Elektra, Taurische Iphigenie und Helena: Untersuchungen zur Chronologie und zur dramatischen Form im Spätwerk des Euripides 9783666250040, 9783525250044


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German Pages [200] Year 1964

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Elektra, Taurische Iphigenie und Helena: Untersuchungen zur Chronologie und zur dramatischen Form im Spätwerk des Euripides
 9783666250040, 9783525250044

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HYPOMNEMATA HEFT 4

HYPOMNEMATA U N T E R S U C H U N G E N ZUR A N T I K E U N D ZU I H R E M N A C H L E B E N

Herausgegeben von Albrecht Dihle / H a r t m u t Erbse Wolf-Hartmut Friedrich / Christian Habicht Bruno Snell

Heft 5

VANDENHOECK

& RUPRECHT IN

GÖTTINGEN

KJELD MATTHIESSEN

Elektra, Taurische Iphigenie und Helena Untersuchungen zur Chronologie und zur dramatischen Form im Spätwerk des Euripides

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Heft 1 ERNST-RICHARD SCHWINGE Die Stellung der Trachinierinnen im Werk des Sophokles Heft 2 J Ü R G E N SPRUTE Der Begriff der

DOXA

in der platonischen Philosophie

Heft 3 HERWIG MAEHLER Die Auffassung des Dichterberufs im frühen Griechentum bis zur Zeit Pindars

G e d r u c k t m i t U n t e r s t ü t z u n g der Deutschen Forschungsgemeinschaft © V a n d e n h o e c k & R u p r e c h t in Göttingen 1964. - P r i n t e d in G e r m a n y . O h n e a u s d r ü c k l i c h e Genehmigung des Verlages ist es n i c h t g e s t a t t e t , d a s B u c h o d e r Teile d a r a u s auf foto- oder a k u s t o m e c h a n i s c h e m Wege zu vervielfältigen. - H e r s t e l l u n g : Buchdruckerei Georg Appi, W e m d i n g 8089

Vorwort Diese Arbeit ist eine umgearbeitete Fassung meiner auf Anregung von Herrn Prof. Dr. Bruno Snell entstandenen Dissertation, die der philosophischen Fakultät der Universität Hamburg am 6. Januar 196 Í vorgelegen hat und im Sommer des gleichen Jahres unter dem Titel, .Aufbau und Datierung der ,Elektra', der ,Taurischen Iphigenie' und der .Helena' des Euripides" maschinenschriftlich vervielfältigt erschienen ist. Durch die freundliche Vermittlung von Herrn Prof. Dr. Hartmut Erbse und durch die Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft wird es mir nun möglich gemacht, die Arbeit auch gedruckt erscheinen zu lassen. Ich habe die Gelegenheit benutzt, um inzwischen erschienene Literatur nachzutragen und auch sonst vieles zu ändern. Allen denen, die mich durch mancherlei Hinweise und schriftliche und mündliche Kritik auf Fehler und Lükken aufmerksam gemacht haben, danke ich herzlich. Besonders Herrn Prof. Dr. Hartmut Erbse habe ich für manchen klugen Rat sehr zu danken. Vor allem aber danke ich meinen Lehrern Herrn Prof. Dr. Walter Jens, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Schadewaldt und Herrn Prof. Dr. Bruno Snell. Ohne das, was ich bei ihnen über die Technik der Strukturanalyse, über die Kunst der Interpretation und über die geistige Eigenart des archaischen und klassischen Griechentums gelernt habe, ist diese Arbeit undenkbar. Florenz, im Oktober 1963

Κ . M.

Inhalt 11

Einleitung Erster

Teil

1. Kapitel: Aufbau und Datierung der „Taurischen Iphigenie" und der „Helena"

16

§ 1. Der Gesamtaufbau

16

a) Die traditionelle Gliederung b) Die Gliederung nach Handlungsabschnitten u n d kompositionellen Einheiten

§ 2. Die Eingangsabsclinitte a) b) c) d) e) f)

Vorbemerkung Der G e s a m t a u f b a u der Eingangsabschnitte Iphigenie V. 1-66 u n d Helena V. 1-163 Iphigenie V. 123-235 u n d Helena V. 164-254 Iphigenie V. 67-122 u n d Helena V. 386-514 Iphigenie V. 344-391 u n d Helena V. 255-385

§ 3. Die Zentralabschnitte a) Der G e s a m t a u f b a u der Zentralabschnitte b) Die Erkennungsszenen u n d das Amoibaion nach der E r k e n n u n g in der „Iphigenie" u n d der „ H e l e n a " (S. a u c h u n t e n 127-138) c) Iphigenie V. 902-1088 u n d Helena V. 761-1106

§ 4. Die Schlußabschnitte a) b) c) d)

Der G e s a m t a u f b a u der Schlußabschnitte Iphigenie V. 1153-1233 u n d Helena V. 1165-1300 u n d 1369-1450 Iphigenie V. 1284^1434 u n d Helena V. 1512-1641 Iphigenie V. 1435-1499 u n d Helena V. 1642-1692

16 17

20 20 22 25 28 32 35

38 38 41 41

47 47 48 53 58

§ 5. Ergebnis der Untersuchung

62

§ 6. Euripides' „Iphigenie" und Sophokles' „Elektra"

63

2. Kapitel : Aufbau und Datierung der „Elektra" des Euripides

66

§ 1. Die absolute Datierung der „Elektra" auf 413

66

§ 2. Das Zeitverhältnis der „Elektra" zur „Taurischen Iphigenie"

69

§ 3. Das Zeitverhältnis der „Elektra" zu den „Troerinnen"

71

8

Inhalt

§ 4. Das Zeitverhältnis der „Elektra" zum „Herakles" a) Die Gliederung der beiden Dramen b) Die Dramenschlüsse

§ 5. Das Zeitverhältnis der euripideischen zur sophokleischen „Elektra" a) b) c) d)

Allgemeine Überlegungen Die Veränderung des traditionellen Ortes der Handlung Der Redestreit zwischen Mutter und Tochter Ergebnis

74 74 78

81 81 82 87 88

Anhang 1: Das Aufführungsdatum des „Ion"

89

Anhang 2: Zur Datierung des „Kyklops"

91

Zweiter Teil

1. Kapitel: Νόστος — Άναγνώρισις - Μηχάνημα (Zur Geschichte eines Dramentyps)

93

§ 1. Die Odyssee

94

a) b) c) d) e)

Die Die Die Die Die

Stellung der Erkennungsszenen in der Odyssee πείρα Erkennungsszenen Erkennung des Odysseus durch die Hirten (φ 188-244) Erkennung durch Penelope (ψ 1-240)

94 95 96 98 99

§ 2. Die Nostoi

107

§ 3. Aischylos' „Choephoren"

108

§ 4. Euripides' „Rresphontes"

111

§ 5. Sophokles' „Elektra" a) Die Zeichen a m Grabe b) Die Erkennungsszene

§ 6. Euripides'„Elektra" a) b) c) d)

Das Fehlen der falschen Todesnachricht Die Szene vor der Erkennung Die Zeichen am Grabe Die Erkennungsszene

114 115 117

119 120 120 121 123

§ 7. Euripides' „Alexandras"

125

§ 8. Euripides' „Iphigenie" und „Helena"

127

a) b) c) d) e)

Die Die Die Die Die

Erkennungshandlung der „Iphigenie" Szene vor der Erkennung in der „Iphigenie" Erkennungsszene der „Iphigenie" Erkennungsszene der „ H e l e n a " Amoibaia der „Iphigenie" u n d der „ H e l e n a "

127 1 28 129 131 134

Inhalt

§ 9. Euripides' „Ion" a) b) c) d)

Die Funktion der Erkennungshandlung Die Szene vor der Erkennung Die Erkennungsszene DM Amoibaion nach der Erkennung

9

138 138 139 140 142

2. Kapitel : Die hinterszenische Handlung in der griechischen Tragödie

144

§ 1. Aischylos

145

§ 2. Die früheren Stücke des Sophokles

149

§ 3. Euripides' „Medea"

151

§ 4. Euripides' „Hippolytos"

154

§ 5. Euripides' „Hekabe"

156

§ 6. Sophokles' „Elektra"

158

§ 7. Euripides' „Elektra" und „Herakles"

161

§ 8. Euripides' „Antiope" und „Orestes"

164

3. Kapitel: Metrische Beobachtungen

167

§ 1. Die Verwendung des trochäischen Tetrameters

167

§ 2. Die Abweichungen des Euripides von der strengen Form des iambischen Trimeters 168 § 3. Zu den lyrischen Partien

171

4. Kapitel: Zum Verhältnis von Gott und Mensch im Spätwerk des Euripides

173

§ 1. Das Wirken der Götter bei Aischylos

174

§ 2. Die früheren Dramen des Sophokles

175

§ 3. Die früheren Dramen des Euripides § 4. „Elektra", „Herakles", „Troerinnen"

176 177

§ 5. „Iphigenie", „Ion", „Helena"

180

§ 6. Die Bedeutung der Freundschaft in der „Elektra", dem „Herakles" und der „Taurischen Iphigenie" 185 Literaturverzeichnis

187

10

Inhalt

Werk- und Stellenregister

191

Register der textkritischen Anmerkungen

197

Sachregister

198

Einleitung Für jeden, der sich mit den in der Zeit um die Jahre 415-412 aufgeführten Tragödien des Euripides befassen will, muß auch heute noch Solmsens Aufsatz über den „Ion" den Ausgangspunkt bilden. Solmsen vertritt dort die Ansicht, daß eine Reihe von Stücken, die durch die Verbindung einer Erkennungshandlung (άναγνώρισις) mit einem listigen Anschlag (μηχάνημα) gekennzeichnet sind, einer bestimmten Schaffensperiode des Dichters angehört. Von den erhaltenen Dramen zählt Solmsen „Elektra", „Taurische Iphigenie", „Helena" und „Ion" und mit gewissen Einschränkungen (Fehlen der Erkennungshandlung) auch den „Orestes" zu dieser Gruppe, von den in Papyrusbruchstücken auf uns gekommenen Dramen „Hypsipyle", „Antiope" und „Auge". Solmsen charakterisiert die Lebensepoche des Dichters, der die genannten Tragödien entstammen, mit folgenden Worten : „Wir sind in einer Periode des euripideischen Schaffens, in der das dramatische Geschehen nicht mehr vom menschlichen Willen, sondern von der über den Menschen und Geschehnissen waltenden, ihre Entwürfe unberechenbar kreuzenden Macht der τύχη dirigiert wird." 1 Άναγνώρισις und μηχάνημα sind nach Solmsens Meinung Handlungselemente, durch die der Dichter die Tyche-Bestimmtheit des menschlichen Daseins besonders deutlich sichtbar machen will. Das formvollendetste und damit wohl auch das letzte Stück dieser Dramenreihe ist nach Solmsen der „Ion". Diese Thesen Solmsens sind bisher im wesentlichen unbestritten geblieben, abgesehen von einigen Einwendungen, die gegen seine Auffassung über die zentrale Bedeutung der Tyche in diesen Stücken erhoben worden sind2. Kürzlich hat sich jedoch Zuntz mit großer Entschiedenheit gegen die Zugehörigkeit der „Elektra" zu der beschriebenen Dramengruppe ausgesprochen und gleichzeitig gegen die absolute Datierung des Stückes auf 413, die jahrzehntelang als erwiesen galt, einige bisher unwiderlegte Einwände geäußert3. Dadurch ist es nötig geworden, von neuem zu prüfen, ob die von Solmsen beschrieSolmsen, Ion 400. Ähnlich auch Schadewaldt, Monolog 255-258. G. Busch, Untersuchungen zum Wesen der Τύχη in den Tragödien des Eur., Diss. Heidelberg 1937, 55: „Die Epoche des euripideischen Schaffens, in der τύχη ,die Handlung regiert', besteht . . . nirgends." Vgl. dazu Lesky, Trag. Dicht. 185-186. » Zuntz, Pol. Plays 64-71. - Auch Lesky (Trag. Dicht. 182) warnt: „Doch darf die Elektra nicht kurzerhand unter die Intrigenstücke gestellt werden". 1 2

12

Einleitung

bene G r u p p e wirklich so einheitlich ist, wie er es uns glauben machen will, oder ob Zuntz' Meinung, daß die „ E l e k t r a " eine Sonderstellung einnehme, gerechtfertigt ist. Dabei wird auch zu untersuchen sein, ob Solmsen mit R e c h t den „ I o n " für d a s späteste der erhaltenen Erkennungsdramen erklärt. Wir sind der Meinung, daß sich eine feste Grundlage f ü r die Beurteilung der von Solmsen beschriebenen D r a m e n g r u p p e a m ehesten gewinnen läßt, wenn m a n zunächst den A u f b a u der beiden formal einander a m nächsten stehenden Dramen, nämlich der „Taurischen I p h i g e n i e " 1 und der „ H e l e n a " , analysiert und auf diesem Wege versucht, eine Antwort auf die oft gestellte F r a g e nach dem Zeitverhältnis der beiden Stücke zu finden. Immer wieder ist auf die große Ähnlichkeit hingewiesen worden, die zwischen der „Iphigenie" und der „Helena" besteht 2 , eine Ähnlichkeit, die sich auf nahezu alle Bereiche erstreckt, auf die Handlung und die dramatische Form nicht weniger als auf die Stimmung und die metrischen Besonderheiten. Die Übereinstimmung ist so groß, daß man von „Zwillingsstücken" hat sprechen können3. Zwar gibt es auch Unterschiede zwischen den beiden Dramen, die immerhin so groß sind, daß sich von ihnen nicht sagen ließe: „qui utramvis recte norit, ambas noverit" 4 , doch ähneln sie sich mehr als „Herakliden" und „Hiketiden", das andere „Zwillingspaar" unter den euripideischen Tragödien. Die Ähnlichkeit ist so stark, daß unseres Wissens noch niemals die Annahme eines Zwischengliedes oder eines gemeinsamen Vorbildes in Erwägung gezogen wurde. Vielmehr gilt es als sicher, daß eines der beiden Stücke das unmittelbare Vorbild für das andere gewesen ist. Längst bestellt auch Einigkeit darüber, daß beide Stücke der gleichen Schaffensperiode des Dichters angehören, die „Iphigenie" also entweder kurz vor oder kurz nach 412, dem bezeugten Datum der „Helena" 5 , auf1 Mit „Iphigenie" wird hinfort immer das Drama „Taurische Iphigenie" bezeichnet. - Zum Namen vgl. Platnauer, V A. 1. „Der Titel des Stückes bei der Aufführung war einfach „'Ιφιγένεια", da es ein anderes Stück dieses Namens zunächst, ja noch nicht gab. Erst später wurde zur Unterscheidung ,,ή έν Ταύροις" hinzugefügt. Der so entstandene Titel wird durch das lateinische „Iphigenia Taurica" angemessen wiedergegeben. Dem entspricht im Deutschen „Taurische Iphigenie". 2 Zuerst von C. G. Firnhaber, Zeitschrift für die Alterthumswissenschaft 6, 1839, 1. 3 Grégoire, Hél. 36. Vgl. auch die Nacherzählung, in der Grégoire (Iph. 85) die Gemeinsamkeiten im Handlungsverlauf der beiden Tragödien wiederzugeben sucht. 4 Ter. Andr. 10. - Zu den Abweichungen vgl. Steiger (Hei. 202-237), der wohl zu Recht manche Besonderheiten der Hei. darauf zurückführt, daß hier das Vorbild der Od. stark wirksam ist. Strohm (Eur. 77-78) betont etwas zu schroff die formale Verschiedenheit der beiden Stücke. Denn die Unterschiede bestehen nicht so sehr in der Form als vielmehr in der Hypothesis und ihren Konsequenzen (hier εϊδωλον - dort Menschenopfer). 6 Sch. Ar. Thesm. 1012, 1060, Ran. 53. - Keine Anhänger hat bisher die These von O. Klotz (Untersuchungen zu Eur. Ion. Diss. Freiburg, Borna-Leipzig 1917, 80-83) gefunden, der wegen einiger vermuteter politischer Anspielungen und zweier fraglos rein zufälliger Anklänge an Wendungen des Stückes in Ar. Pax die Iph. auf 422 datieren will.

Stand der Forschung

13

geführt worden ist. Die Möglichkeit, daß beide Dramen derselben Trilogie angehört haben könnten, ist seit längerer Zeit aus der Diskussion ausgeschieden, weil die allzugroße Ähnlichkeit die Aufführung an einem Tage vor dem gleichen Publikum unmöglich macht 1 . Bis heute aber ist noch immer nicht der Streit darüber zur R u h e gekommen, ob die „Iphigenie" das Vorbild für die „Helena" gewesen sei oder umgekehrt." Bruhn begnügte sich als erster nicht mehr damit, aus den Ähnlichkeiten nur auf die zeitliche Nähe der beiden Stücke zu schließen, sondern suchte durch einen Vergleich das Zeitverhältnis zu klären. „Wenn sich zeigen sollte", so fragte er, „daß die Art der Behandlung in dem einen Stück schlichter, einfacher, in dem anderen künstlicher, raffinierter ist, werden wir d a n n nicht schließen dürfen, daß das stärker gewürzte Gericht dasjenige war, welches der Dichter zum zweiten Male a u f t r u g ? " 2 Bruhn verglich die Rolle des Thoas mit der des Theoklymenos, die Häufigkeit der Verwendung von Amphibolien in den Überlistungsszenen und die Zahl der Wortverdopplungen - eines charakteristischen Stilmittels späteuripideischer Lyrik - in den Jubelszenen nach der Erkennung u n d k a m zu dem Schluß, d a ß in allen Fällen die Gestaltung in der „Iphigenie" schlichter, in der „ H e l e n a " aber reicher und komplizierter sei, m a n also die „ H e l e n a " f ü r das spätere Stück halten müsse. Bruhn h a t t e aber die Basis seines Vergleiches zu schmal gewählt, als daß seine These h ä t t e allgemeine Anerkennung finden können. Es kostete d a r u m Tycho v. Wilamowitz geringe Mühe zu zeigen, daß sich mit nicht weniger großer Überzeugungskraft auch die entgegengesetzte Auffassung vertreten läßt 3 . Wilamowitz' Ausführungen, deren Kernstück ein Vergleich der beiden abschließenden Botenszenen bildete, h ä t t e n eigentlich dazu anregen müssen, einen gründlichen Vergleich aller vergleichbaren Szenen vorzunehmen. Denn ein Urteil über die Priorität l ä ß t sich erst d a n n hinreichend begründen, wenn jeder Verdacht beseitigt ist, daß die Entscheidung über das Ergebnis der Untersuchung nicht schon durch die Auswahl der zu untersuchenden Stellen vorweggenommen wird. Ein solcher Vergleich unterblieb jedoch zunächst. Es schien vielmehr, als ob sieh auf einem indirekten Wege schneller eine Lösung des Problems finden ließe. Zielinski nämlich versuchte, mit Hilfe der., wie er meinte, zuverlässig feststehenden Aufführungsdaten der „ E l e k t r a " (413) u n d der „Helena" (412) eine relative Datierung der „Iphigenie" zu gewinnen 4 . Da die „Iphigenie" später entstanden sein m u ß als die „Elektra"®, da ferner die Aufführung von „Iphigenie" und „ H e l e n a " in derselben Trilogie wegen der allzugroßen Ähnlichkeit der beiden Stücke unmöglich ist, bleibt keine andere Möglichkeit, als das Auff ü h r u n g s d a t u m der „Iphigenie" nach 412 anzusetzen, wenn m a n nicht annehmen will, Euripides habe sich im J a h r e 412 an den dramatischen W e t t k ä m p f e n der Lenäen u n d der großen Dionysien beteiligt und an den Lenäen die „Iphi1 Diese Möglichkeit wurde zuerst von Wilamowitz (Anal. Eur. 153) erwogen u n d von Wecklein (Euripides Helena 13) und Steiger (Hei. 232) ernsthaft in B e t r a c h t gezogen. Das entscheidende Gegenargument findet sich schon bei Bergk (Griechische Literaturgeschichte I I I , 522) und wird von Grégoire (Iph. 106) u n d P e r r o t t a (28-29) wiederholt. 2 Bruhn, I p h . 12-15, Zitat auf S. 12. 3 T. v. Wilamowitz (266-268). - Sein Vater h a t t e zuerst die Priorität der Hei. vertreten (Anal. E u r . 153), sich jedoch später der Meinung Bruhns angeschlossen (Her. I, 143 A. 50). * Zielinski 308-312. s Vgl. unten 69-71.

14

Einleitung

genie" und an den Dionysien die ,,Helena" aufgeführt1. Auf diesem Wege kam Zielinski zu dem Ergebnis, die „Iphigenie" sei später zu datieren als die „Helena". Der Schlüssigkeit dieses Gedankenganges kann sich niemand entziehen, sofern er nur seine Voraussetzungen, nämlich die Richtigkeit der beiden chronologischen Fixpunkte, anerkennt. Er wurde denn auch unabhängig von Zielinski noch einmal von Perrotta, Pohlenz, und Mathieu entwickelt2. In den genannten vier Arbeiten wird also gerade der von uns oben als wünschenswert bezeichnete Vergleich aller vergleichbaren Szenen unterlassen, in der Annahme, „daß sich", wie Pohlenz es formuliert, „ein zwingender Beweis von diesen beiden Stücken allein aus nicht führen lassen" wird3. Eine Lösung des Problems wird auf indirektem Wege erstrebt und, wie es den Anschein hat, in überzeugender Weise gefunden. Nachträglich wird dann versucht, durch einzelne Beobachtungen zur dramatischen Form das auf anderem Wege gewonnene Ergebnis zu bestätigen. Doch auch Bruhn hat seine Nachfolger gefunden. Im Anschluß an ihn verglichen Macurdy und Grégoire einzelne Stellen der beiden Dramen und gelangten ebenso wie er zu dem Schluß, die „Iphigenie" müsse das ältere Drama sein4. Zu dem gleichen Ergebnis ist auch Ludwig gekommen, der den Aufbau der beiden Tragödien verglichen und dabei gezeigt hat, wie viel für die Priorität der „Iphigenie" spricht5. Da Zieliñskis Argumente aber bisher unwiderlegt geblieben sind, ist die Frage nach der Datierung der „Iphigenie" noch immer nicht endgültig beantwortet. Es ist darum verständlich, daß sich unter diesen Umständen sowohl Schmid als auch Lesky mit der Feststellung der Aporie begnügen6. Inzwischen ist aber eine neue Situation dadurch entstanden, daß Zuntz die bisher übliche Datierung der „Elektra" auf 413 in Frage gestellt hat7. Dadurch sind die Voraussetzungen für Zieliñskis Argumentation erschüttert worden, so daß es nötig wird, die Frage von neuem zu durchdenken. W i r wollen darum den Gesamtaufbau der beiden Dramen und den A u f b a u der einzelnen Szenen sorgfältig vergleichen 8 . Dabei werden wir 1 Diese Möglichkeit, die von E. Preuß (De Euripidis Helena, Diss. Leipzig 1911, 53) erwogen worden ist, bezeichnet Pohlenz (II, 164) mit Recht als einen „Verzweiflungsausweg". Denn dann müßte man annehmen, Eur. habe hintereinander an den Dionysien 413, den Lenäen 412 und den Dionysien 412 aufgeführt, habe also in wenig mehr als einem Jahr mindestens acht Tragödien und zwei Satyrspiele auf die Bühne gebracht. C. F. Russo (Eur. e i concorsi tragici lenaici, ΜΗ 17, 1960, 165-170) hat jedoch wahrscheinlich gemacht, daß sich Eur. an den tragischen Wettkämpfen der Lenäen überhaupt nicht beteiligt hat. Die gleiche Meinung auch schon bei H. Hoffmann, Chronologie der attischen Tragödie, Diss. Hamburg 1951 (masch.) 80. 2 Perrotta 28-29, Pohlenz I I , 163-164, Mathieu 78. 3 Pohlenz I I , 163. 4 Macurdy 95-107, Grégoire, Iph. 102-106. Einzelne Beobachtungen auch bei Schadewaldt, Monolog 27, Strohm, Eur. 85-86. 5 Ludwig 99-122. · Schmid 520, Lesky, Trag. Dicht. 184. 7 Zuntz, Pol. Plays 64-71. 8 Beim Vergleich des Gesamtaufbaus können wir auf Ludwigs Ergebnissen aufbauen und uns darum sehr kurz fassen. Beim Vergleich der Szenen muß uns aus den oben S. 13 genannten methodischen Gründen an Vollständigkeit gelegen sein. Damm werden wir nicht nur die Folgerungen ziehen, die sich aus den ausgezeichneten Szenenanalysen Ludwigs für das Zeitverhältnis der beiden Dramen ergeben, sondern werden darüber hinaus sämtliche Szenen analysieren und vergleichen. bei denen ein Vergleich möglich ist.

Methode der vorliegenden Arbeit

15

die wichtigsten Einwände berücksichtigen, die von den Anhängern der Priorität der „Helena" gegen Bruhn und seine Nachfolger vorgebracht worden sind. Endgültig läßt sich das Problem der Datierung der „Iphigenie" jedoch erst dann lösen, wenn die „Elektra" ihren festen Platz im Werk des Dichters gefunden hat. Darum wollen wir auch hier versuchen, durch eine Analyse der dramatischen Form eine Antwort auf die Frage nach der Datierung zu finden. Schließlich gilt es, den „Ion" in seinem abweichenden Aufbau den drei anderen Stücken gegenüberzustellen und das mutmaßliche Aufführungsdatum zu bestimmen. Im zweiten Teil der Arbeit wollen wir einige unserer Beobachtungen in einen größeren Zusammenhang einordnen. Sodann wollen wir die im ersten Teil gewonnene relative Chronologie durch einen Vergleich mit Aussagen nachprüfen, die über die Datierung der in Frage stehenden Dramen auf anderem Wege als auf dem des Strukturvergleichs gewonnen worden sind. Schließlich wollen wir wenigstens in Umrissen andeuten, welche Konsequenzen sich aus der vorgeschlagenen Chronologie für die Interpretation des euripideischen Werkes zwischen 420 und 410 ergeben. Zur Rechtfertigung der hier angewandten Methode, bei der sich Strukturanalysen mit Überlegungen über die Zeitfolge verbinden, mag es genügen, auf das Vorbild hinzuweisen, das Karl Reinhardt mit seinem Sophoklesbuch gegeben hat. Das dort Gesagte gilt auch für diese Arbeit: „Die Sicherung einer relativen Chronologie wird hier zugleich zum Mittel und zum Zweck. Denn wenn die Zeitfolge an sich nur den Gelehrten angeht, so wächst doch deren Bedeutung, sobald mit der Zeit zugleich der Stil, die Sprache und die Szene sich zu wandeln anfängt. Umgekehrt darf man, indem man von den Formen ausgeht, nur dann hoffen, mit ihrer Bestimmung nicht ins Willkürliche zu geraten, wenn die Unterschiede, die man wahrzunehmen glaubt, sich durch die Zeitfolge bestätigen." 1 1

Reinhardt, Sophokles 16.

ERSTER

TEIL

1. Kapitel

Aufbau und Datierung der „Taurischen Iphigenie" und der „Helena" § 1. Der

Gesamtaufbau

a) Die traditionelle Gliederung Am Anfang jeder Untersuchung über den Aufbau einer griechischen Tragödie sollte eine Gliederung nach den μέρη τραγωδίας stehen, wie sie im zwölften Kapitel der aristotelischen Poetik aufgezählt sind 1 . Denn diese Begriffe sind allgemein bekannt und anerkannt und auf jede Tragödie in gleicher Weise anwendbar, so daß man sich mit ihrer Hilfe in jeder Diskussion leicht verständlich machen kann. Wenn man jedoch Wert darauf legt, tiefere Einsicht in den Bau einer Tragödie zu gewinnen, sollte man sich nicht mit einer Gliederung nach μέρη zufrieden geben. Denn mit Hilfe der aristotelischen Begriffe läßt sich nur eine sehr schematische Einteilung vornehmen, oft sogar nicht einmal das. Denn die griechische Tragödie ist sehr viel formenreicher, als es uns der lapidare Satz der Poetik über die μέρη τραγωδίας glauben machen möchte. Bei der Analyse von Werken des Aischylos oder des frühen Sophokles, wo die Handlungsabschnitte noch weitgehend mit den Epeisodien zusammenfallen, mag es sinnvoll sein, von den μέρη auszugehen. Sobald es aber gilt, eine Tragödie der Reifezeit des Euripides zu beschreiben, empfiehlt sich ein solches Verfahren nicht, weil hier eine solche Gliederung keine zufriedenstellende Auskunft über den Aufbau des Stückes gibt 2 . Immerhin soll es auch hier nicht unterlassen werden, die beiden Tragödien, die es zu analysieren gilt, nach μέρη zu gliedern. Ein Vergleich der beiden Gliederungen zeigt, daß die „Helena" nicht nur den Verszahlen nach das längere Drama ist 3 , sondern daß auch die Zahl der μέρη größer ist. Die „Helena" weist ein Epeisodion u n d ein Stasimon mehr auf als die „Iphigenie", wobei freilich ein Stasimon 1

Arist. Poet. 12, 1452b 15-19. Vgl. Ludwig 98. 8 Die Hei. ist mit 1692 Versen eine der längsten Tragödien. Die Phoen. haben 1766, der Or. 1693 und der O. C. 1774 Verse. Alle diese Stücke gehören wohl nicht zufällig dem letzten Jahrzehnt der großen Tragödie an. 2

Gesamtaufbau - Μέρη und Handlungsabschnitte Iphigenie Prologos : Komm. Parodos: 1. Epeisodion : 1. Stasimon: 2. Epeisodion: 2. Stasimon: 3. Epeisodion: 3. Stasimon: Exodos :

17

Helena 1123236392-

122 235 391 455

456-1088» 1089-1152 1153-1233 1234-1283 1284-1499

1 - 163 Prologos : Komm. Parodos: 164- 254 1. Epeisodion: 255- 514 2. Parodos: 515- 527 (anstelle eines Stasimon) 528-1106 2. Epeisodion: 1107-1164 1. Stasimon: 3. Epeisodion: 1165-1300 2. Stasimon: 1301-1368 4. Epeisodion: 1369-1450 3. Stasimon: 1451-1511 Exodos: 1512-1692

durch die zweite Parodos ersetzt wird, so daß die Zahl der echten Staaima doch in beiden Fällen gleich groß ist. Mit dieser Feststellung ist allerdings noch nicht viel gewonnen. Es bleibt zu prüfen, welche Handlungsfunktion die beiden überzähligen μέρη der „Helena" haben. b) Die Gliederung nach Handlungsabschnitten und kompositionellen Einheiten Bei der Untersuchung einer späteuripideischen Tragödie empfiehlt es sich, nicht so sehr auf die μέρη zu achten als vielmehr auf jene Gliederung, die sich durch die σύστασις πραγμάτων ergibt 2 , also auf die einzelnen Stufen der Handlung. Die Handlung der „Iphigenie" vollzieht sich in zwei Etappen. Das Ziel des ersten Abschnitts ist die Erkennung der Geschwister, das des zweiten die Bettung aus dem Barbarenland 3 . Eine feste Grenze zwischen den beiden Abschnitten läßt sich allerdings nicht angeben, da sich in V. 873-1016 ein allmählicher Übergang vom Erkennungs- zum Rettungsgeschehen vollzieht. Wenn auch die Grenze zwischen den beiden Handlungsabschnitten derart verwischt ist, können wir doch deutlich erkennen, wie innerhalb des dramatischen Gefüges die Gewichte verteilt sind. Der Erkennungshandlung ist ohne Frage der größere Raum zugebilligt. Ihr Abschluß, die Erkennungsszene, ist der dramatische Höhepunkt des Stückes, und seine beiden pathetischen Höhepunkte (V. 123-235 und 827-899) s»nd ebenfalls ihr zugeordnet. Demgegenüber kommt der Rettungshandlung merklich weniger Gewicht zu. Vom Augenblick der Planerfindung an strebt die Handlung zügig ihrem Ende zu. Keine Szene ist mehr von größerer dramatischer Intensität, und jedes Pathos wird vermieden. 1 Innerhalb des 1. Epeisodion wird durch den kurzen Kommos V. 643-657 eine Zäsur gesetzt, die aber gegenüber den Einschnitten, die durch die Chorlieder markiert werden, von untergeordneter Bedeutung ist. 1 Arist. Poet. 7, 1450b 23. s Vgl. Solmsen, Ion 400.

2 8089 Matthicuen

18

„Taurische Iphigenie" und „Helena"

Neben der eben beschriebenen zweiteiligen ist noch eine andere Gliederung möglich. Ohne Zweifel bildet das große zentrale Epeisodion (V. 456-1088), in dem die Geschwister sich erkennen und in dem der Rettungsplan gefunden wird, eine kompositionelle Einheit. Was vorausgeht, ist der Eingang der Tragödie im weitesten Sinne, und das Folgende dient dazu, die Durchführung des Rettungsplanes darzustellen. Der Zentralabschnitt bildet auch dadurch eine Einheit, daß zu seinem Beginn die eingangs getrennt voneinander exponierten Partner Iphigenie und Orestes-Pylades zu einer Gruppe zusammentreten, die mit einer kurzen Unterbrechung während des ganzen Abschnitts bestehenbleibt und sich an seinem Ende wieder auflöst. Es ergibt sich also eine dreiteilige Gliederung des Stückes in einen Eingangsabschnitt, einen Zentralabschnitt und einen Schlußabschnitt 1 . Beschreibt man den Aufbau einer Tragödie mit Hilfe der aristotelischen Begriffe, so erübrigt sich eine nähere Untersuchung der Chorlieder, da ihre Funktion von vornherein feststeht : sie sind das eigentlich gliedernde Element. Bei einer solchen Betrachtungsweise übersieht man aber, daß dies durchaus nicht die einzige Funktion ist, die ein Chorlied in der Gesamtkomposition haben kann 2 . So bildet in der „Iphigenie" die kommatische Parodos einen Teil des Eingangs. Die beiden folgenden Stasima (V. 392-455 und 1089-1152) verbinden Eingangsabschnitt und Zentralabschnitt bzw. Zentralabschnitt und Schlußabschnitt, indem sie jeweils Motive des Vorausgegangenen aufnehmen und auf das Ende des Dramas vordeuten. Das dritte Stasimon schließlich (V. 1234-1283), das mit seiner Umgebung in keinem und mit dem ganzen Drama nur in einem lockeren Zusammenhang steht, markiert einen Einschnitt innerhalb des Schlußabschnitts. Auch bei der „Helena" läßt sich eine Gliederung nach Handlungsabschnitten vornehmen, da sich auch hier deutlich zwei Etappen der Handlung unterscheiden lassen. Das Ziel des ersten Abschnitts ist die Erkennung der Ehegatten, das des zweiten ihre gemeinsame Flucht. Anders als in der „Iphigenie" sind die beiden Handlungsabschnitte deutlich voneinander geschieden. Der erste umfaßt V. 1-760, der zweite V. 761-1692. Das Größenverhältnis der beiden Abschnitte ist also umgekehrt wie in der „Iphigenie". Während dort der dem Erkennungsgeschehen gewidmete erste Abschnitt ein spürbares Übergewicht über 1 Vgl. Ludwig 118-120. - Auch E. Buschor (Iph. im Taurerland, München 1946, 92) vergleicht die Komposition des Stückes mit einem Triptychon, setzt allerdings die Abschnittsgrenzen etwas anders. 2 Vgl. Ludwig 119: „Die Chorlieder . . . haben die verschiedensten strukturellen Funktionen. Sie können einen Hauptteil eröffnen oder schließen, können Abschnitte eines Hauptteiles sperren oder unmittelbar in sein Gefüge eingebaut sein. Sie müssen deswegen jedenfalls in die Gliederung des Dramas einbezogen werden."

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Gesamtaufbau - Kompositionsabschnitte

den zweiten hatte, ist hier der Erkennungsabschnitt kürzer als der Rettungsabschnitt1. Neben der zweiteiligen ist auch in der „Helena" eine dreiteilige Gliederung möglich. Auch hier steht im Zentrum des Stückes das übergroße zweite Epeisodion, in dem sich Erkennung und Planerfindung vollziehen. Zu seinem Beginn begegnen sich Menelaos und Helena zum ersten Male. Sie bleiben während des ganzen Abschnitts auf der Bühne, doch tritt Menelaos anders als Orestes auch noch im Schlußabschnitt als handelnde Person auf. Die beiden Chorpartien, die das Epeisodion begrenzen, verknüpfen hier nicht die Kompositionsabschnitte, indem sie auf den Anfang zurück- und auf den Ausgang vorausdeuten, sondern sind als Auftakt und abschließende Reflexion dem von ihnen umgebenen Abschnitt zugeordnet. Der Zentralabschnitt umfaßt also V. 5151164. Voraus geht der Eingang im weitesten Sinne (V. 1-514), und es folgt der Schlußabschnitt (V. 1165-1692). Auch die übrigen Chorpartien lassen sich dieser Gliederung einordnen. Die kommatische Parodos (V. 164—254) bildet einen Teil des Eingangsabschnitts, und durch das zweite und dritte Stasimon (V. 1301-1368 und 1451-1511) wird der Schlußabschnitt gegliedert, wobei allerdings das dritte Stasimon eine schärfere Zäsur setzt als das zweite8. Die Ähnlichkeit im Aufbau der beiden Stücke, die wir zu vergleichen haben, läßt sich demnach so beschreiben, daß sich hier wie dort in einem dreigliedrigen Drama eine zweistufige Handlung vollzieht. Unterschiede bestehen in der Verteilung der Gewichte zwischen den Handlungsabschnitten. In der „Iphigenie" dominiert die Erkennungehandlung, in der „Helena" dagegen die Rettungshandlung. Ähnlichkeit und Unterschiede lassen sich durch folgendes einfache Schema veranschaulichen. Kompositionelle Abschnitte

\ll IIIIII III II IH 1/ IIIIIIH IIIIII IHM λ I///////////////1

S Ä "

I///////////////////////777777711/ //////////////////// /I

Eomposltlonelle Abschnitte

I///////////////11//////////////////////ι

Handlungsabechnltte

1//////////////////////I I//////////////////////77777777I

mumm

Iphigenie

Helena

Ein weiterer Unterschied besteht schließlich in der Form der Schlußabschnitte. Hier nämlich weist die „Helena" zwei μέρη mehr auf als die „Iphigenie". In dieser ist der Abschnitt dreigliedrig (3. Epeisodion 3. Stasimon - Exodos), in der „Helena" dagegen fünfgliedrig (3. Epeisodion - 2. Stasimon - 4. Epeisodion - 3. Stasimon - Exodos). In unserer Arbeit wird das dreigliedrige Aufbauschema zugrundegelegt. Doch auch die Gliederung nach Handlungsabschnitten wird für uns besonders bei der Besprechung der Zentralabschnitte von gewisser Bedeutung sein. 1

Vgl. Solmsen, Ion 400.

» Vgl. Ludwig 118-120.

„Taurische Iphigenie" und „Helena"

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§ 2. Die Eingangsabschnitte a) Vorbemerkung Damit keine Mißverstandnisse entstehen, sei darauf hingewiesen, daß der erste Teil beider Dramen, der hier als „Eingangsabschnitt" bezeichnet wird, nicht mit dem „Eingang" der Tragödie identisch ist, den Walter Nestle untersucht hat. Der „Eingang" umfaßt nach der von Nestle gegebenen Begriffsbestimmung 1 den Prolog und die anschließenden lyrischen Partien bis hin zum Beginn des ersten Epeisodions. Der „Eingangsabschnitt" dagegen umfaßt in unserem Fall außer dem Eingang im engeren Sinne auch noch das erste Epeisodion. Ein solcher Eingangsabschnitt läßt sich vor allem in den beiden Tragödien abgrenzen, die den Gegenstand dieser Arbeit bilden, er läßt sich aber auch mehr oder minder deutlich ausgeprägt in zahlreichen anderen Stücken beobachten. Ebenso wie hier bildet auch in einigen anderen Fällen der Eingang mit dem ersten Epeisodion eine kompositionelle und stimmungsmäßige Einheit. In einer Reihe von Tragödien tritt die Hauptgestalt auf, bevor der Chor zu singen oder zu sprechen begonnen hat. Sie ist während der lyrischen Eingangspartie anwesend und bleibt es auch während des ersten Epeisodions 2 . In allen Stücken dieser Gruppe ist die Hauptgestalt Nestle, V I I . Diese doch recht auffällige Tatsache mußte Nestles Aufmerksamkeit entgehen, weil er sich in seiner Arbeit streng auf den eigentlichen Eingang beschränkte. Aus der folgenden Tabelle läßt sich ersehen, um welche Stücke es sich handelt und an welchen Abschnitten jeweils die Hauptgestalt beteiligt ist. 1

2

Prologos A . Pr. S. Tr. El. 0 . C. E. Med. Andr. Hec. El. Tro. I. T. Ion



Prologrede —

Dialog —

Prologrede —

Rede

Lyr. Part, vor der Parodoe

Kommet. Form d. Parodos

Monodie

Kommos





Monodie —

Hsz. Klage Elegie Anapäste Monodie -

Prologrede —

Monodie

Hei.

Prologrede

Monodie

Or.

Prologrede [Prologr.]

Monodie

Hyps.



Kommos Kommos Kommos

Lyr. Part, nach der Parodos — — — — —







Monodie

Kommos Kommos Kommos teilw. kommat. Kommos Kommos Kommos



1. Epeisodion Rede Rede Rede Rede Rede Agonredenpaar Amoibaion - 1 Rede





Monodie

-





Epode —

Epode

1 Rede

Re- K o m - Monde mos odie —

-

Eingangsabschnitte - Vorbemerkung

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- gewöhnlich ist es eine Frau - von Anfang an mit schwerem Leid beladeil1. Der Eingang hat hier neben seiner üblichen Funktion, in die Voraussetzungen der Handlung einzuführen, zugleich die künstlerisch sehr viel wichtigere Aufgabe, den Zuschauer mit dem Leid der Hauptgeetalt bekanntzumachen und ihr durch das Leid geprägtes Ethos vor Augen zu führen2. In mehreren Stücken spricht die Hauptgestalt die Prologrede. Oftmals verbindet sich schon hier die Erzählung der Vorgeschichte derart mit der Selbstdarstellung des leidenden Einzelnen, daß jedes dem Zuschauer mitgeteilte Faktum zugleich als ein Element der Leiden der Hauptgestalt erscheint3. Bisweilen erhebt die Heldin vor dem Einzug des Chores ihre Stimme zu einer Klage in der Einsamkeit4. Meist beklagt sie im kommatischen Wechselgesang mit dem Chor ihr Schicksal, und oft weckt das Echo, das ihre Klagen beim Chor gefunden haben, wiederum ihr eigenes Pathos, und sie antwortet mit einem abermaligen Ausbruch ihres Schmerzes6. In vielen Fällen legt sie zu Beginn des ersten Epeisodions dem Chor noch einmal in ruhiger Rede ihre leidvolle Lage dar6 oder beklagt sie wiederum in einer zweiten lyrischen Partie7. In allen diesen Dramen bilden Prolog, lyrische Eingangspartien und erstes Epeisodion durch die beständige oder doch nur für kurze Zeit unterbrochene8 Anwesenheit der Hauptgestalt und die Med. nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als dort die Heldin erst zu Beginn des 1. Epeisodions die Bühne betritt, aber durch ihre hinterszenischen Klagen bereits an den anapästischen und lyrischen Eingangspartien teilhat. In Or. darf Elektra wohl als Hauptgestalt betrachtet werden. Auch Hyps, hat wahrscheinlich eine Prologrede der Hauptgestalt gehabt. 1 Der Eingang des Ion gehört nur formal zu dieser Gruppe. Denn dort dient die Form anderen Zwecken als sonst, nämlich nicht der Darstellung dee Leides der Hauptgestalt, sondern der Schilderung ihrer glücklichen und wohlbehüteten Lebensumstände vor Beginn der Handlung des Stückes. * Zürcher hat zweifellos mit Recht vor einer Überschätzung der Bedeutung der Charaktere in den Dramen des Eur. gewarnt. Man würde aber zu weit gehen, wenn man leugnen wollte, daß Eur. überall dort, wo es die Handlungsführung zuläßt, das Ethos seiner Hauptgestalten umreißt. Das gilt besonders für die hier besprochenen breiten Eingangspartien, in denen die Handlung noch nicht oder nur erst zögernd eingesetzt hat. Im weiteren Verlauf des Dramas freilich tritt das Ethos hinter der Handlung meist völlig zurück. - Zum Problem der Charaktere vgl. jetzt A. Lesky, Psychologie bei Eur., in: Entretiens Fondation Hardt β, Vandoeuvres-Genf I960, 123-168. * Auch Eur. El. mit der Auftrittsrede Elektras V. 54-63 muß zu dieser Gruppe gezählt werden. 4 Monodien vor der Parados. - Hec. hat an dieser Stelle eine Monodie in lyrischen Anapästen, während es sich in Andr. zwar nicht um eine Monodie im strengen Sinne handelt, aber immerhin um Sprechverse in dem bewegten elegischen Metrum. 5 Monodien nach der Parados. * Gewöhnlich steht diese Rede zu Beginn des ersten Epeisodions, während sie in Eur. El. und Iph. erst in seinem zweiten Teil folgt. 7 Hec., Hei. » Eur. El., Iph.

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„Taurieche Iphigenie" und „Helena"

allen Teilen gemeinsame Funktion, ihr Leid zu vergegenwärtigen, eine kompositionelle Einheit. Oftmals ist, besonders in den euripideischen Dramen dieser Gruppe, drei- oder viermal von den gleichen, inzwischen längst bekannten Dingen die Rede. Und doch entsteht beim Zuschauer niemals das Gefühl einer leeren Wiederholung. Denn je intensiver das Leid der Hauptgestalt ihm vergegenwärtigt wird, je stärker wird auch er selbst ergriffen. Charakteristisch für diese Art der Tragödieneröffnung ist es ferner, daß der Beginn der Handlung gewöhnlich sehr lange hinausgezögert wird und die Darstellung des Leides zunächst fast völlig dominiert. Euripides ist ein Meister in der Gestaltung von Eingangsszenen dieses Typs. Er ist zwar nicht der Erfinder dieser Form1, aber er hat sie früh übernommen und im Verlaufe seines dramatischen Schaffens immer weiter differenziert. Mag er auch im Schlußteil seiner Dramen bisweilen etwas schematisch verfahren, die pathetischen Eingangsszenen jedenfalls, in denen er die Sympathien des Zuschauers mit dem Leid seiner Heldinnen weckt, gestaltet er immer wieder mit besonderer Liebe2. b) Der Gesamtaufbau der Eingangsabschnitte In der „Iphigenie" bildet der Teil des Dramas, der vor dem Beginn der Erkennungshandlung liegt, freilich mit Ausnahme des überleitenden ersten Stasimons, eine fest umrissene kompositioneile Einheit, allein schon dadurch, daß mit einer kurzen Unterbrechung Iphigenie ständig auf der Bühne ist und sich der Schilderung ihres Leides und der Entfaltung ihres Ethos alles andere unterzuordnen hat3. Der Eingangsabschnitt gliedert sich in fünf Szenen4. 1

Im Prom., den man trotz aller formalen Anstöße doch für aischyleisch halten sollte, besitzen wir daa früheste Beispiel für den beschriebenen Typ. Auf das Problem der Datierung der Trach. kann hier nicht eingegangen werden, doch vgl. jetzt Joerden 162-165 und vor allem Schwinge. - M a n hat immer wieder gemeint, die Trach. seien von den Frauendramen des Eur. beeinflußt (zuletzt Lesky, Trag. Dicht. 119-120). Eine Verwandtschaft ist unverkennbar, doch sollte man eher mit Schwinge (24-28) eine Abhängigkeit in der umgekehrten Richtung vermuten. Ein großer Einfluß auf die dramatische Technik des Eur. läßt sich auch der in den Trach. verwandten Form der Drameneröffnung zusprechen. Vgl. dazu Schwinge 40: „Die Parallelität der Eingangstechnik ist nur so erklärbar, daß Eur. . . . die Trach. genau studierte und die Gestaltung des Eingangs für seine dramatischen Absichten . . . als so adäquat empfand, daß er sie gleich für eine ganze Reihe seiner Dramen . . . übernahm". nVenn Schiller (an Goethe, 26. 4. 1799) die „Euripidische Methode" lobt, „welche in der vollständigsten Darstellung des Zustandes besteht", dürfte er an solche Partien, vor allem wohl an den Eingang der Med. denken. 3 Die beste Interpretation der Iph. findet sich bei Strohm, Iph., eine wichtige Ergänzung dazu: ders., Eur. 158-161. Zum Aufbau des ganzen Stückes und einiger Szenen ist Ludwig manche wertvolle Erkenntnis zu danken. * Vgl. Ludwig 99.

Eingangsabschnitte - Gesamtaufbau

23 Iphigenie.

J,", ^ °! P r T, Λ 67-122: Dialogszene Orestes-Pylades 123-235: Kommatische Parodos und Monodie 1

r

0grede I

h l g

i

236-343 : Erste Botenszene 344-391: Monolog Iphigeniens

\ Eingang im engeren Sinn > (proloeos und Parodos) J Erstes Epeisodion

Der Abschnitt wird durch eine monologische Rede Iphigeniens eröffnet und beschlossen. Sein Kernstück ist die lyrische Partie, in der das Leid Iphigeniens am eindringlichsten zum Ausdruck kommt. Diese Partie wird gerahmt von Szenen, in deren Mittelpunkt das Gegenspiel (Orestes und Pylades) steht. Der Eingangsabschnitt hat also eine wohlausgewogene symmetrische Komposition. Doch ist er in keiner Weise statisch, denn die Abschnitte, die sich symmetrisch entsprechen, sind von zunehmender Intensität. Der ruhigen Rede am Anfang entspricht die hochpathetische Rede Iphigeniens am Schluß, und der Dialogszene am Anfang, in der sich das Freundespaar vom Unglück bedroht fühlt, die Botenszene, in der berichtet wird, wie das Unglück über sie hereingebrochen ist. Helena 68-163: 164-254: 255-305: 306-329: 330-385: 386-434: 435-482 : 483-514:

? , ^ , -r ι Dialogszene Helena-Teukros Komm. Parodos und Monodie Rede Helenes Dialog Helena-Chor Kommoe und Monodie 2. Prologrede des Menelaos Dialogszene Menelaos-Alte Monolog des Menelaos 0l

0grede Η

1θ ηββ

1 \ J

Eingang im engeren Sinne , ( P r 0 l ° g ° 8 ^ Ρ β Γ θ ά θ 8 )

Eretes Epeisodion

Auch in der „Helena" umfaßt der Eingangsabschnitt den Teil des Dramas, der dem ersten Zusammentreffen der Ehegatten vorausgeht, also V. 1-5141. Innerhalb dieses Abschnitts lassen sich zunächst in hergebrachter Weise der Eingang im engeren Sinne (V. 1-254) und das erste Epeisodion (V. 255-514) unterscheiden. Eine schärfere Zäsur trennt jedoch Eingang und erste Hälfte des Epeisodions von deren zweiter Hälfte. Sie liegt an der Stelle, wo für eine kurze Zeit die Bühne leer wird (V. 385/386). Wir beobachten demnach die dreimalige Wiederkehr einer dreigliedrigen Szenenfolge. Die beiden ersten Triaden schließen sich dadurch eng zusammen, daß sie beide der Exposition des Ethos Helenas gewidmet sind, während im dritten Teil das Gegenspiel (Menelaos) exponiert wird. Dreimal wiederholt sich die Folge: Selbstdar1 Vgl. Ludwig 93-97. - Die Arbeit Ludwigs ist für die Hei. ähnlich bedeutungsvoll wie die Strohms für die Iph. Leider beschränkt sich Ludwig zu sehr auf das rein Formale und berücksichtigt die Handlungsführung nicht. Vgl. Strohm, Rez. Ludwig 494.

„Taurische Iphigenie" und „Helena"

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Stellung in der Rede - Dialog - Selbstdarstellung. Dabei hat die zweite Selbstdarstellung in den beiden ersten, Helena gewidmeten Teilen jeweils lyrische Form und ist durch Beteiligung des Chores bereichert, wählend sie im dritten, Menelaos gewidmeten Teil die schlichte Form eines iambischen Monologes hat. Vergleicht man die beiden Eingangsabschnitte, so zeigt sich, daß in der „Iphigenie" in völlig normaler Weise auf einen dreiteiligen Eingang ein zweiteiliges Epeisodion folgt, während in der „Helena" der Abschnitt eine Form hat, die ohne Parallele in sämtlichen erhaltenen Tragödien ist1. Das Gegenspiel ist hier nicht wie sonst auf eine Szene zwischen Prologrede der Heldin und Parodos beschränkt2, sondern erhält dadurch, daß der Chor mit der Heldin die Bühne verläßt, Gelegenheit zu einem eigenen „zweiten Prolog". Für die so entstehende neungliedrige Form des Eingangsabschnitts läßt sich in allen erhaltenen euripideischen Tragödien kein Vorbild denken als allein der dreigliedrige Eingang der „Iphigenie." Schon der am ehesten vergleichbare Eingang der „Elektra" hat eine zu stark abweichende Gestalt, als daß er als unmittelbares Vorbild in Frage käme. Darum hat die im Folgenden beschriebene Formentwicklung große Wahrscheinlichkeit. In der „Elektra" will Euripides die Heldin möglichst früh auftreten lassen, um dadurch wie in „Trachinierinnen" und „Andromache" Prolog, Parodos und erstes Epeisodion zusammenzufassen und so auch hier die oben beschriebene Eingangsform entstehen zu lassen, die sich so gut zur Darstellung des Ethos der Heldin eignet. Andrerseits will er auch nicht auf den Auftritt des Gegenspiels im Prolog verzichten, der zur Folge hat, daß wie im „Kresphontes" und in der sophokleischen „Elektra"3 die anschließende Klageszene zum Symbol für die Befangenheit des leidenden Menschen im Schein wird. So schafft er in seiner „Elektra" eine Eingangsform, bei der nach dem ersten Teil des Prologes der erste Partner für kurze Zeit unter einem Vorwand die Bühne verläßt und im zweiten Teil der andere Partner auftritt, der dann wiederum dem ersten Partner und seiner Klageszene weichen muß. Diese Form verwendet der Dichter abermals in der „Iphigenie", gestaltet hier jedoch nicht den Anteil des ersten Partners, sondern den des zweiten dialogisch. So entsteht die Folge : Monolog des ersten Partners - Dialog des zweiten Partners - lyrische Selbstdarstellung des ersten Partners. Diese Szenenfolge übernimmt Euripides auch in der „Helena", gibt jedoch nun auch die Dialogszene des Prologes dem ersten Partner, läßt die gleiche Szenenfolge noch einmal in verkürzter Form wiederkehren, abermals im Dienste der Ethos-Darstellung des ersten 1

2 Vgl. Ludwig 100. Vgl. EUT. El., Iph., [Hyps.]. Die Priorität von Soph. El. vor EUT. El. sei hier vorausgesetzt. Vgl. unten 81-88. 8

Formentwicklung dee Eingangsabschnitts

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Partners, und wiederholt sie schließlich nach Entfernung des ersten Partners und des Chores noch einmal, so daß auch der zweite Partner eine dreigliedrige Szenenfolge mit prologartigem Charakter erhält. Auf diese Weise schafft Euripides zugleich den formal vollkommensten unter allen erhaltenen Drameneingängen des oben beschriebenen Typs. Der Vergleich der Eingangsabschnitte der beiden Tragödien hat gezeigt, daß für diesen Teil der Dramen die Reihenfolge „Elektra" - „Iphigenie" - „Helena" wahrscheinlicher ist als jede andere. Es bleibt zu prüfen, ob ein Vergleich der homologen Szenen unsere Vermutung bestätigt. c) Iphigenie V. 1-66 und Helena V. 1-163 Es mag verwunderlich scheinen, daß hier einer Szene der „Iphigenie" zwei Szenen der „Helena" gegenübergestellt werden. Denn formal entspricht ohne Frage der Prologrede Iphigeniens (V. 1-66) diejenige Helenas (V. 1-67 )*. Hinsichtlich der dramatischen Funktion jedoch entspricht die ganze Prologrede Helenas (V. 1-67) dem ersten Teil (V. 1-41) lind die folgende Dialogszene (V. 68-163) dem zweiten Teil der Prologrede Iphigeniens (V. 42-66). Im ersten Teil ihrer Bede schildert Iphigenie die leidvollen Umstände, unter denen sie seit Aulis leben muß2. Erst im zweiten Teil gibt sie durch die Traumerzählung dem gegenwärtigen Augenblick seine besondere Bedeutung. Durch den Tod des Bruders ist ihr die letzte Hoffnung auf Änderung ihres Zustandes geraubt worden. Ihr Leid ist dadurch so sehr ins Unerträgliche gewachsen, daß sie im Lied ihre Klage äußern muß. Die Klageszene könnte jetzt unmittelbar folgen, doch gibt Iphigenie zunächst dem Gegenspiel Baum und entfernt sich unter einem Vorwand. In der Prologrede klingen zum ersten Male die Motive an, die in der kommatischen Parodos in immer neuen Wendungen wiederkehren, auch in den folgenden Szenen bis zur Erkennung Iphigeniens Worte durchziehen und selbst im Schlußabschnitt des Dramas eine gewisse Bedeutung behalten. Es sind fünf Motive3. Vier werden im ersten Teil der Prologrede genannt, das fünfte und wichtigste im zweiten Teil. Vgl. Ludwig 36-38. In Iphigeniens Prologrede wird die Orteangabe auffallend lange hinausgezögert (bis V. 30). Wenn der Zuschauer am Anfang des Stückes eine Tempelfaseade sah und eine Priesterin, die sich als Iphigenie vorstellte, maßte er zunächst an Brauron denken, wo nach Sch. Ar. Lys. 645 das Grab der Priesterin Iphigenie gezeigt wurde. Daß schließlich nicht Brauron, sondern Tauris als Ort der Handlung genannt wurde, muß ein athenischer Zuschauer als Überraschung empfunden haben. 8 Auf diese Motivreihen hat Strohm (Iph. 27-32) im Anschluß an Nestle (66) nachdrücklich hingewiesen. Nach dem Vorbild von Strohm werden hier die Motive mit Buchetaben bezeichnet. Eine Wiederkehr des Motives in den folgenden Szenen wird jeweils durch eine Wiederholung des Buchstabens angedeutet. 1 1

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„Taurieche Iphigenie" und „Helena"

a) Iphigenie sollte in Aulis auf den R a t dee Kalchae durch den eigenen Vater geopfert werden (Aulis-Motiv: V. 6-24). b) Odysseus täuschte ihre Mutter durch die angebliche Hochzeit mit Achilleus (Achilleus-Motiv: V. 24-25). c) Iphigenie wurde von Artemis nach Tauris entrückt (Tauris-Motiv : V. 26-33). d) Artemis setzte sie als Priesterin bei den Menschenopfern der Taurer ein (Artemis-Motiv: V. 34-41). e) Orestes, die letzte Säule des Atridenhausee, lebt nicht mehr (Orestes-Motiv: V. 42-58).

Auch Helena gibt im ersten Teil ihrer Prologrede (V. 1-59) dem Zuschauer Kenntnis von ihren bisherigen unglücklichen Schicksalen und fügt im zweiten Teil (V. 60-67) hinzu, sie befinde sich neuerdings infolge der Nachstelllungen des Theoklymenos in so großer Bedrängnis, daß sie in den Schutz des Proteusgrabes habe flüchten müssen. Dadurch hat sich ihre Lage zwar verschlimmert, doch solange ihr Asyl geachtet wird, ist ihre Not noch nicht aufs äußerste gestiegen. Durch die bloße Tatsache der Altarflucht allein wird dem gegenwärtigen Tage noch kein besonderes Gewicht verliehen1, sondern erst durch die Nachrichten, die Teukros überbringt. Ähnlich wie in der Prologrede Iphigeniens lassen sich auch in der Rede Helenas einige Motive hervorheben, die in den folgenden Klageszenen und auch darüber hinaus immer wieder anklingen. Fünf Motive lassen sich unterscheiden. A) Helenas Schönheit h a t ihr nur Unglück bereitet (Motiv der unglückbringenden Schönheit: V. 27). B) Paris erhielt Helena von Kypris zugesprochen und brach nach Sparta auf (Paris-Motiv: V. 27-30). C) Nur das Trugbild, das von jedermann für Helena gehalten wurde, gelangte nach Troia, während sie selbst nach Ägypten entrückt wurde (δόκησιςMotiv: V. 31-48, 54). D) Helenas N a m e wurde mit Schande bedeckt, während ihr Leib rein blieb (δνομα-σώμα-Motiv : V. 42-43, 66-67). E) Sie ist bei den Griechen verhaßt, weil um ihretwillen der Krieg e n t b r a n n t ist (Haß-Motiv: V. 49-55).

Doch damit ist nur erst ein Teil der Motive der Klageszenen genannt. Erst Prologrede und Teukrosszene zusammen enthalten alle Motive. Die Teukrosszene (V. 68-163)2 hat vor allem drei Aufgaben. Sie ver1

Eine Altarsituation im Eingang läßt den Zuschauer sofort erkennen, daß sich ein Hilfloser in großer Bedrängnis befindet. Doch m u ß erst noch ein zweites Moment hinzukommen (Auftritt eines Feindes oder eines möglichen Beschützers), damit aus dem Zustand der Bedrängnis ein bestimmter entscheidungsvoller Augenblick hervorgehoben wird. - Zum Altarmotiv vgl. Strohm, E u r . 17-32, zu Helena-Szenen des Eingangs jetzt auch Alt, Anagnorisis 10-12. 2 Zur Szene vgl. Ludwig (55-57), Zuntz (Cont. Pol. 156-158), ferner Joerden (244), der richtig darauf hinweist, daß E u r . den „Kunstgriff" vornimmt, „einen schon Heimgekehrten wieder ausgewiesen werden zu lassen", damit Helena durch ihn Nachrichten sowohl aus Troia ale auch aus Griechenland erhalten kann. Teukros war außerdem für die Athener ein heimischer Held. Mit Salamis h a t t e

Prolog - Motivreihen

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anschaulicht den Haß der Griechen gegen Helena am Beispiel eines der griechischen Helden (E). Sie verdeutlicht ferner die Macht der δόκησις über die Menschen (C). Schließlich und vor allem soll die von Teukros überbrachte Botschaft vom Tode des Menelaos Helena in so tiefes Leid stürzen, daß sich in der folgenden Klageszene ihr Ethos rein entfalten kann. Durch diese Szene erhält auch der gegenwärtige Tag sein volles Gewicht. Es ist der Unglückstag, an dem durch die Nachricht vom Tode ihres Gatten Helenas letzte Hoffnung auf Wiederherstellung ihres Rufes und auf Rückkehr in die Heimat zunichte wird. Vier weitere Motive, die in den folgenden Szenen immer wieder anklingen, werden hier zum ersten Male erwähnt. F) Der Untergang Troias und das Leid der Griechen sind Schuld Helenas (TroiaMotiv: V. 105-114). G) Menelaos h a t im Meer den Tod gefunden (Menelaos-Motiv : V. 123-133). H) Leda h a t sich aus K u m m e r über die Schande Helenas das Leben genommen (Leda-Motiv: V. 133-136) 1 . I) Die Dioskuren sind aus dem gleichen Grunde aus dem Leben geschieden (Dioskuren-Motiv: V. 137-142).

In der „Helena" wird also erst nach zwei Szenen die Situation erreicht, die in der „Iphigenie" schon nach einer Szene geschaffen worden ist. Genaue formale und inhaltliche Entsprechung besteht nur zwischen den beiden ersten Teilen der Prologreden (Iph. 1-41 ~ Hei. 1-59). Im Schlußteil der Reden wird jedesmal ein Ereignis berichtet, durch welches das Unglück der Heldin über das bisherige Leid hinaus vergrößert worden ist, in der „Iphigenie" der Traum vom Tode des Orestes, der Athen, das selbst so wenig Anteil an gemeingriechischen Sagen hatte, auch die salaminischen Helden Aias u n d Teukros okkupiert. (Vgl. z . B . die Zusammenstellung von Menestheus, Teukros und den Söhnen des Theseus a m „Troianischen P f e r d " auf der Akropolis Paus. 1, 23, 8). E s gibt also Gründe genug d a f ü r , d a ß E u r . gerade Teukros als Überbringer der falschen Todesnachricht einführte. Zu Grégoires Versuch (Hél. 17-21), den A u f t r i t t des Teukros als einen Hinweis auf den Athen freundlich gesonnenen Tyrannen Euagoras von Salamis auf Zypern zu interpretieren, und zum Prinzip der von ihm und vor allem von Delebecque geübten Methode der 'interprétation historique', h a t Zuntz (a.a.O.) das Nötige gesagt. Absurd ist auch der Einfall Grégoires, die Teukrosszene mitsamt der falschen Todesnachricht sei erst kurz vor der Aufführung vom Dichter eingeschoben worden. Wie fest beides in der S t r u k t u r des Stückes verankert ist, d ü r f t e unsere Untersuchung hinreichend deutlich machen. 1 Nach V. 136 setzt Grégoire eine Lücke an, weil im überlieferten T e x t Helena den Tod ihrer Mutter nicht beklagt und m a n außerdem eine Nachricht über die V. 282-283, 688-690 u n d 1476-1477 erwähnte Ehelosigkeit Hermiones vermißt. Ludwig (55 A. 2) weist aber darauf hin, d a ß bei E u r . Unglücksnachricht und Klage o f t weit voneinander getrennt sind, aus diesem Grunde also hier keine Lücke angenommen zu werden brauchte. Eine Nachricht über Hermiones Ehelosigkeit vermißt m a n tatsächlich. Hermione bleibt aber auch in V. 191-210 u n d in V. 211-228 unerwähnt, was sicher nicht der Fall wäre, wenn Teukros etwas über sie berichtet h ä t t e . Offenbar wird das Motiv vom Dichter in V. 282-283 völlig unvorbereitet neu eingeführt.

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„Taurische Iphigenie" und „Helena'

auch zum Anlaß der folgenden Klageszene wird, in der „Helena" die Bedrohung durch Theoklymenos, die in den Klageszenen unerwähnt bleibt. Die Aufgabe, die falsche Todesnachricht zu vermitteln und so die Klageszenen vorzubereiten, übernimmt in der „Helena" die dialogische Prologszene (V. 68-163), die in der „Iphigenie" dem Gegenspiel vorbehalten ist. Teukros überbringt außer der Todesnachricht aber auch noch weitere Unglücksbotschaften, die ohne Entsprechung in der „Iphigenie" sind (Motive F, H, I). In den zwei Prologszenen der „Helena" stellt der Dichter also eine größere Zahl von Motiven für die Klageszenen bereit als in der einen Szene der „Iphigenie". Nicht nur das eigene Schicksal und den Tod des Menelaos wird Helena zu beklagen haben, sondern auch das Unheil, das durch die Schuld ihres δνομα über Troia und über ihr eigenes Haus gekommen ist. Auch in der „Iphigenie" wird der Fall Troias gemeldet und das furchtbare Schicksal berichtet, das über die Familie der Heldin hereingebrochen ist. Aber diese Nachrichten erreichen Iphigenie erst in der Szene vor der Erkennung (V. 517-569), können also in der Klageszene noch nicht wirksam werden. Das naheliegende, von Goethe1 so wirkungsvoll verwandte Motiv, daß Iphigenie erfährt, ihr Vater sei um des aulischen Opfers willen von seiner Gattin getötet worden, und somit erkennen muß, daß auch sie selbst, die priesterliche Reine, in die unselige Verknüpfung von Schuld und Rache einbezogen ist, wird von Euripides, dem diese Begründung der Tat Klytaimestras doch sonst durchaus nicht fremd ist2, in seinem Möglichkeiten für die Klageszene der „Iphigenie" nicht ausgeschöpft. In der „Helena" dagegen bildet das durch die Heldin unfreiwillig verschuldete Unglück eines der Hauptthemen der Klageszenen. Es ist undenkbar, daß die beiden Prologszenen der „Helena" das Vorbild der einen Szene der „Iphigenie" gewesen sind, vielmehr spricht alles dafür, daß Euripides die einfachere Form der „Iphigenie" in der „Helena" erweitert hat, indem er der Heldin auch die Dialogszene zuteilte, die dann die Funktion von V. 42-59 der „Iphigenie" übernehmen konnte, und daß er die Motive der Klageszenen vermehrt hat, indem er Helena frühzeitig etwas über das Unglück ihrer Familie erfahren ließ. Der Vergleich der Prologe läßt also die Priorität der „Iphigenie" sehr viel glaubhafter erscheinen als das umgekehrte Verhältnis. d) Iphigenie V. 123-235 und Helena V. 164-254 Auf den Prolog der „Iphigenie" folgt, wie so oft bei Euripides, eine kommatische Parodos (V. 123-235). Da auch die „Helena" eine Parodos der gleichen Form aufweist (V. 164-252), ist ein Vergleich ohne weiteres möglich. 1

Iphigenie auf Tauris 908-918.

2

Vgl. Eur. El. 1018-1023.

Kommatische Parodos

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Die lyrische Eingangspartie der „Iphigenie" ist auffallend schlicht gestaltet. Sie besteht aus Anapästen, die teils rezitiert, teils gesungen werden1. Strenge Responsion ist dem anapäetischen Versmaß fremd, doch entsteht hier durch den Wechsel zwischen gesungenen und gesprochenen Versen eine klare vierteilige Gliederung. Zuerst entspricht einem gesungenen (V. 123-136) und einem gesprochenen (V. 137-142) Stück des Chores ein gesungenes (V. 143-169) und ein gesprochenes (V. 170-177) Stück Iphigenies. Dann folgen reine Gesangsabschnitte, zuerst des Chores (V. 178-202)2, dann Iphigenies (V. 203-235). Die Verszahlen der einzelnen Abschnitte entsprechen sich nie genau, sondern jedesmal ist die Iphigenie zukommende Partie größer als die gleichgeordnete Chorpartie. Das Einzugslied des Chores ist ein kurzes astrophisches Gebilde ohne großes eigenes Gewicht (V. 123-136). Auf ein Prooemium folgt in Form eines kurzen Artemishymnus die Mitteilung über Herkunft und Funktion des Chores3. Auch er hat Griechenland gegen seinen Willen verlassen und dient gezwungen der taurischen Artemis, ist also in allen Dingen Iphigenies Schicksalsgefährte. Durch die Frage der Chorführerin an die wieder auftretende Iphigenie wird das Erscheinen des Chores nachträglich motiviert (V. 137-142). Iphigenie teilt dem Chor in der bewegten Form einer anapäetischen Monodie und in hochpathetischer Sprache den Inhalt ihres Traumes mit (V. 143-169). Orestes ist gestorben (e), und sie will ihm die Totenopfer darbringen. Während des Opfers spricht sie einen letzten Gruß an Orestes (V. 170-177). Mit der Trauer über den Tod des Bruders (e) verbindet sich der Schmerz über ihr eigenes Unglück. Sie ist aus der Heimat verbannt (c) und gilt dort seit Aulis als eine Tote (a). Ihre Worte werden dadurch, daß sie dort steht, wo eben noch der lebende Orestes gestanden hatte, zu einem einprägsamen Symbol für die άγνοια des Menschen, die ihn Leiden erdulden läßt, welche darum nicht weniger schmerzlich sind, weil ihre Ursache nur Schein ist. Der Chor antwortet auf Iphigenies Klage mit seinen άντίψαλμοι ωδαί in gesungenen Anapästen (V. 178-202). Er beklagt das Unheil des Pelopidenhausee, für das er den verhängnisvollen Wagensieg des Pelops und den Raub des goldenen Lammes als Beispiele nennt. 1

Man sollte nicht versuchen, in V. 197, 213, 220 und 232 ebenfalls Anapäste herzustellen. Murray verweist auf Ion 889, wo auch zwei iambische oder trochäische Metra in anapästischer Umgebung erscheinen. 2 L P haben die Personenangabe Ιφ. vor V. 186, doch kommt V. 202 (wegen σοί) sicher dem Chore zu. Da aber der dort endende Gedankengang (Aufzählung der Schicksale des Tantalidenhauses) mit V. 186 beginnt, sind die gesamten Verse 186-202 mit Hermann dem Chor zu geben. 3 Zur Form vgl. Eur. Ba. 64-71, wo aber umgekehrt auf die Angabe von Herkunft und Funktion des Chores das εύφημεΐτε folgt.

