Einsam in Gesellschaft: Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung 9783839463505

Einsamkeit spielt nicht erst seit der Corona-Pandemie eine ernst zu nehmende Rolle. Obwohl die meisten Menschen im Laufe

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German Pages 368 Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einsam in Gesellschaft
I. Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen
Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit
Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit
II. Gesellschaft: Einsamkeit als Indikator?
Führt gesellschaftliche Modernisierung in die Vereinsamung?
Einsamkeit, soziale Isolation und Lebenszufriedenheit in Zeiten von Corona
Einsamkeit zwischen Entfremdung und Resonanz
III. Tabus überwinden: Betroffenenperspektiven auf Einsamkeit
Queere Einsamkeit in der Weimarer Republik
Das Einsamkeitserleben von psychiatrischen Patient:innen
Erfahrungen mit Einsamkeit während und nach der Haftstrafe
IV. Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung: Der Tod als einsam(st)es Thema?
Einsames Sterben und unentdeckte Tode
Sterben, Tod und Einsamkeit
V. Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit
Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit
Telefonieren gegen Einsamkeit
VI. Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter
Nachtschicht von Studierenden für Studierende
Beraterische Unterstützung an der Universität
»Einfach mal reden« gegen Einsamkeit
VII. Besondere Lebenslagen, besondere Einsamkeit: Soziale Angst, Wohnungslosigkeit und Armut
Unfreiwillig einsam
Einsamkeit unter Wohnungslosen
Armut – Einsamkeit – Krankheit
Einsam in Gesellschaft?
Autor:innenverzeichnis
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Einsam in Gesellschaft: Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung
 9783839463505

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Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz (Hg.) Einsam in Gesellschaft

Kulturen der Gesellschaft Band 57

Für alle von Einsamkeit Betroffenen

Leon Arlt studiert Psychologie und Sozialwissenschaft für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Technischen Universität Dortmund. Neben dem Studium arbeitet er als studentische Hilfskraft am dortigen Lehrstuhl für Sozial-, Arbeits- und Organisationspsychologie und als Betreuer in einem Jugendzentrum in Dortmund. Nora Becker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Professur für Politikwissenschaft am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund. Sie promoviert zur Privatsphäre im digitalen Zeitalter und koordiniert ein von der VolkswagenStiftung gefördertes Postdoc-Programm mit dem Fokus auf Zentralasien und den Kaukasus. Sara Mann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojekt »Explainable Intelligent Systems« und Doktorandin an der Professur für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund. In ihrer Dissertation geht sie der Frage nach, unter welchen Bedingungen Erklärungsmethoden opaker KISysteme dazu geeignet sind, Verstehen herbeizuführen. Tobias Wirtz studiert Philosophie und Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund. Neben dem Studium hat er vielseitige, praktische Erfahrungen in unterschiedlichen Institutionen und Unternehmen in den Bereichen der internationalen Politik, der Entwicklungszusammenarbeit, der Klimapolitik und dem Finanzwesen gesammelt.

Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz (Hg.)

Einsam in Gesellschaft Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839463505 Print-ISBN 978-3-8376-6350-1 PDF-ISBN 978-3-8394-6350-5 Buchreihen-ISSN: 2703-0040 Buchreihen-eISSN: 2703-0059 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorwort ................................................................................. 9 Einsam in Gesellschaft Einleitung Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz (Herausgeber:innen) ....................... 11

I. Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit Axel Seemann (Bentley University, USA) | Philosophie des Geistes.......................... 33

Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit Helen Landmann (FernUniversität in Hagen) | Community Psychology, Susanne Buecker (Ruhr-Universität Bochum) | Psychologische Methodenlehre ...............51

II. Gesellschaft: Einsamkeit als Indikator? Führt gesellschaftliche Modernisierung in die Vereinsamung? Eine Einführung in die Debatte um die einsame Moderne Janosch Schobin (Universität Kassel) | Makrosoziologie, Denis Newiak (Brandenburgische Technische Universität) | Angewandte Medienwissenschaften .......... 79

Einsamkeit, soziale Isolation und Lebenszufriedenheit in Zeiten von Corona Was die Empirie über die Gesellschaft und den Einzelnen aussagen kann – und was nicht Timon Renz (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) | Finanzwissenschaft, Zufriedenheitsforschung................................................................ 105

Einsamkeit zwischen Entfremdung und Resonanz Zum gesellschaftskritischen Potenzial einer komplexen Erfahrung Raphael Rauh (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) | Medizinethik, Dominik Koesling (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) | Medizinethik.................. 125

III. Tabus überwinden: Betroffenenperspektiven auf Einsamkeit Queere Einsamkeit in der Weimarer Republik Leo Ryczko (Freie Universität Berlin) | Geschichtswissenschaft ........................... 155

Das Einsamkeitserleben von psychiatrischen Patient:innen Thomas Wagener (Knappschaftskrankenhaus Lütgendortmund) | Psychiatrie und Psychotherapie ......................................................... 165

Erfahrungen mit Einsamkeit während und nach der Haftstrafe Dieter Kußmann (Klient beim ambulanten Sozialen Dienst der Justiz des Landes NRW) | Im Interview mit Leon Arlt und Nora Becker ............................................. 189

IV. Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung: Der Tod als einsam(st)es Thema? Einsames Sterben und unentdeckte Tode Susanne Loke (Ruhr-Universität Bochum) | Thanatosoziologie .............................197

Sterben, Tod und Einsamkeit Silke Malzahn (Palliativmedizinischer Konsiliardienst Dortmund GbR, Palliativ- und Hospiznetz Dortmund) | Begleitung für Sterbende und ihre Angehörigen ................... 211

V. Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit Noëmi Seewer (Universität Bern, Schweiz) | Klinische Psychologie und Psychotherapie, Tobias Krieger (Universität Bern, Schweiz) | Klinische Psychologie und Psychotherapie .... 227

Telefonieren gegen Einsamkeit Hilfe zu jeder Zeit Ruth Belzner (TelefonSeelsorge Würzburg/Main-Rhön) | Seelsorge und Beratung am Telefon, im Chat und per E-Mail...................................................... 255

VI. Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter Nachtschicht von Studierenden für Studierende Ein niedrigschwelliges Zuhörangebot Alina Käfer (Förderinitiative Nightlines Deutschland e.V.) | Zuhörtelefon für Studierende... 275

Beraterische Unterstützung an der Universität Herausforderungen in der Corona-Pandemie Christian Kloß (Psychologische Studienberatung TU Dortmund) | Psychologische Beratung im Universitätskontext .........................................291

»Einfach mal reden« gegen Einsamkeit Entlastende Telefongespräche für alle ab 60 Jahren Amira Mahdi (Silbernetz e.V.) | Telefonisches Gesprächsangebot für ältere Menschen, Elke Schilling (Silbernetz e.V.) | Telefonisches Gesprächsangebot für ältere Menschen ..... 309

VII. Besondere Lebenslagen, besondere Einsamkeit: Soziale Angst, Wohnungslosigkeit und Armut Unfreiwillig einsam Soziale Angst, Schüchternheit und Einsamkeit Julian Kurzidim (intakt e.V.) | Norddeutscher Verband der Selbsthilfe bei sozialen Ängsten 319

Einsamkeit unter Wohnungslosen Einsam trotz Gemeinschaft Anke Voigt (Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof) | Zentraler Knotenpunkt der sozialen Hilfe....................................................................... 337

Armut – Einsamkeit – Krankheit Ein Teufelskreis Heike Goebel (Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V.) | Hilfe und Beratung für Menschen in Armut und sozialer Not............................................................... 345

Einsam in Gesellschaft? Schlussbetrachtungen Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz (Herausgeber:innen) ..................... 355

Autor:innenverzeichnis ............................................................. 359

Vorwort

Die Idee für den vorliegenden Sammelband »Einsam in Gesellschaft. Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung« entstand im Nachgang einer Vortrags- und Diskussionsreihe zum Thema Einsamkeit mit dem Titel »Lonely Lectures: Perspektiven auf Einsamkeit«, die im Wintersemester 2020/2021 an der Professur für Politikwissenschaft von Prof. Dr. Christoph Schuck der Technischen Universität Dortmund stattgefunden hat. Die »Lonely Lectures« wurden von uns, einem Team aus Studierenden und wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen, initiiert und organisiert, sowohl um dem grauen Wintersemester in Zeiten geschlossener Universitäten etwas Positives, Verbindendes entgegenzusetzen, als auch, um etwas zur Lösung aktueller Herausforderungen unserer Gesellschaft beizutragen. Schwierig zu besprechen und nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie hochaktuell stach hierbei das Thema Einsamkeit hervor. Eine fächer- und generationenübergreifende, wissenschaftlich angebundene und zugleich praxisnahe Auseinandersetzung mit Einsamkeit erschien uns im Rahmen unserer universitären Möglichkeiten und Kompetenzen als vielversprechendes Vorhaben. Nach Abschluss der »Lonely Lectures« war schließlich nicht nur offenkundig, dass wir lediglich an der Oberfläche dessen gekratzt hatten, was es zum Thema Einsamkeit zu sagen gibt, sondern zeigte sich auch, wie wichtig es zur Auflösung von Tabus und Stigmata ist, Themen anzusprechen, die ansonsten eher gemieden werden – ein Auftrag, den wir für den vorliegenden Sammelband mitnahmen. Die genannte Kombination aus wissenschaftlicher und praktischer Expertise bietet für die Betrachtung eines Phänomens wie Einsamkeit einen ungeheuren Mehrwert, da der Komplexität und Mannigfaltigkeit dieser Thematik anders kaum gerecht zu werden ist. Sie bildet daher die Grundlage dieses Sammelbandes. Die Ergänzung um die Perspektive von Betroffenen von Einsamkeit erweitert diesen Ansatz noch einmal. Der Sammelband liefert dadurch nicht nur Informationen und Hintergründe auf der Sachebene, sondern ermöglicht auch einen emotionalen Zugang zum Thema Einsamkeit und eröffnet einzigartige Einblicke, die einer einzelnen Perspektive verborgen bleiben würden. Wir hoffen sehr, dass unser Sammelband durch dieses »Mosaik der Einsamkeiten« für seine Leser:innen ebenso reich an wertvollen und eindrücklichen Erkenntnissen ist wie für uns.

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Einsam in Gesellschaft

Dabei ist ein solches Projekt ohne Unterstützung nicht zu stemmen. Unser großer Dank gebührt daher allen, die uns in den letzten anderthalb Jahren so tatkräftig unterstützt haben. An dieser Stelle möchten wir zunächst Prof. Dr. Christoph Schuck unseren Dank aussprechen, der die »Lonely Lectures« sowie diesen Sammelband von Beginn an mit scharfsinnigem Ideenreichtum, großer Begeisterung und den nötigen finanziellen Mitteln begleitet hat. Ohne ihn wäre dieser Sammelband schlicht nicht möglich gewesen. Für das Korrektorat und die vielen Gespräche, die diesen Sammelband nicht nur mit guten Ideen bereicherten, sondern auch die Arbeit daran emotional unterstützten, möchten wir Rika Althoff, Dr. Ulrike Becker und Julia Dumin danken, auf die wie immer zu tausend Prozent Verlass war. Bei Andreas Ketelaer bedanken wir uns ganz herzlich für die geduldige und kompetente Unterstützung bei der Entwirrung komplizierter XML-Codes und für zahllose hilfreiche Diskussionen – ohne ihn wäre uns sicherlich der ein oder andere Geduldsfaden gerissen. Wir möchten uns darüber hinaus herzlich beim Alumni-Verein der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund für die finanzielle Unterstützung des Projekts bedanken. Ein großer Dank geht auch an die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig für die Bereitstellung mehrerer Abbildungen, die einen Einblick in beinahe ein Jahrhundert zurückliegende Erfahrungen von Einsamkeit geben. Viele Personen haben uns in den letzten anderthalb Jahren darüber hinaus bei der Vermittlung des Kontakts zu einigen der Beitragenden geholfen. Hier sei besonders Hendrik Gaub von den ambulanten sozialen Diensten der Justiz des Landes NRW und Dr. Anke Valkyser vom Knappschaftskrankenhaus Lütgendortmund noch einmal von Herzen gedankt. Ohne diese Vermittlung wäre der Sammelband um bereichernde Blickwinkel ärmer gewesen. Besondere Anerkennung möchten wir an dieser Stelle auch noch einmal unseren Beitragenden entgegenbringen: Vielen Dank für den Mut und die Mühen, in einer solch offenen Art, wie sie in den Beiträgen zu lesen ist, über ein Thema wie Einsamkeit zu sprechen. Nicht zuletzt möchten wir den uns nahestehenden Menschen in unseren eigenen wertvollen sozialen Beziehungen danken, die in den letzten Monaten oftmals zu kurz gekommen sind. Ihr stellt den besten Schutz gegen Einsamkeit dar, den es geben kann! Dortmund/im Internet, Herbst 2022 Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann und Tobias Wirtz

Einsam in Gesellschaft Einleitung Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz (Herausgeber:innen)

»Die Einsamkeit in uns können wir nur gemeinsam überwinden.«1

Einsamkeit bewegt Menschen. Unabhängig davon, ob wir uns unter Menschen befinden oder alleine sind, kann ein Gefühl von Einsamkeit aufkommen. Dennoch werden das Alleinsein und das Einsamsein häufig gleichgesetzt; die Idee, Einsamkeit durch Gemeinsamkeit zu überwinden, ist fest in uns verankert. Wird Einsamkeit thematisiert, ist der Versuch, ihr zu entrinnen, ebenso Bestandteil dessen wie die vielfältigen inneren Empfindungen, die sie begleiten. Oft wird über den Umweg dieser Empfindungen die Einsamkeit selbst ausgedrückt, denn meist fällt es schwer, sie adäquat in Worte zu fassen. Dies deutet bereits darauf hin, dass Einsamkeit zum einen ein komplexes Phänomen ist, das in sehr vielen Formen auftritt und sehr unterschiedlich erlebt beziehungsweise bewertet wird, und zum anderen mit diversen kommunikativen Hürden verbunden ist, die es erschweren, anderen die eigene Einsamkeit mitzuteilen. Beides steht der gemeinsamen Überwindung der inneren Einsamkeit im Wege. Auf der gesellschaftlichen Ebene betrachtet ergibt sich ein eindringliches Bild: Im Jahr 2019 fühlten sich 10,8 Prozent der Deutschen mehrfach pro Woche oder täglich einsam.2 Andere Studien verzeichnen sogar höhere Werte.3 Das Thema ist da-

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B. Wells (2018): Vom Ende der Einsamkeit. Im Sinne der bibliographischen Stringenz sind die jeweiligen DOI-Angaben hinsichtlich der Groß- und Kleinschreibung der Quellentitel im gesamten Band maßgeblich. Vgl. S. Lippke et al. (2022): Einsam(er) seit der Coronapandemie; siehe grundsätzlich auch T. Eyerund/ A.K. Orth (2019): Einsamkeit in Deutschland. Die unterschiedlichen Studienergebnisse können unter anderem durch den Einsatz von verschiedenen Messinstrumenten erklärt werden. Während in manchen Studien Items verwendet werden, die direkt nach Einsamkeit fragen (siehe zum Beispiel S. Lippke et al. [2022]: Einsam(er) seit der Coronapandemie), erfolgt in anderen eine indirekte Erhebung (siehe zum Beispiel J. de Jong Gierveld/T.G. van Tilburg [2006]: A 6-Item Scale for Overall, Emotional, and Social Lone-

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Einsam in Gesellschaft

mit für viele Menschen von unmittelbarer Bedeutung: Einsamkeit befindet sich inmitten der Gesellschaft. Neben persönlichen, zum Teil auch gesundheitlichen Folgen zeugen gesellschaftliche und demokratietheoretische Zusammenhänge von der Relevanz der Einsamkeitsproblematik im gesamtgesellschaftlichen Kontext: Konzepte wie Demokratiestabilität, Wahlverhalten, Sozialkapital, Humankapital oder Wirtschaftskraft stehen unter anderem mit Lebenszufriedenheit, (Selbst-)Vertrauen oder Gesundheit in Verbindung. Einsamkeit muss also immer auch als soziale Herausforderung auf einer gesellschaftlichen Ebene analysiert werden, was auch wesentliche Risikofaktoren von Einsamkeit wie fehlende qualitativ hochwertige Partnerschaften oder Freundschaften, Arbeitslosigkeit oder der Verlust eines nahestehenden Menschen zeigen. Verschärft wird diese soziale Herausforderung durch ein der Einsamkeit anhaftendes Stigma, das zu ihrer Tabuisierung führt und in der oben genannten kommunikativen Hürde zum Ausdruck kommt: Zum einen sind Einsamkeitsgefühle, wie viele andere Empfindungen, schwer in Worte zu fassen. Zum anderen ist das Thema oft mit Scham besetzt, obwohl Einsamkeit ein Phänomen ist, das jede:n zu jeder Zeit betreffen kann und die meisten Menschen diesbezüglich auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können. Welche Tabus und Ängste Einsamkeit anhaften, fasst Daniel Schreiber unter Rückgriff auf Olivia Laing und Frieda Fromm-Reichmann zusammen:4 Einsamkeit passe schlicht nicht zur heutigen (und hiesigen) Vorstellung eines richtigen und guten Lebens.5 Der implizite Vorwurf, Einsamkeit sei das Ergebnis eines persönlichen Versagens, verhindere, dass Betroffene ihre Einsamkeit ansprechen: »In unserem kollektiven Bild von Einsamkeitsgefühlen schwingt immer mit, dass die Einsamen ihr Schicksal verdient hätten, dass sie zu unattraktiv, schüchtern, eigenbrötlerisch und selbstbezogen seien […].«6 Schreiber geht so weit, eine Widerspiegelung dieser Tabuisierung in der Unterscheidung der Worte »Einsamkeit« und »Alleinsein« zu sehen – wobei das »Alleinsein« die »präsentable, würdevolle Variante der Einsamkeit« darstelle, »wie eine Art sozialer Isolation ohne große seelische Schmerzen«.7 Den gängigen Einsamkeitsauffassungen kommt er mit dieser Analyse sehr nahe und fügt ihnen eine Tabu- beziehungsweise Schamkomponente hinzu: Viele Menschen verweisen geradezu reflexartig auf diese Unterscheidung, wenn man über Einsamkeit spricht. Und gerade in dieser Reflexhaftigkeit verbirgt sich

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liness). Dies hat einen Einfluss auf das Antwortverhalten in Bezug auf soziale Erwünschtheit oder auch die Interpretation der Daten. Zudem zeigt sich eine Zunahme von Einsamkeit seit der Corona-Pandemie, weshalb auch der Erhebungszeitpunkt beachtet werden sollte. Vgl. D. Schreiber (2021): Allein, S. 62ff. unter Verweis auf F. Fromm-Reichmann (1990): Loneliness und O. Laing (2016): The Lonely City. Vgl. D. Schreiber (2021): Allein, S. 62f., zitiert indirekt O. Laing (2016): The Lonely City. D. Schreiber (2021): Allein, S. 63, zitiert indirekt O. Laing (2016): The Lonely City. D. Schreiber (2021): Allein, S. 63.

Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz: Einleitung

manchmal Scham. Eine Scham, die Menschen davon abhält, ihre Einsamkeitsgefühle zu zeigen. Ich bin allein, nicht einsam, scheinen sie zu sagen. Ich werde dir nicht gestehen, dass ich einsam bin. Ich bin nicht verletzlich. Mein Alleinsein tut nicht weh, ich leide nicht darunter. Und ich möchte mich auch deiner Verletzlichkeit nicht aussetzen. Sie erinnert mich zu sehr an meine eigene. Bitte sag, dass du allein und nicht einsam bist.8 Interessanterweise variiert die Tabuisierung der Einsamkeit mit der Kultur einer Gesellschaft.9 Dass in einer Gesellschaft Einsamkeit von Betroffenen häufig verschwiegen wird und auch Nicht-Betroffene eine Auseinandersetzung oftmals scheuen, ist daher auch eine kulturelle Frage und somit veränderbar. Eines der zentralen Anliegen dieses Bandes ist es, unter Einsamkeit leidende Menschen mit ihren Empfindungen sichtbar zu machen und sie durch die Lektüre zu ermutigen, offen über ihre Einsamkeit zu sprechen oder sich Unterstützung zu suchen. Gleichzeitig hat dieser Band zum Ziel, Nicht-Betroffene dazu anzuregen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und mit (einsamen) Menschen darüber ins Gespräch zu kommen. Es gilt, sich dem Wesen der Einsamkeit auf unterschiedlichen Ebenen anzunähern und damit verbundene Hemmungen abzubauen. Die hohe Verbreitung von Einsamkeit auf der einen und die Vielschichtigkeit der Problematik auf der anderen Seite machen eine breit aufgestellte Diskussion der Thematik unter Einbezug möglichst vieler Perspektiven notwendig. Um dem gerecht zu werden, wird in diesem Band bewusst ein multiperspektivischer Ansatz genutzt, der die interdisziplinären wissenschaftlichen Beiträge in direkten Austausch mit Perspektiven aus der Praxis treten lässt. Dieser – systematisch verzahnte – Austausch zwischen Perspektiven aus der Wissenschaft und einer alltagsnahen Praxis stellt nicht nur grundsätzlich, sondern gerade in Bezug auf das Thema Einsamkeit bisher noch eine Ausnahme dar.10 Die Verzahnung der einzelnen Perspektiven formt zugleich den analytischen Aufbau des Bandes, indem die praktischen Beiträge als »Kompass« für die ihnen gegenübergestellten wissenschaftlichen Beiträge fungieren: Letztere liefern nicht nur (Hintergrund-)Informationen, (Zusammenhangs-)Analysen, Einschätzungen und Erklärungen, sondern sie knüpfen 8 9

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Ebd. Eine Reihe von Studien kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen, etwa in Hinblick auf die Stigmatisierung einsamer Menschen beziehungsweise die Tabuisierung von Einsamkeit in kollektivistischen versus individualistischen Gesellschaften, vgl. etwa M. Barreto et al. (2021): Loneliness around the world; A. Rokach et al. (2001): The Effects of Culture on the Meaning of Loneliness; W. van Staden/K. Coetzee (2010): Conceptual relations between loneliness and culture. Ein Beispiel für einen solchen multiperspektivischen Ansatz, bei dem ebenfalls eine Vielzahl an entsprechenden wissenschaftlichen und praktischen Beiträgen zusammengestellt ist, findet sich in T. Hax-Schoppenhorst (Hg.) (2018): Das Einsamkeits-Buch. Wie bereits angesprochen, versucht der vorliegende Sammelband durch die systematische Verzahnung der einzelnen Beiträge über eine solche Bündelung von verschiedenen Perspektiven hinauszugehen.

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Einsam in Gesellschaft

direkt an die praktischen Beiträge an, greifen die darin herausgestellten Problematiken auf und vertiefen sie. Die Praxisbeiträge bilden hingegen einen Querschnitt des zivilgesellschaftlichen Engagements im Kontext von Einsamkeit ab und versuchen, möglichst viele Blickwinkel und Handlungsebenen abzudecken. Sie geben individuelle Einblicke in die Alltagserfahrungen mit Einsamkeit sowohl von Personen, die selbst direkt von Einsamkeit betroffen sind, als auch von jenen, die in der ein oder anderen Weise Hilfe gegen Einsamkeit anbieten und dadurch indirekt davon betroffen sind. Die offene, individuelle Gestaltung der praktischen Beiträge entspricht der Intention, Alltag und Wirklichkeit getreu der Wahrnehmung von direkt und indirekt Betroffenen abzubilden – und zudem ihrer Funktion als Kompass für die wissenschaftlichen Beiträge gerecht zu werden. Um Anlaufstellen mit ihrem Angebot niedrigschwellig kennenlernen zu können, sind darüber hinaus bei den jeweiligen Beiträgen entsprechende Informationen und Kontaktdaten in einer Informationsbox zusammengestellt. Einsamkeit: eine kurze Einführung An dieser Stelle sei ein einführender Blick auf das Phänomen Einsamkeit geworfen, dessen Komplexität in diesem Band nicht aufgelöst, sondern sichtbar gemacht und dadurch akzeptiert werden soll: In der wissenschaftlichen wie gesellschaftspolitischen Debatte steht – vermutlich nicht zuletzt aufgrund der bereits angeklungenen Folgen für Individuum und Gesellschaft – eine als negativ erlebte Form der Einsamkeit im Fokus. Daniel Perlman und Letitia Anne Peplau verstehen Einsamkeit als subjektives, negatives Gefühl des sozialen Mangels, genauer als »eine Diskrepanz zwischen den angestrebten und erreichten Leveln sozialer Beziehungen«.11 Sie beziehen dabei sowohl die Anzahl (Quantität) als auch die Güte (Qualität) der Beziehungen mit ein. Die Autor:innen nehmen mit diesem einflussreichen Einsamkeitsverständnis die subjektive Bewertung der eigenen sozialen Situation aus Sicht des Individuums in den Blick. Erst bei einer negativen Bewertung wird das Gefühl als Einsamkeit bezeichnet. Der ebenfalls renommierte Einsamkeitsforscher Robert S. Weiss betont dagegen die spezifischen Bedürfnisse, die in unterschiedlichen sozialen Beziehungen befriedigt werden – und aus denen sich unterschiedliche Einsamkeitsverständnisse ableiten lassen: Emotionale Einsamkeit ist demnach die Folge mangelnder intimer Verbundenheit mit einer anderen Person, typischerweise im Rahmen einer Partnerschaft. Soziale Einsamkeit dagegen tritt Weiss zufolge auf, wenn eine Person sich als ungenügend eingebunden in soziale Netzwerke, vornehmlich freundschaftlicher Art, empfindet.12 Diese von

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Übersetzung durch die Herausgeber:innen; im Original: Einsamkeit [loneliness] »as a discrepancy between one’s desired and achieved levels of social relations« (D. Perlman/L.A. Peplau [1981]: Toward a social psychology of loneliness, S. 32). R.S. Weiss (1973): Loneliness; vgl. D. Russell et al. (1984): Social and emotional loneliness.

Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz: Einleitung

Weiss unterstrichene Bedürfnisebene verbindet Reinhold Schwab wiederum mit dem Element des subjektiv empfundenen Defizits nach Perlman und Peplau, wenn er Einsamkeit als »das quälende Bewußtsein [sic!] eines inneren Abstands zu den anderen Menschen und die damit einhergehende Sehnsucht nach Verbundenheit in befriedigenden, sinngebenden Beziehungen«13 versteht. Gemäß diesen Auffassungen wird also die Wahrnehmung der von Einsamkeit betroffenen Person betrachtet, die die Qualität und Quantität ihrer sozialen Beziehungen im Abgleich mit ihren diesbezüglichen Wünschen oder Bedürfnissen bewertet und Einsamkeit empfindet, wenn tatsächliche und gewollte Beziehungen voneinander abweichen. Mit sämtlichen dieser Verständnisse ist zudem eine Art der Negativität verknüpft: bei Perlman und Peplau über das unwillkommene Gefühl, bei Weiss über die mangelhafte Bedürfnisbefriedigung und bei Schwab über das quälende Bewusstsein. Diese Ansätze unterscheiden sich deutlich von solchen, die Einsamkeitsempfindungen nicht notwendigerweise als negativ charakterisieren und auch positive Erfahrungen des Alleinseins beziehungsweise Sich-allein-Fühlens – etwa verbunden mit dem Gefühl der inneren Ruhe oder Freiheit – betrachten. Solche Schilderungen finden sich häufig in literarischen und künstlerischen Auseinandersetzungen mit Einsamkeit.14 In der allgegenwärtigen Betonung der subjektiven Komponente, die Einsamkeit immer zu besitzen scheint, klingt bereits die häufig gemachte Unterscheidung zwischen subjektiver Einsamkeit und objektivem Alleinsein an. Einsamkeit, so sind sich alle Autor:innen dieses Bandes einig, ist keineswegs gleichbedeutend damit, alleine zu sein. Man kann einsam sein inmitten einer dicht besiedelten Großstadt oder inmitten einer Gruppe von Menschen (siehe die Beiträge von Malzahn, Rauh/Koesling, Voigt), denn soziale Interaktion bringt nicht automatisch zwischenmenschliche Verbundenheit mit sich. Sogar Freundschaften können sich als ein Ort verstehen lassen, der Einsamkeit Raum geben kann (siehe Rauh/Koesling). Eine weitere Unterscheidung von Formen der Einsamkeit erfolgt anhand der Dauer der Einsamkeitsempfindung. Denn auch wenn die meisten Menschen früher oder später Erfahrungen von Einsamkeit machen, hält dieses Gefühl häufig nur vergleichsweise kurz an. Die Gründe für solch eine vorübergehende, mitunter als »episodisch« (siehe Seemann) oder »situativ« (siehe Landmann/Buecker, Seewer/ Krieger) bezeichnete Einsamkeit sind vielfältig. Oft sind größere biographische

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R. Schwab (1997): Einsamkeit, S. 22, zitiert nach T. Hax-Schoppenhorst (2018): Quälender Abstand. Beispielsweise wurde Einsamkeit in der Romantik häufig schwärmerisch dargestellt (siehe etwa A. Arnold/W. Pape/N. Wichard [Hg.] [2019]: Einsamkeit und Pilgerschaft). Auch heutzutage weckt die bewusst gesuchte Einsamkeit von Eremit:innen oder von sich in der Natur verlierenden Wander:innen keine Assoziationen von Krankheit oder Leid. Diese Einsamkeit wird häufig als innere Einkehr gesehen, als ein »positives Für-sich-Sein« (vgl. auch die Beiträge von Rauh/Koesling, Voigt), das beispielsweise Selbstreflexion und -erkenntnis ermöglicht.

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Einsam in Gesellschaft

Umbrüche wie ein Umzug (etwa durch den Studienstart, siehe Käfer, Kloß) oder der Tod einer angehörigen Person (siehe etwa Malzahn) ein Grund für Einsamkeitsempfindungen. Die meisten Menschen erleben im Laufe der Zeit solche Umbrüche und lernen, damit umzugehen. Doch in manchen Fällen ist Einsamkeit etwas, das bleibt, und einen Menschen jahrelang begleitet. Diese Form der Einsamkeit wird häufig als »chronisch« bezeichnet (siehe Belzner, Landmann/Buecker, Seemann, Seewer/Krieger und auch Loke, Mahdi/Schilling) und weckt dadurch auch medizinische Assoziationen. Ob chronische Einsamkeit als Krankheit gesehen werden kann, die es zu kurieren gilt,15 ist stark umstritten. Allerdings zeigen empirische Studien, dass Einsamkeit beziehungsweise soziale Isolation mit gesundheitlichen Problemen und Risiken wie einer schlechten Schlafqualität, Demenzerkrankungen und depressiven Symptomen, aber auch mit einer höheren Sterbewahrscheinlichkeit korrelieren.16 Wie sehr Einsamkeitserfahrungen in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen eingebunden sind, zeigt wiederum ein einschneidendes Beispiel der jüngeren Vergangenheit (und, zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Buches, auch Gegenwart): die Corona-Pandemie, von der zu hoffen ist, dass zukünftige Leser:innen dieses Buches sich nicht mehr viel darunter – und unter den damit verbundenen gesellschaftlichen Umständen – vorstellen können. Hinsichtlich Einsamkeit war die wohl relevanteste Veränderung jene der Alltags- und Sozialstrukturen, durch die soziale Kontakte nicht mehr wie gewohnt gepflegt und aufgebaut werden konnten. Aufgrund der behördlichen Schutzmaßnahmen musste der persönliche Kontakt zu anderen Menschen auf ein Mindestmaß reduziert werden, viele Aktivitäten wurden in den Bereich des Digitalen verlagert: Lockdowns (das Herunterfahren einiger Lebensbereiche wie das Schließen von Schulen und Kindergärten, Universitäten, Arbeitsstellen oder Einkaufszentren) und Ausgangssperren (das Verbot des Verlassens der eigenen Wohnung oder des gewöhnlichen Aufenthaltsorts zu bestimmten Zeiten oder aus bestimmten Gründen, etwa im Rahmen einer Quarantäne) gingen für einen Großteil der Bevölkerung mit psychischen Belastungen einher, die, so lassen erste Studien vermuten, auch mit Einsamkeitsgefühlen korrelieren.17 Der 15 16

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Vgl. etwa M. Spitzer (2018): Einsamkeit. Vgl. etwa L. Dahlberg et al. (2022): A systematic review of longitudinal risk factors for loneliness in older adults; L.C. Hawkley/J.T. Cacioppo (2010): Loneliness Matters; J. Holt-Lunstad et al. (2015): Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality; T.J. Holwerda et al. (2014): Feelings of loneliness, but not social isolation, predict dementia onset; M.H. Lim/R. Eres/S. Vasan (2020): Understanding loneliness in the twenty-first century; N.R. Nicholson Jr. (2009): Social isolation in older adults; A. Shankar et al. (2013): Social Isolation and Loneliness; M. Solmi et al. (2020): Factors Associated With Loneliness; A. Steptoe et al. (2013): Social isolation, loneliness, and all-cause mortality in older men and women. Vgl. S. Liu et al. (2021): Increased Psychological Distress, Loneliness, and Unemployment in the Spread of COVID-19 over 6 Months in Germany.

Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz: Einleitung

Anteil derer, die sich mehrfach pro Woche oder täglich einsam fühlen, hat sich einer Befragung zufolge in der Pandemie von 10,8 Prozent im Jahr 2019 auf 26,6 Prozent im Jahr 2020 mehr als verdoppelt.18 Ob berufliche Online-Meetings, Streams von Konzerten oder Theateraufführungen, digitale Spieleabende mit Freund:innen oder Videotelefonate mit der Familie – was für viele Menschen vorher gänzlich unbekannt oder zumindest ungewohnt war, wurde in Pandemiezeiten oftmals unfreiwillig ein selbstverständlicher Teil des Alltags. Auch unabhängig von solchen Notlösungen und auch unabhängig von der Corona-Pandemie können digitale Technologien das Knüpfen und Aufrechterhalten von Beziehungen erleichtern und auf diesem Wege Einsamkeit sogar reduzieren.19 Die gegenwärtige Forschung legt jedoch nahe, dass digitale Technologien nur gegen Einsamkeit helfen, wenn dadurch gepflegte digitale Beziehungen Kontakte im echten Leben nicht ersetzen, sondern ergänzen, und wenn digitale Medien nicht als Mittel genutzt werden, um (womöglich sogar angstbesetzter) sozialer Interaktion aus dem Weg zu gehen.20 Gerade für introvertierte Menschen können digitale Medien das Knüpfen sozialer Kontakte erleichtern, etwa weil online oft größere Kontrolle über Art und Ablauf der Interaktion und auch das eigene Auftreten besteht.21 Zudem erlaubt das Internet Angehörigen bestimmter Gruppen (beispielsweise sexueller Minderheiten, siehe auch Ryczko), einfacher Kontakte zu Gleichgesinnten zu knüpfen, als es analog möglich wäre.22 Insofern 18

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S. Lippke et al. (2022): Einsam(er) seit der Coronapandemie. Auch eine Studie des wissenschaftlichen Dienstes der EU-Kommission kommt zu dem Schluss, dass sich die Häufigkeit von Einsamkeitsgefühlen bei EU-Bürger:innen verdoppelt hat. 2016 fühlten sich der Studie nach etwa 12 Prozent der EU-Bürger:innen mehr als die Hälfte der Zeit einsam. Dieser Anteil stieg in den ersten Monaten der Pandemie auf 25 Prozent an (vgl. Joint Research Centre [European Commission] et al. [2021]: Loneliness in the EU). Studien legen darüber hinaus nahe, dass besonders Personengruppen, die sozial benachteiligt sind – darunter Menschen mit Migrationserfahrung oder Personen mit niedrigem Einkommen – während der Pandemie besonders stark von Einsamkeit betroffen waren (Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen [Hg.] [2021]: »Einsamkeit« – Bekämpfung sozialer Isolation in Nordrhein-Westfalen, S. 52). Andere Studien deuten interessanterweise darauf hin, dass die Einsamkeit während der Corona-Pandemie dafür weitgehend konstant geblieben ist (C. Benke et al. [2022]: One year after the COVID-19 outbreak in Germany). Department for Digital, Culture, Media and Sport (Hg.) (2018): A connected society; R. Nowland/ E.A. Necka/J.T. Cacioppo (2018): Loneliness and Social Internet Use. Bei sozialen Medien ist die Wirkung vermutlich stark abhängig von der jeweiligen Plattform. Auch andere interessante Zusammenhänge im Kontext von Einsamkeit und digitalen Medien wurden festgestellt: Beispielsweise zeigte sich für Nordrhein-Westfalen, dass eine bessere Abdeckung von Breitband-Internet mit einer geringeren Verbreitung von Einsamkeit korreliert (T. Ebert/J. Berkessel/T. Entringer [2021]: Einsamkeit in Nordrhein-Westfalen). R. Nowland/E.A. Necka/J.T. Cacioppo (2018): Loneliness and Social Internet Use. Y. Amichai-Hamburger/B.H. Schneider (2013): Loneliness and Internet Use. Ebd.

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sollte man Online-Freundschaften, Videokonferenzen und Chat-Gruppen nicht pauschal abwerten, sondern vielmehr die Chancen anerkennen, die sich daraus für die Bekämpfung von Einsamkeit ergeben können (siehe auch Renz, Seewer/Krieger). Die Möglichkeit, solche Chancen digitaler Technologien zu nutzen, hängt dabei unmittelbar mit Fragen der sozialen Teilhabe zusammen. Mangelnde finanzielle, technische, zeitliche oder körperliche Ressourcen beeinträchtigen die Teilhabe an sozialen Aktivitäten in nicht zu unterschätzendem Maße; sie stellen einen entscheidenden Faktor für Einsamkeit dar (siehe etwa Goebel, Landmann/Buecker, Loke, Mahdi/Schilling, Schobin/Newiak, Voigt, Wagener). So kann eine nachlassende körperliche Gesundheit es nicht nur im Alter erschweren, am sozialen Leben teilzuhaben (siehe Mahdi/Schilling), oder der Kontakt mit anderen Menschen kann aufgrund einer psychischen Erkrankung oder der eigenen Persönlichkeit angstbesetzt oder anders negativ konnotiert sein (siehe Kurzidim, Wagener). Die (von außen zugeschriebene) Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe kann über Stigmatisierung und Diskriminierung entscheiden und damit auch Einsamkeit Vorschub leisten (siehe Kußmann, Ryczko, Voigt),23 in anderen Fällen können Scham angesichts der eigenen Einsamkeit oder die Einsamkeit selbst zu sozialer Exklusion führen (siehe Loke). In den hier versammelten Beiträgen wird immer wieder deutlich, dass Einsamkeit Teil eines Teufelskreises werden kann, dem alleine nur schwer zu entkommen ist (siehe Belzner, Goebel, Kurzidim, Loke, Rauh/Koesling) und der unmittelbar mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in die das eigene Erleben eingebettet ist, zusammenhängt (siehe Renz, Schobin/Newiak). Auch wenn die Überwindung von Einsamkeit oftmals eine gewisse Eigeninitiative erfordert, wird Einsamkeit in diesen Fällen von einem individuellen Problem zu einer Herausforderung, die eine Gesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven angehen muss. Bei Betroffenen scheint darüber hinaus insbesondere die bereits angeführte Scham über die eigene Einsamkeit relevant, wie es die Beiträge immer wieder aufzeigen (siehe Goebel, Kloß, Loke, Malzahn, Seewer/Krieger, Wagener). Ein schwer zu lösendes Dilemma: Erschwert doch gerade diese Scham die Suche nach Unterstützung und kann dadurch der Überwindung der eigenen Einsamkeit im Wege stehen. Auch das Umfeld einsamer Menschen verhindert oftmals eine aktive Auseinandersetzung mit Einsamkeit, etwa weil sie als Hinweis auf ein (soziales) Defizit der einsamen Person gedeutet wird (siehe Loke) oder weil Angst vor »Ansteckung«24 23

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Menschen, die zu diskriminierten Gruppen gehören (L. Kennedy/O. Field/K. Barker [o.J.]: Barriers to belonging), beziehungsweise Personen, die laut eigenen Angaben häufig Diskriminierung erfahren (P. Qualter et al. [2021]: Exploring the Frequency, Intensity, and Duration of Loneliness), sind besonders stark von Einsamkeitsgefühlen betroffen. »Einsamkeit […] rufe beim Gegenüber eine spezifische Furcht, eine ›Angst vor Ansteckung‹ hervor […]. Das habe zur Folge, dass viele Menschen, selbst wenn sie an milderen Formen von Einsamkeit leiden, kaum eine Möglichkeit bekommen, darüber zu sprechen. Sich einsam zu fühlen wird zu einem angstbesetzten Geheimnis, das sich nicht ausreichend kommunizieren

Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz: Einleitung

beziehungsweise emotionale Überforderung ähnlich anderer tabuisierter Themen (siehe Malzahn) besteht. Eine solche Distanzierung bis hin zu Stigmatisierung kann wiederum Gefühle von Scham bei Betroffenen verstärken (siehe Kurzidim, Wagener) und dadurch einen Teufelskreis aus Stigmatisierung und Selbststigmatisierung in Gang setzen oder aufrechterhalten (siehe Seewer/Krieger, Wagener). Editorische Anmerkungen Dieser Band möchte für ein möglichst breites Publikum zugänglich sein, den vielzitierten »Elfenbeinturm der Wissenschaft« verlassen und auch nicht-wissenschaftliche Expert:innen, Betroffene und Neugierige erreichen. Vor diesem Hintergrund ist seine sprachliche Gestaltung möglichst inklusiv, was sich unter anderem in den Bemühungen um eine allgemeinverständliche Sprache ausdrückt oder in der Erklärung von Fach- und nicht zu vermeidenden Fremdwörtern innerhalb einer dem Begriff angeschlossenen Fußnote. Literaturverweise stehen im Kursivdruck, um sie im Sinne der Lesefreundlichkeit auf einen Blick von inhaltlichen Anmerkungen unterscheiden zu können. Die Inklusivität der Sprache erstreckt sich außerdem auf die Genderneutralität und -inklusivität,25 bei dem gleichzeitigen Ansinnen, eine gute Lesbarkeit zu gewährleisten: ein in der deutschen Sprache (noch) hoffnungsloses Unterfangen, das zuweilen kreative Lösungen erfordert. Schriftliche Beiträge von Praktiker:innen zu einem Thema wie Einsamkeit sind in einer solchen Publikation eine Seltenheit – und nicht nur durch ihre Bündelung ein wahrer Schatz, sondern auch durch ihre Authentizität. Es wurde entsprechend versucht, den Autor:innen mit Blick auf die sprachliche, stilistische und inhaltliche Originalität den größtmöglichen Spielraum zu lassen. Wir als Herausgeber:innen hoffen, dass wir dem von uns an diesen Sammelband gestellten Anspruch gerecht geworden sind. Ob dies gelungen ist, können wohl nur die Leser:innen und Beitragenden dieses Bandes beurteilen. Wir selbst haben durch die verschiedenen praktischen und wissenschaftlichen Beiträge eine Vielzahl an kognitiven und emotionalen Einsichten gewonnen, die wir vorher niemals auch nur hätten erahnen können. Dafür möchten wir uns auch an dieser Stelle noch einmal herzlich bei allen Beitragenden bedanken. Zum Aufbau des Bandes: ein Mosaik der Einsamkeiten »Einsam in Gesellschaft. Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung« betrachtet die bereits skizzierten Themenfelder und deren Schnittstellen mit Einsamkeit

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lässt.« (D. Schreiber [2021]: Allein, S. 64; zitiert indirekt F. Fromm-Reichmann [1990]: Loneliness, S. 313f.) Ausgenommen sind Beiträge, in denen die Autor:innen explizit ein anderes Vorgehen wählten.

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aus einem möglichst breiten Blickwinkel, der verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte einschließt. Eine allumfassende und abschließende Analyse des Phänomens der Einsamkeit ist dabei weder zu leisten noch beabsichtigt. Vielmehr gibt der Band einen Überblick darüber, wie unterschiedliche Forschungsdisziplinen das Thema behandeln, und liefert zudem Impulse und Einblicke aus der praktischen Arbeit mit Betroffenen sowie von Betroffenen selbst. Die unterschiedlichen Perspektiven können durch ihre gezielte inhaltliche Verschränkung nicht nur veranschaulichen, wie Einsamkeit in unserer Gesellschaft wirkt, sondern auch kategorisiert, verglichen, analytisch betrachtet und in Beziehung zueinander gesetzt werden. Daraus resultieren Anknüpfungspunkte für weitergehende Forschungsfragen und Anregungen für die Entwicklung von Strategien im Umgang mit Einsamkeit. Durch die Gegenüberstellung von theoretischen und empirischen Einsichten aus der Einsamkeitsforschung mit unmittelbaren Erfahrungen aus der Praxis werden einzigartige Sichtweisen auf das Phänomen Einsamkeit ermöglicht. Parallelen und Widersprüche, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Nuancen und Facetten von Einsamkeit werden dadurch sichtbar, die innerhalb einer individuellen Perspektive unbemerkt bleiben würden – es entsteht ein »Mosaik der Einsamkeiten«, das selbst wiederum zu einem Steinchen im Gesamtmosaik der Einsamkeit wird. Die insgesamt 18 Beiträge gliedern sich in sieben Buchabschnitte, die im Folgenden kurz vorgestellt werden. Im ersten Abschnitt »Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen« wird zunächst skizziert, wie sich Einsamkeit – zum einen theoretisch, zum anderen empirisch – wissenschaftlich fassen lässt. Axel Seemann bietet dafür in seinem Beitrag eine einführende Charakterisierung der Einsamkeit aus philosophischer Sicht. Bei näherer Betrachtung ist zunächst nicht offensichtlich, wie die subjektiven und objektiven Faktoren, die für die Erklärung der Einsamkeit eine Rolle spielen, miteinander vereinbart werden können. Axel Seemann schlägt eine modelltheoretische Erklärung vor: Einsamkeit hängt demnach eng mit dem sozialen Modell zusammen, das eine Person unterhält, und das den Soll-Zustand des mit anderen geteilten Wissens beschreibt. Einsamkeit ist dann die Folge einer Diskrepanz zwischen dem sozialen Modell und dem IstZustand, in dem sich die einsame Person befindet. Auch wenn Einsamkeit eine emotionale Erfahrung ist, kann sie so durch Berufung auf das soziale Modell auf kognitiver Ebene erklärt werden. Helen Landmann und Susanne Buecker arbeiten anschließend in ihrem Beitrag heraus, was Einsamkeit aus psychologischer Sicht bedeutet, indem sie unterschiedliche Facetten von Einsamkeit vorstellen. Diese beziehen sich auf Bedürfnisse, Emotionen und Gruppen der betroffenen Personen und weisen empirisch auf mannigfaltige Ursachen hin. Zudem wird dargestellt, welchen Einfluss verschiedene

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Faktoren wie Persönlichkeit, Migrationserfahrung, Armut, kritische Lebensereignisse oder pandemiebedingte Kontaktbeschränkungen auf Einsamkeit haben können. Weiterhin werden mögliche Auswirkungen von Einsamkeit beleuchtet und damit verbundene Wechselwirkungen von Einsamkeit und Gesellschaft skizziert. Anschließend geben die Autorinnen einen kurzen Überblick über Präventions- und Interventionsmaßnahmen. Der zweite Abschnitt »Gesellschaft: Einsamkeit als Indikator?« nimmt das Verhältnis von Einsamkeit und Gesellschaft in den Blick und versucht zu ergründen, was uns Einsamkeit über die Gesellschaft als Ganzes verrät. In ihrem soziologischen Beitrag gehen Janosch Schobin und Denis Newiak dafür der Frage nach, ob Einsamkeit tatsächlich ein Phänomen der Moderne ist und ob sie in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Hierfür problematisieren sie Einsamkeit in verschiedenen Altersgruppen und die Einflüsse der westlichen Individualgesellschaft. Die Verbreitung von Einsamkeit wird dabei einerseits von veränderten Lebensweisen und andererseits von liberalen Tendenzen innerhalb des skizzierten Gesellschaftsmodells beeinflusst. Timon Renz betrachtet in seinem Beitrag aus Perspektive der Zufriedenheitsforschung das Verhältnis von Einsamkeit, sozialer Isolation und Lebenszufriedenheit mit einem besonderen Fokus auf die Corona-Pandemie. Neben einer konzeptionellen Erfassung der jeweiligen Phänomene sowie der Problematisierung ihrer empirischen Erfassung und Interpretation erfolgt ein Blick in die Zahlen der von Einsamkeit betroffenen Personen in Deutschland über die letzten Jahre. Durch die Betrachtung empirischer Daten etwa zu subjektivem Wohlbefinden und Kontakthäufigkeit können darüber hinaus konzeptionelle Auffassungen von Einsamkeit in ein neues Licht gerückt werden. Raphael Rauh und Dominik Koesling zeichnen in ihrem philosophischen Beitrag schließlich ein vielschichtiges Bild der Einsamkeit. Demnach ist Einsamkeit keinesfalls ausschließlich negativ oder ausschließlich positiv, sondern stellt eine ambivalente, existenziell menschliche und ethisch herausfordernde Erfahrung dar, die fest in der ideengeschichtlichen Entwicklung des Menschen verankert ist. Die Autoren verorten Einsamkeitserfahrungen auf Hartmut Rosas drei Achsen der Weltbeziehung und zeigen anhand dessen auf, dass Einsamkeit jeweils sowohl eine negative, entfremdete Erfahrung der »Beziehung der Beziehungslosigkeit« sein kann als auch eine positive Erfahrung der »resonanten Weltbeziehung«. Diese differenzierte Beschreibung der Einsamkeit öffnet den Blick für das gesellschaftskritische Potenzial, das Erfahrungen von Einsamkeit innewohnt. Der dritte Abschnitt des Bandes »Tabus überwinden: Betroffenenperspektiven auf Einsamkeit« fokussiert das Tabu der Einsamkeit, indem er unterschiedliche Perspektiven von oft unausgesprochener, hier explizit in Worte gefasster Einsamkeit betrof-

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fener Menschen versammelt. Einerseits tritt so deutlich hervor, wie belastend Erfahrungen von Einsamkeit sein können, andererseits zeigt sich, wie vielfältig und individuell Einsamkeitserfahrungen sind und wie lohnenswert es sein kann, verschiedene Sichtweisen auf das Thema einander gegenüberzustellen. Leo Ryczko bringt zunächst eine historische Perspektive ein, die einen Einblick in das Einsamkeitserleben von queeren Menschen in der Zeit der Weimarer Republik ermöglicht. Die Situation homosexueller Männer wird anhand von Kontaktanzeigen und Ausschnitten aus einem aktivistischen Aufruf verdeutlicht, die einer Zeitschrift für homosexuelle Männer im Deutschland der 1920er Jahre entnommen sind. Solche Publikationen boten unter anderem einen Raum für Protest gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung von Homosexualität und hatten das Potenzial, ein Gefühl der Gemeinschaft zu schaffen – das auch, so wird im Beitrag deutlich, der Einsamkeit entgegenwirken sollte. Denn in einer Gesellschaft, in der eine soziale Gruppe ausgeschlossen wird, kann die (vermeintliche) Zugehörigkeit zu eben einer solchen Gruppe schnell zu einem Faktor für Einsamkeit werden. Thomas Wagener hat in einer akutpsychiatrischen Station des Knappschaftskrankenhauses Lütgendortmund Patient:innen zur Rolle von Einsamkeit in ihrem Leben, ihrem sozialen Umfeld und damit zusammenhängenden Herausforderungen interviewt. Vier dieser Interviews sind in seinem Beitrag wiedergegeben, die durch entsprechende Hintergrundinformationen eingerahmt und gemeinsam mit anderen, nicht abgedruckten Interviews betrachtet werden. Das Ergebnis sind seltene, sehr persönliche Einblicke in das individuelle Einsamkeitserleben der Patient:innen, die unter anderem durch die darin enthaltenen Darstellungen von Suizidversuchen durchaus auch Grenzerfahrungen von Lektüre darstellen können. Der anschließende Beitrag von Dieter Kußmann nähert sich der Einsamkeit auf eine ebenso emotionale Weise. Er schildert im Interview, dass Einsamkeit mit einer tiefen Traurigkeit einhergehen kann und bringt zum Ausdruck, wie das soziale Umfeld mit als traurig empfundenen oder schambesetzten Themen wie Einsamkeit umgeht. Der Interviewte erlebte Einsamkeit auch selbst während einer Haftstrafe; eine Situation, die soziale Beziehungen besonders auf die Probe stellt. Dabei spricht er offen über die damit verbundenen Gefühle und darüber, wie schwer es sein kann, überhaupt über das Thema zu sprechen. Die beiden Beiträge des vierten Abschnitts »Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung: Der Tod als einsam(st)es Thema?« widmen sich den besonderen sozialen Herausforderungen, die sich aus der Verschränkung zweier Tabus – Einsamkeit und Tod – ergeben. Dass es gilt, diese Tabus zu überwinden, verdeutlicht sich in Bezug auf Einsamkeit auf zweierlei Weise: zum einen, weil das »Lüften des Vorhangs« vor solch als schwierig empfundenen Themen offenbart, dass es auf die Frage nach Einsamkeit am Lebensende keine allgemeingültige Antwort gibt beziehungsweise diese nuancierter ausfällt, als man zunächst vermuten mag; zum anderen, weil deutlich wird,

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wie wichtig es ist, Menschen am Ende ihres Lebens nicht alleine – oder einsam – zu lassen. Was einsames Sterben und unentdeckte Tode bedeuten, betrachtet Susanne Loke in ihrem Beitrag aus Sicht der Thanatosoziologie. Sie zeigt auf, dass die Verbreitung einsamer Tode mit Fragen der sozialen Exklusion beziehungsweise der sozialen Teilhabe zu Lebzeiten zusammenhängt, und dass es verschiedene Arten von Toden gibt, die ein Mensch sterben kann. Die Verhinderung einsamer Tode stellt damit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und eine durch die Verborgenheit dieser sich im privaten Raum – und damit unter Ausschluss einer Öffentlichkeit – vollziehenden Phänomene nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Silke Malzahn greift mit ihrem Beitrag ebenfalls die Themen Einsamkeit, Tod und Sterben auf und schildert den Alltag der Palliativversorgung samt des Umgangs mit einschneidenden Diagnosen, aussichtslosen Kämpfen ums Leben und dem Weg des Sterbens, den letztlich jede:r alleine bestreiten muss. Einsamkeit am Ende des Lebens und während des Sterbens spielt bei Betroffenen oft eine andere Rolle als bei ihren Angehörigen – und gestaltet sich insgesamt anders, als man auf den ersten Blick vielleicht annehmen mag. Die Vermeidung tabuisierter Themen wie Tod oder Sterben führt immer wieder dazu, dass Betroffene und Angehörige, etwa aufgrund von Berührungsängsten, von ihrem Umfeld gemieden werden, was Gefühle von Einsamkeit hervorrufen oder verstärken kann. Zum Abschluss des Sammelbandes konzentrieren sich die Abschnitte fünf bis sieben auf die Möglichkeiten, Einsamkeit als einer sozialen Herausforderung zu begegnen. Sie stellen Hilfsangebote und mögliche Maßnahmen gegen Einsamkeit vor. Der fünfte Abschnitt »Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit« verweist dabei auf die grundsätzlichen Möglichkeiten, Einsamkeit etwas entgegenzusetzen. Während es eine Reihe von Interventionen gibt, die darauf abzielen, Einsamkeit zu reduzieren, wird im Beitrag von Noëmi Seewer und Tobias Krieger zu Beginn dieses Abschnitts deutlich, dass nicht alle Maßnahmen gleichermaßen helfen. Eine Betrachtung der Wirksamkeit gelingt durch die Verortung von Interventionen zur Reduktion und Prävention von Einsamkeit auf individueller, gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. Die Autor:innen erarbeiten im Zuge ihres Beitrags eine Übersicht zu Interventionen auf der Individualebene und zu entsprechenden Studien zur Wirksamkeit. Unter anderem wird gezeigt, wie wichtig eine Zielgruppenorientierung und das Setting des jeweiligen Angebots ist, aber auch, an welchen Stellen noch Forschungsbedarf besteht. Ruth Belzner ermöglicht im Anschluss daran quantitative und qualitative Einblicke in statistische Daten und Gesprächsnotizen der TelefonSeelsorge, die von den Mitarbeiter:innen während der Telefonate festgehalten wurden und Hinweise auf ein Einsamkeitserleben der Anrufenden beinhalten. Die Ergebnisse geben zum ei-

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nen Aufschluss über die Häufigkeit und Relevanz von Einsamkeit in den Gesprächen mit der TelefonSeelsorge, zum anderen zeigt sich, welche Themen und Anliegen im Kontext von Einsamkeit auftreten und was Anrufende mit Einsamkeitsproblematiken eint. Die Rolle der TelefonSeelsorge samt möglicher Strategien im Umgang mit Einsamkeit wird dabei kontrovers diskutiert. Der darauffolgende sechste Abschnitt »Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter« konzentriert sich auf Hilfsangebote in Lebensabschnitten, in denen Einsamkeit besonders häufig auftritt: das Studium und das Alter. Hilfsangebote nehmen in diesen Phasen des Lebens eine besondere Rolle ein. Alina Käfer berichtet für die »Nightlines«, einem Zuhörangebot von Studierenden für Studierende, von jungen Menschen, die insbesondere während ihres Studiums mit Einsamkeitserfahrungen zu kämpfen haben. Ein fiktives Fallbeispiel führt hierbei in die Anliegen und Themen der Kontaktsuchenden ein. Auslösende Faktoren von Einsamkeit bei Studierenden sind ebenso Thema des Beitrags wie der Ausdruck dieser Empfindungen durch die Anrufer:innen. Der Studienbeginn leitet einen neuen Lebensabschnitt ein, der viele Veränderungen, aber auch Herausforderungen mit sich bringt. Auch die Corona-Pandemie stellte auf einen Schlag das Universitätsleben auf den Kopf, eine Situation, in denen es Hilfsangebote wie jener der Nightlines bedarf. Der Beitrag von Christian Kloß betrachtet die gleiche Thematik aus dem Blickwinkel der Psychologischen Studienberatung an der Technischen Universität Dortmund. Er schildert, wie Einsamkeit sich im universitären Kontext samt der damit verbundenen psychischen Belastung bemerkbar macht. Auch unter Rückgriff auf die Corona-Pandemie verdeutlicht er, wie die beraterische Praxis an der Universität Einsamkeit unter Studierenden und unter Mitarbeitenden begegnen kann. Die Hilfe zur Selbsthilfe ist dabei eine der Handlungsmaximen, die die Arbeit der Psychologischen Studienberatung bestimmt, und die in dem Beitrag an den aktuellen Forschungsstand rückgekoppelt wird. Amira Mahdi und Elke Schilling fokussieren in ihrem Beitrag dagegen eine Gruppe von Menschen in einem anderen besonders häufig mit Einsamkeit verbundenen Lebensabschnitt: Sie zeichnen die Belange und Lebenssituationen von einsamen älteren Menschen nach, die sich beim »Silbernetz«, einem Gesprächsangebot für ältere Menschen, melden. Viele einsame Menschen möchten »einfach mal reden«, sie möchten Freundschaften knüpfen, sich vernetzen und an der Gesellschaft teilhaben. Lebhafte Beispiele und Anekdoten unterstreichen, was Einsamkeit bei Betroffenen auslöst, mit welchen Lebensumständen Einsamkeit einhergeht und wie mit ihr im besten Falle umgegangen werden kann.

