaton in seiner Entsagung der Weise, die Atomisten in ihrer Hoffnung die Narren. Im „Phaidon" blickt Piaton auf das Weltgewebe solcher Ideen — er will die Krönung seiner Lehre zurückhalten, aber sie methodisch vor233
bereiten. Das zurückgestaute Bekenntnis steigt auf im Rausch der Diotima-Rede: Piaton vollzieht die mystische Einung mit seiner Gottheit, und von ihr befruchtet tritt er in den innersten Raum der Weltzeugung: das ist der hohe Augenblick, vor dem alle Deutung versagt. Menschliche Weisheit lehrt, daß der Tod kein Übel ist, wenn das Leben selbst ungeschädigt dauert. Darum gilt der bacchische Jubel der Zeugung. Eros, erregt durch die schöne Gestalt und erfüllt in der Erzeugung schöner Gestalten, wird Sinn des schönen Lebens: Thanatos und Eros sind den Griechen Zwillingsbrüder. Im „Phaidon" ist Sokrates der Verklärer des Todes, im „Symposion" der Erfüller des Eros. So ist er für Piaton und in ihm der im Weltgrund wurzelnde Mythos. Aber die Politeia stellt die bestimmte Aufgabe im engeren Raum des Tages dar: Piaton muß aus lichtester Sphäre herabsteigen in die dunkle, um dem Volke das notwendige Gesetz zu bringen. Sokrates findet in sich den unbedingten Willen zum Guten, er findet in sich die Erkenntnis, gemäß der er handelt und andere berät — ist nicht das, was in ihm wirkt, auch w i r k l i c h in der Welt? Was in ihm subjektiv scheinen könnte, sieht Piaton, der Jünger, in ihm als objektive Kraft, und er darf dies Schöpferische im Meister als Eines Wesens setzen mit der schöpferischen Kraft der Welt. Sein freier Wille, für den er im Phaidon den weltgeschichtlichen Beweis mit jenem Schwüre „Denn beim Hunde . . . " (99 A) erbracht hat, ist unmittelbarer Ausdruck der Idee des Guten. An jener Stelle wendet Sokrates dafür das Wort „Vorstellung (Doxa) des Besten" an — wodurch Piaton andeutet, daß der wirkliche Zugang zur Idee des Guten erst das Werk seiner eigenen Philosophie sein werde. Die Verwurzelung der schöpferischen Gotteskraft im eigenen Willen bedeutet im Piatonismus keine Wendung zum „Subjektivismus". Kant zerreißt die Welt in ein Ich und ein unerkennbares „Ding an sich" . . . Fichte übersteigert das schöpferische Ich und macht die Welt zum bloßen „Nicht-Ich" . . . erst Schelling, der Platoniker, findet den Ausgleich von Ich und Welt, wenn auch nur „theoretisch", in der Identitätslehre: In Sokrates-Platon ist der Einklang von Ich und Welt als ursprüngliches Erleben verwirklicht. In Sokrates ist es schlicht gegeben, während Piaton es als Gegensatz zum Intellektualismus der Sophisten ins helle Bewußtsein erhebt. Das ist die Erfüllung der Philosophie überhaupt. Die scheinbare Entsagung im „Phaidon" war in ihr Gegenteil umgeschlagen, als der Philosoph die Einigung mit der Idee des Guten vollzog. In der Diotima-Rede dringt die Philosophie zur Erkenntnis des schöpferischen Geschehens — aber weit mehr: sie wird zur gesetzgebenden, zur weltschaffenden Macht. Diese Macht, beschränkt auf die staatliche Wiedergeburt Griechenlands, will Piaton in der Politeia ausüben durch den Kult der Idee des Guten. Er stellt sie dar unter dem Bilde der Sonne. Das Gesicht sei der höchste der Sinne, weil es nicht nur des Ge234
genstandes, sondern auch des vermittelnden Lichtes bedürfe, das dem Auge die Sehkraft, dem Gegenstande die Sichtbarkeit verleihe. (507 C— 508 B.) Er scheint zu sagen: Audi das Gehör stellt eine Beziehung her zwischen Mensch und Ton, aber diese Beziehung bleibt vereinzelt, individuell, zufällig. Das Auge aber hat am gesehenen Gegenstande, es hat auch am Weltlichte teil: das Auge ist sonnenhaft, und die Sonne eint Auge und Gegenstand, Subjekt und Objekt. Sie ist das Bild der „Identität", in der Ewigkeit und Zeit sich schneiden, sie ist Bild der Idee des Agathon, der Gottheit, wie das Auge zum Bild der Seele wird. Nur weil jene Idee in die Seele strahlt, entfaltet sich in ihr das Geistige, der Nus. (508 C, D.) Goethe hat Piatons Gedanken (durch Plotin vermittelt) in die Verse gefaßt: Wär' nicht das Auge sonnenhaft Die Sonne könnt es nie erblicken . . . Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft Wie könnt uns Göttliches entzücken? Licht und Geist sind überpersönlich und gliedern uns ein in den Kosmos. Piaton läßt die Frage nicht zu, ob die Idee subjektiv oder objektiv ist: sie ist die Identität von beidem, die Wahrheit selbst. Aber die Idee ist mehr. Die Sonne verleiht den lebendigen Gestalten die Sichtbarkeit, aber sie erzeugt sie auch wirklich: Kein Wachstum, kein Leben ohne ihre Schöpfungskraft. Auch hier bekennt Piaton, was die Verehrer voraussetzungsloser Wissenschaft vergessen, daß Erkenntnis und Wahrheit noch nicht das Gute selbst sind. Höher als Wahrheit steht schöpferische Kraft. Vom Guten selbst empfängt die Welt die wahre Wirklichkeit, empfängt ihre Substanz: die Idee des Guten ragt selbst über das „Sein", diesen Inbegriff der Vorsokratiker, an Erhabenheit und Kraft hinaus, denn von ihr empfängt die Welt Sein und Wesen. Glaukon ist von dieser Steigerung so betroffen, daß sein unwillkürlicher Zwischenruf: „Apollon! welch Überschwang der Daimonie!" heiter die Spannung löst. (509 C.) Das ist wirklich der Gipfel, zu dem Piaton auf allen Wegen strebt. Die Idee als Norm allen Wesens — denn alles Wesen empfängt erst aus ihr den Sinn . . . die Idee als Ursache allen Geschehens — denn die mechanischen Ursachen sind nur ihre Mittel: Welche Gottheit könnte noch über dieser Idee stehen? — Das ist die theoretische Ausführung zum Hymnos Diotimens. Dem Aufstieg des Philosophen zum Phaidon-Paradiese entspricht hier das Höhlengleichnis, aber was dort Glanz und Seligkeit war, klingt hier düsterer und strenger. Ist das eine neue asketische Regung? — Nur auf die Sendung, nicht auf zufällige Stimmungen, darf man den Ton der Gespräche deuten. Niemals hat Piatons Liebe zum schönen Menschen, nie sein Enthusiasmus für die Schönheit der Welt gewankt. Sein Zorn gilt allein dem Menschenpöbel, der die menschliche Gemeinschaft, dem 235
Sinnenpöbel, der die Seele erniedrigt. Der „Gorgias" ist der Todkampf gegen die Volksverführer, der „Phaidon" gegen die Materialisten, die die Seele verneinen, das Weltall entgöttern: in der Politeia muß der Staatsgründer und Erzieher sich absetzen von der entartenden Gegenwart, Piaton muß die Spannung zwischen Philosophenkönig und schlaffen Bürgern übersteigern. Um die Rangordnung zu schaffen, ohne welche die Neugründung nicht möglich ist, muß der Weise als Mittler der Gottheit gleichsam vom Himmel herabsteigen. Moses vom Horeb, Zarathustras „Untergang". Nach den Entrückungen im „Phaidon" und Gastmahl kann der Niederstieg der staatlichen Sendung wegen ins verstockte Volk nicht ohne Schmerz geschehen. Diese Rückkehr stellt das Höhlengleichnis dar. Hier und nur in diesem Sinne trifft Goethes Ausspruch vollkommen zu: „Piaton verhält sich zu der Welt wie ein seliger Geist, dem es beliebt, einige Zeit auf ihr zu herbergen. Es ist ihm nicht sowohl darum zu tun, sie kennenzulernen, weil er sie schon voraussetzt, als ihr dasjenige, was er mitbringt und was ihr so not tut, freundlich mitzuteilen. Er dringt in die Tiefen, mehr um sie mit seinem Wesen auszufüllen, als um sie zu erforschen. Er bewegt sich nach der Höhe, mit Sehnsucht, seines Ursprungs wieder teilhaft zu werden. Alles, was er äußert, bezieht sich auf ein ewig Ganzes, Gutes, Wahres, Schönes, dessen Forderung er in jedem Busen aufzuregen strebt . . . " So sehr fühlt Goethe die Größe des Geistesbruders — wo er ihn nur um der Farbenlehre willen studiert. Nie wird Piatons Verhältnis zum Volke deutlicher als im Höhlenmythos — aber sein Wesen ist durch den Zorn über den stumpfen Widerstand ins Düstere umgefärbt. Muß er doch hier an Sokrates' Tod denken und sich erinnern, wie die Menge den rückkehrenden Lichtheros behandelt: sie verlacht ihn und schlägt ihn tot. (517 A.) Auch im „Theaitet" spricht der Zorn des Weisen, den das Volk höhnt, weil er ungeschickt ist in ihren kleinlichen Geschäften. So auch im Staat. Der Weise, der in die Sonne der Idee geschaut hat, ist anfangs, wenn er in die dunkle Höhle zurückkehrt, noch geblendet und findet sich nicht zurecht. Sein Ungeschick ist nicht Folge eines abstrakten Grübelns, sondern einer erhabnen Schau. Es ist das Erlebnis des Dichters, wie uns das Gedicht „Der Albatros" verrät: . . . Kaum sind sie unten auf des deckes gängen Als sie, die herrn im azur, ungeschickt Die großen weißen flügel traurig hängen Und an der seite schleifen wie geknickt. . . Der dichter ist wie jener fürst der wölke, Er haust im stürm, er lacht dem bogenstrang. Doch hindern drunten zwischen frechem volke Die riesenhaften flügel ihn am gang. 236
Das Christentum mußte Piatons Paradies- und Höhlengleichnis deuten, als ob Piaton das irdische Jammertal schmähe und sich ins Jenseits sehne. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts aber hat trotz ihres Unglaubens diese weltflüchtige Deutung noch verschärft: in der Loslösung des abstrakten Geistes vom seelischen Leben. Nur die feindlichen Gewalten, nicht die Sinnenwelt lehnt Piaton ab. Weil die Lustgier und Herrschsucht der Einzelnen den Staat unterwühlten, mußte er diese Triebe — nicht ausrotten, aber der Herrschaft der Idee des Guten unterwerfen, er mußte in dieser das Heiligtum erkennen. Jene Verkennung stammt daher, daß man Ideenwelt und Werdewelt als zwei Flächen betrachtete, die sich an keinem Orte schneiden, und übersah, daß in der schöpferischen Idee des Guten der Scheitelpunkt des Winkels gefunden ist. Der Christ sagt: alle Dinge sind „in Gott". Diese heute zur Phrase verblaßte, ehemals tiefe mystische Auffassung entstammt der Platonischen Weisheit. Die Verknüpfung beider Welten und die Rangstufe der körperlichen Welt ist in der „Politeia" durch ein Bild bezeichnet, dessen Bedeutung nicht bemerkt zu sein scheint. Piaton lehrt nicht eine minderwertige unwirkliche Werdewelt unter einer erhabenen unwandelbaren Ideenwelt! Unsere sichtbare Sonne, Helios (noch klarer im „Timaios" statt ihrer der Kosmos) ist Sohn, ist höchstes Ebenbild der Idee des Guten, Gottvaters. Piaton wechselt mit mythischen Bildern, weil jede Festlegung den Eifer und die Sehkraft der Geistesaugen nur hemmen würde. Das Letzte und Höchste bleibt im heiligen Dunkel. Beneidenswerter Dünkel, der Piatons Geheimnis enträtseln will, indem er seine Bilder austilgt. Wir halten uns an sein Wort und Bild: die sichtbare Sonne ist der zweithöchste Gott. Damit ist aller Mißverstand beseitigt, der aus seiner Redeweise (da er mit moderner Abstraktionssucht nicht rechnen konnte) bisweilen begreiflich ist. Niemals wendet er sich von der Sinnenwelt, unserer „wirklichen" Welt, denn er mißachtet nur die flüchtige Wahrnehmung, die wahre Erkenntnis nicht aufkommen läßt, den Leib insoweit, als er an der Vergänglichkeit und damit am Nichtsein teilhat, und lehrt uns darum, in ihm das Gesetzmäßige, Ewige, Schöpferische zu finden. Dies Ewige auch in Bewegungen, in Sterben und Vergehen, im Spiel der Farben zu finden — das eben ist die Heraklitische Aufgabe des Geistes, für die Mathematik and Logik die nötige Vorübung, aber keine Erfüllung sind. Niemals hofft Piaton, alle Menschen mit der Idee zu durchdringen and zu vergöttlichen. Nur der seltene Weise schaut in die Idee . . . der Adel eifert ihm nach und macht den Heros zum Mittler zwischen Gott und Volk . . . das Volk wird nur dadurch schön, daß es sich schön in das Ganze einordnet, was selbst der Verbrecher noch durch willige Sühnung vermag. Die Menschen sind Kinder der Erde, nicht unmittelbar Gottvaters: nur der Weise durchbrieht in der besonderen Weltstunde die Schranke. 237
Nachdem der Gipfel erreicht, der Staat im Geiste geschaffen und geheiligt ist, schreitet das Gespräch geschwinder bergab. Um diesen Normstaat zu verwirklichen, müssen die Herrscherphilosophen erzeugt werden — in Piaton selbst ist diese Bedingung erfüllt — dann aber darf sie der Staat, weil er sie hervorgebracht hat, auch zwingen, die Herrschaft zu übernehmen. Der Herrscher bringt ein Opfer, denn sein Paradies ist die Ideenschau . . . aber er wird sich auch nicht sträuben, denn an die Ablehnung ist die Strafe geknüpft, von Schlechteren beherrscht zu werden . . . Man glaubt zu spüren, daß Piaton die Entscheidung seines Schicksals, ob Herrschaft oder Verzicht, seines Alters wegen nahen fühlt. Jene Worte, in denen der Eros des Herrschens zur stoischen Pflicht verblaßt erscheint, dürften in Rücksicht auf die äußere Wirkung gewählt sein: das Feuer der tyrannischen Herrschsucht zu schüren, ist die Gefahr Griechenlands! Im Werden des Philosophenkönigs verschmilzt Werdewelt und Ideenwelt. Die menschliche Erkenntnis baut sich in Stufen, die im Aufstieg aus der Höhle mythisch, im Lehrgang des Philosophen gegenständlich beschrieben sind. Der Sinn dieser Stufung ist Bindung, nicht Trennung: immer enthält die höhere Stufe die untere in sich, und immer dienen die unteren Stufen und ihr Verhältnis untereinander zum Bilde der oberen Stufen. Die unterste sind Schatten und Spiegelbilder, die zweite Lebewesen, alles Gewachsene und alles Geformte, die dritte wissenschaftliche Begriffe, die allgemeine Geltung haben, aber doch in ihrer Anwendung, ihrem Herabsteigen zu den Dingen Ziel und Ende finden . . die vierte Stufe sind die eigentlichen Ideen, die man aufwärts verfolgt, zum Voraussetzungslosen, zum Ursprung des Alls, zur schöpferischen Idee des Guten. An diese Formel muß sich halten, wer etwas wie ein „System" aus Piatons Werken spinnen will. Alle logischen Scheidungen, a priori und empirisch und dergleichen, gehen an ihrem Sinn vorbei, der den lebendigen Geist darstellt. Die Erkenntnis geht aus von leibhaften Gestalten, empfindet sie aber als Stufen und Antriebe, zur Kraftmitte der Welt aufzusteigen, die den Dingen Wert und Wirklichkeit zugleich verleiht. In dieser Weltmitte verharrt sie aber nicht in mystischer Selbstverzehrung, sie kehrt um und steigt ab zu den Einzeldingen, die sie nun aber nicht als Wahrnehmungsbilder, sondern in ihrem eigentlichen Wesen erfaßt. (511 B, C.) Das ist zugleich Ausführung der Diotima-Rede. Diese Wesenheit des Platonischen Denkens ist der deutschen nicht fremd, denn sie ist auch Goethe angeboren (vgl. Aufsätze über Geoffroy), doch ist bei Piaton die Einheit der metaphysischen Erkenntnis mit dem politischen Handeln viel überzeugender. Die Idee Piatons soll sich darin bewähren, daß sie den königlichen Staatsmann erzeugt, sie führt ihn, wie mancher Held vom Hades auf den Olymp gelangte, aus dem Dunkel der Höhle an die Sonne. (521 C.) Diese Erziehung beschreibt Kap. 6—18 des VII. Buches. 238
Der Widerspruch gegen Piatons Philosophenkönige pflegt sich auf ihre Verwechslung mit weitabgewandten Gelehrten zu gründen, da doch ihre Erziehung in der vollkommenen Harmonie von Leib und Seele, Tun und Denken beruht. Zur Philosophie berufen sind allein die erprobten Krieger, denn Mannheit, die allen Verlockungen widersteht, ist die Tugend des Kriegers wie des Philosophen. Eine schlichte Übersicht über den Erziehungsgang wird das verdeutlichen. Der philosophische Unterricht beginnt erst vom 30. Jahre an, doch werden der Jugend schon die Stoffe geboten, deren das philosophische Gebäude bedarf. Die Knaben werden zuerst in der Dichtung (vgl. III. Buch), später in Rechnen, Geometrie, Stereometrie, Astronomie, Harmonik unterwiesen. Die Mathematik ist wie im Menon das Erlebnis, wie aus Einzelwahrnehmungen sich allgemeine Wesenseinsichten ablösen, die aus jenen nicht erklärt werden können. Diese schwierige Arbeit ist die schmerzhafte Umwendung des Kopfes weg von den Schattenbildern, der Erscheinungswelt, auf das Wesen, die Idee, im Höhlenmythos. Aber sogleich zeigt sich, daß mit dieser Drehung kein moralischer Zwang, nur das Maß geistiger Mühe gemeint ist, denn ausdrücklich verbietet Piaton jeden Zwang beim geistigen Lernen, der doch bei der körperlichen Ausbildung notwendig sei. Das unfreiwillig Gelernte hafte nicht im Geiste! (536 DE.) Piaton wünscht keine Ausbreitung der geistigen Bildung, denn er bedarf für sein Werk nur der wenigen, der Bestveranlagten, und diese mühen sich freiwillig um das Geistige. Vom 18. bis 20. Lebensjahre erfolgt die eigentliche Vollendung der körperlichen Ausbildung, die soldatische Erziehung, die so anstrengend ist, daß in dieser Zeit auf die geistige Ausbildung verzichtet wird. So streng wird das Übergewicht des Geistigen über das Leibliche in der Erziehung vermieden. Wer sich bewährt hat, wird zu gleichmäßig gymnastischer und geistiger Weiterbildung erlesen. Es sind die gleichen Fächer wie vorher, nun aber in systematischer „synoptischer" Behandlung, als Vorbereitung auf die Philosophie und Ideenschau. Dieser Unterricht dauert bis zum 30. Lebensjahr. Erst nach diesem Jahr folgt die engere Auswahl für die eigentliche fünfjährige philosophische Ausbildung. Es werden zu diesen höheren Ehren die Festen und Tapfersten, nach Möglichkeit aber — echt Platonisch — die Wohlgestaltetsten ausgesucht. Sie müssen edle und würdige Gesinnung, scharfe Auffassung, gutes Gedächtnis, unermüdliche Arbeitslust bewähren. Nur diesen Erwählten zieht die Dialektik das „in den barbarischen Schlamm versenkte Seelenauge sachte empor und führte es hinauf". Wer das nicht erlebt, der verträumt sein geistiges Leben, und ehe er noch recht erwacht, gelangt er in den Hades, um völlig einzuschlafen. (533 D, 534 C.) Aber sogleich, als ob er befürchte, mit dieser Rühmung des Geistigen die Leib-Seelen-Einheit zu gefährden, nennt Piaton alle einseitig sich Ausbildenden Hinkende, möge ihnen nun die körperliche oder geistige Ausbildung mangeln. 239
(535 D.) Auch versäumt Piaton nicht, auf die große Gefahr seiner Philosophie hinzuweisen. Die Jünglinge durchschauen den hohen Ernst der Dialektik nicht und entnehmen ihr nur die eristischen Kampfmittel, um wie junge Hunde an ihren Nächsten herumzuzerren. Dieser Mißbrauch der Dialektik ist es, der die Philosophie in Verruf gebracht hat! Darum darf Piatons Kunst allein die gereiften Männer gelehrt werden. Die so gebildeten und Erlesenen versehen danach fünfzehn Jahre den tätigen Staatsdienst in Kriegswesen und Verwaltung, damit sie hinter niemandem zurückstehen. Erst vom fünfzigsten Jahre an werden die Seltenen, die sich überall als zulänglich erwiesen, als Philosophen berufen. Sie sind aus der Höhle an den wahren Tag getreten und richten den Strahl ihrer Seele nach oben, damit aus der Idee des Guten ihnen die Kräfte des Staates zuwachsen. Wohl dürfen sie die meiste Zeit dieser seligen Schau leben, aber der Reihe nach müssen sie auch den Staat leiten — sie sind ja die berufenen Könige. Und wenn sie verscheiden, um sich auf die Inseln der Seligen zu begeben, sollen sie unter Zustimmung der Pythia als Gottheiten (Daimones) kultisch verehrt werden, sonst aber als selige und göttliche Menschen. (540 B.) So hat Sokrates die Bildsäulen der Göttersöhne in unvergänglichen Stein gemeißelt. (540 C.) Aber er kann nicht schließen, ohne das Tathafte seines Willens zu bekunden. Schwer, nicht unmöglich, sei es jetzt, diesen Staat zu gründen. Der Gründer würde alle erwachsenen Athener aufs Land schicken, nur die Kinder bis zu zehn Jahren in der Stadt behalten, damit sie im neuen Glauben und Gesetz aufwachsen. Wer Ohren hat, versteht, daß Piaton selbst und seine Jünger zur Gründung bereit sind — mehr zu sagen, würde seinem Stolze widersprechen. (540 E—541.) Eine kurze Bemerkung über Piatons äußere Erscheinung dürfte hier am Platze sein. Es wird gesagt, daß die Breite seiner Stirn und seiner Brust auffielen und die schöne Bildung seines Auges und seiner Nase wird gepriesen. Daß er wie seine Brüder an Kriegszügen als Reiter teilnahm, ist wahrscheinlich. Daß er die leibliche Ausbildung nicht nur theoretisch gefordert hat, beweist eine Nachricht aus guter Quelle: er hat auf den Isthmischen Spielen als Ringer gesiegt. V. So ist in diesem zweiten Hauptteil, dem Mittestück des Werkes, Einheit, Idee, Licht des Staates gegeben. In strenger Baukunst entspricht dem I. Hauptteil, der genetischen Darstellung der Gerechtigkeit und ihres Staates, der III. Hauptteil: der Abfall von der Normidee, Ungerechtigkeit, der Verfall des Staates. (VII 1 — X 3.) Daß dieser Teil kürzer gefaßt ist, entspricht dem innern Sinn, denn die Norm ist das Maß ihrer selbst wie des Verfalles. Piaton stellt die Verfassung des wahren Staates nur als Eine dar, möge sie als Monarchie oder Aristokratie erscheinen, den verfallenden Staat in vier typischen Verfassungsformen. Wer diese Darstellung bekrittelt, weil ihr nicht alle historischen Vorgänge entsprechen, der hat, möge er auch Aristoteles heißen, den Geist 240
dieses Verfahrens nicht verstanden. Genetisch heißt für Piaton wie für Goethe das Wesen durch und in Entwicklung erklären, den Sinn entfalten, logon didonai. Die Rede von deduktiv und induktiv besagt hier nichts. Piaton findet das Bild, in dem Erfahrung und innerer Sinn zum Ausgleich kommen, das aber nicht aus der äußeren Erfahrung a l l e i n zu klären ist. Zur normativen Betrachtung gehört notwendig die Umkehrung: das Abirren vom Ziel, das Nachlassen der schöpferischen Kraft, der Abbau des vollkommenen Werkes. Wir sind dankbar, daß uns Piatons Erkenntnisweg zur „Idee" durch diese Untersuchung, gerade weil sie sich nicht auf die Ideenlehre erstreckt, seiner Art nach um so klarer wird. Er führt bewußt die „verstehende" Methode ein, indem er den Wandel der Verfassung aus dem Seelenzustand der wechselnden Zeiten deutet. Das ist zweifellos berechtigt, weil dies staatliche Geschehen durch das seelische hervorragend bestimmt ist, und wenn moderne Geschichtsmaterialisten mit bestem Willen diese seelischen Ursachen bis zur äußersten Grenze des Möglichen ausschalteten, so denken sie ideologisch, Piaton realistisch. Der Verfall mündet in die Tyrannis. Aus dem VIII. Briefe ist zu schließen, daß die Darstellung der Tyrannennatur keinem persönlichen Rachegefühl gegen Dionys I. entspringt. Er will Athen zur Selbsterkenntnis führen, indem er ihm den Spiegel des demokratischen Verfalles vorhält: denn die anarchische Demokratie schlägt notwendig um in die ihr so verhaßte Tyrannis! Die Menge ist jenseits von Gut und Böse. Wenn die Aristokratie der wahre Staat ist, dann bleibt er unerschüttert, solange der Adel einig ist, und nur dessen Entzweiung führt zum Verfall. Woher keimt Zwietracht? Wie Piaton die Idee des Guten heilig sprach und über alles Denken erhöhte, so umringt er den verhängnisvollen Abfall von ihr mit der Mauer des Geheimnisses. Der Staat hängt ab vom edlen Blute, von richtiger Zuchtwahl. Die Zeugungen stehen unter dem Gesetz einer Zahl, deren Geheimnis Piaton durch rätselhafte Formeln noch verdunkelt. Lassen aber die Herrscher, weil ihre Weisheit sinkt, die Paarungen in falscher Stunde zu, so geraten die Sprößlinge weniger gut und können, zur Herrschaft gelangt, das goldene, silberne, kupferne und eiserne Geschlecht nicht recht unterscheiden: Vermischung, Verrassung ist die Folge. Nur höchste Weisheit sichert Eugeneia! (545 D—547 A.) Diese Entartung hat die Folge, daß Habsucht das Staatsleben beherrscht (550 D). Nun strebt auch der Adel nach Eigentum und macht als der allein bewaffnete Stand das Volk aus Ernährern und Freunden zu Knechten. Das ist die „Timokratie". (Adeimant scherzt, daß Glaukon dem timokratischen Jüngling gleiche. Sokrates vermißt doch nicht das Aristokratische in ihm.) Schließlich entscheidet der Reichtum, ja der Geiz, nicht mehr die staatliche Fähigkeit über das Herrscheramt. („Oligarchie.") Diese Ungerechtigkeit treibt das Volk zur Empörung, es vertreibt die Reichen oder beraubt sie ihrer Vorrechte. Dann wird die 16 Hildebrandt, Piaton
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unbegrenzte Freiheit zur Seele des Staates. Diese Art Freiheit, die der Freiheit und Einheit der Nation im Wege steht (Menexenos), verachtet Piaton. Solche Demokratie ist die individualistische, die bunteste, also wohl die süßeste Staatsform — für Weiber- und Kindergeschmack. In Wirklichkeit ist sie kein Staat, sondern ein Warenhaus von Verfassungen, und wer keine Lust hat, braucht sich um die Gesetze nicht zu kümmern. Sie ist gestaltlos, ist Zerfall. (557/58.) Der demokratische Mensch, dem dieser Staat entspricht, ist keine Einheit, sondern ein Bündel ungezügelter Begierden. Die Akropolis seiner Seele ist leer von wahren Gedanken und schönen Lebensbildern, die doch die besten Türmer und Wächter im Gemüt gottgeliebter Männer sind. (60 B.) Wie nahe klingt plötzlich: „Jene, die den Herrschern gehorchen, zieht man in den Schmutz als knechtisch und nichtswürdig. Herrscher aber, die sich wie Untertanen, Untertanen, die sich wie Herrscher gehaben, die preist und rühmt man auf der Straße und im Hause." (562 D.) Solche Ochlokratie vernichtet das „Pathos der Distanz", Herrschaft und Dienst, Rangordnung, bis eine zügellose Freiheit die Gemeinschaft durchdringt und selbst das Vieh sich emanzipiert. Pferde und Esel laufen in Attika frei und stolz herum und rennen jeden auf dem Wege an, der ihnen nicht ausweicht. „Und so ist auch alles Übrige geschwellt von Freiheit" höhnt Piaton. (562 E. 563 C.) Dann folgt der Umschlag. (564 A.) Die unterdrückten Oligarchen gefährden die Demokratie, das Volk wählt zum Schutze Führer, die sich schließlich mit einer Leibwache von Söldnern und Sklaven umgeben müssen — der Demagoge wird Tyrann, denn die Sorge um die eigene Sicherheit macht diesen Schutzherrn der Freiheit zum mörderischen Unterdrücker des Volkes. Die Auseinandersetzung mit den Herrennaturen ist Piatons schwierigste Aufgabe, denn diesem Gegensatz mangelt es nicht an Verwandtschaft. Ging er nicht freiwillig in die Tyrannenschule Syrakus? Wohl zerfleischt sich Hellas in der Sucht nach Tyrannis, aber der Tyrann ist es auch, der die nötige Ordnung und Kriegsmacht schafft. Nur die Verwirklichung der Gerechtigkeit begegnet jener Gefahr. Piaton scheidet die herrscherliche Natur in zwei Pole: die königliche und die tyrannische. Er muß tief in sein eigenes Herz schauen, um die Herrschsucht rein abzusondern von seinem königlichen Willen. Den Zauber eines Alkibiades und auch eines Kritias hatte er tief empfunden, und von seiner eignen Versuchung legt das Bild vom Löwenjungen im „Gorgias" Zeugnis ab. So tief rührt er an die eigene Wurzel, daß er seinen heiligen Daimon und Führer Eros auch in seiner Entartung zeigt. Wir sind gewohnt, um der Reinheit der geistigen Zeugungskraft willen Eros und Sexus z?u trennen, so daß uns befremdet, den großen Erotiker von einem satanischen Eros sprechen zu hören. Dies Satanische ist nicht das Abgleiten ins Leibliche, denn vom Leibe ist auch ein echter Eros nicht lösbar. Eros ist lebendig-staatbildende Kraft. Der wirkliche geistige Eros 242
kann auf seiner Bahn die Idee des Agathon aus dem Auge verlieren: dann gründet er den tyrannischen Staat, der nur der Ichsudhit des Tyrannen frönt. Jetzt, da jene „Gorgias"-Versuchung längst überwunden, gibt Piaton diesem nur verbrauchenden Eros durch ein niederes Symbol den Rang: Anstatt des goldgeflügelten Epheben eine große geflügelte Drohne. Die Lustbegierden verleihen dieser Drohne den Stachel: der Wahnsinn der Leidenschaft, der alle edleren Begierden und Meinungen austreibt, wird Leibwache dieses Eros (572 E—573). VI. Piatons Stimme klingt verändert, wenn aus ihm nicht der Kosmos, sondern die staatliche Notwendigkeit der Gegenwart redet. E r muß in Athen gegen beide Fronten kämpfen. Das Volk warnt er, daß die zügellose Freiheit es geradezu in den Abgrund führt, vor dem es sich fürchtet: die ebenso zügellose Tyrannis. Aber das ist nicht die eigentliche Kampffront. Die aufgeklärte fortschrittliche Gruppe der sophistischen Politiker erstrebt gerade diese tyrannische Gewalt. Die Warnung Piatons kann sie nur in ihren Hoffnungen bestärken . . seine ethische Wertung ist ihnen gleichgültig. . gegen die Gorgias-Drohung mit Höllenstrafen sind sie ungläubig . . . so gibt es nur einen Weg zum Siege: ihnen zu beweisen, daß der tyrannische Mensch tatsächlich unglücklich und armselig ist. Das ist die Aufgabe, die das ganze eigentliche Gespräch einrahmt. Mit dem dringlichsten Ernste der Jugend und dem Bewußtsein, daß daran allein der Halt der hellenischen Staaten zu gewinnen sei, haben in der Einleitung (II 1—11) die Platon-Brüder diesen Beweis gefordert. In strenger Entsprechung dazu wird dieser im Schluß (IX 4—13) dreifach durchgeführt. Piaton selber wirkt von der Idee getrieben, die Lust ihres Dienstes ist sein Lohn, und weiterer Beweise hätte er nicht bedurft. Aber um seinen Staat zu verwirklichen, mußte er die Staatsmänner überzeugen, daß der Tyrann elend, der Gerechte glücklich werde. Der Glaube ist notwendig, über die Logik mag man streiten. Der Tyrann zittere vor dem Volke und beargwöhne die Nächsten, einsam, freundlos, wage er sich nicht ins Freie, um an den Feiern teilzunehmen, und lebe wie im Gefängnis. Wie er die Untertanen in Tränen und Jammer versetze, so werde seine eigene Seele öde und elend unter der Sucht tyrannischer Begier. Seine Lust ist nicht echt, denn ganz rein und echt ist nur die Lust des Erkennens. Daß diese Wertung die wahre sei, zeigt Piaton so: auch der Erkennende hat einst die Lust des Erwerbens, die Lust des Ruhmes und Sieges kennengelernt. E r allein kann die Arten der Lust vergleichen, denn er allein kennt sie alle. Dann aber ist die Erkenntnis auch das Werkzeug, mittels dessen man wertet. Darum kann niemand widersprechen, wenn der Erkennende seine Lust als reinste und echteste erkennt . . . Körperliche Lust sei nur relativ, sei eigentlich nur das Aufhören der Bedürfnisse. Erst in der Erkenntnis steige man von diesem mittleren Zustande auf zur echten Lust. Die Vielen, die nur die kör16»
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perliche Lust suchen, gleichen dem weidenden Vieh, das immer nach unten blickt, sich mästet, bespringt und aus Unersättlichkeit untereinander kämpft (586 A). Piaton ist nicht Dualist, auch nicht Weltverneiner, der in der Wahrheit um ihrer selbst willen das Ziel findet: Er sucht die L u s t des Erkennenden, die Eudaimonie und mehr noch: die Weisheit selber sorgt, als Gerechtigkeit, dafür, daß jeder Seelenteil, wenn er sich nur der Weisheit unterordnet, die ihm gemäße Lust genieße. Die Weisheit schafft durch die Rangordnung die Einheit von Leib und Seele, die Harmonie. „Wenn also die ganze Seele dem Philosophischen folgt, ohne Widersetzlichkeit, so ist es jedem Teile gewährt, wenn er im übrigen das Seine tut und gerecht ist, dann auch seine eigenen Freuden in größter Schönheit und nach Möglichkeit in größter Wahrheit zu ernten" (586 E). Weil für den Staat diese Harmonie der Einzelseele die Voraussetzung ist, hat Piaton für den Schluß des eigentlichen Gespräches das große Seelengleichnis aufbewahrt (588 B—592). Das Bild mag in seiner Vielfältigkeit zuerst als begriffliche Allegorie erscheinen, und man muß sich darein versenken, um es als Ausdruck hoher Weisheit zu empfinden. Dies Gleichnis lautet, daß der Mensch als Bilder der drei Seelenteile drei Gestalten umschließt: der erste Teil ist wiederum ein Mensch, ein kleiner Mensch also als Bild des Geistes . . der zweite ein Löwe, ein Bild des Eifers, Zornes, Mutes . . der dritte ein vielköpfiges Ungeheuer, das seine Köpfe einziehen und wieder neu bilden kann, eine fabelhafte Polypen-Ungestalt, als Bild aller zahmen und wilden. Begierden des Menschen. Jener Mensch im Menschen hat die Aufgabe, die zahmen Triebe zu fördern, die wilden zu bändigen, damit die Tiere sich nicht gegenseitig zerreißen. Das kann der Geist nicht aus eigener Kraft, er muß sich dazu des Löwen bedienen . . . Während eine neuere analytische Psychologie die Seele in gegensätzliche abstrakte Elemente zerschnitt, die keine Verbindung wieder eingehen, läßt Piaton jeden Teil als ein Seelenhaft-Ganzes unberührt. Der Teilung in der populären Psychologie: Denken, Wollen, Fühlen scheint die Platonische Dreiteilung ungefähr zu entsprechen, aber sein Geist bleibt als solcher Wille und Lust, wenn auch beides in geistiger Sphäre, so daß er für die Gestaltung der leiblichen Welt eines Mittlers bedarf, des Löwen, des bluthaften Eifers, der zugleich dient und herrscht, durch den er in die Welt eingreift. Der untere Teil wieder ist nicht reines Lustgefühl, sondern triebhafter Wille nach Lust. Gefühl und Lust durchwalten ja die ganze Seele, sind die Seelensubstanz, ebenso Trieb und Wille. So wird die Seele nicht zerschnitten, sondern gliedert sich in Rangstufen: oben der Wille zur Erkenntnis, der Geist wird; vermittelnd der eifrige Wille, der willig dem Geist dient; unten der dumpfe Trieb zur Lust. Dies Chaos der Triebe hat an sich schöne und häßliche Teile, unbeherrscht ist es im Ganzen durch wirre Ungestalt häßlich, beherrscht ordnet es sich in die Schön244
heit. Das ist der Schlußakkord. Aber Piaton will das Gleichnis nicht dem denkenden Geiste vortragen, sondern mit der Gewalt des Bildhauers in die Seele meißeln. „Bilde dir eine Gestalt (Idee!) eines schillernden und vielköpfigen Tieres . . ." „Das Werk eines gewaltigen Bildners", antwortete Glaukon. „Füge die drei Wesen in eins . . .". „Sie sind gefügt." Es darf nicht ausgeführt werden, wie nach allen Seiten hin dies Gleichnis das schöne Maß bewahrt, weil Piaton nach keiner hin „transzendiert" und mit behutsam-pflegender Hand alles Lebendige anfaßt, die Grenzen des „Bildes" nicht überschreitend. So rennt heute das ermattende Lebensgefühl gegen den Geist als Feind des Lebens an, weil man ihn nur noch in rechnender Mechanik erkennen will. Der Platonische Geist zwingt die Begierden in die schöne Einheit — die Seele, die auf die Herrschaft verzichtet, wird zur Sklavin der chaotischen Triebe. (589 A. 590 C.) Wir finden in diesem Bilde den Sinn des Platonismus und, mit Goethes Wort, der „Griechheit" am offenbarsten. Vielleicht ruht das Geheimnis seiner Schönheit darin, daß die Tierheit im Menschen nicht geschwächt, wohl aber harmonisch gebändigt ist durch jenen Menschen im Menschen dieses Gleichnisses, dies höhere Selbst, denn diese reine Menschlichkeit ist, wie Piaton ganz im Goetheschen Sinne zu bemerken nicht unterläßt, zugleich das Göttliche. Piatons Wille und Ideenschau ist nicht Abgeschiedenheit, sondern göttliche Weltordnung, Weltschöpfung. Jeder Einzelne muß sich von diesem Weltgeist formen lassen. Aber Piaton ist nicht protestantisch genug, um zu hoffen, daß alle oder auch nur viele das Bild dieser Gottheit in ihrer Seele finden. Das gelingt nur dem Weisen. Daraus ergibt sich der wahre Sinn des Staates: Seine Rangordnung bewirkt, daß der Große, der das Göttliche in sich fand, die Menschen in seinem Dienste eint und dadurch verschönt. So ordnet das Göttliche den Staat, ordnet durch ihn das Seelengefüge jedes Einzelnen . . . „Damit auch jeder Mensch beherrscht werde vom Gleichen wie der Beste, darum, meinen wir, müsse er Diener sein jenes Besten, der in sich selbst das Göttliche herrschen läßt, und glauben nicht, daß er, der Dienende, sich zu seinem Schaden beherrschen lassen soll, wie Thrasymachos von den Untertanen glaubte, sondern daß es für jeden besser sei, vom Göttlichen und Sinnvollen beherrscht zu werden . . am meisten, wenn er es als Eigenes in sich hat, wenn aber nicht, daß es gebietend von außen herantrete, damit wir alle so sehr wie möglich ähnlich und freund werden, durch das Gleiche beherrscht." (590 CD.) Das ist das Geistgesetz von Herrschaft und Dienst. Piatons Wollen hat, wie die meisten Leser, im Gespräch selbst Glaukon mißverstanden. Piaton ahnt, daß die Notwendigkeit, den Abstand vom Sinnenpöbel, vom Menschenpöbel herzustellen, den Verdacht der Weltabgeschiedenheit erwecken wird. Darum schließt er mit der nötigen 245
Berichtigung. Glaukon: „Die Staatsgeschäfte wird er also nicht betreiben wollen . . ." Sokrates: „Aber, beim Hunde! in s e i n e m (!) Staate sogar sehr! In seinem Vaterlande allerdings wohl nicht, es sei denn, daß ein göttliches Geschick eingreife." Glaukon: „Ich verstehe, du meinst den Staat, den wir in unserem Gespräch gegründet haben und der im Geiste gelegen ist — denn auf Erden besteht er wohl nirgends." Sokrates: „Aber vielleicht ist am Himmel ein Vorbild aufgerichtet für den, der schauen und schauend sich selber aufbauen will. Ob er aber irgendwo ist oder sein wird, macht keinen Unterschied, denn dessen Sache allein und keines anderen wird er führen" (952 A). Nur ein oberflächlicher Leser kann meinen, daß hier von einem unerreichbaren Kantischen Ideal im Himmel die Rede ist. Piatons Angebot ist, daß er sogleich diesen Staat, s e i n e n Staat, nach Möglichkeit verwirklichen will, sein Bekenntnis ist, daß er auch jetzt schon nichts anderes tut, als daß er im Sinne dieses Staates schon in der Akademie wirkt. Es ist ein Streit um Worte, ob man jenen Schwur deuten soll: der geistige Staat soll gegründet werden oder ist schon gegründet. VII. Mit dem Schluß des IX. Buches ist das eigentliche Gespräch beendet. Das X. Buch entspricht als Nachspiel symmetrisch dem I. Buch, dem Vorspiel. Es ist ein großer Mythos wie auch in Piatons Werk nur wenige. Kephalos, der Greis, hat anfangs die Gerechtigkeit als Sicherung f ü r das Leben nach dem Tode gesucht. Später wurden die Mysterienkulte, die durch äußere Handlungen, ohne ethische Läuterung, ein glückliches Leben nach dem Tode verheißen, verdammt. Nun wird die Frage gelöst durch die Lehre vom Totengericht und der Seelenwanderung. Aber wenn Kephalos, besorgt um persönliche Rechtfertigung, doch verwurzelt im überlieferten Volksglauben, die Politeia einknüpft in das griechische Schicksal, so erweitert Piaton im Schlußmythos den begrenzten Raum seines Staates zum Kosmos. Vor diesem grandiosen Schluß ist das Gespräch über Dichtung und Philosophie eingeschaltet, das den größten Anstoß erregt hat . . was bedeutet es an dieser betonten Stelle zwischen Schluß und Nachspiel? Im IX. Buch schloß das Hauptgespräch mit vollen und bedenkenlosen Tönen, das X. Buch aber setzt wieder ein mit der Kritik der Kunst wie mit einem zufälligen Nachtrage. Dieser Übergang ist so schülerhaft, daß man die Ironie nicht verkennen sollte. In Wirklichkeit holt Piaton an dieser Stelle aus zu seinem großen Schlage, und es ist in der Ernsthaftigkeit seines politischen Willens begründet, daß er diese persönliche Absicht wenigstens vor der Menge verhüllen muß: er will ja nicht den Weg des Tyrannen gehen, sondern vom Volke als Retter gerufen werden. Wer im X. Buche nichts sieht als einen Haufen ungeordneter Nachträge, versteht Piatons Werk nicht zu lesen, weil er nicht Platonisch die Einheit sucht. In diesem Buche herrscht Piatons Siegerwille, so daß er die Glättung der Übergänge verschmäht und herrisch in harter 246
Fügung die letzten Schläge austeilt. Man kann das Buch, zusammenfassen in dem Gedanken: Sieg des Platonischen Lebens im Staat und in den ewigen Seelen, „zeitlich und ewiglich". Nichts ist heute an Piaton so schwer erträglich wie sein Angriff auf Homer, nichts so zeitbedingt und darum im Vergleich mit unserer Zeit so wichtig und schwierig. Piatons Worte können so verstanden werden, als ob die Philosophie der Dichtung den Krieg erkläre. Dringt man aber durch die zeitlich bedingten Worte auf die wirkenden Kräfte, so sieht man den notwendigen und notwendig-ungerechten Krieg des neuen Gründers gegen den König des absterbenden Weltreiches. (Uns ist heute diese Schwierigkeit noch mehr bewußt, auch sahen wir Vergleichbares: Nietzsches Kampf gegen Piaton, sein neidisch geschautes Vorbild, seinen Kampf gegen verblassende Götter, um einen neuen Adel zu züchten.) Piatons Angriff (Kap. 1—8) gilt nur der n a c h a h m e n d e n Kunst, nicht der schöpferischen, aus Weisheit stammenden Kunst. (Deutlich im „Phaidros".) Schöpferisch ist das Leben- und Staatschaffende. Homer war der schöpferische Grieche, der Bildner der Nation. Wenn man aber in der Notwendigkeit der Erneuung und Verjüngung Piaton dies Buch als verbindlich entgegenhielt, nicht nur als Bild schönen Lebens, sondern als Gesetz selbst der Kriegskunst und der Handwerke, so war das ein Ausdruck dafür, daß Homer in den Griechen sich ausgewirkt hatte, daß die schöpferische Substanz verbraucht war. Piaton erkennt ihn als Dichterfürsten, dem alle Tragiker folgen, an, er bekennt seine Liebe zu diesem großen Zauberer. Ihm aber muß die Kunst seiner Zeit als tot erscheinen. Er verwirft die Malerei, denn sie spiegelt die Oberfläche und sieht ihr Ziel in naturalistischer Illusion. Aber auch die Dichtung seiner Zeit ist ihm nur Nachahmung, denn sie stellt das Leben dar, wie es oberflächlich noch ist, nicht das neue Platonische Leben: sie ist Nachklang des Gewesenen. Die Philosophie seiner Zeit, die Sophistik, achtet Piaton nicht höher als die Kunst, vielmehr verwirft er sie gänzlich. Er ist Tiresias unter den Schatten, er ist der Seher und der Richter, aus dem Weltgrunde das Bild des neuen Lebens beschwörend. Nur darum, nicht um zu moralisieren, greift er Homer an, der das neue Gesetz nicht zeigen, den neuen Staat nicht gründen kann. Um darauf zu deuten, hält Piaton ihm die Namen Lykurg und Solon entgegen (599 DE). Aber schon zweifelt er, ob er selbst dies politische Ziel in seinem Leben erreichen kann, und stellt ihm darum die eigene vorbereitende Leistung, die Gründung des geistigen Staates, der Akademie, entgegen, denn diese, das Platonische Leben, meint er allein, wenn er die vita pythagoreica nennt. „Aber wenn nicht in der Öffentlichkeit, soll dann Homer in seinem persönlichen Leben Führer der Erziehung für manche geworden sein, die ihn im Umgange liebgewannen und den Späteren einen Weg des Homerischen Lebens überlieferten, wie auch Pythagoras darum selber vor allen geliebt wurde und auch noch weiter seine Jünger, die ihre Lebensweise die Pythagoreische nennen, deswegen irgendwie hervorzu247
leuchten scheinen unter den andern?" Wenn Homer ein Erkennender, kein Nachahmender gewesen wäre, dann hätte er sich viele Jünger „geschaffen" (gedichtet, l'K.ovqoa.io !) und wäre von ihnen verehrt und geliebt worden (600 A—C). Diese Leugnung des Homerischen Lebens i s t ungerecht, aber solche Ungerechtigkeit war an der Weltwende notwendig. Piaton weiß, daß er eine schwere Rechtfertigung schuldig ist. Auch kann er sich keineswegs entschließen, die von ihm geliebte Dichtung Homers aus dem Staate zu verweisen: nur die Einsicht verlangt er: daß sie nicht Wahrheit und Ernst ist (607 E—608 A). Es ist jetzt nicht die Stunde mehr der reizvollen, der „süßen" Dichtung (607 A), des ungehemmt blühenden und wuchernden Lebens. Auch er liebt Blüte und Feuer der Jugend, aber darum muß er ihr ein härteres Gesetz auflegen. In seinem Staat sind allein erlaubt Hymnen auf die Götter, Preislieder auf die Edlen. Diese Dichtung kann nur aus dem neuen Mythos blühen. Ihn leitet Piaton ein mit der Lehre von der unsterblichen Seele. Wie der Leib des Meerdaimons Glaukos ist sie im irdischen Leben verstümmelt und durch Muscheln, Tang, Getier verunstaltet. Er will sie rein und geläutert. Damit scheint die Politeia einen orphischen, weltflüchtigen Abschluß zu erhalten. Aber es geschieht etwas Seltsames. Zwischen Unsterblichkeitslehre und Endesmythos verleiht Piaton dem irdischen Leben den Siegeskranz, der hier am wenigsten hinzugehören scheint und den Anstoß der Kritiker erregt. Gott kennt die Gerechten, er liebt sie und wird ihr scheinbares Unglück zum Besten wenden. Die tyrannischen Menschen springen wohl scharf ab beim Wettlauf des Lebens, aber zuletzt versagen sie und werden verlacht, wenn sie mit hängenden Ohren und ohne Kranz davongehen. Die Gerechten aber sind die wahren Läufer, sie greifen den Siegespreis und werden bekränzt. Ja selbst was Glaukon anfangs als Glück der Tyrannen pries, daß sie die edelste Gattin freien und den besten Schwiegersohn wählen, überträgt Piaton nun auf den Gerechten! Undenkbar scheint es den Kritikern, daß Piaton als Lohn der Arete äußeres Glück verheißt — doch kann es nicht Ironie sein. Hier, kurz vor dem Ende, lockt der tatbegierige Piaton seine tatkräftigen Jünger. Den Geist mit der Macht wieder zu verknüpfen ist das Ziel der „Politeia", und diese politische Macht soll verknüpft sein mit irdischem Glück. Das ist keine philosophische Behauptung, sondern eine politische Forderung! Piatons Staat soll das Ziel verwirklichen. Denn es wird keineswegs alles denkbare Glück auf den Sieger gehäuft. Nur Zweierlei wird genannt: der Ruhm und die Hochzeit. Undenkbar, daß Piaton die Aufhebung der Familie vergaß. Die Hochzeiten, von denen er redet, sind die heiligen Mittel der Eugeneia: die Herrscher geben den Siegern die edelsten Gattinnen, und wer selbst Herrscher wurde, bestimmt die Hochzeiten derer, die als seine Töchter und Söhne bezeichnet werden und es vielleicht sind. Kein Zweifel, wenn es auch in kein Lehrbuch paßt: Piaton lockt in diesem 248
Augenblick gehoffter Entscheidung seine Söhne mit Glanz und Glück des irdischen Erfolges. Dieser Anruf ist kurz, denn er ist nur für seine nächsten Anhänger bestimmt. Nun verstehen wir, warum Unsterblichkeitslehre und Endesmythos die strengste Gesinnung im herbsten Tone aussagen. Was hilft der Eifer der Jünger, solange nicht die Tyrannen erschreckt, die Bürger erschüttert sind. Nur aus dieser Notwendigkeit ist der Ton verständlich. Schon die Begründung der Unsterblichkeit beweist, daß hier Drohung gegen die Feinde, nicht Lockung der Anhänger zur Weltflucht gemeint ist. Der Ungerechte muß wünschen, daß seine Seele mit dem Tode vergehe. Aber die Tatsache, daß die Schlechtigkeit, die Krankheit der Seele diese nicht wirklich tötet, ist der Beweis ihrer Unsterblichkeit. Die Politeia schließt wie ihr Vorläufer, der „Gorgias", mit dem Totengericht. Aber gewaltig hat sich Piaton entfaltet. Im „Gorgias" schleudert er im Zorn, verzweifelnd am irdischen Siege, auf die gewissenlosen Gegner den Höllenfluch. In der Politeia steht er hoch über den Reihen der Kämpfenden und spricht, gleichsam ein Weltenrichter, mit eherner Ruhe das Gesetz der Notwendigkeit aus. Hart setzt der Mythos ein. „Keine Alkinoosgeschichte will ich dir erzählen, sondern die eines wehrhaften Mannes, des Er, Armenios Sohn, eines Pamphyliers." Dieser lag zwölf Tage scheintot zwischen verwesenden Leichen. Dann erwacht er auf dem Scheiterhaufen. Seine Seele hat am Ort des Totengerichtes geweilt, und die Richter geben ihm den Auftrag, nach seiner Rückkehr den Menschen zu berichten. Schon die Person des Erzählers weitet den Raum aus: kein Grieche, ein fremder Krieger. Dargestellt ist der ganze Weltbau als Werkzeug der Notwendigkeit, als Spindel, die Ananke selber in ihrem Schöße dreht. Von Pol zu Pol streckt sich durch die Spindel die stählerne Achse, welche die acht Sphären der Planeten und des Fixsternhimmels trägt. Anankes drei Töchter Lachesis, Klotho, Atropos sitzen auf ihren Thronen und legen Hand an die Sphären, um ihren Umschwung mitzubestimmen. Sie begleiten die Töne der Sphärenharmonie mit ihren Gesängen von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Das ist das Bild der stählernen Notwendigkeit. Wo aber ist die Willensfreiheit, auf die sich doch Staat und Gericht gründen? Das kündet der Herold der Lachesis: „Das ist das Wort der Jungfrau Lachesis, Anankes Tochter: Ihr Eintag-Seelen! Der Beginn des neuen Umlaufes ist da, todbringend dem menschlichen Geschlechte. Nicht Euch wird der Daimon erlesen, sondern ihr wählt den Daimon . . . Die Schuld ist des Wählenden, Gott ist schuldlos!" . . . Im Gleichnis wird das Rätsel der Willensfreiheit gelöst: Freiheit ist Herrschaft von Geist und Seele über den Körper, ist Ablehnung des Mechanismus . . . aber der Wille ist nicht undeterminiert, er schwebt nicht beziehungslos im 249
Raum, denn der Mensch ist unbedingt abhängig vom angeborenen Charakter. Dennoch ist der Mensch verantwortlich, denn einmal in tausend Jahren hat die Seele freie Wahl, sie wählt Schicksal und Charakter, an die sie für tausend Jahre unwiderruflich gebunden ist. So ist die Frage nach dem Tugendwissen beantwortet. Im Leben hilft alles Moralisieren nicht, denn wer vor der Geburt falsch wählte, ist doch zum Verbrecher verdammt. Auch Wissen ist Frage des Charakters, und Lehre ist nur der Weg seiner Entfaltung. Dennoch liegt alles Heil in der Weisheit — denn nur sie lehrt für das künftige Jahrtausend die Wahl des rechten Daimons. Das Heil liegt nicht wie bei Kant im guten Willen, denn auch dieser irrt . . . es liegt nicht im Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft: es liegt allein in der Erkenntnis der Idee des Guten. Der Weise wählt jedesmal richtig und scheidet darum aus dem tausendjährigen Wechsel der Geschicke aus. Niemand kann sich mit Willensunfreiheit entschuldigen, denn wenn er den schlechten Charakter wählte, tat er das, weil er im früheren Leben keine philosophische Erkenntnis erwarb. Zehnmal muß er jede Schuld des Lebens büßen. Unheilbare Verbrecher aber, wie der Tyrann Ardiaios, werden in Ewigkeit gefoltert. Wenn sie nach der tausendjährigen unterirdischen Qual zur Wiese der Seelen aufsteigen wollen, dann brüllt die Mündung der Hölle auf und läßt sie nicht hinaus. Auf diesen Ton eilen die Teufel herbei („wilde Männer, ganz glühend anzuschauen"), fesseln Ardiaios und seine Genossen, schinden sie und schleifen sie über das Dorngestrüpp am Wege. Sie verkünden den wandernden Seelen jener Missetaten, um deretwillen sie in den Tartaros geworfen werden. So kündet Piaton Buße und ewige Pein, während die Freuden des Himmels nur beiläufig erwähnt werden — seine Krieger sollen (386 B), auf den irdischen Staat bedacht, wenig ans Jenseits denken . . . Wie fern ist Piaton der Überheblichkeit falscher Propheten. Er wird die Schwachen nicht stark machen, die Charaktere nicht ändern. Nur in den rechten Sprossen kann er Glauben und Weisheit entfalten. Nur wenn die Gottheit es fügt, daß er zum Haupt des Staates wird, kann der Staat als Organismus (nicht alle Bürger) gerecht und weise werden. Allein mit solchen Deutungen kann man den Mythos und seine letzten Bilder verstehen. Orpheus, der von thrakischen Weibern zerrissene, wählt nach tausendjähriger Wanderung das Leben des Schwanes, um nicht vom Weibe geboren zu werden. Aus Menschenhaß wählt Ajas den Löwen, Agamemnon den Adler. Odysseus, der viel Gequälte, wählt das Leben eines tatenlosen Privatmannes. Soll das heißen, daß dieser Verzicht echte Weisheit ist? Nein. Alle Helden und großen Männer, die in einem heilen Staate ein schönes Leben lebten, aber der Philosophie nicht teilhaft wurden, können darum nach ihrem Tode nicht die richtige Wahl treffen (619—620 D). Sie taumeln von e i n e m Schicksal in das entgegengesetzte, nicht bessere. Piaton aber würde, wenn ein solches Los im Schoß der Lachesis liegt, das Leben des Philosophen-Königs und 250
Staatgründers, des weisen Tatmenschen, wählen! So stellt sich die Einheit des ganzen Nachspieles dar. Piaton hat vordem gesagt, daß der Gesetzgeber nur die Grenzen der Dichtung zu bestimmen habe, nicht selbst dichten müsse — ein Hinweis, daß Piaton dies Beispiel dennoch geben wird: den Endesmythos. Daß er zuvor die homerische Dichtung ablehnt, ist ein Ausdruck dafür, daß er bewußt mit seinem Mythos der Dichtung den neuen Weg weist. Das Vorspiel am Piräus hat die unmittelbare Gegenwart erzählt, das Nachspiel stellt dagegen Dichtung und Ewigkeit dar. Und weil dieser Mythos vom gegenwärtigen Handeln ablenken könnte, so ist der Wettkampf Platonischer Staatsmänner und ihr irdischer Siegespreis eingeflochten. Wenn in der Politeda Piatons politische Sendung so offen liegt, nicht, wie im übrigen Werk aufgedeckt werden muß, hat er dennoch das Persönlichste in seinem Plane nicht vorzeitig der Öffentlichkeit preisgeben dürfen. An solchen Stellen sind wir, die andere Zeit, befugt, seinem Geheimnis nachzuspüren. Mit dem Endesmythos will er das Platonische Zeitalter in neuer Dichtung gründen. Dies ist die einzige Frage, in der unsere Zeit zur Kritik an ihm berechtigt wäre. Seine Höchstschätzung der Philosophie kann uns nicht beirren, denn Piatons Philosoph ist der Weise, und als Dichter im wahren Sinne gilt auch uns nur, wer zugleich der Weise und Träger der schöpferischen Weltkraft ist. Piaton hat nicht nur Homer glühend geliebt — auch im „Staat" ist die Erziehung ganz überwiegend die dichterische. Aber es bleibt bestehen, daß er von der neuen Dichtung verlangt, daß sie auf den Zauber des Verses verzichtet! Piaton gibt das neue Weltbild und Bilder des schönsten Menschentums, den Urgrund neuer Dichtung — aber er gibt nicht das Gedicht. Überflüssig zu fragen, ob seinem Genius das Gedicht versagt war, oder ob es die Zeit verbot. Alle Kunst stand damals noch auf einer Stufe hoher Vollkommenheit. Sie benutzte virtuos die übernommenen Kunstformen der großen Zeit, aber sie ergriff, verwandelte und formte nicht mehr den Gesamtmenschen. Nicht Sokrates hat (wie Nietzsche deutet) den Mythos zerstört, er hat nur die unerbittliche Wahrheit klar gesehen. Ein Zurück zu Homer war nicht möglich: die gestorbenen Götter sind nicht zu erwecken. Vielleicht konnte in der noch blühenden Zeit die erneuernde Erschütterung nur ausgehen vom Gegensatz: dem herben Verzicht. Und wenn Piatons Mythen nicht neben Homers Dichtung stehen, so sind sie doch die Wurzel neuer Dichtung. Andere Zeitmaße gelten für den Aufbau des geistigen Staates als für die politische Tat: Denn wer könnte in der Wanderung des noch nicht gestorbenen Er über die Seelenwiese, auf der Himmel und Fegefeuer münden, in der Höllenpein des Ardiaios, im Paradies des Phaidros und Phaidon die Bilder verkennen, die nach anderthalb Jahrtausenden im höchsten Werk des christlichen Weltalters zum Gedicht wurden und dadurch zu einem Hauptelement der Renaissance? . . . 251
Das ist nur der Ausklang der Politeia, denn das Herz des Werkes, die Platonische Staatgründung, ist bis heute noch nicht volle Gegenwart geworden. Wenn Piaton in der ersten Periode seines Schrifttums, fast bis zum 40. Lebensjahr, um die politische Macht kämpfte, wenn er im „Gorgias" davon zurücktritt und in der zweiten Periode in der Akademie die reine vita Platonica, die Vorform eines geistigen Reiches stiftet, so schließt dies unbedingte Ziel das bedingte nicht aus: Piaton erklärt seine Bereitschaft, falls Athen zum Sinneswandel bereit ist, die Neuschaffung des politischen Staates auf sich zu nehmen. Darum sagt Piaton am Schluß des Hauptgespräches (Ende des IX. Buches) deutlich genug: Er selber wirke schon im neuen geistigen Reiche, das in sich den Willen zur politischen Verwirklichung trägt — nun ist es an den Athenern, sich zu entscheiden, ob sie ihm die Macht übertragen oder ihre letzte Weltstunde versäumen. Die Politeia steht auf der Grenzscheide zwischen letzter Hoffnung auf die Königswürde in Athen und endgültigem Verzicht. Wer aufmerksam liest, findet viele Hinweise auf die eigene Person. Nicht das formale Recht, sondern die K r a f t , die echte Männer und Staaten schafft, ist Gerechtigkeit (443 B). Niemand zweifelte, daß Piaton Träger dieser Idee, dieser schaffenden Gerechtigkeit sein wollte und daß die göttliche Fügung, die in Brief und Gespräch oft genannt wird, seine Berufung zur Herrschaft sein würde. So stellt er fest: im demokratichen Chaos (also Athen) kann kein Einzelner sich der demagogischen Verführung entgegenstemmen. In dieser Luft kann niemand zur Tugend kommen —„wenigstens nicht im Menschlichen, — das Göttliche, mein Freund, laß uns ausnehmen! Denn man muß wissen, wo immer es bei einer solchen Verfassung des Staates geziemend bewahrt ist oder sein wird, man nicht zu Unrecht sagt: Gottes Fügung habe es bewahrt" (492 E). Dieser Unbefleckte, Göttliche, von Gott geleitete, nicht mehr Menschliche ist allein Sokrates-Platon. Sokrates selbst betrachtet sich mit hohem Stolz als den Daimonischen. „Nicht nötig, von unserem Falle zu sprechen, vom Daimonischen Zeichen, ist es doch wohl kaum irgendeinem anderen vormals zuteil geworden" (496 C). Es ist nicht unmöglich, daß Piaton, wo er einmal beide Personen trennte, in Sokrates den Daimonisch getriebenen, in sich selbst den von Gott zur Vollendung berufenen, den Göttlichen sah. Die geheimnisvolle Zahl, von der die Erhaltung der Eugeneia abhängt, hat Er in seinem Besitz — nur Er weiß die rettende Formel, kann den neuen Staat gründen, der für einen neuen Weltumlauf beständig bliebe. Er erklärt sich zur großen umwälzenden Tat bereit: er will die Kinder für den neuen Staat erziehen, die Erwachsenen aufs Land schicken. Der einzigen noch bestehenden gesamt-hellenischen Macht, Delphi, bietet er die Hand zum Vertrage. Delphi soll auch in seinem Staate die Kulte ordnen, und die Heiligsprechung der Heroen bedarf seiner Genehmigung (427 B, 540 C). Für die Herrscher fordert Piaton, daß nach ihrem Tode der Staat ihnen Denkmäler und Opfer weiht wie Daimonen, wenn 252
es die Pythia gestattet, sonst aber wie seligen und göttlichen Menschen. Dabei mag Piaton an sich selbst gedacht haben, denn noch denkt er, Ahnherr der Philosophenkönige zu werden. Staatgründung heißt Rangordnung, heißt Herrschaft und Dienst. Aber Platonische Herrschaft, Gegensatz der Tyrannis, dient dem Besten der Beherrschten: Herrscher und Dienende sind Freunde (590 D). Das ist das Angebot, das Piaton zum letzten Male der Vaterstadt macht. Noch einmal wägt er geistiges Reich und politische Macht gegeneinander ab. Es ist jene berühmte Stelle, daß der Philosoph in verwilderter Zeit es als süß und selig empfindet, gleichsam im Sturmwetter unter eine schützende Mauer zu treten, sich abzusondern vom rasenden Volke, um sein Leben still und fromm zu verbringen, bis er sterbend heiter und mit schöner Hoffnung Abschied nimmt. (Das ist Sokrates selbst.) „Aber es wäre nichts Geringes, was er vollbracht hätte . . . " flicht Glaukon ein. „Aber auch nicht das Größte — antwortet Sokrates — weil er den Staat nicht fand, der ihm zukam. Denn in dem ihm gemäßen Staat wird er selbst noch stärker wachsen und mit dem Eigenen zugleich das Gemeine retten" (496 C—497 A). Die Philosophie beweist und vollendet sich erst in der staatlichen Macht. Das ist die Formel der Platonischen Hoffnung, in der er seine Person und seinen Staat gegeneinander stellt. Sie wäre der Schluß der Politeia, wenn man sie läse als Proklamation an die Athener.