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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

Daa Wort vom δαίμων des Hauses regt Iphigenie an, noch einmal in einem pathetischen Lebensrückblick ihre Schicksale als Werk des δυσδαίμων δαίμων zu verstehen (V. 203-235). Schon über ihrer Zeugung und Geburt waltete er, ebenso über ihrer Fahrt nach Aulis als Braut des Achilleus (b). Der δαίμων hat sie in dieses ungastliche Land verb a n n t (c), wo sie jeden Fremden der taurischen Artemis opfern muß (d). Doch ihre bisherigen Leiden verblassen vor dem neuen Unglück, das sie heute traf, vor dem Tod des Orestes (e). Der Traum vom Tode des Orestes war der Anlaß für Iphigeniens Prologrede gewesen. Er ist auch der Anlaß für ihre lyrische Selbstdarstellung in der Monodie. Hier wie dort spricht sie von ihrem eigenen Schicksal, dort ruhig berichtend, hier lyrisch-pathetisch. Hier wie dort wiegt ihr eigenes Leid leicht gegenüber dem schwersten Schlag, der sie jetzt mit dem Tode des Orestes getroffen hat. Von ihm geht jedesmal der Bogen ihrer Gedanken aus, und auf ihn führt er zurück. Prologrede und kommatische Parodos bilden also nicht nur durch die Anwesenheit Iphigeniens, sondern auch stimmungsmäßig eine Einheit. Diese einheitliche Szenenfolge wird zwar durch den Auftritt des Orestes und Pylades unterbrochen, doch gewinnt dadurch die lyrische Partie nur noch an Tiefe. Denn den Zuschauer werden Iphigeniens Klagen nur um so tiefer ergreifen, wenn er weiß, daß der Beklagte zwar lebt, aber vom Tod durch die eigene Schwester unmittelbar bedroht ist. Die kommatische Parodos der „Helena" besteht außer dem Prooemium (V. 164-166) aus fünf Teilen1. In den zwei Strophenpaaren gehört jeweils die Strophe (V. 167-178 und 191-210) Helena und die Antistrophe (V. 179-190 und 211-228) dem Chor, während die große Epode Helena zukommt (V. 229-252). Nach einem kurzen daktylischen Prooemium (V. 164-166) bittet Helena die Grabsirenen, ihre Klagen zu begleiten, und wünscht, Persephone möge ihr noch andere Helfer senden (V. 167-178). Helena singt diese Strophe noch vor dem Aufzug des Chores. Es handelt sich also um eine der von Euripides zeitweise so sehr bevorzugten Monodien vor der Parodos2. Aber der Dichter benutzt diese Form nicht wie sonst dazu, die Heldin ihr Leid in der Einsamkeit klagen zu lassen, sondern dazu, die Klageszene durch die düster-feierlichen Bilder und Namen atmosphärisch vorzubereiten. Die Antistrophe (V. 179-190) ist das Einzugslied des Chores. Der Chor, der aus gefangenen Griechinnen, also Leidensgefährtinnen He1

Vgl. Ludwig 82-84. Vgl. Andr. 91-102, Tro. 98-121 (Prooemium zur lyrischen Eingangspartie); Andr. 103-116, Hec. 59-97, Eur. El. 112-166 (Monodie vor der Parodos). Zu den Monodien vor der Parodos vgl. Schadewaldt, Monolog 15-16, Nestle 76-79. Eine mit der Parodos eng verbundene Monodie wie in der Hei. findet sich auch Hyps, fr. I, col. 2-3. 2

Kommatische Parados

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lenas besteht, gibt an, woher und warum er kommt. Auch in diesem Lied tritt das Faktische ganz hinter der Stimmung zurück. In der zweiten Strophe (V. 191-211) beklagt Helena das neue Leid, von dem sie soeben durch Teukros erfahren hat: den Fall Troias (F), den Tod Ledas (H), des Menelaos (G) und der Dioskuren (I). Der Chor sucht Helena nicht zu trösten, sondern wiederholt in der zweiten Antistrophe (V. 212-228) ihre Klagen. Er nennt noch einmal die neuen Schicksalsschläge, die sie getroffen haben, den Tod Ledas (H) und der Dioskuren (I) und das Ende ihres Gatten (G). Außerdem mahnt er sie an ihr altes Leid, die Befleckung ihres Namens (D), und folgert aus der Nachricht vom Tode des Menelaos, daß ihr nun der Weg in die Heimat auf immer versperrt ist. Die Worte des Chores über Helenas όνομα lenken ihre Gedanken vom gegenwärtigen Leid auf ihre bisherigen Schicksale zurück (V. 229-251). Sie spricht noch einmal vom Anfang alles Unheils, den Vorbereitungen für die Fahrt des Paris nach Griechenland (B) 1 , wo er ihre unglückbringende Schönheit gewinnen wollte (A)2. Kypris bereitete durch diese Fahrt den Griechen viel Leid (F), Hera aber ließ Helena nach Ägypten führen, verursachte so die Feindschaft zwischen den Griechen und Troern (F) und befleckte den Namen Helenas (D)3. Hält man die kommatische Parodos der „Iphigenie" neben die der „Helena", bemerkt man sofort, daß diejenige der „Helena" einen Abschnitt mehr besitzt. Nur die vier letzten Teile in der „Helena" entsprechen den vier Abschnitten in der „Iphigenie" (Einzugslied —Klage - Gegenklage - Monodie). Der erste Teil einschließlich des Prooemiums (V. 164-178), der den Zuschauer in die Klageszene einstimmen soll, ist dagegen ohne Entsprechung in der „Iphigenie". Auch inhaltlich ist die Parodos der „Helena" reicher als die der „Iphigenie". Das ist teilweise eine Folge des größeren Motivreichtums, den wir schon bei der Betrachtung der Prologe bemerkt hatten. Doch auch darüber hinaus ist die Tendenz zur reichen und farbigen Gestaltung überall spürbar. Das zeigt schon ein Vergleich der Einzugslieder. Das der „Iphigenie" beschränkt sich auf das Notwendigste, während uns das buntbewegte Einzugslied der „Helena" fast vergessen läßt, daß es die Funktion hat, den Auftritt des Chores zu motivieren. Vgl. Med. 3-4, Hec. 629-634. Zuntz (CQ 49, 1955, 68) schlägt vor, V. 236-237 im Anschluß an l folgendermaßen zu lesen: έπΐ τό δυστυχές τ' έμόν | κάλλος, ώς έλοι γάμον. 3 Hermann versucht, zwischen V. 229-240 und 241-251 Responsion herzustellen. Die vielen schweren Eingriffe in den Text, die dann nötig werden, empfehlen ein solches Verfahren jedoch nicht. Zudem sind große astrophische Monodien bei Eur. die Regel (Hec. 1056-1108, Tro. 308-341, Phoen. 301-354, 14851538, Or. 1369-1502,1. Α. 1283-1335, 1475-1499). Strophisch gegliederte Monodien sind im Spätwerk nur zweimal belegt (Ion 112-183. Or. 960-1012), und auch dort folgt auf den strophischen ein astrophischer Teil. 1 2

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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

Auch beim Vergleich der lyrischen Eingangspartien der beiden Tragödien lassen sich die bemerkten Unterschiede am unbefangensten erklären, wenn man die schlichter gestaltete Form der „Iphigenie" als älter, die reichere der „Helena" dagegen als jünger ansieht. Demnach ist in der „Helena" die Parodos um das Prooemium und die einleitende Monodie erweitert worden. Inhaltlich ist sie durch die größere Zahl der Motive bereichert und auch sonst farbiger gestaltet worden. Neben den vielen Erweiterungen und Bereicherungen, die wir in der „Helena" bemerkten, darf nicht unerwähnt bleiben, daß wir ein wichtiges Merkmal der Parodos der „Iphigenie" hier vermissen. Dort gingen alle Gedanken vom Tode des Orestes aus und führten auch wieder zu Orestes zurück. In der „Helena" fehlt eine solche Rückkehr zum Ausgangspunkt der Klage. Der Dichter konzentriert von vornherein die Aufmerksamkeit des Zuschauers sehr viel stärker auf die Schicksale und das Ethos der Heldin. e) Iphigenie V. 67-122 und Helena V. 386-514 Dem Prolog des Gegenspiels in der Orestesszene des Eingangs der „Iphigenie" (V. 67-122) entspricht zwar nicht in der Form, wohl aber in der dramatischen Funktion der dreigliedrige Menelaos-Eingang der „Helena" (V. 386-514). In der „Iphigenie" läßt der Dichter nach der ersten Prologszene den weiblichen Partner für kurze Zeit unter einem Vorwand die Bühne räumen, so daß auch der männliche Partner Gelegenheit zu einer eigenen Prologszene erhält 1 . Das Kernstück dieser Szene ist das Gebet des Orestes an Phoibos (V. 77-94). Es soll den Zuschauer in die Handlungsvoraussetzungen des Gegenspiels einführen, vor allem aber soll es eine Exposition des Ethos des Orestes geben2. Daß diese Prologrede die Form eines Gebets hat, ist von innerer Notwendigkeit3. Denn bis zum Augenblick der Erkennung hadert Orestes mit seinem göttlichen Herrn, von dem er sich erneut „ins Netz geführt" glaubt. Apollon hat ihn durch seine Sprüche erst zum Muttermord und dann zu dem aussichtslosen Wagnis veranlaßt, das taurische Artemisbild entführen zu wollen. Orestes gehorcht auch jetzt, doch ist er fest überzeugt, daß ihn der Gott auch diesmal im Stich lassen wird. Zur mutmaßlichen Geschichte dieser Form vgl. oben 24-25. Vgl. Camerer, Rez. Strohm, Iph. 2 3 - 2 7 ; Strohm, Eur. 160. 3 Schadewaldt (Monolog 108-109) wird diesem Gebet nicht gerecht, wenn er sagt, daß Eur. sich hier „nach seiner Weise begnügt, auf die Anrufung des Gottes einen straffen Bericht folgen zu lassen", oder wenn er ein anderes Mal (135) davon spricht, daß hier der Beter „bei Ausübung einer konventionellen Gepflogenheit den dem Gebet nicht gemäßen fordernden oder lehrhaften Ton anschlägt". Nicht alles beim späten Eur. ist so konventionell, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. 1

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Exposition des Gegenspiels

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Wie sich bei der ersten Prologrede hatte zeigen lassen, daß dort Iphigenie in ihrem Ethos durch zwei Momente bestimmt war, durch Aulis (a-d) und durch die Gewißheit vom Tode des Bruders (e), so läßt sich hier auch das Ethos des Orestes als durch zwei Dinge bestimmt denken. f) Orestes hat, dem Befehl Apollons folgend, seine Mutter getötet, doch der Gott hat ihn nicht vor dem Wahnsinn geschützt (Muttermord-Motiv: V. 78-81). g) Er ist, ebenfalls auf Befehl des Gottes, nach Tauris gekommen, doch auch diesmal wird ihn Apollon nicht beschützen, und er wird den Tod durch die Hände der Taurer erleiden (Todes-Motiv: V. 77, 82-94).

Das anschließende Gespräch (V. 94-122) zeigt Orestes in tiefer Ratlosigkeit, auf welchem Wege der Befehl des Gottes zu verwirklichen sei. Doch Pylades ermutigt getreu der Rolle, die er schon bei Aischylos innehatte1, seinen Freund und entwirft einen Plan. Orestes stimmt zu, allerdings mehr aus Verzweiflung als aus jugendlichem Wagemut, und die Freunde ziehen sich wieder zurück2. In der „Helena" sehen wir in den drei Menelaosszenen des ersten Epeisodions (V. 386-514) noch einmal die dreigliedrige Szenenfolge des Einganges wiederkehren, die sich in dem Helena gewidmeten ersten Teil des Epeisodions schon einmal wiederholt hatte 3 . Hier stellt ebenso wie in den drei ersten Szenen des Dramas einer der beiden Partner der Erkennung zunächst in einer Rede seine bisherigen Schicksale dar und berichtet dann von dem Unglück, das ihn neuerdings betroffen hat. In der folgenden Dialogszene wird ihm eine Nachricht überbracht, und die dritte Szene, die das erste Mal lyrische Form hatte, im MenelaosAbechnitt aber nur aus einer Rede besteht, zeigt die Reaktion auf diese Nachricht. Im ersten Teil (V. 386-407) seiner Auftrittsrede, die durch Selbstvorstellung und Genealogie4 deutlich genug als zweite Prologrede geAisch. Cho. 900-902. V. 120 ist mit Weil und Wilamowitz zu lesen: où γάρ τό τοϋδέ γ'αίτιον γβνήσεται | πεσεΐν δχρηστον θέσφατον. Dieser Satz, die Antwort auf V. 105, ist ganz aus dem Ethos des Orestes heraus gesprochen: „Nicht an mir soll es liegen, wenn sich auch diesmal wieder die Zusage des Gottes als nichtig erweist." Orestes schiebt die Schuld an dem Scheitern der Unternehmung, mit dem er fest rechnet, von vornherein dem Gotte zu. του θεοϋ (LP) dürfte also eine in den Text gedrungene Erklärung des durch V. 120 Gemeinten sein. - Rivier (132) überhört diesen Unterton der Verzweiflung, wenn er Orestes mit einem unbekümmerten jugendlichen Liebhaber vergleicht. » Vgl. Ludwig 93-95. 4 Eine ganz ähnliche Genealogie finden wir Iph. 1-5. Die Fassung in der Iph. ist schlicht und ungekünstelt, die in der Hei. formal verfeinert und pathetisch (Apostrophierung des Ahnherren, Verwünschung der Anfänge des Geschlechtes, beiläufige Erwähnung des eigenen Namens). Die Priorität der in der Iph. vorliegenden Fassung sollte über allen Zweifel erhaben sein. - Zu den Menelaosszenen vgl. Alt, Anagnorisis 13-17. 1

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8089

Matthieisen

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„Taurische Iphigenie" und „Helena'

kennzeichnet ist, spricht Menelaos von seinen Kämpfen und Irrfahrten. Im zweiten Teil (V. 408-434) erzählt er, daß sein Schiff an der Küste von Ägypten gescheitert ist. Dann erfährt er durch die Alte etwas, das ihn, der doch um Helenas willen alle Mühen des Krieges und der Irrfahrten auf sich genommen hat, im Innersten treffen müßte: Helena aus Sparta, die Tochter des Tyndareos, weilt schon seit der Zeit vor Ausbruch des Krieges in Ägypten (V. 435-482). Doch wie in der Teukrosszene behauptet auch jetzt wieder im ersten Teil der abschließenden Rede des Menelaos (V. 483-499) die δόκησις (C) in grotesker Weise ihre Macht. Mit vernünftigen Gründen beweist sich Menelaos das Allerunvernünftigste. Warum soll es nicht in Ägypten einen anderen Tyndareos, ein anderes Sparta, warum schließlich nicht auch eine andere Helena geben ? Ούδέν ούν θαυμαστέον. Im zweiten Teil (V. 500-514) bekräftigt Menelaos seine Entschlossenheit, vor dem Palasttor zu warten. Er vertraut darauf, daß der Brand Troias, den er einst mit eigener Hand entfachte, jetzt wenigstens dazu nütze sein wird, ihm die notdürftigste Nahrung zu verschaffen. Vergleicht man die der Exposition des Gegenspiels gewidmeten Abschnitte der beiden Dramen, so sieht man, daß sich Menelaos anders als Orestes nicht mit einer kurzen Szene innerhalb des Prologes zu begnügen braucht, sondern wie seine Partnerin eine dreigliedrige Szenenfolge von prologartigem Charakter erhält. Da die Klageszene schon vorausgegangen ist, braucht Menelaos nicht wie Orestes unter einem Vorwand die Bühne zu räumen, sondern kann in Ruhe den Auftritt Helenas und den Beginn der Erkennungshandlung erwarten. Die in der „Helena" gewählte Form der Exposition des Gegenspiels ist also auch bühnentechnisch geschickter. Sie ist entwicklungsgeschichtlich fortgeschrittener als die in der „Iphigenie" vorliegende Form, und es besteht kein Grund, sie nicht auch für zeitlich später zu halten. Es ist der Einwand denkbar, der Dichter habe in der „Helena" deshalb die mehrgliedrige Form gewählt, weil Menelaos einer ausführlicheren Exposition bedürfe als Orestes, so daß man aus dem größeren formalen Reichtum in der „Helena" keine Schlüsse auf die Chronologie ziehen könne. In Wahrheit ist aber gerade nicht Menelaos, sondern Orestes die gewichtigere dramatische Gestalt. Er steht gleichberechtigt neben seiner Schwester, sein Ethos wird im Prolog und in den folgenden Szenen bis hin zur Erkennung liebevoll gezeichnet, und sein Schicksal erregt nicht weniger die Teilnahme des Zuschauers als das Iphigeniens. Die Rolle des Menelaos dagegen wird vom Dichter nicht tragisch, sondern eher ironisch aufgefaßt 1 . Darum sollte man 1 Helena, in allen anderen euripideischen Stücken dieses Sagenkreises die bestgehaßte Gestalt (z.B. Andr. 605-609, Hec. 943-952, El. 213-214, 1065, Tro. 969-1032, I. T. 354-358, 439-446, 525, 566, Or. 126-131, 1132-1142), ist hier eine „neue Helena", die der Dichter mit allen Mitteln sympathisch zu zeichnen

Exposition des Gegenspiels

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die reichere Form der Exposition des männlichen Partners eher dort erwarten, wo ihm das größere dramatische Gewicht zukommt, also eher in der „Iphigenie" als in der „Helena". Da sich die Dinge in Wirklichkeit umgekehrt verhalten, läßt sich vermuten, daß der Dichter in der „Iphigenie" die reichere Form deshalb noch nicht verwenden konnte, weil sie ihm noch nicht zu Gebote stand, daß also die „Iphigenie" früher entstanden ist als die „Helena". f) Iphigenie V. 344-391 und Helena V. 255-385 Sieht man in den ersten Epeisodien der beiden Tragödien von den Szenen ab, die dem Gegenspiel gewidmet sind, also in der „Iphigenie" von der Botenszene (V. 236-343) und in der „Helena" vom MenelaosAbschnitt (V. 386-514), so bleiben drei Szenen der „Helena" (V. 255385) und eine der „Iphigenie" (V. 344-391) übrig, die darin übereinstimmen, daß sie noch ein letztes Mal vor Beginn der Erkennungshandlung die leidvolle Lage der Heldin vor Augen führen. Eine Rede, in der die Heldin nach der Parodos und vor Beginn der eigentlichen Handlung noch einmal dem Chor ihr Leid schildert, fehlt bei den Tragödien der oben beschriebenen Eingangsform nur in wenigen Fällen1. Sie findet sich denn auch sowohl in der „Iphigenie" (V. 344—391) als auch in der „Helena" (V. 255-305). In der „Iphigenie" steht sie allerdings nicht an ihrem gewöhnlichen Platz unmittelbar nach der Parodos, sondern nach der ersten Botenszene, an einer Stelle also, wo Iphigeniens Leid noch weiter gesteigert worden ist. Denn daß sie nun gezwungen wird, ihr verhaßtes Priesteramt auszuüben, bedeutet ohne Frage eine weitere Steigerung ihres Unglückes. Iphigeniens Rede, in der sie das neue Ereignis in die Darstellung ihrer Leiden einbezieht, ist trotz der Anrede des Chores in V. 351 reine „Selbstäußerung"2; man kann sie also ohne Scheu als Monolog besucht. Menelaos war in der Andr. (V. 309-746) die Verkörperung des verhaften Sparta. Dieses Bild von ihm wurde auch Tro. 860-1059 nicht korrigiert. Eur. hätte also große Mühe auf die Zeichnung des Ethos verwenden müssen, wenn er Menelaos das Mitgefühl des voreingenommenen Publikums verschaffen wollte. Dieses wird denn auch mit dem bettelnden Heroen, der mit seinem Troerruhm hausieren geht, weder „Mitleid und Rührung" empfinden (so Ludwig 94), noch wird es die „Tragik der Situation" spüren (so Pohlenz, I 385), sondern ihm wird ein solches MißVerständnis zwischen Anspruch und Realität eher peinlich vorkommen. Menelaos, der Troia zerstört und dadurch Helena doch nicht wiedergewonnen hat, ist eine hohle, fragwürdige Gestalt, wahrhaft ein „Schiffbrüchiger". Erst durch die Vereinigung mit Helena gelangt er wieder in Einklang auch mit seinem heroischen Selbst. Zugleich gewinnt er dann die uneingeschränkte Sympathie des Publikums. In der Rettungshandlung verhält er sich völlig so, wie man es von einem Heros erwartet. - Zur Menelaosgestalt sehr schön Alt, Anagnorisis 15—16. 1 Vgl. die Tabelle oben 20 A. 2. 2 Vgl. Schadewaldt, Monolog 29.

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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

zeichnen. Anders als die schlichte Prologrede ist dieser Monolog von starkem Pathos erfüllt. Die Motive des Eingangs werden wieder aufgenommen, wobei sich jetzt der Gedanke an das Aulis von einst (a) mit dem an das bevorstehende Opfer, an das „zweite Aulis", verbindet (d). Doch auch in ihrem tiefsten Unglück bleibt Iphigenie eine edle Griechin. Zwar hat der Tod des Orestes ihr Mitleid versiegen lassen (e), aber Haß und Rachgier gegen die Griechen, die ihr den Tag von Aulis bereiteten, sind ihr fremd1. Nur Helena und Menelaos, den eigentlich Schuldigen, würde sie gern zum verdienten Tode verhelfen. Noch einmal kehrt Aulis mit all seinen leidvollen Einzelheiten in ihr Gedächtnis zurück (a). Von einer Station zur anderen rückwärts schreitend folgt sie den Ereignissen dieses Tages, vom Augenblick der Opferung über ihre letzten Worte an den Vater und die vorgespiegelte Hochzeit mit Achilleus (b) bis zu dem flüchtigen Abschied von den Geschwistern. Auch diese Rede, die ebenso wie die Klage in der Parados von dem Gedanken an Orestes ausging, kehrt infolge dieser eigenartigen Rückwärtsbewegung wieder zu Orestes zurück (e). Zum Schluß spricht Iphigenie über das bevorstehende Opfer (d). Die Riten der taurischen Artemis sind ihr auch jetzt noch genau so verhaßt wie zuvor. Den harten Tadel gegen die Göttin mildert sie aber sofort, indem sie die eigentliche Schuld an den Menschenopfern dem Blutdurst der Taurer zuschreibt2. In der „Helena" kehrt im ersten Teil des Epeisodions (V. 255-385) noch einmal, wenn auch stark vereinfacht, die dreigliedrige Form der Eingangsszenen wieder. Der Prologrede entspricht die sehr viel kürzere Rede V. 255-305, der Dialogszene der Dialog V. 306-329 und der Parodos die kurze lyrische Partie V. 330-385. 1

Vgl. Strohm, Iph. 28-29. - Ebenso wie der barbarische Bote setzt später auch Thoas eine solche Gesinnung bei Iphigenie voraus, und sie bestärkt ihn um des Rettungsplanes willen in dieser Meinung (V. 1186-1187, vgl. auch V. 14181419). Platnauer (V-VII) meint, der Dichter lasse Iphigenie wirklich so empfinden, wie es die Barbaren von ihr erwarten, doch gibt es für eine solche Auffassung nicht den geringsten Anhaltspunkt im Text. Auch auf den Haß gegen Menelaos und Helena kann man sich nicht berufen. Denn diesen Haß teilt sie mit allen Griechen und Troern. Vgl. oben 34 A. 1. 2 Strohm (Iph. 29) hat darauf hingewiesen, daß die Kritik an Artemis kein störender Exkurs des „Dichters der griechischen Aufklärung" ist, sondern ihren festen Platz im Motivzusammenhang des Stückes hat und auch im Ethos der Sprecherin begründet ist. Nicht der Dichter wendet sich hier gegen sinnlose Reinheitsvorschriften in Tempeln, sondern die Iphigenie des Stückes weist Artemis tadelnd auf die Unstimmigkeit hin, die zwischen den Reinheitsvorschriften und den taurischen Menschenopfern besteht. Diese Unstimmigkeit durch die Überführung des Kultbildes nach Attika zu beseitigen, ist aber das Ziel der Tragödie (vgl. V. 1086-1088). Die harten Worte Iphigeniens über den attischen Kult sollen im Zuschauer eine Frage wachrufen, die der Ausgang des Stückes beantworten wird. Wilh. Nestle (119) zählt diese Stelle also zu Unrecht zu den Beispielen für euripideischen Rationalismus. - Vgl. auch Spira H ö f .

Pathetische Selbstäußerung der Heldin

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Die Rede Helenas (V. 255-305) ist ebenso wie die Iphigeniens eine reine Selbstäußerung, obwohl auch hier durch die Anrede des Chores ein anderer Anschein erweckt wird. Sie unterscheidet sich aber in zwei wichtigen Dingen von der Rede Iphigeniens. Helenas Leiden haben sich seit der kommatischen Parodos nicht vermehrt, so daß sie jetzt eigentlich nur die Klage der Parodos wiederholen kann. Ferner ist ihre Rede streng rational und völlig unpathetisch. Die Rede ist deutlich dreifach gegliedert1. Im ersten Teil (V. 255-266) führt Helena das Unheil ihres Lebens auf Hera, vor allem aber auf ihre verhängnisvolle Schönheit zurück (A). Sie wünscht ihre Schönheit hinzugeben, wenn sie nur ihren Ruf wiederherstellen kann (D). Im zweiten Teil (V. 267-292) zählt sie die Fülle ihrer Leiden auf. Ihr Name ist zu Unrecht mit Schande bedeckt (D), sie ist ins barbarische Ägypten verbannt, der Tod des Menelaos hat ihr jede Hoffnung auf Veränderung ihrer Lage geraubt (G), Leda ist durch ihre Schuld gestorben (H), Hermione ehelos geblieben2, und das letzte und schlimmste ihrer Leiden besteht darin, daß ihr auf immer die Heimkehr nach Sparta verwehrt ist. Im dritten Teil (V. 293-305) zieht Helena die Folgerung aus dem Gesagten. Da sie die Heirat mit dem Barbaren Theoklymenos nicht wünschen kann, ist der Tod das einzige καλόν, das ihr noch offensteht. Die Rede schließt mit dem Gedanken der verhängnisvollen Schönheit (A), mit dem sie auch begonnen hatte. Den folgenden kurzen Dialog, der den Abgang Helenas vorbereitet (V. 306-329), können wir hier übergehen, da er ohne Entsprechung in der „Iphigenie" ist. Die lyrische Partie (V. 330-385) wiederholt noch einmal im Kleinen die Form der Parodos. Auch hier folgt auf einen freilich nicht strophisch gegliederten kommatischen Abschnitt (V. 330-361) eine ebenfalls astrophische Monodie (V. 362-385). Beide Abschnitte sind zweiteilig (V. 330-347 und 348-361 ; V. 362-374 und 375-385). Der erste Teil des Kommos schließt sich eng an die Dialogszene an. Doch im zweiten Teil und der Monodie löst sich Helena ganz von der dramati1 Einige textkritische Bemerkungen: V. 257-259 sollte man trotz der Bedenken Wielands halten. Denn die Verse klingen gut euripideisch, so absurd auch die zugrundeliegende Vorstellung einem modernen Leser wie Wieland erscheinen muß. - τάς τύχας in V. 264 ist unerträglich. Denn Helena kann nicht wünschen, daß die Griechen ihre jetzigen τύχαι vergessen sollen, die ihnen ja unbekannt sind. Sie sollen vielmehr ihre jetzige Schande vergessen. Das von F . W. Schmidt vorgeschlagene κληδόνας heilt die Korruptel. - In V. 279 sollte man statt οδτος τέθνηκεν ούτος mit Wilamowitz lesen: έπεί τέθ-νηκεν οδτος. - In V. 289 ist statt έλθεΐν μέτα mit Brunck έλθεΐν άτερ zu lesen. Zur Begründung vgl. Zuntz (CQ 49, 1955, 69), der seinerseits έλθεΐν δίχα vorschlägt. - In V. 297 hat Scaliger mit δώμ' zweifellos das Rechte getroffen. - Zu den von Murray mit Härtung für interpoliert gehaltenen Versen 299-302 vgl. Grégoire ad 1., ferner Alt, Anagnorisis 12 Α. 2. In V. 298 lesen wir mit Murray und Alt πώς θάνοιμ' âv ού καλώς; a Vgl. oben 27 Α. 1.

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.Taurische Iphigenie" und „Helena"

sehen Situation. Sie leugnet die neu erwachte Hoffnung auf das Leben dee Menelaos und nimmt, diesmal in hochpathetischer Sprache, die Gedanken ihrer Rede wieder auf. Sie beklagt das schmähliche Ende, das sie als Opfer der drei Göttinnen und des Paris nehmen wird (B), bedauert Troia und Griechenland, über die sie so schweres Leid gebracht hat (F), und sucht mythische Parallelen für ihre unglückbringende Schönheit (A). Ähnlich wie in der Epode der Parodos kehren auch hier ihre Gedanken nicht wieder zum Tode des Menelaos zurück. Hier wie dort dominieren ihre eigenen Schicksale und ihr eigenes Leid völlig über die Klage um den Tod des Gatten. Gemeinsam ist der Rede Iphigeniens und dem dreigliedrigen Abschnitt in der „Helena" die dramatische Funktion, die Heldin noch ein letztes Mal vor dem Beginn der Erkennungshandlung ihr Leid klagen zu lassen. Dabei begnügt sich Iphigenie, obwohl durch die vorausgehende Szene ihre Leiden gegenüber der Parodos noch gesteigert worden sind, mit einer einfachen Rede, die freilich unter diesen Umständen nicht anders als pathetisch sein kann. In der „Helena" findet sich zuerst eine streng rationale Rede, dann eine pathetische lyrische Klage, also eine reichere Form, bei der gleichsam die in der pathetischen Rede Iphigeniens vereinten Elemente auseinandergetreten sind. Dabei hat sich anders als in der „Iphigenie" die Lage Helenas gegenüber der Parodos nicht verschlimmert, vielmehr erwacht sogar während des Dialoges eine neue Hoffnung auf das Leben des Menelaos. Iphigenie hätte also weit mehr Anlaß zum Klagen, erhält aber nur eine pathetische Rede, während Helena, die eigentlich weniger Grund zur Klage hätte, auch noch mit einer zweiten lyrischen Partie ausgestattet wird. Den größeren formalen Reichtum finden wir also nicht dort, wo wir ihn aus inneren Gründen erwarten sollten, nämlich in der „Iphigenie", sondern in der „Helena", wo sich innere Gründe hierfür nur schwer angeben lassen. Das Verhältnis ist hier also ähnlich wie zwischen dem Orestes-Prolog und dem Menelaos-Prolog. Hier wie dort spricht alles für die Priorität der Szene der „Iphigenie" gegenüber der Szenengruppe der „Helena".

§ 3. Die Zentralabschnitte a) Der Gesamtaufbau der Zentralabschnitte Beide Dramen stimmen darin überein, daß ihr Kernstück aus einem ungewöhnlich langen zweiten Epeisodion besteht, ferner auch darin, daß dieses Epeisodion zweiteilig ist. Zunächst vollzieht sich mit der Erkennung die Peripetie des Stückes, sodann entwerfen die Vereinten, die jetzt aus Leidenden zu Handelnden werden, einen Rettungsplan, wobei sie den Wissensvorsprung, den sie gegenüber ihren Gegnern ge-

Zentralabschnitte - Gesamtaufbau

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wonnen haben, geschickt auszunutzen verstehen. Die Verschwiegenheit der Mitwisser des Planes, die für sein Gelingen unentbehrliche Voraussetzung ist, wird in beiden Fällen durch Überredung erlangt1. In der „Iphigenie" läßt sich zwischen dem der Erkennung und dem der Planerfindung gewidmeten Teil keine scharfe Grenze ziehen. Denn mit dem Ende der Reflexion über den beinahe begangenen Brudermord (V. 872) ist zwar die lyrische Spiegelung der Erkennungshandlung abgeschlossen, und Iphigeniens Gedanken wenden sich der Rettung des Orestes zu. Aber erst sehr viel später entschließen sich die Geschwister zur gemeinsamen Flucht und zum Raub des Götterbildes (V. 979-1016). In der „Helena" hat mit dem Abgang des Alten (V. 760) die Erkennungshandlung ihr Ende gefunden, und der Entschluß zur μηχανή erfolgt schon wenige Verse später (V. 813). Nach V. 760 ist ein deutlicher Einschnitt wahrzunehmen, der Erkennungs- und Rettungshandlung voneinander trennt. Die Handlungselemente sind also schärfer voneinander geschieden als in der „Iphigenie". Ferner erreicht die Erkennungshandlung sehr viel schneller ihr Ziel, während der Beratung, der Planerfindung und der Überredung, die in der „Iphigenie" nur eine einzige Szene füllen, drei Szenen gewidmet sind. Das hat zur Folge, daß in den beiden Dramen die Gewichte zwischen den Handlungsabschnitten verschieden verteilt sind. In der „Iphigenie" hat wie im ganzen Drama so auch im Zentralabschnitt die Erkennungshandlung ein spürbares Übergewicht, während in der „Helena" im Zentralabschnitt ebenso wie im ganzen Drama die Rettungshandlung dominiert. Der Zentralabschnitt der „Iphigenie" besteht aus drei Teilen von unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit. Auf die Szene vor der Erkennung (V. 456-642) folgt nach einem kurzen Zwischenspiel (Kommos und Abschiedsszene : V. 643-724) ein großer Szenenblock (V. 7251088), der aus zwei rahmenden iambischen Teilen (V. 725-826 und 902-1088) und einem lyrischen Mittelstück (V. 827-901) besteht. Den Höhepunkt des Abschnitte bildet die lyrische Partie, neben der die leichte Steigerung des Pathos am Ende des Abschnitts (V. 1056-1074) wenig ins Gewicht fällt. 456- 642: Szene vor der Erkennung 643- 657: Kommos 658- 724: Abschiedsszene 725- 826: Erkennungsszene 827- 901: Amoibaion 902-1088: Beratungsszene

Iphigenie

Zweites Epeisodion

Die Komposition des Zentralabschnitts der „Helena" ist im Vergleich zu der des entsprechenden Abschnitts der „Iphigenie" sehr viel durch1

Vgl. Ludwig 110-114.

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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

sichtiger und ausgewogener. Der Abschnitt besteht hier aus sechs Teilen, von denen die ersten drei (V. 528-760) der Erkennungshandlung und die zweiten drei (V. 761-1106) der Rettungshandlung gewidmet sind. Die Fuge zwischen den beiden Handlungsabschnitten fällt genau mit der kompositioneilen Mitte des Zentralabschnitts zusammen. In jeder der beiden Drei-Szenen-Gruppen liegt der Höhepunkt in der mittleren Szene, bei der ersten Gruppe in der lyrischen Partie (V. 625-699) und bei der zweiten in der Theonoeszene (V. 857-1031). Wenn man auch die jeweils das zweite Epeisodion umgebenden Chorlieder in die Betrachtung einbezieht, so sieht man, daß in der „Iphigenie" die beiden Lieder überleitende Funktion haben1, während sie in der „Helena" Teile des Zentralabschnitts sind: Die Epiparodos (V. 515-527) ist die feierliche Eröffnung der Erkennungsszene, und das erste Stasimon (V. 1107-1164) eine abschließende Reflexion über das bisherige Geschehen des Dramas, das die Gedanken der Szene nach der Erkennung wieder aufnimmt. Auch hier läßt sich beobachten, daß der Dichter in der „Iphigenie" um eine enge Verbindung und in der „Helena" um eine klare Sonderung der Teile bemüht ist. Helena

5 1 5 - 527: Epiparodos 5 2 8 - 624: Erkennungsszene 625- 699: Amoibaion 700- 760: Szene nach der Erkennung 7 6 1 - 856: Erste Beratungsszene 8 5 7 - 1 0 3 1 : Theonoeszene 1032-1106: Zweite Beratungsszene

Zweites Epeisodion

1107-1164: Erstes Stasimon

Es ist schwer vorstellbar, daß der Zentralabschnitt der „Helena" das Vorbild für den der „Iphigenie" gewesen sein soll, vielmehr spricht alles dafür, eine Entwicklung in der umgekehrten Richtung anzunehmen. Demnach hat Euripides in der „Helena" die Struktur des Zentralabschnitts der „Iphigenie" übernommen, aber in einigen Dingen abgewandelt. Er hat zwischen Erkennungs- und Rettungshandlung eine scharfe Grenze gezogen, durch Hinzufügen von Szenen den beiden Teilen vor und nach dieser Grenze eine ausgewogene Form gegeben, mit der Theonoeszene auch dem zweiten der beiden Teile einen Höhepunkt verliehen und die beiden umgebenden Chorlieder in die Komposition des Zentralabschnitts einbezogen. Der Überblick über den Aufbau der Zentralabschnitte hat gezeigt, daß auch hier die Reihenfolge „Iphigenie" - „Helena" die größere Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann. Diese Feststellung bedarf der Bestätigung durch einen Vergleich der vergleichbaren Szenen. 1

Vgl. oben 18.

Zentralabschnitte - Beratungsszene

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b) Die Erkennungsszenen und das Amoibaion nach der Erkennung in der „Iphigenie" und der „Helena" Die Erkennungsszenen der beiden Dramen und die auf die Erkennung folgenden Amoibaia werden unten auf S. 127-138 in anderem Zusammenhang besprochen werden. Dabei wird sich auch für diese Partien ergeben, daß die „Helena" später entstanden sein muß als die „Iphigenie". c) Iphigenie V. 902-1088 und Helena V. 761-1106 In der „Iphigenie" folgt nach dem Abschluß der Erkennungshandlung, der mit dem Ende der Reflexion über das bisherige dramatische Geschehen (V. 872) erreicht ist, eine große Szene, in der alle Stadien des weiten Weges durchschritten werden, der von der Aporie Iphigeniens über die Planerfindung und die Überredung des Chores bis zum abschließenden Gebet an Artemis führt. Innerhalb dieser Szene lassen sich nach ihrer dramatischen Funktion fünf Abschnitte unterscheiden. Im ersten Abschnitt (V. 902-923) mahnt Pylades die Geschwister, nicht den rechten Augenblick für die Rettung zu versäumen. Diese Mahnung zur Eile hat jedoch zunächst keinen Erfolg. Zuerst muß auch Pylades noch in den Kreis der glüoklich Vereinten aufgenommen werden 1 . Im zweiten Abschnitt berichtet Orestes ausführlich von seinen Schicksalen bis zur Ankunft in Tauris und holt so ein bisher ausgelassenes Stück Exposition nach (V. 924-978). Mit dem Ende dieser Rede steht auch Orestes dort, wo seine Schwester sich schon seit dem letzten Abschnitt des Amoibaion befindet. Alle seine Gedanken haben sich von den bisherigen Leiden abgewandt und sind auf die Zukunft gerichtet. Er nimmt den ursprünglichen Plan, das Götterbild zu rauben, der durch die Gefangennahme zunächst vereitelt worden war, wieder auf und bittet Iphigenie um Mithilfe. Im dritten Abschnitt (V. 979-105Í) stimmt sie dem Plan ihres Bruders zu. Ihr Opferangebot wird zurückgewiesen, ihre letzten Bedenken zerstreut und der Entschluß zur gemeinsamen Beratung gefaßt 2 . Zwei ungeeignete Vorschläge des Orestes werden zurückgewiesen3, dann findet Iphigenie im 1

Diese Episode erinnert stark an den Auftritt des Pädagogen in Soph. El. 1326-1363, der dort ebenfalls zur Eile mahnt und dadurch nur eine weitere Verzögerung bewirkt. Bei Soph, ist diese Episode aber sehr viel fester im Ethos der Szene verwurzelt als hier, so daß man ihn für den Erfinder und Eur. für den Nachahmer halten sollte. Vgl. unten 118. 2 Zu diesem Abschnitt vgl. Ludwig 65. - In V. 1019 ist mit Markland ήδε βούλευσις πάρα zu lesen. * V. 1026-1026 schieben sich störend zwischen die unzweifelhaft zusammengehörigen Verse 1024 und 1027 und sind deswegen mit Markland zu tilgen.

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„Taurische Iphigenie" u n d „ H e l e n a "

Augenblick der Aporie des Orestes das μηχάνημα1, das mit der größten Wahrscheinlichkeit den Weg zur Rettung öffnen wird. Der vierte Abschnitt (V. 1052-1078), welcher der dramatische Höhepunkt der Beratungsszene ist, dient der Überredung des Chores. Iphigenie sucht den Chor mit einer eindringlichen und rührenden, auch mimisch sehr bewegten Bittrede zu gewinnen. Sie beschwört die Gemeinschaft aller Frauen, sucht das Mitgefühl des Chores zu erregen und verspricht ihm, nach ihrer Rettung auch ihm zur Heimkehr zu verhelfen. Sie wendet sich an jeden einzelnen Choreuten und erwartet voll Bangen die Antwort. Als der Chor sich bereit erklärt, ihre Bitte zu erfüllen, dankt sie ihm herzlich. Nachdem am Anfang des kurzen fünften Abschnitts (V. 1079-1088) Orestes und Pylades abgegangen sind, fleht sie ihre Herrin Artemis an, den Fluchtplan gelingen zu lassen2. Den Platz in der dramatischen Komposition, der in der „Iphigenie" von einer einzigen Szene ausgefüllt wird, nehmen in der „Helena" vier Szenen ein. Davon entspricht die erste (V. 700-760) in gewisser Hin1 Der Ausdruck μηχάνημα wurde von Solmsen, Intriguenmotiv i, im An· schluß an Stellen wie Aisch. Cho. 981, E u r . Ion 1116 geprägt. Vgl. auch Soph. El. 1229. Den Ausdruck „ I n t r i g e " sollte m a n vermeiden, d a er zu Mißverständnissen führen könnte. I m Französischen h a t „ i n t r i g u e " einen weiteren Bereich u n d bezeichnet jede dramatische Verwicklung schlechthin. So k a n n Bivier (129 A. 4) άναγνώρισις u n d μηχάνημα unter dem Begriff „intrigue" zusammenfassen. Das deutsche W o r t h a t zudem e i n j n Nebenton, der es besser befähigt, die feingesponnenen diplomatischen R ä n k e u n d Hofkabalen im Barocktheater und be i Sch i 1 ler zu bezeichnen als die aus sehr viel gröberem Stoff geschaffenen listigen Anschläge euripideischer Tragödiengestalten. - Als „egoistisch" und „ p r i v a t " (Solmsen, a . a . O . 3-4) sollte m a n die Ziele euripideischer μηχανήματα nicht bezeichnen. Versucht m a n diese Begriffe etwa auf das H a n d e l n Medeas oder auch auf das des Orestes in El. und I p h . anzuwenden, zeigt sich sofort ihre I n a d ä q u a t h e i t . 2 Den Abschluß einer Beratungsszene bildet bei E u r . immer ein Gebet, in dem das Gelingen des Planes von den Göttern erfleht wird: El. 671-682, I. T. 1082-1088, Hei. 1093-1106, Cycl. 599-607, I o n 1048-1060 (statt der Planenden b e t e t hier der verbündete Chor.), Or. 1225-1245, Antiope 11-16 (Page); ferner auch Soph. E l . 67-72 (nach der Darlegung des Planes), 1376-1383 (vor der Tat), Phil. 133-134. Bisweilen folgt vor der zweiten Phase der Ausführung des Planes noch ein weiteres G e b e t : I. T. 1230-1233, Hei. 1441-1450. - Das Gebet ist auf dem Wege von der B e r a t u n g zur T a t eine unerläßliche Handlungsetufe. Man sollte sich d a r u m nicht dem Urteil Schadewaldts (Monolog, 104) anschließen: E u r . „ d r ä n g t die Gebetshandlung zusammen, an dem Vorgang als solchem liegt ihm wenig; das B e t e n ist ihm nicht eine unerläßliche Vorbereit u n g zur T a t , sondern t r i t t plötzlich ein, weil der A k t zu E n d e geht." F a s t immer sind die Gebete ω dieser Stelle bei E u r . von großer Schönheit u n d Eindringlichkeit. Bloße Formel ohne eigenes Gewicht ist es n u r Phoen. 782-783, aber auch in Soph. Phil. 133-134. D a ß es sich hier u m Stellen aus besonders späten Stücken handelt, d ü r f t e kein Zufall sein. - Auch die weiteren von Schadewaldt (a.a.O. 101-3) a n g e f ü h r t e n Beispiele f ü r Gebete a m Akt- u n d Szenenschluß stützen nicht seine These, bei E u r . h a b e ein Gebet an dieser Stelle „überwiegend formale B e d e u t u n g " als „Schlußakkord". Alle diese Gebete sind keine bloßen Ornamente, sondern ergeben sich m i t Notwendigkeit aus der dramatischen Situation.

Beratungsszene

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sieht dem ersten Abschnitt in der „Iphigenie" (V. 902-923). Denn hier wie dort wird der Zeuge der Erkennungsszene in die Wiedersehensfreude einbezogen. Doch ist die Szene der „Helena" eindeutig der Erkennungshandlung zugeordnet, während in der „Iphigenie" die entsprechende Partie zu dem Teil des Dramas gehört, der von der Erkennungshandlung zur Rettungshandlung hinüberleitet. Nach dem Abschluß der Erkennungshandlung folgen im Zentralabschnitt der „Helena" noch drei Szenen. Von ihnen enthält die erste (V. 761-856) den ersten Teil der Beratung 1 , in der zweiten, die das beherrschende Mittelstück der dreigliedrigen Komposition ist (V. 8571031), verschaffen sich die beiden Griechen das Wohlwollen Theonoes, das die Voraussetzung für das Gelingen ihrer Flucht ist, und in der dritten Szene (V. 1032-1106) wird die Beratung zu Ende geführt. Das Thema des zweiten Abschnitts in der „Iphigenie" (V. 924-978) wird in der „Helena" nur mit wenigen Worten berührt. Menelaos berichtet nicht ausführlich über seine Schicksale, sondern nennt nur in Form einer Praeteritio die wichtigsten Etappen seiner Irrfahrt (V. 761-776). Damit ist die Vergangenheit abgetan. Helena lenkt seine Gedanken energisch auf die drohende Lebensgefahr und erklärt ihm ihre bedrängte Lage2. Er weist ihren Vorschlag, ohne sie zu fliehen, als seiner unwürdig zurück, muß aber erfahren, daß es ihm nicht gelingen wird, seinen Nebenbuhler zu töten 3 . Damit ist der Augenblick der völligen Aporie gekommen, aus der genau wie in der „Iphigenie" nur weibliche List einen Ausweg zu finden vermag (V. 812). Während aber dort auf die Aporie sofort die Erfindung des rettenden Planes folgt (V. 1028-1029), ist in der „Helena" die Erkenntnis der Notwendigkeit einer μηχανή (V. 813) von ihrer Erfindung durch über zweihundert Verse getrennt. Ehe ein Plan gefaßt werden kann, muß man die allwissende Theonoe zum Schweigen überreden. Der Best der Beratungsszene (V. 815-856) dient der Vorbereitung des Auftritts der Theonoe. Nach der Theonoeszene (V. 857-1031), die ohne unmittelbare Entsprechung in der „Iphigenie" ist und darum übergangen werden kann 4 , Zu diesem Abschnitt vgl. Ludwig 68-71. V. 780 ist mit Valckenaer zu tilgen. Vgl. Ludwig 71. » In der Iph. denkt Orestes daran, Thoas zu töten (V. 1020), worauf Iphigenie sich weigert, einem solchen Mord zuzustimmen. Helena lehnt einen gleichen Plan schon im voraus ab (V. 809), ehe Menelaos ihn hat vorbringen können, und überläßt es ihm, über die Gründe ihrer Ablehnung Vermutungen anzustellen. Wenn sich aus diesen Stellen ein Schluß ziehen läßt, dann doch wohl der, daß die Fassung in der Iph. als die näherliegende auch die frühere ist. * Zu dieser Szene vgl. vor allem die grundlegenden Ausführungen von Zuntz (Hei. 204-214), ferner auch Ludwig (43—48), der mit Recht auf die eigentümliche Tatsache hinweist, daß der Dichter dem Redenpaar agonale F o r m gegeben hat, obwohl Theonoe in Wahrheit gar nicht zwischen den Ansprüchen der beiden Redner, sondern zwischen denen beider und denen ihres Bruders Theoklymenos zu entscheiden hat. - Zur Szene jetzt auch Pippin 157-162. 1

1

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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

wird mit dem Stichwort von der μηχανή σωτηρίας die Beratung etwa an der Stelle wiederaufgenommen, an der sie durch den Gedanken an Theonoe unterbrochen worden war. Dabei scheinen sich die letzten Etappen der ersten Beratungsszene sogar noch einmal zu wiederholen. Wiederum folgt auf zwei zurückgewiesene Vorschläge, die teilweise sogar inhaltlich übereinstimmen, die Aporie, aus der weibliche List einen Ausweg zu finden verspricht (V. 805-814 ~ 1035-1049). Helena entwickelt ihren Plan, dem Menelaos zustimmt. Die Rollen werden unter den Partnern verteilt. Menelaos nimmt seinen Platz am Fuße des Grabes ein, und Helena betet, wie Theonoe es befohlen hat, und begibt sich .in den Palaat (V. 1032-1106). Die Vermutung, daß die Szenenform der „Iphigenie" früher zu datieren sei als die der „Helena", wird schon dadurch nahegelegt, daß der einen Szene in der „Iphigenie" vier Szenen in der „Helena" gegenüberstehen. Zur Gewißheit wird diese Vermutung, wenn man einzelne Abschnitte der Szene der „Iphigenie" mit den homologen Szenen oder Szenenteilen in der „Helena" vergleicht. Der erste Abschnitt in der „Iphigenie" (V. 902-923) ist in der „Helena" zu einer vollständigen Szene (V. 700-760) erweitert worden, die dadurch, daß sie vor allem der Reflexion über die bisherige Handlung des Dramas gewidmet ist, gegenüber dem Vorbild an Bedeutung gewonnen hat. Der dritte Abschnitt in der „Iphigenie" (V. 976-1051), der die eigentliche Beratung enthält, ist in der „Helena" durch die eingeschobene Theonoeszene in zwei Teile zerlegt worden (V. 777-814 und 1032-1092), wobei die Kontinuität zwischen den beiden Beratungsszenen dadurch hergestellt wird, daß die ersten Verse der zweiten Beratungsszene (V. 1035-1049) den Inhalt der letzten Verse der ersten Beratung (V. 805-814) wiederholen. Daß in der „Iphigenie" im zweiten Abschnitt Orestes ausführlich von seinen Schicksalen berichtet (V. 924-978), während sich an homologer Stelle der „Helena" Menelaos weigert, einen Bericht über seine Fahrt zu geben (V. 761-776), scheint auf den ersten Blick unserer Vermutung zu widersprechen, daß es sich in der Szenenfolge der „Helena" um eine Entfaltung des in der einen Szene der „Iphigenie" Angelegten handele. Denn an dieser Stelle ist die Fassung der „Helena" offensichtlich sehr viel kürzer. Es wäre aber falsch, daraus auf die Priorität der „Helena" schließen zu wollen. Denn in der „Iphigenie" hatte sich Orestes in seiner kurzen Prologrede mit Andeutungen über seine bisherigen Schicksale begnügen müssen. Darum muß jetzt ein noch fehlendes Stück der Exposition nachgeholt werden. Außerdem ist es nötig, Iphigenie mit dem Plan, das Götterbild zu entführen, bekannt zu machen. In der „Helena" konnten infolge der geschickteren Gestaltung des Eingangsabschnitts bereits Teukros über die Schicksale der griechischen Flotte und Menelaos über seine Irrfahrten be-

Beratungsszene - Schweigebitte

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richten. Außerdem wird kein alter Plan wiederaufgenommen, so daß auch deswegen kein Anlaß zu einer ausführlichen Erzählung besteht. Wir haben darum allen Grund anzunehmen, daß V. 761-776 der „Helena" nicht das Vorbild von V. 924-978 der „Iphigenie "sind, sondern eine Reminiszenz an diese Partie, für deren Ausführlichkeit infolge der Umgestaltung des Eingangsabschnitts und wegen der einfacheren Form der Handlung kein Grund mehr bestand. Auffällig ist ferner, daß in den Beratungsszenen der „Helena" eine Schweigebitte an den Chor fehlt, wie sie im vierten Abschnitt der Beratungsszene der „Iphigenie" (V. 1052-1078) ausgesprochen wird. Erst einige Szenen später wird das Versäumte mit wenigen Worten nachgeholt (V. 1387-1389). In der „Iphigenie" wird dem Chor die Rückkehr nach Griechenland versprochen (V. 1067-1068), und Athene sorgt in ihrem Schlußwort dafür, daß dieses Versprechen erfüllt wird (V. 1467-1469). Helena verspricht zwar dem Chor, wenn auch in ziemlich vagen Worten, ebenfalls die Rückkehr, aber dieses Versprechen wird niemals eingelöst. Auch hier scheint also in der „Iphigenie" die vollkommenere Fassung vorzuliegen, und wiederum drängt sich der Gedanke auf, die „Helena" müsse darum das frühere Drama sein1. Eine bessere Grundlage für die Beurteilung der beiden Schweigebitten gewinnen wir, wenn wir uns nicht auf unsere zwei Dramen beschränken. Denn in allen Tragödien, in denen die Durchführung eines μηχάνημα dargestellt wird, muß das Problem der Ausschaltung des Chores gelöst werden2. In vielen Fällen steht der Chor von vornherein auf der Seite der Planenden. Dann bedarf es keines Schweigegebotes, sondern es genügt, mit einem Wort auf seine Zuverlässigkeit hinzuweisen3. Oft ist nicht einmal das nötig4. Bisweilen bietet der Chor sogar von sich aus seine Mithilfe an5. Manchmal aber ist es nicht von vornherein gewiß, wie sich der Chor verhalten wird. Dann muß ihm Schweigen geboten werden. Oft wird diesem Gebot durch Versprechungen oder Drohungen Nachdruck verliehen. Gewöhnlich antwortet dann der Chor mit der Versicherung, er werde dem Gebot folgsam sein. Bisweilen aber meinen die Planenden, des Gehorsams des Chores so gewiß zu sein, daß sie nicht einmal eine Antwort erwarten®. So Perrotta 33-34. Das erste μηχάνημα in den erhaltenen Tragödien finden wir in Aiach. Ag. Hier ist der Chor kein Mitwisser des Planes, den Klytaimnestra erst nach der Tat offenbart. Aber er weiß, daß nicht alles im Hause zum besten steht, und schweigt trotzdem vor dem Herold und vor Agamemnon. Vgl. V. 548. 3 Soph. El. 1203-1204, Eur. El. 272-273, Or. 1103-1104. * Aisch. Cho., Eur. Hec.. Her., Ion (beim μηχάνημα Kreueas). 5 Aisch. Cho. 552-553, vgl. auch 581-582, Soph. Phil. 135-144, Eur. Ion 857-858. ' Soph. Trach. 596-597, Eur. Med. 230-266 (mit ausführlicher Begründung, 1 2

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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

In der „Iphigenie" besteht der Chor aus griechischen Dienerinnen, an deren Treue kein Zweifel bestehen kann. Iphigenie ist also in einer ganz anderen Lage als etwa Medea, die gegenüber dem aus korinthischen, dem heimischen Königshaus ergebenen Frauen bestehenden Chor Grund genug zu einer inständigen Bitte um Verschwiegenheit hatte. Vom Chor der „Iphigenie" aber erwartet niemand, daß er sich gegen die Wünsche seiner Herrin entscheiden würde, und man sollte meinen, daß ein Befehl oder eine einfache Bitte genügt hätte, um diesen Chor zum Schweigen zu veranlassen. Trotzdem hat der Dichter daa Schweigegebot breit ausgestaltet, wohl mit der Absicht, auf diese Weise der Beratungsszene an ihrem Ende einen dramatischen Höhepunkt zu geben. In der „Helena" ist die Verbindung zwischen Heldin und Chor sehr viel weniger eng. Und doch finden wir nur eine kurze Schweigebitte, auf die nicht einmal eine Antwort erfolgt. Offenbar hat es der Dichter hier nicht für nötig gehalten, die Bitte breit auszugestalten, und erledigt sie wie in den meisten seiner späteren Dramen mit wenigen Worten. Denn in der Theonoeszene hat er einen anderen, dramatisch sehr viel wirksameren Höhepunkt der Beratungsszenen geschaffen. Auch hier handelt es sich um eine Schweigebitte1. Aber sie ist an eine Instanz gerichtet, deren Entscheidung größtes Gewicht hat. Während in der „Iphigenie" über die Antwort des Chores von vornherein kein Zweifel bestehen konnte, schwankt Theonoes Meinung lange zwischen Zustimmung und Ablehnung. Die Funktion, die in der „Iphigenie" vom Chor nur sehr ungenügend versehen wurde, wird also in der „Helena" sehr viel wirkungsvoller von Theonoe ausgeübt. Man darf darum nicht V. 1052-1078 der „Iphigenie" mit V. 1387-1389 der „Helena" vergleichen, sondern mit der Theonoeszene. Dann zeigt sich, daß auch in diesem Fall die formal vollendetere und dramatisch wirksamere Fassung in der „Helena" vorliegt. V. 1387-1389 der „Helena" mit ihrem Versprechen der Heimführung des Chores, dem niemals eine Verwirklichung folgt, sind nicht als das Vorbild der Schweigebitte in der „Iphigenie" anzusehen, sondern als ihr schwacher Nachklang2. Zustimmung des Chores V. 267-268), Hipp. 710-712 (Zustimmung, durch Eid bekräftigt V. 713-714), I. T. 1056-1074 (durch Versprechungen bekräftigt, Zustimmung V. 1075-1077), Ion 666-667 (an den auf der Seite der Gegenpartei stehenden Chor, darum trotz der Todesdrohung wirkungslos, keine Zustimmung), I. A. 542 (keine Zustimmung), Hei. 1387-1389 (durch Versprechungen bekräftigt, keine Zustimmung). - Zu PSI fr. 1302 (Alkmeon) = 68 N., das ebenfalls ein durch Argumente und Drohungen bekräftigtes Schweigegebot enthält, sowie zum Schweigegebot im allgemeinen vgl. Schadewaldt, Alkmeon 46-51, ferner denselben, Monolog 27. 1 Vgl. Schadewaldt, Alkmeon 50, Strohm, Eur. 81-82. 2 Vgl. Schadewaldt, Monolog 27, Ludwig 118.

Schlußabschnitte - Gesamtaufbau

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§ 4. Die Schlußabschnitte a) Der Gesamtaufbau der Schlußabschnitte Wenn sich auch schon aus dem Vergleich der Eingangsabschnitte und der Zentralabschnitte zahlreiche Anhaltspunkte für das mutmaßliche Zeitverhältnis der „Iphigenie" und „Helena" ergeben haben, so läßt sich doch die Frage nach der Datierung erst dann endgültig beantworten, wenn die Schlußabschnitte ebenfalls untersucht worden sind. Die Voraussetzungen für einen Vergleich sind hier besonders günstig, weil die beiden Dramen in ihren Schlußabschnitten so ähnlich gebaut sind, daß sich die wenigen Abweichungen leicht erkennen lassen. Es ist darum nicht verwunderlich, daß sowohl Bruhn als auch Tycho v. Wilamowitz vor allem durch den Vergleich von Partien der Schlußabschnitte ihre Thesen über das Zeitverhältnis der beiden Stücke zu beweisen suchten. Im Schlußabschnitt der „Iphigenie" (V. 1153-1499) gelingt es den Geschwistern, ihren Rettungsplan so weit durchzuführen, wie es mit menschlichen Kräften allein und ohne göttliche Hilfe möglich ist. Der barbarische König wird überlistet, ein Bote meldet, daß die Flucht auf das Schiff geglückt ist, und ehe durch die widrigen Winde eine neue Verwicklung entstehen kann, erscheint Athene, beschert den Geschwistern günstigen Fahrwind, bestätigt, daß die Flucht dem Willen der Götter entspricht, und besänftigt den zürnenden Barbarenkönig. Durch das dritte Stasimon (V. 1234-1283) wird der Abschnitt in zwei Akte gegliedert, von denen der erste (V. 1153-1233) der dem dritten Epeisodion entspricht, die Überlistung des Königs durch Iphigenie und der zweite (V. 1284-1499), der aus zwei Szenen besteht und der Exodos entspricht, den Auftritt des Boten und die Erscheinung der Göttin zum Gegenstand hat. 1153-1233: 1234-1283: 1284-1434: 1435-1499:

Überlistungaazene = Drittes Epeisodion Drittes Stasimon Zweite Botenszene 1 Exodos Schlußszene /

Iphigenie

Der Handlungsverlauf des Schlußabschnitte der „Helena" (V. 11651692) stimmt mit dem des entsprechenden Abschnitts der „Iphigenie" fast völlig überein, nur daß hier die Flüchtlinge nicht mehr des rettenden Eingreifens der Götter bedürfen. Ihr Plan glückt vollständig, so daß sich die Aufgabe der Dioskuren darauf beschränkt, zwischen Theoklymenos und seiner Schwester Frieden zu stiften. Auch in der „Helena" besteht der Abschnitt aus zwei Akten, deren erster (V. 1165-1450) das dritte (V. 1165-1300) und das vierte Epeisodion umfaßt (V. 1369-1450), die durch das zweite Stasimon (V.

48

„Taurische Iphigenie" und „ H e l e n a "

1301-1368) voneinander getrennt werden. Die Grenze zwischen den beiden Akten wird durch das dritte Stasimon (V. 1451-1511) markiert, während der aus drei Szenen bestehende letzte Akt (V. 1512-1692) mit der Exodos identisch ist. Helena 1165-1300: E r s t e Überlistungeszene

=

Drittes Epeisodion

1369-1450: Zweite Überlistungsszene =

Viertes Epeisodion

1301-1368: Zweites Stasimon

1451-1511: Drittes Stasimon 1512-1620: Botenszene 1621-1641: Dienerezene 1642-1692: Schlußszene

j > J

Exodos

Auf den ersten Bück läßt sich erkennen, daß in der „Helena" der Abschnitt reicher gestaltet ist als in der „Iphigenie" 1 . Jeder Szene der „Iphigenie" entspricht eine Szene der „Helena", doch enthält der Abschnitt der „Helena" darüber hinaus noch ein weiteres Chorlied und zwei weitere Szenen. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich bei der reicheren Form der „Helena" um eine Erweiterung der schlichten Form der „Iphigenie" handelt. Es bleibt zu prüfen, ob sich diese Vermutung bei einem Vergleich der homologen Szenen bestätigt. b) Iphigenie V. 1153-1233 und Helena V. 1165-1300 und 1369-1450 Während in der „Iphigenie" der Uberlistung des Barbarenkönigs durch die kluge Griechin eine Szene (V. 1153-1233) gewidmet ist, finden wir an entsprechender Stelle in der „Helena" zwei Szenen mit gleicher dramatischer Funktion (V. 1165-1300 und 1369-1450). Die stärkste formale Ähnlichkeit mit der Szene der „Iphigenie" weist die erste der beiden Szenen der „Helena" auf, so daß hier ein Vergleich am fruchtbarsten ist2. Die Szene der „Iphigenie" ist sechsteilig. Nach der kurzen Szeneneröffnung in traditioneller Form (V. 1153-1156) tritt Thoas Iphigenie gegenüber, die in diesem Augenblick, das Götterbild im Arm, im Tempeltor erscheint. Er äußert sein Erstaunen über diesen unerhörten Anblick. Im zweiten Abschnitt (V. 1157-1180) sucht er in einem stichomythischen Verhör die Gründe für das ungewöhnliche Verhalten seiner Priesterin zu erfahren. Diese klassische Form der Erforschung Vgl. Ludwig, 117-118. Ein solcher Vergleich ist bereits von Ludwig (75-80) in musterhafter Weise durchgeführt worden. Die folgenden Ausführungen beruhen darum im wesentlichen auf Ludwigs Untersuchung. 1 2

Überlistungsszene

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der Wahrheit dient hier dazu, den Fragenden immer tiefer in das Netz des Betruges zu verstricken, in das er schon im ersten Augenblick geraten ist, als er dort Vertrauen schenkte, wo Mißtrauen geboten gewesen wäre1. Im dritten Abschnitt wird Thoas in seinem blinden Vertrauen zur Priesterin noch bestärkt, als er erfährt, daß sie der Verlockung, an den Überbringern guter Nachricht Milde zu üben, widerstanden hat (V. 1181-1187)2. Er ist es, der im vierten Abschnitt (V. 1188-1202) als erster die Frage stellt, was zu geschehen habe. Es muß ihm scheinen, als ob der Plan zur Entsühnung gemeinsam gefaßt würde. In Wahrheit ist Iphigenie auch hier die Führende. Vollends übernimmt sie im fünften Abschnitt (V. 1203-1221) die Führung, als es gilt, nähere Anweisungen für die bevorstehende Reinigimg zu geben. Hier ist sie als Priesterin die allein Kundige, und der König fügt sich in allem ihren Anweisungen, so daß sie ohne Mühe die günstigsten Bedingungen für das Gelingen des Plans schaffen kann. Der Wechsel des Metrums bezeichnet den Übergang von der scheinbar gemeinsamen Beratung zu den aus priesterlicher Vollmacht gegebenen Anweisungen Iphigeniens3. Im sechsten Abschnitt (V. 1222-1233) beschreibt Iphigenie zuerst den auftretenden Volkshaufen, dann vertreibt sie mit dem formelhaften Ruf zum έξίστασθ-αι4 das Gefolge des Königs, der sich selbst in das Innere des Tempels begibt. Den Auftakt zum Zug an die Küste bildet das Gebet Iphigenies an ihre Herrin5. 1

Man sollte nicht davon sprechen, daß bei den euripideischen Anschlägen wie demjenigen in der Iph. „ethische Bedenken ausgeschaltet" seien (Solmsen, I n t r i g u e n m o t i v 4 ; ähnlich Platnauer, X V I I I ) , und nicht den Unterschied zwischen dem Plan Kreusae, wo dies wirklich der Fall ist (vgl. Ion 1045-1047), u n d den auf die R e t t u n g des eigenen Lebens gerichteten μηχανήματα Iphigeniens u n d Helenas vernachlässigen. Welche unbefangene, von ethischen Bedenken völlig freie F r e u d e die Ioner an einer klug ersonnenen List hatten, k a n n m a n dem herrlichen Dialog ν 287-332 entnehmen. Neoptolemos in Soph. Phil, h a t zwar ein feineres Empfinden, aber er ist auch der Sohn des Achilleus, des reinsten Vertreters eines Heldenideals, dem diese ionischen Züge fehlen. Vgl. I 312-313. 2 Vgl. oben 36 Α. 1. » Zu V. 1203-1233 vgl. M. Imhof, Tetrameterszenen in der Tragödie, M H 13, 1956, 125-143, besonders 133. Der trochäische Tetrameter wird im Griechischen anders als im Deutschen als ein lebhaft bewegtes Versmaß empfunden. Von E u r . wird er o f t in Szenen höchster Erregung verwandt (Her. 855-873, Hei. 1621-1641, Ba. 604-641). An unserer Stelle liegt ein tieferer Grund f ü r den Wechsel des Metrums nicht vor. Allerdings fügt sich a m Schluß der Szene das bewegte Versmaß gut zu der unruhigen Bewegung des Volkshaufens vor dem Aufbruch des Zuges. * Vgl. Ar. R a n . 354. 5 Das Gebet, das in verhüllter F o r m die Wünsche von V. 1082-1088 wiedera u f n i m m t , h a t eine echte dramatische Funktion, ist also kein bloßes Schlußo r n a m e n t . Durch das bewegte szenische Bild wird der Aktsehluß sehr viel wirkungsvoller b e t o n t als durch das Gebet. Vgl. oben 42 A. 2. - Weitere Beispiele f ü r verhüllte Gebete sind Aisch. Ag. 973-974 und - unserer Stelle besonders ähnlich - Soph. El. 655-659. 4 8089 Matthieuen

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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

Auch die erste Uberredungsszene der „Helena" ist sechsteilig1. Der erste Abschnitt (V. 1165-1183) umfaßt die dramatisch bewegte Auftrittsrede des Theoklymenos, in der er sich selbst vorstellt, seine unerbittliche Grausamkeit gegen alles Griechische verrät und in seiner heftigen Reaktion auf Helenas Verschwinden zeigt, in welcher Gefahr Menelaos schwebt2. Der zweite Abschnitt (V. 1184-1225) enthält ein stichomythisches Verhör, in dem Helena ihr Erscheinen in Trauerkleidern begründet. Wie in der „Iphigenie" ist auch hier der Barbarenkönig vom ersten Augenblick an der Uberlistete. Das folgende Verhör verstrickt ihn immer tiefer in seinen Irrtum. Doch hat Helena gegen den mit Recht mißtrauischen Theoklymenos einen schwereren Stand, als ihn Iphigenie gegen Thoas hatte. Im dritten Abschnitt (V. 1226-1236) vermag Helena das Mißtrauen des Königs endgültig zu besiegen. Der vierte (V. 1237-1249) wird durch ihre flehentliche Bitte eröffnet, dem toten Menelaos ein angemessenes Begräbnis zu gewähren. Als der König Einzelheiten über den Bestattungsritus für Ertrunkene erfahren will, verweist sie ihn an Menelaos, der im fünften Abschnitt (V. 1250-1278) alles das fordert und bewilligt erhält, was für den Fluchtplan nötig ist. Im sechsten Abschnitt (V. 1279-1300) verspricht der König dem Überbringer der Todesnachricht eine würdige Belohnung und sucht Helena zu trösten. Die Eingangssituation hat sich völlig gewandelt. Menelaos ist nicht mehr vom Tode bedroht, sondern kann reicher Gaben gewiß sein. Am Ende der Szene wechseln die Ehegatten im Angesicht des fremden Herrschers einige beziehungsreiche Worte. Bei der starken Ubereinstimmung im Verlaufe der beiden Szenen lassen sich um so deutlicher die Unterschiede erkennen. Am stärksten weichen die einleitenden Abschnitte voneiander ab. Anstelle der kargen, formelhaften Szeneneröffnung der „Iphigenie" finden wir in der „Helena" eine bewegte, die Gefühle des Zuschauers heftig erregende Auftrittsrede des Barbarenkönigs. Während des Gespräches zeigt sich, daß Theoklymenos zwar schwerer zu überlisten ist als Thoas, daß er dann aber aus Liebe zu Helena in wahrhaft königlicher Weise den Plan 1 An folgenden Stellen wird mit Ludwig von Murrays Text abgewichen: V. 1197 ist mit Härtung zu tilgen. - V. 1216 ist mit Campbell zu lesen: δλωλε 8' el ναΰς, ήλθ' 68' έν ποίω σκάφει; - Υ. 1226 ist mit Italie als Fragesatz zu interpungieren und als mißtrauische Frage nach der Wahrheit des Berichteten aufzufassen, die durch den Hinweis auf Theonoe beantwortet wird. - V. 1229 und 1230 sind mit J . Jackson (CQ 25, 50) umzustellen, wobei V. 1230 Helena und V. 1229 Theoklymenos zu geben sind und V. 1230 zu lesen ist: πιστή γάρ είμι τω πόσει φεύγουσά σε. - Vgl. auch Ludwig 78 Α. 2, Campbell 130. 2 Eine ähnlich schreckenerregende Wirkung soll vom Auftritt des Kyklopen Cycl. 203-252 ausgehen, dessen grimmiges χρόνιος δ' είμ' άπ' άνθρώπων βοράς (V. 249) wohl nicht zufällig an Iph. 258-259 anklingt: χρόνιοι γάρ ήκουσ' οΐδ' έπεί βωμός θεάς | Έλληνικαΐσιν έξεφοινίχθη (ϊοαΐς (οΐδ' έπεί Seiler, ουδέ πω L P ) .

Überlist un gsszene

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der Griechen fördert. Er vertraut nicht von vornherein, sondern sein Mißtrauen muß erst durch den Verweis auf Theonoe und den Zeugen und durch das Heiratsversprechen überwunden werden. Auch dann unterwirft er sich nicht wie Thoas den Anordnungen der Griechin, sondern will gebeten sein. Erst nachdem er den ganzen Plan angehört und einen Einwand geäußert hat, gibt er seine Zustimmung. Der Plan aber, dem er damit seine Hilfe leiht, ist von einer Kühnheit, die das in der „Iphigenie" Gewagte weit in den Schatten stellt. Denn es geht hier nicht nur darum, den Zug zur Küste zu ermöglichen, sondern darum, ein Schiff zu gewinnen und die Erlaubnis des Königs zur Meerfahrt erhalten. Das μηχάνημα in der „Helena" muß sich also aus einer schwierigeren Anfangssituation gegen einen gefährlicheren Gegner durchsetzen und hat einen größeren Erfolg als dasjenige in der „Iphigenie". Durch die Einführung eines dritten Gesprächspartners im fünften Abschnitt wird die Szene erheblich an innerer Spannung bereichert : Das Ehevereprechen an Theoklymenos wird in Anwesenheit des wahren Gatten gegeben, der Lebende bestätigt die Nachricht des eigenen Todes und gibt Anweisungen für die eigene Bestattung, und die Ehegatten können in Gegenwart ihres Feindes ein von Ironie erfülltes Gespräch führen. Der Auftritt des buntbewegten Zuges am Szenenende fehlt zwar in der ersten Überlieferungsszene der „Helena", wird jedoch in der zweiten Szene (V. 1390-1450) nachgeholt, wo Theoklymenos und Menelaos an der Spitze eines Zuges von Ägyptern die Bühne betreten 1 . Hier versucht der König noch ein zweites Mal, Helena von der Teilnahme an der Meerfahrt abzuhalten, unterstellt noch einmal ausdrücklich das Schiff dem Befehl des Menelaos und gefährdet schließlich den ganzen Plan durch seinen Übereifer, mit dem er selbst an der Zeremonie teilnehmen will. In der zweiten Szene kehren also Elemente der ersten in gesteigerter Form wieder. Da von den Elementen der Überüstungsszene der „Iphigenie" in der „Helena" keines fehlt, sich hier aber statt der einen zwei Szenen finden, die in jeder Beziehung reicher und dramatisch bewegter gestaltet sind, spricht alles für die Annahme, daß die beiden Szenen der „Helena" eine erweiterte Fassung der Szene der „Iphigenie" darstellen. Aus dem Vergleich der Überlistungsszenen ergibt sich also ein gewichtiges Argument für die Priorität der „Iphigenie". Den gleichen Schluß legt auch eine Tatsache nahe, die schon Bruhn bemerkt hat 2 . In den Überlistungsszenen beider Dramen ist der Zuschauer in das μηχάνημα eingeweiht und somit wissender als der Bar1 Nachgeholt wird auch das abschließende verhüllte Gebet um Gelingen des Plane (Y. 1441-1450), das in der ersten Szene gegenüber der homologen Szene der Iph. fehlte. Vgl. oben 42 A. 2. 2 Bruhn, Iph. 13.



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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

barenkönig. Dadurch erhalten für ihn an mehreren Stellen die Worte der Griechen einen Doppelsinn, der dem König verborgen bleiben muß. Auch den Sinn der abschließenden Gebete, der vor den barbarischen Begleitern verhüllt bleibt, kann der Zuschauer erraten. Bruhn hat festgestellt, daß Euripides in der „Helena" von dem Mittel solcher Amphibolien sehr viel reichlicheren Gebrauch macht als in der „Iphigenie". Während sich dort nur fünf Stellen finden, die versteckte Hinweise auf den Rettungsplan enthalten, lassen sich in der „Helena" mindestens vierzehn doppeldeutige Wendungen zählen 1 . Der entscheidende Unterschied besteht aber nicht so sehr in der Anzahl als vielmehr in der Intensität. Denn bis auf das kühne πιστόν Ελλάς οίδεν ούδέν (V. 1205) sind die Amphibolien in der „Iphigenie" recht farblos und gehen nicht über das hinaus, was der Dichter bereits in früheren Überlistungsszenen gewagt hatte 2 . Der Dialog der Szenen der „Helena" dagegen ist von funkelnder Ironie. Hier sind nicht nur die Worte des Griechenpaares voll bewußten Doppelsinnes, sondern auch die des Theoklymenos beginnen ohne Wissen des Sprechers ihren Sinn zu wandeln. Zwar ist der Einwand erhoben worden, die größere Fülle der Ironie in der „Helena" sei dadurch bedingt, daß dort der Stoff mehr Möglichkeiten biete. Bruhns Beobachtung besage also nichts über die Priorität des einen oder des anderen Stückes 3 . Bei diesem Einwand wird aber die Bedeutung des Stoffes überschätzt. Bei weniger bekannten Sagen wie hier sind dem Dichter nur die Namen und einige Anhaltspunkte vorgegeben. Die Handlungsführung dagegen ist sein alleiniges Werk, und von ihr hängt es vor allem ab, ob sich Gelegenheit zur Ironie bietet oder nicht. Außerdem genügt es nicht, eine solche Gelegenheit zu schaffen, es gilt auch sie zu nutzen 4 . Die vielen Amphibolien in der „Helena" beweisen, daß es dem Dichter gelungen ist, eine dramatische Situation herbeizuführen, die schon in sich so voll Ironie ist, daß sie nach dieser Fülle von Amphibolien verlangt, und daß er diese Gelegenheit auch ausgenutzt hat. Beides ist ihm in der „Iphigenie" nur in sehr viel geringerem Maße gelungen. Bruhn hat darum zweifellos recht daran getan, die „Helena" als das Drama, in dem der Dichter von dem Kunstmittel der Amphibolie häufigen und geschickten Gebrauch macht, später zu datieren als die „Iphigenie", in der er dieses Kunstmittel in einer Szene gleicher Funktion selten und weniger geschickt verwendet. 1

Iph. 1195, 1205, 1213, 1221, 1231-1233; Hei. 1201, 1205, 1225, 1230, 1273, 1288-1292, 1294-1300, 1405-1406, 1409, 1418, 1420, 1424, 1426, 1441-1450. 2 Vgl. unten 161-162. » Perrotta 8. « Über eine in diesem Sinne nicht voll ausgenutzte Situation in der Hec. vgl. unten 156-157.

Botenszene

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c) Iphigenie V. 1284-1434 und Helena V. 1512-1641 Beide Tragödien stimmen darin überein, daß in ihnen auf die Überlistungsszene und das anschließende Chorlied eine Szene folgt, in der ein Bote die Flucht der Griechen meldet. Auch hier sind also die Voraussetzungen für einen Vergleich gegeben. Unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die beiden Botenberichte, weil sie mehrmals im Mittelpunkt der Diskussion über die Datierung der beiden Stücke gestanden haben1. Die Szene der „Iphigenie" besteht aus vier Teilen. Im ersten (V. 1284-1313) wendet sich der Bote wie üblich zunächst an den Chor, der ihn aber nicht, wie es dem Szenentypus entspräche, an den König verweist, sondern im Interesse der Geschwister den Augenblick hinauszuzögern versucht, in dem der König die Nachricht über die Flucht erhält. Der Bote läßt sich aber nicht täuschen und ruft Thoaa aus dem Tempelinneren herbei. Sein erstes Wort an den König ist eine Beschwerde über das Verhalten des Chores. Im zweiten Teil der Szene (V. 1313-1326) meldet er mit kurzen Worten das Geschehene und wird dann zu einem ausführlichen Bericht aufgefordert. Der dritte Teil umfaßt den Botenbericht (V. 1327-1421)2. Sein Kernstück ist die Beschreibung des Kampfes zwischen Griechen und Taurern (V. 13641378). Vier Redeabschnitte gehen voraus, und ebensoviele folgen. Im ersten Abschnitt (V. 1327-1335) erzählt der Bote, daß die von Iphigenie zurückgelassenen Taurer alsbald Verdacht schöpften, sich aber mit dem Gedanken an den Befehl des Königs beruhigten. Im zweiten (V. 1336-1344) wächst die Unruhe der Taurer, bis sie sich endlich entschließen, den Befehl zu übertreten und an der Küste nach dem Rechten zu sehen. Der dritte Abschnitt (V. 1345-1353) beschreibt das Bild, das sich an der Küste bietet. Ein griechisches Schiff liegt dort, das zur Abfahrt gerüstet wird. Im vierten Abschnitt (V. 1354-1363) treffen Taurer und Griechen zusammen und wechseln die letzten Reden vor dem Kampf, der im fünften Abschnitt (V. 1364-1378) geschildert wird. Die Griechen bleiben Sieger und vertreiben die Barbaren. Im sechsten Abschnitt (V. 1379-1389) besteigen sie das Schiff, und Orestes ruft seine Mannschaft zum Rudern auf. Im siebenten (V. 1390-1402) erfolgt der Umschwung des Geschehens. Als das Schiff die Hafenöffhung verläßt, wird es von widrigen Winden zurückgeworfen3. In der höchsten Not ertönt das Gebet Iphigenies an ihre Herrin. Im achten Abschnitt (V. 1403-1410) wird geschildert, wie auch jetzt die Anstrengungen der Ruderer vergeblich bleiben. Das Schiff nähert sich immer mehr der Küste, wo die Taurer einen blutigen Empfang vorbereiten. Hier, im Augen1 2 3

Τ. v. Wilamowitz 266, Perrotta 29-32, 38-39. Vgl. Ludwig 21-22. Zu V. 1390-1397 vgl. J. S. Morrison, CR 64, 1950, 4-5.