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Im abschließenden Abschnitt des Sammelbandes »Besondere Lebenslagen, besondere Einsamkeit: Soziale Angst, Wohnungslosigkeit und Armut« rücken zu guter Letzt solche Lebenslagen in den Fokus, in denen Einsamkeit besonders ausgeprägt sein kann – und in denen Hilfsangebote wie jene, die von den Autor:innen vorgestellt werden, große Bedeutung erlangen. So zeigt Julian Kurzidim vom »intakt e.V. – Norddeutscher Verband der Selbsthilfe bei sozialen Ängsten« in seinem Beitrag, wie belastend Einsamkeit in Kombination mit bestimmten persönlichen Voraussetzungen sein kann, und dass der Kontakt zu anderen Menschen mitunter vermieden wird, obwohl man sich einsam fühlt. Für Menschen mit sozialen Ängsten, oder »Schüchterne«, wie Julian Kurzidim sie auch nennt, wird oftmals nicht nur Einsamkeit als belastend bis quälend erlebt, sondern auch Interaktionen mit anderen Menschen, die eigentlich dabei helfen könnten, die eigene Einsamkeit zu mindern. Sein Beitrag beschreibt den Teufelskreis aus Angst, Vermeidung und Einsamkeit, der die »Käseglocke«, die zwischen den Betroffenen selbst und anderen Menschen steht, von einer Schutzzone zu einer unsichtbaren Mauer werden lässt. Gleichzeitig zeigt er Wege auf, wie Betroffene sich daraus befreien können. Wie komplex das Verhältnis zwischen der Gegenwart anderer Menschen und der Erfahrung von Einsamkeit ist, zeigt sich auch im daran anschließenden Beitrag von Anke Voigt über Einsamkeit unter Wohnungslosen aus Sicht der Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof. Denn einsam fühlen kann man sich auch inmitten des Trubels der Großstadt, im bunten Treiben am Hauptbahnhof und sogar als Teil von »Plattengemeinschaften« mit anderen Personen ohne Obdach. Bei Wohnungslosen verschränken sich gesellschaftliche Ausgrenzung, Armut und gesundheitliche Probleme und führen oftmals zu Einsamkeit, die allerdings selten direkt thematisiert wird. Heike Goebel berichtet im Anschluss daran über die Einsamkeitserfahrungen von und mit Menschen in Armut und sozialer Not, die in die »Naturheilpraxen ohne Grenzen« mit den unterschiedlichsten körperlichen und psychischen Beschwerden kommen. Einsamkeit kann sich in Verbindung mit Armut und Krankheit schnell zu einem Teufelskreis verbinden, wie Heike Goebel ihn beschreibt. Für die betroffenen Personen und ihr soziales Umfeld geht das mit weitreichenden Konsequenzen einher, sie sind meist auf Hilfe von außen angewiesen. Der Beitrag zeigt ein weiteres Mal auf, wie zentral Hilfsangebote gegen Einsamkeit und ihre Begleitfaktoren sind – auch grundsätzlich und über den Fokus auf besondere Lebensabschnitte und -lagen wie die sozialer Benachteiligung hinaus. In den »Schlussbetrachtungen« dieses Sammelbandes werden zu guter Letzt einzelne Steinchen und Teile des »Mosaiks der Einsamkeiten« von uns herausgegriffen, um ihre Wichtigkeit hervorzuheben, Lücken des Mosaiks aufzuzeigen sowie die

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Steinchen und bereits entstandene kleine Mosaike dieses Sammelbandes noch einmal miteinander zu verzahnen.

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I. Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit1 Axel Seemann (Bentley University, USA) | Philosophie des Geistes

1. Einleitung Die Erfahrung der Einsamkeit wird zunehmend als ein zentrales Problem der öffentlichen Gesundheit [public health] erkannt. Sie korreliert mit körperlichen Gesundheitsproblemen und Sterberaten.2 Die psychologische Forschung beschäftigt sich intensiv mit diagnostischen Methoden und therapeutischen Ansätzen zu diesem Problem. Die Frage, was Einsamkeit eigentlich ist, hat jedoch bis vor kurzem nur geringe Beachtung gefunden. Traditionelle Ansätze in der Philosophie verstehen Einsamkeit als ein existenzielles oder politisches Phänomen.3 Dagegen arbeiten viele zeitgenössische psychologische Arbeiten mit Versionen der Definition von Einsamkeit als einer »gefühlten Abwesenheit von sozialer Bindung«; solche Definitionen sind auch in Nachschlagewerken oft zu finden.4 Obwohl sie auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, lassen diese Definitionen aber wesentliche Fragen offen. In diesem Aufsatz arbeite ich ein zentrales Problem für die philosophische Forschung zur Einsamkeit heraus und zeige, dass seine Reflexion für einen Fortschritt in der Behandlung der Frage nach der Natur der Einsamkeit unabdingbar ist. Am Ende steht ein Lösungsvorschlag.5 In aller Kürze besteht das Problem darin, die Rolle bestimmter anderer Personen in der Einsamkeitserfahrung des betroffenen

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Ich möchte mich herzlich bei den Herausgeber:innen für ihre gründlichen und hilfreichen Anmerkungen und Vorschläge bedanken. J.T. Cacioppo et al. (2002): Loneliness and Health. Siehe zum existenziellen Phänomen B.L. Mijuskovic (2012): Loneliness in philosophy, psychology, and literature, zum politischen Phänomen H. Arendt (1976): The origins of totalitarianism. Für Mijuskovic ist Einsamkeit eine menschliche Grunderfahrung, ohne die Selbstbewusstsein nicht möglich wäre. Sie wird also nicht durch die Abwesenheit anderer Menschen hervorgerufen. Arendt argumentiert, dass Einsamkeit das politische Subjekt für den Totalitarismus empfänglich macht. Siehe etwa L.C. Hawkley/J.T. Cacioppo (2010): Loneliness Matters, oder R. Ma et al. (2020): The effectiveness of interventions; als Nachschlagewerk siehe zum Beispiel L.C. Hawkley (2015): Loneliness. Kapitel 2 und 3 dieses Aufsatzes lehnen sich eng an A. Seemann (2022): The Psychological Structure of Loneliness an.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

Menschen verständlich zu machen. Ich argumentiere, dass diese Rolle über das soziale Selbstverständnis der einsamen Person bestimmt wird. Meinem Ansatz zufolge ist dieses Selbstverständnis in einem normativen Modell begründet, das die Person von sich in ihrem sozialen Umfeld hat und das sie mit ihrer als tatsächlich wahrgenommenen Umwelt vergleicht. Dieses Modell bildet unter anderem gewünschte Verhältnisse zu bestimmten anderen Personen ab. Diskrepanzen zwischen dem Modell und der sozialen Wirklichkeit, wie sie von der Person erlebt wird, erklären dann das Gefühl der Einsamkeit.

2. Erfahrung als notwendige Bedingung von Einsamkeit Die Psychologie unterscheidet zwischen »objektiver« sozialer Isolation und der »subjektiven« Erfahrung von Einsamkeit.6 Wie oft betont wird, korrelieren diese beiden Dimensionen der Einsamkeit nicht systematisch miteinander:7 Eine Person kann sich in ihrer Beziehung oder einer Freundschaft einsam fühlen, während ein:e Eremit:in ohne soziale Kontakte nicht automatisch Einsamkeit erfahren muss. Es stellt sich dann die Frage, wie das Verhältnis zwischen sozialen und erfahrungshaften [experiential] Faktoren zu denken ist – in welchem Verhältnis also etwa die Anzahl und Qualität sozialer Kontakte zu der Erfahrung von Einsamkeit stehen. Ein plausibler Ansatz ist, Erfahrung als notwendige Bedingung der Einsamkeit zu begreifen: Eine Person kann nur einsam sein, wenn sie sich einsam fühlt. Soziale Isolation ist dann weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung: Einsamkeit beginnt und endet mit der Erfahrung der einsamen Person. Die Erklärung dieser Erfahrung kann, aber muss nicht auf soziale Isolation verweisen. Auch andere Faktoren können zur Erfahrung der Person als einsam beitragen. Es gibt mindestens zwei Argumente für diese Sichtweise. Das erste ist schon genannt: Die Abwesenheit von sozialen Kontakten muss nicht immer zur Erfahrung von Einsamkeit führen und kann also keine notwendige Bedingung von Einsamkeit sein. Das zweite Argument ist das Verständnis von Einsamkeit, das sich bereits in den oben genannten Definitionen ausdrückt: Einsamkeit ist ihrer Art nach eine Form der Erfahrung und nicht nur eine soziale oder biologische Gegebenheit. Diese Überlegung wird auch von Ansätzen geteilt, die Einsamkeit neurophysiologisch erklären.8 Ohne Bezugnahme auf die Erfahrungswelt der Person hat der Begriff der Einsamkeit außerdem nicht die Bedeutung, die ihm im täglichen Sprachgebrauch zugewiesen wird.

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R. Ma et al. (2020): The effectiveness of interventions. Zum Beispiel D. Vincent (2020): A History of Solitude. L.C. Hawkley/J.T. Cacioppo (2010): Loneliness Matters.

Axel Seemann: Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit

Eine Theorie der Einsamkeit muss dann die Frage beantworten, wie diese Erfahrung zu denken ist. Eine vollständige Antwort auf diese Frage hat mehrere Dimensionen. Eine wichtige Dimension ist phänomenologisch, also die Erscheinungen betreffend: Sie beschäftigt sich mit der Beschreibung der Erfahrung der Einsamkeit. Eine zweite Dimension ist typologisch: Zu welcher Art der Erfahrung gehört die Einsamkeit? Sollte sie als Gefühl, als Emotion oder eine Art der Wahrnehmung verstanden werden?9 Eine dritte Dimension besteht in der Struktur dieser Erfahrung und in ihrem Verhältnis zur Außenwelt: Bezieht sich Einsamkeit auf ein Objekt, das korrekt oder inkorrekt dargestellt werden kann (etwa bestehende soziale Kontakte), oder ist dieses Verhältnis besser als eine direkte Verbindung zur sozialen Umwelt zu verstehen, die sich in der Erfahrung verkörpert (etwa durch eine körperliche interaktive Handlung)? Im Folgenden stelle ich kurz drei mögliche Ansätze dar, die psychologische Struktur der Einsamkeit zu betrachten: den intentionalistischen, den subjektivistischen sowie den interaktionistischen Ansatz. Diese bewegen sich somit innerhalb der dritten Dimension (unter gelegentlichem Rückbezug auf die anderen beiden Dimensionen). Ich argumentiere dann, dass zwei dieser Ansätze die schon genannte zentrale Frage nach der Rolle konkreter anderer Personen in der Erfahrung des einsamen Menschen beantworten sollten und erarbeite eine modelltheoretische Antwort auf diese Frage.

3. Drei Ansätze zur Struktur der Erfahrung von Einsamkeit Grundsätzlich lässt sich zwischen mindestens drei möglichen Strukturen unterscheiden, durch die das Verhältnis der Erfahrung eines Subjekts zur Außenwelt beschrieben werden kann. Die erste Struktur ist die der Intentionalität. Sie geht auf Brentano10 zurück und ist am einfachsten am Beispiel der Gegenstandswahrnehmung zu erklären, obwohl sie sich nicht auf Wahrnehmungserfahrungen beschränkt. Wahrnehmungen sind demnach auf ein bestimmtes Objekt gerichtet: Der Apfel, den ich vor mir sehe, ist das Objekt meiner visuellen Erfahrung. Die Richtigkeit [veracity] der Erfahrung wird von ihrem Objekt bestimmt: Falls es mir scheint, als sähe ich einen Apfel, obwohl sich keiner in meinem Blickfeld 9

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Der Unterschied zwischen Gefühlen und Emotionen kann auf sehr unterschiedliche Weise bestimmt werden. Ein möglicher Ansatz ist der von P. Goldie, welchem zufolge Emotionen Gefühle sind, die auf ein intentionales Objekt gerichtet sind (P. Goldie [2000]: The emotions). A.R. Damasio versteht Emotionen als körperliche Reaktionen auf bestimmte Signale und Gefühle als Erfahrungen, die diese Reaktionen im Bewusstsein abbilden (A.R. Damasio [2000]: The Feeling of what Happens). Ein verwandter Ansatz ist der von J.J. Prinz, nach dem Emotionen eine Art der Wahrnehmung sind (J.J. Prinz [2004]: Gut reactions). Eine ausführliche Übersicht zur Theorie der Emotionen ist in A. Scarantino/R. de Sousa (2021): Emotion zu finden. F. Brentano (1874): Psychologie vom empirischen Standpunkte.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

befindet, ist die Erfahrung nicht akkurat, bildet also nicht die Wirklichkeit ab. Das intentionalistische Modell wird oft auch für Erfahrungen herangezogen, die keine Objektwahrnehmungen sind,11 und spielt in der Einsamkeitsforschung eine wichtige Rolle. Der Vorschlag von Cacioppo et al.,12 Einsamkeit als eine Art sozialen Schmerz zu begreifen, ist hierfür ein Beispiel. Diesem Ansatz zufolge ist Einsamkeit eine erfahrungshafte Rückmeldung auf die neurophysiologischen Prozesse, die von sozialer Isolation ausgelöst werden. Sozialer Schmerz ist als ein biologisches Signal zu verstehen, das den Organismus zur Erneuerung der sozialen Kontakte aufruft, die zum Überleben notwendig sind.13 Ganz anders argumentieren Roberts und Krueger,14 denen zufolge Einsamkeit sich immer auf ein »soziales Gut« wie etwa Freundschaft oder Liebe bezieht, zu dem die Person positiv eingestellt ist und das sie vermisst. Während Einsamkeit bei Cacioppo also in etwas Vorhandenem besteht (dem besagten sozialen Schmerz, der einen körperlichen Prozess zu Bewusstsein bringt), ist Einsamkeit bei Roberts und Krueger auf etwas Abwesendes gerichtet (nämlich ein soziales Gut), das vermisst wird. Auch der letztgenannte Ansatz ist intentional in Brentanos Sinn: Der mentale Zustand der Person ist auf ein – in diesem Fall abstraktes – Objekt gerichtet und hat daher Bedingungen der Richtigkeit, die von diesem Objekt vorgegeben werden. Um die Einsamkeit einer bestimmten Person zu verstehen, muss man also das von ihr vermisste soziale Gut in den Blick nehmen und die Einstellung zu diesem Gut betrachten (also unter anderem die Gründe, aus denen es von ihr vermisst wird). Ein zweiter, subjektivistischer Ansatz zur Einsamkeitsforschung konzentriert sich weniger auf das Verhältnis zwischen der Innen- und Außenwelt des Subjekts als auf das Verhältnis der Erfahrung der Einsamkeit zu anderen Aspekten seiner Psyche. Ratcliffe15 führt den Begriff des »existenziellen Gefühls« ein, das der Intentionalität zu Grunde liegt und sie erst möglich macht. Ratcliffe16 betont, dass die Erfahrung der einsamen Person sich oft nicht auf bestimmte Situationen bezieht, sondern in einem allgemeinen Gefühl der Isolation besteht, das sowohl den Bezug zu anderen Personen als auch zur erlebten Umwelt beeinflusst und die Möglichkeit zukünftiger Teilnahme untergräbt. Ein solches Verständnis der Einsamkeit richtet sich dann nicht primär auf das Verhältnis zwischen den mentalen Zuständen betroffener Personen und den Objekten, auf die sie gerichtet sind. Es sieht die Einsamkeit vielmehr

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Siehe zum Beispiel M. Ratcliffe (2019): Emotional intentionality zum intentionalistischen Begriff von Emotion. J.T. Cacioppo et al. (2002): Loneliness and Health. J.T. Cacioppo/L.C. Hawkley (2009): Perceived social isolation and cognition. T. Roberts/J. Krueger (2020): Loneliness and the Emotional Experience of Absence. M. Ratcliffe (2005): The feeling of being; M. Ratcliffe (2020): Existential feelings. M. Ratcliffe (unveröffentlicht): Loneliness, Grief, and the Lack of Belonging.

Axel Seemann: Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit

als eine grundsätzliche Art der sozialen Erfahrung an, die sich immer auch in der Wahrnehmung der Objektwelt widerspiegelt. Ein dritter Ansatz, an dieser Stelle als interaktionistischer Ansatz bezeichnet, leitet sich aus den sogenannten »4E«-Theorien [embodied, embedded, enacted, extended]17 der Wahrnehmung und Kognition ab.18 Solche Theorien argumentieren, dass die Rolle des Körpers sich nicht auf seine Funktion als Vermittler von Information beschränkt, sondern die Wahrnehmung und das Wissen des Subjekts mitkonstituiert. Zentral ist hier die Überlegung, dass Wahrnehmung aller Art sich nicht passiv vollzieht, sondern eine körperliche Teilnahme des Subjekts an seiner Umwelt voraussetzt. Einem solchen Ansatz zufolge ist es ein Fehler, Wahrnehmung durch die Begriffe des »mentalen Zustands« und »intentionalen Objekts« verstehen zu wollen, durch dessen Eigenschaften Bedingungen der Richtigkeit festgesetzt werden. Das Verhältnis zur Umwelt wird durch Aktivität bestimmt und in dieser Aktivität dynamisch konstituiert. Einsamkeit kann einem solchen Ansatz zufolge als ein Defizit bezüglich der tatsächlichen oder prinzipiell möglichen Teilnahme des Individuums an seiner Umwelt verstanden werden. Noch gibt es meines Wissens nach keine vollständig ausgearbeitete 4E-Theorie zur Einsamkeit; Ratcliffes19 Vorschlag, sie als ein Defizit hinsichtlich der erfahrenen Möglichkeit der Teilnahme an der sozialen Umwelt zu verstehen, greift jedoch Elemente dieses Ansatzes auf. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Philosophie des Geistes zwischen mindestens drei Ansätzen unterscheiden kann, in denen das Verhältnis der mentalen Zustände des Subjekts zu seiner physischen und sozialen Umwelt theoretisiert wird. Diese Ansätze legen jeweils ein eigenes Einsamkeitsverständnis nahe. Weil Einsamkeit auf verschiedene Arten erfahren werden kann, und weil sie sich komplex zu anderen mentalen Zuständen, Emotionen und Pathologien verhält, sollten diese Ansätze nicht als konkurrierend verstanden werden. Im Gegenteil können sie alle zu einem besseren Verständnis dieser theoretisch schwer zu fassenden Erfahrung beitragen.

4. Ein Problem für die Einsamkeitsforschung Es ist unbestritten, dass Einsamkeit mit anderen Menschen und deren Abwesenheit zu tun hat. Eine zentrale Frage, die sich jedoch für alle drei skizzierten Ansätze stellt, ist, ob konkrete Personen die Erfahrung des einsamen Menschen prägen

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Zu Deutsch etwa »verkörpert«, »eingebettet«, »in Kraft gesetzt«, »erweitert«. Siehe zum Beispiel die Beiträge in A. Newen/L. de Bruin/S. Gallagher (Hg.) (2018): The Oxford Handbook of 4E Cognition. Eine kritische Diskussion findet sich in J. Carney (2020): Thinking avant la lettre. M. Ratcliffe (unveröffentlicht): Loneliness, Grief, and the Lack of Belonging.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

oder ob es eher um einen grundsätzlichen Gemütszustand geht, der unabhängig von spezifischen Personen ist. Grundsätzlich lässt sich zwischen chronischer und episodischer Einsamkeit unterscheiden. Chronische Einsamkeit bestimmt langfristig den Gemütszustand der Person und ist nicht notwendigerweise an bestimmte Erfahrungen mit anderen Menschen geknüpft.20 Dagegen werden episodische Erfahrungen der Einsamkeit von der Abwesenheit oder dem Verlust konkreter Personen situativ hervorgerufen. In solchen Erfahrungen spielen diese Personen eine andere kausale Rolle als bei chronischer Einsamkeit, welche zumindest nicht notwendig mit bestimmten anderen Menschen zu tun haben muss. Episodische Einsamkeit kann beispielsweise nach einer Trennung, nach dem Tod einer Partner:in oder nach einem Umzug in eine fremde Stadt empfunden werden. In diesen Fällen ist die Abwesenheit einer oder mehrerer konkreter Personen ein wesentlicher Grund dafür, dass sich der betroffene Mensch einsam fühlt. Diese Art der Einsamkeit scheint also nicht in dem allgemeinen Gefühl der Ausgeschlossenheit zu bestehen, das ich oben mit dem subjektivistischen Ansatz verbunden habe. Im Folgenden konzentriere ich mich auf diese episodische Art der Einsamkeit, weil hier die Frage nach der Rolle anderer Personen in der Erfahrung des einsamen Menschen ein besonderes Problem aufwirft, und werde daher nicht weiter auf subjektivistische Ansätze eingehen. Sowohl für intentionalistische als auch für interaktionistische Theorien stellt sich also die Frage, wie die kausale Rolle der abwesenden Person in der Erfahrung des einsamen Menschen zu verstehen ist. Bezüglich intentionalistischer Ansätze findet sich eine mögliche Antwort implizit in Roberts’ und Kruegers Vorschlag, soziale Güter als Objekte zu sehen, auf welche die Einsamkeit gerichtet ist. Die Rolle konkreter Personen ist dann nur mittelbar: Sie prägen das Verständnis des sozialen Gutes, dessen Abwesenheit als schmerzhaft erfahren wird. Die Einsamkeit einer Person, die nach einer Trennung ihre Partner:in vermisst, wird dann also nicht durch die Abwesenheit einer vertrauensvollen Beziehung per se hervorgerufen, sondern durch die Abwesenheit des sozialen Gutes, das durch die Trennung von oder den Verlust der Partner:in verloren gegangen ist. Die Abwesenheit der Freundin oder des Partners ist nicht direkt, sondern über den Umweg des sozialen Gutes der Grund für die Einsamkeit des betroffenen Menschen. Es sind aber nicht nur intentionalistische Ansätze, für die sich die Frage nach der Rolle bestimmter Personen in der Erfahrung der Einsamkeit stellt. Auch für einen interaktionistischen Ansatz, der das gemeinsame Handeln mit anderen in den Mittelpunkt des sozialen Bewusstseins stellt, muss sie beantwortet werden. Einsam-

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T. Roberts und J. Krueger beschreiben chronische Einsamkeit als ein »affektives Abflachen«, das durch langfristiges Alleinsein hervorgerufen wird (T. Roberts/J. Krueger [2020]: Loneliness and the Emotional Experience of Absence, S. 15–17). Es ist aber auch möglich, dass sich eine chronisch depressive Person konstitutiv einsam fühlt, ohne dass dieses Gefühl durch den Verlust konkreter anderer Menschen hervorgerufen wurde.

Axel Seemann: Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit

keit resultiert demnach nicht direkt aus dem Ausbleiben bestimmter gemeinsamer Handlungen. Diese Handlungen müssen erst als schmerzlich abwesend in der Erfahrung des einsamen Menschen dargestellt werden. Dafür müssen die in Frage stehenden Handlungen für den Menschen von persönlicher Bedeutung sein. Um diese Bedeutung zu erklären, ist der Bezug auf Begriffe wie Freundschaft oder Liebe unumgänglich: Man kann die Spaziergänge mit seiner Partner:in vermissen und sich daher einsam fühlen, aber man fühlt sich nicht einsam wegen des Ausbleibens der zuvorkommenden Bedienung im Restaurant, auch wenn man sie vermissen mag.21 Es ist keine leichte Aufgabe für einen interaktionstheoretischen Ansatz zu Einsamkeit, das Verhältnis zwischen konkreten sozialen Handlungen und ihrer Einbettung in die Art von Begriffen zu erklären, die Roberts und Krueger soziale Güter nennen. Es kann aber wenig Zweifel bestehen, dass ohne den Bezug auf solche Begriffe die Rolle anderer Personen in der Erfahrung des einsamen Menschen kaum zu erklären ist. Unabhängig davon, welcher Ansatz zur Einsamkeitsforschung herangezogen wird, ist die Theoretisierung der Rolle konkreter anderer Personen und der Bedeutung, die sie im Leben des einsamen Menschen spielen, ein zentrales Problem.

5. Ein Lösungsvorschlag Wie also ist die Verbindung zwischen der Präsenz anderer Menschen und der sozialen Güter zu denken, die zur Erklärung von episodischer Einsamkeit notwendig ist? Meine zentrale Überlegung ist, dass diese Verbindung über das Selbstverständnis der einsamen Person hergestellt wird. Alle episodische Einsamkeit setzt eine Art des Selbst-Bewusstseins – also ein Bewusstsein der eigenen Person – voraus: Um sich einsam zu fühlen, muss die Person die Abwesenheit des anderen auf sich selbst beziehen. Das Selbstverständnis der einsamen Person ist zudem von sozialer Art: Das Subjekt des von der Außenwelt isolierten kartesianischen »Cogito«22 kann sich ebenso wenig einsam fühlen wie ein Wesen, dem die Selbstwahrnehmung völlig fehlt. Die einsame Person erfährt oder versteht sich selbst als ungenügend sozial eingebunden. Meine Hypothese ist, dass das Selbstverständnis dieser Person als soziales Wesen die Brücke zwischen Interaktion und den sozialen Gütern bildet 21

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Zumindest tritt in einer solchen Situation keine episodische Einsamkeit auf – bei chronischer Einsamkeit kann auch das Gefühl des generellen »Nicht-gesehen-Werdens« Gefühle von Einsamkeit hervorrufen oder verstärken. Der vielleicht bekannteste Grundsatz der Philosophie überhaupt, René Descartes’ »cogito, ergo sum«, besagt, dass das Subjekt aufgrund seines Denkvermögens zwangsläufig um seine Existenz weiß: Sobald ich fragen kann, ob ich existiere, muss ich bereits in irgendeiner Form bestehen. Diese notwendige Form der Existenz des denkenden Subjekts ist für Descartes rein geistig und kann daher nicht von sozialer Art sein, weil Sozialität Kommunikation und daher körperliche Handlung erfordert.

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und damit die Erklärung von episodischer Einsamkeit möglich macht. Ein direkter Rückgriff auf die objektiv gegebenen sozialen Beziehungen ist dieser Hypothese zufolge nicht notwendig, um episodische Einsamkeit zu erklären. Mein Ansatz beginnt mit Einsichten aus der Entwicklungspsychologie und besonders aus der Forschung zur Intersubjektivität.23 Es steht außer Zweifel, dass Interaktionen mit anderen von Geburt an eine große Rolle in der sozialen und kognitiven Entwicklung des Menschen spielen. Diese Interaktionen sind nicht nur im Kindesalter wichtig: Ohne sie ist gemeinsames Handeln und damit die sozial strukturierte Umwelt, in der wir alle agieren, grundsätzlich nicht denkbar. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, wie sich geteilte Erfahrungen in der Psyche des Individuums niederschlagen. In Teilen kann sich die Antwort auf die Funktion von Erinnerung berufen. Wir erinnern uns an frühere soziale Kontakte, assoziieren bestimmte subjektive Gefühle und Emotionen mit ihnen und sind in der Lage, von ihnen zu lernen und künftiges soziales Verhalten auf sie aufzubauen. Die psychologische Funktion früherer sozialer Interaktionen kann jedoch nicht in Erinnerungen an sich bestehen. Diese Erinnerungen spielen eine normative Rolle: Sie können im Bewusstsein der Person als positiv (und natürlich auch als negativ) verankert sein. So kann man sich etwa an die Urlaube mit einer früheren Partner:in oder Freund:in erinnern und sich einsam fühlen, weil man den Menschen vermisst, mit dem man schöne Zeiten verbracht hat. Es wird also eine Erklärung gebraucht, wie Erinnerungen diese normative Rolle spielen können, die zur Erfahrung von Einsamkeit führt. In den folgenden beiden Abschnitten führe ich zwei Begriffe ein, um diese Erklärung zu leisten. Der erste Begriff ist die »kognitive Offenheit«, die der sozialen Welt zu Grunde liegt. Der zweite Begriff ist das »triadische Modell«, das diese Offenheit in der Psychologie des Einzelnen abbildet.

5.1 Kognitive Offenheit Meine grundsätzliche Annahme, die ich hier nicht umfassend ausführen kann, ist, dass die gemeinsame Wahrnehmung eine wichtige entwicklungspsychologische Rolle in der Sozialisierung des Menschen spielt.24 Soziale Umwelt beginnt mit einer Form der Wahrnehmung, in welcher die an dieser Umwelt teilnehmenden Personen zumindest gemeinsam wissen, wo sich die Wahrnehmungsgegenstände relativ zum eigenen Standort und zu dem der anderen Person befinden, sodass

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P. Hobson (2004): The cradle of thought; P. Hobson/J. Hobson (2011): Joint Attention or Joint Engagement?; V. Reddy (2008): How infants know minds; V. Reddy (2011): A Gaze at Grips with Me; C. Trevarthen (1980): The foundations of intersubjectivity. Ich habe die Rolle der gemeinsamen Wahrnehmung und des gemeinsamen Wissens in der Konstitution der sozialen Welt ausführlich in A. Seemann (2019): The shared world dargestellt.

Axel Seemann: Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit

sie durch Zeigegesten und entsprechende sprachliche Ausdrücke (wie zum Beispiel »dieses«) hervorgehoben und in gemeinsamen Handlungen genutzt werden können.25 In der sozialen Umwelt haben Personen also immer zumindest eine minimale Art des praktischen (und später theoretischen) gemeinsamen Wissens über diese Welt.26 In vielen Fällen geht das gemeinsame Wissen, das die soziale Umwelt zweier oder mehrerer Personen konstituiert, weit über die räumliche Dimension hinaus. Freundschaften und Partnerschaften sind unter anderem in gemeinsamen Erinnerungen und gemeinsamem Wissen um Normen, Sachverhalte und gegenseitige Erwartungen verankert. Die soziale Umwelt ist in diesem Sinn »offen«, weil ihre Bewohner:innen immer gemeinsam um die Tatsachen wissen, die sie ausmacht.27 Natürlich ist dieses Wissen beschränkt: Nicht alles, was ich durch Wahrnehmung oder andere Quellen über ein gemeinsam betrachtetes Objekt weiß, ist Teil des Wissens, das ich in der gemeinsamen Wahrnehmung mit anderen teilen kann. Daher ist die Umwelt immer nur in Teilen sozial strukturiert. Sie wird zur sozialen Umwelt zu genau dem Grad, zu dem die Wahrnehmenden und Handelnden Wissen über sie teilen. Die kognitive Offenheit, die die soziale Umwelt konstituiert, ist leuchtend [luminous] im Sinne von Williamson:28 Eine Proposition ist »luminous«, wenn das sie wissende Subjekt weiß, dass es sie weiß. »Luminosity« ist also eine notwendige Eigenschaft des gemeinsamen Wissens: Wenn zwei oder mehr Personen gemeinsam um eine Tatsache wissen, weiß jede von ihnen notwendigerweise auch, dass sie beide dieses Wissen haben. Das gemeinsame Wissen liegt also nicht »im Dunkeln«,

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In der sogenannten »geteilten Aufmerksamkeit« [joint attention] gelangen zwei Wahrnehmende durch absichtliche, auch motorische, Zeigegesten zum gemeinsamen Wissen um das wahrgenommene Objekt. Diese Art der Wahrnehmung ist dann notwendigerweise als eine primitive Art des kommunikativen Handelns zu denken; siehe dazu die Aufsätze in N. Eilan et al. (Hg.) (2005): Joint attention und A. Seemann (2011): Joint attention. Weiterhin verwende ich die Begriffe des »geteilten« und »gemeinsamen« Wissens hier synonym, im Sinne des englischen »common knowledge«. Diese Art des sozial verankerten Wissens liegt vor, wenn jede von mindestens zwei Personen eine Proposition p weiß und weiterhin weiß, dass die andere Person (oder Personen) ebenfalls diese Proposition weiß; und wenn jede Person weiß, dass alle p wissen. Klassische Diskussionen finden sich in D. Lewis (1969): Convention und S.R. Schiffer (1972): Meaning. Ein Vorschlag, wie gemeinsames praktisches Wissen zu denken ist, findet sich in G.L. Satne (2020): Practical knowledge and shared agency. Praktisches Wissen kann als ein »Know-how« gedacht werden, das körperliches Handeln ermöglicht, ohne dass die handelnde Person ihr Wissen propositional (also zum Beispiel in Form einer Erklärung) zu fassen vermag. Theoretisches Wissen ist dagegen »knowledge-that«, welches in Propositionen ausgedrückt werden kann. Diese Unterscheidung geht auf G. Ryle (1949): The concept of mind zurück. A. Seemann (2021): An Externalist Theory of Social Understanding. T. Williamson (2000): Knowledge and its Limits.

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sondern besitzt eine intersubjektive »Strahlkraft«. »Luminosity« schlägt die epistemologische29 Brücke zwischen gemeinsamem Wissen und dem Wissen der beteiligten Einzelnen: Es kann kein gemeinsames Wissen bestehen, wenn die Beteiligten annehmen, es bestünde nicht. Es ist aber natürlich möglich, dass eine Person fälschlicherweise annimmt, dass eine Tatsache gemeinsam gewusst wird, und sich daher über die Offenheit des entsprechenden Aspekts der Umwelt täuscht – auch dann ist es aber kein gemeinsames Wissen. Es ist auch möglich, dass eine Person ihre Umwelt als ungenügend sozial strukturiert wahrnimmt. Dann sind bestimmte Tatsachen nicht im gemeinsamen Wissen verankert, was aber für die Erreichung bestimmter Ziele notwendig wäre. Ein einfaches Beispiel dafür liegt vor, wenn eine wahrnehmende Person die Aufmerksamkeit einer zweiten Person auf einen Gegenstand zu richten versucht, der aber dieser Person aufgrund einer für die erste Person unsichtbaren Barriere nicht zugänglich ist.30 Dann liegt nicht das gemeinsame Wissen um die räumliche Position des Objekts vor, das in diesem Beispiel die minimale Form der sozialen Umwelt konstituiert. Das gleiche Prinzip liegt auch der Einsamkeit zu Grunde, wenngleich für sie aber komplexere Fälle relevant sind. So kann eine Freundschaft oder Partnerschaft darunter leiden, dass für das Erreichen oder die Erhaltung dieses sozialen Gutes wichtige Tatsachen, wie etwa bestimmte Vorlieben oder Abneigungen der Beteiligten, nicht von den Teilnehmer:innen gemeinsam gewusst werden. Im schlimmsten Fall kann dies zu Einsamkeit führen, weil etwa die erwartete Qualität der Freundschaft nicht der tatsächlichen Qualität entspricht. Die kognitive Offenheit ist daher eine zentrale Stellschraube für Einsamkeitserfahrungen und spielt für die Erklärung der Einsamkeit eine wesentliche Rolle.

5.2 Das triadische Modell Der Begriff des Modells kommt ursprünglich aus der Wissenschaftstheorie und wird in den letzten Jahren auch in der Debatte um das »Mindreading« benutzt.31 29

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Epistemologie oder Erkenntnistheorie bezeichnet ein philosophisches Teilgebiet, das sich mit verschiedenen Formen »kognitiver Erfolge« beschäftigt – also etwa dem Erfolg, neues »Wissen« oder »Verstehen« zu erlangen. Diese Möglichkeit bildet die Grundlage der entwicklungspsychologischen Experimente von Moll und Kadipasaoglu und Moll und Meltzoff zum Wissen um Perspektive (H. Moll/D. Kadipasaoglu [2013]: The primacy of social over visual perspective-taking; H. Moll/A.N. Meltzoff [2011]: Joint Attention as the Fundamental Basis of Understanding Perspectives). P. Godfrey-Smith (2005): Folk Psychology as a Model. »Mindreading« bezeichnet die Fähigkeit, die mentalen Zustände von anderen durch die Wahrnehmung ihres Verhaltens zu verstehen. Es wird zwischen zwei Ansätzen unterschieden: der »Theory Theory«, derzufolge der »Mindreader« eine psychologische Theorie anwendet, die ihn zu (oft nicht bewusst ausgeführten) Schlussfolgerungen von beobachtetem Verhalten einer Person zu dem ihr Verhalten erklärenden mentalen Zustand befähigt (zum Beispiel A. Gopnik/A.N. Meltzoff [1997]: Words, thoughts, and theories; A.M. Leslie/O. Friedman/T.P. German [2004]: Core mechanisms in ›theory of

Axel Seemann: Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit

Ein theoretisches Modell ist ein hypothetisches System, das durch ein darstellendes Medium den Vergleich mit einem Objekt oder Zustand möglich macht. Weil Modelle keine Korrektheitsbedingungen haben, sind sie von Theorien zu unterscheiden.32 Sie sind Konstrukte, die in konkreten Situationen angewendet werden können, um Vergleiche mit einem Sollzustand, der im Modell dargestellt ist, möglich zu machen. Klassische Theorien der sozialen Kognition arbeiten mit den Begriffen der »Überzeugung« [belief ] und des »Wunsches« [desire], die der »Mindreader« anderen Subjekten zuschreibt, um ihre Handlungen zu erklären. Diese Art der Erklärung ist sehr restriktiv: Sie lässt keinen Raum für andere Faktoren wie Gefühle, moralische Normen, Erinnerungen und Charaktereigenschaften. Auch kann sie nur schwer der Überlegung Genüge tun, dass die Interpretation der mentalen Zustände anderer einer Reihe von verschiedenen Zwecken dient, von denen die Handlungserklärung nur einer ist. Eine Reihe von Arbeiten33 bietet einen vielversprechenden Lösungsansatz in Form eines psychologischen Modells, das durch verschiedene Faktoren angereichert und in unterschiedlichen Situationen eingesetzt werden kann. Die Literatur zur sozialen Kognition kann grob in zwei Ansätze eingeteilt werden: Auf der einen Seite stehen die klassischen Theorien des »Mindreadings«, denen zufolge das Verstehen der mentalen Zustände anderer vom Standpunkt der passiven Beobachter:in erfolgt. Auf der anderen Seite stehen Ansätze, denen zufolge die körperliche Interaktion mit anderen dieses Verständnis begründet.34 Diese beiden Ansätze werden meist als Gegenspieler dargestellt. Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass die Modelltheorie helfen kann, diese Rivalität zu überwinden.35

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mind‹) und der »Simulation Theory«, derzufolge die beobachtende Person die mentalen Zustände der anderen Person simuliert, indem sie sich in ihre Situation versetzt (zum Beispiel A.I. Goldman [2006]: Simulating minds). Modelle im hier verwendeten wissenschaftstheoretischen Sinn zielen nicht unbedingt darauf, die Wirklichkeit abzubilden. Vielmehr sind sie darauf ausgelegt, das Verstehen bestimmter Funktionen eines Systems zu erleichtern. P. Godfrey-Smith betont, dass ein und dasselbe Modell unterschiedlich interpretiert oder konstruiert werden kann, sodass es zum Beispiel in einer Interpretation der Vorhersage zukünftiger Ereignisse und in einer anderen der exakten Replikation der inneren Mechanismen des modellierten Systems dient (P. Godfrey-Smith [2005]: Folk Psychology as a Model, S. 4). Dies unterscheidet Modelle von wissenschaftlichen Theorien, deren Funktion zumindest im klassischen nomologisch-deduktiven Verständnis von C.G. Hempel (C.G. Hempel [1994]: The Function of General Laws in History) immer in der Erklärung und Voraussage bestimmter Ereignisse besteht. H.L. Maibom (2003): The Mindreader and the Scientist; H.L. Maibom (2007): Social Systems; H.L. Maibom (2009): In defence of (model) theory theory; S. Spaulding (2018): How we understand others. H. De Jaegher/E. Di Paolo/S. Gallagher (2010): Can social interaction constitute social cognition?; S. Gallagher (2008): Direct perception in the intersubjective context; D. Hutto (2011): Elementary Mind Minding, Enactivist-Style. A. Seemann (2021): An Externalist Theory of Social Understanding.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

Diesem Vorschlag zufolge konstruiert man im Kindesalter auf der Basis von frühen Interaktionen mit anderen ein Modell, das schematisch die triadische Konstellation der Position von Gegenständen des gemeinsamen Handelns relativ zu seiner eigenen räumlichen Position sowie jener der Kooperationspartner:in darstellt. Dieses triadische Modell ermöglicht gegen Ende des ersten Lebensjahres die gemeinsame Wahrnehmung dieser Gegenstände und bildet dadurch eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung von gemeinsamem Wissen. Es wird dann im Lauf der sozialen und kognitiven Entwicklung durch Erfahrung, Normen und andere Faktoren angereichert. Im Alter von vier Jahren hat das Kind einen begrifflichen Zugang zu diesem Modell erworben, der es in die Lage versetzt, zwischen eigenen und fremden Überzeugungen [beliefs] zu unterscheiden und klassische »False Belief Tasks«36 zu meistern. In diesem Fall wird das psychologische Modell auf eine Umwelt angewendet, die nicht sozial strukturiert ist: Um den mentalen Zustand einer beobachteten Person zu modellieren, ist keine Interaktion und daher kein gemeinsames Wissen notwendig. Das Modell kann jedoch auch in sozialen Zusammenhängen, wie zum Beispiel dem einer Freundschaft, angewendet werden. Dann sind die Tatsachen, die diese Umwelt ausmachen, im gemeinsamen Wissen verankert. Da gemeinsames Wissen »luminous« ist, bildet das psychologische Modell diese Tatsachen dann als gemeinsam gewusst in der Psychologie des Einzelnen ab. Was das wiederum für die Einsamkeit bedeutet, wird im anschließenden Abschnitt deutlich.

5.3 Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit Der Vorschlag ist nun, die Erfahrung der Einsamkeit als Resultat der Anwendung des triadischen Modells in der sozialen Umwelt zu verstehen. Diese Erfahrung entsteht, wenn die Person sich nicht hinreichend im gemeinsamen Wissen mit anderen verankert sieht, mit denen sie diese Umwelt teilt. Da dieses Modell der Sozialität drei Konstituenten besitzt, von denen einer die Person selbst ist, bezieht sich die Offenheit, welche die soziale Umwelt ausmacht, immer auch auf die Person selbst: In ei-

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Die sogenannten False Belief Tasks zielen darauf ab, die Fähigkeit eines Subjekts zu testen, zwischen der Wirklichkeit und auf die Wirklichkeit gerichteten Überzeugungen zu unterscheiden. Ein Beispiel für eine »False Belief Task« könnte wie folgt aussehen: Einer Versuchsperson wird ein Video gezeigt, in dem Person A einen Gegenstand in einen Schrank legt und dann das Zimmer verlässt. Im Anschluss betritt Person B das Zimmer und räumt den Gegenstand aus dem Schrank in eine Kommode. Person A hat dann eine falsche Überzeugung (»false belief«) bezüglich der Position des Gegenstands (»der Gegenstand ist im Schrank«), da sie nicht mitbekommen hat, dass Person B den Gegenstand in der Kommode positioniert hat. Die Versuchsperson erhält nun eine Aufgabe (die »task«) in Form einer Frage: »Wo wähnt Person A den Gegenstand?« Kinder erwerben die Fähigkeit, derartige Fragen korrekt zu beantworten, – zumindest in ihrer expliziten Form – erst im Alter von ungefähr vier Jahren (zum Beispiel H. Wimmer/J. Perner [1983]: Beliefs about beliefs).

Axel Seemann: Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit

ner sozial strukturierten Umwelt sind manche Aspekte ihres geistigen Lebens – also etwa ihrer Erinnerungen, Wünsche, Ansichten und Bedürfnisse – im gemeinsamen Wissen mit den anderen Beteiligten verankert. Welche diese Aspekte sind, hängt von dem sozialen Gut ab, das in einer konkreten Situation angestrebt wird. Unterschiedliche Beziehungen gehen mit jeweils unterschiedlichen sozialen Gütern einher und stellen entsprechend auch verschiedene Anforderungen an das gemeinsame Wissen der Beteiligten. Eine Partnerschaft erfordert eine andere Form des geteilten Wissens als eine Freundschaft und keine zwei sozialen Beziehungen (zum Beispiel zwei Freundschaften) stellen dieselben Ansprüche an die Beteiligten. Gemeinsam ist allen Erfahrungen der Einsamkeit aber, dass die einsame Person ihr geistiges Leben als ungenügend mit anderen geteilt empfindet. Das soziale Modell, das sie auf ihre konkrete Situation anwendet, legt dieses Defizit offen. Die Erfahrung der Einsamkeit kann dann als eine Diskrepanz zwischen dem Modell der Freundschaft oder Partnerschaft verstanden werden, das die Person auf ihre Situation anwendet, und dem tatsächlich mit den anderen Beteiligten geteilte Wissen um ihr geistiges Leben, das sich durch diesen Vergleich als unzureichend herausstellt. Dieser Ansatz konkretisiert die verbreiteten Beschreibungen von Einsamkeit als eine »wahrgenommene Abwesenheit von sozialer Bindung«37 oder als eine »Diskrepanz zwischen gewünschten und bestehenden sozialen Verbindungen«.38 Er kann mehrere Fragen beantworten, die diese Beschreibungen offenlassen. Die modelltheoretische Erklärung von Einsamkeit spezifiziert »soziale Verbindung« als zwischen mindestens zwei Personen in einem sozialen Handlungsumfeld bestehend, das durch Interaktion konstituiert und in gemeinsamem praktischen und theoretischen Wissen verankert wird. Sie erklärt die Diskrepanz zwischen gewünschten und bestehenden sozialen Verbindungen in Bezug auf das Modell der sozialen Umwelt, mit dem die Person operiert, und das den Vergleich zwischen Soll- und Ist-Zustand ermöglicht. Sie erklärt auch, warum der Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und der Erfahrung von Einsamkeit nur mittelbar ist: Einsamkeit ist dem modelltheoretischen Ansatz zufolge Ausdruck des sozialen Selbstverständnisses einer Person. Dieses Selbstverständnis beginnt mit dem Modell, das die Person von sich selbst in ihrer Umwelt hat. Die tatsächlichen sozialen Verbindungen, die sie unterhält, fließen in die Erfahrung der Einsamkeit nur mittelbar ein, insofern als sie einer von mehreren Faktoren sind, die das soziale Selbstmodell der Person konstituieren. Der modelltheoretische Vorschlag spannt den Bogen zwischen sozialer Interaktion und den Begriffen von Freundschaft, Partnerschaft und anderen sozialen Gütern, die für die verschiedenen zuvor diskutierten Ansätze problematisch sind. Weil soziale Modelle zumindest in Teilen konzeptionell zugänglich sind, stellen sie die

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L.C. Hawkley/J.T. Cacioppo (2010): Loneliness Matters. R. Ma et al. (2020): The effectiveness of interventions.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

Begriffe bereit, die für die Erklärung der Erfahrung von Einsamkeit benötigt werden. Die Person, deren Einsamkeit durch den Verlust oder die Abwesenheit von bestimmten anderen Menschen hervorgerufen wird, kann sich zumindest zum Teil einen Begriff von ihrer Situation machen: Sie kann auf mehr oder weniger genaue Weise kognitiv erfassen, dass und warum ihr diese Menschen fehlen. Der hier eingeführte Ansatz erlaubt es dann, dieses Fehlen als einen Mangel oder Verlust geteilten Wissens über die Person selbst genauer zu bestimmen. Er beschreibt Einsamkeit demnach als eine Erfahrung, die mittelbar von anderen Menschen und unmittelbar vom Selbstverständnis der Person in ihrem sozialen Leben mit diesen Menschen bestimmt wird. Damit wird auch die Frage nach der Rolle von bestimmten anderen Menschen in der Erfahrung von Einsamkeit beantwortet, die ich zu Beginn als zentral für Theorien der episodischen Einsamkeit hervorgehoben habe.

6. Fazit Der hier vorgestellte kognitive Ansatz ist ungewöhnlich: Die soziale Bindung, deren schmerzliche Abwesenheit in der Erfahrung der Einsamkeit zum Ausdruck kommt, wird üblicherweise als emotional beschrieben. Ein möglicher Einwand gegen diesen Ansatz ist folgender: Es sind Fälle denkbar, in denen es trotz geteilten Wissens bezüglich eines als wesentlich erachteten Aspekts der sozialen Umwelt zur Erfahrung von Einsamkeit kommt. So kann sich beispielsweise eine Person einsam fühlen, die von ihrer Partner:in verlassen wurde, obwohl beide das Wissen um den Beziehungswunsch der verlassenen Person teilen. Dieser Einwand kann aber entkräftet werden, wenn man die Reziprozität berücksichtigt, die sozialen Gütern wie etwa der Freundschaft oder einer Liebesbeziehung innewohnt. Man kann nur mit einer anderen Person befreundet sein oder eine Beziehung mit ihr führen, wenn die andere Person diesen Wunsch teilt. Um Freundschaften oder Partnerschaften einzugehen und zu erhalten, ist das gemeinsame Wissen um diese Gegenseitigkeit unerlässlich: Damit gemeinsames Wissen um den gegenseitigen Wunsch nach einer sozialen Beziehung bestehen kann, muss auf beiden Seiten der entsprechende Wunsch vorhanden sein, beide Seiten müssen vom Wunsch der anderen Person wissen, und sie müssen wissen, dass die andere Person von ihrem eigenen Wunsch weiß. Daher bildet das Modell der Freundschaft, das die einzelne Person auf die konkrete soziale Situation anwendet, dieses gemeinsame Wissen ab. Die einsame Person befindet sich dann in einer Situation, in der die soziale Umwelt nicht dem Modell entspricht, das sie darauf anwendet: Das Modell stipuliert gemeinsames Wissen um einen gegenseitigen Freundschaftswunsch; wenn die andere Person diesen Wunsch aber nicht (mehr) hat, kommt es zu der zuvor beschriebenen Diskrepanz zwischen Realität und Modell, die zum Einsamkeitserlebnis führt. Die Selbsterfahrung der Person spiegelt diese Diskrepanz wider: Ihr soziales Modell bildet eine bestehen-

Axel Seemann: Eine modelltheoretische Erklärung der Einsamkeit

de Freundschaft und daher das gemeinsame Wissen um den gegenseitigen Wunsch nach dieser Freundschaft ab, aber in Wirklichkeit besteht dieses Wissen nicht oder nicht mehr. Dieser Ansatz bestreitet dabei nicht, dass die Erfahrung der Einsamkeit emotional ist. Stattdessen begründet er die Erfahrung der Einsamkeit kognitiv mit Berufung auf das gemeinsame Wissen, das die normative Dimension der sozialen Umwelt erklärt.

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Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit Helen Landmann (FernUniversität in Hagen) | Community Psychology, Susanne Buecker (Ruhr-Universität Bochum) | Psychologische Methodenlehre

1. Einleitung Einsamkeit wird in der Psychologie meist als empfundenes Defizit in den eigenen sozialen Beziehungen definiert.1 Eine Person gilt als einsam, wenn ihre Beziehungen nicht so sind, wie sie sich das wünscht (zum Beispiel wenn diese zu oberflächlich sind oder zu wenige Beziehungen bestehen). Dieses Konzept von Einsamkeit impliziert, dass Einsamkeit davon abhängig ist, welche Bedürfnisse und Wünsche eine Person bezüglich ihrer sozialen Beziehungen hat. Nach dieser Definition ist Einsamkeit nicht das gleiche wie Alleinsein. Einsamkeit bezieht sich auf ein subjektiv wahrgenommenes Gefühl2 , wohingegen Alleinsein den objektiven Zustand beschreibt, dass eine Person keine oder nur sehr wenige Sozialkontakte hat. Es ist möglich, allein zu sein und sich trotzdem mit anderen verbunden zu fühlen. Ebenso ist es möglich, sich in einem Raum mit vielen Menschen aufzuhalten und sich trotzdem einsam zu fühlen. Die meisten Menschen fühlen sich gelegentlich einsam. Solche kurzen Phasen von Einsamkeit werden als situative Einsamkeit bezeichnet.3 Diese situative Einsamkeit kann hilfreich sein, weil sie dazu motivieren kann, Kontakt zu anderen aufzunehmen und sich für andere einzusetzen.4 Situative Einsamkeit kann immer mal

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D. Perlman/L.A. Peplau (1981): Toward a social psychology of loneliness. Der Begriff Gefühl wird alltagssprachlich oft mit dem Emotionsbegriff gleichgesetzt. Gefühle beschreiben das Erleben und damit die subjektive Komponente von Emotionen (R.M. Puca [2016]: Gefühl). Bedürfnisse hingegen werden als das Erleben eines Mangels, verbunden mit dem Wunsch ihn zu beheben, verstanden. Bedürfnisse legen demnach den Sollwert fest (zum Beispiel wie viele soziale Interaktionen sich ein Mensch wünscht, H. Metz-Göckel [2020]: Bedürfnis). S. Shiovitz-Ezra/L. Ayalon (2010): Situational versus chronic loneliness as risk factors for all-cause mortality. P. Qualter et al. (2015): Loneliness Across the Life Span.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

wieder episodisch im Lebensverlauf auftreten.5 Wenn Einsamkeitsgefühle über Jahre andauern, wird dies als chronische Einsamkeit bezeichnet.6 Männer und Frauen sind dabei ähnlich stark von Einsamkeit betroffen.7 Etwa zehn Prozent der Menschen in Deutschland gaben in den Jahren 2013 bis 2017 in einer national-repräsentativen Befragung des Sozio-oekonomischen Panels an, sich oft oder sehr oft einsam zu fühlen.8 Einsamkeit in Deutschland ist damit ähnlich verbreitet wie in anderen europäischen Ländern.9 Diese Häufigkeit (Prävalenz) von Einsamkeit ist relativ stabil, was bedeutet, dass in den meisten Altersgruppen heute ähnlich viele Menschen von Einsamkeit betroffen sind wie vor einigen Jahrzehnten. Dies wurde besonders für hochaltrige Menschen gezeigt, bei denen die Einsamkeitswerte zum Teil niedriger sind10 als von früher Geborenen im gleichen Alter.11 Zwischen 1976 und 2019 gab es jedoch einen leichten Einsamkeitsanstieg bei jungen Erwachsenen (siehe Abbildung 1).