XVI. P H A I D R O S Piatons Seele und Schicksal Endlich hat Piaton in der „Politeia" sein politisches Wort an die Öffentlichkeit gesprochen, seine Aufgabe im Hier und Jetzt hinlänglich dargestellt. Aber es liegt in der Natur des menschlichen Wollens, daß jede tätige Aufgabe eine Entsagung und Einengung ist gemessen am Bilde höchsten Menschentums, höchster Vergottung, das im größten Erleben die Seele überwältigte. Das Tagewerk ist enger als der WeltenTraum, der Zweckwille enger als die schöpferische Seele. Der Politeia sind asketische, rationale, stoische Regungen beigemischt, die man bisher zu Unrecht als Piatons Wesenskern ansah. So wäre denkbar, daß seine Jünger, die so lieblos seinen „gesunden Staat" verwerfen, auch einige Bedenken gegen die Politeia selbst äußerten. War der Gott der Akademie, Eros, nicht entwürdigt, wenn er als Tyrann im Menschen, als Bild des Tyrannen im Staat zum Satan wurde? Piaton könnte solchen Einwänden lächelnd recht gegeben haben. Für den Staatgründer hatte er die heilige 253
Lüge in Anspruch genommen. Er hätte etwa sagen können, daß die Politeia ein exoterisches Werk sei, denn wenn dieser Begriff überhaupt anwendbar ist, dann gilt er für die Politeia im Gegensatz zum folgenden „Phaidros". Und wenn die Jünglinge etwa glauben mochten, daß der nun fast sechzigjährige Piaton ihre eigene erotische Leidenschaft nicht recht verstehe, dann durfte er ihnen einmal, nur dies eine Mal, sein eigenes daimonisches Erleben bekennen, neben dem die Erschütterungen der Jünglinge sich wie Kinderspiele ausnehmen mochten. Im Staat muß manches vom schönen Leben des Einzelnen der Ratio, dem Logos geopfert werden — jetzt singt Piaton im „Phaidros" der irrationalen Leidenschaft, der Mania seinen unerhörten Hymnos . . . Piaton hat in der Politeia selbst die Antwort vorgezeichnet, die Athen auf sein Werk hätte geben sollen: alle sollten ohne Zaudern mit den nächstliegenden Waffen auf den Lehrer der Paradoxie losstürmen, daß die Philosophen die berufenen Herrscher seien. Er hätte diese Antwort nicht vorweggenommen, wenn er sie wirklich erwartet hätte. Wir können uns denken, daß nach Veröffentlichung ablehnend und anerkennend allerhand darüber geredet wurde — nur das Wesentliche wird niemand begriffen haben: daß hier ein neues Weltalter, eine neue Lebensform heraufdämmerte. Der Schöpfer höchsten Ranges kann keinen Pakt mit seiner Zeit schließen, er muß selbst die neue Zeit schaffen. Sein politisches Angebot blieb ohne Widerhall, und niemand hatte Lust, Piaton mit der Herrschaft Athens zu betrauen. Das natürliche Ergebnis war sein Entschluß, mit vollem Bewußtsein die zweite Periode seines Schrifttums abzuschließen und sich auf den Lebenskreis der Akademie als Schulhaupt und Erzieher der Philosophen zu beschränken, wenn ihm auch Philosoph weiterhin Staatsmann bedeutet. Verzicht auf die unmittelbare politische Tat, vermehrter Anspruch auf die geistige Herrschaft! Man war immer versucht, den „Phaidros" als das Programm bei der Eröffnung der Akademie zu deuten, und tatsächlich ist er eine Kundgebung für die Erneuung des engsten Bundes. Die Hoffnung, seine Jünger zu Mitregenten des neuen Staates zu machen, schien gescheitert. Jetzt reicht er ihnen die Hand zur Beteuerung, daß ihr enges Zusammenleben Aufgabe und Sinn seines Lebens bleiben soll . . . Wenn in solchem Augenblick Piaton zur Berichtigung des Eindrucks der „Politeia" sich veranlaßt sah, den Jüngern sein tiefstes Erlebnis zu .erzählen, so erweiterte sich diese Erzählung zu einem Rückblick auf sein ganzes bisheriges Leben, einer Einknüpfung seiner Lehre in die Geschichte des Geistes, ja zur eigenen Einordnung ins Weltall. Jetzt hat er Muße zu Rückblick und Überschau — sagt er doch selbst, daß er diese Erinnerungen niederschreibt, um sie als Schatz für das vergeßliche Greisenalter aufzubewahren (267D). In dieser Rückschau sieht er sein Leben als ein hohes Glück. Im „Phaidros" erzählt Piaton seinem Jüngerkreise sich selbst. Nur so liest man das Werk als Einheit, nicht als 254
unharmonische Fügung. Zwar enthält es in sich das Gelenk zwischen der II. und III. Periode (259A), aber in Piatons Kunst wird dies Gelenk zum dichterischen Bilde der Erinnerung an sein glühendstes Erlebnis, so daß der „Phaidros" als Dichtung noch ganz zur zweiten Periode gehört und sie beschließt. Moderne Wissenschaft begreift sich als allmähliche erkennende Durchdringung der Welt, als Angliederung immer neuen Wissensstoffes . . . antiker Geist ist Wettkampf. Piaton ist der größte und letzte Vertreter dieses geistigen Agones, denn schon die anderen Sokrates-Schüler bereiten den kynischen und epikurischen Geist der Resignation vor. Kampf im Dienst der schöpferischen Kraft und friedensseliger Verzicht auf die Verwirklichung des stärksten, schönsten Lebens — das sind noch immer die Kennzeichen steigender und fallender Zeit. „Phaidros" ist f ü r den sechzigjährigen rückschauenden Piaton das Symbol seines Agones. Es genügt ihm nicht, Lysias zu entlarven, sondern er läßt wörtlich die Rede des Lysias verlesen, um zuerst im Wettkampf über den gefeierten eleganten Rhetor und Lehrer zu siegen. Es ist sehr bezeichnend, daß schon die spätere Antike das Verständnis für den Krieg des Schöpfers verloren hatte: man deutete den „Phaidros" individuell als Erstlingswerk der Jugend, als knabenhafte Streitsucht. . . Wenn man den Streit über die Rhetorik als Thema bezeichnet, so kann das nur oberflächlich gelten. Die Rhetorik war schon im „Gorgias" abgetan, und wie kann man in der schonungslosen Entlarvung des berühmten Lysias eine Milderung des frühern Verwerfungsurteils finden?! Die abstrakte und zeitlose Deutung, als ob Piaton gegen das Abstraktum „Rhetorik" gekämpft habe, besagt nichts, da er doch im „Protagoras", unvergänglich aber in der Apologie, Sokrates als Meister der großen Rede dargestellt hat. In der ersten Periode seiner Schriften entlarvt er die eitle Scheinkunst der berühmten Sophisten, die frevelhafte Selbstsucht der politischen Redner („Gorgias") — das waren damals die Gegenmächte, mit denen er um die Macht ringen mußte. In der zweiten Periode, der Erziehung in der Akademie gelten die feindlichen Mächte nichts mehr — nur als Einleitung wird Thrasymachos in die Politeia übernommen. Sinnlos wäre solcher Kampf an der Schwelle der dritten Periode, als Piaton sich in das Innere der Akademie zurückzieht. Nicht von politischen Größen, sondern von Lysias und Isokrates, sofern sie die beiden berühmtesten L e h r e r der Rhetorik, Lehrer der „allgemeinen Bildung" im Wettbewerb mit der Akademie sind, ist die Rede. Phaidros, den Schönen, den als echten Athener die Redegewandtheit bezaubert, will Platon-Sokrates erwecken, in ihn das Bild des höchsten Eros pflanzen, damit nicht sein Bestes von dem frivolen Lysias erstickt werde. Nur so wird die Einheit des „Phaidros" sichtbar, in dem der dichterische, fast überschwengliche Mythos und die trockene Deutung der Arbeitsmethode wunderlich fremd aneinanderstoßen. Jetzt denkt Piaton nicht an politische Macht und grenzt sich ab im Kreise, den seine Liebe beherrscht. Daß in solchem 255
Geschehen der künftige Gehalt einer Nation gegenwärtig werden kann, ist mitgegeben, nicht beabsichtigt. Das höchste Erlebnis Piatons, die Sokratisch-Platonische Seele, ist die Bewegerin der neuen Welt. Groß wäre die Gefahr für die Jünger, deren Herz ergriffen ist, daß sie den Abstand vergäßen und den Ikarus-Flug versuchten. Ihnen gibt Piaton im zweiten Teil die Weisung, wie sie in ernster und systematischer Besinnung und Arbeit ihren Geist vorbereiten, denn das erweckende Erlebnis ist Geschenk des Himmels, nicht eigene Wahl. Aus Piatons persönlicher Kraft, die mit „Kunst" viel zu eng bezeichnet ist, wächst dies Werk, das wir als sinnvolle Leistung zu deuten suchen, unmittelbar als Ausdruck des eigenen Wesens, ja des eigenen Schicksals. Nur der daimonischen Natur kommt dies Doppelgesicht allen Tuns und Sagens, ichhaft und welthaft, einmalig und ewig, willkürlich und notwendig, leibhaft und symbolisch zu. Für dies Einswerden der persönlichen, einmalig glückhaften Stunde mit der Mitte des Kosmos ist der Phaidros die erste und einzigartige Dichtung: der große Mittag der Seele. Sokrates läßt sich in der Vormittagshitze vom schönen Phaidros vor die Stadtmauer locken. Barfuß gehen sie durch das kühle Wasser des Iiissos zum nahen, von einer Platane beschatteten Hügel. Die Luft ist leicht bewegt, vom Duft der blühenden Sträucher und vom Gesang der Zikaden erfüllt. Auch Götterbilder fehlen nicht: Sokrates erkennt, daß sie sich vor einem Heiligtum des Acheloos und einiger Nymphen befinden — nicht fern von der Stelle, an der einst Boreas die Oreithyia raubte. Phaidros fragt, ob Sokrates an solche Sagen glaube, und dieser spottet über die Aufklärung, die alle Fabelgestalten rational zu erklären versucht. Ihm scheint solche Beschäftigung lächerlich, denn wie er in der Menschenseele allerhand Fabelwesen im Streite findet, so sind ihm hier auf dem Heimatboden die Götter wirklich, die aus Landschaft und Volksgeist an diesem Ort entstanden sind. Die Natur, die ganz gegenständliche, die ihn hier berauscht, ist die „physische" und zugleich göttliche. Erst ist es noch Scherz, wenn er sich von den Nymphen zu Versen begeistert fühlt, danach aber faßt ihn wirklich der Wahnsinn der Musen. Dann, als die Sonne den Scheitel überschritt, fühlt er sich von den Zikaden, den Dienerinnen der Musen, zum weiteren Gespräch angeregt. Und wie ernst ihm dieser Einklang mit der Landschaft und ihren Gottheiten ist, beweist der Schluß: sein Gebet an Pan und die andern Götter dieses Ortes! . . Das ist dichterisch, aber unromantisch! Dies wirkliche Dasein im glücklichen Augenblick, die Verbundenheit der Götter jn Landschaft und lebendiger Gemeinschaft mit den Menschen ersehnt der Romantiker, ohne sie zu finden. Unfaßbar aber ist für Piaton das Genießen der sogenannten „Natur" an sich. Sie ist ihm nicht Umgebung, denn er selbst ist Natur, ist ein Teil der Landschaft, weil der schöne Jüngling da ist, den er einbeziehen möchte in die Bewegung der Seele, und nur in dieser Bewegung ist seine eigene Seele wirklich. Wenn er 256
ohne Freund hinausgeht, so wollen ihm Bäume und Gefilde nichts sagen, sind nicht mehr lebendige Natur. Im Schatten der Platane lassen sich beide ins dichte Gras nieder, neben dem kühlen Bache, und Phaidros liest stolz des Lysias' Rede vor. Der Lüstling Lysias wirbt um Phaidros, und Sokrates will diesen aus solchem Einfluß lösen. Wie Hippokrates im „Protagoras" ehrt und liebt Phaidros den großen Sokrates, ohne dessen Größe zu sehen, die jeden Vergleich mit Lysias verbietet. Diesen Abstand kann ihm Sokrates nicht in Worten erklären, — er muß ihm die Augen öffnen, damit er selber sehe! So bleibt nur der Weg, die Vorliebe des Knaben ernst zu nehmen und mit aller Geduld die Gestalt des Lysias aufzulösen. Darum der Wettkampf zweier irreführender Reden. Es ist Übereifer des Werdenden, wenn Phaidros für die virtuose Leistung des Lysias begeistert ist, ohne ihren Gehalt zu bedenken. Sokrates spottet über die Rede, sein Spott ist dem schönen Knaben gegenüber schmeichelnder Scherz, der ernste Warnung in sich birgt. Daimonisch scheine sie ihm, er sei ganz erschüttert — zwar nur darum, weil das Gesicht des Vorlesenden vor Freude glänze. Phaidros müsse doch mehr von der Liebe verstehen als er, Sokrates, und deswegen habe er sich dessen göttlichem Haupte folgend mit ihm berauscht. Nur in einer vom Rausch getragenen Dichtung konnte Piaton sich einen so harten Kontrast erlauben: die blutlose gedrechselte Lysias-Rede von einem begeisterten Knaben vorgetragen in der selbst berauschten Natur, in deren Sonnenlicht sie zugleich fahl und grell geschminkt erscheint. Indem Sokrates dem Epheben huldigt, will er ihn leise darauf hinführen, daß er gegenüber der herzlosen Berechnung jenes Bewerbers die Schönheit im Einklänge der Natur und der in ihr wesenden Gestalten empfinde, und um ihn zu tieferer Besinnung zu erregen, versichert er scherzhaft, er zwar verstehe nichts vom Eros, aber er müsse wohl früher einmal Würdigeres darüber gehört haben — vielleicht von der schönen Sappho oder dem weisen Anakreon?! Ein bedeutsames Wort: nach dem Dichterangriff der Politeia beruft sich Piaton auf die Weisheit der großen Lyriker! Vergebens — besessen von der rhetorischen Leidenschaft, die Piaton an der Jugend doch nicht ganz ungern sieht — versteht er zwar augenblicklich jede Schattierung der Sokratischen Ironie, aber er preist weiter die Vorzüge der Lysianischen Rede, ohne ihren Gehalt irgendwie zu verteidigen, die er nur als Lösung einer willkürlichen Aufgabe, nicht nach ihrem Sinn betrachtet. . . Wer darf wegen dieses noch einseitigen Eifers Phaidros einen geistlosen Schwätzer schelten! Der Witz, mit dem der Jüngling Sokrates die Neckerei anmutig zurückgibt, die Kühnheit, die nie die Grenze der Ehrfurcht verletzt, der Eifer, mit dem er auch Sokrates immer wieder zur Rede zwingt, die schöne Freiheit im Dienen, das sind die Eigenschaften der Platon-Lieblinge Charmides, Glaukon, Adeimant. Warum zeichnet aber Piaton den eifrigen Epheben dennoch so sperrig gegen die wahre Erweckung? Piaton will kein Wunschbild zeich17 Hildebrandt, Piaton
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nen, sondern den Knaben, um die er wirbt, weil sie schön und begabt sind, einmal zeigen, wie sie wirklich sind. Er will ihnen zeigen, welche göttliche Geduld er mit ihnen haben muß, wenn sie sich immer wieder verrennen, statt die schlichte Wahrheit zu sehen. Diese Sperrigkeit der Epheben ist schuld, daß ein Piaton mit einem Lysias in die Schranken treten muß, und nur die Liebe für sie rechtfertigt das bedenkliche Kampfmittel: Sokrates vertritt anfangs wie ein Advokat die Meinung, die er für falsch hält. Das Bedenkliche dieses Vorganges hat Piaton kunstreich (auch abgesehen vom Widerruf) fast auf ein Nichts zurückgeführt. Erstens hält Sokrates die Wettrede mit verhülltem Haupt — durch diese Gebärde ist sie als unecht gebrandmarkt. Dann wird Lysias entlarvt als der in Phaidros Verliebte, der sich kalt stellt, um den Geliebten zu gewinnen. Damit erscheint der Charakter des Lysias weniger gemein als die Rede selbst — aber damit sind beide Reden von vornherein für unwahr erklärt! (237 B.) Drittens läßt Sokrates den verwerflichen Teil der Rede fort: Er beweist, daß der Jüngling den Verliebten nicht wieder lieben soll, aber nicht, worauf es Lysias allein ankam, daß er dem Nichtverliebten seine Gunst schenken soll. Auch mit dieser dreifachen Sicherung kann Piaton keine leere Parodie schreiben. Die erste Sokrates-Rede hat Sinn, wenn man sie nicht auf Eros, sondern auf die Geschlechtslust bezieht. Aber Phaidros denkt nur an die Redekunst, nicht an die leibliche Gegenwart, so daß selbst dies häßliche Bild der Gier ohne Liebe ihn nicht erinnert, welch edler Eros sich in Sokrates darstellt (240D). Vielleicht wollte Piaton vor seinem höchsten Lobgesang auf Eros die Blasphemie auf die Spitze treiben und zugleich die reinliche Ablösung der bloßen Geschlechtslust vom echten Eros vorbereiten. Gegen Phaidros' Bitte weigert sich Sokrates, den gemeinen Satz, man solle dem Nichtverliebten seine Gunst schenken, zu verfechten: damit tritt er von der Wette zurück. Er scheint Phaidros ein wenig zu zürnen, zu dieser widrigen Rede gezwungen zu sein — er will den Bach durchschreiten und allein zur Stadt zurückkehren. Daß der Jüngling so eifrig um ein Gespräch über die Reden bittet, mag ihn versöhnen. Da aber drängen sich höchste Erinnerungen und Sehnsüchte, durch den zauberhaften Mittag erweckt, vorher durch die unsinnige Aufgabe gewaltsam zurückgestoßen, mit Gewalt auf seine Lippen, und plötzlich wandelt sich Ton und Gebärde. Das Mythische streift nun alle glitzernde Ironie ab, und wo der Scherz noch durchklingt, ist es nur, um die überwältigende Erhabenheit der Eingebung ins Menschliche zu mildern. „Als ich mich eben anschickte, den Bach zu durchschreiten, da geschah mir, wie ich es gewohnt, jenes Daimonische Zeichen, und die Stimme glaubte ich aus diesem Orte zu hören, die mir verbot, von dannen zu gehen, ehe ich mich entsühnt hätte, weil ich gegen das Göttliche gefrevelt hätte!" Er sei Seher genug, um den Frevel zu wissen, und schon, als er noch redete, 258
habe ihn die innere Unruhe geängstigt. Und da Phaidros noch nicht begreift: „Arg, Phaidros, arg ist die Rede, die, die du mitbrachtest, und die andere, die du mich zwangest zu halten. Einfältig und fast gotteslästerlich, und was gibt es Ärgeres? — Glaubst du nicht, Eros sei Sohn der Aphrodite und selber ein Gott?!" (Darin zeigt sich, daß Piaton persönlich die Pflicht des Widerrufs fühlt. Im Gastmahl hat er die Gottheit des Eros geleugnet, ihn einen Daimon genannt . . jetzt huldigt er ihm als dem Gott: die Eros-Verehrung ist bei dem Sechzigjährigen noch gewachsen. Unmöglich die Ausflucht, diese ganze Erklärung als Spiel abzutun! Wer dies für den Stesichoros-Mythos tun mag, kann es doch nicht für dessen Einleitung. Welche heiligere Bekräftigung wäre denn Piaton möglich, als die Berufung auf das Daimonion des Sokrates?) Stesichoros, der Dichter, sei einst erblindet, weil er Helena verleumdet hatte, da habe er seine Palinodie gedichtet und sei wieder sehend geworden. Sokrates will, ehe ihn die Strafe trifft, eine Palinodie singen, barhäuptig, da er sich bei der frevlerischen Rede verhüllt hatte. Schamlos waren jene beiden Reden! „Wenn nämlich ein Mann von edler und gütiger Wesensart, der andere gleicher Art liebt oder früher geliebt hat, von ungefähr uns zugehört hätte, daß die Verliebten um Kleinigkeiten großen Zank anfangen und daß sie gegen die Lieblinge neidisch und übelwollend sind, glaubst du dann nicht, er würde meinen, Leute zu hören, die unter Ruderknechten aufgewachsen sind und niemals eine großherzige Liebe gesehen haben?" Aus Scham und aus Furcht vor Eros will Sokrates mit einer neuen Rede, gleichsam mit Quellwasser, den bittern Meerwassergeschmack wegspülen. Zwar ist der leichtsinnige Phaidros so schnell nicht von seiner Leidenschaft für den Redewettkampf zu heilen — was Sokrates einen Stoßseufzer der Geduld entpreßt — aber doch zeigt die Art, wie er widerspruchslos den Tadel gegen Lysias hinnimmt und die Verheißung der neuen Sokrates-Rede ihn mit Freude füllt, daß er sich Sokrates viel näher verbunden weiß als Lysias. Der Zauber der Sokratischen Persönlichkeit wird in drei Zeilen mit einem Bilde angedeutet, dessen höchste Anmut eben wieder nur mit einem Platonischen Bilde, mit dem Gebärdenspiel zwischen Sokrates und dem zu seinen Füßen auf dem Schemel sitzenden jungen Phaidon zu vergleichen ist. Sokrates fragt jetzt, als er die große Rede anhebt: „Wo aber ist mir der Knabe geblieben, zu dem ich sprach? Denn er soll auch dies hören, damit er nicht, ehe er es noch vernommen hat, dem Nichtlieb enden seine Gunst schenke." Diese Frage ist nur aus der Vorstellung zu verstehen, daß Sokrates den Stesichoros spielt. Von der Gottheit geblendet, tastet er im Dunkel nach dem Knaben, und aus dessen Antwort hören wir, wie er sich an ihn schmiegt: „Dieser ist immer ganz nahe bei dir, so oft du nur willst." Und Sokrates beginnt: „Du mußt wissen, schöner Knabe . . . ." So hebt der Hymnos von den „irrationalen" schöpferischen Mächten an, in deren Gefilden das Gebiet des Logos gleichsam nur wie eine das Leben sichernde 17'
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Festung liegt, der Hymnos auf die im Blut aufwallende Mania, den heiligen Rausch. „Nun aber werden die größten aller Güter uns durch den Rausch zuteil, wenn er als göttliches Geschenk verliehen wird. Denn die Prophetin in Delphi und die Priesterinnen in Dodona haben im Wahnsinn vieles Preiswürdige für Haus und Stadt in Hellas getan, bei klarer Besinnung aber Kümmerliches oder nichts." Dieser Rausch der Weissagung ist die erste, und zwar unterste, der vier Arten der Mania. Der Mania und Mantik gegenüber, der auch das Daimonion des Sokrates nahesteht, schätzt Piaton die nüchterne Technik der Vogelschau und Zeichendeutung gering. Die zweite Mania ist der Wahnsinn und die Besessenheit der Sühnenden. Man mag an Orest denken. Der dritte Wahnsinn ist „die Besessenheit von den Musen, die eine zarte und unentweihte Seele ergreift, sie erweckt und in Taumel versetzt. In Gesängen und der anderen Dichtung verherrlicht sie Tausende von Taten der Früheren und bildet so die Nachkommen. Wer aber ohne Wahnsinn der Musen den Pforten der Dichtung naht, im Vertrauen, daß er durch seine Kunst (Techne) ein zulänglicher Dichter werde, der bleibt selber ungeweiht, und von der Dichtung des Wahnsinnigen wird seine, des Verständigen, verdunkelt" (244A—245B). Die vierte und höchste Mania ist die Besessenheit von Eros. Ehe Piaton ihr Wesen zeigt, will er die Natur der Seele, der göttlichen und menschlichen, durch Beschreibung ihres Tuns und Leidens darstellen. Dann soll sich zeigen, daß Eros dem Liebenden und Geliebten zum größten Heile geschenkt wird. Bewußt stellt sich Piaton zum aufgeklärten, aber seelenlosen Denken seiner Zeit in feindseligen Gegensatz: „Diese Lehre wird unglaublich sein den großen Denkern, glaublich den Weisen." Nachdem er stolz die Grenze gezogen, auf logischen Beweis verzichtet, die Weisheit in Anspruch genommen hat, bestimmt er in einem monumentalen, sehr kurzen Kapitel (245C—E) seine eigene Stellung in der Geistesgeschichte. Er schließt sich an die Reihe der Vorsokratiker, welche die Weltsubstanz suchten. Das Bild der Sophisten taucht in so hoher Weltschau nicht auf, aber der Materialismus, Demokrit, dem schon der Krieg im Phaidon galt, ist hier Piatons großer ungenannter Gegenspieler, der die lebendigen Kräfte bedroht. Die Weltsubstanz der Vorsokratiker entartet zu totem Stoff, die Seele zur zufälligen Begleiterscheinung, die mit den Atomen im Winde zerstiebt. Das ist die müde Weltbetrachtung, die den Schöpfer- und Herrscherwillen der Seele lähmt! Gegen diesen Nihilismus hat Piaton die Lehre von der unsterblichen Seele geschaffen. Wie souverän ist diesmal der „Beweis". Die früheren Unsterblichkeitsbeweise sind beschwert mit Gedanken, die ins Begriffliche abschweifen. Jetzt ist die Lehre herrisch und zwingend hingesetzt, ohne den Gegner nur eines Blickes zu würdigen. „Wir/j} n a o a ¿cO-avaxoc." Alle Seele ist unsterblich. So beginnt die Kundgebung. Aber klingt nicht aus diesem griechischen Ausdruck eine 260
Andeutung, daß weniger die Unsterblichkeit jeder Einzelseele als die Ewigkeit der Weltseele gemeint sei? Piaton steht hier jenseits von Mikrokosmos und Makrokosmos. Der Beweis geht in dieser Richtung: „Unsterblich nämlich alles Immer-Bewegte. Aber Anderes-Bewegendes und von Anderem Bewegtes hat, wie Ende der Bewegung, so Ende des Lebens" (245 C). Das ist äußerst seltsam! Die Seele bewegt doch gerade das Andere, den Körper: aber als die ein Anderes Bewegende wäre sie sterblich?! Mir scheint ein solcher Ausdruck viel erleuchtender für Piatons Wesen, als seine dogmatisch-dualistischen Formulierungen. Er sieht Seele und Leib gar nicht geschieden, denn der Leib ist Ausdruckswerkzeug der Seele. Die Seele bewegt nicht den Körper, sondern s i e b e w e g t a l s L e i b s i c h s e l b s t ! Idee sehen heißt nicht vom Leibe absehen, sondern im Leib die Seele sehen! Piaton lehnt es ab, die freie Bewegung des Leibes irgend zu vermischen mit dem medianischen Bewegtwerden des toten Körpers (245 E). Wer sich diese Sehweise nicht zu eigen macht, muß nicht nur in Piatons Gesamtwerk, sondern allein schon im Phaidros-Mythos unerträgliche Widersprüche finden. „Allein das Sich-selbst-Bewegende, da es ja sich von sich selber nicht entfernt, hört niemals auf sich zu bewegen, sondern dies ist auch dem andern, das sich bewegt, Quelle und Ursprung (Arche) der Bewegung. Ursprung ist ungeworden. Vom Ursprung muß notwendig alles Entstehende entstehen. Denn wenn der Ursprung aus etwas Anderem entstünde, wäre er nicht ursprünglich." (Damit hat Piaton Arche als Substanzbegriff, die Bewegung als die Substanz der Welt, also das dynamische Weltbild im Anschluß an den Pythagoras-Freund, den Arzt Alkmaion, unvergänglich herausgemeißelt.) ~ „So ist der Ursprung der Bewegung das sich selbst Bewegende. Dies aber kann weder vergehen noch entstehen, sonst würde der ganze Himmel und die ganze Schöpfung zusammenfallen und stille stehen, und niemals mehr könnten sie wieder bewegt werden und entstehen." (Der unbewegte Stoff ist für Piaton, wie Timaios ausführt, nicht weit verschieden vom leeren Raum.) ,,-So hat sich als unsterblich offenbart das Sich-selbst-Bewegende, und man braucht sich nicht zu scheuen, dieses Selbe Wesen und Sinn der Seele zu nennen. Denn jeder Körper, dessen Bewegung von außen stammt, ist unbeseelt, der aber sich selbst aus sich selbst bewegt, beseelt: weil dies die Natur der Seele sei" (245 D - E ) . Man hat sich das Verständnis Piatons sehr erschwert, indem man ihn zum Systematiker einer Ideenlehre machte, aber bis hier hat er sehr wenig „Systematisches" darüber gesagt. Seine Gottheit ist die e i n e höchste Idee, die schöpferische Weltkraft. Man konstruiert nun, Piaton habe in der Begeisterung f ü r den Ideenhimmel alle Nicht-Idee verachtet und habe nun vor dem unlösbaren Problem gestanden, von der Idee zurückzufinden zu der Betrachtung des Lebendigen. An solchen Skrupeln hat Piaton nie gelitten. Er bezeichnet jetzt die Seele, die doch nicht selbst „Idee" ist, als die Substanz der Welt, und wer das Ewige an der Seele 261
betrachtet, der betrachtet die „Idee" der Seele, aber kraft der Anamnesis taucht er damit ein in die Idee des Weltganzen und die Idee des Agathon. Schwierigkeiten entstehen dadurch, daß man auf das Verhältnis der Ideen untereinander und zur Werdewelt die Gesetze der räumlichen Vorstellung anwenden will (der grobe Fehler des Aristoteles), die auf diesem Gebiet in der Tat versagen. Im Spiegel der Idee sieht Piaton auch alle Bewegung der Leiber, alle Farben und Töne der Sinne, alle Taten und Leiden der Seele. Das wird dadurch bewiesen, daß er den folgenden großen Mythos vom Seelenschicksal bezeichnet als ein Gleichnis f ü r die I D E E der Seele (246 A). Dieser Unsterblichkeitsbeweis ist der vollendetste gerade durch das, auf was er verzichtet. Er verzichtet auf die Unsterblichkeit der individuellen Seele und auf die Seelenwanderung und hebt damit das Wesentliche an Platons Seelen- und Unsterblichkeitslehre um so klarer heraus. Piaton hat wohl am Gedanken seines persönlichen Fortlebens gehangen, aber wesentlich ist dieser Gedanke im Werke nicht — ein großer Unterschied zwischen Piatonismus und Christentum! Aus staatlichen Gründen hat er auf die Belohnung im Jenseits nicht ganz verzichtet, aber diese Vorstellung wird sehr überwogen durch die Wertschätzung des leiblichen Lebens, wie die Krieger der Politeia möglichst wenig an den Hades denken sollen, während die Höllenstrafen dem Kampf gegen Tyrann und Verbrecher dienen. Alle Lehre vom Paradies ist dagegen mehr ein Bild für die Vollendung im leiblichen Leben als ein Erlösungs- oder ein Belohnungsbedürfnis. Hier im „Phaidros" scheidet Piaton einmal Lehre und Mythos, die Lehre eng beschränkend, im Mythos die höchste Erfüllung gebend. Die Lehre beweist nur allgemein die Unsterblichkeit. Die wirkliche „Idee" aber der Seele zu beschreiben, wäre eine schwierige und göttliche Aufgabe. Piaton bedient sich darum des dichterischen Gleichnisses — wenn hier seine eigene Bezeichnung nicht zu niedrig ist. Denn daß mit diesem Hymnos „von Sturz und Fliegen, Schweben und Gelähmtheit" der Seele etwas Neues in die Welt tritt, das wird hier spürbar. Unmittelbar wird Platons Seele Ton und Bild. „Wen der Mythos nicht als Mythos überzeugt, wer nicht zuerst erkennt: dies i s t die Seele, dies i s t , was da schwingt und stürzt, der mag mit einer Theorie ü b e r die Seele, die er aus dem Mythos ziehen mag, machen was er will." (Karl Reinhardt.) Die Seele gleiche der zusammengewachsenen Kraft eines geflügelten Gespannes und seines Lenkers. Der Götter Rosse und Lenker sind selbst edel und von edlem Blute, die der übrigen gemischt. Bei uns hält der Führer die Zügel des Gespannes, und das eine seiner Rosse ist schön und edel von Rasse, das andere aber das Gegenteil davon. Schwer und mühselig ist daher notwendig die Lenkung bei uns . . . " So kreist die geflügelte Seele auf der Höhe des Himmels. Wenn sie aber der Flügel beraubt wird, so stürzt sie in die Tiefe, bis sie auf einen Körper von Erde trifft, in dem sie Wohnung nimmt. So entsteht, aus Seele und Körper gefügt, das sterbliche Geschöpf (246). „Des Flügels 262
Wesen und K r a f t ist es, das Schwere aufzuheben und dorthin zu führen, wo das Göttergeschlecht wohnt. E r hat von allem L e i b l i c h e n den nächsten Anteil am Göttlichen. (Piaton übersieht, daß das Flügelgespann im Gleichnis Bild n u r der Seele selbst, nicht eigentlich des Leibes sein sollte. Wenn es nun plötzlich auch das Leibliche bedeutet, so sehen wir: Das Gleichnis ist Erlebnis des l e i b h a f t e n Menschen, Trennung des Leibes und der ewigen Seele sind theoretische Hilfsmittel, die Piaton nicht festhalten w i l l ! ) „Das Göttliche ist schön, weise, gut und alles, was dem gleicht, daran nährt sich und wächst am meisten der Fittich der Seele . . . durch das Entgegengesetzte, das Häßliche und Schlechte, schwindet er hin und wird zunichte . . . E r aber, des Himmels großer Fürst, Zeus, den Flügelwagen lenkend, fährt als erster dahin, der All-Ordnende und All-Waltende. Ihm folgt, in elf Zügen geordnet, das Götterund Daimonenheer, es bleibt nämlich Hestia allein im Götterhause zurück." Piaton schildert weiter den Glanz der seligen Orte, welche die Götter, geführt von den elf Hauptgöttern, befahren. Dann zu Mahl und Feiern steigen sie steil auf zum Scheitel der inneren Himmelswölbung. Da fahren der Götter Gespanne in sicherem Laufe, wohl gezügelt, leicht dahin. (Nur Hölderlin hat diese leichte Anmut der Götter und mühselige Schwere der Sterblinge so vollkommen dargestellt.) Wenn jene an den Scheitel der Wölbung gelangen, so fahren sie ins Freie hinaus, denn das Himmelsgewölbe ist (etwa der Pantheonkuppel vergleichbar) im Zenit geöffnet. So stehen sie nun außen auf dem Gipfel der Himmelskugel und werden von deren Drehung mitgeführt, während sie in die Schau der Dinge in diesem überhimmlischen Räume versunken sind. Und wie Dante an der Schwelle zaudernd, fährt Piaton fort: „Diesen überhimmlischen Raum hat auf dieser Erde noch niemals ein Dichter nach Würdigkeit besungen, und es wird auch nachmals keinem gelingen. Doch muß es gewagt werden . . . " Dieser Ort ist das Reich der Ideen. Ohne Farbe, ohne Gestalt, ohne Körperlichkeit ruht dort das wirkliche Wesen, zu schauen nur dem Lenker der Seele. Es ist umringt von wahrer Erkenntnis. Da laben sich während des Umschwungs die Seelen am Anblick der Gerechtigkeit, der Besonnenheit, des wandellosen Wissens . . . Wem's Freude macht, der mag in diesen Ideen die abstraktesten Begriffe verehren, doch besagt Piatons Gesamtwerk, daß die dem körperlichen Auge nicht schaubare Idee des Guten nichts anderes ist als die schöpferische Weltkraft, und der „Phaidros", daß man ihrer teilhaft wird durch erotische Glut! Nach dem Umlauf lenkt der Führer das Gespann in das Innere der Himmelskuppel zurück, f ü h r t die Rosse zur Krippe, um sie mit Ambrosia zu speisen, mit Nektar zu tränken. Modernes Denken kritisiert: die Rosse sind ja Seelenrosse — was brauchen sie andere Nahrung als die Ideenschau? Also n u r aus artistischen Gründen verleihe Piaton Götterseelen die gleichen Rosse wie Menschenseelen. Aber wo modernes Empfinden sich wehrt, pflegt Wesentliches verborgen zu liegen. Bloße Ausschmückung ist dies mythische Bild nicht, denn Piaton hat nicht unter263
lassen, vorher zu sagen, daß nur die Lenker, nicht die Rosse die Ideen zu schauen fähig sind. Man muß sein Wort stehen lassen: Piaton fährt als göttlicher Sieger mit dem Rosse des Eifers und dem Rosse der Lust, nicht als reiner Geist, in die „ambrosischen Hallen" ein. Das ist die Schönheit des mythischen Bildes: Das menschliche Roß der Lust ist verraßt und widerspenstig — wessen Lust aber so rein und edel ist wie der Eifer, so daß beide Rosse, ohne des Zaums zu bedürfen, der Schönheit folgen, der ist göttlich! . . . Jene unedle Lust des gemeinen Pferdes verschuldet das Unglück. Nur den besten Lenkern gelingt es, wenigstens das Haupt bis in den überhimmlischen Ort zu heben. Die andern geraten in vergeblicher Mühsal und großen Ängsten in wildes Getümmel, und ihre Schwingen zerbrechen, so daß sie zur Erde stürzen. Dort wird die flügellose Seele in einen irdenen Körper eingeschlossen. Damit knüpft Piaton dies neue Bild ein in seine Lehre der Seelenwanderung, fast im Einklang mit dem Mythos im X. Buche der Politeia (246 D—249). Und er teilt uns danach mit, wozu dieser gewaltige Aufwand des kosmischen Dramas dient: es soll uns die vierte und höchste Form der Mania, die erotische, deuten. Der ewige Zauber des Werkes scheint aus der rätselvollen Verschmelzung des ewigen Kosmos und des höchsten einmaligen Erlebens zu fließen, wie sie nie die poetische Kunst, sondern nur der Kairos und nur dem größten Manne verleiht. Welche Gegensätze schweißt der Mythos zusammen! Das spätere Christentum wurzelt so sehr im Neuplatonismus, daß der Platonische Seelenglauben unwillkürlich und kaum vermeidlich durch das christliche Medium gesehen wird. Piaton aber fordert nicht ewige Dauer der Persönlichkeit. Nur ein Teil der Seele, das Reingeistige, Überpersönliche ist ewig und sichert unserer Persönlichkeit die Verknüpfung mit dem Kosmos. Diesem ewigen Seelenteil entspricht hier der Lenker. Das spätere Christentum, soweit in ihm das Jenseitige und Asketische überwiegen, hat diesen Seelenkeim erweitert zur Seele, zum pneumatischen Menschen, und hat einen Schritt vollzogen, der den lebendigen Menschen scheidet in die geistige Seele und den körperlichen Leib. Aber Piatons Seelenlehre ist nie zu verstehen, wenn man den Schnitt zwischen Seele und Leib in christlichem Sinne voraussetzt. Wenn manche Formulierung dahin deutet, so nur deshalb, weil dem hellenischen Fühlen Piatons der christliche Seelenmensch so fern lag, daß er solcherlei Mißverständnisse nicht fürchten konnte. Piaton löst nicht einen rein-geistigen Menschen vom leiblichen, und Seele ist bei ihm der ganze Mensch mit allen leiblichen Regungen. Sein Jenseits ist bei ihm der ganze Mensch mit allen leiblichen Regungen. Sein Jenseits ist das vollendete Diesseits. Er lehrt die Religion der Erfüllung, nicht der Erlösung. (Ähnlich Dante.) In seinem Weltbilde hat die persönliche Seele nur eine Dauer von tausend Jahren (diese, weil staatliche Gründe Lohn und Strafe im Jenseits fordern), danach wählen die Seelen ein neues Schicksal, einen neuen Leib — also eine a n d e r e P e r s ö n l i c h k e i t . Die alte Persönlich264
keit verlischt im Lethe. Dann ist aber jener Einwand gerechtfertigt, daß die Seelenrosse nicht zum e w i g e n Seelenteil, sondern nur zur tausendjährigen Persönlichkeit gehören. Die Aufnahme dieses Widerspruchs beweist, daß Piaton in Wahrheit keine Allegorie der ewigen Seele, sondern sein eigenes einmaliges persönliches Erleben im Diesseits verrät, das sich zum göttlichen Gleichnis gestaltet . . . Wenn so auch die Wallung des Blutes in die Seele eingeht, wenn der leibliche Mensch als solcher sich vergöttlichen kann, was bleibt dann für den „Körper"? Eigentlich nichts. Er ist der bloße Stoff, an dem das Geschehen der Werdewelt sich vollzieht, der tote Rest, der bloße Leichnam, der nicht das Werden, sondern das „Nichts" im Werden, die „Ver-Nichtung" erklärt. So sehr es auch der üblichen Deutung widerspricht: Die Werdewelt ist nicht Gegensatz der Idee, sondern sie ist fast die Idee selbst, nur etwas belastet von diesem Nichtprinzip, dem Stoff. Wie wäre es sonst auch möglich, daß die Weltseele, das der Idee Nächstverwandte, hier als Weltsubstanz, und zwar gerade als Prinzip der B e w e g u n g gesetzt werden könnte! Der „Timaios" wird diese Anschauung vollenden, und er wird selbst in den Atomen mehr Form als Stoff zeigen, den Stoff fast als leeren Raum deuten. Nur ein kleiner Satz klingt in der Erinnerung an das Himmelsleben asketisch: „rein und unbefleckt von dem, was wir jetzt als sogenannten Körper mit uns herumschleppen wie die Schnecke ihr Haus." Aber die Fortsetzung läßt solche Deutung nicht zu. Der Gott erscheint als Leib. Man muß sich vergegenwärtigen, daß Piaton, der sechzigjährige, sein früheres Erleben erzählt, als der Leib ganz von der Seele durchglüht, ganz vergöttlicht war. Damals haftete dem Leibe kein toter Stoff mehr an. Jetzt aber beginnt Piaton sich schon selbst zum Mythos zu werden und seinen Leib als enges Kleid der Seele zu empfinden. Der Rausch dieser Stunde ist nur zu verstehen als Wiederwachwerden einer früheren Leidenschaft. Nach so großzügiger Vorbereitung erzählt Piaton sein Urerlebnis, die Erweckung des Menschen durch Eros, noch glühender als selbst in der Diotima-Rede, und gibt seine höchste kosmische Deutung. Eros wird wach durch die Idee der Schönheit. (Von solchen Gipfelstellen allein darf man zu deuten wagen, was „Idee" ist.) Die Schönheit aber ist ausgezeichnet vor allen anderen Ideen, weil sie unmittelbar durch das Gesicht ergriffen wird! „Denn irdische Nachbilder der Gerechtigkeit und Besonnenheit und, was sonst der Seele wert ist, haben keine Leuchtkraft, und wenn wir mit unseren schwachen Sinnen an sie herantreten, so gelingt es nur wenigen mit Mühe, des Urbildes Geschlecht zu schauen. Die Schönheit aber war damals leuchtend zu schauen, als wir mit dem glückhaften Chore das selige Gesicht und Schauspiel erblickten, da w i r dem Zeus, andere einem anderen Gotte folgten, und wir geweiht wurden durch die Weihe, die man mit Recht die seligste nennt, in der wir schwärmten als Vollkommene und noch unversehrt von den späteren Übeln . . . " 250 B). So ist allein in der Gestalt des schönen Geliebten das 265
Heil gegeben, durch das der irdische Mensch aus trüber Stofflichkeit zum himmlischen Leben und zur Ideenschau erweckt werden kann. Piaton hat für diese Raserei der Liebe die starken Ausdrücke nicht gescheut. Sieht der Empfängliche ein göttliches Angesicht oder eine Gestalt (Idea!), die die Schönheit vollkommen ausdrückt, so schaudert er wie in den früheren Ängsten. Er schaut den Geliebten an wie einen Gott, und nur die Furcht vor der Menge hindert ihn, vor ihm zu opfern wie vor einem Heiligenbilde oder einem Gotte! Wie ein Wechselfieber überfällt ihn die Liebe, denn ihre Pein ist der Ausdruck dafür, daß seiner Seele das verlorengegangene Gefieder von neuem sproßt. Nur im Anblick des Geliebten wächst das Gefieder (also der Geliebte wirkt, was die überhimmlische Idee am Beginn des Mythos wirkte). Fehlt aber die nährende Schau, so schmerzen die sprossenden Keime heftig, rauben tags die Ruhe, nachts den Schlaf. Nur im Anblick des Geliebten findet der Liebende seine Lust, und er vernachlässigt darüber Mutter, Geschwister, Freunde und läßt seinen Wohlstand verkommen. — Das ist das mythische Bild des Eros, wie es über Winckelmann, Herder, Goethe auf den deutschen Geist gewirkt hat. Wie in dieser Dichtung das Feuer der Leidenschaft zur Verführung zu werden droht, so hat Piaton durch die Berufung des Gegensatzes das edelste Maß gesichert. Niemals hat er den Gegensatz von Gut und Böse so rein-moralisch (so christlich) durchgeführt wie hier im Bilde des ungleichen Gespannes. Gut, schamvoll ist das weiße edelrassige Roß des reinen Eifers, übel, schamlos das schwarze verraßte der niederen Lust. Dennoch darf der Lenker auf die Kraft des schwarzen Pferdes nicht verzichten, aber er muß es zu bändigen wissen (253 C—254 E). Das Liebespaar, das niemals sinnlicher Gier nachgab, hat damit das echte philosophische Leben gefunden, denn die hinreichende Bändigung des schwarzen Pferdes, bis es mit dem weißen in gleicher Gangart läuft, bedeutet den göttlichen Lebensgang. Diesem Liebespaar sind auf Erden die Flügel gewachsen, so daß es gemeinsam nach dem Tode die himmlische Bahn befahren kann. Aber auch die anderen, die wohl ehrliebend, doch nicht philosophisch, nicht ganz dem entsagten, „was die Menge für das Seligste hält", empfangen für ihre erotische Mania großen Lohn. Noch sind ihnen die Flügel nicht gewachsen, doch ist ihr Keim geweckt, so daß sie nach dem Tode ihr Tausendjahr gemeinsam in einem himmlischen Kreise verweilen, um dann im nächsten Tausendjahr wieder gemeinsam die Flügel zur Rückkehr ins Empyreum zu gewinnen „um ihres Eros willen" (256, dazu 249 A). So grenzenlos preist Piaton den Rausch des Blutes, während er das, was viele als Sokratisch-Platonisches Wesen betrachten, die rationale Verständigkeit, als menschliche Schäbigkeit verachtet. Er fügt an den Dithyrambos die ausdrückliche Lehre: „So große und so göttliche Geschenke, du Knabe, wird dir die Freundschaft eines Verliebten spenden. Jene Vertraulichkeit aber des Nichtliebenden, die mit menschlicher Besonnenheit verdünnt, Sterbliches und Dürftiges sparsam ver266
leiht, erzeugt in der lieben Seele jene Kleinlichkeit, welche die Menge als Tugend preist, und bereitet ihr das Schicksal, sich neuntausend Jahre auf der Erde oder unter ihr vernunftlos herumzuwälzen!" Das ist die unerhörte Verfluchung dürftiger Verständigkeit! Wahre Erziehung ist erotische Leidenschaft: Philosophie ohne Eros ist nicht möglich . . . Eros ohne wahre Philosophie ist doch hohes Gut . . . Besonnenheit ohne Eros führt ins tierische Dasein! Das ist eine echte Palinodie, selbst zur doch so verwandten DiotimaRede. Auch in ihr pries Piaton den Eros zu Jünglingen nicht als unterste Stufe, wie man oft mißdeutet, sondern als Lebenstreppe bis zur mystischen Einung mit der Idee selbst. Dennoch verkehrte sich die Richtung des Eros: Sokrates, der Träger der Idee, wurde der Geliebte, und er erwiderte die Liebe der vielen Jünger. Auf sein Leben zurückblickend widerruft Piaton: Eros ist nicht mehr Daimon sondern Gott, nicht Vermittlung sondern Erfüllung. Nicht Liebe zu Vielen, sondern zu Einem, Erwählten, der aus dem Erweckten zum Erwecker wird, ist höchster Lebenssinn. Der staatgründende Eros kann in sich nicht bestehen, er muß gründen in der erotischen Leidenschaft des Einzelnen. Aber niemals hat Piaton der mystischen Schau das wirkende Leben geopfert: vom höchsten Augenblick kehrt er ohne Verzug zum schöpferischen Tun zurück. Daß der „Phaidros" die Wende zum Spätwerk bedeute, ahnten viele, aber irrtümlich suchten sie den Grund dafür in der Entwicklung wissenschaftlicher Probleme. Nur aus dem Lebensganzen ist sie verständlich. Diese Wende ist kein Bruch, sondern nur die leichte natürliche Biegung im Ausgleich von Erfüllung und Entsagung. Die Findung der Normidee war vollendet in Symposion und Politeia. Nun galt es, das Leben mit ihr zu durchdringen. Von der stählernen Weltachse richtet er den Blick auf die kreisenden Kugeln — er erblickt jetzt die Idee in der ewigen Bewegung. Das ist ein Weitergehen — aber ohne den mindesten Verzicht auf das vorher Errungene! Auch im „Phaidros" nimmt die ewige Idee des Agathon den höchsten Thron ein, aber Piaton geht der Bewegung, dem Werden in der Seele nach. Darum verehrt er hier die zweite Idee, die jener des Guten so untrennbar verwandt ist, daß man sie ihre sinnlich-sichtbare Seite nennen kann: die Idee des Schönen. Sie ist es, die Spannung und Bewegung in die beseelte Welt bringt. Nicht mehr der weise Seher, sondern der schöne Jüngling ist der Bewegende. Welch neuer Aufbruch! Piaton verdeutlicht diese Lehre in einem wunderbaren Bilde. Daß der Geliebte vom Gegen-Eros zum Verliebten ergriffen wird, erklärt Piaton so: die eigene Schönheit des Jünglings, die der Verliebte sieht, strahlt aus dessen Augen zurück ins Auge des Geliebten. So liebt der Geliebte, ohne es zu wissen, in der Seele des Liebenden im Grunde die Eigene Schönheit. Die Schönheit wird zur weltbewegenden Kraft (255). Piaton, der Weiseste, neigt sich, wie Höl267
derlin den Sinn des Gastmahls deutet, der lebendigsten Gottheit der Jugend zu. Wo gab es ein schöneres Bild vom Sinn der Erziehung: Jeder der Götter hatte im Himmel sein eigenes Gefolge. Die zur Erde gestürzten Seelen suchen nun den Geliebten, der die Natur ihres einstigen Gottes in sich trägt: „Und als ob jener für ihn der Gott wäre, formt er ihn wie ein Götterbild und schmückt ihn, um ihn in rauschvoller Feier zu verehren. Die Folger des Zeus also verlangen danach, daß die Seele des Geliebten Zeus ähnlich sei. Sie forschen darum, ob sie eine Philosophenund Herrschernatur finden. Und wenn sie ihn fanden und sich verliebten, so tun sie alles, daß er ein solcher werde . . . In sich selbst spürend gelingt es ihnen, des eigenen Gottes Natur zu finden, weil sie gezwungen sind, unverwandt auf den Gott zu blicken, und indem sie durch Erinnerung ihn selbst erfassen, empfangen sie in der Begeisterung von ihm Sitte und Lebenshaltung, soweit es dem Menschen möglich ist, an Gott teilzuhaben. Da sie aber den Geliebten für die Ursache davon halten, lieben sie ihn um so mehr. Und was sie aus Zeus schöpfen, wie die Bakchen, das verströmen sie auf des Geliebten Seele und machen ihn so ähnlich, als es nur möglich ist, ihrem Gotte" (252 D—253 A). Das ist das Bild für den Aufstieg zur Idee in lebendiger Gestalt. Jeder Mensch trägt verborgen das Göttliche in sich — aber nicht schon der erotische Rausch, erst der Rausch zu Zweien, die gegenseitige Steigerung erlöst den Gott! . . . Das ist eigenes Erlebnis, und Piaton betont das Persönliche hier wie sonst selten. Schon in der angezogenen Stelle (250 B) fällt das „wir" auf: „da w i r dem Zeus, andere einem anderen Gotte folgten." Als Gott des Sokrates kennen wir aus „Phaidon" den Apoll. Die Zeus-Natur aber, philosophos und hegemonikos ist Dion, der als Fürst dem Zeus-Blute entstammt. Der Gott der Politeia, des Philosophenkönigtums ist Zeus, und Dion schien berufen zum Erben Piatons in seiner Auffassung der Philosophie als Herrscherkraft. So dürfen wir auch glauben, daß Piaton diesen Eros-Dithyrambos durch ein Wortspiel Dion gewidmet hat. (Der Nominativ Zeus ist vermieden, alle Nennungen sind flektiert, und in der eben angezogenen Stelle ist recht auffallend und künstlich zusammengestellt: Dios dion (252 A). Das Siegel auf sein Erleben hat Piaton in seiner Grabschrift für Dion gedrückt, in der er bekennt, daß der Eros zu Dion sein Herz zur Mania entzündet habe. Das ist Piatons Rückblick und Bekenntnis, als er sich bewußt wird, selber zum Mythos der Akademie zu werden. Nach diesem Rausch der Erinnerung mag ihn eine leise Scheu befangen haben, ob er sein Heiligstes nicht auch Unberufenen verraten habe. Darum tritt er, der noch Weiterwirkende, sogleich wieder von seinem Mythos zurück und bezeichnet ihn als Spiel — wobei nicht zu vergessen ist, wie nah dies „paidia" unserem „Spiel" in Musik und Drama verwandt ist als Ausdruck f ü r die freie Schöpfung. Ehrfurcht vor sich selbst bezeichnet Nietzsche als 268
Kennzeichen der vornehmen Seele, und solche Ehrfurcht hat Goethe in seinem großen Ahnen gespürt: „So entzückt uns denn auch in diesem Fall, wie in den übrigen, am Piaton die heilige Scheu, womit er sich der Natur nähert, die Vorsicht, womit er sie gleichsam nur umtastet und bei näherer Bekanntschaft vor ihr sogleich wieder zurücktritt, jenes Erstaunen, das, wie er selbst sagt, den Philosophen so gut kleidet." Wenn Goethe das schon von der Naturbetrachtung sagen konnte, wie würde er Piatons tiefstes Bekenntnis bezeichnet haben! Piaton mußte, nachdem die Gottheiten des Ortes ihm das Wort verliehen hatten, um sein Erlebnis den heiligen Kreis schließen. So bleibt den dürren Verstandesmenschen, die er am Schluß des Mythos so verächtlich aus seinem Umkreise verbannt, doch der Trost: es war nur ein Spiel. Aber an sie denkt Piaton nicht weiter, denn er spricht hier nur zu Jünglingen, die ihm der Erweckung wert scheinen. Phaidros versteht sogleich trotz aller Schmeicheleien, die seiner Jugend gelten: er selbst ist noch nicht aufgenommen in diesen engsten Kreis des Eros. Und doch fühlt er sich Sokrates ganz angehörig, wie sein letztes Wort, ein echt Platonischer Gedanke, beweisen wird. Das Erscheinen des zwanzigjährigen Dion war Piatons Lebensgipfel, seine Erweckung bleibt das Wunder, aus dem er immer die Kraft zur Erdenwirkung, die Sicherheit seiner Macht schöpft. Daß solches Erlebnis für alle Ewigkeit bindet, beschwört der Mythos immer wieder. Solcher Eros gilt nur dem Erben und Vollender, nicht der Schar der Anhänger. Audi sie sind von einem Hauch des Eros beseelt, von seinem Abglanz verschönt, wie Charmides, Lysis, Phaidon verbildlichen. Eros im Phaidros-Mythos aber ist leitendes Gestirn, nicht unmittelbares Vorbild für die Glieder der Akademie, und der Mythos als Dichtung ist nicht unmittelbares Vorbild für ihre geistige Arbeit. Die Lerneifrigen aber noch nicht philosophisch Geweckten, wie eben Phaidros selbst, will Piaton durch den enthusiastischen Mythos vom Tiefsten her erschüttern und ihnen die höchste Lichtfülle zeigen — dann fordert die Erziehung zur Tat, daß er dem Überschwang sogleich die Schranke und das Maß geistiger Zucht auferlegt: überraschend und ernüchternd schlägt die Tonart um, als er zum dialektischen Gespräch übergeht. Dieser Tonwechsel muß jeden befremden, der das Gespräch als „Dichtung" liest, denn er scheidet streng den heiligen Mythos von der Aufgabe des Alltags. Nur unter dem Gedanken, daß Piaton im Rückblick auf Leben und Schicksal seine Aufgabe für das nahende Greisenalter festlegen will, ist die höhere Einheit im ganzen Gespräch zu begreifen. Seine Sendung scheint gewandelt. Auch im Gastmahl ein fast überschwenglich-hoher Aufstieg — aber das war Wille zur Zeugung und Tat, zur staatlichen Erneuung Athens. Nach zwanzigjährigem Ringen hatte er die Politeia geschaffen — nun war auch dieser letzte Anruf ohne Widerhall verklungen. Das Bekenntnis zu Zeus, dem Königs-Gott im „Phaidros", besagt, daß Piatons Überzeugung unwandelbar blieb . . wohl aber ist er jetzt in die Jahre gekommen, für sich persönlich auf die politische 269