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„Taurische Iphigenie" und „Helena'

blick der höchsten Spannung, endet der eigentliche Bericht. Der Bote beschließt seine Rede mit dem Aufruf zum Handeln und mit einem Gedanken, der das Schlußwort des ersten Botenberichts wieder aufnimmt: Iphigenie hat die Göttin verraten und hat gezeigt, daß sie Aulis vergessen hat (V.1411-1419)Das Ende der Rede wird durch einen Ausruf des Mitleids aus dem Munde des Chores markiert (V. 1420-1421). Im Schlußteil der Botenszene (V. 1422-1434) bietet Thoas alle Untertanen gegen die flüchtigen Griechen auf, denen die schlimmsten Strafen angedroht werden. Auch der Chor soll demnächst seine Strafe dafür erhalten, daß er dem König sein Wissen über den Fluchtplan der Geschwister verschwiegen hat. Die Szene der „Helena" (V. 1512-1620) besteht aus zwei Teilen, aus der SzeneneröfFnung und dem Botenbericht. In der Szeneneröffnung (V. 1512-1525) trifft der Bote sofort mit dem König zusammen2, berichtet ihm in kurzen Worten das Geschehene und wird zu einer ausführlichen Erzählung aufgefordert. Der Botenbericht (V. 1526-1618) besteht, wenn man vom Schlußwort (V. 1613-1618) absieht, aus zwei weitgehend parallel gebauten Hälften3. Die erste (V. 1526-1568) schildert den Weg zur Küste und die Vorbereitungen zur Ausfahrt, die zweite (V. 1569-1612) die Fahrt und den Kampf auf dem Meer. Jede der Hälften besteht aus vier Abschnitten, so daß mit dem Schlußwort auch der Botenbericht der „Helena" aus neun Abschnitten besteht. Im ersten Abschnitt (V. 1526-1529) beschreibt der Bote den Weg zur Küste, schildert im zweiten (V. 1530-1536), wie das Schiff fahrbereit gemacht wird, und im dritten (V. 1537-1553), wie Menelaos seine Mannschaft zur Meerfahrt einlädt4, wobei die Ägypter zum ersten Male Verdacht schöpfen. Der vierte Abschnitt (V. 1554—1568) ist der Höhepunkt der ersten Redehälfte. Hier erzählt der Bote, wie es den Griechen gelingt, die beiden Opfertiere ins Schiff zu bringen. Im fünften Abschnitt (V. 1569-1576) fährt das Schiff ins Meer hinaus, im sechsten (V. 15771591) opfert Menelaos den Stier und gibt sich zu erkennen, worauf sich die Ägypter zum Handeln entschließen. Im siebten Abschnitt (V. 1591-1599) rufen Menelaos und der ägyptische Steuermann ihre Gefolgsleute zum Kampf auf, dessen Schilderung, die im achten Abschnitt (V. 1600-1612) erfolgt, den Höhepunkt der zweiten Redehälfte 1

Vgl. V. 336-339. - Zwischen den beiden kompositioneil einander korrespondierenden Botenszenen der Iph. bestehen auch inhaltlich manche Beziehungen. Der Ort des Geschehens, die Form des Kampfes, der für die Griechen unglückliche Ausgang stimmen überein. Dem Glückwunsch des ersten Boten an Iphigenie entspricht der schwere Vorwurf des zweiten. 2 In V. 1512 ist für τά κάκιστ' (LP) mit Dobree zu lesen : σε κάλλιστ'. Vgl. Ludwig 117 A. 2. 8 Vgl. Ludwig 12-14. * In V. 1545 ist mit Zuntz (CQ 49, 1955, 70) zu lesen: άλλ' Άτρέως παΐδ' όλόμενον συνθάπτετε (Sp' LP).

Botenbericht

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bildet. Im neunten Abschnitt schließlich (V. 1613-1618) berichtet der Bote von seiner Rettung und beschließt seine Rede gnomisch. Ein Chorverspaar (V. 1619-1620) bezeichnet das Ende der Rede, das mit dem Ende der Botenszene zusammenfällt. Der Szenenabschluß, der gewöhnlich auf die Botenrede folgt und in dem die Reaktion des durch die berichteten Ereignisse Betroffenen dargestellt wird, ist in der „Helena" zu einer eigenen kleinen Szene (V. 1621-1641) ausgeweitet. Der Wechsel vom iambischen zum lebhafteren trochäischen Versmaß deutet die heftige Erregung an, in die der Bericht Theoklymenos versetzt 1 . Da die Flüchtlinge seinem Zugriff entzogen sind und der Chor seine Mitwisserschaft zu verheimlichen weiß, richtet sich sein ganzer Zorn gegen Theonoe. Sie selbst kann ihrem Bruder nicht gegenübertreten. Denn sie ist in der Überredungsszene mit einer solchen überirdischen Aura umgeben worden, daß sie jetzt nicht Partei in einem Streit sein kann. Darum verficht einer ihrer Diener ihre Sache gegen den König 2 . Aber auch er vermag ihn nicht von seinem Vorhaben abzubringen, so daß der Zuschauer das Schlimmste für Theonoe befürchten muß. Der vierteiligen Szene in der „Iphigenie" stehen in der „Helena" drei Teile gegenüber, wobei die Stelle des Szenenabschlueses in der „Helena" von einer eigenen Szene eingenommen wird. Es fehlt ein Abschnitt, der V. 1284-1313 der „Iphigenie" entspräche. In den Botenberichten gibt es mancherlei Unterschiede, die durch die Verschiedenheit der μηχανήματα bedingt sind. Trotzdem ist aber der Aufbau der beiden Berichte auffallend ähnlich. In der „Iphigenie" faasen am Ende des ersten Abschnitts die Taurer nach einem auffälligen Befehl der Priesterin den ersten Verdacht, beruhigen sich aber mit dem Gedanken an die Anweisung des Thoas (V. 1334-1335). Die gleiche Stufe des Geschehens wird in der „Helena" am Ende des dritten Abschnitts erreicht (V. 1549-1553). Am Ende des zweiten Abschnitts in der „Iphigenie" entschließen sich die Taurer zum eigenmächtigen Handeln (V. 1343-1344). In der „Helena" erfolgt dieser Entschluß erst am Ende des sechsten Abschnitts (V. 1589-1591). Die Schiffsbeschreibung, die in der „Iphigenie" im dritten Abschnitt ihren Platz hat (V. 1345-1353), steht in der „Helena" schon im zweiten (V. 1530-1536), doch folgen dann in der „Iphigenie" und in der „Helena" nacheinander die Reden der beiden Parteien und die Schilderung des Kampfes (Iph. 1354-1378 ~ Hei. 15911610). Mit dem Sieg über die Ägypter und dem Befehl zur Heimfahrt ist das Ziel des Botenberichts der „Helena" erreicht (V. 1612). In der „Iphi1

Vgl. oben 49 A. 3. Die Rolle des Dialogpartners in V. 1627-1641 ist sicher nicht mit LP der Chorführerin zu geben, δούλος ών in V. 1630 spricht für eine männliche Rolle. An den Boten, wie Grégoire vorschlägt, sollte man nicht denken, sondern mit Clark an einen Diener Theonoee. 2

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„Taurische Iphigenie" und ,.Helena"

genie" dagegen folgt im siebten und achten Abschnitt noch der Bericht über den unerwarteten Umschlag des Glückes (V. 1390-1408). Diese Partie ist ohne Entsprechung in der „Helena". Eine gewisse Übereinstimmung besteht jedoch wieder zwischen den Schlußabschnitten der beiden Berichte (Iph. 140&-1419 ~ Hei. 1613-1618). Das im Bericht der „Iphigenie" geschilderte Geschehen ist um zwei Handlungsphasen (Ausfahrt und Scheitern, Vorbereitungen der Taurer) reicher als das der entsprechenden Partie der „Helena". Trotzdem umfaßt der Bericht der „Helena" ebensoviele Verse wie derjenige der „Iphigenie". Denn er ist zwar ärmer an Fakten, aber durch einige Einzelheiten ausgeschmückt (Rede des Menelaos an die schiffbrüchigen Griechen, Einschiffung der Opfertiere, Opfer und Gebet des Menelaos), die für die Handlung eigentlich nicht von Belang sind, durch die aber der kunstvolle Aufbau des Berichts mit dem Parallelismus zwischen den beiden Geschehensabläufen an der Küste (Höhepunkt: Bändigung des Stieres) und auf dem Meer (Höhepunkt: Sieg über die Ägypter) herbeigeführt wird. Die beschriebenen Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen den beiden Botenberichten lassen nur einen Schluß zu. Der Bericht in der „Helena" ist der schlichten Erzählung in der „Iphigenie" als Redekunstwerk weit überlegen, und man sollte ihn als die reifere Fassung auch für die spätere halten. Das Gleiche gilt für das Verhältnis zwischen der formenreichen und dramatisch bewegten Szene zwischen Theoklymenos und dem Diener (V. 1621-1641) und der kurzen szenenabschließenden Rede des Thoas in der „Iphigenie" (V. 1422-1434). Zwei Besonderheiten der Szene der „Iphigenie" scheinen sich in dieses einheitliche Bild zunächst nicht zu fügen. Denn dort ist durch den Überlistungsversuch des Chores die Szeneneröffnung reicher gestaltet als in der „Helena", wo sich der Chor nicht aktiv am μηχάνημα der flüchtigen Griechen beteiligt. Ferner entsteht durch den völlig überraschend am Ende des Botenberichts erfolgenden Handlungsumschwung noch einmal Ungewißheit über das Schicksal des Geschwisterpaares, während in der „Helena" ein solcher Umschwung fehlt. Man darf den Überlistungsversuch des Chores in der „Iphigenie" jedoch nicht isoliert betrachten. Er ist ein Teil der Rolle des Mitwissers und Helfers, den der Chor während der ganzen zweiten Hälfte des Dramas spielt. Diese Rolle hat er in der „Helena" abgegeben, verliert infolgedessen auch alle damit zusammenhängenden Funktionen. Er versucht nicht, den ägyptischen Boten zu überlisten, er äußert nicht ein leidenschaftliches Verlangen, nach Griechenland heimgeführt zu werden 1 , er verrät nicht nach dem Botenbericht sein Mitgefühl mit 1

Siehe den von Alt (Chor 80-83) und Ludwig (87-91) vorgenommenen Vergleich der Chorlieder Iph. 1089-1151 und Hei. 1451-1511. Obwohl Alt selbst noch von der Priorität der Hei. überzeugt ist, legt ihr Vergleich eigentlich die

Botenszene - Funktion des Chores

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den Flüchtlingen, ihm droht keine Bestrafung durch den erzürnten Barbarenkönig, so daß die Götter auch nicht für sein ferneres Schicksal zu sorgen brauchen. Die Funktionen, die der Chor verliert, gehen hier wie an anderen Stellen auf Theonoe über. Sie gibt Theoklymenos falsche Auskunft über das Los des Menelaos, sie zieht dadurch den Zorn des getäuschten Bruders auf sich, und um ihretwillen erscheinen schließlich die Dioskuren. Der Umstand, daß am Ende des Botenberichts der „Helena" die Peripetie fehlt, hat manchen in seiner Ansicht bestärkt, die „Iphigenie" müsse das spätere Stück sein1. Das Fehlen der Peripetie in der „Helena" steht aber in engem Zusammenhang mit dem Geist des ganzen Stückes. Nirgends im Werk des Euripides haben sich die Götter so sehr aus dem irdischen Geschehen zurückgezogen wie hier2. Die Flucht aus dem Machtbereich des Theoklymenos gelingt den Ehegatten aus eigener Kraft. Zwar handeln auch sie nicht gegen den Willen der Götter, sondern im Einklang mit ihrem Ratschluß8, doch des tätigen Eingreifens einer Gottheit bedürfen sie anders als Orestes und Iphigenie nicht. Eine abermalige Gefährdung des Fluchtplanes wie in der „Iphigenie" ist darum in der „Helena" undenkbar. Wenn der Dichter auch hier noch einmal vor dem Auftritt der Dioskuren die Spannung der Zuschauer erregen will, muß er einen anderen Weg einschlagen4. Wieder erreicht er wie so oft in diesem Stück dae Gewünschte durch die EinführungTheonoes. Denn seit der Überredungsszene kann er der Anteilnahme des Zuschauers am Schicksal dieser Gestalt eicher sein. umgekehrte Reihenfolge nahe. Denn reiner Auedruck der Stimmung nach der Peripetie ist dae Lied erst in der Hei. geworden, während in der I p h . die Worte des Chores, besondere in den beiden Gegenstrophen V. 1106-1122 u n d 11371151, noch sehr viel mehr dem eigenen Schicksal verhaftet sind. Künstlerisch vollendeter ist zweifellos das Lied der Hei., und wir sind nicht der Meinimg, daß m a n es nur deswegen f ü r früher entstanden halten miißte. Denn gerade bei einem so unermüdlich wiederholenden u n d variierenden Dichter wie E u r . d ü r f t e die Annahme nicht zutreffen, d a ß „bei der Wiederaufnahme solcher dichterischen Motive wohl n u r ein Abfallen, keine Vollendung möglich" sei (Alt 83). 1 T. v. Wilamowitz 267, Zielinski 313, P e r r o t t a 30. * Vgl. unten 182-185. 3 Daß in V. 1555-1568 das Opfertier den Griechen willig auf das Schiff folgt, während es sich den Barbaren nicht fügen wollte, ist ein Symbol dafür, daß die Götter mit Menelaos und nicht mit Theoklymenos sind. 4 Die Peripetie h a t in der I p h . die Funktion, den Auftritt Athenes vorzubereiten. Noch einmal soll sich f ü r einen Augenblick dem Zuschauer das Herz zusammenkrampfen, ehe ihm die vertraute Erscheinung Athenes endgültig die Gewißheit eines guten Ausgangs gibt. Ähnlich urteilen Ludwig (117) und Lesky (Trag. Dicht. 185), während Strohm (Iph. 25) meint, es ginge dem Dichter vor allem darum, zu zeigen, daß menschliches Handeln stets vom Scheitern bedroht sei und erst das tätige Eingreifen der Götter zum Ziele führe. - Jens, Urteil, der Wertbegriff .Spannung' sei der griechischen Poetik fremd (Einleitung X I I Χ Ι Π ) , ist gewiß richtig. Doch verschmäht es E u r . bisweilen nicht, auch die rein stoffliche Spannung im Zuschauer zu erwecken. Dafür ist gerade der Schluß der Iph. ein gutes Beispiel.

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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

Aus dem Fehlen eines Äquivalents für den Überlistungsversuch des Chores und aus dem Fehlen der Peripetie am Ende des Botenberichts in der „Helena" wird man also nicht auf eine frühere Konzeption dieses Dramas schließen dürfen. Denn im ersten Falle ist, was zunächst wie ein Mangel aussieht, die Folge einer Erweiterung an anderer Stelle, nämlich der Einführung Theonoes, und im zweiten fehlt in der Haupthandlung zwar tatsächlich ein bestimmter Zug, weil er sich nicht mit dem Geist des ganzen Stückes vertragen würde, doch wird diese Lücke sofort ausgefüllt. Die Funktion dessen, was in der Haupthandlung fortbleiben mußte, wird von der Nebenhandlung übernommen. An die Stelle der Todesgefahr der Flüchtlinge tritt die Bedrohung Theonoes. d) Iphigenie V. 1435-1499 und Helena V. 1642-1692 Daß am Ende ein Gott erscheint, das Geschehen des Stückes mit bekannten, noch in der Gegenwart bestehenden Gegebenheiten verknüpft und Auskunft über die zukünftigen Schicksale der Hauptgestalten gibt, haben die beiden besprochenen Tragödien mit der Mehrzahl der erhaltenen euripideischen Stücke gemeinsam1. Sie stimmen darüber hinaus auch darin überein, daß vor dem Auftritt des Gottes noch ein letztes Mal die Spannung des Zuschauers erregt wird, so daß das endliche Erscheinen des Gottes auf ihn wie eine Erlösung wirken muß. Hier wie dort besänftigt der Gott schnell den Zorn des Barbarenkönigs, ordnet, was zu ordnen ist, und geleitet die Flüchtlinge heim nach Griechenland. Die Schlußszene der „Iphigenie"2 besteht aus drei Teilen, der Rede Athenes (V. 1435-1474), dem kurzen Gespräch zwischen der Göttin und Thoas (V. 1474-1486) und den Schlußworten Athenes und des Chores (V. 1487-1499)3. In ihrer Rede spricht Athene zunächst zu Thoas (V. 1435-1445). Sie befiehlt ihm, Orestes nicht zu verfolgen, denn die Entführung des Götterbildes und der Schwester seien mit dem Willen der Götter geschehen. Poseidon habe bereits auf ihre Bitte das Meer besänftigt4. Nun wendet sie sich zu Orestes, der, wie sie ausdrücklich sagt, ihre Stimme auch als Abwesender vernehmen kann (V. 1446-1461), und 1

Göttererecheinungen am Tragödienschluß finden sich in den erhaltenen euripideischen Stücken in Hipp., Andr., Suppl., El., I. T., Ion, Hei., Or., Ba., I. A. (nicht erhalten, aber sicher bezeugt), ferner in der Antiope, im Rhesos und in Soph. Phil. In Med. und Hec. geben andere Dramengestalten die sonst den Göttern zukommende Schlußprophetie und Aitiologie. 2 Zur Szene vgl. Spira 113-121. 3 Zum Fehlen der Ankündigung des Gottes durch den Chor vgl. unten 70 A. 5 4 Tro. 87 erregt Poseidon auf die Bitte Athenes den Sturm gegen die griechische Flotte. Pohlenz (II, 163) vermutet, daß es sich an unserer Stelle um einen Nachklang aus den Tro. handelt.

Schlußszene - Göttererscheinung

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teilt ihm mit, wie er im einzelnen den Befehl Apollons, das Götterbild nach Athen zu bringen, erfüllen soll. Sie verknüpft Kultnamen und Opferbräuche der im attischen Halai verehrten Göttin mit dem Schicksal des Orestes. Dann wird Iphigenies Zukunft geordnet (V. 1462-1467). Ihr wird das Priesteramt in Braiuron zugeteilt, wo sie einst ihr Grab finden und die Opfergaben der Athenerinnen empfangen wird. Auch des Chores gedenkt Athene (V. 1467-1469). Für den Beistand, den er Iphigenie geleistet hat, soll er den verdienten Lohn empfangen und mit ihr zusammen nach Griechenland zurückkehren1. In den verlorenen Versen wird Orestes von der Göttin Gewißheit über sein weiteres Schicksal erhalten haben, vor allem darüber, daß er hinfort vor den Erinyen sicher sein und den Schutz Athenes genießen wird, die schon einst vor dem Areopag für seinen Freispruch gesorgt hat. Für alle Zeiten setzt sie fest, daß jeder Angeklagte frei sein soll, der wie Orestes vordem Areopag Stimmengleichheit erzielte (V. 1469-1474)2. Schließlich ermahnt sie Thoas, sich dem Willen der Götter ohne Groll zu fügen (V. 1474). Dieser antwortet fromm und ergeben, und die Göttin lobt seine Folgsamkeit (V. 1475-1486). In ihrem Schlußwort befiehlt sie den Winden, die Kinder Agamemnons nach Athen zu führen, wohin auch sie selbst das Bild ihrer göttlichen Schwester geleiten wird (V. 1487-1489). In den abschließenden Anapästen gelobt der Chor nach einem Segenswunsch für die Geschwister, er werde dem Befehl Athenes Folge leisten, und preist ihren Spruch, der ihm gegen alles Erwarten den Heimweg nach Griechenland geöffnet hat (V. 1490-1496)3. 1 Wie Reiske b e m e r k t h a t , fehlen in L P nach οΰνεκ' in V. 1469 mehrere Verse. - D a die Worte ü b e r die Heimsendung des Chores einen Teil der Rede a n die Geschwister bilden, ist anzunehmen, d a ß er auf dem Schiff des Orestes heimkehren soll. D a s l ä ß t sich auch deswegen vermuten, weil unmittelbar nach dem Wunsch des Chores nach einem πλωτήρ, der ihn heimführen soll (V. 447-451), der gefesselte Orestes auf die Bühne geführt wird. Der Hinweis auf V. 1482 ist kein Einwand gegen diese Annahme. Denn Thoas' Worte mögen besagen, daß er den Chor ans Schiff geleiten lassen wird. - Daß in der Lücke ein Befehl Athenes über die E n t s e n d u n g des Chores nach Delos gestanden haben soll, ist unwahrscheinlich. I m zweiten Stasimon, auf das Grégoire hinweist, wird Delos nicht u m seiner selbst willen erwähnt (V. 1094-1105), sondern u m der kynthischen Artemis willen. Eher sollte m a n a n eine Entsendung des Choree zu einem der attischen Artemiskulte denken. * Vgl. Aisch. E u m . 752-753, E u r . El. 1268-1269 und unten 70. * Die letzten W o r t e einer Tragödie sind vielfach gnomisch oder formelhaft. Der Gedanke der Ergebung in das Notwendige (wie I. T. I486) kehrt naturgemäß oft an dieser Stelle wieder: Soph. Phil. 1466-1468, E u r . Hec. 1295, Tro. 1331, Phoen. 1763. O f t enthalten die Schlußverse einen Abschiedsgruß oder Segenswunsch (wie I . T. 1490-1491): Aisch. Cho. 1063-1064, Soph. Phil. 14531464, Eur. El. 1357. Außer in den formelhaften Schlußversen E u r . Ale. 11591163 = Med. 1415-1419 = Andr. 1284-1288 = Hei. 1688-1692 = Ba. 13881392 und an unserer Stelle wird auch Hipp. 1463 der Ausgang der Handlung als άέλπτως bezeichnet. - Die Formel V. 1497-1499 = Phoin. 1764-1766 = Or. 1691-1693 s t e h t außerhalb der dramatischen Komposition.

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„Taurische Iphigenie" und „Helena'

Auch die Szene der „Helena" 1 ist dreiteilig. Auf eine Rede der Dioskuren an Theoklymenos und Helena (V. 1642-1679) folgen die Antwort des Barbarenkönigs (V. 1680-1687) und die Schlußverse des Chores (V. 1688-1692). Die Dioskuren fordern zunächst Theoklymenos auf, seinen Zorn gegen die flüchtigen Griechen und gegen Theonoe fahren zu lassen (V. 1642-1661). Die Ehe, nach der er strebte, sei ihm nicht schicksalsbestimmt gewesen2. Ihrer Schwester Helena versprechen sie sicheres Geleit, verheißen ih»· göttliche Ehren nach ihrem Tode 3 und kündigen an, daß die der attischen Küste vorgelagerte Insel, auf der sie nach ihrer Entführung zuerst weilte, hinfort ihren Namen tragen werde. Menelaos aber werde dereinst auf die Insel der Seligen entrückt werden (V. 1662-1679). Theoklymenos verspricht Gehorsam und preist Helenas edle, tugendhafte Gesinnung mit den bewegtesten Worten. Als Schlußwort des Chores dienen die von Euripides so oft verwandten Formelverse 4 . Die Szene der „Helena" ist nicht nur kürzer als die der „Iphigenie", sie ist auch einfacher gebaut. Anstelle des in der „Iphigenie" angedeuteten Gesprächs der Göttin mit dem Barbarenkönig findet sich nur eine Antwort des Königs, anstelle des dritten Szenenteils nur die Schlußformel. In der Rede der Dioskuren werden nur zwei Personen angeredet, erst Theoklymenos und dann Helena, während in der „Iphigenie" Athene zu Thoas, Orestes, Iphigenie, wiederum zu Orestes und noch einmal zu Thoas spricht. Man deutet die Unterschiede wohl richtig, wenn man sagt, der Dichter habe in der Szene der „Helena" die Szenenform der „Iphigenie" vereinfacht und durchsichtiger gestaltet. In der „Iphigenie" hat die Göttererscheinung eine wichtige Handlungsfunktion. Die Geschwister schweben in Lebensgefahr, und Athene erscheint als Retter in der Not. In der „Helena" befinden sich die Flüchtlinge bereits in Sicherheit. Die Dioskuren fordern nicht, sie nicht zu verfolgen, sondern nur, ihnen nicht zu zürnen. Nur das Schicksal Theonoes, also einer Nebenfigur, ist noch im ungewissen. Da aus den eben erwähnten Gründen 5 durch eine neue Verwicklung der Haupthandlung keine Spannung mehr erregt werden kann, dient Theonoes Lebensgefahr als Ersatzmotivierung für das Erscheinen der Dioskuren. Zur Szene vgl. Spira 121-126. Die Dioskuren nehmen mit ihrer Bemerkung, sie hätten schon längst die Schwester befreit, wenn sie die Macht dazu gehabt hätten, die Antwort auf die vorwurfsvolle Frage vorweg, die ihnen El. 1298-1300 gestellt wird. Wenn es nötig wäre, ein Argument für die unbestrittene Datierung der El. vor 412 zu suchen, ließe es sich hier finden. 3 V. 1667 e x · und 1668'"· sind nach F . W. Schmidt zu tilgen. E s handelt sich um eine „Ersatzversion" zu den beiden folgenden Halbversen. Vgl. G. J a c h mann, GGN, N. F . , 1, 7, 1936, 192-194. 4 Vgl. oben 59 A. 3. 6 Vgl. oben 57. 1

2

Schlußszene - Aitiologie

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In der „Iphigenie" laufen in der abschließenden Rede Athenes alle Fäden des Dramas zusammen. Jede der in seinem Verlauf gestellten Fragen findet hier ihre endgültige Antwort. Orestes ist gemäß dem delphischen Spruch durch die Fahrt zu den Taurern und die Einführung des Götterbildes völlig entsühnt worden. Apollon hat seinem Schützling die Treue gehalten und sich als Künder der Wahrheit bewährt. Iphigenie wird gemeinsam mit ihrem Bruder nach Griechenland zurückkehren. Artemis wird nicht mehr die blutigen Opfer der Taurer empfangen, sondern durch die Priesterin Iphigenie und das attische Volk eine reinere Verehrung genießen. Die Frage, die den Zuschauer seit der Prologrede bewegen mußte, welche Verbindung wohl zwischen der in Brauron verehrten Priesterin Iphigenie und der Tochter Agamemnons und zwischen der Artemis Tauropolos von Halai und den blutigen Kulten der Taurer bestehen möge, wird in der Rede Athenes auf die einfachste und befriedigendste Weise beantwortet1. Die Kultaitiologie, die so oft ein euripideisches Stück beschließt und die man leicht als konventionelles Anhängsel empfindet, ist hier ein organischer Teil des Ganzen. Hier legt der Dichter Rechenschaft ab. Er weist nach, daß die von ihm gestaltete Handlung nicht willkürlich erfunden, sondern mit allgemein bekannten Namen und Kulttatsachen glaubhaft verknüpft ist und sich dadurch als wahr erweist. Er zeigt zugleich die Leistung seines Werkes. Es gibt dem heimischen Kult, dessen Stätten, Namen und Bräuche bisher als unverstandene, zusammenhanglose Fakta hingenommen werden mußten, eine sinnvolle Erklärung. Es hebt ihn über seine nur lokale Bedeutung hinaus, indem es eine Verknüpfung mit der Atridensage, also mit einer der bekanntesten griechischen Heldensagen schafft. In der „Helena" dienen die Worte der Dioskuren nicht dazu, alles Geschehene abschließend zu erhellen. Zwar bestätigen sie auch hier, daß das Ergebnis der Handlung schicksalsbestimmt ist, und berichten über die weiteren Schicksale der Ehegatten. Aber daß Helena zu den Göttern entrückt werden wird und Menelaos zu den Seligen und daß eine Insel Helenas Namen tragen wird, befriedigt zwar die Wißbegier des Zuschauers, ist aber für die Handlung des Stückes ohne Bedeutung. Es wäre unverständlich, wenn der Dichter in der „Helena" zum ersten Male die Szenenform mit ihrer klaren dreiteiligen Struktur verwandt und diese Form später in der „Iphigenie" in einer etwas kleinlichen Weise komplizierter gestaltet hätte. Nicht minder seltsam wäre es, wenn er die Szenenform dort entwickelt hätte, wo sie nicht mehr ist als ein konventioneller Abschluß, der nur eine Nebenhandlung zum guten Ende führt, und wenn er später in einem anderen Drama der Szene eine wichtige Funktion als Abschluß der Haupthandlung und 1

Vgl. oben 25 A. 2, ferner Zuntz, Iph. 245-246.

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„Taurische Iphigenie" und „Helena"

als Antwort auf alle im Verlauf des Geschehens aufgeworfenen Fragen gegeben hätte. Sehr viel wahrscheinlicher ist das Umgekehrte. Der Dichter hat, so dürfen wir annehmen, die in „Iphigenie" und „Helena" vorliegende Szenenform nicht in der „Helena" geschaffen, sondern in der „Iphigenie", wo eine innere Notwendigkeit für sie besteht. In der „Helena" erscheint sie zum zweiten Male. Dort ist die Szene zwar klarer gegliedert, also formal weiterentwickelt, hat aber ihre dramatische Funktion eingebüßt. Sie ist für die Haupthandlung ohne Belang und dient als bewährter Schlußakkord, der auch dort verwandt wird, wo eine innere Notwendigkeit für ihn nicht mehr besteht 1 . § 5. Ergebnis der Untersuchung Am Anfang dieses Kapitels betrachteten wir den Gesamtaufbau der „Iphigenie" und der „Helena". Wir stellten fest, daß beide Stücke einen dreigliedrigen Aufbau haben, der von einem zweigliedrigen überdeckt wird, daß die beiden Dramen also in ihrer Grundstruktur übereinstimmen, und zwar so sehr, wie es sich bei keinem anderen Dramenpaar in der griechischen Tragödie beobachten läßt. Die Voraussetzungen für einen Vergleich erwiesen sich also als denkbar günstig. Wir verglichen zunächst die Eingangsabschnitte der beiden Tragödien als Ganzes, sodann die einzelnen homologen Szenen der beiden Dramenteilen und verfuhren dann ebenso mit den Zentralabschnitten und den Schlußabschnitten. In jedem Falle erwies sich dabei die Annahme einer Entwicklung von der „Iphigenie" zur „Helena" als die beste Erklärung für die zwischen den beiden Dramen bestehenden Unterschiede. Alle Anzeichen sprechen also dafür, daß von den beiden so außerordentlich ähnlichen Dramen die „Iphigenie" das Vorbild für die „Helena" gewesen ist und nicht umgekehrt. Damit ist zunächst allerdings nur wahrscheinlich gemacht, daß die „Iphigenie" vor der „Helena" verfaßt worden ist. Doch darf man für die „Iphigenie" ebenso wie für jede andere attische Tragödie 2 annehmen, daß zwischen Abfassung und Aufführung nur eine geringe Zeitspanne verstrichen ist. Diese Annahme ergibt sich aus dem Verhältnis des Tragikers zu seinem Publikum. Denn kein Dichter ist imstande, ein fertiges Werk mehrere Jahre lang in der Schublade schlummern zu lassen, wenn er für ein derart unersättliches Publikum arbeitet, wie es Athen mit seinen all1

Vgl. Macurdy 103-104. - Eine Beobachtung von Morel (Rez. Perrotta, 144) weist in die gleiche Richtung. In der Iph. muß Athene noch ausdrücklich erwähnen, daß auch der abwesende Orestes ihre Worte vernehmen kann (V. 1447), während in der Hei. die Dioskuren nicht mehr zu begründen brauchen, daß ihre Worte auch bis zu Helena dringen, da der Zuschauer jetzt mit der Szenenform vertraut ist. 2 Ausgenommen sind hier selbstverständlich die postumen Stücke, wie O.C., I. Α., Ba., bis zu deren Aufführung naturgemäß längere Zeit verstrich.

Ergebnis des Vergleiches

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jährlichen tragischen Wettkämpfen war. Auf Grund dieser Überlegung darf man es für sicher halten, daß die „Iphigenie" auch vor der „Helena" aufgeführt worden ist. Da die Aufführung der „Helena" im Jahre 412 sicher bezeugt ist1, kommen wir zu dem Ergebnis, daß die „Iphigenie" vor 412 aufgeführt sein muß. Daß die 415 aufgeführten „Troerinnen" früher zu datieren sind, sollte man nicht bezweifeln2. Wir erhalten demnach als mögliche Aufführungsdaten für die „Iphigenie" die Jahre 414 und 413. Damit stellt sich aber die Frage nach dem zeitlichen Verhältnis der „Iphigenie" zur euripideischen „Elektra", von der bisher angenommen wurde, daß sie im Jahre 413 aufgeführt worden sei. Doch davon soll im nächsten Kapitel die Rede sein. § 6. Euripides' ,,Iphigenie" und Sophokles' „Elektro" Während über das Zeitverhältnis der beiden „Elektron" immer wieder Untersuchungen angestellt worden sind, hat man bisher auf die Klärung des Verhältnisses, das zwischen der sophokleischen „Elektra" und der „Iphigenie" besteht, nur wenig Mühe verwandt. Heute dürfte feststehen, daß die „Elektra" ein Alterswerk des Sophokles ist, also mehrere Jahre nach dem „König ödipus", d.h. eher nach 420 als zu einem früheren Zeitpunkt aufgeführt worden ist3. Darum sind wir für 1

Vgl. oben 12 A. 5. Das Verhältnis der I p h . zu den Tro. ist unseres Wissens noch niemals untersucht worden. Bei der Verschiedenartigkeit der beiden Stücke d ü r f t e es schwer sein, einen Ansatzpunkt zu finden. Doch vgl. z.B. oben 58 A. 4. * Vgl. vor allem die Behandlung der El. bei Reinhardt, Sophokles 145-171. Webster (5) gibt ale „terminus a n t e q u e m " die 408 aufgeführten Gerytades des Ar. an, deren fr. 168 eine Parodie auf Soph. El. 289 sein soll. - Der von Webster angesetzte „terminus post q u e m " 418 ist wertlos. Denn niemand zwingt uns anzunehmen, d a ß Ar. N u b . 534 vor der Aufführung von Soph. El. geschrieben sein müsse. Die sicherlich mehrfach postum aufgeführte Orestie h a t t e klassische Geltung, so d a ß sich Ar. jederzeit auf sie beziehen konnte, gleich ob Soph, seine El. schon aufgeführt h a t t e oder nicht. Ebenso verfehlt ist es, aus der Nichterwähnung des sophokleischen Siegelringes in E u r . El. 518-546 auf die Priorität von E u r . El. vor Soph. El. zu schließen. - Auch W h i t m a n (54) t r i t t f ü r einen „terminus post q u e m " 418 ein. Aisch. habe Argos als Ort der Handlung gewählt, weil diese S t a d t durch das Bündnis von 460 im Bewußtsein eines jeden Atheners gegenwärtig gewesen sei. 418 aber habe Argos das 420 erneut geschlossene Bündnis gelöst, d a r u m sei Soph, zu dem mythischen, jedem Gegenwartsbezug enthobenen Mykene zurückgekehrt. Sehen wir einmal von unseren grundsätzlichen Bedenken gegen die Annahme solcher unmittelbaren Bezüge zwischen Politik u n d Dichtung ab, bleibt noch einzuwenden, daß der Ort des Palastes der Pelopiden, vor dem Soph, seine El. spielen läßt, durchaus ungewiß bleibt. Von den V. 4—10 genannten Örtlichkeiten befindet sich die άγορά Λύκειος in Argos u n d das Heraion etwa halbwegs zwischen Mykene u n d Argos. Offenbar verwendet Soph, (wie übrigens auch Eur., vgl. z . B . El. 708 u n d 715,1. T. 508 und 510) „Mykene" u n d „Argos" als Synonyme. Damit wird Whitmans Argument für einen „terminus post q u e m " 418 hinfällig. 2

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„Taurische Iphigenie" und „Helena'

jeden weiteren Hinweis dankbar, der zu einer genaueren Bestimmung des Aufführungstermins führen könnte. Nun haben sich im Laufe unserer Untersuchung so viele Argumente für die Priorität der sophokleischen „Elektra" vor der „Iphigenie" ergeben, daß sich unserer Meinung nach das Datum der ,,Elektra" genauer bestimmen läßt. Sie ist, so meinen wir, mehrere Jahre nach dem „ödipus" und vor der „Iphigenie", also zwischen etwa 420 und 414/413 aufgeführt worden. Für diese Auffassung lassen sich die folgenden fünf Argumente anführen. 1. Die Form des Eingangsabschnitts der „Iphigenie", in der die Glieder Prologrede der Hauptgestalt

ι Dialog des I Gegenj spiels ; i

; ¡ ! . J

Parodos

Kommos Botenszene ! Rede der i und Monodie ί HauptChor ¡ gestalt Hauptj ; gestalt I I

aufeinander folgen, läßt sich am besten als Weiterentwicklung des homologen Abschnitts der „Elektra" des Sophokles verstehen, der sich folgendermaßen gliedert : Redenpaar j Monodie : Parodos und Kommos i Rede der Hauptgestalt des Gegen- ¡ der Haupt- j Chor - Hauptgestalt spiels I gestalt j ,

Dabei greift Euripides auf Eingänge wie den der „Trachinierinnen" und der „Andromache" zurück, wo eine Prologrede der Hauptgestalt am Anfang steht. Der Eingang der euripideischen „Elektra" mit seiner Gliederung Prologrede der Prologfigur und Dialog m.d. Hauptgestalt

I Rede des j GegenI spiels ! ! | |

; Monodie j der j Haupt| gestalt I i

| Parodos und j Kommos ¡ Chor | HauptJ gestalt i '

Dialog , Rede der Haupt! Hauptgestalt - j gestalt Gegenspiel | j

scheint ebenfalls von dem der sophokleischen „Elektra" abhängig zu sein, ihm in manchem sogar noch näher zu stehen als der Eingang der „Iphigenie" 1 . 2. In den Prologszenen, die dem Gegenspiel gewidmet sind, wird in den beiden „Elektren" und der „Iphigenie" jeweils ein Plan gefaßt, worauf sich Orestes mit seiner Begleitung wieder zurückzieht. Bei Sophokles bildet freilich die Ausführung des Planes die eigentliche Handlung des Dramas, während in den beiden anderen Stücken der Plan nur episodische Bedeutung hat2. 1

Vgl. oben 20-22, 24.

2

Nestle 34.

Verhältnis der „Iphigenie" zu Sophokles' „Elektra"

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3. Das Amoibaion, das bei Sophokles auf die Erkennung folgt (V. 1232-1287), lebt ganz aus der Spannung, die sich aus der dramatischen Situation ergibt. Orestes, dem die Rachetat vom Gott befohlen ist, drängt zum Handeln, während sich Elektra völlig der Freude des Wiedersehens hingibt. Diese Spannung besteht auch noch in der nächsten Szene fort. Die Form des Amoibaion mit ihrem Wechsel zwischen Sprechversen des Orestes und lyrischen Versen Elektra« entspricht dem Gehalt vollkommen. In der „Iphigenie" übernimmt Euripides zwar die Form des Amoibaion (V. 827-899), füllt sie aber mit anderem Gehalt. Der Wechsel von Sprechversen des männlichen und Gesangsversen des weiblichen Partners ergibt sich jetzt nicht mehr mit Notwendigkeit aus der dramatischen Situation, und auch der Zusammenhang mit der folgenden Szene ist gelöst1. 4. Die nicht voll ausgestaltete Rolle des Pylades als Mahner zur Tat in der „Iphigenie" (V. 902-908) läßt sich am besten als Nachklang der Funktion des Pädagogen der „Elektra" in der Szene nach der Erkennung (V. 1326-1371) verstehen2. 5. Weder Sophokles noch Euripides machen in ihren Elektra-Dramen Gebrauch von der vorgegebenen Rolle des Pylades. In beiden Stücken werden Nebenfiguren eingeführt, die die Funktion des Vertrauten übernehmen. Eine solche Gestaltung ist aber nur vor der „Iphigenie" möglich. Dort wird Pylades zur dramatischen Figur erhoben und übernimmt die Funktion des Vertrauten des Orestes, aus der er seitdem nicht mehr verdrängt werden kann3. 1 2 3

Vgl. unten 118-119, 137-138. Vgl. oben 41 A. 1. Vgl. unten 70-71, 80.

2. Kapitel

Aufbau und Datierung der „Elektra" des Euripides § 1. Die absolute Datierung der „Elektra" auf 413 Der erste Philologe, der zwischen den Worten der Dioskuren in der Exodos der „Elektra" (V. 1347-1356) und der sizilischen Expedition einen Zusammenhang sehen wollte, ist August Boeckh gewesen. Er meinte, auf diese Weise einen ,terminus post quem' für die Aufführung des Stückes gewonnen zu haben, nämlich die Ausfahrt der athenischen Flotte nach Sizilien im Sommer 415 1 . Weil versuchte, die Aufführungszeit noch genauer festzulegen2. Er war der Ansicht, man müsse die Verse der „Elektra" mit der im Frühjahr 413 ausgesandten Hilfsexpedition des Demosthenes in Verbindung bringen3. Die Worte der Dioskuren sollten besagen, daß sie die unter Demosthenes' Kommando fahrenden Schiffe, von deren Schicksal das Los der ganzen Expedition abhing, sicher ans Ziel geleiten würden. Das Stück mußte demgemäß kurz nach Aussendung dieser Schiffe, also an den großen Dionysien 413 aufgeführt worden sein4. Dieser Datierungsvorschlag ist seither allgemein anerkannt worden und hat Aufnahme in alle Handbücher und Textausgaben gefunden. Gelegentliche Zweifel wurden überhört 5 , einige formale Besonderheiten, die gegen ein so spätes Aufführungsdatum zu sprechen schienen, entweder mit der archaisierenden Tendenz des Stückes 6 oder mit der bei Schwierigkeiten dieser Art so oft gefundenen Verlegenheitslösung der Annahme einer großen Zeitdifferenz zwischen Abfassung und Aufführung erklärt 7 . Beides ist gleich mißlich. Denn daß sich eine archaisierende Tendenz nur sehr wenig auf die formalen Besonderheiten ausThuk. 6, 30. Weil 569. 3 Thuk. 7, 17. * Gelegentliche Versuche einer Datierung auf die Lenäen 413 oder auf 414, z . B . durch Bergk (Gr. Lit. Gesch., III, 552), haben kaum Anhänger gefunden. 6 Vgl. etwa Descroix 58. ' Krieg 43 und A. 3 (Trochäen), Wilamowitz, Her. I, 147 A. 58 (Dochmien), Groß 92 (Stichomythie), Kranz 233 (Chorlieder). - Auch Macurdy (110-111) muß zugeben, daß die El. sich in Sprache und Metrik merklich von den anderen Stücken der Zeit um 413 unterscheidet, sucht die Ursache dafür aber im Einfluß des Soph. 7 Zielinski 185 (lamben), Ceadel 76-78 (desgl.). 1

2

Zeitanspielungen in der Tragödie ?

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wirkt, dürfte ein Blick auf die „Bakchen" zeigen, und zur Annahme einer größeren Zeitdifferenz zwischen Abfassung und Aufführung haben wir schon oben unsere Meinung dargelegt1. Der entscheidende Anstoß, das Problem der Datierung der „Elektra" von neuem zu durchdenken, kam von Zuntz2. Er geht bei seinen Überlegungen von dem Gedanken aus, daß unmittelbare Zeitanspielungen, wie man sie an vielen Stellen in den euripideischen Tragödien bemerken zu können glaubte, eine Durchbrechung der Distanz bedeuten würden, die daa mythische Geschehen von der Gegenwart trennt 3 . Zuntz prüft die bekanntesten Beispiele für solche „Zeitanspielungen" und zeigt, daß sich jede dieser Stellen besser verstehen läßt, wenn man keinen Bezug auf gleichzeitige politische Ereignisse annimmt. Ebenso urteilt er auch bei den Stellen in der Exodos der „Elektra", an denen man solche Anspielungen zu erkennen meinte. Weder verweist nach Zuntz der Dichter hier auf die bevorstehende Inszenierung der „neuen Helena" (V. 1278-1283), noch haben die Schlußworte der Dioskuren (V. 1347-1356) irgendeine Beziehung zur sizilischen Expedition. Die Dioskuren, die gekommen sind, um den Mörder ihrer Schwester Klytaimestra zu tadeln, entlasten auch ihre andere Schwester Helena von den Vorwürfen, die während des Dramas gegen sie erhoben worden waren. Damit wird der Anfang der Kausalkette, deren Ende der eben geschehene Muttermord ist, aus der Realität entrückt. Seine Folgen aber und die mit ihnen verbundenen menschlichen Leiden bleiben real. Der πόντος Σικελός jedoch, zu dem die Dioskuren eilen, um Schiffe zu retten, ist, wie Zuntz gut belegen kann, das gesamte griechische Westmeer. Dieses Meer war zu jeder Zeit von vielen Schiffen befahren und nicht nur im Frühjahr 413 von der Hilfsexpedition des Demosthenes. Schiffe zu retten, ist die Aufgabe der Dioskuren seit ihrer Erhebung unter die Götter. Als Begleiter eines Schiffes sind sie über das Ägäische Meer nach Argos gekommen. Nun begeben sie sich, vom Osten kommend, nach dem Westen, um auch dort ihres Amtes zu walten und einige wiederum nicht näher bestimmte Schiffe zu retten 4 . Daß sie ihr Ziel angeben, entspricht der Gepflogenheit des Euripides, einen Gott bei seinem Abgang stets sagen zu lassen, wohin er sich begibt. Bei ihrer Tätigkeit lassen sich die Dioskuren auch von keinen athenisch-patriotischen Motiven leiten, sondern dienen allein der Gerechtigkeit, indem Vgl. oben 62-63. Zuntz, Pol. Plays 64-71. 3 Zuntz, a.a.O. 55: „Tragedy, unlike Comedy, never oversteps the boundary which separatee the ideal from everyday life". Vgl. auch denselben, Cont. Pol. 159-162, ferner Lesky, Trag. Dicht. 118 A. 4. 4 Mit keinem Wort ist von „ l e s vaisseaux a t h é n i e n s " (Weil 569) die Bede. Die Dioskuren sagen allgemein σφσοντε νεών πρώρας ένάλους (1348). 1 !

5'

Euripides' „Elektra"

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sie ihre Hilfe den Guten gewähren und den Schlechten versagen1. Ihre Fähigkeit, mühelos dem Recht zur Geltung zu verhelfen, kontrastiert wirkungsvoll mit dem Leid der Kinder Agamemnons, die gescheitert sind, als sie in ihrem Bereich das Recht durchsetzen wollten. Die Worte der Dioekuren haben also einen unmittelbaren Bezug auf die Schicksale der Hauptgestalten, so daß es völlig unnötig ist, einen Beziehungspunkt außerhalb der dramatischen Wirklichkeit zu suchen. Zuntz versucht nun zu zeigen, daß nicht nur keine Notwendigkeit besteht, die „Elektra" auf 413 zu datieren, sondern auch mehrere gewichtige Gründe gegen eine solche Datierung sprechen. 1. Die Atmosphäre des Stückes ist eine gänzlich andere als in der „Iphigenie", „ H e l e n a " und „Andromeda" 2 . Man sollte sich nicht dazu verleiten lassen, das Stück nur d a r u m in die Nähe der um 413 aufgeführten Tragödien zu rücken, weil auch hier die Handlung durch άναγνώρισις und μηχάνημα bestimmt wird 3 . 2. I n jeder erhaltenen Tragödie seit „Herakles" und „Troerinnen" verwendet Euripides den trochäischen Tetrameter, in der „ E l e k t r a " jedoch nicht. 3. I m jambischen Trimeter erlaubt sich Euripides im Verlaufe seines dramatischen Schaffens immer größere Freiheiten. In der „ E l e k t r a " behandelt er den Trimeter aber strenger als im „Herakles" und den „Troerinnen".

Die von Zuntz gegebene Interpretation von V. 1347-1356 und auch seine Beurteilung des Gesamtcharakters der Tragödie sind überzeugend. Darum sollte man in Zukunft nicht länger an der bisher üblichen Datierung der „Elektra" auf 413 festhalten 4 . Es wird also nötig sein, die Stellung des Stückes im Werk des Euripides von neuem zu prüfen. 1

Man h a t versucht, auch in der Erwähnung der μυσαροί eine Zeitanspielung zu sehen (z.B. Kaibel 63): Da nicht Alkibiades, der durch den Hermokopidenfrevel u n d die Entweihung der Mysterien μυσαρός ist, sondern der δσιος καΐ δίκαιος Nikiae das athenische Heer f ü h r t , könnten die Athener de r R e t t u n g ihrer Flotte gewiß sein. Man m ü ß t e dem attischen Tragödienpublikum einen sechsten Sinn f ü r die subtilsten politischen Anspielungen zuschreiben, wenn man annehmen wollte, es habe aus den Worten der Dioskuren dergleichen heraushören können. 2 Auch Pohlenz I I , 389, stellt verwundert fest, daß wir in der Hei. „einen Abstand auch gegenüber Euripides eigener Elektra empfinden, die er doch nur ein J a h r vorher gedichtet h a t t e " . s Auch im Kresphontee wird die Handlung durch die Verbindung von άναγνώρισις u n d μηχάνημα bestimmt. Vgl. unten 111-114. Niemand wird d a r u m dieses Stück auf die Zeit um 412 datieren wollen. 4 So urteilt auch Mette 155. Diller (96) zieht Zuntz' These immerhin in ernsth a f t e Erwägung, während Lesky (Griech. Lit. 362 und A. 30) an 413 festhält. N i m m t m a n aber nicht mehr an, daß Eur. El. 413 aufgeführt worden ist, entfällt die wichtigste Voraussetzung für den Versuch Alts (Chor 47-59), die gemeint h a t t e , m a n könne manche Eigentümlichkeiten der Chorlieder V. 432—486 und 699-746 aus der Stimmung am Vorabend der sizilischen Niederlage erklären und könne auf diesem Wege doch noch eine Beziehung zwischen diesen Liedern und der nach ihrer Aneicht von einer ähnlichen Stimmung erfüllten H a n d l u n g des Stückes herstellen.

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Verhältnis zur „Iphigenie"

Dabei sollen die metrischen Dinge zunächst ausgeschlossen bleiben, da ihnen im zweiten Teil dieser Arbeit ein eigenes Kapital gewidmet werden soll1.

§ 2. Das Zeitverhältnis

der „Elektro," zur ,,Taurischen

Iphigenie"

Man hat in jüngster Zeit wieder einmal versucht, daa Unvereinbare miteinander zu verbinden und sowohl an der Priorität der „Iphigenie" vor der „Helena" als auch an der Datierung der „Elektra" auf 413 festzuhalten, wobei sich die Notwendigkeit ergab, die „Iphigenie" vor der „Elektra", also vor 413 einzuordnen2. Um solchen vergeblichen Versuchen einen Riegel vorzuschieben, genügt es, die wichtigsten unter den Gründen ins Gedächtnis zurückzurufen, welche Zieliúski, Pohlenz und andere dazu bewogen hatten, die „Iphigenie" nach der „Elektra" zu datieren3. Eine g l e i c h z e i t i g e Aufführung der „Iphigenie" und der „Elektra"4 ist ausgeschlossen, weil 1. der Ausgang der „ E l e k t r a " die άμαθία des delphischen Befehls beweist, u n d zwar nicht n u r in den Augen der Menschen, sondern auch in denen der u n t e r die Götter erhobenen Dioskuren, während der Ausgang der „Iphigenie" den delphischen Spruch glänzend bestätigt*, 2. in beiden Stücken über die Schicksale des Orestes nach seiner T a t abweichende Aussagen gemacht werden* u n d 3. Euripidee nicht zweimal in derselben Trilogie das Aition des Freispruohee bei Stimmengleichheit im Areopag gegeben h ä t t e ' .

Die Aufführung der „Iphigenie" vor der „Elektra" ist ausgeschlossen, weil Euripides d a n n nicht in der „ E l e k t r a " die Teilung der Erinyen u n d die F a h r t zu den Taurern bei der Aufzahlung der bevorstehenden Schicksale des Orestes unerwähnt gelassen h ä t t e . Dies gilt besonders deswegen, weil in der „ E l e k t r a " die Tendenz des Dichters dahin geht, die Z u k u n f t des Orestes besonders düster zu malen 8 . 1

Vgl. u n t e n 167-172. » Ludwig 121. Vgl. oben 13 A. 4, 14 A. 2. Vorgeschlagen von Delebecque (293-300), der eine Trilogie El. Or. I p h . verm u t e t . Gegen die A n n a h m e einer solchen Trilogie sprechen neben vielem anderen schon die Scholien zu Or. 371 u n d 772, die das Stück fest auf 408 datieren. 5 Steiger Hei., 232. • Pohlenz I I , 163. 7 Pohlenz, a . a . O . 8 Pohlenz, a . a . O . - Zieliúski (311) weist darauf hin, daß auch im Or. die Schicksale des Orestes angekündigt werden (V. 1643-1652). Dort wird ihm aber Oresteion n u r f ü r ein J a h r als Aufenthaltsort zugewiesen, u n d zwar vor dem Areopagurteil. Die F a h r t zu den Taurern wird zwar nicht angekündigt, aber der R a u m f ü r sie immerhin ausgespart. Die Version in der El. dagegen schließt diese F a h r t völlig aus. 3 4

Euripides' „ E l e k t r a "

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Es sprechen vielmehr zahlreiche Gründe für die Aufführung der „Iphigenie" n a c h der „Elektra". 1. Das Aition des Areopags wird in der „ E l e k t r a " ausführlicher berichtet als in der „Iphigenie" und im „Orestes". In der „ E l e k t r a " (V. 1258-1263) wird die Geschichte der Stiftung des Gerichtshofes unter Namensnennung aller Beteiligten erzählt, während in der „Iphigenie" (V. 945-946) die Sage anscheinend als bekannt vorausgesetzt werden kann und nur noch angedeutet zu werden braucht. I m „Orestes" schließlich (V. 1650-1652) wird zwar der Gerichtshof erwähnt, nicht aber seine Entstehungsgeschichte 1 . 2. I n der „Iphigenie" verkürzt der Dichter zwar die Erzählung über die Entstehung des Areopags und den Freispruch des Orestes, erweitert sie aber andrerseits durch Zusätze, die als solche deutlich erkennbar sind (Teilung der Erinyen, Aition des Choenfestes) 2 . 3. E r ist in der „Iphigenie" ängstlich bemüht, bei der Erzählung der Areopagsage (V. 945-946) und beim Aition des Freispruches bei Stimmengleichheit (V. 1471-1472) keine der in der „ E l e k t r a " bereits verwandten Formulierungen zu wiederholen. Das zeigt sich besonders beim Vergleich von El. 1268-1269 und I p h . 1471-1472) 5 . 4. Dem Mythos vom goldenen L a m m und der Umkehr der Sonne ist in der „ E l e k t r a " ein ganzes Chorlied (V. 699-746) gewidmet, während er in der „Iphigenie" (V. 189-202 und 813) und im „Orestes" (V. 812-813 und 9951000) nur mit wenigen andeutenden Worten erwähnt wird 4 . 5. Die Wendungen τροχηλάτου μανίας in der „Iphigenie" (V. 82-83) u n d τροχηλατεΐ μανίαισιν im „Orestes" (V. 36-37) sind nahezu unverständlich, wenn m a n sie nicht als Verkürzungen des ausführlichen δειναί δέ κήρές σ' αί κυνώπιδες θεαΐ | τροχηλατήσουσ' έμμανη πλανώμενον in der „ E l e k t r a " (V. 12521253) ansieht 3 .

Diese Gründe lassen sich noch vermehren. Von den Argumenten, die sich aus einem Vergleich der Erkennungsszenen der beiden Dramen ergeben, sei hier zunächst abgesehen8. Doch sei wenigstens auf die Rolle des Pylades verwiesen. Es ist undenkbar, daß Euripides, nachdem er in der „Iphigenie" Pylades zu einer lebendigen dramatischen Gestalt gemacht hatte, ihn später in der „Elektra" wieder auf die Rolle eines 1

Zielinski 310. Zielinski, a . a . O . 3 P e r r o t t a 26. « P e r r o t t a 22-26, Mathieu 79, Pohlenz II, 164. ' Pohlenz, a . a . O . - Ohne K r a f t ist das von Steiger (Hei. 236) vorgebrachte Argument, daß die El. das frühere Drama sein müsse, weil in ihr das Erscheinen des Gottes durch den Chor angekündigt wird, in der Iph. dagegen nicht. Dieses Argument b e r u h t auf der irrtümlichen Annahme, „daß alle Dramen, in denen der Gott angekündigt werde, älter seien als die anderen, in denen diese Ankündigung unterbleibt". Auch im Hipp, fehlt bereits die Ankündigung, u n d die Suppl. wird m a n nur wegen des Fehlens der Ankündigung nicht mit Christ (Jahrbücher f. kl. Phil. 1894, 157) nach der El. ansetzen wollen. Dagegen wird im Ion, den m a n eher nach als vor der Iph. einordnen sollte, das Erscheinen Athenas angekündigt (V. 1549-1552). • Vgl. u n t e n 119-125, 127-138. 2

Verhältnis zu „Iphigenie" und „Troerinnen"

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κωφόν πρόσωπον beschränkt haben soll. Das gilt vor allem deswegen, weil der Gedanke der Freundschaft im Werk des alten Euripides eine zentrale Stellung einnimmt. Es wäre darum merkwürdig, wenn sich der Dichter in der „Elektra" damit begnügt hätte, die Freundschaft an der Nebenrolle des Landmannes zu verherrlichen (V. 67-70), wenn ihm dafür ein Pylades zu Gebote stand. Man muß aleo annehmen, daß Euripides bei der Arbeit an der „Elektra" noch nicht die Möglichkeiten bemerkt hatte, die in der Rolle des Pylades schlummerten, und daß er sie erst später entdeckte, als er seine „Iphigenie" entwarf. Auch Sophokles macht übrigens in seiner „Elektra" nicht den geringsten Gebrauch von Pylades, dessen Anwesenheit als stumme Person wir nur aus gelegentlichen Anreden erschließen können1. Man könnte einwenden, daß ein sprechender Pylades ein vierter Schauspieler gewesen wäre. Das ist richtig, aber warum macht Sophokles nicht Pylades zum dritten Schauspieler und läßt ihn von Anfang an die Rolle spielen, die im vorliegenden Stück der Pädagoge übernommen hat ? Man geht darum wohl nicht fehl in der Annahme, daß nicht nur die euripideische, sondern auch die sophokleische „Elektra" der „Iphigenie" vorausgegangen ist 2 . § 3. Das ZeüverhäUnis der „Elektra" zu den „Troerinnen" Da die bisher übliche Datierung der „Elektra" auf 413 nicht mehr aufrechterhalten werden kann und Grund zu derAnnahme besteht, das Stück sei früher als in diesem Jahre aufgeführt worden, ist es nötig, das zeitliche Verhältnis der „Elektra" zu den 415 aufgeführten „Troerinnen" zu klären. Es ist zu prüfen, ob es in den beiden Stücken irgendeinen Anhaltspunkt für die bisher allgemein anerkannte Priorität der „Troerinnen" gibt. In beiden Dramen wird zwischen zwei Frauen ein Redestreit geführt, in der „Elektra" kurz vor dem Vollzug der Rachetat (V. 1011-1096), in den „Troerinnen" in der Schiedegerichtsszene vor Menelaos (V. 9141035). Hier wiedort folgt auf die Verteidigungsrede einer unbezweifelbar Schuldigen die Anklagerede. Sogar auf die Personen und auf den zur Rede stehenden Zeitabschnitt erstreckt sich die Übereinstimmung. Denn in beiden Fällen werden gegen eine der Töchter des Tyndareos 1 In EUT. El. wird Pylades neunmal erwähnt (V. 82-85, 109-111, 821, 845847, 886-889 (!), 1249, 1284-1287, 1311, 1340-1342), während er bei Soph, nur im Prolog und vor der Tat genannt wird (V. 15-16,1372-1373), also noch seltener als bei Aiech. (Cho. 20, 208, 561-568, 899-903). Die Erhebung des Pylades zur dramatischen Person, die in der Iph. erfolgt, bereitet sich offenbar schon in Eur. El. vor. 2 Vgl. oben 65 und unten 80.

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Euripides' „Elektra"

wegen ihres Verhaltens während der Kämpfe um Troia Vorwürfe erhoben. Es ist darum nicht verwunderlich, daß sowohl in der Argumentation als auch in den Formulierungen große Ähnlichkeit zwischen den beiden Redekämpfen besteht 1 . Die Angeklagte beruft sich in beiden Fällen zunächst auf ihr Recht, angehört zu werden, und geht dann sofort zum Angriff über, indem sie versucht, alle Schuld an ihren Taten der Gegenpartei zuzuschieben. Jedesmal aber werden der Schuldigen mit Leichtigkeit die Waffen aus der Hand geschlagen, denn die Anklägerin kennt das Leben ihrer Feindin aus nächster Nähe und kann darum nur zu leicht ihre Worte als Lügen erweisen 2 . In den „Troerinnen" fordert Hekabe Menelaos auf, Helena zur Warnung für alle Frauen zu töten (V. 1031-1032), und in der „Elektra" wird festgestellt, Klytaimestra habe sich nicht durch das παράδειγμα ihrer Schwester warnen lassen (V. 1083-1085). Solange noch keine Zweifel an der bisher herrschenden Auffassung über das Zeitverhältnis der beiden Stücke wachgeworden waren, konnte man den Vergleich der Schwestern in der „Elektra" für ein „Selbstzitat" aus den „Troerinnen" halten 3 . Heute zwingt uns nichts mehr zu dieser Annahme. Die Erwähnung Helenas in der „Elektra" wird durch den Mythos ebenso nahegelegt wie die Erscheinung der Dioskuren und bedarf genausowenig einer außerhalb des Mythos liegenden Erklärung wie diese. Auch sonst gibt es in den verglichenen Szenen nicht den geringsten Anhaltspunkt für die Priorität des Redestreits der „Troerinnen". Eher scheint das Umgekehrte der Fall zu sein. Zunächst fällt auf, daß in den „Troerinnen" das Redenpaar, besonders die Rede Helenas, sehr viel sorgfältiger gegliedert ist als die ziemlich kunstlosen Reden in der „Elektra". Sodann ist die Argumentation auf beiden Seiten sehr viel kühner als in der „Elektra". Helena, die von Griechen und Troern in gleicher Weise gehaßt wird 4 , hat eine hoffnungslose Sache zu vertreten. Aber sie erweist sich als Meisterin in der Kunst, τον ήττω λόγον κρείττω ποιεΐν. Doch Hekabe ist ihrer Gegnerin voll gewachsen. Sie weiß ihre Kenntnis der geheimsten Regungen Helenas vorzüglich als Waffe zu gebrauchen. Mit der Mythenkritik hat ihr der Dichter darüber hinaus ein Mittel in die Hand gegeben, mit dem sich in der doch ganz auf der Anerkennung des Mythos beruhenden Tragödie jede Behauptung widerlegen läßt. Der Sieg, den Hekabe mit den stärksten nur denkbaren Mitteln über eine so gefährliche Gegnerin erficht, ist so vollständig, wie es sich nur wünschen läßt. 1 Zum Redenpaar der Tro. vgl. Ludwig 51-52, Strohm, Eur. 34—36, zu dem der El. Strohm, Eur. 12-16. Zur Klytaimestrarede der El. siehe auch unten 87-88. 2 Vgl. Strohm, Eur. 145 Α. 1. » Vgl. Strohm, Eur. 15 u. A. 2, Pohlenz II, 132. « Vgl. oben 34 Α. 1.

Redekämpfe in „Elektra" und „Troerinnen"

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Aber so ähnlich sich die beiden Redekämpfe auch sein mögen, so verschieden ist ihre dramatische Funktion. In der „Elektra" folgt auf die Szene alsbald die Vernichtung der unterlegenen Partei. Der Redekampf ist die letzte Handlungsstufe vor dem entscheidenden Geschehnis und zugleich als „Vernichtung im Wort" die symbolische Vorwegnahme der anschließend hinterszenisch vollzogenen Ermordnung Klytaimestras 1 . Diese Tat verliert dann zwar im folgenden Ecce ihren positiven Sinn und wird aus einer gerechten Sühne zu einem schrecklichen Verbrechen, doch ändert dies nichts an der Bedeutung des Redekampfes als Vorstufe einer Tat, die, so sehr sie ihren Sinn auch wandeln mag, doch jedenfalls das Ziel der Handlung des Stückes ist und bleibt. In den „Troerinnen" dagegen wird dem durch Hekabes Beredsamkeit herbeigeführten Todesurteil über Helena niemals die Vollstreckung folgen. Der Redestreit dient zwar der poetischen Gerechtigkeit, dramatisch jedoch bleibt er wirkungslos. Menelaos wird niemals daran denken, sein Urteil zu vollstrecken, wie auch der Chor deutlich empfindet, der in seinem abschließenden Lied (V. 1100-1117) nicht mehr auf Menelaos, sondern nur noch auf den Blitzstrahl des Zeus hofft. Doch zwar wird das griechische Heer im Seesturm untergehen, aber Menelaos und Helena bleiben, wie jeder Zuschauer aus der Odyssee weiß, verschont und werden gemeinsam in Sparta ein glückliches Alter verbringen. Hekabes Sieg über Helena hat auch auf die eigentliche Handlung des Stückes - sofern man die Leiden des Priamidenhauses überhaupt als eine Handlung bezeichnen kann - nicht den geringsten Einfluß. Vor dem Helenaakt wird Astyanax zum Tode geführt, hinterher wird er beklagt und zu Grabe getragen. Inzwischen ist für einen Augenblick ein Lichtstrahl durch die Finsternis gedrungen, die sich über Troia gelegt hat. Dann wird es wieder dunkel und dunkler als zuvor. Die Betrachtung der beiden Redekämpfe hat gezeigt, daß nicht nur keine Ursache besteht, die „Elektra" für später aufgeführt zu halten als die „Troerinnen", sondern daß sich sogar einige Argumente finden lassen, welche die Priorität der „Elektra" wahrscheinlich machen. Im Redestreit der „Troerinnen" wird formvollendeter gesprochen und schärfer argumentiert als in der entsprechenden Szene der „Elektra". Während dort der Redestreit eine Vorstufe des hinterszenischen Geschehens und damit ein fester Teil der Handlung ist, hat der Helenaakt der „Troerinnen" seine Bedeutung gerade darin, daß er außerhalb des dramatischen Gefüges steht und zu dem eigentlichen Geschehen einen scharfen Kontrast bildet. Er ist darum auch ohne jede dramatische Wirkung. Alle diese Beobachtungen lassen eher auf die Priorität der „Elektra" als auf die der „Troerinnen" schließen. 1 Strohm (Eur. 16) bewertet die dramatische Funktion des Redestreits der El. zu gering. Zur symbolischen Vorwegnahme hinterszenischen Geschehens vgl. unten 146-149.

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Euripides' „Elektra"

§ 4. Das Zeitverhältnis der „Elektro," zum „Herakles" Mögen die Gründe, die für die Priorität vor den „Troerinnen" sprachen, nicht sehr gewichtig gewesen sein, so geraten wir sofort auf festen Boden, wenn wir das Verhältnis zum „Herakles" prüfen. Denn zwischen „Elektra" und „Herakles" findet sich ohne Frage jene „similarity of style and atmosphere", die Zuntz mit Recht zwischen „Elekt r a " einerseits und „Iphigenie" und „Helena" andrerseits vermißte 1 . Hier wie dort greifen die Götter mitleidlos und willkürlich in das menschliche Leben ein und zwingen den Menschen zu Taten, durch die er sich selbst das größte Leid zufügt. Auch im Aufbau, im Verlauf der Handlung und in der Abfolge der Stimmungen ähneln sich die beiden Dramen sehr stark. Da diese Übereinstimmungen von der Forschung bisher noch nicht bemerkt worden sind, lohnt es sich, sie im einzelnen aufzuzeigen. Dann werden sich um so deutlicher die Unterschiede herausheben, auf Grund derer sich, wie wir meinen, das Problem der relativen Chronologie der beiden Dramen lösen läßt. a) Die Gliederung der beiden Dramen Eine Gliederung der beiden Tragödien nach den aristotelischen μέρη τραγωδίας soll auch hier am Anfang der Untersuchung stehen 2 . Elektro. Prologos : Komm. Parodos: 1. Epeieodion: 1. Stasimon: 2. Epeieodion: 2. Stasimon: 3. Epeieodion: 3. Stasimon: Exodos :

1- 111 112- 214 215- 431 432- 486 487- 698 699- 746 747- 1146 1147- 1171 1172- 1359

Herakles Prologos : 1 - 106 107- 137 Parodos : 138- 347 1. Epeisodion: 1. Stasimon: 3 4 8 - 441 2. Epeisodion: 4 4 2 - 636 2. Stasimon: 6 3 7 - 700 3. Epeisodion: 7 0 1 - 762 3. Stasimon: 7 6 3 - 814 4. Epeisodion: 815-1015 Astr. Chorpartie: 1016-1038 (anstelle eines Stasimon) Exodos: 1039-1428

Auf den ersten Blick läßt sich erkennen, daß der „Herakles" zwei μέρη mehr aufweist als die „Elektra". Das Wissen darum ist allerdings von geringem Wert, solange ungeklärt bleibt, welche Funktion den Teilen zukommt, um die der „Herakles" größer ist als die „Elektra". Will man mit Solmsen die „Elektra" vor allem als ein Drama betrachten, dessen Handlung durch die Verbindung von άναγνώρισις und μηχάνημα gekennzeichnet ist 3 , so wird man eine Gliederung nach 1

Zuntz, Pol. Plays 69. Über den Wert einer solchen Gliederung für das Verständnis der Stücke vgl. oben 16. 3 Solmsen, Ion 391-400, vgl. ferner Zürcher 108-148. 2

Verhältnis zum „Herakles" - Gesamtaufbau

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Handlungsabschnitten vornehmen, deren Grenzen durch die Hauptereignisse des Dramas bezeichnet werden. Diese Ereignisse sind die Erkennung des Orestes durch Elektra und der Muttermord, während das dritte Geschehnis, die Ermordung des Aigisthos, daneben von geringerer Bedeutung ist. Damit ergäbe sich für die „Elektra" ein dreigliedriger Aufbau. Der erste Abschnitt (V. 1-595) dient der Exposition der Eingangssituation und der Durchführung der Erkennungshandlung 1 . Sofort nach der Erkennimg wenden sich die Gedanken der Geschwister entschlossen den beiden Rachetaten zu. Der zweite Abschnitt (V. 596-1171) ist der Erfindung und dem Vollzug des Racheplans gewidmet. Er hat mit dem Tode Klytaimestras sein Ziel erreicht. Es folgt ein dritter Abschnitt (V. 1172-1359), welcher der Reaktion der Beteiligten und Betroffenen auf die Tat gewidmet ist. Dieser dreifachen Gliederung der Handlung entspricht auch eine dreifache Abfolge der Stimmungen. Der erste Abschnitt zeigt Elektra im Leid und von Orestes getrennt. Der zweite beginnt in dem Augenblick, als ihr Leid durch die Vereinigung mit Orestes ein Ende gefunden hat. Jetzt erlebt sie eine Kette von Triumphen über ihre bisher übermächtigen Feinde. Im dritten Abschnitt schließlich trifft beide Geschwister gemeinsam ein neues Leid, das noch schwerer ist als das vorherige und eine weitere Steigerung dadurch erfährt, daß die eben erst Vereinten wieder auseinandergerissen werden. Allerdings kann man sowohl am Ende des ersten als auch am Ende des zweiten Abschnitts nur bei Elektra von einem völligen Umschlagen der Stimmimg aus dem Leid zur Freude und aus der Freude zum Leid sprechen. Denn Orestes bleibt im ersten und zweiten Abschnitt vom Leid und auch von der Freude seiner Schwester fast völlig unberührt, während sich die zweite Peripetie bei ihm schon vorher durch das Schwanken vor der Tat bemerkbar macht. Besser als diese dreiteilige empfiehlt sich für unseren Zweck jedoch eine vierteilige Gliederung. Hierbei umfaßt der erste Abschnitt den Eingang im Sinne Nestles, also den Teil des Dramas, in dem die beiden Partner der bevorstehenden Erkennung noch getrennt agieren (V. 1214). Der zweite enthält das erste und zweite Epeisodion (V. 215—431 und 487-698), also die Erkennungshandlung und die Planung der beiden Rachetaten2, die im dritten Abschnitt, der dem dritten Epeiso1

Zur Erkennungshandlung vgl. unten 119-125. Das erste Epeisodion ist doppeldeutig. Während der Dialog V. 216-299 als Szene vor der Erkennung mit dem Folgenden eng verbunden ist, dient die Rede Elektras V. 300-338 ebenso wie der Eingang dazu, ihr Leid vor Beginn der Handlung darzustellen. Auch die Szene mit dem Landmann V. 339-431 ist mehr zustandsechildernd als handlungsfördernd, ist also ebenfalls mehr dem Eingangsabschnitt als dem Folgenden zugehörig. Vgl. oben 20-22 und unten 120-121. 2

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Euripides' „Elektra"

dion entspricht (V. 747-1146), ausgeführt werden. Im vierten Abschnitt schließlich (V. 1172-1359) stellt der Dichter im Ecce das Ergebnis der Tat vor Augen, veranschaulicht die Reaktion der Beteiligten auf sie und gibt einen Ausblick in die Zukunft. Auch die Chorlieder müssen in diese Gliederung einbezogen werden1. Da wir die kommatische Parodos (V. 112-214) bereits dem Eingang zugeteilt hatten, bleibt nur noch über die Stasima zu entscheiden. Das erste Stasimon (V. 432—486), das sich inhaltlich weit von der Handlung des Dramas entfernt, zu der am Ende nur sehr künstlich eine Beziehung geschaffen wird, gliedert den zweiten Abschnitt und markiert zugleich die Zeit, die zwischen der Aussendung des Bauern und der Ankunft des Alten verstreichen muß. Im zweiten Stasimon (V. 699-746), das vom goldenen Lamm und der Umkehr der Sonne handelt, erinnert der Dichter an die mit dem Raub des Lammes beginnende Kette der wechselseitigen Rachetaten zwischen den Häusern des Atreus und Thyestes. Die letzte dieser Taten aber wird sich alsbald vollziehen, denn Orestes ist aufgebrochen, um die Ermordung seines Vaters an Aigisthos zu rächen. Das zweite Stasimon eröffnet also den dritten Abschnitt des Dramas, der den beiden Rachetaten gewidmet ist. Beschlossen wird dieser Abschnitt vom dritten Stasimon (V. 1147-1171), dessen Strophen den Tod Agameninons besingen, wobei hier alle Schuld auf Klytaimestra gehäuft wird. Die Ermordung der Königin, die der Chor mit seinem Lied als Sühne für den Gattenmord deutet, geschieht während der Epode hinter der Szene2. Die „Elektra" besteht demnach aus vier Abschnitten, von denen der erste V. 1-214, der zweite V. 215-698, der dritte V. 699-1171 und der vierte V. 1172-1359 umfaßt 3 . Nach Parallelen für eine solche viergliedrige Komposition brauchen wir nicht weit zu suchen. Bei Aischylos ist Viergliedrigkeit die Regel, von der auch die „Choephoren" keine Ausnahme machen. Auch dort reicht der erste Abschnitt (V. 1-211) bis zu dem Augenblick, in dem sich die Geschwister gegenübertreten. Der zweite, dessen Kernstück der große Kommos bildet, ist der Erkennung und den Vorbereitungen für die beiden Rachetaten gewidmet (V. 212-584), im dritten wird ihr Vollzug dargestellt (V. 585-972) und Vgl. oben 18. Zu dieser Partie vgl. unten 161-163. 3 Ludwig (126-130) gliedert die El. in fünf Abschnitte: V. 1-212, 213-431, 432-746, 747-1232, 1233-1359. Doch fragt man sich, warum z.B. mit V. 1233 ein neuer Abschnitt beginnen soll. Auch die Parallelen, die Ludwig im Aufbau von El., Ion und Phoen. bemerken will, können wir nicht erkennen. Zwar lassen sich gewisse formale Übereinstimmungen nicht leugnen, doch handelt es sich dabei nur um Ähnlichkeiten, wie sie mehr oder weniger ausgeprägt zwischen fast allen Tragödien des Eur. bestehen. Außerdem ist in den drei Dramen die Handlungsführung völlig verschieden. 1 2

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im vierten das Ergebnis der Tat und ihre Wirkung auf den Täter vor Augen geführt (V. 973-1076)1. Offenbar hat Euripides in seiner „Elektra" also zusammen mit dem Orestesstoff auch die vierteilige Dramenstruktur von Aischylos übernommen. Eine ähnliche Gliederung wie in der „Elektra" läßt sich auch im „Herakles" beobachten, doch stehen den vier Abschnitten der „Elektra" im „Herakles" fünf Abschnitte gegenüber. Das Drama beginnt mit dem bei Euripides so häufigen Bild, daß sich eine Schar von Bedrängten in den Schutz eines Altars geflüchtet hat. Der erste Abschnitt endet dort, wo sich die Bedrängten in ihr Schicksal ergeben und freiwillig ihr Asyl verlassen. Er umfaßt den Eingang und das erste Epeisodion (V. 1-347). Der zweite Abschnitt, der mit dem zweiten Epeisodion zusammenfällt (V. 442-636), zeigt die höchste Todesnot der Bedrängten, ihre Rettung durch die Ankunft des Herakles und die Vorbereitungen für den Anschlag auf das Leben des Gegners. Das erste und zweite Stasimon (V. 348-441 und 637-700) sind mit ihren Preisliedern auf Herakles ganz auf den Ton des von ihnen umschlossenen Epeisodions gestimmt und sind als Rahmen ebenfalls dem zweiten Abschnitt zuzurechnen, der also V. 348-700 umfaßt. Im dritten Abschnitt (V. 701-814) werden Überlistung und Vernichtung des Gegners dargestellt. Der Abschnitt umfaßt das dritte Epeisodion (V. 701-762) und auch das dritte Stasimon (V. 763-814), das den Sieg des Herakles als Bestätigung des gerechten Waltens der Götter preist. Zum vierten Abschnitt (V. 815-1027) gehören das vierte Epeisodion (V. 815-1015) und ein Teil des kurzen Chorliedes, das den Platz des vierten Stasimon einnimmt (V. 1016-1027). Hier greifen die Götter unmittelbar ins irdische Geschehen ein, freilich in einer Weise, die dem Preis ihrer Gerechtigkeit, der eben erst erklungen war, schroff widerspricht. Sie lassen Herakles im Wahnsinn seine Gemahlin und seine Kinder töten, als deren Retter er sich noch eben bewährt hatte. Der fünfte Abschnitt (V. 1028-1428), der die Exodos (V. 1039-1428) und zuvor noch den Schluß des kurzen Chorliedes (V. 1028-1038) umfaßt, führt im Ecce das Ergebnis der Tat vor Augen und läßt miterleben, wie Herakles reagiert, als er erfährt, was er getan hat, und wie er das Leid bemeistert, in das ihn der Zorn der Götter und seine eigene Hand gestürzt haben. Hält man die beiden Dramen nebeneinander und vergleicht ihren Aufbau, so erkennt man leicht die großen Ähnlichkeiten und auch die starken Abweichungen. In den ersten drei Abschnitten verläuft die Handlung weitgehend parallel. Eingangs entfaltet sich breit das Leid der vergeblich Wartenden, die aller Macht und alles äußeren Glanzes beraubt umsonst nach ihrem Retter Ausschau halten. Im zweiten Abschnitt schlägt das tiefste Leid jäh in das höchste Glück um, als endlich der Retter erscheint. 1

Vgl. Jens, Strukturgesetze 252.