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P.A. Bath/H. Yang/J. Nicholls (2018): Changes in Loneliness and Patterns of Loneliness among Older People. S. Shiovitz-Ezra/L. Ayalon (2010): Situational versus chronic loneliness as risk factors for all-cause mortality. M. Maes et al. (2019): Gender Differences in Loneliness across the Lifespan. A.K. Orth/T. Eyerund (2019): Einsamkeit in Deutschland. L.C. Heu/M. van Zomeren/N. Hansen (2019): Lonely Alone or Lonely Together? Siehe zum Beispiel G. Hülür et al. (2016): Cohort Differences in Psychosocial Function over 20 Years für Ergebnisse zu den Personen über 65 Jahre. Für einen Überblick siehe S. Buecker et al. (2021): Is loneliness in emerging adults increasing over time?; L.C. Hawkley et al. (2019): Are U.S. older adults getting lonelier?

Helen Landmann und Susanne Buecker: Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit

Abbildung 1: Veränderungen in der Einsamkeit von jungen Erwachsenen von 1976 bis 2019.

Anmerkung: Jede Studie ist mit einem Kreis dargestellt. Je größer der Kreis, desto stärker wurde die Studie in der Meta-Analyse gewichtet. Die durchgezogene Linie zeigt den mittleren Einsamkeitswert aller – gewichtet – einbezogenen Studien an. Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Meta-Analyse von Buecker, Mund et al.12

2. Facetten von Einsamkeit Psychologische Forschung berücksichtigt unterschiedliche Formen oder Facetten von Einsamkeit. Eine kurze Zusammenfassung dieser Facetten von Einsamkeit findet sich in der folgenden Tabelle (Tabelle 1). Die bekannteste Differenzierung ist die zwischen sozialer und emotionaler Einsamkeit: Emotionale Einsamkeit bezieht sich auf das empfundene Defizit an emotionaler Verbundenheit.13 Sie basiert auf dem Bedürfnis nach »Attachment« – engen Bindungen zu anderen Menschen, die häufig zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen guten Freund:innen oder bei Paaren bestehen.14 Diese Art von Einsamkeit entsteht beispielsweise durch den Verlust einer Lebenspartner:in.15 Soziale Einsamkeit dagegen beschreibt die Unzufriedenheit mit dem erweiterten sozialen Netzwerk.16 Diese Form der Einsamkeit basiert auf dem Bedürfnis nach »Affiliation« –

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S. Buecker et al. (2021): Is loneliness in emerging adults increasing over time? R.S. Weiss (1973): Loneliness. R.S. Weiss (1998): A Taxonomy of Relationships. W. Stroebe et al. (1996): The role of loneliness and social support in adjustment to loss. R.S. Weiss (1973): Loneliness.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

nach weniger engen Kontakten.17 Diese Art von Einsamkeit entsteht beispielsweise, wenn eine Person in ein anderes Land migriert und dort zwar in einer Partnerschaft lebt, aber vorerst wenig vernetzt ist.18 Da sich emotionale und soziale Einsamkeit jeweils durch das erlebte Defizit in der Erfüllung eines spezifischen Bedürfnisses – Attachment oder Affiliation – definieren, bezeichnen wir diese Formen der Einsamkeit als bedürfnisbezogen.

Tabelle 1: Facetten von Einsamkeit. Facette

Definition

Literatur

Emotionale Einsamkeit

Defizit in emotionaler Verbundenheit

Weiss19

Soziale Einsamkeit

Defizit im sozialen Netzwerk

Weiss20

Physische Einsamkeit

Defizit in der physischen Anwesenheit anderer

Landmann/Rohmann21

Unruhe [agitation]

Gefühle von Ärger, Feindseligkeit und Ablehnung

Scalise/Ginter/Gerstein22

Niedergeschlagenheit [dejection]

Gefühle von Traurigkeit und Niedergeschlagenheit

Scalise/Ginter/Gerstein23

Erschöpfung [depletion]

Gefühle der Leere

Scalise/Ginter/Gerstein24

Bedürfnisbezogene Facetten

Emotionsbezogene Facetten

17 18 19 20 21 22 23 24

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Helen Landmann und Susanne Buecker: Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit

Gefühle des AbgelehntWerdens und des Ausgeschlossen-Seins

Scalise/Ginter/Gerstein25

Romantische Einsamkeit

Fehlende Verbundenheit mit romantischer Partner:in

Schmidt/Sermat26 ; DiTommaso/Spinner27

Familienbezogene Einsamkeit

Fehlende Verbundenheit zur Familie

Schmidt/Sermat28 ; DiTommaso/Spinner29

Freundesbezogene Einsamkeit

Fehlende Verbundenheit zu Freund:innen

Schmidt/Sermat30 ; Marcoen/Goossens/Caes31

Elternbezogene Einsamkeit

Fehlende Verbundenheit zu den Eltern

Marcoen/Goossens/Caes32

CommunityEinsamkeit

Fehlende Verbundenheit zu alltäglich relevanten Nachbarschaften und Organisationen

Schmidt/Sermat33

Kollektive Einsamkeit

Fehlende Verbundenheit zur Gesellschaft

Hawkley/Browne/Cacioppo34

Isolierung [isolation]

Gruppenbezogene Facetten

Quelle: Eigene Darstellung.

Während der Corona-Lockdowns wurde eine weitere Form bedürfnisbezogener Einsamkeit identifiziert: Physische Einsamkeit ist das Erleben eines Defizits an physischer Anwesenheit anderer.35 Mit dieser Form der Einsamkeit ist das Bedürfnis nach Berührung und nach Gruppenerlebnissen verbunden. Fragen zu physischer

25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Ebd. N. Schmidt/V. Sermat (1983): Measuring loneliness in different relationships. E. DiTommaso/B. Spinner (1993): The development and initial validation of the Social and Emotional Loneliness Scale for Adults (SELSA). N. Schmidt/V. Sermat (1983): Measuring loneliness in different relationships. E. DiTommaso/B. Spinner (1993): The development and initial validation of the Social and Emotional Loneliness Scale for Adults (SELSA). N. Schmidt/V. Sermat (1983): Measuring loneliness in different relationships. A. Marcoen/L. Goossens/P. Caes (1987): Loneliness in pre- through late adolescence. Ebd. N. Schmidt/V. Sermat (1983): Measuring loneliness in different relationships. L.C. Hawkley/M.W. Browne/J.T. Cacioppo (2005): How Can I Connect With Thee? H. Landmann/A. Rohmann (2022): When loneliness dimensions drift apart.

55

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

Einsamkeit sind in Fragebögen zur Erfassung von Einsamkeit seit vielen Jahren enthalten (zum Beispiel »Ich vermisse es, Menschen um mich zu haben«36 ; »Ich habe genug Gesellschaft«37 ). Vor der Pandemie wurden diese Fragen allerdings der emotionalen oder sozialen Einsamkeit zugeordnet. Neuere faktoranalytische Evidenz38 zeigt, dass sich physische Einsamkeit von emotionaler und sozialer Einsamkeit abgrenzen lässt und dass physische Einsamkeit während der Corona-Lockdowns besonders stark ausgeprägt war.39 Neben diesen bedürfnisbezogenen Facetten der Einsamkeit – emotional, sozial, physisch – kann Einsamkeitserleben auch über die damit verbundenen Emotionen differenziert werden. Diesem Ansatz zufolge kann sich Einsamkeit unterschiedlich anfühlen:40 Sie kann mit Gefühlen von Ärger, Feindseligkeit und Ablehnung verbunden sein, was die Unruhe-Facette [agitation] von Einsamkeit darstellt. Einsamkeit kann aber auch mit Gefühlen von Traurigkeit verbunden sein – diese Form von Einsamkeit wird als Niedergeschlagenheits-Facette [dejection] bezeichnet. Wenn Einsamkeit vor allem durch ein Gefühl der Leere gekennzeichnet ist, wird dagegen von der Erschöpfungs-Facette [depletion] gesprochen. Gefühle des AbgelehntWerdens und des Ausgeschlossen-Seins werden dagegen als Isolierungs-Facette der Einsamkeit [isolation] betrachtet. Eine weitere Basis für die Differenzierung von Einsamkeit bietet die Gruppe, mit der sich eine Person mehr oder weniger verbunden fühlt.41 Bei Erwachsenen kann beispielsweise zwischen romantischer und familiärer Einsamkeit unterschieden werden. Romantische Einsamkeit [romantic loneliness] beschreibt die fehlende Verbundenheit mit einer romantischen Partner:in, wohingegen familienbezogene Einsamkeit [family loneliness] sich auf die fehlende Verbundenheit mit Familienmitgliedern bezieht.42 Bei Kindern wird dagegen zwischen freundesbezogener und elternbezogener Einsamkeit unterschieden. Freundesbezogene Einsamkeit [peer loneliness] ist die fehlende Verbundenheit mit Freund:innen, während elternbezogene Einsamkeit [parent loneliness] die fehlende Verbundenheit mit den eigenen Eltern

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J. de Jong Gierveld/T.G. van Tilburg (2006): A 6-Item Scale for Overall, Emotional, and Social Loneliness. D.W. Russell (1996): UCLA Loneliness Scale (Version 3). Eine Faktorenanalyse ist ein statistisches Verfahren, das in der Psychologie eingesetzt wird, um Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Fragen (Items) zu identifizieren. Wenn Personen auf verschiedene Fragen ähnlich antworten, bilden diese Items einen Faktor, der dann inhaltlich interpretiert werden kann. H. Landmann/A. Rohmann (2022): When loneliness dimensions drift apart. J.J. Scalise/E.J. Ginter/L.H. Gerstein (1984): Multidimensional Loneliness Measure. N. Schmidt/V. Sermat (1983): Measuring loneliness in different relationships. E. DiTommaso/B. Spinner (1993): The development and initial validation of the Social and Emotional Loneliness Scale for Adults (SELSA).

Helen Landmann und Susanne Buecker: Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit

darstellt.43 Community-Einsamkeit beschreibt dagegen die fehlende Eingebundenheit in alltäglich relevante Nachbarschaften und Organisationen.44 Neben diesen Gruppen, mit denen Menschen üblicherweise nahezu alltäglich Kontakt haben, wurde eine weitere Form von gruppenbezogener Einsamkeit vorgeschlagen: Kollektive Einsamkeit beschreibt, sich in einer größeren Gruppe oder Gesellschaft fehl am Platz zu fühlen oder das Gefühl, dass die anderen in der Gesellschaft, in der man lebt, die eigenen Werte nicht teilen.45

3. Quellen von Einsamkeit Um zu erklären, weshalb eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr oder weniger einsam ist, kann zwischen prädisponierenden Faktoren und auslösenden Faktoren unterschieden werden.46 Prädisponierende Faktoren sind Faktoren, die Menschen anfällig für Einsamkeit machen. Hierzu gehören beispielsweise Persönlichkeitseigenschaften, aber auch das Lebensalter und die Stellung der Person in der Gesellschaft. Auslösende Faktoren sind Faktoren, die Einsamkeit in einer bestimmten Situation auslösen können. Die Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie sind ein Beispiel für einen auslösenden Faktor von Einsamkeit. Kritische Lebensereignisse wie der Tod von Angehörigen oder eine Trennung sind weitere Faktoren, die Einsamkeit auslösen können. Im Folgenden werden einige dieser Quellen von Einsamkeit näher beschrieben. Über die Lebensspanne verändern sich die Quellen der Einsamkeit. In Abbildung 2 sind diese Veränderungen auf Basis des Reviews von Qualter et al.47 dargestellt: Im jungen Kindesalter sind beispielsweise Spielgelegenheiten mit anderen Kindern wichtig, die Qualität der Freundschaften wird dann in den folgenden Jahren immer wichtiger. Viktimisierung (das heißt der Ausschluss aus der Peer-Gruppe durch Mobbing oder verbales Schikanieren) ist bereits im Kindergartenalter eine Quelle von Einsamkeit. Die Anerkennung der Peer-Gruppe nimmt im Schulalter nochmals an Bedeutung zu. Die Rolle romantischer Beziehungen wird ab der späten Pubertät relevant und kann bis zum Lebensende beeinflussen, ob sich eine Person einsam fühlt. Im hohen Alter kommen gesundheitsbedingte Einschränkungen des Soziallebens und der Tod nahestehender Menschen als häufige Quellen von Einsamkeit

43 44 45 46 47

A. Marcoen/L. Goossens/P. Caes (1987): Loneliness in pre- through late adolescence. N. Schmidt/V. Sermat (1983): Measuring loneliness in different relationships. L.C. Hawkley/M.W. Browne/J.T. Cacioppo (2005): How Can I Connect With Thee? D. Perlman/L.A. Peplau (1984): Loneliness research. P. Qualter et al. (2015): Loneliness Across the Life Span.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

hinzu. Die Anhäufung an Quellen von Einsamkeit mit zunehmendem Alter erklärt, weshalb anhaltende Gefühle von Einsamkeit ab circa 80 Jahren häufiger werden.48

Abbildung 2: Quellen der Einsamkeit über die Lebensspanne.

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis von Qualter et al.49

Persönlichkeit Einige Persönlichkeitseigenschaften weisen über viele Studien hinweg einen Zusammenhang zu Einsamkeit auf. Unter Persönlichkeit versteht man in der Psychologie die Gesamtheit aller zeitlich relativ stabilen interindividuellen Besonderheiten im Erleben und Verhalten eines Menschen.50 Eines der bekanntesten Persönlichkeitsmodelle ist das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit.51 Dabei werden folgende fünf Faktoren unterschieden: Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit für neue Erfahrungen. Extravertierte Menschen, die sehr kommunikativ sind und sich gerne mit anderen Menschen treffen, sind seltener einsam als introvertierte Menschen, die weniger Kontakt

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M. Luhmann/L.C. Hawkley (2016): Age differences in loneliness from late adolescence to oldest old age.; L.C. Hawkley et al. (2022): Loneliness from young adulthood to old age. P. Qualter et al. (2015): Loneliness Across the Life Span. J. Asendorpf (2022): Persönlichkeit. R.R. McCrae/O.P. John (1992): An Introduction to the Five-Factor Model and Its Applications.

Helen Landmann und Susanne Buecker: Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit

zu anderen suchen.52 Während des ersten Corona-Lockdowns in Deutschland litten allerdings besonders extravertierte Menschen unter physischer Einsamkeit, vermutlich weil die Möglichkeit, physischen Kontakt selbst zu regulieren, durch die Kontaktbeschränkungen blockiert war und extravertierte Menschen daran gewöhnt waren, die Möglichkeiten, sich mit anderen zu treffen, auch ausgiebig zu nutzen.53 Verträgliche Personen, die Konflikte mit anderen vermeiden möchten, sind ebenfalls seltener einsam, vermutlich weil sich diese Eigenschaft günstig auf langfristige Freundschaften auswirkt.54 Auch Gewissenhaftigkeit hängt mit Einsamkeit zusammen, und zwar dahingehend, dass höhere Gewissenhaftigkeit mit weniger Einsamkeit einhergeht.55 Neurotische Personen, die häufig ängstlich und besorgt sind, sind dagegen häufiger einsam als weniger neurotische Personen. Eine Erklärung für diesen Zusammenhang könnte sein, dass neurotische Personen besonders empfindlich für Hinweise sozialer Ablehnung sind und sich daher schneller aus sozialen Beziehungen zurückziehen als andere.56 Offenheit für neue Erfahrungen weist nur sehr geringe Assoziationen mit Einsamkeit auf,57 vermutlich weil diese Persönlichkeitseigenschaft eher etwas intrapsychisches (zum Beispiel ästhetisches Empfinden, künstlerisches Interesse) und weniger zwischenmenschliche Aspekte der Persönlichkeit beschreibt. Armut Armut erhöht die Wahrscheinlichkeit, sich einsam zu fühlen. Einkommen ist ein Prädiktor für Einsamkeit: Je niedriger das Einkommen, desto höher ist die Einsamkeit.58 Eine repräsentative Befragung in Deutschland ergab, dass circa 30 Prozent der Menschen in Deutschland, die weniger als 500 Euro im Monat zur Verfügung haben, einsam sind, wohingegen sich nur sieben Prozent derjenigen, die über 2000 Euro pro Monat zur Verfügung haben, einsam fühlen.59 Grund für diesen Zusammenhang könnte sein, dass einige Kontaktmöglichkeiten, wie gemeinsames Ausge-

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S. Buecker et al. (2020): Loneliness and the Big Five Personality Traits. r = −.370. [Ein Korrelationskoeffizient wie r ist ein Maß für die Richtung und die Stärke eines linearen Zusammenhangs zweier Variablen. Der Koeffizient nach Pearson (r) liegt zwischen -1 und +1, wobei das Vorzeichen die Richtung anzeigt. Der Betrag von r gibt die Stärke des Zusammenhangs an: | r | ≈ 0,10: schwach, | r | ≈ 0,30: mittel und | r | ≈ 0,50: stark.] H. Landmann/A. Rohmann (2022): When loneliness dimensions drift apart. S. Buecker et al. (2020): Loneliness and the Big Five Personality Traits. r = −.243. Ebd. r = −.202. Ebd. r = .358. Ebd. r = −.107. M.E. Beutel et al. (2017): Loneliness in the general population; B. Shovestul et al. (2020): Risk factors for loneliness. T. Ebert/J. Berkessel/T. Entringer (2021): »Einsamkeit« – Bekämpfung sozialer Isolation in NordrheinWestfalen.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

hen oder das Bewirten von Gästen, mit finanziellen Kosten verbunden sind. Darüber hinaus kann Armut mit Scham- und Schuldgefühlen60 und geringerem Selbstwertgefühl61 verbunden sein, was die Kontaktaufnahme zu anderen erschwert. Migration Menschen, die in ein anderes Land migrieren, erleben meist einen Anstieg an Einsamkeit.62 Circa 22 Prozent der Menschen mit Migrationserfahrung (das heißt Personen, die selbst migriert sind) in Deutschland sind einsam – im Vergleich zu circa 14 Prozent ohne eigene Migrationserfahrung, aber mit Migrationshintergrund (das heißt Personen, deren Eltern oder Großeltern migriert sind), und zu circa zwölf Prozent der Menschen in Deutschland ohne Migrationshintergrund.63 Die migrationsbedingte Veränderung des sozialen Netzwerks scheint sich bei einigen Menschen noch lange auszuwirken. Auch ältere Menschen mit Migrationshintergrund, bei denen die Migration schon Jahre zurückliegt, sind häufiger einsam als Menschen ohne Migrationshintergrund.64 Als Gründe dafür wurden unter anderem der Verlust des sozialen Netzwerks und der eigenen Autonomie, sprachliche Hürden, die finanzielle Abhängigkeit von den eigenen Kindern sowie das fehlende Zugehörigkeitsgefühl zur Aufnahmegesellschaft identifiziert.65 Kritische Lebensereignisse Kritische Lebensereignisse sind Zeitpunkte, die den Beginn oder das Ende eines spezifischen Status kennzeichnen;66 zum Beispiel kennzeichnet das Lebensereignis Heirat das Ende des Beziehungsstatus »ledig« und den Beginn des Beziehungsstatus »verheiratet«. Zu familienbezogenen kritischen Lebensereignissen gehören Zusammenziehen, Heirat, Elternschaft, Scheidung und der Tod von Lebenspartner:innen. Zu arbeitsbezogenen kritischen Lebensereignissen gehört der Antritt einer Arbeitsstelle, der Verlust des Arbeitsplatzes sowie der Übergang in die Rente. Einsamkeit kann durch Jobverlust, Scheidung und den Tod der Lebenspartner:in, aber auch durch Familiengründung ausgelöst werden.67 Gründe für die Auswirkung der Fami-

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L.I. Reutter et al. (2009): »Who Do They Think We Are, Anyway?«. J.M. Twenge/W.K. Campbell (2002): Self-Esteem and Socioeconomic Status. S. Koelet/H.A. de Valk (2016): Social networks and feelings of social loneliness after migration. T. Ebert/J. Berkessel/T. Entringer (2021): »Einsamkeit« – Bekämpfung sozialer Isolation in NordrheinWestfalen. J. de Jong Gierveld/S. van der Pas/N. Keating (2015): Loneliness of Older Immigrant Groups in Canada; R.L.F. ten Kate/B. Bilecen/N. Steverink (2020): A Closer Look at Loneliness. S. Johnson et al. (2019): Social isolation and loneliness among immigrant and refugee seniors in Canada. M. Luhmann et al. (2012): Subjective well-being and adaptation to life events. S. Buecker/J.J.A. Denissen/M. Luhmann (2021): A propensity-score matched study of changes in loneliness surrounding major life events.

Helen Landmann und Susanne Buecker: Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit

liengründung auf Einsamkeit könnten die vermehrte Belastung der Partnerschaft sein, die mit der Elternschaft einhergehen kann, und die verringerten zeitlichen Kapazitäten für die Pflege von Freundschaften und des erweiterten sozialen Netzwerks. Auch Umzüge, beispielsweise im Zuge des Übergangs zwischen Schule und Studium, werden als Quelle von Einsamkeit diskutiert.68 Kontaktbeschränkungen Kontaktbeschränkungen, etwa in Form von Quarantäne, sind normalerweise mit einer deutlichen Reduzierung des Wohlbefindens verbunden.69 Auch während der Corona-Lockdowns fanden einige Studien eine erhöhte Einsamkeit,70 während andere keine signifikanten Veränderungen der Einsamkeit feststellten.71 Der Fokus auf unterschiedliche Einsamkeits-Dimensionen in den Studien könnte diese widersprüchlichen Befunde erklären. Van Tilburg et al.72 verwendeten beispielsweise eine Skala mit einem größeren Anteil an Items, die sich auf physische Einsamkeit beziehen, als Luchetti et al.73 Insbesondere die physische Einsamkeit schien besonders durch die Kontaktbeschränkungen beeinflusst zu sein.74 Die Auswirkungen der Corona-Lockdowns 2020/2021 waren vermutlich etwas milder als andere Quarantänesituationen, bei denen nur einzelne Menschen betroffen waren. Da viele Menschen von den Corona-Einschränkungen gleichermaßen betroffen waren, war vermutlich die Angst, etwas zu verpassen [fear of missing out], weniger ausgeprägt. Um zu verdeutlichen, dass es möglich ist, sich auch unter Lockdown-Bedingungen mit anderen verbunden zu fühlen, wurde vorgeschlagen, nicht etwa von sozialer Distanz [social distancing] zu sprechen, sondern von physischer Distanz [physical distancing].75

4. Auswirkungen von Einsamkeit Einsamkeit kann Auswirkungen auf viele Bereiche des individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Lebens haben. Individuelle, gesundheitliche Konsequenzen und kollektive, gesellschaftliche Konsequenzen werden im Folgendem betrachtet.

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S. King et al. (2011): The loneliness of relocating. S.K. Brooks et al. (2020): The psychological impact of quarantine and how to reduce it. S. Buecker/K.T. Horstmann (2021): Loneliness and Social Isolation During the COVID-19 Pandemic; T.G. van Tilburg et al. (2021): Loneliness and Mental Health During the COVID-19 Pandemic. M. Luchetti et al. (2020): The trajectory of loneliness in response to COVID-19. T.G. van Tilburg et al. (2021): Loneliness and Mental Health During the COVID-19 Pandemic. M. Luchetti et al. (2020): The trajectory of loneliness in response to COVID-19. H. Landmann/A. Rohmann (2022): When loneliness dimensions drift apart. J.J. Van Bavel et al. (2020): Using social and behavioural science to support COVID-19 pandemic response.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

Auch wenn Einsamkeit in der Psychologie nicht selbst als Erkrankung aufgefasst wird, steht sie doch in Zusammenhang mit gesundheitlichen Risiken. Chronisch einsame Menschen haben häufiger gesundheitliche Probleme als Menschen, die sich gut eingebunden fühlen.76 Dies gilt sowohl für psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen77 als auch für physische Probleme wie erhöhter Blutdruck, koronare Herzerkrankungen und Schlaganfall.78 Auch die Mortalität ist bei chronischer Einsamkeit erhöht: Chronisch einsame Menschen haben ein höheres Risiko, früher als andere zu sterben.79 Längsschnittstudien80 zeigen einen negativen Effekt von Einsamkeit auf Gesundheit und legen damit einen Kausalzusammenhang nahe.81 Diese Wirkung von Einsamkeit auf Gesundheit kann über verschiedene Mechanismen erklärt werden; zwei seien hier exemplarisch herausgegriffen: Gesundheitsverhalten. Es ist möglich, dass Einsamkeit dazu führt, dass sich Menschen weniger gesund verhalten und daher bei einsamen Menschen physische Probleme gehäuft auftreten.82 Dass einsame Menschen sich im Durchschnitt weniger sportlich betätigen83 und mehr rauchen als andere,84 spricht für diesen Erklärungsansatz. Stress. Einsamkeit kann als Stress erlebt werden.85 Langanhaltender Stress wiederum kann sich negativ auf das Herz-Kreislauf-System auswirken und dazu führen, dass Regenerationsphasen nicht ausreichend genutzt werden. Dass einsame Menschen im Durchschnitt einen höheren Blutdruck haben86 und schlechter schlafen als andere,87 spricht für diesen Mechanismus. Chronische Einsamkeit wird darüber hinaus mit einem geringeren politischen Interesse und Engagement in Verbindung gebracht. So gehen chronisch einsame Menschen im Durchschnitt seltener wählen oder sehen die Wahl weniger als 76 77 78 79 80

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L.C. Hawkley/J.T. Cacioppo (2010): Loneliness Matters. M.E. Beutel et al. (2017): Loneliness in the general population. L.C. Hawkley et al. (2010): Loneliness predicts increased blood pressure. J. Holt-Lunstad et al. (2015): Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality; L.A. RicoUribe et al. (2018): Association of loneliness with all-cause mortality. Bei Längsschnittstudien nehmen dieselben Personen zu verschiedenen Zeitpunkten an der Studie teil. Dadurch kann getestet werden, ob die Veränderung einer Variablen die Veränderung einer anderen Variablen vorhersagt. Ist dies der Fall, legt dies einen Kausalzusammenhang nahe, belegt diesen aber nicht zweifelsfrei. J.T. Cacioppo/L.C. Hawkley/R.A. Thisted (2010): Perceived social isolation makes me sad; Y. Luo et al. (2012): Loneliness, health, and mortality in old age. L.C. Hawkley/J.T. Cacioppo (2010): Loneliness Matters. L.C. Hawkley/R.A. Thisted/J.T. Cacioppo (2009): Loneliness predicts reduced physical activity. M.E. Beutel et al. (2017): Loneliness in the general population. L.C. Hawkley/J.T. Cacioppo (2010): Loneliness Matters. Ebd. J.T. Cacioppo et al. (2002): Loneliness and health: Potential mechanisms.

Helen Landmann und Susanne Buecker: Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit

bürgerliche Pflicht an.88 Zudem finden einige empirische Studien Evidenz dafür, dass Einsamkeit mit einem geringeren sozialen Engagement89 und geringerem prosozialen Verhalten90 einhergeht. Bei diesen Studien gilt es jedoch zu bedenken, dass sie meist querschnittlich91 sind und somit Aussagen über Zusammenhänge, nicht jedoch über kausale Wirkrichtungen, getroffen werden können. Oft werden in der Literatur auch wechselseitige Beziehungen gefunden: So führt Einsamkeit beispielsweise zu weniger sozialem Engagement und weniger soziales Engagement wiederum führt zu mehr Einsamkeit.92 Als eine der bedeutsamsten gesellschaftlichen Konsequenzen von chronischer Einsamkeit können möglicherweise ihre hohen ökonomischen Kosten gelten. Zwar liegen für Deutschland hier keine Zahlen vor, aber Studien aus Großbritannien schätzen, dass chronische Einsamkeit den Staat mittelfristig etwa 12.000 britische Pfund pro Person kostet.93 Dies wird vor allem damit begründet, dass chronisch einsame Menschen eine deutlich höhere Rate an Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und Pflegeleistungen haben.

5. Interventionen gegen Einsamkeit Um Einsamkeit zu reduzieren oder vorzubeugen, können in verschiedenen (Lebens-)Situationen unterschiedliche Interventions- und Präventionsansätze genutzt werden. Interventionsansätze haben zum Ziel, bereits bestehende Einsamkeit zu reduzieren, während Präventionsansätze darauf ausgerichtet sind, das Entstehen von Einsamkeit zu verhindern. Prävention kann vor dem Auftreten einer Beeinträchtigung einsetzen (primäre Prävention), zur Früherkennung dienen (sekundäre Prävention), oder Rückfälle und Sekundärschäden minimieren (tertiäre Prävention).94 Die folgenden Ansätze können als Intervention oder in unterschiedlichen Präventionsphasen eingesetzt werden. Aufgrund des Facettenreichtums von Einsamkeit sowie der zahlreichen beeinflussenden Faktoren ist es allerdings eine Herausforde-

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A. Langenkamp (2021): Enhancing, suppressing or something in between – loneliness and five forms of political participation across Europe; A. Langenkamp (2021): Lonely Hearts, Empty Booths? J.E. McHugh Power et al. (2019): Loneliness and social engagement in older adults. J.M. Twenge et al. (2007): Social exclusion decreases prosocial behavior. Bei querschnittlichen Studien findet die Erhebung im Gegensatz zu längsschnittlichen Studien nur zu einem Zeitpunkt statt. Querschnittstudien liefern Informationen über Zusammenhänge (einsame Personen engagieren sich zum Beispiel seltener als weniger einsame Personen). Die Kausalität beziehungsweise Wirkrichtung dieser Zusammenhänge kann auf Basis von Querschnittstudien allerdings nicht abgeleitet werden. J.E. McHugh Power et al. (2019): Loneliness and social engagement in older adults. L. Fulton/B. Jupp (2015): Investing to tackle loneliness. G. Caplan (1964): Principles of preventive psychiatry.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

rung, pauschal Schritte gegen Einsamkeit zu formulieren. Welche Intervention im Einzelfall hilfreich ist, kann variieren. Kontaktmöglichkeiten Eine naheliegende Maßnahme gegen Einsamkeit ist das Schaffen von Kontaktmöglichkeiten. Dieser Ansatz (auch social facilitation genannt95 ) beinhaltet beispielsweise die Einrichtung von Gemeinschaftsabenden in Senior:innenresidenzen sowie die Organisation von Sport- oder Kunstgruppen. Diese Kontaktmöglichkeiten können offline, aber auch online geschaffen werden.96 Bei einigen, aber nicht allen Personen, die an diesen Kontaktinterventionen teilnehmen, verringern sich Einsamkeitsgefühle über die Zeit.97 Unter welchen Bedingungen die Kontaktmöglichkeiten bei den Teilnehmenden zu einem stärkeren Gefühl der Zugehörigkeit und weniger Einsamkeit führen, muss allerdings noch erforscht werden.98 Die Kontaktmöglichkeiten müssen sich nicht ausschließlich auf Menschen beziehen. Es gibt bereits erste Evidenz, dass Haustiere Einsamkeit reduzieren können.99 Zudem fühlen sich Menschen, die in der Nähe von Grünflächen leben, tendenziell weniger einsam.100 Dieser Befund könnte darauf zurückzuführen sein, dass Grünflächen soziale Kontakt- und Aktivitätsmöglichkeiten bieten. Zusätzlich könnten auch Verbundenheitsgefühle mit der Natur101 zu diesem einsamkeitsreduzierenden Effekt führen. Meta-Analysen102 zeigen, dass Menschen, die sich mit der Natur verbunden fühlen, glücklicher sind103 und mehr Sinnhaftigkeit erleben.104 Ein Teil dieses Zusammenhangs lässt sich dadurch erklären, dass Naturverbundenheit das Wohlbefinden fördert: Experimentelle Studien zeigen einen kausalen

95 96 97 98 99 100 101 102

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C. Gardiner/G. Geldenhuys/M. Gott (2018): Interventions to reduce social isolation and loneliness among older people. M. Choi/S. Kong/D. Jung (2012): Computer and Internet Interventions for Loneliness and Depression in Older Adults. C.M. Masi et al. (2011): A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness. C. Gardiner/G. Geldenhuys/M. Gott (2018): Interventions to reduce social isolation and loneliness among older people. Ebd. S. Buecker et al. (2021): In a Lonely Place. Siehe H. Landmann (2020): Emotions in the context of environmental protection. Meta-Analysen fassen die Ergebnisse mehrerer Studien systematisch zusammen. Häufig werden durchschnittliche Werte für einen Zusammenhang zwischen zwei Variablen über verschiedene Studien hinweg berechnet. C.A. Capaldi/R.L. Dopko/J.M. Zelenski (2014): The relationship between nature connectedness and happiness. A. Pritchard et al. (2020): The Relationship Between Nature Connectedness and Eudaimonic WellBeing.

Helen Landmann und Susanne Buecker: Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit

Effekt von Natur-Kontaktinterventionen auf positive Gefühle.105 Einzelne Studien legen nahe, dass eine Intervention, die die Aufmerksamkeit für Natur erhöht, auch Verbundenheitsgefühle zu anderen Menschen fördert.106 Psycholog:innen vermuten, dass das Bedürfnis nach Zugehörigkeit nicht nur durch Verbundenheit mit anderen Menschen, sondern auch durch Verbundenheitsgefühle mit der Natur erfüllt werden kann.107 Sozialisation und Helfer:innen Die Erweiterung der Kontaktmöglichkeiten erreicht allerdings nicht alle einsamen Menschen. Manchen Menschen, die sich einsam fühlen, sind ausreichend Kontaktmöglichkeiten bekannt, sie nehmen diese allerdings nur selten wahr.108 In diesen Fällen kann eine Begleitung unter anderem durch Sozialpädagog:innen, Familienmitglieder oder Freund:innen helfen (auch supported socialization genannt109 ). Die Begleitperson motiviert zur Kontaktaufnahme und kann bei Gruppentreffen dabei sein. Auch diese Form der Intervention kann Einsamkeit reduzieren.110 Soziale Fähigkeiten Damit soziale Interaktionen möglichst positiv verlaufen, können zudem soziale und emotionale Fähigkeiten trainiert werden. Trainings sozialer und emotionaler Fähigkeiten bestehen aus Übungen zur Kommunikation, Kontaktaufnahme, Kooperation, Impulskontrolle und Perspektivübernahme.111 Diese Art von Training kann Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen deutlich reduzieren.112 Bei Erwachsenen sind dagegen andere Interventionen, speziell jene, die dysfunktionale soziale Kognitionen und Einstellungen adressieren, effektiver.113 Bewertungen Einsame Menschen interpretieren soziale Interaktionen häufig anders als weniger einsame Menschen. Menschen, die sich einsam fühlen, tendieren dazu, sich selbst und die Welt im Allgemeinen negativer zu bewerten und anderen Menschen weniger

105 E.A. McMahan/D. Estes (2015): The effect of contact with natural environments on positive and negative affect. 106 H.-A. Passmore/M.D. Holder (2017): Noticing nature. 107 F.S. Mayer et al. (2009): Why Is Nature Beneficial? 108 J.C. Goll et al. (2015): Barriers to Social Participation among Lonely Older Adults. 109 F. Mann et al. (2017): A life less lonely. 110 C.M. Masi et al. (2011): A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness. 111 D. Bostick/R. Anderson (2009): Evaluating a Small-Group Counseling Program—A Model for Program Planning and Improvement in the Elementary Setting. 112 A.M. Eccles/P. Qualter (2021): Alleviating loneliness in young people. 113 C.M. Masi et al. (2011): A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness.

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Einsamkeit: Grundlegende Überlegungen

zu vertrauen.114 Diese Sicht auf die Welt und sich selbst kann zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden:115 Wenn Menschen anderen mit der Erwartung begegnen, dass sie abgelehnt oder unehrlich behandelt werden, führt das eher zu negativen Interaktionen, als wenn die Grundeinstellung optimistischer ist. Diese Überzeugungen können in Einsamkeitsinterventionen hinterfragt und alternative Sichtweisen aufgezeigt werden. Die Veränderung einsamkeitsrelevanter Bewertungen hat sich als besonders wirksam gegen Einsamkeit erwiesen116 und kann in Form von professioneller Beratung oder Psychotherapie erfolgen. Gesellschaft Neben diesen Maßnahmen gibt es auch die Möglichkeit, die gesamte Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Menschen können sich unterschiedlich gut in eine Gesellschaft eingebunden fühlen (der sogenannte Sense of Community117 ). Diese Verbundenheit mit anderen ist mit erhöhtem Wohlbefinden verbunden, mit verringerter Einsamkeit und mit leichterer Bewältigung von Stress.118 Eine Gesellschaft, in der Menschen nicht ausgeschlossen werden und sich möglichst gut eingebunden fühlen, ist vermutlich die beste Prävention gegen Einsamkeit. Konkret kann dies beispielsweise durch die Vermeidung von Armut gefördert werden, durch die Förderung gut funktionierender Eltern-Kind-Beziehungen119 oder durch die Möglichkeit von positivem Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.120 Auch Antidiskriminierungskampagnen haben das Potenzial, Einsamkeit zu reduzieren. Wenn sich Menschen weniger aufgrund einzelner Merkmale (zum Beispiel sexueller Orientierung, Religion, Ethnizität) von anderen ausgeschlossen fühlen, könnte dies das Zugehörigkeitsgefühl stärken und Einsamkeit reduzieren. Als wichtigste Prädiktoren für einen ausgeprägten Sense of Community gelten politische und zivile Partizipation. Politische Partizipation umfasst das Engagement in einer politischen Partei, die Wahrnehmung des Wahlrechts sowie die Teilnahme an Demonstrationen und Petitionen; zivile Partizipation bezieht sich dagegen auf ehrenamtliche Tätigkeiten in gemeinnützigen Vereinen.121 Eine meta-analytische Untersuchung zeigt, dass der Zusammenhang

L.M. Heinrich/E. Gullone (2006): The clinical significance of loneliness. L.C. Hawkley/J.T. Cacioppo (2010): Loneliness Matters. C.M. Masi et al. (2011): A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness. H. Landmann/A. Rohmann (2022): Group-specific contact and sense of connectedness during the COVID-19 pandemic. 118 J. Jetten et al. (Hg.) (2011): The Social Cure. 119 J.A. Feeney (2006): Parental attachment and conflict behavior. 120 H. Landmann et al. (2017): Die Kontakthypothese. 121 J. Ekman/E. Amnå (2012): Political participation and civic engagement.

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Helen Landmann und Susanne Buecker: Facetten, Quellen und Auswirkungen von Einsamkeit

zwischen politischer Partizipation122 und ziviler Partizipation123 mit einem Sense of Community ähnlich stark ausgeprägt ist.124 Gesellschaften so zu organisieren, dass Beteiligungsmöglichkeiten leicht zugänglich sind, ist demnach ein wichtiger Ansatz, um Verbundenheit zu erhöhen.

6. Fazit Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, dem unterschiedliche Ursachen zu Grunde liegen können (was sich unter anderem in unterschiedlichen Einsamkeitsfacetten äußert), das über die gesamte Lebensspanne vom Kindesalter bis ins hohe Lebensalter auftreten und das sowohl gesundheitliche als auch gesellschaftliche Konsequenzen haben kann. Gegen Einsamkeit wurden bereits einige Präventions- und Interventionsmöglichkeiten identifiziert, jedoch besteht weiterer Forschungsbedarf, um ein besseres Verständnis davon zu erlangen, was bei wem wie gegen Einsamkeit wirkt. Eine große Herausforderung für die Zukunft wird es zudem sein, herauszuarbeiten, wie eine Gesellschaft gestaltet sein muss, damit Menschen in allen Lebensphasen zufriedenstellende soziale Beziehungen führen können und nicht vereinsamen.

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II. Gesellschaft: Einsamkeit als Indikator?

Führt gesellschaftliche Modernisierung in die Vereinsamung? Eine Einführung in die Debatte um die einsame Moderne Janosch Schobin (Universität Kassel) | Makrosoziologie, Denis Newiak (Brandenburgische Technische Universität) | Angewandte Medienwissenschaften

1. Einleitung An Beschreibungen der Einsamkeit spätmoderner Gesellschaften mangelt es im gegenwartsdiagnostischen Diskurs der Sozialwissenschaften nicht: Modernisierungsprozesse wie Säkularisierung und Rationalisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, Beschleunigung und Globalisierung, Individualisierung und Digitalisierung stehen im Verdacht, es sozialen Bindungen schwer zu machen, sich über die Zeit zu stabilisieren. Gleichzeitig gelten Modernisierungsprozesse in vielen Hinsichten als soziale Heilsbringer: Sie reduzieren Armut, mehren den Wohlstand und ermöglichen eine immer freiere Entfaltung der Einzelnen. Gerade indem sie die traditionellen Bindungen an Familie, Klasse, Religion und Staat destabilisieren, machen sie auch frei für die Art von Beziehungen, die Einsamkeit unterbinden: hochqualitative, gewaltfreie Wahlbeziehungen, die auf wechselseitiger Zuneigung basieren. Der nachfolgende Text nähert sich dieser Kontroverse – ohne eine definitive Antwort auf die Frage geben zu wollen, ob moderne Gesellschaften mit der Zeit immer einsamer werden oder nicht. Er ist als Einleitung in die Debatte um die Frage gedacht, was für und wider die These von der einsamen Moderne sprechen kann. Die These von der einsamen Moderne wird mitunter auf unterschiedliche Phasen der Modernisierung bezogen. Implizit gemeint ist in der aktuellen Debatte jedoch häufig der Effekt, den Modernisierungsprozesse auf westlich geprägte Gegenwartsgesellschaften haben. Wie dies beurteilt wird, hängt sehr stark davon ab, welche Modernisierungsprozesse betont werden und welche positiven oder negativen Modernisierungseffekte die jeweiligen Autor:innen in den Blick nehmen. Der vorliegende Text versucht hier, eine komplexe Debatte darzustellen, indem thematisch ähnliche Thesen und Überlegungen zusammengefasst werden. Genau genommen handelt es sich jedoch um einen netzwerkartigen Diskussionszusammenhang mit

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vielen Nuancen. Wir hoffen, die angebotenen Vereinfachungen dadurch entschuldigen zu können, dass sie den Leser:innen, die sich dem Thema zum ersten Mal nähern, einen schnellen und gehaltvollen Einblick geben, ohne damit jedoch behaupten zu wollen, alle wesentlichen Thesen, Ideen und Forschungsergebnisse seien enthalten. Zunächst muss jedoch kurz darüber gesprochen werden, was an dieser Stelle unter der Moderne verstanden werden soll. Der Begriff selbst ist – als Epochenbegriff verstanden1 – zum einen relativ vage: Je nachdem, welche sozialen, politischen, wirtschaftlichen, technisch-wissenschaftlichen und/oder ideengeschichtlichen Kriterien ein:e Autor:in anlegt, beginnt sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Zum anderen ist die Moderne als Epoche in sich selbst nicht homogen. Sie wird häufig in unterschiedliche Sub-Epochen unterteilt. Beck2 etwa spricht von der ersten und der zweiten Moderne, und Reckwitz3 unterteilt sie in bürgerliche, industrielle und späte Moderne. Sich innerhalb dieser Debatte umfassend zu positionieren, würde hier sicher den Rahmen sprengen. Wir folgen vereinfachend einer Einteilung, die die erste Phase der Moderne, die hier als Frühmoderne4 bezeichnet werden soll, mit dem 19. Jahrhundert und der industriellen Revolution identifiziert. Dies ist sicher selbst für Westeuropa nicht ganz passgenau, weil etwa in Spanien oder Italien die Industrialisierung wesentlich später an Fahrt aufnahm als etwa in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland. In der historischen Forschung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass gesellschaftliche Modernisierungsprozesse innerhalb unterschiedlicher gesellschaftlicher Formationen in jeweils anderen Geschwindigkeiten, aber auch teilweise auf ganz unterschiedlichen, häufig nicht-linearen Modernisierungspfaden5 ablaufen. Es gibt daher nicht die Moderne, sondern »Multiple Modernities«.6 Die vorliegende Darstellung beschränkt sich daher vor allem auf die Betrachtung von Daten und Forschungsergebnissen aus westeuropäischen Gesellschaften und den USA, deren Modernisierungsprozesse zwar nicht gleichzeitig und

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Der Begriff der Moderne wird häufig nicht einfach als Epochenbeschreibung verwendet, sondern hat zudem ästhetische und politische Bedeutungen. Hier soll er jedoch vor allem als Epochenunterscheidung verwendet werden. U. Beck (1996): Das Zeitalter der Nebenfolgen und die Politisierung der Moderne. A. Reckwitz (2020): Das hybride Subjekt; A. Reckwitz (2019): Das Ende der Illusionen. In den Geschichtswissenschaften wird abweichend der Begriff der Frühmoderne häufig für die frühe Neuzeit – also circa für das 15. und 16. Jahrhundert – verwendet, die wir hier schlicht als Vormoderne bezeichnen wollen. Der Begriff des Modernisierungspfades versucht einzufangen, dass in Gesellschaften zentrale Modernisierungsprozesse, wie etwa die Industrialisierung, die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, die Rationalisierung der Verwaltung oder die Verbreitung individueller Freiheits- und Autonomierechte, unterschiedlich stark ausgeprägt und auf unterschiedliche Weise miteinander verkettet sein können. S.N. Eisenstadt (1999): Multiple Modernities in an Age of Globalization.

Janosch Schobin und Denis Newiak: Führt gesellschaftliche Modernisierung in die Vereinsamung?

komplett auf demselben Modernisierungspfad verliefen, die jedoch insgesamt eine hohe Ähnlichkeit aufweisen. Etwas vereinfachend können die Jahre von 1800 bis 1900 mit ihrem sprunghaften Bevölkerungswachstum, ihren Säkularisierungsdynamiken, der zunehmenden Verdichtung und Globalisierung des Welthandels im Rahmen des Kolonialimperialismus, der Entstehung eines städtischen Proletariats und der bürgerlichen Klassengesellschaft als eine erste Phase der Moderne verstanden werden, die zumindest in Westeuropa und den USA zu ähnlichen gesellschaftlichen Dynamiken geführt hat.7 Wir grenzen sie von der Phase der demographischen Konsolidierung, der industriell geführten Kriege und der globalen Systemkonkurrenz ab, die circa ab 1900 einsetzt und in etwa Anfang der 1990er Jahre mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endet. Diese Phase soll als Hochmoderne bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich um eine vielschichtige Periode, die sicher noch feiner untergliedert werden kann. Aber auch für diese lässt sich argumentieren, dass sie zumindest in den westeuropäischen Gesellschaften von ähnlichen, halbwegs parallel laufenden Modernisierungsprozessen geprägt ist, die mit der Frage der Einsamkeit in Zusammenhang stehen: Die industriell geführten Kriege sorgten zunächst für kollektive Erfahrungen des Verlusts von nahen Angehörigen und Freund:innen, entwurzelten Millionen von Menschen sozial, und beeinträchtigten die psychische Gesundheit ganzer Generationen. Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Hochmoderne jedoch eine Periode der kontinuierlichen Zunahme individueller Rechte8 und der kollektiven Wohlstandsentwicklung in liberalen, kapitalistischen Gesellschaften.9 Es ist eine Zeit der sogenannten Individualisierungsdividenden – also vorteilhafter Effekte von Individualisierungsprozessen –, die zu einem kontinuierlichen Anstieg der Lebensstandards beitragen. Die letzte Phase erstreckt sich bis in die Gegenwart und wird im Folgenden als Spätmoderne bezeichnet. Sie beginnt circa mit dem Zusammenbruch der Systemkonkurrenz zwischen dem Realsozialismus und den kapitalistischen, liberalen Demokratien. In dieser Periode beginnen sich die Grenzen des liberalen, kapitalistischen Gesellschaftsmodells vermehrt zu zeigen – auch mit Blick auf Faktoren, die zur Genese von Einsamkeitsempfindungen beitragen: Etwa werden die Zusammenhänge zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft und sozialen Stressoren wie einem niedrigen sozioökonomischen Status, die das subjektive Wohlbefinden beeinträchtigen, mit dem zunehmenden Wohlstand von Gesellschaften im7

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Wir verwenden diese Phasenmerkmale hier nur grob, um die jeweiligen Modernisierungsphasen voneinander abzugrenzen. Einige Aspekte sind zudem zweckdienlich, um die Frage der Verbreitung der Einsamkeit zu behandeln, da Prozesse wie die demographische Entwicklung, aber auch die großen Kriege, kausal mit Einsamkeitsempfindungen in Zusammenhang gebracht werden können. B. Goderis/M. Versteeg (2014): The diffusion of constitutional rights. F. Krausmann et al. (2009): Growth in global materials use, GDP and population during the 20th century.

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mer schwächer,10 politische Polarisierungstendenzen und soziale Ungleichheiten nehmen (wieder) zu11 und die demographische Alterung beginnt nach der Zeit der sogenannten demographischen Dividende zunehmend weiteren Wohlstandszuwächsen entgegenzuwirken.12

2. Die einsame Spätmoderne … Dass es in spätmodernen Gesellschaften zu einer Zunahme der Einsamkeit kommt, ist eine beliebte These, die sich vor allem auf Beobachtungen stützt, die die inhärente Krisenhaftigkeit eines an seine Grenzen kommenden kapitalistisch-liberalen Gesellschaftsmodells zu belegen suchen. Etwas zugespitzt formuliert: Es wird vermutet, dass in der Spätmoderne die Einsamkeit zunimmt, weil sich das Programm eines universalistischen Individualismus, das mit kapitalistischen Konsum- und Kommodifizierungslogiken verschränkt ist, immer weiter erschöpft. Es komme daher zunehmend zu Modernisierungswidersprüchen, die dazu führen, dass Menschen sich sozial isolieren, ihre Einbettung in positive soziale Bindungen verlieren und ihr Vertrauen in die politischen Institutionen und ihre Mitmenschen immer weiter einbüßen.13 Grob können die unterschiedlichen Argumente, die von einer Zunahme von Einsamkeit ausgehen, drei Thesen zugeordnet werden, die in den folgenden Unterkapiteln vorgestellt werden: Die erste argumentiert aus der Perspektive demographischer Entwicklung und stellt einen Zusammenhang zwischen dem demographischen Wandel und der Zunahme von Einsamkeitsempfindungen her. Sie kann als die These vom demographischen Squeeze bezeichnet werden. Die zweite These geht davon aus, dass in spätmodernen Gesellschaften die Einbettung in lokale Gemeinschaften und das Gemeinschaftsgefühl schwindet und so die Zunahme von Einsamkeit gefördert wird. Sie kann als Community-lost-These bezeichnet werden. Die dritte These geht von einer Erosion des Vertrauens in die Mitmenschen und die politischen Institutionen aus, die an eine Zunahme der Einsamkeit rückgekoppelt ist. Sie kann als die These von der anomischen Verstärkung bezeichnet werden, wie ebenfalls gleich erläutert wird.

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R.T. Howell/C.J. Howell (2008): The relation of economic status to subjective well-being in developing countries. T. Piketty/E. Saez (2014): Inequality in the long run; J.V. Duca/J.L. Saving (2017): Income Inequality. D. Bloom/D. Canning/J. Sevilla (2003): The Demographic Dividend. Unter einer demographischen Dividende werden positive ökonomische Effekte verstanden, die darauf basieren, dass das Verhältnis von ökonomisch aktiver Bevölkerung (Erwachsene) zu ökonomisch abhängiger Bevölkerung (Kinder, Jugendliche und Rentner:innen) besonders vorteilhaft ist. D. Newiak (2022): Die Einsamkeiten der Moderne.

Janosch Schobin und Denis Newiak: Führt gesellschaftliche Modernisierung in die Vereinsamung?

2.1 Der demographische Squeeze: Alterung und Isolation Die These, dass in spätmodernen Gesellschaften immer mehr Menschen vereinsamen, wird oft mit der demographischen Entwicklung begründet, die zumindest zum Teil aus der Verlagerung der Kontrolle über die Fertilität auf die Individuen resultiert, etwa indem sich das Recht auf Empfängnisverhütung verbreitet, welches Frauen die individuelle Steuerung darüber gestattet, wann und wie viele Kinder sie bekommen. Zur gesellschaftlichen Modernisierung gehört daher die demographische Transition: Die Geburtenraten sinken je nach Modernisierungspfad und Typus unterschiedlich abrupt. Auf das Sinken der Geburtenraten folgt die Alterung der Bevölkerung. Das Verhältnis von sehr jungen zu alten Menschen verschiebt sich immer stärker, sodass der Anteil älterer Menschen zunimmt. Das englische squeeze bedeutet Druck, Engpass, Kompression: Gemeint ist damit im übertragenen Sinne, dass die Alterspyramide verformt wird und dadurch Druck auf bestimmte Generationen entsteht – beispielsweise in Hinblick auf Rentenansprüche. Nun sind nach Maßgabe der aktuellen psychologischen Forschung aus dem Blickwinkel der Altersverteilung typischerweise zwei Gruppen besonders von starken Einsamkeitsempfindungen betroffen: Jugendliche beziehungsweise junge Erwachsene und Hochbetagte.14 Die Prävalenz von Einsamkeitsempfindungen folgt in den meisten Gesellschaften damit also grob einer sogenannten U-Form. Wenn man annimmt, dass es sich bei dieser U-förmigen Verteilung um ein auf unterschiedliche Epochen und Gesellschaften übertragbares Phänomen handelt, und diese Verteilung auf den demographischen Wandel bezieht, legt dies folgende demographisch zu erwartende Dynamik der Verbreitung von Einsamkeitsempfindungen nahe: In der Frühmoderne kommt es im Rahmen der demographischen Explosion zu einer Zunahme von Einsamkeit, weil immer größer werdende Kohorten die Jugend und das junge Erwachsenenalter durchlaufen, die typischerweise von intensiven Einsamkeitsphasen begleitet werden. Nach der Phase des sprunghaften Bevölkerungswachstums durchläuft die Gesellschaft in der Hochmoderne eine Phase demographischer Konsolidierung.15 Idealtypisch vereinfacht dargestellt:16 Die Bevölkerungspyramiden nehmen je nach Art der demographischen Transition mehr und mehr eine Glocken- (bei Geburtenraten um die Bevölkerungserhaltungsgrenze, bei der die Bevölkerungszahl weder wächst noch schrumpft) oder eine Urnenform (bei Geburtenraten unterhalb der Bevölkerungserhaltungsgrenze, bei der die Bevölkerungszahl zurückgeht) an. Der Schwerpunkt der demographischen

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M. Barreto et al. (2021): Loneliness around the world; M. Luhmann/L.C. Hawkley (2016): Age differences in loneliness from late adolescence to oldest old age. D. Kirk (1996): Demographic transition theory. Hierzu muss zum Beispiel für Europa von den demographischen Effekten der großen Kriege abstrahiert werden.