Tat, die ungeheure Umwälzung zu verzichten. Aber er zweifelt nun auch, ob Athen überhaupt noch zur Wiedergeburt lebendig genug ist. Nur aus dieser Entsagung ist Piatons Spätwerk, das der „Phaidros" ankündigt, zu verstehen. Der Schluß des Gespräches, der ohne diese Deutung zusammenhanglos und seltsam anmutet, drückt die damaligen Erwägungen aus . . Sokrates beauftragt Phaidros: „Du aber gehe hin und sage Lysias, daß wir beide hinausgingen zu der Nymphen Heiligtum und Ruhesitz und dort Reden hörten, die uns beauftragten, zuerst dem Lysias und, wer sonst Reden verfaßt, und dem Homer, oder wer sonst gesprochene oder gesungene Dichtung verfaßt hat, drittens aber dem Solon und, wer sonst in politischen Reden Schriften schrieb, die er Gesetze nennt, dies zu sagen: wenn er dergleichen verfaßte, wohl wissend, wie sich das Wahre v e r h ä l t . . . " dann solle er nicht nach der äußeren Betätigung, sondern nach seinem echten Eifer bezeichnet werden als Philosoph. Wer aber, ohne wahres Wissen, nach langem Hin und Her mühsam eine Rede drechselt, den nenne man mit Recht einen Redenschreiber oder Poeten oder Gesetzeschreiber (278 B—E). Was soll diese anstößige Zusammenstellung des verachteten Lysias mit Homer und Solon an so betonter Stelle? — Kein Zweifel, daß Piaton jetzt in aller Form das Ergebnis des ganzen Gespräches zusammenfaßt. Wenn er ausdrücklich sagt, daß (wie der Mythos) auch das folgende Gespräch über die Reden nur Spiel war (278B), was bleibt dann als Ernst? — Das wird nun deutlich gezeigt: der Ernst ist die Erkenntnis, ohne welche die geistigen Werke unecht sind. Piaton faßt seine Sendung in jene drei Berufe zusammen. Wir kennen die Bedeutung der beiden großen Namen aus Gastmahl und Staat. Solon ist der Gesetzgeber, der Retter Athens — das ist der Beruf, auf den Piaton in diesem Augenblick verzichten muß! Als Sokrates die Palinodie beendet hat, bringt Phaidros recht unvermittelt vor, man habe Lysias als „Redenschreiber" verhöhnt. Ein so unvermittelter Übergang gibt zu verstehen, daß Piaton schweigend auf etwas Wichtiges, auf sich selbst deuten will. Wie käme Piaton dazu, Lysias gegen diese Schmähung der Anti-Sophisten so nachdrücklich zu verteidigen (257B—258C)? Auf Sokrates selbst, der keine Reden schrieb, kann sich die Stelle noch weniger beziehen. Nein, man hat Piaton selbst als Sophisten und Redenschreiber geschmäht. Sich selbst rechtfertigt er: „Wie aber, wenn ein Redner oder König es dahin bringt, daß er die Macht des Lykurg oder Solon oder Dareios ergreift und ein unsterblicher Gesetzschreiber im Staate wird, hält der sich nicht selbst für gottgleich, solange er noch lebt, und denken nicht die nach ihm Kommenden ganz das Gleiche von ihm, wenn sie seine Schriften betrachten?" Das ist die Antwort an die Welt, in der er stolz seinen unsterblichen Rang in Anspruch nimmt. Die Politeia ist keine geschriebene Rede, sondern das neue Gesetz, das zu geben Piaton als der Weise befugt ist. Daß er nicht wirklicher Gesetzgeber wurde, ist das Gebrechen seines Zeitalters. Zweitens der Beruf des Dichters: Der neue Dichter muß Seher, muß VATES sein, 270
der aus der Schau des Weltganzen die Bilder des neuen Lebens spendet. Nun hat Piaton unsterbliches Dichtergut gegeben, aber er verschleiert nicht, daß er in der Jugend, am Scheideweg von Sokrates bestimmt, den Weg des Gesetzgebers gewählt hat. Vielleicht deutet dahin jene Stelle: „Der Wahnsinn der Musen, wenn er eine zarte und unentweihte Seele e r g r e i f t . . . " (245 A). Schon in der Jugend muß die Entscheidung des Dichters fallen. Nimmt man die Stelle aus den Gesetzen dazu, daß Piaton (als der mehr als fünfzigjährige Dion seinen Zug unternommen hat!) nur den Jüngling für fähig hält zur großen Tat des Retters, dann bestätigt es sich, daß Piaton entsagt: Er ist der Weise — Dichtung und wirkliche Täterschaft fordert er von der Jugend. Was bleibt ihm zu tun? Er gedenkt, sich ganz in denKreis der Akademie zurückzuziehen und nur noch der Erweckung der Jugend zu leben. Darum empfand man den „Phaidros" als „Programm" für die Akademie. Er selber will der einzige echte Träger des Erzieherberufes sein und bleiben — darum stellt er für diesen nicht die geschichtlichen Namen der Ebenbürtigen wie vorher Solon und Homer, sondern die Kontrastfigur der Gegenwart: Lysias. Selbst ein Phaidros ist für Lysias begeistert. Darum verschmäht Piaton eine so unwürdige Gegnerschaft nicht und kämpft mit ihm um den Geist der Jugend. Lysias ist Redner ohne jeden philosophischen Sinn. Piaton führt den trennenden Schnitt bis zur Wurzel durch. Er lehnt jetzt überhaupt das Redenschreiben ab, wenn die Schrift nicht Dichtung oder Staatsgesetz ist. Dazu erzählt er die Fabel vom Erfindergott Theut und vom Gottkönig Thamos-Ammon. Theut rühmt seine Erfindung der Schrift, die also göttliche Gabe ist. Aber über den Einzelgöttern steht der Gottkönig, der allein aus der Schau der Ganzheit den Wert der Einzelgabe bestimmt. Piaton als Richter über alles Spezialistentum, der Ordner einer Ganzheit! Ammon entscheidet, daß die Schrift das Gedächtnis schwäche, nicht schärfe. Diesmal fehlt der Hinweis nicht, daß diese „ägyptische" Fabel Piatons eigene Erfindung ist (274B—275C). Damit fällt die Entscheidung des ganzen Gespräches: Piaton will von nun auf die Schriftstellerei — es sei denn zur bloßen Erinnerung an Erlebtes — ganz verzichten und sieht seinen Beruf in der unmittelbaren Bewirkung der Jünger. Man will in dem Gespräch Piatons Verzicht auf die Ideenschau, den Übergang zur Logik und reinen Forschung sehen. Wie würde sich damit der Verzicht auf schriftliche Untersuchungen vereinen? Bis dahin hatte Platon um die Norm-Idee gerungen, um sie im Staate zu verwirklichen. Wenn er jetzt die Hoffnung auf die politische Tat aufgab, so blieb doch weiter der Sinn der Akademie, die Philosophenkönige zu erziehen. Aber es ist natürlich, daß nunmehr, da die Politik Athens ihn immer weniger angeht, sich ein neues Etwas in der Akademie entwickelt, das tatsächlich den Keim dessen in sich trägt, was wir heute „Wissenschaft" nennen. Dieser Wissenschaft gelten danach mehrere große Gespräche, aber im „Phaidros" nimmt Platon, vergleichbar dem mythischen Gottkönig Ammon, sein Urteil voraus, welchen begrenzten Wert er 271
dieser neuen Methode im lebendigen Gesamt beimißt. Geschriebene Rede gilt wenig, weil nur nach jahrelanger menschlicher Gemeinschaft, nur im lebendigen Zusammensein der hinlängliche Ausdruck für die hohe Erkenntnis gelingt. Wer kann nach dem Eros-Mythos zweifeln, daß nur das höchste Erlebnis zu Zweien zum Tor höchster Erkenntnis führt! Aber dies höchste Geschehen kann nicht gerufen werden, es ist göttliches Geschenk, theia moira, wie Staatsrettung und Dichtung. Das ist ein tragischer Ton im Nachmittaggespräch. Da hilft kein Flehen um göttliche Erleuchtung, kein mystisches Schwärmen — jetzt gilt der Ruf zum Wirken, die bescheidene Pflicht. . . Dazu gehört die Vollendung einer klaren Begriffsbildung. Die fremden Redner beschwätzen durch ihre gedrechselten Reden. Wem es ernsthaft um Bildung zu tun ist, der sucht zuerst die Klärung, ob man unter einem Wort das Gleiche versteht. Aber Piaton läßt keinen Zweifel, daß diese neue Methode der Definition nur Mittel zum Zweck, nur Vorübung ist. Von einem Bruch in seiner „Ideenlehre" kann keine Rede sein. Jenseits politischer Herrschaft und des Reiches zeitloser Wissenschaft gibt es ein Drittes: das geistige Reich. Die Akademie war geistiger Staat, aber anfangs gedacht als Keimzelle des politischen Staates, jetzt allmählich, ungewollt, übergehend in das Weltalter geistiger Reiche. Piaton will die Jünger nicht erziehen, Bausteine zum ewig unvollendeten Bau der Wissenschaft herbeizutragen, sondern er will ganze Menschen, rühmliche Erben schaffen. Seine Redekunst soll sich auf Seelenkunde aufbauen, soll sich ganz der Kenntnis des Einzelnen, des Gegenübers anpassen — sie ist wesentlich Erziehung. Er kämpft gegen Atomisten, Mechanisten, Empiriker, Logiker, gegen alle Vereinzeier, weil er nur die Ganzheit, die Seele anerkennt. Von der Gestalt des Geliebten steigt er auf zur Einheit der Welt in der Idee des Guten und von ihr hinab zu Begriffen der bestimmenden Mächte, wie hier dem des Eros. Aber immer ergänzt sich der Gegenstand durch die Seele, immer bleibt das Einzelne im lebendigen Zusammenhange mit der Ganzheit, dem All. „Glaubst du denn, daß man die Natur der Seele erkennen kann ohne die Natur des Ganzen?" Und Phaidros' Antwort bezeugt, daß er innerlich reif ist f ü r die Akademie: „Wenn man Hippokrates, dem Asklepiaden, vertrauen darf, auch nicht einmal die des Leibes auf anderem Wege" (270 C). Es gibt kein anderes Wissen als das aus der Ganzheit, der Ganzheit des Alls, quellende. Piatons Wissenschaft gründet das geistige Reich, läßt das Samenkorn keimen und den Sproß sich immer weiter verästeln. „Wenn aber Einer glaubt, allein in den Reden über das Gerechte und Schöne und Gute, die zur Unterweisung und um der Lehre willen gehalten werden und die in Wirklichkeit in die Seele geschrieben werden, sei Klares und Vollendetes und des Ernstes Würdiges enthalten, und solche Reden dürfe man seine echten Söhne nennen, zuerst die in sich selbst, die man in sich selbst gefunden hat (also schöpferischer Gedanke, nicht Rede!), dann aber ihre Enkel und Brüder, wie sie von ihr, wie es Gebühr ist, in andern Seelen erzeugt 272
wurden, — alle sonstigen Reden aber ihrer Wege gehen heißt — ein Mann von dieser Art, Phaidros, würde doch wohl ein solcher sein, daß ich. und du wünschen müßten, daß Du und ich ihm gleich würden" (27 8A). Deutlicher ist die Idee des geistigen Reiches, die Zeugung der geistigen Söhne und Enkel kaum auszudrücken. Oder ist doch folgendes noch deutlicher? Piaton entschuldigt sich gleichsam, daß er das tut, was er verwirft: er s c h r e i b t ja den „Phaidros". Er vergleicht das Schreiben festlicher Reden mit der vorzeitigen Züchtung der Blumen im Blumentopf. Das unternimmt der Landmann wohl, um das Adonis-Fest mit Blumen zu schmücken, ernst aber ist es ihm nur um die Saat, die, nach den Regeln der Landwirtschaft bestellt, erst nach acht Monaten zur Ernte kommt (276B). So schreibt er den „Phaidros", „für sich selbst den Schatz der Erinnerungen, wenn er an das vergeßliche Greisenalter gelangt, und für jeden, der seiner Spur folgt, und er wird sich erfreuen, wenn er die zarten Gewächse gedeihen sieht". Das hat Piaton uns zu sagen, die wir der Spur seiner geschriebenen Werke folgen. Aber der Seher sagt das Wort, das keiner Zeit schmeckt. Wahre Erweckung gibt es nicht durch das Buch, sie geschieht nur von Mensch zu Mensch. Nur die unmittelbare Zeugung der Seele in der Seele ist großes Wachstum. Dieser herbe Bescheid schränkt alles ein, was wir jemals über Piaton sagen können. Nur vom dämonischen Menschen, der den Logos in sich selbst findet, geht das geistige Reich aus und, ob er erscheint, ist Sache der „göttlichen Fügung". Darum fährt Piaton fort: „Um vieles schöner ist doch wohl der Ernst in jenen Dingen, wenn einer mittels der dialektischen Kunst die verwandte Seele ergreift, Reden mit Erkenntnis pflanzt und sät, welche sich selbst und denen, die sie gepflanzt haben, zu helfen vermögen, nicht fruchtlos, sondern Samen tragend, woher das in immer anderen Wesen Gezeugte diesem die ewige Unsterblichkeit zu verleihen vermag, und den, der es trägt, glückselig macht, soweit es nur einem Menschen möglich ist." Das ist die irdische Unsterblichkeit, die ihm mehr gilt als das Jenseitsleben! Gegenüber dieser geistigen Zeugung ist alles Schriftwerk ins Wasser gesät (276C—277A). Wir wissen wenig über Piatons unmittelbares Fortleben, denn später waren immer neue Impulse notwendig, sein Schriftwerk zu erwecken, aber die beiden Säulen des folgenden Geschlechtes waren sein Sohn und sein Enkel: Aristoteles und Alexander . . . Erst als geistiges Reich ist die Rangordnung der Seelen, nach ihrem Sturz auf die Erde, die bisher als dunkel galt, zu verstehen (248D). I. Stufe: Der Weisheitliebende, Schönheitliebende, Musische, Erotische. Das sind die schöpferischen Männer, die ein neues Reich im Geiste begründen. Daß drei dieser Formen fast identisch, besagt der Mythos. Aber auch der Dichter steht auf diesem Range, wenn er Schöpfer neuen Lebens ist. (Daß mit dem „Musischen" der Dichter gemeint ist, beweist 245 A, vgl. obenS. 260, und die Stelle über Homer.) Der Philosoph steht auf diesem Range, weil er für Piaton der geistige Herrscher und Schöpfer des Schönen Lebens, der Erotiker ist: das zeigt der Eros-Mythos mit fast 18 Hildebrandt, Piaton
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blendender Helle. II. Stufe: Der gesetzliche König, der Feldherrn- und Herrschernatur ist. In der „Politeia" waren Philosoph und König identisch. Jetzt weist Piaton das Königsamt dem Jüngeren, einer Natur wie Dion zu. Der König ist jetzt der Vollzieher des Gesetzes, das der schöpferische Weise gibt. III. Staatsmänner und Verwalter. IV. Turnmeister und Ärzte. Also auf der höchsten Stufe die geistigen Schöpfer, auf den drei nächsten die Männer, die Staat und Leibesbildung im neuen Geiste verwalten sollen. V. Seher und Weihepriester. Sie sind kurz zuvor neben Dichter und Erotiker als Träger der göttlichen Mania genannt und nun auf die V. Stufe hinabgedrückt! Gerade das enträtselt die Rangordnung. Piaton sieht in ihnen Träger des alten Reiches und übernimmt sie nicht in sein Reich! VI. Poeten und andere Nachahmer. Das bestätigt die früheren Deutungen der Dichterbeurteilung. Die schöpferischen Dichter stehen als Weise und Gottbesessene auf dem höchsten Range, weil sie das neue Reich schaffen. Wo Piaton die Dichter die nachahmenden nennt, da meint er die unschöpferischen. Erst so, als Verhaftung im alten Reich, erhält der Vorwurf der „Nachahmung" (Politeia) den tieferen Sinn. VII. Bauern und Handwerker. Diese drei mittleren Stufen bedeuten also die indifferenten Mächte, die Träger des alten Reiches. Die folgenden unteren Stufen sind die wahren Gegner, die zerstörenden Feinde des alten und neuen Reiches: VIII. Die Sophisten und Demagogen. IX. Der Tyrann. Dem lebendigen Wort dient der „Phaidros". Es könnte scheinen, als ob erotische Mania und logische Methode um den Preis stritten. Wer das Werk in seiner Ganzheit sieht, kann nicht im Zweifel sein. Ehe Sokrates die große Palinodie anhebt, erinnert Phaidros, daß die Sonne im Zenit steht. So mißt Piaton mehrmals seine größten Erlebnisse am Stande der Sonne: die Erweckung des Knaben, sein Erröten im ersten Morgendämmer („Protagoras") . . die mystische Weihe im Symposion, das höchste Wort von der Idee als weltzeugender Sonne wird im „Staat" etwa um Mitternacht l a u t . . Sokrates' Tod, als letzte Sonnenstrahlen noch am Berge stehen. . die erotische Auffahrt und die mythische Kreisbahn der Flügelwagen um den Zenit der Himmelskugel, als die Sonne im Zenit steht und die Glut ihren Gipfel erreicht. Vom Gipfel seiner Kunst — und seines Lebens blickt Piaton zurück auf das Erlebnis des Aufstiegs, blickt er vorwärts auf den Abstieg, denn mit der Mittagswende der Sonne droht die Müdigkeit. Jetzt sind Nymphen und Musen verstummt, und nur die Grillen, die Boten der Musen, zirpen, um die Menschen nicht schläfrig werden zu lassen. Konnte Piaton deutlicher sagen, daß die logische Untersuchung nur Abebben nach dem mythischen Aufschwung ist? Auch Grillen sind Bilder musischen Eifers — aber die Wahl bleibt: Musengesang oder Grillengezirp! (258E—259D). Sokrates schlägt die Untersuchung vor, nur um den Schlaf zu vertreiben (259D), wenn auch ein Piaton selbst in der Müdigkeit noch hohe Weisheit spendet. 274
Wer auf den Epheben Phaidros schilt, zerstört den Zauber der Dichtung. Er ist freilich Möglichkeit, nicht Erfüllung, aber darum liebt ihn der Erwecker. In dem anmutigen Gemisch von Kühnheit und Ehrfurcht findet Piaton vielleicht etwas vom eigenen Wesen. Er gönnt der Jugend die Zeit zum Reifen, und der Schluß zeigt, daß er für diesmal mit seinem Verhalten zufrieden ist. Wenn Sokrates ihn zuletzt doch wieder mit seinem Geliebten Lysias neckt, so ist das reiner Scherz. Phaidros schätzt nur dessen Redetechnik und hat eben seiner Verurteilung zugestimmt. Aber was Sokrates dem eigenen Liebling, dem jungen Isokrates, sagen will, daß er unvergleichlich durch seine Redegabe über Lysias stehe und daß seine philosophische Natur ihn zu etwas Höherem treiben werde, das ist ein freundlicher Gruß Piatons an Isokrates . . doch ein Abschiedsgruß. Er hätte ihn gern mit in sein geistiges Reich genommen, aber er, der acht Jahr ältere, hat sich durch Sokrates nicht wandeln lassen, sondern sich mit dem alten Reich vertragen, indem er jene Weisheit nur als Mittel der schönen Bildung benutzt. Wie nur wenige Gespräche schließt dies mit dem dichterischen Bilde. Die Hitze ist vorüber wie die logische Untersuchung, und die entschlafenen Götter des Ortes werden wieder wach. Der Einknüpfung alles Denkens in das Weltall, des leiblichen Menschen in die Natur des Ortes gilt die Dichtung, darum ist es Pan, an den Sokrates die Bitte um den Ausgleich der inneren und äußeren Natur für sich und den Jüngling betet: „ 0 lieber Pan und ihr andern Götter dieses Ortes! Gebt mir, schön zu sein im Innern, und laßt, was ich außen besitze, dem Innern befreundet sein. Für reich möge ich den Weisen halten und die Art des Goldes sei mir in Fülle, die weder bringen noch nehmen kann ein anderer als der Besonnene."
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DRITTES
BUCH
DENKEN UND TUN
Piatons Schriftwerk schien um sein sechzigstes Lebensjahr, wie der „Phaidros" besagt, abgeschlossen, und er wäre der Große, auch wenn er fortan geschwiegen hätte. Doch war seine Schaffenskraft so groß, daß er zwischen dem 60. und 80. Lebensjahre Werke vollendet, die für sich allein seinen Namen in der Geistesgeschichte unsterblich gemacht hätten. Die Werke (wohl die Briefe) dieser III. Periode sind zum Unterschied von den früheren nicht mehr unmittelbar tathaft. Zwar passen sich die Nomoi dem Erreichbaren mehr an als der Mythos der „Politeia", aber jene sind Ratschläge, die der Weise den zur Aufrichtung des Staates zu berufenden Greisen gibt, während die Politeia unmittelbarer Ausdruck seines Willens ist, die hellenischen Stämme zu versöhnen. In diesem Sinne des Tatverzichtes kann man die sehr verschiedenen Schriften des Alters unter das vieldeutige Wort „Theorie" zusammenfassen. Theorie im wörtlichen und großen Sinne, Schau des Universums ohne Zwecke erfüllt sich im „Timaios". Seit dem „Staat" enthält sich Piaton der geringsten Anspielung auf Athens gegenwärtige Politik. Wie durfte man daraus schließen, er sei so ganz Gelehrter geworden, daß kein Leben mehr an sein Ohr drang, und Athen darum zu beglückwünschen, daß es dem weltfremden Ideologen nicht folgte! Wenn Feldherrn wie Chabrias und Timotheos ihm nahe standen, so blieb er über die Politik aufs genaueste unterrichtet, wie auch die Briefe beweisen, daß er die geistige Mitte der nationalen Politik sein will. Sein königlicher Stolz war es, der ihm verbot, die geringste politische Andeutung zu machen, denn solche hätte, nach dem vergeblichen großen Anruf der „Politeia", wie eine Wiederholung des Angebotes klingen können, ihn selbst mit der Herrschaft zu betrauen. E r dachte nicht daran, sich seinem Vaterlande „zur Verfügung" zu stellen. Wirkliche Herrschaft in seinem Sinne — oder nichts! Antike Bürger haben zweifellos diese stolze Geste der Entsagung verstanden. Von nun an kämpft Piaton nicht um eigene politische Macht, aber in ihm kämpft weiter der Geist um die Macht über das menschliche Chaos.
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XVII. T H E A I T E T Der Verzicht auf Athen Wenn die Zeit kommt, daß der Geist auf politische Macht, auf schöpferisches politisches Tun verzichten muß, dann droht der Welt die Resignation. Die müden Lehren der Kyniker, Stoiker, Epikureer gewinnen Herrschaft über den geistigen Menschen der Antike. Die Wissenschaft um ihrer selbst und eines unendlichen Fortschritts willen, in tatloser Zeit die Tröstung des arbeitswilligen Menschen, wird von Demokrit und Aristoteles geschaffen. Piaton hingegen will in der Akademie, in sich selbst die Ganzheit des Lebens schaffen, das große Gebiet beherrschen, das geschlossene Weltbild vollenden. Darin besteht der bis heute vergessene Unterschied von Wissenschaft und Philosophie. Ihm bleibt die Zeugung des edlen und schönen Menschen Maß und Mitte. Aristoteles ist König der Wissenschaft, Piaton König des geistigen Reiches. Piaton hat sein großes Wort gesprochen: er wird nicht wiederholen, was sich schöner nicht sagen läßt. Das Tun ist ihm verboten. Da bleibt ihm als Aufgabe der Forschung noch, die Grundlagen seines Denkens und Schauens zu klären und zu sichern. Er fragt im Theaitet: „Was ist Erkenntnis?" Für die Größe und Tiefe seines Weltbildes braucht er Forscher, die ihn in den Einzelgebieten belehren können, vor allem in Mathematik und Astronomie. Beide Unterredner im „Theaitet" sind Mathematiker. Piaton soll auf seiner ersten Reise bei Theodoros in Kyrene Mathematik gelernt haben. Dann fand er den jüngern genialen Mathematiker, den er als Menschen hochschätzte und sehr liebgewann: Theaitet. Dieser ist Vorläufer Euklids, des Gründers der klassischen Mathematik. Im Jahre 369 wurde er im Feldzuge gegen die Thebaner verwundet und wurde sterbend in die Heimat getragen. Um dem edlen Freunde ein ewiges Denkmal zu setzen, schrieb Piaton das Gespräch, und der Griff, mit dem er die Aufgabe meistert, beweist den unvergleichlichen Erzieher. Er stellt den genialen Freund im Ephebenalter, schnell begreifend, lernbegierig, ehrfürchtig im Gespräch mit dem schon auf den Tod verklagten Sokrates dar. Aber er leitet das Gespräch mit einem Vorspiel in Megara ein. Eukleides, Sokrates-Anhänger und Haupt der megarischen Schule, hat den fast sterbenden Theaitet in Megara gesprochen und den in die Heimat Drängenden vergebens zum Bleiben eingeladen. Man bewundert den Seherblick des Sokrates, der dem Knaben eine große Zukunft voraussagt. Man preist dessen Tapferkeit in der Schlacht, die allerdings jeder von ihm erwartet hat. Wenn Piaton jede Befassung mit der athenischen Politik strengstens meidet, so sagt er hier doch, daß jeder Akademiker seine vaterländische Pflicht bis in den Tod erfüllt. Theaitet, 278
der große Forscher, ist zugleich Vorbild des Kriegeradels und des Platon-Jüngers. Piaton hat Theaitet geliebt, weil er im Wesen Sokrates so ähnlich war. Im Gespräch wird er Sokrates vorgeführt, nachdem man selbst die Somatische Häßlichkeit, aufgeworfene Nase, vorstehende Augen, an ihm beschrieben hat. Sokrates ruft ihn heran, um gleichsam in einen Spiegel zu schauen: „damit ich mich selbst erblicke, was ich wohl für ein Gesicht habe." Aber schnell springt er dazu über, daß es nur auf die seelische Ähnlichkeit ankomme. Und als Theaitet später den Gedanken richtig entwickelt, daß es einen inneren Sinn gibt, daß die Seele selbst etwas erblicke, was die äußeren Sinne nicht wahrnehmen, da fühlt Sokrates froh die Verwandtschaft: „Schön bist du dennoch, Theaitet, und nicht, wie Theodoros sagte, häßlich! Denn wessen Worte schön sind, der ist schön und gut" (185E). Piatons Vorliebe für Mathematik wird heute verdächtigt, weil diese als Werkzeug analytischer Naturwissenschaft und fortschreitender Mechanisierung die Grundkräfte des Lebens bedrohe. Niemals hat Piaton sie in diesem Sinne gebraucht. Ihm dient sie als Vermittlung zwischen dem lebendigen Geiste und dem Raum-Stoff, durch die er von den Dingen aufsteigt zur Idee und von der Idee aus die Raumwelt beherrscht und durchgeistigt. So ist die Mathematik in dem rein-geistigen Weltbilde, wie Eros in der Seelenwelt, der vermittelnde Daimon. Der „Timaios" wird sie in dieser Vollendung zeigen. Theaitet hat die Lehre der irrationalen Zahlen geschaffen. Wenn man verstanden hätte, warum diese Entdeckung Piaton so freudig erschüttert, so würde man seine Ideenlehre weniger mißdeutet haben. Als er sah, daß die irrationale Zahl ]T2 zahlenmäßig, also abstrakt-begrifflich unausdrückbar blieb, aber als Hypotenuse im rechtwinkligen Dreieck anschaulich darzustellen war, erkannte er in dieser Anschaulichkeit mit großem Entzücken einen Beweis wahren Begreifens und ein Gleichnis höchster Erkenntnis. Die geometrische Anschauung ist ein Bild für den Aufstieg zur Idee. Dann erfüllte Theaitet seinen Wunsch, die Theorie der regelmäßigen Körper zu bearbeiten, die zu dem Gesetz führte, daß es deren nur fünf, die sogenannten „Platonischen" Körper gebe. Die Schau des Gesetzes in regelmäßigen Figuren war für Piaton der höchste Genuß. Im „Timaios" führen diese Körper als Atomformen von der Idee zu den wirklichen Stoffen. So ist Theaitet echter Sproß der Akademie. Ganz anders der zweite große Mathematiker, Eudoxos. Er verband sich erst als gereifter Mann der Akademie. Sein Studium der Planetenbahnen führte zu der Piaton aufs höchste beglückenden Erkenntnis, daß auch diese regelmäßige Figuren beschrieben. Vielleicht ist er Begründer des sogenannten Pythagoreischen Weltsystems, der Vorform des Ptolemäischen, an das Dante glaubte, von dem Kopernikus und Kepler ausgingen. Als Archytas' 279
Schüler schließt er die Proportionslehre ab und begründet die Infinitesimalrechnung. Aber dieser selbe Eudoxos vertritt die sehr unplatonische Lehre, daß die Lust das höchste Gut sei. Piaton liebte den großen Forscher, der etwa um 375 in die Akademie aufgenommen zu sein scheint, aber er konnte den gereiften Mann doch nicht mehr in seinem Sinne umformen. Daß er ihm dennoch anscheinend 367 die Vertretung in der Akademie übertrug, zeigt, wie wenig doktrinär Piaton gesonnen war. Aber er konnte nicht anders, als immer um den Freund werben, um den Spezialisten ganz in das Platonische Menschentum einzuschmelzen. Diese Werbung ist das heitere Spiel im „Theaitet", denn Theodoros kann nur Maske für Eudoxos sein. (Was hätte ihn veranlaßt, in drei Dialogen hintereinander plötzlich den Theodoros auftreten zu lassen, von dem man fast nichts weiß, als was man aus Piatons Dichtung als Wahrheit nimmt?) Wenn Sokrates den Theodor als „Geometer, Astronomen, Rechenkundigen, Tonkundigen und was sonst zur Erziehung gehört", einführt, so paßt das vollkommen auf Eudoxos, den Schüler der Pythagoreer und jetzt Lehrer in der Akademie (145A). Und wenn Sokrates das Gespräch mit der leeren Bemerkung beginnt, daß er sich nicht um Kyrenaiker, sondern um die attischen Jünglinge kümmere, so kann das nur heißen, daß eben nicht von Theodoros in Kyrene, sondern von Eudoxos in der Akademie die Rede ist. Mit allen Mitteln seiner Kunst sucht Piaton durch das Bild des Gespräches den verehrten Eudoxos in die Gedankengänge seiner Lehre zu verstricken. Wie die Spartaner die älteren Männer nur dann als Zuschauer der gymnastischen Übungen zulassen, wenn sie sich selbst entkleiden, so soll auch Theodor, wenn er zuhören will, sich selbst zum dialektischen Kampf entkleiden. Und als dieser den Theaitet vorschieben will, der doch mit mehr Verständnis folge als viele Männer mit langen Bärten, schmeichelt Sokrates: „Aber nicht besser als du, Theodoros." Dieser fügt sich, denn er weiß: Sokrates ist schlimmer als die Spartaner: er zwingt wie Antaios die Fremden mit Gewalt, sich zum Ringkampf mit ihm zu entkleiden (162B. 168E—169B). Das Gespräch endet, wie die Frühdialoge, scheinbar ohne Ergebnis: Sokrates ist wieder der Nichtwissen Aber diese Haltung wird jetzt unmißverständlich als Methode des Unterrichts gedeutet. Erkenntnis kann nicht geschenkt, sie kann nur geweckt werden, denn alles äußerlich übertragene Wissen ist kein echtes fruchtbares Wissen. Sokrates bekennt, wie seine Mutter Phainarete unfruchtbar geworden zu sein und nur als Hebamme zu wirken! Wer daraus schließt, Piaton verzichte auf Führerschaft und folge den Regungen der Schüler, den widerlegt der Verlauf des Gespräches gründlich, denn nirgends wird der Schüler — hier der geniale Theaitet! — so hilflos von Sokrates kreuz und quer geführt. Wird die Wirkung dieses Hin und Her doch sogar mit der Seekrankheit verglichen, wobei sich versteht, daß Sokrates das Ziel im Auge hat und das Steuer führt, der Schüler aber seine Standhaftigkeit bewähren und 280
im Vertrauen auf den Steuermann der Krankheit trotzen soll. Jenes bürgerliche Bild steigert Piaton ins Mythisch-Große: „Die Geburtshilfe leisten der Gott und ich!" (150DE). Und der Umfang des Amtes ist groß, denn Piaton will nicht nur entscheiden, ob das Geborene ein Recht hat, am Leben zu bleiben, sondern die rechten Paare zur Zeugung zusammengeben. In deutlicher Parallele wird das Recht der Staatgründer zur Zuchtwahl auf den geistigen Staat übertragen. Piaton wird also in der Akademie die rechten Lehrer bestellen (wie den Eudoxos), er wird die Freundschaften stiften. Der Ton des Erziehers wird gewichtiger und strenger, wenn Piaton den Jüngern sagt: „Die aber mit mir umgehen, zeigen sich anfangs bisweilen sehr ungelehrig. Im weiteren Umgange aber nehmen sie alle, denen es Gott gestattet, wunderbar schnell zu, wie es ihnen selbst und anderen scheint. . . Viele haben das nicht verstanden und schreiben es sich selbst zu und, mich gering schätzend, gingen sie von selbst überzeugt oder durch andere überredet, früher als sie gedurft hätten, ihren eigenen Weg. Dann aber brachten sie infolge schlechten Umganges Fehlgeburten zutage, während sie das, wovon ich sie entbunden hatte, durch ihre schlechte Pflege umbrachten . . . Mit einigen von ihnen, wenn sie zurückkehren und um meinen Verkehr bitten und alles dafür tun wollen, verbietet mir das mir begegnende Daimonion zu verkehren, bei anderen läßt es dies zu, und sie erholen sich wieder." So warnt er die Anhänger vor Untreue im geistigen Reich und redet doch wieder freundlich zu, sich nicht zu kränken, wenn er gezwungen ist, ihre Mißgeburten abzulehnen (149A—151D. Vgl. auch Theages). Wenn Piaton hier vor allem Protagoras widerlegt, so bezeigt er doch seiner Person Achtung und gibt seinem Bilde einen mythischen Zug. Wie einen Daimon läßt er sein Haupt aus der Erde aufsteigen: „ A b e r doch ist es nicht sicher, ob wir nicht an der Wahrheit vorbeilaufen. Wahrscheinlich wäre es doch, daß Protagoras als der ältere auch weiser wäre als wir, und wenn er hier im Augenblick bis zum Halse auftauchen könnte, so würde er sicher mich schelten, daß ich schwatzte und dir nachgab, und sich abwendend würde er wieder untertauchen" (17IC). Nur d e r Kampf gilt, der auch durch das Gewicht der Person entschieden wird, wie Sokrates einst den berühmten Protagoras im Turnier überwunden hat. Piaton rügt es, daß die jungen Schüler sich die Widerlegung eines Protagoras, dem gegenüber, wie er im Gespräch mehrere Male betont, sie denn doch nur Kinder sind, gar zu leicht machen. Dem bescheidenen Theaitet gegenüber ist solche wiederholte Mahnung gewiß am wenigsten notwendig. Daß er sie dennoch hier ausspricht, bedeutet also, daß er den jungen Mitgliedern der Akademie sein ernstes Erzieherwort sagt. Keiner der früheren aporetischen Dialoge führt so nahe ans Ziel wie der „Theaitet", und am Ende ist die Lösung mit Händen zu greifen. 281
Nach dem Wesen der Erkenntnis wird gefragt, und Piaton will ihr Verhältnis zur (angeblich von ihm verachteten) sinnlichen Wahrnehmung gründlich klären (151E—187A). Er knüpft diese Darstellung an die Behauptung Theaitets, Wissen bestehe überhaupt in Wahrnehmung. Dagegen erinnert Piaton, wie auch die älteren Philosophen, an die Trüglichkeit der Sinne . . selbst der Traum ist nicht sicher von echten Wahrnehmungen zu unterscheiden. Dem Wahrnehmungswissen haftet darum Subjektives und Relatives an. Aber Piaton lehnt keineswegs die Wahrnehmung als schlechthin subjektiv ab, sondern mit Bildern, die an Empedokles und Demokrit anknüpfen, zeigt er schön in ihr das Gleichgewicht von Subjektivität und Objektivität. Die sichtbaren Dinge und ebenso die Augen senden Strahlen aus, die in der Mitte aufeinandertreffen und dort das Wahrnehmungsbild erzeugen. Wie immer geht Piaton weder vom Subjekt noch vom Objekt, sondern durchaus vom welthaften Gleichgewicht, von der Ganzheit aus. Aber wenn unser sinnliches Weltbild so wie das Geschehen in der Werdewelt ein Gegeneinanderwogen des Aktiven und Passiven ist, so fehlt offenbar in diesem Bilde an sich das bestimmende Maß, das Kennzeichen des Gültigen, des Ewigen. In diesem Sinne darf man den Satz Wahrnehmung = Wissen gleichsetzen dem Hauptsatz des großen Relativisten Protagoras: Das Maß aller Dinge ist der Mensch. Schon wenn wir etwas lesen, so erkennen wir den Sinn des Gelesenen, also ein höheres Wissen, das in der bloßen Sinneswahrnehmung der Buchstaben als solcher nicht enthalten ist. Dann kann Protagoras seinen Satz nicht ernst nehmen. Wenn für jeden das wahr ist, was ihm im Augenblick so scheint, dann gibt es überhaupt kein Wissen. Wer ein Haus baut, fragt den Fachmann um Rat — also erkennt er ein Wissen an, das höher steht als die augenblickliche zufällige Überzeugung. Und was hilft Protagoras alle seine Weisheit, wenn doch die Überzeugung jedes Toren ebenso wahr ist wie die seine? Dann ist Protagoras nicht mehr als der Pavian, der Gott nicht mehr als der Mensch. — Piaton hat bewiesen, daß der strenge Relativismus sich selbst aufhebt. Nun vermag auch Theaitet zu erkennen, daß nicht in den Sinnesorganen selbst wahrgenommen wird, daß sie vielmehr nur Organe der wahrnehmenden Seele sind. „Es wäre ja arg, wenn viele Wahrnehmungen in uns wie in einem hölzernen Pferde nebeneinander lägen, und nicht alles dies zusammenliefe in eine einheitliche Idee, mag man sie Seele oder anders nennen, worin wir durch jene gleichsam durch Werkzeuge wahrnehmen, was wahrnehmbar ist" (184 D). Mit diesem glücklichen Bild aus der Sage führt Sokrates die Vielheit der Wahrnehmungsbilder im Menschen zurück auf die einheitliche Vorstellung in der Seele. Theaitet versteht, daß wir ein Vermögen haben, welches in den einzelnen Sinneswahrnehmungen das Bleibende erkennt und beurteilen kann durch die Ideen des Seins und Nichtseins, der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, des Selben und Andern, der Eins und der Zahl. Für diese Be282
urteilung gibt es kein besonderes Organ, „sondern die Seele selbst scheint mir durch sich selbst das Gemeinsame an allen Dingen zu betrachten" (185 D). Darauf gibt ihm Sokrates jenes Lob: „Ja, schön bist du, Theaitet, . . . " Gewonnen ist das Ergebnis, die Erkenntnis nicht in der Wahrnehmung zu suchen, sondern in dem Zustande der Seele, „wenn sie sich für sich selbst mit dem Seienden beschäftigt". Das ist das Denken, Meinen, Vorstellen, das oocaCeiv. Nun schlägt Theaitet vor: Erkenntnis ist wahre Meinung (187 B bis 201 D). Dann muß von der wahren Meinung die falsche gesondert werden, aber der Begriff der falschen Meinung oder Vorstellung schien den griechischen Philosophen widerspruchsvoll. Falsche Vorstellung ist Vorstellung eines Nichtseienden, ist leer, ist selbst ein Nichts. Da aber die Widerlegung des Protagoras und Antisthenes davon abhängt, daß es auch Irrtum gibt, erläutert Piaton dessen Wesen durch Bilder für die Denkvorgänge in uns. Unser Gedächtnis gleicht einer Wachstafel, in welche die Wahrnehmungen ihre Stempel prägen. Wenn nun diese Abdrücke verwischt sind, so kann man eine Wahrnehmung mit einem Abdruck, der nicht zu ihr gehört, in Beziehung setzen, so, wenn man einen Menschen sieht, aber mit einem anderen Bekannten verwechselt. — Aber auch im Denken ohne Wahrnehmung, in den Vorstellungen selbst ist ein Irren möglich. Piaton vergleicht wieder das Gedächtnis einem großen Taubenschlag, in dem die Vorstellungen frei herumfliegen. Er unterscheidet zwischen Eigentum und wirklichem Besitzen, in der Hand halten. Wie der Eigentümer aus seinem Taubenschlag von den Tauben, die ihm doch alle gehören, eine Holztaube an Stelle der zahmen Taube greifen kann, so kann der Rechner, der auch alle Zahlen kennt, eine falsche Zahl greifen, einen Rechenfehler begehen. Aber wie entscheiden wir nun, was Irrtum, was Wahrheit ist? Diese Unterscheidung setzt ja schon die wahre Erkenntnis, die Norm voraus! — Jene Erklärung bewegt sich im Kreise. Wir wissen, was Piaton meint: die Norm ist die Idee des Guten, und allein in ihr findet das fruchtlos kreisende Denken seinen Halt, erst aus diesem Urgrund kann Wahrheit und Falschheit abgeleitet werden. Zuletzt zeigt Piaton noch einmal, daß nicht wegen der Beimischung von Wahrnehmung die Meinung hinter der echten Erkenntnis zurückbleibt. Umgekehrt (was der üblichen Deutung seiner Lehre widerspricht) muß die Erkenntnis mit Wahrnehmung (äußerer oder innerer) gesättigt sein, während für die wahre „Doxa" das Hörensagen genügen kann! Wenn ein Richter, ohne die Straftat selbst gesehen zu haben, sich durch die Anwälte richtig überzeugen läßt, so hat er die richtige Meinung, aber nicht die richtige Erkenntnis, weil er diese nur haben könnte, wenn er den Vorgang selber gesehen hätte (201 B)! Piaton verlangt hier die Wahrnehmung noch entschiedener, als es der „gesunde Menschenverstand" tut, der oft trotz fehlender Wahrnehmung seine 283
Meinung für unumstößlich hält. Piatons Erkenntnis beruht nicht i n der Wahrnehmung, aber a u f der Wahrnehmung. Zuletzt fällt Theaitet die Definition des Antisthenes ein: Erkenntnis ist wahre Meinung mit Erklärung, mit Logos" (201 D—Schluß). Piaton verachtet diesen plebejischen Halbgriechen, seinen Antipoden im Sokrates-Kreise, der dessen Erbe ins Grobe und Stoffliche herabzieht, das er selbst auf den Gipfel des Geistigen und Schöpferischen hob. Audi Antisthenes stellt die Tugend über die Lust, aber des angeborenen schönen Maßes ermangelnd beschimpft er auch alle edle Lust. Der Vorläufer der kynischen Resignation hat recht, daß es eine Tugend ohne Geist gibt, aber er verzichtet dann nicht selbst bescheiden auf den Geist, sondern geschmacklos maßt er sich an, mit leerer Begrifflichkeit Piatons Wunderbau zu kritisieren. Er kann aJs Nominalist, Naturalist und Positivist gelten. Piaton führt solche Lehre aus. Man kann die Urbestandteile, die Stoicheia, die Buchstaben aller Dinge nur wahrnehmen und nennen, aber nicht erkennen und erklären. Erkennbar und erklärbar ist nur das aus ihnen Zusammengesetzte. Diese Lehre klingt nicht schlecht. Piatons Einwände dagegen sind für das Wesen seiner Idee höchst wichtig. Er verlangt, daß man den Buchstaben, das Unzusammengesetzte, genauer kennen muß als die Silbe, sonst könne man nicht lesen. Für Antisthenes ist die Gegebenheit „Rot" eine Wahrnehmung, keine Erkenntnis, erst der Vorgang des Zusammensetzens begründet Erkenntnis. Für Piaton aber ist die anschauliche Gegebenheit „Rot" im höchsten Sinne Erkenntnis. Für Antisthenes ist Erkenntnis rein diskursiv, f ü r Piaton rein anschaulich (206 AB)! Dann spricht Piaton die Lehre von Ganzheit, Gestalt, Sinn aus, die der fruchtbarste Gedanke der heutigen Philosophie ist. Schon die Silbe sei nicht gegeben durch die Buchstaben, sie sei eine neue Einheit, Gestalt, „Idee" (203 E, 204 A, 206 C, E). Wenn also, wie Antisthenes meint, das nicht aus Teilen Erklärbare unerkennbar wäre, dann wären alle Ganzheiten unerkennbar. Noch deutlicher wird es beim Lesen, daß der Sinn des Ganzen nicht gegeben ist durch die Buchstaben, die wir als solche wahrnehmen. Die Gestalt kann niemals allein aus den Teilen erklärt werden. Alle Erklärung, die aus den Atomen, den untersten Teilen, das Ganze aufbauen will, geht fehl. Es gibt nur eine Erkenntnis: die A n s c h a u u n g der Gestalt (204)! Das ist das hellenische Erbe, das Piaton gegen den einbrechenden Geist des diskursiven Denkens verteidigt. Antisthenes überträgt offensichtlich die materialistische Atomlehre Demokrits gerade wie die Assoziationspsychologen des 19. Jahrhunderts auf das Psychische. E r klebt am Untersten, Stofflichen und lehnt alles ab, was über eine bloße Zusammenzählung herausgeht, während Piatons Idee die schöpferische Kraft bezeichnet, die sich der Gegebenheiten als bloßen Stoffes bedient. So stellen beide Sokrates-Jünger in ihrem Zeitalter die Pole des geistigen Lebens überhaupt dar. 284
Zuletzt klärt Piaton den Begriff „Logos". Er kann bedeuten die bloße Aussage dessen, was man beim Namen des Gegenstandes denkt, zweitens die Aufzählung seiner Teile, wie der hundert Hölzer, die nach Hesiod zum Wagen gehören. Aber wenn diese Aufzählung nicht die richtige Anordnung der Teile darstellt, so trägt sie zur Erkenntnis nichts bei. Drittens bezeichnet Logos die logische Definition, die Angabe des besonderen Merkmals, das ein Ding von seiner Gattung unterscheidet. „Die Sonne ist das leuchtendste Gestirn." Aber wer ein Ding in seiner individuellen Besonderheit kennt, kennt auch schon dies unterscheidende Merkmal. Auch die logische Definition gibt kein neues Wissen zur richtigen Vorstellung hinzu. Wenn das Gespräch scheinbar ergebnislos endet, so weist dieser Logosbegriff die Richtung. Die „Aufzählung" ergibt nichts, aber sie deutet auf eine tiefere Definition, die das Gesetz, den Sinn, das Bauprinzip darstellt. So steht es im VII. Brief (342 B), wo der Kreis als Linie, die überall vom Mittelpunkt gleich weit entfernt ist, definiert wird. Dort fällt aber die überraschende Entscheidung, daß diese Definition an Erkenntniswert noch unter dem sinnlichen Bilde des Kreises steht! Der „Theaitet" macht das verständlich. Zur „Idee" führt der Begriff der Ganzheit (204), und sie wird durch das sinnliche Bild richtiger gegeben, als durch die diskursive Erklärung! Sie führt weiter zur Einordnung des Dings in die Weltganzheit, zu seiner Beziehung zur Idee des Guten, auf die Sokrates mehrmals verweist. Das ist Piatons Unterrichtsmethode. Er gibt nicht die klare dogmatische Formel . . . er läßt uns im Zweifel, ob eine solche überhaupt möglich ist: aber die Vorstellungen, deren der Erkennende bedarf, zeigt er wie verschiedene Vogelarten und überläßt es jedem, ob er sie in den Taubenschlag sperren und zu richtigem Gebrauch greifen lernen will. Das ist Unterricht, nicht Erziehung. Nun aber hat auch der große Erzieher in dem „Theaitet" sein Bild geprägt. Der VII. Brief gibt die höchste Interpretation der Platonischen Lehre: ihr Geheimnis läßt sich nicht logisch und nicht schriftlich ausdrücken — es wird aber den Empfänglichen im persönlichen Umgang leicht sichtbar (341 C—E). Gibt nicht der „Theaitet" auf dies Rätselwort, daß das fast Unmögliche doch wieder leicht ist, eine Antwort? In der Mitte des ganzen Gespräches, recht betont unvermittelt und willkürlich eingefügt, steht die sogenannte „Episode" (172 C—177 C). Sokrates setzt ein, daß die, welche ihre Zeit mit Philosophie verbringen, vor Gericht sich als Redner lächerlich machen. Daß Sokrates selbst schon angeklagt ist, könnte diese Einschaltung nur ganz oberflächlich begründen, denn Piaton hat den Redner der Apologie nicht als lächerlich empfunden. Wenn Piaton die Abschweifung so betont, so heißt das, daß gerade sie die Lösung bringt, die im logischen Gang der Untersuchung nie zu erreichen ist. Hier setzt er sich mit dem Pathos seines 285
Herzens für seine geistige Gründung ein. Ohne Zweifel wurde die Akademie von allen Seiten angegriffen, daß sie Theoretiker, aber keine handelnden Männer erzöge. Das sind die Einwände des Polos, Kallikles, ja des Adeimant gegen die Philosophie. Piaton muß in Person vor sein Werk treten. Fast darf man neben die Gorgias-Wende zwischen I. und II. Periode eine Theaitet-Krise zwischen II. und III. Periode stellen. Aber der Unterschied der Stufe ist gewaltig: damals kämpfte Piaton um seine geistige Existenz, rachedrohend und fast verzweifelnd . . . jetzt hat er auf politische Herrschaft verzichtet, aber er tritt als das Haupt der Akademie dem gegenwärtigen Athen geringschätzig gegenüber. Sein Reich ist gegründet, und hoch über das Treiben der Gegenwart hinweg richtet er den Blick auf den Kosmos. „Denn wo er einen Tyrannen oder König lobpreisen hört, meint er, irgendeinen der Hirten, etwa der Schweine- oder Rinderherden, seligpreisen zu hören, weil er viel melkt . . . Hörte er aber, daß jemand, der zehntausend Morgen Land oder mehr erworben, ein staunenswertes Eigentum besitze, so meint er etwas ganz kleines zu hören, gewohnt, wie er ist, über die ganze Erde zu schauen" (174 D). Wer das wörtlich versteht, müßte glauben, daß Piaton seine pythagoreische Gründung verleugnet und auf die staatsmännische Erziehung verzichtet. Aber wenn heute jemand sagte, er wisse nicht, ob Bundestag, Parteien, Zeitungen noch bestünden, so würde man auch die spottende Ironie begreifen. Platonische Erziehung ist angegriffen von denen, die im Alltagsbetrieb, in der Kenntnis der zufälligen Personen, in der Routine vor Volksversammlung und Gericht die Tüchtigkeit des Mannes sehen. Ihnen antwortet Piaton mit Hohn, daß seine Jünger von diesen Dingen nicht die leiseste Ahnung haben. Das wahre Leben schließt ja die Akademie in sich, weil es in Athen erloschen ist. Wenn aber die Akademie zur Herrschaft berufen wird, dann wird alles ausgefegt, was jetzt die Gegner so wichtig nehmen. Von der Akademie, nicht von Sokrates ist die Rede. Die Zöglinge der Gegner halten sich für weise, während im knechtischen Parteidienst ihre Seelen verkrüppelt werden. „So sind jene geartet, Theodor. Willst du aber, daß wir auch die von unserem Chore beschreiben? . . . Diese wissen von Jugend an nicht einmal den Weg zum Markte, noch wo das Gericht oder das Rathaus oder irgendeine öffentliche Behörde liegt. Gesetze und Volksbeschlüsse, geschriebene oder verkündete, sehen und hören sie nicht. Das Bewerben in den Parteien um Ämter, die Sitzungen, Festmahle, Feiern mit Flötenspielerinnen zu besuchen, das fällt ihnen auch im Traume nicht ein." Sie kümmern sich nicht, welche Familien als adlig gelten und 25 Ahnen haben, denn sie wissen, daß ein neuer Adel gezüchtet werden muß (Politeia). „In Wirklichkeit wohnt und lebt nur sein Leib im Staate, sein Geist aber, der dies alles für klein und nichtig hält und verachtet, schweift überall umher, um auszumessen, was über der Erde wird, was unter ihr, erforscht die Sterne, die am Himmel krei286
sen, und ergründet überall jegliche Natur der Dinge, eines jeden in seiner Ganzheit, und läßt sich zu nichts herab, was in der Nähe ist" (173 B—174 A). Nur als Kundgebung in der Gegenwart sind diese scheinbar weltflüchtigen Worte zu begreifen. Die Gegner höhnen, wie die witzige thrakische Dienstmagd den Thaies, daß seine Erziehung zum wirklichen Leben untauglich mache. Piatons Antwort ist in kühner Selbstironie vernichtender Hohn. Er kämpft nicht wie im Gorgias um die e i g e n e Existenz, sondern bestreitet schlechthin die Existenz der G e g n e r ! Überflüssig, ihnen auch nur zu zeigen, daß in der Akademie wahre Staatsmänner heranwachsen, denn das geht jene nichts an. Er hält ihnen vor, daß ihre Zeit abgelaufen ist, daß er nicht mit ihnen rechnet: das Athen der Gegenwart ist in Wirklichkeit schon Vergangenheit! Nur in der Erkenntnis der Idee wurzelt die Zukunft. Das ist der Gegenstoß gegen den Relativismus der Sophisten. Wer aber führt zu ihr? Methodische Arbeit bringt nicht das Heil, und Wissenschaft darf den Menschen so wenig zum Sklaven machen, wie der Advokatenbetrieb. Sokrates fordert die Muße der freien Rede, den Abbruch des logischen Gedankenganges, wie auch Theodor bezeugt, daß die Logoi nur unsere Dienstleute sein dürfen, die warten müssen, abgefertigt zu werden, wie es uns gefällt (172 C, 173 C). Piaton wirft feurig den Vertretern der gegenwärtigen Bildung vor, daß sie zu niedern Leistungen geschickt sind, aber ihre Reden am Markte nach der Wasseruhr bemessen müssen. Nicht auf die intellektuelle Bildung kommt es Sokrates an, sondern darauf, ob man seinen Mantel in freier Haltung umzuwerfen und harmonisch in die Reden einzugreifen versteht, um gebührend das wahre Leben der Götter und seligen Menschen zu besingen (175 E). Damit leitet Piaton den höchsten Gedanken des Gespräches ein. Die Erkenntnis ist Organ des schönen Lebens, keine aus der Gemeinschaft gelöste Eigenform. Es genügt nicht, die Herrschaft des agathon zu erkennen: sie muß getragen werden vom Willen und vom Glauben. Darum steht im Mittelpunkt des ganzen Gespräches als Maß und Sinn des Platonischen Lebens die Vergottung des Menschen, otMiwatc ftsw! „Fromm und gerecht mit Einsicht" zu werden, ist der Weg (176). Die unvergängliche Deutung der Philosophie heißt: „Durchaus ist dies des Philosophen Pathos, das Staunen! Gibt es doch keinen Ursprung der Philosophie als diesen, und kein schlechter Genealoge scheint es zu sein, der Iris die Tochter des Thaumas nennt." Staunen ist bewundernde Schau. Descartes hat die neuere Philosophie auf den analysierenden Zweifel gegründet — Goethe hat jene Philosophie des Staunens gepriesen. „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen; und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden: ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen . . . " Und daß er in dieser Weisheit sich als Piatons 287
Bruder empfand, besagt sein Entzücken über das Platonische Erstaunen (vgl. oben S. 269). Im VII. Brief lehnt Piaton mit großer Heftigkeit ab, daß irgend jemand imstande sei, den Sinn seiner Lehre wiederzugeben: so wörtlich, so leiblich gilt es, daß nur aus der Sokratisch-Platonischen Gestalt, nur aus dem Umgange mit ihr in jener Weltstunde der rettende Funke springt (VII 341)! Nur aus neuer Religion kann der Staat sich erneuen. Philosophische Wissenschaft ist nur geistige Reinigung und Bereitschaft. In dieser Untersuchung der Erkenntnis ist kein Platz für Gottesstaat und Jenseitsgericht, dennoch meidet Piaton die Warnung nicht, daß die Gegner ihr übles Leben im Jenseits fortsetzen müssen. Angemessener dem Wesen der Akademie ist aber die andere Drohung, daß jene, wenn sie sich ernstlich zum philosophischen Zweikampf stellen, sich selber in ihren Reden zuwider werden und gleichsam wieder zu Kindern zusammenschrumpfen (176 D—177 B).