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Euripides' „Elektra"

Eine Rachetat wird geplant und im dritten Abschnitt ins Werk gesetzt. Die eben noch Schwachen wissen ihre neugewonne Stärke geschickt zu verbergen und locken so ihren Gegner in die Falle, wo er seine verdiente Strafe erleidet. Vom Augenblick dieser Rachetat an weichen die beiden Dramen sehr stark voneinander ab. In beiden Fällen ändert sich die Bewertung der Tat schon in der folgenden Szene. Doch bestehen erhebliche Unterschiede in der Weise, wie diese Änderung der Bewertung herbeigeführt wird. b) Die Dramenschlüsse In der „Elektra" folgt auf die hinterszenische Handlung ein Ecce, in dem durch den Mund der Geschwister das Geschehene noch einmal vergegenwärtigt wird1. Dabei erhält jetzt plötzlich die Tat gleichsam ein anderes Vorzeichen. Aus einer gerechten Rache wird sie nun zu einem unermeßlichen Unglück. Das Gefühl der Befriedigung über die Tat, das die Geschwister nach der Ermordung des Aigisthos erfüllte, verkehrt sich nach dem Mord an Klytaimestra in das Bewußtsein einer gräßlichen Befleckung. Aus einem Sieg, der ebenso Jubel und Feier verdiente wie die Rache an Aigisthos, wird die Tat jetzt zu einem unheilvollen Verhängnis, das niemals hätte geschehen dürfen. Denn im Vollzug einer gerechten Rache haben hier die Kinder die eigene Mutter getötet. Die Vereinigung mit Orestes hatte nach der Erkennung das Leid Elektras beendet, jetzt erwachsen beiden Geschwistern neue Leiden aus dem Muttermord. Das Ecce, die erste Szene des Schlußabschnitts, dient der Vergegenwärtigung des Geschehenen und der Darstellung der neuen leidvollen Situation, und auch die abschließende Götterszene bringt keine Milderung des Leides wie etwa die homologe Thetisszene der „Andromache" (V. 1226-1288). Denn die Dioskuren, die ja die Brüder der toten Klytaimestra sind, vertiefen durch ihre Worte nur noch den Schmerz über das Geschehene. Auch der Ausblick in die Zukunft gibt keinen Trost. Die Möglichkeiten, die im Mythos dazu bereitliegen, bleiben vom Dichter ungenutzt. Weder läßt er Elektra Trost in dem Gedanken an eine Vermählung mit Pylades empfinden noch Orestes in der verheißenen Herrschaft über Oresteion. Vielmehr lenkt er alle Aufmerksamkeit auf das, was in der Botschaft der Dioskuren leidvoll ist: daß Orestes aus Argos verbannt wird und Elektra sich von ihrem Bruder trennen muß, mit dem sie eben erst zusammengeführt worden war. Das Stück endet, so wie es begann, im tiefsten Leid. Das Ergebnis der Erkennungshandlung ist zunichtegemacht, da der Befehl der Götter die Geschwister wieder auseinanderführt. Die Taten gegen Aigisthos und Klytaimestra können zwar nicht 1

Zum Folgenden vgl. unten 161-163.

Verhältnis zum „Herakles" - Dramenschi usee

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ungeschehen gemacht werden, doch wird die Ermordung des Aigisthos über dem neuen Leid völlig vergessen, und die Klytaimestras hat ihren Sinn verkehrt und ist aus einer gerechten Rache zur Quelle neuen Leides geworden. Im „Herakles" wird die Rachetat, die sich im dritten Abschnitt vollzogen hatte, nicht umgewertet wie in der „Elektra". Daß Herakles Lykos getötet und dadurch seine Familie gerettet hat, bleibt eine Ruhmestat, die ihm niemand bestreiten kann. Aber durch eine göttliche Einwirkung, die völlig unerwartet und durch nichts im vorherigen Verlauf des Dramas vorbereitet erfolgt1, wird Herakles dazu gebracht, seiner Familie den Untergang zu bereiten, vor dem er sie noch eben bewahrt hatte. Seine erste rettende Tat wird dadurch sinnlos. Sie gerät in Vergessenheit, ehe sie noch recht gefeiert worden ist. Der Zuschauer erkennt plötzlich, daß das, was er für die Peripetie des Stückes hielt, nämlich die Rettimg Megaras und der Herakliden, noch gar nicht die eigentliche Peripetie war. Das Geschehen der drei ersten Abschnitte ist nur ein Mittel im Dienst der Psychagogie des Dichters2. Herakles, soeben noch als Retter in der Not ersehnt und freudig begrüßt, wird jetzt zum blutbefleckten Mörder derer, die er noch kurz zuvor vor ihrem schlimmsten Feind bewahrt hatte. Die neue, furchtbare Tat wird zunächst durch den Dialog zwischen Iris und Lyssa vorbereitet (V. 822874), dann durch hinterszenische Rufe und die Reaktion des Chores auf sie vergegenwärtigt (V. 875-908) und in einer Botenszene in ihren Einzelheiten beschrieben (V. 909-1015). In einem Ecce wird schließlich dargestellt, wie der Täter sich seiner Tat bewußt wird und auf sie reagiert (V. 1028-1152). Vergleicht pian den Schluß des „Herakles" mit dem der „Elektra", erkennt man sofort, daß hier nicht wie in der „Elektra" auf die eine hinterszenisch vollzogene Tat das Ecce folgt, in dem sich zeigt, daß die Tat ihre Bedeutung geändert hat und plötzlich aus einer gerechten Rache zu einem gräßlichen Verwandtenmord geworden ist. Hier ist vielmehr die eine, doppeldeutige Tat der „Elektra" gleichsam in zwei Taten zerlegt, von denen die zweite das Ergebnis der ersten zunichte1

Der Irrtum Wilamowitz' (Her. I, 127-129), der eine solche Vorbereitung in der Maßlosigkeit des Helden bei seinem Zorn gegen Lykos zu finden glaubte, ist aus dem Bemühen zu verstehen, die Einheit des Stückes um jeden Preis zu retten. Doch dem Dichter geht es gerade nicht um die Einheit. Vielmehr will er den Bruch, der durch das Eingreifen der Götter bewirkt wird, so fühlbar wie möglich machen. 2 Zürcher, 90 : „Die Geschichte von der Bedrohung . . . und . . . Befreiung . . . scheint nur dazu erfunden und dargestellt worden zu sein, damit Herakles als der άλεξίκακος καλλίνικος in seiner ganzen strahlenden Größe lebendig eindrucksvoll erscheine, wodurch erreicht wird, daß man den nachfolgenden Sturz und die neue unwürdige, grauenhafte Situation des Helden um so stärker empfindet". Zürchers wichtige Ausführungen über den Her. (90-97) sind immer heranzuziehen.

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Euripides' „Elektra"

macht. Das dramatische Schwergewicht liegt dabei naturgemäß auf der zweiten Tat. Diese Veränderung der Struktur des Dramenschlusses hat zur Folge, daß im „Herakles" die zweite Peripetie für den Zuschauer sehr viel deutlicher spürbar wird als in der „Elektra", wo der Eindruck der Niederlage Klytaimestras im Redestreit zu stark ist, als daß es dem Zuschauer gelänge, sich auf die vorbereitende Szene V. 962-987 zu besinnen und die Ermordung der Königin als eine Wendung vom Glück zum Leid zu verstehen. Auch der Wechsel der Stimmungen erfolgt im „Herakles" sehr viel schroffer als in der „Elektra", wo weder die Erkennungsszene einen völligen Wandel der Stimmung Folge hatte noch die Ermordung Klytaimestras einen scharfen Einschnitt bewirkte. Denn im „Herakles" geschehen sowohl die Rettung der Bedrängten durch die Ankunft des Herakles als auch der Eingriff der Götter plötzlich und unerwartet und bewirken jeweils einen jähen Umschwung der Stimmung. Doch nicht genug damit. Während in der „Elektra" auf das Ecce nur noch die abschließende Dioskurenszene folgt, die nichts wesentlich Neues bringt, bleibt der Dichter im „Herakles" nicht auf der Stufe des Ecce der „Elektra" stehen, sondern sucht in der Theseusszene (V. 11531428) für das Problem, das in der „Elektra" ungelöst bleibt, eine Lösung zu finden, das Problem nämlich, wie das aus Schuld und Befleckung erwachsende Leid gemeistert werden kann. Euripides sucht jetzt zu zeigen, daß auch im tiefsten Unglück der Zuspruch eines Freundes zwar nicht das Leid aufheben kann, aber doch Trost und Kraft zum Tragen des Unvermeidlichen zu spenden vermag. Der „Herakles" bedeutet also anscheinend nicht nur formal, sondern auch in der inneren Entwicklung des Dichters einen Schritt über die „Elektra" hinaus 1 . Dort war die im „Herakles" gefundene Lösung offenbar noch nicht in den Gesichtskreis des Dichters gelangt. Denn Orestes wird dort nach der Tat von Elektra und Pylades getrennt. Pylades, der einzig mögliche Freund für Orestes, ist in der „Elektra" überhaupt noch nicht zur dramatischen Gestalt geworden, sondern noch stumme Person, die erst einige Jahre später in der „Iphigenie" ein Eigenleben gewinnt. Alle unsere Beobachtungen sprechen dafür, daß die „Elektra" vor dem „Herakles" entstanden und wohl auch aufgeführt worden ist. Da wir keinen Grund haben, an der allgemein üblichen Einordnung des „Herakles" vor den „Troerinnen", also vor 415, zu zweifeln2, kommen wir zu einer Datierung der „Elektra" vor 416. Vgl. unten 185-186. Vgl. Wilamowitz, Her. II, 134. - Eine gleichzeitige Aufführung von El. und Her. ist unwahrscheinlich, weil Eur. es dann vermieden hätte, die Ähnlichkeit der Partien El. 1139-1171 und Her. 726-756 bis in den Wortlaut hinein spürbar werden zu lassen. Zu diesen Partien vgl. unten 161-162. 1

2

„Herakles" - Die beiden „Elektron"

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§ 5. Das Zeitverhältnis der euripideischen zur sophokleischen „Elektro," Seit dem Jahre 1883, in dem Wilamowitz die Priorität der „Elektra" des Euripides vor der des Sophokles zu erweisen suchte1, haben sich viele Gelehrte bemüht, die umgekehrte Reihenfolge durch eine Fülle von Argumenten sehr unterschiedlichen Wertes wahrscheinlich zu machen2. Doch ist bisweilen auch wieder so energisch die gegenteilige Meinung vertreten worden3, daß viele auch heute noch die Frage für unentschieden halten und auf eine eigene Meinungsäußerung verzichten4. Dieser Verzicht ist um so verständlicher, als die Beantwortung der Frage nach dem Zeitverhältnis in diesem Falle wenig zu einem besseren Verständnis der beiden Stücke beiträgt. Man hat mit Recht „die Unabhängigkeit" betont, ,,in der Sophokles und Euripides aus der Verschiedenheit ihrer Weltsicht und künstlerischen Art den gleichen Stoff geformt haben" 5 . Damit ist aber zugleich gesagt, daß man weder das Stück des Sophokles als Polemik gegen die euripideische Darstellung Elektraa als einer „Teufelin" auffassen kann noch umgekehrt das des Euripides als Polemik gegen die läßliche Auffassung des Muttermordes bei Sophokles8. Jeder Versuch, durch Erwägungen dieser Art die Priorität des einen oder des anderen Stückes zu erweisen, ist zum Scheitern verurteilt. Wir bleiben also allein auf formale Beobachtungen angewiesen. a) Allgemeine Überlegungen Ein erster Anhaltspunkt für die Datierung läßt sich durch einen Vergleich des Gesamtaufbaus der drei Bearbeitungen des Orestesstoffes 1 Wilamowitz, Elektron 221-224. * Ribbeck, Vahlen, Kaibel 55-60, Steiger, El. 561-600, Macurdy 111-115, T.v. Wilamowitz 228-264, Denniston X X X I V - X X X I X , Friedrich 76-78, Whitman 51-54. - Ν eich Steigere Aufsatz hat sich auch U.v. Wilamowitz dieser These angeschlossen (Hermes 34, 1899, 57 A. 2). 3 Bruhn, Soph. El. 20-26, Webster 5-6, 181, Pohlenz Π, 127-128. * Zürcher 143 A. 47, Lesky, Trag. Dicht. 124 u. A. 2, Joerden 241 Α. 1. 5 Lesky, a.a.O. Auch Strohm (Eur., 80 u. A. 2) hebt die Eigenständigkeit des euripideischen Stückes hervor. * Dies sind die Grundthesen der Aufsätze von Wilamowitz und Steiger. Weder die psychologisierende Deutung des euripideischen Dramas, wie sie Wilamowitz vornimmt, wird dem Stück gerecht noch die Annahme, daß Eur. gegen irgendeine künstlerische Ausformung des Oreetesmythos polemisiert, wie Steiger und Pohlenz meinen. Soph. El. mag freilich Eur. wieder auf das Problem des Muttermordes aufmerksam gemacht haben, d u ihn früher schon einmal bewegt hatte, vgl. Andr. 1031-1036. Doch richtet sich seine Kritik nicht gegen die sophokleische Behandlung des Stoffes. Sie ist viel radikaler und richtet sich weder gegen eine bestimmte Dichtung noch gegen einen bestimmten Mythos, nicht einmal gegen einen bestimmten Gott, etwa Apollon, sondern gegen eine Welt, in der solche Taten wie die des Orestes geschehen müssen. Richtig hierzu Zürcher 136-139. Vgl. auch unten 114 A. 2.

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gewinnen. In den „Choephoren" ist Orestes der eigentliche Träger der Handlung und die Hauptgestalt der Tragödie. Bei Sophokles dagegen steht die leidende Elektra im Mittelpunkt, doch der eigentlich Handelnde ist auch hier Orestes. Euripides schließlich scheint konsequent weitergeführt zu haben, was Sophokles begonnen hatte. Auch bei ihm überragt die leidende Elektra alle anderen Gestalten des Stückes an Bedeutung, sie ist aber anders als bei Sophokles auch gleichberechtigt handelnde Person. Sie ist es, die den listigen Anschlag gegen Klytaimestra ersinnt und ausführt und die schließlich sogar selbst Hand an ihre Mutter legt1. Zu einem ähnlichen Ergebnis wie dieser Vergleich der Gewichtsverteilung zwischen den Personen der drei Dramen führt auch ein Vergleich der Handlungselemente. In den „Choephoren" steht die Erkennungshandlung nur am Rande, während die Rachehandlung das eigentliche Geschehen des Dramas ist. Sophokles stellt die Erkennungshandlung in den Mittelpunkt, die Rachehandlung dagegen verliert an Gewicht. Euripides „sucht dem Hauptanliegen des einen wie dem Hauptanliegen des anderen gerecht zu werden, sie beide miteinander ins größtmögliche Gleichgewicht zu bringen" 2 . b) Die Veränderung des traditionellen Ortes der Handlung Eine wichtige, auf den ersten Blick erkennbare Veränderung, die Euripides an der in den „Choephoren" vorliegenden Form des Mythos vorgenommen hat, besteht darin, daß er das Stück nicht in der Stadt vor dem Königspalast, sondern auf dem Lande vor der ärmlichen Hütte eines kleinen Bauern spielen läßt. Dadurch beseitigt er die Unwahrscheinlichkeit, daß Aigisthos und Klytaimestra inmitten ihrer δορυφόροι von wenigen, dazu ortsunkundigen Menschen getötet werden können3. Zudem wird die sittliche Anstößigkeit der Tat dem Zuschauer stärker bewußt werden, wenn ihr Schauplatz aus der heroischen Sphäre in die Welt des Alltags verlegt wird. Diese Verpflanzung der Handlung hat eine Reihe von Konsequenzen, bei deren näherer Betrachtung sich zeigt, daß jeweils nicht die bei Aischylos vorliegende Handlung, sondern die sophokleische abgewandelt wird. Das Motiv der unebenbürtigen Vermählung Elektras findet sich bei Kaibel 55. * Friedrich 76-78, ähnlich Wuhrmann 83. - Auch Diller (99) bewegt sich in ähnlichen Gedankengängen, die ihn freilich zu anderen Schlußfolgerungen führen: „Wenn die Cho. (mit den Eum.) ein Orestes-Drama sind, so ist die euripideische El. ein Drama der beiden Geschwister. Das eigentliche Elektra-Drama hat erst Soph, geschaffen." s Vgl. H. Diller, Menschendarstellung und Handlungsführung bei Soph., A & A 6, 1957, 166 u. A. 16. 1

Die beiden „Elektron"

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Aischylos nicht, wohl aber ist es bei Sophokles keimhaft angelegt. Dort mahnt Elektra ihre Schwester, sie werde, solange Aigisthos lebe, niemals vermählt werden (V. 961-966), sondern erst die Befreiung vom Tyrannen werde ihr γάμοι επάξιοι verschaffen (V. 970-972). Euripides verwirklicht, was Sophokles nur andeutete. Elektra wird zwar vermählt, aber es sind keine γάμοι έπάξιοι, sondern γάμοι δυστυχείς (V. 49). Bei Sophokles vergleicht Elektra ihr Los dem einer Sklavin (V. 189192). Euripides stellt szenisch dar, wie sie wirklich Sklavenarbeit leistet (V. 54—81). Bei Sophokles meint, als hinterszenische Klagerufe ertönen, der Pädagoge, es sei eine Dienerin, die dort klage (V. 78-79). Bei Euripides wiederholt sich der gleiche Irrtum in sehr viel drastischerer Form. Als ein wassertragendes Mädchen erscheint, vermutet Orestes, daß es eine Dienerin sei (V. 107-109). In Wahrheit ist es Elektra, die die Sklavenarbeit des Waesertragens auf sich nimmt. Offenbar hat hier Euripides das Motiv, das er bei Sophokles fand, gleichsam ins Optische übersetzt und ihm dadurch größere Eindringlichkeit gegeben1. Der Chor besteht bei Aischylos aus kriegsgefangenen Frauen, aus Troerinnen, wie man vermuten darf, bei Sophokles wie gewöhnlich in der Tragödie aus Adligen - diesmal aus adligen Frauen - der Stadt, in der das Stück spielt (V. 129). Euripides muß, weil er die Handlung aus der Stadt, ihrem üblichen Ort, verlegt hat, auch beim Chor vom Üblichen abweichen. So läßt er den Chor aus Bauerntöchtern bestehen, Nachbarinnen Elektras, die auf dem Wege zum Heraheiligtum sind (V. 169174). Doch harmoniert der ländliche Charakter des Chores nicht gut mit seiner Funktion als Sprecher der Bürgerschaft von Argos, die er verschiedentlich ausübt (V. 585-589, 876-878, 1148-1149). Daß die adligen Frauen bei Sophokles so sprachen (V. 1413-1414), war nicht verwunderlich. Wenn aber Euripides die Landmädchen ebenso sprechen läßt, hat er offenbar den Charakter seines Chores zwar in der Parodos der ländlichen Szenerie angepaßt, ihm aber sonst die Funktion belassen, die er bei Sophokles hatte, ist also deutlich von Sophokles abhängig. Auch die Sklavinnen aus der troischen Beute, die bei Aischylos den Chor bilden, verwendet Euripides übrigens, freilich nur als stumme Begleiterinnen Klytaimestras (V. 998-1003) 2 . Bei Euripides ist der alte Mann, der Orestes einst in Sicherheit gebracht hat (V. 285-287), in der Erkennungsszene ein unentbehrlicher Vermittler. Da er einmal eingeführt ist, wird seine Anwesenheit auch in der folgenden Planszene ausgenutzt, doch dann wird er bald mit einem Auftrag im Dienst des Racheplans entfernt (V. 651-670). Von diesem Alten heißt es, er sei einst der Pädagoge Agamemnons gewesen, doch dann durch Aigisthos vertrieben worden und hüte Schafe an der Grenze des Landes (V. 409-412). Auch Sophokles hat, seinerseits wohl durch 1 6*

Kaibel 57-58.

s

Kaibel S&-57.

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Euripides' „Elektra' 1

den „Kresphontes" des Euripides angeregt1, den alten Pädagogen als Helfer bei der Ausführung des Racheplanes und als Mahner zur Tat verwandt. Auch bei ihm ist es dieser Alte gewesen, der Orestes einst vor dem Zorn des Aigisthos nach Phokis gerettet hat (V. 1348-1363). Danach ist er in Phokis gebheben und kehrt jetzt zusammen mit Orestes nach Argos zurück. Euripides übernimmt von Sophokles die dramatische Figur, die er ebenso wie dieser als Pädagogen und einstigen Retter des Orestes einführt. Freilich muß auch dieser alte Pädagoge eine Versetzung ins Ländliche über sich ergehen lassen und wird auf seine alten Tage zum Hirten. Dabei geht allerdings das Ethos des prächtigen sophokleischen ίππος εύγενής ... γέρων (V. 25) verloren und macht jener ländlichen Biotik Platz, die wir in diesem Drama auch an anderen Stellen finden2. Wenn Euripides den Alten zum Hirten macht, folgt er wohl dem Vorbild des „Oidipus Tyrannos". Hier und auch im euripideischen „Kresphontes" findet sich schon die Rolle des Alten als Vermittler der Erkennung vorgebildet. Die sophokleische Elektra leidet, wie sie zum Chor sagt (V. 254-309), daran am stärksten, daß sie mit den Mördern ihres Vaters in einem Hause leben, ihre Freveltaten mit ansehen und ihre Schmähungen anhören muß3. Bei Euripides sieht Elektra, da sie auf dem Lande fern von Argos lebt, nichts von alledem, und doch schildert sie den Prunk Klytaimestras und die Freveltaten und Schmähreden des Aigisthos, als ob sie selbst alles miterlebt hätte (V. 314-331), obwohl sie nur von Hörensagen davon weiß (V. 327). Schon dies ist ein Zeichen dafür, daß Euripides sophokleische Motive übernimmt und in die andersartige dramatische Situation überträgt. In vielem ist die Tendenz, Sophokles zu überbieten, an der krasseren Schilderung spürbar. Vor aliem kommt der Gedanke hinzu, daß Agamemnon der Eroberer Troias war. Klytaimestra besitzt jetzt die Schätze und Sklavinnen aus der troischen Beute, und der unwürdige Aigisthos führt das berühmte Szepter des Völkerfürsten. Auch das Motiv der Grabschändung ist neu hinzugekommen. Doch nicht genug damit, daß der Dichter Klytaimestra inmitten ihres Prunkes beschreiben läßt, er stellt auch noch das beschriebene Bild am Ende des Dramas szenisch dar (V. 988)4. In den „Choephoren" stirbt Aigisthos vor Klytaimestra. Dies ist die Reihenfolge, die in der Natur der Sache begründet ist. Denn erst wenn Vgl. T.v. Wilamowitz 254-255, ferner unten 113-114. Beim Alten V. 487-502, bei Elektra etwa V. 64-81, 304-313, 404-431. Vgl. auch Friedländer 94-96. 8 Daß ihr Leid vor allem darin besteht, daß sie dies alles mit ansehen muß, betont sie immer wieder: δρώσα (V. 258, 282), όρώ (260), ΐ8ω (267, 271), είσίδω (268). 4 Vahlen 358-359, Kaibel 58-59, zu beiden Reden sehr gut Wuhrmann 63-64. 1

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Bedeutung des Or tee der Handlung

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ihr Beschützer getötet ist, hat Orestes freie Hand gegen seine Mutter1. Sophokles läßt umgekehrt Klytaimestra vor Aigisthos sterben. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, die Tragödie vom bloß Faktischen zu entlasten, indem er sie vor dem Tod des Aigisthos enden läßt. Jetzt muß er aber begründen, wie Orestes es wagen kann, Klytaimestra zu töten, solange ihr Beschützer noch lebt. Er erreicht dies dadurch, daß er Aigisthos sich vor der Ankunft des Orestes auf ein Landgut entfernen (άγροισι V. 313) und erst nach der Ermordung Klytaimestras zurückkehren läßt. Euripides, der anders als Sophokles der Problematik des Muttermordes nicht ausweichen will, stellt die ursprüngliche Reihenfolge der Handllingen wieder her. Aber da er den Ort des Geschehens aufs Land verlegt, ergibt sich die Schwierigkeit, daß er auch Aigisthos und Klytaimestra aufs Land hinausführen muß. Bei der Königin läßt sich aus Elektras Vermählung mit dem Bauern leicht ein Vorwand ableiten, durch den ein Besuch bei der Tochter begründet werden kann. Bei Aigisthos aber greift Euripides auf ein sophokleisches Motiv zurück. Bei einem Besuch auf seinem Landgut (¿γρών V. 623) läßt er ihn der Rache des Orestes erliegen. In den „Choephoren" stirbt Klytaimestra im Palast an der Stelle, an der kurz zuvor bereits Aigisthos getötet worden ist. Es ist dieselbe Stelle, an der einst auch schon Agamemnon und Kassandra ihr Leben lassen mußten. Die Gleichheit des Ortes wird symbolisch für die Gleichheit des Geschehens: Mord wird mit Mord gesühnt, und neue Blutschuld entsteht, wenn alte Blutschuld getilgt wird. Der Fluch, der auf dem Hause der Pelopiden lastet, wird jetzt nach Agamemnon und Klytaimestra auch Orestes nicht verschonen2. Bei Sophokles ist das Geschehen aus dem trilogischen Zusammenhang gelöst, doch die symbolische Identität des Ortes ist erhalten geblieben. Dies bewußt zu machen, ist die Aufgabe des Stasimons vor der hinterszenischen Handlung (V. 1384-1397): Das Haus, in dem jetzt Klytaimestra stirbt, ist das Haus Agamemnons. Und schließlich wird auch Aigisthos dort den verdienten Tod finden, wo er einst Agamemnon mordete (V. 1495-1498). An der Stätte ihrer Bluttat wird man die Mörder von damals, die Ermordeten von heute, nebeneinander aufbahren. Euripides muß, da er das Geschehen aus der alten Königsburg heraus aufs Land verlegt hat, die symbolische Gleichheit des Ortes preisgeben. Damit greift er aber sehr viel tiefer in die Substanz der Sage ein als Sophokles, der nur die Reihenfolge der Rachetaten vertauschte. Bei Euripides sterben Aigisthos und Klytaimestra an zwei verschiedenen, durch nichts besonders hervorgehobenen Stellen irgendwo in 1 Vgl. Aisch. Ag. 1434-1437. * Zur großen Bedeutung des Atridenpalaetes ale Ortes der Handlung vgl. auch unten 147-149.

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Euripides' „Elektra" 1

der Argolie . Doch auch er will auf eine Symbolik des Ortes nicht völlig verzichten. Auch bei ihm soll Klytaimestra mit Aigisthos, mit dem zusammen sie frevelte, auch im Tode vereint sein (V. 1144-1145 ~ Cho. 904-907). Darum wird der Leichnam des Aigisthos vom Ort seines Todes auf die Orchestra und von dort in die Hütte geschafft, in der Klytaimestra sterben soll. Euripides behält also ein Motiv, das bei Aischylos und auch noch bei Sophokles große Bedeutung hatte, trotz gewisser Schwierigkeiten bei, obwohl es infolge der Veränderung des Ortes der Handlung seinen Sinn zum größten Teil verloren hat. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen wir, wenn wir die Funktion des Grabhügels in den drei Tragödien untersuchen. In den „Choephoren" befindet sich das Grab Agamemnons in der Orchestra und ist während der ersten Hälfte des Stückes ein wichtiger Mitspieler, vor allem während des großen Kommos, wo vom Grabe her Orestes die Kraft zuströmt, die ihn fähig macht, die Rachetat an Agamemnons Mördern zu vollziehen. Auch noch in der vor dem Palasttor spielenden zweiten Hälfte des Dramas, die der Darstellung der Rachetat gilt, bleibt das Grab als Mahnmal des Mordes, der nun seine Rache findet, weiterhin wirksam. Bei Sophokles ist das Grab zwar aus der Orchestra verschwunden, verliert also seine symbolische Bedeutung als stets gegenwärtiges Mahnmal. Es ist aber der wichtigste außerszenische Ort, denn fast alle Abgänge und Auftritte geschehen dorthin und von dort. Euripides vollzieht noch einen Schritt über Sophokles hinaus. Bei ihm hat das Grab, das sich ebenso wie der Ort der Handlung eine Verlegung aufs Land hat gefallen lassen müssen, auch seine Funktion als außerszenischer Ort fast völlig verloren. Das bei den Vorgängern so wichtige Motiv, daß sich beide Parteien um die Wette bemühen, den Geist des toten Agamemnon zu gewinnen, und daß schon hierbei Klytaimestra die Unterlegene ist, fehlt bei Euripides ganz und gar. Nur das Grabopfer des Orestes ist geblieben, hat aber nur noch wegen der Zeichen, die er dabei am Grabe zurückläßt, eine gewisse Bedeutung für das Erkennungsgeschehen. Finder der Zeichen aber ist nicht Elektra, die bei Aischylos von Klytaimestra zur Besänftigung der Rachegeister des Vaters ausgesandt worden ist, oder Chrysothemis, die bei Sophokles mit dem gleichen Auftrag die Bühne betritt, sondern eine völlig belanglose Nebenfigur, der alte Pädagoge, der aus treuer Anhänglichkeit an seinen toten Zögling ein wenig am Grabe verweilt, an dem ihn sein Weg ohnehin vorbeiführt. Wiederum stoßen wir also auf einen ,locus rudimentalis', der vermuten läßt, daß Euripides und nicht Sophokles der dritte Bearbeiter des Stoffes war. 1

So sehr Eur. sich auch in vielen Dingen enger an Aisch. anschließt als Soph, (frühzeitige, wenig ausgestaltete άναγνώρισις, Reihenfolge der Mordtaten, Behandlung der Problematik des Muttermordes), weicht er doch in diesem, für unser

Die beiden „Elektron" - Redekämpfe

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c) Der Redestreit zwischen Mutter und Tochter Am stärksten stimmen die sophokleische und die euripideische „Elektra" darin überein, daß sich hier wie dort Mutter und Tochter in einem Redestreit gegenübertreten (Soph. El. 516-611 ~ Eur. El. 1011-1096)1. In beiden Fällen kommt Klytaimestra die erste Rede zu, und in beiden Fällen hat Elektra die besseren Argumente. Ein gründlicher Vergleich zwischen den beiden Redekämpfen ist bereits von Vahlen vorgenommen worden, dessen Ergebnisse hier nur zu berichten sind2. Vahlen hat bemerkt, daß Klytaimestra bei Euripides so redet, als ob sie von der Rede ihrer Gegnerin im sophokleischen Stück Kunde erhalten hätte. Denn sie ist bemüht, die Vorwürfe, die Elektra bei Sophokles gegen sie erhebt, von vornherein zu entkräften. Dae zeigt die folgende Gegenüberstellung. Elektrarede bei Sophokles 560 Du tötetest Agamemnon nicht, -562 um ihn für die Opferimg Iphigenies zu bestrafen, sondern tatest es Aigisthos zuliebe. 563 Agamemnon tötete Iphigenie -576 nicht für Menelaos, sondern weil das Heer durch Artemis zurückgehalten wurde. 577 Selbst wenn Agamemnon Iphi-579 genie für Menelaos getötet hätte, so hätte er doch nicht durch dich sterben dürfen. 584 Daß du dich zu Agamemnone -594 Feinden hieltest, kannst du nicht mit der Rache für Iphigenie rechtfertigen.

Klytaimeetrarede bei Euripidee 1035 Wenn ich mir einen anderen -1040 Mann suchte, nämlich Aigisthos, so ist das die Schuld Agamemnone, der mir das schlechte Beispiel gab. 1018 Agamemnon tötete Iphigenie -1029 nicht, um Heimat oder Haus zu schützen, sondern um Helenas willen (sc. denn ihretwillen zog dae Heer aus). 1030 Allein um Iphigeniens willen -1034 hätte ich Agamemnon nicht getötet. Doch als er auch noch Kaesandra heimführte, mußte er für beide Vergehen sterben. 1046 Wenn ich Agamemnon töten -1048 wollte, mußte ich mich zu seinen Feinden halten, denn seine Freunde hätten mir nicht geholfen.

Ferner ist dae sehr gesuchte Argument Klytaimestras bei Euripides, Agamemnon hätte ebensowenig Iphigenie töten dürfen wie sie selbst in analoger Situation Orestes (V. 1041-1045), nur zu verstehen, wenn die Klytaimestrarede des Sophokles zeitlich vorausging, in der dae richtige Verhalten des Menelaos zu seinen Kindern dem unmenschGefühl entscheidenden Punkte sehr viel stärker von der traditionellen Fassung ab. Dies muß gegen Diller (97) betont werden. 1 Eur. El. 1097-1101 sind von Härtung und Nauck als Interpolation erkannt worden. 2 Vahlen 360-365, vgl. auch Bruhn, Soph. El. 25-26. Pohlenz' Einwände gegen Vehlens Ausführungen (II, 131-133) überzeugen nicht.

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Euripidee' „Elektra"

lichen Verhalten Agamemnons zu Iphigenie gegenüberstellt worden war (V. 539-546). Erat wenn daa naheliegende Beispiel nicht mehr verfügbar war, weil der Vorgänger es bereits benutzt hatte, mußte Euripides ein so absurdes Beispiel konstruieren wie das, dessen sich Klytaimestra bei ihm bedient. Es kann also wohl kaum einen Zweifel an der Richtigkeit der Feststellung Vahlens geben, daß der Redestreit der euripideischen „Elektra", zumal die Klytaimestrarede, erst entstanden sein kann, als derjenige des sophokleischen Stückes bereits vorlag. d) Ergebnis Unsere Prüfung der Argumente, die für die Priorität des sophokleischen vor dem euripideischen Stück sprechen, hat Grund genug zu der Annahme gegeben, Sophokles habe den Elektrastoff als erster behandelt und Euripides sei ihm darin nachgefolgt. Dadurch erhalten wir aber die Möglichkeit, die Zeitspanne, in der das Aufführungsdatum des sophokleischen Stückes zu suchen ist und die wir oben auf 420-414/413 begrenzt hatten 1 , noch weiter zu verengern. Bisher neigte man dazu, die „Elektra" des Sophokles auf die Zeit um 413 zu datieren, je nach der eigenen Meinung in der Frage der Priorität entweder kurz vor oder kurz nach diesem Jahre. Zu dieser Datierung schienen sich auch die von Reinhardt bemerkten Kennzeichen des Altersstils gut zu fügen. Niemand sollte aber Anstoß daran nehmen, wenn die hier vorgeschlagene Datierung des euripideischen Stückes auf die Zeit vor „Herakles" und „Troerinnen", also vor 416, es mit sich bringt, daß das sophokleische Stück jetzt auf 420-417 datiert werden muß. Denn wenn die Datierung der „Elektra" des Euripides auf 413 aufgegeben wird, gibt es keinen Grund mehr, an der Zeit um dieses Jahr für das sophokleische Stück festzuhalten. Reinhardts Kennzeichnung der „Elektra" als eines Alterswerks zwingt uns nicht, sie in das letzte Lebensjahrzehnt des Sophokles zu datieren. Auch eine vor 417 aufgeführte „Elektra" kann die Merkmale des Altersstils tragen. Denn zu dieser Zeit war der Dichter schon etwa achtzig Jahre alt, und der „Oidipus Tyrannos" lag bereits ein Jahrzehnt zurück. 1

S. oben 63-65.

Anhang I

Das Aufführungsdatum des „Ion" Da das Aufführungsdatum des „Ion" nicht bezeugt ist, bleiben wir über das Zeitverhältnis dieses Dramas zu den bisher besprochenen auf Vermutungen angewiesen. Anders als bei der „Iphigenie", wo die vorgeschlagenen Daten sich eng um den Fixpunkt 412 gruppierten, gehen beim „Ion" auch heute noch die Meinungen recht weit auseinander. Grégoire und Owen plädieren für 418-4171, Macurdy für 4162, während Solmsen dazu neigt, den „Ion" als das späteste der άναγνώρισιςDramen nach 412 zu datieren 3 . Owen muß zugeben, daß die Form des Dramas in vielen Dingen den späteren Stücken des Euripides nahesteht, meint jedoch, daß der geringe Gebrauch, der vom dritten Schauspieler gemacht werde, gegen eine allzuspäte Datierung spreche. Doch läßt gerade im „Ion" die Weise der Verwendung des dritten Schauspielers keinen sicheren Schluß auf die Datierung zu, denn seine geringe Bedeutung ergibt sich zwangsläufig aus der Handlung. Immer wieder haben hier zwei Personen Dinge zu besprechen, von denen kein dritter etwas wissen darf. Ferner veranlaßt Owen, wie auch schon Grégoire, die Erwähnung von Rhion (V. 1592), das Stück kurz nach 419 zu datieren, dem Jahre in dem Alkibiades Rhion zu befestigen versuchte 4 . Das Stück k u r z nach 419 zu datieren, besteht freilich keine Notwendigkeit, und die Ereignisse, v o r denen nach Owen der „Ion" auf jeden Fall aufgeführt sein muß, nämlich die Besetzung von Dekeleia (413) und der Abfall der Ioner (412), liegen zu spät, als daß wir gezwungen wären, eine so frühe Datierung anzunehmen. Daß das Stück vor der Schlacht von Mantineia (418) und der Zerstörung von Melos (416) aufgeführt sein muß, leuchtet nicht ein. Solange Athens Kraft noch ungebrochen war, 1 Grégoire, Ion 167, Owen X X X V I - X L I , ebenso Delebecque 225, ähnlich Murray, Eur. 69-70. - Zum Ion, dessen eingehendere Besprechung wir uns versagen müssen, vgl. die grundlegende Interpretation bei Spira 33-82. 2 Macurdy 87-91. 3 Solmsen, Ion 404-407, Zürcher 150-151. Auch Lesky (Trag. Dicht. 187) schließt sich Solmeens Meinung an. 4 Vgl. Thuk. 5, 52. - Zuntz (Pol. Plays, 64 A. 2.) weist dieses Argument ab und nennt den mißglückten Versuch "anything rather than an event of which the Athenians would care to be reminded". Wenn man ein Ereignis sucht, durch das Rhion in Athen bekanntgeworden sein kann, sollte man eher an den Seesieg Phormions im Jahre 429 denken (Thuk. 2, 83-92). Für die Datierung gibt die Stelle dann allerdings nichts mehr her.

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Datierung des „Ion'

also etwa bis zum Winter 413-412, war ein Stück wie der „Ion'' aufführbar. Daß der „Ion" zu den späten Stücken des Euripides gehört und in der Nähe von „Iphigenie" und „Helena" einzuordnen ist, läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit daraus folgern, daß das auf die Erkennungsszene folgende Amoibaion in allen drei Dramen sehr ähnlich gestaltet ist. Ferner kann nach dem, was wir heute über den „Alexandros" wissen, kaum ein Zweifel daran bestehen, daß der Dichter im „Ion" an die Dramenform des „Alexandras" anknüpft. Damit scheiden das Jahr 415 und jeder frühere Zeitpunkt aus. Weiter ist es undenkbar, daß das Stück in den allerletzten Jahren des peloponnesischen Krieges aufgeführt worden ist. Nach dem Abfall der ionischen Bundesgenossen (412) hätten die Worte Athenes, daß die Ioner ihrem Lande Stärke verleihen würden (V. 1581-1585), wie Hohn geklungen 1 . Ein Aufführungsdatum vor 412 hat darum mehr Wahrscheinlichkeit für sich als ein späteres Datum. Die Zeitspanne, innerhalb derer der „Ion" aufgeführt sein kann, schrumpft also auf die Jahre 414 und 413 zusammen, so daß sich das Problem der Datierung des „Ion" auf die Frage reduzieren läßt, ob er früher anzusetzen ist als die „Iphigenie", also ins Jahr 414 gehört, oder ob der „Iphigenie" die Priorität zukommt, so daß der „Ion" dann auf 413 zu datieren ist2. Die Erkennungshandlung des „Ion" und das der Erkennungsszene folgende Amoibaion werden unten besprochen werden. Dabei wird sich zeigen, daß manches für eine Einordnung des „Ion" zwischen der „Iphigenie" und der „Helena" spricht 3 . Auch in den Schlußszenen der drei Dramen läßt sich eine Entwicklungslinie von der „Iphigenie" über den „Ion" zur „Helena" ziehen. In der „Iphigenie" ist die Erscheinung Athenes der Schlußstein der Handlung, auf den alles hinstrebt und durch den erst die Einheit des Ganzen hergestellt wird. Auch im „Ion" 4 hat die Schlußszene die wichtige Funktion, dem Ergebnis der Erkennungsszene die göttliche Beglaubigung zu geben. Athene bestätigt, daß Apollon der Vater Ions ist und daß er es war, der ihn gerettet und aufgezogen hat. Der Ausblick in die Zukunft dagegen und die Aitiologie der Phylen- und Stam1 Dieses Argument wird von Wilamowitz (Elektren, 242) zuerst vorgebracht, später jedoch wieder zurückgezogen (Euripides Ion, Berlin 1926, 24). 2 Die von Zieliñski (186) erwogene gleichzeitige Aufführung des Ion und der Iph. ist wegen der allzugroßen Ähnlichkeit der Erkennungsszenen und der folgenden Amoibaia unwahrscheinlich. Gegen eine Aufführung des Ion gleichzeitig mit Hei. und Andromache im Jahre 412 spricht außer der Tatsache, daß die veränderte politische Konstellation das Schlußwort Athenes unmöglich gemacht hätte, auch noch die große Ähnlichkeit der Amoibaia nach der Erkennung in Ion und Hei. s Vgl. unten 140-143. 4 Zur Szene vgl. Spira 69-76.

Datierung des „Kyklops"

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mesnamen stehen mit der Handlung nur in einem lockeren Zusammenhang. In der „Helena" endlich hat die Schlußszene nur für eine Nebenhandlung dramatische Bedeutung. Ausblick in die Zukunft und Aitiologie fehlen zwar nicht, sind aber für die Handlung völlig bedeutungslos. Es läßt sich also vermuten, daß der „Ion" nach der „Iphigenie" und vor der „Helena" verfaßt und wohl auch aufgeführt worden ist. Wir erhalten demnach als mutmaßliches Aufführungsdatum 414 für die „Iphigenie" und 413 für den „Ion" 1 .

Anhang 2

Zur Datierung des „Kyklops" Auch über den „Kyklops" möge hier eine kurze Bemerkung erlaubt sein. Denn zwischen diesem Stück und der „Helena", vor allem aber der „Iphigenie", besteht in der Handlungsführung und in vielen Einzelheiten über die Grenze der poetischen Genera hinweg eine starke Verwandtschaft, die sich nicht mit der Bemerkung abtun läßt, es handele sich um „sehr vage motivische und einige wörtliche Anklänge" 2 . Im „Kyklops" und in der „Iphigenie" wird ein griechischer Chor mitsamt seinem έξάρχων in einem fernen Land festgehalten, das von einem grausamen Barbaren beherrscht wird. Ein griechischer Held erscheint, der durch den Barbaren in höchste Lebensgefahr gebracht wird, sich aber mit List zu befreien weiß und dann auch dem έξάρχων und dem Chor die Heimkehr nach Griechenland ermöglicht. In „Kyklops", „Iphigenie" und „Helena" fehlt nicht die Unterrichtung der Verbannten über den Ausgang des Kampfes um Troia und auch nicht der Kommentar aus Barbarenmund - im „Kyklops" auch aus Satyrnmund - zu den griechischen Sagen3. Man sollte darum den „Kyklops" in die Nähe der „Iphigenie" datieren, also etwa auf die Jahre 415-410 ansetzen. Die Kürze des Stükkes besagt nichts gegen eine so späte Datierung, denn auch die „Ichneutai" des Sophokles scheinen nicht viel mehr als 600 Verse gehabt zu haben. Das Satyrspiel ist ja kein gleichwertiges Glied einer Tetra1 Auch Macurdy (95-107), Grégoire (Iph., 106) und Ludwig (121) datieren die Iph. auf 414, müssen aber, da sie an der üblichen Datierung der El. auf 413 festhalten, die Schwierigkeiten in Kauf nehmen, die sich notwendigerweise ergeben, wenn man die Iph. für früher aufgeführt ansieht als die El. Vgl. oben 69-71. 2 Lesky, Trag. Dicht. 201. - Ähnlich wie wir urteilt schon Schmid (533). 3 Iph. 1174, Hei. 1220, Cycl. 179-186, 280-281, 283-284.

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Datierung des „Kyklops"

logie, sondern nicht mehr als ein satyrhaftes Anhängsel der tragischen Trilogie1. Eine gleichzeitige Aufführung des Spieles mit der troischen Trilogie von 415 oder mit der „Iphigenie" oder „Helena" ist nicht ausgeschlossen. Zwar sind zwei Tragödien mit dem gleichen Handlungsschema in einer Trilogie unmöglich2, ein Satyrspiel aber kann immer stürmischen Beifalls gewiß sein, selbst dann oder vielleicht sogar gerade dann, wenn ee die Handlung einer der aufgeführten Tragödien ins Satyrhafte übersetzt3. 1 Murray (Eur., 37-38) rechnet das Spiel wegen seiner Kürze zu den frühesten Stücken des E u r . 2 Eine Ausnahme bilden nur Stücke, die zu einer Inhaltstrilogie gehören. I m Ag. u n d in den Cho. z.B. oder im Pr. δεσμώτης und im Pr. λυόμενος ist es der Wille des Dichters, daß der Zuschauer den Parallelismus der Handlungen s p ü r t und an ihm das Verwandte im Geschehen der beiden Dramen erkennt. s Α. M. Dale (Wiener Studien 69, 1956, 105-106) und Joerden (262-263) treten f ü r eine Datierung des Cycl. nach Soph. Phil. (409) ein. H a u p t a r g u m e n t ist jeweils die ähnliche dramaturgische Verwendung der Höhle mit zwei Eingängen in den beiden Dramen. E s bleibt freilich zu fragen, ob nicht vielleicht auch E u r . der Erfinder des Motivs gewesen sein kann. Immerhin berichtet man von ihm, daß er selbst eine solche Höhle auf Salamis bewohnt habe (Genos Sat., col. 9, Gellius 15, 20).

ZWEITER

TEIL

1. Kapitel

Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα (Zur Geschichte eines Dramentyps) Die drei in dieser Arbeit behandelten Tragödien des Euripides stimmen darin überein, daß in ihnen dargestellt wird, wie zwei eng verbundene Menschen, die lange Zeit voneinander getrennt waren, sich wiederfinden und wiedererkennen. Übereinstimmung besteht ferner darin, daß sie, wenn auch in verschiedener Weise, von einer Heimkehr handeln. Schließlich spielt in allen diesen Dramen ein listiger Anschlag, durch den Rache oder Rettung erstrebt wird, eine entscheidende Rolle. Wenn wir die griechischen Bezeichnungen übernehmen wollen, die sich für die drei Motive eingebürgert haben, so können wir kurz sagen, daß die Handlung der besprochenen drei Dramen durch die im einzelnen freilich sehr unterschiedlich geartete Verbindung von νόστος, άναγνώρισις und μηχάνημα gekennzeichnet ist 1 . Damit stehen diese Stücke aber in einer dichterischen Tradition, die sich, wie längst erkannt worden ist, bis auf die Odyssee zurückführen 2 und über die „Choephoren" des Aischylos, den „Kresphontes" dee Euripides und die „Elektra" des Sophokles weiter bis zur neuen Komödie verfolgen läßt. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, diesen langen Weg in allen seinen Stationen nachzuzeichnen. Doch ist es zum besseren Verständnis der hier besprochenen Dramen nützlich, wenigstens die Grundform zu beschreiben und die Abwandlungen zu skizzieren, die sie in den Werken der drei großen Tragiker bis in die Aufführungszeit der drei hier besprochenen Stücke erfahren hat. 1 Νόστος als Thema der Od. α 13, 77, 87 u.ö., als Handlungsziel einer Tragödie I. T. 1066 (hier ist mit Heath νόστος zu lesen). - Άναγνώρισις zuerst bei Plato (Theait. 193c 4) bei der Beschreibung des Erkenntnisvorganges, von Ar ist. (Poet. 11, 1452a 29) zum ersten Male in unserem Zusammenhang verwandt. Zum Ausdruck μηχάνημα vgl. oben 42 Α. 1. 2 Arist., Poet. 16, 1454b 26, Leo, Plautinische Forschungen 2 , Berlin 1912, 158, Hoffmann 62-63. - In ähnlicher Weise wie wir verfolgt jetzt Diller das Erkennungsmotiv von der Od. über die Orestie, die beiden Elektren, I. T. und Hei. bis zum Ion. Erfreulich sind die vielen Übereinstimmungen mit dieser Arbeit. Zu den Abweichungen in der Beurteilung von Eur. El. vgl. oben 86 Α. 1.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

§ 1. Die Odyssee a) Die Stellung der Erkennungsszenen in der Odyssee Eine Eigentümlichkeit der Ilias und weiter Partien der Odyssee ist es, daß der Dichter den Zuhörer an dem eigenen Wissen über den weiteren Verlauf des epischen Geschehens teilhaben, die Helden des Epos dagegen rein im gegenwärtigen Geschehen befangen sein läßt. Dieses Mehrwissen vermittelt der Dichter dem Zuhörer vor allem dadurch, daß er ihn die Gespräche der olympischen Götter belauschen läßt und ihm auf diese Weise Anteil an der Allwissenheit der Götter gewährt. Freilich behält der Hörer sein Mehrwissen nur für eine gewisse Strecke des Geschehens für sich allein. In A zum Beispiel weiß er mehr als Agamemnon über die bitteren Folgen, die der Streit mit Achilleus haben wird, in I aber hat auch Agamemnon durch leidvolle Erfahrungen etwas über die Folgen gelernt, freilich zu spät, als daß sich das Unheil noch abwenden ließe. Oder in ν erfährt der Hörer, daß Odysseus die Freier mit dem Tode bestrafen wird, in χ beginnen auch die Freier zu ahnen, was ihnen bevorsteht, freilich zu spät, als daß sie sich noch retten könnten. Die Kunst des großen epischen Dichters zeigt sich darin, daß er die Spannung zwischen dem Mehrwissen des Zuhörers und seinem Ausgleich durch das μανθάνειν der Helden über weite Strecken des epischen Geschehens hin erhalten kann. Am Ende des Epos braucht zwar kein absoluter Ruhepunkt des Geschehens erreicht zu sein. Am Ende der Ilias etwa lebt Achilleus noch immer, und Troia ist noch immer nicht gefallen. Wohl aber ist es nötig, daß zwischen dem am Anfang vermittelten Mehrwissen des Zuhörers und den Wissen der Helden ein völliger Ausgleich erfolgt ist. Eine merkwürdige Sonderstellung nimmt hinsichtlich seines Wissens allerdings der Odysseus der letzten zwölf Gesänge der Odyssee ein. Von Augenblick seiner Begegnung mit Athene in ν an steht er in ständiger Verbindung mit seiner Göttin, die ihm mehrmals in ihrer wahren Gestalt erscheint und ihm Anteil an ihrem Wissen über die Zukunft und genaue Anweisungen zum Handeln gibt. Dadurch bewirkt sie, daß er hinfort frei von der Unwissenheit über die Zukunft ist, die sonst das Kennzeichen der Menschen gegenüber den allwissenden Göttern ist. Zwar stehen ihm, wenn es nötig ist, auch Körperkräfte zu Gebot, die das menschliche Maß übersteigen, aber entsprechend dem geistigen Gepräge, das ihm auch schon in der Ilias eigen war, beruht seine Überlegenheit neben seiner schier unerschöpflichen Fähigkeit zu List, Lüge und Verstellung vor allem auf seinem Mehr an Wissen, das ihn über alle anderen Bewohner Ithakas weit hinaushebt. Denn die anderen bleiben in ihrer menschlichen Unwissenheit befangen oder werden ihr erst dann entrissen, wenn er ihnen an seinem Wissen Anteil gibt. Gleichfalls von Athene verliehen ist ihm seine Unkenntlich-

Odyssee - Πείρα

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keit unter der Gestalt eines Bettlers, die ihn fähig macht, jeden einzelnen seiner Hausgenossen und Landsleute zu erkennen, während er selbst ihren Blicken entzogen bleibt. Die Unkenntlichkeit ist gleichsam die körperliche Ergänzung zu der Überlegenheit, die er durch sein Wissen über die Zukunft besitzt1. Durch den Kontrast zwischen dem Wissen des Odysseus und dem Nichtwissen seiner Mitmenschen, der durch seine Unkenntlichkeit noch verstärkt wird, entstehen zwei Situationen, die sich in den letzten elf Gesängen des Epos immer wieder herausbilden, nämlich die der πείρα und die der άναγνώρισις. b) Die πείρα Die Situation der πείρα, des prüfenden Gespräches, das der unerkannte Odysseus mit Freund und Feind führt, kehrt in der zweiten Hälfte der Odyssee häufig wieder. Der erste, der eine solche Prüfung über sich ergehen lassen muß, ist Eumaios. In langen Gesprächen, die sich über das ganze ξ erstrecken, hat Odysseus Gelegenheit genug, die Treue seines alten Dieners zu prüfen. Er erfährt dabei, daß Eumaios ganz in der Erinnerung an seinen Herren und in der Sehnsucht nach ihm lebt (ξ 39-44, 61-71, 89-91, 96-104, 133-147). Er sucht den Hirten durch die Botschaft von der baldigen Ankunft seines Herren zu trösten (ξ 149-164, 321-359), doch kann er dessen θυμός άπιστος (ξ 150) nicht überwinden. Nach der Ankunft des Telemachos prüft Odysseus zunächst auch dessen Gesinnung (π 90-128), bevor er sich ihm zu erkennen gibt. In den nächsten Gesängen folgt die πείρα der Freier (p 360—488, σ 346-404), des frechen Ziegenhirten Melanthios (p 212253), der schlimmen Magd Melantho (σ 321-342, τ 65-88) und der übrigen Mägde (σ 311-320, υ 6-8). Der Höhepunkt in der Reihe der πεΐρα-Szenen ist die Begegnung des unerkannten Odysseus mit Penelope (τ 100-316, 505-599). Auch hier scheitert sein zweimaliger Versuch, die so heftig Trauernde durch die Ankündigung der baldigen Rückkehr des Ersehnten zu trösten, an dem θυμός άπιστος seiner Gattin (τ 262-316, 555-569). Auch die Treue des wackeren Philoitios prüft Odysseus in einem kurzen Gespräch (υ 197-237), und der letzte, den er noch nach dem Freiermord mit verstellten Worten auf die Probe stellt, ist sein alter Vater Laertes (ω 220-314). Diese Gespräche werden vom Dichter damit motiviert, daß Odysseus ergründen muß, wer ihm feindlich und wer freundlich gesonnen ist, vor wem er sich zu hüten hat und wem er vertrauen darf und wer Belohnung und wer Strafe verdient 2 . Doch können wir uns des Gefühls nicht erwehren, diese Seite der πείρα möchte nur ein Vorwand für Odysseus sein, der bei jeder Art des Truges und der Verstellung recht 1

Vgl. Hölscher, 77-79.

2

So vor allem π 304-307.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

eigentlich in seinem Element ist. Besonders das Erkunden der Gesinnung seiner Freunde und Angehörigen scheint ihm eine geradezu diebische Freude zu bereiten und jedesmal die unersättliche Neugier, die ja auch einer der Wesenszüge der Odysseusgestalt ist, aufs heftigste zu erregen 1 . Freilich wird die πείρα niemals zu einem bloßen Spiel. Denn - und damit stoßen wir auf die tiefste Schicht dieser Szenen - zu ernst sind die Töne, die bei Eumaios, bei Penelope und bei Laertes anklingen, als der unbekannte Fremde ihre Gedanken auf Odysseus lenkt: liebevolles Gedenken an den verlorenen Herren bei jeder Verrichtung des Alltags (Eumaios), heiße Sehnsucht der getreulich ausharrenden Gattin bei gesunkener Hoffnung auf die Heimkehr des Ersehnten (Penelope), blinde und hemmungslose Verzweiflung über den unersetzlichen Verlust (Laertes). Alle diese Empfindungen rühren den Hörer deswegen nicht weniger stark, weil in der paradoxen Situation der πείρα der Betrauerte unerkannt anwesend ist, sie ergreifen ihn sogar noch mehr. Ein innerlich notwendiger Abschluß der Folge von πεΐρα-Szenen ist es, daß bei der letzten von ihnen, der Begegnung mit Laertes, sich nicht die List des Odysseus als stärker erweist, sondern das Leid des Laertes. Odysseus, der mit Eumaios seinen Scherz treiben konnte, der sogar die Tränen seiner Gattin ungerührt mit anzusehen vermochte, wird jetzt selbst vom Schmerz übermannt. c) Die Erkennungsszenen Die letzten elf Gesänge der Odyssee enthalten eine Fülle von Erkennungssituationen, die fast alle die gleiche Struktur aufweisen, freilich nicht ohne starke Abwandlungen je nach den Umständen und nach dem Ethos des Partners der Erkennung. Die von Athene vorgenommene Verwandlung des heimgekehrten Odysseus in einen Bettler bringt es mit sich, daß er von jedem der Daheimgebliebenen erst dann erkannt werden kann, wenn er sich selbst zu erkennen gibt. So kann er jedesmal zuerst eine πείρα vornehmen und kann selbst den Zeitpunkt bestimmen, wann er kundtun will, daß er Odysseus ist. Doch zeigt sich immer wieder, daß das Problem der Erkennung zugleich eines der Anerkennung ist. Denn das lange Warten hat den Daheimgebliebenen den Glauben an die endliche Heimkehr des Ersehnten geraubt. Zu oft haben falsche Boten und betrügerische Seher vergebliche Hoffnungen erweckt, auf die dann immer wieder die bittere Enttäuschung folgte (α 414-416, ξ 122-132, 372-385). Gerade diejenigen, die den Tag der Heimkehr des Odysseus am meisten ersehnen, zögern aus Furcht vor abermaliger Enttäuschung am längsten, 1 Vgl. etwa ι 88-89, 174, 229, κ 147, 152; im Zusammenhang m i t der πείρα ξ 459-461, τ 45-46, ω 235-240.

Odyssee - Erkennungsszenen

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ehe sie den endlich Heimgekehrten als den anerkennen, der er zu sein vorgibt, und bestehen am meisten darauf, daß er sich zuerst durch zuverlässige Zeichen ausweist. Der erste, dem Odysseus sich auf den Befehl Athenes zu erkennen gibt, ist sein Sohn Telemachos (π 186-188). Doch stößt er zunächst auf den Unglauben seines Sohnes, der befürchtet, einer Täuschung zum Opfer zu fallen (π 195), vor allem aber Mühe hat, den Ersehnten, den er ja noch nie zuvor mit Bewußtsein erblickt hat, und den Gegenwärtigen in eins zu sehen (π 192-200). Aber der Vater weiß seinen Sohn bald zu überzeugen, nicht durch Vorweisen seiner Narbe oder durch andere σήματα, sondern allein durch die Kraft seiner väterlichen Autorität (π 202-212). Ein Schweigegebot sorgt dafür, daß die Erkennung nicht vorzeitig weiterwirkt (π 300-307). Ein eigenartiges Zwischenspiel in der Reihe der Erkennungsszenen der Odyssee ist das Wiedersehen des Odysseus mit seinem alten Hund Argos (ρ 291-327). Dieses Tier ist das einzige Wesen, das ihn sofort erkennt und keines Zeichens zur Beglaubigung bedarf. Neben dem feinen Witterungsvermögen des Hundes zeigt sich um so deutlicher die Befangenheit der Menschen in ihrer Unwissenheit, die sie den Heimgekehrten selbst dann noch wie einen Abwesenden beweinen läßt, wenn er ihnen Auge in Auge gegenübersteht1. Eingebettet in das Gespräch mit Penelope ist die Fußwaschungsszene, in der die alte Dienerin Eurykleia Odysseus an seiner Narbe erkennt (T 361-504). Hier kommt die Erkennung gegen den Willen des Odysseus zustande, darum verhindert er ihr vorzeitiges Weiterwirken durch ein nachdrückliches, mit Drohungen bekräftigtes Schweigegebot. Unmittelbar vor dem Freiermord nimmt Odysseus die beiden treuen Hirten beiseite, stellt sie ein letztes Mal auf die Probe und gibt sich ihnen zu erkennen. Die Wahrheit seiner Worte bekräftigt er, noch ehe die Hirten einen Zweifel haben äußern können, durch das Zeichen seiner Narbe (φ 188-225). Den Freiern gibt Odysseus zuerst durch die Tat kund, wer er ist. Er besteht die Bogenprobe, an der sie versagten (φ 404-423), und tötet Antinoos, den Edelsten von ihnen (χ 1-21). Als sie auch jetzt noch nicht bemerken, daß Odysseus vor ihnen steht, gibt er sich ihnen auch durchs Wort zu erkennen (χ 35-41). In diesem Augenblick denkt keiner von ihnen daran, ein Zeichen zu fordern. Denn seine Taten und Worte sind von einer solchen gebietenden Überzeugungskraft, daß für Zweifel kein Raum bleibt. Die Selbstkundgabe des Odysseus in χ ist zweifellos der dramatische Höhepunkt der letzten zwölf Gesänge der Odyssee und, wenn man die vorbereitende Telemachoshandlung hinzunimmt, der des gesamten 1

Vgl. etwa τ 208-209.

7 8089 Matthicueo

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Νόστος - 'Αναγνώρισες - Μηχάνημα 1

Epos . In tieferem Sinne kommt das Geschehen freilich erst mit der Anerkennung des Odysseus durch Penelope und mit der endlichen Vereinigung der lange Jahre getrennten Ehegatten an sein Ziel (ψ 1-296). Doch auch der letzte Gesang mit der Erkennung des Odysseus durch Laertes und mit der Schlichtung des Streites zwischen Odysseus und den Angehörigen der getöteten Freier ist nicht als eine ablösbare Erweiterung anzusehen2. In der Reihe der Erkennungen der Odyssee jedenfalls ist die Begegnung zwischen dem heimgekehrten Sohn und dem greisen Vater (ω 220-348) gerade wegen ihres feinen Kontrastes zu den anderen Erkennungsszenen unentbehrlich. Denn auch hier gefällt sich Odysseus zuerst darin, nach seiner Art eine πεΐρα seines Vaters vorzunehmen, doch dann ergreift ihn der Anblick der heftigen Trauer, die er durch die Erwähnung des Sohnes bei Laertes erregt, so übermächtig, daß er, der doch sonst ein Meister in jeder Art von Trug und Verstellung ist, seine Rolle nicht durchzuhalten vermag und sich zu erkennen geben muß (ω 321-326). Aber auch hier stößt er auf das Mißtrauen dessen, der aus Furcht vor Enttäuschung übervorsichtig geworden ist und zuverlässige Zeichen fordert, ehe er bereit ist, sich der Freude des Wiedersehens hinzugeben (ω 327-348). Aus der Fülle der Erkennungsszenen der Odyssee seien hier zwei eingehender besprochen, weil sie als Vorbilder der αναγνωρίσεις der Tragödie im Folgenden wichtig werden, nämlich die Erkennung des Odysseus durch die Hirten in φ und die durch Penelope in ψ. d) Die Erkennung des Odysseus durch die Hirten (φ 188-244) Während die Feier mit der Bogenprobe beschäftigt sind, nimmt Odysseus die beiden treugebliebenen Hirten Eumaios und Philoitios 1 I n ähnlicher Weise zielt das Geschehen am Hofe der Phäaken in ζ, η, θ auf die Selbstkundgabe des Odysseus ι 16-20. 2 Schadewaldt, Neue Krit. 22 : „Dem Verfasser der originalen ,Heimkehr des Odysseus' liegt ein solches Reflektieren auf die reale politische Welt da draußen durchaus fern. E r verfolgt in seiner Gestaltung das einfache menschliche Heimkehrerthema." Nur wer wie Schadewaldt der Meinung ist, ein Epos gewönne dadurch an Größe u n d Originalität, wenn das in ihm erzählte Geschehen aus seinem politischen, rechtlichen u n d sozialen Zusammenhang gelöst, aus seiner Verflechtung mit anderen Mythen befreit und auf seinen „rein menschlichen K e r n " reduziert würde, m u ß ω für eine entbehrliche, ja störende Zutat halten. Doch wird m a n im archaischen und klassischen Griechentum bis hin zu P l a t o u n d Aristoteles eine Darstellung reinen Menschentums, bei welcher der politische u n d gesellschaftliche Aspekt ganz fehlt, vergeblich suchen. E s ist erstaunlich, wie stark das Griechenbild der deutschen Klassik und des Neuhumanismus, bei dem die politische Komponente allerdings fast völlig fehlte, selbst bei denen noch nachwirkt, die es überwunden zu haben glauben. F ü r griechisches Rechtsempfinden jedenfalls ist es selbstverständlich, daß eine Tat wie der Freiermord sofort neue Rächer auf den Plan rufen muß. Vgl. u n t e n 100.

Erkennung durch die Hirten

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beiseite. Er hat ihre Treue schon vorher geprüft (ξ, υ 197-237), aber er nimmt noch einmal eine letzte πείρα vor, indem er sie fragt, ob sie Odysseus bei einem Kampfe gegen die Freier beistehen würden (φ 193198). Als sich die Hirten wiederum mit Entschiedenheit für Odysseus ererklären (φ 200-204), gibt er sich ihnen zu erkennen (φ 207). Wie in allen anderen Erkennungsszenen folgt wie zur Beglaubigung die Formel mit der Angabe des καιρός der Heimkehr : ήλυθον είκοστω έτεϊ ές πατρίδα γαΐαν (φ 208)1. Dann bestärkt Odysseus durch Versprechungen die Hirten in ihrer Treue für den bevorstehenden Kampf (φ 209-216). Er läßt ihnen keine Zeit, Zweifel an seiner Person zu äußern, sondern legitimiert sich ihnen sofort durch das dem Hörer bereits aus der Fußwaschungsszene hinlänglich bekannte σημα άριφραδές der Narbe (φ 217221). Die Hirten und auch Odysseus selbst geraten außer eich vor Freude und Schmerz (φ 222-225). Die Formel, die auch anderswo ihren festen Platz am Ende einer Erkennungsszene hat (φ 226-227 : καί νύ κ' οδυρομένοισιν έδυ φάος ήελίοιο, | εί μή .. . ), bezeichnet hier wie an den anderen Stellen ihrer Verwendung2, daß der Ruhepunkt, den das Geschehen mit der Erkennung erreicht hat, um der Handlung willen wieder verlassen werden muß. Odysseus mahnt an die Gefahr, die von den Freiern droht (φ 228-229) und gibt den Hirten Anweisungen für den bevorstehenden Kampf (φ 230-241). Die Erkennungsszene in φ ist im Ganzen des Epos von nicht allzugroßer Bedeutung. Dem entspricht die kurze, faet karge Ausführung, bei der sich aber die einzelnen Phasen der Erkennung besondere gut unterschieden lassen. Für uns ist diese Partie deswegen von besonderer Wichtigkeit, weil sie nicht nur ihrer Form, sondern auch ihrer Funktion nach der Prototyp für die Gruppe von Erkennungeszenen der Tragödie geworden ist, die uns hier interessiert, nämlich die, in der ein Heimkehrer, der meist auch zugleich ein Rächer ist, sich seinen Angehörigen zu erkennen gibt. Denn die in φ erzählte Erkennung des Odysseus durch die Hirten geht der Rachetat zeitlich voraus und ist auch sachlich eine Station auf dem Wege zur Tat. e) Die Erkènnung durch Penelope (ψ 1-240) Während die Erkennimg des Odysseus durch die Harten in φ dem Geschehen, das zum Freiermord führt, eingeordnet ist, ist die Rachehandlung ihrerseits ein Teil des umfassenden Geschehens des νόστος des Odysseus. Da sich in seiner Abwesenheit die Freier mit ihrem übermütigen Treiben in seinem Hause breitgemacht haben, muß er, wenn 1 π 206 = τ 484 = φ 208 = ω 322 ~ ψ 102 = 170; vgl. auch ρ 327, ferner β 175, τ 222. 2 π 220 = φ 226 ~ ψ 241. Abweichende Gestaltung der Partie nach der Erkennung ω 345-350. 7»

100

Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

er wieder in seine alten Rechte eintreten will, die Freier vernichten. Dies geschieht in χ. In ψ aber wird erzählt, wie Odysseus wieder den Platz an der Seite seiner Gemahlin einnimmt, also wieder in den innersten Bezirk seiner Rechte eintritt, den ihm die Freier vor allem streitig gemacht hatten. Damit ist das τέλος der Odyssee zu einem guten Teil erreicht. Die noch offenen Probleme sucht der letzte Gesang zu lösen. Diese Probleme ergeben sich daraus, daß Odysseus nicht nur Herr seines Hauses ist, sondern vor allem doch König auf Ithaka, daß die Freier ihn auch aus seiner Königsherrschaft zu verdrängen versucht hatten 1 und daß Odysseus, indem er diesen Angriff auf seine Rechte abwehrte, seinerseits Rächer auf sich zog. Diese Probleme liegen zwar außerhalb der innersten Sphäre der Heimkehr, aber ein Mann wie der Odysseedichter, der auch sonst einen wachen Blick für die verschiedensten Formen des menschlichen Zusammenlebens hat, kann sie nicht vernachlässigen2. Zunächst jedoch gilt es zu berichten, wie Gatte und Gattin, die zwanzig Jahre getrennt waren, wieder zueinander finden. Daß der epische Dichter bei der Erzählung solcher verwickelten seelischen Vorgänge, wie sie hier nötig wird, bis an die Grenze seiner Möglichkeiten gelangt und daß es dabei bisweilen nicht ohne Härten abgeht, dürfte eigentlich selbstverständlich sein3. Sobald die blutige Bestrafung der Freier und der ungetreuen Knechte und Mägde vorüber ist und die Leichen der Freier aus der Halle fortgeschafft sind, reinigt Odysseus sein Haus mit Feuer und Schwefel (χ 493494). Währenddessen ruft Eurykleia auf seinen Befehl Penelope und die treugebliebenen Mägde herbei. Der eine Teil des Auftrages ist bald erfüllt. Die Mägde kommen und begrüßen freudig ihren Herren (χ 495501). Um so schwieriger wird es, den anderen Teil zu erfüllen. Penelope hatte sich vor dem Ende der Bogenprobe in ihre Gemächer zurückgezogen und war dort von Athene in einen tiefen Schlaf ver1 Vgl. χ 45-53; auch χ 29-30, 132-134 weisen auf die Auseinandersetzung in ω voraus, χ 53 ebenso wie υ 273-274 zurück auf den Anschlag der Freier gegen Telemachos. Dies alles sind Partien, die Schadewaldt (Übers. 330) der ursprünglichen Od. beläßt. 2 Vgl. in den von der Analyse unangefochtenen Partien vor allem die Schilderung des Phäakenhofes in η, ferner die des Zusammenlebens der Kyklopen ι 106-115. - S. auch oben 98 Α. 1. 8 Diese Härten wurden oftmals zum Ausgangspunkt der Überlegungen der Analytiker. Zusammenfassend zuletzt Schadewaldt, Neue Krit., dort 12 A. 0 weitere Literatur, unter der freilich der Versuch Hölschers (73-75), die Szene in ihrer vorliegenden Form ohne Zuhilfenahme der Analyse zu interpretieren, unerwähnt bleibt. Schadewaldt scheidet, im wesentlichen Focke folgend, zwei Schichten, nämlich A, die in der hier behandelten Partie ψ 1-116, 173-217, 225-240, und B , die ψ 117-172 und 218-224 umfaßt. - Zur Erkennungsszene in ψ vgl. auch Diller 93-94.