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Verteilung verschiebt sich in beiden Fällen zunächst in die mittleren Altersgruppen, die zumeist wenig von Einsamkeitsempfindungen betroffen sind. Die Prävalenz der Einsamkeit nimmt daher in der Phase der Transition hin zu einer MidlifeGesellschaft ab, so die Vermutung. Besonders in Gesellschaften, deren demographische Pyramide eine Urnenform annimmt, weil die Geburtenraten weit unter der Bevölkerungserhaltungsgrenze liegen, folgt dann in der Spätmoderne jedoch die Phase der demographischen Schrumpfung und damit der rapiden Alterung der Gesellschaft.17 In dieser verschiebt sich das Verhältnis von älteren zu jüngeren Menschen immer weiter zu den älteren. Der Masseschwerpunkt der Bevölkerungspyramide liegt daher immer näher an den Jahrgängen, in denen intensive Einsamkeitsempfindungen wahrscheinlicher werden, weil enge Freund:innen und Partner:innen versterben und die Gesundheit fragiler wird. Der soziale Kontakt zu Primär- und Sekundärgruppen18 nimmt daher ab, gleichzeitig nimmt mit der Zunahme altersbedingter sozialer Isolation auch die Einsamkeit zu. Das Argument des demographischen Squeezes ist von einer hohen theoretischen Plausibilität, was mithin seine Beliebtheit erklären dürfte. Aus einer empirischen Perspektive ist jedoch Vorsicht angebracht. Die empirischen Belege für die Effekte der demographischen Transition auf die Prävalenz von Vereinsamung (im Sinne eines engen Begriffsverständnisses als erlebter Verlust funktionaler Sozialbeziehungen) fehlen bisher, weil es ländervergleichende Daten zum Einsamkeitsempfinden vor allem für die Gesellschaften der OECD19 gibt, die sich zumeist schon in der Phase der Konsolidierung oder der demographischen Alterung befinden. Zudem handelt es sich selbst bei diesen in der Regel um Querschnittsdaten, auf deren Basis sich die längsschnittliche Dynamik, die der demographische Squeeze vorhersagt, nur bedingt belegen lassen.20 Insgesamt basiert die These vor allem auf Daten zur Altersverteilung von Einsamkeitsempfindungen. Aus diesen, vor allem auf Individualniveau erfassten Daten, wird dann rückblickend ein Effekt des demographischen Wandels 17 18

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D. Kirk (1996): Demographic transition theory. Als Primärgruppen werden enge soziale Beziehungen, etwa zu Familie und engen Freund:innen, bezeichnet. Sekundärgruppen beschreiben dagegen losere Beziehungen, beispielsweise Bekanntschaften oder Kontakte innerhalb von Vereinen oder Peergroups. Die OECD ist die »Organisation for Economic Co-operation and Development« (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung): eine internationale Organisation, die die Wirtschaftsentwicklung inklusive Beschäftigungszahlen und Lebensstandard ihrer 38 Mitgliedsstaaten fördern will. Die Zugehörigkeit zur OECD wird oft als Bezugsrahmen für empirische Untersuchungen genutzt, da sie auf vergleichsweise einfache Art Aussagen über bestimmte – statistisch relevante – Merkmale trifft, und damit eine Vergleichbarkeit von (Gesellschafts-)Prozessen unter den zugehörigen Staaten sowie der zugehörigen Staaten in Abgrenzung zu nicht-zugehörigen Staaten geschaffen wird. Die Querschnittdaten geben Daten eines Zeitpunktes an (den Querschnitt), die Längsschnittdaten beziehen sich auf mehrere Zeitpunkte über einen längeren Zeitraum hinweg (den Längsschnitt).

Janosch Schobin und Denis Newiak: Führt gesellschaftliche Modernisierung in die Vereinsamung?

auf die Aggregatebene der Gesellschaften extrapoliert. Dies ist jedoch nur unter bestimmten Bedingungen zulässig. Etwa muss dafür angenommen werden, dass der Zusammenhang von Alter und Einsamkeit über die Phasen des demographischen Wandels und über unterschiedliche Länder stabil ist. Dies ist jedoch keineswegs ausgemacht. Beispielsweise wird aktuell in Pilotprojekten untersucht, ob es in spätmodernen Gesellschaften zu einer Verlängerung der typischen Einsamkeitsphase in der Jugend beziehungsweise im jungen Erwachsenenalter kommt. So beliebt das demographische Argument ist, so sehr muss es noch als das verstanden werden, was es bisher ist: eine einleuchtende These, die weiter untersucht werden muss, indem die aktuelle Einsamkeitsforschung sich stärker auf demographisch jüngere Gesellschaften in Afrika, Lateinamerika und Südostasien konzentriert und dort Langzeituntersuchungen vornimmt.

2.2 Community lost: Individualisierungskosten und Gemeinschaftsverlust Eine zweite These betrifft die Zunahme individualistischer Orientierungen in spätmodernen Gesellschaften. Es wird oft davon ausgegangen, dass diese zu einer Abnahme der Einbettung in lokale und traditionale Gemeinschaften führt. Diese Vermutung wird auch als Community-lost-These bezeichnet.21 Auf die Frage der Einsamkeit bezieht sich die These insofern, als in psychologischen Studien oft davon ausgegangen wird, dass der Rückgang der lokalen und traditionalen Einbettung der Individuen zu einer Zunahme von Einsamkeitsempfindungen führt.22 Über die Kausalpfade, durch die beide Größen miteinander verknüpft sind, herrscht jedoch keine Einigkeit. Hier können im Groben zwei Argumentationsmuster unterschieden werden: Das eine geht von einem objektiv beschreibbaren Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Wandel und Einsamkeitsempfinden aus, das andere bezieht sich auf die subjektive Wahrnehmung des gesellschaftlichen Wandels durch die von Einsamkeit betroffenen Individuen. Das erste argumentiert, dass die Abnahme der Einbettung in lokale und traditionale Gemeinschaften zu einer Reduktion der gegenseitigen sozialen Unterstützung und der moralischen Bindungskräfte führt, was darüber vermittelte Einsamkeitsempfindungen wahrscheinlicher macht. Diese Sichtweise kann als Argument vom objektiven Verlust lokaler Solidarität bezeichnet werden, weil es unterstellt, dass in Gesellschaften, die marktförmiger organisiert sind, lokale soziale Unterstützungsleistungen (›lokale Solidarität‹) durch Marktleistungen ersetzt werden, die jedoch mit starken Unsicherheiten hinsichtlich der Befriedigung psychosozialer Bedürfnisse behaftet sind, weil sie an die ökonomische Lage der Person gebunden sind (›Zahlungsfähigkeit‹) und nicht die gleiche Bindungsstärke erzeugen wie die vormodernen Gemeinschaften, die in gemeinsamen Hauswirt21 22

K.J.C. White/A.M. Guest (2003): Community Lost or Transformed? J.M. Smith (2012): Toward a Better Understanding of Loneliness; R.S. Weiss (1973): Loneliness.

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schaften, Verwandtschaftsverhältnissen und geistigen Abhängigkeiten begründet sind.23 Die zweite Argumentationslinie argumentiert entlang des Verlusts des Gefühls der sozialen Eingebundenheit in lokale soziale Kontexte, das mit Weiss24 als eine spezifische Form des Einsamkeitsempfindens aufgefasst werden kann. Es kann als die These vom Verlust des subjektiven Gemeinschaftsgefühls bezeichnet werden. Exemplarisch argumentiert etwa Taylor, dass in spätmodernen Gesellschaften »ein Gefühl der Aussichtslosigkeit« entstehe, weil »sich die Menschen in immer höherem Maße atomistisch sehen« und »[…] immer weniger spüren, daß [sic!] sie durch gemeinsame Vorhaben und Loyalitäten an ihre Mitbürger gebunden sind«.25 Aus dem Blickwinkel des subjektiven Gemeinschaftsverlusts fällt es den zunehmend isolierten Individuen der fragmentierten modernen Gesellschaft »immer schwerer […], sich mit ihrer politischen Gesellschaft als einer Gemeinschaft zu identifizieren«.26 Die Mitmenschen würden daher zunehmend »rein instrumentell« gesehen, was zur »Verfestigung des Atomismus« der spätmodernen Gesellschaften beitrage. Taylor beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung zwischen emotionaler und sozialer Vereinsamung von Weiß, demnach die erstere durch als unzureichend empfundene Einbettung in Primärgruppen und die letztere durch als unzureichend empfundene Einbettung in Sekundärgruppen charakterisiert ist. Aus der übermäßigen Stärkung individualistischer Orientierungen resultiert nach Taylor eine subtile Form der sozialen (im Gegensatz zur emotionalen) Vereinsamung, weil die atomisierten Einzelnen immer mehr »auf sich selbst zurückgeworfen« werden,27 die Menschen fühlen sich also nicht mehr als Teil von etwas Ganzem, sondern als einzelnes (›alleingelassenes‹) Wesen ohne Zusammenhang mit etwas anderem. Die mit der Modernisierung einhergehende Individualisierung erscheint im Rahmen dieser subjektiven Variante der Community-lost-These daher nicht mehr als Befreiung von früheren Formen der Gleichmacherei und Unterjochung, sondern führe, so Nancy, zu einer allumfassenden individuellen »experience of the dissolution of community«: »By its nature – as its name indicates, it is the atom, the indivisible – the individual reveals that it is the abstract result of a decomposition. It is another, and symmetrical, figure of immanence: the absolutely detached for-itself, taken as origin and as certainty.«28

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Siehe hierzu die bekannte, wenn auch nicht ganz unproblematische Lesart von F. Tönnies (1887): Gemeinschaft und Gesellschaft. R.S. Weiss (1973): Loneliness. C. Taylor (2011): Das Unbehagen an der Moderne, S. 126. Ebd., S. 131. Ebd., S. 131. J.-L. Nancy (1991): The inoperative community, S. 3; zu Deutsch: »Seiner Natur nach – wie es der Begriff andeutet, ist es das Atom, das Unteilbare – offenbart das Individuum, dass es das abstrakte Ergebnis einer Zersetzung ist. Es ist eine andere, und symmetrische, Figur der Im-

Janosch Schobin und Denis Newiak: Führt gesellschaftliche Modernisierung in die Vereinsamung?

Beide Argumentationslinien vermuten demnach, dass die Tendenz zur immer weiteren Individualisierung und sozialen Differenzierung spätmoderner Gesellschaften nicht nur immer größere Modernisierungsdividenden erzeugt, sondern auch zunehmend destruktive Kippmomente produziert, die unter anderem zu einer zunehmenden Vereinsamung beitragen. Aus einer empirischen Perspektive ist zumindest einzuwenden, dass die empirischen Diagnosen, die im Rahmen der Community-lost-Thesen zu der Erklärung, weshalb es im Rahmen der Spätmoderne zur Zunahme von Einsamkeitserfahrungen kommt, hinzugezogen werden, immer wieder angezweifelt worden sind.29 Die Abnahme der Beteiligung an lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Vereinen und Wohltätigkeitsorganisationen, die etwa für die USA beobachtet wurde,30 ist zum Beispiel nicht in gleichem Maße in Europa auszumachen. Die Abnahme der Einbettung in religiöse Gemeinschaften wiederum ist in Europa ausgeprägter, aber in den USA kaum zu beobachten.31 Ob es zu einer Reduktion der lokalen Solidarität im Rahmen der immer stärkeren Durchdringung der spätmodernen Gesellschaften durch Märkte gekommen ist, die soziale Unterstützungsleistungen kommodifizieren, ist ebenfalls nicht unbedingt ausgemacht. Auch die Effekte individualistischer Orientierungen, die mit Taylor,32 Nancy33 und anderen ein Gefühl des Gemeinschaftsverlusts nach sich ziehen und (auch dadurch) Einsamkeit generieren, sind in der empirischen Forschung äußerst umstritten.34 So kommt Swader35 in einem Vergleich von 21 europäischen Ländern zu dem Ergebnis, dass Menschen in Gesellschaften, die stärker individualistische Orientierungen aufweisen, sogar weniger einsam sind. Andere länderübergreifende Vergleichsstudien aus westlichen Kontexten kommen zu ähnlichen Ergebnissen,36 während Studien an Stichproben aus einer weltweiten Auswahl von Ländern gegenteilige Belege finden.37 Weshalb die Studienlage derart widersprüchlich ist, kann aktuell nur erahnt werden: Denkbar sind hier sowohl methodische Ursachen, etwa weil zentrale Variablen wie das Einsamkeitsempfinden unterschiedlich erfasst

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manenz: das absolut losgelöste Für-sich-selbst, das als Ursprung und Gewissheit genommen wird.« [Übersetzung durch die Herausgeber:innen] K.J.C. White/A.M. Guest (2003): Community Lost or Transformed?; I. Maitland (1998): Community Lost?. R.D. Putnam (2000): Bowling alone. P.L. Berger (2012): Further thoughts on religion and modernity. C. Taylor (2011): Das Unbehagen an der Moderne. J.-L. Nancy (1991): The inoperative community. M. Mund et al. (2020): The Stability and Change of Loneliness Across the Life Span. C.S. Swader (2019): Loneliness in Europe. T. Hansen/B. Slagsvold (2016): Late-Life Loneliness in 11 European Countries; T. Fokkema/J. de Jong Gierveld/P.A. Dykstra (2012): Cross-National Differences in Older Adult Loneliness; V.A. Lykes/M. Kemmelmeier (2014): What Predicts Loneliness? H. Taniguchi/G. Kaufman (2022): Family, Collectivism, and Loneliness from a Cross-Country Perspective.

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werden, aber auch Selektionseffekte, die auf der Auswahl der Länder beruhen. Vor dem Hintergrund einer wachsenden globalen Mobilität, einer allmählich sämtliche Lebensbereiche durchdringenden Digitalisierung inklusive der Verbreitung digitaler sozialer Netzwerke stellen sich hier jedoch besonders für die spätmoderne Phase der Individualisierung neue Fragen, die bisher nur unzureichend durch empirische Studien adressiert werden. Etwa stellt sich die Frage, welche Wirkung ›Likes‹ und andere Formen virtueller Aufmerksamkeitskonkurrenz, die in digitalen Diensten genutzt werden, auf die Einsamkeitserfahrungen jüngerer Nutzer:innen haben. Studien deuten darauf hin, dass sie möglicherweise zur Verstärkung von Einsamkeitsempfindungen beitragen.38 Ähnliches ließe sich für Erfahrungen von Entfremdung und ›Entwurzelung‹ im Zuge sozialer Beschleunigung,39 rascher Urbanisierung in Megacities40 oder des Verlusts eines Bezugs zwischen sozialem Raum und der Einbettung der Menschen in gelebte Geschichte fragen,41 die mit Individualisierungsprozessen in Zusammenhang gebracht werden. Aber auch hier fehlt praktisch überall eine belastbare Studienlage. Insgesamt ist daher auch hier zu sagen: Es bedarf weiterer Forschung, bevor definitive Aussagen zum Zusammenhang von gegenwärtigen Formen der Individualisierung und der Verbreitung von Einsamkeitsempfindungen getroffen werden können – further studies are needed!

2.3 Anomische Verstärkung: Vertrauensverluste und Einsamkeitsempfinden Eng verwandt mit der These, dass Modernisierungsprozesse über den Verlust von Gemeinschaftsunterstützung und -gefühl zu Vereinsamung beitragen, ist die These, dass Modernisierungsprozesse die sozialen Voraussetzungen liberaler Gesellschaftsordnungen untergraben, was wiederum zu einer Verbreitung von Einsamkeitsempfindungen beitrage. In der soziologischen und politischen Theorie geht diese These auf Hannah Arendt zurück. Sie ähnelt der Community-lost-These, sieht jedoch einen anderen kausalen Mechanismus am Werk, bei dem es zu einer Rückkopplung zwischen einer dynamisierten Sozialstruktur und der Verbreitung von Einsamkeitsempfindungen kommt, die gleichzeitig zu einer Destabilisierung der sozialen Ordnung moderner Gesellschaften und zur Verbreitung von Einsamkeitsempfindungen beitrage. Arendt diagnostizierte in den »Origins of Totalitarianism«,42 dass sich in den westeuropäischen Gesellschaften der Zwischenkriegszeit 38

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Nur beispielhaft sei auf die Überblicksarbeit von Jean M. Twenge ([2017]: iGen) verwiesen. Interessanterweise wurde auf diesen Zusammenhang bereits in der Frühphase solcher digitaler Dienste hingewiesen, siehe etwa C. Huang (2010): Internet Use and Psychological Wellbeing. H. Rosa (2018): Beschleunigung und Entfremdung. M. Adli (2017): Stress in the City. M. Augé (2008): Non-places. H. Arendt (1973): The origins of totalitarianism.

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ein wachsendes Gefühl sozialer Anomie (Regel-, Ordnungs- oder Gesetzlosigkeit) verbreitet habe, das kausal mit der Vereinsamung der Menschen zusammenhänge. Diese These kann daher als These der anomischen Verstärkung bezeichnet werden. Arendt zählt die Vereinsamung, die sie auf die Gewalterfahrung in den Schützengräben, die Vermassung durch die ökonomischen Nachkriegskrisen und den Verlust der Klassenzugehörigkeit zurückführt, zu den elementaren Bedingungen, die der totalitären Massenbewegung den Boden bereiteten, die schließlich in den Nationalsozialismus mündete. In den »Origins« merkt Hannah Arendt hierzu an: The truth is that the masses grew out of the fragments of a highly atomized society whose competitive structure and concomitant loneliness of the individual had been held in check only through membership in a class. The chief characteristic of the mass man is not brutality and backwardness, but his isolation and lack of normal social relationships.43 Die These, dass kollektive Vereinsamung am Zusammenbruch der Weimarer Republik beteiligt war, spielt auch heute noch, wenn auch in abgeänderter und vor allem empirisch anders messbar gemachter Form, in der sozialpsychologischen, soziologischen und politologischen Einsamkeitsforschung eine Rolle. Aktuell wird vermutet, dass es eine Rückkopplung zwischen Einsamkeitsempfindungen auf der individuellen Mikroebene und zentralen Faktoren gibt, die auf der Makroebene die Stabilität liberaler Demokratien gewährleisten: Allen voran sind hier das Institutionenoder Politikvertrauen und das Verpflichtungsempfinden gegenüber der Gesellschaft zu nennen. Beispielsweise zeigen Daten des European Social Surveys,44 dass es auf der Ebene der europäischen Regionen einen statistischen negativen Zusammenhang zwischen der Prävalenz von Einsamkeitsempfindungen und dem Vertrauen in die politischen Institutionen gibt.45 Wiederum konnte an repräsentativen Daten aus den Niederlanden und Deutschland gezeigt werden, dass es einen positiven statistischen Zusammenhang zwischen Wahlenthaltung und Einsamkeitsempfindungen gibt, der über das Gefühl der zivilen Verpflichtung zum Wählen vermittelt ist. Sowohl die progressive Zunahme der Wahlenthaltung als auch die Abnahme des Poli-

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Ebd., S. 317; zu Deutsch: »Die Wahrheit ist, dass die Massen aus den Bruchstücken einer hochgradig atomisierten Gesellschaft entstanden sind, deren Wettbewerbsstruktur und damit einhergehende Einsamkeit des Einzelnen nur durch die Zugehörigkeit zu einer Klasse in Schach gehalten werden konnte. Das Hauptmerkmal des Massenmenschen ist nicht Brutalität und Rückständigkeit, sondern seine Isolation und der Mangel an normalen sozialen Beziehungen.« [Übersetzung durch die Herausgeber:innen] J. Schobin (2018): Vereinsamung und Vertrauen. A. Langenkamp (2021): Lonely Hearts, Empty Booths?

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tikvertrauens, die empirisch in den Ländern der OECD beobachtet wurden,46 gelten dabei als Krisensymptome des liberalen, kapitalistischen Gesellschaftsmodells. Gleichzeitig wird vermutet, dass eine Zunahme der gesellschaftlichen Instabilität zu einer Zunahme von Einsamkeitsempfindungen führt, weil die politischen Institutionen einen Ordnungsrahmen für soziale Beziehungen darstellen.47 Ein Verlust des Vertrauens in das politische System ziehe daher den Verlust des Vertrauens in die Mitmenschen nach sich, was wiederum als generativer Faktor für die Entwicklung von Einsamkeitsempfindungen gilt.48 Aktuelle Forschungsergebnisse legen demnach nahe, dass eine Zunahme der Verbreitung starker Einsamkeitsempfindung zu einer Destabilisierung des politischen Systems liberaler Demokratien führen könnte, was wiederum eine Zunahme der Einsamkeit auslösen würde. Denkbar ist daher, dass sich Vertrauensverluste, abnehmende politische Partizipation und die Zunahme von Einsamkeitsempfindungen teufelskreisartig verstärken können. Am Ende stünde eine Gesellschaft, in der eine Mehrheit starken Einsamkeitsempfindungen ausgesetzt ist, zugleich kaum noch an politischen Prozessen partizipiert und den demokratischen Institutionen immer weniger Vertrauen entgegenbringt. Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass ein Großteil der aktuellen Forschungsergebnisse auf der Analyse von Querschnittsdaten beruht. Die aktuellen Ergebnisse stimmen demnach zwar mit der Annahme einer Rückkopplung zwischen individueller Vereinsamung und dem Vertrauen in und die Verpflichtung auf die Institutionen und Regeln liberaler Gesellschaften überein, die postulierte zeitliche Rückkopplungsdynamik können sie jedoch nicht belegen. Hierzu mangelt es an Studien, die besser dazu geeignet sind, die kausalen Annahmen der auf Arendt zurückgehenden These der anomischen Verstärkung zu untermauern. Auch hier gilt demnach, dass die Debatte alles andere als entschieden ist und sich vielleicht aufgrund der hohen Komplexität und Wandlungsfähigkeit der beschriebenen Sozialbeziehungen auch gar nicht abschließend entscheiden lässt.

3. … und ihre Modernisierungsdividenden Das Argument, dass Modernisierungsprozesse hingegen dazu beitragen, Vereinsamung in spätmodernen Gesellschaften zu reduzieren, stützt sich vor allem auf die Vermutung, dass es in der Hochmoderne nach den großen Kriegen zu gesellschaftlichen Liberalisierungsprozessen gekommen ist – und diese eben der Vereinsamung vorbeugten und bis heute nachwirken. Gemein ist den Thesen, dass sie eine

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A. Solijonov (2016): Voter turnout trends around the World; A. Siaroff (2009): The Decline of Political Participation. G. Spadaro et al. (2020): Enhancing feelings of security. K.J. Rotenberg (1994): Loneliness and Interpersonal Trust.

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Verbindung zwischen der makrostrukturellen Liberalisierung der Gesellschaft und dem Qualitätsniveau persönlicher Beziehungen herstellen. Im Kern basiert die Vermutung der einsamkeitsreduzierenden Effekte der Moderne daher auf der Überlegung, dass hoch- und spätmoderne Gesellschaften die Bedingungen der Möglichkeit hochqualitativer Nahbeziehungen, wie etwa den Schutz vor intimer Gewalt49 , besser und effektiver gewährleisten als frühmoderne. Vermutet werden in diesem Zusammenhang vor allem drei Effekte langer Dauer: die Emanzipationsdividende, die Wohlstandsdividende und die Inklusionsdividende.50

3.1 Die Emanzipationsdividende: die Zunahme relationaler Autonomie und die Veränderung der Institution der Ehe Die Argumentation, dass aus der Zunahme relationaler Autonomie51 eine Emanzipationsdividende entspringt, die sich in einer Reduktion von Einsamkeit äußert, geht in der aktuellen Forschung auf einen Gedankengang von Heu et al. zurück.52 Die zentrale Überlegung kann etwas zugespitzt so zusammengefasst werden: Je stärker enge Beziehungen auf freier Wahl basieren, umso höher ist die Qualität der engen Beziehungen, und je höher die Qualität der engen Beziehungen ist, umso seltener ist Einsamkeit. Die empirischen Belege für diese Überlegung stammen aus unterschiedlichen Quellen. Als gut belegt kann der finale Teil der These angesehen werden: Hochqualitative Beziehungen schützen besonders gut vor Einsamkeit.53 Weitaus schwächer ist dagegen belegt, dass eine Zunahme relationaler Autonomie zu einer Abnahme von Einsamkeit beiträgt. Erste Studien deuten aber in diese Richtung. Etwa untersuchten Heu et al.54 2021 in einer quantitativen Studie in vier europäischen Ländern – Finnland, Portugal, Polen und Österreich –, wie sich kulturelle Normen bezüglich der Möglichkeit, neue Beziehungen einzugehen (sogenannte Beziehungsmobilitätsnormen), auf Vereinsamungsempfindungen auswirken. Sie finden dabei Unterstützung für die Hypothese, dass die Verbreitung normativer Einstel-

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Intime Gewalt beschreibt hier die Gewalt innerhalb enger sozialer Beziehungen, insbesondere Partnerschaften, inklusive sexualisierter, physischer und psychischer Gewalt. Der Begriff Dividende meint hier jeweils eine »Gewinnausschüttung« im übertragenen Sinn, die die genannten Entwicklungen (zunehmende Emanzipation, Wohlstandswachstum und zunehmende Inklusion) in Form eines Zugewinns hinsichtlich der Qualität sozialer Beziehungen mit sich bringen. Unter relationaler Autonomie soll hier die positive Freiheit verstanden werden, enge soziale Beziehungen selbst wählen und kündigen zu können. L.C. Heu/N. Hansen/M. van Zomeren (2021): Resolving the cultural loneliness paradox of choice. J. Beller/A. Wagner (2018): Disentangling loneliness; H. Aiden (2016): Isolation and loneliness. L.C. Heu/N. Hansen/M. van Zomeren (2021): Resolving the cultural loneliness paradox of choice.

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lungen,55 welche die Beziehungsmobilität begünstigen, mit einem geringeren Maß an Einsamkeit in allen vier Ländern verbunden war. Die These, dass Beziehungsmobilitätsnormen den Grad der Vereinsamung einer Gesellschaft beeinflussen können, leitet zur Frage des Einflusses von Geschlechternormen, und damit der Geschlechterungleichheit, auf Vereinsamung über, wie gleich deutlich wird. Dies rechtfertigt es, den Effekt der Stärkung von Beziehungsmobilitätsnormen als Emanzipationsdividende zu beschreiben: Die zunehmende Gleichstellung der Geschlechter hängt makrostrukturell mit den Möglichkeiten zur Beziehungsmobilität zusammen. Der Emanzipationsprozess kann zum Teil als ein Prozess der zunehmenden rechtlichen Garantie individueller Kontrolle über enge Bindungen rekonstruiert werden. Dies kann unter anderem durch den Wandel des Scheidungsrechts in den modernen Gesellschaften seit den 1960er Jahren veranschaulicht werden:56 Scheidungsgesetze, welche die einseitige (also die durch eine Person beschlossene) Auflösung von Ehen erlauben, sind in dieser Zeit nach und nach zur Norm geworden, was zu mehr Scheidungen und dynamischeren Partnerschaftsbiographien führte und führt. Dieser Prozess wiederum dürfte dazu beigetragen haben, dass die Gruppe der einsamen Menschen, die sich in dysfunktionalen Ehen verloren fühlen, anteilig abnimmt. Scheidungen wirken sich nämlich positiv auf die Qualität der bestehenden Partnerschaften aus. Darauf deuten zumindest Studien über das subjektive Wohlbefinden und die psychische Belastung von Geschiedenen hin: Vor der Trennung ist die psychische Belastung hoch und die Beziehungsqualität gering. Nach der Trennung geht die Beziehung zwar verloren, aber ebenso der damit verbundene Stress. Der Grad des Wohlbefindens ähnelt dem von Alleinstehenden, welcher höher liegt als vor der Scheidung, aber niedriger als bei ›glücklich‹ verheirateten Menschen – also solchen, die sich nicht scheiden lassen.57 Findet eine Person eine:n neue:n Partner:in, ist die Beziehungsqualität in der Regel wieder hoch und das subjektive Wohlbefinden steigt. Insgesamt ist daher zu vermuten: je einfacher die Möglichkeit der Trennung von Partner:innen, desto höher auch die Beziehungsqualität im Mittel in Partnerschaften – solange die Partnerschaftsmärkte für Geschiedene halbwegs effizient sind; eine Voraussetzung, die sicherlich eine eigene Diskussion wert wäre, hier jedoch den Rahmen sprengen würde. Insgesamt wird daher vermutet, dass eine Zunahme der relationalen

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Erfasst werden in den Studien nicht die Beziehungsmobilitätsnormen selbst, die als latente soziale Konstrukte zu verstehen sind, sondern manifeste Einstellungen, die als Indikatoren für die Unterstützung von Beziehungsmobilitätsnormen aufgefasst werden können. Daraus wird wiederum auf die Gültigkeit der Normen für die Person geschlossen. T. Kneip/G. Bauer (2009): Did Unilateral Divorce Laws Raise Divorce Rates in Western Europe? J. Gardner/A.J. Oswald (2006): Do divorcing couples become happier by breaking up?; M. Blekesaune (2008): Partnership transitions and mental distress.

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Autonomie, besonders von Frauen, langfristig dazu beiträgt, die Einsamkeitsbelastungen in modernen Gesellschaften zu reduzieren.58 Mit Blick auf den Stand der Forschung ist jedoch anzumerken, dass auch hier entsprechende empirische Belege vor allem aus ländervergleichenden Querschnittsuntersuchungen stammen. Etwa findet Schobin59 anhand der Daten des International Social Survey Programms 2017, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen der Geschlechterungleichheit (erfasst durch den Gender Inequality Index) und der Frequenz von Einsamkeitsempfindungen in 29 Ländern gibt – je größer die Geschlechterungleichheit, desto häufiger treten Gefühle von Einsamkeit auf. Die Stichprobe umfasst dabei eine kulturell, wirtschaftlich und geographisch äußerst diverse Auswahl von Gesellschaften. Ergebnisse wie diese sind demnach kongruent mit der Annahme einer Emanzipationsdividende und decken sich mit den Erkenntnissen zur Dynamik von Einsamkeitsbelastungen entlang des Lebenszyklus von Partnerschaften. Allerdings wären auch hier stärker kausalanalytisch angelegte, längsschnittliche Langzeituntersuchungen notwendig, um die These einer Emanzipationsdividende stabiler zu untermauern. Zugleich muss hinterfragt werden, inwiefern die mit den wünschenswerten Emanzipations- und Individualisierungsprozessen einhergehende Flexibilisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen auch langfristig geeignet ist, Einsamkeitserfahrungen zu verringern. Etwa bekommt die Frage der Veränderung von Einsamkeitserfahrungen im Alter eine zunehmende Brisanz, wenn die bisherigen Mechanismen familiärer Konfliktregulierung, Zuwendung und Pflege im Alter allmählich wegfallen und sozialstaatlich – zum Beispiel in Form von Pflegediensten oder -heimen nebst den zugehörigen Regelungen und Verantwortlichkeiten – substituiert werden (müssen). Hier sind die Konsequenzen für die typische Dauer, Verteilung und Verbreitung von Einsamkeitserfahrungen im höheren Alter noch nicht klar absehbar, zeichnen sich aber als zukünftiges Forschungsfeld bereits ab (Stichwort demographischer Squeeze).

3.2 Die Wohlstandsdividende: die Abnahme sozialer Stressoren, wie intimer Gewalt und Armut, und die protektive Rolle der Bildung Nach den großen Kriegen kommt es zu einer historisch beispiellosen Zunahme des gesellschaftlichen Wohlstands in westlichen Gesellschaften. Die These von der Wohlstandsdividende nimmt an, dass sich dieser Prozess individualpsychologisch als eine Abnahme körperlicher, psychischer und sozialer Stressoren60 artikulierte 58 59 60

J. Schobin (2022): Emanzipation und Isolationsbedrohung. Ebd. Unter einem Stressor werden Ereignisse verstanden, die den Körper in Alarmbereitschaft versetzen. Je nach Ursache des Ereignisses kann zwischen körperlichen Stressoren (beispielsweise falscher Ernährung, schwerer Arbeit und Lärm), psychischen Stressoren (beispielsweise Zukunftsängsten) und sozialen Stressoren (beispielsweise sozialer Zurückweisung) unter-

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und darüber vermittelt Einsamkeitsempfindungen zurückdrängte. Etwa wird der zunehmende Wohlstand in internationalen Vergleichsuntersuchungen mit höherer gesamtgesellschaftlicher Gesundheit,61 einem geringeren Ausmaß an Gewalt in Paarbeziehungen62 und – zumindest in der initialen Phase der Wohlstandsakkumulation – mit einer Verringerung von Armut kausal in Verbindung gebracht.63 Da (mangelhafte) Gesundheit, Erfahrungen intimer Gewalt und Armut allesamt potenzielle Ursachen für Vereinsamungserfahrungen darstellen,64 wird daher vermutet, dass ihre Reduktion in hochmodernen Gesellschaften zu einer nachhaltigen Abnahme der Vereinsamungsprävalenz beitrug, die bis in die gegenwärtige Spätmoderne nachhält. Das Argument, dass es zu einer Abnahme sozialer Stressoren aufgrund der Wohlstandsdividende kommt, kann um das Argument ergänzt werden, dass die Wohlstandsdividende zur Stärkung individueller Resilienz beiträgt, indem die Individuen in ihrer Entwicklung mit kognitiven, affektiven, sozialen und materiellen Ressourcen ausgestattet werden, die es ihnen besser gestatten, Einsamkeitsphasen zu überwinden. Am einfachsten lässt sich dieses Argument anhand der Zunahme des durchschnittlichen Bildungsgrades in hoch- und spätmodernen Gesellschaften darstellen: Bildung ist tendenziell eher ein negativer Prädiktor für Einsamkeitsempfindungen65 – das heißt, dass ein höherer Bildungsgrad die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Einsamkeitsempfindungen reduziert. Aktuell wird davon ausgegangen, dass Bildung als individuelle Ressource Einsamkeit über eine Vielfalt komplexer Kausalpfade verringert: Ein höherer Bildungsgrad verbessert etwa die Möglichkeiten der Individuen, mit Konflikten in Partnerschaften gewaltfrei umzugehen,66 und trägt zu einem besseren Gesundheitsverhalten bei.67 Allerdings ist auch hier einschränkend anzumerken, dass die kausalen Thesen, die Bildung – wie auch andere mentale Ressourcen – und Vereinsamung in Zusammenhang bringen, bisher selten explizit kausalanalytisch überprüft werden. Bildung fungiert in vielen Untersuchungen vor allem als eine soziodemographische Kontrollvariable; das heißt, die unterschiedlichen Variablen werden bei gleichem Bildungsstand untersucht. Der kausale Zusammenhang mit der Verarbeitung von Vereinsamung wird demnach unter der Hand als ›trivial‹ oder ›offensichtlich‹ unterstellt, aber nicht

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schieden werden. Häufig lässt sich die Stressursache jedoch nicht genau abgrenzen, weshalb auch häufig übergreifend von biopsychosozialen Stressoren gesprochen wird. J. Strauss/D. Thomas (1998): Health, nutrition, and economic development. H.R. Waters et al. (2005): The costs of interpersonal violence. M. Škare/R.P. Družeta (2016): Poverty and economic growth. L.C. Hawkley et al. (2008): From Social Structural Factors to Perceptions of Relationship Quality and Loneliness; J. Holt-Lunstad et al. (2015): Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality; K. Samuel et al. (2018): Social isolation and its relationship to multidimensional poverty. N. Savikko et al. (2005): Predictors and subjective causes of loneliness in an aged population. L. Wang (2016): Factors influencing attitude toward intimate partner violence. I. van der Heide et al. (2013): The Relationship Between Health, Education, and Health Literacy.

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selbst untersucht. Die These von der Wohlstandsdividende stützt sich aus diesen und verwandten Gründen – ähnlich wie die These vom demographischen Squeeze – bisher vor allem auf Daten, die lediglich eine statistische Assoziation, aber keine Kausalbeziehung zwischen Wohlstand und Bildung und dem Einsamkeitsempfinden auf der Ebene des Individualverhaltens belegen. Ob sich Wohlstandsgewinne auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene tatsächlich in einer abnehmenden Prävalenz von Einsamkeitsempfindungen artikulieren, wurde dagegen – soweit wir sehen – bisher nie explizit untersucht. Um die These von der Wohlstandsdividende empirisch zu untermauern, wären demnach auch hier Langzeitstudien in den Schwellenländern [emerging economies] Lateinamerikas, Afrikas und Südostasiens notwendig, da sich in diesen Ländern die Auswirkungen wachsenden Wohlstandes auf das Einsamkeitsempfinden noch direkt mitverfolgen lassen. Wie die These vom demographischen Squeeze sollte sie daher vor allem als das verstanden werden, was sie bisher ist: eine These, die aufgrund bekannter Zusammenhänge plausibel wirkt. Zugleich ist aber auch denkbar, dass mit den Wohlstandsgewinnen unerwünschte Nebeneffekte einhergehen, die Einsamkeitsbelastungen begünstigen – angefangen bei decision fatigue (also einer gewissen Entscheidungsmüdigkeit) über einen zunehmenden Dienstleistungscharakter von Sozialbeziehungen bis hin zur Verbreitung von Verschwörungsideologien als Reaktion auf das gewachsene Maß sozialer Komplexität mit der Folge politischer Spaltung. Auch hier braucht es weitere Forschungsbemühungen, die miteinander konkurrierende und einander widerstrebende Dynamiken gleichzeitig in den Blick nehmen und offen für kontraintuitive Kausalzusammenhänge bleiben.

3.3 Die Inklusionsdividende: der Abbau von Diskriminierung und Unterdrückung in liberalen Gesellschaften Eng verwandt mit der These von der Emanzipations- und der Wohlstandsdividende ist die These der Inklusionsdividende. Diese These besagt, dass es im Rahmen der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz sozialer Diversität zu einem generellen Abbau von Diskriminierung68 kommt, der zu einer nachhaltigen Abnahme von Einsamkeitsgefühlen beiträgt. Aktuelle sozialpsychologische Studien zeigen auf, dass allgemein angenommen werden kann, dass Diskriminierungserfahrungen Einsamkeitsempfindungen hervorrufen oder verstärken – auf der diskriminierten Seite, während sie auf der diskriminierenden Seite ebenfalls mit ihr positiv korrelieren. Etwa belegen diese Studien, dass sowohl verinnerlichte Homophobie als auch Diskriminierungserfahrungen aufgrund der sexuellen Orientierung die Wahrschein68

Unter Diskriminierung ist die systematische Benachteiligung von Menschen auf Grund von individuellen oder gruppenspezifischen Merkmalen wie Geschlecht, Alter, Ethnizität oder sexueller Orientierung zu verstehen.

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lichkeit von Einsamkeitsempfindungen erhöhen und die schützende Wirkung von sozialen Netzwerken vor Einsamkeitsempfindungen reduzieren.69 Ähnliche Ergebnisse liegen aktuell für rassistische Diskriminierung vor: Etwa fanden Priest et al.70 in einer längsschnittlichen Untersuchung an australischen Schüler:innen, dass die Erfahrung unmittelbarer ethnischer Diskriminierung eine anhaltende Wirkung auf das Einsamkeitsempfinden der Schüler:innen hatte. Ebenso zeigen erste Studien, dass Altersdiskriminierung mit Vereinsamungsempfindungen assoziiert ist. So beobachteten Lee und Bierman71 in einer längsschnittlichen Untersuchung von drei Wellen (2006, 2010, 2014) der Health and Retirement Studie der USA (USHRS), dass allgemeine Diskriminierungserfahrungen bei älteren Menschen mit einer Zunahme von Einsamkeitsempfindungen einhergehen und so zur Zunahme depressiver Symptome beitragen. Allerdings wurde hier Diskriminierung als allgemeine Diskriminierung und nicht spezifisch als Diskriminierung aufgrund des Alters erfasst. Aufgrund der Art der Stichprobe liegt jedoch der Schluss nahe, dass es sich zumindest in Teilen um Erfahrungen von Altersdiskriminierung handelt. Ebenso geht die Diskriminierung aufgrund psychischer Störungen mit Vereinsamungserfahrungen einher. Etwa fanden Świtaj et al.72 anhand einer querschnittlichen Stichprobe von Menschen mit psychotischen Störungen73 , dass Diskriminierungserfahrungen sowohl direkt als auch indirekt über die Verringerung des Selbstwertgefühls das Einsamkeitsempfinden erhöhen. Eine Vielzahl von Studien aus China wiederum legt nahe, dass die Diskriminierung aufgrund von niedriger Klassenzugehörigkeit Einsamkeitsempfindungen verstärken kann.74 Insgesamt kann daher festgehalten werden, dass nach aktueller Studienlage davon auszugehen ist, dass Diskriminierungserfahrungen weitestgehend unabhängig von der Art des Diskriminierungsmerkmals über direkte und indirekte Kausalpfade Vereinsamung verstärken. Übertragen auf die gesamtgesellschaftliche Ebene folgt

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L. Kuyper/T. Fokkema (2010): Loneliness Among Older Lesbian, Gay, and Bisexual Adults; E.H. Mereish/V.P. Poteat (2015): A relational model of sexual minority mental and physical health; E.H. Mereish/S.L. Katz-Wise/J. Woulfe (2017): Bisexual-Specific Minority Stressors, Psychological Distress, and Suicidality in Bisexual Individuals. N. Priest et al. (2017): Effects over time of self-reported direct and vicarious racial discrimination on depressive symptoms and loneliness. Y. Lee/A. Bierman (2019): Loneliness as a Mediator of Perceived Discrimination and Depression. P. Świtaj et al. (2015): Experiences of discrimination and the feelings of loneliness in people with psychotic disorders. Unter einer psychotischen Störung werden psychische Störungen zusammengefasst, bei denen die Wahrnehmung, das Denken und das Fühlen von Menschen sich so stark verändern, dass diese Menschen aus Sicht ihrer Umwelt den Bezug zur geteilten Realität verlieren. D. Liu et al. (2014): The impact of perception of discrimination and sense of belonging on loneliness; Q. Wang/Y. Zhang/X. Liu (2021): Perceived discrimination, loneliness, and non-suicidal self-injury in Chinese migrant children.

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daraus die folgende Vermutung: Nimmt die gesellschaftliche Akzeptanz sozialer Diversität zu und die Diskriminierungsneigung ab – was in den meisten westlichen Gesellschaften grob gesprochen seit Anfang der 1990er Jahre nicht zuletzt mit Blick auf die sexuelle Identität der Fall ist,75 ist unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierungsforschung davon auszugehen, dass Einsamkeitserfahrungen bei den betroffenen Personen seltener werden. Zu vermuten ist daher auch, dass die Rechte zum Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, des Geschlechts, des Alters und der sexuellen Identität, wie sie sich in den liberalen, westlichen Demokratien seit Mitte der 1990er Jahre nach und nach verbreitet und – soweit sie denn auch eine Form von antidiskriminatorischer Wirksamkeit entfaltet haben – zu einer Reduktion der Prävalenz von Einsamkeit beigetragen haben. Insgesamt spricht daher viel für die These einer Inklusionsdividende, aber auch hier fehlt es – wie der Forschung zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Modernisierung und Einsamkeit im Allgemeinen – an den entsprechenden Studien, die im längsschnittlichen Gesellschaftsvergleich zeigen, dass sich die These nicht einfach aus einem Fehlschluss aus Daten auf dem Individualniveau ergibt. Jenseits der einsamkeitsmindernden Effekte des Fortschreitens gesellschaftlicher Inklusion auf diskriminierte Gruppen sind zudem gegenläufige Dynamiken möglich, die bisher in der Forschung wenig berücksichtigt werden. Etwa besteht die Möglichkeit, dass die zunehmende Vielfalt gesellschaftlich akzeptierter Identitätsoptionen und Lebensformen mit neuen Problemen bei der Identitätsfindung und einer fehlenden Anschlussfähigkeit neuartiger hyper-individualisierter Spezialidentitäten einhergehen kann. Dies wäre besonders mit Blick auf modernisierungskritische ›Modernisierungsverlierer:innen‹ untersuchenswert, die möglicherweise aufgrund einer niedrigeren Diversitätskompetenz auf Diversitätszumutungen eher mit sozialem Rückzug und dem Abbau sozialen Vertrauens reagieren und so für Einsamkeitsempfindungen anfälliger werden (siehe These der anomischen Verstärkung). Interessant für Einsamkeitsthesen sind also nicht nur diejenigen Personen, die eine solche neue Spezialidentität annehmen, sondern auch diejenigen, die mit diesen Spezialidentitäten und der Neuordnung des gesellschaftlichen Rahmens nicht oder nur schlecht umgehen können (ergo die Diversität als Zumutung empfinden). Ähnliche Überlegungen können entsprechend auch entlang der individuellen Identitätsentwicklung angestellt werden. Etwa ist denkbar, dass sich die typische Einsamkeitsphase in der Jugend und dem jungen Erwachsenenalter aufgrund der Zunahme spätmoderner Identitätsoptionen ausweitet, beziehungsweise sich der Übergang aus dieser Phase in das vergleichsweise einsamkeitsarme ›Erwachsenenalter‹ erschwert. Ein Verständnis des Einflusses der zunehmenden Akzeptanz von Vielfalt und anderer jüngerer Modernisierungserfolge auf die Verbreitung von Vereinsamungserfahrungen steht daher noch in den Anfängen. 75

R.W. McGee (2016): Has Homosexuality Become More Accepted Over Time?

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4. Fazit Der vorliegende Beitrag versucht, die komplexe Debatte um die Frage, ob moderne Gesellschaften zunehmend einsamer werden, durch zweckdienliche Vereinfachungen zusammenzufassen. Hier könnten nun die wesentlichen Bestandteile dieser Zusammenfassung ihrerseits noch einmal zusammengefasst werden. Das erscheint uns jedoch für die Leser:innen als wenig brauchbar. Vielmehr soll hier auf die vielleicht wichtigste Beschränkung des vorliegenden Beitrags (noch einmal) aufmerksam gemacht werden: Die vorliegende Darstellung begnügt sich vor allem mit der Darstellung von Daten und Erkenntnissen aus westeuropäischen Gesellschaften und den USA. Das ärgerliche ist nur, dass die Frage, ob gesellschaftliche Modernisierungsprozesse in diesen Gesellschaften zu mehr oder weniger Vereinsamung beigetragen haben, im Rahmen einer solchen Betrachtung nicht zufriedenstellend beantwortet werden kann, weil es der sozialwissenschaftlichen Forschung in den westlichen Gegenwartsgesellschaften an etwas Wesentlichem fehlt: einer (in der Vergangenheit begonnenen) gesellschaftlichen Langzeitbeobachtung unter dem Gesichtspunkt der Einsamkeit im Verhältnis zur Modernisierung. Zu beheben ist dieser Mangel nicht mehr. Die Geschichte hat uns – im Sinne eines Ablaufens der Modernitätsstufen – längst überholt. Er kann jedoch durch komparative, also vergleichende, Forschung gemildert werden: Durch die Langzeitbeobachtung von Gesellschaften, die noch weiter am Anfang von Modernisierungsprozessen wie etwa der Gleichstellung der Frau stehen, können wir besser verstehen lernen, was an den Thesen über die einsame Moderne dran ist. Auch neuartige Forschungsansätze diverser Fachdisziplinen, die etwa nach Spuren gesellschaftlicher Selbstbeschreibung nicht nur in der Forschung, sondern auch in anderen sozialen Wissensformen wie der Populärkultur (etwa in Spielfilmen und Fernsehserien76 ) suchen, können der (mit klassischen empirisch-quantitativen Versuchsanordnungen verbundenen) notwendigen Komplexitätsreduktion von mitunter undurchschaubaren sozialen Konstellationen und Abhängigkeitsverhältnissen neue Methoden des soziologischen Erkenntnisgewinns gegenüberstellen. Erst eine solche globale und interdisziplinäre Soziologie wird daher stichhaltiger auf die Fragen antworten können, die wir hier enggeführt auf die (westlichen) Gesellschaften gestellt und beleuchtet haben. Das ist aus unserer Sicht – bei allen möglicherweise mal mehr, mal weniger zweckmäßigen Vereinfachungen – der größte Makel der hier dargeboten Darstellung, aber gleichzeitig auch der Aufruf an Wissenschaftler:innen, sich dem Thema der Vereinsamung stärker als bisher aus einer gesellschaftsvergleichenden Langzeitperspektive und mit interdisziplinären Methoden zu nähern.

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D. Newiak (2022): Einsamkeit in Serie.

Janosch Schobin und Denis Newiak: Führt gesellschaftliche Modernisierung in die Vereinsamung?

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Einsamkeit, soziale Isolation und Lebenszufriedenheit in Zeiten von Corona1 Was die Empirie über die Gesellschaft und den Einzelnen aussagen kann – und was nicht Timon Renz (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) | Finanzwissenschaft, Zufriedenheitsforschung

1. Einleitung Der Begriff der Einsamkeit erhielt im beginnenden 21. Jahrhundert in der sozialwissenschaftlichen Literatur – meist unter Verwendung von sinnverwandten Begriffen wie soziale Isolation, Vereinzelung oder soziale Exklusion2 – zunehmende Aufmerksamkeit. Durch die Loslösung eines Großteils der Bevölkerung von Vereinen, politischen Parteien und Kirchen wurde eine große »Einsamkeitswelle« befürchtet – einhergehend mit dem Verlust des sozialen Zusammenhalts und der Solidarität der Menschen untereinander. Die Digitalisierung fungierte in der Vorstellung einer solchen Einsamkeitswelle zusätzlich als Brandbeschleuniger, indem sich insbesondere die Generationen der Millennials und Post-Millennials3 im World Wide Web verlieren sollten. Einsamkeit wurde pathologisiert (das heißt als Krankheit verstanden) und als eine »Epidemie der Postmoderne«4 bezeichnet. Mit der Corona-Pandemie habe sich dieser Trend sogar noch verschlimmert, so die Diagnose: Durch Kontaktbeschränkungen und Lockdowns seien demnach weitere Bindungen verloren gegangen, Vereine als Orte der sozialen Begegnung mussten aufgegeben werden und das Soziale wurde vermeintlich vollständig in die digitale Welt verschoben.

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Für wertvolle Hinweise und Ergänzungen möchte ich mich bei den Herausgeber:innen bedanken. Im Verlauf des Textes wird näher auf ihre jeweilige Bedeutung sowie ihre Sinnverwandtheit eingegangen. Das heißt alle Generationen der nach 1980 Geborenen, die aufgrund des Aufwachsens mit Computern und anderen digitalen Technologien, später etwa mit Smartphones, auch als Digital Natives bezeichnet werden. F.W. Stallberg (2021): Die Entdeckung der Einsamkeit.

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Gegen diesen Fatalismus wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Einsamkeit mehr bedeutet als ein rein quantitativer Mangel von sozialen Kontakten: Der Begriff beschreibt diesen Entgegnungen nach vielmehr die subjektive Empfindung einer Diskrepanz zwischen der gewünschten und der tatsächlichen Anzahl und Qualität von Bindungen zu anderen Menschen.5 Folglich kann sich eine Person auch dann einsam fühlen, wenn sie eine große Anzahl an Kontakten aufweist – selbst dann, wenn diese Kontakte von hoher Qualität sein sollten. Diese negative Form der Einsamkeit ist somit nicht das Gleiche wie Alleinsein (das manchmal auch als positive Einsamkeit bezeichnet wird): Kontaktvermeidung ist manchmal auch gewünscht, negative Einsamkeit hingegen nicht. Niemand möchte sich einsam fühlen – zeitweise alleine zu sein, kann sich aber positiv auf das Befinden auswirken. Welche Schwächen Konzepte von Einsamkeit haben können, kann ein empirischer Blick in die Glücksforschung zeigen, der etwa die Lebenszufriedenheit von Personen in den Blick nimmt. Diese eingangs beschriebenen Probleme bei der Konzeption von Einsamkeit führten in der bisherigen Debatte zu (mindestens) zwei Missverständnissen: Zum einen war zwar die durchschnittliche Anzahl der Freund:innen oder engen Vertrauten vor zwei Jahrzehnten höher als sie heute ist; dies bedeutet aber nicht automatisch, dass die Menschen heute einsamer wären – also die ursprünglich höhere Anzahl im Sinne einer Diskrepanz vermissen. Es ist zum Beispiel auch möglich, dass die Anzahl an Kontakten früher zu hoch war und wir uns vielen unfreiwilligen Verbindungen nicht entziehen konnten, die wir eigentlich gar nicht wollten – oder dass weniger, dafür aber qualitativ hochwertigere Beziehungen an die Stelle von quantitativ vielen, dafür aber qualitativ schlechteren Beziehungen getreten sind. Zum anderen existieren auch Messfehler als Resultat von gesellschaftlichem Wandel und neuen Phänomenen: Im digitalen Raum entstehen so etwa Ersatzformen zu früheren qualitativ hochwertigen Kontakten, die in der konventionellen Einsamkeitsforschung nicht erkannt und gemessen wurden, quasi gar nicht als Kontakte zählen. So muss die Digitalisierung – selbst verstanden als Verlagerung von sozialer Interaktion ins Digitale – unserer Gesellschaft nicht zwangsläufig das Einsamkeitsniveau erhöhen: Im Netz entstehen neue Formen von sozialen Bindungen wie zum Beispiel das Online-Gaming mit Freund:innen oder die Vernetzung von Menschen mit gleichen Interessen in den sozialen6 Medien. Noch schwieriger als die empirische Erfassung der Einsamkeit selbst ist die Verbindung von Einsamkeit zu anderen Empfindungen oder Wahrnehmungen, etwa zur allgemeinen Lebenszufriedenheit: Zumeist werden bei den entsprechenden Erhebungen empfundene Einsamkeit und Unzufriedenheit gleichgesetzt. Die inter-

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Vgl. etwa D. Perlman/L.A. Peplau (1981): Toward a social psychology of loneliness. Hier wird soziale Medien als feststehender Begriff genutzt. Dabei wird allerdings Abstand davon genommen, diese Formen der Medien tatsächlich als sozial anzusehen (vgl. etwa Harald Welzer zum Begriff des Sozialen als etwas Verbindendes, Gesellschaft Formendes).

Timon Renz: Einsamkeit, soziale Isolation und Lebenszufriedenheit in Zeiten von Corona

nationale Glücksforschung, die sich seit einigen Jahrzehnten mit dem Wohlbefinden der Menschen auseinandersetzt, unter das auch die allgemeine Lebenszufriedenheit fällt, hat aber bereits gezeigt, dass die Beziehung beider Begriffe deutlich ambivalenter ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Der folgende Beitrag möchte von den in der Einleitung geteaserten Aspekten dreierlei diskutieren: Erstens sollen die Begriffe »Lebenszufriedenheit« und »Einsamkeit« konzeptionell erfasst und in Beziehung zueinander gebracht werden. Dabei wird sich bereits zeigen, dass sich die in der empirischen Literatur gefundenen Ergebnisse nur schwer lesen lassen, da die Komplexität des Phänomens Einsamkeit bei der Interpretation der empirischen Ergebnisse berücksichtigt werden muss: Einsamkeit bedeutet eben nicht gleich Unzufriedenheit, wie man vielleicht erwarten könnte; der soziale Kontext, die Lebenslage und andere Faktoren spielen in die Beziehung beider Begriffe hinein. Zweitens soll ein Blick in die Entwicklung von Einsamkeit in Deutschland erfolgen, bei der quantitativ gezeigt wird, dass die Einsamkeit vor der Corona-Pandemie in Deutschland keineswegs zugenommen hat – vielmehr stagnierte das Einsamkeitsniveau zuvor und stieg auch in der Pandemie nur gemächlich an. Diese Ergebnisse müssen aber ebenfalls kritisch reflektiert und in einen Gesamtkontext gesetzt werden. Zuletzt werden die Daten des Glücksatlas des Jahres 2021 genutzt, um unter anderem den Zusammenhang zwischen Kontakthäufigkeit und subjektivem Wohlbefinden zu betrachten sowie die Definition von Einsamkeit nach der Diskrepanz von gewünschten und tatsächlichen Kontakten empirisch zu diskutieren. Dabei wird zum einen klar werden, dass eine geringere Anzahl an Kontakten in der Corona-Krise mit einer geringeren Lebenszufriedenheit einherging (vorliegende Korrelation), dass die Kontakthäufigkeit zum anderen allerdings kaum den Verlust an Lebensglück in der Pandemie erklären kann (keine Kausalität).

2. Wie Einsamkeit und Lebenszufriedenheit miteinander zusammenhängen Der Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Lebenszufriedenheit ist nur spärlich untersucht. Zumeist wird intuitiv angenommen, dass beide Konzepte antonym (das heißt als Gegensatzpaar) verwendet werden können: Wer sich einsam fühlt, ist auch unzufrieden – wer zufrieden mit dem eigenen Leben ist, kann hingegen nicht einsam sein. Die Konzeption beider Begriffe als Gegensatz ist Ergebnis der Vorstellung davon, dass sowohl Einsamkeit als auch Unzufriedenheit ihren Ursprung in den Deprivationstheorien7 haben: Einsamkeit als die Differenz zwischen gewünsch7

Deprivationstheorien sind Mangeltheorien im Sinne von »mir fehlt etwas, deshalb bin ich unglücklich oder einsam«.