XVIII. ZWEITE REISE N A C H S Y R A K U S U N D DER „ P A R M E N I D E S " Die Spaltung zwischen Denken und Tun Piatons Altersweg schien richtig vorgezeichnet: Verzicht auf politisches Tun, geistige Erziehung der erlesensten Jugend — denn die Religionsgründung überließ der Weise der Zukunft. Da brach unverhofft das Schicksal ins Gehege der Akademie: Dionysios I. starb 367. Piaton sollte sich im Tun bewähren — aber die Tat gehört nicht dem Einzelnen, denn sie geschieht im Raum zwischen Einzelnen und Gemeinschaft. Ob er zum Retter würde, mußte durch die Bereitschaft der hellenischen Nation zur Wiedergeburt entschieden werden. Dion hatte in den zwei Jahrzehnten, seit Piaton auf der ersten Reise seine Liebe gewonnen hatte, den geistigen Samen in sich reifen lassen, indem er sich vom zügellosen Leben Siziliens fernhielt. Er war als erster Berater Dionys I. zum bedeutenden Staatsmann und Feldherrn erwachsen. An ihn, den echten Platoniker neben dem Pythagoreer Archytas, muß man denken, wenn im „Staat" und „Theaitet" Piaton mit dem Bewußtsein des Siegers die Angriffe der Ungeistigen auf die philosophische Erziehung breit ausmalt. Jetzt war er etwa 40 Jahre alt, ernst, Achtung gebietend, bei Freund und Feind Vertrauen erweckend, doch nirgends zu feilem Entgegenkommen bereit. Der Nachfolger in der Tyrannis, Dionysios II., noch jung und bisher von allen Regierungsgeschäften fern gehalten, 288
mußte in ihm, seinem Oheim und Schwager, den gegebenen Berater der Krone sehen. Aber es ist ebenso verständlich, daß sich eine starke Partei gegen Dion bildete, um den jungen Tyrannen für sich zu gewinnen. Die Gegenpartei stellte die Platonische Lehre, der Dion verfallen sei, trotz seiner Erfolge gegen Karthago als die Gefahr für den Staat dar, wie die Menschen immer sich in ihrer Existenz bedroht fühlen, wenn sie plötzlich eine ihnen fremde geistige Richtung spüren. Anfangs aber vertraute der nicht unempfängliche Tyrann dem Oheim und willigte in Piatons Berufung. Sehr schwer war für den mehr als Sechzigjährigen die Entscheidung. Eine solche Aufgabe hatte er ersehnt — aber sie kam jetzt, als er nur noch in der Akademie wirken wollte, zwanzig Jahre zu spät. Im „Phaidros" hatte er, da die Sonne den Zenit überschritt, der Politik entsagt, aber zugleich hatte er in der Leidenschaft für den Zeus-entsprossenen Dion sein höchstes Glück und den unzerreißlichen Bund bekannt! Konnte er ihm jetzt die Treue brechen? In diesem Widerspruch stellte er sich sinnlich vor, wie Dion zu ihm sprechen würde, wenn er aus Sizilien verbannt würde: „Piaton, ich bin zu dir gekommen als Flüchtling, nicht weil mir Hopliten mangelten und Reiter fehlten, um mich der Feinde zu erwehren, sondern das Wort und die Überzeugungskunst, da ich doch wußte, daß du in ihnen das Größte vermagst, die Jünglinge vom Schlechten zum Guten zu wenden, daß sie in Freundschaft und Kameradschaft zusammenstehen. Wegen dieses Mangels, der dein Teil ist, wurde ich aus Syrakus verbannt und bin nun hier. Mein Schicksal mag dir weniger Schande bringen. Die Philosophie aber, die du immer preist und von andern Menschen entehrt nennst, wie sollte sie nicht verraten sein an dem Teil, der dir zufiel? Wenn wir nun etwa in Megara gewohnt hätten, dann wärst du doch wohl zu Hilfe gekommen, wenn ich dich darum gebeten hätte, oder du hättest dich für den allerträgsten Menschen gehalten. Jetzt aber, wenn du die Länge der Reise und die Schwierigkeit der Fahrt und Anstrengung beschuldigst, glaubst du dann, dereinst dem Ruf der Schlechtigkeit zu entgehen?!" (VII. Br. 328 D bis 329). Diese hohe Form, dem Knaben verständlich, den Greis ergreifend, scheint modernen Kritikern künstliche Manier. Sie ist auch die Form Goethes, der bei schwierigen Entscheidungen wirklich die Personen in der Phantasie vor sich sah und in der Zwiesprache mit ihnen zur Klarheit kam. Piaton empfand die Akademie als den ihm schicklichen Kreis, den Tyrannenhof als den unschicklichen. Aber die Scham zwinge ihn zu gehen, „damit ich nicht mir selbst dereinst nichts weiter zu sein scheine als bloßes Wort und nicht mehr willig, jemals eine Tat zu ergreifen". Hier steht das Bekenntnis: Piaton empfindet schmerzhaft die Spannung zwischen Denken und Tun, aber als Schande empfindet er es, sich für den Logos zu entscheiden, wo das Ergon möglich scheint! (328). Das ist sein Gegensatz zu Demokrit und der müden hellenistischen Philosophie. Es ist der letzte große Augenblick im Schicksal der Philo19 Hildebrandt, Piaton
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sophie, und es ist bezeichnend für den Geist des 19. Jahrhunderts, daß es hämisch diese Entscheidung Piatons als leere Eitelkeit deutet, die ihre wohlverdiente Strafe gefunden habe. Dionys war empfänglich für Piatons Ruhm, aber kein echter Jünger. Dions Stellung war schon erschüttert, als Piaton eintraf, doch konnten beide noch versuchen, auf den Tyrannen einzuwirken. Dionys I. hatte seine Herrschaft dadurch befestigt, daß er die hellenischen Städte rücksichtslos entvölkerte und dafür nichtgriechische Stämme nach Sizilien zog, Dionys II. soll ein national-hellenisches, gesetzliches Reich gründen (vgl. S. 311). Wie die Gegner aber vorher Dion beschuldigten, daß er durch Flatons Lehre die Tyrannis verderbe, so nun umgekehrt, er trachte selbst nach der Tyrannis. Wirklich überschritt Dion einmal seine Befugnis, und Piaion war noch nicht vier Monate in Syrakus, als Dion aus Sizilien verbannt wurde. Schon ging das Gerücht, Piaton sei umgebracht worden. Dies war nicht die Absicht des Tyrannen: es hätte seiner Eitelkeit geschmeichelt und seinem Vorteil entsprochen, Piatons Freundschaft zu gewinnen. E r lud ihn ein, in seine Burg zu ziehen, und „da die Bitten der Tyrannen mit Zwang vermischt sind", mußte Piaton auf die Heimkehr verzichten und zwar als geehrter Gast doch auch als Gefangener in der Burg leben. Mit wunderlicher Eifersucht suchte nun Dionys ihn mit großen Versprechungen von Reichtum und Ehre für sich zu gewinnen, von Dion zu trennen. Nur den einzigen aussichtsvollen Weg ging er nicht: er ging nicht in das philosophische Leben ein. Immerhin entstand doch ein freundliches Verhältnis zwischen Tyrann und Philosoph. Der Tyrann schonte Dion, indem er sein fürstliches Vermögen nicht antastete, und entließ im Frühjahr 365 Piaton unter der Verabredung, daß Platon und Dion bald gemeinsam nach Syrakus zurückkehren sollten. Die nationale Reform Siziliens war gescheitert, aber doch ein Verhältnis zu Dionysios hergestellt, die Aussöhnung zwischen ihm und Dion vorbereitet, Dions Vermögen gerettet, außerdem die Freundschaft mit Archytas von Tarent (geschlossen oder) befestigt und dessen Bündnis mit Dionys vermittelt. So kehrte Platon enttäuscht, doch nicht ohne Erfolg in die Akademie zurück. Piatons Geheimnis und Zauber ruht in der urspünglichen Einheit seines Willens zur Tat und zum Denken. Nun aber wird die Spaltung zwischen Denken und Tun, die das Schicksal ihm auflegt, leibhaftes Bild in seinen beiden größten Söhnen: im Täter Dion und im Denker Aristoteles. Dion lebt seit der Verbannung in Athen, aber doch nicht als Verbannter, sondern (infolge Piatons Vermittlung?) eher wie ein Gesandter Siziliens. E r empfängt das attische und das spartanische Bürgerrecht und bewohnt Athen in fürstlicher Hofhaltung. Schwerlich wird Athen Platon noch als weltfremden Ideologen verlacht haben, wenn auch seine Verbindung mit Syrakus den Demokraten wenig erfreulich sein mochte . . . Aristoteles war achtzehnjährig, kurz vor Piatons Reise
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in die Akademie eingetreten. Über seine geistige Haltung in dem ruhmvollen Kreise wissen wir so viel, daß Piaton ihn ein schwer zu bändigendes Füllen nannte. Da sich die Einwände des „Parmenides" gegen die Ideenlehre später in Aristoteles' Schriften wiederfinden, da außerdem der Schüler im Gespräche den Namen Aristoteles trägt, so wird vermutlich der Sinn des Gespräches aus der Beziehung auf Aristoteles zu deuten sein. Diese Deutung aus dem menschlichen Bilde ist um so wichtiger, als kein Gespräch in seinem logischen Gehalt so unklar geblieben ist. Der Hauptteil des Gespräches, die äußerst abstrakte und scheinbar ergebnislose Untersuchung (137 C—166 C) ist ein Musterstück Zenonischer Dialektik. Diese ist analysierend und widerlegend, während die Platonische optisch und aufbauend ist. Wenn Zenon auf Sokrates' Angriff erwidert, er habe mit seinem Buche nicht Eigenes Neues sagen wollen, sondern nur den Hauptsatz des Parmenides, das All sei Eins, durch die Widerlegung des Gegenteiles stützen (128 C), so beschränkt er freiwillig dessen Wert auf das Negative, Apagogische! Ja, er bezeichnet sogar sein Buch als seine Jugendschrift, die gestohlen und ohne seine Zustimmung veröffentlicht sei, ohne daß er sich über ihren Wert ein Urteil bilden konnte! Die positive Lehre des Gespräches, die durch die Zenonische Methode indirekt gestützt werden soll, wird deutlich herausgehoben. Als der junge Sokrates Zenons Theorie mit seiner Vorstellung von der Idee kühn zu widerlegen meint, da sind Parmenides und Zenon nicht, wie der Zuhörer vermutet, verstimmt, sondern sie lächeln sich an, weil sie sich über Sokrates freuen. Piaton sagt uns damit, daß Parmenides sein Vorgänger ist, der die Ideenlehre, wenn er noch lebte, als Vollendung seiner eigenen Philosophie anerkennen würde. Parmenides, Zenon, Sokrates sind einig, daß nur durch die Einheit und Ewigkeit der Idee Erkenntnis möglich sei: Wer die Ideen der Dinge nicht anerkenne, der habe nicht, wo er den Geist hinwende, und er hebe die Fähigkeit des Mitteilens auf (135 C). Aber Parmenides zeigt weiter, daß die Gegner dieser Lehre sehr schwer zu widerlegen seien. Der junge Sokrates ist zum Beweise nicht fähig und kann die Einwände des Parmenides nicht widerlegen. Darum schlägt Parmenides als Vorübung für die Jugend eine dialektische Untersuchung vor. Diese schwierige Untersuchung, die sich immer in Antinomien totläuft, hat doch ein klares negatives Ergebnis: Wenn das Eine nicht das Seiende ist, dann kann es auch das Viele nicht geben, dann gibt es auch kein Meinen und kein Vorstellen (165 E—166 A). Das Eine, Seiende aber ist das, worin die Ideenlehre mit Parmenides zusammentrifft. Wenn also die Ideenlehre positiv nicht zu beweisen ist, so hat Parmenides doch die Untersuchung zu dem Ende geführt, daß ohne die Idee keine Welt und keine Erkenntnis möglich ist. So begrenzt ist der Lehrgehalt des Gespräches. Aber zu dieser Trockenheit steht der viel tiefere erzieherische Gehalt durch die Wärme 19*
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des Tones im Gegensatz. Auffallend ist schon, daß Sokrates diesmal als der Nehmende dargestellt wird. Was aber bedeutet es, daß die gewichtigsten Einwände gegen die Ideenlehre dem Parmenides in den Mund gelegt und auf das Gespräch mit Sokrates übertragen werden, der sich mit dieser abstrakten Logik schwerlich beschäftigt hat? Wir dürfen annehmen, daß Aristoteles, der große Philosoph und größere Logiker, auch jetzt schon, zwanzigjährig, spitzfindige Einwände gegen die Ideenlehre Piaton gegenüber verfocht. Dessen Antwort ist eine Findung des größten Genies der erzieherischen Liebe. Er rügt diese Grübelei nicht, sondern überbietet sie in der Lust des Agones, wie er so gern die Kunst der Rhetoren, ja die Leidenschaft der Jugend überbietet. Unter diesen dreißig Seiten eleatischer Antinomien mag doch wohl selbst ein Aristoteles gestöhnt haben, aber er wird die menschlichen Vorbilder gesehen haben, die Piaton errichtet. Parmenides ist Vorbild des großen alten Philosophen, der das aufgehende Gestirn erblickt — Sokrates Vorbild des schöpferischen, aber lernbereiten Jünglings. Parmenides ist dargestellt im Alter des Piaton, fünfundsechzig Jahre (in Wirklichkeit müßte er erheblich älter sein), Sokrates „sehr jung", wohl im Alter des Aristoteles. Sokrates ist dem Geiste gegenüber kühn und selbstbewußt in der Ahnung seiner Ideenlehre, Parmenides der überlegene Erzieher, der das Neue neidlos fördert, zugleich aber dem Jüngling zeigt, daß er noch viel von ihm lernen muß, ehe er seinen Traum gestalten kann. Während der mäeutische Sokrates die Fehlgeburten seiner Schüler meist vernichten muß, ist er hier der Schüler, dessen Frucht der Weise zur Aufzucht empfiehlt. Wie fruchtbar ist diese Legende, die Piaton im Vorspiel als sehr verborgene, doch historisch beglaubigte überliefern will. Parmenides ist nicht Maske für ihn, denn er will den großen Denker als seinen Vorgänger ehren, wie schon die Rühmung im „Theaitet" (183 E) vorbereitet. Aber doch lebt auch Piaton selbst in seinem Geschöpf. Wie es den Lebensaltern entspricht, ist Parmenides auch Piaton, der junge Sokrates auch Aristoteles — wie er sein sollte! Aristoteles kritisiert die Ideenlehre, die im Gespräch Sokrates vorbereitet, während Parmenides es ist, der die kritischen Einwände macht. Eine bedeutungsvolle Weisung für Aristoteles: Piaton belehrt ihn, daß seine Erwägungen nicht das Ende der Ideenlehre bedeuten, sondern an ihrem Anfang gestanden haben! Aristoteles darf stolz sein auf seine Gaben, aber er muß noch lernen, ehe er kritisiert. Große Begabung und große Erfahrung sei dazu notwendig (133 B). Sokrates, der Schöpferische läßt sich willig von Parmenides belehren — wieviel mehr soll sich Aristoteles, der bisher nur Kritische, ihm, Piaton, fügen. Noch steht nicht fest, ob er Sokrates sich zum Vorbilde nehmen darf, und vorläufig ist ihm die Rolle des „Aristoteles" im „Parmenides" angewiesen, der als der Jüngste nichts weiter tut, als den Lehrgang des Parmenides mit hohem Eifer zu verfolgen. Dem Grundsatz im „Lysis" gemäß schmeichelt Piaton nicht der Eitelkeit des Umworbenen, sondern 292
wiederholt: „Nur der wohlbegabte Mann wird das begreifen können, daß es eine Gattung gibt jedes Einzelnen und ein Wesen an und für sich . . . aber noch bewundernswerter ist, der es selber findet und imstande ist, einen anderen zu belehren, dies alles hinreichend zu unterscheiden." Dieser warnende Hinweis auf die Rangstufe wird menschlich vertieft, indem Parmenides erinnert, daß für ihn eine derartige Untersuchung eigentlich unschicklich sei. Er vergleicht sich scherzhaft mit Ibykos, der als Greis noch einmal die Bahn des Eros gehen soll, wie dieser sich seinem Rosse vergleicht, das zittert, da es noch einmal den Wettlauf wagen soll. Die sehr begrenzte Wertung der Zenonischen Dialektik, die Hegel nicht hätte übersehen sollen, wird jetzt im Menschlichen, wie vorher im Logischen stark betont. Sokrates bittet Parmenides, die Untersuchung zu übernehmen, und Zenon belehrt ihn, diese Bitte sei eigentlich unschicklich, dennoch unterstütze er sie, da sie ja im engen Kreise seien. Und Parmenides bestätigt das ausdrücklich (136 D—137 A). So deutlich sagt Piaton, daß solche logischen Grübeleien unter seiner Würde liegen, daß er sie aber aus Liebe zu den Schülern auf sich nimmt. Wie Phaidtos in die Rhetorik verliebt war, so ist es Aristoteles in die Logik. Beiden folgt Piaton, der leidenschaftliche Menschenbildner, mit leise angedeutetem Unwillen. Aber wir wissen, seine eigene und angemessene Redeform wäre die erhabene des „Timaios". So stellt die Legende der verschollenen Begegnung ParmenidesSokrates (zeitlich wäre sie nicht unmöglich gewesen) in kunstvoller Fassung die große symbolische Ahnentafel dar: Parmenides, Sokrates, Piaton, Aristoteles. In Parmenides ist auch Sokrates-Platon als Erzieher, in Sokrates auch Piaton als Lernender, im wirklichen Piaton auch der junggewordene Sokrates: Aristoteles muß bewähren, ob er der echte Sohn dieses Geistes ist, oder der Gründer eines andern Reiches begrifflicher Wissenschaft. Auch wer die Ausdeutung des Gespräches auf Aristoteles leugnet, wird anerkennen, daß sie keine Darstellung Platonischer Lehre, sondern eine Erziehungsschrift für die Schüler ist, also wie viele „Gespräche" der im „Phaidros" ausgesprochenen Ablehnung der „Schrift" entspricht. Aber ebensowenig kann ein Piaton ein bloßes Übungsstück schreiben: wo er seine großen Gedanken nicht ausspricht, läßt er sie doch durchschimmern. Unvollendet ist das Gespräch nicht, denn der negative Schluß (auch sonst so häufig) ist diesmal der ausdrücklich von Parmenides versprochene apagogische Beweis für die Ideenlehre. Ohne das Eine Seiende gibt es keine Welt und kein Erkennen: Die Notwendigkeit, wenn auch nicht die Wahrheit der Ideenlehre ist bewiesen. Aber weit darüber hinaus sagt der Wunsch des Sokrates, welche neue Erkenntnismethode sich anbahnt: „Wenn jemand zuerst die Ideen für sich heraussonderte, wie Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Menge und das Eine, Ruhe und Bewegung und alles dergleichen, dann aber zeigte, daß diese miteinander 293
gemischt und wieder getrennt werden können, das würde ich, Zenon, aufs Höchste bewundern." Er führt das noch deutlicher als die „Verflechtung" der Ideen im Denken aus (129 D bis 130 A). Kein Zweifel, daß Piaton diese Mischung und Entmischung, welche die Eleaten in der Sinnenwelt finden, auf seine Ideenwelt übertragen will. Die Methode des Sophistes Politikos Phllebos wird vorbereitet. Wie meistens sagt Piaton die Lösung nicht und weckt nur die Vorstellung auf: er schweigt hier von der Idee des Guten als weltschaffender Kraft, in welcher Werdewelt und Ideenwelt eins sind. Das ist der Grund, aus dem auf dieser Basis die Beziehung beider Welten zueinander noch nicht hergestellt wird. Sind sie unbedingt getrennt, oder hat das leibliche Ding an der Idee teil? Chorismos oder Methexis ist das eigentliche Problem. — Für Piaton sind das nur Bilder, weil der Raumbegriff und die Idee für ihn auf verschiedener Ebene liegen. Wer die Idee des Guten als weltschaffende Gottheit sieht, kann sich durch die aus leerer Raumvorstellung abgeleiteten Probleme nicht beirren lassen. Transzendenz und Immanenz sind ihm vorläufige Bilder, die sich gegenseitig nicht ausschließen. — Soweit hat Aristoteles nicht mitsteigen können: er ist immer auf der begrifflichen Kritik des Zwanzigjährigen stehengeblieben. Viele schelten Piaton so unkritisch, daß er seine „subjektiven" Ideen für objektive Gebilde hielt . . die Neukantianer rühmen ihn als „Idealisten", weil er die Körperweit nur als Erzeugnis des erkennenden Ich auffasse: beide Auffassungen widerlegt er mit dem gleichen Schlage. Sokrates selbst versucht hier die Ausflucht, die Ideen seien nur subjektiv. „Ob nicht jede dieser Ideen ein Gedachtes (nöema) ist, und es nirgendwoanders entstehen kann als in der Seele?" Parmenides widerlegt das leicht. Jedes Gedachte muß sich auf etwas beziehen, auf ein Seiendes. Dies erkannte Seiende ist dem echten Griechen die Gestalt, Idea. Demokrit sieht die Idea rein-räumlich, als Körperform — Piaton schaut sie seelisch als gestaltende Form, als Kraft, Dynamis. Die verschiedenen aber verwandten Formen vermag das Eidos, das Artbild zusammenzufassen. Es zeigt sich nun, daß Eidos mehr die subjektive Seite der Idee, das Vorstellungsbild, meint, Idea dagegen die objektive Seite, die Gestalt selbst. Beide Begriffe setzt Piaton als gegeben voraus, und er sieht ein Besonderes darin, daß er Eidos und Idea zur Identität erhebt, wobei der Ton auf der objektiven Wirklichkeit liegt. Wenn das Eidos bloßer Gedanke bliebe, so wäre alles Wirkliche bloß gedacht, alles Wirkliche müßte selbst denken, oder es gebe ein Gedachtes, doch Gedankenloses (132 BC). Piaton verwirft im Vorbeigehn den subjektiven Idealismus wie den des jungen Fichte. Viel wichtiger aber ist ihm, den Dualismus zwischen Ideenwelt und Sinnenwelt, der ihm so oft vorgeworfen wird, zu widerlegen. Parmenides zeigt, daß mit diesem Dualismus, diesem Chorismos, Erkenntnis und Welt sinnlos werden: Der Mensch hat dann keine Brücke zur Idee, aber auch der Gott, der die Ideen in ihrer Gesamtheit erkennt, 294
keine Erkenntnis der Sinnenwelt (134 CD). Diese Folgerungen liegen der Sophistenskepsis nicht fern — für Piaton sind sie so abstrus, daß er mit ihnen diesen Dualismus wortlos ablehnt. Die Lösung, daß in der schöpferischen Idee des Guten die Einheit der nur gedanklich getrennten Welten gegeben ist (Politeia), spricht Piaton hier nicht offen aus (133 A wird sie gefordert), da er die heilige Lehre nicht durch öftere Wiederholung profanieren will. Wenn er in den nächsten Gesprächen die Verflechtung allgemeiner Ideen zu Einzelideen, das heißt für ihn zu Erscheinungsformen der Werdewelt, erforscht, so ist das kein Bruch im Denken, wie viele deuten, sondern Ausführung im Einzelnen. Es ist keine Rückwendung zur Werdewelt, weil Piaton sich niemals von ihr abgewandt hat. Ob es eine Abwendung von der Idee des Guten einleitet, bleibt zu betrachten.
XIX. „ S O P H I S T " U N D
„STAATSMANN"
Logische Übungen und heroische Winke Am Schluß des „Theaitet" verheißt Sokrates die unmittelbare Fortsetzung: „Morgen früh wollen wir uns wieder hier treffen." „Sophistes" und „Politikos" sind dies Gespräch am nächsten Morgen, dies „eine Gespräch" in zwei Teilen, zwischen denen keine Pause liegt. Theaitet, Sophist, Staatsmann sind eine planmäßige Einheit, die durch den „Parmenides" fester in das Gesamtwerk eingeknüpft wird. Erkenntnis ist Doxa mit Logos, Meinung mit Erklärung, schien im „Theaitet" die beste Definition, bis Sokrates den Wert dieses „Logos" anzweifelte. Diesen Sinn des Logos zu klären ist die Aufgabe des heutigen Morgens. Daß sein Wert, gemessen an der Idee, wirklich beschränkt ist, beweist der VII. Brief. Das ist der Schlüssel für das Verständnis und die Bewertung der „Logik" im folgenden Doppelgespräch. Es waren Erfahrungen wie die an Dionys II., der in seinem Buch Piatons Philosophie darzustellen versuchte, die diesem strenge Zurückhaltung auferlegten (VII. Brief. 340—342). Piaton ist nicht gesonnen, seine Weisheit durch Schrift oder rationale Rede, durch Logos, preiszugeben, ja er bestreitet, daß dies möglich sei, selbst wenn er es wollte. Also am wenigsten in der „Logik" wird das Wesentliche seiner Lehre sich darstellen. Dennoch ist auch sie ein wertvolles, ihn in diesen Jahren fesselndes Mittel der Vorbereitung. — Diese spezialistische Vorbereitung kann nicht Amt des Sokrates sein (oben S. 314): sie ist dem Fremden aus Elea übertragen, dem Sokrates im Doppelgespräch schweigend zuhört. 295
Die richtige, nur noch ungeklärte Doxa „Sophist" ist bei der Suche nach dessen Definition als gegeben vorausgesetzt. Wie könnten sonst die Fragen nach seinen Eigenschaften glatt beantwortet werden? Fruchtbar ist nur das Bild in der Seele, Wiedererinnerung an einstige Ideenschau, erweckt durch sinnliche Wahrnehmungen. Logik dagegen, unfruchtbar, ordnet und klärt nur die schon vorhandenen Vorstellungen. Auch sie hat im Vorraum des Tempels ihre Würde: als Scheidung des Nichtwissens vom Wissen, als Werkzeug des „Erkenne dich selbst!" Der magere Ertrag syllogistischer Methode ist erst möglich, wenn die Dinge eingeordnet sind in ein Begriffsnetz, denn mit solchen Ordnungsstellen, nicht mit lebendigen Bildern arbeitet der reine Logiker, wie ein Gutsherr, der wenig in die Scheuer zu fahren hat und die meiste Arbeit auf das Buchführen verwendet . . . Die methodische Grundlage für solches Begriffssystem gibt Piaton im „Sophistes". Aber selbst den Fremden aus Elea läßt er die Logik nicht als Technik des wissenschaftlichen Beweisens darstellen, sondern als Werkzeug zur Sinndeutung des Lebensganzen. Für Piaton ist die Logik nicht das Mittel, die Wahrheit zu finden, sondern sie ist das Mittel, aus der Erkenntnis des Weltsinnes, der Weltsubstanz der Idee die Einzeldinge durch ihre Ableitung zu verdeutlichen. Im Grunde hat Aristoteles den gleichen Weg weiterbeschritten, wenn er die Logik als „Analytik", als bloße Zerlegung des Gedachten auffaßt. Die Idee muß irgendwie vorgestellt sein, ehe die Logik einsetzen kann. Piatons Antipode ist nicht der Dichter, sondern Demokrit, der das Ganze aus den kleinsten Teilen aufbauen will. Doch den systematischen Gang vom Weltganzen her geht die Untersuchung nicht. Nicht am Anfang, sondern in der Weltstunde setzt sie ein, und deren Gebot heißt: Piaton, der Philosoph, muß Staatsmann sein! Aber die Sophisten haben seine Aufgabe durchkreuzt. Piaton gegen die Sophisten! Darum heißt das Thema: Sophist, Staatsmann, Philosoph. Wenn Piaton scheinbar auf den Kampfplatz seiner ersten Periode zurückkehrt, ist der Unterschied zwischen jener und der dritten doch gewaltig. Damals rang er mit Sophisten um die reale Macht in Athen, jetzt ist in der Akademie sein Leben unerschütterlich begründet, so daß er die Sophisten nicht bekämpft, sondern als Typus im Unterricht verwendet: ihre Aufgabe ist, den Gegensatz zu Piatons Lehre, das heißt den Irrtum, an sich zu verkörpern. Im „Theaitet" ergab es sich, daß die Wahrheit nicht aus dem Irrtum, der Irrtum vielmehr aus der Wahrheit verstanden werden müsse (200 D). Wahre Erkenntnis aber ist Erkenntnis des Seienden. Die Frage nach dem Seienden ist also in Wahrheit der Hauptgedanke des „Sophistes", und Piaton setzt sie baumeisterlich genau in die Mitte des Gespräches (242 B). Wieder gibt er seine Lehre als Abschluß der Philosophiegeschichte und läßt die Vorsokratik in zwei gegenwärtigen Polen enden: dem groben Materialismus und dem reinen Idealismus. Vom bloßen körperlichen Geschehen kann es keine Brücke zur Seele und Erkenntnis geben, aber von den reinen Ideen gibt es auch keine Brücke 296
zur Erkenntnis der leiblichen Welt des Werdens. („Parmenides", oben S. 294/95). Scherzend vergleicht Piaton diesen ewigen theoretischen Krieg der Gigantomachie. Die erdgeborenen Materialisten zerren alles vom Himmel auf die Erde herunter und klammern sich an Fels und Eiche, denn als wirklich lassen sie nur den Körper gelten, an dem man sich stößt und den man tastet. Die Idealisten aber verteidigen sich sogar vorsichtig vom Himmel des Unsichtbaren herab. So herrsche zwischen beiden Gruppen ein nie endendes Schlachtgetümmel — spottet Piaton, denn man sieht ja im Gleichnis, daß die Gegner sich gegenseitig gar nicht berühren und wehetun können. Um diese Ideenfreunde ist viel gestritten, da es doch ausgemacht schien, daß Piaton selbst ein solcher Idealist sei. Verleugnet er die eigene Lehre? — Aber diese Schwierigkeit entsteht nicht, wenn man weiß, daß er niemals die Ideen von der Werdewelt wirklich getrennt hat. Die Trennung im „Phaidon" heißt nur, daß unser Geistesauge in der flüchtigen Wahrnehmung das Ewige unterscheiden soll. Aber im „Phaidon" beweisen Lob und Kritik des weltordnenden Nus bei Anaxagoras, daß Piaton den Gedanken der weltschöpferischen Idee (Gastmahl, Staat) fordert, aber bewußt zurückhält. Jetzt sieht er sich veranlaßt, das Mißverständnis, seine Lehre sei dualistisch und weltflüchtig, auszurotten. Aber wenige wollen das verstehn. Von der Idee des Guten selbst spricht Piaton auch hier nicht, aber vom „Seienden", der Weltsubstanz, die der höchsten Idee nahe verwandt ist: sie wird ihm nun zur Weltseele. Er verwirft ausdrücklich den Idealismus, der das Sein als das hehre und heilige, ewig unbewegliche, nicht denkende, leblose Wesen verehrt, und fordert, daß das Sein dagegen Geist, Leben, Seele, Bewegung in sich habe! Sein ist Dynamis, ist Tun und Leiden. Das Sein, die Idee verbindet sich dem Werden (249 A). Aber Werden ist Werden des vorher Nicht-Seienden: also gibt es auch Nichtsein! Wie gesagt, hatte der Grieche ein tiefes Mißtrauen gegen dies Nichtsein, wie auch die griechischen Mathematiker die Null nicht zugelassen haben. Piaton löst mit Anerkennung des Werdens und (eines relativen) Nichtseins die eleatische Erstarrung. Die Haltung des Parmenides, Zenon und jetzt des Eleaten beweist, daß Piaton seine Lehre als Entfaltung der Parmenideischen versteht. Er weiß also, daß dem absoluten logischen Gegensatz zwischen Herakliteern und Eleaten, die beide doch im Grunde die gleichen sophistischen Skeptiker sind, nicht ein solcher Gegensatz zwischen Parmenides und Heraklit selber entspricht. Piaton betrachtet wie Parmenides die Werdewelt als Gemisch von Sein und Nichtsein. Aber während darum Parmenides die Werdewelt von der echten Erkenntnis ausschließt und damit dem Skeptizismus das Tor öffnet, dehnt Piaton die Erkenntnis wieder aus über die bewegten und werdenden Formen. Seiendes wird wieder echte „Wirklichkeit", lebendige Dynamis. Die Übersteigerung des Parmenides führt er zurück auf das Maß hellenischen Lebens. 297
Nichtsein ist für ihn nur relativ. An der Blume, die blau ist, ist das Gelb nichtseiend. Nichtsein hat aber den gleichen Umfang wie das Sein, wie das All, denn es ist nichtseiend nur bezogen auf den konkreten Gegenstand, und dieser entsteht im Geiste, in dem man vom Weltganzen jedesmal abzieht, was dem Gegenstande nicht entspricht. Umgekehrt wie der Atomist, der aus winzigen Kügelchen die beseelte Gestalt aufzubauen sich anmaßt, meißelt Piaton wie der Bildhauer die Gestalt aus der Weltkugel des Parmenideischen Seins heraus. Die dichotomische Gliederung (die heute noch üblichen Bestimmungstabellen für Pflanzenund Insektenarten), ist das einfachste Beispiel. Die einfachste Definition, Nennung der Gattung und des spezifischen Merkmals, führte nicht weiter („Theaitet"). Die Definition des „Sophistes" könnte man dagegen als die organisch-systematische bezeichnen: sie versucht den Gegenstand in allen seinen Eigenschaften von der Ganzheit abzuheben. Um den Schülern recht fühlbar zu machen, daß diese neue Methode die Erkenntnis klären, nicht erzeugen kann, spielt Piaton mit ihr! Er will anregen, aber jenen die Ausführung überlassen. Spielend setzt er sechs Versuche der Definition des Sophisten an, um erst die siebente durchzuführen, die von der Ganzheit ausgeht. Zu diesem Zweck ist die metaphysische Untersuchung über das Seiende und den Irrtum eingeschaltet (236 bis 264), die allein länger ist als der ganze übrige Dialog — ein Hinweis, daß die logische Übung nicht der Hauptzweck ist. Wer Piatons Stil kennt, wird ahnen, daß in den abgebrochenen Versuchen sich wichtigste Gedanken verbergen. Denn er kämpft für den Sieg seiner Sache, nicht für die Logik. So klingen schon im Musterbeispiel, das er vorausschickt, in der Definition des Angelfischers, satirisch die Eigenschaften des Sophisten an: Der Angler, der nichts leistet und auf die dummen Opfer wartet. Nicht durch Logik, nur durch Gegenüberstellung mit dem Philosophen kann der Sophist erkannt werden! Der Eleat scheidet die schaffenden, die poietischen Künste von den erwerbenden — so ist das Stichwort für beide Gespräche gegeben: der Sophist als Erwerbsmann, der Staatsmann und Philosoph als Schaffende . . . Erstlich ist die Angelfischerei Jagd. Die Menschenjagd, der der Sophist obliegt, teilt sich in zwei Arten: entweder wollen die Jäger Lohn empfangen, oder sie geben auch noch Geschenke. Theaitet stutzt: „das verstehe ich nicht". — „So scheinst du auch nie auf die Jagd der Verliebten geachtet zu haben . . . wie sie ihrem Jagdwilde auch noch Geschenke bringen" (222 E). Wie schrumpft der für Geld arbeitende Sophist zusammen, wo das Bild des Jägers Eros, der Sokratisch-Platonischen Liebeskunst aufleuchtet . . . Der Handelsbetrieb der Sophisten mit Seelenware wird boshaft erörtert, wenn Piaton ihnen auch ein bescheidenes Maß eigener Produktion zugesteht. Dann weist er auf einen damals („Protagoras"!) wie heute im Geisteskampf selten verstandenen Unterschied: er scheidet Wettkampf und Krieg (225 A). Die Sophisten täuschen den Wettkampf vor, wollen sich aber gegenseitig verdrängen. Piaton sehnt sich nach Wettkampf, der 298
Vergegenwärtigung des Besten. Er will den Gegner nicht erniedrigen, sondern ihn in den Wettkampf ums Höchste reißen — vergeblich: denn niemand hat Augen für diesen Siegespreis! Daher verschwimmt seltsam der Unterschied von Sophist und Philosoph. Ist doch Piaton selbst bisweilen Eristiker: nicht wie andere, um in der Logik zu siegen, sondern um den Gegner zur Besinnung zu bringen („Menon", Zitterrochen), um ihn zum echten Wettkampf zu stählen. Er kennt die großen Bedenken dieser Eristik. Als Sophist und Philosoph sehr ähnlich erscheinen, fährt Sokrates dazwischen: „ja ähnlich wie Wolf und Hund!" Wohl scheint ihre gemeinsame Aufgabe der Elenchos, die Prüfung, welche die Reinigung der Seele bewirkt . . das ist das hohe, vielleicht göttliche Amt des Eleaten selbst . . es ist die Sokratische Methode, die Maieutik: also Piaton gesteht, daß sie auf den unteren Stufen alle etwas Gemeinsames haben (229 C - 2 3 1 C). Aber vermag der Sophist auf dem so gelockerten Boden die wahre Bildung anzubauen? Hat er das Wissen? Für diese entscheidende Frage können alle bisherigen Definitionsversuche nichts besagen, weil der Unterschied von Wissen und Irrtum nicht geklärt war. Die Platonische Definition muß ausgehen vom Weltgrunde, vom Seienden. Darum wird in den siebenten Versuch jene lange metaphysische Untersuchung eingeschlossen, die wichtiger ist als die logische Untersuchung, in die sie eingebettet ist. Erst dann ist die Brandmarkung des Sophisten möglich: er selber nämlich ist der verkörperte Irrtum. Man kann sich vorstellen, wie solche logischen Übungen in der Akademie geteilte Aufnahme fanden. Logiker wie Aristoteles werden auf sie versessen gewesen sein, während andere Naturen sich dadurch gequält fühlten. Bewundernswert wendet Piaton sich in einem Atem erzieherisch gegen beide Seiten und weist dieser diairetischen Methode den richtigen Rang an. Er gibt zu, daß solche Aufspaltung verdrießen, ja Übelkeit erregen könne, aber sie gehöre zur Vorbildung (283 B). Er spottet der Pedanten, erquickt zugleich die Ungeduldigen, indem er im „Staatsmann" den logischen Eifer in eine Falle lockt. Piaton ordnet den Staatsmann unter den Begriff des Hirten und läßt nun die Herdengeschöpfe ihrer Art nach aufspalten. Der Schüler unterscheidet sogleich verständig Mensch und Tier, und damit wäre man vorläufig am Ziel. Statt dessen schlägt der Eleat ein zoologisches System vor, das den Zweck nicht fördert, aber eine zoologische Übung für die unterste Stufe sein mag (261 C—267 D). Scherzhaft ist es schon, daß er eine kurze Aufspaltung weiß, die zum Ziele führt, aber vorher auch noch eine umständlichere gibt, deren Ergebnis denn auch entsprechend lustig ist: Der Mensch gerät in die gleiche Gruppe mit den Schweinen, und dem Könige — denn als solcher ist der Staatsmann schon erkannt — wird zugemutet, mit dem Schweinehirten einen Wettlauf zu machen. Das ist ein 299
Scherz recht nach dem Herzen der Knaben, wenn auch zweifellos irgendeine tiefere Satire dahinter steckt. (Sind es die Kyniker, die den Menschen nicht recht von den Schweinen zu unterscheiden wissen?) Schwierig ist zwar der Unterschied der Zwei- und Vierbeinigkeit nicht zu finden, aber der Lehrer kompliziert ihn durch mathematische Vergleiche und weist selbst auf die Lächerlichkeit des listig gewonnenen Ergebnisses hin — er spricht ja zu Anfängern (265 B—266 C)! Wenn er genau hier, zwischen den Scherzen, erinnert, daß es jetzt nicht auf die „ E r h a b e n h e i t " ankomme, sondern auf die Wahrheit, so deutet der Ort auf den schalkhaften Sinn. Dem Abc-Schützen soll freilich das Abc unbedingt wichtig sein, aber die Reiferen soll gerade die Ironie auf die Rangordnung der Werte verweisen. Das verstehen die jungen Schüler noch nicht, darum treibt der Lehrer die Parodie weiter. Er zeigt, wie überflüssig jene umständliche Aufspaltung war, da man auch in einem Satz zum Ziele kommt. Man teilt die Tiere in vier- und zweifüßige, und die zweifüßigen in befiederte und nackte, so hat man den Menschen. Dann konnte allerdings Diogenes, der Kyniker, Piaton einen gerupften Hahn als seinen Menschen hinwerfen, und die Akademie wird zum zweitenmal noch herzlicher gelacht haben, daß Diogenes, langsam begreifend wie sein Vorläufer Antisthenes, nicht bemerkt hatte, daß es Piaton auf diesen Scherz angelegt hatte. Um die Schüler nicht durch abstraktes Denken zu ermüden, flicht Piaton, erinnernd, daß die Schüler fast noch Kinder sind, ein Märchen ein: wir ahnen, daß es tiefste Weisheit birgt (268 D—274 E). Das Erhabene, das eben in der logischen Forschung für nebensächlich erklärt wurde, taucht nun aus freier Dichtung auf, vorweisend auf den „Timaios". Piaton, der größte Kenner der Knaben und Jünglinge, weiß, daß Verstandesübung sie fördert, daß aber der Propheten- und Heldengesang über ihr Schicksal entscheidet . . . Danach wird die logische Untersuchung wieder aufgenommen. Wie der Sophist am Beispiel des Angelfischers, soll der Staatsmann am Beispiel des Tuchwebers gefunden werden. Die Methode, die streng dichotomische, bietet nichts Neues, dafür überwiegt die Sachkunde. Die Knaben sollen wie dort von den Arten der Jagd, so hier vom Handwerk, von der Tuchweberei besonders, eine klare Anschauung, von Berufen überhaupt eine Übersicht bekommen, wie es dem Lehrgange der „Politeia" entspricht. Die Abstraktheit der Methode wird durch die Fülle praktischer Anschauung ausgeglichen (279 A—283 A). (Goethes Interesse für Webkunst, für botanische und zoologische Systematik.) Doch nimmt die logische Untersuchung den kleinsten Teil des Gespräches ein. Nicht zufällig steht genau in der Mitte des Ganzen der wichtigste Gedanke, der Gedanke des Maßes, denn schon anfangs hat Sokrates, den Mathematiker Theodor neckend, ihn vorbereitet. Es gibt zweierlei Meßkunst: die eine, die mathematische, mißt das Größere am 300
Kleineren, während die andere alles an der Idee des Guten mißt. Die erste mißt das Quantum an Zahl, Raum, Geschwindigkeit von seinem Gegenteil, vom Umkreise her, während die höhere Meßkunst das Maß vom Umkreise in die Mitte rückt und nach dem Maßvollen, dem Ziemlichen, dem rechten Augenblick (Kairos), dem Gesollten mißt (284 E) Allein durch dies höchste Maß wirken alle Künste, zumal die königliche Staatskunst, alles Gute und Schöne (284 AB). So sehr weit ist Piaton auch im Alter entfernt, Mathematik und quantitative Meßkunst zu überschätzen! Die Idee des agathon bleibt die lebenschaffende Sonne, und wenn er sie nicht mit Namen nennt, so ist es aus Ehrfurcht. Schüler, die nicht fühlen, daß er immer auf sie schaut, haben in der Akademie nichts zu suchen. Die Jünger wissen: König ist, wer jenes höchste Maß, das göttliche, verleiblicht, gleichgültig, ob man ihm die politische Macht überträgt oder nicht. Piaton, der von Athen verworfene, im geistigen Reich gekrönte König, steht schweigend in der Mitte des Gespräches (292 E). Königskunst ist ein Wissen, das zugleich urteilt und befiehlt, eine höchst seltene Kunst, zu der meist nur Einer oder Zwei berufen sind (293 A). Staatsmann, König, Philosoph sind Eins. Niemals seit der „Politeia" nahm Piaton zu Athens Politik Stellung. Sein Wille ist nicht verändert, aber das politische Geschehen in Hellas und Syrakus zwingt ihn zu noch strengeren Grundsätzen. An Stelle der unbestimmten Herrscherzahl im „Staat" treten ein oder zwei Könige, an Stelle der betonten Gesetzlichkeit tritt nun der freie Diktator! Aber wenn Piaton im „Kriton" den gewaltsamen Umsturz verworfen hatte, so ist jetzt seine Haltung verwandelt, nicht der Grundsatz. Auch jetzt lehnt er die Tyrannis, die wesenhafte Tyrannis, als schlechteste Verfassung ab, wünscht also legitimes Königtum. Aber er verwirft jede Fesselung des wahren Königs durch das Gesetz, denn das Gesetz hemmt die schöpferischen Kräfte der Verjüngung. Der typische Gegensatz von Piaton und Aristoteles: Aristoteles wünscht die Verfeinerung der Gesetze, die Mechanisierung des Staates — Piaton sieht, daß diese Weltstunde des schöpferischen Königs, eines Alexander bedarf! „Dennoch ist das Beste, nicht die Gesetze stark zu machen, sondern den Mann, den einsichtsvoll Königlichen!" Dieser Angriff auf die Gesetzlichkeit mußte in der Akademie mit äußerstem Erstaunen aufgenommen werden. Dies Erstaunen nimmt Piaton ins Gespräch auf, indem der Schüler, sonst willig folgend, gegen den Satz, man solle ohne Gesetz herrschen, Widerspruch erhebt. Piaton begründet seine überraschende These und vergleicht das Gesetz einem eigensinnigen und unbelehrbaren Manne, der keinen Widerspruch zuläßt, keine Frage, ob ein anderer etwas Besseres finde. (293 E—294 C) Zwar wollte Piaton auch im „Staat" die Herrscher durch das Gesetz möglichst wenig binden, aber wie fern lag ihm der Gedanke unbedingter Diktatur: enthielt doch seine Politeia viel vom attischen, j a vom wahren demokratischen Geist. Sehr aber ist sein politisches Denken durch die Vorgänge in Sizilien, 301
durch den nötigen Kampf gegen die Tyrannis bestimmt. Jetzt sind die Töne stolzen Werbens verklungen — er spricht im Tone des Gerichtes von der Notwende der Gesamt-Nation. Doch war der Wunsch nach paradoxer Betonung an diesem Angriff auf daß Gesetz nicht unbeteiligt, denn die echte Tyrannis verwirft er wie immer, und der König ist Träger des wahren Gesetzes. Nur der Staatschöpfer ist Träger der vollkommenen Freiheit: seine Gerechtigkeit muß in der Verfassung nachgebildet werden. Darum scheidet Piaton fünf oder sechs Verfassungen: drei gesetzliche — Königtum, Aristokratie, Demokratie, drei ungesetzliche — Tyrannis, Oligarchie und noch einmal Demokratie. In Völkern, die vom Gesetz durchdrungen sind, ist Königtum die beste Verfassung, Demokratie die schlechteste, während umgekehrt in ungesetzlichem Zustand Demokratie der erträglichste Zustand ist. „Denn die Herrschaft der Menge ist in allem schwach und unfähig zum Großen, sei es im Guten, sei es im Bösen, weil in ihr die Macht für Viele in kleine Stücke zerschnitten ist." Kentauern und Satyrn, den Sophisten aller Sophisten, vergleicht Piaton den würdelosen Schwärm der athenischen „Politiker" (303 B—D). Wie Laien, die sich lieber vom Pfuscher behandeln lassen, weil der wissende Arzt auch die Kunst hätte, sie zu vergiften, lassen jene sich aus Angst lieber von Pfuschern beherrschen. Die Auswahl der Herrscher überlassen sie dem Lose, um sie dann allerdings durch gesetzliche Vorschriften zu knebeln (298). Das ist die für Athen verhängnisvolle Verfassung. Viele solcher Staaten „gehen unter wie sinkende Schiffe, sind untergegangen und werden noch untergehen wegen der Erbärmlichkeit ihrer Steuermänner und Schiffer, die in den größten Dingen die größte Unwissenheit erreicht haben" und sich, ohne vom Staatlichen das geringste zu verstehen, für große Staatsmänner halten! (302 A) Darf Piaton sich erlauben, Athens Machthaber so grob zu beleidigen, als Karnevalszug zu höhnen? Schon nähert er sich dem Lebensalter, in dem Sokrates ermordet wurde! Reizt Piaton das Volk, an ihm selber den Frevel zu wiederholen — wenn es noch den Mut dazu aufbringt? ! Er verlegt das Gespräch in die Zeit, da Sokrates schon Angeklagter ist, und der Eleat bringt den Wortlaut der Klage und den Sinn der Verurteilung in Erinnerung (299). Wer behauptet, Piaton habe in heißer Vaterlandsliebe darauf gewartet, sich an der Verwaltung Athens beteiligen zu dürfen, dem ist diese erhabene Seele fremd geblieben. Hier sagt er unverhohlen, daß er es als Schimpf betrachten würde, der Volksversammlung über seine Amtsführung Rechenschaft ablegen zu müssen. Und soviel muß schon der jüngste Schüler der Akademie wissen: wer sich nicht schämt, unter den gegenwärtigen Umständen sich mit Athens Verwaltung einzulassen, der verdient härteste Strafe (299 B). Das Gesetz, auf Grund dessen die Menge zum Tode verurteile, laute: „In nichts darf man weiser sein als die Gesetze" (als der Brauch). Aber Piaton sieht 302
jetzt ganz andere Gefahren als damals, als noch in der „Gorgias"-Zeit. Damals sah er im Vordergrund die Gefahr der wuchernden Kräfte, der tyrannischen Selbstsucht und sein Gebot war: Ehrfurcht vor dem Gesetz. Jetzt aber leidet der Seher andere Not. Er bangt jetzt weniger vor der Selbstzerstörung der bluthaften Kräfte, vor tyrannischer Maßlosigkeit, er sieht — erschütternd in wie kurzem Zeitraum, drei Jahrzehnten — das Andere heraufsteigen, das Schicksal der Nation: er sieht das Erschlaffen der leibhaften Natur, das Erlöschen des gestaltenden Willens. Darum wehrt er sich gegen den Feind der schöpferischen Kräfte, gegen das erstarrende Gesetz. Gegen die Erstarrung des Hellenentums, die nicht minder furchtbar als die Zersetzung, kämpft Piaton mit Sätzen, die, wenn nicht aus derselben Zeit die „Nomoi" stammten, fortschrittlich klingen könnten. Er erinnert, daß Künste, Wissenschaften, Handwerke dem Verfall geweiht seien, wenn das Gesetz die Forschung verbiete. Kenner der Kunstwerke jener Zeit leugnen den Verfall, aber die Kunst kann noch blühen, wenn der Staatsgeist schon zerbricht. Nichts ist erschütternder, als wenn einmal, in Piatons ganz vom Individuum abgelösten Werken, ein Seufzer über das Lebensgefühl der verarmenden Welt sich dem Einsamen-Großen entringt: „Offenbar würden uns alle Künste gänzlich vernichtet, und niemals würden sie wieder entstehen wegen dieses Gesetzes, das das Suchen verhindert, so daß das Leben, d a s j e t z t s c h o n s c h w e r i s t , in einer solchen Zeit überhaupt nicht mehr lebenswert wäre." (299 CE) Sah doch Piaton in Sizilien, daß nicht mehr wuchernde Kräfte sich befehden und Kolonien aussenden, sondern daß man fremde Völker zur Besiedelung der verödeten Gebiete einladen muß. Er sieht den Tod voraus, wo andern das Leben noch blühend scheint. Am Rande des Abgrundes ruft er, wie später das römische Volk, nach dem Diktator. Das ist nur denkbar, weil er sich selber als den Träger der Gerechtigkeit, des inneren Gesetzes fühlt. In Sizilien konnte er sehen, daß ein Jünger wie Dion imstande wäre, das Land, vielleicht die Nation zu retten. Aber die unumschränkte Gewalt müßte er haben. „Und ob sie ein paar Leute hinrichten oder verbannen, um den Staat zu seinem Besten zu reinigen, oder ob sie Kolonien wie Bienenschwärme aussenden, um ihn zu verkleinern, oder andere Leute von außen her als Bürger aufnehmen, um ihn zu vergrößern — solange sie ihn nur durch Wissen und durch das Gerechte erhalten und, soweit möglich, ihn aus dem Schlechteren zum Besseren machen, solange und in solchen Grenzen werden wir immer diese Staatsform für die einzig richtige erklären." (293 E). In dieser Weltstunde rettet nicht der geniale Staatsmann, der das Schiff durch die Klippen steuert: nur der Gründer der neuen Ethik, der wahren Gerechtigkeit wendet das Schicksal. Er muß das Volk, er muß die Herrschenden züchtigen: auf diesen höchsten Beruf, auf das neue Verweben der aufgedröselten Fäden, ist das Beispiel der Webkunst lang 303
ausgesponnen. Der Realist Piaton weiß, daß nur durch die Spannung, die heraklitische Vereinigung der Gegensätze die Natur des Großen gewirkt wird. Männliche Tapferkeit und Härte gibt die Kette des Gewebes, Besonnenheit und Ruhe die weicheren Fäden des Einschlages. Feurigkeit und Gemessenheit einen sich im Herrscher. Immer wieder tönt aus dieser „logischen Übung" der Seherruf über den Untergang des Griechentums! Das Lob der Besonnenheit klingt kühler, denn wo sie zu sehr überwiegt, wird das Volk unkriegerisch, und ehe es sich dessen versieht, ist der Staat versklavt. (Nicht Piatons Bewertung schwankt, sondern der attische Bürger ist unkriegerisch geworden.) Wo aber die Tapferkeit der Besonnenheit entbehrt, da verfeinden die Männer ihr Vaterland mit vielen und mächtigen Gegnern, und wenn sie es nicht ganz zugrunde richten, so endet auch dies in Versklavung (306 A—308 A). Trennung der Instinkte ist Entartung. Der Herrscher muß für rechte Blutmischung sorgen. Verwerflich sind die Ehen, die um Reichtum und Macht geschlossen werden, die Tapfere den nur Tapferen verbinden, Besonnene den nur Besonnenen, denn so werden beide Eigenschaften überzüchtet. Die Herrscher müssen Ehen zwischen den Besonnenen und den Tapferen stiften, sie selber müssen beide Eigenschaften in sich haben, oder zwei Herrscher mit den verschiedenen Wesensarten müssen sich verbünden. Das ist die Webkunst der Könige (310 B—311 B). Während der „sozialistische" Staat allein die Masse fördert und durch ihr Wuchern die Verderbnis steigert, fragt Piaton: „Wie finde ich Stoff für das königliche Gewebe, wie stoße ich alles Untaugliche aus? Was durch seine schlechte Natur untauglich ist zur Verwebung mit tapferer und besonnener Wesensart, das stößt der König aus durch schwerste Entehrung, Verbannung, Hinrichtung. Wer sich in Unwissenheit und Niedrigkeit wälzt, dem wird das Joch des Sklaven aufgelegt (308 C—309 A). Nur so ist der Entartung und dem Verfall zu steuern." Schwerlich hat Piaton einen dritten Teil „Philosophos" wirklich geplant, denn der Philosoph ist leibhaft zugegen. In der Episode des „Theaitet" redet er mit dem Pathos der Wirklichkeit, das keiner Rechtfertigung durch Logik bedarf. Der Sophist konnte, wie methodisch dargelegt, nur am Gegenbilde des Philosophen erklärt werden, darum wird das Sein begründet, wo nach dem Irrtum gefragt wird. Der Staatsmann aber ist selber eins mit dem Königsphilosophen . . . Nur in neuer Religionsgründung wurzelt dies hohe Amt. In der Mitte des „Theaitet" steht die Anähnlichung des Menschen an Gott . . . Der „Sophist" besagt, daß Glaube an den Weisen und Gottesglaube höher stehen als logische Beweise, denn als Piaton fragt, ob nicht alles Irdische von Gott geschaffen sei, antwortet Theaitet: „Ich schwankte, vielleicht wegen meiner Jugend, oft zwischen beiden Meinungen. Nun ich aber auf dich blicke und ahne, daß du glaubst, es geschehe durch Gott, so glaube auch ich das Gleiche" (265 D). Im Mythos des „Politikos" werden die Herr304
Schaft des Schöpfergottes und die Herrschaft des schöpferischen Weisen in mythische Wechselbeziehung gesetzt, und die trockene logische Untersuchung erweist sich als Schranke, die Unberufene fernhalten soll ( V I I . Brief 341 A ) . Gründer und König sind nicht eines Ranges. Im „ P h a i d r o s " , als Piaton auf eigene politische Herrschaft verzichtet, stellt er den schöpferischen Menschen, den erotischen, zeugerischen, dichterischen auf die höchste Stufe, den gesetzlichen König auf die zweite. Das ist das Verhältnis des Gründers Sokrates-Platon zum Jünger wie Dion als dem beauftragten Könige. So ist auch im Politikos das gesetzliche Königtum nur eine der sechs Verfassungen, welche die vollkommene Verfassung nachahmen. Die vollkommene aber ist die schöpferische, die über dem Gesetz steht. Diese Selbstheroisierung spricht er nicht aus, er deutet sie an im Mythos (268 D—274 C). Der Kreislauf des Weltgeschehens besteht aus zwei abwechselnden Gezeiten, dem Zeitalter des Kronos und dem gegenwärtigen des Zeus. I m A l t e r des Kronos drehte sich der Kosmos in umgekehrter Richtung, die Sonne ging im Westen auf. In ihr führt der Gott selber das Steuer der Welt, und auf der Erde gibt es kein Altern, kein Sterben, nur ein Verjüngen. Denn alt und grau wachsen die Menschen aus der Erde, dann aber werden sie jünger und kleiner, um schließlich als Keime zu neuen Geburten in die Erde zurückzufallen. Friede herrscht unter Menschen und Tieren, denn alles steht in der Obhut des Gottes. A l s die Umläufe ihre Zeit erfüllt hatten, ließ Kronos, „ d e r Steuerer des Weltalls den Griff des Ruders fahren und begab sich zurück auf seine Warte. Da drehten den Kosmos umgekehrt herum die Notwendigkeit und die eingeborene Begierde. A l l e Götter, die im Verein mit der größten Gottheit in den Landschaften herrschten, erkannten, was geschah, und entließen die Teile des Kosmos aus ihrer Fürsorge. Dieser, sich umkehrend, in der Begegnung der ersten und letzten Umdrehung, erbebte gewaltig in sich selber und breitete ein Sterben über die Geschöpfe aller Art. A l s das genug gewährt hatte und er, vom Toben und Wirbeln sich erholend, die Stillung des Bebens empfing, ordnete er sich wieder ein und lief seine gewohnte Bahn, da er selbst Vorsorge und K r a f t in sich und f ü r sich besaß, des Schöpfers und Vaters Lehre nach Möglichkeit bewahrend. A m A n f a n g gelang ihm das vollkommener, gegen Ende schwächer..." Die Erinnerung an die göttliche Liebe nimmt ab, das Stoffliche wird Herr über das Seelische, die mechanische Sinnlosigkeit, eine neue Weltrevolution droht. A b e r Kronos läßt den Untergang der W e l t nicht zu: von neuem ergreift er das Steuer, ordnet, erneuert, verjüngt die W e l t . Piaton beginnt mit der Deutung, bricht aber ab. Dieser Mythos ist eine Philosophie f ü r sich, und jeder muß sehen, was er ihm entnehmen kann. Der tragische Sinn ist unzweifelhaft! Piaton sieht das Ende der heroischen hellenischen Kultur voraus, den Sieg des Mechanismus über 20
Hildebrandt, Piaton
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den Geist. Aber dann kommt ein Zeitalter der Völkerverjüngung, ein primitives friedfertiges Alter unter dem Völkerhirten Kronos. Nun aber lehnt er ab, dies „goldene Zeitalter" als das unbedingt glückliche zu bezeichnen! Denn im Zeitalter des Kronos fehlt das Zeugen, der Eros, das Schöpferische, die Philosophie. (Es erinnert an den „gesunden Staat" in der Politeia, den „Schweinestaat".) Piaton hält solches Leben der Friedfertigkeit, gleichsam des gesunden Weltschlafes, für notwendig, vielleicht sieht er in der kynischen Resignation seine Vorboten — sich selbst aber sieht er als Herrscher des heroisch-schöpferischen Zeus-Alters, in dem die Menschen selbständig, wenn auch mit abnehmender Kraft, die Erinnerung an die Weltschöpfung und Ordnung bewahren, und zwar nicht den Weltkosmos, wohl aber den Staatskosmos schaffen. Das Glück der Kronos-Herde gibt er hin für das Glück des „großen Schaffenden". Und weil er nicht weiß, ob ihn die schöpferische Menschenzeit überdauert, will er Gesetzgeber werden, vorbehaltslos im „Staat", vorsichtiger in den „Gesetzen" — denn möglichst lange will er doch die eigene schöpferische Lebensform gegen die andringende Weltnacht verteidigen. Im Ringe des Weltgeschehens liegen also die Punkte des höchsten göttlichen Einzelmenschen und der Durchdringung des Weltganzen vom Gott des Herdenglückes an entgegengesetzten Polen. So redet er sehr verrätselt von seiner Sendung. Daß dies der Sinn des Mythos ist, zeigt der Hinweis am Schluß, daß jene schöpferische Staatsform, die siebente, noch hoch über dem in der „Politeia" gepriesenen Königtum steht. „Denn jene muß man, gleich wie einen Gott von den Menschen, von allen übrigen Staatsformen unterscheiden" (303 B). Das sind die großen Winke, so versteckt, daß jeder, der nicht folgen kann, Piatons Mythos als bloßes Fabulieren deuten darf. Auch bleibt jedem überlassen, ob er den Vorläufer der Logik f ü r wichtiger hält oder den Mann, der als tragender Heros seines Weltalters erscheint. An Hinweisen fehlt es nicht. Schon im „Phaidros" ist die Begriffskunst der Grillengesang des Nachmittags . . . im „Parmenides" und folgenden Gesprächen die Vorbildung für junge Schüler . . . im „Sophistes" fragt Sokrates nicht ohne Ironie, ob der Eleat als prüfender Gott zu ihnen komme, während Theodoras für seine Bescheidenheit einsteht: alles deutet an, wie Piaton wertet. Im „Politikos" neckt Sokrates den großen Mathematiker, daß er mit seiner Meßkunst den Wert von Sophist und Philosoph nicht unterscheiden könne. Die Absicht ist deutlich: Mathematik und Logik sind Hilfswissenschaften, Theodoras und Eleat ordnen sich willig dem Schulhaupt unter. Piaton weist, wie der Gottkönig seiner Theut-Fabel, den Untergöttern die Aufgabe zu, die unter seinem Rang liegt und die in der Akademie Mathematiker und Astronom, im Dialog der Eleat auf sich nehmen. Zu zeigen, wie hoch in dieser Weltstunde, da der Staat zerfällt, das schöpferische Große zu steigen vermag, das ist der verhüllte Sinn des Mythos. 306