Erkennung durch Penelope

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senkt worden (φ 356-358). Jetzt eilt Eurykleia, die gegebene Vermittlerin der Erkennung, die sie schon am Tage zuvor beinahe herbeigeführt hätte (τ 476-477), freudig zu ihrer Herrin, um ihr die frohe Kunde zu bringen1 : Odysseus ist gekommen und hat die Freier getötet (ψ 5-9). Doch zunächst stößt sie auf Unglauben und heftige Abwehr. Ebenso wie Penelope im Gespräch mit Odysseus jede Hoffnung auf das Kommen ihres Gatten von sich gewiesen hatte, aus Furcht vor neuer schwerer Enttäuschung, der sie nicht mehr gewachsen wäre (τ 309-316, 560-569), so weist sie auch jetzt die Nachricht von seiner Ankunft wie einen schlechten Scherz von sich (ψ 11-24). Doch Eurykleia besteht auf der Wahrheit ihrer Botschaft und liefert Beweise : Penelope hat den Heimgekehrten, ohne es zu wissen, bereits gesehen. Der fremde Bettler war es, und Telemachos hat ihn schon längst erkannt (ψ 26-31). Jetzt wird die Königin doch von dieser Geschichte, die so glaubhaft klingt, aus ihrer starren Ablehnung gerissen. Aber noch immer bleibt eine letzte Unwahrscheinlichkeit, an die eie sich zu klammern sucht. Wie konnte es möglich sein, daß der eine die vielen tötete (ψ 35-38) ? Doch als Eurykleia erzählt, wie es sich im einzelnen begeben hat (ψ 40-57)2, wird Penelope von neuer Hoffnungslosigkeit befallen. Was geschah, ist zu groß, als daß es ein Mensch hätte vollbringen können. Ein Gott war es, und Odysseus lebt nicht mehr (ψ 59-68). Als Eurykleia den θυμός άπιστος ihrer Herrin hart tadelt, der sie gegen alle Vernunft noch immer nicht an die Heimkehr ihres Gatten glauben läßt, und das σημα άριφραδές der Narbe nennt (ψ 70-79)3, bricht Penelope auf „zu meinem Sohn und zu dem, der die Freier getötet hat", wobei sie in der Schwebe läßt, ob dieser andere nun Odysseus ist oder nicht (ψ 81-84). Der Versuch Eurykleias, die Erkennung zu vermitteln, ist also gescheitert. Zu gut weiß die Königin ihr leidgeprüftes Herz gegen abermalige Enttäuschungen zu schützen, als daß sie sich von der Wahrheit im ersten Ansturm überrennen ließe. Immerhin hat das Gespräch doch den Fortschritt gebracht, daß Penelope dazu bewegt werden kann, sich zu Odysseus in die Halle zu begeben. Auf dem Wege dorthin schwankt sie, wie sie sich zu Odysseus verhalten soll. Denn daß sie ahnt, es sei Odysseus, läßt uns der Dichter spüren. Soll sie stehenbleiben und ihn von ferne befragen oder ihn soZu diesem Gespräch vgl. Schadewaldt, a.a.O. 13-15. Obwohl sich ψ 48 nur in einem Teil der codd. findet, sehen wir keinen Grund, den Vere mit Schadewaldt (a. a. O. 14 A. 9) zu athetieren. Die wilde Freude, die Eurykleia noch jetzt über das schreckliche Aussehen dee Odysseus nach dem Freiermord empfindet, entspricht genau ihrem lauten Jubel, den sie anstimmte, als sie ihn zum ersten Mede nach der Tat erblickte (χ 407). * ψ 73-77 werden von Von der Mühll (761) als Einschub des Bearbeiters erklärt, sind jedoch unentbehrlich. Die Erwähnung der Narbe darf nicht fehlen, denn Eurykleia darf nichts unversucht laesen, um ihre Herrin zu überzeugen. Vgl. Schadewaldt, a.a.O. 14 A. 9. 1

s

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fort durch Kuß und Umarmung als ihren Gatten anerkennen ? Sie kann sich nicht entscheiden, und so tut sie von den beiden Dingen, die sie erwägt, weder das eine noch das andere. Sie setzt sich ihm gegenüber und schweigt (ψ 85-90). Und Odysseus sitzt ihr gegenüber und schweigt ebenfalls (ψ 90-92). Vergebens wartet er auf ihr erstes Wort, doch eine Erstarrung (τάφος) ist über sie gekommen. Bald erkennt sie ihn, bald nicht (ψ 93-95). „Weil er schlechte Kleider hatte", sagt der Dichter, doch sind es wohl nicht die Kleider allein. Zweihundert Verse früher war beschrieben worden, wie Odysseus aussah, nachdem er die Freier getötet hatte (χ 402-406). Dieses Bild, das auch in den Worten Eurykleias noch einmal aufleuchtete (ψ 48), ist noch immer in der Vorstellung des Zuhörers wirksam : αίματι και λύθρω πεπαλαγμένον ώς τε λέοντα, 6ς ρά τε βεβρωκώς βοος ερχεται άγραύλοιο· παν δ'άρα οί στηθός τε παρήϊά τ' άμφοτέρωθεν αίματόεντα πέλει, δεινός δ'είς ώπα ίδέσθ-αι· ώς Όδυσέυς πεπάλακτο πόδας και χείρας ΰπερθ-εν. Von einem solchen Manne trennt die περίφρων Πηνελόπεια, das Musterbild der züchtigen Gattin, allerdings eine Welt, und wenn dieser Mann auch der eigene Gatte wäre. Vielleicht war Odysseus doch etwas zu selbstsicher und gar zu voreilig, als er Eurykleia in einem Atemzug mit den Mägden auch Penelope herbeizurufen befahl? Auf jeden Fall, die άναγνώρισις, die schon Eurykleia vergeblich zu vermitteln versucht hatte, scheint abermals gescheitert zu sein. In dieser ausweglosen Lage bietet ein neuer Helfer seine Dienste an : Telemachos, der gegebene Vermittler zwischen Vater und Mutter 1 . Er tadelt Penelope wegen ihres απηνής θυμός, der sie, wie er meint, in ganz unweiblicher Weise von ihrem Gatten fernhält, welcher - und wieder taucht wie zur Beglaubigung der wahrhaftigen Heimkehr des Odysseus die Zeitformel auf-έλθοιέεικοστω Ιτεϊές πατρίδα γαϊαν (ψ 97-103)2. Penelope verteidigt sich nicht gegen diesen Tadel, sondern bestätigt nur: Es ist, wie du sagst, τάφος hat mich befallen. Doch dann deutet sie an, daß die Vermittlung des Telemachos nicht am Platze ist. Es gibt geheime Zeichen, an denen sich Mann und Frau zu erkennen wissen, von denen kein anderer, auch der Sohn nicht, etwas weiß (ψ 105-110). Jetzt bahnt sich zwischen Odysseus und Penelope ein wortloses Einverständnis an, von dem Telemachos ausgeschlossen bleibt. Zum Zeichen dessen lächelt Odysseus und weist den gutgemeinten Vermittlungsvorschlag seines Sohnes ebenfalls zurück. „Denn" - und dies ist mit einem etwas boshaften Lächeln und einem Seitenblick auf Penelope gesprochen zu denken - „es sind ja nur meine schlechten Kleider, die sie daran hin1 8

Vgl. zu diesem Gespräch Schadewaldt, Neue Krit. 15-17. Vgl. oben 99 A. 1.

Erkennung durch Penelope

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dem, mich anzuerkennen" (ψ 113-116). Hier hat das „Ubereckgespräch" sein natürliches Ende erreicht. Telemachos hat zu Penelope gesprochen, Penelope zu Telemachos und Odysseus zu Telemachos. Nur Odysseus und Penelope haben noch nicht unmittelbar das Wort aneinander gerichtet. Dazu ist das, was trennend zwischen ihnen steht, noch zu mächtig. Zwar läßt sich ahnen, daß der Augenblick des Zueinanderfindens nahegerückt ist, doch ist zu vermuten, daß es auch hier wie überall im Epos, wo etwas Großes geschieht, des Eingreifens einer Gottheit bedarf 1 . Zunächst läßt Odysseus die Sache freilich auf sich beruhen. Mag Penelope ihn nun anerkennen oder nicht, er wendet sich dem zu, was der Augenblick verlangt. Denn von den Angehörigen der getöteten Freier droht Gefahr (ψ 117-122). Er ersinnt eine List, durch die er sie noch eine Weile über das Schicksal ihrer Söhne täuschen kann. Schon den Freiern hatte er angekündigt, daß man nach der Bogenprobe das Nachtmahl halten werde μολπη και φόρμιγγι· τά γάρ τ' αναθήματα δαιτός (φ 430). Hierzu ist jetzt die Zeit gekommen. Mit φόρμιγξ, μολπή und όρχηθμός wird jetzt im Hause des Odysseus gefeiert, als ob einer der Freier Penelope gewonnen habe. Doch nicht für einen von ihnen erklingt jetzt der ύμέναιος, sondern für Odysseus selbst (ψ 143-147). Die List hat Erfolg, wie die Worte eines der Außenstehenden zeigen. Nun, so meint er, heiratet einer die vielumworbene Königin (ψ 148-152). Dieser Mann da draußen spricht in seinem Irrtum doch die Wahrheit. Penelope wird sich wirklich neu vermählen, aber nicht mit einem der Freier, sondern mit dem, der die Bogenprobe bestand, mit dem heimgekehrten Odysseus, ihrem alten Gatten. Der Tadel, der draußen über Penelope gesprochen wird, verkehrt sich somit in ihr höchstes Lob. Zu den Vorbereitungen der Hochzeit gehören auch Bad und Bekleidung mit Festgewändern. Darum badet, salbt und bekleidet jetzt Eurynome ihren heimgekehrten Herrn (ψ 153-155), und Athene erhöht seine Gestalt und umgibt sie mit Anmut (ψ 156-163). Man hat gemeint, Bad und Erhöhung hätten die Aufgabe, die Rückverwandlung des Odysseus aus der Gestalt des Bettlers in die eigene herbeizuführen, und hat diese Partie mit der Rückverwandlung durch Athene vor der Erkennung durch Telemachos (π 172-176) verglichen2. Eine solche Ver1 Wer mit Schadewaldt (a.a.O., 17-19) und Focke (366-370) vermutet, daß in der ursprünglichen Odysae ψ 173 unmittelbar auf ψ 116 folgte, muß der Ansicht sein, daß die kleine „Bosheit" von ψ 115-116 bereits genügte, um die Wand zu durchstoßen, welche die Ehegatten noch immer trennt. Man lese einmal die Nacherzählung, die Schadewaldt (Von Homers Welt und Werk', Stuttgart 1959, 409—412) von ψ unter Auslassung von ψ 117- 172 gibt, und urteile selbst, ob so wirklich die ursprüngliche Schönheit der Szene wiederhergestellt wird. Wir jedenfalls können uns des Eindrucks nicht erwehren, als werde die Schönheit auf diese Weise eher zerstört. 2 Schadewaldt, Neue Krit. 20-22, dort weitere Literatur.

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Wandlung ist aber in Wahrheit nicht mehr nötig, denn der Dichter hat es verstanden, „den Odysseus allein durch den Fortgang des Geschehens über den Bettler hinauswachsen zu lassen" 1 . Was sich hier vollzieht, hat in Wahrheit seine Parallele nicht so sehr in der Rückverwandlung in π, sondern vor allem in der Erhöhung des Odysseus bei seiner Begegnung mit Nausikaa (ζ 224—245). Auch dort begegnet er der Königstochter zuerst so, wie er den Schiffbruch bestanden hat: ώς τε λέων όρεσίτροφος, άλκΐ πεποιθώς, ος τ* εΐσ' ύόμενος και άήμενος, έν δέ οί οσσε δαίεται· αύτάρ ó βουσί μετέρχεται ή όΐεσσιν ήέ μετ' άγροτέρας έλάφους· κέλεται δέ έ γαστήρ μήλων πειρήσοντα καΐ ές πυκινόν δόμον έλθ-εϊν ώς Όδυσεύς κούρησιν έϋπλοκάμοι,σ'.ν εμελλε μείξεσθ-αι, γυμνός περ έών χρειώ γάρ ίκανε. σμερδαλέος δ' αύτησι φάνη κεκακωμένος άλμη. (ζ 130-137) Nausikaa kann in dieser entstellten Gestalt die wahre άρετή des Odysseus nicht erkennen, doch als seine Entstellung durch Bad und Bekleidung behoben ist und Athene seine Gestalt erhöht und mit Anmut umgeben hat 2 , bewundert sie ihn, preist seine άρετή und vergleicht ihn mit den Göttern (ζ 237-245). Der durch Athene derart erhöhte Odysseus setzt sich wieder Penelope gegenüber. Die Szenerie von ψ 88-116 stellt sich anscheinend wieder her. In Wahrheit hat sich jedoch ein entscheidender Wandel vollzogen. Nicht nur, daß der Hintergrund sich gewandelt hat: Tanz, Gesang und Saitenspiel statt Blut, Feuer und Schwefel. Auch Odysseus ist ein anderer geworden. Nicht mit einem blutbefleckten Löwen wird er mehr Schadewaldt, a . a . O . 22. Die Parallele wird vom Dichter auch dadurch betont, daß er die Erhöhung des Odysseus durch Athene in ζ und ψ mit den gleichen Worten beschreibt: ζ 230-235 = ψ 157-162. Vgl. Schadewaldt, Neue Krit. 21 A. 19. Man sollte endlich einsehen, daß Iterate nicht ein Zeichen von „Unbekümmertheit" des Dichters sind, der sich für ein paar Verse lang die Mühe des Neuerfindens sparen will, sondern Bestandteil der Rhapsodentechnik und oft genug ein bewußt verwandtes Kunstmittel, das den Hörer auf Zusammenhänge und Parallelen aufmerksam machen soll, die ihm sonst entgehen würden. Man hat gemeint, auch ψ 153ff. aus der ursprünglichen Od. herauslösen und dem jüngeren Dichter zusprechen zu müssen (Von der Mühll 761, Focke 368, Schadewaldt, a.a.O. 20-22), doch dürfte schon der Verweis auf die von keinem Analytiker (außer E . Schwartz (Die Od., München 1924, 12-16), der von Focke (101-111) überzeugend widerlegt wird) angefochtene Partie in ζ zeigen, daß auch dem Dichter der „Heimkehr des Odysseus" solche Erhöhungen durchaus nicht fremd sind. Wenn aber Athene ihren Schützling vor Nausikaa zu erhöhen für nötig hält, dann sollte sie es auch vor Penelope nicht versäumen. Daß Penelope beim Anblick des erhöhten Odysseus „in eine erregte Verwunderung ausbrechen" müßte (Schadewaldt, a. a.O. 21 A. 20), bleibt eine Vermutung. Nausikaa reagiert jedenfalls ζ 237-245 sehr viel ruhiger. Vgl. auch Lesky, Rez. Schadewaldt 15. 1

2

Erkennung durch Penelope

ΙΟδ

verglichen, sondern mit den Unsterblichen. Nur Penelope, die jetzt wieder in den Gesichtskreis des Hörers rückt1, scheint unverändert in ihrem τάφος zu verharren. Odysseus, der jetzt, da Telemachos, der wohlmeinende Vermittler von eben, nicht mehr anwesend ist, das Wort unmittelbar an seine Gattin richtet, wiederholt darum mit Recht die tadelnden Worte seines Sohnes2. Wieder erklingt die Zeitformel wie zur Beglaubigung dessen, daß wirklich Odysseus der Redende ist (ψ 166170). Er drängt seine Gattin nicht, ihn anzuerkennen. Wiederum iiberläßt er die Lösung dieses schier unlösbaren Rätsels, das ihm diese Frau bedeutet, der Zukunft und wendet sich dem Nächstliegenden zu. Er hat einen schweren Tag gehabt und will ins Bett gehen (ψ 171-172). Jetzt endlich geschieht das Wunderbare, daß Penelope Odysseus unmittelbar anredet, ein Wunder, an dem die gewandelte Szenerie und das Eingreifen Athenes sicher nicht ohne Anteil sind. Sie weist seine Vorwürfe zurück: „Weder denke ich zu gering von dir - dies war der Vorwurf in ψ 116 gewesen - , noch überfällt mich Staunen bei deinem Anblick - wie Nausikaa in ζ und Telemachos in π - , sondern ich weiß wohl, wie du (!) warst, als du aus Ithaka fortzogest" (ψ 174-176). Das ,,du" zeigt, daß sie ihn jetzt sehr wohl als den erkennt, der er einst war und der er jetzt ist, aber ein letzter Rest des Mißtrauens bleibt ihr noch immer. Darum nimmt sie zu den σήματα κεκρυμμένα ihre Zuflucht. Sie greift das Stichwort des λέχος auf, das Odysseus ihr arglos3 gegeben hatte, und stellt ihn auf die Probe : „Rücke ihm das Bett heraus, das er 1 Man h a t von einem „Mangel an natürlichem Gefühl f ü r das Schickliche" gesprochen, weil sich w ä h r e n d der Verse ψ 117-163 niemand u m Penelope kümmere, sondern sie sitzen u n d warten müsse, bis Odysseus wieder das Wort a n sie richte (A. Kirchhoff, Die homerische Od. 1 , Berlin 1879, 554). Hier ist an τ 361-504 zu erinnern, wo Penelope ebenfalls „warten m u ß " , bis die Fußwaschung beendet ist. I n Wahrheit gehört die Aufmerksamkeit des Zuhörers hier wie d o r t völlig dem gerade berichteten Geschehen, u n d Penelope rückt währenddessen völlig aus seinem Gesichtskreis, in den sie n u r während der Verse τ 476—479, als sie ausdrücklich erwähnt wird, f ü r kurze Zeit wieder einbezogen wird. 2 D a ß ψ 166-170 die Verse 97-103 wiederholen, ist gewiß keine „im Sinne originaler Dichtung nicht erträgliche I t e r a t i o n " (Schadewaldt, Neue Krit., 21 A. 20). Eine solche Wiederholung entspricht der Verfahrensweise archaischer Dichtung, die auf diese Weise anzudeuten versucht, daß nach Durchschreiten eines Kreises der Ausgangspunkt wieder erreicht ist. Es handelt sich um das Prinzip der Ringkomposition. Vgl. z.B. τ 464—468 ~ 392-394 oder in der Tragödie E u r . Hei. 805-814 ~ 1035-1049 (s. oben 44). - Daß Odysseus als erster Penelope anredet u n d nicht sie ihn, ist zutiefst notwendig. Dieses Gefühl veranlaßte wohl a u c h V o n d e r M ü h l l (762), diese Verse der ursprünglichen Od. zu belassen. - D a ß das, was eben noch im Munde des Sohnes ein „liebevolles Scheltw o r t " war, j e t z t in d e m des Gatten „ein harter Vorwurf" sein soll (Schadewaldt, a.a.O.), will nicht recht einleuchten. 8 Dies m u ß gegen Focke (369) betont werden. F ü r Arglosigkeit des Odysseus spricht auch όχθήσας in ψ 182.

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Νόστος - ' Αναγνώριση - Μηχάνημα

selbst gebaut hat (ψ 177-180)1. Odysseus „fällt herein" auf Penelopes Worte, zum sicheren Zeichen dessen, daß er wahrhaft der ist, der er zu sein behauptet. Er fährt auf und weist seine Gattin aus seinem besseren Wissen heraus zurecht: „Das Bett, das ich gebaut habe, läßt sich nicht verrücken, denn mit ihm ist ein μέγα ση μα verbunden" (ψ 183-201). Hinter der Frage, ob ihm das Bett noch an der alten Stelle stehe (ψ 202204), erklingt verborgen die andere Frage, ob ihm die Gattin in der langen Zeit seiner Abwesenheit die Treue bewahrt habe. Jetzt endlich löst sich Penelopes Starrheit völlig. Sie bricht in Tränen aus und erkennt Odysseus durch Kuß, Umarmung und namentliche Anrede als ihren Gatten an (ψ 205-212). Sie leistet Abbitte für ihre anfängliche Zurückhaltung, die sie mit ihrer Furcht begründet, einem Betrüger zum Opfer zu fallen (ψ 213-217). Das Schicksal Helenas war ihr ein warnendes Beispiel dafür, welche Gefahren einer schutzlos alleingelassenen Frau drohen und welche furchtbaren Folgen weibliche Unbedachtsamkeit haben kann. Denn auch das Leid des Krieges um Troia, welches die Ursache für die schweren Schicksale des Odysseus und der Penelope war, ist durch Helenas unbedachte Hingabe herbeigeführt worden (ψ 218-224)2. Nun geben sich die endlich vereinten Ehegatten ganz ihrer Wiedersehensfreude hin, die mit Schmerz über die lange Trennung vermischt ist (ψ 231-240). Ein großes Gleichnis verleiht diesem Höhepunkt des Geschehens besonderes Gewicht. In geistreicher Verknüpfung von Anfang und Ende der Odyssee wird die Freude Penelopes über ihren zurückgekehrten Gatten mit der Freude des Schiffbrüchigen über das endlich erreichte Land verglichen, mit der Freude nach dem Leid also, 1 ψ 166-172 und 174-Í80 sind deutlich parallel gebaut: δαιμονίη - Tadel Heimkehr des Odysseus - άλλ' άγε μοι - Erwähnung des Bettes ~ δαιμόνι' - Abwehr des Tadels - Ausfahrt des Odysseus - άλλ'ίίγε οί - Erwähnung des Bettes. E s fällt uns darum schwer, zu glauben, diese beiden so deutlich aufeinander bezogenen Partien seien das Werk zweier verschiedener Dichter. - Richtig bemerkt auch Hölscher (73 Α. 1): „Penelope kann ihn (Odysseus) nicht wohl zu Bett schicken, wenn er nicht selber diesen Wunsch geäußert hat, 177 ist also von 171 nicht zu trennen, wie Wilamowitz will." 2 Das schon von Sch. vulg. ψ2 18 getadelte und athetierte Helenabeispiel hat auch in neuerer Zeit immer wieder Anstoß erregt (Kirchhofif, a . a . O . 531, Wilamowitz, Die Heimkehr des Odysseus, Berlin 1927, 71 Α. 1, Von der Mühll 762-763, Schadewaldt, Neue Krit. 24). Doch sehen wir keinen Grund, es der ursprünglichen Odyssee abzusprechen. Denn der Rückgriff auf den Beispielvorrat des Mythos ist die Weise, in der sich der Mensch im E p o s seines Handelns vergewissert, und Penelope, deren übergroße Vorsicht sich als unnötig herausgestellt hat, bedarf allerdings einer solchen Vergewisserung. Indem sie auf das von Helena verursachte Leid des troischen Krieges verweist, begründet sie ihre übergroße Vorsicht letztlich damit, daß sie aus dem Leid gelernt hat, das gerade sie und ihren Gatten so schwer getroffen hat. Auch sonst sind überall in der Od. Helena und Klytaimestra die παραδείγματα, mit denen Penelope verglichen wird. Die modernen Analytiker bemühen sich zwar, alle Erwähnungen der Atriden und ihrer Frauen einer jüngeren Schicht zuzuweisen, doch darf man immerhin bezweifeln, ob das der richtige Weg ist.

Odyssee - Nostoi

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das Odysseus so oft erdulden mußte. Auch hier bezeichnet die Formel der Überleitung den Ruhepunkt, den das epische Geschehen mit der Vereinigung der so lange Getrennten erreicht hat (ψ 241-242) 1 . § 2. Die Nostoi Wie unser Überblick über die πείρα- und άναγνώρισις-Partien der letzten elf Gesänge der Odyssee zeigt, enthält dieses Epos eine Erkennungshandlung, wie sie sich reicher in keiner Tragödie finden könnte. Doch das, was der epische Dichter bereits souverän zu handhaben weiß, müssen die unter ganz anderen Bedingungen arbeitenden Tragiker in ihrem Bereich noch einmal neu entwickeln. Dabei können sie allerdings immer wieder auf den reichen Formenvorrat zurückgreifen, der in der Odyssee schon bereitliegt. Das gilt insbesondre dann, wenn sie eine Situation darzustellen haben, die derjenigen der Odyssee ähnlich ist, wenn also auch sie zu zeigen haben, wie ein Heimkehrer von seinen daheimgebliebenen Angehörigen erkannt wird. Freilich darf nicht verschwiegen werden, daß die Odyssee nicht das einzige Epos ist, in dem von Heimkehr und Erkennung erzählt wurde. Wir wissen nicht allzuviel über das kyklische Epos, das die antiken Autoren unter dem Namen ,Νόστοι' zitieren2, doch ist uns immerhin bekannt, daß es von der Heimkehr der Achäerfürsten handelte, die Troia erobert hatten, und zwar vor allem von der Heimkehr der beiden Atriden. In der kurzen Inhaltsangabe des Epos, die uns in der Chrestomathie des Proklos erhalten ist 8 , wird unter den Helden, deren Heimkehr erzählt worden sein soll, auch Diomedes genannt. Leider verrät uns Proklos nicht, wohin Diomedes zurückgekehrt ist. Doch läßt sich vermuten, daß er nicht nach Argos ging, der Wahlheimat seines Vaters Tydeus, wo ihn der Schiffskatalog ansiedelt (B 559-568), sondern nach Kalydon zu seinem Großvater Oineus, der dort in arger Bedrängnis lebte. Hier wäre Gelegenheit sowohl zu einer Erkennung als auch zu einer Bachetat gewesen, doch wissen wir nicht, ob sie der Dichter genutzt hat 4 . Eine andere άναγνώρισις dagegen erwähnt Proklos ausdrücklich : Peleus erkennt seinen heimkehrenden Enkel Neoptolemos. Auch hier scheint der Erkennung eine Rache- und Befreiungstat gefolgt zu sein; jedenfalls wird erzählt, daß die Ankunft des Neoptolemos für Peleus die Rettung aus größter Not bedeutete 5 . Freilich wissen wir nicht, ob diese Erzählung auf das Epos zurückgeht oder auf Tragödien, in denen das, was das Epos nur andeutete, breit ausgestaltet worden 2 Fragmente bei Allen, Homer V, 140-143. Vgl. oben 99 A. 2. Allen, a.a.O. 108-109. 4 Wenn ja, dann wäre hier das epische Vorbild für Eur. Oineus zu suchen. Vgl. unten 126 A. 3. * Dictys Cret. 6, 7-9. - Zum Peleus des Eur. vgl. unten 12β A. 3. 1 3

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

war. Den wirkungsvollen Abschluß der Nosten scheint, wenn wir der Inhaltsangabe vertrauen dürfen, die Heimkehr des Orestes aus Phokis nach Mykene und die Rache für die Ermordung seines Vaters an Aigisthos gebildet zu haben. Eine άναγνώρισις des Orestes durch die treugebliebenen Angehörigen und Hausgenossen Agamemnons wird hier nicht gefehlt haben 1 . Es gilt allerdings für die Orestesepisode ebenso wie für die Diomedesund Neoptolemosepisode zu bedenken, daß dieses Epos, das nach Proklos nur fünf Gesänge umfaßt haben soll, die Fülle seines Stoffes kaum anders als summarisch behandelt haben kann. Die Bedeutung dieser Episoden für die Tragödie beschränkt sich also wohl allein auf das Stoffliche. Denn wir dürfen annehmen, daß der Odysseedichter, der große Teile des Stoffes der Nosten sehr kunstvoll in die Telemachie eingebaut und dadurch das ältere Epos eigentlich überflüssig gemacht hat 2 , auch in der Behandlung des Erkennungsmotives zwar manches aus den Nosten aufgenommen, aber doch überall einen gehörigen Schritt über seinen Vorgänger hinaus getan hat. Gerade das, was die Erkennungspartien der Odyssee so reizvoll macht, das Bemühen um formale Differenzierung und um die Wiedergabe von Gefühlsnuancen, dürfte man in den Nosten wohl vergebens gesucht haben. § 3. Aischylos „Choephoren" Die erste Erkennungsszene, die uns in den erhaltenen Tragödien begegnet, ist die der „Choephoren" des Aischylos (V. 166-245) 3 . Orestes der fern von Argos am Hofe des Phokerkönigs Strophios aufgewachsen ist, kehrt zusammen mit Pylades, dem Sohne des Strophios, in seine Heimatstadt zurück, um die Ermordung seines Vaters Agamemnon an Aigisthos und Klytaimestra zu rächen. Wie in der Odyssee handelt es sich also um eine Heimkehr in Verbindung mit einer Rachehandlung, nur daß hier ein Königssohn dorthin zurückkehrt, wo einst sein Vater 1 Hierher gehört vielleicht auch die von C. Robert (Bild und Lied, Philologische Untersuchungen 5, Berlin 1881, 164—166) erschlossene und von Wilamowitz (Aischylos Orestie, II, Berlin 1896, 252-255) einer „delphischen Orestie" zugewiesene Version, nach der Talthybios am Grabe Agamemnons die Erkennung zwischen Orestes und Elektra vermittelt haben soll. 2 E. Bethe (Homer, II 2 , Leipzig und Berlin 1929, 262-283) macht die Priorität der Nosten vor der Od. wahrscheinlich. In der Od. werden die Nosten überall vorausgesetzt, nicht nur in der Telemachie und anderen als jung geltenden Partien, α 11-12 und ε 105-109 z.B. lassen sich nur vor dem Hintergrund der Nosten verstehen, beides Partien, die von der Analyse meist unangefochten gelassen werden. Hölscher (76 Α. 1) bestreitet freilich die Priorität der Nosten, geht jedoch auf die eben genannten Stellen nicht ein. - Der dichterische Rang der Nosten wird von Bethe wohl weit überschätzt. Richtiger urteilt vermutlich Lesky (Griech. Lit. 78), der vom „Katalogartigen der Komposition" spricht. 3 Vgl. auch Diller 95-96.

Nostoi - „Choephoren"

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herrschte, jetzt aber ein fremder, dem heimkehrenden Prinzen feindlich gesonnener Usurpator regiert, während in der Odyssee ein König von einem Kriegszug an seinen angestammten Hof zurückkehrte. Dieser Unterschied ist aber für die Erkennungshandlung unwesentlich, denn auch Orestes ist der Hof, an den er gelangt, aus den Erzählungen seiner Erzieher genau bekannt. Er weiß, wem er dort begegnen wird, und wird jeden schon nach kurzer Zeit erkennen. Er selbst dagegen kann, da er schon als kleines Kind den Hof verlassen hatte, zunächst von niemandem erkannt werden, und kann erst die Gesinnung eines jeden in Ruhe prüfen, ehe er sich ihm zu erkennen gibt. Bei der großen Ähnlichkeit der Situation mit derjenigen der Odyssee ist zu erwarten, daß auch in der Form der Erkennungshandlung große Ähnlichkeit besteht. Schon im Prolog fällt auf, daß Orestes seine Schwester sofort bei ihrem Auftreten an der Spitze des Chores erkennt (V. 16) und nicht erst aus ihren Worten errät, daß er Elektra vor sich hat. Offenbar hat hier der Dichter nicht bedacht, daß Orestes, der ja in Phokis aufgewachsen ist, Elektra nicht ohne weiteres erkennen kann, sondern hat die Verhältnisse der Odyssee übernommen, wo es allerdings selbstverständlich ist, daß der heimkehrende Odysseus jeden in seiner Heimatstadt erkennt. Da nun Orestes nach dem Willen des Dichters Elektra sofort erkennt, handelt es sich bei der folgenden Erkennungsszene ebenso wie bei denen der Odyssee um den Fall einer einfachen άναγνώρισις. Die Erkennung des Orestes durch Elektra erfolgt in zwei Stufen. Zuerst schließt sie aus den Spuren, die er am Grabe zurückgelassen hat, auf seine Anwesenheit (V. 166-211), dann tritt Orestes vor und gibt sich zu erkennen (V. 212-245). Elektra, die den Grabhügel bestiegen hat, also dort steht, wo noch eben Orestes stand, bemerkt zunächst die Locke, die ihr Bruder geopfert hat (V. 166-168). Sie überlegt mit dem Chor, von wem die Gabe stammen kann (V. 169-176). Der Chor vermutet, Orestes könne der Spender gewesen sein (V. 177-178), doch Elektra nimmt diesem Gedanken sofort seine K r a f t : Orestes kann die Locke auch durch einen Boten geschickt haben (V. 179-180). So wäre der Fund also eher ein Anlaß zur Trauer als zur Freude (V. 181-182). Doch nun wird Elektra von einem wilden Ansturm neuerwachten Verlangens nach ihrem Bruder überwältigt (V. 183-187). Sie rechnet sich aus, daß niemand als Orestes der Spender der Locke gewesen sein kann (V. 187-194)1. Aber 1

Arist. (Poet. 16, 1455 a 4—6) erwähnt diese Stelle als Beispiel für eine άναγνώρισις έκ συλλογισμού. Doch der συλλογισμός, daß deswegen, weil niemand außer Orestes geopfert haben kann, Orestes in der Nähe sein muß, mag uns freilich zwingend erscheinen, Elektras Zweifel kann er nicht besiegen. Noch zur Zeit des späten Aisch. ist das Vertrauen in die Beweiskraft logischer Folgerungen offenbar gering. Wahrhaftes Wissen läßt sich nur durch einen zuverlässigen Boten vermitteln, und noch besser ist es, mit eigenen Augen zu sehen. Vgl. auch das Mißtrauen des Chores gegen die Feuerbotschaft Ag. 475—492.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

auch ihr Zweifel regt sich sofort wieder. Die Locke bleibt ja stumm und kann keine letzte Gewißheit geben (V. 195-200). Gewißheit gibt es nur bei den allwissenden Göttern (V. 201-204). Elektras Hoffnung, die sich eben noch so hoch erhoben hatte, ist also wieder in sich zusammengesunken. Noch ein zweites Mal und weit stärker erhebt sie sich aber, als sie beim Herabsteigen vom Grabhügel die Fußspur bemerkt, die Orestes hinterlassen hat, und als sie erkennt, wie ähnlich diese Spur ihrer eigenen ist (V. 205-211) 1 . In diesem Augenblick tritt Orestes hervor und gibt sich zu erkennen. Schon seine ersten Worte gelten der bevorstehenden Rachetat (V. 212-213). Er ist gekommen, damit ist der erste Teil von Elektras Gebet (V. 124-148) erfüllt, doch die Erfüllung des zweiten Teils, nämlich die Bitte um Bestrafung der Mörder, steht noch aus. Orestes stößt bei seiner Schwester zunächst auf Verständnislosigkeit, dann auf Mißtrauen. Sie fragt verwundert, warum denn ihr Gebet erfüllt sei (V. 214—218), und als er sich als Orestes zu erkennen gibt, fürchtet sie, das Opfer eines Betruges oder eines Scherzes zu werden (V. 219-224). Orestes ist erstaunt darüber, daß sie noch eben so nichtigen Gebilden wie einer Locke und einer Fußspur mehr vertraut hat als jetzt ihrem Augenschein 2 . Durch zwei Zeichen weiß er ihr Mißtrauen zu überwinden. Die Locke, die sie gefunden hat, stammt von ihm, und das Gewand, das er vorweist, ist von ihrer eigenen Hand (V. 225-232). Zugleich mahnt er sie zur Besonnenheit und erinnert sie an die von den Feinden drohende Gefahr (V. 233-234) 3 . Sie kann ihre Wiedersehensfreude darum nur in einer kurzen, ganz unpathetischen Rede kundtun, in der sie Orestes vor allem als den ersehnten Rächer des 1 Zur Frage der Echtheit von V. 205-211 und, damit zusammenhängend, von V. 228-229 vgl. insbes. E. Fraenkel, Aisch. Ag., III Oxford 1950, 815-826. Mögen auch V. 207-208 nicht über allen Zweifel erhaben sein, so scheinen uns doch auf jeden Fall V. 205-206 und 209-210 unanfechtbar zu sein. Ein neues Erwachen der Hoffnung Elektras nach der Unsicherheit von V. 195-204 ist in der Stimmungskurve der Szene unentbehrlich, andernfalls würde der Kontrast zu der abermaligen Unsicherheit in V. 220-224 fehlen. Anders freilich Böhme, 201. Der Anblick der Fußspur hätte Elektra nach Böhmes Ansicht endgültige Gewißheit über das Kommen des Orestes geben müssen, und es wäre unverständlich, warum sie dann in V. 220-224 erneut schwankte. Doch vgl. das in der vorigen Anm. Gesagte. - Die von Fraenkel wiederholte Meinung von Schütz, V. 212 schlösse sich bruchlos an V. 204, können wir nicht teilen. Denn V. 212213 beziehen sich nicht auf V. 201-204, sondern zurück auf Elektras Gebet V. 124-148. Vgl. auch πάλαι V. 215. - Vor allem vgl. jetzt den wichtigen Aufsatz von H. Lloyd-Jones, CQ 55, 1961, 171-184. 2 Die Erwähnung der Fußspur in V. 228 darf nicht fehlen, denn sie bedeutet eine Steigerung gegenüber derjenigen der Locke. Schon eine Locke ist ein winziges, kaum wahrnehmbares Gebilde, eine Fußspur aber ist ein Nichts. Diesen Dingen hat Elektra vertraut, den leibhaftig vor ihr stehenden Orestes aber will sie nicht anerkennen. - Anders Böhme 201, Fraenkel, a.a.O. 818. 8 Eine weitere Mahnung spricht V. 264-268 der Chor aus.

„Choephoren"

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Vaters begrüßt und mehr die Gründe für ihre Liebe zum Bruder darlegt, als daß sie diese Liebe unmittelbar äußerte (V. 235-245). Damit hat die Erkennungshandlung ihr Ziel erreicht. Im folgenden Gebet des Orestes (V. 246-263), das die Hilfe des Zeus herbeiruft, ist die Vereinigung der Geschwister schon so sehr zum sicheren Besitz geworden, daß sie mit keinem Wort mehr erwähnt wird. Die Ähnlichkeit der Erkennungsszene mit den beiden Partien der Odyssee, die wir ausführlich besprochen haben, ist unverkennbar. Bei dem Schwanken Elektras zwischen Niedergeschlagenheit und heftig aufflammender Hoffnung, bei ihrer Furcht vor Betrug oder Verspottung denken wir an das Gespräch zwischen Eurykleia und Penelope (ψ 1-84), doch wird hier die Funktion der Vermittlerin Eurykleia durch die Zeichen am Grabe wahrgenommen. Eine Erkennung in einer Dreipersonenszene zu gestalten, überstieg anscheinend noch die Möglichkeiten des Aiechylos1. Der Zug, daß in dem Moment, als zu den Zeichen der Augenschein tritt, das Mißtrauen Elektras nicht besiegt, sondern sogar noch stärker wird, ist den „Choephoren" mit der Erkennung zwischen Penelope und Odysseus (ψ 85-240) gemeinsam. Doch deutet Aischylos dieses Motiv nur an, ohne es weiter auszugestalten. Er darf der άναγνώρισις nicht zu viel Gewicht geben. Denn sie ist nur eine von mehreren Voraussetzungen für den Vollzug der Rache und nicht einmal die wichtigste unter ihnen. Sie ist nicht, wie die zwischen Odysseus und Penelope, der Zielpunkt eines langen Geschehens, sondern in ihrer Funktion eher der Szene zu vergleichen, in der sich Odysseus kurz vor dem Freiermord den Hirten zu erkennen gibt (φ 188-244). Hier wie dort wird deutlich spürbar gemacht, daß die Erkennungshandlung der Bachehandlung untergeordnet ist. Ehe Odysseus sich zu erkennen gibt, fragt er die Hirten, wie sie sich bei einem Kampf gegen die Freier verhalten würden (φ 193-198), und hinterher lenkt er ihre Gedanken alsbald wieder auf den bevorstehenden Kampf zurück (φ 228-241). Ähnlich handeln schon die ersten Worte des auftretenden Orestes von der Rachetat (V. 212-213), und ehe Elektra noch ihre Wiedersehensfreude hat äußern können, mahnt er von neuem an das Bevorstehende (V. 233-234). Auch Elektra begrüßt Orestes zuerst als Rächer (V. 235-237) und erst dann als ihren heimgekehrten Bruder (V. 238-243). § 4. Euripides' „Kresphontes" Wahrscheinlich ist es Euripides gewesen, der als erster eine Erkennungshandlung nach dem Vorbild der „Choephoren" gestaltet und dem Erkennungsmotiv neue Züge hinzugefügt hat. Bereits im „Ai1 Aisch. hat in der Orestie zwar schon den dritten Schauspieler eingeführt (Kaeeandra im Ag., οίκέτης in den Cho., Apollon in den Eum.), doch macht er nur zögernd Gebrauch von ihm.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

geus" scheint er dargestellt zu haben, wie eine άναγνώρισις es noch im letzten Augenblick verhütet, daß ein an den Hof seines Vaters heimkehrender Königssohn von diesem aus Unkenntnis ermordet wird. Beser greifbar wird uns erst der vor 425 aufgeführte „Kresphontes"1, in dem ein ähnlicher Stoff behandelt wird und zwar, wie sich noch an dem wenigen, was wir von diesem Stück besitzen, deutlich erkennen läßt, in engem Anschluß an die Handlung der „Choephoren". Aus Hygins Erzählung2 läßt sich mit ziemlicher Sicherheit der Handlungsverlauf der verlorenen Tragödie rekonstruieren. Ein Usurpator namens Polyphonies hat den rechtmäßigen König von Messene getötet und dessen Witwe Merope gegen ihren Willen zu seiner eigenen F r a u gemacht. Es ist ihr aber gelungen, ihren kleinen Sohn als künftigen Rächer zu einem Gastfreund zu retten. Ein alter treuer Diener hält die Verbindung zwischen Mutter und Sohn aufrecht. Sobald der Sohn erwachsen ist, kehrt er als Rächer seines Vaters nach Messene zurück. E r ist der Sprecher des Prologes, in dem er die Vorgeschichte erzählt und sich vorstellt. U m ungefährdet handeln zu können, meldet er nicht nur wie Orestes den eigenen Tod, sondern gibt sich sogar als sein eigener Mörder aus. Seine Mutter aber wird durch die falsche Todesnachricht in tiefste Verzweiflung gestoßen. Als sie durch den alten Diener erfährt, ihr Sohn sei bei dem Gastfreund nicht mehr aufzufinden, f a ß t sie, wohl in einer Szene gemeinsamer Beratung mit dem Diener 3 , den Plan, den Mörder ihres Sohnes zu töten. Schon erhebt sie das Mordbeil gegen den schlafenden Sohn, da erkennt der Diener den Schläfer 4 . Nach einer kurzen Szene der Wiedersehensfreude, der eine Mahnung zur Besonnenheit und Vorsicht bald ein Ende bereitete 5 , wird der Racheplan wieder aufgenommen. Merope versöhnt sich zum Schein mit Polyphontes, und ihr Sohn erschlägt den Usurpator in dem Augenblick, als er fröhlich über den Tod des letzten möglichen Rächers und über die Versöhnung mit seiner Gemahlin ein Opfer darbringt.

Die Gemeinsamkeiten dieses Dramas mit den „Choephoren" sind auf den ersten Blick erkennbar und brauchen nicht aufgezählt zu werden. Uns interessieren vor allem die Abweichungen gegenüber dem Vorbild. Hier wie dort bildet die Ausführung eines Racheplanes den Zielpunkt der Handlung, und die Erkennung ist eine Etappe auf dem Wege zu diesem Ziel. Aber bei Eurípides haben sich die Akzente verschoben. Eine zweite Rachehandlung ist hinzugekommen, die der Rächer unbeabsichtigt durch eine Einzelheit seines Planes gegen sich ausgelöst hat. Dieses durch die Erkennung durchkreuzte μηχάνημα der 1 Zum Aigeus und anderen Erkennungsdramen des euripideischen Frühwerks vgl. unten 126 A. 3. - Zur Datierung von Aigeus und Kresphontes vgl. Lesky, Trag. Dicht. 164 A. i und 188 A 1, ferner Solmsen, Ion, 407 A. 2. - Zum Kresphontes vgl. A. Calderini (De Cresphonte Euripideo, R I L , I I , 46, 1913, 165-572), der aber sicher zu Unrecht den P a p . Didot diesem Drama zuteilt. - Die neugefundenen Bruchstücke dieses Dramas (POxy. 2458) konnten wir leider nicht mehr berücksichtigen. 2 3 Hygin fab. 137. Eine homologe Szene findet sich Ion 725-858. 1 Die Erzählung Hygins wird an dieser entscheidenden Stelle durch fr. 456 N. und seinen K o n t e x t bei Plutarch und durch Arist. (Poet. 14, 1454a 5) bestätigt. 5 Dies dürfen wir aus der homologen Szene der Cho. schließen.

„Kresphontee"

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Mutter gegen den Sohn erhält mehr dramatisches Gewicht als das durch die Erkennung ermöglichte μηχάνημα der Vereinten gegen den Usurpator. Der Vollzug der Rache, in den „Choephoren" die eigentliche Handlung, wird an den Rand gedrängt, während die zweite Handlung mit der Szenenfolge „Trauer über den Tod des Sohnes Planszene - Mordszene - Erkennungsszene" in den Mittelpunkt rückt. Diese zweite Handlung aber ist der Prägestempel, der das Stück als ein Werk des Euripides ausweist. Der Dichter hat in den Tragödien der Medea-Zeit immer wieder dargestellt, wie einer Frau im tiefsten Leid der θυμός erwächst, der sie den Entschluß zu einer kühnen Rachetat fassen läßt 1 . Dieses Motiv, in der „Medea" das Thema einer ganzen Tragödie, fügt er hier als dramatische Verwicklung in eine Handlung ein, die nach der Weise der „Choephoren" über die Stufen „Ankunft des Rächers - Erkennung - Rachetat" verläuft. Ein Ansatz zu einer solchen Verwicklung findet sich schon bei Aischylos. Als Orestes die falsche Todesnachricht überbracht hat (V. 674—690), offenbart die Rede der Kilissa (V. 734-763) die Wirkung der Nachricht auf die Feinde und die Freunde des Orestes: Klytaimestra frohlockt heimlich, und die alte Amme trauert. Was bei Aischylos nur eine kleine Episode war, wird jetzt zum wichtigsten Handlungeelement. Auf diese Weise kann Euripides in der zentralen Szene des Stückes ein eindringliches Symbol für die menschliche άγνοια schaffen : Merope erhebt voll Zorn und Rachedurst gegen den vermeintlichen Mörder ihres Sohnes das Beil über einen Schlafenden, der niemand anders ist als der Sohn, dessen Tod sie betrauert. Das technische Problem der Erkennung wird von Euripides, der sich in diesem Punkt immer um größte Wahrscheinlichkeit bemüht, durch die Einführung des alten Dieners gelöst. Er, der schon bisher die Verbindung zwischen Mutter und Sohn aufrechterhalten hatte, wird schließlich auch zum Vermittler der Erkennung. Neben dem uns aus den „Choephoren" bekannten Typ der Erkennung einer Person, die sich durch γνωρίσματα legitimiert, begegnet uns hier zum ersten Male die durch eine dritte Person vermittelte άναγνώρισις. Euripides ist nicht der Erfinder dieser Form. Bereits in τ und ψ versuchte Eurykleia, wenn auch erfolglos, die Erkennung zwischen Odysseus und Penelope zu vermitteln. In den Nosten scheint Talthybios eine ähnliche Vermittlerrolle zwischen Orestes und Elektra gespielt zu haben 2 . In dem mit dem „Kresphontes" etwa gleichzeitigen „König Oidipus" 1

Solmsen, Intriguenmotiv, beschreibt sehr gut die Bedeutung des μηχάνημα in den frühen θυμός-Dramen des Eur. und die andersartige Funktion, die dem Motiv in den Dramen um 415 zukommt, berücksichtigt aber nicht den Kresphontes, der die Brücke zwischen den beiden von ihm beschriebenen Dramentypen bildet. 2 Vgl. oben 108 Α. 1. 8

8089

Matthieucn

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Νόστος - Άναγώρισις - Μηχάνημα

gestaltet Sophokles eine άναγνώρισις, die durch das Zusammentreffen zweier Vermittler herbeifgeührt wird. Das genaue zeitliche Verhältnis der beiden Tragödien ist unbekannt. Doch ist es gut denkbar, daß der um Exaktheit in den Erkennungsszenen so sehr bemühte Euripides entweder im „Kresphontes" oder in einem früheren Stück die Form der vermittelten άναγνώρισις in die Tragödie eingeführt hat. Die von Sophokles verwandte Form der durch zwei Personen vermittelten Erkennung ist jedenfalls komplizierter und damit entwicklungsgeschichtlich später als die im „Kresphontes" vorliegende Form. § 5. Sophokles'

„Elektro,"

Der nächste Markstein in der Geschichte der Entfaltung unseres Motives ist die „Elektra" des Sophokles 1 . Wie „Choephoren" und „Kresphontes" ist die „Elektra" ein Rachedrama, aber wie bereits im „Kresphontes" wird die unbeabsichtigte Wirkung des μηχάνημα auf die Freunde des Rächers zum eigentlichen Inhalt der Tragödie. Im „Kresphontes" wurde die falsche Todesnachricht und das dadurch ausgelöste μηχάνημα Meropes die Erkennung hinausgeschoben und auf diese Weise die Rachehandlung retardiert. Sophokles geht in der „Elekt r a " noch einen Schritt weiter. Der Vollzug der Rache wird so sehr an den Rand gedrängt, daß ihr zweiter Teil, die Ermordung des Usurpators Aigisthos, überhaupt nicht mehr dargestellt wird. Dem Dichter genügt es, gezeigt zu haben, daß der feindliche König mattgesetzt ist, den Rest kann er der Einbildungskraft des Zuschauers überlassen. Auch die Erkennungsszene schiebt er weit hinaus. Erst als bereits zwei Drittel des Dramas verstrichen sind, treten sich Orestes und Elektra gegenüber. Erst dann steht die Handlung auf der Stufe, die in den „Choephoren" schon im ersten Epeisodion erreicht wird. Dort war Orestes eindeutig die Hauptgestalt, und Elektra war eine Nebenfigur. Im „Kresphontes" war die leidende und aus ihrem Leid heraus handelnde Frau gleichberechtigt neben den Vollstrecker der Rache getreten. In der „Elektra" aber bleibt Orestes dem Zuschauer ziemlich gleichgültig, zumal da das Problem des Muttermordes, durch das Orestes zur tragischen Gestalt werden könnte, vom Dichter bewußt ausgeschlossen wird 2 . Dadurch hat sich alles Gewicht auf die Seite Elek1 Auf die große Ähnlichkeit zwischen Kresphontes lind Soph. El. haben schon Τ. v. Wilamowitz (251-254) und Diller (100-101) hingewiesen. - Zur El. vgl. ferner Reinhardt, Soph. 145-171, Friedrich 150-153, Lesky, Trag. Dicht. 124127, Schadewaldt, Elektra 295-296. 2 Die Frage nach der Rechtfertigung des Muttermordes wird also weder negativ beantwortet wie bei Eur. noch positiv, wie diejenigen Interpreten meinen, die Soph, eine antiaischyleische (Pohlenz I, 323) oder antieuripideische (Wilamowitz, Elektron 233-239) Tendenz zuschreiben wollen, sondern überhaupt nicht gestellt. Vgl. oben 81 und A. 6, ferner Reinhardt, Soph. 145 und A. 2.

Sophokles' „Elektra"

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tras verschoben. Sie breitet in der großen lyrischen Eingangspartie und in ihrer anschließenden Rede die Fülle ihrer Leiden aus. Sie bewegt Chrysothemis, nicht Klytaimestras, sondern ihre eigenen Opfergaben dem toten Vater zu spenden. Sie besiegt Klytaimestra in einem großen Redestreit. Erst die Todesnachricht wirft sie so sehr zu Boden, daß sie auch dann nicht mehr Hoffnung fassen kann, als Chrysothemis ihr auf Grund sicherer Zeichen die Ankunft des Orestes meldet. Doch auch jetzt bleibt sie ungebrochen. Wie bei Medea, Merope, Hekabe erwächst auch bei ihr aus dem tiefsten Leid ein kühner Plan. Da der letzte Rächer gestorben ist, will sie selbst die Rachepflicht auf sich nehmen. Das ist ein unerhörter Entschluß, denn Rache ist keine Angelegenheit der Frauen, und mit Recht mahnen Chrysothemis und der Chor zur Besonnenheit. Bereits in den „Trachinierinnen" hatte Sophokles dargestellt, wie eine leidende Frau aus ihrem Leid heraus zu handeln beginnt. Allerdings war Deianeiras Handeln kein kühnes Wagnis, sondern eher ein unsicheres Tasten zu nennen1. Inzwischen hatte Euripides an immer neuen Beispielen gezeigt, welcher Tatkraft und Entschlossenheit eine leidende Frau fähig ist. Gleichzeitig hatte er in den lyrischen Eingangspartien von „Medea", „Andromache" und „Hekabe" die Form entwickelt, in der sich tiefstes Leid, das den Menschen aus allen Bindungen der Gemeinschaft löst, am eindringlichsten darstellen läßt2. Die „Elektra" zeigt jetzt, wie Sophokles nicht nur einzelne Ideen und Formen von Euripides übernimmt, sondern ihn sogar auf seinem eigenen Felde zu besiegen versteht. Denn neben der an Innigkeit des Gefühls und an formaler Vollendung einzigartigen „Elektra" können sich von allen Frauendramen des Euripides nur der „Hippolytos" und die „Medea" behaupten. a) Die Zeichen am Grabe (V. 871-937) Uns muß hier vor allem die Erkennungshandlung interessieren. Der sophokleischen „Elektra" ist mit den „Choephoren" gemeinsam, daß hier wie dort Elektra schon vor der Begegnung mit Orestes durch Zeichen von seiner Ankunft Kenntnis erhält (V. 871-937). Aber sie erfährt hier erst davon, als sie sicher zu wissen meint, daß Orestes nicht mehr lebt, und gegen dieses vermeintliche sichere Wissen vermögen die Zeichen nichts. Abweichend ist ferner gegenüber den „Choephoren, daß nicht Elektra selbst die Zeichenfindet,sondern ihre Schwester Chrysothemis, wie überhaupt die Rolle der Chrysothemis, die auf Befehl Klytaimestras zum Grabe geht und dort nicht im Namen der 1 2 8*

Zur Datierung der Trach. vgl. oben 22 A. 1. Vgl. oben 20-22.

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Νόστος — Άναγνώρισις - Μηχάνημα

Mutter, sondern in Elektras Namen betet, vieles von der aischyleischen Elektrarolle übernommen hat 1 . Der Anfang der Szene erinnert sehr stark an das oben besprochene „Weckgespräch" zwischen Eurykleia und Penelope (ψ 1-84) 2 . Freudig bewegt eilt Chrysothemis zu ihrer Schwester, überzeugt davon, daß sie die ersehnte Botschaft bringt, die Elektras Leid mit einem Schlage in Freude verwandeln wird: Orestes ist gekommen (V. 871-878 ~ ψ 5-9). Doch Elektra weist sie schroff zurück (V. 879-880 ~ ψ 11-16). Ihre Ablehnung ist aber sehr viel besser begründet als die Penelopes, die nur zu lange gewartet hat, als daß sie noch hoffen könnte. Denn Elekt r a meint zuverlässig zu wissen, daß Orestes gestorben ist. Chrysothemis hofft, mit einer bloßen Wiederholung ihrer Botschaft Elektras Ungläubigkeit zu überwinden (V. 881-882 ~ ψ 26-31). Zwar kann sie keinen Gewährsmann nennen, doch kann sie ihren eigenen Augen trauen und den sicheren Zeichen, die sie am Grabe gefunden hat (V. 885-886). Aber vergebens. Sie findet keinen Glauben bei ihrer Schwester, der sie ihren Bericht schließlich aufdrängen muß (V. 889-891). Dieser Bericht (V. 892-919) wirkt auf den ersten Blick wie eine Umsetzung der Szene der „Choephoren" (V. 166-211) in eine Rhesis. Doch fehlt hier naturgmäß das Schwanken zwischen Glauben und Zweifel, das für die aischyleische Szene charakteristisch ist. Chrysothemis muß ihre These rein und mit aller Entschiedenheit vertreten 3 , ebenso wie es auch für Elektra an der Gegenthese „Orestes ist t o t " keinen Zweifel geben darf. Chrysothemis hat am Grab eine frische Spende von Milch und Blumen gefunden (V. 893-896), dazu eine frischgeopferte Locke (V. 899-901). Eine plötzliche Eingebung läßt sie aus diesen Zeichen auf die Ankunft des Orestes schließen (V. 902-906), und letzte Gewißheit verschafft ihr die Überlegung, daß niemand anders als Orestes der 1 Joerden 182 A. 2: „Chrysothemis erscheint als eine Verbindung aus Elekt ra und Amme der Choephoren. Die Beeinflussung durch eine Person der Bühne entspricht der Kilissa, die Veränderung der Gebete erinnert an Elektra". 2 Zur Funktion der Szene im Ganzen des Dramas vgl. Reinhardt, Soph. 164— 195, ferner 168 Α. 1. T. v. Wilamowitz (194-195) gibt eine verfehlte Deutung der Szene, die auf einer falschen Einschätzung der Wirkung des Botentruges auf den Zuschauer beruht. Nachdem Orestes im Prolog aufgetreten ist und den Botentrug angekündigt hat, wird auch ein noch so wirkungsvoller Botenbericht den Zuschauer in keinem Augenblick vergessen lassen, daß Orestes lebt und daß die Rachetat nahe bevorsteht. 3 Der Zuschauer wird diese Rede nicht als „haltlose, schnell enttäuschte Vermutung" empfinden (T.v.Wilamowitz 195), sondern als Wahrheit und als Meldung der baldigen Ankunft des Orestes. Sein Mitleiden mit Elektra wird deswegen nicht schwächer, weil er weiß, daß sie leidet, weil sie im Schein befangen ist. Die über die Situation des männlichen Partners der Erkennung informierenden Prologe in Soph. El., Eur. Kresphontes, I. T., Hei. und Ion dürften deutlich genug zeigen, daß die Tragiker sich wissende Zuschauer wünschten, die wohl das Leid, aber nicht den Irrtum und den irregeleiteten Haß der Heldinnen teilen sollten.

Sophokles' „Elektra"

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Spender gewesen sein kann (V. 907-915). Auf diese Gewißheit und den aus ihr geschöpften Trost (V. 916-919) zielt der ganze Bericht. Chrysothemis hat, wie der Zuschauer weiß, die Wahrheit gemeldet. Aber die wahre Botschaft, die sich nur auf Zeichen berufen kann, vermag nichts gegen die drückende Überzeugungskraft des falschen Botenberichts. Chrysothemis, die eben noch ihres Wissens so sicher war, muß sich jetzt von ihrer Schwester belehren lassen. Eben noch trat sie als Künderin froher Botschaft auf, jetzt muß sie selbst eine Trauerbotschaft empfangen. Dieses dialektische Spiel des Dichters verliert nichts von seiner Wirkung, sondern gewinnt eher noch dadurch, daß der Zuschauer in keinem Augenblick vergißt, daß nicht die Wahrheit den Trug besiegt, sondern der Trug die Wahrheit. Mit wenigen Worten hat Elektra ihre Schwester vom Tode des Bruders überzeugt (V. 920-929). Die Grabopfer mögen vom Boten oder von irgendwem sonst stammen, Orestes jedenfalls ist nicht ihr Spender gewesen, denn Orestes ist tot (V. 930-937). b) Die Erkennungsszene Als Orestes als Überbringer der Urne die Bühne betritt und dort mit Elektra zusammentrifft, erkennt nicht nur sie ihren Bruder nicht, sondern auch er nicht seine Schwester. Zum ersten Male in den bisher besprochenen Erkennungshandlungen finden wir also den Fall, daß sich zunächst beide Partner nicht erkennen, so daß eine doppelte άναγνώρισις nötig wird. Orestes ist in Elektras Augen nur der Bote, der die Urne überbringt. Sie scheint ihm eine Dienerin zu sein (V. 1106), vielleicht sogar eine Verwandte (V. 1123-1125), und erst, als sie nach ihrer herrlichen Klagerede vom Chor getröstet und dabei mit Namen angeredet wird (V. 1171), erkennt er, daß er seine Schwester vor sich hat 1 . Durch die zweifache Namensnennung Elektras (V. 1171, 1177) wird dieser Augenblick markiert, „um dem Zuschauer unbedingt deutlich zu zeigen, daß jetzt Orest Elektra erkannt haben soll" 2 . Die fol1 Die verfehlte Ansicht Kaibels (242) und Jebbs (ad V. 1106), Orestes erkenne seine Schwester sofort, hat T.v. Wilamowitz (202-207), widerlegt. Zu dieser Szene vgl. vor allem Beinhardt (Soph. 165-170), zur Frage des Zeitpunkts der Erkennung Elektras besonders 169 Α. 1. Richtig auch Wuhrmann (37-38): „Der eigentümliche Ton einer Szene oder Rede soll zum vollen Erklingen gebracht werden. Der einzelne Auftritt drängt zu künstlerischer und formaler Vollendung; er will innerhalb der Grenzen, die ihm gesteckt sind, alle Wirkungsmöglichkeiten entfalten. Der .Monolog' Elektras an der Urne zeigt besonders eindringlich, wieviel dem Dichter daran gelegen ist, die Szene harmonisch abzurunden, um die höchste Wirkung aus der geschaffenen Situation zu ziehen ; denn hier wird deutlicher als sonst die äußere psychologische Wahrscheinlichkeit der tieferen künstlerischen Wahrheit untergeordnet". 2 T.v. Wilamowitz 206.

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gende Stichomythie hat die Funktion, Orestes das notwendige Wissen über die Lage seiner Schwester zu vermitteln; Sophokles benutzt sie aber vor allem dazu, noch einmal ihr Leid in seiner ganzen Fülle auszubreiten. Orestes muß jetzt erkennen, in welchen Abgrund der Verzweiflung die falsche Todesnachricht Elektra gestürzt hat 1 . Er vergewissert sich, ob der Chor ihm wohlgesonnen ist, er also offen sprechen kann (V. 1203-1204), dann will er ihr die Wahrheit aufdecken. Doch zwischen der Wahrheit und ihr steht die Urne, die sie noch in Händen hält. Er versucht, ihr dieses Symbol des Truges zu entwinden. Für sie aber ist die Urne das Einzige, was ihr noch von Orestes geblieben ist, und sie verteidigt sie mit aller K r a f t (V. 1205-1216). Auch als er verrät, daß die Urne nur ein Trug ist, zählt sie ihren Bruder weiter zu den Toten und sucht sein Grab anderswo (V. 1217-1218). Erst das Wort „Orestes lebt" dringt bis zu ihr durch. Zweimal fragt sie noch zweifelnd, dann erfährt sie die volle Wahrheit: Orestes steht vor ihr (V. 1219-1221). Auf die letzte, schon mehr freudig-gewisse als zweifelnde Frage antwortet das blitzschnell vorgewiesene γνώρισμα (V. 1222-1223). Die erste rasche Begrüßung der Geschwister schließt sich formal eng an die Erkennung an (άντιλαβαί : V. 1224-1226). Dann gibt Elektra auch dem Chor Anteil an der Wiedersehensfreude (V. 12271231). Das folgende strophisch gebaute Amoibaion (V. 1232-1287) lebt ganz aus der Spannung zwischen der überschäumenden Freude Elektras, die sich in bewegten lyrischen Maßen äußert, und den Trimetern des Orestes, der immer wieder ihre Freude zu beschwichtigen sucht und zur Vorsicht mahnt 2 . Fünfmal mahnt er Elektra 3 , aber immer wieder wird sie von ihrer Freude überwältigt. Erst als er ihre Bitte erfüllt und verspricht, sich nie mehr von ihr zu trennen (V. 1280), vermag sie ihre οργά zu bezwingen (V. 1281-1287). In der Odyssee (φ 226-229), in den „Choephoren" und wohl auch im „Kresphontes" hatte die Mahnung zur Vorsicht und Besonnenheit schnell von der Wiedersehensfreude zur Handlung zurückgelenkt. In der „Elektra" versucht Orestes schon von V. 1236 an, als Mahner wirksam zu werden, doch immer wieder ohne Erfolg. Auch als er endlich die notwendigsten Auskünfte verlangt und Anweisungen gibt (V. 1288-1300), versichert Elektra so wortreich ihr Einverständnis, daß er abermals aufgehalten wird (V. 1301-1321). Selbst der unermüdliche Antreiber zur Tat, der alte Pädagoge, kann erst dann wirksam werden, nachdem auch er selbst in die Wiedersehensfreude mit einbezogen worden ist (V. 1354-1363). An der Erkennungsszene der „Elektra" läßt sich gut beobachten, wie Sophokles eine vorgegebene Szenenstruktur übernimmt, sie aber 1

Vgl. Schadewaldt, Monolog 60 Α. 1. Vgl. T. V. Wilamowitz 210-213. » V. 1236, 1238, 1251-1252, 1259, 1271-1272. 2

Sophokles' „Elektra"

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einem völlig neuen Gehalt dienstbar macht. In dem der Erkennung des Orestes vorausgehenden Abschnitt dienen fast alle Szenenteile (Klage an der Urne, Stichomythie, Streit um die Urne) vor allem dazu, das Leid Elektras zu veranschaulichén, und erst in zweiter Linie dazu, die Erkennung vorzubereiten. Die eigentliche άναγνώρισις vollzieht sich mit atemberaubender Schnelligkeit. Die άντιλαβαί mit ihrem raachen Wortwechsel sind darum die angemessene Form. Das sonst so hartnäckige Mißtrauen gegen den Ankömmling wird hier durch ein einziges Zeichen im Nu zerstreut. Die exakte Durchführung der άναγνώρισις nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit, die Euripides so sehr am Herzen liegt, ist für Sophokles ohne Interesse. Im Amoibaion und auch im anschließenden Dialog überspült die Wiedersehensfreude Elektras alle Dämme, die immer wieder in den traditionellen Mahnungen zur Besonnenheit aufgerichtet werden. Die Form des Amoibaion mit dem Wechsel von lyrischen Maßen und Trimetern paßt sich genau der dramatischen Situation an und scheint unmittelbar aus ihr erwachsen zu sein. Elektras maßlose Freude ist die notwendige Folge ihres abgrundtiefen Leides vorher; und Orestes, der gekommen ist, um in einem kühnen Anschlag den Feind in seiner Burg zu besiegen, muß vor allem an das Gelingen der Tat denken und eine Gefährdung durch unvorhergesehene Ereignisse befürchten. Es ist schwer vorstellbar, daß Sophokles diese Form des Amoibaion in der Erkennungsszene irgendwoher übernommen hat 1 . Vielmehr spricht alles dafür, daß er sie hier geprägt hat. Sicher sind auch die meisterhaften άντιλαβαί, wo in wenigen Zeilen Trauer in Ungewißheit und Ungewißheit in stürmische Freude umschlägt, keine aus einer anderen Erkennungsszene übernommene, sondern eine für einen einzigartigen Inhalt geprägte einzigartige Form.

§ 6. Euripidea' „Elektro" Euripides hat seine „Elektra", wie wir aus vielen Anzeichen schließen zu können glauben, einige Zeit nach der des Sophokles aufgeführt2. Weil hier der Orestesstoff behandelt wird, steht schon von vornherein fest, daß sich wieder die uns schon vertraut gewordenen Handlungselemente άναγνώρισις, μηχάνημα und νόστος finden. Doch bleibt dem νόστος die volle Erfüllung versagt. Zwar kehrt Orestes in die Argolis zurück, aber seine beiden Rachetaten vollbringt er irgendwo am Rande des Heimatlandes, und ehe er noch die Stadt seiner Väter hat betreten können, treibt ihn der Spruch der Dioskuren schon wieder in die Verbannung. 1

Amoibaia mit Wechsel von lyrischen Maßen und Trimetern in anderem Zusammenhang gab es freilich schon vorher. Vgl. T. v. Wilamowitz 211 A. 2. 1 Vgl. oben 81-88.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

a) Dae Fehlen der falschen Todesnachricht Euripides hat es in seiner „Elektra" unterlassen, der Erkennungshandlung wie im eigenen „Kresphontes" und in der sophokleischen „Elektra" ein stärkeres Gewicht zu verleihen, als es ihr auf Grund ihrer Handlungsfunktion zukäme, und sie durch eine falsche Todesnachricht und ihre dramatischen Konsequenzen komplizierter zu gestalten. Schon nach wenigen Worten teilt Orestes, der eingangs als sein eigener Bote auftritt, Elektra mit, daß ihr Bruder lebt (V. 230). Das Fehlen des Motivs der falschen Todesnachricht ist um so auffälliger, als es bereits von Aischylos in den „Choephoren" verwandt worden war - freilich ohne Konsequenzen für die Erkennungshandlung - und Euripides selbst, wie der „Kresphontes" und später auch „Iphigenie" und „Helena" zeigen, sich sonst nicht die Möglichkeit entgehen ließ, auf diese Weise zunächst das Leid des weiblichen Partners bis ins Unerträgliche zu steigern. Dieser Verzicht des Euripides auf eines seiner Lieblingsmotive läßt sich nur erklären, wenn man annimmt, daß er in diesem Drama, das den gleichen Stoff behandelte wie die sophokleische „Elektra" und das ebenfalls das Schwergewicht von dem eigentlichen Helden Orestes auf Elektra verschob, alle weiteren Übereinstimmungen hat vermeiden wollen1. b) Die Szene vor der Erkennung Ebenfalls aus dem Bemühen des Euripides, die Spuren seines Vorgängers zu vermeiden, mag es zu erklären sein, daß bei ihm eingangs nur Elektra ihren Bruder nicht erkennt, während Orestes schon sehr bald Gewißheit darüber erlangt, daß er seine Schwester vor sich hat (V. 115-124). Dabei wäre es dem Dichter gerade hier infolge der Veränderung des traditionellen Schauplatzes der Handlung leicht möglich gewesen, die Geschwister einander unerkannt begegnen zu lassen. Denn während Odysseus und der Orestes der „Choephoren" und der sophokleischen „Elektra" wissen müssen, daß sie beim Betreten der Heimatstadt ihren Angehörigen begegnen werden, bestünde hier für Orestes eigentlich keine Notwendigkeit anzunehmen, daß er ausgerechnet an den Grenzen seines Vaterlandes (V. 96) seine Schwester treffen wird. Doch Euripides nimmt die Gelegenheit zu einer ersten unerkannten Begegnung, wie er sie später in der „Iphigenie" so wirkungsvoll gestaltet (Iph. 472-637), nur sehr unvollkommen wahr. Orestes ist von vornherein darüber unterrichtet, daß sich seine Schwester in dem Teil des Landes befindet, den er betreten hat, und rechnet mit der Möglichkeit, ihr bald zu begegnen (V. 104-106). Als sie auftritt, erkennt er sie zunächst nicht, sondern hält sie für eine Dienerin (V. 107-111), doch 1

Vgl. T . v. Wilamowitz 255-256.