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ten und tatsächlichen Kontakten beschreibt ebenso eine Diskrepanz beziehungsweise einen Mangel wie die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben: Gemäß der »Lebensleiter« von Hadley Cantril etwa soll man sich das erträumte beziehungsweise »perfekte« Leben vorstellen (was direkt übertragen einer 10 auf der Skala der Lebenszufriedenheit entsprechen würde) und in einem kognitiven Evaluationsprozess entscheiden, wie weit man von jenem erträumten Leben entfernt zu sein scheint. Die Diskrepanz zwischen diesem »perfekten« und dem »tatsächlichen« Leben beschreibt demnach das Ausmaß oder den Grad an Unzufriedenheit.8 Wenn wir Einsamkeit als Mangelempfindung parallel zu der Idee der Lebensleiter definitorisch akzeptieren,9 so bleibt letztlich nur festzustellen, wie stark der Effekt der Einsamkeit auf die Lebenszufriedenheit (oder vice versa) ist, das heißt, wie viele Punkte auf der 11er-Zufriedenheitsskala zwischen 0 (= »ganz und gar unzufrieden«) und 10 (»völlig zufrieden«) Einsamkeitsempfindungen »kosten«. Neuere Studien beziffern die Effektstärke auf etwa 50 Prozent: Das bedeutet, dass die Zunahme auf einer Einsamkeitsskala um einen Punkt die Lebenszufriedenheit um 0,5 Punkte senken würde.10 Diese Effektstärke wäre zu vergleichen mit einem Jahr Arbeitslosigkeit (ohne Einsamkeit) – wobei sich Arbeitslosigkeit und Einsamkeit nur selten getrennt voneinander denken lassen und sich gegenseitig verstärken.11 Wer einsam ist, ist also im gleichen Maße unzufriedener mit seinem Leben als es ohne Einsamkeit der Fall wäre, wie jemand nach einem Jahr Arbeitslosigkeit unzufriedener mit seinem Leben ist als ohne Arbeitslosigkeit. Diese Ergebnisse schwächen sich allerdings ab, wenn wir den genauen sozialen Kontext beziehungsweise die Lebenslage einer befragten Person betrachten: Theoretisch lässt sich annehmen, dass die junge Studentin womöglich stärker unter Einsamkeitsempfindungen leidet (da sie zum Beispiel ungewollt in eine neue Stadt gezogen ist und keinen Anschluss findet) als die soeben aus einer toxischen Ehe Geschiedene. Letztere würde womöglich angeben, dass sie sich mehr und bessere Kontakte wünscht, als sie derzeit hat (= hohes Einsamkeitsniveau), zeitgleich aber eine hohe Lebenszufriedenheit angeben, da sie sich aus der schwierigen Ehesituation vor kurzem befreit hat (= geringe Unzufriedenheit). Ein:e Bürgermeister:in hat womöglich ein geringes Einsamkeitsniveau, da diese Berufsgruppe täglich mit vielen Menschen ihrer Stadt zu tun hat – andererseits könnte ein:e Bürgermeister:in aber auch sehr unzufrieden mit dem Leben sein, da kaum Zeit für Familie oder individuelle kontaktreiche Freizeittätigkeiten bleibt. Einsamkeit müsste sich demnach konzeptionell auf bestimmte fehlende Kontakte beschränken: Ein:e Bürgermeister:in hat viele Kontakte (womöglich sogar tiefgehende, wie zum Beispiel eine

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Vgl. H. Cantril (1965): The Pattern of Human Concerns. So definieren etwa Eremit:innen Einsamkeit derweilen positiv (siehe weiter unten). Vgl. zum Beispiel S.A. Satici/R. Uysal/M.E. Deniz (2016): Linking social connectedness to loneliness. Vgl. N. Morrish/A. Medina-Lara (2021): Does unemployment lead to greater levels of loneliness?

Timon Renz: Einsamkeit, soziale Isolation und Lebenszufriedenheit in Zeiten von Corona

langjährige Zusammenarbeit mit einem Vereinsvorstand), allerdings sind es mutmaßlich nicht die qualitativ hochwertigen oder erwünschten und somit nicht die für die Einsamkeitsproblematik relevanten. Diese theoretischen Beispiele geben einen Hinweis darauf, dass der einfache 50-prozentige Effekt ohne Betrachtung des konkreten Kontextes eines Menschen im Empirischen verkürzt sein könnte. Hier ist von Seiten der Glücks- und Einsamkeitsforschung noch einige Arbeit zu tun, um solche kontextabhängigen Faktoren angemessen zu berücksichtigen. Eine vielfältige Forschungslandschaft besteht dagegen mit Blick auf den Zusammenhang von Lebenszufriedenheit und den mit Einsamkeit verwandten Konzepten: Soziale Isolation, das heißt eine geringe Menge an Kontakten, ist glückshemmend, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Milieu. Insbesondere in den letzten Lebensjahren eines Menschen trägt soziale Isolation zur Unzufriedenheit bei.12 Die aktive Teilnahme an sozialen Aktivitäten durch Ältere erhöht hingegen deren Lebenszufriedenheit. Der Ökonom Daniel Hamermesh konnte in einer Simulationsrechnung Folgendes zeigen: Je mehr Zeit alleine verbracht wird, desto geringer ist auch die Lebenszufriedenheit; je mehr Zeit hingegen mit der eigenen Partner:in verbracht wird, desto höher ist die Lebenszufriedenheit. Für die Corona-Pandemie prognostizierte Hamermesh alleine aus der Simulationsstudie, dass die Alleinlebenden (und unter ihnen insbesondere die Singles) besonders stark an Lebensglück verlieren werden. Auch er nutzte nicht die Einsamkeitsskala, sondern vielmehr die Kontakthäufigkeit als Ersatzvariable.13 Das Alleinsein und die soziale Isolation sind aber nicht nur Unglücksbringer – manche suchen aktiv nach einer positiv empfundenen Form der Einsamkeit. Da sie statistisch gesehen aber wesentlich weniger sind als diejenigen, die das Alleinsein und die Isolation nicht wünschen, sind sie in quantitativen Studien kaum erfassbar. Qualitative Studien beschreiben dagegen zuweilen das hohe Wohlbefinden etwa eines buddhistischen Mönchs oder einer katholischen Nonne in abgelegenen Klöstern14 – Menschen also, die das Alleinsein und die soziale Isolation bewusst für ihr Leben gewählt haben, entsprechend keine Diskrepanz zwischen dem gewünschten Maß an sozialen Kontakten und dem tatsächlichen Maß besitzen; dann kann eremitisches Leben gar als »Abenteuer« und nicht als »Mangelerlebnis« bezeichnet werden. Um die zum Teil positiven Effekte des Alleinseins (oder der positiven Einsamkeit) auf die Lebenszufriedenheit zu erklären, kann in der Sozialwissenschaft auf die Theorie der sozialen Vergleichsprozesse von Leon Festinger zurückgegriffen werden.15 Menschen neigen Festinger nach dazu, ihr Handeln, ihre Einstellungen und

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Vgl. J. Nemitz (2022): Increasing longevity and life satisfaction. Vgl. D.S. Hamermesh (2020): Lock-downs, Loneliness and Life Satisfaction. Vgl. L. Duncan/D. Weissenburger (2003): Effects of a Brief Meditation Program on Well-being and Loneliness. Vgl. L. Festinger (1954): A theory of social comparison processes.

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Werte mit denen anderer abzugleichen, um das Selbst und die Identität abzusichern. Überwiege eine neurotische (das heißt labile und unsichere) Persönlichkeit, werde unbewusst und passiv ein ständiger Aufwärtsvergleich mit ähnlichen, aber erfolgreicheren Personen unternommen. Dieser Positionsvergleich könne das subjektive Wohlbefinden senken – Menschen, die freiwillig größtenteils alleine leben, wie etwa Eremit:innen, vermeiden diese glücksmindernden Vergleichsprozesse und entziehen sich dem ständigen Vergleichs- beziehungsweise evolutionär begründeten Rivalitätsdrang. Allerdings zeigt sich auch hier wieder ein Kausalitätsproblem: Zum einen vergleichen sich glücklichere Menschen weniger und zum anderen sind neurotische Personen, die einen ständigen Aufwärtsvergleich machen, auch ganz grundsätzlich unglücklicher.16 In der Corona-Pandemie sind die wenigsten zu vollständigen Eremit:innen im Sinne ihrer Lebensweise geworden – schon allein, weil die Kontaktbeschränkungen im Gegensatz zu Eremit:innen unfreiwillig waren: Zwar wurden Kontakte reduziert (siehe Abbildung 1), allerdings wurde ein Gutteil durch digitale Angebote wie die Internettelefonie (etwa Zoom, Webex, Skype oder WhatsApp) aufgefangen. Darüber hinaus stieg in der Corona-Krise die tägliche Nutzungsdauer von Internetmedien von 99 (2019) auf 136 Minuten (2021), viel Zeit wurde etwa auf Plattformen wie YouTube, Instagram oder TikTok verbracht.17 Wer sich sozial isoliert fühlte und gleichzeitig viele Stunden passiv auf den Internetplattformen verbrachte, dürfte allerdings in Zeiten des Lockdowns aufgrund des ständigen sozialen Vergleichs mit dem aufregenden Leben von Influencer:innen und Co. Neid sowie eine Minderung des Wohlbefindens empfunden haben (Festingers Vergleichsprozesse) – das zumindest lässt die Ableitung aus Studien vermuten, die vor der Corona-Pandemie den Zusammenhang zwischen der Lebenszufriedenheit und der passiven Nutzung sozialer Medien untersuchten.18 Durch eine aktive Nutzung können Kontaktverluste in der nicht-digitalen Interaktion dagegen online durch aktive Kommunikation oder Entfaltung aufgefangen werden – wie sich also vermuten lässt im Gegensatz zum bloßen Konsum. Das Erleben von Alleinsein in der Corona-Pandemie hatte vor dem Hintergrund der dauerhaften digitalen Beschallung auch insgesamt wenig mit einem eremitischen Leben zu tun, weshalb die positiven Seiten eines Lebens in Abgeschiedenheit beim modernen Menschen in einem Lockdown wohl kaum zum Tragen gekommen sein dürften – und wenn, dann auch hier wieder aufgrund eines bewussten Entscheidungsprozesses und nicht aufgrund der äußeren Umstände.

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Vgl. S. Lyubomirsky/L. Ross (1997): Hedonic consequences of social comparison. Gleichzeitig hat sich die Nutzungsdauer beim Fernsehen kaum verändert, vgl. ARD/ZDF-Forschungskommission (Hg.) (2021): ARD/ZDF-Onlinestudie. Vgl. E. Kross et al. (2013): Facebook Use Predicts Declines in Subjective Well-Being; P. Verduyn et al. (2015): Passive Facebook usage undermines affective well-being.

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3. Zur Ausgangslage: Einsamkeit und Lebenszufriedenheit in Deutschland vor und während der Corona-Pandemie Versuche, Einsamkeit quantitativ zu erfassen, gibt es viele. Die bekanntesten unter ihnen sind sicherlich die verschiedenen Versionen der UCLA Loneliness Skala, die in ihrer ursprünglichen Version 20 Items (Aussagen) beinhalteten.19 Unter anderem wird dort nach der Beschreibung der empfundenen Isolation sowie nach der Bewertung der eigenen Situation gefragt: »Wie oft fühlen Sie sich von anderen isoliert?« oder »Wie oft können Sie es nicht tolerieren, dass Sie so alleine sind?« Auch diese Skala legt damit den Einsamkeitsbegriff der fehlenden gewünschten sozialen Kontakte zu Grunde. Die bei weitem größte Befragung zur Einsamkeit in Deutschland stammt vom Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Hier wurde das Konzept der Einsamkeit mithilfe von drei Items operationalisiert,20 indem nach der Häufigkeit des Gefühls von folgenden drei Mangelerfahrungen gefragt wurde: a) Das Gefühl des Fehlens der Gesellschaft anderer. b) Das Gefühl, außen vor zu sein. c) Das Gefühl der sozialen Isolation.

a) und c) beinhalten somit auf den ersten Blick eher die fehlende Quantität, b) eher die fehlende Qualität sozialer Beziehungen. Theresa Eyerund und Anja Orth betrachteten Einsamkeit kurz vor der Corona-Pandemie anhand der Daten des Panels, die für Deutschland in den Jahren 2013 und 2017 verfügbar waren – allerdings reduzierten sie ihre Analyse auf das erste Item a), das heißt die Häufigkeit des Gefühls des Fehlens der Gesellschaft anderer.21 Laut den Autorinnen gab es zwischen 2013 und 2017 keinen Anstieg der so von ihnen konstruierten Einsamkeit, eher sogar eine leichte Abnahme. Es gäbe auch keine soziodemographisch auffallende Gruppe, deren Einsamkeit im Sinne eines Gefühls der quantitativ zu geringen Gesellschaft in den 2010er Jahren zugenommen hätte – allerdings fühlen sich mit etwa elf Prozent die über 60-Jährigen am ehesten einsam und unter ihnen insbesondere die Witwen und Witwer. Dies ist aber kein überraschendes Ergebnis, da der Einsamkeitsbegriff hier nur auf das (subjektive) Empfinden des Fehlens der

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Vgl. D. Russell/L.A. Peplau/M.L. Ferguson (1978): Developing a Measure of Loneliness; D.W. Russell (1996): UCLA Loneliness Scale. Frage Nummer sieben aus dem SOEP-Fragebogen von 2017, vgl. Kantar Public (2018): SOEPCore. Vgl. T. Eyerund/A.K. Orth (2019): Einsamkeit in Deutschland.

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Gesellschaft anderer abstellt. Das verkürzt wiederum den Einsamkeitsbegriff auf die Häufigkeit sozialer Kontakte aus einer subjektiven Perspektive.22 Folgt man also diesen empirischen Studien, so gewinnt man den Eindruck, dass Einsamkeit als soziales Phänomen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht zugenommen hat. Allerdings fehlt eine langfristige Datengrundlage, um mögliche Einsamkeitsentwicklungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts nachzeichnen zu können. Obwohl die Debatten um Vereinzelung, Singularisierung oder Individualisierung der Gesellschaft nicht erst seit zehn Jahren stattfinden, gibt es wenig empirische Untersuchungen direkt zu diesen Phänomenen. Frühe Studien beklagen allerdings zu Beginn der 2000er Jahre die Abnahme der durchschnittlichen Anzahl vertrauter Gesprächspartner:innen, den Niedergang von sozial verbindlichen Vereinen und Kirchen oder ganz allgemein das Absinken des sozialen Kapitals.23 Auch hier ist es ratsam, die Verbindung zur Einsamkeit theoretisch wie empirisch differenziert zu beleuchten: Dem Verständnis von Einsamkeit nach, dass Einsamkeit die Differenz zwischen gefühlten und gewünschten – qualitativ hochwertigen – Beziehungen darstellt, dürften diese Faktoren (Sozialkapital, [flüchtige] Kontakte, Vereinsarbeit) wenig bis keine Rolle für das Einsamkeitsempfinden spielen. Das dürfte auch erklären, warum in dem ganzen Zeitraum zwischen 2000 und 2019 die Einsamkeitswerte relativ stabil blieben: Etwa zehn bis 30 Prozent einer (von den Studien betrachteten) Bevölkerung – je nach Alter, Region oder Einkommenssituation – fühlt sich unabhängig des Jahrzehnts einsam, mit leichten Ausschlägen nach oben in konjunkturell schlechten Zeiten (häufig aufgrund der Selbstisolation Arbeitsloser). Das heißt nun nicht, dass man Einsamkeit als neuzeitliches Phänomen herunterspielen sollte: Die empirische Einsamkeitsforschung ist noch relativ jung, die Messweisen noch nicht besonders ausgefeilt.24 Auch in der theoretischen Aufstellung von Einsamkeit gilt es zu überlegen, ob die Bedürfnisse an sozialen Kontakten für das Einsamkeitsempfinden breiter aufgestellt werden könnten. Eine offen gebliebene Frage ist zum Beispiel, ob wir uns an Einsamkeit »gewöhnen« können: Gäbe es einen Adaptionsprozess (also eine Form des Gewöhnungs- und Aneignungsprozesses) hinsichtlich Einsamkeitsempfindungen, so würden sich etwa die Ansprüche in Bezug auf ein »einsamkeitsfreies Leben« schrittweise absenken: Wir würden also nicht davon ausgehen, dass unser Leben ohne Einsamkeit verlaufen kann und gewöhnen uns daran, dass Einsamkeit Teil unseres Lebens ist. Diese intraindividuelle 22

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Allein objektiv würde man die Kontaktanzahl zählen (siehe Analyse weiter unten). Bei T. Eyerund/A.K. Orth (2019) wird die subjektive Einschätzung der Kontaktanzahl betrachtet, erfasst wird also die Aussage der interviewten Person bezüglich ihrer Kontaktanzahl beziehungsweise in diesem Fall direkt der Bewertung dieser. Vgl. M. McPherson/L. Smith-Lovin/M.E. Brashears (2006): Social Isolation in America; R.D. Putnam (2000): Bowling alone. Für gelungene Zusammenstellungen vgl. F.W. Stallberg (2021): Die Entdeckung der Einsamkeit; S. Buecker (2021): Einsamkeit.

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Verschiebung im Laufe des Lebens kann die punktuelle Messung von Einsamkeit stark verändern und ist ein gutes Beispiel für die Komplexität des Phänomens, sowohl auf Seiten des Verständnisses von Einsamkeit als auch auf Seiten ihrer Messbarkeit: Was wir heute noch als ein einsames Leben empfinden, könnten wir in zehn Jahren schon als Normalität beschreiben. So würde im Schatten stabiler subjektiver Einsamkeitsmessungen zum Beispiel von Seiten des SOEPs die objektive Einsamkeit gesamtgesellschaftlich steigen, ohne dass wir empirisch-sozialwissenschaftlich etwas davon mitbekommen. In der Forschung werden oftmals nur subjektive Aussagen abgefragt. Deren Inhalt verändert sich aber (durch einen Gewöhnungseffekt). Da viele Studien rein aus diesen Aussagen einen (objektiven) Einsamkeitswert abzuleiten versuchen, ergibt sich eine Verzerrung, indem sich – unsichtbar – eben auch dieser Inhalt wandelt. Gleichzeitig ändert sich auch die faktische Zahlenlage, die aber ebenfalls nur über subjektive Einstellungen zu ihnen abgefragt wird. Mehr Leute sind also öfter und häufiger alleine, es macht ihnen aber weniger aus. Nun ist die Frage, ob sie also einsamer oder nicht einsamer sind. Nach dem Begriffsverständnis der Diskrepanz von gewünschten und tatsächlichen Kontakten nicht (wenn man davon ausgeht, dass die Stagnation in Bezug auf die Gefühlslage ausdrückt, dass kein unerfüllter Wunsch da ist). Hinsichtlich der Einsamkeitsmessung haben wir es also mit einem klassischen Validitätsproblem zu tun: Wird überhaupt die theoretisch verstandene Einsamkeit gemessen oder werden nur gesellschaftliche Trends abgebildet? Klar ist: Die Kontakthäufigkeiten haben in der Pandemie deutlich abgenommen. Dieses simple Ergebnis lässt sich mithilfe der Abfrage nach der Regelmäßigkeit von Besuchen von Verwandten oder Freund:innen herausarbeiten. Abbildung 1 zeigt die unterschiedlichen Häufigkeiten von Besuchen von Familienangehörigen, Freund:innen und Bekannten in 2019 und in 2021. Noch 2019 trafen sich knapp 37 Prozent der Befragten mindestens einmal wöchentlich mit Verwandten und Freund:innen. Ein weiteres Drittel tat dies mindestens einmal pro Monat. Mit der Pandemie ging der Anteil der Personen mit mindestens wöchentlichen Besuchen auf ein Viertel und der mit mindestens monatlichen Besuchen auf ein Fünftel zurück. Diejenigen, die Familienangehörige seltener als einmal pro Monat trafen, sind in 2021 mehr geworden: Ihr Anteil stieg auf 36,6 Prozent. Bei Freund:innen und Bekannten hat sich die Kategorie der seltenen Besuche (seltener als einmal im Monat) in der Pandemie verdoppelt. In der nun folgenden Analyse wird sich zeigen, dass Kontakte außerhalb der Kernfamilie für die Lebenszufriedenheit immens relevant sind. Außerdem sinkt das Belastungsempfinden mit der Anzahl außerfamiliärer Kontakte zu Verwandten, Bekannten oder Freund:innen. Diese Ergebnisse können einen Hinweis auf die Relevanz unterschiedlicher Beziehungen für das Lebensglück eines Menschen und damit für ein geringeres Einsamkeitsempfinden darstellen.

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Abbildung 1: Kontakte wurden in der Pandemie stark reduziert.

Anmerkung: Vergleich der Häufigkeitsanteile von Besuchen durch sowie bei verschiedenen Personengruppen zwischen Januar 2019 und März 2021.25 Fragestellungen nach der Häufigkeit von Kontakten waren beim SOEP und dem Glücksatlas identisch. Verzerrungen treten allein aufgrund von Mode-Effekten26 auf. Quellen: Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) v36 für 2019 und Glücksatlas-Datenbank für 2021.

4. Ergebnisse aus der Glücksatlas-Datenbank Die folgenden Ergebnisse stammen aus den Datenquellen des jährlich erscheinenden Glücksatlas.27 Der Glücksatlas misst seit 2011 mithilfe klassischer Telefonbefragungen und mündlich-persönlicher Befragungen monatlich – für die deutsche Bevölkerung möglichst repräsentativ – die Lebenszufriedenheit der Deutschen und versucht, Gruppenunterschiede herauszuarbeiten. Die für diesen Beitrag genutzten Daten wurden im März, Juni und Dezember des Jahres 2021 erhoben und um-

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Die Abbildungen in diesem Beitrag fokussieren zur erhöhten Anschaulichkeit auf die je aussagekräftigen Bereiche, sie arbeiten daher mit verkürzten Skalen an den Achsen. Eine entsprechende Lesart ist daher entscheidend. Mode-Effekte treten aufgrund der Befragungsart auf: Im SOEP werden einmal jährlich immer dieselben Befragten mündlich-persönlich zu vielen Bereichen ihres Lebens befragt (Familie, Einkommen, Arbeit, Freizeit und so weiter) – und dies über viele Jahre hinweg. Im Glücksatlas werden die Befragten einmalig mündlich-persönlich zu einzelnen Aspekten ihres Lebens befragt. Ein Mode-Effekt zwischen SOEP und Glücksatlas könnte nun sein, dass im SOEP die Interviewten durch die jährliche Befragung zur Interviewer:in Vertrauen gefasst haben und freier antworten als im Glücksatlas. Zudem kann durch die lange Befragungszeit im SOEP die Anzahl der Kontakte höher sein, da den Befragten schlicht mehr Kontakte »einfallen«. Für eine Übersicht einiger Artikel vgl. GKL Gemeinsame Klassenlotterie der Länder (Hg.): Glücksatlas 2022.

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fassen etwa 3.200 Befragte. Seit Dezember 2021 befragt der Glücksatlas monatlich etwa 1.000 Menschen aus ganz Deutschland nach ihrer Lebenszufriedenheit. Ein zentrales Ergebnis einiger Sonderstudien aus dem Jahr 2022 war die Identifikation eines »Gender Happiness Gap« in der Corona-Krise:28 Frauen verloren in der Pandemie deutlich stärker an Lebensglück als Männer.29 Dadurch entstand eine Geschlechterlücke in der Lebenszufriedenheit – Männer sind besser durch die Pandemie gekommen als Frauen. Drei zentrale Gründe waren für den Happiness Gap wohl ausschlaggebend: Erstens arbeiteten (und arbeiten) Frauen eher in Berufen, die vom Pandemiegeschehen direkt betroffen waren. Beispiele hierfür sind das Kellnern oder das Kassieren, das Lehramt und die Pflege – Berufe, in denen Frauen deutlich häufiger vertreten sind als Männer, und die auf unterschiedliche Weise direkt und stark vom Pandemiegeschehen betroffen waren.30 Männer hingegen arbeiteten (und arbeiten) eher im produzierenden Gewerbe oder in der Industrie, deren Arbeitsalltag bis auf Hygieneregeln und einzelne Kontakteinschränkungen größtenteils »normal« weiterlaufen konnte.31 Ein zweiter Faktor für die Geschlechterlücke im Glück war die größere Belastung für viele Frauen in ihrem Alltag, welche im Glücksatlas die »Multitasking-Falle« genannt wurde: Ein großer Teil der Frauen zwischen 20 und 50 Jahren zeichnete in der Pandemie gleichzeitig für den Beruf in Form von Homeoffice (dem Arbeiten von zu Hause aus), das Homeschooling (der Beschulung der eigenen Kinder) und die Homework (die Hausarbeit) verantwortlich. Frauen sind im Schnitt demnach anders für den Ausgleich insbesondere der privaten Pandemie-Notlagen eingesprungen als Männer – auf Kosten ihrer eigenen Lebenszufriedenheit. Ein dritter Grund – und dieser nimmt noch einmal vermeintlich direkteren Bezug auf die Einsamkeitsthematik – war die größere soziale Isolation der Frauen während der Corona-Pandemie. Prinzipiell lassen sich hier drei Frauengruppen unterscheiden, die unter sozialer Isolation litten:

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Vgl. B. Raffelhüschen/M. Höfer/T. Renz (2022): »Happiness Gap« der Frauen in der Coronakrise. Im Glücksatlas wird das Geschlecht nur im Sinne des Sexus, nicht im Sinne des Genders abgefragt. Die Kategorie wird dichotom behandelt. Allerdings werden Gender-Kategorien genutzt, um unterschiedliche Ausprägungen in manchen Variablen zu erklären. Sexus (im Englischen »sex«) beschreibt das biologische Geschlecht (das zum Beispiel durch Geschlechtsmerkmale gekennzeichnet ist). Gender kann entweder eine selbst zugeschriebene GenderIdentität bezeichnen oder eine Gender-Rolle, die gesellschaftlich zugeschrieben wird. Sexus und Gender können voneinander abweichen. Bundesagentur für Arbeit (Hg.): Berufe – Statistik der Bundesagentur für Arbeit. So die Analyse exklusive der kurzen Phase zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020, die von hoher Unsicherheit geprägt war. Immerhin wurde in der Spitze knapp 6.000.000-mal Kurzarbeitergeld bei der Agentur für Arbeit beantragt (Statistisches Bundesamt [Hg.] [13. Juni 2022]: Kurzarbeiter).

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Gesellschaft: Einsamkeit als Indikator? a) Junge Frauen zwischen 20 und 35 Jahren nahmen die Corona-Regeln ernster und reduzierten die Anzahl der Kontakte stärker als ihre männlichen Altersgenossen. Gleichzeitig haben junge Frauen eher als junge Männer bereits das Elternhaus verlassen und leben tendenziell öfter alleine. Diese beiden Faktoren – Kontakteinschränkungen und das Alleinleben – dürften das Einsamkeitsempfinden junger Frauen im Vergleich zu den männlichen Jüngeren verstärkt haben. b) Frauen in Familien mit Kindern verloren viele Kontakte außerhalb der Familie. Durch den vollgepackten Alltag (Stichwort »Multitasking-Falle«) und die gesetzlichen Kontaktbeschränkungen waren viele Frauen vollständig auf ihre Familie reduziert. Betrachtet man die Lebenszufriedenheitswerte von Personen mit Kontakten außerhalb der Familie im Vergleich zu denjenigen, die sich vollständig im Familienkreis bewegen, so zeigt sich, dass die Kontakte zu Freund:innen, Bekannten und Verwandten das Lebensglück positiv beeinflussen (siehe die Datenauswertung unten). c) Ältere Frauen über 70 Jahre, insbesondere Witwen, litten ebenso unter sozialer Isolation. Auch vor der Pandemie stach diese Gruppe besonders hervor. Mögliche Gründe für dieses Isolationsempfinden sind daher nicht erst durch die CoronaPandemie verursacht, sondern traten auch davor vermehrt in dieser Gruppe auf. Der Verlust umstehender Personen, der Wegfall von Alltagsroutinen oder eingeschränkte Mobilitätsmöglichkeiten können als Beispiele angeführt werden.

Das Pandemiegeschehen und die damit einhergehenden Kontaktbeschränkungen zeigen noch einmal, dass die Anzahl und Art von Kontakten durchaus eine Rolle für die Lebenszufriedenheit spielen. Abbildung 2 gruppiert befragte Personen nach zwei Kriterien – der Haushaltsgröße, in der sie leben, sowie der Kontakthäufigkeit »nach außen«, das heißt den Kontakten, die außerhalb des Haushalts bestehen, – und untersucht das Belastungsempfinden32 während der Corona-Pandemie entsprechend gruppenspezifisch. Offenbar waren diejenigen von der Corona-Krise besonders belastet, die während der Pandemie sowohl in Haushalten mit wenigen Personen lebten als auch kaum Kontakte gepflegt haben. Unter den Alleinlebenden mit Kontaktarmut33 fühlten sich 73,3 Prozent belastet. Interessanterweise direkt gefolgt von Paarhaushalten, die kaum Kontakte nach außen gepflegt haben: Diese berichteten

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Unter Belastung wird das subjektive Empfinden der Erschwerung des Lebensalltags durch die Pandemie und die mit ihr einhergehenden Beschränkungen verstanden. Wenig überraschend ist, dass das Belastungsempfinden und die Lebenszufriedenheit negativ miteinander korrelieren, je mehr Belastung eine Person also empfindet, desto geringer ist die Lebenszufriedenheit und umgekehrt. Personen, die in Kontaktarmut leben, definiert der Glücksatlas als diejenigen, die seltener als einmal pro Monat Familienangehörige, Verwandte und Freund:innen treffen.

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zu 71,6 Prozent von Belastungsempfindungen. Haushalte mit Kontakten nach außen offenbarten wiederum einen geringeren Belastungsanteil: Alleinlebende mit regelmäßigen Kontakten berichteten »nur« zu 64 Prozent von Belastungen durch die Pandemie. Das scheint insgesamt darauf hinzudeuten, dass Kontakte nach außen (»außerfamiliäre Kontakte« im Sinne von außerhalb der Kernfamilie) eine große Rolle für das Wohlbefinden der Menschen spielen.

Abbildung 2: Je kontaktärmer, desto höher das Belastungsempfinden in der Corona-Pandemie.

Anmerkung: Abbildung zeigt den Anteil derjenigen, die sich durch die Pandemie »belastet« oder »sehr belastet« fühlten. Quelle: Glücksatlas-Datenbank 2021.

Offenbar werden inner- und außerfamiliäre Kontakte mit Blick auf unterschiedliche emotionale Bedürfnisse auch entsprechend unterschiedlich verstanden: Es macht also qualitativ durchaus einen Unterschied, ob viel Zeit mit der Partner:in (beziehungsweise den Kindern) verbracht wird oder ob dies (auch) mit Freund:innen geschieht. In diesen Ergebnissen könnte somit ein Hinweis auf das qualitative Verständnis von Einsamkeit versteckt sein: Einsamkeitsverhinderung heißt eben nicht nur, möglichst viele Menschen um sich zu sammeln (zum Beispiel in der Familie), sondern Kontakte möglichst unterschiedlicher Art aufzubauen. Neben der Familie gehören auch regelmäßige Kontakte zu Freund:innen, Arbeitskolleg:innen oder (lockere) Bekanntschaften in die Reihe von wertvollen Kontakten, die unsere Beziehungsbedürfnisse befriedigen und deren Fehlen einen »Mangel an Beziehungen« auslöst. Dieses Kontaktbedürfnis außerhalb der eigenen Kernfamilie finden

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wir schon in den Mangeltheorien von Marie Jahoda bei der Erklärung, warum Arbeitslose eine extrem geringe Lebenszufriedenheit aufweisen.

Abbildung 3: Je kontaktärmer, desto geringer (grundsätzlich) die Lebenszufriedenheit.

Anmerkung: Skala der Lebenszufriedenheit geht von 0 (»ganz und gar unzufrieden«) bis 10 (»völlig zufrieden«). Die Konfidenzintervalle veranschaulichen die Vertrauenswahrscheinlichkeit34 auf dem 95-Prozent-Niveau und geben Auskunft über die Unsicherheit der Messung. Quelle: Glücksatlas-Datenbank 2021.

Abbildung 3 zeigt die bestätigenden Zahlen dieses Trends mithilfe der Messung der allgemeinen Lebenszufriedenheit mittels der oben genannten 11er-Zufriedenheitsskala: Personen, die alleine leben und gleichzeitig seltener als einmal pro Monat Freund:innen, Bekannte oder Verwandte treffen (also in Kontaktarmut leben), sind signifikant unzufriedener mit ihrem Leben als sämtliche andere untersuchten Personengruppen. Mit durchschnittlich 5,43 Punkten liegen die kontaktarmen Alleinlebenden auf einem Tiefststand an Lebenszufriedenheit. Erhöhen Alleinlebende hingegen ihre Anzahl an Kontakten auf mindestens einen pro Monat, so steigt der

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Mit der Vertrauenswahrscheinlichkeit wird die Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit (hier 95 Prozent) angegeben, zu der ein bestimmter Parameter (meistens Mittelwert, hier die Lebenszufriedenheitswerte) einer Stichprobe auch auf die gesamte Population zutrifft. Die Konfidenzintervalle (oder auch Vertrauensintervalle) geben den Bereich an, in welchem die Vertrauenswahrscheinlichkeit gegeben ist: Paarhaushalte mit Kontaktarmut haben in der Gesamtpopulation also mit (95-prozentiger) Sicherheit eine allgemeine Lebenszufriedenheit zwischen 6,3 und 6,9, wie man den schwarzen Strichen in der Abbildung (nämlich den Konfidenzintervallen) entnehmen kann.

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durchschnittliche Wert auf 6,87 Punkte und liegt damit sogar oberhalb des Durchschnittswerts der gesamten Stichprobe (das heißt sowohl aller, die Kontakte nach außen haben, als auch jener, die diese nicht haben). Das zeigt, dass nicht das Alleinleben in einem Single-Haushalt an sich die Beurteilung des eigenen Lebens negativ beeinflusst, sondern das Fehlen regelmäßiger Kontakte nach außen. Wohlgemerkt betrachten wir hier nicht die Qualität der sozialen Beziehungen: Schon die Quantität unterschiedlicher Kontaktarten macht aber einen gehörigen Sprung in der Lebenszufriedenheit aus. Für die Einsamkeitsforschung ist das insoweit interessant, als mit den unterschiedlichen Kontaktarten verschiedene Beziehungsarten einhergehen. Wer kaum Freund:innen besucht oder von ihnen nicht besucht wird, wer kaum Verwandte oder Bekannte außerhalb der Kernfamilie regelmäßig sieht, dem scheint etwas zu fehlen – unabhängig vom sonstigen Alleinsein: Denn die Kernfamilie alleine kann den Verlust der Lebenszufriedenheit aufgrund verloren gegangener oder nicht vorhandener Kontakte nach außen nicht auffangen. Abbildung 4 legt den Fokus auf die Alleinlebenden. Außerdem wird die Lebenszufriedenheitsskala von 0 (»ganz und gar unzufrieden«) bis 10 (»völlig zufrieden«) in drei Gruppen unterteilt: Wer Werte von 0 bis 4 angibt, gilt als unzufrieden, zwischen 5 und 7 ist man mäßig zufrieden und die Werte 8 bis 10 beschreiben die Hochzufriedenen.35 Wiederholt zeigt sich, dass nicht das Alleinleben an sich das Problem ist, sondern vielmehr die Kontaktarmut. Alleinlebende mit vielen Kontakten nach außen sind zu über 90 Prozent mäßig oder hochzufrieden – nur acht Prozent fallen unter die Unzufriedenen. Haben Alleinlebende kaum Kontakte, so sind es schon mehr als ein Drittel, die von einer starken Unzufriedenheit berichten. Außerdem sind es in der Gruppe der kontaktarmen Alleinlebenden nur etwa 16 Prozent, die hochzufrieden sind.

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Diese Unterteilung wird der rechtssteilen beziehungsweise linksschiefen Verteilung der Lebenszufriedenheit gerecht: Wer mit seinem Leben sehr unzufrieden ist, tendiert stärker zu den Werten 4 oder 5 als zu Werten von 0 bis 3. Erklärt wird dies mit dem Effekt der sozialen Erwünschtheit: Die befragte Person möchte der Interviewer:in nicht offenlegen, wie unglücklich sie wirklich ist (was den Werten von 0 bis 3 entsprechen würde), da das Unglücklichsein negativ konnotiert ist.

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Abbildung 4: Alleine zu leben und wenige Kontakte nach außen zu führen bringt Unglück.

Anmerkung: »unzufrieden« = Werte von 0 bis 4, »mäßig zufrieden« = Werte von 5 bis 7, »hochzufrieden« = Werte von 8 bis 10. Quelle: Glücksatlas-Datenbank 2021.

5. Fazit Einsamkeit, soziale Isolation und Vereinzelung werden oft als neuzeitliche Phänomene gesehen und problematisiert. Allerdings kann in der empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung – zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten – kaum ein Trend zur Verstärkung dieser Phänomene, auch nicht der Einsamkeit, festgestellt werden. Das kann allerdings auch an der nach wie vor nur spärlichen Datenlage in Deutschland und der Komplexität des zu messenden Gegenstandes – der Einsamkeit – sowie der schwer herzustellenden Trennschärfe zu (den genannten) anderen Phänomenen liegen. Ein genauer Blick in die Konzeptualisierungen, Messweisen und Datenauswertungen im quantitativen Forschungsparadigma in Bezug auf Einsamkeit könnte nahelegen, diese neu zu überdenken und sich dem Phänomen Einsamkeit zusätzlich verstärkt qualitativ-induktiv zu nähern.36 Die Konzepte der Lebenszufriedenheit und Einsamkeit scheinen zunächst eng verwoben. Zumeist werden beide Begriffe als Gegensatzpaare verstanden: Wer einsam ist, ist unzufrieden – und wer zufrieden mit dem Leben ist, kann demnach nicht einsam sein. Abseits der vereinzelt diskutierten positiven Verständnisse von

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Statt also allein bestehende Theorien empirisch zu testen, sollte sich dem Phänomen Einsamkeit darüber hinaus mithilfe qualitativer Forschungsdesigns (Tiefeninterviews, teilnehmende Beobachtungen etc.) von Grund auf neu angenähert werden.

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Einsamkeit (zum Beispiel im Lebensentwurf von Eremit:innen oder Mönchen beziehungsweise Nonnen) scheint dies wohl auch zuzutreffen. Allerdings dauert die Untersuchung des näheren Mechanismus – insbesondere für die negative Einsamkeit – an: Welche Moderatoren verstärken den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Lebenszufriedenheit?37 Empirische Studien offenbaren ein »Wirrwarr« an verstärkenden Faktoren, manche davon objektiv, statistisch messbar und andere durch Befragung nur greif- beziehungsweise erahnbar (subjektive Faktoren): Objektive Faktoren wie eine geringe Anzahl an Kontakten, der Grad sozialer Isolation oder Zurückgezogenheit, fehlendes ehrenamtliches Engagement oder Arbeitslosigkeit fließen negativ in die Lebenszufriedenheit ein, erklären mit Blick auf gängige theoretische Verständnisse von Einsamkeit nur wenig und sind daher sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Die Daten des Glücksatlas aus dem Jahr 2021 zeigen, dass diejenigen, die sich deutlich seltener als einmal im Monat mit Freund:innen und Verwandten treffen, unzufriedener mit ihrem Leben sind. Kontaktarmut ist also nach wie vor ein wahrer Unglücksbringer – insbesondere die fehlenden Kontakte nach außen, also über die Kernfamilie, mit der man ein gemeinsames Zuhause teilt, hinaus. Der objektive Indikator Kontakthäufigkeit bestätigt somit das Bild, dass soziale Isolation das Lebensglück verringert. Das gilt es in Zukunft mit subjektiven Faktoren differenziert und mit Blick auf unterschiedliche Beziehungsarten und emotionale Bedürfnisse weiter zu untermauern.

Literatur ARD/ZDF-Forschungskommission (Hg.) (2021): ARD/ZDF-Onlinestudie. URL: http s://www.ard-zdf-onlinestudie.de/, letzter Besuch: 13. Juni 2022. Buecker, Susanne (2021): Einsamkeit – Erkennen, evaluieren und entschlossen entgegentreten. Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung, BT-Drs. 19/25249, hg. v. Ausschuss für Familie, Frauen, Senioren und Jugend des Deutschen Bundestags. Berlin. URL: https://www.bundestag.de/resource/blob/8335 38/3db278c99cb6df3362456fefbb6d84aa/19-13-135dneu-data.pdf, letzter Besuch: 25. August 2022. Bundesagentur für Arbeit (Hg.) Berufe – Statistik der Bundesagentur für Arbeit. URL: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Navigation/Statistiken/Themen-i m-Fokus/Berufe/Berufe-Nav.html, letzter Besuch: 8. September 2022. Cantril, Hadley (1965): The Pattern of Human Concerns. New Brunswick: Rutgers University Press.

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Arbeitslosigkeit wirkt sich zum Beispiel sowohl auf Einsamkeit als auch auf Lebenszufriedenheit aus.

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Einsamkeit zwischen Entfremdung und Resonanz1 Zum gesellschaftskritischen Potenzial einer komplexen Erfahrung Raphael Rauh (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) | Medizinethik, Dominik Koesling (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) | Medizinethik

1. Einleitung Einsamkeit ist eine grundlegende Erfahrung des Menschseins, was unzählige Kulturdokumente belegen. Sie wird dabei gleichermaßen als Quelle des Leids und der Verlorenheit wie des Glücks und vertiefter Selbstbegegnung thematisiert. Was Einsamkeit für den Menschen bedeutet, hängt stark von dem soziokulturellen Kontext ab, in dem sie erlebt wird, und erscheint dabei als historisch wandelbar. Hält man das im Bewusstsein, so bewegen sich die gegenwärtig dominierende Definition als subjektiv erlebte, schmerzliche Diskrepanz zwischen realen und ersehnten sozialen Beziehungen ebenso wie die Art und Weise, wie Einsamkeit in dieser Diskussion als Problem für die Gesundheit unter die Lupe genommen wird, zwar innerhalb eines breiteren, historisch vergleichenden Deutungshorizonts durchaus in einer gewissen Kontinuität. Sie erweisen sich jedoch gleichzeitig auch als eine dramatisierende Reduktion auf nur ein Moment ihrer so komplexen Bedeutung für den Menschen als Menschen. Zugespitzt formuliert verstellt die aktuelle Medikalisierung der Einsamkeit – also die Wahrnehmung und Behandlung von Einsamkeit als medizinisch zu lösendes Problem – den Blick auf ihre Bedeutungsvielfalt und ihre praktische Relevanz für das menschliche Für-sich- und Miteinander-Sein. Um diese vereinseitigende Tendenz nicht nur deutlicher auszuweisen, sondern den pathologisierenden Blick auf Einsamkeit vor allem auch der Sache nach zu entkräften, wollen wir im Folgenden die These verfechten, dass Einsamkeit als eine grundlegend menschliche Erfahrung interpretiert werden kann, der ein gesellschaftskritisches und damit auch

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Die Autoren möchten dem Korrektorats- und Lektoratsteam der Herausgeber:innen sowie Sophie Otto für ihre wertvollen Anmerkungen und ihr gründliches Gegenlesen des Manuskripts herzlich danken.

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emanzipatorisches Potenzial innewohnt. Einerseits ist Einsamkeit eine schwierige, bedrängend-leidvolle Erfahrung. Andererseits kann sie auch als Raum vertiefter Selbstauseinandersetzung begriffen werden, als Zugang zu Ressourcen und dem Glück der Selbstbegegnung. Die wissenschaftliche Reflexion dieser möglichen Erfahrungen eröffnet ihr gesellschaftskritisches Potenzial, insofern vermittelt über die Aufdeckung ihrer Ursachen und Auswirkungen auf das individuelle Wohlergehen gesellschaftliche Missstände aufgedeckt werden können, welche die abträgliche Einsamkeit aufrechterhalten. Zugleich können aber auch falsche Erwartungen an überhöhte Vorstellungen von einem gelingenden Zusammenleben kritisierbar werden. Untermauert werden soll diese These nachfolgend in zwei Schritten. Im ersten Schritt wird Einsamkeit als Erfahrung ausgewiesen, die sich im historischen Wandel befindet, schwer zu definieren ist, gleichzeitig auf eine ambivalente Weise zur ›Natur‹ des Menschen gehört und uns dabei zu orientieren vermag. Diese allgemeinen geistesgeschichtlichen, begrifflichen, anthropologischen und ethischen Ausführungen dienen nicht nur dazu, der Komplexität des Phänomens Einsamkeit angemessen Rechnung tragen zu können, sondern sie bilden auch die Grundlage für den zweiten Argumentationsschritt der Ausführungen. In diesem soll Hartmut Rosas soziologisch-sozialphilosophische Theorie der Weltbeziehung als Interpretationsfolie herangezogen werden, vor deren Hintergrund Einsamkeit als eine Erfahrung beschrieben werden kann, die – philosophisch gesprochen und später noch im Detail ausgeführt – zwischen Entfremdung und Resonanz zu verorten ist. Ausgehend von der Assoziation der Einsamkeit mit der Erfahrung der Entfremdung, die für das 20. Jahrhundert von einschneidender Bedeutung zu sein scheint, wird hierbei ein mehrdimensionales Strukturmoment ihrer konkreten Wirklichkeit herausgestellt. Dieses Strukturmoment tritt auf drei Achsen der Weltbeziehung zu Tage und zeigt sich dabei einerseits – in seiner negativen Zuspitzung – als Entfremdung, andererseits jedoch auch – in seiner positiven Zuspitzung – als Modus resonanter Weltbeziehung. Einsamkeit derart zu begreifen, ermöglicht eine integrative, nichtreduktionistische Perspektive auf das Phänomen, welche dessen gesellschaftliche Entwicklung zu verstehen hilft. Diese Ausführungen münden in dem Deutungsvorschlag, Einsamkeit schaffe sowohl als erlebte Erfahrung als auch als Gegenstand der Reflexion verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen erst eine kritische Distanz zum Bestehenden, durch die ein besseres Leben angedacht und womöglich auch gelebt werden kann.

2. Einsamkeit: Eine grundlegende Erfahrung … Wendet man sich vor dem Hintergrund der skizzierten Argumentationsrichtung damit zunächst einmal grundsätzlich dem Phänomen der Einsamkeit zu, so lässt

Raphael Rauh und Dominik Koesling: Einsamkeit zwischen Entfremdung und Resonanz

sich Einsamkeit als eine basale menschliche Erfahrung begreifen, die in unserer Natur als soziale Wesen gründet. Als soziale Wesen sind Menschen immer schon eingebunden in eine prägende Wechselwirkung mit anderen Menschen. Zugleich erleben wir uns – zumindest gegenwärtig – als Subjekte; eine gewisse Distanz zwischen uns und der Welt (der anderen) gehört zu uns als Individuen, die von sich selbst ein Bewusstsein haben. Schließlich erfahren wir uns jeweils unvertretbar als wir selbst, eigentümlich anders als die anderen. Die damit angesprochene Individuation, dieses »Eigen-Sein«, ist jedoch nicht mit dem »Einsam-Sein«, der Einsamkeit, identisch. Besagte Individuation stellt vielmehr eine Voraussetzung von Einsamkeit dar. Die Erfahrung menschlicher Einsamkeit setzt also ein individuelles Bewusstsein voraus und erhält über den Aspekt unseres Vermögens zur Selbstreflexion ihren spezifisch menschlichen Charakter. So grundlegend diese erste Unterscheidung und generelle Einschätzung ist, so zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass die Art und Weise, wie Einsamkeit jeweils erlebt wird, historisch wandelbar ist und von soziokulturellen Kontexten abhängt (2.1). Diese Varianz liefert auch eine Erklärung dafür, weshalb eine Festlegung ihrer Bedeutung eine große Herausforderung darstellt, was insbesondere anhand der sie verhandelnden Kulturdokumente, korrespondierender Praktiken und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu Tage tritt (2.2). Eine Möglichkeit, die Bedeutung der Einsamkeit für den Menschen dennoch einzugrenzen, besteht darin, sie anthropologisch – also durch eine wissenschaftlich fundierte Perspektive auf das Wesen des Menschen – zu verankern. Bei diesem Versuch, der sich dabei insbesondere auf den erhellenden anthropologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts stützen kann, fällt auf, dass die besagte Vielschichtigkeit des Phänomens in unserer ambivalenten Natur als soziale Wesen angelegt scheint (2.3). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die ethische Dimension der Einsamkeitserfahrung beleuchten. Denn so richtig es ist, dass Einsamkeit als eine Erfahrung beschrieben werden kann, die – einmal normativ verallgemeinernd gesprochen – nicht sein soll, gegen die also etwas getan werden muss, so geht keineswegs jede Einsamkeitserfahrung in dieser Beschreibungsmöglichkeit auf (2.4).

2.1 … die historisch wandelbar ist und soziokulturell differiert … Die Weise, wie Einsamkeit individuell erfahren wird, ist durch die genetische Mitgift, Sozialisationserfahrungen und den daraus geprägten Charakter und Persönlichkeitstyp unterschiedlich stark determiniert.2 Gleichzeitig bestimmen aber auch überindividuelle, schwer objektivierbare Rahmenbedingungen des individuellen In-der-Welt-Seins, das heißt soziale Determinanten, wie jeder einzelne Mensch in seiner persönlichen Existenz in einer konkreten Lebenssituation eine 2

Vgl. J.T. Cacioppo/W. Patrick (2008): Loneliness.

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ganz bestimmte Einsamkeitserfahrung macht. In einem Stadtstaat des antiken Griechenlands, der Polis, konnte Einsamkeit erlebt werden, in einem megaurbanen Raum wie dem heutigen Shanghai wird Einsamkeit erlebt – doch ganz unabhängig von den jeweiligen Individualitäten ist die Einsamkeit des Sokrates eine andere als die von postmodernen Städter:innen, die Einsamkeit Donald Trumps eine andere als die eines Sklaven im antiken Athen. Gehört Einsamkeit daher zum Menschen als Menschen, so erhält diese überzeitliche Anlage durch den historischen und soziokulturellen Kontext, in dem sie von konkreten Individuen erlebt wird, eine je eigentümliche Prägung. Dies zeichnet etwa Lea Haller in ihrem kulturhistorischen Essay ausgehend von exemplarischen Bedeutungsträgern der Einsamkeit – dem Anachoreten, dem Mönch, dem neuzeitlichen Intellektuellen und vielen anderen – eindrücklich anhand der Umbrüche und Kontinuitäten dieser Erfahrung nach.3 Zu den zentralen Einflussfaktoren, wie Einsamkeit jeweils erfahren wird, zählen dabei nicht nur ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital, welches, wie vor allem Pierre Bourdieus Arbeiten ergründen,4 ganz wesentlich die Möglichkeiten sozialer Teilhabe mitbestimmt. Vielmehr gehören dazu auch gesellschaftliche Dynamiken der Subjektivierung,5 ökonomische Imperative im digitalisierten Kapitalismus6 sowie allgemein psycho- und soziodynamische Mechanismen der Inklusion und Exklusion. Nicht zuletzt haben die medial und tagespolitisch erzeugte Stimmung in einer Gesellschaft sowie die einer Geschichte und Wandlungen unterliegenden Ideen beziehungsweise Ideale Einfluss darauf, wie in jeder persönlichen Existenz in einer konkreten Lebenssituation eine ganz bestimmte und individuelle Einsamkeit erfahrbar sein kann.7 So vielzählig die Einflussfaktoren auf Einsamkeit und die Konstellationen sind, in denen Menschen Einsamkeit erleben, so vielseitig sind auch die möglichen Interpretationen dieses Phänomens. Diese Diversität und Heterogenität der Einsamkeit – oder genauer: der Einsamkeiten – erzeugen damit unweigerlich eine enorme Komplexität. Doch nicht nur lässt sich diese Komplexität durch einen historisch-vergleichenden Rückblick hinsichtlich der anthropologischen Frage nach der Natur des Menschen – wenigstens ein Stück weit – reduzieren. Dieser geistesgeschichtliche Exkurs hilft zugleich auch zu verstehen, was sie überhaupt erst konstituiert. Denn in einer anthropologischen Diskussion, die im späten 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht, werden die verschiedenen Erscheinungsformen und Deutungen der Einsamkeit auf eine innere Spannung unserer sozialen Natur zurückgeführt, die auch heute noch Gültigkeit für sich beanspruchen

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Vgl. L. Haller (18. April 2020): Zeiten der Einsamkeit; zur Vertiefung dieses Zugangs vgl. beispielsweise A. Assmann/J. Assmann (Hg.) (2000): Einsamkeit. Vgl. exemplarisch P. Bourdieu (2012): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. Vgl. etwa M. Foucault (1984): Sexualität und Einsamkeit. Vgl. F.W. Stallberg (2021): Die Entdeckung der Einsamkeit. Vgl. insgesamt hierzu O. Sagan/E. Miller (2019): Narratives of Loneliness.

Raphael Rauh und Dominik Koesling: Einsamkeit zwischen Entfremdung und Resonanz

kann. Bevor jedoch der Bogen von der skizzierten soziokulturellen Wandelbarkeit der Einsamkeit zu ihrer anthropologischen Verankerung gespannt werden kann, soll nachfolgend zunächst kurz auf die Schwierigkeiten eingegangen werden, die mit einer Definition von Einsamkeit verknüpft sind. Denn nicht zuletzt diese Definitionsschwierigkeit – oder positiver gewendet: Offenheit – sorgt dafür, dass die ethischen Evaluationen von Einsamkeit teils gravierend auseinanderklaffen.

2.2 … deren Bedeutung schwer auf den Begriff zu bringen ist … Den bisherigen Erwägungen entsprechend unterscheidet sich auch innerhalb und zwischen den Sprachen, was »Einsamkeit« meint. Die Verwendungsweisen sind daher alles andere als konsistent. Exemplarisch tritt das etwa hervor, wenn der Literaturwissenschaftler von Gronicka Mitte des letzten Jahrhunderts festhält: Das Wort Einsamkeit umfaßt [sic!] für den Deutschen eine ungemein reiche Begriffs- und Gefühlsskala, die Wonne und Glück, aber auch Wahnsinn, Qual und Vernichtung einschließt. Immer wieder erklingt in deutscher Dichtung das Lob der Einsamkeit als Quelle des Glücks, geistig-körperlicher Gesundung, als Eingangstor zur tiefen Wissenschaft von Mensch, Natur und Gott. […] Und doch wie leicht wandeln sich die Lobeshymnen in das düstere Motiv der Einsamkeit als kalte, tödtende [sic!], seelenlose Verlassenheit.8 Eindringlich umschrieben ist damit, was die wissenschaftliche Betrachtung der Einsamkeit vor große Herausforderungen stellt: Im Deutschen kann »Einsamkeit« durchaus Gegensätzliches bezeichnen. Was jedoch dem deutschen ›Sprachgeist‹ problemlos gelingt – nämlich ambivalent-spannungsreiche, sich vermeintlich ausschließende Bedeutungen in einem Wort zusammenzufassen –, ist für wissenschaftliche Begriffsbildungen und Konzeptualisierungen ein Ärgernis, insofern sie auf reproduzierbare Festlegungen angewiesen sind, die in sich konsistent und widerspruchsfrei gedacht werden können.9 Genauer besehen besteht die angeführte Herausforderung damit offenbar darin, eine komplexe menschliche Erfahrung begrifflich zu erfassen, ohne wesentliche Momente ihrer Bedeutung durch zu kurz greifende Definitionen unberücksichtigt zu lassen. Die in der gegenwärtigen, vor 8 9

A. von Gronicka (1954): Das Motiv der Einsamkeit im Modernen Deutschen Drama, S. 12. An »Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit: schmerzhaft, ansteckend, tödlich« (M. Spitzer [2018]: Einsamkeit) lässt sich das damit adressierte Problem exemplarisch verdeutlichen. Denn es erscheint zumindest als diskussionswürdig, wenn Einsamkeit einerseits als ansteckende, schmerzhafte, tödliche Krankheit definiert wird, andererseits aber behauptet wird, dass sie mitunter als »Paradies auf Erden« (ebd., S. 217) erlebt werde, ohne diesen Widerspruch, ohne die Umbrüche und Übergänge dieser vermeintlich zugleich tötenden und erlösenden Erfahrung eigens zu reflektieren und als dezidiertes Problem für die Theorie auszuweisen.