XX. D I O N S S C H I C K S A L U N D P L A T O N S BRIEFE AN DIE PLATONIKER IN SYRAKUS Politik und Religion Die Forderung nach dem Diktator im „Politikos" weist auf Piatons Syrakusische Politik. Doch entscheidet sie nicht, ob er vor oder nach der III. Reise verfaßt ist, denn die ausgesprochene Möglichkeit des Doppelkönigtums läßt den Wunsch einer Versöhnung von Dion und Dionys offen. Daß Piaton nach der Gefahr auf der I. und II. Reise auch die III. unternahm und nach seinen Worten zum drittenmal in die Bucht der Skylla kam, „daß ich noch einmal durchmäße den Schlund der grausen Charybdis", mußte zwingende Gründe haben. Noch hatte Piaton die Hoffnung nicht aufgegeben, Dion und Dionys II. auszusöhnen und auch diesen dem „Platonischen Leben" zu gewinnen. In ihm war vom Verkehr mit Piaton ein Keim zurückgeblieben, er hatte sich mit Eifer und Begabung auf die Philosophie geworfen und wollte sich Piatons Anerkennung erringen. So lud er Piaton, gemäß der Abrede beim Abschied, dringend ein, nach Syrakus zu kommen, während er allerdings die Rückberufung Dions noch ein Jahr aufschieben wollte. Piaton lehnte ab, obwohl Dion selbst ihn zur Reise drängte, die Ablehnung übelnahm. Aber der Druck nahm von allen Seiten zu: Im Jahre 361 sandte Dionys ein Kriegsschiff, um dem verehrten Manne die Reise bequem zu machen. Er versprach Versöhnung mit Dion, wenn Piaton komme, drohte mit dem Bruch, wenn er nicht komme. Führer der Gesandtschaft war Archedemos, der als Pythagoreer aus Archytas' Kreise Piaton besonders genehm war. Und auch Archytas, der Führer von Tarent, drängte und versah sich höchst ungünstiger Folgen für die Politik, falls Piaton ablehne. Er bürgte für seine Sicherheit und konnte den philosophischen Eifer des Dionys rühmen. Auf Piaton lag eine Verantwortung, deren er sich nicht durch bequeme Ablehnung entledigen konnte. Den Freunden Dion und Archytas brachte er das Opfer, der hellenischen Nation, die sich im thebanisch-spartanischen Kriege aufrieb, die Möglichkeit, in Sizilien einen nationalen Stützpunkt zu befestigen. So trat er trotz schwerer Bedenken die gefährliche Reise an (VII. Brief 338 A—340 A). In Syrakus angekommen unterzog er den Tyrannen einer Probe, die auf den Sinn der vorangehenden Dialoge ein helles Licht wirft: sie besteht darin, dem Schüler ein so schweres Studium aufzugeben, daß er seine ganze Lebensweise darauf einrichten muß. Darum die begrifflichen Wälle und Gräben im Gelände im „Theaitet" bis „Politikos": nur wer sich nicht abschrecken läßt, soll Zutritt zu jenen Gedanken erhalten, die allein den echten Jüngern bestimmt sind, wie besonders den Gedanken über den Diktator. Dionys bestand die Probe nicht. Er wollte 20*
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Piatons Geheimnis erfahren, wollte den Preis in der Philosophie erringen, wie sein Vater in der Tragödie — aber sein Leben darum umstellen, seine Seele durch Piaton wandeln lassen, dazu war er nicht fähig (VII. Br. 340 B—341 B), zumal er — was Piaton aber nicht erwähnt — im Weingenuß schwelgte. Als Jünger konnte ihn Piaton nicht aufnehmen (344 E). Dionys mochte geglaubt haben, durch Piatons Freundschaft über Dion zu siegen. Eifersüchtig und gekränkt über Piatons Festigkeit und Unerschütterlichkeit scheint er den Plan zu erwägen, sich Piatons als Geisel für Dion zu bedienen, während er gegen alle Versprechungen Beschlag auf Dions fürstliches Vermögen legt. Empört will Piaton auf einem Frachtschiff abreisen, als jener einlenkt: wenn Piaton bis zum Frühjahr bleibe — es ist Herbst, die letzten Schiffe fahren aus — so wolle er sich mit Dion versöhnen, sein Vermögen teilen zwischen ihm und seinem Sohn. Piaton hat keine Wahl: er ist Gefangener und kann sich ohne Dionys Willen nicht aus dem Schlosse entfernen. Jedes Widerstreben schädigt auch Dion. Als er überdies für den Truppenführer Herakleides eintritt, den Dionys gegen sein Versprechen verhaften lassen will, behandelt ihn dieser als erklärten Feind und läßt ihn in der Kaserne der Söldner wohnen. Diese trachten ihm, nachdem man ihnen vorgeredet, Piaton habe zu ihrer Entlassung geraten, nach dem Leben. In dringender Gefahr sendet Piaton Nachricht an Archytas, der sich für seine Sicherheit verbürgt hatte. Archytas schickt eine Gesandtschaft an den Tyrannen — dieser widersetzt sich nicht und entläßt Piaton . . . Es war das Frühjahr 360, die Zeit der Olympischen Spiele, als Piaton in Olympia eintraf und dort Dion begegnete. Er mußte ihm berichten, daß der Tyrann seine Ehe gelöst, sein Vermögen geraubt hatte. Der schwer beleidigte Dion rief Zeus zum Zeugen an und forderte Piaton und dessen Freunde auf, am Rachezug teilzunehmen. Piaton fühlte sich zur persönlichen Teilnahme nicht berechtigt, denn Dionys blieb sein Gastfreund, der, abweichend von Tyrannenart, doch das Leben dessen geschont hatte, den er für seinen Feind hielt — aber er ließ zu, daß Mitglieder der Akademie, unter ihnen sein Neffe und Nachfolger Speusippos, den Eroberungszug des Freundes unterstützten. Drei Jahre vergingen, bis Dion mit nur wenigen Schiffen die Überfahrt nach Sizilien wagen konnte. Die Tyrannis des Dionys war morsch, das Land fiel Dion zu, und gefeiert wie ein Gott konnte er in Syrakus einziehen. Im 19. Jahrhundert wurde es üblich, Piatons Eingreifen in die Politik als dilettantischen Übergriff in ein anderes Spezialfach zu tadeln und den Mißerfolg der Philosophie im Kampf um die politische Macht hämisch zu belächeln. Das ist Ressentiment gegen die lebendige Zeugungskraft. Wenn selbst Philosophen diesen letzten Kampf des wirkenden Geistes nicht als echte Blüte der Philosophie, sondern als ein individuelles Kuriosum betrachten, so droht die Philosophie zum lebens308
fernen Abstrakten zu entarten. In der Antike hat Dions Bild und Tat Großes gewirkt: Sizilische Kriegskunst ist Vorbild für das Makedonien Philipps . . . Dion, in Syrakus mit göttlichen Ehren gefeiert, ist eine Gestalt, die zu Alexander überleitet . . . Aristoteles nennt ihn mit Ehrfurcht, und durch die Aufnahme in Plutarchs Heldenbuch wurde sein Einfluß auf alle heroische Jugend bis zum heutigen Tage verbürgt, der im Einzelnen nicht zu bemessen ist. Daß aber Dion politisch vollkommen im Sinne Piatons handelte, darüber lassen die Briefe keinerlei Zweifel. Schon der „Politikos" beweist, daß Piaton nicht im mindesten dogmatisch und ideologisch verfahren, etwa seine „Politeia" ausführen wollte, wo es sich um unmittelbare politische Tat handelte. Eher könnte man zweifeln, ob nicht vielleicht Dion, von ihm getrennt, sich allzu streng an das Wort seiner Lehre hielt. Im IV. Brief rät Piaton, der Verächter der Menge, seinem Jünger, es nicht an Entgegenkommen fehlen zu lassen. „Man handelt dadurch, daß man den Menschen gefällt, aber der Hochmut ist Hausgenoß der Einsamkeit." Im übrigen zeigt der Brief, mit welchem Stolze Piaton den Triumph seines Jüngers begleitet und wie er ihn nur als den Sieger kurz vor dem Ziel durch Zurufe anfeuern will. Es ist nicht unmöglich, daß dieser Brief der erste Anlaß ist, sich jenes demagogischen Herakleides durch den Tod zu entledigen. Manches in Dions Siegeszug klingt herüber wie Sage und Märchen unserer Vorzeit. Als nächster am Thron verbannt, der Gattin und des Reichtums beraubt, unbeirrbar im Glauben an seinen Erwecker, kehrt er nach zehn Jahren zurück, das Volk fällt dem Sieger zu, und der Tyrann ist in seiner Burg belagert. Als auch diese nach einigen Jahren sich dem Sieger ergibt, vereint sich Dion wieder mit seiner Gattin. Fast klingt es wie ein Märchen, aber der wirkliche Schluß ist tragisch wie die Heldensage. Es heißt, daß Dions letzte Zeit umdüstert war durch trübe Gedanken, und es ist glaubhaft, daß das notwendige Paktieren mit dem Großstadtpöbel dem Platonisch-Gesonnenen schmerzlich war. Vier Jahre nach dem siegreichen Einzug in Sizilien, 353, wurde Dion ermordet, auf der Höhe des Erfolges, ermordet von Genossen seines Zuges, von Genossen der Akademie! Zwar waren sie locker mit dieser verbunden gewesen (vielleicht ihr von Dion erst zugeführt), aber dieser Zusammenhang war doch ein giftiger Tropfen in Piatons Trauer um den Tod des Geliebten. Dieser Trauer um den geistigen Erben, dessen Erscheinung in seiner Seele, wie der „Phaidros" erzählt, die Zeus-Natur zum Leben geweckt hatte, hat Piaton in seiner Grabschrift ewige Form aufgeprägt: Tränen für Hekabe und die anderen Ilischen Frauen Spannen die Moiren zu Jeder im Nu der Geburt: Du aber opfertest, Dion, nach herrlichen Taten der Nike, Als durch Dämonen dir Weiteste Hoffnung verrann. 309
Ruhst in des Vaterlands weiten Gefilden berühmt unter Bürgern: Dion, für den mein Herz Einstens in Liebe gerast. Vielleicht gilt auch dieser Vers dem Gestorbenen: Morgenstern warst Du und leuchtetest unter den Menschen, Sterbend als Abendstern Leuchtest im Schattenbereich. Piaton fühlte sich, wie in der geistigen Sendung mit Sokrates, so in der sizilischen Politik mit Dion als E i n e Person: das sprechen die Briefe aus. Nie stellt der Mensch sich reiner dar als beim Verlust des Liebsten. Piaton gibt weder im Gedicht noch im Brief sich der persönlichen Qual hin: er denkt an das Große, dessen Gedenken ewig bleibt. Dionys lebt unschön fort, Dion ist schön gestorben. „Denn wer nach dem Schönsten trachtet, für sich selbst und den Staat, für den ist alles, was er leiden mag, zu leiden recht und schön." Wir alle sind sterblich, unsre Seelen unsterblich. Aber diese Lehre enthält hier, wie auch sonst meist, keinen persönlichen Eigenwillen, keinen christlichen Trost einer Wiederbegegnung im Jenseits — denn Piatons Gesinnung ist irdisch. Der Edle soll sein ewiges Leben schon auf dieser Erde leben, während die Verbrecher, jetzt die Mörder Dions, durch die Höllenstrafe geschreckt werden. Die noch einmal aufgeloderte Hoffnung des Fünfundsiebzigjährigen verlischt in Dions Tod, aber der politischen Verantwortung fühlt er sich nicht enthoben. Vermutlich hat er seit der II. Reise, seit 13 Jahren, an den „Gesetzen", also für Siziliens neue Verfassung gearbeitet. Dions Tod und die völlige Verwirrung in Sizilien konnten nach altem Brauch dazu führen, weise Männer des Mutterlandes um ein Schiedsverfahren, um eine Verfassung zu bitten. (Das geschah tatsächlich bald nach Piatons Tode.) Damit rechnet Piaton, als Dions Partei ihn um Hilfe mit Wort und Werk bittet. Er antwortet mit einem großen Sendschreiben, das als „VII. Brief" überliefert ist. Dies Schreiben, umfangreicher und wichtiger als manche Dialoge, ist eine sehr reale Handlung mit dem Ziel, eine Platonische Verfassung in Sizilien einzuführen. (Das alles soll er eigentlich für Athen geschrieben haben, um sich gegen hypothetische Verleumdungen zu wehren?! Keinen Satz hätte er für diesen Zweck verschwendet.) Die einzigartige Bedeutung dieses weltgeschichtlichen Dokumentes besteht darin, daß Piaton als einzige Rettung im politischen Zerfall, in dem an Stelle der Nation ein Kampf aller gegen alle getreten ist, den neuen Glauben, den Piatonismus sieht! Der politische Wille verbindet sich — wie im Staat — mit der wichtigsten Kundgebung über den Geist der „Ideenlehre". Dions Anhänger haben geschrieben, daß sie die gleiche Überzeugung wie Dion hätten. Piaton erwidert, wenn das zuträfe, so verspreche er ihnen seine Hilfe. Er kenne aber Dions Überzeugung ganz genau, denn es sei ja seine eigene, 310
die Platonische. Er knüpft damit seine Hilfe an die Bedingung, daß sich jene Politiker zum Platonismus bekennen. Wahre Freiheit bestehe darin, nach den besten Gesetzen zu leben. Daß er in den Nomoi eben diese „besten" Gesetze festlegen will, braucht nicht erst gesagt zu werden. Wie er die Verknüpfung von Philosophie und Macht nur von göttlicher Fügung hofft, so hofft er jetzt, daß einer der Götter Dions Sohn Hipparinos mit diesem politischen Glauben Piatons und Dions erfülle. Jener soll dann einer der Könige werden. Das ist der überaus deutliche Sinn der kurzen Einleitung (323 E bis 324 B). Wenn Piaton die höchste Autorität für sich beansprucht, muß er sie hinlänglich begründen. Er erzählt sein politisches Werden, gipfelnd in der Erkenntnis, die Philosophen müssen Könige oder die Könige Philosophen werden. Er erinnert an das Schlemmerleben in Syrakus, das er bei der I. Reise vorfand. Dies sittenlose Treiben ist Ursache, daß Tyrannis, Oligarchie, Demokratie unaufhörlich abwechseln, und dieser Circulus vitiosus im Kampf um Freiheit und Macht, Freiheit und Macht zerstört. Er setzt dagegen die gerechte und gesetzmäßige Politeia, von der jene Machthaber nicht einmal den Namen hören wollen. Damals gewann er den jungen Dion, daß er für immer mit diesem sizilischen Leben brach, und mit dieser Erweckung habe er unbewußt die Auflösung der Tyrannis ins Werk gesetzt! (327 A). Dann berichtet er von Dionys II. und dessen Zwist mit Dion, um den Plan seiner Politik aufs deutlichste zu klären. Die erste Phase war, daß er Dionys II. in seinen Bund mit Dion einzubeziehen hoffte: auch Dionys sollte Platoniker werden, sollte lernen, seiner selbst Herr zu werden, dann (im Gegensatz zu Dionys I.) treue Freunde und Gefährten gewinnen, denn die seelische Gemeinschaft allein kann die Grundlage einer nationalen Politik im Sinne Piatons sein. Dionys I. war nicht imstande, die von den Karthagern zerstörten Griechenstädte wieder aufzurichten, weil er keine zuverläsigen Freunde erwarb, denen er eine freie Verwaltung in den Griechenstädten hätte überlassen können. Daher die tyrannische Zentralisierung, die sich auf barbarische Söldner stützte und das hellenische Wesen preisgab. Eigene Erziehung, Bildung eines Freundeskreises, Wiederherstellung der Griechenstädte: das sind die drei Schritte zum nationalen Reich. Wenn Dionys so verfahre, so werde er das R e i c h s e i n e s V a t e r s v e r v i e l f a c h e n , er werde die Karthager überwinden wie Gelon und nicht mehr Tribut zahlen wie Dionys I. (321 D—333 A). Das ist Piatons Plan zur Rettung des Griechentums! Wenn das christliche Weltalter sich wenig um Piatons Politik kümmerte, so schätzen moderne Kritiker sie als Dilettantismus ab: Piaton habe die alte hellenische Kleinstaaterei erhalten wollen, während Sizilien allein durch die militärische Tyrannis zu retten gewesen sei. Diese angebliche Kleinstaaterei Piatons ist ein begreifliches Mißverständnis, denn er mußte mit seinem Reichsgedanken zurückhalten, weil 311
er damit die reichzerstörende Eifersucht zwischen Sparta, Theben, Athen nur noch geschürt hätte. Er mußte sich begnügen („Menexenos", „Staat"), die innere Einheit der Nation im Kampf gegen die Barbaren höchst eindringlich zu fordern, Kriege und Versklavung unter den Hellenen zu verbieten, die nationale Mitte Delphi anzuerkennen, von der verfassungsmäßigen Form dieser Förderation aber zu schweigen. In Sizilien aber darf er den Reichsgedanken bekennen! Dionys soll das „väterliche Reich" nicht in Kleinstaaten auflösen, sondern nach der geistigen Wiedergeburt auch politisch vergrößern. Was heißt „nicht verdoppeln, sondern vervielfachen" (333 A), da Dionys I. schon über einen Teil Unteritaliens herrschte? Piaton sieht voraus, daß ein wiedergeborenes Sizilien die Vormacht von Hellas werden muß, und es ist immer ein Alexander, den er ersehnt. Die wiederhergestellten Griechenstädte sollen „durch Gesetze und Verfassung zusammengebunden werden", und persönliche Freunde des Königs sollen in ihnen die Macht haben. Als Vorbild wird ihm Dareios hingestellt, der mit wenigen treuen Gefährten ein gewaltiges Reich gewann, es als guter König verwaltete und ihm als Gesetzgeber die Gestalt gab, die es bis heute noch hat. Aber auch der attische Seebund, der 70 Jahre Hellas gegen Persien schützte, wird als Beispiel gerühmt (332 AB). Piaton ersehnt einen hellenischen Dareios, ein großgriechisches Reich! Das ist seine angebliche Kleinstaaterei. Nicht die Macht der Tyrannis, sondern die ichsüchtige Gewaltherrschaft und Preisgabe der nationalen Idee verwirft er. Man wendet ein, der Mißerfolg spreche gegen Piaton. Ist Cäsar ein Dilettant, weil er den Mördern nicht entging? Die Tyrannis war schon morsch, ehe Dion angriff. Die beste Zeit Siziliens aber in diesem Jahrhundert war die Herrschaft Timoleons — und Timoleon war von der Platonischen Partei (vielleicht auf die Anregung des VII. Briefes hin?) aus Korinth, der Mutterstadt von Syrakus, dorthin berufen und hatte die griechischen Gemeinden in Sizilien wieder hergestellt. Daß nach seinem Tode die Einigkeit nicht ewig fortbestand, darf man doch Piaton nicht zum Vorwurf machen. Als dann die Karthager sich wieder ausdehnen, ist es der Tyrann Agathokles, der ihnen widersteht, aber er wird von seiner Herrschaft weniger überdauert, als es Timoleon geschehen war. Dann folgt der Punische Krieg. Piaton hatte den Siziliern vorhergesagt, daß sie, wenn sie nicht einig wären, nur zwischen karthagischer oder italischer Unterwerfung zu wählen hätten. Das Schicksal entschied sich f ü r die zweite Möglichkeit. Mag man andere Schlüsse daraus ziehen und behaupten, daß nur die Militärdespotie Rettung gebracht hätte, so bleibt dennoch Piaton im Recht: Er will die Herrschaft der Besten, nicht unbedingte Staatsmacht. Was lag ihm daran, daß beliebige Tyrannen mit Barbarensöldnern ihre Macht befestigten, während die hellenische Kultur versank, die Hellenen ausstarben. Das vergißt die abstrakte Historie so leicht. Wieder sind 312
Piaton und Dion uns verwandt, wenn ihnen Kultur und Menschentum höher steht als reine Staatsmacht um ihrer selbst willen, wie bei Dionys und Agathokles. Piaton glüht für die Idee der hellenischen Menschheit, der Nation (der wir heute die Idee des verschiedene Nationen umgreifenden abendländischen Kreises analog setzen dürften), nicht f ü r die Idee einer globalen, gestaltlosen Zivilisation. Piatons zweite Phase der Politik beginnt mit dem endgültigen Bruch zwischen Dion und Dionysios. Da mochte ihm Dion als Diktator des „Politikos" vorschweben, aber er versichert jetzt, zu wissen, daß Dion seine Herrschaft dazu verwandt haben würde, Syrakus seine gesetzmäßige Verfassung zu geben und dann ganz Sizilien herzustellen (335 D—336 B). Mit Dions Tod beginnt die III. Phase. Jetzt fehlt die Herrschernatur, und das Schicksal zwingt zur Resignation. Darum macht Piaton Dions Partei folgenden Vorschlag: Alle Männer, die sich von der sizilischen Ausschweifung lösen und dem „Dorischen" Leben (im Zusammenhang ist deutlich das Platonische gemeint) zuwenden wollen, sollen sich unter Piatons Hilfe zusammentun und eine gesetzgebende Versammlung aus Sizilien und aus dem Mutterlande (Peloponnes, aber auch Athen) nach Syrakus „mit Bitten und größten Ehrungen" einladen. Sie soll dem gesamten Sizilien eine Verfassung geben. Piaton sieht Rettung aus diesem Chaos nur im Kompromiß der Parteien, in einer allgemeinen Amnestie. Die Gesetzgeber sollen schwören, daß Siegern und Besiegten daß gleiche Recht gewährt werde. Das also ist unter der „isonomos"-Verfassung Piatons zu verstehen: die kämpfenden Parteien sollen gleiches Recht erhalten. Die Forderung einer Adelspartei, die allein seiner wahren Gesinnung entspricht, würde im Augenblick des Bürgerkampfes nur zerstörend wirken. Wenn so die neue Verfassung gegeben, so hängt das Heil des Staates davon ab, daß die Sieger das Gesetz noch strenger befolgen als die Besiegten (336 C—337 E)! Dieser Rat, eine gesetzgebende Versammlung zu berufen, ist das äußere Ziel des Sendschreibens. Piaton geht hier im einzelnen nicht weiter: er muß zunächst abwarten, ob man sich seinen Bedingungen fügt. So könnte das Sendschreiben schließen — aber es folgt ein zweiter, noch umfangreicherer Teil. Piatons Anspruch, noch so vorsichtig ausgedrückt, war ein gewaltiger: die gesetzgebende Körperschaft soll geladen werden durch eine Partei, die sich zuvor zum neuen Leben, zum neuen Glauben, zum Piatonismus bekennen soll. Wer nicht dem sizilischen Leben abgeschworen hat, kann dieser Gemeinschaft nicht angehören. Dann werden offenbar nur solche Männer geladen, die Piaton vorschlägt, die ihm mindestens genehm sind. Piaton ist der Religionstifter, dessen Beauftragte Diktatoren, gesetzgebende Körperschaft und Könige sind. Diese hohe Autorität soll der zweite Teil des Schreibens begründen. Piaton weiß, wie immer gegen ihn in Sizilien gehetzt wurde — er weiß nicht, so lange abwesend, was weiter geredet wird: darum genügt nicht 313
der Umriß seiner Politik, wenn er nicht auch ihre ganze Vorgeschichte darlegt, so daß seine Anhänger gegen die Verleumdungen gewappnet sind. Nicht die Literaten Athens, aber Dions Anhänger, die im Bürgerkrieg stehen, haben ein Anrecht auf Kenntnis der Vorgeschichte. Nur als Werkzeug des politischen Tuns darf man etwas wie „Rechtfertigung" im VII. Brief finden. Schon im I. Teil kämpft Piaton für seine Autorität. Die Syrakuser mochten fragen: Wenn Piaton der Erneuerer ist, warum erneuert er nicht seine Vaterstadt? E r antwortet: Athen hat nicht gewollt. E r würde höchstens seinen Sklaven, nicht seinem Sohne, geschweige denn den Eltern seinen Rat mit Gewalt aufdrängen. Die Eltern bedeuten Athen, und er trifft Athen, da er sagt: wenn die Eltern seinen Rat nicht wünschen, so werde er ihnen nicht lästig fallen, aber auch ihnen nicht schmeicheln und ihnen nicht zu Dienste sein zur Sättigung ihrer Begierden, die ihm zuwider seien. E r lehnt damit (wie im „Kriton") den gewaltsamen Umsturz ab und bedeutet zugleich die Syrakuser, daß er niemandem seinen Rat aufdrängen wolle (330 D—331 D). Diese Ablehnung Athens beweist, daß der Vorschlag, auch Athener zur gesetzgebenden Versammlung zu laden, sich nicht auf Athen schlechthin bezieht. Wo er in solchem Zusammenhang von Athenern spricht, meint er Jünger der Akademie. Aber auf dieser lastet jetzt der Makel: Dions Mörder gehörten ihr an! Vom Unsagbaren, das sie ihm persönlich angetan, schweigt Piaton — was sie aber der Akademie angetan, das muß er im Sendschreiben verfluchen. Im VIII. Brief nimmt er sie als „unheilbar" von der Amnestie aus, im VII. verkündet er ihnen, den „Schlächtern", die Höllenstrafen. Zusammen bedeutet das, daß er einen Brutus und Cassius wie Dante in den untersten Höllenring verstößt. Die Strenge des Gerichtes ist um so großartiger, als Piaton selbst an dem geliebten Dion in diesem Schreiben, das doch ein Loblied auf Dion ist, die Rachsucht tadelt. Der politische Zweck heischt es: Verwirrung und Gefahr in Sizilien ist so groß, daß nur Friedensliebe und Verurteilung der Gewalttat Rettung bringen können. Darum muß Piaton öffentlich bekennen, daß er damals Dion vom Rachezug abriet, und die Verantwortung dafür ablehnen (350 D). E r schüttelt die Mörder ab von der Akademie, mit der sie nur locker verbunden waren, würdigt sie nicht, ihre Namen zu nennen, und bestreitet, daß sie der Stadt Schande brächten, denn sie waren zu dumm und zu schlecht, als daß sie Erwähnung verdienen. Sie waren nur Werkzeug des Daimon (334 AB). So schmerzlich ist dieser Flecken für Piaton, daß er sich diesmal nicht scheut, auf seine persönliche Treue hinzuweisen: Auch der war ein Athener (lies: Akademiker!), der Dion nicht verriet, als Dionys ihm große Schätze und Ehren anbot (334 B). Dieser Zusammenhang der Motive verrät sich deutlich, als Piaton auffordert, auch Athener zur gesetzgebenden Körperschaft zu laden, denn es gebe auch dort Menschen, denen die Tollheit von Männern, die ihre Gastfreunde ermorden, verhaßt sei (336 D). 314
Im II. Teil (von 337 E ab) stellt Piaton sein Verhältnis zu Dionys II. dar. Es ist für die politische Lage von größter Bedeutung, daß die Schuld des Bruches bei Dionys, nicht bei Dion lag und daß Piaton auch unter Lebensgefahr sich zuletzt bemüht hat, beide zu versöhnen. Daß er gegen Dionys gehetzt habe, ist Verleumdung. So einsichtig die Notwendigkeit dieses Berichtes ist, so hat Piaton ihn doch kunstvoll mit einer Frage zusammengewirkt, die weit tiefer, bis zur Wurzel seiner Person, reicht. Dionys hat die oberflächliche Kenntnis der Lehre Piatons dazu benutzt, ein Lehrbuch zu schreiben, in dem er sie darstellt und kritisiert. Er hatte ja mit Aristipp, Aischines und anderen Philosophen verkehrt. Ein solcher Versuch des Herrschers, dessen naher Verkehr mit Piaton allgemein bekannt war, war höchst bedenklich. Konnte Piatons Lehre überhaupt öffentlich und rational dargestellt werden, dann war die Akademie eine Forschungsanstalt, dann war sie kein Heiligtum, das wie einst Delphi Heil und Bewahrung der Nation in sich barg. Dann gehörte Piatons Lehre der Wissenschaftsgeschichte, und seine Person war überflüssig. Gegen diese Entweihung wendet sich der Groll Piatons . . . Das schöpferische Geschehen bedarf wie das keimende Samenkorn, wie das treibende Herz des heiligen Dunkels. Rationale Erklärung kann sein Geheimnis nicht darstellen, wohl aber, indem sie Teile ans Licht zerrt, das Ganze gefährden. So ist die Literarisierung des Piatonismus seine größte Gefahr. Wie der Anfang des Sendschreibens (324—326) die wichtigste Urkunde über Piatons Leben und Sendung ist, so ist diese Kundgebung gegen Dionys (341 B—345 B) die wichtigste Urkunde über das Wesen seiner Lehre. Ein literarisches Zeitalter wunderte sich über diesen „philosophischen Exkurs" an einem so unpassenden Orte, weil es den Zusammenhang mit der Politik nicht verstand. Seine Lehre, sagt Piaton, könne niemand schriftlich darstellen — sei doch nicht einmal er selber dazu imstande, wenn er auch wolle. „Es gibt nämlich darüber nichts Schriftliches von mir und wird es auch niemals geben. Ist es doch überhaupt nicht ausdrückbar wie andere Lehrgegenstände, sondern aus häufigem Zusammensein um der Sache selbst willen und im Zusammenleben wird wie vom überspringenden Funken ein Licht entfacht in der Seele und nährt sich, wenn es in ihr entstanden ist, alsdann von selber. " (341 C) Eine Geheimlehre ist es nicht, denn Piaton erklärt, die meisten würden, wenn man darüber redete, es falsch verstehen, sich viel darauf einbilden oder umgekehrt es verachten, die wenigen Empfänglichen aber fänden es auf einen Fingerzeig. Wer es besaß, kann es nie wieder vergessen. Es ist also Sache der Schau und des Glaubens, nicht des rationalen Beweisens, und ist nur wenigen zugänglich. Nur Einer hat es ganz im Besitz: Piaton. Nur durch seine Haltung und Gebärde ist es übertragbar. Piatons Lehre ist gemeingültig — dennoch aber Geheimnis, das an seine Person geknüpft bleibt. Eine solche Lehre ist Religion. Die unterstützende Formel dafür ist die urkundliche Auslegung der Ideenlehre. Fünf Stufen sind es der Erkenntnis und des Seins. Die erste 315
ist der Name (z. B. Kreis). Die zweite ist Logos, Erklärung, Definition. (Kreis ist das am Rande von der Mitte gleich weit Entfernte.) Die dritte ist das Abbild (der gezeichnete Kreis), das Modell, das die Idee vertritt, der Erscheinungsgegenstand. Auf der vierten Stufe sind vereinigt: Erkenntnis (Episteme), Geist (Nus) und wahre Vorstellung (Doxa), also gemeinsam das, was in der Seele liegt. Auf der fünften steht die Idee selber. Alle Stufen sind notwendig, und die Erkenntnis steigt nicht nur nach oben, sondern muß wechselweise auf und ab steigen, denn sie ist nicht Geschenk zufälliger Intuition und fordert alle Übung und lange Zeit: weder dem Edlen noch dem Klugen wird sie zuteil, wenn er nicht eins und zugleich das andere ist (343 E—344 B). Eine gewisse Weiterentwicklung der Ideenlehre ist unverkennbar, aber — sie ist gerichtet gegen die Begriffswissenschaft. Welche Überraschung, daß Logos und damit Dialektik auf die zweitunterste Stufe verwiesen ist! Dialektik ist Vorbereitung der Ideenlehre, und Diairese ist Vorbereitung der Dialektik: das darf man bei den Dialogen nach dem „Phaidros" nicht vergessen. Widerspricht es nicht allen früheren Platon-Deutungen, daß die Erscheinungsdinge höher stehen als der Logos? Und wenn man meinte, daß Piatons Ziel die Scheidung von Wissen und Meinung, Episteme und Doxa war, so stehen beide hier auf einer Stufe nebeneinander. Nicht die Episteme ist es, die von dieser höchsten menschlichen Stufe hinüberragt in die höchste der Welt, in die der Idee, sondern nur der Geist. Denn der Menschengeist wurzelt im Weltgeist, er ist das Göttliche im Menschen (342 D). Dieser Nus, der aus der Seele ins Göttliche ragt, deutet auf das Mysterium. Das ist das höchste Erlebnis, zu dem die Weihe der DiotimaRede führt, die Idee der Politeia, die noch über dem Sein steht! Nur lebendiger Geist, nicht „objektive" Erkenntnis steigen zu ihr auf. Erst Timaios erzählt, wie der Menschengeist in der Urkraft des Weltalls wurzelt. Niemals darf man aus dieser zugespitzten Ablehnung der Schrift schließen, daß Piaton im Ernste sein Schriftwerk gering achtete. Wir kennen die gleiche Widerlegung des Dionys auch aus dem an ihn selbst gerichteten II. Brief. Hier aber findet die Ablehnung der rationalen Schrift noch jene unvergeßliche, echt Platonische Ergänzung: „Ich selber habe deswegen niemals etwas darüber geschrieben, und es gibt keine Schrift Piatons noch wird es eine geben: was aber jetzt so genannt wird, stammt von Sokrates, dem schön und jung gewordenen" (314 C). Was Piaton der trügerischen, rationalen Rede nicht anvertrauen kann, das darf er der Welt als Gebilde in seinen lebendigen Gesprächen zeigen: die Gestalt des Sokrates, die Jünglinge, die ihm anhängen, die Gegner, die er besiegt, die Mythen, die er erzählt. Mit dieser Ablehnung des Dionys trifft Piaton zugleich jene Forscher, die ihn rationalisieren wollen, und prägt seine währende Ablehnung; jeder Systematisierung und Erstarrung der Lehre scharf aus. Dennoch 316
mußte er an diesem Ort, an dem er sich an die zu gründende Gemeinschaft wendet, der unsagbaren Lehre jene lehrhafte Formel beigeben, wie er denn anfangs sagt, daß er diesen Logos schon oft gehalten habe. Diese knappen Seiten enthalten die begriffliche Formulierung, die das Volk auf das Herz der Vita Platonica, es zugleich umhegend, hinweisen soll. Piatons Weisheit schien zwei Möglichkeiten zu haben: den Weg zur reinen Wissenschaft, d. h. zu einem objektiven Wissen, das sich ganz von seiner Person löst und in allmählichem Fortschritt, durch Tausende von Forschern, einem niemals ganz erreichbaren Ziele zustrebt — oder den Weg zur Religion. Piaton geht den zweiten Weg, aber nie ist die Entscheidung so bewußt und stählern ausgedrückt wie hier. Rettung gibt es nur in Piatons Person, und er allein ist damals der Träger göttlicher Offenbarung. Er will in sich die Vollendung erleben, nicht ferner Zukunft dienen, denn der Politikosmythos ist der Traum des Sehers: nach ihm kommt unaufhaltsamer Verfall — dann kommt das KronosZeitalter des Friedens, der Verjüngung, des Herdenglücks — und erst nach großen Weltkatastrophen kann wieder das Zeitalter der schöpferischen Heroen kommen . . . Darum nennt er sich Führer und Meister, Hegemon und Kyrios, in diesen Dingen, und er verurteilt Dionys, weil dieser ihn betrogen und in Gefahr gebracht hat, also den „Führer und Meister" beleidigt habe (345 C—350 B). Diesem Anspruch des Meisters, ja des Religionsgründers, dient das Sendschreiben und diesen Gedanken leugnen, heißt Piaton verleugnen. Als Dions Anhänger zugestimmt, sich also zur Gemeinschaft des Platonischen Lebens bekannt hatten, sandte Piaton ein zweites Schreiben, den „VIII. Brief", der die Grundzüge des politischen Planes enthielt. Ton und Haltung beider Briefe sind ganz verschieden: der VII. Brief geht an die erklärten Anhänger, enthält ihre Verpflichtung, aber auch die Rechtfertigung der Platonischen Politik, die sie vor solcher Entscheidung fordern dürfen, der zweite geht zwar zu Händen dieser Gefolgschaft, ist aber an das gesamte Volk von Syrakus gerichtet als Urkunde, die den feindlichen Parteien als Vertragsgrundlage vorgelegt werden soll. Deutlich sagt die Einleitung: er ist an das Volk, auch an die Widersacher, gerichtet, ausgenommen die unheilbaren Verbrecher (Dions Mörder). Mußte der VII. Brief die Schuld Dionys II. darlegen, so wird jetzt zur Versöhnung der Parteien das Verdienst jener Dynastie um die Nation rückhaltlos anerkannt. Der natürliche Grundsatz, dem Feinde zu schaden, führt im Bürgerkriege dazu, daß man selbst wieder geschädigt wird. Es ist der Circulus vitiosus im Kampf um Macht und Freiheit, von Tyrannis und Demokratie, der den Staat vernichtet (352 C—353 D). Dionys I. hat Sizilien vor Karthago gerettet, aber sein Helfer war Hipparinos, der Vater Dions, der Großvater des jungen Hipparinos! Ein Wink, daß im gleichen Bündnis von Sohn und Enkel die Rettung liegt. Jetzt 317
ist die Gefahr noch größer. Die griechische Sprache wird ausgerottet, die Griechen werden entweder von Karthagern oder von Italikern verdrängt werden! Gegen diese Krankheit Siziliens muß die gesamte Nation das Heilkraut finden! Wer ein besseres Mittel als Piaton weiß, soll in die Mitte treten und soll Freund der Nation geheißen werden. Sonst aber will Piaton selbst als Schiedsrichter auftreten und die feindlichen Parteien, die bisherige tyrannische und die tyrannisierte, als eine Einheit behandeln. Das ist der Ton großer Volksrede: das Schreiben ist bestimmt, in öffentlicher Versammlung auf dem Markte verlesen, die Versöhnung zu stiften. Piatons Heilkraut ist — an Stelle des Kreislaufes von tyrannischer Machtgier und demokratischer Freiheitsgier — das gesetzliche, darum unwandelbare Königtum. Königtum bedeutet ihm wie Sparta nicht Monarchie, sondern überwiegend aristokratische Regierung, ist doch die Tyrannis nichts anderes als die notwendige Folge der Tyrannei der Massen. „Dienst und Freiheit im Übermaß sind beide durchaus schlecht, im richtigen Maß durchaus gut. Maßvoll ist der Dienst vor Gott, maßlos vor den Menschen. Den besonnenen Menschen ist Gott das Gesetz, den unbesonnenen die Lust." So redet der Stifter eines neuen Ethos, um das Volk auf das Heilige zu verweisen. Aber er denkt nicht daran, das Gesamtvolk, Gegner und Ungebildete, mit seinem hohen philosophischen Glauben zu durchdringen. Seine wahren Söhne verpflichtet er auf seine eigene Person, denn nur er ist Gottes Gesandter, Künder des Gesetzes. Das Volk soll nur überredet werden, sich der Herrschaft dieser Einsichtigen zu fügen. Diesem Zwecke dient das schöne, rhetorische Mittel: Piaton legt die eigentliche Rede dem toten Dion in den Mund. Und so groß ist die innere Einung Piatons und Dions, daß dies Mittel zugleich die Wahrheit ausdrückt: „Da dies so geworden ist, so rufe ich die Freunde Dions auf, sämtlichen Syrakusern seinen und meinen gemeinsamen Rat, den ich euch gebe, zu verkünden: ich werde euch übermitteln, was jener euch sagen würde, wenn er am Leben wäre und es noch könnte . . . " So gibt Dion gleichsam selbst den Plan der Verfassung, die er dem Volke verliehen hätte, wenn die Mörder ihm nicht in den Arm gefallen wären. Doch ermahnt er zuerst die Bürger, als höchstes Gut die Arete der Seele, als zweites die Arete des Leibes und als drittes das Eigentum zu schätzen. Nur dies Gesetz führe zum Glück. Als Könige sollen sie einsetzen an seiner Stelle seinen Sohn Hipparinos, für die Dynastie des Dionys I. dessen Sohn, aber Gegner der Tyrannis, der ebenfalls Hipparinos heißt. Falls Dionys II. aus Mitleid mit Sizilien auf die Monarchie verzichten will, soll er der dritte König werden. Großes erwartet Piaton nicht von diesen Personen, deren Amt die Versöhnung recht handgreiflich vollenden würde, und sie sollen zurücktreten hinter einer Aristokratie nach spartanischer Art. Ihr Amt ist hauptsächlich das hohepriesterliche, das dem Staat durch seine Heiligkeit die Dauer verleihen soll. Diese Könige werden die gesetzgebende Körperschaft laden und ihr die Vollmacht für die Verfassung übertra318
gen. Doch gibt Piaton auch Richtlinien für diese. Es soll ein höchster Gerichtshof von 35 „Gesetzeswächtern" eingesetzt werden, dem Areopag in seiner früheren Machtfülle vergleichbar. Er entscheidet über Tod, Kerker, Ausweisung und im Benehmen mit Volk und Rat über Krieg und Frieden. So ist die Verfassung aus Königtum, Aristokratie, Demokratie gemischt — keine echt Platonische, aber die unter den gegebenen Umständen mögliche und heilsame. Ist so das Reich gegründet, dann werden die alten Griechenstädte aufgebaut, die früheren Einwohner zurückgeführt, dann wird Sizilien die Macht gewinnen, die Karthager zu vertreiben. Darum schließt Dion-Platon mit der Mahnung, nicht schlaff zu werden, bis diese göttlichen Träume in die Wirklichkeit überführt wären! — Noch wurde Piatons Rat nicht durchgeführt. Aber sieben Jahre später — auch Piaton war inzwischen gestorben — sandte Korinth, die Mutterstadt von Syrakus, dorthin eine Delegation, die von dem edlen Timoleon geführt wurde. Timoleon wirkte wie ein Beauftragter Piatons. Noch glücklicher und leichter als Dion vertreibt er den zurückgekehrten Dionys, richtet eine freiheitliche hellenische Verfassung ein, baut die Griechenstädte wieder auf und zieht Griechen aus dem Mutterlande nach Sizilien. Ihm gelingt, was Piaton ersehnte: er vertreibt die Karthager aus dem Lande, und er wird in Griechenland hochgefeiert. Das ist das Zeugnis für Piatons großartigen Blick in die Wirklichkeit. Noch ein Menschenalter nach Timoleons Tod blieb Sizilien bewahrt. Wer darf Piaton dafür haftbar machen, daß Timoleons Reich nicht ewig dauert! Das Geschick hat nicht gewollt, daß Piatons Werk in die politische Täterschaft auslaufe — dafür wurde sein Werk in der Sphäre der geistigen Macht ewig. Doch sagen uns Dion und Timoleon, daß auch aus Piatons politischem Geiste die rettenden Täter erwuchsen.
XXI. P H I L E B O S Das höchste Gut Der „Philebos" schließt den „Theaitet", „Sophistes", „Politikos" zur Tetralogie, klingt vielfach an die „Nomoi" und an den VII. Brief an und bereitet den Timaios vor. Der Philosoph war hinlänglich dargestellt . . die Idee des agathon darzustellen, ist nicht möglich . . aber das Lebensziel, die Norm in der Werdewelt, das höchste Gut, mußte mit den neu gewonnenen methodischen Mitteln, den psychologischen des Theaitet, den logischen des Sophistes-Politikos dargestellt werden: das ist die Aufgabe des Philebos. Was ist im Lebendigen „das" Gute: Erkenntnis 319
oder Lust? Die Antwort schien gegeben: die Erkenntnis. Da alles Böse aus Selbstsucht, aus Lustbegierde stammt, soll der Philosoph die weltzerstörende Lust durch Erkenntnis überwinden. — Solche Antwort kann dem Denker, nicht dem Weisen genügen. Piaton will den Staat, will die Welt aufbauen und weiß, daß die Lust auch aufbauende Kraft des Werdens ist. Warum bekennt sich ein Mensch zum philosophischen Leben, wenn er nicht die reine hohe L u s t des Erkennens fühlt? Höchstes Gut ist Erkenntnis gemischt mit der ihr eigenen Lust — nicht reine Erkenntnis. Diese Feststellung, die den grämlichen Lusthaß des Antisthenes, die spätere apathische Entsagung der Stoiker ablehnt, widerlegt die Fabel von der Resignation des greisen Piaton. Aber für das Leben der Erkenntnis sind wenige erlesen, und Piatons Staat gilt nicht f ü r erdachte Norm-Menschen, denn alle Griechen sollen ihm in Herrschaft oder Dienst einbezogen werden, soweit sie nicht als kranke Glieder unbrauchbar sind. Woher sollen staatsbildende Kräfte quellen, wenn keine andere Lust geduldet wird, als die Erkenntnis? In Piatons Lebensnorm werden ohne Rigorismus alle Arten der Lust aufgenommen, die dem Sinn des schönen Lebens nicht widersprechen. Wer ist dieser Philebos, der vor dem geschriebenen Gespräch den Satz ausgesprochen hat, die Lust selber sei das Gute? Man will in ihm den schlaffen Hedonisten sehen, der als Vertreter der Lust so denkunfähig geworden ist, daß er den eignen Satz nicht vertreten kann und dies Protarchos, einem typischen Gliede der Akademie, überläßt. Unmöglich, daß ein grober Hedonist, der wirklich den niederen Lüsten lebt, Teilnehmer dieses Gespräches in der Akademie wäre. Die Jünglinge schätzen ihn, bitten ihn um Hilfe, wenn sie nicht weiter können, und Sokrates selbst behandelt ihn mit vertraulicher Neckerei, die eine echte Freundschaft voraussetzt. So wenig wir hören,so genügt doch der kleine Hinweis auf seine Gewohnheit, die Jünger der Akademie mit „Kinder" anzureden, zum Beweise, daß auf eine wohlbekannte Persönlichkeit in der Akademie gezeigt wird. Er liegt auf der Kline und greift trotz der Bitten der „Kinder" nicht ins Gespräch ein — er scheint ein freundlicher und etwas bequemer Greis zu sein, aber daß er niederer Lust ergeben ist, widerstreitet dieser Freundschaft. Aristoteles berichtet, daß diese ihm anstößige Lehre Eudoxos vertreten habe, bei dem sie aber wegen seines liebenswürdigen Charakters erträglich gewesen sei. Eudoxos ist um diese Zeit (353) hochbetagt gestorben, und nichts spricht dagegen, daß Piaton dem verehrten Freunde und großen Forscher, der aber zur höchsten Lehre nicht aufsteigen konnte, weil er zu spät den Weg zur Akademie gefunden hatte, wohl noch bei seinen Lebzeiten diese scherzhafte Widmung gespendet hat. Wir sahen im „Theaitet", wie er die Lehre des Protagoras vertritt und wie unermüdlich Piaton ihn mit liebevoller List ins dialektische Gespräch zu verflechten sucht. Als Theodoros konnte er jetzt nicht mehr erscheinen, weil die bestimmte Lehre und .320
menschliche Haltung nicht zu übertragen war auf den bekannten früheren Forscher. So dürfen wir Piaton im Verkehr mit dem greisen Freunde sehen, der seine Lehre nicht anerkennt, in seine Dialektik sich nicht einläßt, und dem er doch, ohne jede dogmatische Strenge — wie Sokrates dem Kriton — einen hohen Rang in seinem Kreise verleiht. Es handelt sich nicht um den moralischen Gegensatz von strenger Pflichtethik und niederem Hedonismus. Das agathon ist nicht das Moralische, sondern der Lebenswert schlechthin, und die Frage heißt nicht: sollen wir nach dem Glück trachten oder nach Pflichterfüllung, sondern: worin besteht das Glück? Philebos stellt weniger eine ethische Theorie auf, als daß er die psychologische Deutung ausspricht, die als bewußte oder unbewußte Überzeugung dem allgemeinen Tun zugrunde liegt. Zu widerlegen ist sie nicht, denn eine andre Triebfeder als Lust und Unlust ist rational nicht zu erklären. Auch Christus verheißt seine Form der Eudaimonie, den Frieden Gottes. Dennoch besteht gegen die Anerkennung der Lust als Ziel unseres Tuns ein schweres Bedenken: sie führt zur Ichsucht, zur Quelle alles Bösen. Gegen dies bleibt keine Waffe, wenn Lust und Gutes schlechthin gleich sind. Das ist das Dilemma: die Leugnung der Lust vernichtet die staatsbauenden Kräfte, ihre Anerkennung befreit die staatszerstörenden. Piaton sucht den Lebensweg in der Mitte, nicht deduziert er logisch ein System. Die Lust muß regiert werden von der Gerechtigkeit. Der junge Piaton hatte mit Höllenstrafen gedroht („Gorgias") . . der ältere mit größtem Aufwand dargelegt, daß der Gerechte auch der Glückliche sei (Politeia) . . der alte weiß, daß bloße rationale Beweisführung die Menschen nur vorübergehend beeinflußt: er führt den Logos auf seinen begrenzten, wenn auch hohen Wert zurück (Politikos, VII. Brief) und benutzt im „Philebos" das logische Denken als Mittel nicht für den rationalen Beweis, sondern für die Formung der Denkvorgänge und Begriffsbildungen, um das Gefühl, die Lust, das Streben unmittelbar mitzuformen. Denn die menschliche Seele kann plastisch durch den Geist geformt werden, und wer sich diesem Einfluß des Geistes entzieht, weil er sich seinen natürlichen Regungen hingeben will, der kann die Tatsache für andere doch nicht leugnen. Der Sinn Platonischer Dialektik ist die Formung der Seele. Philebos und Protarchos sind nicht Gegner Piatons. Deutet doch Protarchos selbst, der als echter Jünger nur von Sokrates lernen will, auf den Gedanken des „Timaios", wenn er sagt: „Daß der Geist das All ordne, ziemt dem zu sagen, der Welt, Sonne, Mond, Sterne und ihre ganze Umdrehung anschaut, und niemals möchte ich darüber anders sprechen oder denken!" Beide greifen nicht das Platonische Lebensgefühl an, sie deuten nur die Ursachen des seelischen Geschehens anders. Gegen diese theoretische Deutung hätte Piaton, der Eudaimonist, vielleicht wenig einzuwenden, wohl aber dagegen, daß der Mensch sich bewußt zu solcher Lehre bekenne, denn dann ist die Gefahr, daß er die 21
Hildebrandt, Piaton
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Lust unmittelbar um ihrer selbst willen, mit künstlichen Mitteln erzeugt. Als Ziel soll der Mensch das Gerechte und das Schöne anerkennen, und nur wenn er ihnen dient, soll ihm die Lust zufallen. „Trachte ich denn nach meinem Glück? Ich trachte nach meinem Werke!" (Nietzsche.) In diesnr Form spricht es Piaton nicht aus, aber er will den Piatonikern eino Lehre spenden, mit der sie eine solche lebendige Gesinnung erzeugen. Die Erziehung und Läuterung der Lust beruht auf der Überzeugung, daß die Lust falsch und irrig sein kann. Und diese hängt davon ab, was man unter Lust und Gefühl begreift. Protarchos geht aus vom analysierenden Denken, wie es in der Assoziationspsychologie des 19. Jahrhunderts weitergeführt, ja ad absurdum geführt wurde. Denken und Fühlen sind zwei verschiedene Seiten des Erlebens, begrifflich aber für immer zerschnitten, so daß eine lebendige Verbindung nicht möglich ist. Protarchos wendet daher ein, nicht im Gefühl, sondern nur in der Vorstellung an sich, die mit diesem Gefühl verbunden ist, kann ein Irrtum liegen, während das Gefühl an sich, die Lust, für den Menschen gut bleibt, wenn die Vorstellung noch so irrig ist. Piaton kann seine Anschauung nicht so klar ausdrücken, weil er viel tiefer in die Wurzeln der Seele dringt. Er lehnt jene Analyse der Seele ab und wendet sich zu einer volkstümlichen Auffassung zurück. Wie seine Seelengleichnisse („Staat", „Phaidros") zeigen, ist für ihn jeder Seelenteil etwas Gesamtlebendiges (wie auch wir unter Gefühl ein Urteil zu begreifen pflegen, dessen Begründung uns im Bewußtsein nicht gegeben ist, das wir „instinktiv" nennen). Wenn man so die Lust als lebendige Gegebenheit versteht, dann kann man wahre und falsche Lust unterscheiden. Dann wird der Vorrang der Erkenntnis vor der Lust aber nur um so deutlicher, denn erst im Erkenntnisvorgang läutert sich die wahre Lust von der falschen (36 B—53 C). Wie im „Theaitet" und „Sophist" die Möglichkeit des Irrtums nachgewiesen wurde, so hängt jetzt die Vertiefung der Ethik davon ab, daß es auch falsche Lust gibt. Das Wesen der Lust wird in der reinsten, nicht in der stärksten Lust erkannt. Unrein sei die mit Schmerz gemischte, die überreizt-leidenschaftliche Lust, die aus dem Gefühl des Mangels stammt. In Gastmahl und „Phaidros" hat Piaton Eros auch als große Begierde gepriesen, aber als Begierde, die sich mit dem Bewußtsein des Schönen füllt, die Zeugungstrieb ist — nicht ein bewußtes Streben nach individueller Lust. Eros ist lustvolles Überströmen der schöpferischen Kraft. Das war das eigene, große Erleben. Der Greis, der gleichzeitig die Gesetze f ü r das Volk schreibt, gibt seinen Jüngern die Lehre von der Gefahr unreiner Begierde, bewußten Lustverlangens, als verneinende Ergänzung zur früheren Bejahung (44 D—47 D) . . . Reine und wahre Lust sind — eng verwandt der Ideenlehre des „Phaidon" — die „sinnlichen" Lüste im eigentlichen Wortsinne, Lust an schönen Farben und Figuren, an den 322
meisten Gerüchen und Tönen, alle Lüste, denen kein fühlbarer Mangel, kein Begehiren vorausgeht. Die höchste der reinen Lüste ist die Lust des Erkennens (51 B—52 D). Das Beispiel für die Reinheit, sowohl der Lust wie des Erkennens ist höchst bezeichnend gemeinsam: die Wahrnehmung des reinen Weiß. Nicht das größte und meiste, sondern das reinste und unvermischte Weiß ist „das schönste und wahrste aller Weiße". Das ist auch für das Wesen der Idee höchst wichtig: die Erscheinung, das Erleben „Weiß" ist zugleich Lust und Erkenntnis, ist schön und wahr (52 D—53 B). Nur muß man in diesem Rückgang auf das einfachste Phänomen sogleich den Gegensatz zur atomistischen Lehre bemerken, die aus kleinsten Einheiten die körperliche und seelische Welt rein mechanisch aufbauen will. Dies Weiß, die reinen Farben und Figuren sind nicht Empfindungsatome, sondern volle Erlebnisse: die gesättigte Lust des Weisen am „Weiß der Lilien und am Duft der Rosen". Aber nicht bilden diese Einzelerlebnisse aus eigener Kraft den Kosmos: E s ist der schöpferischen Gottheit vorbehalten, den Kosmos zu gründen. Nur aus dem Weltganzen empfängt der Teil seinen Sinn. Das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen, ist das Wissen des Platonismus, diesen Sinn methodisch zu fassen, die Aufgabe der Tetralogie. Früher war Piaton bis zur höchsten Idee in der Diotima-Rede aufgestiegen, um dann absteigend diese Idee im „Staat" zu verwirklichen. Im Schluß des „Phaidros" begann er, auch die geistige Durchdringung der Einzelformen methodisch vorzubereiten. Im „Philebos" ist diese Methode vorausgesetzt und wird angewandt, um die Einzelformen dem Kosmos einzuordnen: darum führt Sokrates selber, nicht mehr der eleatische Fachlehrer das Wort. Echt Platonisch wird der Urgedanke seiner Weltschau zum heiligen und unverrückbaren Vermächtnis geprägt: Ein Prometheus habe diese Lehre, in einem glänzenden Feuer, vom Himmel geraubt und den Alten gebracht, die den Göttern noch näher wohnten. Alle Formen der Wirklichkeit bestehen aus dem Eins und dem Vielen, aus Grenze (Peras) und Grenzenlosigkeit (Apeiron). Man muß in jeder Form die Eine Idee ansetzen und wird sie finden, denn sie ist darin. Aber mit diesem Gegensatzpaar sind die Formen nicht erkannt: Man muß feststellen, wie viele Ideen weiter in der Form zu finden sind, man muß genau ihre organische Gliederung begreifen mittels der Zahl. Weder das Eins noch das Viele ist Zahl, sondern nur die Bestimmtheit, die zwischen beiden liegt. Man ist nicht musikkundig, wenn man die Idee des Tones und den Begriff der unendlich vielen Töne hat, sondern erst wenn man zwischen Einheit und Vielheit die bestimmte zahlenmäßige Gliederung, die Harmonielehre, kennt. Ebenso in der Wortlehre. Erst im Zusammenhang, im Ganzen, in Demos und Kosmos empfangen Töne und Buchstaben ihren Sinn (16 E—18 D) . . . 21«
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Die Lust gehört dem Grenzenlosen an, denn sie ist ungestaltet, ungegliedert, stoffartig, trachtet nach immer mehr. Da das höchste Gut der Lust nicht entbehren kann, so ist ein drittes Prinzip nötig: das Gemischte (23 C—26 E). Dann aber muß es ein viertes, das oberste Prinzip geben: die Ursache der Mischung und des Werdens, das ist die Idee des agathon, die schöpferische Kraft. Sie muß alle Formen der Welt als Ideen in sich tragen, nur nicht den absoluten Stoff, den leeren Raum, die Lust ohne jede Bestimmung — denn dies alles ist f ü r Piaton Nichtsein. Diese „Aitia", die tätige, führende, bereitet vor auf den Schöpfer im „Timaios" (26 E—27 B). In dies Schema wird das Weltbild des Mikrokosmos und Makrokosmos eingetragen. Wie die Elemente unseres Leibes aus den gleichen des Kosmos, die Kraft des Feuers in uns aus dem Feuer im Weltall stammen, so stammt auch unsere Seele aus einer Weltseele. Menschlicher Geist und Weltgeist sind eines Wesens, sind der Geist, der das All ordnet, die Sternbahn vorschreibt, die Jahreszeiten gliedert. Am Schluß wird diese schöpferische Ursache dreigestuft. Das Höchste ist das Maß, das Angemessene, Rechtzeitige als Ewiges. (Nicht das Peras, das in die Mischung der Werdewelt eingeht, sondern seine schöpferische Ursache, die höchste Norm-Idee.) Das zweite ist das Harmonische, Schöne, Vollendete, Zulängliche (die Idee des Schönen, die „Göttin" des Sokrates, die Empodekleische Aphrodite?) Das dritte ist Geist und Einsicht (Welt-Nus, Zeus). Das ist, ohne dogmatische Strenge, die Dreifaltigkeit der Idee des Guten. (Daß der Nus an dritter Stelle steht, stellt die Verbindung mit dem menschlichen Nus her, entsprechend dem VII. Briefe, oben S. 316). Das vierte ist menschliche Erkenntnis, Kunst, richtige Meinung. Das fünfte ist die schmerzlose reine Lust (66). Zum höchsten menschlichen Gut, zum schönen Leben müssen die beiden letzten, aber im Sinne und Maße der drei ersten, miteinander gemischt werden. Piaton selbst tritt, feierlich die Gottheiten anrufend, an den Mischkrug, wie Gott-Schöpfer im Timaios, denn er trägt das Maß in sich, nach dem er mischt, die süße Lust mit klarer Erkenntnis. Zuerst gießt er hinein die wahre Erkenntnis, die auf das Seiende blickt, dann die regelhafte Kunst, wie die Baukunst und die Dichtung. Wer dies höchste Wissen besitzt, darf auch anderes Wissen als unschädlich einlassen. Von den Lüsten werden zugelassen zuerst die reinen und wahren als der Erkenntnis verwandt, dann auch die anderen, wenn sie mit Gesundheit, Besonnenheit und edler Haltung bestehen können und gleichsam als Dienerinnen die Gottheit begleiten. Doch fehlt noch eins. Wahre Erkenntnis und wahre Lust machen den Menschen noch nicht „wirklich", machen ihn nicht „wahr" für andere erkennende Wesen, und Piaton mischt drittens die Wahrheit dazu. Dann darf er sich rühmen, eine unkörperliche Ordnung (Kosmos, Rangordnung), die schön über den beseelten Körper herrscht, geschaffen zu haben (61 B—64 B). 324
Er trägt eine Welt in sich, darum kann er die Rangordnung schaffen, die Menschheit ordnen, das Reich gründen. Zu diesem Zweck muß er die Lust, die Quelle aller staatzersetzenden Selbstsucht auf einen tieferen Rang rücken, aber er veredelt sie zugleich, indem er sie durchaus mit Geist durchdringt. Philebos will in ihr die Göttin Aphrodite erkennen — das verweist ihm Sokrates als Blasphemie. Die Begründung, daß man die Lust, die blinde, unersättliche, staatfeindliche, zu Unrecht Aphrodite nenne, steht im VII.Brief .(335 B). Für Piaton ist Aphrodite wohl die Göttin der Schönheit und Harmonie. Das „Wissen", das Arete bedeutet, greift tief in das Unbewußte, in die Wahrheit, die instinktiv in Lust und Schmerz wirkt. Wenn der „Philebos" für diese echteste Bildung die Theorie gibt, so ist Ordnen und Schaffen, nicht Erkennen auch hier das letzte Ziel. Darum die überraschende Rangordnung, daß im Bereich des Guten selbst der Geist doch an drittunterster Stelle steht. Denn im Geist liegt noch das Streben, das Zweckhafte: der Zweck selbst aber ist das Schöne, das darum an Rang über ihm steht. Alles Zweckhafte in Geist und Leben muß sich erfüllen im Zwecklosen, im Selbstzweck: das ist für den Menschen das schöne Leben. Darüber aber thront noch das, was es hervorbringt: das schöpferische Maß. Das ist die Weltordnung, die in der Seele tragend, Piaton als Ordner des schönen Lebens an den Mischkrug tritt: so kann er nur im Weltschöpfer des Timaios sein eigenes höchstes Urbild schaffen.