Eurípides' „Elektra"

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als sie zu Beginn ihrer Klage ihren Namen nennt (V. 115-124), erfährt er, daß Elektra vor ihm steht. Dadurch aber bekommt die ganze folgende Szene, so reizvoll manche Amphibolien auch sein mögen, für den Zuschauer etwas Unbefriedigendes (V. 215-338). Er muß ungeduldig fragen, warum denn in aller Welt Orestes seine Verstellung nicht aufgibt. Besonders nachdem die Treue des Chores feststeht (V. 272-273), gibt es keinen vernünftigen Grund mehr für Orestes, sich weiter zu verstellen. Man hat für eine psychologische Feinheit halten wollen, was nichts weiter als eine dramatische Schwäche ist 1 . Sicher haben hier Euripides die πεΐρα-Gespräche der Odyssee als Vorbild vorgeschwebt, wo Odysseus auch jeweils die Erkennung sehr lange hinauszögert. Aber Odysseus ist dort von einer gewaltigen Überzahl von Feinden umgeben und hat allen Grund, eine vorzeitige Erkennung zu fürchten, während Orestes von keiner Gefahr unmittelbar bedroht ist. Odysseus bedarf beim Freiermord auch nicht der Hilfe seiner Gemahlin, während Orestes schon eingangs ankündigt, daß er seine Schwester zur Mittäterin machen will (V. 100). Außerdem mag in der epischen Erzählung manches erträglich sein, waa in der dramatischen Darstellung Anstoß erregt. Im Drama jedenfalls läßt sich eine Begegnung der beiden Partner vor der Erkennung nur dann überzeugend gestalten, wenn es entweder dem Dichter gelingt, den Zuschauer davon zu überzeugen, daß der Ankömmling Grund hat, der Erkennung eine πείρα vorausgehen zu lassen, oder wenn keiner von beiden Partnern den anderen kennt. Weder das eine noch das andere ist aber in der „Elektra" des Euripides der Fall 2 . c) Die Zeichen am Grabe Schon im ersten Gespräche der Geschwister läßt sich deutlich bemerken, wie sehr sich Euripides hier mit dem ihm eigenen theoretischen Eifer um größtmögliche Wahrscheinlichkeit in den Erkennungsszenen bemüht. Elektra kann ihren Bruder nicht erkennen, denn die Geschwister wurden schon als kleine Kinder getrennt (V. 283-284). Nur einen Menschen gibt es, der Orestes erkennen könnte : der Alte, der ihn 1

Friedrich (81-84) meint, durch ihr Verhalten in dieser Szene sollten Orestes als „vorsichtig tastender, innerlich unsicherer Mensch" und Elektra als „klug, aber instinktlos" charakterisiert werden. Beides ist gleich verfehlt. Orestes bleibt bis hin zur Entscheidungsszene (V. 962-987) völlig unprofiliert. Und Elektra wird man nicht als individuellen Zug zurechnen wollen, was für das attische Denken seit Solon fr. I D . und vor allem für Eur. das Merkmal aller Menschen im Gegensatz zu den Göttern ist. - Vgl. Ludwig 128, zur Szene auch Wuhrmann 50-61. 1 Es ist undenkbar, daß Eur. in der El. so sehr gegen eine Regel verstoßen haben sollte, die er bereits in der Iph. beherzigt hätte. Der Schluß, daß die El. vor der Iph. entstanden ist, wird also auch durch einen Vergleich der Szenen vor der Erkennung nahegelegt.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

vor den Nachstellungen des Aigisthos gerettet hat (V. 285-287). Von neuem kreist das Gespräch um das Problem der Erkennung, als dieser Alte dann selber auftritt und berichtet, es habe jemand am Grabe Agamemnons ein Schaf und eine Locke geopfert (V. 508-515) 1 . E r vermutet, Orestes könne am Grabe gewesen sein, doch er überläßt es Elektra, ob sie dieser Vermutung Glauben schenken will (V. 516-523). Sie aber leugnet völlig die Möglichkeit, daß sich aus solchen Zeichen auf die Ankunft des Orestes schließen lasse. Denn, so sagt sie, die Beschaffenheit des Haares ist oftmals bei Verwandten ganz verschieden, bei Fremden aber bisweilen sehr ähnlich (V. 524-531). Auch wenn es möglich wäre, eine Fußspur des Spenders aufzufinden - es ist nicht möglich, denn der Boden ist steinig - , so kann seine, eines Mannes, Spur nicht ihrer eigenen ähnlich sein (V. 534-537). Und wenn auch Orestes bei seiner Flucht ein Gewebe von ihrer Hand getragen hätte er trug es nicht, denn sie war damals noch ein Kind und des Webens unkundig - , so trüge er es jetzt nicht mehr, so daß sie ihn auch daran nicht erkennen könnte (V. 541-544). Man hat sich immer wieder über diese Verse verwundert, aus denen man eine kleinliche Kritik der Erkennungsszene der „Choephoren" herauszuhören glaubte. Es hat denn auch nicht an Versuchen gefehlt, dem Dichter mit der Athetese dieser Partie einen Dienst zu erweisen 2 . In Wahrheit dürfte es Euripides um mehr als um solche Kritik an seinem Vorgänger gehen. Hier wie überall in seinen Erkennungsdramen liegt ihm daran, zu zeigen, wie schweres dem Menschen fällt, seine άγνοια zu überwinden, oder, mit anderen Worten gesagt, zu erkennen, daß er kein wahres Wissen besitzt, sondern im Scheinwissen befangen ist. Daß das δοκεΐν über die Menschen herrscht und sie an dem rechten Wissen über das Wesen und Handeln der Götter und über das eigene Schicksal hindert, war schon ein Grundgedanke der Dichtung des Solon und Xenophanes 3 . Nach Solon ist die Überwindung des δοκεΐν nur durch göttliche Hilfe möglich. Die Götter sind es, die εκλυσις άφροσύνης schenken. Euripides verdeutlicht sowohl die Macht des δοκεΐν als auch die εκλυσις άφροσύνης immer wieder an einprägsamen mythischen Beispielen. Auch für ihn ist die Überwindung des Nichtwissens durch die Erkenntnis - und nichts anderes ist die άναγνώρισις4 - nicht denkbar 1

Vgl. oben 83-84. Zuletzt Böhme 203-204, E. Fraenkel, Aischylos Agamemnon III, Oxford 1950, 821-826, vgl. auch Denniston 112-115, Diller 97-98. Ähnlich wie wir erklärt Ludwig (126-128) die Stelle, während Wuhrmann (65-68) ihr jede tiefere Bedeutung abspricht. - Vgl. jetzt auch G. Lanata, Note di poetica euripidea 6-8, in: Annuario del Liceo Ginnasio Statale F. Petrarca di Arezzo, 1961-62. s Solon fr. 1,63-70, 16, 17, Xenophanes fr. 30. 4 Vgl. Arist. Poet. 11, 1452a 29: άναγνώρισις Sè . . . έξ άγνοιας είς γνώσιν μεταβολή . . . 2

Euripides' „Elektra" - Kritik an Aischylos

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ohne göttliche Einwirkung. Aber mit dieser Feststellung begnügt er sich nicht. Durch die Handlung seiner Dramen sucht er zu zeigen, in welcher Weise dieses Einwirken der Götter im einzelnen geschieht. Der Mensch besitzt nicht den von den euripideischen Helden so oft herbeigewünschten Prüfstein1, der ihn das Wesen seines Gegenüber sofort erraten ließe. Seine Vermutungen führen ihn in die Irre und sind für die Erkenntnis eher hinderlich. Euripides ist davon überzeugt, daß es nicht möglich ist, aus bloßen Anzeichen die Wahrheit zu erraten, wie es Elektra in den „Choephoren" und Chrysothemis in der sophokleischen „Elektra" konnten. Denn Anzeichen dieser Art sind immer vieldeutig, und in der Regel ist nicht die richtige Deutung die naheliegendere, sondern die falsche. Nichts anderes durchbricht die Mauer des δοκεϊν und vertreibt die άγνοια als entweder wahrhaft wissende Menschen oder handfeste und unanfechtbare Beweise, beides durch göttliche Fügung im rechten Augenblick gesandt. Euripides bemüht sich deshalb um größtmögliche Genauigkeit bei der Darstellung der einzelnen Stufen des Erkennungsvorganges mit einem Eifer, der oft für Pedanterie gehalten wurde, weil man das eigentliche Anliegen des Dichters übersah. Ihm liegt alles daran, daß der Zuschauer den Vorgang der Erkennung in allen Einzelheiten miterleben und nachrechnen kann und zugleich doch spüren muß, daß das Geschehen als Ganzes ein Wunder ist, in dem sich das Wirken der Götter sichtbar offenbart. d) Die Erkennungsszene Von den beiden eben genannten Wegen, auf denen ein Mensch aus seiner άγνοια befreit werden kann, wählt Euripides in der „Elektra" den der Befreiung durch einen wahrhaft wissenden Menschen. Wissend kann aber im vorliegenden Falle nur jemand sein, der zu der Zeit, als die Geschwister voneinander getrennt wurden, schon so verständig war, daß er auf zuverlässige und unvergängliche Kennzeichen achten konnte. Daraus ergibt sich, daß die Erkennung durch einen alten Vertrauten vermittelt werden muß. Euripides knüpft damit an die Form der Erkennung im „Kresphontes" an, wo der alte Bote Vermittlerrolle spielte, eine Gestalt, die, wie wir oben sahen, in den Vermittlergestalten des Epos ihre Vorbilder gehabt haben dürfte2. Der alte Mann also ist es, der Orestes als erster erkennt, und zwar an einer Narbe, die Orestes von einer Wunde geblieben ist, welche er als Kind auf der Jagd erhalten hat (V. 573-574). Hier wird vollends deutlich, daß ab Vorbild die Erkennung des Odysseus durch Eurykleia (τ 361-604) vorschwebt. Freilich konnte der epische Dichter glaubhaft machen, dtß Odysseus nichts daran lag, von Eurykleia erkannt zu 1 Med. 516-521, Hipp. 925-931. » Vgl. obtn 113-114.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

werden, so daß verständlich war, warum er seinerseits nichts tat, um die Erkennung herbeizuführen. Auch bei der anderen vermittelten Erkennung, die Euripides im „Kresphontes" dargestellt hatte, war die Passivität des Kresphontes in dieser Szene hinlänglich dadurch motiviert, daß er schlief. In der „Elektra" jedoch bleibt der Dichter die Erklärung dafür schuldig, daß sich Orestes während der Erkennung völlig passiv verhält. Es muß auf den Zuschauer einen höchst eigenartigen Eindruck gemacht haben, wie Orestes hier die Prüfung, die der Alte und Elektra an ihm vornehmen, stumm über sich ergehen läßt und erst dann wieder den Mund auftut, als Elektra ihn als ihren Bruder umarmt. Bei Euripides finden wir fast nichts, was den stürmischen Bekundungen der Wiedersehensfreude entspräche, die in der sophokleischen „Elektra" so großen Raum einnehmen. Nach drei Versen άντιλαβαί (V. 579-581), drei Versen des Orestes, die schon auf die Rachetat vorausdeuten (V. 581-584) und einem kurzen astrophischen Chorlied, in dem die Begrüßung des heimkehrenden Bruders ganz hinter der des künftigen Rächers zurücktritt (V. 585-595), verschiebt Orestes alle weiteren Äußerungen der Freude auf später (V. 596-597) und wendet sich der Beratung der bevorstehenden Taten zu (V. 598-604). Die Kargheit in Gefühlsäußerungen und die Raschheit des Überganges zur Tat, die besonders auffallen, wenn man die homologen Partien in „Iphigenie" und „Helena" danebenhält, erinnern an die Szene der „Choephoren". Wir sind wohl auf dem richtigen Wege, wenn wir die Knappheit des Euripides an dieser Stelle mit dem Bemühen erklären, die Spuren des Sophokles zu vermeiden1. Völlig fehlt jedoch auch hier der Einfluß der sophokleischen Jubelszene nicht. Die Verwendung von άντιλαβαί an dieser Stelle dürfte auf das sophokleische Vorbild zurückzuführen sein. Das εκείνος ε! σύ; des Euripides (V. 581), mit dem sich Elektra noch einmal ihres Glückes vergewissert, ist wohl sekundär gegenüber dem ή γάρ σύ κείνος ; bei Sophokles (V. 1222), das in dem Augenblick erklingt, als Elektra erkennt, daß der, der vor ihr steht, wirklich eins ist mit dem, den sie zuvor be1

Vgl. T. V. Wilamowitz 256-262. - Man könnte mit Strohm (Eur. 78) einwenden, daß Eur. hier nicht eine ausführliche Gestaltung der Erkennungshandlung wünscht, weil ,,er bereits den bei diesem Stoff unabdingbaren Vorrang der beiden Rachetaten vor dem Anagnorismos im Auge hat, den Vorrang auch schon des groß in Szene gesetzten Dreiergelöbnisses der Bundesgenossen vor dem privaten Glück des Wiederfindens". Daß dieser Vorrang nicht unabdingbar ist, dürfte Soph. El. zeigen. Wenn Solmsen (Ion 407) meint, die Erkennungsszene in Eur. El. sei entwicklungsgeschichtlich früher als die homologen Szenen in Iph., Ion und Hei., trifft er wohl doch das Rechte. Doch ist zu Solmsens Aussage noch hinzuzufügen, daß die Szene ebenfalls entwicklungsgeschichtlich früher ist als die homologe Szene in Soph. El., weil Eur. sich hier, um die Bahnen des Soph, zu vermeiden, eng an die primitivere Form der Erkennungsszenen der Od. (τ) und des Kresphontes anschloß.

Euripides' „Elektra" - „Alexandras"

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trauerte. Auch das άέλπτως (Soph. El. 1263 ~ Eur. El. 579) hat seine ursprüngliche K r a f t nur bei Sophokles, wo Elektra wahrlich keine Hoffnung mehr auf die Heimkehr ihres Bruders hegen konnte.

§ 7. Euripides'

„Alexandres"

Da die „Elektra" unserer Meinung nach vor 415 aufgeführt worden ist, wäre es jetzt an der Zeit, den im Jahre 415 zusammen mit „Palamedes" und „Troerinnen" aufgeführten „Alexandros" zu besprechen 1 . Allerdings nimmt dieses Stück unter den Erkennungsdramen eine Sonderstellung ein. Zwar kehrt auch hier ein Königssohn an den Hof seiner Eltern zurück, aber weil er ein ausgesetztes Kind ist, weiß er zunächst nicht, daß er zu seinen Eltern kommt. Ebensowenig wird er von ihnen erkannt, so daß wie in der sophokleischen „Elektra" auch hier eine doppelte Erkennung nötig ist. Der Ankömmling wird von seiner Mutter Hekabe als unerwünschter Eindringling empfunden, und es kommt ähnlich wie im „Kresphontes" zu einem Anschlag der Mutter auf das Leben ihres unerkannten Sohnes. Dieser kann sich zunächst durch Altarflucht retten, bis schließlich eine göttliche Fügung bewirkt, daß Mutter und Sohn sich erkennen und Alexandros in die königliche Familie aufgenommen wird. Uber die eigentliche Erkennungsszene können wir wenig Gesichertes aussagen, da uns gerade hier die Fragmente im Stich lassen. Fest steht wohl, daß Hekabe mit Deiphobos ihren Mordplan schmiedete, Hektor jedoch seine Mitwirkung verweigerte 2 . Alexandros wird von Deiphobos und Hekabe, in einer Dreipersonenszene also, angegriffen und flüchtet sich an den Altar des Zeus Herkeios 3 . Doch auch dort wird er bedroht und ruft in seiner Todesangst aus: οϊμοι θανοϋμαι διά τό χρήσιμον φρενών, | δ τοΐσιν άλλοις γίγνεται σωτηρία4. Dieser oder ein weiterer derartiger Ausruf scheint die Angreifer stutzig gemacht zu haben. Doch bleibt ungewiß, wie es nun im einzelnen zur Erkennung kam. Daß Alexandros selbst die volle Wahrheit über sich weiß, ist ganz unwahrscheinlich. Daß eine vierte Person hinzutritt und γνωρίσματα bringt, ist wegen des Drei-Schauspieler-Gesetzes unmöglich. Also muß eine der Personen, am ehesten wohl Deiphobos, abtreten, und an seiner Stelle muß jemand erscheinen, der die Funktion des alten Boten im Kresphontes übernimmt und die Erkennung vermittelt. Alexandros ist aber wie Oidipus ein Kind, das ausgesetzt werden sollte, aber von Hirten 1

Zur Datierung der El. vgl. oben 66-80, zum Alexandros vgl. Snell Alexandros, zu den hier behandelten Fragen besonders 46-52 und 61-66, zur Interpretation auch Friedrich 67-69. * Fr. 43 Sn. 3 4 Hygin, fab. 91,6. Fr. 44 Sn. = 58 N.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα 1

aufgezogen wurde . Also wissen außer seiner Mutter nur zwei Personen etwas über seine Herkunft, nämlich der Diener, der das Kind aussetzen sollte, und der Hirt, dem es übergeben wurde. Im „Oidipus" kommt die Erkennung durch das Zusammentreffen dieser beiden Personen zustande. Im „Alexandres" dagegen kann, da Hekabe auf der Bühne bleiben muß, nur e i n e Person aufgetreten sein, entweder der Diener oder der Hirt. Wir brauchen uns hier nicht zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu entscheiden 2 . Sicher ist aber, daß die völlige Erkennung hier ebenso wie im „Kresphontes" und der euripideischen „Elektra" erst durch die Vermittlung einer dritten Person zustandekommt. Hinsichtlich des Verhältnisses von Erkennungshandlung und Rachehandlung steht der „Alexandras" dem „Kresphontes" am nächsten. Denn ebenso wie dort ist das Rache-μηχάνημα der Mutter ein Teil der Erkennungshandlung. Doch war im „Kresphontes" die Erkennungshandlung selbst wiederum einer Rachehandlung nach Artderjenigen der „Choephoren untergeordnet. Der „Alexandros" dagegen ist - und insofern kann man ihn als einen Schritt über die „Elektra" hinaus betrachten - zum ersten Male im Werk des Euripides ein reines Erkennungsdrama, in dem alle anderen Handlungselemente nur episodischen Charakter haben3. 1 Auch der O . R . ist ein Erkennungsdrama, und zwar das vollendetste, weil hier die Handlung völlig eins mit dem Prozeß der Selbsterkennung des Helden wird. Allerdings h a t der O . R . formal wenig mit den bisher besprochenen Dramen gemeinsam, weil Soph, f ü r die einzigartige Handlung der „tragischen Analysis" (Schiller an Goethe, 2. 10. 1797) auch eine einzigartige F o r m schafft. Doch ist der O . R . nicht ohne Wirkung auf die späteren Erkennungsdramen gewesen, zumal auf den Alexandros, wo sich freilich schon durch die ähnliche Sage manche Berührungspunkte ergeben. 2 Snell (Alexandros 52) entscheidet sich in seinen an fr. 44 anknüpfenden Überlegungen für den Diener, Scheidweiler (Philologue 97, 1948, 334) dagegen f ü r den Hirten. Die Möglichkeit, daß Kassandra, wie Hygin berichtet und wie Murray (Greek Studies 132-134) und Pohlenz (I, 365 und I I , 149) vermuten, die Erkennving herbeigeführt haben soll, ist zwar nicht völlig auszuschließen, aber doch unwahrscheinlich. Denn eine solche durch die Seherin Apollons, also durch unmittelbaren Eingriff der Gottheit, herbeigeführte E r k e n n u n g wäre in der Geschichte der Erkennungsdramen ohne Parallele. Der A u f t r i t t der P y t h i a Ion 1320-1368 läßt sich nicht zum Vergleich heranziehen, denn dort erscheint die P y t h i a nicht als Prophetin. Sie ist zwar vom Gott im rechten Augenblick gesandt worden, wie sich V. 1565 herausstellt, k o m m t aber als diejenige, die einst das ausgesetzte Kind gefunden h a t , entspricht also im Verhältnis zu Ion dem korinthischen Hirten im O.R., während die Rolle des Überbringers, also des thebanischen H i r t e n im O.R., von Hermes übernommen worden ist. 3 Auch in den Erkennungsdramen des euripideischen Frühwerks scheint die E r k e n n u n g niemals das Ziel der Handlung gewesen zu sein. Das Ziel des Aigeus ist die Vertreibung Medeas und das des Oineus und Diktys die Bestrafung der Feinde der Titelhelden durch Diomedes bzw. Perseus. Der Peleus, der gewöhnlich auch zu den Erkennungsdramen gezählt wird (z.B. von T. v. Wilamowitz 262 A. 1), hat wohl nicht die R e t t u n g des alten Peleus durch seinen heimkehrenden E n k e l Neoptolemos zum Inhalt gehabt, sondern die verschmähte Liebe Astydameias zum jungen Peleus; vgl. Schmid 394—395.

„Alexandros" - „Iphigenie"

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Freilich wird durch die Stellung des Stückes in der Trilogie und auch schon durch manche Andeutung während des Dramas die Erkennungshandlung doch wieder relativiert. Denn Alexandros ist ähnlich wie Oidipus ein ausgesetztes Unglückskind, das „zum größten Unheil gerettet" wird (0. R. 1180). Zwar wird anders als die bittere Erkennung des „Oidipus" die des „Alexandros" den Zuschauer mit Freude erfüllen. Diese Freude aber bleibt nicht ungetrübt. Denn mit Alexandros ist die Brandfackel nach Troia gekommen, von der Kassandra geweissagt hat. Zwar wird durch die Erkennung die Handlung des Dramas zu einem guten Ende geführt, aber dieses Glück stellt sich zugleich als das größte Unheil für eine ganze Stadt heraus1. Es ist nur gut, daß an der absoluten Datierung des „Alexandros" auf 415 kein Zweifel bestehen kann. Denn sonst läge der Gedanke gar zu nahe, das Stück, in dem die Erkennungshandlung derart doppeldeutig wird, sei für später entstanden zu halten als die Dramen, in denen die Vereinigung der Getrennten das höchste Glück bedeutet („Iphigenie", „Ion", „Helena"). Das wird uns aber außerdurch das feststehende Aufführungsdatum auch dadurch verwehrt, daß bereits im stofflich so sehr verwandten „Oidipus" eine völlig unglückliche Erkennung dargestellt worden war. Danach bedeutet die glücklich-unglückliche des „Alexandros" keine große Neuerung mehr2. § 8. Euripides' „Iphigenie" und „Helena" a) Die Erkennungshandlung der „Iphigenie" Die Erkennungshandlung der „Iphigenie" stimmt in vielen Dingen mit denen der bisher besprochenen Dramen überein. Ein Königssohn kommt an einen Ort, wo er wie in den „Choephoren" und den beiden „Elektren" einen Auftrag Apollons zu erfüllen hat. Dort droht ihm von seiner Schwester, also von einem der nächsten Verwandten wie im „Kresphontes" und „Alexandros", höchste Lebensgefahr, doch verhindert die Erkennung im letzten Augenblick den Verwandtenmord. Da beide Geschwister einander unbekannt sind, muß sich wie in der sophokleischen „Elektra" eine doppelte άναγνωρισις vollziehen3. Dabei wiederholt sich gleichsam mit vertauschten Rollen die Situation der Erkennungsszene der sophokleischen „Elektra", wo Elektra zugleich erfährt, daß ihr Bruder lebt und daß er vor ihr steht. Hier ist es Orestes, der im gleichen Augenblick erfahren muß, daß er noch eine zweite Schwester besitzt und daß sie vor ihm steht. Es erkennt also wie in der Odyssee und in den bisher besprochenen Dramen zuerst der AnkömmVgl. hierzu jetzt auch Diller 107-110. Zu dem Doppelsinn des Ausganges des Alexandros vgl. Murray, Greek Studies 135-136, 138. 3 Arist. (Poet. 11, 1452 b 6) nennt die Iph. als Musterbeispiel für eine doppelte άναγνώρισις. 1 2

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Νόστος - Άναγνώρισις — Μηχάνημχ

ling den eingesessenen und wie in allen Fällen, wo die Partner der Erkennung verschiedenen Geschlechts waren, zuerst der männliche den weiblichen Partner 1 . Auch hier liegt es beim Ankömmling, zu beweisen, daß er wirklich der ist, der er zu sein vorgibt. Zwei Abweichungen lassen sich in der „Iphigenie" allerdings gegenüber den meisten der bisher beschriebenen Handlungen feststellen. Orestes kommt nicht, um an seinen Feinden blutige Rache zu nehmen, und er kehrt nicht an seinen heimischen Hof zurück. Aber wenn er auch nicht als Rächer kommt, so kommt er doch als Befreier seiner Schwester aus der Verbannung. Und wenn er auch nicht als Heimkehrer die Bühne betritt, sondern bei den Taurern den fernsten P u n k t seiner Irrfahrt erreicht, so spielt doch das Motiv der Heimkehr eine bedeutende Rolle. Denn schon bevor sich die Geschwister getroffen haben, ist ihr ganzes Trachten darauf gerichtet, nach Griechenland heimzukehren, und die Erkennung und das anschließend gemeinsam ersonnene Rettungs-μηχάνημα öffnen ihnen den Weg zur Erfüllung dieses Wunsches. Die Verlegung des Ortes der Handlung in ein fremdes Land hat zur Folge, daß die Begegnung der Geschwister sehr viel überraschender erfolgt als in den anderen Erkennungsdramen. Denn weder kann Iphigenie erwarten, daß ihr Bruder ungerufen ins Taurerland kommt, noch Orestes, daß er gerade hier eine Schwester finden wird. b) Die Szene vor der Erkennung in der „Iphigenie" In der Art, wie die Erkennungshandlung in Szene gesetzt wird, besteht starke Übereinstimmung zwischen der „Iphigenie" und den beiden „Elektren". Wie in der euripideischen „Elektra" geht der Erkennung eine Szene voraus, in der die Geschwister noch nicht zueinander finden (V. 467-642). Erst beim zweiten Zusammentreffen zerbricht die trennende Mauer der άγνοια. Doch während uns die Szene der „Elektra" nicht voll befriedigen konnte, weil Orestes seine Schwester schon vor Beginn der Szene erkannt hatte, ist dem Dichter in der „Iphigenie" eine meisterhafte Szene der Begegnung vor der Erkennung geglückt. Beide Geschwister sind hier noch in άγνοια befangen, dem Zuschauer aber gestattet sein Wissen, dem Geschehen auf der Bühne mit einer aus gespannter Anteilnahme und distanzierten Genießen gemischten Stimmung zu folgen. Mit Spannung wird er erwarten, wann endlich die rettende Erkennung gelingt, und mit kennerhaftem Genuß wird er beobachten, wie der Dichter im Dialog die Partner einander immer wieder zustreben, aber immer wieder verfehlen läßt. 1 Eine Ausnahme war bisher nur der Kresphontes, wo Merope ihren schlafenden Sohn als erste erkennt. Doch hat für Kresphontes das Zusammentreffen mit seiner Mutter nichts Überraschendes. Denn er kehrt in seine Heimat zurück und weiß, daß er dort seine Mutter treffen wird.

„Iphigenie" - Szene vor der Erkennung

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Besonders eindrucksvoll ist die Szene durch den großen Ernst, der infolge der Nähe des Todes über sie gebreitet ist. Sie liegt in einem Augenblick der Ruhe, bevor die Handlung über Erkennung und Rettungs-μηχάνημα mit reißender Schnelligkeit dem Ende zustrebt. Darum kann hier noch einmal daa Ethos der Geschwister rein zur Entfaltung kommen. Iphigenie und Orestes, zwei einander eng verbundene Menschen, die aber ein jeder durch schweres Leid geprägt worden sind, begegnen einander und erkennen sich nicht, weil ein jeder in seinem eigenen Leid befangen ist. Die Erkennung aber würde das Ende ihres Leides bedeuten. Iphigenie will, nachdem sie den Tod des Orestes für gewiß halten muß, nichts mehr sein als eine gewissenhafte Opferpriesterin. Orestes, der sich von Apollon verraten fühlt, hat vom Leben nichts mehr zu erhoffen. Seine einzigen Regungen sind nur noch eine trotzige Lust zum Tode (V. 615-616) und tiefe Scham wegen seiner Tat, die ihn sogar seinen Namen verleugnen läßt. Als ein Namenloser will er hier am Rande der Welt zugrundegehen. Wie sollen bei einer solchen Erstarrung die beiden zueinanderfínden ? Aber das Wunder geschieht in dieser Szene der Begegnung. Beide beginnen sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. Orestes ist von dem Gespräch mit der Griechin wunderbar ergriffen, und Iphigenie beginnt wieder für sich selbst zu hoffen, als sie erfährt, daß ihr Bruder lebt. Sie meint, ein Brief werde ihn über das Schicksal seiner Schwester belehren und ihn herbeiführen. Doch sie irrt, denn ihr Bruder steht bereits vor ihr. Aber der Belehrung bedarf er noch immer, und sie selbst nicht weniger als er. Nicht mehr auf die Überbrückung des Raumes zwischen Fremde und Heimat kommt es an, sondern allein auf die Uberwindung der άγνοια, die trennend zwischen Mensch und Mensch steht. Diese Überwindung aber wird der Brief bewirken, nach Argos gesandt, um beim sichtbaren Gegenüber bereits sein Ziel zu erreichen. c) Die Erkennungsszene der „Iphigenie" Bevor am Anfang der Erkennungsszene Iphigenie auftritt, spricht Pylades seinem Freund, der in tiefer Resignation den Tod erwartet und Apollon mit bitteren Schmähungen überhäuft (V. 711-715), Mut zu und ermahnt ihn, nicht die Hoffnung auf einen Glücksumschwung in letzter Stunde aufzugeben (V. 719-722). Doch Orestes weist voll bitterer Genugtuung darüber, daß jetzt nicht einmal ein Gott mehr helfen könne auf die eben eingetretene Opferpriesterin (V. 723-724). In Wahrheit ist der Auftritt Iphigeniens ein Anzeichen für die baldige Rettung des Orestes, wie auch der Zuschauer deutlich spürt. Die μεταβολή in letzter Stunde, der plötzliche Umschlag aus dem tiefsten Unglück in das höchste Glück, den schon die Worte des Pylades andeuteten, steht unmittelbar bevor. 9

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Matthicuen

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Im folgenden Gespräch zwischen Iphigenie und Orestes, dann Iphigenie und Pylades (V. 727-768) führt der Dichter ungezwungen und fast unmerklich die Situation herbei, in der endlich die Erkennung folgen muß. Iphigenie fordert und erhält von Pylades einen Eid darauf, daß er ihren Brief richtig übergeben werde. Dafür sichert sie ihm eine ungefährdete Heimkehr zu 1 . Pylades will sich für unvorhergesehene Fälle schützen und den Eid dann nicht wirksam werden lassen, wenn bei einem Schiffbruch er selbst gerettet wird, der Brief aber verloren geht. Sie will aber auch für diesen Fall gesichert sein und ihm darum die Botschaft auch noch mündlich mitteilen. Dabei kommt die Erkennung Iphigeniens durch ihren Bruder zustande. Ähnlich wie in der euripideischen „Elektra" erfolgt die άναγνώρισις in einer Dreipersonenszene, doch ist Pylades nicht eigentlich als Vermittler, sondern höchstens als „Veranlasser" zu bezeichnen. Wie Iphigenie die Unterbrechung ihrer Rede durch Orestes zurückweist und sich dabei mit dem leicht hingeworfenen ή δ' ήν όρας σύ (V. 773) zu erkennen gibt, wie Pylades wacker seine Rolle zu Ende spielt 2 , mit einer einzigen Handbewegung seine Schwur erfüllt und den Brief dem Empfänger übergibt, ist ein meisterhaft gelungener Augenblick, der von einer feinen apollinischen Heiterkeit erfüllt ist. Will man annehmen, daß in jeder Tragödie ein bestimmtes besonders eindrucksvolles dramatisches Bild der Ansatzpunkt der Erfindung des Dichters gewesen ist 3 , dann sollte man an dieser Stelle den Ansatzpunkt für die Konzeption der „Iphigenie" suchen. Dies ist zugleich der Augenblick der Peripetie 4 . Die Verheißungen des delphischen Gottes haben sich erfüllt. Die dumpfe Verzweiflung und die Todeslust des Orestes sind verschwunden, und an ihre Stelle treten Zuversicht und Vertrauen in die Hilfe des Gottes. Der neue Seelenzustand löst dabei unmittelbar den alten ab, ohne daß die Ubergänge oder Zwischenstufen dargestellt würden 8 . Da sich in der „Iphigenie" beide Partner zunächst nicht erkennen, ist eine doppelte άναγνώρισις nötig. Es ist nicht damit getan, daß Orestes seine Schwester erkennt, es muß ihm auch noch gelingen, sie davon zu 1 Bezeichnend ÌBt, daß der Schaden, den die Schwörenden für den Fall des Eidbruches auf sich herabwünschen, bei beiden der gleiche ist. Der Wunsch, niemals heimzukehren, ist die härteste Selbstverfluchung, die ein Grieche im Barbarenlande aussprechen kann. 2 V. 779 ist ganz Iphigenie zuzuteilen. Die Personenbezeichnung Πυλ. vor V. 779 gehört vor den folgenden Vers, wie bereits l bemerkt und korrigiert hat. — D'Agostino (32) weist auf die große Ähnlichkeit von V. 777 mit den an homologer Stelle gesprochenen Worten Orests Soph. El. 1174-1175 hin. s Vgl. Friedrich 41. 4 Arist. (Poet. 11, 1452a 33) stellt diejenige άναγνώρισις am höchsten, die zugleich die Peripetie des Dramas ist. Das ist hier der Fall, ebenso im Kresphontes und in Soph. El., nicht jedoch in den Cho. und Eur. El. 5 Vgl. besonders V. 711-715 mit 909-911.

„Iphigenie" - Erkennungsszene

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überzeugen, daß er ihr Bruder ist. Hier wie in allen bisher besprochenen Erkennungshandlungen empfängt der eingesessene Partner den Ankömmling zunächst mit Mißtrauen 1 . Solange Iphigenie nicht in Orestes ihren Bruder erkannt hat, ist er für sie noch immer der griechische Gefangene, von dem sie fürchten muß, er wolle durch eine Lüge seine Rettung erschleichen (V. 798-804). Zwar kann er richtig seine Abstammung von Pelops nennen, aber sie fordert darüber hinaus noch τεκμήρια (V. 806-810). Vier Beweise kann Orestes geben. Dreierlei ist ihm von Elektra berichtet worden2, ein weiteres Zeugnis kann er aus eigenem Wissen hinzufügen (V. 811-826). Die Weise, wie der Dichter hier Orestes sich durch die Erzählung von Dingen in der Heimat beglaubigen läßt, mag verglichen etwa mit der Szene der sophokleischen „Elektra", wo die technische Seite der Erkennung durch das blitzschnelle Vorweisen des Siegelringes im Nu erledigt wird, etwas umständlich anmuten 3 . Doch wird immerhin nichts Beliebiges in der Heimat zum Erkennungszeichen, sondern nur Geschehnisse und Dinge aus der Pelopidensage, die dem Zuschauer bereits in den Eingangsszenen bekannt geworden sind. Vom Streit um das goldene Lamm hatte der Chor bereits gesungen (V. 192-195), die Scheinhochzeit und die Opferung in Aulis gehörten zu den Leitmotiven in Iphigenies Klagen während des ganzen Eingangsabschnitts (a, b), und auf den in Pisa über Oinomaos siegreichen Pelops hatte sie in den ersten Versen der Prologrede ihre Abstammung zurückgeführt (V. 1-4). Deutlich schlägt der Dichter am Ende der dem Erkennungsgeschehen gewidmeten Dramenhälfte den Bogen zum Anfang des Dramas zurück 4 . d) Die Erkennungsszene der „Helena" So stark auch sonst die Gemeinsamkeiten der „Helena" mit der „Iphigenie" sein mögen, die Erkennungshandlungen jedenfalls sind 1 V. 798-799, die LP dem Chor zuteilen, sollte man eher mit Cántele (Eur. If. in T., Milano-Messina 1934, 84) Iphigenie geben, die sich durch die profane Berührung in ihrer priesterlichen Reinheit verletzt fühlt. Durch das Sprechen in der dritten Person betont sie ihr Amt. Die dritte Person war wohl der Anlaß dafür, daß die Hss. diese Verse dem Chor gaben. Wie Cántele auch d'Agostino 30. 2 Auch hier bemüht sich Eur. um größtmögliche Wahrscheinlichkeit und vermeidet den Fehler, den er in seiner El. an der aischyleischen Szene getadelt hatte. Ein von Iphigenie gefertigtes Gewand kann Orestes nicht mehr kennen, und auch von Aulis kann er aus eigener Erinnerimg nichts mehr wiesen, da er zu jener Zeit noch ein Säugling war (V. 231-235, 374). Darum wird Elektra als Gewähre person eingeführt. - Vgl. Pohlenz II, 163-164 und oben 121-123. 8 Vgl. den Tadel des Arist., Poet. 16, 1454b 41-34. 4 Jens, Einleitung X I I : ,,Es zeigt sich, wie die euripideische Technik die Einzelteile durch ständiges Vor- und Zurückgreifen zusammenzuhalten versteht." 9*

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Νόστος — Άναγνώρισις — Μηχάνημα

völlig abweichend gestaltet. Die einzige Gemeinsamkeit derjenigen der „Helena" mit den bisher beschriebenen Handlungen besteht darin, daß wie in der Odyssee das Wiedersehen von Ehegatten dargestellt wird, wobei freilich ähnlich wie in der „Iphigenie" der Ort der Handlung von der heimischen Königsburg an den äußersten Rand des Erdkreises verlegt ist, so daß die Heimkehr nicht wie sonst zu den Voraussetzungen der Handlung gehört, sondern das Ziel der Handlung ist. Die Weise jedoch, wie sich in der „Helena" die Erkennung vollzieht, ist gänzlich abweichend von allen früheren Beispielen. Helena, die noch eben als Trauernde die Bühne verlassen hatte, tritt zu Beginn der an jähen Peripetien und überraschenden Situationen so reichen Szene mit der freudigen Gewißheit auf, daß ihr Gatte lebt, ja daß er schon als Schiffbrüchiger im Lande weilt1. Ihre Auftrittsrede endet mit dem heißen Wunsch nach seiner baldigen Ankunft (V. 528540). Dieser Wunsch erfüllt sich schneller, als sie ahnen kann. Ein zerlumpter Schiffbrüchiger nähert sich ihr; es ist Menelaos, wie der Zuschauer weiß. Doch sie fürchtet, einer der Häscher des Theoklymenos stelle ihr nach, und flieht zum Grabmal, während Menelaos, vergeblich seine friedlichen Absichten beteuernd, ihr folgt (V. 541-556). Als sich dort die Ehegatten zum ersten Male aus der Nähe ruhig betrachten, erkennen sie sich sofort und bestätigen dies einander durch die gegenseitige Namensnennung (V. 557-565). Helena, eben noch die Fliehende, verläßt jetzt ihr Asyl, eilt auf Menelaos zu und will ihn als ihren langersehnten Gatten in die Arme schließen (V. 566). Aber jetzt wird Menelaos zum Fliehenden. Er meint sicher zu wissen, daß diese Frau nicht die wahre Helena sein kann, und mag sie ihr auch noch so ähnlich sehen. Denn Helena hat er in einer Höhle an der Küste zurückgelassen. Die Frau aber, die er vor sich sieht, muß entweder ein Gespenst sein oder eine Doppelgängerin (V. 567-581). Nicht einmal Helenas Erzählung, die doch ihre wahren Schicksale meldet, findet Glauben bei ihm. Denn wenn diese Geschichte, die so unglaublich klingt, wahr wäre, dann hätte er die zehn Jahre vergeblich um Troia gekämpft. E r wendet sich zum Gehen und läßt die untröstliche Helena zurück, die schon wieder entschwinden sieht, was sie kaum erst erlangt hatte (V. 582-596). Im Abgehen trifft er mit seinem alten Bootsmann zusammen, der das Verschwinden jener Helena meldet, die man in der Höhle an der Küste verborgen hatte (V. 597-615). Während der Alte jetzt die anwesende Helena bemerkt und sie in seiner Einfalt mit der Entschwundenen verwechselt (V. 616-621), erkennt Menelaos, daß diese Frau die Wahrheit gesprochen hat, und schließt sie als Helena in die Arme (V. 622-624). In dieser Szene findet sich, wenn man von der ersten verständlichen 1 Vgl. zum Folgenden die schöne Besprechung der Szene bei Diller 104-107, ferner Alt, Anagnorisis 17-22.

„Helena" - Erkennungsszene

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Reaktion Helenas bei der Begegnung mit dem zerlumpten Fremdling absieht, nichts von dem sonst so hartnäckigen Mißtrauen des Eingesessenen gegen den Ankömmling. Menelaos wird sofort erkannt und mit heißer Liebe empfangen. Seine freudige Begrüßung, sonst Endpunkt der Erkennungsszene, erfolgt schon nach wenigen Versen (V. 566). Denn hier ist anders als in allen bisher betrachteten Erkennungshandlungen nicht die άναγνώρισις des Ankömmlings, sondern die des eingesessenen Partners das eigentliche Problem. Doch auch hierbei geht es strenggenommen nicht um eine Erkennung. Denn Menelaos hat schon im voraus durch die Türhüterin erfahren, daß Helena im Palast weilt. Als sie selbst erscheint, erkennt er sie sofort. Nur weigert er sich, die Folgerung aus dem Augenschein zu ziehen, weil er, ebenso wie vorher Teukros, zu wissen meint, daß diese Helena nicht die wahre sein kann. Nicht die Überwindung der άγνοια, wie sonst, sondern die der δόκησις, des scheinhaften vermeintlichen Wissens, ist hier das eigentliche Erkennungsgeschehen. Zwar war auch sonst oft die άγνοια mit δόκησις verbunden. Denn es liegt im Wesen des Menschen, daß er auch dort ein Wissen zu besitzen meint, wo er in Wahrheit unwissend ist. Sowohl in der sophokleischen „Elektra" als auch in der „Iphigenie" spielte die δόκησις eine gewisse Rolle. Da der eine Partner vom Tod des anderen zu wissen glaubte, mußte mit seiner άγνοια zugleich auch seine δόκησις überwunden werden. Aber dort konnte die δόκησις nur solange ihre Macht ausüben, bis der Augenschein ihre Haltlosigkeit erwies. In der „Helena" dagegen vermag sich die δόκησις sogar gegen den Augenschein zu behaupten. Erst als das Scheinwissen zerstört ist, kann das wahre Wissen seinen Einzug halten 1 . Wir beobachten also in der „Iphigenie" eine traditionelle Erkennungshandlung, die sich in ihrer dramatischen Form eng an die beiden „Elektren" anlehnt, und in der „Helena" eine von allen früheren Beispielen völlig abweichende Erkennungehandlung, der eine nicht weniger abweichende Form entspricht. Aus diesem Befund läßt sich ein gewichtiges Argument für die Priorität der „Iphigenie" ableiten. Denn es ist völlig unwahrscheinlich, daß Euripides zuerst in der „Helena" eine Handlung schuf, die sich nur als geistreiche Variation des überlieferten Erkennungsmotivs bezeichnen läßt, und dann in der „Iphigenie" zwar das Handlungsschema des gesamten Dramas aus der „Helena" übernahm, aber in der Erkennungshandlung zu der in den beiden „Elektren" vorliegenden traditionellen Form zurückkehrte. Man sollte vielmehr die geradlinige Entwicklung auch für die wahrscheinlichere halten. Demnach hat der Dichter zuerst in der „Iphigenie" eine Erkennungshandlung der traditionellen Art in engem Anechluß an die beiden „Elektren" geschaffen, wobei er aber das Ge1

Vgl. Diller 106, ferner unten 183 Α. 1.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

schehen nicht nur wie in der eigenen „Elektra" an den Rand des Heimatlandes, sondern sogar an den Rand der Welt verlegte. Bald darauf wiederholte er in der „Helena" in vielem die Form der „Iphigenie", schuf hier aber eine völlig neue Form der Erkennungshandlung, indem er nicht in gewohnter Weise die Überwindung der άγνοια, sondern die der δόκησις zum Zentralproblem erhob. e) Die Amoibaia der „Iphigenie" und der „Helena" Da die Amoibaia, die in der „Iphigenie", der „Helena" und dem „Ion" auf die Erkennung folgen, bereits untersucht worden sind1, beschränkt sich unsere Aufgabe darauf, zu prüfen, welche Folgerungen sich aus den bisherigen Beobachtungen auf das mutmaßliche Zeitverhältnis der beiden Stücke ziehen lassen. In der „Iphigenie" besteht das Amoibaion aus vier Abschnitten. Der erste ist der unmittelbaren Wiedersehensfreude gewidmet (V. 827-849), der zweite dem Rückblick auf die bisherigen Schicksale Iphigenies (V. 850-864), im dritten wenden sich die Gedanken dem Geschehen des heutigen Tages zu (V. 865-872), und im vierten, rein monodischen Abschnitt fragt Iphigenie nach der κακών εκλυσις und sucht das Dunkel der Zukunft zu durchdringen (V. 873-899). Auch im Amoibaion der „Helena" lassen sich vier Abschnitte unterscheiden, wobei aber nur bei den ersten zwei auch inhaltliche Übereinstimmung mit den entsprechenden Partien in der „Iphigenie" besteht. Denn auch in der „Helena" dient der erste Abschnitt (V. 625-659) der Darstellung der reinen Wiedersehensfreude, während im zweiten (V. 660-683) auf die bisherigen Leiden Helenas zurückgeblickt wird. Der dritte Abschnitt aber (V. 684-690) ist ohne Entsprechung in der „Iphigenie". Hier teilt Helena ihrem Gatten die Unglücksbotschaften mit, die sie durch Teukros aus Sparta erhalten hat. Der vierte Abschnitt (V. 691-697) enthält wiederum einen Rückblick. Menelaos überschaut noch einmal das Geschehen des troischen Krieges, während Helena an ihre eigenen Schicksale zurückdenkt. Der dritte Abschnitt des Amoibaion der „Iphigenie" mit seiner Reflexion über das bisherige Geschehen des Dramas ist in der „Helena" innerhalb des Amoibaion ohne Entsprechung. Das bedeutet aber nicht, daß in der „Helena" eine solche Reflexion völlig fehlte. Denn sowohl die Szene nach der Erkennung (V. 700-760) als auch das erste Stasimon (V. 1107-1164) dienen der Reflexion über das Geschehen des Dramas, so daß sich diese also nicht mit dem engen Raum weniger Verse des Amoibaion zu begnügen braucht wie in der „Iphigenie". Ferner fehlt im Amoibaion der „Helena" jede Entsprechung zum vierten Abschnitt in der „Iphigenie". Nicht nur hier, sondern auch in der ganzen 1

Schadewaldt, Monolog 214 Α. 1, Solmsen, Ion 396-397.

Amoibaia - Formelhafte Wendungen

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anschließenden Szene bis hin zu V. 760, also bis zur kompositioneilen Mitte des Zentralabschnitts, unterbleibt jeder Gedanke an die Zukunft. In der „Helena" ist also zwischen dem Jubel über das Wiedersehen und der Reflexion über die Vergangenheit einerseits und der Besinnung auf die gegenwärtige Gefahr andrerseits eine scharfe Grenze gezogen. Erkennungs- und Rettungshandlung gehen nicht wie in der „Iphigenie" unmerklich ineinander über, sondern sind deutlich geschieden. In allen erhaltenen Erkennungsdramen seit der „Elektra" des Sophokles finden sich unmittelbar nach der Erkennung einige fast formelhafte Wendungen, in denen die Freude des Wiedersehens ihren Ausdruck findet. Während in den beiden „Elektren" die Wendungen vor allem in den auf die Erkennung unmittelbar folgenden άντιλαβαί ihren Platz haben (Soph. El. 1224-1226, Eur. El. 578-581), stehen sie in der „Iphigenie", im „Ion" und in der „Helena" jeweils in den ersten Abschnitten der Amoibaia (Iph. 827-849, Ion 1437-1457, Hei. 625-659) und in den abschließenden Chorverspaaren (Iph. 900-901, Ion 15101511, Hei. 698-699). Insbesondere besteht große Ähnlichkeit zwischen V. 827-849 der „Iphigenie" und V. 625-648 der „Helena". Sowohl Iphigenie als auch Helena begrüßen den endlich Gekommenen als das Liebste auf der Welt 1 . (1) Iph. 827: ώ φίλτατ', ούδέν άλλο, φίλτατος γάρ εΐ. Hei. 625 : ώ φίλτατ' άνδρών Μενέλεως . . . Die Vereinten halten sich umfangen und versichern sich dieses Glückes auch im Wort 2 . (2) Iph. 828: έχω σ', Όρέστα . . . 831 : κάγώ σε τήν θανοϋσαν, ώς δοξάξεται. Hei. 627 : ϊλαβον άσμένα πόσιν έμόν . . . περί τ' έπέτασα χέρα φίλιον. . . . 630: κάγώ σέ. 634: περί δέ γυΐα χέρας έβαλον. Der Tag der Vereinigung wird gepriesen, oder es wird der Wiedergefundene gar mit dem lebenspendenden Licht des Tages verglichen". Vgl. Soph. Phil. 242 : ώ φιλτάτου παΐ πατρός, ώ φίλης χθονός . . . Eur. Ion 1437 : ώ φιλτάτη μοι μήτερ . . . (Ähnlich auch schon Aisch. Cho. 235: ώ φίλτατον μέλημα δώμασιν πατρός). 2 Vgl. Soph. El. 1226: έχω σε χερσίν; Eur. El. 579: έχω σ' άέλπτως. - κάξ έμοδ γ' έχη χρόνω. Ion 1440: . .. έν χεροΐν σ' έχω, . . . δν κατά γας . . . έδόκουν ναίειν. 1443: . . . έν χεροΐν σέθεν i κατθανών τε κού θανών φαντάζομαι. Hyps. fr. 756 Ν.: περίβαλ', ώ τέκνον, ώλένας. 3 Vgl. Soph. El. 1224: ώ φίλτατον φως. - φίλτατον, ξυμμαρτυρώ. Eur. El. 585: έμολες έμολες, ώ, χρόνιος άμέρα . . . Ion 561: . . . φίλον γε φθέγμ* έδεξάμην τόδε. — ήμέρα θ' ή νΰν παρούσα. Ferner auch, allerdings nicht genau an homologer Stelle, Soph. Phil. 530: ώ φίλτατον μέν ήμαρ, ήδιστος δ' άνήρ . . . 1

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

(3) I p h . 846: Μυκήνα φίλα, . . . χάριν έχω τροφάς, δτι μοι συνομαίμονα τόνδε δόμοις έξεθρέψω φάος. Hei. 623: . . . ώ ποθεινδς ήμέρα, ή σ' είς έμάς έδωκεν ώλένας λαβείν. Die Vereinten blicken noch einmal auf den langen Zeitraum der Trennung zurück 1 . (4) I p h . 834: τόδ' έτι βρέφος έλιπον . . ^ Hei. 625: 6 μέν χρόνος παλαιός, ή δέ τέρψις άρτίως πάρα . . . 629: . . . έν μακρά φλογί φαεσφόρω. 644: τό κακόν δ' άγαθδν σέ τε κάμέ συνάγαγεν, ώ πόσι, χρόνιον . . . 3 Sie rufen sich staunend ins Bewußtsein, daß das Wiedersehen gegen alles Hoffen u n d Vermuten erfolgte, u n d suchen nach Worten, die das Geschehene angemessen beschreiben könnten 4 . 1

Ähnlich auch schon Hei. 556: ώ χρόνιος έλθών σης δάμαρτος ές χέρας. Vgl. Soph. El. 1273 :ίώ χρόνω μακρω φιλτάταν ¿δον έπαξιώσας ώδέ μοι φανήναι.. . E u r . El. 578: . . . ώ χρόνω φανείς . . . 579: . . . - κάξ έμοϋ γ' έχη χρόνω. 585: ίμολες έμολες, ώ, χρόνιος άμέρα. Hype. fr. 64, col. 2, 5: [ό δαίμων] χρόνω δ' έξέλαμψεν εύάμερος. 2 Hier weicht in I p h . der Ausdruck von der Formel χρόνιος, χρόνω φανείς ab, die sich in den anderen Dramen beobachten läßt. 3 Nach einer ersten P r ü f u n g von P a p . Ox. 2336 (vgl. G. Zuntz, Mnemosyne 14, 1961, 122-125) scheint es mir, als ob die Verse Hei. 636-647 folgendermaßen herzustellen seien: 636 ώ φιλτάτη πρόσοψις, οΰκ έμέμφθην έχω τά της Διός τε λέκτρα Λήδας θ ' , Sv ύπό λαμπάδων κόροι λεύκιπποι 640 ξυνομαίμονες ώλβισαν ώλβισαν. έμέ σέ τε μάταν ένόσφισαν θεοί δόμων, πρός άλλαν γ' έλαύνει θεός συμφοράν τάσδε κρείσσω. τό κακόν δ'άγαθον σέ τε κάμέ συνάγαγεν, ώ πόσι, 645 χρόνιον, άλλ' δμως όναίμαν τύχας. βναιο δήτα. ταύτά δη ξυνεύχομαι. δυοϊν γάρ δντοιν ούχ ó μέν τλήμων, δ δ' οΰ. I n V. 641 bietet Π einen stark von L P abweichenden Text, der sich wohl a m ehesten wie oben deuten läßt (δέ inserui, τε Kamerbeek). Da Helena mit größerem R e c h t als Menelaos von sich sagen kann, d a ß sie nach dem Willen der Götter aus S p a r t a fortgeführt wurde, ist diese Zeile wohl ihr zu geben. I n V. 642 h a t Π γ' s t a t t δ' (LP), und in V. 644 scheint Dindorfs συνάγαγεν, ώ πόσι f ü r συνάγαγε πόσιν (LP) durch Π seine Bestätigung zu finden. Das h a t freilich zur Folge, d a ß m a n auf jeden Fall V. 644-645 Helena geben m u ß . D a ihr aber, wie wir sahen, auch V. 641 zukommt, sollte man ihr a m besten die ganze P a r t i e V. 641-645 geben. V. 646-647 will Wilamowitz dem Chor geben. Ein Chorversp a a r m i t t e n im Amoibaion würde aber einen scharfen Einschnitt bedeuten, f ü r den a n dieser Stelle kein Grund vorliegt. D a r u m sollte m a n T y r w h i t t folgen u n d die Verse Menelaos geben. 4 Vgl. Soph. El. 1263: έπεί σε νΰν άφράστως άέλπτως τ' έσεϊδον . . . (Vgl. auch V. 1281) E u t . El. 579: έχω σ' άέλπτως I o n 1440: . . . έν χεροϊν σ' έχω | άελπτον εΰρημ' . . . 1446: τίν' αύδάν άύσω, | βοάσω;

Arooibaia - Formelhafte Wendungen

137

(5) I p h . 839: τί φώ; θαυμάτων πέρα και. λόγου πρόσω τάδ' έπέβα. Hei. 630: πολλούς δ' έν μέσω λόγους έχων ούκ οίδ' ¿ποίου πρώτον άρξωμαι τά νϋν. Sie wünschen, d a ß das neugewonnene Glück hinfort Bestand haben möge 1 . (6) I p h . 841 : τό λοιπόν εύτυχοϊμεν άλλήλων μέτα. Hei. 698 : εί καΐ τά λοιπά της τύχης εύδαίμονος τύχοιτε, πρός τά πρόσθεν άρκέσειεν άν*. Schließlich wenden sich die weiblichen P a r t n e r dem Chor zu u n d geben a u c h ihm Anteil an der Wiedersehensfreude 8 . I p h . 842: άτοπον άδονάν έλαβον, ώ φίλαι. Hei. 648: φίλαι φίλαι, τά πάρος ούκέτι στένομεν . . . (Vgl. auch φίλαι V. 627) Damit h a t in der „Iphigenie" der erste Abschnitt des Amoibaion sein E n d e erreicht. I n der „ H e l e n a " folgt jedoch noch ein zweiter Auebruch der Wiedersehensfreude, bei dem Menelaos die führende Rolle zufällt (V. 652-659). Hier wiederholen sich noch einmal die meisten der Formeln. (2) Hei. 652: ίχεις, έγώ τε σέ. 657: άδόκητον έχω σε πρός στέρνοις. | κάγώ σέ . . . (4) 652: . . . ήλιους δέ μυρίους μόλις διελθών ήσθόμην τά της θεοϋ. (5) 656: τί φώ; τις âv τάδ* ήλπισεν βροτών ποτε; άδόκητον έχω σε . . . Der durch die festen Wendungen bestimmte Gedankengang, wie er f ü r den Abschnitt u n m i t t e l b a r nach der E r k e n n u n g charakteristisch ist, wird in der „ H e lena" also nicht n u r einmal, wie gewöhnlich, sondern zweimal durchlaufen, wobei das erste Mal Helena u n d das zweite Mal Menelaos die f ü h r e n d e Rolle zukommt.

Für die Form der euripideischen Amoibaia nach der Erkennung mit ihrem Wechsel zwischen lyrischen Versen des weiblichen und Sprechversen des männlichen Partners dürften die oben besprochenen Verse 1232-1287 der sophokleischen „Elektra" das Vorbild gewesen sein4. In ähnlicher Weise wie dort wechseln in der „Iphigenie" die Gesangsverse Iphigenies mit den Sprechversen des Orestes. Dieser Wechsel läßt sich hier aber nicht mehr aus dem Ethos der Szene begründen. Denn hier drängt Orestes in keiner Weise zur Tat. Seine Worte sind ebensosehr Reflexion über die Freude des Wiedersehens und das Leid 1

Vgl. Soph. El. 1226: . . . - ώς τά λοίπ' ίχοις άεί. E u r . I o n 1456: . . . άλλά τάπίλοιπα της τύχης εύδαιμονοΐμεν, ώς τά πρόσθε δυστυχή. ! I n der Hei. folgt die entsprechende Wendung erst im abschließenden Chorverspaar. 8 Vgl. Soph. El. 1281: ώ φίλαι, έκλυον άν έγώ ούδ' άν ήλπισ' αύδάν. H i e r möchten wir mit J e b b ώ φίλαι halten. Denn auch I p h . 842 u n d Hei. 627 u n d 648 wird der Chor an homologer Stelle im Amoibaion angeredet. Auch der rasche Wechsel der Anrede (ώ φίλαι - σέ) ist nichts Ungewöhnliches, vgl. Hei. 625-627 (ώ φίλτατ' άνδρών - φίλαι). 4 Vgl. oben 118-119.

138

Νόστος - Ά ν α γ ν ώ ρ ι σ ι ς - Μηχάνημα

der Vergangenheit wie diejenigen Iphigenies. Die Rechtfertigung der vom Dichter gewählten Form läßt sich also anders als im Vorbild nur aus der Verschiedenartigkeit männlichen und weiblichen Fühlens ableiten. Auch im „Ion" wechseln ähnlich wie in der „Iphigenie" im Amoibaion nach der Erkennung Sprechverse des männlichen mit lyrischen Versen des weiblichen Partners1. In der „Helena" aber hält sich Euripides nicht an die Regel, die er sonst beachtet. Denn zwar überwiegen auch im Part des Menelaos die Sprech verse erheblich, doch fällt ihm auch eine ganze Reihe gesungener Verse zu2. Alle Besonderheiten des Amoibaion der „Helena" gegenüber dem der „Iphigenie" lassen sich am zwanglosesten dann erklären, wenn man die „Helena" für das spätere Stück ansieht. Euripides hat demnach gegenüber der „Iphigenie", wo sich die Reflexion über die Peripetie des Dramas auf den kurzen dritten Abschnitt des Amoibaion beschränken mußte, in der „Helena" der Reflexion in einer eigenen Szene und im ersten Stasimon einen sehr viel größeren Raum zugebilligt. Er hat sowohl das Amoibaion als auch die anschließende Szene von Zukunftsgedanken freigehalten und dadurch eine klarere Scheidung zwischen Erkennungs- und Rettungshandlung bewirkt3. Ferner hat er den der Darstellung der Wiedersehensfreude gewidmeten Abschnitt des Amoibaion reicher gestaltet und es aufgegeben, sich an die strenge von Sophokles überkommene Form des Wechsels zwischen Gesangsversen des weiblichen und Sprechversen des männlichen Partners zu halten, die er in der „Iphigenie" noch beachtet hatte. § 9. Euripides'

„Ion"

a) Die Funktion der Erkennungshandlung Während sich die Handlungsabläufe der „Iphigenie" und der „Helena" dadurch kennzeichnen ließen, daß dort Erkennungsgeschehen und Rettungs-μηχάνημα aufeinander folgten, ist der „Ion" in erster Linie ein Erkennungsdrama, in dem das Motiv des μηχάνημα, hier des Rache-μηχάνημα der Mutter gegen den unerkannten Sohn, der Erkennungshandlung eingegliedert und untergeordnet ist. Da das Motiv des beinahe begangenen Verwandtenmordes, das sich auch in der „Iphigenie" findet, im „Ion" verdoppelt auftritt, da ferner der Dichter hier sehr viel geschickter zu Werke geht als in der „Iphigenie" und der „Helena", indem er nicht nur die Erkennungshandlung, sondern auch die μηχάνημα-Handlung dem tieferen Geschehen des Stückes, nämlich Vgl. unten 143. V. 639-640, 654-655, 659, 692-693 und Teile von 680, 681 und 685. - Zu V. 642-645 vgl. oben 136 A. 3. 3 Vgl. Schadewaldt, Monolog 214 Α. 1, Ludwig 112. 1 2

Amoibaia - „ I o n "

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dem Seelendrama Kreusas, dienstbar macht, glaubte Solmsen sich zu der Folgerung berechtigt, daß der „Ion" als das technisch fortgeschrittenere Drama nach der „Iphigenie" und auch nach der „Helena" einzuordnen sei1. Gegen das erste Argument läßt sich einwenden, daß der „Ion" nur in Einzelheiten wie der Form seiner Erkennungsszenen und der anschließenden Amoibaia mit der „Iphigenie" übereinstimmt, hinsichtlich der Form seiner Handlung dagegen nicht die Entwicklungsreihe fortsetzt, die von den „Choephoren" über die beiden „Elektren" zur „Iphigenie" und „Helena" führt, sondern die Reihe derjenigen Dramen, in denen ebenfalls ein Anschlag auf das Leben des unbekannten Sohnes der Erkennung vorausgeht, nämlich des „Aigeue", des „Kresphontes" und des „Alexandros" 2 . Dem zweiten Argument Solmsens muß entgegengehalten werden, daß nicht nur der „Ion", sondern auch die „Helena" eine Sonderstellung einnimmt, da in ihr nicht die Überwindung der άγνοια, wie in allen anderen Erkennungsdramen, sondern die der δόκησις das eigentliche Geschehen der Erkennungshandlung ist. Mit dem gleichen Recht, mit dem Solmsen den „Ion" für das jüngste Stück der Dramengruppe hält, läßt sich dieser Platz auch für die „Helena" beanspruchen. b) Die Szene vor der Erkennung Der „Ion" enthält ebenso wie die euripideische „Elektra"-und die „Iphigenie" eine Szene, in der die Partner der Erkennung zusammentreffen und miteinander sprechen, ohne daß die Erkennung zustandekommt (V. 237-428). Ebenso wie in der „Iphigenie" sind auch im „Ion" in dieser Szene noch beide Partner einander unbekannt. Den Fehler, den Ankömmling schon vor Beginn dieser Szene den ansässigen Partner erkennen zu lassen, der uns in der homologen Szene 1

Solmsen, Ion 404—407. - Wie sehr man sich vor solchen voreiligen Schlüssen zu hüten hat, zeigt das Beispiel des Alexandros. Vgl. oben 127. - Zur Erkennungehandlung des Ion vgl. jetzt auch Diller 110-114. * Auch gegenüber Spiras Argumentation (122, 123, 128), der eine Entwicklungslinie von der Iph. über die Hei. zum Ion ziehen will, muß darauf hingewiesen werden, daß manches, was uns im Ion gegenüber Iph. und Hei. neu zu sein scheint, etwa die völlige Unwissenheit beider Partner vor der Erkennung, bereits im Alexandros vorgeformt ist. Von einer „Götterintrige", wie sie Spira(41) im Handeln Apollons im Ion aufzeigt, kann man auch schon in der Iph. sprechen. Auch hier erkennt Orestes bis zur Erkennungsszene nicht, daß er auch in Tauris unter dem Schutz Apollons steht, sondern glaubt sich von ihm verraten. Insofern läßt sich auch die Iph. als „unmittelbare Vorstufe zum Ion" (Spira 123) betrachten, und vielleicht mit größerem Recht als die Hei. Denn dort wird zwar wieder und wieder gesagt, daß das Geschehene ein Werk Heras ist, aber der Sinn ihres Handelns bleibt letzten Endes unverständlich. Auch die Schlußszene, in der auffälligerweise Hera unerwähnt bleibt, schafft anders als in Iph. und Ion keine Klarheit. Vgl. unten 181-183.

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Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

der „Elektra" so sehr gestört hatte, vermeidet der Dichter also auch im „Ion" 1 . Die Szene vor der Erkennung, die dem Dichter im „Ion" geglückt ist, muß wahrhaft vollendet genannt werden, und es ist schwer zu entscheiden, ob ihr oder der Szene der „Iphigenie" das größere Lob gebührt. Doch da die dramatische Situation hier und dort zu verschieden ist, dürfte es wohl kaum möglich sein, durch einen Vergleich der Szenen irgendwelche Anhaltspunkte für die Datierung zu gewinnen. c) Die Erkennungsszene Schon längst ist bemerkt worden, daß die Erkennungsszene des „Ion" (V. 1261-1438) große Ähnlichkeit mit der des „Alexandros" aufweist 2 . Hier wie dort rettet sich der Bedrohte vor seinen Verfolgern durch Flucht an den Altar 3 , und in beiden Fällen erfolgt dann am Altar die Erkennung. Doch bestehen auch manche Ähnlichkeiten mit der „Iphigenie". Denn in beiden Dramen hält der Partner, der später erkennt - und das ist jedesmal der eingesessene Partner - , die Behauptung des anderen, er sei ein naher Verwandter, für eine List, durch die er den drohenden Tod von sich abwenden wolle (Iph. 803810 ~ Ion 1409). In beiden Fällen muß der Ankömmling zunächst eine Prüfung über sich ergehen lassen (Iph. 811-826 ~ Ion 1410-1436). Besonders geschickt ist hierbei die Weise, wie der Dichter im „Ion" verfährt. Kxeusa hat Ion an dem Körbchen erkannt, das die Pythia ihm übergeben hatte (V. 1395). Ion aber befragt sie in der Hoffnung, sie so der Lüge überführen zu können, über den Inhalt desselben Körbchens und muß dabei mehr und mehr erkennen, daß sie die Wahrheit gesprochen hat. Ein einziges Zeichen dient hier also zugleich als γνώρισμα, an dem die Mutter ihren Sohn erkennt, und als τεκμήριον, durch das die Mutter ihre Ansprüche auf den Sohn beweisen kann. Auch der Inhalt des Körbchens besteht nicht aus beliebigen Dingen, sondern aus Symbolen der attischen Herkunft des Knaben : dem Tuch mit der eingewebten Aigis Athenes, den Schlangen des Erichthonios und dem Zweig vom heiligen ölbaum. 1 Damit ist aber schon von vornherein die Möglichkeit einer Entstehung des Ion vor Eur. El. ausgeschlossen. Denn es wäre völlig unverständlich, warum der Dichter in der El. eine so wenig vollkommene Szene geschaffen hätte, wenn ihm zuvor im Ion schon eine vollendete Szene dieses Typs gelungen wäre. Vgl. oben 121 A. 2. 2 Snell, Alexandros 48 A. 4. » Wilh. Nestle (120) rechnet die Kritik, die Ion (V. 1312-1319) am Asylrecht für Übeltäter übt, zu den Fällen, wo der Dichter bestehendes griechisches Recht kritisiere. Deis Asylrecht hat aber in diesem Fall Kreusa das Leben gerettet und Ion vor dem Muttermord bewahrt. Die Kritik, die Ion übte, war also höchst töricht, und man wird sie deswegen wohl kaum mit der Meinung des Dichters gleichsetzen dürfen.

„ I o n " - Erkennungsszene

141

Macurdy meint, in der „Iphigenie" eine gegenüber dem „Ion" fortgeschrittene Technik der άναγνώρισις zu bemerken, und glaubt deswegen den „Ion" vor der „Iphigenie" einordnen zu müssen1. Denn im „Ion" geschehe die Erkennung in beiden Richtungen durch Zeichen, in der „Iphigenie" dagegen nur noch in einer Richtung, bei der Erkennung Iphigenies durch Orestes aber wisse der Dichter ohne Zeichen auszukommen. Dem ist entgegenzuhalten, daß Euripides nicht gezwungen war, von der Art der άναγνώρισις, der Aristoteles eine weniger gute Note gibt, zu derjenigen fortzuschreiten, die von ihm günstiger beurteilt wird. Die entwickeltere Technik der άναγνώρισις sollte man übrigens eher im „Ion" suchen als in der „Iphigenie", wo zwar die Erkennung Iphigenies durch ihren Bruder ganz außerordentlich geschickt herbeigeführt wird, aber die Weise, wie Orestes sich durch seine Erzählung von Dingen in Argos legitimiert, doch ein wenig schwerfällig anmutet2. Zum gleichen Ergebnis kann man auch auf anderem Wege gelangen. Die „Iphigenie" wich von den früheren Erkennungsdramen darin ab, daß der Ort der Handlung nicht der heimische Königehof in Argos war, sondern das ferne Taurerland. Sie stimmte aber darin überein, daß der männliche Partner der Ankömmling, der weibliche aber seit vielen Jahren am Ort der Handlung ansässig war. Orestes, also der männliche Partner, erkannte als erster sein Gegenüber, und bei ihm als dem unbekannten Fremdling lag die Beweislast dafür, daß er wirklich Iphigenies Bruder war. Im „Ion" ist der Ort der Handlung ebenfalls nicht der heimische Königshof in Athen, sondern Delphi, der Sitz Apollons. Aber hier kommt nicht der Sohn zur Mutter, wie es dem Handlungstyp entspricht und wie es im „Kresphontes" und „Alexandros" der Fall war, sondern die Mutter gelangt auf der Suche nach dem Sohn dorthin, wo dieser eine Heimat gefunden hat. Zunächst ist es Ion, den sie als unerwünschten Eindringling in ihr attisches Haus empfindet, in der Erkennungsszene jedoch ist sie der unerwünschte Eindringling, der sich durch seinen Anschlag auf Ion des Todes schuldig gemacht hat. Ihr fällt jetzt die Rolle des Ankömmlings zu, die sonst immer dem männlichen Partner zugekommen war. Demgemäß ist sie es denn auch, die als erste erkennt, und bei ihr liegt es dann, Beweise dafür zu bringen, daß sie wirklich Ions Mutter ist. Der „Ion" weicht also darin, daß die Rollen zwischen männlichem und weiblichem Partner gleichsam vertauscht sind, stärker vom traditionellen Typ der Erkennungshandlung ab als die „Iphigenie". Schließlich sei auch noch auf die Verdoppelung von Motiven hingewiesen, die in der „Iphigenie" (wie auch zuvor im „Kresphontes" und „Alexandros") jeweils nur einmal verwandt werden. Im „Ion" 1

Macurdy 87-91.

2

Vgl. oben 131.

142

Νόστος - Άναγνώρισις - Μηχάνημα

erfolgen zwei Erkennungen, erst die Schein-άναγνώρισις Ions durch Xuthos, dann die wirkliche άναγνώρισις durch Kreusa, und zweimal ereignet sich aus άγνοια beinahe ein Verwandtenmord, denn erst bedroht Kreusa das Leben ihres Sohnes und dann Ion das seiner Mutter. Alle diese Beobachtungen legen es nahe, nicht dem „Ion" die Priorität zuzuerkennen, sondern der „Iphigenie". Ungewiß bleibt freilich zunächst noch das Zeitverhältnis des „Ion" zur „Helena". Denn in beiden Dramen weichen die Erkennungshandlungen, wenn auch in verschiedener Weise, so stark vom überlieferten Typ ab, daß ein Vergleich nicht möglich ist. d) Das Amoibaion nach der Erkennung Hier kann vielleicht ein Vergleich der Amoibaia weiterführen, die in der „Iphigenie", der „Helena" und dem „Ion" (V. 1439-1511) auf die Erkennungsszene folgen. In der „Iphigenie" schließt sich an die unmittelbare Äußerung der Wiedersehensfreude (V. 827-849) ein Rückblick auf die Vergangenheit (V. 850-864), auf den eine kurze Reflexion über das bisherige Geschehen folgt (V. 865-872), während der letzte Teil der lyrischen Partie (V. 873-899) bereits zur Rettungshandlung überleitet. Im „Ion" ist der große mittlere Teil der lyrischen Szene nach der Erkennung (V. 1458-1500) dem Rückblick auf die vergangenen Leiden Kreusas gewidmet, während die letzten Verse (V. 15011509) von dem soeben erfolgten Umschlag des Glückes handeln, also über das bisherige Geschehen des Dramas reflektieren. In der „Helena" schließlich blicken die Vereinten während des ganzen Teils der lyrischen Partie, der nicht mehr der Darstellung der ersten Wiedersehensfreude dient (V. 660-697), auf ihr bisheriges leidvolles Leben zurück, während der Reflexion über die neue glückliche Wendung der Ereignisse die unmittelbar auf die lyrische Partie folgende Szene (V. 700-760) und ein Teil des aktabschließenden Chorliedes (V. 1137-1164) gewidmet sind. Das Amoibaion des „Ion" nimmt also offensichtlich eine Mittelstellung zwischen dem der „Iphigenie" und dem der „Helena" ein. Der Wandel, der sich in den drei Amoibaia vollzieht, läßt sich so beschreiben, daß der Rückblick auf die Vergangenheit von Drama zu Drama immer größeren Raum einnimmt und daß die Reflexion über das bisherige Geschehen des Stückes, die ebenfalls immer ausführlicher gestaltet wird, im „Ion" an das Ende der lyrischen Partie und in der „Helena" in eine eigene Szene nach dem Amoibaion rückt. Zwei weitere Beobachtungen weisen in die gleiche Richtung. In der Verwendung der Formelverse im ersten Abschnitt des Amoibaion (V. 1437-1457) steht der „Ion" der „Iphigenie" näher als der „Helena". Denn auch im „Ion" finden sich die formelhaften Wendungen nur ein-

„Ion" - Amoibaion

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mal und kehren nicht wie in der „Helena" noch ein zweites Mal wieder 1 . In seiner metrischen Gestalt jedoch nimmt das Amoibaion des „Ion" eine mittlere Stellung ein. Wie in der „Iphigenie" fallen dem männlichen Partner nur Sprech verse zu, doch ist die dort herrschende Starrheit dadurch leicht aufgelockert, daß von diesen Versen viele als άντιλαβαί zwischen Ion und Kreusa verteilt sind oder bisweilen auch Ion den ersten Teil eines Trimeters spricht, während anstelle des zweiten Teils ein lyrischer Vers Kreusas steht. In der „Helena" schließlich wechseln auch im Part des Menelaos Sprechverse mit lyrischen Versen2. Der Vergleich der Âmoibaia nach der Erkennung legt es also nahe, den „Ion" nach der „Iphigenie" und vor der „Helena" einzuordnen. 1 2

Vgl. oben 135-137. Vgl. oben 137-138.

2. Kapitel

Die hinterszenische Handlung in der griechischen Tragödie Für die uns gestellte Aufgabe ist es nötig, die Szenen V. 1142-1232 der euripideischen „Elektra" und V. 726-814 des „Herakles" zu untersuchen und ihr zeitliches Verhältnis zu bestimmen. Es handelt sich um zwei Szenen, in denen der hinterszenische Vollzug einer Rachetat dargestellt wird. Um diese beiden Szenen in ihren typischen Zügen und ihren Besonderheiten besser würdigen zu können, wollen wir zunächst den Szenentyp durch die erhaltenen Tragödien bis zur „Elektra" und zum „Herakles" hin verfolgen, sodann den eigentlichen Vergleich vornehmen und schließlich noch andeuten, wie sich der Typ im letzten Jahrzehnt der großen Tragödie weiterentwickelt. Der Begriff „hinterszenische Handlung" wird hier sehr viel enger gefaßt als in der Arbeit von Joerden, mit der sich die folgenden Ausführungen naturgemäß an manchen Stellen berühren. Wir verstehen darunter τα ύπο σκηνήν έν ταΐς οίκίαις άπόρρητα πραχθέντα, wie Pollux und ähnlich auch Philostratos formulieren1, also Geschehnisse des mittleren hinterszenischen Raumes nach der Terminologie Joerdens 2 , und zwar solche, die sich gleichzeitig mit der Bühnenhandlung vollziehen. Diese Dinge geschehen zwar im Inneren der Szene, aber der Zuschauer erhält von ihnen auf mancherlei Weise Kenntnis. Es handelt sich dabei durchweg um blutige Taten, meist um Morde oder Selbstmorde. Die unmittelbare Darstellung einer solchen Tat ist der attischen Bühne verwehrt, wohl nicht wegen der wenig entwickelten Schauspieltechnik, sondern eher aus Gründen der kultischen Reinheit 3 . 1 Pollux 4, 128; Philostratos, Vit. Soph. 1, 9 ( = Gorg. A I D . ) : (è Αισχύλος κατεσκεύασε & έπΐ σκηνης τε καί ύπό σκηνής χρή πράττε ιν. Vgl. H o r . Α. Ρ . 179-188. 2 Am klarsten formuliert: Joerden 149. 3 Dies v e r m u t e t Joerden (66), der auf E u r . Hipp. 1437-1439 verweist u n d d a r a n erinnert, daß Dionysos während des tragischen Spiels als anwesend gedacht wird. Ähnlich auch schon K . Kiefer, Körperlicher Schmerz u n d Tod auf der attischen Bühne, Heidelberg 1909, 105-106. E. K a p p verweist auf Ar. P a x 10171022, wo sogar die Tötung eines Opfertieres hinter die Szene verlegt wird, u n d zwar sicher nicht, u m dem Choregen das Schaf zu erhalten, wie Trygaios witzig bemerkt, sondern offensichtlich aus den genannten Gründen, auf die auch V. 1019-1020 hinweisen. Auch Ar. Av. 862-1057 wird das Opfer, zu dem alle Vorbereitungen auf der Bühne getroffen werden, nicht öffentlich vollzogen, sondern zunächst durch alle möglichen dazwischentretenden Personen hinausgezögert lind schließlich hinter die Szene verlegt. Ein hinterszenisches Opfer auch Men. Dysc. 419-422. - Zum Selbstmord des Aias, den man als einziges Beispiel f ü r gewaltsamen Tod auf der Bühne anführen könnte, vgl. Joerden 67-72.

Begriffsbestimmung - „Perser"

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Der „hinterszenischen Handlung" in diesem Sinne steht die Handlung auf der Bühne und als dritte Möglichkeit die „außerszenische Handlung" gegenüber. Letztere wird als an einem Ort geschehend vorgestellt, der außerhalb des Gesichtskreises und Hörbereichs des Zuschauers liegt. Was sich an diesem dritten Ort vollzieht, wird dem Chor und dem Zuschauer durch άγγελοι gemeldet, die durch die seitlichen Orchestraeingänge die Bühne betreten. Die Boten dagegen, die aus dem Bühnenhause hervortreten und hinterszenische Geschehnisse melden, werden έξάγγελοι genannt.

§ 1. Aischylos Eine hinterszenische Handlung des beschriebenen Typs findet sich in den erhaltenen Tragödien des Aischylos zuerst im „Agamemnon", so daß eine Untersuchung, wie wir sie uns vorgenommen haben, mit dieser Tragödie beginnen müßte. Doch sei es gestattet, zunächst ins Gedächtnis zurückzurufen, wie im Verlaufe des dramatischen Schaffens des Aischylos die Tragödie zur Darstellung einer Handlung wurde. Denn erst wenn das Handeln in die Tragödie Eingang gefunden hat, stellt sich die Frage, ob die einzelnen Phasen der Handlung sich vor den Augen der Zuschauer oder im Verborgenen vollziehen sollen1. Daß die Tragödie in ihren Anfängen noch völlig ohne Handlung war, läßt sich an dem ältesten uns erhaltenen Stück, den „Persern", noch deutlich erkennen. Das Ereignis, das Gegenstand der Tragödie ist, die persische Niederlage bei Salamis, ist längst vor Beginn des Spieles geschehen. Weder Späv noch πάσχειν werden dargestellt, denn sowohl der Entschluß zum Handeln als auch die Handlung selbst, ja sogar die Leiden, die durch die verhängnisvolle Handlung verursacht wurden, gehören bereits der Vergangenheit an. Was dargestellt wird, ist ein Prozeß des μανθάνειν. Botenszene, Beschwörungsszene und Ecce sind die einzelnen Schritte auf diesem Wege. In der Botenszene gelangt der Chor von der bangen Ungewißheit zum Wissen über die Niederlage. In der Beschwörungsszene lernt er und mit ihm auch der Zuschauer, die Gründe der Niederlage zu verstehen, und der Auftritt des geschlagenen Königs läßt sie in ihrer ganzen Größe unmittelbar miterleben. 1 Wir dürfen darum der Bemerkung des Philostratos (a.a.O.) Glauben schenken, Aisch. sei es gewesen, der άγγελοι und έξάγγελοι in die Tragödie eingeführt habe und der festgelegt habe, was έπΐ σκηνης und was ύπό σκηνης zu geschehen habe. Denn in der voraischyleischen Tragödie ist ein έζάγγελος ebenso undenkbar wie ein hinterszenisches Geschehen. Das Gleiche gilt naturgemäß von der Überlegung, was auf der Bühne und was hinter der Szene zu geschehen habe. — Zum Folgenden vgl. Snell, Aischylos und Jens, Strukturgesetze.