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allem auch medial und öffentlich geführten Diskussion kursierende Definition der »Einsamkeit« als einer subjektiven und schmerzhaften Diskrepanz zwischen realen und ersehnten sozialen Beziehungen jedenfalls blendet wesentliche Aspekte dieser Erfahrung aus.10 So wichtig in diesem Zusammenhang auch der naheliegende Verweis auf die in der englischen Sprache angelegte Unterscheidung zwischen solitude und loneliness erscheint – wobei mit diesen Worten eine begriffliche Differenzierung möglich wird, insofern erstere die positiv konnotierte oder ›gute‹ Einsamkeit bezeichnet, die letztere hingegen die negativ konnotierte oder ›schlechte‹ – so löst das die angesprochene Problematik jedoch nicht auf.11 Zum einen bleibt fraglich, ob es sich dabei womöglich nur um eine Auslagerung der Erklärungsnot handelt, insofern auch im Englischen die Verwendung dieser Begriffe nicht scharf getrennt ist und weitreichende semantische Überlappungen bestehen.12 Zum anderen weisen gerade von Gronickas Schilderungen noch auf einen anderen Punkt hin, und zwar darauf, dass es sich bei dem, was mit solitude und loneliness sprachlich unterschieden werden soll, um eine Erfahrung handelt, die verschiedene Qualitäten zulässt und mit dem einen Wort »Einsamkeit« bezeichnet wird. Anders als durch die Unterscheidung von loneliness und solitude suggeriert wird, erinnert »Einsamkeit« – was auch der historische Rückblick offenlegt – damit an die trotz ihrer verschiedenartigen Ausprägungen bestehende Einheit dieser Erfahrung. So kann Einsamkeit eben – ganz im Sinne der solitude – auch Quelle der Inspiration und Einsicht sein sowie als tiefe Selbstzufriedenheit und Wonne erlebt werden, womit sie keineswegs ausschließlich als etwas Schlechtes und Schmerzhaftes zu begreifen ist. Darüber hinaus ist ihre Bedeutung nicht im Entzug sozialer, zwischenmenschlicher Beziehungen erschöpfend beschrieben, vielmehr können ihre Bezugspunkte ganz allgemein Dinge in der Welt 10

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Bemerkenswerterweise haben Grundlagenarbeiten das Phänomen ursprünglich weitaus komplexer gefasst, als es in der aktuellen öffentlichen Diskussion abgebildet wird (vgl. für den englischen Sprachraum etwa R.S. Weiss [1973]: Loneliness und L.A. Peplau/D. Perlman [Hg.] [1982]: Loneliness sowie für den deutschen Sprachraum etwa E. Elbing [1991]: Einsamkeit und R. Schwab [1997]: Einsamkeit). Aber auch in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion bemüht man sich wieder, dem komplexen Phänomen begrifflich und konzeptionell gerecht zu werden (vgl. etwa F. Anyan/O. Hjemdal [2021]: Loneliness in social relationships). Im Deutschen wird in aktuellen Debatten gerne der Ausdruck des »Alleinseins« bemüht, wenn man positive Aspekte des Für-sich-Seins in Abgrenzung zur negativen Einsamkeit hervorheben möchte. Das scheint allerdings eher eine (populär-)wissenschaftliche Konstruktion zu sein als eine greifbare Unterscheidung im Phänomen selbst. Schließlich kann auch das Alleinsein langweilig, banal und belanglos sein, man kann sich auch allein gelassen fühlen, was durchaus schmerzhaft ist. Wenn man allein Dinge tut, wie etwa einkaufen gehen, ist damit eben noch nichts über eine spezifische Qualität dieses Alleinseins gesagt – so will es zumindest unsere Sprache. Vgl. etwa die einführenden Gedanken in R.J. Coplan/J.C. Bowker/L.J. Nelson (Hg.) (2021): The Handbook of Solitude.

Raphael Rauh und Dominik Koesling: Einsamkeit zwischen Entfremdung und Resonanz

sein, die Natur, aber auch ideelle Größen oder die eigene Person (vgl. hierzu eingehend Kapitel 2.3-2.5). Dementsprechend müssen die Gründe der Einsamkeit, die eine Bandbreite zwischen positiven und negativen Qualitäten des Erlebens möglich machen, komplexer gedacht werden. Bestärkt das noch einmal die hier eingeschlagene Argumentationsrichtung, dass eine einfache Definition von Einsamkeit kaum sinnvoll möglich ist, so liegt das jedoch nicht bloß in mangelnder sprachlicher Differenzierungs- und Artikulationsfähigkeit, sondern eben auch in der phänomenalen – also das konkrete Erleben betreffenden – Vielschichtigkeit der Einsamkeitserfahrung selbst begründet. Diese ist abhängig von den theoretischen Vorannahmen, anhand derer die Frage diskutiert wird, was der Mensch überhaupt ist. Entsprechend scheinen anthropologische Erwägungen hilfreich, um das Problem einzugrenzen. Sie stellen hier eine Bedingung für die darauffolgenden ethischen Erwägungen dar, insofern jede Abwägung und Bewertung des Einsamkeitsphänomens sachlich die Diskussion der Frage voraussetzt, was sie für den Menschen als Menschen bedeutet.

2.3 … die anthropologisch verankert werden kann … Jegliche Erwägung über die Bedeutung der Einsamkeit für den Menschen und ihre etwaige Bewertung verweist auf die Frage, was der Mensch überhaupt ist. Eine mögliche Antwort darauf konturiert das für das hier diskutierte Thema maßgebliche Buch »Loneliness« von John T. Cacioppo und William Patrick bereits durch seinen Untertitel »Human Nature and the Need for Social Connection«.13 Denn schon an diesem wird ersichtlich, dass der Mensch wesentlich als soziales Wesen begriffen wird. So intuitiv und naheliegend der Übergang von einer solchen Bestimmung zur Thematik der Einsamkeit sein mag, und so grundlegend sie auch ist, so bleibt ein solch abstrakter Verweis auf unsere soziale Natur jedoch unzureichend. Entsprechend unterfüttern beide Autoren die damit aufgeworfene Perspektive und entwerfen vor dem Hintergrund evolutionsbiologischer Erwägungen belastbare Hypothesen zur entwicklungsgeschichtlichen Funktion der Einsamkeit. Dabei deuten Cacioppo und Patrick die Einsamkeit in Analogie zum Hunger,14 denn wie dieser übernehme jene eine wichtige Regulationsfunktion für den Organismus. So wie der Hunger zur Nahrungsaufnahme animiert und ein Mangel an Nahrung dem Organismus schadet, so animiert die Erfahrung der Einsamkeit zu sozialer Interakti-

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J.T. Cacioppo/W. Patrick (2008): Loneliness. Der Untertitel würde wörtlich übersetzt in etwa lauten: »Die Natur des Menschen und das Bedürfnis nach sozialer Verbindung« [Übersetzung durch die Autoren]. In der deutschen Übersetzung geht diese anthropologische Stoßrichtung des Originals mit dem veränderten Titel »Einsamkeit: Woher sie kommt, was sie bewirkt, wie man ihr entrinnt« unter (J.T. Cacioppo/W.H. Patrick [2011]: Einsamkeit). Vgl. auch J.T. Cacioppo/S. Cacioppo/D.I. Boomsma (2013): Evolutionary mechanisms for loneliness, S. 5.

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on und Verbindung, und ein Mangel an letzteren erweist sich ebenso als schädlich. Demzufolge zeigt Einsamkeit das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Gemeinschaft an. Im Kontext dieses Bedürfnisses ist – wie in zahlreichen anderen Konzeptualisierungen des Menschen als soziales Wesen – eine Bezugnahme auf Aristoteles’ »Politik« maßgeblich.15 Aristoteles argumentiert anthropologisch, wenn er den Menschen als zoon politikon bestimmt, zu dessen Natur das Telos, also das Ziel beziehungsweise Bestreben, gehöre, sich in einer menschlichen Gemeinschaft zu organisieren. Die durch ökonomische und politische Strukturen zusammengehaltenen Institutionen sind es nämlich überhaupt erst, die es dem grundsätzlich abhängigen und verletzlichen Menschen – etwa durch das Bereitstellen verschiedener Ressourcen – ermöglichen, ein sicheres und zufriedenes Leben gestalten zu können. Doch gerade weil unsere menschliche Natur in eben diesem Sinne immer auch eine soziale ist und für die meisten Menschen eine zwischenmenschliche Eingebundenheit und Zugehörigkeit zu den wichtigsten Faktoren für ein glückliches Leben gehören,16 ist es umso wichtiger zu betonen, dass es auch ein Moment unserer sozialen Natur ist, in hohem Grade einer physischen und psychischen Gefährdung und Verletzlichkeit ausgesetzt zu sein, die auch im Mitmenschen begründet liegt. So überzeugend daher die positive Deutung menschlicher Sozialität einerseits ist, so erweist sie sich im gegenwärtigen Diskurs gewissermaßen als auf einem Auge blind. Das liegt weniger daran, dass sie sich zwischen einer deskriptiven und einer normativen Interpretation unserer Natur bewegt, sondern vielmehr daran, dass sie dabei einseitig bleibt. Verkannt wird nämlich, dass einerseits das Bedürfnis der Menschen nach Abgrenzung, nach Distanzierung, nach Räumen der Ruhe und Erholung von den Reglementierungen, die durch Mitmenschen an uns gerichtet werden, durchaus besteht. Andererseits aber wohnt uns als Menschen auch ein Potenzial inne, das mehr oder weniger untergründig wirkt und zumindest in Hinsicht auf ein gutes Miteinander einen destruktiven Einfluss ausübt. Es spiegelt sich in Phänomenen wie dem Egoismus und der Selbstsucht, moralisch zugespitzt: der Anlage zur ›Bosheit‹. Das Hobbes’sche Menschenbild, dem zufolge der Mensch dem Menschen ein Wolf sei – homo homini lupus –, ist der komprimierte und wohl bekannteste Ausdruck dieser Anlage. Bewegt sich mit- und zwischenmenschliches Leben freilich keineswegs bloß an diesen beiden extremen Polen, sondern in zahlreichen Spielarten zwischen ihnen, so gilt es in jedem Fall anzuerkennen, dass die Sozialität für das Individuum keineswegs unproblematisch ist. Sie bleibt vielmehr ambivalent. Passend spricht Immanuel Kant von einer wesenhaften »ungeselligen Geselligkeit«17

15 16 17

Aristoteles (1995): Politik. Vgl. etwa E. Diener et al. (2018): Happiest People Revisited. I. Kant (1975): Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 36.

Raphael Rauh und Dominik Koesling: Einsamkeit zwischen Entfremdung und Resonanz

der menschlichen Natur, insofern sie einerseits den Hang habe, sich zu vergesellschaften, andererseits auch den Hang, sich zu vereinzeln.18 Die damit angezeigte Zwiespältigkeit seiner Natur lässt sich in Hinsicht auf die damit zusammenhängende Bedeutung der Einsamkeit für den Menschen besser verstehen, wenn man das Augenmerk auf eine anthropologische Diskussion des 18. Jahrhunderts legt, welche in den mehrere tausend Seiten umfassenden Schriften des Arztes und Philosophen Johann Georg Zimmermann zum Thema Einsamkeit kulminiert.19 Ihm zufolge gibt es – stark vereinfacht gesagt – auf der einen Seite die Verfechter:innen der Einsamkeit, welche in ihr eine Art höherer Lebensform ermöglicht sehen, insofern der Mensch in der Welt und Geselligkeit von seinen höheren Anlagen abgelenkt werde. Sie sei eine wichtige Voraussetzung einer für den Menschen eigenen Glückseligkeit. Auf der anderen Seite gibt es die Position, welche den Hang zur Einsamkeit als einen unsozialen, ja moralisch verdächtigen Trieb zur Selbstüberhöhung einschätzt. Der Diskurs bleibt jedoch keineswegs derart dichotom, vielmehr gibt es auch Haltungen, die hier, wie beispielsweise die von Zimmermann selbst, eine temperierte Zwischenstellung einnehmen.20 Bei ihm werden also übertriebene und einseitige Einsamkeitsvorstellungen der Askese oder des Mönchstums abgelehnt, ohne den Wert der Einsamkeit für höhere Formen intellektueller Selbstbeschäftigung damit abzutun. Entsprechend wird auch das gesellige Leben in seinen Vorzügen gewürdigt, ohne ihm haltlos zu verfallen.21 Prägen insbesondere diese anthropologischen Debatten die Diskussionen um Einsamkeit des 18., aber auch noch des 19. Jahrhunderts, so gilt dies für das 20. Jahrhundert bemerkenswerterweise nicht mehr.22 Theorien der modernen Seele und ihrer Subjektivierung durch gesellschaftliche Imperative und Machtdiskurse, wie sie etwa von Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno oder Michel 18 19 20

21 22

Ebd., S. 37. Vgl. J.G. Zimmermann (1756): Betrachtungen über die Einsamkeit; J.G. Zimmermann (1773): Von der Einsamkeit; J.G. Zimmermann (1986): Über die Einsamkeit. Um hier nur ein Beispiel für das vorsichtig tastende Für und Wider bei Zimmermann zu zitieren: »So wenig man in der gänzlichen Entfernung von der Welt, [sic!] die Gesundheit seines Verstandes erhalten kann, so wenig ist es möglich, sich selbst kennen zu lernen, und seiner Bestimmung gemäß zu leben, wann [sic!] man immerfort sich durch das Weltgetümmel hingerissen findet.« (J.G. Zimmermann [1756]: Betrachtungen über die Einsamkeit, S. 27f.). Vgl. zur anthropologischen Zuordnung der Schriften Zimmermanns insgesamt A. Timofte (2014): Einsamkeit (ver-)schreiben. Gerade innerhalb der philosophischen Anthropologie und in klarem Kontrast zur früheren Präsenz scheint Einsamkeit als thematischer Gegenstand zu verblassen. Deutlich wird das auch daran, dass Einsamkeit bei den drei Hauptvertretern der philosophischen Anthropologie – Max Scheler, Helmut Plessner und Arnold Gehlen – keine besondere Rolle spielt. In Texten wie etwa W. Kamlah (1972): Philosophische Anthropologie, oder auch F. Fellmann (2009): Das Paar als Quelle des Selbst, finden sich nur am Rande Verweise auf die menschliche Einsamkeit, ohne dass diese systematisch für die Argumentation ausgelotet würde.

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Foucault formuliert wurden, tragen nunmehr zu einer prinzipiellen Schwierigkeit bei, Einsamkeit in Hinsicht auf eine objektivierbare Natur des Menschen überhaupt begreifen zu können. Schließlich verabschieden diese Autoren wesensdefinierende, transparent auf einen Begriff zu bringende Deutungen der menschlichen Natur weitgehend. Dementsprechend entzieht sich diese einer allgemeingültigen Festlegung. Dadurch wird Einsamkeit nicht mehr im Sinne einer natürlichen oder widernatürlichen Anlage beschrieben und zugleich werden die vorherigen Versuche theoretischer Objektivierung verunmöglicht. Einsamkeit wird infolgedessen vielmehr selbst zum Substrat einer in das Subjekt introvertierten ›Gesellschaft‹, deren physisch und psychisch prägende Mechanismen sich indirekt und verborgen vollziehen.23

2.4 … und uns ethisch zu orientieren vermag Ungeachtet dieser hier nur grob skizzierten Schwierigkeit rund um ihre Theoretisierbarkeit bleibt Einsamkeit jedoch als menschliche Erfahrung auch im weiteren Geschichtsverlauf in höchstem Maße präsent und stellt für das sie erlebende Individuum nicht nur zuweilen eine existenzielle, sondern eben auch eine ethische Herausforderung dar. Beide Facetten treten gegenwärtig verdichtet am insbesondere medizinisch geprägten Einsamkeitsdiskurs zu Tage, wenn in diesem Einsamkeit als gesundheitsschädliches und damit auch präventiv abzuwehrendes oder gar behandlungsbedürftiges Phänomen diskutiert wird. So reflexionswürdig solch zugespitzte Perspektiven insbesondere in Konfrontation mit moralphilosophischen Traditionen sind, so erweist sich vor jeglicher systematischer Zuordnung, Diskussion und Evaluation zunächst einmal der basale Hinweis als entscheidend, dass ein breites Spektrum der konkret erlebten Einsamkeitserfahrungen einen in sich wertenden Charakter hat. Einsamkeit wird in der Regel also nicht als neutrale Erfahrung betrachtet, sondern leiblich und bereits vorreflexiv entweder als gut, im Sinne von zuträglich, oder schlecht, im Sinne von abträglich empfunden. Regelmäßig fordert nämlich die in der Einsamkeit angelegte Spannung das sie erlebende Individuum zur Überwindung dieser Erfahrung auf, wenn es sie als schlecht – also als schmerzhaft, als bedrohlich, als die eigene Integrität und Identität unterlaufend – erfährt. Als abzuwehrende Zumutung erscheinen uns entsprechend Einsamkeitsformen, die unfreiwillig erlitten werden, die sich in sich 23

Um diesem vertrackten Sachverhalt nur an einem einschlägigen Beispiel eine Kontur zu geben, der von anderen Autor:innen anders zum Ausdruck gebracht würde, sei ein entsprechender Gedanke aus »Jenseits von Gut und Böse« angeführt. Darin schreibt Nietzsche, die moderne »Seele« entspreche einer »Subjekts-Vielheit«, und ihre Organisation gleiche einem »Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte« (F. Nietzsche [1980]: Jenseits von Gut und Böse, S. 27). Für eine ausführlichere Interpretation und Zuordnung zur Einsamkeitsthematik vgl. R. Rauh (2016): Modulationen der Einsamkeit, S. 356–363.

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selbst psychodynamisch verkeilt haben und ausweglos erscheinen. In derartigen Fällen ist Einsamkeit dann ein Zustand, der so nicht sein soll. Umgekehrt kann Einsamkeit jedoch auch gesucht werden, wie spirituelle Praktiken der Askese und Läuterung oder Formen intellektueller und kontemplativer Selbstauseinandersetzung illustrieren, die Thomas Macho als »Kulturtechniken« beschreibt.24 Hier wird vollkommen bewusst und freiwillig ›in die Einsamkeit gegangen‹. Diese Erfahrung wird näher als innerer Raum oder als Zustand empfunden, der durchaus guttut und auch sein soll. Wenngleich das heutzutage in aller Regel anders genannt wird – wie etwa Retreat oder Me-Time – und hierbei substanzielle Unterschiede bestehen mögen, so kennt auch unsere Gegenwartskultur noch solche Formen ›guter‹ Einsamkeit. Erstrebt wird hierbei ein gelingender, zeitlich begrenzter und vielfach phantasievoll ausgemalter Ausstieg aus dem Trubel einer anstrengenden Arbeitswelt und bedrohlich-komplexen Gesellschaft, der innere Ruhe und Erholung ermöglichen sowie innere Ressourcen freilegen soll. Dementsprechend ist auch die Art, wie die Einsamkeit erlebt wird, nicht festgelegt und kann positive und negative Erfahrungen umfassen, womit sie für das sie erlebende Individuum eine regulierende Bedeutung erhält. Lässt sich daher zwar nicht theoretisch vorwegnehmen, wie Einsamkeit im Einzelnen jeweils zu werten ist, so erschöpft sich ihr theoretisches Potenzial jedoch und darüber hinausweisend nicht in der Beschreibung eines individuellen Phänomens. Vielmehr besitzt Einsamkeit, wie im Folgenden insbesondere im Anschluss an Rosas soziologisch-sozialphilosophische Ausführungen in »Resonanz« gezeigt werden soll, ein Potenzial für gesellschaftskritische Reflexionen, deren Realisierung individuell und kollektiv ein ›richtigeres‹ Leben ermöglichen könnte.25

3. Einsamkeit in der Kritik und als Herausforderung unserer Weltbeziehungen Um Einsamkeit für die weiteren Überlegungen nun in ihrer eigentümlich modernen Gestalt besser eingrenzen zu können, lohnt erneut ein Blick auf von Gronickas kompakte Gegenwartsanalyse. Denn nicht nur darf man aufgrund der ähnlich gelagerten Stoßrichtung der Kritik davon ausgehen, dass er auch die Arbeiten der im Folgenden relevanten Kritischen Theoretiker im Sinn hatte. Sein offenbares Verzichten-Können auf dezidierte Quellen und der allgemein gehaltene Verweis auf die moderne »Philosophie, Psychologie, Soziologie«26 sind zugleich auch performativ ein deutlicher Verweis auf die Selbstverständlichkeit des intellektuellen Milieus seiner 24 25 26

T. Macho (2000): Einsamkeit als Selbstbegegnung und Selbstverdopplung. H. Rosa (2016): Resonanz. A. von Gronicka (1954): Das Motiv der Einsamkeit im Modernen Deutschen Drama, S. 12.

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Zeit, Einsamkeit zum Theoriegegenstand zu erheben. Einer damals durchaus geläufigen Gegenwartsanalyse zufolge werde der Mensch nämlich nicht nur äußerlich »unter dem Druck der Ideologien und der Machtpolitik zu monolithischer gleichgeschalteter Masse gezwungen«, sondern gleichzeitig vereinsame er »als geistig-seelisches Wesen immer mehr«.27 Mit Technik und moderner Wissenschaft akkumuliere der Mensch daher zwar vermehrt Macht über die Natur, aber er entfremde sich auch zunehmend von ihr und dadurch von sich selbst. Gerade infolge dieser drastischen Einschätzung wird das »Thema des Verlorenseins, der Vereinsamung in einer entgötterten Welt, in der der Mensch zum antlitzlosen Robot zu entarten droht«,28 auch verstärkt in den genannten Wissenschaften aufgegriffen. Von Gronicka behauptet schließlich, Einsamkeit sei »die psychische Krankheit des modernen Menschen«29 und bringt seine Diagnose damit auf den Punkt. Es erscheint angesichts dieser schwerwiegenden Worte angebracht, zumindest in groben Zügen die philosophiegeschichtliche Konstellation nachzuzeichnen, welche hier zur Debatte steht (3.1). Ausgehend von dieser Konstellation lässt sich auch die essenzielle Assoziation der modernen Erfahrung der Einsamkeit mit der Entfremdung besser verstehen, welche die einzelnen Individuen von gelingenden Selbst- und Weltbezügen zu entkoppeln droht. Gleichzeitig wollen wir mit der Benennung des einen Pols der Einsamkeit als entfremdeter Weltbeziehung auch ihr Gegenstück einführen: Einsamkeit als eine Form resonanter Selbst- und Weltbeziehung (3.2). Ausgehend von diesen begrifflichen und methodischen Überlegungen wird schließlich konturiert, inwieweit der Gegenstand verschiedener Einsamkeitsformen in die drei Achsen der Weltbeziehung, die Rosa in »Resonanz« vorstellt,30 überführt werden kann. Wir verorten die Erfahrung der Einsamkeit formal auf der horizontalen (Einsamkeit unter Menschen, 3.3), diagonalen (Einsamkeit unter Dingen und Tätigkeiten, 3.4) und der vertikalen (Einsamkeit in Natur und Religion, 3.5) Achse der Weltbeziehung. Der Leitgedanke ist, dass Einsamkeit auf jeder der drei Achsen als Ausdruck eines entfremdeten oder resonanten Weltbezugs interpretiert werden kann.

3.1 Einsamkeit in der philosophiegeschichtlichen Konstellation der Moderne In der Moderne büßen Metaphysik und Religion in Bezug auf ihre ideelle, gemeinschaftsstiftende Bedeutung an Überzeugungskraft ein, was durch Erkenntnisse in den Naturwissenschaften, wie etwa Darwins Evolutionstheorie, befördert wird. Dadurch erfährt auch die Frage nach dem Menschen und dessen Natur fundamenta-

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Ebd. Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original. H. Rosa (2016): Resonanz.

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le Irritationen, was eine besonders geprägte Erfahrung der Einsamkeit nach sich zieht. Diese Entwicklung spiegelt sich in Nietzsches berühmt-berüchtigter Diagnose vom Tode Gottes, die von seinen intellektuellen Erben vielgestaltig aufgenommen und moduliert wurde. So heißt es in seinem Aphorismus »Das neue Grundgefühl: Unsere endgültige Vergänglichkeit« pointiert: Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: diess [sic!] ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür [sic!] steht der Affe […].31 In Bezug auf die hier in den Mittelpunkt gerückte Frage nach der Einsamkeit lässt sich die Diagnose Nietzsches derart verstehen, dass sich die individuell und kollektiv Sinn verbürgende Instanz, die Verankerung von Vernunft und Moral in einem keiner weiteren Begründung mehr bedürftigen ›Guten‹, auflöst. Zeugnis von diesem abgründigen Auflösungsprozess legen nicht zuletzt die Fragen eines toll gewordenen Menschen ab – »Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?«32 –, welche der nihilistischen Erfahrung Ausdruck verleihen, dass sich menschliches Leben in einer quälenden Orientierungslosigkeit zu verlieren droht. Nach der angeführten Abdankung einer essenzialistischen Bestimmung des Menschen mitsamt der Verabschiedung der Wesensbegriffe findet sich der moderne Mensch daher in einer sinnentleerten Welt wieder.33 Ausgehend von der überlieferten Tradition findet unser intellektuelles und ideelles Orientierungsbedürfnis – so die Diagnose – keinen Halt, es greift buchstäblich ins Leere, Haltlose. Diese eigentümliche Einsamkeit hat – mit Georg Lukács gesprochen – in jener mit Nietzsche umschriebenen transzendentalen Obdachlosigkeit des Menschen ihren Grund.34 Flankiert wird diese subjektzentrierte Diagnose von der Kritik an kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen, welche den Menschen von seiner Lebens- und Arbeitswelt entfremdeten und die Beziehungen zwischen den isolierten Subjekten erkalten ließe.35

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F. Nietzsche (1980): Morgenröte, S. 53f. F. Nietzsche (1980): Die fröhliche Wissenschaft, S. 481. Vgl. O. Marquard (2013): Der Einzelne. Vgl. etwa R. Harper (1965): The seventh solitude. Zur Diskussion dieser philosophiegeschichtlichen Konstellation in Hinsicht auf Einsamkeit vgl. R. Rauh (2016): Modulationen der Einsamkeit, S. 9–16, 25–37. Vgl. W. Bell (1957): Anomie, Social Isolation, and the Class Structure.

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Einprägsam beschreibt Karl Marx – der Pionier der modernen Entfremdungstheorie36 – Arbeit als »Stoffwechsel mit der Natur«.37 Doch dieser Prozess wird in der widersprüchlichen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, wie er es an anderer Stelle pointiert zum Ausdruck bringt, verkehrt: Die entfremdete Arbeit macht also […] das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen.38 Dies veranschaulicht eindrücklich, wie die Erfahrung der Entfremdung nicht einfach ein äußerliches Geschehen ist, sondern alle Lebensbereiche infiltriert – die eigene Körperlichkeit ebenso wie das seelisch-geistige Vermögen des Menschen als ein soziales Wesen. Auch die gesellschaftskritische Stoßrichtung scheint in den zitierten Zeilen durch, die in der Folge insbesondere von Autor:innen der Kritischen Theorie aufgegriffen worden ist. Maßgeblich für die hier im Mittelpunkt stehende Frage nach der Einsamkeit heißt es bei Theodor W. Adorno in den »Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, »daß [sic!] die zur verzweifelten Isolierung Vergesellschafteten nach Miteinandersein hungern und zu kalten Haufen sich zusammenrotten.«39 Verbunden sind die Einzelnen und Isolierten einzig durch die instrumentelle, also rein zweckorientierte Vernunft, die jedoch die Sehnsucht nach einem Miteinander nicht befriedigen kann und so formiert sich – wie sich dieser Gedanke weiterführen ließe – im Angesicht der »monadologische[n] Struktur der Gesellschaft«40 geradezu eine Gesellschaft Einsamer. Auf diese Weise laufen Individual- und Gesellschaftsdiagnose der Einsamkeit in der Moderne zusammen. Wie auch immer man heute zu diesen Deutungen stehen mag – ausgehend von ihnen lässt sich ablesen, dass Einsamkeit, wie die Gesellschaft, welche sie mitbedingt, eine Geschichte hat, welche komplexen Dynamiken unterliegt und an Narrative gekoppelt ist, die eine Interpretation der menschlichen Situation voraussetzen.

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Entfremdung hat in der Philosophie als Ausdruck einer misslingenden Selbsterfahrung und eines gestörten und unterbrochenen Weltbezugs eine lange Tradition, welche in verschiedenen Spielarten bereits in der Antike nachweisbar ist, allerdings erst in der Moderne zu einem zentralen Begriff erhoben wird. Spielt der Begriff dann etwa bei Rousseau, prominent auch bei Hegel eine bedeutende Rolle, so etabliert er sich jedoch erst im und durch das Denken von Marx als Schlüsselbegriff einer Gesellschaftskritik, der auf kollektiv-strukturelle Missstände aufmerksam macht (vgl. einschlägig R. Jaeggi [2019]: Entfremdung). K. Marx (1983): Das Kapital, S. 202. K. Marx (1983): Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 90, Hervorhebungen im Original. T.W. Adorno (2003): Minima Moralia, S. 186. T.W. Adorno (2003): Die revidierte Psychoanalyse, S. 36.

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Besonders deutlich wird das, wenn im Folgenden mit Hartmut Rosa ein ideengeschichtlicher Sprung in die Gegenwart vollzogen wird, der erhellt, inwiefern jene Diagnose der isolierten Subjektivität in der Moderne für die heutige Gegenwart in Bezug auf den Einsamkeitsdiskurs fruchtbar weitergedacht werden kann.

3.2 Entfremdung und Resonanz als diametrale Pole der Einsamkeitserfahrung Bevor aber detaillierter ausgewiesen werden kann, inwieweit Einsamkeit eine Erfahrung ist, welche in horizontalen, diagonalen und vertikalen Weltbeziehungen Bedeutung erhält, sind einige begriffliche Vertiefungen und methodische Erwägungen vorauszuschicken. Denn wenn Einsamkeit hier als eine Erfahrung bezeichnet wird, die »zwischen« Entfremdung und Resonanz zu verorten ist, dann ist das nicht als eine Festlegung auf einen Punkt im Sinne einer räumlichen Verortung zu verstehen, sondern als Ausdruck von dynamischen Möglichkeiten der Konkretisierung des Einsamkeitserlebens zwischen diesen beiden extremen Polen. »Entfremdung« und »Resonanz« sind dabei jeweils als ein Ausdruck der seelisch-leiblichen Spannbreite des individuellen In-der-Welt-Seins auszulegen, insofern sie die wesentliche und auf mehreren Ebenen gelagerte, kommunizierende Bezogenheit des Menschen bedrohen (Entfremdung) oder aber ermöglichen (Resonanz). Anstatt »Einsamkeit« also als »Resonanz« oder als »Entfremdung« zu definieren, wird lediglich behauptet, ihre offene und dynamische Bedeutung für den Menschen lasse sich formal zwischen diesen Begriffen auslegen. Betrachtet man die beiden damit angesprochenen Pole, zwischen denen sich Einsamkeit bewegt, so ist beim Pol der Entfremdung bereits begrifflich offenkundig, dass sie im Kern eine Erfahrung oder die Möglichkeit einer Erfahrung voraussetzt, die nicht entfremdet ist und damit das andere ihrer selbst voraussetzt, das etwa mit unmittelbarem Vertrauen und Geborgenheit assoziiert sein kann. Die Entfremdung wird entsprechend als ein Entzug erfahren, als ein Zustand, der nicht sein soll, der das Eigentliche und Gelingende – das man einst erfahren hat oder von dem man zumindest eine Ahnung zu haben meint – verformt, entrückt, unzugänglich macht oder zerreißt. Eine kondensierte Umschreibung der Entfremdungserfahrung hat Jaeggi mit dem Oxymoron einer »Beziehung der Beziehungslosigkeit«41 geprägt, die für ein tieferes Verständnis der Einsamkeit aufgegriffen werden kann. Der Bezugspunkt der beziehungslosen Beziehung ist dabei jedoch nicht festgeschrieben und Gründe und Verhältnisse der Entfremdung respektive Einsamkeit42 können auf mehreren Ebenen ausgemacht werden: Man 41 42

R. Jaeggi (2019): Entfremdung, S. 20, Hervorhebung im Original. Die Engführung der Einsamkeit mit der Erfahrung der Entfremdung wird auch von psychologischen Konzeptionen gestützt, die in empirischen Studien durch qualitative Interviews

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kann sich von sich selbst entfremdet fühlen, von Freund:innen und Verwandten, oder aber von Tätigkeiten im Privat- und Berufsleben, von Orten oder Idealen. Der Bezugspunkt der beziehungslosen Beziehung ist also variabel und kann äußerst vielfältig sein. Fasst man »Entfremdung« derart, so wird das Moment der starren Isoliertheit, der unverbundenen Vereinzelung, des Abgetrennt-Seins in den Vordergrund gestellt, obschon der Möglichkeit nach Beziehungen als Beziehungen zu etwas oder jemand anderem angelegt sind. Entscheidend hierbei ist, dass Entfremdung demzufolge keineswegs als Abwesenheit von Beziehungen zu denken ist. Im Gegenteil: Diese Beziehungen sind nicht bloß gegeben, sondern für Entfremdung geradezu konstitutiv. Gegeben sind sie jedoch allein im Modus des Misslingens, des Ungenügens, der Verkehrung. Gerade dadurch wird aber auch eine Chance sichtbar. Denn an der Spannung zwischen der Möglichkeit als dem, wie es eigentlich sein soll, und der Realität als dem, wie es ist und nicht sein soll, wird in der Entfremdung ein Potenzial zu gelingender Weltbeziehung ex negativo erkennbar. Und ganz in diesem Sinne ist auch Rosas Theorieangebot zu verstehen – denn wo Entfremdung das Problem sei, sei Resonanz dessen Lösung. »Resonanz« verweist nämlich auf ein individuelles In-derWelt-Sein, das wesentlich kommunizierend ist, in sich selbst (durch chemische Signale etwa), mit sich selbst (durch monologische Gedankenketten oder selbstredende Gefühle und Stimmungen), mit Dingen in der Welt, der Natur, den Mitmenschen, Ideen und Idealen.43 Stimmig kann diese Metapher auch in die entwickelten Gedanken zur Einsamkeit überführt werden, insofern Rosa selbst »Resonanz« zugleich als deskriptiven und normativen Begriff ausweist,44 der anthropologisch verankert sei.45 Es sei ein existenzielles Interesse jedes Individuums, resonante Weltbeziehungen einzugehen, insoweit sie Ausdruck eines im Kern gelingenden Selbstund Weltbezugs sind. Resonanz ist so gesehen ein In-Schwingung-gehen-, ein Mitschwingen- und Einstimmen-Können, das nicht nur eine zentrale Voraussetzung für gelingende Lebensbezüge darstellt, sondern gleichzeitig auch einen Indikator

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auf entsprechende Berichte stoßen (vgl. etwa L. Andersson [1986]: A Model of Estrangement; A. Rokach [1988]: The Experience of Loneliness; A. Rokach [1989]: Antecedents of Loneliness). »Resonare« heißt aus dem Lateinischen übersetzt »widerhallen«, wörtlich eigentlich »widerklingen«. Die verwandten Begriffe »Konsonanz« (»Zusammenklang«, »Gleichklang«) und »Dissonanz« (»Missklang«) sind in diesem Zusammenhang zur Abgrenzung erwähnenswert. In der Musikwissenschaft werden sie verwandt, um Klänge zu bezeichnen, die in sich stimmig, ›harmonisch‹ erscheinen beziehungsweise erklingen und keiner weiteren Entwicklung bedürfen, oder aber eine Spannung erzeugen, die einer Auflösung bedarf, da sie in sich keinen Halt findet und aus sich heraus nicht trägt. Beide Formen des Erklingens können physikalisch durch Resonanzkörper verstärkt werden. Der Resonanzkörper ist der Raum, durch den ein Klangsystem eine bestimmte Farbe und seinen prägenden Charakter erhält. Vgl. H. Rosa (2016): Resonanz, S. 293f. Vgl. ebd., S. 267.

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für das Gelingen selbst darstellen kann, insofern in ihr eine selbst-affirmierende Lebendigkeit unmittelbar erfahren wird. Überträgt man diese Vorab-Erwägungen zu »Entfremdung« und »Resonanz« auf die Erfahrung der Einsamkeit, so erweisen sich beide Begriffe als einander diametral entgegengesetzte Ausprägungen von Einsamkeit. In der Entfremdung zeigt sich Einsamkeit als schmerzhaftes Verloren-Sein oder Verlassen-Sein. In der Resonanz hingegen wird Einsamkeit Ausdruck einer mit sich selbst identischen und im Einklang stehenden Individualität, deren Weltbeziehungen zugleich ein zusammenklingendes Ganzes ergeben. Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen und formalen Einordnung ist es jetzt möglich, ausgehend von einschlägigen Schilderungen und Beispielen, die Erfahrung der Einsamkeit punktuell in die von Rosa unterschiedenen Achsen der Weltbeziehung zu überführen.

3.3 Horizontale Achse: Einsamkeit unter Menschen Zunächst soll der Blick auf die horizontale Achse der Weltbeziehungen gerichtet werden, die insbesondere mit der Einsamkeit als Diskrepanz zwischen ersehnten und realen sozialen Beziehungen, wie sie im Fokus gegenwärtiger Debatten steht, korrespondiert. Wir können uns einsam fühlen, weil Menschen, die uns am Herzen liegen, fehlen. Wir können aber auch Einsamkeit beziehungsweise ein tiefes Ungenügen unter Menschen fühlen. Nicht nur unter Menschen, die wir nicht kennen und die uns aufgrund ihrer Andersartigkeit im Betragen, Empfinden und Denken befremden, sondern auch unter Nahestehenden, Familie, Freund:innen und Partner:innen. Prinzipiell kann uns jeder Mensch fremd werden und im Umgang einsam machen – potenziell wohl sogar am ehesten jene, die uns am nächsten stehen. Bereits diese Einsamkeit ist in sich äußerst komplex und nicht als ein eindimensionales Geschehen zu begreifen. Entsprechend ist ihre Überwindung oder Bewältigung sicher nur in den wenigsten Fällen sozusagen nach vorne ›in fünf Schritten‹ realisierbar, wie manche psychologischen Lebensratgeber es suggerieren mögen. Um es bildlich zu sagen: Der Mensch ist nicht mit einer Schachfigur vergleichbar, der man durch strategisches Positionieren ihre Einsamkeit nehmen kann. Schließlich sind es innerseelische Anlagen und Möglichkeiten sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen, welche dieser Erfahrung eine je eigene Prägung verleihen. Nimmt man exemplarisch Gesellschaftsanalysen der (Post-)Moderne in den Blick, so scheinen viele Menschen in unserer Zeit bezogen auf angemessene Ansprüche und Distanz im wechselseitigen Kontakt überfordert zu sein. Die persönliche Privatsphäre sowie die eigene Rolle im öffentlichen Raum erscheinen manchen nicht mehr klar voneinander getrennt. Daraus kann sich eine Überlastung im Bereich des zwischenmenschlichen Kontakts und Miteinanders ergeben, die, mit Richard Sennett als einem möglichen Erklärungsansatz gesagt, in einer

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Überhöhung zwischenmenschlicher Gefühle begründet ist.46 So formuliert Sennett pointiert, diese zwischenmenschlichen Gefühle übernähmen in einer entgötterten Welt die Rolle eines Ersatzgottes. Einsamkeit kann aus dieser Perspektive als Resultat einer wahllosen Sehnsucht nach Intimität und Authentizität im Miteinander, die ihren Ursprung wiederum in der Entgrenzung unserer privaten und öffentlichen Selbstbilder hat, verstanden werden. Angesichts dessen mag es nicht nur abwegig, sondern zynisch erscheinen, diesen Schilderungen entgegengesetzt – auf der horizontalen Achse sozialer Beziehungen – Einsamkeit auch als eine resonante Weltbeziehung fassen zu wollen. Gerade aufgrund dieser dominierenden Ansicht von Einsamkeit erscheint es jedoch umso wichtiger, gerade hier genauer hinzusehen. Verweist bereits Rosa darauf, dass »wer […] von allem und jedem affiziert wird, […] die Fähigkeit verlieren [wird], seine eigene Stimme zu hören und zu entfalten«,47 so kann gerade in der Einsamkeit eine unmittelbare zwischenmenschliche Verbundenheit und intime Nähe spürbar werden,48 welche durch die sozialpsychologischen Dynamiken direkter Interaktion eher zerstreut wird – sei es durch eine zwischenleibliche Angespanntheit oder unaufhörliches Reden, das einen nicht annähert oder wirklich in Beziehung setzt. Aus einer anderen Perspektive kommend findet sich in der Studie »Being Alone Together. From Solidarity to Solitude in Urban Anthropology« ein anders gelagerter Versuch, gemeinsame Einsamkeit nicht negativ überformt, sondern konstruktiv zu interpretieren.49 Dabei werden, ausgehend von Beispielen aus der Queer-Szene, in der einsamen Masse großstädtischer Räume Potenziale neuer Zugehörigkeit entdeckt. Nähert man sich so der Einsamkeit unter Menschen, wird offensichtlich, dass Zugehörigkeit und Verbundenheit nichts sind, was sofort Einsamkeit auflösen würde. Damit können Freundschaften auch als Orte verstanden werden, an denen auch mit-geteilte Einsamkeit nicht zur Auflösung der Begegnung führt. Jenseits des Strebens, Gefühle schmerzhafter Einsamkeit durch Ermutigungen oder Beschwichtigungen in Luft aufzulösen, können sie als Raum verstanden werden, an dem Einsamkeit sein darf; als dieses sperrige, schwer kommunizierbare Leid, das manche scheinbar grundlos, aber kontinuierlich begleitet.50 Dieses Teilen der Einsamkeit mag dabei helfen, Beziehungen wieder neu schätzen und einschätzen zu lernen und trägt so dazu bei, keiner naiven Illusion über die als einzig heilsbringend erachtete Verbundenheit zu verfallen. Sie behütet womöglich vor dem verhängnisvollen Weg

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Vgl. R. Sennett (1983): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 296. H. Rosa (2019): Unverfügbarkeit, S. 43. Vgl. C.R. Long/J.R. Averill (2003): Solitude. L. Coleman (2009): Being Alone Together. Vgl. hierzu auch J. Weiss (2015): Freundschaft in Einsamkeit.

Raphael Rauh und Dominik Koesling: Einsamkeit zwischen Entfremdung und Resonanz

in eine Tyrannei der Intimität, die keineswegs Einsamkeit überwindet, sondern sie in einer Sucht nach Zerstreuung überdeckt und womöglich verschärft.51

3.4 Diagonale Achse: Einsamkeit unter Dingen und Tätigkeiten Verschiebt man an dieser Stelle den Blick von den Mitmenschen hin zur Achse diagonaler Weltbeziehungen, und damit zu den Dingen, die uns umgeben, sowie zu den Tätigkeiten, die wir als Menschen ausüben, so zeigen sich auch hier mögliche Einsamkeitserfahrungen. Wir können uns im Umgang mit uns selbst isoliert, getrieben, entfremdet fühlen, bei Tätigkeiten in Beruf und Freizeit, oder beim bloßen Vegetieren. Wir fühlen uns dann gar nicht, sondern bewegen uns wie ferngesteuert durch Tag und Nacht, nur unterbrochen durch den womöglich unruhigen und nicht erholsamen Schlaf. Einsamkeit zeigt sich hier in der Form des entzogenen Sinnes, die Wahrnehmung der uns umgebenden oder gar von uns hervorgebrachten Dinge affiziert uns nicht, vielmehr bleiben sie stumm und wir ihnen gegenüber gleichgültig. Das Paradebeispiel für diese Form entfremdeter Einsamkeit ist der Bereich der Arbeit. Die bereits angeführten Frühschriften von Karl Marx stellen heraus, dass sich innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise die faktisch Produzierenden mit fremdbestimmten Tätigkeiten verdingen müssen, um auf diese Weise den Lebensunterhalt erwirtschaften zu können. In diesem Zuge bleibt ihnen das konkrete Produkt der Arbeit entzogen, da andere die Verfügungsgewalt darüber haben. Die Quintessenz dieser basalen Diagnose ist auch heute noch gültig, wenn die Arbeit nicht als sinnhaft erlebt wird, die Arbeit selbst keine Anerkennung verschafft, oder deren Produkte keine tiefer greifende Rückwirkung auf das Seelenleben der Produzent:innen haben.52 Burnout und Erschöpfungsdepression sind wohl die berüchtigtsten der möglichen Überlastungserscheinungen dieser Form des entfremdeten Weltbezugs gegenüber den Dingen und Tätigkeiten. Zwar ist es möglich, auf diese Weise Einsamkeit in Auseinandersetzung mit und Erzeugung von Dingen, ja, auch im Vollzug jedweder Tätigkeit im Modus der Entfremdung zu erfahren. Doch können wir auch auf dieser Achse in anderer Form einsam in der Welt stehen oder in die Welt gestellt sein – nämlich dann, wenn wir 51

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Adorno formuliert einen ähnlichen Gedanken, wenn er die Erfahrung der zwischenmenschlichen Entfremdung durch ein Übermaß an aufgezwungener Nähe erklärt: »Die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, daß [sic!] die Distanzen fortfallen. Denn nur solange sie sich nicht mit Geben und Nehmen, Diskussion und Vollzug, Verfügung und Funktion immerzu auf den Leib rücken, bleibt Raum genug zwischen ihnen für das feine Gefädel, das sie miteinander verbindet und in dessen Auswendigkeit das Inwendige erst sich kristallisiert.« (T.W. Adorno [2003]: Minima Moralia, S. 45). In Auseinandersetzung mit Axel Honneths Theorie der Arbeit vgl. hierzu einschlägig M.G. Festl (2014): Gemeinsam einsam.

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eben nicht von unserer Umwelt oder uns selbst entfremdet sind. Wir sind dann im Einklang mit uns selbst und bei uns, spüren uns, kommunizieren mit uns, gedanklich, leiblich, der Kontakt zu uns trägt. Diese Erfahrung ist wärmend, unsere Seele dehnt und streckt sich gleichsam, wir fühlen uns umschirmt in gediegenem Selbstvertrauen und fühlen uns in uns wohl und zu Hause. Es ist daher auch auf der diagonalen Achse der Weltbeziehung durchaus möglich, in Einsamkeit ›resonieren‹ zu können.53 Eindrücklich wird das insbesondere anhand des künstlerischen Schaffens oder in intellektueller Selbstauseinandersetzung,54 in welcher Einsamkeit mit Muße, Selbstfindung und -verwirklichung verschmilzt und in Form kreativer Auseinandersetzung hervortritt. Doch bleibt die resonante Einsamkeit nicht auf die genannten Möglichkeiten beschränkt, sondern kann sich etwa schlicht auf Prozesse wie das gleichermaßen kontemplative und sinnliche Moment beim Kochen oder Backen beziehen, oder sich aber auf das Sporttreiben erstrecken.55 Schließlich ist gerade der Sport für viele – wie Rosa es ambivalent zuspitzt – ein Versuch, sich zu spüren.56 Hier deutet sich die Pointe eines integrativ konzipierten Einsamkeitsbegriffs an, der eben nicht in scheinbar eindeutig negative loneliness und scheinbar eindeutig positive solitude zerfällt, sondern der auf derselben Achse der Weltbeziehungen angesiedelten Ausprägungen und Erfahrungen von Einsamkeit in ihren Übergängen und Überlappungen auch begrifflich abbildet.

3.5 Vertikale Achse: Einsamkeit in Natur und Religion Abschließend gilt es nun den Blick auf die vertikale Resonanzachse zu richten, auf die kollektiven Bezugsgrößen wie die Natur und Religion, in denen Einsamkeit jeweils eigentümlich erfahrbar wird. Wir können uns in Landstrichen verlassen und verloren fühlen, und das unabhängig davon, ob sie vermüllt oder sauber, leer oder überlaufen, mit merkwürdigen Artefakten zugestellt oder weit und offen sind. Umgekehrt ist das Naturerleben exemplarisch für resonierende Einsamkeit. »This is a delicious evening, when the whole body is one sense and imbibes delight through every pore. I go and come with a strange liberty in Nature, a part of herself.«57 Das 53

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Rosa selbst schildert in »Resonanz« eingangs zwei beispielhafte Lebensläufe, die sich in die hier vorgenommene Zuspitzung fügen lassen, auch wenn er seine Darstellung nicht explizit an die Erfahrung der Einsamkeit knüpft (Vgl. H. Rosa [2016]: Resonanz, S. 13–36). Vgl. D. Jones (Hg.) (2019): The Philosophy of Creative Solitudes. Vgl. H. Rosa (2019): Unverfügbarkeit, S. 40–41. Vgl. H. Rosa (2016): Resonanz, S. 420–435. H.D. Thoreau (1965): Walden, S. 96. Zu Deutsch: »Dies ist ein köstlicher Abend, an dem der ganze Körper ein Sinn ist und durch jede Pore Wonne einsaugt. Ich gehe und komme mit einer merkwürdigen Freiheit in die Natur, als ein Teil von dieser.« [Übersetzung durch die Autoren]

Raphael Rauh und Dominik Koesling: Einsamkeit zwischen Entfremdung und Resonanz

sind die ersten, für sich sprechenden Worte des Kapitels »Solitude« – ins Deutsche mit »Einsamkeit« übersetzt – aus Henry David Thoreaus »Walden, or Life in the Woods«. Es wird hier offenbar ein In-Beziehung-Treten möglich, das unsere Subjektivität von ihren Kleinlichkeiten und Kanten entrückt, uns einbettet in einen größeren Zusammenhang, der Sinn und Geborgenheit stiftet. Analog gestaltet es sich auch hinsichtlich der Religionen als kollektive Bezugsgrößen par excellence. Bezogen auf die vielseitigen Erscheinungsformen spiritueller und religiöser Praktiken lässt sich einerseits argumentieren, ihnen gelänge es nicht nur bei dezidiert religiös Unmusikalischen nicht, die Räume der Ruhe und Einkehr zu generieren beziehungsweise die gemeinschaftliche und transzendente Beziehung zu stiften, die sie letztlich stiften sollen – etwa dann, wenn der Gottesdienst für die Teilnehmenden zur profanen Routine geworden ist oder der Yogakurs, eingespannt in die anderen To-dos des Tages, eigentlich nur stresst. Andererseits lässt sich auch argumentieren, dass erst die säkularisierte Welt pluraler Lebensformen eine vielseitige Öffnung ermöglicht hat, durch welche eine Teilhabe an dieser Resonanzsphäre möglich wurde. Die vielseitigen Möglichkeiten spiritueller Selbstauseinandersetzung können auch als eine Chance angesehen werden, in und durch Einsamkeit je nach innerer Überzeugung und Glaubensinhalten resonierende Weltbeziehungen zu kultivieren – sei es durch ritualisierte Praktiken monotheistischer Religionen in Synagogen, Kirchen und Moscheen, durch Pilgerfahrten, schamanische Medizinwanderungen nach Assisi oder Chakren-Meditationen daheim.

4. Fazit: kein richtiges Leben im falschen? Abschließend soll – um auf die gesellschaftskritische Pointe fokussieren zu können – der integrative Blick auf das Phänomen Einsamkeit wieder in den ideengeschichtlichen Aufriss eingebettet werden, von dem er seinen Ausgang nahm. Mit der Äußerung, es gebe kein richtiges Leben im falschen, zeigt Adorno an, dass moderne Individualität in ihrem Versuch, sich ein gutes Leben einzurichten, scheitert, wenn sie davon ausgeht, die gesellschaftlichen Missstände währenddessen ausblenden zu können.58 Sie mache das zwar naturgemäß und unwillkürlich, allerdings bleibe sie dabei doch in dem befangen, von dem sie sich abgrenzen möchte, da die Konstitution unseres Innenlebens bis in die verborgensten Verästelungen unserer Triebdynamik hinein von objektiven, das heißt gesellschaftlichen Mächten und Dynamiken geprägt ist. Allein durch »innere Läuterung«, »Kraft opferbereiter Liebe« – so wieder der leitmotivisch einbezogene Literaturwissenschaftler von Gronicka –, »nicht auf dem

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Vgl. T.W. Adorno (2003): Minima Moralia, S. 43.

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Wege der Politik, der Technik, nicht durch planmäßiges Umgestalten unserer physischen Umwelt« könne sich der Mensch vom »Fluch der Einsamkeit« erlösen.59 Selbst Adorno, für den »unverbrüchliche Einsamkeit« die paradoxe Lebensform der Intellektualität ist, durch welche sie allein »Solidarität« mit der leidenden Menschheit bewahren kann, bekennt an anderer Stelle indirekt, sein Schreiben gelte allein dem »toten Gott«,60 also dem Versuch, dem in der Moderne abhandengekommenen Sinn etwas entgegenzuhalten und dadurch auch die daraus resultierende Einsamkeit zu überbrücken. Der Schock, welchen die politischen Umstände in der Mitte des letzten Jahrhunderts bei vielen Intellektuellen hinterließ, ist bei von Gronicka und Adorno deutlich vernehmbar. Er erklärt die heute nicht ohne Weiteres umsetzbaren Vorschläge zur Bewältigung der Krise des gelingenden Miteinanders. Auch wenn heute individuell abgestimmte und differenziertere Therapieangebote nötig und möglich sind, sind doch gerade solche Formulierungen ein deutlicher Fingerzeig, um abschließend im Ausblick noch einmal die enge Verwobenheit des gesellschaftskritischen Potenzials der Einsamkeit mit der Frage nach dem richtigen Leben aufzudecken. Zunächst allerdings soll in einem Rückblick auf das Erarbeitete festgehalten werden, inwiefern die Möglichkeit, Einsamkeit überhaupt erfahren zu können, eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass unser Zusammenleben besser werden könnte.

4.1 Rückblick: Warum es gut ist, einsam sein zu können Wir haben eine soziologisch-sozialphilosophische Großtheorie unserer Gegenwart als einen Interpretationsrahmen für ein tieferes Verständnis der gesellschaftlich mitunter als grassierend eingestuften, wissenschaftlich tendenziell einseitig gedeuteten Einsamkeit fruchtbar gemacht. Im Hintergrund der Überlegungen wird die naheliegende, aber nicht ohne Weiteres theoretisch nachhaltig zu erschließende Überzeugung vorausgesetzt, dass unsere Einsamkeit nicht einfach plötzlich da war, sondern eine lange und komplexe Geschichte hat, welche durch die Analyse entsprechender Narrative, kultureller Dokumente und der Weise ihrer wissenschaftlichen Beschreibungen selbst ein Stück weit dechiffriert werden kann. Einsamkeit gehört zur Natur des Menschen, insofern sie ein basales physiologisches Signal ist. Damit wird sie konkret als zu- oder abträglich für Leib und Seele erlebt. Diese grundlegend ambivalente Erfahrung des Menschen ist darüber hinaus Ausdruck der Polarität unserer sozialen Natur. Wie wir die skizzierte fundamentale Dynamik unseres In-der-Welt-Seins dann genauer bewerten, ist individuell – wiederum naturgemäß – höchst verschieden. Denn auch wenn die Möglichkeit, Einsamkeit zu erfahren, zu unserer Natur gehört, ist ihre spezifische Tönung und Pati59 60

A. von Gronicka (1954): Das Motiv der Einsamkeit im Modernen Deutschen Drama, S. 24. T.W. Adorno (2003): Minima Moralia, S. 239.