XXII. D I E „ G E S E T Z E " Der Religionsgründer Piaton war Stufe um Stufe gestiegen. In seinem Namen hatte Dion gesiegt, und sein Tod, den die Politiker als Mißerfolg Piatons deuten konnten, mußte den Denkenden zeigen, daß von nun an im Platonischen Geiste der beste Teil des griechischen Lebens wirken werde. Es war kein Prometheisches Ringen um den höchsten Rang, aber das Schicksal berief ihn, da kein Ebenbürtiger mit ihm um die Krone streiten konnte. Er durfte Glauben an seine Person fordern, und der Name Retter, Soter begann mehr und mehr den Klang „Heiland" anzunehmen. Diese höchste Stufe blieb der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts die fremdeste. Wie ist Piaton, der Gesetzgeber und Glaubenstifter, zu vereinen mit dem Begriffsgrübler oder Wissenschaftsgründer? Es blieb nur die alte Schablone, in den „Nomoi", nach dem nie verwindbaren Verluste des geliebtesten Dion, die Resignation erstarrenden Greisentums 325
zu sehen. Doch besagt der VII. Brief, daß Piaton nach Dions Tod als der vereinsamte Soter nur höher, prophetenhafter über dem Zeitalter steht und seiner Erhabenheit sich bewußt war. Er hatte erlebt, wie die gleichen menschlichen Lüste und Süchte, die gleichen Torheiten das unersetzliche Erbe vernichteten und das Hellenentum blind und taub dem wirbelnden Trichter zutrieb. Da erschienen ihm die Mitmenschen wie mechanisch bewegte Gliederpuppen, die er als Halbgott weit überragte. Er erkühnt sich zu dem mythischen Bild und Urteil, daß die Menschen nur Marionetten Gottes sind und ihre Angelegenheit eigentlich keines Ernstes würdig. Dies Bild, im I. Buch (644—45) ausgesprochen, wird in der Mitte, im VII.Buch (803—804), wiederholt und tiefer gedeutet: es ist das mythische Symbol, das über den zwölf Büchern steht. Die Menschen seien ein Spielzeug in der Hand Gottes — und das sei noch das Beste an ihnen. Ihre Empfindungen sind ein Gewirr von Schnüren und Drähten, durch das sie dauernd hin und her gezogen werden. Die Drähte sind hart und eisern, nur einer ist weich und von Gold: er ist heilig, denn er ist die menschliche Einsicht und zugleich das Gesetz des Staates. Dieser goldene Draht überträgt den Willen der Gottheit auf den Menschen. Aus diesem Bilde glaubte man das Recht zu entnehmen, die „Nomoi" in den Dämmer greisenhafter Resignation zu versenken. Nie hat Piaton vordem sich erhabener geäußert! Der Spartaner Megillos besänftigt: „So von Grund aus machst du uns das Menschengeschlecht verächtlich, du Fremdling?" und der Athener erwidert: „Wundere dich nicht, Megillos, sondern verzeih mir. Denn auf Gott blickend und solches leidend, sagte ich, was ich gesagt. Sei also unser Geschlecht nicht schlecht, wenn es dir so lieb ist, und doch einigen Eifers wert." Er selber gehört nicht zu den Marionetten, denn Er ist Verwalter des Göttlichen auf Erden. „Der Staat empfängt von einem der Götter oder v o n j e n e m , d e r d i e s e r k e n n t , den Logos und erhebt ihn zum Gesetz" (645 B). Unverkennbar weist er auf sich selbst, auf den göttlich Berufenen, der durch die goldenen Drähte die Menschen wieder mit dem Willen der schöpferischen Gottheit verknüpft. Vergleicht man den VII. Brief, bedenkt man, welche Zurückhaltung Piaton sich der widerwilligen Öffentlichkeit gegenüber auflegen mußte, so könnte man hier zum ersten Male die Anbahnung der Päpstlichen Gewalt, der Vertreterschaft Gottes auf Erden spüren. Piaton versucht, dem Menschentum die neue Form zu geben, indem er den Menschen von seiner Ichsucht befreit, zum Baustein seines gewaltig geplanten Tempels macht. Der Weise, der Gott schaut und ihm dient, kann die menschlichen Ziele nicht ernst nehmen, nämlich d i e Ziele, die nicht von Gott genährt sind, aber er gibt dem Menschenleben heraklitisch den neuen Sinn, schönstes Spielzeug in Gottes Hand zu sein. Mit den goldenen Fäden seines neuen Gesetzes ordnet er sie zu diesem Schönen Leben. Erwerbstätigkeit liegt den freien Bürgern nicht ob, und 326
ihre Kräfte sind frei für die schönste Bildung von Seele und Leib. Mit Opfern, Gesängen, Tänzen, Festen ist der Gottesdienst reich aufgebaut, und fast jeder Tag ist für einen der zwölf Bezirke Feiertag, denn in der Gottesfeier erkennt Piaton den Sinn des Lebens. Er will die Schöpfung der heiligen Kunst nicht ins Einzelne ausführen, aber er gibt den Jünglingen die homerischen Verse auf den Weg, die doch ein Vertrauen zum Menschen bekunden: „Telemach, manches wirst du ersinnen im eigenen Herzen, Manches wird dir der Daimon verleihen: Glaub ich doch niemals Dich ohne Willen der Götter geboren oder erwachsen." Hier setzt begreiflicherweise das Mißtrauen der Gelehrten ein: „Katholische Reaktion gegen Fortschritt der Wissenschaft? Wirklich kann man die „Gesetze" nicht ohne die Spannung lesen, wie der Rangstreit zwischen Religion und Wissenschaft entschieden wird . . . Die Theorie des „Philebos" wird nun in ihrer lebendigen Bedeutung verständlich. Der Mensch trachtet nach Lust, und es ist Aufgabe der Erziehung, diese Lust zutiefst im Instinkt zu verwurzeln, für immer, in der bildsamen Kindheit, an die Freude am Guten zu binden. Die eisernen Drähte müssen die Marionetten gleichsinnig mit den goldenen bewegen, sonst ist Harmonie und Schönheit im Leben nicht möglich. Nur der Philosoph wird unmittelbar durch Einsicht schön, alles Volk kann nur durch richtige Formung der Lust schön werden. „Von diesen in der Erziehung richtig gebildeten Lüsten und Schmerzen erschlafft vieles bei den Menschen während des Lebens und wird vernichtet. Die Götter aber erbarmten sich des von Natur mit Mühsal beladenen Menschengeschlechtes, und als Rast von ihren Mühen ordneten sie ihm die Folgen der wechselnden Götterfeste und gaben ihnen die Musen und den Musenführer Apollon und Dionysos zu Genossen der Feiern, um ihre Bildung, belebt auf diesen Götter-Festen, wieder aufzurichten" (635 C). Diese Feiern erfüllen sich in Gesang und Tanz der Chöre. Solche Feiern entsprechen dem Lebenstrieb aller Kreatur: schon die Jungen aller Tiere und die Kinder suchen in dauernder Bewegung und in Tönen ihre Lust auszudrücken und sie zu erhöhen, aber nur dem Menschen ist es gegeben, weil Götter seine Feste leiten, diesen Trieb durch Rhythmus und Harmonie zur Schönheit zu gestalten. In Gesang und Tanz, im sicheren Geschmack, in der Freude am Schönen, in Abscheu vor dem Häßlichen bewährt sich die höchste Bildung. Tanzweisen und Gesangweisen — nomoi, gleichen Namens wie die Gesetze selbst — in heilig-ewige Formen zu bringen, in sie den Ausdruck höchster Vollkommenheit zu prägen, ist Sinn dieses Platonischen Gottesstaates. Gesang und Tanz als leibliche Einheit, Ausdruck menschlicher Lust und heiliger Gottesfeier — hier einigt sich im ewigen Gedanken 327
die leibhafte Lust des Hellenentums mit der Heiligkeit des christlichen Mittelalters: „Der Christ im Tanz!" . . . Die „Nomoi" sind mehr als die Gesetze, sie sind in den Prooimien erweckende, lockende, warnende Reden, die im neuen Glauben, nicht im Buchstaben der Vorschrift, das neue Leben gründen wollen. Dieser Aufgabe dient im besonderen das X. Buch. Piaton gesteht den Gottesleugnern zu, daß sie sich auf Dichter, Redner, Wahrsager, Priester und tausend andere berufen können, denn die große Mehrzahl sei nicht darauf bedacht, kein Unrecht zu tun, sondern nur, dessen üble Folgen zu meiden (885 D). Aber nicht weniger verderblich ist die Entartung des Glaubens zumal im orphischen Mysterienkulte, der mit religiöser Technik die gerechte Strafe auszuschalten verspricht . . . Piatons höchstes Erleben, in dem er, ohne irdischen Erfolges, ohne anderer Lust zu bedürfen, die Eudaimonie fand, mußte sein eigenstes Geheimnis bleiben. Aber es liegt im Wesen dieser Idee als schöpferischer Weltkraft, daß sie sich der Welt des Stoffes einprägen, daß sie geistiger Staat, politischer Staat werden will. Das Volk kann durch die von Piaton erlebte Schau nicht unmittelbar gestaltet werden, sie muß in volkstümliche Anschauungen und religiöse Kulte übertragen werden. Da war der große Feind dieser weitdurchdringenden Idee das grobstoffliche Denken der Zeit, dem in der Philosophie der Mechanismus, die Vorstellung, daß die Atome ausschließlich nach mechanischen Gesetzen sich bewegen, entspricht (886). Das bedeutet im Volksgeist Herabwürdigung der Seele, Leugnung der Götter. Entgötterung der Welt ist Untergang des Schönen Lebens. Piaton wirft sich mit Geist und Seele, unterrichtend und pathetisch dieser Entartung entgegen. Ergriffen vom Zorn über die seelenlose Aufklärung bändigt er sich doch zur milden Mahnrede an die verführte Jugend. Sie sage sich los von den frommen Sagen, die sie mit der Muttermilch eingesogen habe, von frohen und ernsten Gesängen, von heiligen Opferriten und Gebeten, die zu schauen und zu hören f ü r den Jüngling das Süßeste sei, von den Eltern, die für das Heil der Kinder zu den Göttern flehen, von Hellenen und Barbaren, die Sonne und Mond kniefällig verehren. E r beschwört die Jünglinge, sich noch ihres Urteils zu enthalten, denn er kenne keinen, der die Leugnung der Gottheit bis ins Greisenalter festgehalten habe. Piaton verfolgt den Unglauben philosophisch bis in seine Wurzeln (888—899 D). Diese Untersuchung, die sich auf den Begriff „Natur" gründet, ist f ü r uns heute wesentlich, denn Piaton setzt sich mit der gleichen Entartung des Begriffes „Natur" auseinander, die auch heute das Denken verwirrt. Aus diesem Grunde wird die Stelle meist verkannt und als Kampf gegen die „Naturphilosophie" (ein durchaus irreführender Begriff!) gedeutet. Davor hätte der Satz des Thaies am Schlüsse der Rede schützen sollen. Piaton scheidet zwei Begriffe der 328
Natur und damit zwei Weltanschauungen. Die eine (man könnte sie „Naturalismus" nennen) verehrt die „Natur" als das Grundprinzip der Welt, sieht in ihr aber das Ungeistige, Seelenlose, Mechanische. Ihr Begriff „Natur" klärt sich durch den Gegensatz „Kunst". Kunst ist ihr Menschenwerk, ist bloße Nachahmung der Natur. Auch die Staatsgesetze sind künstlich geschaffen und haben daher neben dem Wirken der Natur keine Geltung: das ist der große Gegensatz Physis und Nomos (oder Thesis), auf den sich die aufklärerische Sophistik gründet. Auch die Vorstellungen von Göttern sind nur künstliche Gebilde des Menschengeistes. — Das ist der mörderische Schnitt durch alles Lebendige: alles menschliche schöpferische Werk wird von seinem Boden, der Natur, abgespalten, und alle „Natur" wird unschöpferisch, mechanisch. Diese Gesinnung zerstört das staatliche Gesetz, die Religion, zerstört das Gefüge der Gemeinschaft, die Kultur: sie selber ist die Entgötterung der Welt. Piaton aber sucht das Heil nicht im Gegensatz, nicht im „Idealismus", der die Natur verachtet oder doch erniedrigt. Er preist nicht das Subjekt des reinen Denkens, nicht den rigorosen moralischen Willen, der sich vom natürlichen Leben ablöst, nicht den romantischen Überschwang, der sich über die mechanischen Naturgesetze hinwegschwingt: ihm ist die Weltkraft als Einheit gegeben, und er verwirft die Trennung von Geist und Natur und jeden verblasenen Idealismus. Sein ist die Lehre, daß die Seele, nicht der denkende Geist, sondern die fühlende, wollende, bewegende Seele die schöpferische Weltkraft und darum die wahre Natur ist. Das ist die Lehre, die durch christliche Askese und Jenseitshoffnung geschwächt wurde, der aber Herder, Goethe, Hölderlin in sicherem Lebensgefühl folgten. Piaton lehnt mit klaren Worten jenen Demokritischen Naturbegriff ab, der von der Natur Geist und Schöpferwillen ausschließt und in d i e s e m Sinne nur Zufall, Tyche, in ihr anerkennt. (Demokrits Zufall schließt den Sinn, nicht das mechanische Gesetz aus.) Natur ist Weltgeist und Weltseele, „Vorstellungen, Pläne, Geist, Kunst, Gesetz sind früher als Hart, Weich, Schwer, Leicht" (892 B). Wenn die Seele, nicht Luft und Feuer das Erste ist, dann muß „vor allem die Seele von Natur aus sein" (892 B). Beide Sätze vereint heben die Physis-Nomos-Lehre auf. Die Seelenlehre des „Phaidros", die an die alte „Naturphilosophie" anknüpfte, wird jetzt ausgeführt und erläutert, damit auch die Nichtphilosophen, an die das Werk sich wendet, ihren Sinn begreifen. Diese Stelle bestätigt unsere Auffassung von Piatons Gesamtwerk. Sein leitender Gedanke ist nicht, wie es den Systematikern erscheinen muß, die logische Begründung einer Ideenlehre . . . ist nicht, wie es den Christen scheinen muß, die Lehre einer vom Leib unabhängigen Seele: sein Leitgedanke bleibt die Anerkennung und Erhöhung der Seele als Herrscherin über die leibliche Welt, als Schöpferin des schö329
nen Lebens, und jene beiden Gedanken sind nur Stützpunkte dieser Macht. Die Idee des Guten ist die mythische Norm, ohne die alles Geschehen sinnlos wäre, und die Ewigkeit hebt die Seele über den vergänglichen Körper, ohne sie aus dem leiblich-sinnlichen Leben zu lösen. Die Seele ist die ordnende Kraft des Himmels, das Erste an Entstehung, das Erste an Kraft. Der beseelte Leib bewegt sich selbst, also kann nur die Seele das Urprinzip aller Bewegung sein (894 E). „Die Seele ist gleich mit dem ersten Werden und der Bewegung alles dessen, was ist und war und sein wird, und wieder aller Gegensätze davon, da sie sich gezeigt hat als Ursache aller Veränderung und Bewegung" (896 A). So unbedingt erkennt er diese Macht an, daß er sie als Ursache wie des Guten und Schönen, so auch des Häßlichen bezeichnet und sich darum bewogen fühlt, eine zweite, eine böse Weltseele anzunehmen (896 DE). Wer von der Gesamt-Philosophie eine „Naturphilosophie" sondert, ist nicht Platoniker. Für Piaton ist die Idee des Guten das Herz der Natur, er vollendet die „Naturphilosophie", die in ihrer Entartung, nicht durch ihr Wesen gottlos geworden war, und darf mit Genugtuung am Schluß seiner Rede den Kreis zum Anfang aller Philosophie zurückbiegen mit dem Satz des „Naturphilosophen" Thaies: „das All ist voll von Göttern" (899 B). Aber dieser philosophische Götterglaube kann nicht den Staat gründen, und Piaton will die Nichtweisen durch Erwartung von Lohn und Strafe zu Gliedern des Staates formen. Doch widerspricht dieser Lehre der Augenschein: im Weltlauf unterliegen oft die Guten, siegen die Frevler. Daher entsteht in Piatons Geist das katholische Weltbild, bei dessen Schau wir unsere Ungewißheit bekennen, wie weit Piaton es für bewiesene Wahrheit hielt, wie weit er es mit bewußter Absicht als rettendes Dogma schuf. In den „Gesetzen" begründet er die Lehre, daß die Götter nicht nur sind, sondern auch die Leitung der menschlichen Angelegenheiten in der Hand behalten (899 D—905 D). Dieser Gedanke, auf dem die Wirksamkeit der Gesetze, die Möglichkeit der Theokratie gegründet wird, läuft in eine große, pathetisch gesteigerte Mahnrede an die Jünglinge aus. „Wir wollen den Jüngling durch Reden überzeugen, daß durch den Sorger des Alls alles zum Heil und zur Arete des Ganzen geordnet ist, so daß nach Möglichkeit jeder einzelne Teil leidet und tut, was ihm zukommt . . . Eines dieser Teilchen, das sich auf das Ganze bezieht, bist auch du, Verwegener, wenn auch ein winziges Teilchen. Dir aber blieb verborgen, daß alles Werden nur um jenes willen geschieht, damit dem Leben des Alls ein glückhaftes Leben gewährt sei, das nicht um deinetwillen entsteht, du aber um seinetwillen . . . Du aber wirst unwillig, weil du unwissend bist, wie das für dich Beste zusammengeht mit dem Ganzen und mit dir, gemäß der Kraft des gemeinsamen Werdens. Da aber die Seele immer an einen 330
Leib gebunden ist, wechselnd an diesen oder einen anderen, und sich, sei es von selbst, sei es durch eine andere Seele immer von neuem wandelt, so bleibt dem BRETTSPIELER kein anderes Mittel, als das sich bessernde Wesen an den besseren Ort, das schlechtere an den schlechteren zu rücken, jedes wie es verdient, damit es das ihm gebührende Los empfange!" (903 CD). Welcher Wandel der Person! Der junge Piaton auf der harten Jagd nach schönen Jünglingen, jetzt der Weltenrichter, vor dem die Menschen im großen kosmischen Geschehen, das er glühend durchschaut, sich als Teilchen bewegen. Nicht ohne Schauer ahnt man etwas von einer Vertraulichkeit, in der der Übermensch mit Heraklitischem Bilde den Weltenlenker schlicht als den „Brettspieler" bezeichnet. (Man denkt an Leibniz und Goethe, an Oidipus auf Kolonos.) Den Widerspruch zwischen der Allmacht Gottes und der Unvollkommenheit seines Werkes, des Menschen, klärt Piaton dahin auf, daß jener, der Basileus, jedem Ding seinen Platz im Kosmos anweist, aber der menschlichen Seele die freie Entscheidung über ihren Charakter überläßt. Was im X. Buch des „Staates" im großen Mythos dargestellt wurde, das wird im X. der „Gesetze" kurz als Erfahrung begründet: Die Charakterbildung des Menschen vollzieht sich meist so, wie es dem eigentlichen Wollen seiner Seele entspricht. Die Seele trägt die Ursache ihrer Veränderung in sich selbst, aus dieser aber folgen Lohn und Strafe nach dem Tode, worauf schon die Angst ihrer Träume sie vorbereitet. „Also will es die Satzung der Götter, die den Olympos bewohnen! — Du Knabe und Jüngling, der du wähnst, von Göttern vergessen zu sein: wer schlechter wird, muß zu den schlechteren, wer besser wird, zu den besseren Seelen und muß im Leben und in allen Toden das leiden und tun, was nach dem Fug Ähnliche dem Ähnlichen antun. Weder du wirst jemals, weder irgendein anderer sich außerhalb dieses Götterrechtes stellen, welches jene Gründer über alle anderen Rechte gesetzt haben und das man mit höchster Scheu beachten muß. Denn niemals wird es deiner vergessen. Niemals wirst du, noch so winzig, in die Tiefe der Erde tauchen können, noch wirst du jemals so hoch zum Himmel aufstreben: büßen wirst du ihnen die geschuldete Buße, sei es noch hier verweilend, sei es nachdem du in den Hades gewandert, sei es verbannt bist in noch grausigeren Ort" (994—905 A). (So fügt Piaton die Seele in das katholische Weltbild ein, aber den Weg zur katholischen Kirchenmacht bahnt er nicht. Die Götter richten die Seele nach dem, was sie ist, was sie wollte, was sie tat, und es gibt keinerlei kirchliche Macht und Kunst, den Willen der Götter zu beeinflussen und den Frevel magisch zu sühnen. Trotz notwendiger Strenge vermeidet Piaton, die Ängste vor der Sterbestunde zu schüren, wie er auch die Jenseitshoffnung nicht anreizt. Strafe soll bessern, aber niemals soll der Lebensinhalt die seelische Buße werden. Der Sinn seiner Erziehung ist die Schönheit leibhaften Lebens, kein Jenseitstraum.) 331
Die Platonische Staatsreligion lehnt die Beeinflussung der Götter ab. Privatheiligtümer und -mysterien zu gründen ist streng verboten und kann mit dem Tode bestraft werden. Audi die verängsteten Frauen, die durch Träume und Gesichte getrieben, überall Altäre und fromme Heiligtümer stiften wollen, werden durch das Gesetz bedroht. Schwerste Strafe aber trifft die Zauberer, welche die Seelen der Toten wieder erscheinen lassen und durch Zaubersprüche und Gebete die Götter gnädig zu stimmen verheißen: sie werden hingerichtet und ihr Leichnam über die Grenze geworfen (909 B—910). Die Gottesleugner finden eine Behandlung, die das Entsetzen liberaler Gemüter erregt: sie werden für fünf Jahre in eine Besserungsanstalt gesperrt, in der sie nur den Besuch von Mitgliedern der „nächtlichen Versammlung", der obersten Behörde, empfangen. Werden sie in dieser Zeit zum Glauben bekehrt, so erhalten sie die Freiheit wieder, im anderen Falle werden sie hingerichtet. Auf ihre Kinder aber fällt kein Schatten: der Staat soll sie aufs sorgsamste aufziehen (909). Mancher will hier den Geist mittelalterlicher Inquisition, die Einrichtung des Zuchthauses finden, während es sich in Wahrheit um eine Milderung des geltenden — allerdings wohl selten noch angewandten — Gesetzes handelt. Anaxagoras und Protagoras wurden verurteilt, Sokrates hingerichtet, weil sie an die volkstümlichen Götter nicht glaubten! Diese dogmatische Enge verwirft Piaton: nur wer die Gottheit und ihre Wirkung überhaupt leugnet oder sich der Zauberei bedient, wird schwer bestraft. Auch wird der Ungläubige nicht sogleich getötet, sondern erlesene Geister bemühen sich um seine Heilung. Das ist geistige Läuterung der Religion, und größere Milde würde den Glauben zur Privatangelegenheit machen und dem Gottesstaate widersprechen. Piaton selbst hat die Entwicklung seiner Staatsidee gewertet: er sagt unverhohlen, daß die Nomoi den Verzicht auf die höchste Idee der Politeia bedeuten, weil sie einen Staat vorbereiten wollen, der in der Gegenwart verwirklicht werden kann. Die Politeia kann gegründet und verwaltet werden nur durch Götter oder Göttersöhne! Das sind die Philosophenkönige (739 D). Diese Politeia nähert sich (in entgegengesetzter Weltzeit) dem Kronos-Staat, sofern sie vom göttlich-menschlichen Gesetz durchdrungen wird (713 C—E, vgl. „Politikos"). Wenn aber weder Gott noch Göttersöhne in Person herrschen, dann muß das Gesetz geschaffen werden, das ihren Geist nach Möglichkeit bewahrt. Piaton läßt im Geiste wie Kronos, weil die Zeit drängt, das Steuer der Regierung fahren und setzt an die Stelle seiner Person das heilige Gesetz. Mit Bewußtsein leitet er das neue Weltalter ein: Vorbei ist das homerische Alter einer triebsicheren, schöpferischen Schönheit, und nur der Weise kann den Ausweg finden — aber auch als der schöpferische Weise kann er nicht mehr an die Spitze treten, sondern er muß das feste, heilige Gesetz hinterlassen. Das mag man Resignation nennen, 332
aber es ist nicht greisenhafte Müdigkeit, sondern die männliche Resignation, die den Jugendtraum beschränkt, um ihn zu verleiblichen. Piaton erinnert an die Politeia, in welcher der ganze Adel gleichsam zu einer leibhaften Person zusammenwuchs. Darauf, auf Güter- und Weibergemeinschaft, verzichtet er nun: die Bürger der Nomoi besitzen ein Landgut und Familie. Die fortschrittliche Zersetzung muß auf anderem Wege ausgeschlossen werden. Das Land wird aufgeteilt in 5040 Güter, von denen jeder Bürger eins besitzt, das er nicht verkaufen, verkleinern oder vergrößern darf. Das ist die feste Grundlage des Staates. Während moderne Staatsmänner fragen, wie in gegebener Volksmenge jeder Einzelne befriedigt werde, fragt Piaton, wieviel Bürger der Staat braucht und welche Gesetze seine Erhaltung sichern. Dennoch bleibt der Sinn des Staates der schöne und tüchtige leibhafte Mensch, nur daß es dabei auf das Einzelleben nicht ankommt, wenn nur das Leben selbst heil bewahrt wird. Darum muß selbst die Zahl der Bürger erhalten bleiben. Damit sie nicht abnimmt, werden alle zur Ehe gezwungen. Nimmt sie überhand, so werden Kolonien ausgesandt, was dem durch Einheit und Kriegstüchtigkeit mächtigen Staat niemand wehrt. Von aller Erwerbsarbeit, welche die Schönheit des Leibes und der Seele nicht fördert, ist der Bürger frei, und der Acker wird von Sklaven bestellt. Aber der Bequemlichkeit müssen die Bürger trotzdem entsagen. Sie überwachen die Arbeit und erheben sich morgens zuerst, da es Schande wäre, sich von den Knechten wecken zu lassen. Leibesübungen und soldatischer Dienst nehmen einen großen Teil des Lebens ein. Piaton ist offenbar der erste, der kriegsähnliche Übungen im Gelände verlangt: er erwartet nämlich nichts als Spott auf seine Forderung, der Krieg solle möglichst genau nachgeahmt werden, auch wenn manche Krieger dabei getötet würden. Die geistige Erziehung entspricht in den Grundzügen der in der „politeia", doch wird kaum von der philosophischen Erziehung gesprochen. Viel Raum nehmen vor allem die religiösen Feste in Anspruch, weil in ihnen sich der Sinn des Lebens erfüllt. Der Staat und die Stadt sind in zwölf Phylen eingeteilt. Im Mittelpunkt der Stadt liegen die Tempel und öffentlichen Gebäude, von denen symmetrisch die zwölf Stadtteile ausstrahlen. Jede Phyle hat eigene Götter und Heroen, und nicht nur die hellenischen, sondern auch die von früher an der Landschaft haftenden Gottheiten werden weiter verehrt. So feiert jede Phyle ihre eigenen Feste, aber auch Feste, an denen sich die anderen Phylen beteiligen. Daher hat jeder Tag in der Stadt seine Feier. Neben der Güterverwaltung der Vollbürger wird auch das Handwerk geehrt, wie ja auch jene Bürger ein Handwerk treiben: das Kriegshandwerk. Geringschätzig wird aber der Händler behandelt, der nur Beisasse, niemals Bürger ist, denn in Habsucht und Liebe zum Geld beruhe das Verderben der Staaten. Wertgeld gibt es nur im Verkehr mit anderen Staaten, während die Bürger nur wertloses Eisen333
geld haben. Jeder Bürger muß soviel besitzen, als zur Bestellung seines. Gutes unentbehrlich ist, er darf aber, wie es scheint, höchstens das Vierfache an Vermögen besitzen. Danach wird das Volk in vier Steuerklassen geteilt und das größere Vermögen mit erhöhten Pflichten und Rechten verknüpft. Doch bleibt auch in diesem Staat das Recht der Familie nicht unbeschränkt: ebenso die Frauen wie die Männer werden zu gemeinschaftlichen Mahlzeiten gezwungen. Auch die Frauen werden gymnastisch ausgebildet und in den Waffen so weit, daß sie in der Not die Stadt verteidigen können. Wie fremd ist Piaton der Geist der Utopie. In der Politeia war er Kämpfer um die gegenwärtige Macht — jetzt, da der Verfall fortgeschritten ist, greift er auf die Wurzel der Nation zurück, so daß seine Betrachtung, was ihm sonst so fern liegt, als eine historische erscheint. Welche staatlichen Kräfte des Hellenentums haben sich am besten bewährt? Im schlimmsten Verhängnis des Peloponnesischen Krieges das Sparta Lykurgs mit seiner kriegerischen Kultur. Darum ist einer der drei Unterredner, der Greis Megillos, Spartaner. Aber in den letzten Jahrzehnten hat auch Sparta versagt. Darum greift Piaton weiter zurück auf die hellenische Urgesetzgebung, das Minoische Kreta, das den Aufstieg der hellenischen Kultur nicht mitgemacht, aber urtümliche Kräfte eines staatlichen Lebens bewahrt hat. Auf Kreta, an der Stelle des verlassenen Magnesia soll die neue Stadt gegründet werden, und Kleinias, der greise Bürger aus Knosos, ist beauftragt, ihr die Verfassung zu geben. Megillos und sein Gastfreund, der namenlose Athener, Piatons Schatten, sind bereit, ihm mit Rat beizustehen. Alsbald erweist sich, daß der greise Athener der Lehrende, die beiden anderen die Lernenden sind. Das altertümliche Gesetz von Kreta und Sparta hat in sich nicht die Kraft der Erneuung: nur im Geist Athens ruht die Kraft der Verjüngung. Piaton läßt den Spartaner sagen, daß die Athener, wenn sie einmal tüchtig sind, es auch in hervorragendem Maße sind. „Denn sie allein sind ohne Zwang, durch die eigene Anlage und göttliche Schickung wahrhaft und ungekünstelt tüchtig" (642C, dazu 969C). Die dorischen Stämme haben noch Instinkt und Tradition, Athen allein — Piaton meint, da auch Athen für ihn der Vergangenheit angehört, die Akademie — birgt schöpferischen Geist. Die Tapferkeit, zu der Kreta und Sparta den Menschen erziehen, muß Piaton ergänzen durch das Gleichgewicht der geistigen Bildung. Wie man Tapferkeit erzieht, indem man den Mann Gefahren aussetzt, muß man Besonnenheit erziehen, indem man zeitweise seine Leidenschaft reizt: die ungefährlichste Probe dafür sei der Wein. Piaton sah in Sizilien verderbliche Schwelgerei, aber er bekämpft sie nicht durch Enthaltsamkeit: nicht asketische Strenge ist der Platonische Weg, sondern das schöne Maß. Zwar bleibt bis zum 18. Lebensjahr das Weinverbot des dorischen Gesetzes bestehen. Bis zum 30. oder 40. Lebensjahr wird die Mäßigkeit im Genüsse streng überwacht, und erst im späteren Alter soll Dionysos die Festfreude im 334
freieren Maße erhöhen. Die zunehmende Starre des höheren Alters soll durch den Wein geschmeidigt werden. Aber solche Symposien sind als staatliche Feiern geordnet, von ehrwürdigen Greisen in dem Geiste geleitet, der die Freundschaft der Männer vertieft (I. Buch). Dies Lob der Symposien befremdet die Moralisten, die nicht verstehen, daß Piaton durch diese überraschende Einzelheit ins Geheimnis der Erziehung und Zucht, in die Verschmelzung der Gegensätze f ü h r t . . . Der Mensch trachtet nach Lust, und der Erzieher muß diese Lust knüpfen an das Bild der neuen Norm. Diese magische Kunst, die geheimsten undeutbaren Gefühle mit dem geistigen Bilde zu verweben, ist die Dichtung, das Lied. Um jenes Bild zu f i n d e n bedurfte es der Lust des Forschens und Erkennens bis zu jener mythischen Schau. Aber um die Menschen in der Rangordnung dieser Schau zum Volk zu g e s t a l t e n , bedarf es weiter der Lust am Schönen, der Lebensfeier. Das Bild ist im früheren Werke gefunden — jetzt gilt es die Gestaltung des Volkes. Darum ist mehr von Feier und Dichtung als vom philosophischen Suchen die Rede. Das haben die wissenschaftlichen Kritiker als bloße Resignation gedeutet, denn der Gedanke, Piatons Sendung könne eine andere als die reinwissenschaftliche sein, kam ihnen nicht. Aber es geschah etwas Merkwürdiges: das Wesen der Dichtung deuteten jene Kritiker nur nach den literarischen Dogmen ihrer Zeit, so daß sie Piaton nicht wegen seiner Unterschätzung der Wissenschaft vor ihr Gericht zogen, sondern wegen seiner angeblichen Feindschaft gegen die Dichtung! Deren Wesen findet Piaton in der Darstellung des Schönen (668 A). Wenn aber als Merkmal der Schönheit die Lust anerkannt wird, muß dann nicht die Kunst entarten in alle Reizungen der Mode und niederen Begierde? Wie die Erkenntnis, so zerfällt die Kunst unter der Herrschaft des Individualismus und Relativismus, der im Protagoreischen „Der (jeder) Mensch das Maß aller Dinge" seinen Ausdruck fand. Für Piaton ist die Schönheit innig verwandt der Idee des agathon, weil er das wahre Maß in sich selber trug. Wieder ist es f ü r sein Denken bezeichnend, daß er nicht versucht, das Maß des Schönen in rationaler Lehre auszudrücken. Er selber erkennt die Lust als Kennzeichen des Schönen, als Sinn der Kunst an! Wie aber wäre eine staatliche Feier möglich, wenn der Lust aller Einzelnen das Urteil über die Kunst überlassen bliebe? Dann stimmen die Kinder für das Spiel der Gaukler, größere Knaben für Komödie, Jünglinge und gebildete Frauen für Tragödie, während alte Männer am liebsten die DichtungenHomers und Hesiods vortragen hören. Die Erziehung zur echten Lust ist, worauf der „Philebos" vorbereitet, die große Aufgabe des Staatsmannes, wogegen der Staat zerfällt, wenn das Urteil der Menge regiert. Es ist ja nicht so, daß die Lust unbildsamer Begleitton des wirklichen Geschehens ist: sie selbst ist bildsame Wirklichkeit. Ein Gottgesandter muß kommen, um die Schönheit der Dinge und Werke aus eigener Seele zu erkennen — aber 335
dann kann er Hunderten die verklebten Augen öffnen, die hohe Lust erwecken. Erziehung der Lust ist nur möglich, wenn auch in ihr Maß und Norm anerkannt wird: „Jene Muse soll die schönste sein, welche die Lust der Besten und zulänglich Gebildeten erweckt..." Kein Zweifel, daß Piaton das höchste Schiedsrichteramt beansprucht, wenn er fortfahrend an die Stelle jener Besten setzt „den Einen, der durch Arete und Bildung ausgezeichnet ist". Nur aus der gesamten Seele wächst der Staat: wie vorher neben die Tapferkeit die Besonnenheit treten mußte, so bedarf umgekehrt der Schiedsrichter neben der Einsicht der Tapferkeit, um sein Urteil gegen den Sturm der ungebildeten Masse im Theater durchzusetzen (658, 659). Die üble Theatrokratie, die sich durch Ausartung der demokratischen Freiheit zu einer wahren Unverschämtheit entwickelt habe, wird später durch ausführliche Gesetzgebung unterdrückt (700, 701). Freude und Trauer der Kinder muß mit dem Gesetz in Einklang gebracht werden. Das Mittel dazu sind Spiel, Gesang, Tanz, die darum allein den edlen Menschen darstellen dürfen. So geschieht es wirklich noch auf Kreta und in Sparta, während im übrigen Hellas Tanz und Liedweise sich unaufhörlich wandeln, nicht auf Grund eines inneren Gesetzes, vielmehr getrieben durch „verworrene Lüste" (659 D—660 B). Wie ein Mensch, der mit unedlen Menschen verkehrt, sie verachtend, aber sich mit ihnen vergnügend, durch diesen Umgang auf die Dauer unvermeidlich ihnen ähnlich wird, so wird die Seele im Verkehr mit der Kunst verwandelt, wenn diese unedles Menschentum darstellt (656 B). Das ist die ungeheure Verantwortung der Dichtung für das ganze Volk, und die Wächter müssen sorgen, daß die Kunst mit dem Lebensgesetz, mit der Seele des Staates in Einklang bleibt. Die Dichtung steht unter strenger Aufsicht. . . Da fühlen sich moderne Kritiker überlegen: wie darf man die freie Kunst unter das Gesetz stellen! In der Tat nur möglich, wenn der Weise regiert! Jene Kritiker merkten nicht, daß sie nur das Empfinden einer kunstlosen und gesetzlosen Zeit ausdrückten, daß sie eine entartete Literatur verteidigten gegen das Gesetz höchster Kunst, die Macht werden will. Wenn Kunst als Lebensgesetz sich der Vollendung nähert und Religion wird, dann fällt als bloße Literatur alles von ihr ab, was sich diesem Gesetz nicht fügt. Nur solche Kunst ist wahrhaft schöpferisch, ist großer Stil. Die Forderung des großen Stiles ist hier zum ersten Male mit weltgeschichtlichem Bewußtsein ausgesprochen. Piaton sieht den Verfall des griechischen Lebensstiles, als künstlerische Technik und Geschmack noch auf der Höhe sind: darum die große Forderung nach unvergänglichem Stil. Er sieht, daß im Gegensatz zu Hellas der uralte Stil Ägyptens unversehrt ist. „Ein Wunder, nur davon zu hören! In uralter Zeit wurde bei den Ägyptern, wie es scheint, diese Lehre erkannt, die wir eben aussprachen, daß an schöne Haltung, an schöne Lieder die Jünglinge in 336
den Staaten gewöhnt werden müssen. So ordneten sie an und verkündeten das Was und Wie in den Tempeln, und keinem Maler oder anderem Künstler, der Gestalten und dergleichen darstellt, stand es frei, zu neuern oder anderes als das Vaterländische auszudenken, und steht ihm auch jetzt nicht frei, weder in solchen Künsten noch in der gesamten musischen. Wenn du sie siehst, wirst du finden, daß doch die vor 10 000 Jahren, in buchstäblichem Sinne gemeint, gemalten oder gemeißelten Werke weder schöner noch häßlicher als die jetzt hergestellten sind, sondern im gleichen Stil (Techne) vollendet" (656 DE). Diese Bannung des Stiles ist, wovor eine ihrer selbst unsichere Gesellschaft, die nicht die Kraft zum neuen Gesetze fühlt, sich ängstigt. Wo das Schöpferische erlahmt, da argwöhnt man im Gesetz den Tod und sucht durch hastigen Wechsel der Mode das Lebendige vorzutäuschen. Schwerlich hat Ägyptens Ewigkeitsstil seine schöpferische Kunst gelähmt. Abgesehen davon lehnt Piaton ausdrücklich ab, Ägypten als Vorbild anzusehen, denkt auch bei Ägypten mehr an die bildende Kunst, beim künftigen Hellas mehr an die Dichtung — nur darin ist Ägypten Vorbild, daß es Willen und Kraft in sich hatte, unbedingt großen Stil zu schaffen. Piaton, der gegenüber kretischer und spartanischer Enthaltsamkeit die Anerkennung des Weines verlangt, um die Starre der älteren Männer zu schmeidigen, hat niemals einen starren Stil gefordert: er fordert den großen Stil als Ausdruck des neuen Lebensgesetzes, der Volkheit. Um so mehr lehnt er die verworrene Menge ab, die im Bedürfnis nach immer neuen Modereizen die musische Kunst von der Dichtung ablöst, zur „Musik" treibt und die alten heiligen Chorgesänge als altmodisch geringschätzt (657 B. 669D). Nirgends unterdrückt Piaton schöpferische Dichtung, wenn sie großen Stil hat und das Gesetz der Natur ausdrückt. Homer ist ihm (neben Hesiod) der Dichter, der höchstem Geschmack und höchster Bildung genug tut. Aber er beschränkt sich nicht auf das alte Muster, denn seine eigenen Proömien in den „Nomoi", die erweckenden Reden, sieht er als Vorform dieser gesetzmäßigen vaterländischen Dichtung an (811 C). Den Tragikern, die der Stadt nahen, sagt er ein Wort, das nur der heilige Realist wagen kann: „Ihr edelsten der Fremdlinge! Wir selber sind Dichter des Feierspieles, des schönsten und besten zugleich, das möglich. Unser gesamter Staat besteht als Nachahmung des schönsten und besten Lebens, und wir behaupten, er sei wirklich das wahrhafteste Feierspiel. Dichter seid ihr, Dichter sind auch wir im gleichen Werke, eure Nebenbuhler und Wettkämpfer um das schönste Drama, welches zu vollenden das wahre Gesetz allein befähigt ist, wie es unsere Hoffnung ist." Darum müssen jene „Söhne weicher Musen" zuerst ihre Werke vorweisen, und nur, wenn sie hinter denen des Staatgründers nicht zurückstehen, werden sie zugelassen. (817 B—D) In keinem andern Worte tritt Piatons Wesen so deutlich an den Tag: Schöpfung der Dichtung und Schöpfung des Staates sind ihm Eins! Die 22 Hildebrandt, Piaton
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Politeia ist das wahre Feierspiel — aber das Volk will es nicht aufführen! Er läßt sich von individuellem Geschmack so wenig leiten wie von abstrakter Theorie: er handelt aus Einsicht in die Weltlage, aus Weisheit. Homer bleibt trotz ethischer Einwände der Dichterfürst, denn das Volk muß den Heldengesang hören. Aber das Theater, das die Jugend und die Frauen stärker anzieht, hat in dieser Weltstunde kein Daseinsrecht, denn diese Selbstdarstellung einer starken und siegreichen Gesellschaft wird zum romantischen verantwortungslosen Spiele im verfallenden Staat. In dieser Zeit überreicher aber sinkender Kultur ist die Mahnrede wichtiger als selbst der beglückende Vers Homers (811 C). Das Volk muß auf eine Dichtung verzichten, auf die es kein Recht mehr hat, bis es wieder gelernt hat, sich nach dem Verse zu sehnen. Nur Blindheit findet in dieser Beugung der Kunst unter das staatbildende Lebensgesetz eine Schädigung. Selbst der große Zerbrecher Nietzsche sah die Vollendung des Künstlers darin, gleichsam in Ketten zu tanzen und das Lebensgesetz der Schönheit und des Guten ist für den Heros, der in der Weltmitte wurzelt, dasselbe. In Piatons Weltschau und Seelenlehre erwuchs die größte Dichtung des christlichen Mittelalters und uns heißt heute nichts Dichtung und Schönheit, was nicht zugleich das neue Gesetz darstellt. Es gibt kein Zurück für Piaton. Wenn die hellenische Volkskraft erlahmte — wie der alsbald von Alexander heraufgeführte Hellenismus eine künstlerische Mischung des Erbes, keine Neuschöpfung aus tiefstem Grunde war — so konnte die Dichtung, die die Erfüllung des Piatonismus war, erst möglich werden, nachdem frisches Blut verwandter Volksstämme eingeströmt war und die katholische Kirche einiges von Platons Traum verwirklicht hatte. Aus solchem Weiterleben, mag es noch so sehr von der Urform abweichen, muß man Platons Schöpfung zu verstehen suchen. Er suchte lebendige Kräfte in den alten Formen der Stämme, aber er will nicht die Gegenwart in archaische Form zurückverwandeln. Er lobt Kretas und Spartas gesetzmäßiges Leben, aber er findet ihren Chorgesang und damit die Erziehung überhaupt zu soldatenmäßig. „Wirklich seid ihr nicht teilhaft geworden des schönsten Gesanges. Ihr habt die Verfassung eines Feldlagers, nicht von Stadtbewohnern, denn wie eine Herde Füllen haltet ihr eure Jünglinge auf der Weide, wo sie ihr Futter suchen. Niemand von euch greift sich eins für sich heraus, wenn es allzu wild und unabhängig ist, gibt ihm einen besonderen Hüter und erzieht es, es streichelnd und zähmend und ihm alles gewährend, was zur Aufzucht gehört." Bei aller Ablehnung des Individualismus verlangt Piaton die persönliche Erziehung für wohl begabte Jünglinge, ohne die einer wohl Soldat, aber nicht Feldherr wird (666 D—667 A). Die vom Kriegszweck bestimmte Knabenliebe Kretas und Spartas lehnt Piaton streng ab, weil er den geistig-schöpferischen Eros fordert (836. Dazu Symposion). Auch darf man sein Schweigen nicht deuten, als ob er die bildende Kunst ablehne. Das zu gründende Magnesia wird nicht arm an Kunst gedacht, denn Fremde, die dorthin 338
kommen, um die Kunstschätze zu sehen, werden gern aufgenommen. Der geistige Austausch mit dem übrigen Griechenland wird gepflegt, wenn auch streng überwacht, und die starre Zurückhaltung Spartas, seine Verachtung fremder Meinung wird verworfen: wie soll sich auch sonst die Nation als Ganzes erneuen. Diese Erneuung kann nur aus der Idee des agathon geschehen, aber diese philosophische Ableitung gehört nicht in die Darstellung der Nomoi. An ihre Stelle tritt ein überaus kühner geschichtlicher Überblick über das Wesen der Herrschaft. Es gibt zwei Hauptformen der Herrschaft: die rein-monarchische und die rein-demokratische. Die besten Verfassungen sind aus beiden gemischt. Unendliche Zeiten bestand das Menschengeschlecht, viele Staaten sind entstanden und wieder vergangen. Was ist die Ursache dieser Vergängnis? Platon stellt das Gesetz auf, daß, wenn ein Königtum oder eine andere Herrschaft vergeht, die Schuld bei den Herrschenden, nicht beim Volke liegt (683 E). Das ist die männlich-schöpferische Geschichtsbetrachtung, der passiv-materialistischen entgegengesetzt . . . Sparta ist vorbildlich, weil sein Königtum gebändigt ist durch seine Zweiteilung, durch den Rat der Alten, durch die Ephoren. Zusammen mit Argos und Messene wäre die dorische Macht gewaltig genug gewesen, um Hellas gegen die ganze Welt zu schützen. Und hier stellt Platon das zweite entscheidende Gesetz auf: der auf reine Macht, auf kriegerische Tüchtigkeit allein gerichtete Staatswille zerstört die Staatsmacht. Nur Weisheit erhält den Staat — sie aber ist nicht Wissen und Können, sondern der schönste Zusammenklang, die Symphonia, verdient den Namen höchster Weisheit (689). Das versahen die anderen dorischen Herrscher, denen kein göttlicher Lykurg erschienen war, und in reiner Machtgier zerstörten sie die Macht (682 E—693 C). Die beiden ungemischten Verfassungen vertreten Persien und das gegenwärtige Athen. Kyros war ein echter König, der in Freundschaft mit seinen Kriegern lebte und dem Volke die gebührende Freiheit gewährte, aber ihm fehlte die philosophische Einsicht: er überließ die Erziehung der Söhne den Weibern im Palaste, die Kambyses zu tyrannischem Übermut erzogen. Ebenso war Dareios echter König, aber vernachlässigte die Erziehung des Xerxes. Seitdem haben die Perser keine großen Könige wieder gehabt (693 C—695 E. 698 A). Das ist die mehrfach auftauchende Schwierigkeit, daß der große Staatsmann, wenn er nicht Philosoph ist, den großen Erben nicht zu erziehen vermag. (Perikles, Dionys I. Dagegen Aristoteles-Alexander. Epaminondas-Philipp?) Piatons Ruhm, in der Antike wenigstens, war es, daß er den geistigen Erben, den heroischen Täter erzogen hatte: Dion. In Argos und Messene keine philosophische Harmonie der Machtverteilung, in Persien keine philosophische Erziehung der Erben — im gegenwärtigen Athen die Unterdrückung des Geistes durch Begierde, der Edlen durch die Masse. Platon zürnt, aber er will versöhnen, nicht aufreizen. 22*
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Es komme nicht an auf Monarchie oder Demokratie, denn beide Verfassungen können, das rechte Maß bewahrend, heilsam sein. Darum zeigt er auch die attische Demokratie in ihrer edlen Form zur Zeit der Perserkriege, aber wie Persiens Königtum zur Despotie, so entartet jene zur Anarchie. Anschaulich äußert sich der die Jugend formende Volksgeist im Theater. Ehemals fügten sich die Massen schweigend den Aufsehern, die mit dem Stabe Ordnung schufen, bis die Richter gesprochen, und die Gesänge folgten den strengen heiligen Weisen. Jetzt reizen die Dichter auf jede Weise die Lust, und der Pöbel beherrscht schamlos mit seinem Toben das Theater. Das ist Piatons Feind, die geistige Anarchie: man achtet nicht mehr auf die Eltern, gehorcht nicht den Gesetzen, bricht die Eide und leugnet die Götter. An diesen chaotischen Mächten, warnt Piaton, werde sich wieder das Strafgericht über die Titanen vollziehen! (698 A bis 701 C). Wahre Neuschöpfung des Volkes geschieht durch neue Religion — das ist die große einleitende Unterhaltung der drei Greise in den drei ersten Büchern. Aber nur durch die Aufgabe im Hier und Jetzt, durch das wirkliche Ziel empfängt dies Denken seinen Sinn: im Leben durch eine neue Verfassung der Insel Sizilien, im Schriftwerk durch die Kolonie auf der Insel Kreta. Der Ort der Gründung ist die Stätte des verlassenen Magnesia, eine gebirgige Landschaft, nicht arm, aber auch nicht überreich an Fruchtbarkeit und Schätzen des Bodens. Die große Gefahr der Staaten ist die Nahe des Meeres mit seinem Handelsverkehr, doch liegt die Kolonie auch nicht sehr weit ab, etwa sechzehn Kilometer, und der Strand bietet vorteilhafte Häfen. Die kretische oder sizilische Stadt soll nicht vom Mutterland abgeschnitten sein. In der Nachbarschaft aber liegen keine Städte (704-707). Um die neue Staatsgesinnung zu schaffen, tritt Piaton selber gleichsam vor das Volk mit einer großen Rede, die einzigartig in seinem Werke steht: sie will nicht den Einzelnen, Empfänglichen erwecken, sondern das Volk im Ganzen zwingen. (715 E—718 B, 726 D - 7 3 4 E) Auch die ersten drei Bücher, die Unterhaltung der Greise, sind Einleitung in die neue Staatsgesinnung. Piaton denkt (VII. Brief) für Sizilien an eine verfassunggebende Versammlung, und unmittelbar zur Unterweisung der Glieder einer solchen ist dies Werk geschrieben. Jetzt aber folgt die öffentliche Rede, die das Volk, das gebildete aber nicht philosophische, zur neuen Gemeinschaft formen soll. Das Volk kann den Piatonismus nur in der Form einer volkstümlichen Religion aufnehmen. Diese Mahnrede ist keine Popularisierung der Philosophie, sie ist tatsächliche Religionsgründung. So beginnt sie: „Ihr Männer! Der Gott, der, wie auch die alte Verkündung sagt, Anfang und Ende und Mitte aller Dinge in der Hand hält, vollendet im Wandel die rechte Bahn der Natur. Ewig geleitet ihn Dike, die Rächerin an denen, die das göttliche Gesetz verletzen. Ihr folgt jeder, 340
der glücklich werden will, demütig und in edler Haltung nach. Wer geschwellt von Hochmut oder stolz auf Reichtum, Ehren, leibliche Schönheit jugendlich und töricht die Seele im Übermut entflammt, als ob er weder eines Herrschers noch eines Führers bedürfe, sondern selbst fähig wäre, die anderen zu führen, der wird einsam gelassen von Gott, verlassen aber sammelt er noch andere solche und treibt mit ihnen alles verwirrend ein wildes Spiel. Und vielen scheint er etwas zu bedeuten, aber es währt nicht lange Zeit, so duldet er die gerechte Strafe, daß er sich selbst und sein Haus und sein Vaterland verwüstet" (715 E—716 B). Das ist, auf der Schwelle zwischen den Weltaltern, noch einmal ein Blick auf Alkibiades! Andere Werke zeigen Piatons eigenen Anstieg zur Gottähnlichkeit — hier sagt er, wie das Volk, zu solchem Aufstieg unfähig, doch als Ganzes im Sinne dieses Erlebens geformt werden soll. Das ist Religion, und ausdrücklich hebt Piaton den alten Gegensatz von Philosophie und Religion auf, indem er das volkstümliche Gottesbild anknüpft an die alte sogenannte „Natur"-Philosophie, insonderheit an Heraklit. Aber geschaffen werden kann diese Religion nur durch den Träger der göttlichen Idee, die mythische Gestalt Sokrates—Piaton, denn nur die Gestalt, nicht Meinung, Lehrsatz, Dogma kann Religion stiften. In solcher Erhebung blickt Piaton zurück auf das verwobene Schicksal von Athen, Sokrates und sich selbst. Dion hatte seine Göttlichkeit anerkannt und durch den Triumph in Syrakus der Geschichte ein Vorbild gegeben, als ihn die Daimonen zu Fall brachten. In diesem Abstieg Griechenlands wendet Piaton einmal den Blick zurück, ob es wohl ein Mann in der Hand gehabt hätte, dem Schicksal die Wende zu geben. Der Liebling des Sokrates taucht vor ihm auf, der Griechenlands Untergang heraufbeschwor, als er Sokrates untreu wurde. Er hätte vollenden können, wofür Piaton zu spät kam: den neuen Geist mit der Macht verknüpfen! Im Gastmahl hat Piaton diese Untreue des schönen Atheners mit reiner Heiterkeit gezeichnet, wie es nur auf der Ebene hoher Kunst möglich ist: damals hoffte er noch selbst auf den Sieg. Jetzt mag der Greis ahnen, daß in Alkibiades die Nation unwiderruflich ihre politische Rettung versäumt habe. Nur vom Throne des göttlichen Menschen empfängt jene Rüge gegen den Liebling Athens ihren ehernen Ton. Im Buch für Gesetzgeber und Volk ist von der Gottheit selbst, nicht vom menschlichen Mittler mit Namen die Rede. Wer aber die Ohren gern dagegen verschließen möchte, daß Piaton mit dem „Herrscher und Führer" sich selbst meint, der vergleiche den VII. Brief (oben S. 317). Nur der Weise steigt zur Schau Gottes auf. Das übrige Volk kann nur, wenn es im staatlichen Kult geformt und verschönt ist, vor Gott treten. Gebete, Weihgeschenke, Opferriten, die allein durch die staatlichen Priester versehen werden dürfen, verbildlichen die Rangordnung zwischen Gott und Volk. Der Kult gilt Göttern, Daimonen, Heroen, aber die religiöse Verehrung wurzelt tief im ursprünglichen Leben: nächst den Göttern werden 341
die lebenden Eltern verehrt, wie auch sonst die Autorität der Älteren sehr geschützt wird (—718 B). Vom formlosen Verkehr jeder beliebigen Einzelseele mit Gott scheidet sie diese Ordnung des Kults, die nur im seltenen Weisen das Gotterlebnis anerkennt. Nur die wahrhaft fromme Seele darf am Kult teilnehmen, und streng verboten sind alle magischen und äußerlichen Sühnungen. Piaton ist Mittler der geistigen Offenbarung, aber er verfemt jede willkürliche Vermittlung der Gnade. Das Hauptstück der Proömien ist darum die Bewirkung der Seele. Wie Piaton die einzelnen Jünger wie wilde Füllen aus der Herde ausliest für die persönliche Erziehung, das ist fast in allen Werken im Reichtum der schönen Gestalten verewigt. Die Proömien können nicht zu diesem hohen Erleben aufsteigen: sie wollen im allgemeinen die Seele des Volkes wachrufen und leise auf das Höchste deuten. Die erste Forderung, auf der der ganze Piatonismus ruht, ist die Ehrfurcht der Seele vor sich selbst. (Nach Nietzsche das Merkmal der Vornehmheit.) „Nichts Erdentstammtes ist ehrwürdiger als das Olympische. Wer aber nicht die Seele als solches einschätzt, weiß nicht, ein wie wunderbares Gut er vernachlässigt" 727 E)! Diese Hochschätzung der Seele erweckt dennoch seit Nietzsches Erscheinen das Mißtrauen eines neuen Geschlechtes. Diese Empfindlichkeit ist zu erklären aus der Übersteigerung des Platonischen Gedankens im Christentum, durch die Erde und Leib in Gefahr kamen, entwertet zu werden. Piatons Seelenlehre wird auch jetzt nicht weltflüchtig: selbst die Gottesfeier des Volkes bleibt ganz diesseitig. Im X. Buch droht Piaton mit Höllenstrafen — aber diese Rede ist nur an die Gottesleugner gerichtet. Dem Volk redet er nur ganz kurz vom Jenseits und nur in dem Sinne, daß es keine Todesfurcht zu haben brauche, denn in der Todesfurcht ist kein schönes Leben, kein starker Staat möglich (727 D). Piatons Ton ist weder der des schreckenden Bußpredigers noch der des schwärmerischen Seelenbeglückers: er ist der männliche Ton an das Volk, auf diesem Stück Erde das Notwendige und das Schöne zu tun. Aber eine ganz andere Gefahr der Seelenverehrung kennt Piaton. Wenn jeder die eigene Seele liebt, ihr jeden Gefallen tut, jeder Lust nachgibt, so verzärtelt er sie, macht sie tyrannisch und vergiftet das Leben durch Todesfurcht: die Gefahr der Selbstliebe, des Individualismus. Darum muß die Ehrfurcht vor der Seele ergänzt werden durch das zweite Gebot: „denn wer ein großer Mann werden will, darf weder sich noch seine Sache lieben, sondern lieben muß er das gerechte Tun, möge es durch ihn selbst, möge es mehr durch einen anderen nach Schicksals Fug geschehen" (731 D—732 A). Das ist die Platonische Lebens- und Weltfügung.Auf dem Wege zur kosmischen Bindung, die immer ausgeprägter zur religiösen Bindung wird, verzichtet Piaton nicht wie andere religiöse Denker auf den Geist. Wohl ist die Einzelseele unsterblich, aber ihren kosmischen Sinn empfängt sie erst durch ihre Einfügung ins geistige Gefüge der Welt. Geist ist nicht Feind, sondern herrschende Mitte der Seele. Darum wird das Verbot des Individualismus ergänzt durch das Lebens342
gesetz von Herrschaft und Dienst, dies notwendige Mittelglied im Sinne des Philebos zwischen den vielen ichsüchtigen Einzelseelen und der Einheit der Weltseele. „Von allen unsern Gütern ist nächst den Göttern das Göttlichste die Seele, unser eigenstes Gut. Eigentum ist immer zweierlei Art: Eins, das Edlere und Stärkere, soll herrschen . . das Andere, Schwächere und Schlechtere, soll dienen" (726 E). Der Selbstbeherrschung der Seele entspricht die Herrschaft des Edlen im Staat. Manche schelten Piaton einen Tugendfanatiker, weil sie nicht sehn, daß er nicht von einem Tugendbegriff ausgeht, sondern von der Aufgabe, einen Prägestock für das neue Volk zu formen. Wenn Nietzsche nicht von ähnlichem Vorurteil befangen gewesen wäre, dann hätte er in den Nomoi fast etwas von seiner Umwertung aller Werte spüren können. Parteiherrschaft und Habsucht sind die beiden Ursachen, die bewirken „daß die Staaten weder ein anderes Schönes noch die kriegerische Erziehung hinlänglich ausüben, sondern zu Händlern, Schiffsreedern und Handlangern die von Natur Fügsamen unter den Menschen machen, die Tapferen dagegen zu Räubern, Einbrechern, Tempelschändern, Aufrührern und Tyrannen, obwohl sie oft nicht schlecht veranlagt, aber vom Geschick gehemmt sind" (813 E). So spricht, unwillig über die verpfuschte Formung, dieser Künstler der Menschengestaltung, nicht der Moralist. Der Staat soll die starken und gefährlichen Naturen mehr als die Fügsamen glücklich entfalten. Natur, Leib, Eigentum werden nicht entwertet: der Leib ist nächst der Seele das zweithöchste Gut, das Eigentum das dritte. Leib und Eigentum sind Güter, die erst durch die richtige Herrschaft der Seele ihren wahren Wert empfangen: wie hat man diese einfach-klare und vollkommene Lehre so oft mißdeuten können! . . . Der Gedanke der Eugenik, in der Politeia bis zur äußersten Folgerichtigkeit durchgeführt, kann dem gegenwärtigen Volke nicht zwanghaft auferlegt werden: es bleibt bei Belehrung und Mahnung. Damit der Freier auf gute Rasse, nicht auf Vermögen achtet, wird die Mitgift verboten. E r soll nicht bequem die ihm ähnliche Braut suchen, sondern die seine Eigenschaften ergänzende. Mit richtigem Verständnis der Erblichkeit mahnt Piaton, die nötigen Eigenschaften besonders bei den Schwiegereltern zu suchen. Die Kinder, nicht die individuelle Lust, sind Sinn der Ehe. Das Gesetz befiehlt die Ehe, denn die Menschen haben die Pflicht, den Göttern neue Diener zu hinterlassen (771 E—776 B) . . . Der Unmut, mit dem die meisten Forscher die Nomoi betrachten, hat seinen Grund darin, daß Piaton wenig von der Forschung und Philosophie sagt. Man klagt, er mache die Bürger zu frommen Bauern und verhindere jeden Fortschritt, man vermißt die „Universität"! In Wirklichkeit sind die Bürger Landeigentümer, die an keiner groben Arbeit teilnehmen und sich der Vervollkommnung des Menschen widmen. Sie bilden sich aus im Kriegshandwerk und in der Wissenschaft, verwalten den Staat und formen den Körper im heiligen Tanz. Richtig ist nur, daß das Gewicht von der Philosophie auf den Got343
tesdienst verschoben scheint. Aber wir wissen, daß Piaton seine Politeia nicht aufgegeben hat: sie ist ausdrücklich im „Timaios" und in den „Gesetzen" anerkannt. Der verschiedene Ton im „Staat' und in den „Gesetzen" ist bedingt durch ihren verschiedenen Zweck, der durch die Gesprächsteilnehmer deutlich bezeichnet ist. Der „Staat" ist die philosophische Erweckung für die Jünger, die ihn verwirklichen sollen — die „Gesetze" sind das Lehrbuch für unphilosophische, der attischen Bildung ermangelnde Greise, die in die gesetzgebenden Versammlungen geladen werden sollen (VII. Brief). Philosophie ist für Einzelne, für die Akademie. Für die hellenischen Gesetzgeber der Gegenwart und für das Volk der Zukunft ist die Religion. Daß die Schau der Idee des agathon auch weiterhin höchstes Ziel und Quelle der Religion bleibt, wird besonders im X. Buch deutlich. Daher scheint es allerdings seltsam, daß von der Erziehung der eigentlichen Philosophen nicht deutlich die Rede ist. Dies Rätsel ist leicht zu lösen. Piaton will nicht Kleinstaaterei, sondern ein hellenisches Reich: Eine Stadt muß Vormacht werden und die übrigen Städte durch persönliche Verbindungen beherrschen. Diese Frage der höchsten Politik öffentlich zu besprechen, wäre nur hinderlich, denn formal sollen die Städte als möglichst frei gelten (wie auch Cäsar die Republik zum Schein bestehen ließ), aber Dionys II. hat er diese Politik rückhaltlos empfohlen (VII. Brief). Der Staat der „Politeia" ist autochthon und als Vormacht eines Reiches gedacht, Magnesia aber ist Stadt dritten Ranges: sie ist Tochterstadt von Knosos, und daß sie als solche abhängig von Knosos bleibt, wird ausdrücklich gesagt. In der gesetzgebenden Versammlung stammen 19 Mitglieder von der Kolonie, 18, unter ihnen Kleinias, sollen aus Knosos stammen. Das soll Knosos nötigenfalls mit Gewalt erzwingen! Der Athener, also Piaton, bekennt sich als zu stolz, Bürger einer Tochterstadt von Knosos zu werden (752 E—753)! In solcher Provinzstadt ist keine „Akademie" denkbar, und es wird ausdrücklich bemerkt, daß Lehrer aus anderen Städten gegen Belohnung herangezogen werden müssen (804 C). Das alles wird ebenso gelten, wenn es sich um irgendeine der Griechenstädte in Sizilien handelt. Allerdings weiß Piaton, daß eine wirklich in dieser Verfassung erwachsende Stadt die stärkste in Griechenland werden muß — aber es wäre müßig, jetzt schon davon zu reden, ob sie dann Hauptstadt und Akademiestadt wird. Der Schluß der Nomoi zeigt an, daß keine hellenische Neugründung möglich ist ohne Piatons Mitwirkung, wenn er auch zu groß geworden ist, in Person an einer solchen Gründung teilzunehmen. Wie sie in seinem Geist und Namen geschehen soll, das lehren der VII., VIII. und VI. Brief. Weisheit und Macht müssen verknüpft werden (712 A), aber da Piaton jetzt über den Rang eines Philosophenkönigs hinausgestiegen ist, so braucht er den jugendlichen Täter, der die Gründung des einzelnen Staates in seinem Auftrage vollzieht. Piaton ist nicht der beratende 344
Freund eines solchen Staatsmannes, er ist Gesetzgeber und steht als der Schöpfer über seinem Geschöpf. „Wenn aber einmal ein Mann zulänglich von Natur, durch göttliche Schickung gezeugt, einzugreifen imstande wäre, dann brauchte er keinerlei Gesetze, die ihm zu befehlen hätten. Weder Gesetz noch Ordnung ist jemals stärker als Erkenntnis, und nicht ist es Recht, daß der Geist irgendwem Untertan oder dienstbar sei, sondern er muß Herrscher über alles sein, wenn er wirklich von Natur frei und wahrhaftig ist. Heute aber ist er ja nirgendwo — oder doch nur ein wenig" (875 CD). Dieser Nachsatz ist für die ganze Sokratisch-Platonische Lehre so wichtig wie für diese Theorie des Diktators. Erkenntnis ist nicht objektiv gültiges Wissen, Wissenschaft, sondern Weisheit und Erleuchtung des Staatsmannes — wie könnte Piaton sonst andeuten, daß sie heute nur an einer Stelle, in ihm selber gegenwärtig sei. Das ist zum letztenmal die Klage, daß die göttliche Schickung nicht eingriff. Nur das ist Piatons Resignation, daß er Gesetze gibt, statt in Person die Nation zu erneuern. Aber dieser Verzicht ist kein Niedersteigen, denn wie ihn nun das Schicksal treibt, Religionsgründer zu werden, so beginnt auch in dieser Gesetzgebung schon der Glanz des Göttlichen, den die Nachwelt an ihm erblickt, um sein Haupt zu leuchten. Zur feierlichen Wahl, jährlich am Jahrestage dieser Wanderung der drei Greise, werden in Apollons heiligem Haine die Euthynen gewählt, die höchsten Richter, denen der Preis der Arete zuerkannt wird und die Apollon geweiht werden! Sie sind Piatons geistige Söhne. War nicht der Apollon-Kult, den Dion im eroberten Sizilien weihte, zugleich ein Platon-Kult? Wenn dann der hochfeierliche Ritus beschrieben wird, mit dem jeder der Euthynen einmal zu Grabe geleitet werden soll und der wie eine Vision der entfalteten katholischen Pracht erscheint, welche Ehrung würde dann einem Piaton selbst genug tun! (945 E—947 D) . . . Wie kann man vermuten, daß Piaton erst jetzt der volkstümlichen Religion „Konzessionen" gemacht habe! Schon im „Phaidros", der überschwenglichen Offenbarung der eigenen Seele, hat er sich zu den Göttern des engbegrenzten Ortes, der urgegebenen Landschaft bekannt und zu ihnen gebetet. So verehrt der neue Staat neben den hellenischen Gottheiten die Daimonen der Landschaft, und das Gelingen der Gründung hängt davon ab, ob der Gesetzgeber den Göttlichen Hauch in der Landschaft erkennt und die Daimonen des Ortes, welche die Ansiedelnden gnädig empfangen oder sie ablehnen (747 E). Piaton weiß, das es keinen wahreren Ausdruck für das Seiende gibt als die Gottgestalten. Er ist zum Anfang der Philosophie zurückgekehrt: „das All ist voll von Göttern." (Vgl. oben S. 330). So deutet man erst am Schluß ganz die tiefe Symbolik des Anfangs: Mit dem Wort „Theos" beginnen die Nomoi, der Gottesstaat. „Gott oder ein Mensch, ihr Fremdlinge, wurde euch Urheber der Gesetzgebung?" fragt der Athener, und er hört: ein Gott. Zeus bei den Kretern, Apollon bei den Spartanern. Knosos ist die Stadt des Minos, des großen hellenischen Gründers, der von allen historischen Köni345
gen am höchsten ins mythische Reich steigt. Minos empfing das Gesetz von seinem Vater Zeus, vor dessen Angesicht er alle neun Jahre trat, hier auf dem Ida, dem Orte des Platonischen Gespräches. Und da sein Bruder Rhadamant als Heros der Gerechtigkeit genannt ist, so ist die Verbindung zu Piaton, der seinen Staat als den der Gerechtigkeit bezeichnet, andeutend vollzogen. So knapp die Landschaft im Gegensatz zur rauschhaften Süße im Phaidros gezeichnet ist, so großartig muß diese herbe Größe auf die Griechen, die Kreta kannten, gewirkt haben. Wieder mahnen uns diese Hochgebirgswanderung des göttlichen Wanderers, die lieblichen Zypressenhaine, die Ausblicke vom einladenden Ruheorte ins Tal an Dantes Dichtung. Wie im „Phaidros" bestimmt der Stand der Sonne die geistige Landschaft: wie sie dort im Zenit steht und sich senkt, so ist für diese lange Wanderung der längste Tag gewählt: die Sonne wendet sich von ihrer sommerlichen Bahn zur winterlichen: Höchste Helle des Geistes aber absteigende Lebensbahn. Wie Minos steigt Piaton den Ida empor, um von Zeus, dem Weltgeist, seinem Vater, das Gesetz für sein Volk zu empfangen. Der andere Sinn seines Aufstieges, die Schau über die von Menschen bewohnte Landschaft hinweg auf das Himmelsgebäude, in der das Staatsgebilde seinen Grund findet, ist der Inhalt des „Timaios".