10

8089

Matthiesscn

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Hinterszenische Handlung

In den „Sieben gegen Theben" vollzieht sich die Entscheidung zwar innerhalb des Zeitablaufs der Tragödie. Aber sie vollzieht sich an einem außerszenischen Ort. So muß wiederum der Botenbericht das Wissen über die Rettung Thebens und den Tod der Brüder vermitteln, und erst durch das Ecce wird das Geschehene dem Chor und dem Zuschauer unmittelbar gegenwärtig. Auch in den „Hiketiden" geschieht das entscheidende Ereignis, die Asylgewährung an die Danaiden, durch das Volk von Argos in der Volksversammlung, also außerszenisch, und wird durch Dañaos, der in diesem Fall als Bote dient, gemeldet1. Aber hier gelingt es Aischylos, in einer symbolischen Szene die Entscheidung auf die Bühne zu verlegen, indem er darstellt, wie sich der Chor den König Pelasgos als einflußreichen πρόξενος erkämpft (V. 234-523). Dieser Pelasgos ist nicht wie Eteokles ein bereits zum Handeln entschlossener Mensch, sondern zum ersten Male bei Aischylos ein Mensch, der sich nach anfänglichem Schwanken, durch Bitten und Drohungen bewegt, zu einem bestimmten Handeln entschließt. Dies ist der entscheidende Fortschritt der „Hiketiden" über die „Sieben" hinaus. Auch hier folgt wieder auf den Botenbericht eine Szene, in der das Ergebnis der berichteten Entscheidung sichtbar gemacht wird : Pelasgos bewährt sich als Beschützer der Danaiden. Im „Agamemnon" richtet sich eingangs wie in den „Persern" die Erwartung des Chores auf den Ausgang eines Kampfes, der sich bereits längst ereignet hat. Seit der Prologrede des Wächters weiß der Zuschauer, daß Troia gefallen ist. Der Chor jedoch verharrt zunächst noch im Nichtwissen. Zwar teilt ihm alsbald Klytaimestra ihr sicheres Wissen mit, doch verschafft erst der Bericht des königlichen Herolds völlige Gewißheit. Wie in den „Persern" folgt dem Bericht das Ecce mit dem Auftritt des siegreichen Feldherren. Aber was dort ein ganzes Drama füllte, ist hier nur ein Vorspiel, in dem die Voraussetzungen für die eigentliche tragische Handlung geschaffen werden. Nicht der Sieg Agamemnon ist das τέλος des Stückes, sondern seine Ermordung. Die frühe Tragödie hätte wohl den Tod Agamemnons an einem außerszenisch gedachten Ort geschehen, in einer Botenszene melden lassen und das Ergebnis der Tat in einem abschließenden Ecce dem Zuschauer vor Augen geführt. Doch diese altbewährten Mittel genügen Aischylos jetzt nicht mehr. Er läßt an die Stelle des nicht Darstellbaren ähnlich wie in den „Hiketiden" eine symbolische Szene treten. Denn der Streit darum, ob Agamemnon den Purpurteppich betreten 1 Vgl. Jens, Strukturgesetze 249-250. - Die Einordnung der Hik, nach den Sieben, also etwa auf das von Lesky vorgeschlagene J a h r 463, dürfte heute wohl nicht mehr auf Widerstand stoßen. Vgl. Lesky, Trag. Dicht. 59-60. Snell (Aischylos 58-60) geht noch von der bisher üblichen Frühdatierung der Hik. aus, erkennt aber bereits die entscheidende Bedeutung der Pelasgosszene.

„Sieben" - „Hiketiden" - „Agamemnon"

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solle oder nicht (V. 908-949), hat symbolische Bedeutung, und der Sieg Klytaimestras in diesem Streit nimmt die Vernichtung Agamemnons vorweg. Eine weitere starke Wirkung erzielt Aischylos dadurch, daß er den Mord nicht an einem außerhalb der Szene gedachten Ort geschehen läßt, sondern im Palast, also hinterszenisch. Zum ersten Mal in den erhaltenen Tragödien bezieht der Dichter das an der rückwärtigen Seite der Bühne gelegene Haus mit ins Spiel ein, und zwar in ganz meisterhafter Weise1. Der blutgetränkte Palast des Atreus wird zu einem unheimlichen Mitspieler. Mag sich seine Pforte auch hinter Agamemnon schließen, nichts von dem, was sich in seinem Inneren abspielt, bleibt verborgen. Denn das Unglückshaus, das vor Agamemnon stumm blieb, beginnt zu Kassandra um so eindringlicher zu reden (V. 1072-1330). Schon bevor die Mordtat geschehen ist, erlebt der Zuschauer bereits mit den Augen Kassandras in allen Einzelheiten, was sich sogleich im Inneren des Hauses vollziehen wird. Noch ein zweites Mal beginnt das Haus zu reden, diesmal sogar dem Chor verständlich. Wieder wird ein nicht darstellbares Geschehen in ein darstellbares umgesetzt. Der Tod des Königs läßt sich nicht darstellen, wohl aber das Erschrecken des Chores über die Schreie des Getroffenen (V. 1343-1371). Zweimal schreit der getroffene König auf (V. 1343, 1345). Der Chor gerät in höchste Erregung2, hastig stößt ein jeder seinen Ratschlag hervor. Dann ist es bereits zu spät zum Handeln. Die Palastpforte öffnet sich, die aufgebahrten Leichname der Ermordeten werden sichtbar, und Klytaimeetra erscheint, blutbespritzt, die Mordwaffe noch in der Hand. An dieser Stelle würde man eigentlich eine Botenszene erwarten. Doch da der Dichter schon auf dreierlei Weise das Mordgeschehen hat voraus- und miterleben lassen, kann jetzt, um so eindringlicher in der Abweichung vom sonst Üblichen, auf die Tat sofort das Ecce folgen (V. 1372-1673). Das Wenige, was noch zu berichten bleibt, berichtet Klytaimestra selbst, Bote und frohlockender Sieger in einer Person (V. 1377-1392). In den „Choephoren" stellt Aischylos dar, wie sich in einer Hand1 Vgl. Joerden 107-114. — Die Wirkung dieses Anblicks muß um so stärker gewesen sein, als hier, soweit unsere Kenntnis reicht, zum ersten Male in der Geschichte der Tragödie der Innenraum des Bühnenhauses dem Blick des Zuschauers geöffnet wird. Joerden, 113 A. 2: „Der Bühnenhintergrund erweitert sich von der Fläche zum Raum . . . Dadurch weitet sich die Theaterillusion in den hinterszenischen Raum hinein aus ; denn der dem Zuschauer hörbare Schrei des Agamemnon muß nunmehr wirklich dargestellt werden, der Blick ins Innere des Hauses wird freigegeben, und der Gegenstand der auf diese Weise angestrebten Demonstration muß irgendwie vorhanden sein. Neben das Wort als Vermittler von Nachrichten tritt die sinnliche Wahrnehmung der Zuschauer als neuer Zugang zu den Ereignissen." 2 Auch das Metrum spiegelt diese Erregimg. Zeile um Zeile wechseln in V. 1343-1346 die Trimeter Agamemnons mit den Tetrametern des Chores.

10·

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Hinterszenische Handlung

lung, die weitgehend parallel zu der des „Agamemnon" verläuft, das Verhängnis an den Mördern Agamemnons vollendet. Wieder wird das Haus zum Mitspieler. Das gleiche Mordhaus der Atriden, in dem Agamemnon starb, wird jetzt auch die Stätte des Todes seiner Mörder. Wie es einst Agamemnon und Kassandra in sich aufgenommen hatte, um sie erst als Leichname wieder freizugeben, so nimmt es jetzt Aigisthos und Klytaimestra in sich auf. Zweimal vollzieht sich in den „Choephoren" eine Handlung im Inneren des Hauses, und beide Male läßt Aischylos den Zuschauer auf verschiedene Weisen an diesem Geschehen teilhaben. Er stellt dar, wie die Amme vom Chor überredet wird, Aigisthos ohne Begleiter kommen zu lassen (V. 766-782), und wie dann Aigisthos in die gestellte Falle geht (V. 838-854). Er stellt weiter dar, wie der Chor bang den Ausgang des Kampfes erwartet (V. 855-868), und er läßt den Todesschrei des Aigisthos bis zum Zuschauer dringen (V. 869)1. Schließlich zeigt er, wie der Chor, diesmal weit entfernt davon, die Mordtat verhindern zu wollen, sich wie ein Unbeteiligter von dem Geschehen abwendet (V. 871-874). Wieder bedarf es keiner ausführlichen Botenszene mehr, um zu vergegenwärtigen, was hinter der Szene geschehen ist. Nicht dem Chor wird die Nachricht vom Tode des Aigisthos überbracht, denn der Chor hat sich weit vom Ort des Geschehens entfernt und verharrt während der beiden folgenden Szenen (bis V. 931) in Schweigen. Sondern fast beiläufig erfährt man vom Tod des Aigisthos durch den Diener, der aus dem Palast hervorstürzt und lange vergeblich gegen die Tür des Frauengemaches hämmert, bis endlich Klytaimestra erscheint (V. 875-884). Auch ihr gegenüber bedarf es nicht vieler Worte. Aus dem einen andeutenden Satz des Dieners (V. 886) errät sie sofort alles und weiß, daß ihre Todesstunde gekommen ist. Wieder tritt an die Stelle des nicht Darstellbaren eine symbolische Szene (V. 892-930). Denn daß es Klytaimestra nicht gelingt, die Entschlossenheit des Orestes zu erschüttern, bedeutet, daß sie sterben muß. Das Chorlied, das in dem Augenblick ertönt, als die Rache vollstreckt wird, ist die Deutung des gleichzeitigen hinterszenischen Geschehens (V. 935-972). Es handelt von der Vergeltung (ποινά: V. 936, 947), vom Walten der Δίκη (V. 935, 949), die nach langem Zögern (χρόνω V. 935, έγχρονισθεϊσαν V. 956) den Sieg behält. Im Ecce wird die Tat des Orestes schließlich eindrucksvoll vergegenwärtigt, indem ihr Ergebnis vor Augen geführt wird (V. 973-1006). Die Palastpforte öffnet sich. Die Mörder von einst sind jetzt an derselben Stelle aufgebahrt, wo damals die Leichname ihrer Opfer hingestreckt lagen, 1

Wiederum wird die Erregung, die den Chor befällt, auch im Metrum spürbar. Nach den Anapästen des Chores (V. 855-868) ertönt der Ruf des getroffenen Aigisthos (V. 869: 8), dem der Ruf des Chores antwortet (V. 870: 8). Gespannt lauscht der Chor den Geräuschen im Inneren des Hauses (V. 871: 3 er), um dann auf den Rat des Chorführers ruhig beiseitezutreten (V. 872-874: lamben).

„Choephoren" - Weisen der Vergegenwärtigung

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und neben ihnen steht blutbefleckt der Rächer Orestes, der als Beweisstück für die Rechtmäßigkeit seiner Tat das riesige Tuch vorweist, die Verkörperung des μηχάνημα, für das die Mörder jetzt ihre Strafe empfangen haben. Sowohl im „Agamemnon" als auch in den „Choephoren" vollzieht sich das entscheidende Ereignis hinterszenisch. Dieses hinterszenische Geschehen wird vergegenwärtigt 1. durch eine Vorwegnahme in symbolischen Szenen (Streit um das Betreten des Teppichs, Kassandraszene ; Überlistung des Aigisthos, Vergebliches Flehen Klytaimestras), 2. durch eine Deutung des gleichzeitigen Geschehens im Chorlied, 3. durch die Schreie der Getroffenen und die Reaktion des Chores und 4. durch das Ecce und den Bericht des Täters. An der geringen Zahl der erhaltenen aischyleischen Tragödien mag es liegen, daß wir kein Stück von ihm besitzen, in dem auch die hinterszenische Handlung ebenso durch eine Botenszene vergegenwärtigt wird, wie wir es in „Persern", „Sieben", „Hiketiden" und „Agamemnon" für ein außerszenisches Geschehen beobachten konnten. Nur in den „Choephoren" findet sich ein Ansatz zu einer solchen Szene. Dort wird zwar die hinterszenisch erfolgte Ermordung des Aigisthos durch einen Diener mitgeteilt (V. 875-886), aber nicht dem Chor, wie es dem Typus einer Botenszene entspräche, und auch nicht in einem ausführlichen Bericht, sondern nur mit kurzen Worten in einer Szene anderen Charakters. Könnten wir das Gesamtwerk des Aischylos überblicken, würde sich wahrscheinlich unsere Vermutung bestätigen, daß es auch schon bei ihm ausführliche Botenszenen nach hinterszenischer Handlung gab1. § 2. Die früheren Stücke des Sophokles In jeder der früheren Tragödien des Sophokles bis zum „Oidipus" einschließlich ist eine hinterszenische Handlung angedeutet. Dabei nimmt allerdings der „Aias", der in ungewöhnlicher Weise mit einem hinterszenischen Geschehen beginnt, eine Sonderstellung ein, über die mehr zu sagen nötig wäre, als im Rahmen dieser Arbeit geschehen könnte 2 . Wir beginnen darum mit den „Trachinierinnen"3. Hier geht Deianeira nach dem Bericht des Hyllos stumm in das Innere des Hauses (V. 1

Diese Vermutung findet darin eine gewisse Stütze, daß Aisch., von Philostr. als derjenige Tragiker bezeichnet wird, der den έξάγγελος in die Tragödie eingeführt habe. Vgl. oben 144 Α. 1, 145 Α. 1. 2 Vgl. dazu jetzt Joerden 151-156. 3 Vgl. oben 22 Α. 1.

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Hinterszenische Handlung

812). Nach seinem folgenden Lied glaubt der Chor, im Hause Klagelaute zu vernehmen (V. 863-867). Der Zuschauer dagegen hört nichts, jedenfalls ist in unseren Handschriften kein Wort verzeichnet, das εσωθεν erklänge. Nach kurzer Zeit tritt die Amme als έξάγγελος auf, meldet zunächst in einem Kommos den Tod Deianeiras (V. 871-895) und gibt dann einen ausführlichen Bericht (V. 899-946). Eine ähnliche, freilich noch kürzere Szene dieser Art findet sich in der „Antigone". Als der Bote Eurydike den Tod ihres Sohnes Haimon berichtet hat, geht sie schweigend ins Innere des Hauses ab (V. 1243). Der Bote folgt ihr voll Furcht vor einem weiteren Unheil (V. 1256). Während jetzt Kreon mit dem Leichnam Haimons erscheint und dessen Tod betrauert, also dem Bericht vom Tode Haimons das Ecce folgt, erscheint derselbe Bote wieder als έξάγγελος und meldet den Tod Eurydikes (V. 1278-1316). Die traditionelle Struktur der Botenszene löst sich hier völlig auf. Denn der Bote erscheint während eines Ecce, und noch ehe er seinen Bericht vollendet hat, folgt bereits ein zweites Ecce. Die Palastpforte öffnet sich, und Eurydikes aufgebahrter Leichnam wird sichtbar (V. 1293). Durch dieses Ineinander von Ecce, Botenszene und zweitem Ecce stellt Sophokles dar, wie Kreon in einem Augenblick vom doppelten Ansturm des Leides getroffen und zu Boden geworfen wird. Ehe er noch den Tod seines Sohnes hat betrauern können, steht er schon an der Bahre seiner Gemahlin. Auch im „Oidipus" vollzieht sich die Vergegenwärtigung des hinterBzenischen Geschehens ähnlich wie in den „Trachinierinnen". Auf den unheilverkündenden Abgang zuerst Iokastes (V. 1072), dann des Oidipus (V. 1185) folgt eine große έξάγγελος-Szene (V. 1223-1296), in der die Katastrophe in allen Einzelheiten berichtet wird. Anders als in den „Trachinierinnen", wo das Ecce dem Herakles vorbehalten blieb, schließt sich hier jedoch eine Szene an, in welcher der geblendete Oidipus sein Leid allem Volke zeigt (V. 1297-1530). Dieses Ecce steht hier nicht so sehr darum, weil damit einer traditionellen Form des Dramenschlusses Genüge getan würde, sondern vor allem, weil das Ethos des Oidipus, des großen, königlichen Menschen, im tiefsten Leid ebenso wie vorher im Glück, nach Öffentlichkeit verlangt, weil „die Enthüllung, als Geste und Selbstenthüllung, vom Wesen des Oidipus nicht mehr zu trennen" ist 1 . In seinen früheren Dramen bedient sich Sophokles, wenn wir von den besonderen Verhältnissen des „Aias" absehen, zur Vergegenwärtigung des hinterszenischen Geschehens nicht der von Aischylos in der Orestie neu entwickelten Mittel, sondern begnügt sich mit dem einfacheren Mitteln der Botenszene und des Ecce, die er wirkungsvoll genug zu gebrauchen weiß. 1

Reinhardt, Sophokles 140.

Frühe Dramen des Sophokles und Euripidee

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§ 3. Euripides' „Medea" Daß sich Euripides anders als Sophokles bereits in seinen früheren Dramen bemüht, hinterszenische Geschehnisse mit allen Mitteln zu vergegenwärtigen, zeigt schon die „Medea". Hier vollziehen sich drei Abschnitte der Handlung hinterszenisch: die Übergabe der todbringenden Geschenke an Glauke, der Tod Glaukes und Kreons und der Kindermord. Dabei kommt dem letzteren als dem δεινότατον έργον Medeae das größte dramatische Gewicht zu. Während sich der Dichter bei den beiden anderen hinterszeniechen Ereignissen mit Botenszenen begnügt, bemüht er sich mit allen nur denkbaren Mitteln, das furchtbare Geschehen des Kindermordes dem Zuschauer zu vergegenwärtigen. Sobald Medea von ihrem Plan gesprochen hat (V. 790-793), richten sich alle Gedanken des Chores auf die bevorstehende Tat. Zunächst erhebt er nur schüchtern Einspruch (V. 811-819). Doch wiederholt er im folgenden Chorlied seine Mahnungen schon sehr viel energischer (V. 824-865). Auch der Preis Athens wird zu einem Argument gegen Medea : Wie soll diese fromme Stadt eine Kindesmörderin aufnehmen ? Die technische Funktion des folgenden Gespräches zwischen Iason und Medea (V. 866-975) ist es, den Anschlag gegen Glauke vorzubereiten. Während nun hinterszenisch die Geschenke übergeben werden, nimmt der Chor bereits die Wirkung des Geschehens, den Tod Glaukes, im Lied vorweg (V. 978-989). Aber auch diese Schilderung wird dem Gedanken an das Todesschicksal der Kinder und an das Leid, das sich die Eltern zufügen, ein- und untergeordnet (V. 976-977, 990-1001). Nach dem Gelingen des ersten Teils ihres Planes liegt es bei Medea, auch den Rest zu vollenden. Die Szene, in der sie um ihren Entschluß ringt, ist der Höhepunkt des Dramas (V. 1021-1080). Indem Euripides Medeas inneren Kampf zwischen Mutterliebe und Rachsucht darstellt, nimmt er in einer meisterhaften symbolischen Szene vorweg, was sich bald darauf im Verborgenen vollziehen wird. Was in den ,,Choephoren" noch ein Kampf zwischen deutlich geschiedenen Parteien, nämlich zwischen dem im Zuspruch des Pylades verkörperten Befehl Apollons auf der einen undKlytaimestra auf der anderen Seite, um den Willen des Orestes gewesen war (V. 896-930), das vollzieht sich jetzt im Inneren e i n e s Menschen. Euripides gelingt es in dieser Szene, zum ersten Male in der Tragödie ein rein seelisches Geschehen sichtbar zu machen 1 . Hier kämpfen nicht zwei Ansprüche miteinander, die von außen an den Menschen herantreten und sein Handeln zu bestimmen versuchen, sondern es kämpft Medea mit Medea um Medea. Das Bewußtsein dieses inneren Kampfes spricht sich eindrucksvoll in ihren Schlußworten aus : 1

Vgl. Schadewaldt, Monolog 193-198, vgl. auch 234.

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Hinterszenische Handlung

καΐ μανθ-άνω μεν οία δραν μέλλω κακά, θυμός δέ κρείσσων των έμών βουλευμάτων, δσπερ μεγίστων αϊτιος κακών βροτοϊς. (V. 1078-1080). 1 Die aktabschließenden Anapäste des Chores (V. 1081-1115) beziehen sich nicht auf das gleichzeitige hinterszenische Geschehen, den Tod Glaukes und Kreons, sondern kreisen wieder um den bevorstehenden Kindermord 2 . In einer ausführlichen Botenszene wird nun der Untergang Glaukes und Kreons berichtet (V. 1116-1235). Damit ist der Augenblick für Medeas Handeln gekommen. Noch einmal versichert sie ihre Entschlossenheit (V. 1236-1250), wobei sie sich des doppelten Charakters ihrer Tat auch jetzt noch bewußt bleibt 3 , dann betritt sie den Palast. Das folgende mit dem hinterszenischen Geschehen gleichzeitige Chorlied (V. 1251-1292) steht noch mehr als alle bisherigen seit V. 824, die schon alle eine Beziehung auf die Tat Medeas hatten, ganz unmittelbar unter dem Banne des Furchtbaren, das sich jetzt im Hause vollzieht. Helios, der Ahnherr der Kinder, wird angerufen, den Mord zu verhindern, vergebens (V. 1251-1260) 4 . Noch einmal wird Medea vor der Erinys gewarnt, ebenfalls vergebens (V. 1261-1270). Denn schon hört man die Schreie der Kinder5. Der Chor verläßt, ähnlich wie im „Agamemnon", die Rolle des κηδευτής άπρακτος® und will den 1

Vgl. Snell, Aristophanes 177 Α. 1. Den Preis der Kinderlosigkeit in V. 1090-1115 darf m a n genau so wenig für allgemeine griechische Auffassung u n d f ü r einen Beweis für den Pessimismus der Griechen halten wie Ale. 880-888 u n d Soph. O.C. 1224-1228. Das zeigt schon die Tatsache, d a ß Ion 472-491 die Gegenposition vertreten wird. 3 Am prägnantesten wird dieses Bewußtsein formuliert in V. 1243: τά δεινά κάναγκαϊα . . . κακά. 4 Wie so o f t dienen Dochmien zur Darstellung höchster Erregimg, hier jedoch zum ersten Male, u m die Erregung während einer hinterszenischen H a n d l u n g auszudrücken. Das wird von jetzt a b zur festen F o r m : Hipp. 569-595, Hec. 1024— 1034, Soph. El. 1384-1397 usw. 6 Das Zeugnis des P a p . Argent. W G 306 r, col. 1-2 s t ü t z t Schenkls Annahme eines hinterszenischen R u f e s der Kinder nach V. 1270. Doch bleibt zu fragen, ob dieser Ruf e x t r a m e t r u m s t e h t u n d V. 1273 u n d 1282 mit Schadewaldt zu lesen sind: 1273 άκούεις βοάν άκούεις τέκνων; (Π V. 1273, codd.) 1282 μίαν 8ή κλύω μίαν των πάρος (VBLP) oder ob m a n m i t Snell den Ruf einen Teil der Strophe bilden läßt u n d demnach liest : 1273 ίώ μοι. - άκούεις βοάν; (Π V. 1270 a) 1282 μίαν δή κλύω των πάρος (Π Α) Man sollte wohl das erstere vorziehen, denn auf das auch durch Π bezeugte άκούεις τέκνων wird m a n n u r ungern verzichten. Der so entstehende Parallelismus zwischen Strophe u n d Antistrophe wirkt zu euripideisch, als d a ß er das Werk eines Interpolators sein könnte. Auch deis Metrum wird auf diese Weise besser (2 δ). • [Arist.] Probi. 19, 922b 27. 2

„Medea"

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Kindern zu Hilfe kommen (V. 1271-1278). Aber da er auf eine verriegelte Tür trifft1, kann er nur Medeas Tat verurteilen (V. 1279-1281) und in der letzten Strophe, in der er sich wieder ganz auf seine traditionelle Stellung zurückzieht, das unerhörte Geschehen hinnehmen und es in sein Weltbild einordnen, indem er ihm eine ähnliche Begebenheit aus dem Mythos zur Seite stellt (V. 1282-1292). Als Iason herbeieilt, um die Kinder vor der Rache der Korinthier zu retten, übernimmt der Chor ihm gegenüber die Funktion eines Boten (V. 1306-1312), kann ihm aber nur das Faktum melden und keine Einzelheiten berichten. Zunächst scheint es, als solle jetzt ein Ecce folgen2. Man erwartet, daß sich die Türen öffnen und daß Medea, neben den aufgebahrten Leichnamen der Söhne stehend, sichtbar wird. Doch ebenso wie Medea nach ihrer Tat nicht mehr dem Chor gegenübertritt, vermeidet es der Dichter auch, sie und Iason sich noch einmal auf gleicher Ebene begegnen zu lassen. Er läßt vielmehr diese bittere Tragödie mit einer phantastischen, märchenhaften Szene schließen, einem άπροσδόκητον, wie es stärker kaum zu denken ist. Diese Szene ist eine eigentümliche Verbindung zweier Formen des Tragödienschlusses. Wie bei einem Ecce erscheint der Täter umgeben von seinen Opfern, erscheint der vom Unheil Betroffene in seinem Leid. Aber der Täter ist wie ein Gott allem menschlichen ZugrifF entrückt und gibt wie in einer der vielen euripideischen Götterszenen dem vom Leid Betroffenen eine Prophetie über sein weiteres Schicksal8. Auch diese Schlußszene läßt sich als eine letzte Vergegenwärtigung des Kindermordes verstehen. Das entscheidende hinterszenische Ereignis wird also in allen Szenen, seitdem Medea ihren Plan geäußert hat (mit Ausnahme der Botenszene V. 1116-1235) und in allen Chorliedern dieses Teiles der Tragödie (mit Ausnahme von V. 824845 und 977-988) entweder vorbereitet oder gedeutet oder miterlebt oder in seinen Wirkungen dargestellt. Der dramatische Höhepunkt des Stückes ist der Augenblick, in dem die Tat geschieht (V. 1271-1281), der Höhepunkt in einem tieferen Sinne dagegen Medeas Monolog (V. 1021-1080), eine symbolische Szene von beispielloser Kühnheit, weil hier die bevorstehende hinterszenische Handlung nicht wie bisher durch eine dramatische Szene, sondern durch die zum ersten Male gewagte Darstellung eines rein seelischen Geschehens vorweggenommen wird. 1 Da der Chor V. 1277 von den Kindern herbeigerufen wird und es anders als in Aisch. Ag. und Soph. Trach. mit keinem Wort begründet wird, warum er nicht ins hinterszenische Geschehen eingreift, muß man annehmen, daß die Chorführerin vergeblich die Tür zu öffnen versucht, worauf der Chor unverrichteterdinge wieder in die Orchestra zurückkehrt. 2 V. 1313—1316 mit ihren typischen, der technischen Vorbereitung des Ecce dienenden Wendungen müssen die Erwartung des Zuschauers zunächst in diese Richtung lenken. Vgl. Hipp. 808-810. In Hei. 1180 wird der Zuschauer ähnlich irregeführt wie hier. 3 Vgl. oben 58 A. 1.

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Hinterszenische Handlung

§ 4. Euripides'

,,Hippolytos"

Im „Hippolytos" vollziehen sich zwei Etappen der Handlung hinterszenisch, nämlich das durch die Amme vermittelte Liebesgeständnis Phaidrae und ihr Selbstmord. Das erste dieser beiden Ereignisse ist eigentlich nicht von der Art derer, die gewöhnlich hinter die Szene verlegt werden. Hier wird weder Blut vergossen noch stirbt ein Mensch auf andere Weise eines unnatürlichen Todes. Im älteren „Hippolytos" hatte Euripides denn auch Phaidra ihrem Stiefsohn auf der Bühne ihre Liebe gestehen lassen1. Doch hatte die Reaktion des Publikums gezeigt, daß er damit zu viel gewagt hatte. Darum mildert er jetzt das Anstößige des Geschehens durch die Einführung der Vermittlerin und entrückt es ferner dem Blick des Zuschauers, indem er es in den hinterszenischen Raum verlegt. Nachdem er auf diese Weise aus Gründen, die außerhalb der Ökonomie des Stückes liegen, darauf verzichtet hat, die entscheidenden Augenblicke des Dramas unmittelbar miterleben zu lassen, ist er gezwungen, wenigstens alle verfügbaren Mittel zu ihrer indirekten Vergegenwärtigung zu benutzen. Nachdem die Amme den Palast betreten hat (V. 524), belauscht Phaidra, die an die Tür tritt, das hinterszenische Geschehen und gibt durch ihre Worte dem Chor und dem Zuschauer Anteil an dem, was sich im Verborgenen vollzieht (V. 565-590). Dadurch, daß der Dichter nicht wie in „Agamemnon", „Choephoren" und „Medea" den Chorführer lauschen läßt, sondern die Heldin, steigert er die Intensität der Szene erheblich. Denn der, dessen Schicksal sich in diesem Augenblick entscheidet, wird sehr viel leidenschaftlicher auf das Gehörte reagieren als der Chor, der bei aller Anteilnahme immer eine gewisse Distanz wahrt. Der Zuschauer vernimmt nichts von dem, was im Palast gesprochen wird, der Chor nichts Deutliches (V. 585). Das σκάνδαλον dringt also nicht unmittelbar aus dem hinterszenischen Raum hervor, in den der Dichter es hatte verbannen müssen. Es wird aber durch die leidenschaftliche Reaktion Phaidras und die nicht sehr viel weniger heftigen Antworten des Chores dem Zuschauer miterlebbar gemacht 2 . In den folgenden Szenen werden die Wirkungen dargestellt, die das ungeheuerliche Geschehnis auf alle Beteiligten ausübt. Die zornige Entrüstung der Hippolytos, die er in der Stichomythie mit der Amme (V. 601-615) und in der folgenden Schmährede auf die Frauen (V. 616668) äußert, wirkt wiederum auf Phaidra zurück und stößt sie in die tiefste Verzweiflung (V. 669-679). Die Amme trifft für ihre Dreistigkeit der Fluch Phaidras (V. 862-710), und für sie selbst ist der Tod die einzige Möglichkeit, ihre Ehre zu bewahren (V. 715-727). Fast beiläufig erfahren wir, daß auch mit Phaidras Tod das Unheil, das durch das 1 2

Vgl. Friedrich 127-133. Vgl. oben 152 A. 4.

„Hippolytos"

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hinterszenische Geschehnis ausgelöst worden ist, noch nicht sein Ende gefunden hat. Eine letzte auslaufende Welle des Geschehens vird Hippolytos treffen, immer noch stark genug, um ihn zu vernichten (V. 728731). Als Phaidra den Palast betritt, weiß der Chor, daß er sie nicht lebend Wiedersehen wird. Indem Euripides, anders als Sophokles in den homologen Situationen in „Trachinierinnen", „Antigone" und ,,Oidipus" den Chor von vornherein zum Wissenden macht, gibt er zwar einen Spannungseffekt preis, gewinnt aber damit die Möglichkeit, den Chor das gleichzeitige hinterszenische Geschehen deuten und vergegenwärtigen zu lassen (V. 732-775). Zunächst deutet der Chor indirekt die Größe der gegenwärtigen Not an, indem er seine Entrückung nach den fernsten Grenzen der Welt wünscht (V. 732-751). Dann führt er das Leid Phaidras auf seine άρχή zurück: Schon ihre Fahrt nach Athen stand unter einem schlechten Vorzeichen (V. 752-763). Schließlich beschreibt er, was sich gleichzeitig im Inneren des Palastes vollzieht: Phaidra erhängt sich in ihrem Schlafgemach (V. 764-775). Auch die Möglichkeit, das hinterszenische Geschehen durch Rufe zu vergegenwärtigen, die zum Chor und zum Zuschauer dringen, nutzt Euripides hier aus. Phaidra ist zwar stumm gestorben, aber als ihr Leichnam gefunden wird, entspinnt sich zwischen der Amme im Inneren und dem Chor vor dem Tor des Palastes ein kurzer, bewegter Dialog (V. 776-789). Der Chor wird zur Hilfe herbeigerufen, aber nach einer kurzen Beratung verharrt er auf seinem Platz. Das Vorbild für diese Szene dürften die Verse 1348-1371 des „Agamemnon" gewesen sein. Hier wie dort muß das Beiseitestehen des Chores in einem Augenblick, wo vielleicht noch Hilfe möglich gewesen wäre, die Gefühle des Zuschauers heftig erregt haben. Als Theseus erscheint, gibt der Chor ähnlich wie in der „Medea" sein Wissen an ihn weiter (V. 790-805). Ein Ecce bereitet sich vor, angekündigt durch das formelhafte χαλάτε κληθ-ρα (V. 806-8IO)1, und erfolgt, anders als in der „Medea", wirklich in der traditionellen Art. Die Tür des Palastes öffnet sich, und der aufgebahrte Leichnam Phaidras wird sichtbar. Die folgende Klageszene (V. 811-898) dient der Darstellung des Leides, das Theseus aus dem hinterszenischen Geschehen erwachsen ist. Freilich ist die Schilderung des Leides hier wie so oft bei Euripides nicht Selbstzweck, sondern dient in der für ihn von der „Medea" bis zum „Ion" charakteristischen Weise der Vorbereitung des Umschlages aus der Hilflosigkeit des schwer Getroffenen in den leidenschaftlichen Zorn gegen den wahren oder vermeintlichen Urheber des Unheils. Mit der Auffindung des Täfelchens (V. 856) nimmt die zweite Handlungsphase der Tragödie ihren Anfang, die mit der Katastrophe des Hippolytos ihr Ziel erreichen wird. 1

Vgl. oben 153 A. 2.

156

Hinterszenische Handlung

§ 5. Euripides'

„Hekabe"

In der „Hekabe", deren Aufführungsdatum wir in den Jahren 426424 vermuten dürfen 1 , ist das Handlungsziel die Rache, welche die Troerkönigin an Polymestor, dem Mörder ihres letzten Sohnes Polydoros, nimmt. Er selbst wird geblendet, und seine beiden Söhne werden ermordet. Da diese Geschehnisse aus den bekannten Gründen hinter die Szene verlegt werden müssen, wird es auch hier nötig, das hinterszenische Ereignis dem Zuschauer miterlebbar zu machen. Das Hauptanliegen des Dichters ist es, glaubhaft zu machen, daß die durch zweifaches Leid zu Boden geworfene Königin auch in der größten äußeren Ohnmacht noch Kraft genug besitzt, um an ihrem Feind furchtbare Rache zu üben. Er läßt sie nicht nur über ihren bisherigen Gegner Agamemnon ihre Überlegenheit zeigen, indem er darstellt, wie sie den siegreichen Heerkönig in ihre Pläne einzuspannen weiß (V. 736904), sondern auch über ihren Feind Polymestor, den sie in Sicherheit wiegt und in eine Falle lockt (V. 953-1022). Diese Szene ist in den erhaltenen euripideischen Tragödien das erste Beispiel für eine Überlistungsszene vor hinterszenischer Handlung. Dabei zeigt sich, daß die strengen Formgesetze der Tragödie den Dichter nicht beengen, sondern seine Schaffenskraft beflügeln. Daß Polymestor ins Innere des Zeltes gebracht werden muß, ist eine dramatische Notwendigkeit. Den großen Dichter aber verrät es, wie aus dieser Notwendigkeit eine Szene entsteht, die an innerer Spannung ihresgleichen sucht. Polymestor glaubt sich stark, weil er des Beistandes der Griechen gewiß ist. Hekabe aber scheint schwach, denn sie ist gefangen. In Wahrheit ist aber Polymestor schwach, da er auf die Griechen nicht mehr zählen kann, und Hekabe ist stark, wie der Zuschauer weiß, der ihre Worte zu Agamemnon gehört hat (V. 884, 886-887). Im Vertrauen auf seine Stärke meint Polymestor auf den Schutz seines Gefolges verzichten zu können. Dadurch begibt er sich aber auf Gnade und Ungnade in die Gewalt seiner Feindin (V. 978-983). Er glaubt mehr zu wissen als Hekabe. In Wahrheit weiß er weniger als sie. Weder weiß er um ihr Wissen vom Tode des Polydoros, noch ahnt er ihren Racheplan. Durch den Mord hat er sich eine Blöße gegeben, denn er hat verraten, daß er habsüchtig ist. Diese Habsucht wird jetzt ihm und seinen Söhnen zum Verhängnis. Hekabes Versprechungen wiegen ihn in Sicherheit (V. 1000-1010), und durch die Verheißung weiterer Schätze wird er schließlich ins Zelt gelockt (V. 1011-1022). Auffällig ist es freilich, wie wenig von der inneren Spannung der Szene im Dialog wirksam wird. Nirgends findet sich die schneidende Ironie wie in späteren Uberlistungsszenen2. Es kennzeichnet die 1 2

Vgl. Lesky, Trag. Dicht. 170. Vgl. vor allem Hei. 1193-1300 und 1390-1450. Hierzu s. oben 52.

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„Hekabe"

Hekabe" als Erühwerk, daß der Dichter eine solche Spannung wie die eben beschriebene zwar zu schaffen weiß, sie aber noch nicht für den Dialog fruchtbar machen kann. Die Durchführung der hinterszenischen Handlung läßt deutlich erkennen, daß die homologen Szenen der Orestie das Vorbild des Euripides sind. In einem kurzen astrophischen iambisch-dochmischen Chorlied, das ganz auf den Gedanken der δίκη gestimmt ist, wird ähnlich wie in den „Choephoren" das bevorstehende Geschehen als Vollzug der Gerechtigkeit gedeutet (V. 1024-1034 ~ Cho. 935-961). Bei der anschließenden Szene dagegen ist das Vorbild der Mordszene des „Agamemnon" bis in die Formulierung hinein spürbar. Agamemnon V. 1343-1346 ' Α γ . ώμοι, πέπληγμαι καιρίαν πληγήν έσω. Χο. σίγα- τίς πληγήν άυτεϊ καιρίως ούτασμένος; ' Α γ . ώμοι μάλ' αύθις, δευτέραν πεπληγμένος. Χο. τουργον είργάσθαι δοκεΐ μοι βασιλέως οΐμώγμασιν.

Hekabe V.1035-1038 Π ο. Χο. Πο. Χο.

ώμοι, τυφλοϋμαι φέγγος ομμάτων ήκούσατ' άνδρός Θρηκός οΐμωγήν, ώμοι μάλ' αύθις, τέκνα, δυστήνου φίλαι, πέπρακται καίν' έσω δόμων

τάλας. φίλαι; σφαγής. κακά.

Doch ist die Szene der „Hekabe" gegenüber der des „Agamemnon" erweitert. Polymestor, der nur geblendet, also noch zum Widerstand fähig ist, wehrt sich und droht das Zelt zum Einsturz zu bringen (V. 1039-1041). Dafür ist die Beratung des Chores, die im „Agamemnon" auf die Tat folgte (V. 1347-1371), hier nur angedeutet (V. 1042-1043). Ein Eingreifen des Chores erübrigt sich ebenso wie im „Agamemnon" auch in der „Hekabe". Die Täterin erscheint auf der Bühne und verkündet, daß bereits alles geschehen ist (Ag. 1372 ~ Hec. 1044). Im „Agamemnon" begann in diesem Augenblick bereits das Ecce, hier dagegen wird es noch etwas hinausgezögert. Hekabe berichtet in kurzen Worten das Geschehene (V. 1044-1046). Dann kündet sie an, was der Zuschauer im nächsten Augenblick erblicken wird. Der geblendete Polymestor wird vor dem Zelt erscheinen, und zugleich werden die Leichen seiner beiden Söhne sichtbar werden (V. 1049-1053). Eine ähnliche Vorwegnahme des im Ecce szenisch Dargestellten im Wort findet sich auch im „Oidipus" (V. 1287-1296). Überhaupt liegt die Vermutung nahe, daß der wohl kurz zuvor aufgeführte „Oidipus"1 nicht ohne Wirkung auf die Schlußszene der „Hekabe" geblieben ist, 1 Zur Datierung des O. R., vgl. Lesky, Trag. Dicht. 120-121 : „Erste Hälfte der zwanziger J a h r e " .

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Hinterszenische Handlung

und zwar scheint Euripides in ähnlicher Weise, wie es sich auch in anderen Dramen beobachten läßt 1 , das sophokleische Vorbild überbieten zu wollen. Im „Oidipus" gehen zwei hinterszenisch geschehene Taten dem Ecce voraus : der Selbstmord Iokastes und die Blendung des Oidipus. Doch im Ecce erscheint nur Oidipus, Iokastes Tod aber wird mit keinem Wort mehr erwähnt. Alle Aufmerksamkeit des Zuschauers soll sich nach dem Willen des Dichters auf das Schicksal des Oidipus richten. Euripides dagegen läßt nicht nur den Geblendeten erscheinen, er läßt ihn auch den Verlust seiner beiden Söhne beklagen, deren Leichname in der geöffneten Tür des Zeltes sichtbar werden. Ein ausführlicher Botenbericht zwischen Tat und Ecce, wie er im „Oidipus" gegeben wird, fehlt hier. Aber ähnlich wie im „Agamemnon", wo Klytaimestra, also die Täterin, während des Ecce den Bericht nachholte (V. 1377-1392), holt in der „Hekabe" Polymestor, also das Opfer, in der auf das Ecce folgenden Schiedsgerichtsszene den Bericht über die hinterszenische Tat nach (V. 1145-1175) 2 .

§ 6. Sophokles'

„Elektro,"

Während sich Sophokles in seinen früheren Stücken, wie wir oben sahen, bei hinterszenischen Ereignissen mit Botenszene und Ecce begnügte, knüpft er in seiner „Elektra" nicht nur stofflich, sondern auch in der Weise der Vergegenwärtigung des hinterszenischen Geschehens an das aischyleische Vorbild der „Choephoren" an. Doch läßt sich vermuten, daß der Dichter dabei nicht unmittelbar auf die Orestie zurückgreift, sondern auf vergleichbare Szenen euripideischer Dramen, und zwar wohl vor allem auf die „Hekabe" 3 . Nachdem zuerst Orestes, Pylades und der Pädagoge (V. 1375), dann auch Elektra (V. 1383) die Bühne verlassen haben, bleibt der Chor allein in der Orchestra zurück. In einem kurzen Stasimon (V. 13841397) deutet er das bevorstehende blutige Geschehen als Vollzug der Rache an den Mördern Agamemnons. Inhaltlich erinnert das Lied mit 1 Vgl. etwa Soph. Trach. 750-812 und Eur. Med. 1136-1230. Dazu jetzt Schwinge 3 3 - 3 4 . 2 Daß das Opfer einer hinterszenischen Tat die Funktion des Berichtenden übernimmt, ist ungewöhnlich genug. Denn in der Regel ist die hinterszenische T a t ein Mord, und der Ermordete kann allenfalls wie Agamemnon (λ 405-434) in der Unterwelt berichten. 3 Über die Rachehandlung des Kresphontes wissen wir zu wenig. Doch ist durchaus denkbar, daß Soph. El. dem Kresphontes in der Form der hinterszenischen Handlung noch viel ähnlicher war als der Hec. und daß der Kresphontes, der in manchem anderen so sehr auf die El. gewirkt hat, auch hierin das Vorbild des Soph, gewesen ist.

Sophokles' „Elektra"

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seiner Anrufung der Eriynen des Vaters und des Hermes Chthonios an verschiedene Partien der „Choephoren" 1 , in seiner iambisch-dochmischen Form jedoch an homologe euripideische Lieder (z.B. Hec. 10241034). In der Strophe des anschließenden Kommos stellt Sophokles in einer meisterhaften Abbreviatur den Vollzug der Rache dar (V. 13981421). In dieser Tragödie, die doch vor allem der Darstellung der πάθη Elektras gewidmet ist, kann der Dichter dem eigentlichen Rachegeschehen nicht mehr Raum als den einer einzigen Strophe zubilligen. Dafür ist dann aber auch jedes Wort mit Sinn geladen2. Auch metrisch ist diese von Spannung und Leidenschaft erfüllte Partie sehr bewegt. Am Beginn der Strophe kehrt Elektra aus dem Palast zurück, hält vor dem Tor Wache und lauscht nach innen (V. 1398-1403). Sie, die mit jeder Faser ihres Herzens an dem beteiligt ist, was sich innen vollzieht, ist die geeignete Vermittlerin der durch das hinterszenische Geschehen bewirkten Erregung an Chor und Zuschauer 3 . Das Folgende ist durch die drei lyrischen Abschnitte des Chores dreifach gegliedert (V. 1404— 1408, 1409-1414, 1415-1421). Jede dieser drei kurzen Partien steht für eine ganze Szene der Orestie. Durch das ίώ στέγαι Klytaimestras (V. 1404) wird ins Gedächtnis zurückgerufen, daß dies der blutbefleckte Palast der Atriden ist, bei dessen Anblick einst Kassandra erschauerte (Ag. 1085-1094). Der vergebliche Ruf nach Aigisthos und die Bitte um Erbarmen mit der eigenen Mutter, welcher der bittere Hinweis Elektras auf das Leid des Vaters antwortet (V. 1410-1412), wecken die Erinnerung an die Szene der „Choephoren", in der sich Orestes nicht durch die Bitten der Mutter erweichen ließ (Cho. 892-930). Durch den formelhaften doppelten Weheruf der Getroffenen (V. 1415-1416 ~ Ag. 13431346 ~ Hec. 1035-1038) wird in traditioneller Weise der Augenblick der Tat markiert. Was noch in der „Hekabe" vier Verse füllte, ist hier auf die Hälfte zusammengedrängt : Κλ. ώμοι πέπληγμαι. Κλ. ώμοι μάλ' αύθις.

Ή λ . παϊσον, ει σθένεις, διπλήν. Ή λ . εί γάρ Αίγίσθω θ' όμοϋ.

Und auch diese zwei Verse dienen weniger der Andeutung des hinterszenischen Geschehens als vielmehr der Darstellung der Reaktion Elektras. Sie erbebt nicht, als Orestes das Schwert gegen die eigene Mutter zückt, sondern fordert ihn auf, noch einmal zuzuschlagen ; und ehe noch Klytaimestra gestorben ist, wünscht sie auch schon den Tod des Aigisthos. Die Chorverse, die den dritten Abschnitt und zugleich die Strophe beenden (V. 1417-1421), stehen wieder ganz unter dem Leit1 Hermes Chthonios Cho. 1, 124, 727, die Chthonioi allgemein V. 476, die Erinyen des Vaters V. 283, 925. 2 Vgl. Schadewaldt, Elektra 295-296, Wuhrmann 41. 3 Zum Motiv der an der Palastpforte lauschenden Heldin vgl. Eur. Hipp. 565590, dazu oben 154.

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Hinterszenische Handlung

gedanken der δίκη. Ähnlich wie in den „Choephoren" heißt es auch hier, daß Agamemnon selbst es ist, der jetzt durch die Hand des Orestes die Rache an Klytaimestra vollzieht. Auf die hinterszenische Handlung folgt in noch größerer Kürze ein Ecce. I h m ist nur der erste Teil der Antistrophe gewidmet (V. 14221427). Die Täter treten auf, ihr Opfer wird jedoch zunächst nicht sichtbar. Das Ecce wird durch die Annäherung des Aigisthos unterbrochen. Orestes und Pylades ziehen sich wieder in den Palast zurück (V. 14281441), und Elektra bereitet in einem kurzen, spannunggeladenen Gespräch das zweite Ecce vor (V. 1442-1465). Dieser Dialog lebt, ähnlich wie die Überlistungsszene der „Hekabe" (V. 953-1022), aus der Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Starkscheinen und Starksein. Daß Sophokles eine solche Spannung auch im Dialog fruchtbar zu machen weiß, hatte er bereits in der zweiten Chrysothemisszene (V. 871-937) bewiesen. So ist es nicht verwunderlich, daß auch hier die Worte einen doppelten Sinn erhalten. Aigisthos meint zu wissen, daß Elektra seit dem Tode des Orestes jeder Hoffnung beraubt ist. Er meint darum, eine fügsame Elektra vor sich zu haben. So überhört er den Nebensinn ihrer Worte, aus denen er entnehmen könnte, daß er wirklich eine neue Elektra vor sich hat, aber eine solche, die ihm an Wissen und Stärke überlegen ist. τω γαρ χρόνω | νουν έσχον, ώστε συμφέρειν τοις κρείσσοσιν, sagt sie (V. 1464—1465). Sie stellt sich endlich auf die Seite der Stärkeren, aber diese Stärkeren sind nicht mehr Aigisthos und Klytaimestra, sondern Orestes und Pylades. Nicht Orestes ist der Tote, der jetzt im zweiten Ecce enthüllt wird, sondern Klytaimestra. Zu spät erkennt Aigisthos, daß sein Wissen ein Scheinwissen war und daß seine Stärke zu Schwäche geworden ist. In dem abschließenden Streit darum, ob Aigisthos noch sprechen dürfe oder nicht, ob er den Palast betreten solle oder nicht und ob er voranzugehen habe oder nicht (V. 1482-1507), in dem jedesmal Elektra und Orestes den Sieg behalten, wird seine Vernichtung in ähnlicher Weise symbolisch vorweggenommen wie bei Aischylos die Vernichtung Agamemnons in seiner Niederlage beim Streit um das Betreten des Purpurteppichs (Ag. 908-949). Der Vollzug der Rache an Aigisthos ist in diesem Drama, in dessen Mittelpunkt doch vor allem Elektra steht, eine bloße Handlungstatsache ohne jedes tragische Interesse. Darum kann der Dichter auf jede Vergegenwärtigung verzichten. Es hieße einem Aigisthos zuviel Ehre erweisen, wollte man ihm ein Ecce mit feierlicher Öffnung des Palasttores und Darstellung des aufgebahrten Leichnams bewilligen. Es genügt zu zeigen, wie er sich willenlos jedem Befehl der Geschwister fügen muß. Dies ist die schlimmste, demütigendste Form der Vernichtung, die sich denken läßt.

Euripides' „Elektra" und „Herakles"

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§ 7. Euripides' ,,Elektra" und „Herakles" Da die hinterszenische Handlung der euripideischen „Elektra" und die erste der beiden hinter die Szene verlegten Handlungen des „Herakles" formal fast völlig übereinstimmen, werden die beiden Dramen hier zusammen besprochen. „Elektra" und „Herakles" ist gemeinsam, daß dem eigentlichen Geschehen ähnlich wie in der „Hekabe" (V. 953-1022) eine Szene vorausgeht, in welcher der bisher Starke im vollen Bewußtsein seiner Überlegenheit dem bisher Schwachen gegenübertritt und sich leicht dazu überreden läßt, dorthin zu gehen, wo ihm der Untergang bestimmt ist (El. 998-1146 ~ Her. 701-733). Dabei ist es für uns ohne Belang, daß die Szene der „Elektra" durch einen Redestreit erweitert ist. Neu gegenüber der homologen Szene der „Hekabe" ist in beiden Dramen, daß Euripides, möglicherweise unter dem Eindruck der eben besprochenen Partie der sophokleischen „Elektra" (V. 1442-1465) den Überlistenden schon vor der T a t durch einige Worte seine wahren Gedanken verraten läßt. I n der Weise, wie dies geschieht, besteht starke, bis in den Wortlaut hinein spürbare Übereinstimmung zwischen „Elektra" und „Herakles". Elektra V. 1139-1146 Ή λ . χώρει πένητας ές δόμους" φρούρει Sé μοι 1140 μή σ' αίθαλώση πολύκαπνον στέγος πέπλους, θύσεις γάρ οία χρή σε δαίμοσιν θύη.

1145

κάνουν δ' ένηρκται καί τεθηγμένη σφαγίς, ήπερ καθ-εΐλε ταϋρον, ο δ πέλας πεση πληγείσα" νυμφεύση δέ κάν "Αιδου δόμοις ώπερ ξυνηϋδες έν φάει. τόσήνδ* έγώ δώσω χάριν σοι, σύ δέ δίκην έμοί πατρός.

Herakles V. 726-733 Ά μ . σύ δ' οδν ϊθ', ëpχη δ' οΐ χρεών" τά δ* άλλ' ΐσως άλλω μελήσει. προσδόκα δέ δρών κακώς κακόν τι πράξειν. ώ γέροντες, ές καλόν στείχει, βρόχοισι δ' άρκύων γενήσεται 730 ξιφηφόροισι, τους πέλας δοκών κτενεΐν δ παγκάκιστος. εΐμι δ* ώς ϊδω νεκρόν πίπτοντ'" έχει γάρ ήδονάς θνήσκων άνήρ έχθρός τίνων τε των δεδραμένων δίκην. Während der Gegner das Haus betritt, das er nicht lebend wieder verlassen wird, ruft der Zurückbleibende ihm einige Worte nach, die in 11 8089 Matthiessen

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Hinterszenische Handlung

ihrem verhüllten Doppelsinn bereits erraten lassen, was sich sogleich drinnen vollziehen wird. Dann wendet er sich noch einmal an den Chor. Nachdem der Feind in die Falle gegangen ist, kann offen gesprochen werden. In beiden Dramen wird die Situation in einem Bild wiedergeben, in der „Elektra" in dem des zum Altar geführten Opfertieres, im „Herakles" in dem der ins Netz rennenden Jagdbeute. Hier wie dort verbindet sich die Freude des Siegers mit dem Bewußtsein der Gerechtigkeit der bevorstehenden Rache. Anschließend deutet in beiden Dramen ein Chorlied das nun anhebende hinterszenische Geschehen (El. 1147-1164 ~ Her. 734-746). Auch an dieser Stelle kehren hier wie dort die gleichen Gedanken und fast die gleichen Wendungen wieder. Was sich jetzt vollziehen wird, ist Wendung vom Unheil zum Heil, Vergeltung, Wiederherstellung des Rechtes und gottgewollte Rache. Elektra V. 1147-1148 άμοιβαι κακών " μετάτροποι πνέουσιν αυραι δόμων.

1155

(χρόνος) παλίρρους δέ τάνδ' υπάγεται δίκαν . . .

Herakles V. 734-741 μεταβολά κακών μέγας ó πρόσθ' άναξ πάλιν ύποστρέφει βίοτον έξ " Α ι δ α . ίώ" δίκα καί θεών παλίρρους πότμος. - ήλθες χρόνω μεν ου δίκην δώσεις θανών, ύβρεις υβρίζων εις άμείνονας σέθεν 1 .

In beiden Dramen wird das hinterszenische Geschehen durch die Schreie des Getroffenen und durch die Reaktion des Chores auf sie dem Zuschauer miterlebbar gemacht (El. 1165-1171 ~ Her. 747-762). Dabei faßt, nachdem der Getroffene zum letzten Male seine Stimme erhoben hat, der Chor noch einmal sein Urteil über die Tat zusammen : Sie ist zu Recht geschehen. Elektra V. 1169-1171 νέμει τοι δίκαν θεός, δταν τύχη· σχέτλια μεν Ιπαθες, άνόσια δ' είργάσω, τάλαιν', εύνέταν.

Herakles V. 755-756 καί γάρ διώλλυς· άντίποινα δ'έκτίνων τόλμα, διδούς γε των δεδραμένων δίκην.

Gerade die große Ähnlichkeit im Aufbau der beiden beschriebenen 1 Vgl. auch Soph. El. 1420-1421 : παλίρρυτον γάρ αίμ' ύπεξαιροΰσι των | κτανόντων οί πάλαι θανόντες.

Euripides' „Elektra" und „Herakles"

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Partien läßt es um so auffallender werden, daß sie in ihrer dramatischen Funktion keineswegs übereinstimmen. In der „Elektra" erhält die Tat, nachdem sie geschehen ist, plötzlich einen anderen Sinn als vorher. Aus einer gerechten Rachetat wird sie jetzt zu dem heillosen Verbrechen eines Muttermordes. Diese nachträgliche Umwertung ändert aber nichts daran, daß die Ermordung Klytaimestras das entscheidende Ereignis der Tragödie ist. Dem entspricht auch, daß sie anschließend in der traditionellen Weise durch ein Ecce in ihren Polgen dargestellt (V. 1172-1232) und - innerhalb des Ecce - durch einen Bericht vergegenwärtigt wird (V. 1206-1226). Im „Herakles" dagegen wird die hinter der Szene geschehene rettende Tat nicht umgewertet, sondern sie wird gewissermaßen durchkreuzt, weil eine neue, noch stärkere Macht, nämlich die der Götter, in die Handlung eingreift. Nun zeigt sich, daß das durch den göttlichen Eingriff ausgelöste Geschehen die eigentliche Handlung der Tragödie ist, während die Rachehandlung nur vorbereitende Funktion hatte. So ist es nicht verwunderlich, daß nach der Ermordnung des Lykos sowohl das Ecce als auch der Bericht über Einzelheiten des Geschehens fehlen. Sofort auf die Tat folgt das Chorlied, das in Übereinstimmung mit den Gefühlen des Zuschauers voll Freude und Dankbarkeit die Gerechtigkeit der Götter preist (V. 763-814). Dem Dichter liegt alles daran, Befriedigung über den Verlauf des Geschehens und Zustimmung zum gerechten Walten der Götter im Zuschauer wachzurufen, um dann den Sturz in Angst und Verzweiflung, den das Erscheinen Lyssas bewirkt, nur um so fühlbarer werden zu lassen. Auf die Rachehandlung folgt noch eine zweite hinterszenische Handlung, die mit hinterszenischen Rufen, Reaktion des Chores (V. 887-908), Botenszene (V. 909-1015) und Ecce (V. 1028-1152) so breit ausgespielt wird und so viel dramatisches Gewicht erhält, daß sie die Rachehandlung völlig in den Schatten treten läßt. Wie die im Wahnsinn begangene Tat des Herakles es vergessen macht, daß er sich noch eben als Retter seiner Kinder bewährt hatte, so läßt auch die zweite hinterszenische Handlung die erste in Vergessenheit geraten. Wenn wir in zwei Dramen eine Szenenfolge von annähernd gleicher Struktur finden, die in dem einen Falle das dramatische Geschehen zum Ziel führt, im anderen aber kaum eigenes Interesse beansprucht und im dramatischen Gefüge nur vorbereitende Funktion hat, dann sollte man dasjenige Drama, in dem die Szenenfolge das größere dramatische Gewicht hat, für früher entstanden halten als das, in dem sie nur eine Episode ist. Auf Grund dieser Überlegung läßt sich aus dem Vergleich der beiden Partien ein weiteres gewichtiges Argument für die Priorität der „Elektra" vor dem „Herakles" gewinnen.

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Hinterszenische Handlung

§ 8. Euripides' „Antiope" und ,,Orestes" Ein Beweis dafür, daß wir den Richtungssinn der Entwicklung von der Szene der „Elektra" zu der des „Herakles" richtig bestimmt haben, ist die Tatsache, daß die Tendenz zur Entwertung der hinterszenischen Handlung, wie wir sie bereits im „Herakles" beobachten konnten, im Spätwerk noch stärker wirksam wird. Der S z e n e n t y p ist dem Publikum bereits so gut bekannt, daß der Dichter jetzt besondere Wirkungen dadurch erzielen kann, daß er die Erwartungen des Zuschauers zunächst in Richtung auf den traditionellen Verlauf der hinterszenischen Handlung lenkt, dann aber dem Drama einen ganz unerwarteten Ausgang gibt. In der neugefundenen Exodos der einige Jahre nach 412 aufgeführten „Antiope" 1 wird der thebanische Tyrann Lykos von dem Rinderhirten in die Hütte gelockt, in der sich soeben seine Feinde Zethos und Amphion verborgen haben (V. 25-47). Diese Überlistungsszene ähnelt sehr stark den homologen Partien in „Hekabe", „Elektra" und „Herakles". Am Ende der Szene, nachdem Lykos bereits die Hütte betreten hat, spricht der Chor einige Worte, die stark an das anklingen, was einst Elektra und Amphitryon über ihre blind ins Verderben schreitenden Gegner sprachen, und deutet das bevorstehende Geschehen als Vollzug der göttlichen Gerechtigkeit (V. 43-47). Auf die Schreie und Hilferufe des Angegriffenen reagiert der Chor in der uns bereits aus anderen Dramen bekannten Weise (V. 48-52) und preist dann noch einmal Δίκη, die endlich ihre Macht bewährt (V. 53-55) 2 . Aber das hinterszenische Geschehen erreicht in diesem Drama nicht sein Ziel. Zunächst entspinnt sich im Inneren der Hütte ein Dialog zwischen Lykos und Amphion, in dem Lykos erfährt, daß Dirke getötet ist und daß sich jetzt an ihm die Rache dafür vollzieht, daß er Antiope verfolgt hat (V. 56-63)3. Doch zu dieser Rachetat kommt es nicht. Hermes erscheint und verkündet, daß die Ermordnung des Lykos nicht dem Willen der Götter entspricht. Ihm wird das Leben geschenkt, aber er muß die Herrschaft über Theben den Söhnen Antiopes übergeben (V. 65-97). Auch bei der hinterszenischen Handlung des „Orestes" werden die Erwartungen des Zuschauers zunächst in Richtung auf den gewohnten Szenenverlauf gelenkt, um dann jedoch durch unerwartete Zwischenfälle und einen nicht minder unerwarteten Ausgang um so mehr überrascht zu werden. 1

Vgl. Sch. Ar. Ran. 53. - Text des Fragments bei v. Armin 18-22, Page 60-71. Hier wird Pages Text zugrundegelegt. 2 Wieder sind Dochmien die angemessene Form für Äußerungen des Chores in diesem Augenblick höchster Erregung. 3 Zum Vergleich ließe sich am ehesten der Dialog zwischen Orestes und Aigisthos Soph. El. 1466-1507 heranziehen.

„Antiope" und „Orestes"

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Als Orestes und Pylades den Palast betreten haben, um ihren Anschlag auf Helena zu unternehmen (V. 1245), bleibt Elektra allein beim Chor zurück. In einer bewegten melodramatischen Szene fordert sie ihn auf, die Zugänge zum Palast zu bewachen (V. 1246-1265)1. Nachdem sich die Aufmerksamkeit des Chores gemäß Elektrae Befehl nach außen gerichtet hat (V. 1266-1280), wendet sie sich mit V. 1281 nach innen. Wieder steht wie im „Hippolytos" und der sophokleischen „Elektra" die Heldin als Lauscher am Tor der Skene, und wieder steht der Chor bereit, um das hinterszenische Geschehen zu deuten. Daß im Palast zunächst noch nichts geschieht, erhöht die Spannung nur um so mehr (V. 1284-1295). Dann ertönen endlich die Hilferufe Helenas als ein Zeichen dafür, daß Orestes und Pylades zu handeln begonnen haben (V. 1296-1301). Elektra feuert mit einem leidenschaftlichen -πνίγος ihre Gefährten an (V. 1302-1310), da unterbricht plötzlich Hermiones Erscheinen die übliche Abfolge der Geschehnisse (V. 1311-1352). Hermione wird ähnlich wie in den Überlistungsszenen der früheren Dramen zum Betreten des Palastes überredet (V. 1321-1345). Elektra folgt ihr nach innen, nicht ohne in der schon in homologen Szenen anderer Stücke bemerkten Weise ihre Verstellung aufzugeben, nachdem das Opfer abgegangen ist (V. 1345-1346). Eine Variation des Üblichen bedeutet es dagegen, daß von innen die Stimme des Orestes ertönt, der sein Opfer in Empfang nimmt (V. 1347-1348). Die Unterbrechung des traditionellen Geschehensablaufes durch den Auftritt Hermiones hat den Zuschauer schon so sehr überrascht und verwirrt, daß er voller Spannung den Ausgang der auf die Ermordnung Helenas gerichteten Handlung erwarten wird. Ebenso empfindet der Chor (V. 1353-1360), der sogar schon den erwarteten Ausgang vorwegnimmt und den Tod Helenas als Δίκη deutet (V. 1361-1365). Völlig überraschend erscheint der phrygische Sklave2. Sein Botenbericht in Gestalt einer großen Monodie (V. 1369-1502) ist bereits durch die Form 8 , noch mehr aber durch seinen Inhalt ein άπροσδόκητον. Helena ist nicht getötet worden, wie Chor und Zuschauer erwarteten, sondern ein Gott hat sie entrückt und dadurch den Plan der Freunde durchkreuzt. Wieder folgt, wie der Chor treffend bemerkt (V. 1503), ein ungewöhnliches Ereignis dem anderen. Noch in der Botenszene tritt der Täter hervor und treibt den έξάγγελος ins Innere zurück, ehe er seine Nachricht weitertragen kann (V. 1503-1536). Orestes kehrt in den Palast zurück, ohne den Bericht des Phrygers bestätigt zu haben, so daß Chor und Zuschauer weiter im 1

Das Metrum ist hier wie auch später in V. 1353-1365 ~ 1537-1548 iambischdochmisch. 2 Zur Frage, ob der Sprung vom Dache szenisch dargestellt war, vgl. A.N. Dale, WS 69, 1956, 103-104. 8 Der Erregung des Boten entsprechen das bewegte Metrum und die wahrscheinlich der βάρβαρος βοά (V. 1385) angemessene asiatische Melodie.

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Hinterszenische Handlung

Ungewissen über das Schicksal Helenas bleiben. Nun steht ein neuer Kampf bevor. Menelaos und Orestes, Atreussohn und Atreusenkel, treten sich bewaffnet gegenüber, und der Palast der Tantaliden droht im Feuer zu vergehen. Der Chor deutet das Bevorstehende als Wirkung des Geschlechterfluches der Pelopiden, indem er das, was jetzt geschehen wird, auf den verhängnisvollen Sturz des Myrtilos zurückführt (V. 1537-1548). Als Menelaos erscheint und die Türen aufbrechen lassen will, scheint sich ein Ecce vorzubereiten (V. 1561-1566). Man erwartet, daß in der sich öffnenden Tür Orestes, Pylades und Elektra mit ihren Opfern Helena und Hermione sichtbar werden. Aber ähnlich wie in der „Medea" öffnet sich die Tür nicht, sondern es folgt ein neues άπροσδόκητον : Orestes erscheint mit der Geisel Hermione auf dem Dach des Palastes, ist also dem Zugriff des Menelaos entzogen. Das Schicksal Helenas bleibt auch jetzt noch ungewiß. Der Versicherung des Orestes, sie sei entrückt worden, schenkt Menelaos ebensowenig Glauben wie den Gerüchten, die bereits zu ihm gedrungen sind (V. 15671624). Erst nach dem Erscheinen Apollons erreicht der mit dem Beginn der hinterszenischen Handlung anhebende Spannungsbogen sein Ende. Der Gott bestätigt endgültig, daß der Anschlag auf Helena nicht zum Erfolg geführt hat: sie ist wahrhaftig entrückt worden (V. 1625-1642). Am Schluß des „Orestes" findet sich also eine genaue Parallele zum Ausgang der „Antiope", wo Theben nicht durch die von Zethos und Amphion erstrebte Ermordnung des Lykos von seinem Tyrannen befreit wird, sondern durch einen von Hermes herbeigeführten Vergleich. Auch im „Orestes" strebt das menschliche Handeln zwar zum gottgewollten Ziel, in diesem Fall zur Errettung der Geschwister vor ihren Feinden, doch läßt sich dieses Ziel nicht auf dem von den Menschen gewählten Weg erreichen. Das Ethos dieser Dramenschlüsse ähnelt stark demjenigen der „Iphigenie", nur daß hier breiter ausgespielt wird, was dort nur angedeutet war 1 . Allein in der „Helena" erreicht das menschliche Handeln ungehindert auf dem vom Menschengeist ersonnenen Wege sein Ziel, und die Götter brauchen am Schluß nur das von den Menschen bereits Erreichte zu sanktionieren 2 . 1 2

Vgl. oben 57 A. 4. Vgl. unten 182-185.

3. Kapitel

Metrische Beobachtungen § 1. Die Verwendung des trochäischen Tetrameters Die griechische Tragödie kennt zwei Formen des Sprechverses, den iambischen Trimeter und den trochäischen Tetrameter1. Von den beiden Versarten wird der iambische Trimeter entschieden bevorzugt. In der Mehrzahl der erhaltenen Tragödien sind Reden und Dialoge ausschließlich in diesem Maß abgefaßt. Weitaus geringere Bedeutung hat der trochäische Tetrameter2. Er findet sich in vierzehn der insgesamt 32 erhaltenen Stücke der drei großen Tragiker3. Bei Aischylos finden sich große trochäische Partien nur in den „Persern", also dem ältesten der überlieferten Stücke. Dieser Befund bestätigt die Richtigkeit der aristotelischen Nachricht, der Tetrameter, nicht der iambische Trimeter sei der ursprüngliche Sprechvers der Tragödie gewesen4. Während Sophokles den Trochäus nur sparsam verwendet, hat Euripidee anscheinend eine besondere Vorliebe für dieses archaische Versmaß. Dabei ist auffällig, daß in allen euripideischen Stücken, deren frühes Aufführungsdatum bezeugt ist, Tetrameter völlig fehlen, während es dagegen in allen Dramen, die sicher spät aufgeführt worden sind, mehr oder weniger große trochäische Partien gibt. Man hat darum vermutet, daß sich aus der Verwendung des Tetrameters in einer nicht fest datierten euripideischen Tragödie schließen läßt, das Stück sei nach 415 oder nicht lange vor diesem Jahr aufgeführt worden. Umgekehrt glaubte man vermuten zu können, daß jede nicht fest datierte Tragödie, die keine Tetrameter aufweist, nicht ins Spätwerk gehört. Daran, daß die vier trochäenlosen Tragödien „Herakliden", „Andromache", „Hekabe" und ,, Hike ti den" vor 415 zu datieren seien, wird wohl niemand zweifeln. Einige Schwierigkeiten bereitete bisher nur die Einordnung der „Elektra", deren Datierung auf 413 man sicher zu sein 1 Seit dem Fund der Ichneutai des Soph, wissen wir, daß zumindest von diesem Dichter bisweilen auch iambische Tetrameter verwandt wurden. Bis zum Erweis des Gegenteils dürfen wir aber einnehmen, daß sich die Verwendung dieses Versmaßes aufs Satyrspiel beschränkte. 2 Das Folgende ist zum großen Teil ein Referat des Aufsatzes von Krieg. Einzelheiten möge man dort nachlesen. ' Der Rhes. bleibt als nichteuripideisch unberücksichtigt. - Trochäen haben bei Aisch.: Pera. ( I l l ) , Ag. (28), bei Soph.: O.R. (16), Phü. (7), O.C. (4). Zu den Stücken des Sur. vgl. die Tabelle auf S. 170. 4 Arist. Poet. 4, 1449 a 20: τ6 τε μέτρον έκ τετραμέτρου Ιαμβεΐον έγένετο.

168

Metrische Beobachtungen

glaubte. Denn auch dieses Stück hat keine trochäischen Tetrameter. Man war gezwungen, diese Tatsache entweder damit zu erklären, daß der Dichter hier aus irgendwelchen Gründen bewußt vermieden habe, Trochäen zu verwenden1, oder aber die Annahme ganz fallenzulassen, daß sich aus der Verwendung oder dem Fehlen von Trochäen ein Schluß auf die Datierung ziehen lasse. Methodisch wäre es freilich das richtigste gewesen, sich mit der Feststellung eines vorerst unlösbaren Widerspruches zwischen dem Fehlen von Trochäen und der aus der Anspielung auf die sizilische Expedition erschlossenen Datierung zu begnügen. Nachdem aber inzwischen Zuntz gezeigt hat, daß an dem Aufführungsdatum 413 für die „Elektra" nicht mehr festgehalten werden kann 2 , löst sich dieser Widerspruch von selbst. Heute hindert uns nichts mehr daran, aus dem Fehlen von Trochäen zu folgern, das Stück sei wohl vor 415 und früher als der „Herakles" aufgeführt worden. Innerhalb der durch die Verwendung des trochäischen Tetrameters als „spät" gekennzeichneten Dramen des Euripides lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Im „Herakles" und den „Troerinnen" wird der Vers fast ausschließlich in der Rede verwandt3, während sich in allen anderen Dramen, die Tetrameter aufweisen, größere Dialogpartien in diesem Versmaß finden, bei denen von der Möglichkeit, den einzelnen Vers auf zwei Dialogpartner zu verteilen (άντιλαβαί), meist reichlicher Gebrauch gemacht wird4. Es besteht Grund zu der Annahme, daß die Stücke, die keine oder fast keine stichomythischen Tetrameter aufweisen, also „Herakles" und „Troerinnen", früher zu datieren sind als die Stücke, die längere Stichomythien in diesem Versmaß, meist mit zahlreichen άντιλαβαί, besitzen. Demnach läßt sich vermuten, daß sowohl die „Iphigenie" als auch der „Ion" nach 415 aufgeführt worden sind, so daß die von uns vorgeschlagenen Aufführungsdaten 414 und 413 die frühesten Termine sind, die für die beiden Dramen in Frage kommen. § 2. Die Abweichungen des Euripides von der strengen Form des iambischen Trimeters Schon längst ist bemerkt worden, daß Euripides mit dem iambischen Trimeter freier verfährt als die beiden anderen großen Tragiker. Ebenfalls ist seit langem bekannt, daß sich der Dichter in den Dramen, deren 1 Auf eine „archaisierende Tendenz" des Dichters (Krieg 43 und A. 3), kann man sich hier nicht berufen. Denn die Verwendung des Trochäus ist j a keine Neuerung, sondern ein Rückgriff auf das Uralte. 2 Vgl. oben 67-68. 8 In den Tro. findet sich kein einziger stichomythischer Tetrameter, im Her. nur drei. 4 Eine gewisse Sonderstellung nehmen dabei nur die Ba. ein. Denn hier findet sich zwar eine trochäische Stichomythie, bei der aber άντιλαβαί fehlen.

Trochäische Tetrameter - Iambische Trimeter

169

späte Datierung feststeht, sehr viel größere Freiheiten gegenüber den strengen Regeln dieses Verses erlaubt als in den sicher früh datierten Dramen. Mehrere Forscher haben sich die Mühe gemacht, die Häufigkeit der Auflösungen in den Trimetern aller Dramen des Euripides zu zählen1. Dabei stellte sich heraus, daß bei den fest datierten Tragödien die Zahl der Verse, in denen mindestens ein longum oder anceps durch zwei Kürzen ersetzt wird, um so höher ist, je später ein Stück aufgeführt worden ist, geringe Abweichungen nicht ausgeschlossen. Die beiden Extreme sind der „Hippolytos", in dem 4,3°/0 aller Trimeter Auflösungen enthalten, und der „Orestes", der 39,4°/0 Trimeter mit Auflösungen aufweist. Ähnlich wie im „Hippolytos" ist das Zahlenverhältnis in „Alkeatis" und „Medea", ähnlich wie im „Orestes" in „Bakchen" und „Aulischer Iphigenie". „Troerinnen", „Helena" und „Phönissen" nehmen eine mittlere Stellung ein. Es lag nahe, auch die nicht fest datierten euripideischen Dramen in diese Reihe einzuordnen und auch bei ihnen zu vermuten, daß ein Stück um so älter ist, je weniger, und um so jünger, je mehr Trimeter mit Auflösungen es aufweist. Zwar konnte man nicht erwarten, auf diese Weise eine genaue Chronologie zu schaffen, aber eine einigermaßen zuverlässige Periodisierung durfte man immerhin zu gewinnen hoffen. Größere Sicherheit ließ sich erzielen, wenn man sich nicht darauf beschränkte, die Verse mit Auflösungen zu zählen, sondern dabei auch die Häufigkeit der Auflösungen an den verschiedenen Versstellen unterschied, um festzustellen, ob sich hier eine ähnlich gleichmäßig zunehmende oder auch abnehmende Zahlenreihe feststellen ließ wie bei der Zahl der Verse mit Auflösungen überhaupt. Es ergab sich, daß man bei den Tragödien des Euripides vier Gruppen unterscheiden kann2. Die erste (.stilus severior') umfaßt „Alkestis", „Medea", „Herakliden" und „Hippolytos", die zweite (,stilus semiseverus') „Andromache", „Hekabe" und „Hiketiden", die dritte (.stilus liber') „Herakles", „Troerinnen", „Taurische Iphigenie", „Ion", „Helena" und „Phönissen" und die vierte (.stilus liberrimus') „Orestes", „Bakchen" und „Aulische Iphigenie". Die „Elektra" schließlich nimmt eine mittlere Stellung zwischen der zweiten und der dritten Gruppe ein. Was die Form des Trimeters betrifft, sollte man die „Elektra" also eher vor 415 einordnen als nach diesem Datum. Zielinski und Ceadel wagten es nicht, diese eigentlich unvermeidliche Folgerung aus dem Ergebnis ihrer Untersuchungen zu ziehen, weil sie nicht an der her1 Zuletzt Descroix 106-239, Zieliáski 133-240, Ceadel. Die Zahlen Ceadels werden hier zugrundegelegt. Sie enthalten nicht die Trimeter, die in lyrischem Zusammenhang stehen, und auch nicht die, in denen die Auflösung durch einen Eigennamen bewirkt wird. Zu den Einzelheiten vgl. die Tabelle auf S. 170. 2 Die hier vorgenommene Periodisierung entspricht im •wesentlichen derjenigen Zielmskis (140-141).