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na doch stark durch die soziokulturellen, das heißt kontingenten Kontexte bedingt, in denen sie erfahren wird. Die soziale Natur des Menschen ist eine, die gleichzeitig auch als einsame angelegt ist, insofern wir uns ohne diese Gegensätze unserer Anlage kaum individuell, als autonome Individuen, erfahren könnten. So gesehen ist die Möglichkeit, Einsamkeit erfahren zu können, nichts per se Schlechtes, sie ist vielmehr naturgemäßer Aspekt unserer Sozialität. Die Anlage zur Einsamkeit kann damit als Voraussetzung eines pulsierenden und dynamischen Selbst- und Weltbezugs gedacht werden, der nicht starr und stabil ist, sondern immer neuer Annäherungs- und Abgrenzungsprozesse bedarf. Viele Formen der Einsamkeit allerdings, wie sie in unserer Zeit unfreiwillig erlebt werden, sind durchaus schlecht – nicht nur aus einer engen, medizinischen Perspektive, weil sie gesundheitsschädlich sind, sondern vor allem auch deshalb, weil sie ein selbstbestimmtes, würdevolles und zufriedenes Miteinander untergraben. Begreift man Einsamkeit jedoch in ihrer skizzierten Ambivalenz, so verschließt sie nicht nur, sondern öffnet auch Türen. Wird sie vielfach vorschnell als ein widriger Zustand beschrieben, dessen Überwindung hohe Priorität hat, so lässt sich im Rückblick auf den vollzogenen Gedankengang dagegenhalten, dass eine komplexere Deutung dieses Phänomens nottut, welche nicht nur die Geschichte einer Gesellschaft und deren prägenden Einfluss auf die Individualität mitdenkt, sondern auch auf das Resonanzpotenzial in und durch Einsamkeit hinweist.

4.2 Ausblick: das gesellschaftskritische Potenzial der Reflexion auf Einsamkeit Um die damit anklingende und in diesem Beitrag an Rosas Resonanztheorie entwickelte Heuristik für die Erfahrung der Einsamkeit vertieft zu entschlüsseln, bedarf es weitergehend einer beharrlichen und nachhaltigen interdisziplinären Erschließung dieses komplexen Phänomens. Gewinnbringend wäre dies vor allem dann, wenn es den sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen (wie vor allem der Psychologie, Literaturwissenschaft, Ethnologie, Anthropologie, Soziologie, Philosophie und Theologie) in Auseinandersetzung mit einschlägigen Kulturdokumenten und deren Theoriebildungen gelänge, das Phänomen in seinen gesellschaftsund kulturgeschichtlichen Verwicklungen zum Sprechen zu bringen, da eine naturwissenschaftliche Deutung diesbezüglich doch im Wesentlichen stumm bleibt. Dieses Material könnte dazu genutzt werden, um das ethisch motivierte, gesellschaftskritische Potenzial der Einsamkeit zu diskutieren und auszuwerten, das – so die abschließende Hypothese – in der Entschlüsselung der Interrelationalität der Achsen begründet liegen dürfte. Denn die Vermutung liegt nahe, dass bedrohliche Formen der Einsamkeit auf einer Achse auch die Weltbeziehung anderer Achsen in Mitleidenschaft ziehen könnten – sei es, dass sich die Einsamkeit auf einer Achse durch einen Verstärkungseffekt

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auf die anderen überträgt, sei es, dass der Mangel an Resonanz auf einer Achse eine Versteifung auf eine andere erwirkt. Eine weiter zu entfaltende Auseinandersetzung könnte so beispielsweise die Genesis-Überlieferung in den Blick nehmen, der zufolge es für den Menschen nicht gut sei, allein zu sein, und dieser also der Hilfe bedürfe.61 Vor dem Hintergrund der hiesigen Ausführungen kann sich eine solche, umfassendere Auseinandersetzung dann eben keineswegs im bloßen common sense erschöpfen, der besagt, es sei für den Menschen eben nicht gut, allein zu sein. Insofern nämlich säkularisierte, spätmoderne Lebensformen vielfach an der Autorität dessen zweifeln, der es offenbar vermochte, verschiedene Formen der Einsamkeit zu kompensieren, berührt die Auseinandersetzung mindestens auf den dabei verflochtenen Achsen horizontaler und vertikaler Weltbeziehungen komplexe Fragen der Einsamkeit. Eine integrative Interpretation der unsere Geistesgeschichte prägenden Einsamkeitsdeutungen und -theorien kann in jedem Fall helfen, diese Interrelationalität der Achsen unserer Weltbeziehungen wahrzunehmen und so zugleich vor übersteigerten und unrealistischen Erwartungen behüten, die wir in Bezug auf ein gelingendes Miteinander haben. Denn nur mittels einer differenzierten Perspektive, die neben dem durchaus vorhandenen emanzipatorischen Vermögen zugleich auch die gesundheitsschädlichen Dimensionen der Einsamkeitserfahrung ernst nimmt, vermag diese uns in ihrem gesellschaftskritischen Potenzial im Denken und Handeln zu orientieren.

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III. Tabus überwinden: Betroffenenperspektiven auf Einsamkeit

Queere Einsamkeit in der Weimarer Republik Leo Ryczko (Freie Universität Berlin) | Geschichtswissenschaft Einsamkeit wurde in queeren1 Zeitschriften der Weimarer Republik in unterschiedlichster Form thematisiert. Neben Veröffentlichungsformen wie den hier abgedruckten Inseraten zur Kontaktsuche oder dem in Teilen zitierten aktivistischen Aufruf »Einsame Menschen« verarbeiten auch literarische Formen, etwa Gedichte oder Kurzgeschichten, das Thema Einsamkeit. Dabei bezieht sich der Begriff von Einsamkeit auf die soziale Isolation, die mit der Angst vor Entdeckung, der Gefahr vor rechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung einherging. Auch werden das Alleinsein und das Gefühl von Sehnsucht nach Bindung, ob romantischer oder freundschaftlicher Natur, beschrieben. Zeitschriften bieten als Medium die Möglichkeit, öffentlich Themen des queeren Lebens zu verhandeln, wobei Einsamkeit immer wieder eines davon ist. Die Zeitschrift »Die Freundschaft«, der die hier besprochenen Beispiele entnommen sind, wurde erstmals 1919 veröffentlicht und diente unterschiedlichen queeren Organisationen als Verbandsorgan, um über ihre Aktivitäten zu informieren. Der Name »Die Freundschaft« referiert einen gängigen Begriff für gleichgeschlechtliche Liebe der Zeit: Freundschaft; auch griechische Freundschaft oder Freundesliebe. Die Bezeichnung Freund bzw. Freundin war in Bezug auf eine gleichgeschlechtlich begehrende Person ebenfalls weit verbreitet.

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Ich verwende queer als Beschreibung für nicht-normative (im Sinne der Abweichung einer vermeintlichen Norm) geschlechtliche und sexuelle Identitäten, sofern keine Selbstbezeichnung anstelle verwendet werden kann. Ich beziehe mich damit auf die Entstehungsgeschichte des Begriffs »queer«, der explizit den Konstruktcharakter der heterosexuellen Matrix, also einen vermeintlich natürlichen Zusammenhang zwischen Körper, Begehren und Geschlecht, aufzeigen und aufbrechen soll. Vgl. J. Butler (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, S. 219. Nichtsdestotrotz möchte ich an dieser Stelle die ahistorische Verwendung des Begriffs betonen. Die Problematik der beschreibenden Sprache als Schaffung historischer Tatsachen ist nicht abschließend zu beantworten und muss daher stets aktiv reflektiert werden. So suggeriert die Verwendung des Begriffs »queer« möglicherweise das Bestehen einer Gruppenidentität, die in dieser Form von den Beteiligten als solche nicht wahrgenommen wurde, was auch für die heutige Zeit fraglich ist. Die hier besprochenen historischen Quellen beziehen sich insbesondere auf sexuell gleichgeschlechtlich empfindende Personen.

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Tabus überwinden: Betroffenenperspektiven auf Einsamkeit

Die Zeitschrift gab nicht nur Raum für politische Auseinandersetzung, sondern auch für Informationsverbreitung, sie fungierte als Aufklärungsorgan und sozialer Kleber. Anhand queerer Zeitschriften konnten gleichgesinnte Menschen in Kontakt treten: Sie tauschten sich über Themen aus, diskutierten alltägliche Dinge und konnten Verbindungen miteinander schaffen. Kirsten Ploetz beschreibt in ihrem Buch »Einsame Freundinnen?«, dass insbesondere Zeitschriften essenziell waren, um die Einsamkeit »zu durchbrechen«, die Lesben außerhalb Berlins fühlten.2 Inserate nahmen hierbei eine gesonderte Stellung ein, da sie von Leser:innen bezahlte und selbst formulierte, spezifische Einreichungen waren. Diese dienten nicht nur zur persönlichen Kontaktgewinnung, sondern bewarben auch Veranstaltungen, Organisationen und queerfreundliche Geschäfte in unterschiedlichen Städten. Nach dem ersten Weltkrieg war es im Deutschen Reich für viele queere Menschen erstmals möglich, sich in Vereinen und Verbänden zu organisieren. Neben einer vermehrten wissenschaftlichen Betrachtung queerer Sexualität und Geschlechtlichkeit ergab sich somit zumindest die Möglichkeit, sich in diesen Räumen selbstbestimmt und positiv mit der eigenen Identität zu beschäftigen. Queere Selbst-Organisation in der Weimarer Republik war divers und vereinte unterschiedliche Ziele und Strategien. Ein übergreifendes Thema war der § 175 RStGB (Reichsstrafgesetzbuch/Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich), der bestimmte sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern unter Strafe stellte.3 Er wurde zur Weimarer Zeit häufig wegen seiner verheerenden Folgen als Schmutz- beziehungsweise Schandparagraph4 bezeichnet; seine Abschaffung ist stets gefordert worden. Die gesamtgesellschaftliche Abneigung und Ächtung von queeren Menschen und die Möglichkeit der Strafverfolgung führte zu zahllosen Erpressungen, gesellschaftlicher Isolation und Suizid.5

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K. Plötz (1999): Einsame Freundinnen?, S. 19. Der § 175 RStGB kriminalisierte mit dem Wortlaut »Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren [sic!] begangen wird, ist mit Gefängniß [sic!] zu bestrafen […]« bis zu seiner Abschaffung 1994 gleichgeschlechtliche Sexualität zwischen Männern. Während der Weimarer Republik wurde die Ausweitung auf Frauen, die Sex mit Frauen haben, häufig diskutiert, aber nicht realisiert. Was als strafbare Handlung zählte, war während der Weimarer Republik umstritten, da »widernatürliche Unzucht« Auslegungssache war. Zumeist waren Anal- beziehungsweise Oralverkehr strafbar, während gegenseitige Onanie straffrei blieb. Vgl. B. Mende (1990): Die antihomosexuelle Gesetzgebung in der Weimarer Republik, S. 85, 93. Die Kritik wird auch in dem aktivistischen Aufruf von L. Mann deutlich: »Die verhältnismäßig geringe Zahl gerichtlicher Skandale auf Grund [sic!] des Schmutz-Paragraphen [sic!] ist doch sicher ein Beweis für die tadellose Lebensführung der Millionen freundschaftlich empfindenden Menschen und [es] ist anzunehmen, daß schon viele nach den angegebenen Richtlinien leben.« (L. Mann [1921]: Einsame Menschen) Vgl. L. Marhoefer (2015): Sex and the Weimar Republic.

Leo Ryczko: Queere Einsamkeit in der Weimarer Republik

Auf diese Umstände verweist der 1921 in »Die Freundschaft« erschienene Text »Einsame Menschen«, der Einsamkeit bei queeren Männern – dort als Invertierte6 bezeichnet – behandelt.7 Der Autor L. Mann beschreibt Einsamkeit als integralen Teil der queeren Existenz, die in Jugendjahren aus der Ausgrenzung durch Familie und soziales Umfeld, in späteren Jahren aus der Familien- und Ehelosigkeit resultiere, gleichzeitig aber auch viel mit der Suche und Akzeptanz der eigenen Identität zu tun habe. Diese Einsamkeit drücke sich etwa in Suizid aus, treibe »viele in die Arme der Prostitution« und sei entsprechend als Problem anzusehen. Männliche Sexarbeit, die sich an Männer richtet, ist damals ein kontrovers diskutiertes Thema in queeren Zeitschriften und wird auch von vielen queeren Personen als politisch und moralisch verwerflich angesehen.8 Das Problem der Einsamkeit, so der Autor, kann etwa durch »werktätige Nächstenliebe« in Form von zivilgesellschaftlichem Engagement – vor allem sich an andere queere, ähnlich empfindende Menschen richtend – gelöst werden. Er formuliert daher den Aufruf, sich an gruppenbildenden Aktivitäten zu beteiligen: Tatkraft, Zielgebung und ihre Umsetzung (auch im Arbeitskontext) können seinen Ausführungen nach aus der Einsamkeit herausholen oder zumindest von ihr ablenken. Mann beschreibt politischen Aktivismus in »Kampforganisationen«9 und klassische Handlungen des Community-Buildings10 , um sich mit Menschen zusammenzuschließen, welche er als näherstehend als Blutsverwandte benennt – ein Verbundenheitsgefühl, das aus gleicher Empfindung resultiert: ein heute als »Wahlfamilie« bekanntes Konzept. Er erörtert die Möglichkeit der Betätigung in Organisationen, deutet auf die Wichtigkeit von finanziellen Hilfen für Homosexuelle in sozialen Notlagen hin und zählt weitere Unterstützungsmöglichkei-

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Invertierte:r ist ein veralteter Begriff für eine gleichgeschlechtlich empfindende Person. Die Bezeichnung leitet sich von Inversion ab und wird als »Umkehrung des Geschlechtstriebs« definiert. Da dabei von einer »richtigen«, »normalen« Art der Anziehung ausgegangen wird, ist der Begriff nicht mehr in Verwendung. Vgl. J. Skinner (1997): Warme Brüder – kesse Väter, S. 19f. L. Mann (1921): Einsame Menschen. Vgl. M. Lücke (2008): Männlichkeit in Unordnung. Die politische Verwerflichkeit wird hier explizit in Ergänzung zur moralischen Verwerflichkeit verwendet, weil es in manchen Kreisen des politischen Kampfes (der öffentlichen Vertretung der politischen Interessen) stets um die heterosexuelle Sichtweise auf queere Menschen ging und entsprechendes Fehlverhalten damit im Prinzip (auch) als politisch strategischer Fehler gesehen wurde. Der Begriff der Kampforganisationen meint Organisationen zum Zweck des politischen Kampfes in Abgrenzung zu Organisationen etwa zur Freizeitgestaltung. Community-Building meint hier (ohne an dieser Stelle in die zugehörige Theoriedebatte einsteigen zu können) die Gemeinschaftsbildung über den Zusammenschluss mit anderen, die Bedürfnisse, Ziele oder Interessen teilen.

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Tabus überwinden: Betroffenenperspektiven auf Einsamkeit

ten auf.11 Interessanterweise richtet sich der Autor, wie durch seine Formulierungen erkennbar wird, an ältere, gesellschaftlich gut gestellte Männer, die – neben ihrer Zeit – auch schlicht Geld zur Verfügung stellen können, um andere Gleichempfindende zu unterstützen oder Startkapital für entsprechende Organisationen zur Verfügung zu stellen. Die Inserate »Arbeiter« (Abbildung 1), »Aelterer Herr« (Abbildung 2) und »Junger, verheirateter, kinderloser Herr« (Abbildung 3) zeigen Kontaktgesuche, in denen die Einsamkeit an prominenter Stelle innerhalb des Anzeigentextes steht. Die Männer der Inserate befinden sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten — als Arbeiter, Besitzer eines kleinen Landsitzes sowie Person in »erstklassige[n] Kreise[n]« — und suchen mithilfe der Beziehungsaufrufe nach Kontakt. Die Inserate nutzen gängige Formulierungen wie Freundschaft oder Freund, sind aber in heutigen Begriffen als Gesuche nach romantischer Liebesbeziehung und/oder sexuellen Kontakten zu verstehen. Der Wunsch nach Freundschaft im heutigen Sinne wurde in Inseraten mit Formulierungen wie »suche Anschluss« ausgedrückt. Die Inserate beziehungsweise Kontaktanzeigen sind bezahlte Einreichungen von Leser:innen der Zeitschrift, die über den Inhalt der Texte in großem Maße selbst bestimmen können. Die Redaktion wollte und durfte allerdings bestimmte – sexuell explizite – Inserate nicht abdrucken, um einerseits ihr Image als gesellschaftlich »einwandfrei« zu erhalten und sich andererseits vor der allgegenwärtigen Zensur zu schützen. Insbesondere derartige Inserate waren während ihres Erscheinungszeitraums mehrfach Grund für Zensurmaßnahmen gegen die Zeitschrift. Ab 1922 erschienen die Inserate einzig als Beilage exklusiv für Abonnent:innen. Innerhalb der Zeitschrift wurde außerdem umfangreich über die Inserate diskutiert. Hierbei wird stets betont, dass sie notwendig seien, um die Einsamen zu verbinden, und für viele die einzige Möglichkeit böten, Gleichgesinnte kennenzulernen.12 Per Inserat fanden die Männer einen anderen Umgang mit ihrer selbst dargestellten und dadurch offengelegten Einsamkeit. Die Inserate können also nicht nur ein Mittel zum Zweck sein, sondern bieten neben dem Ausdruck der inneren Gefühlswelt des Inserierenden auch eine Art Kontrastfolie für Gleichfühlende, die helfen kann, die Einsamkeit zu verarbeiten. Kontaktanzeigen sind im Kontext der Zeitschrift sehr bemerkenswert, da sie wie erwähnt redaktionell kaum bearbeitete Selbstdarstellungen Einzelner abbilden und daher besondere Einblicke in die Selbstwahrnehmung zulassen: Sie vermitteln einen diversen Eindruck unterschiedlicher Erfahrungshorizonte sowie Gefühls- und Lebenswelten der queeren Leserschaft sowie der Wahrnehmung von Einsamkeit in damaligen Kontexten.

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Als mögliche Betätigungsfelder nennt Mann beispielsweise die Invertierten- und Jugendbewegung, aber auch Wander- und Sportvereine, sogar Berufsberatung, Erziehungsfürsorge, Kapitalsbeteiligungen und geschäftliche Unterstützung. Vgl. H. Janus (1920): Inseraten-Unfug.

Leo Ryczko: Queere Einsamkeit in der Weimarer Republik

Selbst Texte wie der Aufruf »Einsame Menschen« sind ähnlich der meisten anderen Einreichungen aufgrund des schriftlichen Aufwands sowie ihrer redaktionell besonders kritischen Prüfung und entsprechenden Veränderung oder gar Anpassung an bestehende Auflagen dagegen höheren Hürden ausgesetzt. Der Text »Einsame Menschen« und die Inserate sind grundverschiedene Verweise auf den gleichen Umstand: Einsamkeit als queeres Thema. Die Zeitschrift ermöglichte ihren Leser:innen hierbei einen vielseitigen Umgang mit Einsamkeit sowie mit Gleichfühlenden: Anhand der Inhalte können sie wahrnehmen, dass es sich bei ihrer Einsamkeit nicht um ein individuelles Phänomen handelt. Durch Einreichungen können Gefühle öffentlich artikuliert und verarbeitet werden. Leser:innen können mit Kontaktgesuchen einzelne zwischenmenschliche Beziehungen herstellen. Durch die Darstellung der Organisationen wird ihnen ermöglicht, an Gruppenaktivitäten teilzunehmen, sich Ziele zu setzen, wie es in »Einsame Menschen« vorgeschlagen wird, und sich als Gleichfühlende zu verbinden. Dies wird erst durch die Wortwahl der Schreibenden in den Quellen selbst sichtbar. Im Folgenden werden daher für diese Betrachtung von Einsamkeit relevante Auszüge aus dem Text »Einsame Menschen« zitiert, bevor die Kontaktanzeigen in den Abbildungen 1 bis 3 wiedergegeben werden: »Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden!« […] Je sensitiver ein Mensch veranlagt ist, desto tiefer wird er die Schwere des Scheidens empfinden – – und da die Invertierten besonders sensible Naturen sind, so ist nicht verwunderlich, daß sie besonders unter der Tragik des Scheidens zu leiden haben und das »Einsam-werden« doppelt schwer empfinden. Wohl ist das Einsam-werden unser aller Los. Je länger wir leben, desto mehr Leid im Scheiden werden wir erleben. […] Während aber bei den Verheirateten das Bewußtsein des Einsamwerdens durch das Familienleben mit seinen Freuden, Leiden, Sorgen und Mühen bis ins hohe Alter kaum zum Bewußtsein kommt, ist der Invertierte oft schon in jüngsten Jahren zu einer seelischen Einsamkeit verurteilt, die sich durchs ganze Leben zieht. — Die Jugendjahre vergehen in bangen Kämpfen gegen die unselige Natur und der Hoffnung, daß es doch noch »anders« würde. Ist dann die Erkenntnis der entsetzlichen Gewißheit klar, dann ein scheues Zurückhalten und Verbergen — und bis er zum Entschluß kommt, nicht einsam verkümmern zu wollen — dann ist es zu spät! […] Wer nicht das Glück hatte, […] den Freund fürs Leben zu finden, der wird dann in den Jahren, wo der glückliche Philister und Spießer13 behaglich die Bier13

Philister:in oder Spießer:in meint im abwertenden Sinn – ebenso wie Spießbürger:in – eine engstirnige Person, die wenig Veränderung der Lebensumstände wünscht und im »normalen« Leben ohne Widerstand und kritischen Geist aufgeht. Das Volk der Philister bewohnte ab dem 12. Jahrhundert vor Christus die Küste des historischen Palästina.

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bank drückt, durch Frau und Kinder in Freud und Leid vor dem Gefühl des »Alleinseins« gesichert ist, im Gefühl tiefster [?] Verlassenheit und Einsamkeit in der Welt stehen. Diese Gemütsverfassung: Hoffnungs- und Ziellosigkeit in trostloser Einsamkeit dürfte die gefährlichste Zeit im Leben des Invertierten sein, die zu Selbstmord, Verzweiflung und viele in die Arme der Prostitution treibt […]. Nach einem mehr oder minder einsamen Leben, das kein Kinderlächeln, kein Familienglück erhellte, nun auch noch einen düsteren Lebensabend ohne Hoffnung und Ziel vor sich zu haben: das ist eine Tragik, von der sich die »Anderen« keine Vorstellung machen können. Aber auch hier gibt es Möglichkeiten, das verdüsterte Gemüt und den einsamen Weg aufzuhellen. […] Ein […] Weg zur Bekämpfung der mut- und hoffnungslosen Einsamkeit ist die werktätige Nächstenliebe mit besonderer Berücksichtigung der durch die gleichen Bande des Empfindens uns näher als die Blutsverwandten stehenden Menschen. Hier bestimmte Ziele setzen und an deren Erreichung arbeiten kann Vergessen der eigenen Leiden bringen in dem innerlich befriedigendem Bewußtsein, hilfreich und gut gehandelt zu haben. […] Aus dem Schatz reicher Lebenserfahrung in Geschäft, Beruf usw. jüngeren Artgenossen mitzuteilen, ihnen durch Stellenbeschaffung, Empfehlung oder finanzielle Unterstützung zu helfen: dadurch wäre einsam gewordenen Invertierten noch Möglichkeit gegeben, selbst ein alterndes Leben noch segensreich und inhaltsvoll zu gestalten. […] Daß das sicherste Mittel zum Vergessen eigenen Leides — das ist rastlose Arbeit und Beschäftigung — instinktiv schon längst erkannt und angewendet wird, das lehrt uns ein Blick ins tägliche Leben. Wo die Arbeit als befreiende Erlösung aus den seelischen Konflikten erkannt wurde, da finden wir sicher, daß gerade die »einsamen« Menschen in Berufserfüllung, Fortbildungsbetrieben, in wissenschaftlicher Betätigung als Forscher, Sammler usw. unermüdlich und erfolgreich sein können. […] Es seien […] besonders auch die älteren Invertierten auf das große Kampffeld aufmerksam gemacht, auf dem sich der Kampf um Anerkennung der Freundesliebe gegen Bosheit, Dummheit und um Beseitigung des berüchtigten Schmutzparagraphen abspielt, und der nur erfolgreich zu Ende geführt werden kann durch Zusammenschluß aller zu einer Einheitsfront. Schon der Haß gegen die Gesellschaftsordnung, die ihn zum Paria14 zu erniedrigen sucht und Mitschuld ist an seinem einsamen Leben, sollte jeden trotzig aufbäumen lassen, das eigene kleine Leid mit aller Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit abzuschütteln gegenüber dem großen Menschheitsleid so vieler Millionen Artgenossen und ihn

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Die Paraiyar sind Angehörige einer niedrigen Kaste in den südindischen Bundesstaaten Tamil Nadu und Kerala. Paria steht (daraus abgeleitet) im Deutschen für Außenseiter:in oder Ausgestoßene:r.

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veranlassen, sich mit in die Reihen der Kampforganisationen (Wissenschaftl.humanitäre Komitee und »D.F.V.«15 ) zu stellen, um bis zum letzten Atemzug für Wahrheit, Recht und Freiheit zu kämpfen. Ein Ziel vor Augen haben ist allein schon Antrieb zur Bewegung und Betätigung mit den daraus entsprießenden guten Folgen. […] Für jene […], die in mutlosem Schwanken und mit umdüstertem Gemüt wie im Finstern irren und nicht mehr aus und ein wissen, seien diese Zeilen Licht, das ihnen Wege und Ziel erhellt: Ziel setzen und erstreben ist alles! Und das Ziel »Befreiung der Freundesliebe«, dessen Erreichung auch die segensreiche Wirkung hätte, daß es weniger unglückliche, einsame Menschen gäbe, sollte für jeden Invertierten das leuchtendste aller Menschheitsziele sein!16

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Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) war eine Organisation, die sich politisch und gesellschaftlich aufklärerisch gegen § 175 RStGB einsetzte. Politisch nahm sie zum Beispiel per Unterschriftensammlungen Einfluss auf den Reichstag, während sie mit wissenschaftlichen Publikationen Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung leistete. Sie existierte 1897–1933. Vgl. V. Sigusch (2008): Geschichte der Sexualwissenschaft, S. 197–233. D.F.V. steht für »Deutscher Freundschaftsverband« und war ein reichsübergreifender Dachverband für lokale Organisationen queerer Menschen. Er wurde 1919 gegründet und löste sich 1934 auf. Der D.F.V. setzte sich ebenfalls und in Zusammenarbeit mit dem WhK und anderen Organisationen für die Abschaffung des Paragraphen § 175 RStGB ein. Außerdem veröffentlichte der D.F.V. unter anderem auch das hier betrachtete Magazin »Die Freundschaft«, welches auch zur Darstellung der unterschiedlichen lokalen Vereine diente. Vgl. S. Micheler (2005): Selbstbilder und Fremdbilder, S. 83–96. L. Mann (1921): Einsame Menschen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde auf Kennzeichnung von Abweichungen zu der heutigen Rechtschreibung, etwa bei »daß« oder »muß«, sowie fehlerhafter Kommasetzung oder Typographie durch [sic!] verzichtet. Im Sinne der originalgetreuen Wiedergabe erfolgt keine Korrektur. Anmerkungen des Autors sind in eckigen Klammern eingefügt.

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Abbildung 1: Kontaktanzeige eines Arbeiters auf der Suche nach einem »lieben Freund«, 1920.

Quelle: Die Freundschaft, Jahrgang 2, 1920, Heft 5, 29. Jan – 04. Feb.

Abbildung 2: Kontaktanzeige eines Älteren Herrns auf der Suche nach einem »jungen Menschen«, 1920.

Quelle: Die Freundschaft, Jahrgang 2, 1920, Heft 5, 29. Jan – 04. Feb.

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Herzensbildung würde man heute wohl mit emotionaler Intelligenz übersetzen, die allerdings auch die eigene Emotionalität beinhaltet (quasi ein ausgebildetes Herz).

Leo Ryczko: Queere Einsamkeit in der Weimarer Republik

Abbildung 3: Kontaktanzeige eines jungen, verheirateten, kinderlosen Herren auf der Suche nach einem »ebensolchen Herrn«, 1920.

Quelle: Die Freundschaft, Jahrgang 2, 1920, Heft 48, 04. – 10. Dez.

Transkript: »Junger, verheirateter, kinderloser Herr erst[klassige] Kreise, 36 J[ahre] alt, sucht, da er sich eins[am] fühlt, ebens[olchen] Herrn, mit dem er Inter[essens?]-Gemeinsch[aft] u[nd] Fr[eun]dsch[aft] schließ[en] kann, Seelenbildung18 erwünscht, da selbst angen[ehmer] Charakt[er], von guter Statur. Off[erte] u[nter] ›Herzensbund 15‹ an den Verlag des Blattes erbet[en].«

Literatur Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ISBN: 978-3-518-11722-4. Janus, Hans (1920): Inseraten-Unfug. In: Die Freundschaft, Nr. 26. Lücke, Martin (2008): Männlichkeit in Unordnung: Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer Republik. Frankfurt a.M.: Campus. ISBN: 978-3-593-38751-2. Mann, L. [sic!] (1921): Einsame Menschen. In: Die Freundschaft, 3. Jg., Nr. 39. Marhoefer, Laurie (2015): Sex and the Weimar Republic: German homosexual emancipation and the rise of the Nazis. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press. ISBN: 978-1-4426-2657-7. Mende, Bodo (1990): Die antihomosexuelle Gesetzgebung in der Weimarer Republik. In: Die Geschichte des § 175. Strafrecht gegen Homosexuelle, hg. v. Matthias Grimm, S. 82–104. Berlin: Rosa Winkel.

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Seelenbildung meint die Ausbildung der Seele unter Einbezug von Moral und Tugend – in diesem Kontext möglicherweise einen moralisch ausgereiften Charakter.

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Micheler, Stefan (2005): Selbstbilder und Fremdbilder der »Anderen«: eine Geschichte Männer begehrender Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Jg. 10. Konstanz: UVK. Plötz, Kirsten (1999): Einsame Freundinnen? Lesbisches Leben während der zwanziger Jahre in der Provinz. Hamburg: Männerschwarm. Sigusch, Volkmar (2008): Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt a.M.: Campus. Skinner, Jody (1997): Warme Brüder – kesse Väter: Lexikon mit Ausdrücken für Lesben, Schwule und Homosexualität. Essen: Die Blaue Eule.

Das Einsamkeitserleben von psychiatrischen Patient:innen1 Thomas Wagener (Knappschaftskrankenhaus Lütgendortmund) | Psychiatrie und Psychotherapie

In einer akutpsychiatrischen Station des Knappschaftskrankenhauses Lütgendortmund wurden psychisch erkrankte Menschen zum Thema Einsamkeit befragt. Aus datenschutz- und persönlichkeitsrechtlichen Gründen kamen nur Patient:innen in Frage, die zu Zeit, Ort und Person orientiert, also einwilligungsfähig waren. Es wurden mit insgesamt 15 Patient:innen Gespräche geführt, die zu diesem Zeitpunkt unter Depressionen litten, mit zehn von ihnen wurden Interviews aufgenommen. Bei der Auswahl der Patient:innen, deren Interviews hier verschriftlicht wurden, kamen diejenigen in Frage, die sich konsistent über die Wechselwirkung ihrer psychischen Erkrankung und ihres Einsamkeitserlebens äußerten und sich hierzu auch am stärksten öffnen konnten. Initial wurden sowohl männliche als auch weibliche Personen nach ihrer Bereitschaft zu einem Interview gefragt. Leider gab es zu diesem Zeitpunkt keine weiblichen Patientinnen, die aussagefähig waren oder sich zu

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Der Autor Thomas Wagener ist als Sozialarbeiter für die Erledigung behördlicher Regelungsbedarfe der Patient:innen zuständig, für die Kommunikation mit sozialpsychiatrischen Institutionen, die Vermittlung in Therapie- und Pflegeeinrichtungen sowie die Begleitung der Patient:innen zu diesen Einrichtungen oder in ihr Wohnumfeld. Nicht selten klären sich hier Fragen danach, ob die betreffende Person selbstfürsorgefähig ist, oder ob sie ambulante oder stationäre Hilfe benötigt. Häufig ergeben sich auch wertvolle Hinweise, inwieweit Psychiatriepatient:innen in ihrem Wohnumfeld wahrgenommen und beachtet werden, etwa ob eine nachbarschaftliche Fürsorge oder Konflikte bestehen – wichtige Faktoren für das Einsamkeitserleben von Personen, wie im Folgenden deutlich wird. Das Knappschaftskrankenhaus Lütgendortmund ist ein Allgemeines Krankenhaus mit einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Hier werden psychische Erkrankungen wie Depression, Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis, Demenzerkrankungen und Suchterkrankungen behandelt. Die Zusammenlegung einer Psychiatrie mit anderen körpermedizinischen Fachabteilungen soll in der öffentlichen Wahrnehmung eine Gleichstellung psychischer und somatischer Erkrankungen gewährleisten (mehr Informationen unter: https://www.klinikum-westfalen.de/Inhalt/Kliniken_Zentren_Bereiche_Kooperationen /Kliniken/Lu/Psychiatrie_Psychotherapie/index.php).

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einem Interview bereit fühlten. Dies ist der Grund für die ausschließlich männlichen Interviewpartner, deren Interviews in diesem Beitrag wiedergegeben werden. Eine geschlechterspezifische Beobachtung zum Einsamkeitserleben hätte hier sicher zusätzliche, interessante Aspekte liefern können. Zu allen Interviews, auch jenen, die in diesem Beitrag nicht abgebildet werden können, erfolgt im Folgenden sowie im Resümee eine zusammenfassende Gegenüberstellung und Analyse. Es handelt sich hierbei nicht um eine Erhebung, aus der wissenschaftliche Evidenzen abgeleitet werden können. Der zu Grunde liegende Interviewleitfaden wurde nicht hinsichtlich einer erkenntnisleitenden Fragestellung erstellt, sondern dient bewusst nur der Rahmengebung des Themas Einsamkeit, wobei den Patient:innen die Freiheit des Erzählens gelassen werden sollte. Diese Befragung sollte darüber hinaus dazu anregen, weiterführende Fragen zu entwickeln. Um die Patient:innen nicht zu Aussagen zu bewegen, die sie ohne anderes Zutun nicht getätigt hätten, hat sich der Interviewer während der Gespräche um Neutralität bezüglich ihrer Aussagen bemüht. Was gesagt wird, wird geglaubt; es wird zwar nachgefragt, aber nicht hinterfragt. Ein Hinterfragen hätte suggestiv das Gespräch in eine interessengeleitete Richtung des Interviewers lenken können. Die Interviews sind in diesem Beitrag teilweise gekürzt und für die Leser:innen sprachlich aufgearbeitet wiedergegeben. Eine inhaltliche Anpassung ist allerdings nicht erfolgt. Sprachliche Eigenheiten, Denkpausen sowie emotionale Einschübe und inhaltliche Sprünge sind der Interviewsituation entsprechend wiedergegeben, um den Schilderungen des Einsamkeitserlebens möglichst gut folgen zu können und den Interviewten mit ihren Aussagen wie Empfindungen Rechnung zu tragen. Die Interviews sind anonymisiert, bei persönlichen Angaben ist darauf geachtet worden, dass keine Rückschlüsse möglich sind. Triggerwarnung: Die folgenden Interviews beinhalten Darstellungen von Suizidversuchen der Patienten. Es sei hier dringlich darauf hingewiesen, dass Menschen, die sich in einer suizidalen Krise befinden, einem Nachahmungseffekt unterliegen können, wenn sie derartige Darstellungen lesen. Suizidale Gedanken haben fast immer einen pathologischen Hintergrund, der in aller Regel gut behandelt werden kann. Wer sich also in diesem Augenblick angesprochen fühlt, möge die Lektüre dieses Beitrags abbrechen und erste Ansprechpartner:innen unter der Rufnummer 0800/111 0 111 (TelefonSeelsorge) finden.

Einsamkeit, soziale Strukturen und psychische Erkrankungen Bereits Vorgespräche mit den Patient:innen zeigten, dass eine psychische Erkrankung nicht notwendigerweise ein unmittelbarer Auslöser von sozialer Isolation

Thomas Wagener: Das Einsamkeitserleben von psychiatrischen Patient:innen

und/oder Einsamkeit ist. Soziale Isolation kann auch aus der Absicht, sich selbst zu schützen, oder durch ein negatives Selbstkonzept entstehen. »Man möchte sich der Gesellschaft nicht zumuten«, hieß es in einem Gespräch. Nach Gefühlen von Einsamkeit befragt, verneinte eine Patientin mit einem über die Frage erheiterten Unterton; im Gegenteil, sie führe sogar ein gesellschaftlich sehr reges Leben. Im Verlauf der Behandlung kristallisierten sich jedoch Lebensumstände heraus, die das Gegenteil vermuten ließen. Der intensive Kontakt mit den Kindern stellte sich als ein schwerer Konflikt wegen problematischen Alkoholkonsums der Patientin dar, was auch ihr Arbeitsleben gefährdete. Nun mag diese Patientin andere Probleme als ein Einsamkeitserleben gehabt haben, wenn nicht Scham als Grund der Verneinung von Einsamkeit vorlag. Es kann aber auch vermutet werden, dass dysfunktionale Beziehungen von einigen Patient:innen selbstwertdienlich in gesellschaftlich aktive Lebensstile uminterpretiert werden. Ein 40-minütiges Interview mit einer knapp 70-jährigen, an schwerer Depression leidenden Patientin ergab nur sehr wenige Hinweise auf ein essenzielles2 Einsamkeitserleben, obwohl das Thema in Vorgesprächen deutlich mit ihr besprochen worden war. Die Darstellung ihrer gegenwärtigen Lebenslage war angefüllt mit gesellschaftlichen Aktivitäten, die von intensiver nachbarschaftlicher Hilfe und Unternehmungen bis hin zu ehrenamtlichen Tätigkeiten reichte. Abschließend wurde sie erneut gefragt, ob sie sich denn einsam fühle, worauf sie antwortete: »Eigentlich nicht!« Kurz nach Entlassung wurde die Patientin erneut in einem sowohl seelischen als auch körperlich bedenklichen Zustand aufgenommen. Dem Bericht einer Angehörigen zufolge ist die Lebenslage der Patientin von einer eklatanten sozialen Isolation geprägt. Die Freundinnen, mit denen sich die Patientin in ihrer eigenen Darstellung regelmäßig trifft, meldeten sich höchstens einmal im Jahr telefonisch. Eine Mitte 60-jährige Patientin kam wegen einer schweren depressiven Episode zu uns. Von ihr war durch Voraufenthalte bereits bekannt, dass sie sozial sehr isoliert und von ihrem Ehemann getrennt lebte. Zu einem Interview kam es nicht, da sie die Frage nach Einsamkeitsgefühlen ohne Umschweife verneinte. Wochen nach der Entlassung wurde sie von einem Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes in der Wohnung aufgesucht. Ihr gesundheitlicher Allgemeinzustand hatte sich nach Aussage des Mitarbeiters derart verschlechtert, dass sie nur noch auf den Knien rutschend die Wohnungstür öffnen konnte. Nach eigenen Aussagen hatte sie zu nichts mehr Kraft gehabt, nicht mal mehr zur Nahrungsaufnahme. Wochen nach der erneuten Aufnahme in die Klinik wurde sie wieder nach Einsamkeit befragt, worauf sie glaubwürdig versicherte, Einsamkeit sei nicht ihr Problem.

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Essenziell wird hier im Sinne der bildungssprachlichen Verwendung des Wortes (wesentlich) verstanden, nicht im Sinne der philosophischen (wesensmäßig) oder gar der medizinischen (nicht symptomatisch für eine bestimmte Krankheit, sondern ein eigenes Krankheitsbild darstellend, selbstständig) Verwendung.

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Ein anderer, Mitte 40-jähriger Patient, der an einer schweren Alkoholabhängigkeit litt, bestritt Einsamkeit für seine Lebenslage rundheraus. Dies mag in seiner Ehefrau und seinen zwei Kindern begründet gewesen sein, mit denen er zu diesem Zeitpunkt noch zusammenlebte und die aktiv an der Bewältigung seiner Suchtproblematik beteiligt waren. Um seine Familie vor den Auswirkungen seines problematischen Alkoholkonsums zu schützen, und sicher auch, um den entstandenen familiären Konflikten zu entgehen, bezog er eine eigene Wohnung. Er äußerte die Hoffnung, mit der Verselbstständigung, der neuen Wohnung und dem sozialpsychiatrischen Hilfsnetzwerk seine Suchterkrankung in den Griff zu bekommen. Jedoch verstarb er, nachdem er alkoholintoxikiert in eine nahegelegene Klinik eingeliefert worden war. Die Selbstaussage des Patienten, nicht einsam zu sein, wurde respektiert und nicht weiter hinterfragt. Sicher entsprach dies auch dem Erleben des Patienten in dem Augenblick, in dem er gefragt wurde. Jedoch ist die Frage vermutlich nicht weit hergeholt, ob der wiederholte Griff zur Flasche, zumal in einem lebensbedrohlichen Ausmaß, nicht zu den einsamsten Entschlüssen gehört, die ein Mensch treffen kann. Dies zeigt, wie schillernd der Begriff »Einsamkeit« ist und eröffnet ein weites Feld, die Graustufen der Einsamkeit weiter zu erforschen. Sind Menschen auch dann einsam, wenn sie es gar nicht so empfinden, die Lebensumstände für Außenstehende aber deutlich darauf hinweisen? Oder ist man erst dann einsam, wenn man sich wirklich einsam fühlt? So gab es Patienten, in deren Beschreibungen gesunde, wenn auch reduzierte, soziale Strukturen erkennbar waren. Bei zwei im Rentenalter befindlichen Patienten entstand der Eindruck, dankbar zu sein, sich einmal alles von der Seele reden zu dürfen: Sie gingen weniger auf die Fragen ein, sondern erzählten, was ihnen in diesem Moment besonders wichtig erschien. Aus ihren anekdotischen Alltagserzählungen ließ sich ein nicht unerheblich aktives Sozialleben erkennen. Es wurde von den regelmäßigen Aktivitäten zusammen mit dem Enkel berichtet oder dem Stolz auf die Töchter, zu denen ein enger Kontakt bestehe, obwohl diese einen anspruchsvollen Beruf ausübten. Auch unterhielte man einen regen Kontakt zu den Nachbar:innen. Beide Patienten waren durch einen geselligen Persönlichkeitsstil geprägt und fielen durch ein durchaus uneigennütziges Interesse an Mitmenschen und auch die Fähigkeit zur Perspektivübernahme auf. Trotz dieser Ressourcen wurden beide wegen Suizidalität aufgenommen, und beide gaben als Grund ein starkes Einsamkeitserleben an, nicht zuletzt durch den Verlust ihrer Ehefrauen. Ein 50-jähriger Patient, der bereits bei Aufnahme unaufgefordert starke Einsamkeitsgefühle angab, berichtete von einem vorhandenen Freundes- und Bekanntenkreis, von dem er sich aber wegen Reizüberflutung und Freizeitstress zurückziehe, obwohl er gegenwärtig einen Lebensgefährten stark vermisse. Bisher wurde von Patient:innen berichtet, die ein Einsamkeitsempfinden verneinen, jedoch in sozialer Isolation leben. Dann von denen, die zwar nicht nennens-

Thomas Wagener: Das Einsamkeitserleben von psychiatrischen Patient:innen

wert sozial isoliert waren, aber an einem nicht unerheblichen Einsamkeitserleben leiden. Von den Patient:innen, die Einsamkeitserleben und soziale Isolation angaben, sollen nun vier Interviews wiedergegeben werden. Es handelt sich hierbei um Patienten im Alter zwischen 23 und 68 Jahren. Alle vier befanden sich zum Zeitpunkt der Befragung in grundlegend verschiedenen Lebenslagen.

Interview Patient 1 Der 23-jährige Patient befindet sich seit mehreren Wochen wegen Depression und Suizidalität in der Klinik. Er lebt zusammen mit dem Vater. Die beiden stehen in einem zerrütteten Verhältnis zueinander, sodass eine Rückkehr das Befinden des Patienten drastisch verschlechtern würde. Seine vielen Krankenhausaufenthalte führten dazu, dass er trotz augenscheinlich hoher Intelligenz nur über einen Hauptschulabschluss verfügt. Nach dem Krankenhausaufenthalt soll der Patient in eine Therapieeinrichtung für junge Erwachsene aufgenommen werden. Seine Ziele sind Verselbstständigung durch eigene Wohnung, Nachholen der Schulabschlüsse und Erlernen eines Berufes, möglichst in einem pädagogischen Bereich. Fühlen Sie sich einsam? Ja, schon sehr. Ist schon sehr lang so, es hat angefangen, als ich früher in der Schule gemobbt wurde. Wie würden Sie Ihre Einsamkeit beschreiben? Man hat keinen, wo man sich irgendwie zugehörig fühlt, weder Familie noch Freunde. Die Einsamkeit an sich zu beschreiben ist ziemlich schwierig. Es ist eine emotionale Einsamkeit. Wenn man mit Leuten unterwegs ist, ist das nicht gleich, dass man nicht einsam ist. Man muss sich schon mit sich selbst identifizieren können und so auch Gemeinsamkeiten mit anderen haben. Wer sind Ihre vertrautesten Mitmenschen? Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Zu meiner Schwester ist das Verhältnis sehr oberflächlich. In der Vergangenheit hat sie Sachen getan, die ich nicht nachvollziehen kann. Und es ist auch so, dass sie ziemlich viel über mich redet. Es wird ständig über mich geredet, aber nie mit mir. Es gab Situationen, in denen sie mit meinem Vater im Wohnzimmer über mich geredet hat und der Meinung war, dass ich das nicht höre. Es wird halt mehr oder weniger gelästert, hauptsächlich über meine Krankheit. Die machen sich halt ziemlich über mich lustig und verharmlosen das. Sie tut das, um sich vor meinem Vater besser darzustellen, sie ist ziemlich egoistisch. Die

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einzige Person, wo der Kontakt bestehen geblieben ist, ist die Freundin …3 vor vier Jahren in der Klinik. Sie hatte den Kontakt abgebrochen, sich dann aber wieder gemeldet. Seitdem schreiben wir wieder. Ansonsten war ich vor zwei Jahren in einer Maßnahme4 , da kenn’ ich noch drei Personen. Mit einem hatte ich noch regelmäßiger Kontakt, aber ich wollte mich nicht mehr mit ihm treffen, da er ein ziemliches Problem mit Marihuana hat. Ich hab’s auch ausprobiert, aber … bei ihm geht’s halt nicht ohne, und das finde ich halt sehr schade. Es gibt noch eine Person, auch ziemlich schwierig, das war in ’ner Maßnahme. Kompliziert wurde es, als sie mir gegenüber geäußert hat, dass sie Gefühle für mich hat … sie hat Borderline, meine Schwester übrigens auch … ja sie versucht halt den Kontakt für sich zu gewinnen, ist auch sehr eifersüchtig, eigentlich hätte sie kein Recht dazu, eifersüchtig zu sein. Nach der Maßnahme hat sie den Kontakt abgebrochen, weil der Freund es verboten hatte, aber sie hat sich ständig wieder gemeldet, immer dann, wenn sie getrunken hat. Erzählt dann Sachen, und am nächsten Tag kann sie sich nicht mehr daran erinnern, ob das wahr ist, weiß ich nicht. Ich wollte sie nicht als Freund verlieren, wollte den Kontakt beibehalten, aber es führte nur zu Problemen. Sie war eine Person, die mich so akzeptiert, wie ich bin. Wir haben uns gut verstanden und konnten über alles reden. Irgendwann war es dann nicht mehr so, dann ist da so eine Blockade zwischen einem. Weil da ziemlich viele ungeklärte Sachen sind. Ich denk drüber nach, wie es wäre, wenn ich mich anders verhalten hätte. Wie geht Ihr Umfeld mit Ihrer gegenwärtigen Situation um? Na ja, mein Vater … leider nicht im positiven Sinne. Bei ihm habe ich schlichtweg das Gefühl, dass er es gar nicht verstehen möchte. Er hat schon des Öfteren gesagt, dass das nur eine Ausrede wäre. Ja, dass ich faul wäre, ein egozentrisches Arschloch, da habe ich schon einiges gehört. Ich stell mir dann nur die Frage, warum ich mir so ein Leben aussuchen sollte, und was ich dann davon hätte, in dem Zustand zu leben, in dem ich jetzt bin. Es ist nicht einfach, an sich zu arbeiten, wenn man so gar keine Unterstützung von der Familie kriegt. Also hier in der Klinik weiß ich, dass ich Unterstützung krieg’, aber sobald ich hier raus bin, weiß ich, dass ich auf mich allein gestellt bin und auch keinen habe, an den ich mich wenden könnte. Empfinden Sie Einsamkeit auch als etwas Positives? Nee, also das gar nicht, ich weiß nicht, ob ich es vermissen würde, wenn es nicht so

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Denkpausen der Interviewten werden mit drei Punkten angegeben, Einschübe durch den Autor sind mit drei Punkten in eckigen Klammern gekennzeichnet. Auf die Einfassung der Denkpausen in Klammern wurde für einen erhöhten Lesefluss und eine bessere Nachempfindung der Situation verzichtet. Gemeint ist eine soziale Eingliederungsmaßnahme für junge Erwachsene.

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wäre. Aber da ich jetzt ziemlich viele Jahre alleine bin, möchte ich eigentlich nichts lieber, als gar nicht mehr einsam zu sein. Gibt es irgendwas, das Sie gegen Ihre Einsamkeit tun? Ja, also im Rahmen meiner Möglichkeiten zumindest, ich habe soziale Ängste, was ich dafür tun könnte ist, offener auf Menschen zuzugehen, aber da habe ich große Probleme mit. Ich habe relativ viele negative Gedanken, wenn ich so in der Öffentlichkeit bin. Ich habe irgendwie so das Gefühl, als ob ich ein Tiger im Käfig wäre, und die Leute mich so angucken. Ich fühl mich sehr unwohl, ich habe auch oft Schweißausbrüche, das war früher viel extremer, da hatte ich auch Panikattacken, da war es schon eher ’ne Phobie. Mittlerweile bin ich froh, dass ich so ganz gut zurechtkomme, es ist auf jeden Fall noch ’ne Menge Arbeit, meine sozialen Ängste in den Griff zu kriegen. Bei einzelnen Personen fällt es mir weniger schwer, Gespräche zu führen, sobald es eine Gruppe ist, stehe ich eigentlich nur daneben, hör’ halt zu, aber sag’ so gar nichts, nur, wenn ich angesprochen werde. Empfinden Sie Scham wegen Ihrer Einsamkeit? Ja also, ich weiß nicht, ob ich es als Scham bezeichnen würde. Ich weiß, dass es weit hergeholt ist, dass sich jeder Gedanken über mich machen würde, aber die Gedanken sind auf jeden Fall da, und die beeinflussen mich auch richtig. Ich habe ständig das Gefühl, dass ich mich für das, das ich grad’ mache, rechtfertigen müsste, aber auch das ist eigentlich nicht der Fall, und selbst wenn andere schlecht über mich denken würden, sollte man eigentlich darüberstehen können, muss man sich ja nicht zu Herzen nehmen. Bei Freunden ist das noch mal was anderes. Also ich bin auch ein sehr kritikfähiger Mensch, allerdings kann das nur dann passieren, wenn die Personen auf einen selbst zukommen und das ansprechen. Ich bin auch sehr unzufrieden mit mir selbst, wahrscheinlich sind auch daher so viele negative Gedanken da. Ich habe oft das Gefühl, dass mich die Leute überschätzen. Aber das ist halt auch Ansichtssache. War Einsamkeit auch vor Ihrer Erkrankung ein bestimmendes Thema Ihres Lebens? Also meine Kindheit war ziemlich gut, ich hatte relativ viele Freunde. Ich hatte einen besten Freund, der war mein Nachbar, ich bin super zurechtgekommen in der Schule, bis sich meine Eltern getrennt haben. Da wurde gerichtlich entschieden, dass meine zwei Geschwister zu meinem Vater gehen und ich bei meiner Mutter bleibe. Da fing das an, da hatte ich auf einmal keine Geschwister mehr. Meine Mutter wollte wegziehen. Da konnte ich den Kontakt zu meinen besten Freunden nicht mehr aufrechterhalten. Meine Mutter ist irgendwie jedes Jahr umgezogen, ich weiß bis heute nicht warum. Dadurch hatte ich nie feste Freunde, ich denke oft darüber nach, wie es wäre, wenn ich damals mit meinen Freunden von der Grundschule auf eine weiterführende Schule gegangen wäre, wie das dann verlaufen wäre. Irgendwann war’s

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dann in der siebten Klasse, dass ich sehr stark gemobbt wurde, ich hatte Schwierigkeiten zu Hause, mein Halbbruder hatte auch bei uns gewohnt, den musste ich jeden Morgen in den Kindergarten bringen und abholen, dadurch hatte ich gar keine Zeit, mit Freunden etwas zu machen. Als ich dann in der Schule gemobbt wurde, war das irgendwann so schlimm, dass ich jeden Tag geschlagen wurde. Ich bin dann irgendwann nicht mehr zur Schule gegangen, bin dann aus dem Haus gegangen und hab’ mich irgendwo ’rumgetrieben, dass meine Mutter davon nichts mitbekommt. Da war ich elf oder zwölf. Ich habe dann ziemlichen Ärger von meiner Mutter bekommen. Ich habe noch Bilder im Kopf, sie hat mich geschlagen und auch gebissen. Sie hat mich dann persönlich in den Klassenraum gebracht, wollte von meinen Schwierigkeiten gar nichts wissen. Einmal habe ich einen Schulverweis bekommen, weil ich mich einmal gewehrt hatte, da habe ich jemanden den Kopf in den Schnee gedöppt, das war wohl so schlimm, dass er hätte ersticken können. Alle, die drumherum waren, haben gesagt, dass ich grundlos auf ihn losgegangen wäre. Ich bin dann von Zuhause abgehauen, zu meinem Vater, aber auch da hatte ich das Gefühl, dass ich nicht erwünscht bin. Und dann bin ich … hatte ich meinen Suizidversuch. Dann hatte ich Antidepressiva eingenommen.5 Das hatte mein Vater nachts irgendwie mitbekommen, dass ich rausgegangen bin, hatte mich dann irgendwo auf ’ner Parkbank gefunden, da war ich 13. Auf jeden Fall ging’s von da an ziemlich schnell, bin von da aus in die Geschlossene6 gekommen. Seitdem bin ich regelmäßig in Kliniken, hab’ die siebte Klasse nie abgeschlossen. Ist auch so’n Punkt, der mich stört, da ich noch einiges nachzuholen habe. Wie haben Ihr Vater und Ihre Mutter auf den Selbstmordversuch reagiert? Mein Vater war ziemlich geschockt, wusste auch nicht, wie er darauf reagieren sollte. Mein Vater ist auch nicht der empathischste Mensch. Man hat auf jeden Fall gesehen, dass ihn das mitgenommen hat. Was ich von meiner Mutter nicht sagen kann. In der Geschlossenen wurde beschlossen, dass ich zum Vater ziehe. Dann wollte ich Sachen holen, um zu meinem Vater zu ziehen, und da stand ich schon vor einem leeren Haus. Seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu meiner Mutter. Mittlerweile weiß ich, dass sie an der Ostsee wohnt, wo sie zwei Restaurants hat. Ja, ist schon traurig, dann zu hören … vor allem, dass sie auf dem Papier als Angestellte geführt wird, damit sie ja keinen Unterhalt zahlen muss. Aber das versteh’ ich bis heute noch

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Der Patient gibt hier eine Art und Dosierung des Medikamentes an, die auf einen nicht nur appellativen Charakter des Suizidversuches schließen lässt. Um Nachahmungseffekte zu vermeiden, wurden die Angaben entfernt. Gemeint ist eine unfreiwillige Unterbringung in einer Psychiatrie nach richterlichem Beschluss bei Selbst-und/oder Fremdgefährdung.