XXIII. TIMAIOS Das Platonische Testament Mag der Abbruch der großen geplanten Trilogie Timaios Kritias Hermokrates als unmittelbare Folge von Dions Fall zu deuten, mag der Timaios früher oder später geschrieben sein — er gehört ans Ende des Gesamtwerkes, denn er ist Piatons Testament, und die zuletzt beendeten Nomoi sind in ihrem Anfang (mindestens in den Vorarbeiten) älter. Piaton hat im früheren Werk die heilige Gestalt des Gründers Sokrates geschaffen, im „Staat" den Willen zur großen Tat geschürt, in den Nomoi für die Nachfahren das Gesetz des Gottesstaates gegeben, die Gottesfeiern geordnet: nun läßt er durch den älteren Kritias die heilige Vorgeschichte seines Volkes, die zugleich Zukunftsbild ist, und durch Timaios die Schöpfung von Kosmos, Göttern, Menschen erzählen. Im Vorspiel seines Testamentes stellt Piaton die Kräfte dar, die in ihm walten. Wenig verschlägt es, in welchem Grade der Bewußtheit er es so gewollt hat: tatsächlich stellt er im „Timaios" die eigene Größe dar und erstattet zugleich den Mächten, denen er diese seine Größe verdankt, den königlichen Dank. Sokrates ist Anfang und Ende seiner Fahrt. Mit 346
ihm ist er so Eins geworden, daß jener hier keine eigene Rede führen muß: die Gebärde der andern, auch des viel älteren vornehmen Kritias beweist, daß Sokrates der Geehrteste und Führende ist. Er faßt noch einmal die Hauptgedanken der Platonischen „Politeia" zusammen, womit Piaton sagt, daß die staatliche Aufgabe bis zum Ende seine wahre Sendung bleibt, daß dieses Staatsbild trotz andrer politischer Notwendigkeiten sein höchstes Vorbild bleibt und daß Er Sokrates diese sein Leben erfüllende Sendung, Sokrates Ihm die geistige Erfüllung dieser Aufgabe zu verdanken hat. So unlösbar ist der Bund, daß Piaton ohne ein Wort des Dankens und Preisens in leiser, klassisch-attischer Gebärde zugleich dem Meister und sich selbst das gemeinsame Denkmal setzen darf. Der zweite Dank gebührt Athen. Nicht daß er nur einen Wink zurücknähme von seiner Verrufung des gegenwärtigen chaotischen, darum in seinem Sinne gar nicht mehr wirklichen Athen. Sein Dank gilt den alten Kräften der Vaterstadt, denen er Adel des Blutes und des Geistes verdankt, dem Athen Solons und der Marathonschlacht. Wie er im „Charmides" unbekümmert um die Demokratie stolz auf sein Geschlecht hinwies, -dessen Vorzüge er in sich vereinte, so weist er wieder auf die Generationen des ihm verwandten Kritias und ihre Verbindung mit Solon. Kritias, der Teilnehmer des Gespräches und Großvater des bekannten Tyrannen und Schriftstellers Kritias, der am Charmides-Gespräch teilnimmt, hat wieder von seinem Großvater die Geschichte des Ur-Athen erfahren, die dieser noch persönlich von Solon selber hörte, der sie seinerseits von den Priestern Ägyptens erkundet hatte. So wird diese Geschichte vielfältig vermittelt, wie die heilige Legende des „Gastmahles", aber diese Vermittlung mahnt uns an die Adelsgeschlechter und an den weisen Gesetzgeber des älteren Athen, den Piaton nicht selten unter seinen Vorbildern nennt. Kritias erzählt, daß Solon, der weiseste der sieben Weisen, damals auch das Lob empfing, ein großer Dichter zu sein, aber die Form, in welcher der Urahn Kritias dies Lob des väterlichen Freundes freudig aufnimmt, weist unverkennbar auf den Verwandten Piaton! Er sagt lächelnd: „Wenn aber Solon die Dichtung nicht als Nebenwerk getrieben hätte, sondern wie andere sich ernst um sie gemüht und die Geschichte, die er aus Ägypten mitbrachte, vollendet hätte, ohne durch Aufruhr und andere Übel, die er bei seiner Rückkehr hier vorfand, gezwungen zu werden, sie aufzugeben, dann wäre nach meiner Überzeugung weder Hesiod noch Homer noch irgendein anderer Dichter jemals berühmter geworden als er!" Diese ägyptische Geschichte hat nun aber Piaton selber erdacht, und er selber steht vor der Entscheidung, ob er sie vollenden wird oder nicht. In sich selber also findet er eine Anlage zum großen Dichter, aber er ist von diesem Beruf seiner frühen Jugend abgewichen um seiner staatlichen Sendung willen (21 B C). Sokrates fordert hier die Dichtung, denn seine Politeia kommt ihm unbewegt und leblos vor. Er bittet von den Freunden, daß sie die Bürger des Staates nun lebendig, das aber heißt im Kriege, bewährt in der Arete 347
des Werkes und Wortes darstellen. Das ist der Sinn des Epos, durch das Piaton gern mit Homer gewetteifert hätte. Aber er sagt auch, warum die andern dazu nicht fähig sind. Schwer im Werk, noch schwerer im Wort ist das Leben darzustellen, in dem man nicht erzogen und aufgewachsen ist. Noch einmal die Bestätigung: Piaton lehnt die Dichter ab, weil sie im alten Weltalter verharren, und er ahnt den wahren Dichter, der das neue Leben dichtet und erschafft. Die Sophisten reden wohl von der Zukunft, aber als heimatlose Geister können sie nicht verstehen, was der im Vaterland wurzelnde Mann durch philosophische und politische Fähigkeit zu leisten vermag, und haben darum keine Vorstellung vom neuen Staat. Nur echte Platoniker dürfen den Wurf wagen (19 B bis 20 B). Um jetzt noch mit Homer um den Preis der Dichtung zu ringen, ist Piaton zu alt, und der Verzicht auf den Vers bedeutet den Verzicht auf den Sieg. Aber in seinem Testament will er doch die Prosaerzählung dieses Epos geben — auch das war ihm nicht vergönnt, und der „Kritias" gedieh nicht über den Anfang. Doch besitzen wir den Entwurf der Dichtung, die an der Schwelle des neuen hellenischen Weltalters hätte stehen sollen. Dies Ur-Athen seiner Dichtung hat vor 9000 Jahren bestanden. Er ist weder der Romantiker, der ein unwiederbringliches goldenes Zeitalter betrauert, noch der Fortschrittsgläubige, dem das goldene Reich in der Zukunft gewiß scheint. Die paradiesische Vollkommenheit ist, wie die großen Mythen Phaidon, Gastmahl, Phaidros lehren, immer nahe und doch dem Menschen nur selten erreichbar. Piaton ist der große Schaffende, nicht der Historiker, und so gleichgültig ist ihm die zeitliche Folge, daß er dies Ur-Athen, dessen Kunde in Ägyptens Archiv verwahrt ist, dem Staat seiner Politeia schlechthin gleichsetzt. Aber auch eine zeitlose Spekulation, ein ethisches Gesetz a priori ist es nicht. Dies Ur-Athen der Vergangenheit und Zukunft ist ursprünglich das heroische Athen der Marathonschlacht, ist die einmalige Wirklichkeit, die der schöpferische Geist zur Idee stählt und in die Ewigkeit, die wirkende, nicht die historische hinüberrettet, denn nur im Krieg gegen die an Zahl übermächtige Atlantis kann sich das Platonische Ur-Athen bewähren. Wenn man am Piatonismus die Gefahr der Steigerung der Bewußtheit und des reinen Geistes, der viele seiner Nachfolger verfielen, mit Mißtrauen betrachtet, so hat Piaton selbst sie niemals unterschätzt. Immer umfaßt sein Werk die gesamte Lebenskraft, nie ist es teilhaft, und sein Eros zur Erkenntnis ist zugleich so sehr Eros zur Jugend, daß man oft nicht weiß, ob er mehr um der Jugend willen oder um der Erkenntnis willen lockt. Die höchste Weisheit drängt zur Verjüngung des Volkes. Dies Widerspiel von Jugend und Weisheit wird im Kritias-Mythos episches Bild. Der greise Priester Ägyptens ruft: „0 Solon! Solon! Ihr Hellenen seid ewige Kinder, und einen alten Hellenen gibt es nicht. . . Jung seid ihr alle in euren Seelen, denn ihr tragt keine durch uralte Kunde begründete Vorstellung in ihnen und keinerlei altersgraues 348
Wissen." Die Ursache dieser ewigen Jugend sieht Piaton in ungeheuren Katastrophen Griechenlands, bei denen die Kulturschicht des Bodens wie des Volkes hinweggeschwemmt wird. Nur Schaf- und Rinderhirten auf den Bergen, des Schreibens unkundige, bleiben am Leben, und von ihnen muß jedesmal die neue Bevölkerung ausgehen. Piaton kennt die Vergänglichkeit der Kultur und hält die Erneuerung aus unverbrauchten Stämmen des gleichen Blutes f ü r notwendig. Hellas und Ägypten sind Gegensätze und doch verwandt: beide sind Geschöpfe der einen Athene, der Göttin des Geistes zugleich und der kriegerischen Kraft. Piatons Ablehnung der Schrift im VII. Brief, vor allem die TheutFabel im Phaidros zeigen an, daß er die Jugend, das jugendliche Athen der Marathonzeit als Vorbild ansieht. Aber er erkennt, wie die hellenische Kultur jetzt durch demokratische Anarchie weggeschwemmt wird, und meint, wie ein Blick auf die Gesetze erinnert, daß Hellas vom verwandten Ägypten die Idee der Norm, die Kraft des großen Stiles übernehmen müsse. Bei der gegenwärtigen großen Flut werden nicht nur die Hirten, sondern der Prophet selbst mit seinen Gesetzestafeln auf dem Berggipfel überdauern. Es ist die Aufgabe der Timaios-Rede, die nicht aussprechbare Platonische Weisheit als mythisches Bild zu geben, das einst die Jugend, das ungebildete Volk (das geschieht erst in unserem Mittelalter) in sich aufnehmen kann. Nach dem Dank an Sokrates und Athen bedeutet drittens die TimaiosRede den Dank an die Pythagoreer. Timaios ist der Unterredner, mit dem Sokrates das Zwiegespräch über die Platonische Politeia führt, ihn rühmt er als den Regenten in der bestverwalteten Stadt Italiens und als Denker, der den Gipfel der gesamten Philosophie erstiegen habe: kein Zweifel, daß Piaton von seinem großen Freunde Archytas, dem Befestiger der Macht Tarents, spricht, die am längsten dem Römertum widerstanden hat. Der vierte Teilnehmer ist Hermokrates, ein Name, der nur als Warnung, ja Drohung Athen gegenüber verstanden werden konnte. Hermokrates ist der Staatsmann, der Sizilien gegen Athen geeint, der Feldherr, der die entsetzliche Katastrophe Athens vor Syrakus, die Gylippos vollendete, erst möglich gemacht hat. In seiner politischen Idee, die griechischen Städte Siziliens zur freien nationalen Einigung zu führen, ist er der Vorkämpfer Dions, und f ü r Dion steht er in diesem ewigen Gespräche. Er, der viel Jüngere, hält keine Rede — es genügt, daß er, als der Täter, der Vollzieher Platonischen Willens, beim Gespräch der Philosophen gegenwärtig ist. Seine Anwesenheit kündet, daß von politischer Tat, nicht von zeitloser Theorie die Rede ist. Hat Piaton im geplanten Schluß den siegreichen Dion mit dem Lorbeer schmücken wollen? Vielleicht hätte er damit den Athenern den Wink gegeben: wenn sie nicht umkehren und im Platonischen Leben den Staat der Politeia erneuen, dann ist noch nicht die Zeit des Sieges über Atlantis und Dareios, dann 349
muß das Platonische Reich Sizilien die Vormacht von Hellas werden (VII. Brief. 333 A). Ist diese Vermutung richtig, dann darf man auch vermuten, warum und wann Piaton auf sein großen Epos verzichten mußte: Dions Ermordung! Dann wäre die Zeit der Abfassung vom „Timaios" und „Kritias" bestimmt . . . Piatons Testament wurde teilweise vollzogen: der „Timaios" hat das Denken der Antike, die Religion des katholischen Mittelalters und das Weltbild der Renaissance entscheidend geformt. Nur den Modernen blieb gerade dies Werk fremd und fast verschollen, weil Piaton in ihm die weiteste Spannung überbrückt, die zu überbrücken einem resignierenden und zerspaltenen Denken unerlaubt schien. Den Verehrern des „übersinnlichen" Piaton mußte das „Naturwissenschaftliche", den aufgeklärten Rationalisten die Darstellung persönlicher Götter unsympathisch sein. So trösteten sich die Gegner, daß Piaton einen Mythos erzähle. Vergeblicher Trost: Piaton sagt im Phaidros und im VII. Brief, daß alle seine Schriften nur in den Vorhof führen. Ins Allerheiligste führt keine Pforte, aber daß der Timaios, wenn irgendein Werk, ins Heiligtum führt, besagt sein erhabener Stil. (Damit sei nicht geleugnet, daß die Einbeziehung zeitgebundener naturwissenschaftlicher Meinungen in die ewige mythische Form sich dem Leser anderer Zeit als Sprengung des Stiles darstellen kann.) Wenn es immer wieder als rätselhaft empfunden wird, warum Sokrates in der Erinnerung an den Inhalt der „Politeia" nicht weniger als das Herz- und Hauptstück, die heilige Idee des agathon verschweigt, so deutet uns gerade diese Auslassung das Geheimnis des großen unvollendeten Platonischen Epos und Testamentes. Die Timaios-Rede stellt die unsagbare Idee dar in der mythischen Gestalt des höchsten Gottes. Neben dieser Gestalt kann die lehrhafte Darstellung der Ideenlehre, die in der Politeia gegeben ist, nicht gleichzeitig wiederholt werden. Der Timaiische Demiurg ist der Gott, der dem Gottesstaat der Nomoi und dem Heroenstaat der Politeia den Sinn gibt, er ist das Bild, in dem Platonische Philosophie, Religion, Kunst zur Darstellung ihrer ursprünglichen Einheit gelangen. Kritias soll von der großen siegreichen Vollendung der hellenischen Nation erzählen, die gleichzeitig die heilige Vorgeschichte und die ersehnte Zukunft bedeutet. Timaios führt nach beiden Seiten weiter: rückwärts in die Vorgeschichte der Menschheit bis zur Erschaffung, vorwärts bis zur Heiligung der Menschheit durch die Schau des Kosmos. Aber kunstvoll verhindert Piaton, daß dieser Ewigkeitsmythos ins Zeit- und Volklose verschwebe. E r teilt deswegen jene Kritias-Erzählung, so daß die Timaios-Rede von ihr umrahmt wird . . . diese wird verlangt, damit Kritias gleichsam aus Timaios' Händen die Menschen empfange, die den Staat bilden . . . Kritias geht bei der Schilderung von Ur-Athen und Atlantis bis auf die Schöpfung der Menschen zurück: so sollte sich alles zur epischen Einheit runden. Das Schicksal entschied anders: das hellenische Volk war nicht mehr stark genug zur Wiedergeburt in Piatons 350
Geist. Der „Timaios" löst sich im Denken der Nachwelt aus dem nationalen Epos und wird reiner Ewigkeitsmythos. Dions Tod und der Abbruch des „Kritias" sind die beiden Symbole dieses Weltgeschehens. Sokrates' Gegenwart erinnert daran, daß die heiligen Reden nur durch die Vergegenwärtigung im wirklichen Staate ihren Sinn empfangen. Aber Piaton weiß wie Goethe, daß Religion und Kultus nicht „gemacht" werden können. Das neue Gottesbild lehnt sich an die Volksreligion, aber echt ist es nur, wenn es verwurzelt ist in der Erkenntnis der großen Denker und führenden Geister. Der Mythos des „Timaios" sollte den Denkern ebenso wie den Frommen genugtun, er mußte Metaphysik werden oder, was gleichbedeutend ist, „Naturphilosophie". Möglichkeit des Staates und der Gesellschaft beruhen auf der Ahnung des Göttlichen. Der gefährlichste Feind Gottes ist nicht die gedankenlose Masse, die zu aufgeklärt ist, um noch an Gott zu glauben, und in der gleichen Minute den Gaukler, der Tote beschwört und ewiges Glück ohne Sühne garantiert, wie einen Gott verehrt — die wahren Feinde sind die mechanistischen Denker, die Vorkämpfer der Weltentgötterung. Ihr klassischer Vertreter ist Demokrit, und er ruft den greisen Piaton noch einmal, wie in der Jugend Protagoras, in die Arena herab. „Timaios" ist das zusammenfassende Sinnbild Piatons. So verschieden seine Lehre gedeutet wurde, so schien man darin einig, daß ihr Grundzug die dualistische Weltspaltung sei. Das Ergebnis des Gesamtwerkes aber heißt: Piaton liebt die leibhafte beseelte Werdewelt, zwar nicht ihre Zufälligkeit, Vergänglichkeit, Verworrenheit, aber ihre ewige Schönheit und Ordnung. Er haßt die seelenlose Welt, die rein-mechanische, rein-körperliche, nicht mehr leibhafte. Dagegen ist die „Ideenlehre", die im Gesamtwerk nur einen kleinen Teil einnimmt, nicht, wie die philosophiegeschichtliche Übersicht vortäuscht, das A und 0 des Platonischen Wollens, sondern eher eine Waffe im Kampf der beseelten Welt gegen die mechanisierte. Das beweist der „Timaios" . . . E s sei erinnert an den durch Kant vertieften Zwiespalt des neueren Geistes, der das Leben jener Philosophie, die Weisheit werden will, bedroht. Es gibt in unserem Bewußtsein (da der Verstand sich mit solchen Gliederungen behelfen muß) drei Elemente: Begriff — (geistig-sinnliche) Anschauung — (sinnliche) Wahrnehmung. Kant aber, der mit Vorliebe nach harten Gegensätzen schied, sah Begriff auf der einen, Sinnlichkeit auf der andern Seite und beachtete wenig die Scheidung von Anschauung und Wahrnehmung. Seitdem hat die Wissenschaft leidenschaftlich nach dem Begriff getrachtet und die Anschauung wie etwas Willkürliches und Subjektives aus der Wissenschaft (selbst aus der Mathematik!) ausgerottet. Für Piaton dagegen gehört die Anschauung zur Idee, die Sinnlich und Geistig zugleich ist. Nicht das Sinnliche (die Helligkeit an sich), sondern die Wahrnehmung (das Helle, das kurz darauf dunkel erscheint), nur das beliebig Wechselnde, Vergängliche widerspricht wahrer Erkenntnis. In der Tat: wer nichts im Bewußtsein trägt als wechselnde Wahrnehmungen 351
als solche, das heißt ohne jede Formung, der lebt wie im Fiebertraum. Die Teilnahme an der ewigen Form ist das, was den Sinnenwirrwarr erst zur Erkenntnis macht. Unter Bild pflegen wir ein Scheinhaftes zu verstehen, das auf ein Wirkliches hinweist. Piatons Lehre besagt, daß dies Wirkliche im Wesen selber Bild, Urbild, Idee ist. Die Schau, nicht Schließen und Beweisen ist Erkenntnis. Im Mythos des „Timaios" ist höchste Erkenntnis. Dennoch birgt die Seligkeit dieser Schau die Gefahr, daß der Weise sein Auge nicht abwenden kann und die Werdewelt vergißt. Das wäre Dualismus und Weltflucht, die man Piaton nachsagt. Wirklich muß er eine ungeheure Spannung dieser beiden Pole in sich erlebt haben: das besagen das Phaidon-Paradies und das Höhlengleichnis. Aber man erkenne seine Größe darin, daß diese Spannung nicht zum Bruch geführt hat. Wenn er zum Gesetzgeber und Schöpfer berufen war, dann mußte er einmal dieser Spannung Ausdruck geben, in der er sich auf dem Gipfel der Paradiesesschau befand, von wo ihm die andern Menschen wie armselige Gefangene in dunkler Höhle erschienen. Aber nie hat er der Versuchung nachgegeben, im mystischen Rausch der Werdewelt, der Welt als Wille zu entsagen, denn jener ist nur der zeugende Augenblick — seine Kraft und sein Leben gilt der Gestaltung der leibhaften Welt. Der Mensch besteht nicht aus Leib und Seele, sondern die Seele stellt sich dar im Leibe. Ohne Anerkennung dieser urgegebenen Einheit führt kein Weg zur Weisheit. Aber diese Lehre heilt nicht die zersetzte Welt: man muß, scheinbar widersprechend, der Seele das Übergewicht über den Körper verleihen. Das kann, bei der Allbeseeltheit, nur heißen, daß innerhalb der Seele das Beste die Herrschaft erringen soll. Dies Führende in der Seele, das fähig ist, das Bild des Kosmos zu finden, nennt Piaton den Geist. Dieser Geist ist nicht Gegner der Seele, ist gesättigt mit der Freude der Schau, der Lust des Erkennens, der Kraft des Gestaltens. Um der Bedeutung dieses Platonischen Denkens inne zu werden, bedenke man, daß durch Descartes geleitet die neuere Philosophie den entgegengesetzten Weg schritt. An die Stelle der bewundernden Schau des Weltalls, die für Piaton und Goethe der Ursprung der Philosophie ist, setzte er den Zweifel, spaltete die Welt in Geist und Körper, die dann allerdings ihrem Wesen nach niemals wieder zu vereinen sind und die er dennoch notgedrungen und primitiv in der Zirbeldrüse zusammenknüpfte. Piaton scheut die festgesetzten Begriffe, die Termini, deren sich eine weniger tiefe Wissenschaft mit Vorteil aber nicht ohne Gefahr bedient. Er lebt im Reichtum der Anschauung, den er nur mit wechselnden Ausdrücken umschreiben kann. Doch scheint jene Begriffsreihe: Geist — Seele — Leib — Körper noch am ehesten geeignet, uns an die Metaphysik der Timaios-Rede in einfachster Form zu erinnern. Ihr erhabener Stil duldet nur die schlichtesten Benennungen für den Kreis höchster Dinge. Zwei Weltprinzipien sieht der Schöpfer vor sich: Das Selbige (Tauton) und das Andere (Thateron). Das Selbige ist das Reich der Ideen, der un352
wandelbaren Formen, das ewige Sein, der überpersönliche G e i s t . Das Andere ist das Reich des Werdens, die L e i b l i c h k e i t (28 A). Die Aufgabe der Leiblichkeit ist es, die Ideen abzubilden. Die Idee der Schönheit wird uns offenbar am bestimmten Leibe und haftet doch nicht fest an ihm, denn sie wirkt in uns weiter, auch wenn jener Leib schwand. Die wirkende Kraft ist es, die Piaton im Bilde, in der Anschauung preist, und die Vergänglichkeit, nicht die sinnliche Qualität ist es, die er am Leibe tadelt. Der Leib ist nicht zu verwechseln mit dem toten K ö r p e r und dem ungeformten Stoff, wie es die plumpe Unterscheidung von Geist-Seele auf der einen, Leib-Körper auf der andern Seite tut. Dies Körperliche verweist Piaton in ein drittes Weltprinzip, seine eigenste Schöpfung. Er nennt es die Mutter, das Empfangende und Aufnehmende, das Nährende, die Amme. Der noch ungeformte Stoff bedeutet ihm so wenig, daß er bisweilen mit dem Raum an sich, ja dem Nichtsein zusammenzufallen scheint. Aber wer zufrieden den so bestimmten Begriff Raum darauf anwendet, irrt: sogleich entfaltet dies scheinbare Nichts doch wieder eine Kraft, setzt die Stoffe in eine verworrene Bewegung und arbeitet damit sogar dem Geist vor, denn es trägt zur rohen, vorläufigen Gruppierung der Stoffe bei. Denn irgendwie sind auch die vier Elemente schon in ihm angelegt, wenn auch als Elemente noch nicht rein durchgebildet. So scheinen in diesem wirren Gewoge selbst die Begriffe durcheinanderzufluten, aber das beherrschende Bild ermangelt in nichts der Klarheit: die Idee ist der Vater, der Stoff die Mutter, der Leib das? Kind. Die urhellenische Anschaulichkeit, nicht Mathematik hebt Piaton aus dem Verborgenen, um für das wahre Licht zu kämpfen. Die Mutter des Werdens ist Chaos, Finsternis, unfaßliche Urkraft, Urstoff und doch, weil ungestaltet, fast das Nichtsein. Auch das Wort „Dynamis" für diesen Stoff wird laut, so daß kein Zweifel bleibt, woher Aristoteles seinen größten Gedanken der beiden Weltpole, reine Form ( = Idee) und reiner Stoff, hat, der so fruchtbar ist wie die moderne Scheidung „Inhalt und Form" irreführend. Piatons Urstoff ist nur ,,8uva[iet", ist nur potentiell, solange er nicht durch die Idee gestaltet wird. So schwankt er zwischen dem Apeiron Anaximanders und dem Nichtsein des Parmenides (48 E—53 C). Dieser Verzicht auf doktrinäre Systematik ist Piatons Weisheit. Die höchste Idee wendet sich zum Werden zurück und wird Schöpfer, aber die Sorge der „Idealisten", wie aus der Idee der Stoff entstellt, beunruhigt ihn nicht. Ohne Bedenken gibt er den strengen Monismus preis und setzt den Urstoff als dunkles, unfaßliches doch nicht würdeloses Prinzip neben den Geist. Er grübelt nicht, er schaut nur wieder das Ganze der Welt und kennt nicht die unfruchtbare Neugier, die erst hinter dem Bilde, der Idee die wahre Wahrheit, die begriffliche Erklärung, die Rechenformel sucht. Denk nicht zuviel von dem was keiner weiß! Unhebbar ist der lebenbilder sinn . . . 23 Hildebrandt, Piaton
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Urbild und Abbild sind nicht verschiedene Welten, sondern sind ähnlich wie Vater und Sohn (52 A). Wie ist diese Ähnlichkeit möglich? In der Lösung zeigt sich die Wurzel des Piatonismus: nicht Ideenlehre, nicht Naturwissenschaft ist Ziel der Timaios-Rede, sondern die Allmacht der Seele. Piaton offenbart den Reichtum seiner Persönlichkeit und formt ihn zum weltordnenden Geist. Alle drei Prinzipien wirken zusammen, die Seele zu schaffen. Der Urstoff nur mittelbar, er ist aufgegangen in die Werdewelt, seine Aufgabe ist erfüllt. Aber in der Mitte zwischen Geist und Werden, aus dem Selbigen und dem Anderen schuf nun der Schöpfer das vierte Prinzip, das eigenes Wesen und Wirklichkeit hat, so daß Piaton gerade dieses mit Namen Usia bevorzugt. Diese Substanz ist noch nicht Seele, sie ist als Mittleres geschaffen, damit die sonst unmischbaren Gegensätze des Selbigen und des Anderen sich mit ihr binden können zur Weltseele. Aus dieser Weltseele formt nun der Schöpfer den harmonischen Bau der Weltsphären und fügt in sie die leibhaften Sterne, die Götter, ein. Da entspricht denn das Firmament im ewig-regelmäßigen Kreislauf dem Selbigen und darum in der Seele dem wahren Erkennen, der weniger regelmäßige Lauf der Planeten der sinnlichen Wahrnehmung und richtigen Vorstellung. Also auch Wahrnehmung und Doxa fehlen nicht im ewigen Seelenteil, in der göttlichen Geistseele. Diese Götter, diese Leiber mit reiner Geistseele schaffen nun erst die irdischen Geschöpfe mit weniger reiner Seele, die aus drei Teilen besteht: der Geistseele im Haupt, der Mutseele in der Brust, der Begierdenseele unter dem Zwerchfell. So wäre die systematische Ableitung. Piaton geht den umgekehrten lebendigen Weg. Wie wir in unmittelbarer Wahrnehmung den Leib als körperlichen Leib sehen, so baut der Schöpfer den Kosmos zuerst körperlich aus den vier Elementen auf. Wie aber im wirklichen Erleben der Leib unmittelbar als der Beseelte wahrgenommen wird, so berichtigt Piaton sogleich seinen Mythos: in Wirklichkeit habe der Schöpfer zuerst die Seele geschaffen, denn sie ist das Vornehme, Ältere, Herrschende. Das ganze Weltgebäude ist Seele. Die ungeheuren Sphären, unsichtbaren Kristallschalen ähnlich, denen die Planeten angeheftet sind, sind Seele, und sie erzeugen durch freiwillige Drehung den Lauf der Planeten: Unsichtbarkeit und eigene Bewegung sind das Kennzeichen der Seele. Der Körper ist der Seele nur eingesetzt wie ein Skelett. Die mechanistische Deutung der Seele als einer Funktion des Leibes ist ins Gegenteil verkehrt: der Körper ist das Organ der Seele. Des Schöpfers Wille ist, dem sichtbaren Stoff die Idee einzubilden, das Gestaltlose zu gestalten. Das kann nicht unmittelbar geschehen, darum schafft er als Mittleres die Seele. Er pflanzt den Geist in die Seele, die Seele in den Leib. Er will das Gleichgewicht, die Einheit von Seele und Leib — aber das Mittel dazu ist, den Körper mit dem Geiste zu durchdringen, die Herrschaft der Seele anzuerkennen, ihre Gestaltungskraft zu beleben, das Nurstoffliche zu erniedrigen. Das aber heißt, die Mechanisten zu überwältigen. Nur aus dem Wissen von der Herrschaft 354
der Seele im Leibe, der Urherrschaft der göttlichen Weltseele empfangen das Leben und der Staat Sinn und Recht. Darum bedroht Piaton im Gesetzesstaat die Atheisten mit dem Tode — im „Timaios" muß er den philosophischen Gegner Demokrit niederringen. Piatons geistiger Krieg ist Wettkampf, denn er ist frei vom Neide! Er kämpft unerbittlich für seine Person, aber nur deswegen, weil er in sich selbst das Bild des Vollkommenen findet. Diese Lust des Wettkampfes ist das eigentümlich Platonische: er tadelt nicht die Sonderleistung des Gegners, sondern übertrifft sie in ihrer Eigenart. Er übertrifft die Streitkünstler durch Streitkunst, die Redner durch Redekunst, die Logik des jungen Aristoteles durch Dialektik, die Darstellungskunst der Dichter durch knappste Zeichnung von Person und Szene, ihren Schwung der Phantasie durch seine Mythen: aber das Überraschendste ist doch, daß er im Wettkampf mit Demokrit sich zur Atomlehre bekennt. So wenig braucht er den Gegner zu fürchten, daß er die Lehre von ihm entgegennimmt — aber er gibt sie, auch im modern-wissenschaftlichen Sinne, verfeinert, exakter gestaltet zurück. Längst hat man die hohe Bedeutung seiner Mathematik erkannt, längst hat man auch zugegeben, daß Piaton in seiner Astronomie der Vorläufer von Kopernikus, Kepler, Galilei war, die von der Lehre des „Timaios" ausgehen, während ein materialistisches Zeitalter keinen größeren Gegensatz zu sehen glaubte. Es scheint aber kaum bemerkt, daß er auch die Linien der modernen Chemie vorgezeichnet hat. Demokrit gab den Atomen alle möglichen Formen, erklärte dadurch die Vielheit der Stoffe und eigentlich nichts weiter. Piaton wendet, wie in der Astronomie die Harmonielehre, so in der Chemie Theaitets Lehre von den regelmäßigen Körpern an. Die Atome sind zwei Arten von Dreiecken, die nämlich, aus denen man jene „Platonischen Körper" (vom Dodekaeder sieht Piaton ab) aufbauen kann. Aus der einen Art entstehen nur die Würfel, aus der andern die übrigen drei. Die Würfel sind die Moleküle der Erde, die andern drei des Wassers, der Luft, des Feuers (Isokaeder, Oktaeder, Tetraeder). So erklärt es sich, daß diese drei Elemente durch heftige Einwirkung aufeinander, bei denen die Moleküle in Atomdreiecke gespalten werden, ineinander übergehen können, also in gewissem Sinne nur verschiedene Aggregatzustände bedeuten. In dieser Theorie, daß die Atome sich gesetzmäßig in wenigen bestimmten Zahlenverhältnissen zu Molekülen zusammenfügen, unterscheidet Piaton der Sache nach Element und Aggregatzustand, Molekül und Atom, chemische Verbindung und Gemisch, bloße physikalische Lösung und chemische Zersetzung. Wenn er aus dieser stereometrischen Hypothese folgert, daß ein Wasserteilchen bei seiner Auflösung ein Feuerteilchen und zwei Luftteilchen gibt, so ist das sachlich sehr ähnlich, methodisch aber genau das gleiche, wie wenn wir heute sagen, daß ein Wassermolekül sich aus einem Sauerstoff- und zwei Wasserstoffatomen zusammensetzt (53 C—57 D). Die gröbere Atomlehre Demokrits ist erst von Gassendi und Descartes wieder aufgenommen, von Kant wieder abgelehnt. Erst 1804 war die 23*
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Chemie so weit entwickelt, daß sie auf Grund der einfachen Zahlenverhältnisse die Molekül-Atomlehre im Sinne der Platonischen Methode schaffen konnte (Dalton). Der Materialist wird sagen, daß die Naturwissenschaft auch ohne Piaton diesen Weg gefunden hätte, der Idealist, daß dies Vorläufertum kein Ruhm für ihn sei. Wir deuten auf diese wenig beachtete Leistung, um Piatons überlegene Kampfart zu zeigen, zu der eben nur er fähig ist. Er zeigt sich zuerst als Meister mechanischer Naturbetrachtung, um dann mit um so größerer Autorität den Mechanismus auf die ihm gebührende niedere Stellung im Weltbilde hinabzudrücken. Heute können sich geistige Menschen gegen den drückenden Mechanismus nicht anders wehren, als daß sie mit der mechanistischen Kausalität die Kausalität überhaupt leugnen. Wie anders Piaton. Ohne Bedenken läßt er die mechanistische Kausalität gelten und ordnet sie als bloße Mitursache, als Mittel, der göttlichen Kausalität unter. Der geniale Einbau des Mechanischen in die Rangordnung des Ganzen, der Piatons souveränes Spiel mit dem geistigen Reichtum seiner Epoche zeigt, ist von den Modernen als Verlegenheit und Unterlegenheit gegenüber Demokrit mißdeutet, weil ihnen das Maß dieser Überlegenheit nicht faßbar war. Piaton geht aus vom schöpferischen Willen — Demokrit vom Stoffatom: das sind die beiden Gesinnungen, für die es keine Überbrückung gibt. Solange Piaton von der Weltschöpfung redet, denkt er nicht an medianische Gesetze und läßt die vier Elemente schlechthin vorhanden sein. Als er aber die Schöpfung des Menschen beschreibt und zur Beschreibung des Auges gelangt ist, da bricht er ab und fügt die große Betrachtung über den Stoff und über die mechanische Notwendigkeit, die Ananke, ein (46 C bis 61 C). Nach deren Beendigung führt er die Beschreibung der Welt und des Menschen fort, um dann wieder zum Gesicht zu gelangen, dessen Deutung er nun nach Begründung seiner physikalischen Chemie in der von Goethe bewunderten Farbenlehre ausführen kann (67 C—68 D). Der Augenblick der Einschaltung war nicht glücklicher zu wählen. Die ewigen Kreisbahnen der feurigen Gestirne, mechanisch so leicht zu fassen, waren für Piaton Ausdruck höchster Schönheit: neben dem göttlichen Willen blieb nichts übrig für mechanische Mittel. Anders bei den menschlichen Organen: die meisten inneren Organe sind nicht schön und darum nur durch den Zweck, als mechanische Mittel deutbar. Aber an keinem Organ ist die streng mechanische Einrichtung dem Laien so deutlich wie am Auge, und in keinem ist zugleich der höhere Zweck, das Schauen, die Wurzel aller Philosophie, so deutlich wie am Auge. Hier darf Piaton die Mechanik mechanisch erläutern, ohne daß jemand — fanatische Mechanisten ausgenommen — in Gefahr käme, den Sinn, die Teleologie dieser Mechanik zu vergessen. Höchst planvoll, jeden Verdacht innerer Unsicherheit ausschließend, sind Physik, Sinnesorgane, Wahrnehmung im Einzelnen als bloße Mittel des Ganzen geklärt. Die Unterordnung des Mechanischen unter das Schöpferische deutet Piaton leicht durch ein Bild, wie es eben nur seiner Größe und seiner Anmut angemessen ist. „Die Entstehung die356
ses Kosmos war erzeugt aus der Mischung von Notwendigkeit und Geist. Da aber der Geist über die Notwendigkeit herrschte, weil er sie überredete, die meisten Dinge bei ihrem Werden zum Besten zu führen, entstand so auf diesem Wege durch Notwendigkeit, die sich sinnvoller Überzeugung unterwarf, von Anfang her das All" (48 A). So preist Piaton weise den Sinn und gibt dem Stoff sein Recht. Mit leichter Geste des Schöpfers lehnt er ab, Probleme aufzuwerfen, die ewig unlösbar bleiben, während tiefschürfende Grübler wohl viele Einzelheiten klärten, aber die ersten und letzten Fragen nur mehr verwirrten und verdunkelten. So steht es im Anfang dieser Untersuchung über die Hilfswissenschaften und an ihrem Schluß rundet er den Gedanken entsprechend ab. Es gibt zwei Arten von Ursachen, die notwendigen und die göttlichen! (68 E) Diese Fügung mechanischer und schöpferischer Kausalität ist der Leitsatz seiner Weltdeutung. Die notwendigen Ursachen (Stoffe, aber auch Empfindungen als Elemente der Wahrnehmungen) hat er nun wohlgeordnet, so daß sie als Bauholz dem Baumeister, dem Weltschöpfer wie dem schauenden Philosophen, zur Hand liegen. Nun kann der Schöpfer den Aufbau des beseelten menschlichen Leibes vollenden. Die Seele ist dreigeteilt wie in der Politeia. Ihr göttlicher Teil, der Geist, der allein unsterbliche, wird in das Haupt geschlossen, das in seiner Form den Kosmos nachahmt. Die sterbliche Seele hat ihren Sitz im Mark (Rückenmark und Knochenmark). Der edlere Teil, der mannhafte, eifrige, zornmütige ruht in der Brusthöhle oberhalb des Zwerchfelles. Das Herz ist gleichsam der Sitz der Leibwache, der Ort, an dem der Zorn aufbraust, wenn Meldungen von der Akropolis, dem Sitz des Geistes, kommen, daß Gefahren von innen oder außen drohen. Sie sichert dem Edelsten die Herrschaft. Der dritte Seelenteil, die Begierden, umfaßt die Leber- und Magengegend. Hier in der Tiefe sind die Begierden an ihre Krippe gebunden, damit sie den Geist durch ihr Getöse möglichst wenig stören. Denn nötig sind auch sie, wenn ein menschliches Geschlecht bestehen soll (69 B—73 D). So beschreibt und deutet Piaton weiter den Bau des Menschen. Niemand wird vermuten, daß er in Chemie, Anatomie, Physiologie vorwegnimmt, was die Forschung in jahrhundertelanger Arbeit fand, oder daß er auch in diesen Fächern die hohe Ebene wie in der Astronomie erreicht. Versichert er doch selbst immer wieder, es gebe hier nicht Erkenntnis, sondern Wahrscheinlichkeit. Er gibt ganz im Geist der Naturwissenschaft die Hypothesen, welche die Forschung leiten müssen, und seine Einsicht in die Natur ist größer als die des Aristoteles. Damit ist freilich die Frage nicht beantwortet, ob er in diesem Testamente eine Naturforschung im modernen Sinne begründen wollte. Timaios bekennt, er halte solche Darstellung der Natur für ein edles Spiel. In der Akademie zeigt sich, daß im Feuer der Einen Person alle Erkenntnis und Wisenschaft umgeschmolzen wird, denn in Piatons unmittelbarer Gemeinschaft geschah das große Erleben, aus dem sich das geistige Denken und Forschen des folgenden Weltalters, selbst noch die analysierende 357
Wissenschaft des 19. Jahrhunderts speiste. Aber gewollt hat Piaton die fortschrittliche Entwicklung, die den Zusammenhang mit dem Gesamterleben preisgab, nicht. Die Wissenschaft ist ein Ausstrahlen seiner Weisheit, denn echte Wissenschaft gründet in der Schau des Ganzen, und es ist nicht Schuld des Ahnen, wenn die Enkel sein Erbe mißbrauchen. Niemand hat dringender vor der Gefahr des Mechanismus gewarnt, niemand schöner die Rückkehr zur schöpferischen Seele gewiesen als Piaton. Vielleicht wird Er, wie er im christlichen Weltalter über Demokrit siegte, noch einmal als Sieger aus dem philosophischen Kampfe hervorgehen, in dem Goethe noch unterliegen mußte. Man pflegt Piatons Entwicklung zu deuten, als ob er anfangs dem Somatischen Gedanken der Arete nachgehangen habe, in der Spätzeit aber die logischen und naturwissenschaftlichen Interessen überhandgenommen hätten. Dieser Gesinnungswechsel ist eine Fabel, die der einseitig auf den sachlichen Ertrag der einzelnen Werke gerichteten Betrachtung entstammt. Piatons Ziel ist Verwirklichung der Ethik durch politische Gründung und Macht, und diese Gesinnung durchdauert sein Leben, um nicht zu sagen die Jahrtausende. Ein Mißklang in seinem Denken und Tun entsteht nur durch Athens und Griechenlands Versagen. Wie sein Denken in immer weitere Schichten greift und doch sein Wille immer der Eine bleibt, dessen ist der „Timaios" das wundervollste Zeugnis. Aber man vergißt über diesem geistigen Ausgreifen allzuoft das immer weitere politische Ausgreifen, das die Briefe bezeugen. Sein höchst realer Wille, ein mächtiges hellenisches Reich zu bilden, wird übersehen, gerade weil er aus politischen Gründen seine Pläne nicht verriet, ehe die Möglichkeit des Handelns nahte. Bis dahin schuf er im Geiste den Plan des Reiches. Auf seiner ersten Reise hatte er die Syrakusische Tyrannis als W e s t m a r k der Hellenen gegen die Karthager kennengelernt, und diese kriegerische Stärke, nicht das persönliche Zerwürfnis mit dem Tyrannen blieb ihm maßgebend. Daß seine Politik Freiheit des Hellenentums, nationale Einheit gegen die Barbaren bedeutet, verkündet die mächtige „Menexenos"Rede. Sicherlich war er empört, als kurz danach Lysias durch eine „idealistische" (verantwortungslose) Freiheitsrede gegen Dionys I. hetzte und diesen mit Athen verfeindete. Lysias sieht das alte athenische Ideal (wie später Demosthenes) — Piaton sieht die realen Kräfteverhältnisse. Dionys ist Hellene, ist unentbehrliches Bollwerk gegen Karthago. Syrakus darf Vormacht werden, da das Mutterland versagt, wer aber aus Freiheitsidealismus Syrakus zerstören will, der zerstört die Freiheit der Nation. Wie er das Mutterland, Sparta, Argos, Kreta zur Mitwirkung an der Reichsbildung erziehen will, besagen außer dem VII. Brief sehr nachdrücklich die Nomoi. Aber er ahnt auch, daß die zukunftsträchtige Nordmark Makedonien zur hellenischen Vormacht berufen sein kann. Der (angezweifelte) V. Brief dürfte einige Jahre vor dem „Timaios" an Perdikkas III. geschrieben 358
sein. Hier wie in Syrakus muß er sich entschuldigen, daß er sein politisches Können nicht in seiner Vaterstadt, der Hauptstadt hellenischer Kultur, bewies. „Piaton ist spät in seinem Vaterland geboren und fand das Volk schon zu gealtert und von den Führern daran gewöhnt, vieles, was seinem Rat widersprach, zu tun." Er hätte, wenn er Athen seinen Rat aufgedrängt hätte, fruchtlos das Schicksal Sokrates' auf sich gezogen. Der Hauptgedanke des kurzen Briefes ist echt Platonisch. „Es hat nämlich, wie manche Tiere, jedes Staatswesen seine bestimmte Sprache, eine andere die Demokratie, eine andere die Oligarchie und wieder eine die Monarchie . . . Wenn nun ein Staat zu Göttern und Menschen seine eigene Sprache spricht und der Sprache die versprochenen Handlungen folgen läßt, so blüht er immer und bleibt heil, ahmt er aber eine andere nach, so geht er zugrunde." Als Ratgeber empfiehlt er dem jungen Könige für die monarchistische Sprache einen seiner Anhänger. Ein wichtiges Zeugnis! Die Akademie ist der Mittelpunkt der Nation, wo unabhängig vom Gesetz der Vaterstadt die Sprache der verschiedenen griechischen Verfassungsformen verstanden und gesprochen wird. Piaton ist Schiedsrichter und Haupt des geheimen Hellas. Daß die monarchische Sprache seinem Herzen am nächsten ist, würde man hier vermuten, auch wenn die andern Schriften nicht immer wieder die Hoffnung auf den jungen Tyrannen setzten, der ein Königtum gründe. Die Timaios-Rede ist Ausdruck dieses höchsten Wunschtraums, das Weltall ist Gründung des höchsten Monarchen. Was aber bedeutet das Kritias-Epos? Ur-Athen ist Aristokratie, Atlantis ist Königtum, und in Heraklitischer oder Aischyleischer Gesinnung stellt Piaton den Feind ebenso veredelt dar wie das Vaterland. Königtum bedeutet nicht die zentralisierte Macht der Tyrannis, denn auf Atlantis herrschen zehn Könige — ähnlich wie über dem Kosmos zwar als Schöpfer und Gesetzgeber der Urgott thront, aber seine eigentlichen Regenten die von diesem geschaffenen Götter sind. So ist Atlantis Poseidons Gründung, und die Könige sind seine Söhne und Enkel. Die Poseidon-Söhne sind Wunschbilder Piatons: sie können Reichtum und Pracht im Überfluß entfalten, ohne an ihnen zu hängen, denn sie verehren allein die Arete und unterwerfen sich dem Gesetz (Krit. 120 E). Sie sind göttlichen Blutes und erinnern an das Reich des Kronos im Politikos. Aber im Lauf der Generationen müssen sie das Götterblut mehr und mehr mit menschlichem verdünnen: so entartet ihr Geschlecht und das Königtum. Atlantis wird besiegt von Athen — aber diese Niederlage bedeutet nicht Vernichtung, denn sie ist von Zeus gesandt, um dies hervorragende Geschlecht wieder zu bessern (121 C). Die Ur-Athener sind von Göttern geschaffen, aber sie sind kein Götterblut. Das Zeitalter des Kronos hat aufgehört. Wie die Athener erdgeborene Menschen sind, so herrscht Piaton nicht über sie, ihm fehlt das unmittelbare Recht der göttlichen Erbfolge. Aber in dieser Not und kargeren Landschaft bricht das Recht des schöpferischen Menschen auf. Aus sei359
ner Weisheit, die ihn in die göttliche Sphäre hebt, kann Piaton — wenn die Gottheit es fügt — den menschlichen Staat schaffen, der die göttliche Gründung Atlantis besiegt. Ohne den Mythos des Politikos, den Gegensatz des schöpferischen Menschen zur göttlichen Herde, ist die KritiasLegende kaum zu verstehen . . . Die Bewohner von Atlantis sind keine Hellenen, ihre Könige sind Söhne Poseidons, nicht des Zeus. Hellenenfürsten, Dion, Alexander, sind Zeus-Söhne: nicht undenkbar, daß zuletzt Hermokrates-Dion von der Synthese der Platonischen Wünsche, vom hellenischen Monarchen gesprochen haben würde. Ein Reich unter einem Alexander, aber ein wirklich hellenisches Reich, ist Piatons Hoffnung. Selbst in den „Gesetzen", die der Demokratie weit entgegenkommen, fordert er zur Überraschung der Hörer, daß ein Tyrann seinen Staat verwirkliche. „Der Tyrann aber soll jung sein, von gutem Gedächtnis, kundig, tapfer, hochherzig von Natur" (709 E). Er hofft, daß ein Monarch vom göttlichen Eros ergriffen werde. Aber neben dem jungen Herrscher und Täter muß der weise Gesetzgeber, der Nestor stehen (710 C, 711 D E ) . Dion war schon älter als 50 Jahre, als er den Kampf um die Macht begann — Piaton deutet an, daß ihn das Schicksal zu spät ans Werk gehen ließ. Fast immer stellt er Sokrates auf der Jagd nach der Jugend dar: nur im Jüngling kann der Traum Platonischer Weisheit Tat werden. Das Gegengewicht der steigenden Weisheit muß die Verjüngung des Lebens sein, wie sie Herder ersehnte, Goethe erlebte. Auf das Hellenenvolk setzt Piaton die große Hoffnung, weil es, wie der Ägypter sah, sich durch die Katastrophen immer wieder verjüngt. Alkibiades war gescheitert, weil er dem Geiste untreu wurde . . der Sieger Dion erlag den Daimonen. . wäre ohne die geistige Erhebung Piatons ein Alexander möglich gewesen? Unmöglich, sich des müßigen und doch großen Gedankens zu erwehren, was aus der Antike geworden wäre, wenn Alexander, der bei Piatons Tod Neunjährige, nicht auf dem schwächenden Umwege über Aristoteles, sondern durch Piatons eigene herrscherliche Person hätte erweckt und geleitet werden können. Der Überblick über Piatons politisches Handeln zeigt Sieg und Scheitern in der Westmark, Rat und Ahnung in der Nordmark, aber klaren politischen Erfolg in der kleinasiatischen Ostmark. Und dies wichtige Ergebnis seines realpolitischen Handelns liegt auf dem Wege der Alexanderzüge. Im nördlichen Kleinasien hat im griechischen Volke unter persicher Fremdherrschaft Hermias, der Tyrann von Atarneus, aus kleinsten Anfängen eine bedeutende Macht geschaffen. Er lehnte sich an Makedonien an. Die griechischen Freiheitsrhetoren, die in Philipp die größte Gefahr des Griechentums sahen, haben (verantwortungslos wie Lysias den Dionys) Hermias wegen niederer Herkunft und gewaltsamen Aufstieges geschmäht. Um so größer Piatons Ruhm, einen solchen Mann zum Philosophenkönig zu formen, die Arete des Herrschers nicht zu bemessen an bürgerlicher Moralität. Der Tyrann schloß Freundschaft mit zwei Akademikern, Koriskos und Erastos, die seine politischen Berater 360
wurden. Hier gelang, was Piaton in Syrakus gewollt hatte, und es wird sichtbar, was „Platonische" Freundschaft bedeutet: Freundschaft des Geistes, der Seele, damit aber zugleich Begründung des politischen Staates. Die drei Freunde gründen die hellenische Ostmark gegen Persien. Hermias wandelte die Tyrannis ganz nach Piatons Lehre in eine mildere und gesetzmäßige Herrschaft um, so daß sich die Griechenstädte, wie Piaton es Dionys vorausgesagt hatte, freiwillig seinem Staate anschlössen. Eine solche Urkunde der staatlichen Eingliederung ist erhalten, in der aber nicht Hermias allein, sondern in formelhafter Wiederholung „Hermias und die Genossen", offenbar die beiden Akademiker, genannt sind. So bildete sich auf persischem Boden eine nationale griechische Macht, ein Brückenkopf für die Befreiung Kleinasiens, denn Hermias schloß sich ganz in Piatons Geiste heimlich an Philipp von Makedonien an, der den Perserkrieg plante! Hermias bildete sich in Platonischer Philosophie, schenkte den Akademikern die Stadt Assos, und als Aristoteles dort hinkam, wurde er auch dessen Verehrer, so daß in Assos eine Art Tochterakademie entstand. (Das könnte Piaton schon für Syrakus vorgeschwebt haben — Tochterakademien nahe den beiden Erbfeinden Karthago und Persien.) Aristoteles heiratete die Adoptivtochter des Hermias, und es wird zweifellos im Zuge des politischen Bündnisses mit Makedonien gelegen haben, daß Aristoteles zum Erzieher des Prinzen Alexander berufen wurde. Hämische Feinde des Geistes mögen auch hier einen Mißerfolg Platonischer Politik sehen: Das Bündnis mit Makedonien wurde den Persern verraten (durch Athener?). Zwar war Hermias mächtig genug, ¡in Atarneus der Belagerung durch das Perserheer zu widerstehen, aber durch übelsten Betrug bemächtigte man sich der Person des Fürsten. Nach Susa gebracht, wurde er gekreuzigt, weil er sich weigerte, die Pläne Philipps zu verraten. E r selbst hat sich heroisch als Märtyrer des Platonischen Glaubens gefühlt, und als der Großkönig dem Gefolterten eine letzte Gnade anbot, geantwortet: „Meldet meinen Freunden und Genossen, daß ich nichts der Philosophie Unwürdiges und Haltloses getan habe." Das war der Gruß, den Aristoteles empfing. E r setzte dem Helden ein Kenotaph in Delphi und dichtete einen Hymnos, ein Denkmal dafür, was Piatons Geist aus diesem Tyrannen gemacht hatte: er preist sein Ringen um die hellenische Arete, er erinnert an Achill. Kein Zweifel, daß Hermias neben Dion ein Vorbild in der Erziehung Alexanders wurde. Als Märtyrer der neuen Religion ist er dennoch ganz antiker Held: ohne Schwärmerei, ohne unbedingte Nächsten- und Feindesliebe, ohne Paradiesestrost, aber auch ohne Verzweiflung am Kreuze — ganz seines Heldentums bewußt und doch ganz der höheren Sache ergeben. Diese Darstellung verdanken wir Werner Jaeger („Aristoteles"). Atihen hatte nicht Kraft genug für den neuen Glauben: es wollte sich lieber Persien verbünden, als Griechenland unter der Vormacht Makedonien zu einen. Zu schwach zu führen, war es stark genug, die nationale Einung zu stören. Demosthenes triumphierte hämisch aber vergeblich, als 361
Hermias verraten war, nun würde er auf der Folter Philipps Pläne verraten. (Dennoch zeiht man auch heute Piaton der Kleinstaaterei und preist Demosthenes.) Das geschah sieben Jahre nach Piatons Tode, und es dauert wieder sieben Jahre, bis Alexander den Tod seines Vorkämpfers rächt. . . Das Geschick hat uns den Brief bewahrt, in dem Piaton diese Gründung der Ostmark vollzieht und jenen Vertrag der drei Freunde segnet. Er gibt keine politischen Vorschläge, denn der Staat soll auf der Freundschaft der Herrscher beruhen. Sein Brief ist nicht mehr und nicht weniger als eine heilige Urkunde, die den Bestand dieser Provinz des Gottesstaates verbürgen soll. Den rechten politischen Rat werden die beiden bewährten Akademiker geben. Wenn die Freunde Beschwerden gegeneinander haben, dann sollen sie an Piaton schreiben, der besser als ein Zauberer sie zu versöhnen hofft. Er ist der Schiedsrichter, ja Statthalter Gottes im neuen Reich. „Diesen Brief sollt ihr alle drei lesen, am besten gemeinsam, sonst zu zweien, so einig wie möglich, s o o f t e s a n g e h t , und ihn als Vertrag und gültiges Gesetz anerkennen, wie es gerecht ist, und sollt dazu schwören mit einem nicht unmusischen Ernst und dem Spiel, das Bruder des Ernstes ist, bei dem Gott, Führer aller Dinge, der gegenwärtigen und der künftigen, schwören auch bei des Führers und Urhebers herrlichem Vater, den wir, wenn wir wahrhaft philosophieren, in seiner Klarheit schauen werden, soweit es selige Menschen vermögen." Dieser VI. Brief, nicht lange vor dem Tode geschrieben, ist die eigenste Urkunde dieses hohen Lebens. Wenn die drei Jünger dieses so kurze Schreiben oft und gemeinsam lesen sollen, so verleiht er es ihnen als Heiligtum ihres Kultes, als Symbol, das im heiligsten Spiel das magische Mittel für die Einheit des neuen Staates ist. An Hermias bewies sich das Wunder Platonischer Wiedergeburt. Das deutet auf den Piaton der höchsten Stufe, ohne dessen Anblick der Timaios-Mythos so wenig erfaßt werden kann, daß manche in dieser Dichtung nichts als den poetischen Schleier sehen, mit dem Piaton wissenschaftliche Erwägungen umkleidet. Wir haben uns nicht angemaßt, auf diesen Blättern Piatons Wesen darzustellen, und beschränkten uns darauf, sein Wollen im Hier und Jetzt, seine schicksalhafte Sendung zu beschreiben. Aber an dieser Stelle, wenn irgendwo, ist Piatons Wesen und Werk der gleiche Akkord, strahlt sein Wesen rein durch den Mythos. Fern sei der Gedanke, daß er sich selbst zum Gott erheben wollte, aber im Ringen mit Staat und Menschheit führte ihn das Schicksal von Stufe zu Stufe auf den übermenschlichen Rang, wo er erkennt, daß er als Einziger die göttliche Idee in sich trägt und daß nur wenige ihm zu folgen vermochten. Darum ist Er der Zugang zum Göttlichen, die Verleiblichung Gottes in jener Erdenstunde. Er ringt nicht wie Prometheus gegen Zeus aufgelehnt, aber unwillkürlich und in stetigem Wandel nimmt er die Züge des Weltschöpfers an. Im strengen Sinne „anthropomorph" sieht er den Schöpfergott nicht, denn Gottes Sohn, der zweithöchste Gott, ist die 362