170

Metrische Beobachtungen

kömmlichen Datierung des Dramas rühren wollten, sondern halfen sich mit der Annahme einer größeren Zeitdifferenz zwischen Abfassung und Aufführung1. Für uns dagegen hegt kein Grund mehr vor, einer überkommenen Meinung mehr Glauben zu schenken als dem Ergebnis der statistischen Untersuchung. Wir dürfen uns also in unserer Auffassung bestärkt fühlen, die „Elektra" sei vor 415 und wohl auch vor dem „Herakles" aufgeführt worden2. Tabelle zu § 1-2 1 Alkestis Medea Herakliden Hippolytos Andromache Hekabe Hiketiden Elektra Herakles Troerinnon Taur. Iph. Ion Helena Phönissen Orestes Bakchen Aul. Iph. Kyklops

2

438 431

: 6,2 ¡ 6,6 ! 5,7 428 j 4,3 i 11,3 : 12,7 1 13,6 I 16,9 ! 21,5 415 j 21,2 ! 23,4 ' 25,8 412 ! 27,5 411-409 1 25,8 408 1 39,4 n. 406 I 37,6 34,7 n. 406 35,0

3 2 -

_

3 4 2 6 7 9 9 9 9 11 12 11 14 7

4 50 56 57 66 58 54 16 55 51 53 54 45 49 49 41 37 38 33

5

6

7

8

3 3 1 2 5 4 2 7 16 16 17 14 26 25 54 44 23 21

_

_

_

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

19 18 31 84 21 63 114 38 210 -

3

-

19 53 15 35 85 12 93

19 40 10 22 22

-

-

-

26

Bedeutung der einzelnen Spalten : 1 2 3 4 5 6 7 8

Aufführungsjahr der fest datierten Stücke Prozentzahl der Trimeter mit Auflösungen Davon Trimeter mit Daktylus am Versanfang (in °/0)8 Zahl der Trimeter mit Auflösung im dritten Fuß 4 (in °/0 der Trimeter mit Auflösung) Trimeter mit mehr als einer Auflösung (absolute Zahl)5 Zahl der trochäischen Tetrameter (absolute Zahl) Davon in Stichomythie Davon mit άντιλαβαΐ.

Über die genauen Aufführungsdaten der „Iphigenie" und des „Ion" sollte man von der Statistik keine Auskunft erwarten. Daß die beiden 1 2 3 4 5

Vgl. oben 66. Vgl. Mette 155. Abweichungen von Zielmskis 'lex I I I ' . Zielmskis 'lex I I ' . Abweichungen von Zielmskis 'lex I ' .

Iambische Trimeter - Lyrische Partien

171

Dramen zu den bald nach 415 aufgeführten Stücken gehören, läßt sich immerhin erkennen. Die von Mathieu1 in Erwägung gezogene Datierung der „Ipigenie" in die nächste Nähe des „Orestes" empfiehlt sich jedenfalls ebenso wenig wie das von Owen2 für den „Ion" angenommene Aufführungsjahr 418. Dagegen steht die von uns vorgeschlagene Datierung der beiden Dramen auf die Jahre 414 und 413 nicht im Widerspruch zu den Ergebnissen der Statistik 3 . Das gleiche gilt für die von uns erwogene Datierung des „Kyklops" auf 415 oder eines der folgenden Jahre 4 . Der Dichter scheint sich im Satyrspiel etwas mehr metrische Freiheiten erlaubt zu haben als in den Tragödien. Doch daß man das Spiel nicht gerade zu den ältesten Stükken des Dichters rechnen sollte, dürfte ein Blick auf die Tabelle lehren. Man sollte darum nicht an der von Murray vorgeschlagenen Frühdatierung festhalten8. § 3. Zu den lyrischen Partien Eine weitere Beobachtung sei hier angeschlossen, die ebenfalls den Schluß nahelegt, daß die „Elektra" nicht ins Spätwerk des Euripides gehört. In den lyrischen Partien außerhalb der reinen Chorlieder, also in den Amoibaia, Monodien und Kommoi, sind in den Dramen, die mit Sicherheit vor die „Elektra" zu datieren sind, nämlich in allen Stücken von der „Alkestis" bis zu den „Hiketiden", größere aatrophische Gesänge recht selten. Erwähnenswert sind nur die iambisch-dochmischen Partien im „Hippolytos" (V. 569-595 und 866-884) und in der „Hekabe" (V. 681-720) und die große astrophische Monodie des Polymestor ebendort (V. 1056-1106). Wenn sonst astrophische Partien vorkommen, so stehen sie nie allein, sondern immer neben strophisch gegliederten Abschnitten (Andr. 841-865, Hec. 177-196, Suppl. 824-836). Im „Herakles", den „Troerinnen" und in den übrigen sicher nach der „Elektra" aufgeführten Stücken finden wir dagegen immer häufiger astrophische Partien, meist ohne Zusammenhang mit strophischen Ab1 Mathieu (80-81) fühlt sich durch die Anklänge an die Iph., die er im Or. nachweist, in seiner Ansicht bestärkt, man solle das Aufführungsjahr der Iph. in nächster Nähe zu der des Or. suchen. Gregoire (Hél. 37 Α. 3) weist darauf hin, daß sich diese Anklänge leicht aus der Anwesenheit der gleichen Personen und aus der Ähnlichkeit der dramatischen Situation (Rettungs-μηχάνημα) erklären lassen, man aus ihnen also nichts für die Datierung schließen kann. » Owen X X X V I X L I . 3 Vgl. oben 63, 91. * Vgl. oben 91-92. » Murray, Eur. 37-38.

172

Metrische Beobachtungen 1

schnitten . Die „Elektra" aber weist außer den kurzen astrophischen Einsprengseln in der Monodie vor der Parodos (V. 125-126, 150-156) nur die kurze iambisch-dochmische Partie V. 1165-1171 auf, die jedoch als Epode einem strophisch gegliederten Abschnitt folgt (V. 1147-1164). Demnach scheint die „Elektra" hinsichtlich ihrer lyrischen Partien der Gruppe der frühen Dramen näher zu stehen als derjenigen der späten Dramen. Ein Urteil über die Metrik der Chorlieder der ..Elektra" können wir nicht abgeben, doch sei auf Kranz verwiesen, der zwar die Lieder V. 432—486 und 699-746, die nur locker mit der Handlung verknüpft sind, als Beispiele für die „dithyrambischen Stasima" der späteuripideischen Lyrik nennt2, doch feststellt, daß „die Melodien (Strophen) der Elektralieder in ihrer Kürze mehr den früheren Weisen" ähnlich sind, und auch sonst manchen „archaisierenden" Zug in der Lyrik der „Elektra" bemerkt3. 1

Amoibaia : Her. Í178-1213, Tro. 239-291, I. T. 827-899, Ion 1439-1509, Hei. 625-697, Phoen. 103-192, 1539-1581, 1710-1757. Monodien: Tro. 308-341, Ion 859-922, Hei. 362-385, Phoen. 301-354, 1485-1538, Or. 1369-1502, I. Α. 1283-1335. Kommoi: Her. 875-921, 1042-1087, Ion 763-799, Hei. 330-361, Phoen. 13401351, Ba. 576-603, I. A. 1475-1531. Auffällig ist im Spätwerk auch die große Häufigkeit der astrophischen Partien am Ende der eigentlichen Chorlieder („Epoden"). Vgl. die Tabelle bei Kranz, 124-125. 2 Kranz 254-256; ähnlich auch Alt, Chor 47-59. Zu Alts Versuch, doch noch eine Beziehung zwischen den beiden Liedern und dem Stück zu schaffen, vgl. oben 68 A. 4. Zu V. 699-746 vgl. auch oben 76. 3 Kranz 232-233. Auch Alt (Chor 55) weist darauf hin, daß sogar ein Lied wie El. 699-746 immer noch weit vom lyrischen Spätstil entfernt ist, wie er etwa in Or. 807-843 oder 960-1012 herrscht.

4. Kapitel

Zum Verhältnis von Mensch und Gott im Spätwerk des Euripides Wir waren in dieser Arbeit von der These Solmsens ausgegangen, daß die in den Jahren um 412 aufgeführten Tragödien des Euripides, die durch die Verbindung einer άναγνώρισις-Handlung mit einer μηχάνημα-Handlung gekennzeichnet sind, nicht nur formal sehr ähnlich, sondern auch von einem ähnlichen Lebensgefühl erfüllt seien. Der Mensch habe sich hier in einer nicht so sehr von der Macht der Götter als vielmehr von τύχη beherrschten Welt zu behaupten. Wacher Verstand und listige Planung seien darum für ihn wichtig, Freundesrat und -beistand unentbehrlich, aber letztlich liege nicht in der Hand des Menschen der Schlüssel für seine Rettung, denn immer wieder könne τύχη seine Pläne durchkreuzen. Die durch die Entwicklung der dramatischen Form ebenso wie diejenige des Lebensgefühls nahegelegte zeitliche Reihenfolge der Dramen dieser Gruppe ist nach Solmsens Meinung diese: Die „Elektra" (413) geht der „Iphigenie" voraus, diese wiederum der „Helena" (412), und der „Ion" bildet zumindest entwicklungsgeschichtlich, wahrscheinlich auch chronologisch, den Endpunkt der Dramengruppe. In der Frage des Zeitverhältnissed von „Iphigenie" und „Helena" sind wir zu dem gleichen Ergebnis gekommen wie Solmsen. Abgewichen sind wir von seiner Ansicht jedoch bei der Einordnung der „Elektra", die, wie wir meinten, mehrere Jahre früher zu datieren ist und dem „Herakles" und den „Troerinnen" näher steht als den übrigen Dramen der von Solmsen beschriebenen Gruppe. Auch die Ansicht Solmsens über den „Ion" teilten wir nicht, sondern vermuteten, dieses Stück sei zwar später als die „Iphigenie", aber früher als die „Helena" aufgeführt worden. Da die Gründe, die uns bei der Datierung der „Elektra", der „Iphigenie" und des „Ion" bestimmten, vornehmlich formaler Art waren, bleibt noch zu prüfen, ob sich auch eine innere Entwicklung denken läßt, die von der „Elektra" zum „Herakles" und den Troerinnen und von dort weiter über „Iphigenie", „Ion" und „Helena" zu den Stücken der letzten Lebensjahre führt. Denn eine Untersuchung der dramatischen Form und der Zeitfolge wie in der vorliegenden Arbeit bleibt wertlos, wenn sich nicht zeigen läßt, daß ihr Ergebnis auch zu einem besseren Verständnis der Werke des Dichters beiträgt.

174

Mensch und Gott

Wir sind allerdings der Meinung, daß die hier vorgeschlagene zeitliche Anordnung es möglich macht, die einzelnen Tragödien in ihrer Besonderheit und in ihrer Stellung im Gesamtwerk besser zu verstehen als zuvor. Wir können hier nicht eine ausführliche Interpretation der euripideischen Tragödien zwischen „Elektra" und ,,Bakchen" entwikkeln, sondern müssen uns auf zwei Dinge beschränken, indem wir erstens prüfen, wie sich in den Stücken dieser Zeit das Wirken der Götter darstellt, und zweitens untersuchen, welche Rolle in einigen dieser Dramen der Freundschaft zukommt.

§ 1. Das Wirken

der Götter bei

Aischylos

Die Vorstellung vom Wirken der Götter, die in den euripideischen Dramen der Herakles-Zeit herrscht, läßt sich am besten in ihrer Eigenart erkennen, wenn man sie von der des Aischylos abhebt. Aischylos ist ebenso wie der Odysseedichter1, wie Hesiod und Solon von dem Bewußtsein beherrscht, daß der Weltzustand unter Zeus den Charakter einer Rechtsordnung hat. Der einzelne Mensch kann durch seine Überhebung diese Ordnung stören, doch Zeus wird sie immer wieder herstellen, um den Preis der Vernichtung des Einzelnen, der sich über die ihm gesetzte Grenze hinaus erhob. Jedem Vergehen folgt die Strafe, wenn sie auch noch so lange auf sich warten ließ. Jedem Fluch folgt die Erfüllung, wenn nicht an den Vätern, so doch an den Söhnen. Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Weltbild des Aischylos also nicht sehr von dem, das hundert Jahre vor ihm Solon in seiner Musenelegie (fr. 1 D.) entworfen hat. Aber bei Aischylos ist das kindliche Vertrauen Solons in die Gerechtigkeit der Zeus und in die Möglichkeit des Ausgleichs unter den Menschen einem unerbittlichen Ernst gewichen. Die Strafe des Zeus kommt nicht wie die Sonne, die durch die Wolken bricht (fr. 1, 17-25), sondern wie ein vernichtendes Unwetter über die Menschen. Solon stand als Verfechter des rechten Mittelmaßes gegen das Zuviel und Zuwenig über den Parteien. Aischylos nimmt als dramatischer Dichter beide Parteien in seine Dichtung auf. Er verschafft Agamemnon Gehör wie Klytaimestra, Aigisthos wie Orestes, Apollon wie den Erinyen. Solon verstand die εύνομίη als Aufhebung aller Spannungen (fr. 3, 32-39). Aischylos weiß, daß die Spannungen in der Welt letztlich unaufhebbar sind, weil sie auf Gegensätze in der Götterwelt zurückgehen. Aber er weiß auch, daß zwi1 Ebenso wie oben 94-107 betrachten wir auch hier die Od. als ein einheitliches Ganzes. Wer Wert auf eine Schichtenscheidung legt, mag das hier Gesagte auf den Dichter der jüngsten Schicht beziehen, von dem daa Epos die uns vorliegende Gestalt erhalten hat. Die Hauptstellen sind α 32-47, ξ 83-84, χ 413-416, ω 351-352. - Vgl. dazu F. Jacoby, Die geistige Physiognomie der Od., Antike 9, 1933, 159-194, vor allem 184-187.

Aischylos - Sophokles' „Aias"

175

sehen den Extremen ein Ausgleich möglich ist, nicht durch ihr Verschwinden auf dem Wege der Vermischung der Gegensätze, sondern durch ihre Zusammenfügung in eine höhere Einheit: έκ των διαφερόντων τήν καλλίστην άρμονίαν (Heraklit Β 8). Mag die Vorstellung des Aischylos gegenüber der Solons auch sehr viel differenzierter und spannungsreicher geworden sein, für beide ist das Geschehen der Welt sinnvoll. Alles, was sich ereignet, so furchtbar es auch sein mag, vollzieht sich gemäß dem Ratschluß der Götter, und es hat einen Sinn, der sich durch das menschliche Denken erfassen läßt. Jede scheinbar heillose Verkettung von Schuld, Strafe und neuer Schuld findet schließlich ihre Lösung, jeder Geschlechterfluch kommt am Ende zur Ruhe. Aischylos schenkt den Göttern das Vertrauen, das sie verdienen, nachdem sie ihm und seinen Mitbürgern bei Marathon und Salamis so sichtbar beigestanden haben.

§ 2. Die früheren Dramen des Sophokles Die aischyleische Vorstellung vom Wirken der Götter liegt auch den Dramen des Sophokles bis hin zum „Oidipus Tyrannos" zugrunde. Aber bei dem jüngeren Dichter hat sich das Schwergewicht des Interesses entscheidend von der göttlichen auf die menschliche Seite des Geschehens verschoben. E r will nicht so sehr zeigen, d a ß der göttliche Ratschluß stets sein Ziel erreicht, sondern vor allem, was dieses Geschehen für die Menschen bedeutet, an denen und durch die es sich vollzieht. Aischylos hätte die Sage von dem Achaierhelden Aias, den Athene zur Strafe für seine Überhebung der Heldenehre beraubt und in den Tod treibt, wohl zu einer Tragödie gestaltet, die dem Zuschauer eindringlich vor Augen geführt hätte, wie rasch der Mensch göttliche Strafe auf sich zieht, wenn er die Grenzen seiner Natur überschreitet. Auf den Zusammenhang von Überhebung und Strafe hinzuweisen, vergißt auch Sophokles nicht. Freilich geht Aias zugrunde, weil er sich überhoben hat, aber gerade in der völligen Vereinsamung seiner letzten Stunden und in seinem Untergang zeigt er sich erst in seiner ganzen heroischen Größe. Dieses Sichtbarwerden der Größe im Untergang, dieses Aufleuchten des Meteors in dem Augenblick, in dem er zu Asche zerfällt, ist das eigentliche Geschehen im frühsophokleischen Drama. Es zu erfassen, reichen die überkommenen Begriffe der aischyleischen Theologie nicht mehr aus, so groß ihre Bedeutung für die Handlungsvoraussetzungen auch jetzt noch bleiben mag. Ähnlich liegen die Dinge auch in den anderen Dramen des Frühwerks. In der Handlung der „Trachinierinnen" offenbart sich die Macht der göttlichen Weissagungen. Denn der Tod des Herakles vollzieht sich

176

Mensch und Gott

genau so u n d genau zu der Stunde, wie es schon längst durch Orakel angekündigt worden war. In der „Antigone" vergeht sich Kreon gegen göttliches Recht und wird hart bestraft. Doch viel mehr als die Schicksale des Herakles u n d Kreon, also der tragischen Helden im aischyleischen Sinne, bewegt den Zuschauer das Los der weiblichen Gegenspieler, der „Nebenrollen" für eine tragische Handlung nach aischyleischer Art, die aber bei Sophokles ins Zentrum rücken. Schließlich offenbaren sich auch im „Oidipus" die Macht des Geschlechterfluches und die Wahrheit der Sprüche Apollons. Doch viel mehr als um die abermalige Bestätigung göttlicher Macht und göttlichen Wissens geht es dem Dichter u m die Darstellung des Menschen, der zum Opfer göttlichen Handelns wird und der zugleich als sein eigener Ankläger und Richter die Sache des Gottes gegen sich selbst führt.

§ 3. Die frühen Dramen des Euripides Euripides wagt es als erster, das spannungsvoll-harmonische Weltbild des Aischylos in Zweifel zu ziehen. Die Dissonanzen empfindet er in unverminderter Schärfe, aber nach der Harmonie sucht er vergebens. Freilich strafen die Götter jeden, der sich überhebt, aber stehen die grausamen Strafen, die sie verhängen, wirklich im rechten Verhältnis zu der Geringfügigkeit der Vergehen, deren sich die Menschen schuldig gemacht haben ? Immer wieder ertönt der Vorwurf gegen die Götter: οργάς πρέπει θεούς ούχ όμοιοϋσ&αι βροτοΐς (Ba. 1348), und immer wieder offenbart das dramatische Geschehen, wie sehr die Götter diesen Vorwurf verdient haben. Schon in den früheren Dramen vernehmen wir diesen Ton. Als Medea das Leben ihrer Kinder bedroht, erhebt der Chor seine Stimme zu Helios, er möge seine Enkelkinder vor dem Tode bewahren (V. 1251— 1260). Doch umsonst, Helios geht seinen Gang wie immer. Ungehindert vollzieht sich das Furchtbare, und nach der T a t entrückt der Gott sogar die Täterin dem Zugriff des Rächers. Vergebens m a h n t im Eingang des „Hippolytos" der Diener Kypris zur σοφία (V. 117-120). Doch trotz seiner Mahnung nimmt das Unheil, das Phaidra u n d Hippolytos vernichtet, seinen Lauf. Artemis betrauert den Tod ihres Freundes, kann ihn aber nicht verhindern, und in seiner Todesstunde m u ß sie ihn verlassen. Denn Tränen zu vergießen (V. 1396), zu leiden und zu sterben, ist allein den Menschen vorbehalten, u n d kein Gott steht ihm dabei zur Seite (V. 1437-1439). Ein einprägsames Bild daf ü r h a t der Dichter in der „Alkestis" gefunden (V. 1-76): Apollon u n d Thanatos begegnen sich auf der Schwelle eines Hauses, in dem gestorben wird. W o der Tod seine Herrschaft antritt, weicht Apollon von hinnen. Ein ähnlicher Vorwurf, wie er im „Hippolytos" gegen K y p r i s

Frühe Dramen des Euripides - „Elektra"

177

erhoben wird, erklingt am Ende der „Andromache" gegen Apollon. Zwar hat sich Neoptolemos gegen den Gott vergangen, aber zwischen der Größe des Vergehens und der Schwere der Strafe besteht auch hier ein Mißverhältnis. Der Gott, dem die Weisheit vor allen anderen eigen ist, hat gegen Neoptolemos wenig weise gehandelt (V. 1161-1165). Wieder erhebt ein Mensch seine Stimme vorwurfsvoll gegen einen Gott, und wiederum muß der Gott schuldbewußt verstummen. In diesem Stück erscheint auch zum ersten Male Orestes, der auf Befehl Apollons zum Muttermörder wurde und jetzt als gestaltgewordener Vorwurf gegen den Gott heimatlos durch Griechenland irrt.

§ 4. „Eleldra", „Herakles",

„Troerinnen"

Einige Jahre nach der „Andromache" begegnet uns Orestes wieder in der „Elektra". Hier erhebt er selbst seine Anklage gegen Apollon, diesmal unmittelbar vor der verhängnisvollen Tat. Er bezichtigt den Gott, der ihm einen solchen Befehl gab, der άμαθία, doch Elektra vertraut auf die Weisheit des Spruches, den der Gott der Weisheit gegeben h a t : δπου δ' 'Απόλλων σκαιδς f¡, τίνες σοφοί; (V. 971-972). Nach der Tat zeigt sich, daß sie zu Unrecht vertraut hat. Wohl ist Klytaimestra Recht geschehen, aber durch die Hand des Sohnes hätte sie nicht sterben dürfen. Der Vorwurf der άμαθία trifft den Gott mit Recht. Ähnlich wie im „Hippolytos" löst auch hier die Göttererscheinung am Schluß die Dissonanz nicht auf. Denn die Dioskuren, die als Götter über den Verdacht menschlicher Kurzsichtigkeit erhaben sind, verkünden das gleiche Urteil über den Spruch Apollons : σοφός δ* ών ούκ Ιχρησέ σοι σοφά. (V. 1246) Auch in dem, wie wir meinen, bald nach der „Elektra" aufgeführten „Herakles" muß sich ein Gott den Vorwurf der άμαθία gefallen lassen. Als es sich gezeigt hat, daß Amphitryon, Megara und die Kinder des Herakles sich vergebens in den Schutz des Altares geflüchtet haben, da Lykos ihr Asyl nicht achten wird, bleibt ihnen nichts, als sich auf den nahen Tod vorzubereiten. Voll Bitterkeit betet Amphitryon zu Zeus, den er so oft vergeblich angerufen hat, und schließt mit den Worten : άμαθης τις εΐ θεός, ή δίκαιος ούκ Ιφυς. Bald darauf sagt er zum Chor : άλλ', ώ γέροντες, μικρά μέν τά του βίου, τούτον δ' δπως ήδιστα διαπεράσετε, έξ ήμέρας ές νύκτα μή λυπούμενοι. ώς έλπίδας μέν ó χρόνος ούκ έπίσταται σώζειν, τά δ' αύτοϋ σπουδάσας διέπτατο. 12

8089

Matthiessen

(V. 347)

(V. 503-507)

178

Mensch und Gott

Nicht das Erhoffte und Erflehte geschieht in der Welt, sondern fühllos geht die Zeit ihren Weg und sorgt nur für sich. Amphitryon sieht im Weltgeschehen keinen Sinn, der menschlichem Denken zugänglich wäre. Darauf, daß Zeus das Recht in der Welt aufrechterhält, soll man nicht vertrauen. Nicht er, sondern τύχη bestimmt das Schicksal der Menschen. Eine radikalere Absage an die aischyleische Weltvorstellung läßt sich kaum denken als diese Worte. Freilich hatte lokaste im „Oidipus" nicht viel anders gesprochen : τί δ' αν φοβοϊτ' άνθρωπος ω τά της τύχης κρατεί, πρόνοια δ' εστίν ούδενός σαφής ; εική κράτιστον ζην, δπως δύναιτό τις. (V. 9 7 7 - 9 7 9 )

Aber dort erwies sich schon wenige Augenblicke später die schreckliche Macht des delphischen Gottes. Auch im „Herakles" scheinen die bitteren Worte Amphitryons so zu wirken wie die Iokastes, nämlich als eine Herausforderung an den Gott, seine Macht zu beweisen. Kaum hat Amphitryon seine Rede beendet, erscheint Herakles und befreit die Bedrängten. Lykos wird vom Verfolger zum Verfolgten. Jubelnd singt der Chor : τις ó θεούς άνομία χραίνων, θνητός ών, άφρονα λόγον ούρανίων μακάρων κατέβαλ', ώς άρ' ού σθένουσιν θεοί;

(V. 7 5 7 - 7 5 9 )

θεοί θεοί των άδικων μέλουσι και των οσίων έπάειν.

(V. 7 7 2 - 7 7 3 )

Herrlich haben die Götter offenbart, daß sie es sind, die die Macht in den Händen halten und das Recht in der Welt durchsetzen. Die bitteren Worte Amphitryons sind verweht. Das Geschehen der Welt gehorcht nicht der Willkür der τύχη, sondern Zeus, der glänzend bewiesen hat, daß er nicht αμαθής, sondern δίκαιος ist. Ein einziger Augenblick wischt dieses lichte Gemälde hinweg. Göttliche Wirklichkeit ist anders als menschliches Meinen über die Götter. Herakles, eben noch der umjubelte Retter, wird jetzt zum rasenden Mörder derer, die er gerettet hatte, und dieses Furchtbare geschieht nach dem Willen Heras. Kein Vorwurf erhebt sich gegen sie, niemand bezichtigt sie der άμαθία. Herakles selbst, der doch gerade bitter erfahren mußte, wie sehr die Götter in ihrer Willkür den Menschen gleichen, sucht an einer reineren Vorstellung vom Wesen des Göttlichen festzuhalten : έγώ δε τούς θεούς ούτε λέκτρ' ά μη θέμις στέργειν νομίζω, δεσμά τ' έξάπτειν χεροΐν οΰτ' ήξίωσα πώποτ' ούτε πείσομαι,

„Herakles" - „Troerinnen"

179

ούδ' άλλον άλλου δεσπότην πεφυκέναι. δεϊται γάρ ó θεός, είπερ εστ' ορθώς θεός, ούδένος· άοιδών οίδε δύστηνοι λόγοι. (V. 1341-1346) 1 Aber wenn die Menschen auch schweigen, das dramatische Geschehen spricht eine um so deutlichere Sprache. Wohl herrscht nicht τύχη in der Welt, sondern der Wille der Götter, doch was der Sinn in ihrem Handeln ist, sucht der Mensch vergeblich zu ergründen. Von ähnlicher Bitterkeit gegen die Götter ist die troische Trilogie erfüllt, von der uns vollständig nur die „Troerinnen" überliefert sind2. Auch hier bricht mit dem Willen der Götter ein unheilvolles Geschick über die Menschen herein. Und auch hier wenden sich die Götter von den Leidenden ab, diesmal von einer ganzen Stadt, die am Boden liegt. Angesichts der Trümmer Troias sagt Poseidon : έγώ δέ — νικώμαι γάρ Άργείας θεοϋ "Ηρας Άθάνας θ', αϊ συνεξεΐλον Φρύγας λείπω τό κλεινόν "Ιλιον βωμούς τ' έμούς" έρημία γάρ πόλιν δταν λάβη κακή, νοσεί τά των θεών ούδέ τιμασθαι θέλει. (V. 23—27) Für die Besiegten ist es ein geringer Trost, daß auch die Sieger in das Verderben hineingezogen werden, Troia wird dadurch nicht wieder aufgerichtet. In einer bitteren Szene wird Helena ihrer Schuld am Untergang Troias überführt, aber jeder weiß, daß diesem Schuldspruch niemals eine Bestrafung folgen wird. In den „Troerinnen" bleibt der leidende Mensch bar aller göttlichen Hilfe. Die einzige Haltung, die 1 Wir sind n a c h wie vor nicht der Ansicht, d a ß Leaky (Trag. Dicht. 179, vgl, auch Gymnasium 67, 1960, 12, A Ö H G 14, 1961, 25) diese Verse richtig deutet, wenn er sie m i t der euripideischen Ansicht einfach gleichsetzt. Eur. zwingt noch nicht wie später P i a t o n eine philosophische Doktrin zu der Annahme, d a ß die Götter als Verkörperung des Guten Ursache n u r des Guten sein könnten (vgl. PI. R e p . 379), sondern sie sind f ü r ihn wie in den Mythen, die er gestaltet, und wie im Volksglauben souverän waltende personale Mächte, die sich wenig d a r u m k ü m m e r n , ob sie den Menschen R e c h t oder Unrecht, Glück oder Leid zufügen. Der Unterschied der Theologie des E u r . zu derjenigen des Aisch. besteht nicht darin, daß er von der Macht der Götter eine geringere Meinimg h ä t t e als Aisch., sondern darin, d a ß das Vertrauen in die segensreiche Lenkung des irdischen Geschehens durch die Götter, wie es Aisch. besaß, bei E u r . nicht mehr tingebrochen wirksam ist u n d d a ß bei ihm die uralte pessimistische Weltauffassung wieder stärker wird. E u r . zeigt d u r c h die H a n d l u n g des Her. deutlich genug, d a ß die philosophische Götterkritik des Herakles in den Bahnen des Xenophanes (fr. 10-12, 19-22 D.) gegenüber der göttlichen Wirklichkeit ebenso unzulänglich bleibt wie die naive Theodizee des Chores (V. 772-773). Wie sich das Wesen der Götter jedem Zugriff des menschlichen Verstandes entzieht, zeigen auch die Ba., wo der allegorisierende Erklärungsversuch des Teiresiae (V. 272—285) in ähnlicher Weise zu kurz greift wie hier die W o r t e des Herakles. s Vgl. die eindringliche I n t e r p r e t a t i o n der Tro. bei Murray, Greek Studies 142-148.

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Mensch und Gott

ihm dem furchtbaren Geschehen gegenüber möglich ist, ist demütige Ergebung : δμως δέ πρόφερε πόδα σον έπί πλάτας 'Αχαιών.

(V. 1 3 3 1 - 1 3 3 2 )

„Elektra", „Herakles" und „Troerinnen" schließen sich darin zu einer Gruppe zusammen, daß in allen drei Stücken nicht τύχη, sondern der Wille der Götter das Geschehen in der Menschenwelt bestimmt, daß aber dieser Wille in der Welt nicht weniger Unglück als Segen bewirkt. Der Rechtsbrecher wird bestraft, aber auch der Gerechte geht zugrunde. Das Sinnvolle geschieht, aber im gleichen Augenblick durchkreuzt ein neues, sinnloses Geschehen, das ebenfalls von den Göttern ausgeht, die Taten des Zeus, welche die Rechtsordnung wiederhergestellt hatten. Preis der Götter und bitterer Vorwurf wechseln miteinander, und es sieht so aus, als wenn der Vorwurf stets das letzte Wort behielte. § 5. ,,Iphigenie", „Ion", „Helena" Auch in der „Iphigenie" vernehmen wir zunächst die gleichen Töne wie in der „Andromache" und der „Elektra", wo Apollon wegen seines unweisen Handelns getadelt wurde. Hier ruft Orestes voll Bitterkeit aus : ή μας δ* ó Φοΐβος μάντις ών έψεύσατο.

(V. 711)

Sein Leben ist ein einziger Vorwurf an den Gott, ω πάντ' έγώ δούς τάμά και πεισθείς λόγοις, μητέρα κατακτάς αύτος άνταπόλλυμαι. ( V . 714—715)

Aber in den früheren Dramen war der Vorwurf an den Gott das letzte Wort der Tragödie, während hier, in ähnlicher Weise wie im „Oidipus", der Gott gerade in dem Augenblick, als seine Sprüche eindeutig widerlegt zu sein scheinen, seine Macht am sichtbarsten beweist. Der Ausgang des Stückes bestätigt glänzend die Wahrheit der Sprüche Apollons. Er rettet seinen Schützling Orestes aus größter Bedrängnis und befreit ihn endgültig von den Erinyen. Er gibt ihm die totgeglaubte Schwester zurück und bewirkt, daß seine eigene Schwester Artemis statt des blutigen Kultes der Taurer vom Volk der Athener eine reinere Verehrung empfängt. Auch im „Ion" ertönen zunächst harte Vorwürfe gegen Apollon. Ion macht dem Gott freundlich-mahnende Vorhaltungen (V. 436-451), Kreusa klagt ihn leidenschaftlich an (V. 881-922). Aber ebenso wie in der „Iphigenie" behält nicht die Klage des Menschen das letzte Wort. Der Gott beweist, daß er die verlassene Geliebte nicht vergaß und daß er für seinen Sohn trefflich zu sorgen versteht. Es hat also den Anschein, als wenn der Dichter in diesen Dramen das aischyleische Vertrauen zu den Göttern wiedergewonnen hätte.

.Iphigenie" - „Ion'

181

Nicht τύχη wirkt in der Welt, sondern die Götter. Ihr Wille und ihre Macht, schließlich alles zum Guten zu lenken, offenbaren sich immer wieder. Nur solange die Menschen noch nicht das Ziel des göttlichen Handelns erkannt haben, meinen sie, τύχη (Iph. 475-478, Ion 15121518) und ταραγμός (Iph. 572) beherrschten die Welt1. Und doch ist die Welt in diesen Dramen nicht so wohlgeordnet, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Denn zwar lenkt der Gott das Geschehen zu einem guten Ausgang, aber zuvor bleibt den Menschen der Durchgang durch das tiefste Leid, durch Verlassenheit und Todesnot nicht erspart. Die göttliche Hilfe kommt, aber immer kommt sie spät, und auch noch in den Jubelszenen nach der Vereinigung spürt man, daß in die Züge einer Iphigenie, eines Orestes und einer Kreusa das Leid tiefere Spuren gegraben hat, als daß sie sich je wieder glätten ließen. Auch hier ist das Leid das Vorrecht des Menschen gegenüber den Göttern. Wie sehr das menschliche Leid Apollon fremd ist, zeigt sich am deutlichsten im „Ion", wo die Pläne des Gottes in Verwirrung geraten, weil er in seine Berechnungen einzusetzen vergessen hat, daß aus übergroßem Leid wilder Haß entstehen kann, der zu den schrecklichsten Taten fähig macht (V. 1563-1568). Das Leid, das in den von dumpfer Verzweiflung erfüllten Worten des Orestes und in den melodischen Klagen Iphigenies und Kreusas aufbricht und das selbst durch den glücklichen Ausgang nicht hinweggetilgt werden kann, ist es auch, das die beiden Dramen zu „Tragödien" im strengen Sinne der modernen Poetik macht 2 . „Ion" und „Iphigenie" stimmen darin überein, daß zwar, wie der Ausgang beweist, der Sinn des Wirkens der Götter in der Welt auch dem menschlichen Verstände zugänglich ist, daß aber zwischen göttlichem Sinn und menschlichen Leid eine Kluft besteht, die niemals völlig geschlossen werden kann. In der „Helena" aber entzieht sich der Sinn des Weltgeschehens vollends dem menschlichen Blick. Der Hintergrund dieses Dramas sind die leidvollen Ereignisse des Krieges um Troia, geführt um ein Luftgebilde. Helena wird zwar von den Göttern vor körperlichem Leid bewahrt, aber sie wird dadurch in die tiefste Not gestürzt, daß ihr Name mit Schande bedeckt wird. Auch in der „Helena" führen die Götter schließlich wieder zusammen, was sie einst trennten. Aber sie können weder Helenas Leiden noch die des Heeres vor Troia ungeschehen machen. Weder Leda erwacht wieder zum Leben noch die ungezählten Gefallenen. Über den Sinn der 1 Zum Problem der τύχη bei Eur. vgl. jetzt Spira 132-138. Doch muß gegenüber Spira betont werden, daß sich in der Hei. anders als in Iph. und Ion die Geschehnisse des Dramas nicht auf einen festumrissenen Plan eines bestimmten Gottes zurückführen lassen. 2 Die häufig geäußerte Meinimg, die Iph. sei ein „untragisches" Stück (Platnauer V, Rivier 133, Lesky, Trag. Dicht. 185) teilen wir nicht.

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Mensch und Gott

Geschehnisse, die Leid über so viele Menschen brachten, hören wir die verschiedensten Aussagen. Dabei bleibt aber völlig ungewiß, welcher der genannten Gründe die letzte Ursache ist, auf die sich alle anderen zurückführen lassen. War das Geschehene die Folge eines Streites zwischen Hera und Kypris, wollte Zeus die Erde von Menschen entlasten und den Ruhm des Achilleus mehren ? Oder hat sich Helena etwa gegen die große Göttermutter vergangen ? Der Dichter unternimmt nicht einmal den Versuch, diese Gründe gegeneinander abzuwägen. Die leidenschaftlichen Anklagen gegen die Götter, wie wir sie zum letzten Male im „Ion" vernahmen, fehlen hier völlig. Jeder Versuch, das Handeln der Götter zu rechtfertigen oder zu verstehen, scheint vergeblich zu sein. Nach der Erkennungsszene spricht der alte Bootsmann zu Helena : ώ θύγατερ, ó θεός ώς Ιφυ τι ποικίλον και δυστέκμαρτον. ευ δέ πως πάντα στρέφει έκεΐσε κάκεΐσ' άναφέρων δ μέν πονεΐ, δ δ' ού πονήσας αύθις ολλυται κακώς, βέβαιον ούδέν της άεί τύχης εχων. (V. 711-715) Dies ist die einzige Stelle in den erhaltenen Tragödien des Euripides, wo unwidersprochen und unwiderlegt durch die Handlung der Gedanke zum Ausdruck kommt, daß sich die menschlichen Schicksale jeder sinnvollen Deutung entziehen 1 . Zwar entscheiden immer noch die olympischen Götter über Glück und Leid der Menschen, aber da die Frage nach den Gründen des göttlichen Handelns nicht mehr beantwortet, ja nicht einmal mehr gestellt wird, beginnt es gleichgültig zu werden, ob der Mensch ein Spielball in der Hand der Götter oder des blinden Ungefähr ist. Τύχη ist es, was dem Menschen von den Göttern widerfährt, und nicht zu verstehen gilt es sie, sondern zu ertragen. Wenn aber der Mensch wie in der „Helena" seine Schicksale als τύχη erfährt und hinnimmt und es unterläßt, mit seinen Gedanken weiter erkennend und deutend vorzudringen, ist der Bereich der Tragödie verlassen. Denn daß die Frage nach dem Zusammenhang von göttlichem Willen und menschlichen Schicksal zumindest gestellt wird, ist konstitutiv für die Tragödie. „Ihre eigentliche Wurzel liegt dort, wo die göttliche Existenz abgründig, rätselhaft, problematisch geworden ist, der Mensch aber sein eigenes Dasein dennoch in der gewollten oder ungewollten Abhängigkeit von den göttlichen Mächten erlebt." 2 Diese Worte, welche die Eigenart des tragischen Weltverständnisses gegenüber dem christlichen zu bestimmen suchen, lassen sich auch auf das Verhältnis von Tragödie und τύχη-Gläubigkeit anwenden. So sehr 1 Ion 1512-1517, die Stelle, die gewöhnlich als Beispiel für die τύχη-Gläubigkeit des Eur. dieser Jahre gilt, ist dort nicht das letzte Wort. Denn das Schluflwort Athenes gibt dem Geschehen wieder eine sinnvolle Deutung. 2 Β. v. Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel 4 , Hamburg 1958,

14.

„Helena": - Τύχη

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die völlige Heilsgewißheit des Christen und der Gleichmut dessen, der sich der Willkür der τύχη ausgesetzt weiß, auch verschieden sein mögen, gemeinsam ist beiden, daß die Tragödie ihnen fremd bleiben muß. Daß zu einer Zeit, wo sich göttlicher Wille und göttliches Handeln derart ins Unbestimmbare verlieren, auch die Seherkunst ihren Sinn verliert, ist nicht verwunderlich. Darum kann an der eben zitierten Stelle der Bootsmann die Frage stellen : τί δη τα μαντευόμεθα ; τοις θεοϊσι χρή θύοντας αίτεΐν άγαθά, μαντείας 8' έδν γνώμη δ' άριστη μάντις ή τ' ευβουλία.

(V. 753—757)

Und der Chor kann bestätigen :

τούς 8-εούς έχων τις αν φίλους άρίστην μαντικήν Ιχοι δόμοις. (V. 759—760)

Da das Erkennen der göttlichen Pläne den Menschen offenbar nicht mehr hilft, den Sinn ihrer eigenen Schicksale zu ergründen, können sie nunmehr darauf verzichten, diese Pläne zu erforschen. Sie müssen sich darauf beschränken, ihren eigenen Bereich so weit wie möglich sinnvoll zu ordnen. Durch kluges, frommes und gerechtes Handeln können sie versuchen, sich die Götter geneigt zu machen, im übrigen jedoch müssen sie sich mit dem zufrieden geben, was ihnen von den Göttern als τύχη zuteil wird. Am Anfang der großen Tragödie des fünften Jahrhunderts stand das Vertrauen des Aischylos darauf, daß sich das Weltgeschehen trotz allen Leides und trotz aller Dissonanzen als sinnvoll verstehen lasse. An ihrem Ende steht die Resignation des Euripides der „Helena". Auf das Scheitern der Theodizee in „Elektra" und „Herakles", auf den nur scheinbaren abermaligen Triumph des Theodizeedenkens in „Iphigenie" und „Ion", folgt jetzt der völlige Verzicht auf die Theodizee. Nicht von den Göttern soll man den Sinn im menschlichen Leben erwarten, sondern umgekehrt : wer rechtschaffen lebt und auf diese Weise sein Leben sinnvoll ordnet, kann hoffen (mehr nicht!), daß ihm die Götter ihren Beistand nicht versagen werden. An die Stelle der Theodizee tritt die Ethik. Nirgends bei Euripides sind wir der gleichzeitigen Philosophie so nahe wie in der „Helena". Die bescheidenen und nüchternen Gebote, die der Dichter hier durch den Mund des Bootsmannes und des Chores verkündigt - Erfüllung der religiösen Pflichten, γνώμη, ευβουλία und daraus folgende θεοφιλία - würden uns auch im Munde eines Protagoras und Sokrates nicht befremden1. 1 Bei Plato tritt der Sophist Protagoras mit dem Anspruch auf, die εύβουλία περί των οικείων. . ,καίπερί της πόλεως lehren zu können (Prot. 318e δ). Im „ S t a a t " ist die ευβουλία die spezifische έπιστήμη des Wächterstandes (428b). Θεοφιλία ist bei Plato (Rep. 612e 5) der Lohn des Gerechten. Daß das τούς θεούς φίλους έχειν

184

Mensch und Gott

Kurzum, es empfiehlt sich nicht, „Elektra", „Iphigenie", „Ion" und „Helena" mit Solmsen als τύχη-Tragödien zusammenzufassen. Welcher Ort der „Elektra" im Werk des Dichters zukommt, dürfte hinlänglich erläutert worden sein. „Iphigenie" und „Ion" lassen sich als echte Tragödien im strengen Sinn der modernen Poetik bezeichnen, sind also keine τύχη-Dramen. Die „Helena" ist ein Stück ,sui generis', weniger eine Tragödie als vielmehr ein gedankenreiches, ernstes „Lustspiel", auf das sich der Begriff des τύχη-Dramas nur unter gewissen Einschränkungen anwenden läßt1. Denn auch hier bestimmt nicht der Zufall die Handlung, sondern es regieren noch immer die olympischen Götter. Doch da die Frage nach dem Sinn ihres Handelns unterbleibt, entsteht jener eigentümliche Schwebezustand zwischen dem tiefen Ernst der Tragödie und der ironischen Gelassenheit der Neuen Komödie, der eine angemessene Beurteilung des Stückes so schwer macht. Wer sich von ihm eine tragische Katharsis erhofft, wird ebenso enttäuscht wie alle die, welche Gelegenheit zu einem herzhaften homerischen oder aristophanischen Lachen suchen. Für eine Komödie, ja nur ein Lustspiel, bleibt die Ironie zu sehr am Rande. Die Heiterkeit, die bisweilen aufkommt, ist leicht und flüchtig, ein Lächeln mehr als ein Lachen. Und über Helena selbst auch nur zu lächeln, verwehrt die Tiefe ihres Leides. Aber auch eine Tragödie im strengen Sinne ist die „Helena" keineswegs. Schon dem Stoff, dieser späten, etwas gar zu künstlich ersonnenen Fassung der Helenasage, fehlt so ganz die klare Bildhaftigkeit der anderen griechischen Sagen. Helenas Leid ist so subtiler Art, daß die Heldin für uns ähnlich schattenhaft bleibt wie ihr εΐδωλον. Vor allem aber sind trotz Theonoe und trotz der Dioskuren die Menschen ganz die Folge der γνώμη und ευβουλία ist, muß als Zwischengedanke in Hei. 759-760 ergänzt werden. - Auch an anderen Stellen des Dramas spüren wir die Nähe zu Sokrates. Theonoe beruft sich bei ihrem Schiedaspruch über die Ansprüche des Menelaos und Theoklymenos, auf eine neue und unerhörte Instanz: ένεστι δ' ιερόν της Δίκης έμοί μέγα | έν τη φύσει· καΐ τοϋτο Νηρέως πάρα | ίχουσα σωζειν . . . πειράσομαι (V. 1002-1004). Das läßt an Sokrates und sein δαιμόνιον denken. Wie sehr sowohl Eur. als auch Sokrates sich bewußt sind, daß sie neue Dimensionen der Seele entdecken, zeigt sich daran, daß sie ihre Entdeckung noch nicht zu verallgemeinern wagen. Theonoe besitzt dieses Ιερόν, weil sie eine Enkelin des Nereus ist, und auch Sokrates betont, daß er sich durch seine innere Stimme von den anderen Menschen unterscheidet. - D a s Verhalten des Menelaos in seinem Monolog V. 483-514 ist die beste Illustration des Menschen, der οϊεταί τι είδέναι ούκ είδώς (Plat. Αρ. 21 d 5), die sich nur wünschen läßt. 1 Vgl. jetzt dazu vor allem Zuntz (Hei.), ferner Pippin (154), die das Stück sehr schön mit „Maß für Maß" und dem „Wintermärchen" vergleicht und beschreibt, welche Wirkungen der Dichter erzielt, indem er immer wieder Schein und Wirklichkeit kontrastieren läßt. Ablehnen müssen wir freilich ihre Interpretation des Chorliedes V. 1301-1368 (155-156). Wir werden uns bei diesem Lied wohl weiter mit dem Eingeständnis unseres Nichtwissens bescheiden müssen.

Τύχη - Bedeutung der Freundschaft

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unter sich, und die göttlichen Mitspieler bleiben aus. Echte Tragödie aber ist niemals nur ein Spiel zwischen Mensch und Mensch, sondern immer auch ein Geschehen zwischen Mensch und Gott. Euripides scheint selbst gespürt zu haben, daß er mit seiner „Helena" im Begriff war, den Boden der Tragödie zu verlassen1. Denn ähnliches hat er, wie es scheint, später nicht wieder gewagt. Im „Orestes" und der „Antiope" jedenfalls läßt er die Handlung ähnlich verlaufen wie früher in der „Iphigenie" und im „Ion". Ähnlich wie dort wissen auch hier die Götter schließlich einen glücklichen und versöhnlichen Ausgang herbeizuführen. Im Mittelpunkt steht freilich auch hier nicht die Versöhnimg, sondern das Leid : die Qualen der gemarterten Antiope, der die eigenen Söhne aus άγνοια den Beistand versagen, und die Not der Kinder Agamemnons, die von allen Helfern verlassen sind und dem sicheren Tod ins Auge sehen, weil sie dem Befehl Apollons gehorsam waren. Von der Macht der Götter und der Ohnmacht der Menschen handeln schließlich auch die „Bakchen". Aber auch sie sind alles andere als ein Bekenntnis des altgewordenen Dichters zur schlichten Frömmigkeit des Volkes. Denn zwar offenbart der Ausgang der Tragödie glänzend die Macht des Gottes, zu dessen Ehren die tragischen Spiele aufgeführt wurden. Aber nicht anders als im „Hippolytos" und der „Andromache" besteht auch hier zwischen der Größe des Vergehens und der Schwere der Strafe ein schreiendes Mißverhältnis. Wie in den früheren Stücken macht auch hier ein Mensch dem Gotte Vorhaltungen : δργάς πρέπει θεούς ούχ όμοιοϋσθαι βροτοϊς. (V. 1348) Aber vergebens. So groß wie die Macht des Dionysos ist auch sein Zorn, und Zeus selbst hat ihm Gewalt gegeben, die Verächter seiner Gaben schrecklich zu vernichten.

§ 6. Die Bedeutung der Freundschaft in der „Elektro,", dem „Herakles" und der „Taurischen Iphigenie" Mit dem Schwinden des Vertrauens in die weise Lenkung der menschlichen Schicksale durch die Götter, wie wir es in den euripideischen Dramen dieser Zeit beobachten konnten, hängt die zunehmende Wertschätzung der Freundschaft zwischen Mensch und Mensch eng zusammen. Da die Götter die Menschen in ihrer Not allein lassen, müssen die Menschen sich untereinander nur um so fester zusammenschließen. Im „Herakles" spricht Theseus diesen Gedanken prägnant aus: 1 Eine ähnliche Stimmung wie in der Hei. scheint auch in der gleichzeitig aufgeführten Andromeda geherrscht zu haben.

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Mensch und Gott νϋν γάρ εΐ χρεΐος φίλων, θεοί δ'όταν τιμώσιν, ουδέν δει φίλων" άλις γάρ ó θεός ώφελών, όταν θ έ λ η .

(V. 1 3 3 7 - 1 3 3 9 ) 1

Gerade am „Herakles" läßt sich ablesen, welche große Bedeutung Euripides der Freundschaft zumißt, besonders wenn man den „Aias", an den der „Herakles" deutlich erkennbar anknüpft, zum Vergleich heranzieht2. Für Aias bleibt aus der Schande nur der Tod als einziger Ausweg. Herakles' Leben dagegen, das durch die Blutschuld noch viel schwerer zerstört ist, läßt sich wieder heilen, als ein treuer Freund ihm zur Seite tritt. In der Behandlung des Problems, was einen Menschen im tiefsten Unglück aufrecht zu erhalten vermag, und ihn von der Tat eines Aias und einer Phaidra abhalten kann, bedeutet der „Herakles" einen Schritt über die „Elektra" hinaus. Dort muß Orestes noch ohne Beistand eines Freundes auf seine Irrfahrt gehen, während Herakles in seiner tiefen Verzweiflung durch einen treuen Freund aufgerichtet wird. In der „Iphigenie" schließlich zeigt der Dichter ein Freundespaar ,in actu', das sich in der höchsten Not bewährt und mit Iphigenie zu einer Dreiergruppe zusammentritt, wie sie sich ähnlich auch wieder im „Orestes" herausbildet. Freilich ist hier wie überall mit dem Gewinn, den die Einführung des Motivs der Freundschaft in die Tragödie bedeutet, notwendig auch an anderer Stelle ein gewisser Verlust verbunden. Eine Lösung wie die von Euripides im „Herakles" gefundene lag noch nicht im Bereich der Möglichkeiten des frühen Sophokles. Dais Ethos seiner Heldengestalten dieser Zeit ist nicht so beschaffen, daß es sich beugen und wieder aufrichten ließe. Für sie gibt es nur Stehenbleiben oder Brechen. Aber gerade darin, daß Aias keinem Zuspruch zugänglich ist, offenbart sich seine unbedingte Geradheit am allermeisten (V. 594-595). Herakles mag „menschlicher" als Aias sein, Aias aber ist „größer". In dem Augenblick, als die Gestalten der frühsophokleischen Tragödie aus allen menschlichen Bindungen herausgelöst und nur auf sich allein gestellt ihrem Schicksal gegenübertreten, wird ihre Größe am deutlichsten sichtbar. Demgegenüber bedeutet die Entdeckung der Dimension der Freundschaft durch Euripides für die Tragödie einen Gewinn an „Menschlichkeit", aber einen Verlust an heroischer Größe. 1 Vgl. auch Or. 665-668 : τους φίλους | έν τοις κακοΐς χρή τοις φίλοισιν ώφελεϊν· | δταν 8' ό δαίμων εύ διδω, τί δει φίλων; | άρκεΐ γάρ αύτός ό θεός ώφελεϊν θέλων. 2 Vgl. Lesky, Trag. Dicht. 179 Α. 2. - Die Ähnlichkeiten sind zu groß, als daß sich eine Bezugnahme des Eur. auf den Ai. bestreiten ließe. Man sollte auch nicht die Unterschiede in der Weise der Bewältigung des Leides allein mit der Verschiedenartigkeit der Sagengestalten erklären (so Zürcher 106). Denn es ist kein Zufall, daß der frühe Soph, den Stoff des Ai. wählte, der reife Eur. dagegen den des Her.

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Werk- und Stellenregister Aeschvlus Ag."

Ag. 475-492 548 908-949 973-974 1072-1330 1085-1094 1343-1346 1347-1371 1377-1392 Cho. Cho. 166-211 212-245 235 552-553 581-582 674-690 734-763 766-782 838-1006 892-930 900-902 904-907 935-961 981 1063-1064

Eum. Eum. 752-753 Pers. Prom. Vinctus Prom. Solutus Sept. Suppl.

Aristophanes Av. 862-1057 Gerytades fr. 168 Nub. 534 Ran. 354 Pax 1017-1022

92 A. 2. 111 A. 1, 146-147 109 Α. 1 45 A. 2 146-147, 160 49 A. 5 147 159 147, 157, 159 147, 155, 157 147 76-77, 92 A. 2, 93 A. 2, 111 A. 1 108-110, 116 110-111 135 A. 1 45 A. 5 45 A. 5 113 113 148 148 148-149, 151, 159 33 A. 1 86 148, 157 42 A. 1 59 A. 3 111 A. 1 59 A. 2 145-146 20 A. 2, 22 A. 1, 92 A. 2 92 A. 2 146 146 u. A. 1 144 Α. 3 63 Α. 3 63 Α. 3 49 Α. 4 144 Α. 3

Euripides Aegeus Ale. 1-76 880-888

1159-1163 Alcmaeon Psoph. Alexander Andr. 1-116 91-102 103-116 183-231 307-746 605-609 841-865 1031-1036 1161-1165 1226-1283 1284-1288 Andromeda Antiope Ba. Ba. 64-71 272-285 576-603 604-641 1330-1387 1348 1388-1392 Cresphontes

Cycl. Cyel. 179-186 203-252 280-284 599-607 Dictys El.

El. 1-1 i l

112 A . 1, 126

A. 3, 139 176 152 A. 2 59 A. 3 45 A. 6 125-127, 139-142 20 A. 2, 24 30 A. 2 21 A. 4, 30 A. 2, 115 20 A. 2, 24 34 A. 1 34 A. 1 171 81 A. 6 177 58 A. 1, 78 59 A. 3 185 A. 1 42 A. 2, 58 A. 1, 164-166, 185 62 A. 2, 185 29 A. 3 179 A. 1 172 A. 1 49 A. 3 58 A. 1 176, 185 59 A. 3 24, 84, 111-114, 116 A. 3, 120, 123-127, 128 A. 1 91-92, 171 91 A. 3 50 A. 2 91 A. 3 42 A. 2 126 A. 3 66-88, 119-125, 140 A. 1, 161163, 167-172, 177 75-76

Werk- und Stellenregister 1-338 49 54-63 54-81 64-81 67-70 82-111 107-109 112-166 112-214 115-124 125-126 150-156 169-174 213-214 215-338 215-431 272-273 285-287 300-338 404-431 409—412 432—486 487-502 487-546 487-698 518-546 547-595 578-581 585-589 623 651-670 671-682 699-746 708 715 747-1146 876-878 962-987 988 998-1003 998-1146 1011-1096 1018-1023 1065 1139-1146 1144-1145

64 83 21 A. 3 20 A. 2, 24-25, 83 84 A. 2 71 24, 120-121 83 30 A. 2 20 A. 2, 24-25, 75-76 120-121 172 172 83 34 Α. 1 120-121 74-76, 75 A. 2 45 A. 3 83, 121-122 20 A. 2, 21 A. 6, 24-25, 84 u. A. 2 84 A. 2 83 68 A. 4, 76, 172 u. A. 2 84 A. 2 121-123 75-76 63 A. 3 123-125 135-136 83 85 83 42 A. 2 68 A. 4, 70, 76, 172 u.A. 2 u. 3 63 A. 3 63 A. 3 75-76 83 80, 121 Α. 1 84 83 161-162 71-73, 87-88 28 A. 2 34 Α. 1 80 A. 2, 161-162 86

1147-1171 1148-1149 1172-1232 1172-1359 1238-1359 1252-1253 1258-1263 1268-1269 1278-1283 1298-1300 1347-1356 1357 Hec. 59-97 59-215 177-196 629-634 681-720 736-904 943-952 953-1022 1024-1034 1035-1038 1056-1108 1145-1175 1259-1281 1295 Hei.

Hei. 1-67 1-163 164-254 191-228 255-385 282-283 330-361 330-385 362-385 386-514 515-527 528-624 528-1106 556 625-699

700-760 753-760

80 A. 2, 162, 172 83 163 75-76 58 A. 1, 70 A. 5 70 70 59 A. 2, 70 67 60 A. 2 66-68 59 A. 3 21 A. 4, 30 A. 2 20 A. 2, 115 21 A. 7, 171 31 Α. 1 171 156 34 Α. 1 156-157, 160-161 152 A. 4, 157, 159 157, 159 31 A. 3, 171 158 58 Α. 1 59 A. 3 16-63, 93 A. 2, 131-138, 181-185 20 A. 2 23, 25-28 19, 20 A. 2, 23, 28-32 27 Α. 1 20 A. 2, 23, 35-38 27 Α. 1 172 Α. 1 21 A. 7, 23 172 Α. 1 23, 32-35, 116 A. 3 19, 40 40, 131-134 19 136 Α. 1 40, 134-138, 142-143, 172 Α. 1 40, 134-135, 142 183 u. Α. 1

Werk- u n d Stellenregister 761-1106 805-814 857-1031 1035-1049 1093-1106 1107-1164 1165-1300 1193-1300 1220 1301-1368 1369-1450 1387-1389 1441-1450 1451-1511 1512-1641 1621-1641 1642-1692 1688-1692 Her.

Her. 1-347 348-700 701-733 701-762 726-756 763-814 815-1015 855-873 875-921 887-1015 1016-1038 1028-1152 1039-1428 1042-1087 1153-1428 1178-1213 1337-1339 1341-1346 Hipp. Hipp. 117-120 565-731 569-595 710-714 732-775 776-789 790-898 866-884 925-931 1282-1443 13

8089

Matthiessen

40, 41-46 105 Α. 2 40, 43 u. Α. 4, 46 105 Α. 2 42 Α. 2 19, 40, 134-135, 142 47-52 156 Α. 2 91 Α. 3 19, 47-48, 184 Α. 1 47-52, 156 Α. 2 45-46, 45 Α. 6 42 Α. 2 19, 48, 56 Α. 1 48, 53-58 49 Α. 3 48, 58-62, 58 Α. 1 59 Α. 3 74—80, 177-179, 179 Α. 1, 185186 77 77 161-162 77 80 Α. 2, 161-162 77, 163 77, 79 49 Α. 3 172 Α. 1 163 77, 79 163 77, 79 172 Α. 1 80 172 Α. 1 186 179 u. Α. 1 115, 154-155 176 154-155 152 Α. 4, 171 45 Α. 6 155 155 155 171 123 58 Α. 1, 70 Α. 5

1396 1437-1439 1463 Hypsipyle

Ion

Ion 1-81 82-236 237—428 472-491 561 666-667 725-858 763-799 857-858 859-922 889 1045-1047 1048-1060 1116 1261-1438 1312-1319 1320-1368 1437-1511 1512-1517 1549-1552 1549-1617 1565 1581-1585 1592 Iph. Aul. Iph. Aul. 542 1283-1335 1475-1531 Iph. Taur.

Iph. Taur. 1-5 1-66 1-391 67-122 82-83

193 176 144 A. 3, 176 59 A. 3 20 A. 2, 30 A. 2, 135 A. 2, 136 Α. 1 89-91, 93 A. 2, 138-143, 168, 170-171,180185 116 A. 3 20 A. 2, 21 A. 1, 31 A. 3 139-140 152 A. 2 135 A. 3 45 A. 6 112 Α. 1 172 Α. 1 45 A. 5 172 Α. 1 29 Α. 1 49 Α. 1 42 A. 2 42 Α. 1 140-142 140 A. 3 126 A. 2 135-138, 142143, 172 Α. 1 182 Α. 1 70 A. 5 58 Α. 1 126 A. 2 90 89 u. A. 4 58 A. 1, 62 A. 2 45 A. 6 31 A. 3, 172 Α. 1 31 A. 3, 172 Α. 1 16-65, 69-72, 90-91, 93 A. 2, 127-131,134138, 168,170171, 180-186 33 A. 4, 131 23, 25-28 20 A. 2, 64 23, 32-35, 116 A. 3 70

Werk- und Stellenregister

194 123-235 189-202 236-343 258-259 336-339 344-391 354-358 392-455 439—446 447-451 456-642 456-1088 508-510 525 566 643-657 658-724 711-724 725-826 803-826 813 827-901

873-1016 902-908 902-1088 909-911 945-946 1056-1077 1066 1082-1088 1089-1151 1094-1105 1153-1233 1174 1186-1187 1230-1233 1234-1283 1284-1434 1418-1419 1435-1499 1467-1469 1471-1472 Med. Med. 3 - 4 96-212 96-268 230-268 516-521

17, 23, 28-32 70 23 50 Α. 2 54 Α. 1 21 Α. 6, 23, 3538 34 Α. 1 18 34 Α. 1 59 Α. 1 39, 120,128-129 18 63 Α. 3 34 Α. 1 34 Α. 1 17 Α. 1, 39 39 129, 130 Α. 5 39, 129-131 140 70 17, 39, 65, 134138, 142-143, 172 Α. 1 17 65 39—46 130 Α. 5 70 45 Α. 6 93 Α. 1 36 Α. 2, 42 Α. 2 18, 56 Α. 1 59 Α. 1 47-52 91 Α. 3 36 Α. 1 42 Α. 2 18, 47 47, 53-58 36 Α. 1 47, 58-62, 70, Α. 5 45 70 115, 151-153, 176 31 Α. 1 115 20 A. 2 45 A. 6 123 Α. 1

790-1001 1021-1080 1081-1115 1116-1235 1236-1292 1251-1260 1306-1414 1415-1419 Oeneus Or. Or. 1-70 36-37 126-131 140-210 665-668 812-813 960-1012 995-1000 1103-1104 1132-1142 1225-1245 1246-1365 1369-1502 1503-1536 1537-1624 1625-1690 1643-1652 1650-1652 1691-1693 Peleus Phoen. 103-192 301-354 782-783 1340-1351 1485-1538 1539-1581 1710-1757 1763 1764-1766 Suppl. 824-836 1183-1231 Tro. Tro. 87 98-121 98-229 239-291 308-341 860-1059 914-1035

151 151-153 152 u. Α. 2 152-153, 158 Α. 1 152-153 176 58 Α. 1, 153 59 Α. 3 126 Α. 3 164-166, 171 Α. 1, 185-186 20 Α. 2 70 34 Α. 1 20 Α. 2 186 Α. 1 70 31 Α. 3 70 45 Α. 3 34 Α. 1 42 Α. 2 165 31 Α. 3, 165, 172 Α. 1 165 166 58 Α. 1, 166 69 Α. 8 70 59 Α. 3 126 Α. 3 172 Α. 1 31 Α. 3, 172 Α. 1 42 Α. 2 172 Α. 1 31 Α. 3, 172 Α. 1 172 Α. 1 172 Α. 1 59 Α. 3 59 Α. 3 171 58 Α. 1, 70 Α. 5 71-73, 179-180 58 Α. 4 30 Α. 2 20 Α. 2 172 Α. 1 31 Α. 3, 172 Α. 1 34 Α. 1 34 Α. 1, 71-73

Werk- und Stellenregister 1100—1117 1331 [Euripides] Rhes. Rhes. 890-992 Homer II. I 312-313 Nosten Od. α 11-12 α 32-47 α 414-416 ε 105-109 ζ 130-137 ζ 224^245 η

L ι ι ι ι κ κ λ ν ξ ξ ξ ξ ξ

13*

16-20 88-89 106-115 174 229 147 152 405-434 287-332

π π π π Ρ Ρ Ρ σ τ τ τ τ τ τ

83-84 122-132 372-385 459-461 90-128 172-176 186-212 300-307 212-253 291-327 360-488 311-404 45-46 65-88 100-316 208-209 309-316 361-504

τ τ τ τ τ υ υ

392-394 464-468 476-477 509-599 560-569 6-8 197-237

73 59 Α. 3 167 Α . 3 58 Α. 1 49 Α . 1 107-108 108 Α. 2 174 Α. 1 96 108 Α . 2 104 104 100 Α. 2 98 Α. 1 96 Α . 1 100 Α . 2 96 Α . 1 96 Α . 1 96 Α . 1 96 Α . 1 158 Α . 2 49 Α . 1 95 174 Α. 1 96 96 96 Α . 1 95 103-104 97 97 95 97 95 95 96 Α . 1 95 95 97 Α . 1 101 97, 105 Α . 1, 123-124 105 Α . 2 105 Α . 2 101 95 101 95 95

υ 273-274 φ 188-244 φ 404-423 χ 1-11 χ 29-30 χ 45-53 χ 132-134 χ 402—406 χ 413-416 ψ 1-84 ψ 1-240 ω 220-314 ω 220-348 ω 235-240 ω 351-352

195 100 Α. 1 97-99, 111 97 97 100 Α. 1 100 Α. 1 100 Α. 1 102 174 Α. 1 116 99-107, 111 95 98 96 Α. 1 174 Α . 1

Menander Dysc. 419-422

144 Α . 3

Solon fr. 1, 17-25 63-70 fr. 3, 32-39 fr. 16-17

174 122 Α. 3 174 122 Α. 3

Sophokles Ai. Ant. Ant. 1244-1316 El. El. 1-85 4—10 25 67-72 78-79 86-309 129 189-192 254-331 289 313 516-611 655-659 871-937 961-966 1098-1363 1174-1175 1203-1204 1222 1224-1226

144 Α. 3, 149 175, 186 176 150 63-65, 81-88,93 Α . 3,114-119 158-160 64, 116 Α . 3 63 Α. 3 84 42 Α. 2 83 20 Α . 2, 24, 64 83 83 84 63 Α . 3 85 87-88 49 Α . 5 115-117, 160 83 117-119 130 Α . 2 45 Α . 3 124 135-137

Werk- und Stellenregister

196 1229 1232-1287 1263 1273 1281 1326-1371 1348-1363 1376-1383 1384-1397 1398-1441 1413-1414 1420-1421 1442-1507 1466-1507 1495-1498 Oed. Col. Oed. Col. 1-292 1224-1228 Oed. Rex

42 A. 1 65 125, 136 A. 4 136 A. 1 136 A. 4, 137 A. 3 41 A. 1, 65 84 42 A. 2 85, 152 A. 4, 158-159 159-160 83 162 A. 1 160-161 164 A. 3 85 62 A. 2

Oed. Rex 1223-1530 1287-1296 Phil. Phil. 133-134 135-144 242 530 1409-1471 1453-1464 1466-1468 Trach.

20 A. 2 152 A. 2 126-127, 126 A. 1, 176

Xenophanes fr. 10-12 fr. 19-22 fr. 30

Trach. 1-48 141-177 596-597 750-812 863-946

150 157-158 92 A. 3 42 A. 2 45 A. 5 135 Α. 1 135 A. 3 58 Α. 1 59 A. 3 59 A. 3 22 A. 1, 115, 175-176 20 A. 2, 24 20 A. 2, 24 45 A. 6 158 Α. 1 149-150 179 Α. 1 179 Α. 1 122 A. 3

Register der textkritischen Anmerkungen Eiir. El. 1097-1101 Hei. 136-137 229-251 257-259 264 279 289 297 298-302 636-647 1197 1216 1226 1229-1230 1512 1545 1627 1667-1668

87 Α. 1 27 Α. 1 31 A. 3 37 Α. 1 37 Α. 1 37 Α. 1 37 Α. 1 37 A. 1 37 Α. 1 136 A. 3 50 Α. 1 50 Α. 1 50 Α. 1 50 Α. 1 54 A. 2 54 A. 4 55 A. 2 60 A. 3

I.T. 120 186 197 213 220 232 236-237 779 798-799 1019 1025-1026 1066 1469 Med. 1273 1282 Soph. El. 1281

33 A. 2 29 A. 2 29 Α. 1 29 Α. 1 29 Α. 1 29 Α. 1 31 A. 2 130 A. 2 131 Α. 1 41 A. 2 41 A. 3 93 Α. 1 59 Α. 1 152 A. 5 152 A. 5 137 A. 3

Sachregister Agon (s. Redestreit) Aitiologie 59-61, 69, 70, 90-91 Altarszene 26 u. Α. 1, 77, 125 Amoibaion 39-40, 65, 90 u. Α. 2, 118119, 134-138, 142-143, 171-172 Amphibolien 13, 51-52, 121, 156, 160, 162 Beratungsszene 39-46, 75, 112, 125 Botenszene (und Botenbericht) 13, 2324, 35, 47-48, 53-56, 79, 145 u. Α. 1, 146, 150, 158 Charakterzeichnung (und Ethos) 21 u. A. 2, 27, 33, 34 u. Α. 1, 81 u. A. 6, 84, 121 u. Α. 1, 129, 181, 184, 186 Chor (dramatische Funktion) 45-46, 56-57, 83 Chorlieder (kompositioneile F u n k t i o n u n d Beziehung zur Handlung) 1819, 18 Α. 1, 40, 47-48, 68 A. 4, 76-77, 172, 184 Α. 1 Dochmien 66 A. 6, 148 Α. 1, 152 A. 4, 159, 162, 164 A. 2, 165 A. 2, 172 Ecce 76-79, 145-150, 153 u. A. 2, 155160, 163-166 E t h o s (β. Charakterzeichnung) Eingang des Dramas 20-22, 64, 75-77 Erkennungshandlung (vgl. άναγνώρισις) 11, 17-19, 38-43, 75, 78, 82, 90, 93-143, 173 Erkennungsszene 17, 39-40, 70, 83-84, 90, 96-107, 111-114, 117-119, 123126, 129-134, 140-142 Freundschaft 65, 70-71, 80, 185-186 Gebet 32 u. A. 3, 42 A. 2, 49 A. 5, 51 Α. 1 Göttererscheinung 58-62, 58 Α. 1, 62 Α. 1, 70 A. 5, 78-79, 90-91, 164, 166 Götterkritik 32, 36 A. 2, 81 A. 6, 176180, 179 Α. 1, 185 Hinterszenische H a n d l u n g 73, 78-79, 85-86, 144-166 Hinterszenische R u f e 79, 147-149, 152 u. A. 5, 154, 157, 159, 162-165 Kommos (vgl. Ρ arodos, kommatische) 20-22, 24, 37-39, 64, 76, 86, 171-172 Lenäen 13, 14 Α. 1, 66 A. 4 Lyrische Partien 66 A. 6, 171-172

Monodie 20-24, 29-32, 37-38, 64, 165, 171-172 Monolog 23-24, 35-37, 151-153 Motivreihen 25-28, 33, 36-38, 131 Muttermord (Problematik) 81 A. 6,114 u. A. 2, 163, 177, 180 Orakel 32-33, 130 u. Α. 1, 175-178, 180 Parodos 17, 19, 20-24, 29-31, 64, 74 Parodos, kommatische 17, 20-24, 2832, 74, 76, 115 Peripetie 38, 56-57, 57 A. 4, 75, 80, 129, 130 A. 4, 132 Planszene (s. Beratungsszene) Politische Anspielungen in der Tragödie 26 A. 2, 63 A. 3, 66-68, 89-90 Prolog 20-28, 32-34, 64, 74 Rachehandlung (vgl. μηχάνημα) 75-76, 78-79, 82, 93, 99-100, 107, 111. 112114, 126, 138-139, 148, 156-166 Rationalismus 36 Α. 2, 140 Α. 3 Rechtsauffassung 98 u. Α. 1, 174-175, 174 Α. 1 Redestreit (Agon) 43 Α. 4, 71-73, 87-88 Rettungshandlung (vgl. μηχάνημα) 1719, 38-40, 47, 77, 79, 93, 107, 128, 135, 138 Schlußszenen 47-48, 58-62, 90-91 Schweigebitte 45-46, 97 Seherkunst 183 Stichomythie 48-51, 66 A. 6, 118, 168, 170 Symbolische Szene 73, 146-147, 149, 151-153, 160 Szeneneröffnung 50, 53-54, 70 A. 5, 153 A. 2, 155, 157, 166 Tetrameter, trochäische 49 A. 3, 55, 66 A. 6, 68, 167-168, 170 Trimeter, iambische 66 A. 6 u. 7, 68, 168-170 Überlistungsszene 47-52, 156, 161, 164-165 Vermittler der E r k e n n u n g 83-84, 101102, 105, 108 Α. 1, 113-114, 123126, 130 Zeichen bei der E r k e n n u n g 97, 101, 105-106, 109-110, 115-118, 121123, 125, 131, 140-141

Sachregister άγνοια 113, 122-123, 128-129, 133-134, 139, 142, 185 άναγνώρισις (vgl. E r k e n n iingshandl ung) 11, 42 Α. 1, 74, 89, 93-143, 93 Α. 1, 173 άντιλαβαί 118-119, 124, 168, 170 δόκησις 133-134, 139, 183 Α. 1

199

μηχάνημα 11, 42-Ì5, 42 Α. 1, 49 Α. 1, 51, 55-56, 74, 93, 112-113, 119, 126, 138, 149, 173 νόστος 93 u. Α. 1, 99, 107-108, 112, 119, 125, 128 πείρα 95-96, 98, 121 τύχη 11, 173, 178, 180-183, 181 Α. 1

Lexikon des frühgriechischen Epos In Zusammenarbeit mit dem Thesaurus Linguae Graecae Herausgegeben von Bruno Snell und Hans Joachim Mette Etwa 25 Lieferungen zu j e 96 Seiten, bzw. 192 Spalten. J e Lieferung 24,- DM 3 Lieferungen liegen vor. Die vierte erscheint im Sommer 1964. „Den Gegenstand des Lexikons bildet der Wortsdiatz der Ilias, der Odyssee und der Fragmente des alten Epos; der sog. homerischen Hymnen, einschließlich der jüngeren; der epischen Fragmente aus den Vitae Homeri und dem Certamen; sowie Hesiods. Die Informationen über den Befund, die das Lexikon dem Benutzer zur Verfügung stellt, sind ungewöhnlich vielseitig und höchst nützlich. Audi wissenschaftliche Literatur wird in Auswahl zitiert. - Die Anlage der Artikel ist sorgsam durchdacht, und es ist viel d a f ü r getan, dem Benutzer unnötige Mühe zu ersparen . . ." Hermann Frankel, Gnomon KARL R E I N H A R D T

Die Ilias und ihr Dichter Herausgegeben von Uvo Hölscher 1961. 540 Seiten und 3 Abbildungen. Kart. Studienausg. 29,- DM, Leinen 36,- DM „Wenn die Klassische Philologie aus dem Bilde der deutschen Kultur auch heute nicht wegzudenken ist, so ist das nicht zuletzt Karl Reinhardt zu danken." Werner Jäger!Frankfurter Allgemeine Zeitung

Tradition und Geist Gesammelte Essays zur Diditung Herausgegeben von Carl Bedcer. 1960. 448 Seiten, Leinen 25,- DM Inhalt·. Tradition und Geist im homerischen Epos / Das Parisurteil / Homer und die Telemachie / Die Abenteuer der Odyssee / Solons Elegie ε'ις έαυτόν / Zum Epigramm auf die Gefallenen von Koroneia / Zur Niobe des Aischylos / Vorschläge zum neuen Aischylos / Prometheus / Die Sinneskrise bei Euripides / Aristophanes und Athen / Goethe and Antiquity / Tod und Held in Goethes Achilleis / Die klassische Walpurgisnacht / Deutsches und antikes Drama / Sprachliches zu Schillers Jungfrau / Hölderlin und Sophokles / Hans Carossa / Die Krise des Helden / Vorwort zu „Von Werken und Formen" / Nachwort / Register

WOLF-HARTMUT FRIEDRICH

Verwundung und Tod in der Ilias Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen Philologisch-historische Klasse, III. Folge, Nr. 38 1956. 122 Seiten, brosch. 10,80 DM „Mit seinen Untersuchungen eröffnet W o l f - H a r t m u t Friedrich ein neues Feld wissenschaftlicher Homer-Kritik. So engbegrenzt das untersuchte Gebiet ist, so weitreichend sind die Folgerungen, die sich ergeben können." Gnomon

PAUL KRETSCHMER / ERNST LOCKER

Rückläufiges Wörterbuch der griechischen Sprache Ausgearbeitet im A u f t r a g der Wiener Akademie der Wissenschaften 2., unveränderte Auflage. Mit Ergänzungen von Georg Kisser. 1963. 717 Seiten, Leinen 65,- DM Ergänzungsheft einzeln: 157 Seiten, kart. 12,- DM

V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ü T T I N G E N U N D Z Ü R I C H