unsagbar schöne Weltkugel, Gott-Vater ist stofflos, unsichtbar. Der schöpferische Eifer aber und der heroische Stolz, die er in eigener Brust fühlt, bedeuten ihm das „anschauliche" Wesen der Gottheit, sind Gottes Verwirklichung in dieser Stunde. Piaton sieht sich den chaotischen Kräften gegenüber, die er zum beseelten Staat ordnen will. . so schafft auch der Schöpfer die Welt nicht aus dem Nichts: er ist der Bildner, der Demiurg, der das wogende Chaos vorfindet, es ordnet und zum Kosmos gestaltet. Piaton findet die Idee in seiner Seele, er bildet sie nicht willkürlich, sie muß eine Erinnerung aus Vorgeburten sein . . so schafft der Demiurg nicht willkürlich: er schaut auf die Urbilder, die Ideen, die nichts als s e i n e Gedanken und doch ewige notwendige Gedanken sind (39 E). Auch im sichtlichen Verfall des Griechentums ist seine Sendung kein kaltes Pflichtgebot, denn seine Seligkeit ist die Schau der Ideen und, was er tut, tut er mit der Gebärde des freien Mannes aus quellender Freude, dem Stoff die Form der Schönheit aufzuprägen. . so muß Gott aus überquellendem Reichtum die Welt schaffen und, weil er der durchaus Gute ist, muß er das durchaus Schöne machen. Nicht daß Piaton die Mängel der Welt nicht sieht: aber sie stammen aus dem trägen Chaos, das vielleicht, wie es in den Gesetzen scheint, selbst als eine Art böser Weltseele erscheinen kann. Doch das Gestaltende, Sinnverleihende, was Auge und Seele im Kosmos erkennt, ist vollendet schön. Zeit, Weltall, Götter hat der Demiurg geschaffen, alles was unsterblich, wenn auch als Werdendes und Gewordenes nicht schlechthin ewig ist. Darf man an Piatons stolze Gebärde denken, mit der er die Beteiligung an der Kolonie der Nomoi ablehnt, und an den heiligen Brief an Hermias, der sich nicht mit politischem Rat bemengt? Gott-Vater darf nicht selbst Hand an die sterblichen Geschöpfe legen. Er versammelt die von ihm geschaffenen Götter um sich und spricht solche Worte: „Götter der Götter, Ihr Geschöpfe, deren Schöpfer und Vater Ich bin, die durch Mich geworden unlösbar sind, wenn Ich sie nicht lösen will. Lösbar ist alles, was gebunden, — was aber schön gefügt ist und sich wohl verhält, zu lösen wäre böse. Daher denn ihr, die ihr geworden seid, vollkommen unsterblich und unlösbar zwar nicht seid, aber doch nicht werdet gelöst werden nocäi des Todes Verhängnis erlosen, denn in Meinem Willen habt ihr ein stärkeres und herrlicheres Band empfangen als jene, durch die ihr gebunden wurdet bei der Erzeugung . . . " Er hat diese Götter berufen, die sterblichen Wesen zu schaffen, denn er schaut auf die Idee des Weltalls und erblickt in ihr die Ideen der sterblichen Gattungen. Er will auch sie geschaffen sehen, weil sonst das Weltall nicht vollkommen wäre. Nur den göttlichen unsterblichen Teil des Menschen schafft er selber: noch einmal tritt er an den Mischkrug, in dem er die Weltseele gemischt hat, und mischt in ihm aus gleichen Bestandteilen, aber weniger rein (weniger harmonisch?) jene Prinzipien. Dann teilt er das Gemisch in so viel Einzelwesen, als er Fixsterne geschaffen hatte. Jede dieser unsterblichen Seelen, der Seelenteile, die 363
später ins Haupt eingeschlossen werden, setzt er nun auf einen der Fixsterne, so daß sie wie auf einem Fahrzeug in der ungeheuren Kreisbahn die Welt umlaufen, zeigt ihnen die Natur des Kosmos und kündet ihnen die verhängten Gesetze von Geburt und Seelenwanderung. Jede soll ausgesät werden auf einen der Planeten oder die Erde, um danach die sterblichen Seelenteile und den Leib zu empfangen. Wenn der göttliche Teil der Seele in ihnen herrscht über das Sterbliche, dann kehrt er nach dem Tode, der Trennung vom Sterblichen, wieder zurück auf den heimatlichen Stern, auf dem er den ersten Weltumlauf befahren hat. Herrschten in der Seele aber die niederen Anteile, so muß sie die Wanderung durch andere Leiber antreten (41 A—42 C). Die Seelen der Männer, denen Tapferkeit und Gerechtigkeit fehlte, werden als Weiber wiedergeboren. Der Mann, der das Wissen schlichter Erfahrung sammelt ohne philosophisches Denken, erscheint wieder als Vogel. Welchen aber die Liebe zur Weisheit ganz fehlt, deren Leib wird zur Erde niedergezogen, ihr Haupt verlängt sich aus der Kugelform nach unten, die freien Hände werden zu Füßen: so werden sie aus Trägheit zu vierfüßigen Landtieren. Die einsichtslosen kriechen auf dem Boden als Schlangen. Das ganz gedankenlose und mit jedem Frevel befleckte Geschlecht wird in die Tiefe des Wassers und des Schlammes verstoßen, als Fisch und Muschel, vom Schöpfer nicht mehr des Atmens der reinen Luft gewürdigt (91 D—92). Das alles zeigt der Gott den unsterblichen Seelen, die vor ihrer Geburt auf ihren heimatlichen Sternen den Kosmos umkreisen, damit er schuldlos sei an ihren Freveln. Dann gibt er diesen Samen der Seele den Göttern, damit sie ihn durch Leib und sterbliche Seele zum Menschen ergänzen: „. . . so wendet euch, gemäß der Natur, zur Schöpfung der Wesen, indem ihr nachahmt Meine Kraft, mit der Ich euch zeugte. Und für alles in ihnen, dem gebührt, dem Unsterblichen gleichbenannt zu sein, da es göttlich heißt und in denen herrscht, die immer dem Recht und euch folgen wollen, werde Samen und Urkeim Ich euch reichen. Des weiteren aber vollendet ihr, Unsterblichem Sterbliches verwebend, die Geschöpfe und reicht ihnen Nahrung, auf daß sie wachsen, und wenn sie verscheiden, so nehmt sie wieder auf" (41 CD)! Danach säte er die Seelen auf Erde, Mond und andere Planeten und überließ den „jungen Göttern" ihr Werk. „Und als er dies alles geordnet hatte, verharrte er in der ihm allein eignen Wesenheit." Er kehrt also zurück in sein Wesen, das Piaton vor der Schöpfung der sterblichen Geschöpfe angedeutet hatte: „Als aber der zeugende Vater erkannte, wie das All bewegt und lebendig ein Schmuckstück der ewigen Götter geworden, gefiel es ihm wohl, und er freute sich und war gesonnen es seinem Urbilde noch ähnlicher zu machen." Wie der Weise in der Ideenschau Seligkeit findet, so schaut auch der Demiurg diese Ideen, aber die Schau ist für ihn, den Schöpfer, zugleich ein Schaffen: sein Gedanke wird leiblich (34 B). Und diese Verleiblichung, dieser Kosmos, ist die Freude des 364
höchsten Gottes. Schau, Schöpfung, Freude sind die drei Wesenszeichen höchsten Lebens. Dem Menschen, der selbst Leib ist, ist Schau das Höchste . . dem Gott, der selbst die Idee des Guten ist, ist Schöpfung des Weltleibes die Freude. Ob Piaton dies Menschliche oder dies Göttliche stärker in sich gefühlt hat, bleibt sein Geheimnis. Aber wenn er den Geist höher stellt als die Lust, so ist sein letztes und höchstes Wort, daß zum Wesen des höchsten Gottes Schöpferwille und Freude an der Leiblichkeit gehören. Piaton ist die Kraft, die das Unvollkommene vervollkommnet. Wie er im Leben und Gesamtwerk Sokrates' Gestalt vollendet, wie er im „Phaidon" die irdische Landschaft zum Paradies läutert, wie er im Kritias-Epos das Athen der Marathonzeit zum Ur-Athen steigert, so kann er nicht anders, als das Gefühl seiner eigenen Person auszustrahlen und zu vollenden im Bilde der Gottheit, die über dem Firmament thront. „Kritias" sollte das Nationalepos werden. „Timaios" ist die Weltdichtung, und der Demiurg ist, wie mehrmals gesagt wird, der Dichter, der Poietes der Welt. Diese Dichtung ist Spiel und höchste Wirklichkeit: das Bild ewiger Schönheit weckt den Eros im Menschen, daß er den Sinn der Schöpfung durch Denken und Tun vollende. Der „Kritias" blieb unvollendet, aber Piaton hat nicht das Epos zufällig abbrechend beiseite gelegt, sondern mit einem Fingerzeig auf den heiligen Zweck geschlossen: „Zeus, der Gott der Götter, König nach dem Gesetz . . . beschloß, als er das edle Geschlecht im kläglichen Zustande erkannte, ihnen eine Buße aufzuerlegen, damit sie zur Besinnung kämen und besser würden. Er versammelte alle Götter auf ihre ehrwürdigste Stätte, die, in der Mitte des ganzen Kosmos gelegen, alles überschaut, was der Schöpfung teilhaft geworden, und da er sie versammelt, sprach er . . . " Wie Kritias aus des Timaios Hand die Menschen seines Staates empfing, so kehrt nun sein Epos in den TimaiosMythos zurück: unverkennbar ist hier das Nachbild der Götterversammlung im „Timaios". Dort sollten die Menschen geschaffen, jetzt sollen sie geistig wiedergeboren werden. Wir wissen, daß dies göttliche Werk nicht von Dauer war: Atlantis ist im Ozean versunken, von UrAthen ist nach furchtbaren Katastrophen nur ein Bruchteil zurückgeblieben. Das besagt: Das Zeitalter Kronos', in dem die Menschen wie eine Herde von Göttern gelenkt wurden, ist vorbei . . danach ist auch der Reichtum der sinnlichen Erde verarmt . . dennoch gibt es eine geistige Wiedergeburt: sie ist einzig gegeben in der Platonischen Ideenschau und Religion. Das ist der Sinn des „Timaios". In der Sprache des Mythos ist für diesen Platonischen Geist die Betrachtung des Kosmos, des Firmamentes gesetzt, denn in ihm erblickt man die ewigen unveränderlichen und unsagbar schönen Kreisbahnen des Weltfeuers. Dies Gesetz gab der Demiurg der Seele bei ihrer vorgeburtlichen Sternenbahn: wenn sie dem Leibe verbunden wäre, den Blick auf die Kreisläufe des Selben und Gleichen zu richten und sie in sich selber 365
nachzuahmen, bis sie das chaotische Gewühl des Körperlichen überwältigt hätte und zu ihrer eignen Form und edlen Haltung zurückgekehrt wäre. Die Rückkehr auf den eigenen Stern ist kein Bild des Todes, sondern des vollendeten Lebens, das in die Bewegung des Weltganzen harmonisch sich einläßt. Das alles ist mehr als ein Gleichnis: die Idee des Guten ist nicht unmittelbar sichtbar, aber das leibhafte Weltall ist ihr aufs Äußerste ähnlich, ist ihr Sohn, ist selbst seliger Gott. Das erklärt, warum Piaton so pythagoreisch die Mathematik liebt. Sie gibt ihm in der Sternkunde nach langen Mühen die Mittel, selbst die scheinbar regellosen Bahnen der Planeten als regelmäßige Kreise zu begreifen und zu schauen. Diese Kopernikanische Sehweise war seine hohe Lust. Wenn man die Mathematik fürchtet, so ist es, weil sie mißbraucht wird, die lebendige Gestalt zu ersetzen, die Welt zu mechanisieren, durch technische Kniffe hinter ihre Geheimnisse zu kommen und sich Vorteile zu verschaffen. Erstaunlich wie die Pythagoreische Mathematik der harmonischen Proportionen das entgegengesetzte Lebensgefühl weckt. Piaton haßt die Mechanisierung, aber die reinen geometrischen Bahnen der Gestirne sind ihm nicht Ausdruck mechanischer Notwendigkeit, sondern einer Schönheit, die nur in ihrer göttlichen Beseeltheit gründen kann. Die Modernen empfinden individualistisch nur in der Willkür die Seele und sehen nur Mechanisches, wo sie diese Willkür ausschalten können. Piaton sieht in verworrener Willkür bloßes Chaos, bloßen Stoff, kein wirkliches Sein, aber in der Schönheit des Gesetzes die göttliche Seele. Die Planeten ordnen sich ihm harmonisch nach den Intervallen der Musik. Wir sehen die Ordnung des Kosmos, um in ihrem Rhythmus mitzuschwingen. Verrucht, wer nach Lücken in ihr sucht, um aus ihnen in selbstsüchtiger Begierde die Kräfte des Chaos zu entfesseln. Die Schönheit der Welt ist ihr einziger Sinn, und der Eros zu ihr die schöpferische Weltkraft. Man vermißt im Weltbilde des „Timaios" den Tartaros, der doch vom „Gorgias" bis zu den „Gesetzen" unentbehrlich zur Formung und Erziehung der Menschheit schien. Hier aber in seinem Testament ist Piaton, frei von diesen staatlichen Zwecken, der vollendete Mensch, der der vollendeten Welt gegenübersteht und nichts anderes will, als im Menschen die Liebe zu dieser Welt erhöhen und reinigen. Sühnung ist hier nur in der Seelenwanderung gegeben, und eigentlich nicht Strafe, sondern Rangordnung, der jede Seele durch eigene Lebenswahl sich einstuft. Man bedauert heute diese Tiere, die für Piaton nichts zu bedeuten hätten, als die Strafe für die Menschen zu tragen, und man will im „Timaios" einen umgekehrten Darwinismus finden. Kleinliche Verkennung. Piaton sieht die Welt als Bild zeitloser Ewigkeit, er sieht ab von der Richtung des Werdens, denn der Weg nach oben oder unten ist für ihn der gleiche. Er meint im Letzten nicht Zweck und Ursache, er blickt auf das Wesen. Darum sieht er im Tier, das am Boden haftet und dessen Haupt sich nach der Weide zu ver366
längt, einen Teil der Weltseele, der sich dumpf nach unten sinken läßt und vom Weltall nur das trübste Bild aufnimmt. Aber er sieht im selben Tier die Weltseele, die eine verworrene Sehnsucht nach dem Licht, nach ihrem Stern in sich trägt — denn die Seelenwanderung führt ja durch die Tierreihe ebenso hinauf wie hinab. Er empfindet ganz wie Goethe das Leben von Mensch und Tier als große Einheit ohne sonderliches Interesse an der historischen Zeitfolge. Gott verlieh der Seele jenen unsterblichen Keim als ihren Daimon, damit sie den Leib von der Erde aufrichte, die Augen auf den Kosmos lenke, denn wir sind himmlisches, nicht irdisches Gewächs. Die Entstehung der Seele ist an den heimatlichen Stern geknüpft. „Denn dort, wo das erste Werden der Seele keimte, knüpfte die Gottheit unser Haupt und Wurzel an und richtete so den Leib auf." Wer diesen Daimon als Hausgenossen in sich herbergt und ehrt, der wird glückselig. Als Mensch, der Glück und Weisheit vereint, hat Piaton unter den Jüngern fortgelebt. Der letzte Abend seines Lebens, im Jahre 347, ist symbolhaltig wie Goethes letztes Wort. Piaton, der 81jährige, ließ, schon fiebernd, eine Flötenspielerin aus Thrakien spielen und, da sie den Takt verfehlte, gab er ihn mit seinem Finger an. Ein Chaldäer war zu Besuch, und Piaton nahm gern dessen Bemerkung auf, nur ein Hellene verstünde sich auf Maß und Rhythmus. Das hat Piaton in der Tat als seine Sendung empfunden: der sich verwirrenden Welt wieder das heilige Maß zu bringen. Das ist sonst ein Kampf für das agathon, eine Sehnsucht nach Vollendung — hier ist es wunschloses Ausstrahlen der Fülle des ewigen Lichtes. Das Pathos der Schönheit durchdringt im „Timaios" immer wieder die langen Beschreibungen. Die Idee des Göttlichen verleiblicht der Demiurg im Feuer, damit es so leuchtend und schön wie möglich sei, bildet aus ihm die Fixsterne und verteilt sie über das Firmament als schimmernden Schmuck (40 A). Die Planeten sind die ältesten Götter im Innern der Weltkugel . . die Erde ist Wächterin von Tag und Nacht . . die anderen nähern und entfernen sich in ihren Kreisbahnen, eilen wechselnd einander nach und voraus, stehen sich gegenüber oder verfinstern sich und führen so den großen Reigen auf (40 C). Darum sieht Piaton im leiblichen Auge ein so hohes Gut: „Denn wenn wir nicht Sterne noch Sonne noch Himmel geschaut hätten, so wäre auch keiner der Gedanken über das Weltall ausgesprochen." Seine Philosophie stammt aus dem Gesicht (47 AB). So werden noch einmal die Deuter, die in seiner Weisheit Abwendung von der Sinnenwelt finden, Lügen gestraft. Der göttliche Mann, den der leibhafte Eros von Stufe zu Stufe bis zur Idee des agathon getrieben hat, erfüllt zuletzt sein Leben im Eros zum Weltall, das im „Timaios" in fast blendendem Glänze schimmert: daher jene Preisung der leiblichen Augen und des Sternengebäudes — die freilich auch dem blinden Homer noch anstehen würde. Piatons Wesen ist sinnhafte Schau der Welt (sinnhaft in doppelter Bedeutung) und schöpferische Ordnung des Verwor367
renen. Der Einheitspunkt für beide Reihen, das Denken und das Tun, der mystische Scheitelpunkt des Winkels, ist das Bild, die Idee. Auf die Idee des agathon folgt in der Stufenreihe der Werte nicht eine Idee um die andere, sondern sogleich das Leibliche, das Wahrnehmbare. Gott-Vater schafft Gott-Sohn, den leiblichen Kosmos. Mit diesem mächtigen Akkord schließt der Hymnus des „Timaios": Der sichtbare Kosmos ist Abbild des höchsten Gottes, ist „ w a h r n e h m b a r e r " Gott. Die Lust des Demiurg ist eigene Verleiblichung und ist Vergöttlichung der Welt. Platon bedarf nicht wie unsere ichsüchtige und darum zerrissene Zeit der ausdrücklichen „Bejahung des Lebens", weil sein Werk ein Hymnos auf die Schönheit des Alls ist. Dies All hat doch, wie schon der „Menon" lehrte, Raum in der Seele des Menschen, sein Bild kann durch Erinnerung geweckt werden. Der „Phaidon" lehrt das geistige Auge in den Erscheinungen auf die Idee zu richten, nicht um die Deutung des Weltgeschehens abzulehnen, sondern um an Stelle der mechanischen Ursächlichkeit d a s schöpferische Prinzip zu setzen, das die Schönheit und Tauglichkeit (arete) der Dinge erklärt. Das konnte nur geschehen, wenn die Idee des Guten nicht nur Bild, sondern zugleich schöpferische Macht wurde. Der „Phaidros" zeigt, daß die Idee der Schönheit wirklich Erscheinung wird. Diese beiden Gedankengänge krönt der „Timaios": Zwischen der Idee des Schönen, die so innig verwandt der Idee des Agathon ist, und dem leibhaften Kosmos als Erscheinung besteht kein merklicher Zwiespalt mehr . . . Unvermindert waltet in den späten Werken, in solchen Worten der Entzückung, die Weltkraft, die der Schönheit antwortet: der Eros. Einst hat Sokrates diesen Eros erweckt, den zu ihm selbst und den zur Idee. Von ihm ist Platon nie abgewichen. Anfangs trieb dieser Eros ihn, dem Sokrates-Gedanken die Macht über Athen zu gewinnen, selbst zu herrschen. Dann war es der Eros zum Jüngling, zur Schönheit und Arete Dions, die ihn auf den Gipfel des Menschentums hob und ihn lehrte, daß in der menschlichen Gestalt aller Sinn der Welt befaßt ist. Darum gründete er den geistigen Staat, der die Erziehung der schönen Jugend, die Erzeugung des Gleichen verbürgt. Das alles erfüllt ihn als Greis: von seinen geistigen Söhnen, dann von seinen Enkeln erwartet er in seinem Namen und Glauben die große Tat. Er ringt nicht mehr um die Macht, er strahlt Macht aus. Der Eros zu Sokrates und Dion war wirklich und war religiöser Mythos zugleich, aber der Eros des weisen Sehers bedurfte als Gegenbild den ganzen Kosmos in seiner Schönheit.
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Nachwort zur zweiten Auflage Die erste Auflage erschien im Frühjahr 1933 im Verlage Bondi Berlin mit der Signette „Blätter für die Kunst" innerhalb der Reihe „Werke der Wissenschaft". Stefan George hatte 1932 das Manuskript gebilligt. Wenn ich nach Durchsicht dieser Platon-Darstellung bei ihr ohne wesentliche Änderungen beharre, so könnte es scheinen, daß ich weder durch ein ungeheueres Weltgeschehen noch durch Fortschritte der wissenschaftlichen Forschung grundsätzlich Neues gelernt hätte. Dennoch hoffe ich, damals auf einen Standpunkt gelangt zu sein, von dem aus sich eine geistesgeschichtliche und philosophische Forschung ohne Bruch weiterentwickeln ließe. Der Untertitel „Der Kampf des Geistes um die Macht" ist auch einigen, die mein Buch lieben, bedenklich geworden, denn so Bittres haben wir Deutschen unter der Maßlosigkeit, der Hybris einer politischen Diktatur gelitten, daß schon das Wort „Macht" unsere empfindlichen Nerven schmerzt. Man vergißt dabei, daß es selbst in der staatlichen Gemeinschaft zwei verschiedenartige Macht-Ebenen gibt: Im Heiligen Römischen Reich nach Leibniz Lehre die Königs-Macht als staatliche potentia — die Kaiser-Macht als auctoritas, als geistig-moralische Kraft. Was aber soll man den bösen Gewalten in der Menschheit, soweit man auf Zwangsgewalt zu verzichten vermag, anderes entgegenstellen als die Macht des Geistes, der Idee, der Gerechtigkeit? So hatte ich Piaton schon 1911 im Aufsatz „Romantisch und Dionysisch" (Jahrbuch für die geistige Bewegung) dargestellt: Sein Werk als wirkliche Macht des Geistes, nicht als bloße wissenschaftliche Leistung — jene ist, so meine ich, uns heute notwendiger als je. Trotzdem ändere ich den Titel, um nicht irreführende Sentiments zu wecken. Die Entscheidung, was nach weiteren philosophischen Fortschritten Geltung behält, berührt den alten Streit, ob die Platon-Forschung Sache der Philosophie oder der Philologie sei. Zwar ist es klar, daß sich für diese Aufgabe philosophischer und historisch-sprachlicher Sinn vereinen müssen. Aber in der Tat hat die Erfahrung oft bewiesen, daß die Philosophen, befangen in der modernen Systematik, in aller logischen Subtilität Piatons Werk in der falschen Richtung angehen, so daß man die Lösung eher von einem Philologen mit natürlichem Sinn für Philosophie erwarten konnte. Es gilt nun von der Wissenschaft überhaupt: um fortzuschreiten bedarf sie immer neuer 24
Hildebrandt, Piaton
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Spezialisierung, um aber darüber den lebendigen Sinn nicht zu verlieren, bedarf sie, im Wechsel mit ihr, zumal bei der Erforschung der großen Werke der Menschheit, auch der ganzheitlichen und das ist der philosophischen Zusammenfassung und Wesensbetrachtung. In der Altertumsforschung lief mit Wilamowitz wieder eine große Woge der universaleren Betrachtung an, aber über das Wesen dieses lebendigen Geschehens ist mit solcher Formel noch wenig gesagt. Mit Wilamowitz kam die „historisch-kritische Methode" bewußt zum Siege. In der Zeit der nationalen, religiösen, geistigen Skepsis wurde die reine Wissenschaft zum Sinn der Welt, der Gelehrte zum höchsten Repräsentanten. Aber unter dieser Voraussetzung war — was leicht übersehen wird — Wilamowitz als berühmte Person keineswegs Vertreter der zunehmenden Spezialisierung, sondern im Gegenteil ein universal interessierter Geist, ein für Wissenschaft und Leben offener Forscher1. Das Wesen kritischer Wissenschaft ist profan, aber potentiell enthält das profane Leben in sich das Verehrungswürdige und das Verachtungswürdige. Wilamowitz besaß in seiner Universalität auch noch vom Erbe der Winckelmann und Goethe, aber dies verkümmerte in seinem kritischen Historismus, dem unbedingten Relativismus. Gerade weil die kritische Wissenschaft neutral ist, bedarf sie eines edlen Gehaltes oder Zweckes, dem sie dient: Doch Wilamowitz lehnte programmatisch das Ideal der Klassik, die Norm-Gesinnung ab und sah in Hellas einen Wissensstoff wie alle anderen. Sein Ideal war der moderne kritische Gelehrte, nicht Hellas und seine Geistes- und Kunstwerke. So schwand die Ehrfurcht vor der einstigen Norm. Es war die Zeit, in der man eine Arbeit gern verächtlich kritisierte: „Dichtung, keine Wissenschaft". Die natürliche Folge dieser Gesinnung waren seine „populären" Werke, die trivialisierenden Übersetzungen und Deutungen der Tragödien. Sie bewiesen auch, daß Wilamowitz keinen Halt hatte in der Philosophie Piatons. Neben der philologischen Betrachtung, aber deren Mittel beherrschend, stand uns anfangs des Jahrhunderts die Platon-Erklärung Natorps zu Gebote. Er arbeitete ganz als systematischer Philosoph, als Idealist, als Neukantianer. Er ging wie unsere Klassik von der NormGesinnung aus in bewußter Gegnerschaft zum historischen Relativismus. Aber seine subtilen Analysen beschränkten sich doch damals bewußt auf den idealistischen Begriff und gaben einer suchenden Jugend den Blick auf das schöpferische Leben nicht frei. Immerhin weckten diese wissenschaftlichen Spannungen geistige Kräfte und Bewegungen. Schon vor dem Jahrhundertwechsel war ein Ruf der neuen Dichtung an die Jugend ergangen — zuerst schwer zu verstehen, aber allmählich wirkend: „Hellas ewig unsre Liebe". Und in der Prosa war die Rede 1 Den Charme dieses Lehrers hat Karl Reinhardt (Neue Rundschau 1955 H. 1) dargestellt, obwohl er sachlkh sein scharfer Gegner wurde.
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vom „Hellenischen Wunder", von einer Jugend, die das Leben wieder glühend anzusehen beginne. Es erwachte ein neuer Enthusiasmus für den Mythos von Hellas, dem weder die kritisch-relativistische Historie noch die logische Begrifflichkeit der Philosophie mehr genugtun konnte. Als ich dieser neuen Gesinnung durch einen Angriff auf Wilamowitz Ausdruck gab, fand ich Beifall auch bei strengen Philologen, auch bei Freunden von Wilamowitz, denn in dieser Zeit, in der Dichtung und Kunst wieder zu ernsteren Lebensmächten wurden, sahen auch jene in dessen populären Äußerungen eine Entgleisung. Und daß diese relativierende Gesinnung auch die geschichtlichen Darstellungen von Wilamowitz durchdrang, ließ sich nicht übersehen 2 . Aus dem neuen Erleben schrieb ich 1912 die Einleitung zu meiner Gastmahl-Übertragung, von der mir Gundolf und Wolfskehl versicherten, daß sie die erste künstlerische Deutung des Werkes sei, obwohl ich an solche Kategorien gar nicht gedacht hatte 3 . Weit über diesen Einzelversuch, aber durch ihn mit angeregt, schrieb danach Priedemann seine Darstellung: „Piaton. Seine Gestalt", aufgebaut auf dessen Gesamtwerk. Das war eine Sicht ganz nach Stefan Georges Herzen, sie zeigte er uns als Ziel künftiger Forschung. Friedemann war Schüler Natorps, konnte sich aber an dessen begriffs-idealistischer Methodik nicht mehr genügen lassen, als er Wolfskehl und George selbst nahe gekommen war: von da fand er den Weg zu seiner enthusiastischen Deutung Piatons. Sein Buch erschien Ende 1914, im ersten Kriegsjahr, im Verlage der „Blätter für die Kunst" 4 . Wie weit Natorp durch dies Buch seines Schülers mitbestimmt wurde zum Bruch mit seiner bisherigen rein logischen Methode, soll nicht erörtert werden. Genug — er ließ die alte Untersuchung 1921 fast unverändert wieder drucken, weil nur eine vollständig neue Gestaltung seine neue Überzeugung ausgedrückt hätte. Diese stellte er dar in einem umfangreichen Anhang: „Logos — Psyche — Eros", während er sich vorher bewußt auf den Logos beschränkt hatte. Die Eros-Deutung war das umstürzende Moment. Während die Erstausgabe als Einführung in Kants subjektiven Idealismus aufgefaßt werden könnte, war nun die Beziehung zu Leibniz deutlicher, und die neue Deutung der Idee als des „Urkonkreten", der Weg über Leibniz' Monaden zur nach2 Erfreut zustimmend schrieb mir Otto Crusius, der Münchner Graezist, der als Erbe von Erwin Rohde galt. Er fand meine Auffassung des Griechentums „viel historischer", als die Modernisierung von Wilamowitz. Aber als ich ihm dann eingestand, daß ich kein Philologe, sondern Arzt sei, konnte er seine Enttäuschung doch nicht ganz verhehlen. Gundolf charakterisierte die allgemeine Stimmung: „Nemo contra professorem nisi professor." 3 Verlag Meiner, Leipzig 1912. Philosophische Bibliothek. 4 Friedemann hatte, als ob er sein Schicksal ahnte, die Arbeit in knappe Zeit gedrängt, gerade vor Kriegsausbruch beendet und erhielt im Winter kurz vor der Masurenschlacht, in der er fiel, den von George besorgten Druck. Er hatte mir Abänderungen anheimgestellt, wovon ich auf Georges Wunsch keinen Gebrauch machte.
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kantischen Mythik weist auf Schellings „positive Philosophie". Der Anhang läuft aus in eine Auseinandersetznung mit Friedemann, dem er zwar nicht ganz zustimmt, aber der Unterschied liegt nicht in der Substanz der philosophischen Deutung, sondern nur im Letzten, im religiösen Gefühl. Natorp hat Bedenken gegen Friedemanns heroische Deutung Piatons, gegen das zu Diesseitig-Kultische, er will das Kosmische und Jenseitige stärker betonen. Vermutlich hat er Friedemanns enthusiastischen Ton dahin mißverstanden, als bestünde die Neigung zur kultischen Verehrung eines lebenden Menschen. Wie dem auch sei — ohne Übertreibung kann man sagen: diese Auseinandersetzung mit Friedemann ist ein Zeichen für das Ende des Neukantianismus 5 . Desgleichen aber verlor die von Wilamowitz vertretene kritisch-historische Auffassung gewiß nicht ihre methodische Geltung, aber doch ihren Anspruch auf geistige Führung. Kurz zuvor, 1919, war sein großes Werk „Piaton" in zwei starken Bänden erschienen. Es war aus erstaunlicher Beherrschung des Griechischen und Fülle des Wissens geschrieben, so daß auch ich ihm für meine Studien noch mehr verdanke als Natorps begrifflicher Analyse. Aber im Menschlich-Geistigen bedeutete es keine Annäherung. Wenn Wilamowitz den „Phaidros", diese hohe methaphysische Dichtung, diese religiöse Weihe genrehaft als „schönen Sommertag" einordnete, so bekannte er sich zu einer privatpsychologischen Aufassung ohne echte Verantwortung. Solche Geisteswissenschaft hob sich nicht zu neuer Verehrung, sondern diente der literarischen Trivialisierung. Dagegen brach in der Philologie eine neue Epoche, ein neuer Humanismus an: nicht mehr Analyse um der Analyse, Kritik um der Kritik willen, sondern Erneuerung des Ideals der Klassik: Hellas als Vorbild der Erziehung. Die schönste Frucht dieser philologischen Forschung war vielleicht Werner Jaegers: „Aristoteles". (1923) Da war kein Verlieren in Einzelheiten, kein Vergrübein in Probleme, sondern eine lebendige Schau, eine gestalthafte Darstellung, für Piatons Bild ebenso wesentlich wie für das des Aristoteles, verstanden aus dem Geiste, in dem Piaton und Aristoteles noch einig sind. Und wie zur Bestätigung des Dichters, der das Bild fruchtbar, den Begriff unfruchtbar nannte, errichtete Jaeger das Bild des Hermias, des Platonischen Tyrannen von Atarneus, anders als Dion, doch auch ein Vorläufer Alexanders. Dies Menschenbild sagt mehr über Piaton und seine Akademie als die subtilen Streitigkeiten über hypothetische Logik und Diairesen. Jaeger begann sein erstes Kolleg nach dem Weltkrieg mit einem Gedicht Stefan Georges, dessen Ruf damals tief in die Schicht der Gebildeten gedrungen war. Hellas als Vorbild des schöpferischen Lebens, nicht 5 Natorp, bei dem ich damals meine philosophische Promotion nachholte, schrieb an midi, daß er seine sämtlichen Kollegs grundsätzlich umarbeiten müsse. Er ließ sich von mir die damals schwer erreichbare Gastmahl-Ausgabe geben.
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analytische Wissenschaft um ihrer selbst willen. Jaeger war mit der systematischen Philosophie kaum vertrauter als Wilamowitz, wie er geht er bewußt aus von philologisch- historischer Sicht. Ausdrücklich sagt er (394), daß er Aristoteles „geistgeschichtlich" betrachten will, innerhalb der „geistigen Bewegung seines Jahrhunderts", eine Betrachtungsweise, die meist der abstrakt-unpersönlichen Art der systematischen Philosophen fern liegt, ja bisweilen unverständlich bleibt. Aber der Gegensatz zur vorangehenden Periode ist dennoch entschieden: Jaeger sucht in dieser Platonisch-Aristotelischen Philosophie ein Klassisches, Vorbildliches, die Norm — die kritische Historie ist ihm Mittel, nicht Zweck, der Relativismus ist überwunden. Jaeger analysiert nicht als Systematiker: er betrachtet wesenhaft das Philosophische philosophisch. Für das hohe Niveau, das durch diese erzieherische Hoffnung erreicht wird, ist ein Beispiel die lange vorbereitete Tagung „Das Gymnasium", 1925 in Berlin „unter überaus großer Beteiligung", die aus der „zeitgemäßen" Einschränkung der Gymnasien ihre Widerstandskraft erhält 8 . Die führende Kraft war Werner Jaeger, der mit seinem Vortrag „Antike und Humanismus" den Ton angab und „das wahre Wesen des Humanismus gegenüber veralteten oder einseitigen Anschauungen überzeugend" darlegte. (Morgenstern.) Jaeger kämpft gegen verschiedene Fronten: gegen mechanisierende Zivilisation, gegen jenseitige Religiosität, gegen Ermüdung des abendländischen Geistes. Aber sein thematischer Gegensatz ist die „heutige Altertumswissenschaft", weil sie nicht mehr wie die Klassik die Alten vorwiegend in ihrer „Bildungsbedeutung" bewerte. (4). „Sie ist rein historische Forschungsdisziplin geworden, und was den Philologen und Altertumsforscher interessiert, hat keineswegs alles humanistischen Wert, jedenfalls großenteils in keinem anderen Sinn als jedes beliebige andere historische Wissen. Gelehrsamkeit ist nicht Humanismus." Damit war das Ende des von Wilamowitz verehrten Ideals der historisch-kritischen Wissenschaft (des Ideals, nicht der Methode) verkündet: Es gehörte zum späten 19. Jahrhundert. Nun war überraschend an dessen Stelle eine „geistige Bewegung" getreten. Für den Griechen lag der Lebenssinn in der Vollendung seiner Wesensform, in seiner Schönheit (7). Athen ist die Schule von Hellas, von der Welt. Humboldt gründete das Gymnasium auf sein philosophisches Ideal, aber dessen Ziel ist die Idee der „deutschen Nationalbildung". Philosophisch galt nunmehr die „Wesensschau" von Husserl und Scheler. In der Dichtung konnten auch Gedanken von Hofmannsthal und einige Gedichte Rilkes anregen, aber entscheidend war damals George. — Walter Kranz deutet im zweiten Vortrag den Sinn des Gymnasiums aus dem Geist der Jugend. Er berief sich auf Nietzsche, mehrmals auf Gundolf, vor allem aber auf jenen Blätter-Spruch Georges: „Daß ein Strahl von Hellas auf euch 6
Vorträge, veröffentlicht als „Das Gymnasium", Leipzig 1926.
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fiel. . . . " Das Leitwort dieser neuen Erziehung ist ihm „das Nietzschewort, daß nur, wer sein Herz an irgendeinen Großen gehängt hat, die erste Weihe der Kultur empfängt". Das Herz dieser neuen Bewegung ist Sokrates Gestalt in Piatons mythischen Dialogen: Phaidon Phaidros und besonders Symposion, aber ganz in Hölderlins und Georges Sinne als Vergegenwärtigung hier und jetzt. „Ragt nicht die Platane des Phaidros noch in die sonnenbeglänzte Luft? Ist die Charis der Jünglinge um Sokrates verblaßt?" Der strenge Eifer des Lernens sollte damit nicht gelockert werden. Ewald Bruhn sprach als dritter vom „Gymnasium als Arbeitsschule", besonders von der Sprachschulung. Aber er beschließt den Vortrag damit, daß die Alltagsarbeit nicht alles sei: „höheren Wertes, unvergeßlich für den Lehrer und Schüler, ist das E r l e b n i s , wenn ich auch nur für einen Augenblick, mein armes kleines Ich vergessend, mich mit ganzer Seele hineinfühle in einen Menschen der größer, stärker, besser ist als ich; der Lehrer, der eine solche Feiertagsminute erlebt hat, weiß, wie dann eine hörbare Stille sich über die Klasse breitet. Solche Minuten freilich werden uns geschenkt; keine Methodik kann uns lehren, sie zu erzeugen." Damit war das Entscheidende gesagt, das uns alle angeht: das hohe Erlebnis ist mehr als alle profane Arbeit und Belehrung, ist gegenüber der folgerichtigen Wirkung „Gnade". Eduard Fraenkel legt ebenso diese griechische Norm zugrunde, obwohl er über das Römertum referiert. Er greift im Kreise der Erziehung das zentrale Problem auf: die alleinige Geltung des Spezialistentums mit mancherlei Pedantismen. Darin sieht er „die tiefe Not der zentrifugalen Tendenzen" — es bedürfe der Kraft eines Mittelpunktes, „die Geister an sich heranzuziehen". Er warnt dann vor dem Peripheren, das dem Zentralen die Kraft entzieht (93). Und gern zitiert er Gundolfs satirisches Urteil, wie man die „beseelten Gestalten dem dürren Wissensoder leeren Redebetrieb ausgeliefert hat, der noch heute die Knaben ermattet und die Greise jeden Alters vergnügt. Sein Kennzeichen ist die fleißige Beschäftigung mit Dingen, die man weder glaubt noch liebt, noch braucht, noch fürchtet." — Ernst Hoff mann, stärker der Philosophie-Geschichte dienend, wirkt doch ganz im Einklänge der Platonischen Norm-Idee mit. Sein Interesse für das Mittelalter ist nicht relativistisch, sondern macht das Platonische durch das Fortleben im Christlichen nur noch lebendiger. Er fordert den philosophischen Unterricht nicht als wissenschaftliches Sonderfach neben andern Fächern, sondern als Grundlage, als Durchgeistung für alle Unterrichtsfächer. Im Gegensatz zur verbreiteten Methode der Erkenntnis-Analyse und -Kritik fordert er im Platonischen Sinn das Verständnis des Ursprungs, des schöpferischen Geistes. Auch die fragmentarische Problem-Geschichte, die Leseproben aus Kant und Fichte, hält er für fruchtlos, sondern auf das Verständnis der lebendigen Philosophie, das die Jugend aus der 374
klassischen Dichtung, von Herder, von Lessing, von Goethe und Schiller erwerbe, komme es an. Die Grundlage der geistigen Bildung ist „eine klare und ehrliche Interpretation" und die lernt man am sichersten beim Studium der Alten. Piaton müsse selbstverständlich im Mittelpunkt stehen 7 . Gemeinsam scheint fast allen Rednern die Überzeugung, an einer bewußten „Bewegung" mitzuwirken, die in einer Norm-zersetzenden Zeit aus humanistischem Erbe die neue Norm und Mitte schafft, und also die Überzeugung, daß man dies Norm-Erlebnis im Gymnasium wecken muß (da der Universitätsunterricht spezialistischer vorzugehen hat). Was Bruhn vom erweckenden Erlebnis sagt, findet bei Karl Reinhardt einen mitreißenden Ausdruck in „Piatons Mythen" (1927. Bonn). „Die Sprache der Seele ist Mythos" 8 . Im großen Seelenmythos des Phaidros sieht er unmittelbar die geschehende Seele. Aber dies Buch erinnert auch, daß die frohe Hoffnung jener Tagung sich nicht ganz erfüllte. Woher kam die Fremdheit, mit der viele Gelehrte dies Buch aufnahmen? Sie deutete auf einen Riß in jener Bewegung. Reinhardt hatte einleitend gesagt: „Das Höchste, dessen der Gelehrte fähig ist: er bleibt Ausgräber königlichen Gebeins". Soll auch über Piaton der dichterische Geist mehr sagen als der rein-philologische? Sollte nur um diesen Preis Relativismus und Spezialistentum eingegrenzt werden? Das war nicht der Sinn der von Jaeger gemeinten Bewegung. Jaeger verbündete sich, wohl mit Rudolf Borchardt in der Führung des „dritten Humanismus", aber im Grundsatz, daß nur Philologen das Piatonbild darstellen dürften, griff er auf Wilamowitz zurück, wenn er diesem auch das philosophische Verständnis absprach. ' Eine andere Tagung in Berlin, fast ein Menschenalter später, nimmt; das Thema Humanismus wieder auf. (Vorträge in der Zeitschrift „Gymnasium1", Heidelberg 1954.) Zwei der gleichen Redner geben wieder den Ton an. Regenbogen begann mit einer Erinnerung an jene Tagung vor 2 9 Jahren. Der Ton ist begreiflicherweise weniger schwungvoll, resignierter, wissenschaftlicher. Er deutet leise an: viele der damaligen Teilnehmer wirkten jetzt außerhalb der Grenzen Deutschlands. Werner Kranz gedenkt in der öffentlichen Festrede der George-Begeisterung seiner Jugend und zitiert diesmal eine Strophe aus dem VORSPIEL ZUM TEPPICH DES LEBENS: „Eine kleine schar zieht stille bahnen Stolz entfernt vom wirkenden getriebe Und als losung steht auf ihren fahnen Hellas ewig unsre liebe! Die Schönheit dieser Versa bleibt unantastbar durch die Zeit; die Losung bleibt bestehen." Zwar mißversteht Kranz Georges Meinung als Scheidung vom Christentum, doch sind Kreuz und Christentum nicht identisch: es gibt auch ein Christentum der Weltfreude und Liebe. Auch Georg« forderte die Synthese von Antike und Christentum. (Das soll an anderer Stelle ausgeführt werden.) 8 Reinhardt sieht das Klassisdie in einer Art „Epiphanie" und unterscheidet dann die vermittelnden Bildungshumanismen, Renaissancen, die Paideia nach Jaegers drittem Humanismus von der Epiphanie aus tiefsten Schichten, schlechthin spontan, die Epiphanie im Sinne Georges. „Geistige Überlieferung. Das zweite Jahrbuch", Berlin 1942, S. 37, 64 f.
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Doch war die zusammenfassende Bewegung in der Piatonforschung noch nicht abgelaufen. In Paul Friedländers umfangreicher Darstellung (1928 und 1930, 2. Aufl. 1954 und 1957, bei de Gruyter) vereinten sich die verschiedenen Ströme: die philosophische Methode mit dem breiten Sachwissen von Wilamowitz her, die idealistische Begriffswissenschaft von Natorp, aber noch mehr jener „Anhang" und die Auseinandersetzung mit Friedemann, manche Einsichten von Friedrick Gundolf, Ernst Bertram, Kurt Singer und viele versteckte und offene Zitate von George. Aber sie ist auch von der eben aufkommenden Philosophie jener Jahre entscheidend beeinflußt: von Heideggers Existentialismus. Wenn viele Gelehrte die Apologie belanglos finden, so kann man Friedländers Buch wohl aus dem Leitsatz verstehen, daß in der Apologie die Existenz des Philosophen — „die Worte .Existenz' und .Philosoph' im wesenhaften Sinne gemeint" — dargestellt sei: in der Apologie die Existenz des Philosophen schlechthin, im Phaidon die Bewährung dieser Existenz vor dem Tode. Aber jede Platonische Schrift sei Blick auf diese Existenz — hinter dieser Forderung, die schon vom Pseudo-Dionysios angedeutet sei, seien fast alle modernen Deuter zurückgeblieben (II 1 158, 169). Die Darstellung der wahren Existenz geschieht nicht aus reiner logischer Konstruktion: Piaton bedarf für sein höchstes Erkennen auch des Mythos. So ist es wesentlich, daß Friedländer das rational nicht Aussprechbare, das Arrheton aufweist und darum auch im Mythischen tiefste Bedeutung findet. Mit dieser Grundlage fühlte ich mich so im Einklang, daß ich wohl hätte zweifeln können, ob es nötig sei, daneben noch meine längst begonnene Arbeit weiterzuführen. Aber bei der großen Fülle des Stoffes und der Erörterungen in Friedländers Bänden war ich doch überzeugt, daß eine gedrängtere Sicht des Wesentlichen, die Ganzheit in Dialog und Gesamtwerk die echte Erkenntnis anschaulicher herausarbeiten müsse 9 . Mein Versuch einer geschlossenen Darstellung konnte sich den andern Forschern kaum empfehlen, denn im Grund erstrebt jeder selbst eine solche und wünscht dazu von Zeitgenossen allein neuen Stoff oder neue Methode zu erhalten. Die darauf folgende Literatur hat mich überzeugt, daß mein Buch weiter der Aufgabe dienen könnte, jene wahrhaft humanistische Bewe9 Das erweckende Erlebnis in der Sdiulklasse, von dem Bruhn sprach, war auch mir geschenkt. Damals schien die Philosophie des Phaidon zwar meinem jugendlichen Begriff exakter Wissenschaft nicht zu genügen, aber als unser Direktor Urban auf die schon im Altertum gepriesene mimetische Kunst Piatons wies, leuchtete mir beim Bilde des todgeweihten Meisters, der in den Locken des jungen Phaidon spielt, der Funke auf, der nicht wieder verlosch. Später als Student der Medizin fand ich im Symposion die Zusammenfassung des höchsten Erlebens mit der kosmischen Biologie und im festlichen Verkehr mit Freunden den Sinn, solche Vision ahnend von neuem zu vergegenwärtigen. So gliederte ich 1912 die Einleitung zum „Gastmahl" in drei Teile: „Mythos" — „Eros" — „Piaton und Sokrates". Unbewußt besaß ich damit den Keim meiner Piatondeutung, den Leitstern der mythischen Auffassung.
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gung aus dem Sinn der Klassik und Dichtung, wie sie damals Bruhn, Kranz und dann Karl Reinhardt (mit zunehmender Schärfe gegen seinen verehrten Lehrer Wilamowitz) als wirkende Erziehung forderten, am Leben zu erhalten. Von Arbeiten, die auf den lebendigen Kern eingehen, nenne ich drei Schriften, die sich aufs Symposion, den Phaidon und die Politeia gründen. Gerhard Krüger setzt sich mit meinem Buch nicht ausführlich auseinander, aber die Art, wie er es tut, zeigt, daß sein Werk eine Auseinandersetzung gerade mit Friedemann und mir enthält. Wenn andere meine Gastmahl-Einleitung (1912) als erste künstlerische Ausdeutung des „Dialogs" ansahen, so geht Krüger noch weiter: er findet, ich hätte „zuerst die mythische Auffassung des Eros" gegeben. Die mythische Sicht zu klären ist auch heute noch meine Aufgabe. Krüger findet, daß in dem vorliegenden „Piaton" (1933) „sich diese Darstellung des Eros mit einer unmittelbar politischen Auffassung des platonischen Werkes" verbinde (S. 314). Er gibt zu, daß durch solche Arbeiten etwas geschehe, was der reinen Fachwissenschaft nicht gelinge. „Durch den Kreis Stefan Georges sind auch die besonders unzugänglichen mythischen und religiösen Elemente bei Plato der Forschung näher gerückt worden. Indem man bei Plato eine mythische, sogar kultische Religiosität mit politischem Führungsanspruch vereinigt fand, hat man in ihm den ,Gründer' eines ,geistigen Reiches' gesehen . . . Es steht heute so, daß die Erkenntnis von Plato wesentlich auf den Arbeiten dieser nicht .philosophischen' (philologischen?) Auslegungsrichtung beruht" (S. XIII). Aber Krüger geht nicht unseren Weg. Auch er will den religiösen Urgrund verstehen, doch glaubt er einen Grundirrtum der „durch George bestimmten Platoauffassung" nachgewiesen zu haben: „sie wehrt sich gegen moderne und die christliche Umdeutung Piatos — mit Recht; aber sie erkauft diese Korrektur mit einer nicht minder falschen Stilisierung Piatos ins ,Heidnische'" (S. 323). Krüger hat die richtige und fruchtbare Einsicht, daß Plato einen neuen Mythos schafft — aber er vermag diese Erkenntnis nicht festzuhalten. Als ob heidnisch und christlich zwei konkret begrenzte Gegenstände wären, will er zwischen ihnen einen dritten aufrichten: im Dienst reiner Wissenschaft, zur Überwindung des Mythos, zur Überwindung auch des sinnlichen Daseins. Von seiner lebendigeren Sicht kehrt er zurück zu der Kants und glaubt diese aus dem Symposion nachweisen zu können. Er empfängt nicht Piatons Geschenk, den neuen Mythos, denn er sieht in diesem nur ein Scheitern. Im Dienst der reinen Wissenschaft bildet er mit an der modernen Legende: Piaton habe die Grenze der reinen Verstandeswissenschaft erkannt, und diese Erkenntnis sei seine bewußte Tragik. Damit nähert sich Krüger wieder der alten Schulbuchweisheit. Er stützt sich auf Diotimens Rede, in welcher der Stufengang vom Eros zum schönen Körper, zur schönen Seele und danach zu den schönen Kenntnissen gepriesen wird (S. 210), er statuiert die große Kluft zwi377
sehen dem leiblichen Eros und dem Wesen der schönen Mathemata, unter denen er die Kenntnisse der Mathematik aber auch die Ideen begreift. Sie seien persönliche Kräfte, auch darin den Seelen nicht nur gleich, sondern überlegen (206). Krüger fühlt im Gastmahl weder die Dichtung der menschlichen Feier noch den bis heute geltenden Mythos, sondern eine analytisch gewonnene Verstandeseinsicht. Aber was uns die Diotima-Rede einprägt, ist die lebendige Ganzheit: Aus dem Triebe der Tiere, aus der Gattenliebe, aus dem geistigen Eros zu Knaben, wie ihn hier die Freunde erleben, erwächst die frohe Vision der Idee des Schönen — nur in dieser eleusinischen Seligkeit wirken die Verstandeseinsichten mit, aber nicht begrifflicher Wissenschaft, sondern in der Schau, im erotisch-schöpferischen Vorgang, im Werk erfüllt sich der Lebenssinn. Da jene mathematische Wissenschaft niemals sich als bewiesene WeltErkenntnis vollenden kann, so soll der Sinn dieser hohen geistigen Lebensfeier eine Tragödie sein? Irrt Sokrates also, wenn er dem Eros einen Hymnus singt? Denn das gerade sei seine Tragik, daß er sein Erziehungswerk als „Erotiker" beginnen muß, daß er „Die Sphäre" des Agathon und Alkibiades „betreten muß". Warum geht er nicht mit Eryximachos und Phaidros nach Hause, warum bleibt als Letzter der Zecher, der im philosophischen Gespräch die letzten, die beiden Dichter unter den Tisch trinkt, wenn diese Gesellschaft niedrig und seine Philosophie gescheitert ist? — Noch entschiedener als Krüger kehrt Günter Ralfs zur Mythenfeindschaft zurück.10 Auch „Piatons Staat und Erziehung" von Hans Georg Gadamer (in „Das neue Bild der Antike") knüpft — nicht ganz ohne Widerspruch — an Georges Bewegung an. Er macht nicht den Versuch, Piaton wieder nur als reinen Forscher zu sehen, sondern den sehr wesentlichen: als Erzieher. Gadamer beginnt mit der Anerkennung, wie fruchtbar es für die Piatonforschung war, die politische Biographie Piatos für die Er10 Ralfs sagt in seiner Abhandlung „Piaton und Aristoteles im abendländischen Bewußtsein" (Gymnasium 1951, S. 95): „Der Mythophobie der Marburger Schule folgte in antithetischer Zuspitzung die Logophobie (?) der gesamten Platon-Literatur etwa des George-Kreises. Hier wurde nach dem Vorgange des Dichters in abweisenden Wendungen von dem ,Piaton der Begriffe' gesprochen und die Offenbarung des eigentlich lebendigen platonischen Geistes gerade aus der Beschwörung der mythischen UrBilder erwartet." R. findet, daß auch Heidegger den Logos remythologisiert habe und nennt „diese unheimliche Spannweite" „das Skandalon der deutschen Platon-Interpretation der letzten 50 Jahre". Hier ist der Gegensatz in der lehrreichen Abhandlung nicht präzis gefaßt. Friedemann, der Schüler Natorps, läßt auch dessen Logik noch in seinem Buch wirken. Ich kam von der Naturwissenschaft her und kannte eine exakte Wissenschaft, wie man sie eben nur in mathematischer Naturforschung kennt. Zur Logophobie hatten wir beide ajn wenigsten Anlaß, aber darum kannten wir auch nach Kantischen Gesetzen die Schranken der reinen Logik wie der theoretischen Ratio. Darum fanden wir im Mythos das Höhere, Umfassendere. Auch sind die „Logoi" ja nicht nur Logik, sondern können ebenso Mythen sein. Ralfs steht näher bei Kant und Hegel als bei den Piatonverehrern Leibniz und Schelling. Darum schließt er nach Boethius: „Plato noster — Aristoteles meus."
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kenntnis seines Werkes und seiner Philosophie zu nutzen, und nennt als Beispiel dafür nur Wilamowitz und mich. Ebenso wie ich legt er die biographische Skizze aus dem VII. Brief zugrunde, zieht aber aus ihr einen anderen Schluß: Piaton habe sein ganzes Werk „mit dem Verzicht auf jede politische Laufbahn begonnen". „Piaton ist nicht mehr, aber auch nicht weniger Staatsmann als Sokrates es war." In dieser Schärfe klingt es überraschend, denn der VII. Brief selbst ist ein Dokument der politischen Tätigkeit. Der „Protagoras" und das Symposion zeigen, daß Sokrates, der einfache Volksmann, auf unmittelbare Politik verzichtet, wohl aber von Alkibiades und Piaton, den adliggeborenen, politische Tätigkeit erwartet. Die Politeia (zumal 592) ist unverständlich, wenn Piaton nicht noch eine Möglichkeit seines Erfolges in Athen voraussetzt, und seine drei Reisen sind politische Taten. Aber ich glaube, wie in früheren Jahren so auch hier nicht in grundsätzlichem Widerspruch zu Gadamer gewesen zu sein. Er redet von Piatons Staatsphilosophie, vom wesentlichen Zusammenhang zwischen Politik und Philosophie, von seinem „Weg zur Macht". Es war die politische Gegenwart, die die Forscher zum Protest trieb. Wenn Nietzsche begann, in Piaton den leidenschaftlichen Staatsmann zu sehen, so führte nun die Politik zurück, ihn nur noch als Wissenschaftler gelten zu lassen. Das macht Gadamer nicht mit und sieht ihn als den großen politischen Erzieher, denn nur auf die Erziehung zur Gerechtigkeit läßt sich der Staat heil erbauen. Mir aber scheint es nur um so wichtiger, Piatons Werke aus der Leidenschaft zu verstehen, den gerechten Staat wirklich zu gründen. Was aber für unser Thema entscheidend ist: während Gelehrte oft nur positivistische Ergebnisse werten und die Bewegung mißachten, sieht Gadamer die Politeia als geistige, als „philosophierende Bewegung", wie auch gleichzeitig Pohlenz die Fortsetzung, die Stoa, ausdrücklich im Titel als „eine geistige Bewegung" darstellt. 11 Es fügte sich, daß Guardini den Gegenmythos zum Gastmahl, den Phaidon, seiner Sokrates-Deutung zugrunde legte.12 Thema11 „Das neue Bild der Antike." I. Bd. Hellas. Leipzig 1943, S. 5 1 7 - 5 3 4 . Es ist eine üble (allerdings im literarischen Streit bisweilen zweckmäßige) Legende, in jener Zeit der politischen Diktatur sei keine freie Wissenschaft im deutschen Bereich veröffentlicht. Was durch Absperrung von außen im Wissenschaftlich-Technischen unterbunden wurde, war ein großer Verlust, aber gerade im verschwiegenen Widerstand wird oft das Wesentliche, der Wert der Freiheit verstanden. Dieser Sammelband (obwohl staatlidt subventioniert) ist von politischen Tendenzen unbeeinflußt. Mitarbeiter sind S