Thomas Wagener: Das Einsamkeitserleben von psychiatrischen Patient:innen

nicht, warum man drei Kinder in die Welt setzt und die dann verlässt, ohne was zu sagen, einfach den Kontakt abbricht. Was, glauben Sie, ist der Grund Ihrer Einsamkeit? Ich denke, es spielen viele Aspekte ’ne Rolle, zum einen meine sozialen Ängste, zum anderen die negativen Gedanken und dann, wenn’s mir schlecht geht, ich dazu neige, mich zurückzuziehen. Es fühlt sich manchmal auch so an, als hätte ich zwei Persönlichkeiten. Es ist irgendwie ganz anders, wenn ich schlecht drauf bin, ich verstehe einfach nicht, wie da so gewaltige Unterschiede sein können. Man ist übermotiviert, man möchte wirklich vorankommen, an sich arbeiten, dann hat alles keinen Sinn mehr, man möchte alles wegschmeißen. Ich weiß nicht, woher das kommt. Das, was mir am meisten Angst bereitet – so gut wie’s grad läuft, weiß ich, wenn’s nicht mehr so gut läuft, ich keine Motivation habe. Da brauche ich auf jeden Fall Leute, die mir da raushelfen. Ich würde mich auf jeden Fall gern anders verhalten. Es kann ja nicht nur Schlechtes haben, in Kliniken zu sein, man ist halt dementsprechend reflektiert. Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf, und wie durch ein Wunder sind alle Probleme, wegen derer Sie hier sind, verschwunden. Woran würden Sie das merken? Tja, wahrscheinlich daran, dass man sich nicht über jede Kleinigkeit den Kopf zerbricht. Dass ich nicht von meinen Ängsten eingeschränkt bin, dass ich positiv bin und auch an die Zukunft denke. Das tu’ ich jetzt auch, aber das ist das einzige, das mich noch am Leben hält. Ja, und die Einsamkeit müsste auch weg sein. Dass ich einen Job habe, eine eigene Wohnung, einen Führerschein, im Idealfall eine Frau, ja, und Freunde. Die Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Ich bin sehr sicher, dass ich es erreichen könnte, aber ich weiß auch, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist und dass man manche Sachen eher weniger beeinflussen kann, ich kann schlecht jemanden dazu zwingen, mich zu lieben oder mir Zuneigung zu schenken. Es muss halt von sich aus kommen. Ich hoffe, das bringt so die Zeit mit sich.

Interview Patient 2 Der 68-jährige Patient lebt alleine in einer Reihenhaussiedlung. Er befindet sich zum Zeitpunkt der Befragung in einer schweren depressiven Episode. Bei einer Wohnungsbegehung durch den Sozialdienst des Krankenhauses wurden Verwahrlosungstendenzen deutlich, die durch den schlechten gesundheitlichen Allgemeinzustand des Patienten zu erklären sind. Zum Zeitpunkt des Interviews war der Sozialdienst daher in Absprache mit dem Patienten auf der Suche nach einer betreuten Wohnform, die inzwischen gefunden werden konnte.

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Fühlen Sie sich einsam? Ja. Ich habe keinen, mit dem ich über meine Emotionen reden kann. Ob Funk, Fernsehen oder Tagesgeschehen, das muss ich immer alleine verarbeiten. Wie würden Sie Ihre Einsamkeit beschreiben? Ob Fußball, privat oder politisch, irgendwas Besonderes, was mir am Herzen liegt, ich habe keinen, mit dem man reden, wo man die Emotionen mal rauslassen kann. Ich war eigentlich immer ein emotionaler Mensch und ja, das nagt immer, nicht sprechen, nicht reden zu können. Ich habe teils Wochen, da habe ich keinen Menschen zum Reden, aber das Bedürfnis habe ich nun mal, wie ich denke, auch jeder Mensch. So bin ich im Prinzip ganz alleine. Ich stamme nicht aus Dortmund, ich habe hier gearbeitet, und so schlage ich mir die Zeit um die Ohren, mit Fernsehen, Sudoku und unregelmäßigem Leben. Das heißt, aufstehen und schlafen, wann ich Lust habe, ich mach mir nichts zu essen, was mir auch geschadet hat, das muss ich zugeben, aber ich habe mich darauf eingerichtet und versuche nun damit umzugehen. Wer sind Ihre vertrautesten Mitmenschen? Meine vertrautesten Mitmenschen, das ist eindeutig meine ältere Schwester, allerdings, die wohnt weit weg und wir haben Kontakt über Handy, aber das ist das einzige, was gewachsen ist. Ich hatte vorher nie guten Kontakt zu ihr, aber das hat sich so entwickelt. Wie geht Ihr Umfeld mit Ihrer gegenwärtigen Situation um? Es gibt kein Umfeld, das einzige Umfeld ist meine ältere Schwester. Meine Kinder, meine Enkelin kann es noch nicht wissen, die interessiere ich nicht mehr. Sie haben es meiner älteren Schwester einmal gesagt, weil ich meine Schwester mal gebeten habe, meine Kinder über meinen Zustand zu informieren. Das interessiere sie nicht, und das lässt mich sehr alleine fühlen, und das belastet mich. Meine Nachbarn sind alle einsam und alleine wie ich, aber die scheinen noch etwas Kontakt zur Familie zu haben. Der eine hat seinen Sohn regelmäßig zu Besuch. Mein direkter Nachbar, kann ich nicht genau sagen, er scheint auch Besuch zu haben, aber ich kann nicht genau sagen, wie es ihm wirklich geht. Und ich lebe meinen Stiefel.7 Ich kann unten zu dem manchmal gehen, wenn ich etwas habe, einen Wunsch, er versucht es nach bestem Wissen zu machen. Empfinden Sie Einsamkeit auch als etwas Positives? Nein, wüsste ich nicht, wie mich das positiv begleiten sollte, ist einfach negativ, man 7

Dabei handelt es sich um eine Redewendung, die so viel heißt wie: »Ich lebe nach meiner Art!«.

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ist alleine und – verblöden ist nicht der richtige Ausdruck – man verfremdet, man geht nicht mehr mit der Zeit, man hat nichts; ich habe früher mit vielen Jugendlichen im Sport gearbeitet und auf einmal ist nichts, kein Bekannter mit dem man reden oder was tun kann. Ich bin ein spezieller Mensch geworden, ich brauche einen Bestimmten, ich geh’ nicht auf die Menschen ein, es muss eine bestimmte Spezies sein, auch nicht zu dumm, ich habe auch keine Lust, mich dauernd über Fußball zu streiten. Gibt es irgendwas, das Sie gegen Ihre Einsamkeit tun? Ich habe es voriges Jahr einmal versucht. Hier ist ein Café, da bin ich regelmäßig im Sommer hingegangen, habe mir meinen Kaffee getrunken, habe mich draußen hingesetzt. Da war meine finanzielle Situation noch etwas besser, da war die Miete noch nicht so hoch. Ein Kännchen Kaffee und dann die Busfahrt hin und zurück. Das sind dann zehn Euro, das war mir zu viel und ich habe gemerkt, mich spricht keiner an, mich guckt keiner an. Liegt es an mir oder an meinem Sudoku, dass man mich nicht stören will, wusste ich nicht, aber das hat mir auch nichts gebracht, also bin ich zu Hause geblieben und hab’ mir das Geld gespart, ja, so sitze ich zu Hause. Ich wollte eigentlich meinen Sommer auf dem Balkon nutzen, aber habe ich auch wieder nicht gemacht. Ich weiß nicht, warum, eine Trägheit, eine Lustlosigkeit war es. Ich weiß es nicht, so in der Richtung würde ich das definieren. Die anderen sitzen und lusten da unten ’rum, haben Spaß und haben sich gefunden. Mich zu den netten Mädchen zu setzen, das ist nichts für mich, und dann das siebte Rad am Wagen zu sein, das ist nicht meine Art, ja, so bin ich eben seltener auf dem Balkon gewesen. Das hat dieses Jahr angefangen, da haben die Damen mal angefangen, Tische und Stühle rauszustellen, zu grillen, miteinander, die wohnen hier wohl schon länger und kennen sich wohl auch schon länger. Ich weiß nicht mal, ob ich sie grüßen soll, wenn ich mich daran vorbei versuche zu schleichen, kann ich nicht beurteilen, mir fällt es schwer, mich dazuzugesellen. Das ist eine Sympathie, die ich für die Leute haben muss, und das ist nicht meine Sympathielänge, die ich habe, leider. Ich störe mich manchmal darüber, dass ich so oberflächlich bin, oder so arrogant, aber ich kann es nun leider nicht ändern. Empfinden Sie Scham wegen Ihrer Einsamkeit? Scham, ist das der richtige Ausdruck? Mich kennt man, wenn, dann nur von der schlechten Seite, wenn ich abends nach Hause getorkelt bin, aus der Kneipe, das wird wohl am ehesten bei den Mitmenschen hängen geblieben sein. Ich bin mittlerweile abgestumpft dagegen, was man über mich denkt und spricht, das kann ich sowieso nicht verhindern, es stört mich nicht mehr, früher hat es mich immer gestört, weil ich auch nicht mehr so bekannt bin wie in meiner alten Heimat.

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War Einsamkeit auch vor Ihrer Erkrankung ein bestimmendes Thema Ihres Lebens? Ja, auch wenn ich es nicht gemerkt habe, das war in jungen Jahren, die Eltern haben mit uns nichts unternommen, es gab kein’ Urlaub, keine Ausflüge und nichts, aus finanziellen Gründen, es war einfach nur zu Hause, in den vier Wänden, und nix. Als mein Vater nicht mehr lebte, konnten wir unser Leben selber aussuchen, das war frei sein, wie ich es wollte und auch leben für meine Verhältnisse. Ich bin immer gerne auf die Kirmes gegangen, Musik gehört und die Menschen beobachten, das war für mich hochinteressant. Konnte stundenlang auf Karussells sitzen, auch wenn ich kein Geld mehr hatte, einfach nur dasitzen und zugucken. Viel Bekannte hat man nicht getroffen. Hat mir nichts ausgemacht. Ich war am Ende zu oberflächlich. Es gab ja auch nichts anderes, da konnte ich auch nichts vermissen, und wie es war, war es gut. Vielleicht war ich ein bisschen oberflächlich, überheblich, weil ich dachte, bei unserer Familie wäre alles in Ordnung, was sich später herausstellte, war es nicht, das hat mich sehr beschämt, hat mich auch bescheidener werden lassen, respektvoller. Es gab keine Harmonie, es gab keine Anerkennung, es gab keine Liebe, alles das, was man im jugendlichen Alter vielleicht vermisst, unbewusst. Diese Herzlichkeit, die man schon mal bei anderen Leuten gesehen hat, die gab es nicht bei uns. Kein »Danke« und so, das hat sich auch zwischen uns Kindern niedergeschlagen, das hat mir sehr gefehlt. Ich kann heute mit Liebe nichts mehr anfangen, ich bin zu alt es zu lernen und weiß nicht, auf die Menschen zuzugehen. Ich erzähle es jetzt das erste Mal, voriges Jahr ist es mir richtig aufgefallen, dass ich meine Tochter … ich hatte mehr Angst wie Liebe dafür, weil ich nicht wusste, wie gehst du damit um. Bei den ganzen Geschichten zwischen Vätern und Töchtern habe ich mich nicht getraut, meine Tochter mal so zu behandeln, wie eine Tochter behandelt werden möchte, und das tut mir leid und kann es leider nicht mehr richten. Wir leben damit, wir leben hoffentlich gut damit, ich glaub es aber nicht, und so haben wir uns sehr entfremdet. Sie konnten Ihrer Tochter nicht die Liebe geben, die Sie als Kind nicht empfangen haben? Genau so! Gute Nacht, ins Bett, vielleicht noch ein Kuss, aber was vorlesen et cetera, was man so schön im Fernsehen sieht, was auch für mich dazugehört, dem Kind noch ein Märchen erzählen, damit es schön einschläft, das gab es nie bei uns. Was, glauben Sie, ist der Grund für Ihre Einsamkeit? Ich war schon immer der Typ … ich wollte nicht einfach ’ne Unterhaltung anfangen. Wenn, dann sollte es eine sinnvolle sein, und da habe ich keinen Anfang gefunden, bis ich den hatte, waren die Mädchen alle vergeben, weil ich so schwerfällig bin und mir nichts einfiel, und so zog sich das so hin, und so ist es bis heute geblieben, da sind wir wieder am Anfang, mit der Einsamkeit, das macht mich einsam. Mit ’nem Mädchen mal ein vernünftiges, humanitäres schönes Zweisamkeitsgespräch, ach, das wäre doch was, ich könnte auf vieles verzichten, wenn ich das hätte, da könnte

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mich der Fußball sonst wo haben. Ich habe immer davon geträumt, zu zweit kuscheln, auf dem Sofa liegen und Fernsehen gucken, das kann schon sehr schön sein, aber immer nur im Bett alleine macht auch kein Spaß. Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf, und wie durch ein Wunder sind alle Probleme, wegen derer Sie hier sind, verschwunden. Woran würden Sie das merken? Das ist unvorstellbar für mich. Ich denke zuerst an meine Kinder. Wie mit denen wieder Kontakt kriegen? Vielleicht auch in die Nähe ziehen, denn die haben mich immer wieder davon abgehalten, weiter wegzuziehen, denn ich bin nicht ganz umsonst in Dortmund gelandet, weil ich keine Stelle gefunden hatte. Mit dem Auto war es ja kein Thema nach Hause zu fahren, jetzt weiß ich nicht, wie ich damit umgehe. Die werden noch merken, denke ich, was sie an mir haben, wenn sie mich mal brauchen, sie sind noch nicht so weit, dass sie vielleicht mal Hilfe brauchen. Sicher, der Sohn hat schon Familie. Die Tochter will heiraten, oder hat schon die Tage, ich weiß es nicht. Aber die Probleme werden noch kommen. Ich hoffe nur, dass sie nicht diese Probleme haben werden wie ich. Aber ich fühle mich auch schuldig, und die Schuld werde ich nicht mehr los, das sind auch Dinge, die mich immer belasten werden. Wäre ich noch da gewesen, als sie in die Schule gingen, ich hätte sie noch dazu gekriegt, dass sie die höhere Handelsschule fertigmachen. Aber ich habe mich auch wie ein Teufel benommen, das muss ich mir ewig ankreiden, ich habe sie nicht geschlagen, aber ich habe gebrüllt, wie ein Stier. Das war schlagartig. Aus der Kneipe raus, dann war ich auf hundertachtzig, ich weiß nicht, wieso. Leider hat die Frau das auch mitmachen müssen. Ich kann es leider nicht mehr ändern. Ich tue nur, was ich kann, um meine Kinder irgendwann mal wieder auf meine Seite zu ziehen, ohne ständig schlecht über einen zu reden.

Interview Patient 3 Der 57-jährige Patient leidet zum Zeitpunkt des Gespräches an einer schweren Depression mit psychotischen Symptomen und einer posttraumatischen Belastungsstörung.8 Er selbst beschreibt sein Leiden mit Angst und Panik. Er fühle sich verfolgt 8

Psychotische Symptome zeichnen sich unter anderem durch Wahnvorstellungen aus, wie zu glauben, verfolgt oder beobachtet zu werden. Eine posttraumatische Belastungsstörung »entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde« (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte [Hg.] [Vorab. 2023]: ICD-10-GM, F43.1). Bei einer schweren Depression kann es auch zu bestimmten wahnhaften Störungen kommen. Meist handelt es sich hier um einzelne Wahninhalte, wie etwa realitätsferne, auf sich bezogene Schuldvorstellungen oder auch das Hören von Stimmen.

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und sehe Sachen, die nicht da sind. Eine psychosomatische Rehabilitation, die beim Voraufenthalt vom Sozialdienst in die Wege geleitet wurde, führt zu einer kurzfristigen Symptombesserung. Seit etwa einem Dreivierteljahr lebt er in einer anderen Stadt, da er sich in seinem Heimatort verfolgt fühle. Dies hatte auch die Trennung von seiner Ehefrau zur Folge. Vor seinem Eintritt in die Erwerbsminderungsrente war er als Baggerfahrer in einem metallverarbeitenden Konzern tätig. Fühlen Sie sich einsam? Ja, ich fühle mich einsam. Weil, die Freunde von früher hab’ ich nicht mehr… die hab’ ich nicht mehr, die sind alle weg, und den ganzen Tag alleine zu Hause … keiner ist da, das greift ganz schön an die Substanz. Wie würden Sie Ihre Einsamkeit beschreiben? Ich würd’ sagen… hilflos … einsam und hilflos. Fernsehen gucken und noch mal Fernsehen gucken, mehr gibt’s da nicht, kurz was essen und dann war’s wieder gewesen. Weil … wenn… man verschwindet immer mehr. Wer sind Ihre vertrautesten Mitmenschen? Mein bester Freund. Ich hab’ einen besten Freund, der ist übergeblieben von den vielen Freunden, die ich noch hatte, und dem vertraue ich wirklich blind, ist auch der einzigste Freund, der übergeblieben ist, da ist nichts mehr da, und dahingehend hab’ ich nicht die Möglichkeit mich auszutauschen, weil, man vergräbt sich immer mehr, immer tiefer gräbt man sich ein. Den sehe ich einmal die Woche, er kommt mich besuchen, dann fahren wir ’ne Runde über die Autobahn, ohne Ziel, einfach nur ein bisschen quatschen, wenn ich fahre, ich kann abschalten, das ist die einzige Möglichkeit, wo ich wirklich abschalten kann, setz’ ich mich hinter’s Steuer und fahre, hab’ ich während dieser Zeit die Probleme nicht mehr, die sind dann nicht mehr da. Ich fühl’ mich dann frei beim Autofahren, ich fühl’ mich da auch nicht einsam. Den hab’ ich seit der Schule. Sonst hab’ ich keine Menschen mehr um mich. Wie geht Ihr Umfeld mit Ihrer gegenwärtigen Situation um? Ja, geteilt. Die wissen gar nicht, wie schlimm es mir wirklich geht, weil, da haben wir noch nicht drüber geredet. Die wissen zwar, dass ich im Krankenhaus bin, aber nicht weswegen. Ich vergrab’ mich, ich will es ihm [dem besten Freund] irgendwie nicht sagen, weil, ich will nicht, dass er nachher ein falsches Bild von mir bekommt, oder dass die Freundschaft zerreißt. Weil meiner Frau, der hab’ ich erzählt, dass es mir nicht gut geht, Sie glauben gar nicht, was da für’n Theater in der Bude war. Sie hat mir Vorwürfe gemacht, dass es mir nicht gut geht. Ich hab’ mich geöffnet, und das ging dann nach hinten los. Es gibt nicht so viele Leute, mit denen man reden kann oder wo man die Probleme äußern kann, weil viele verstehen das nicht oder wollen das nicht verstehen oder können es nicht verstehen. Einer, der da bei der Materie

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arbeitet, der kann das verstehen, als wenn ich einem Außenstehenden das erklären will, der würde mich nur angucken und würde nichts verstehen, was ich sage, also man kann sich nicht mit jedem darüber unterhalten. Empfinden Sie Ihre Einsamkeit auch als etwas Positives? Manchmal, dann denk’ ich dann auch, ich bin keinem Rechenschaft schuldig, nur mir, ich brauch’ auf keinen hören, ich kann dann das machen, was ich will, dann denke ich manchmal das, wenn mir die Einsamkeit zu stark wird. Gibt es etwas, das Sie gegen Ihr Einsamkeitsempfinden tun? Was tu’ ich gegen meine Einsamkeit? Ich versuche, gedanklich nicht so tief abzurutschen. Nicht, dass ich zu tief falle … nicht zu tief falle, ich versuche, gedanklich nicht zu tief zu rutschen, weil wenn ich mich fallen lassen würde, dann kämen da Suizidgedanken wieder bei mir. Einsamkeit und Suizid gehen bei mir einher, weil ich halt so viel Negatives in meinem Leben erlebt habe, und wenn ich dann einsam bin, dann kommen die Gedanken an Suizid hoch bei mir. Was genau tun Sie dann dagegen? Ich versuche, ins Positive reinzukommen, indem ich versuche, das Gute hervorzuholen und mir vorzuhalten. Ich sag mir dann selber, dass es nicht so schlimm ist. War die Einsamkeit auch vor Ihrer Erkrankung ein bestimmendes Thema Ihres Lebens? Nein. Weil ich war früher anders, ich war früher anders, ich bin früher rausgegangen, ich stand mitten im Leben. Ich war Baggerfahrer, ich hatte eine gute Anstellung gehabt, bin mit denen super ausgekommen, auch mit den Chefs, und privat hatte ich mich mit den Freunden getroffen, wir haben viel unternommen, wir waren die ganze Zeit positiv, trotz Junggeselle war ich nicht einsam gewesen, das kam erst mit meiner Erkrankung. Vor ein paar Jahren ist das aufgetreten, das kam schleichend, das fing an mit der großen Mobbingaktion, in der Nachbarschaft, da bin ich über zehn Jahre bin ich gemobbt worden. Ich bin verwechselt worden, ich bin für einen anderen gehalten worden. Der andere, der hatte ein Kind belästigt und ich sollte es gewesen sein, und dann ging dann über zehn Jahre der Spießrutenlauf. Ich hab’ dann meine Haare rasiert, Bart ab, Bart dran, damit ich nicht erkannt werde und hab mich dann immer mehr zurückgezogen. Und da ist meine Einsamkeit entstanden. Ich war zwar mit meiner Frau verheiratet, ich war mit ihr zusammen, aber trotzdem war ich einsam. Es hätten da zehn Leute um mich ’rum sein können, aber ich hätte mich trotzdem einsam gefühlt. Und da fing’s auch an mit der Einsamkeit. Es ist verrückt mit der Einsamkeit, es gibt mehrere Formen von Einsamkeit, eine Form von Einsamkeit ist zum Beispiel, man kann mit vielen Leuten zusammen sein, und trotzdem ist man einsam, oder man ist ganz alleine und man ist dann auch einsam. Das sind zwei Parallelen, wissen Sie, das wird unterteilt mit der Einsamkeit. Ja, und

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dann fing das dann an mit dem Mobbing, das ist der Grund, warum ich weggezogen bin. Wie hat sich das Mobbing dargestellt? Ein Beispiel. Ich fahr’ mit dem Roller und die drängen mich ab. Oder ich geh’ im Sommer an der Eisdiele vorbei, da sitzen alle draußen. Auf dem Rückweg komm’ ich wieder vorbei, da sind alle drin. Dann haben die Fotos von mir gemacht und haben es ins Internet gestellt. Deswegen habe ich auch die ganze Zeit versucht, mein Aussehen zu verändern. Das alles wegen einer Sache, da hab’ ich nichts mit zu tun. Aber eine Frau hat mich verdächtigt, und so fing der Rattenschwanz an. Wenn ich wenigstens einen fassen könnte, dann würde ich sagen: »Halt, stopp, was machst du? Ich geh’ mit dir zur Polizei!«, aber ich hab’ nie einen gefasst. Ich hab’ immer nur die Auswirkung. Ich weiß nur so viel, ein Mädchen wurde von einem Mann bedrängt, belästigt, an der Schule, das ist das, was ich weiß. Dann hab’ ich den Wohnort gewechselt und bis jetzt hab’ ich Ruhe. Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf, und wie durch ein Wunder sind alle Probleme, wegen derer Sie hier sind, verschwunden. Woran würden Sie das merken? Ich würde das merken, indem ich rausgehe, unter Leute gehe. Weil ich … zu Hause verkrieche ich mich, mach’ die Rollläden runter. Ich bin nicht da. Ich würd’s feststellen, weil, dann gehe ich unter Leute, ich mach’ dann die Rollläden nicht runter zu Hause. Ich geh dann unter Leute und dann merk ich, halt, stopp, da ist etwas in Ordnung, es ist was O.K. geworden.

Interview Patient 4 Der 65-jährige Patient wird seit 13 Jahren in regelmäßigen Intervallen im Knappschaftskrankenhaus behandelt. Er leidet an einer rezidivierenden, das heißt wiederkehrenden Depression ohne psychotische Symptome und an einer generalisierten Angststörung.9 Durch eine langjährige, gut bezahlte Anstellung in einer Kokerei führt er nun ein durchaus auskömmliches Leben als Rentner. Er pflegt einen guten Kontakt zu seinen beiden Töchtern, von denen er immer wieder sagt, wie stolz er auf sie und ihren beruflichen Werdegang sei. Sein Sprachfehler, den er durch eine frühe Traumatisierung erlitten hat, macht sich in dem folgenden Interview bemerkbar. Auch immer wiederkehrende, formale Gedankensprünge im Sinne athematischer Einschübe des Patienten sind beim Lesen zu berücksichtigen. 9

Es handelt sich hierbei um ein Angsterleben, das sich auf alle möglichen Lebensbereiche beziehen kann – anders als bei einer Phobie, die sich auf einen konkreten Gegenstandsbereich bezieht, wie etwa Spinnen oder große Höhen.

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Fühlen Sie sich einsam? Zuhause. Weil wir war’n ’ne Großfamilie, vier Kinder, zwei erwachsene Personen … ich hab’ selbst mal eine Gruppe geleitet, zehn Jahre, obwohl ich arbeiten war, die Zeit hab’ ich mir genommen … Alkoholiker … dann hat die sich aufgelöst, die Gruppe, weil da zu wenig’ kamen, ja dann hab’ ich da aufgehört, aber das fehlt mir dann auch, weil das war noch ’ne zusätzliche Aufgabe … in ein kleines Loch fiel ich schon, aber ich hatte ja meine Frau, und meine Kinder, Nachbarn auch. Aber trotzdem fehlte mir was, es fehlte mir noch ’ne Aufgabe, obwohl ich zu Hause … mein Vater war Diplomingenieur … ich hatte ’ne scheiß Kindheit, sach’ ich mal, weil ich wurd’ geprügelt, weil immer war ich schuld und so, obwohl ich ja gar nichts gemacht hab’, das war schon ziemlich hart. Ich wurde missbraucht … Emotional? Ja, nee, auch anders. Zum Beispiel eine Strafe von meiner Stiefmutter, als ich zwölf war, ich musste im Keller für drei Tage. Licht aus, nackend, bei Wasser und Brot. Und dann hab’ ich mit 13 und 15 einen Selbstmordversuch hinter mir. Da hang ich am Kirschbaum, da hat mich die Nachbarin losgebunden. Wie haben Ihre Eltern darauf reagiert, als sie das erfahren haben? Gar nix. Im Gegenteil. Da sind wir später Weihnachten nach mein’ Vater gegangen, und dann sachte er zu mir: Ralf10 , für dich hab’ ich auch’n Geschenk, geh’ im Keller, da is’n Strick, häng dich auf. Das hat mein eigener Vater zu mir gesagt. Und das sind alles solche Dinge … ja, und dadurch wurde ich krank. Weil ich das alles gar nicht verarbeiten kann. Ja, so ist das. Wie haben Sie es geschafft, zu überleben? Überleben? Sach’ ich mal, hier das Krankenhaus, das hat mir Kraft gegeben zu überleben, und ich find’ das auch gut vom Oberarzt, ich muss den ehrlich loben, wenn der nicht wär’, dann wär’ ich auch nicht mehr, glaub’ ich. Weil er gibt mir die Chance, alle drei Monate für vier, fünf Wochen hierherzukommen, dass ich wieder Kraft habe, sonst … ja, is’ so. Weil, was ich alles erlebt habe, mit der Behinderung meiner Söhne und alles, das hab’ ich … ach … noch lange nicht verarbeitet. Ich kann das nicht verarbeiten. Man muss sich überlegen, ich komm’ auss’e Schule, da war ich noch in der Volksschule … ich komm’ auss’e Schule, da sacht mein Vater: »Essen steht da!« Da war meine Mutter im Krankenhaus, meine erste Mutter … »Essen steht da!« … »Ja!« … »Ach übrigens, ich wollt’ dir noch was sagen.« »Ja?« … »Die Mama ist tot.« Und dann fing das Stottern an. Dann gingen natürlich die schulischen Leistungen auf Null … und dann hieß es so, ich bin ja auff’e Doofenschule. Ja, das war das. Ich war immer der Doofe, immer. Ich wurde für jede Kleinigkeit, wurde ich … da kam 10

Der Name ist geändert.

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dann mein Vater von der Arbeit, da war er erst noch in der Trinkhalle, da hat er getrunken, dann hat er mich getreten … jeden Gegenstand … ich sah immer aus wie … er hat mich 100-mal am Tach … wo ich die Treppe hoch und runter geflogen bin … und dann natürlich: Wehe, du erzählst was in der Schule! Das war in den späten 60er Jahren? Ja, ganz genau, da konnte man noch alles mit den Kindern machen. Das war so, aber ich will keinem was von meinen Brüdern, auch nicht die, die tot sind, aber ich war der einzigste … weil meine Mutter war schwer krank, die ist mit 42 Jahren gestorben. Ich war am Bett, während die andern so am Spielen waren, ich war nur bei meiner Mutter. Und darum hänge ich da so dran. Und dann so meine Frau. Ja, und jetzt ist wieder ’ne Aufgabe weg, ich hab’ zehn Jahre lang meine Frau gepflegt. Die hatte nur ein Bein, voll blind, fragen Se mal, wer das alles machen würde. Die hatte inn’er Nacht vier-, fünfmal Durchfall, ich musste das Bett beziehen, die wieder waschen, die wieder anziehen, ja, is’ so. Wie geht Ihr Umfeld mit Ihrer gegenwärtigen Situation um? Also, da muss ich sagen. Also, ich hab’ nicht so viel Kontakt zu den Nachbarn, aber die finden das gut. Nach dem Tod meiner Frau. Meine Tochter und ich, wir haben uns ’nen Hund zugelegt, wir haben zwei verschiedene Haushalte. Der Hund ist die meiste Zeit bei mir, das hilft mir schon, aber es fehlt natürlich was, weil ein Hund gibt keine Antworten, aber er zeigt das anders. Aber ich war immer ein Geselliger, ich war im Bolzverein11 , ich war in so und so vielen Vereinen, auf einmal ist alles weg. Aber so die Nachbarn, sach’ ich mal, die versteh’n das auch. Ich hab’ erst gedacht, wenn du denen erzählst, du gehst in die Psychiatrie, die meinen sofort, der hat Ballaballa, aber nein. Die gehen da gut mit um. Empfinden Sie Ihre Einsamkeit auch als etwas Positives? Eigentlich … wenn ich einsam bin, bin ich am Grübeln, und dann komm’ die doofen Gedanken sehr hoch, die sind sehr hoch bei mir. Ich hab’ das auch so erzählt, ich erzähl’ das auch meinen Kindern. Ich brauch’ jetzt nicht ’ne Partnerin wegen dem Sexuellen oder sowas, ich bin jetzt 65, ich möchte sowas nicht, ich möchte nur ein’ zum Reden haben. Viele Nachbarn sind berufstätig, und die haben ihre eigenen Partner. Die haben jetzt auch nicht jeden Tag Bock auf den Brinkmeyer12 , und das is’ eben so, ja und meine Kinder sind ja auch am Arbeiten, schwer, die kommen manchmal vorbei, aber die Einsamkeit ist da. Weil wie gesagt, ich brauch’ nur einen zum Reden. Ich hab’ ja schon meine Gedanken gehabt, kurz nach dem Tod meiner Frau, das waren doofe Gedanken, ich war ja verwirrt, wegen ’ner Partnerin irgendwie. Die Kinder: 11 12

Bolzverein steht umgangssprachlich für Fußballverein. Der Name ist geändert.

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Nein, Papa, wie kannst du sowas machen? In eine’ Art haben sie mich wach gemacht … in Wirklichkeit will ich das gar nicht, also gut, ’ne Partnerin, ja, aber mir geht’s eigentlich nur um’s Sprechen, ich schlaf’ auch gerne auf’e Couch und von mir aus die im Bett, aber es brauch’ nicht das sein. Weil ich sach’ mal so, ich hab’ alles, ich bin im Fußballverein, ich hab’ Skype, einen Computer, sogar ’ne Rolex … ich hab’ das, das, das, aber in Wirklichkeit hab’ ich nix. Hab’ ich gar nix, in Wirklichkeit bin ich ein ganz armer Mensch, weil ich grübel’ zu viel, und hab Gedanken, die man nicht gerne erzählt. Jetzt komm ich am 21. nach Hause, da hab’ ich schon wieder Angst vor. Aber is’ eben so. Gibt es etwas, das Sie gegen Ihre Einsamkeit tun? Ja, hier die Gruppen. Die Gesprächsgruppen tun mir gut, auch Ergo13 tut mir gut. Aber leider kann man ja nur vier oder fünf Wochen bei Ihnen bleiben. Wie gesagt, Zuhause habe ich alles. Ich hab’ ’ne Staffelei, ich hab’ früher gemalt. Ich hab’ aber zu alles kein Bock mehr seit dem Tod meiner Frau, ich hab’ alles schleifen gelassen, hab’ ich liegen gelassen. Ich hab’ kein Bock mehr. Ich hab’ vor einiger Zeit mit einem Kollegen gesprochen, wir waren zusammen in derselben Selbsthilfegruppe, wegen Alkohol, die sich ja aufgelöst hat. Und da hab’ ich gefragt, ob er Lust hat, mit mir eine neue Gruppe aufzumachen, aber da warte ich noch auf Antwort. Ein Beispiel, wir hatten Aufnahmen sogar im Radio, da hab’ ich mit mei’m Sprachfehler gesprochen. Das war so ’ne Art Werbung, ja und dann haben wir so’n bisschen über einen Anonymen14 erzählt und das hat auch viel gebracht. Ich war auch auf vielen Seminaren und so. Da hab’ ich gelernt, eine Gruppe zu leiten. War Einsamkeit auch vor Ihrer Erkrankung ein bestimmendes Thema Ihres Lebens? Ja, als ich meine Mutter verlor, seitdem war ich einsam! Was, glauben Sie, ist der Grund Ihrer Einsamkeit? Ja, erstmal Verlust durch den Tod meiner Frau. Das war ein Drama. Weil ich musste mitbestimmen mit meine’ Töchter, die Maschine abzustellen. Das hört sich zwar doof an, wenn man mich hier beobachtet, aber ich bin sehr schüchtern, was ich natürlich hier so’n bisschen abgelegt habe, aber ich denk’, viele verarschen mich, warum, wieso, weiß ich nicht. Deswegen zieh’ ich mich auch manchmal zurück, ich sitz’ gern allein. Wenn ich zu Hause bin, möchte ich eigentlich nicht alleine sein, bin ich woanders, bin ich gern allein. Weil ich bin – wenn ich mich jetzt selber einschätze – bin ich zu gut. Ich gebe alles. Und andere nutzen das aus. Es fängt an mit einer

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Gemeint ist Ergotherapie. Hiermit ist ein Mitglied der »Anonymen Alkoholiker« gemeint, einer Selbsthilfegruppe zur Bekämpfung von Alkoholismus.

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Zigarette und hört auf mit ’ner ganzen Schachtel. Ein Beispiel: Wir haben hier zusammen was zu essen bestellt, da hat sich ein Patient auch was bestellt und sagt: »Oh Mann, so viel muss ich bezahlen?« Da tat er mir leid, und da hab’ ich, obwohl ich wusste, der hat noch Geld, hab’ ich ihm zehn Euro gegeben. Obwohl ich wusste, der hat Geld, aber er tat mir leid. Das war schon ausnutzen, weil er immer mehr wollte, aber da sag’ ich: »Nee, mehr hab’ ich jetzt auch nicht im Moment.« Obwohl ich hab’, aber … dann ist das eben so. Das ist, was ich hier gelernt habe: Nein zu sagen. Da hab’ ich gesagt, so, jetzt geht nicht mehr, jetzt kann ich dich nicht mehr unterstützen. Aber das ist, was mein Leben bestimmt, ich wurde viel ausgenutzt, viel. Da ist meine erste Ehefrau, die kam damals mit ’ner Tüte von Jugoslawien, da hab’ ich noch bezahlt … fünfhundert, dass sie überhaupt rüberkam. Das fing an mit Nachbarn, Jugoslawen, die haben gesagt, Kerl, du bist immer alleine, wir haben da eine, ’ne Cousine und so, ja, die sah auch sehr gut aus, sehr hübsch und so. Aber wie das so ist, da hat sie die weiche Stelle bei mir entdeckt und die hat sie schamlos ausgenutzt. Die hat nur gelogen, die hat noch ’n Kind gehabt in Jugoslawien. Die hat mich von Anfang an belogen. Und wie gesagt, ich hab’ getrunken, dann hab’ ich auf’e Kokerei Ärger gehabt, wegen Alkohol, die haben gesagt, so geht es nicht weiter, sonst bist du tot, da kann ein Unfall passieren, dann sind wir schuld. Dann hab’ ich Entgiftung gemacht, und nach ’ner Woche kam meine Frau mich besuchen, mit ’ner Flasche Whiskey. Die wollte, dass ich so bin wie vorher, wo ich alles unterschrieb, Otto-Versand und ach. Was ich jetzt so erzählt habe, das wissen nicht alle hier. Das war, glaub’ ich, jetzt das erste Mal, dass ich jetzt so Intimes freigegeben hab’. Dann danke ich für Ihr Vertrauen. Sie haben aber auch das Recht, Teile des Interviews zu widerrufen. Nein, das möchte ich nicht! Sonst hätte ich das Interview nicht gemacht. Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und wie durch ein Wunder sind über Nacht alle Probleme, wegen derer Sie hier sind, verschwunden. Woran würden Sie das merken? Dass wieder Licht in mein Leben kommt. Ich würd’s merken, die Welt ist wieder so, wie als ich geboren wurde. Wieder meine Mutter da. Ich würd’ noch einmal meine Frau kennenlernen. Und ich würd’ auch vieles anders machen als wie ich’s jetzt gemacht habe. Aber in Wirklichkeit, ich sach’s ganz ehrlich, ich will nicht sagen, ich hab’ mein Leben gelebt, ich bin eigentlich froh, dass es so gelaufen ist, weil mein Leben war lehrreich, mit Höhen und Tiefen. Und meine Kinder, so war es auch bei der silbernen Hochzeit vor zwei Jahren, da haben sich beide Gedanken gemacht. Die haben uns beide geehrt, die haben gesagt: Wir sind froh, dass wir solche Eltern haben! Weil es war nicht leicht bei uns, aber wir halten zusammen. Weil meine Tochter, die jetzt in Frankfurt lebt, die hat den Gandhi-Preis gekriegt, für Zivilcourage. Das war ’ne hohe Auszeichnung. Da war der Bürgermeister da und alle, da waren, glaub’ ich, nur vier, die den gekriegt haben. Sie kam ja selbst aus ’nem schwierigen Haus-

Thomas Wagener: Das Einsamkeitserleben von psychiatrischen Patient:innen

halt, durch meine behinderten Jungs, und hat anderen noch geholfen, den Weg zu zeigen. In der Schule. Oder wenn da einer ankam morgens um zwei, ist sie noch mitgegangen.

Resümee und Einordnung der Interviews Viele Patient:innen bagatellisieren ihr Leiden vor ihren Mitmenschen oder verschweigen es, wie etwa der Patient aus dem dritten Interview, der sein Leiden vor seinem besten Freund verschweigt, dem er ja eigentlich blind vertraut; wie die Frau, die die Frage nach Einsamkeit amüsiert abwiegelte; oder wie jene Frau, die das gesamte Interview über von ihren gesellschaftlichen Aktivitäten berichtete, obwohl ihr wirkliches Leben sich offenbar ganz anders gestaltete; und nicht zuletzt wie der Mann, dessen fortwährender Griff zur Flasche zu seinem vorzeitigen Tod führte. Wie wird meine Umwelt reagieren, wenn sie von meinen Problemen erfährt? Werden meine Freund:innen dann immer noch zu mir stehen oder werden sie sich von mir abwenden? Wir alle leben in solchen Erwartungsgefügen, die unser Handeln bestimmen. Solange wir in der Lage sind, unsere zwischenmenschlichen Interaktionen zu beeinflussen, sind wir bis zu einem gewissen Grad souverän und können unsere Vorstellungen von den Erwartungen anderer evaluieren und hinterfragen. Wir testen fortwährend unsere Beziehungen, steuern nach und halten somit ein gewisses Gleichgewicht. Geht dieses Gleichgewicht verloren, droht auch der Mensch verloren zu gehen. Vor diesem Hintergrund haben psychische Erkrankungen auch eine Dimension, die als eine Störung in den zwischenmenschlichen Interaktionen gesehen werden kann. Dies kann wiederum einen Nährboden für Einsamkeit bieten. Der Patient aus dem dritten Interview beschrieb nach dem Gespräch das erleichternde Gefühl, nun endlich gehört zu werden. Man kann hier eine durchaus existenzielle Angst des Menschen vermuten, in seinem Leid nicht wahrgenommen zu werden: eine Angst also, die wir grundsätzlich alle teilen. Denn welchem Menschen wäre es gleichgültig, wenn alle glaubten, es ginge einem selbst gut, während man im Grunde tiefes Leid empfindet? Sicherlich auch nicht den Menschen, die ihr eigenes Leiden bagatellisieren. So ist nicht auszuschließen, dass einiges in diesen Interviews aus diesem Gefühl heraus überhöht wurde. In welchen Momenten das in den Interviews genau der Fall war, ist nur schwer zu beurteilen, und es sei den jeweilig Interviewten schlichtweg zugestanden. Denn wie kann das Motiv einer hochaltrigen, demenziellen Patientin zu deuten sein, die auf der Station dabei beobachtet wurde, wie sie sich sanft zu Boden gleiten ließ, sogar vorher noch eine Decke hinlegte, um dann theatralisch um Hilfe zu rufen, da sie ja schwer gestürzt sei? In diesem Beispiel setzt ein Mensch Täuschungsmanöver ein, um wahrgenommen zu werden, weil er zu diesem Zeitpunkt über keine anderen Mittel verfügt. Diese Fälle kommen nicht selten vor. Wir neigen dazu, diese Täuschungsmanöver zu margina-

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lisieren und zu belächeln, ohne nach der Angst vor dem Verschwinden, dem Verlust des oben genannten sozialen Gleichgewichts und damit des Selbst, zu fragen. Man verschwindet immer mehr, sagte der Patient aus dem dritten Interview, obwohl er körperlich anwesend war. Ist Einsamkeit ein Verschwinden bei lebendigem Leib? Wenn Menschen ihr Leiden an Einsamkeit vor dem bedeutsamen anderen15 verschweigen, dessen Erwartung sie letztlich gar nicht kennen, kann man das als eine »Erwartungserwartung« beschreiben – sie haben eine Erwartung bezüglich der Erwartung des anderen. Es sind diese Erwartungsgefüge, die unser Handeln mitbestimmen. Und auch das Unterlassen einer Handlung ist eine Handlung. So begibt sich der Mann aus dem zweiten Interview zwar in ein Café, um unter Menschen zu sein, schafft es aber nicht, sein Sudoku-Heft wegzulegen und sein Gesicht der Menge zu öffnen. Es ist gleichzeitig eine Bewegung zu etwas hin und von demselben wieder weg: So, als ob ein Bemühen um Kontaktaufnahme das Stigma seiner Einsamkeit für andere einfach sichtbar machen könnte. »Ich weiß, dass es weit hergeholt ist, dass sich jeder Gedanken über mich machen würde, aber die Gedanken sind auf jeden Fall da, und die beeinflussen mich auch richtig«, antwortete der junge Mann aus dem ersten Interview auf die Frage, ob er Scham wegen seiner Einsamkeit empfinde. Zumindest ist so viel klargeworden: Lineare Erklärungen sozialer Phänomene haben noch nie gestimmt. Einsamkeit etwa entsteht nicht nur aus der Absonderlichkeit einer einzelnen Person, die daraufhin von der Gesellschaft gemieden wird, wie man es von Menschen mit einer psychischen Erkrankung vielleicht vermuten könnte.16 Vereinsamungsprozesse sind vielmehr ein komplexes Geschehen, das von vielen, sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren bestimmt ist. Wenn der Patient aus dem letzten Interview mit seinen Nachbar:innen so offen über seinen Psychiatrieaufenthalt reden kann, hat dies auch mit einem psychiatrischen Ansatz zu tun, der sich an der Gemeinde17 , dem gesellschaftlichen Umfeld der Patient:innen ori-

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M. Aboulafia (2022): George Herbert Mead; J. Scott (2015): Significant others. Das Umfeld reagiert nicht selten ablehnend auf Menschen, die sich außerhalb des Gewohnten verhalten. Einsamkeit kann daher auch aus dem devianten oder als absonderlich wahrgenommenen Verhalten von psychisch erkrankten Menschen resultieren, wenn sie aufgrund dessen gemieden beziehungsweise ausgegrenzt werden. Dieses linear-ursächliche Konstrukt ist ohne die Einbeziehung wechselseitiger Beeinflussungsfaktoren jedoch unterkomplex und für die Erklärung sozialer Phänomene wenig tauglich. Eine Gemeindepsychiatrie versteht sich als ein Netzwerk, in dem die Psychiatrie als solche nur einen Bestandteil von verschiedenen sozialpsychiatrischen Einrichtungen bildet. In einer Psychiatrie werden Patient:innen heutzutage hauptsächlich in den akuten Phasen ihrer Erkrankungen behandelt, um sie dann so bald wie möglich in ihre jeweiligen Wohnumfelder zu entlassen. Es kann sich hierbei um stationäre Wohnformen handeln, in denen sie sozialpädagogisch und medizinisch betreut werden, oder auch um ambulante Betreuungsformen, in denen sie in ihren eigenen Wohnungen regelmäßig von Fachkräften aufgesucht werden.

Thomas Wagener: Das Einsamkeitserleben von psychiatrischen Patient:innen

entiert. Patient:innen in ein soziales Umfeld zu integrieren, trägt zu einem nicht unerheblichen Teil dazu bei, Stigmatisierungen zu vermeiden oder Stigmata abzubauen und die stereotype Vorstellung von einem bedrohlichen und dämonischen Ausmaß solcher Erkrankungen zu entkräften. So ist es eben fraglich, ob der oben genannte Patient zu Zeiten althergebrachter Großpsychiatrien ohne weiteres mit seinen Nachbar:innen über seinen Psychiatrieaufenthalt hätte sprechen können: In Großpsychiatrien wurden psychisch Erkrankte vor der weitreichenden Psychiatriereform in den 1970er Jahren dauerhaft und meist weit weg vom Wohnort, also auch getrennt von ihrem gesellschaftlichen Umfeld, untergebracht. Um dem landläufigen Bild von der »Irrenanstalt« ein neues Bild entgegenzusetzen, findet die Arbeit der Psychiatrien auch immer mehr außerhalb ihrer »Mauern« im ständigen Zusammenspiel mit anderen Akteuren der psychosozialen Versorgungslandschaft wie Therapieeinrichtungen, Wohnheimen oder Beratungsstellen statt. Erst durch die Aufklärungsarbeit in der Gemeinde und Gesellschaft sowie eine Einbeziehung des sozialen Umfeldes entstehen Chancen, den Teufelskreis aus Stigmatisierung und Selbststigmatisierung aufzulösen, wenngleich manche Formen der Stigmatisierung vermutlich immer bestehen bleiben. Die Integration in eine soziale Umwelt inklusive ihrer sozialen Beziehungen und dem ihnen innewohnenden Konfliktpotenzial bietet stets ein Übungsfeld für die eigene Beziehungsfähigkeit, woraus Betroffene gestärkt hervorgehen können: So können soziale Kompetenzen nur durch den Aufbau von Beziehungen erworben und innerhalb dieser trainiert werden. Dahingehend sind sogenannte »Belastungserprobungen« für die Patient:innen ein bewährtes Mittel, um unter anderem die oben beschriebenen Interaktionsstörungen zu bewältigen. Hierbei werden sie während ihres stationären Aufenthaltes für ein bis zwei Tage in ihr Wohnumfeld entlassen, um sich den dortigen Anforderungen und Belastungen auszusetzen. Kehren sie wieder zurück in die Klinik, haben die Patient:innen Gelegenheit, die gemachten Erfahrungen therapeutisch und psychiatrisch zu besprechen und (neue) Lösungswege zu erarbeiten. Das schließt auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst, der eigenen inneren Haltung und eine Verortung des Selbst im gesellschaftlichen Umfeld ein. Auch Wohnungsbegehungen zusammen mit dem Sozialdienst können Teil des gemeindepsychiatrischen Ansatzes sein. Probleme, die nicht in den Visiten- oder Therapiegesprächen benannt werden, vielleicht aus Scham, oder weil die Patient:innen dem keine Bedeutung beimessen, treten häufig erst dann zu Tage, wenn sie begleitet ihr eigenes Wohnumfeld begehen. So wurden die beträchtlichen Vereinsamungstendenzen des Patienten aus dem zweiten Interview erst deutlich, als seine Wohnung zusammen mit dem Sozialdienst betreten wurde. Ein Nachbar, dem man begegnete und der keinerlei Anstalten machte zu grüßen, gab erste Hinweise auf den psychosozialen Rahmen, in dem der Patient lebte. Erst im gelockerten Gespräch mit dem Patienten in dessen Wohnung wurden seine Alltagsgewohnheiten

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thematisiert, woraufhin sich das Ausmaß seiner Vereinsamung herauskristallisierte. Zwischenzeitlich konnte dieser Patient in einem Wohnheim untergebracht werden, in dem er mit altersgleichen Menschen lebt und nach Aussage der Heimleitung ein zufriedenes Leben führt. Abschließend kann also gesagt werden, dass der gemeindepsychiatrische Ansatz Möglichkeiten schafft, im gesellschaftlichen Umfeld der Erkrankten Berührungsängste abzubauen. Wenn in diesem Ansatz von Interaktionsstörungen gesprochen wird, macht dies eine Sichtweise deutlich, die von dem Fokus auf die Patient:innen und ihre Erkrankungen abrückt, ohne wiederum in milieukritischer Absicht alles dem gesellschaftlichen Umfeld anzulasten. Vielmehr ist von Bedeutung, was zwischen den psychisch Erkrankten und ihrem jeweiligen Umfeld stattfindet: Dies ist auf der einen Seite zwar schwieriger fassbar, hilft aber auf der anderen Seite, einseitige Schuldzuweisungen sowie eine verzerrte Darstellung von Vereinsamungsprozessen zu vermeiden. Damit scheint auch eine Reduzierung des Einsamkeitserlebens von psychiatrischen Patient:innen möglich.

Literatur Aboulafia, Mitchell (2022): George Herbert Mead. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg. v. Edward N. Zalta. URL: https://plato.stanford.edu/archives/s um2022/entries/mead/, letzter Besuch: 8. September 2022. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Hg.) (Vorab. 2023): ICD-10GM. Vorabfassung 2023, Stand 22.07.2022. URL: https://www.dimdi.de/static /de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2023/block-f40-f48.ht m, letzter Besuch: 10. September 2022. Scott, John (2015): Significant others. In: A Dictionary of Sociology. 4. Aufl. o.A.: Oxford University Press. DOI: www.doi.org/10.1093/acref/978019968358 1.001.0001, URL: https://www.encyclopedia.com/social-sciences/dictionariesthesauruses-pictures-and-press-releases/significant-others, letzter Besuch: 8. September 2022.

Erfahrungen mit Einsamkeit während und nach der Haftstrafe1 Dieter Kußmann (Klient beim ambulanten Sozialen Dienst der Justiz des Landes NRW) | Im Interview mit Leon Arlt und Nora Becker

Einsamkeitserfahrungen resultieren häufig daraus, dass die Qualität von sozialen Beziehungen als unzureichend empfunden wird. Soziale Beziehungen werden während einer Haftstrafe in besonderem Maße auf die Probe gestellt. Auch nach der Haft begegnen ehemalige Häftlinge vielen Herausforderungen, die einen starken Einfluss auf den oder die Einzelne haben können. Das Thema Haft ist darüber hinaus mit schambesetzten und stigmatisierten Themen wie Kriminalität oder Schuld verknüpft und zählt damit als »Tabuthema«, als das auch Einsamkeit gesehen werden kann. Es fällt vielen schwer, über solche Themen zu sprechen – sowohl im privaten als auch im gesellschaftlichen Kontext. Dies gilt für Betroffene in besonderem Maße.2 Was ist Einsamkeit für Sie? Traurigkeit. In welchen Situationen kommt diese Traurigkeit auf? In fast allen Situationen: Einsam ist man, wenn man abends zu Hause alleine ist. Man ist einsam, wenn man am Wochenende zu Hause ist. Man ist einsam, wenn man am Wochenende irgendwo alleine hingeht, um irgendwas zu essen oder zu trinken. Man ist teilweise einsam, wenn man auf der Arbeit ist oder man irgendwie alleine auf weiter Flur ist. Es gibt viele Varianten der Einsamkeit. Manchmal ist Einsamkeit auch gut. Das heißt, wenn einem alles auf den Sack geht, dass man dann 1

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Ein herzlicher Dank gebührt an dieser Stelle dem ambulanten Sozialen Dienst der Justiz des Landes NRW und insbesondere Hendrik Gaub, der nicht nur das Interview vermittelte, sondern im Wesentlichen Wegbereiter dieses Austauschs war. Das Interview wurde von Leon Arlt und Nora Becker stellvertretend für das gesamte Herausgeber:innenteam am 25. April 2022 geführt. Das Interview ist inhaltsgetreu wiedergegeben; zur besseren Lesbarkeit sind wenige Auslassungen und sprachliche Anpassungen erfolgt. Gleichzeitig wurde das Interview sprachlich nicht vollständig geglättet, um die Gesprächssituation möglichst genau abzubilden.

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sagen kann: »So, jetzt bin ich mal lieber für mich alleine, jetzt will ich meine Ruhe.« In den meisten Teilen finde ich Einsamkeit aber auf jeden Fall traurig. Haben Sie Einsamkeit im Laufe der verschiedenen Lebenssituationen unterschiedlich erlebt? Ja, in der Haft war das eine ganz andere Einsamkeit als jetzt zum Beispiel, weil man da niemanden hatte. Wenn es jetzt zu dolle, also zu traurig wird, kann ich mit meiner Schwester sprechen. Ich kann auch Herrn Gaub oder eben einen Ansprechpartner von der psychiatrischen Haftnachsorge3 erreichen. Da kann ich auch jederzeit tagsüber anrufen. Deshalb ist das ganz unterschiedlich. Im Knast ist eben der Nachteil: Man hat niemanden, man sitzt auf seiner Zelle und kann höchstens mit dem Fernseher sprechen. Ist Einsamkeit auch da, wenn Sie mit anderen Menschen unterwegs sind? Es kommt auf die Leute an. Manchmal kann man sich mit jemandem unterhalten und ist trotzdem einsam, weil man das Gefühl hat, dass es den anderen nicht interessiert, worüber man spricht. Wenn man irgendwas erzählt, und dann interessiert das die andere Person nicht und sie hört nur so halb hin – das ist auch ’ne Art von Einsamkeit, dass man nur für sich selbst redet. Spielen Schuld, Scham und Stigma eine Rolle, sowohl in Bezug auf die Haftstrafe als auch auf Einsamkeit? Was die Haftstrafe oder meine Straftat angeht, da geh’ ich sehr offen mit um: nicht nur damit, was ich getan hab’, sondern auch, was mein Umfeld betrifft. Das hab’ ich früher nicht getan. Früher hab’ ich gedacht: »Oh, bloß nicht erzählen!« Heute sehe ich das völlig anders. Wenn ich heute jemanden kennenlerne, ob weiblich oder männlich, spätestens beim zweiten oder dritten Treffen haue ich es raus. Ja, aber das ist natürlich für viele abstoßend, wenn man denen sagt, dass man halt ’ne längere Zeit in Haft war, mehrmals in Haft war. Viele treten da sofort auf die Bremse. Aber warum soll ich damit warten? Warum sollte ich das noch hinauszögern? Ich kann das ja ebenso gut direkt ansprechen. Früher hab’ ich mich dafür geschämt. Heute sehe ich das anders. Heute gehe ich mit dem Thema sehr offen um, weil ich nix Schlimmes gemacht hab’. Ich hab’ schon ’ne Betrügerei gemacht und meinen Führerschein verloren, aber jetzt nix Schlimmes in der Hinsicht, dass ich einem Menschen was zugefügt habe.

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Die psychiatrische Haftnachsorge ist ein Nachsorgeangebot für Haftentlassene. Sie ist in Paderborn Teil der LWL-Klinik (LWL für Landschaftsverband Westfalen-Lippe) und besteht aus einem interdisziplinären Team. Die Behandlung und Betreuung psychisch erkrankter Haftentlassener im Rahmen der Führungsaufsicht soll zur psychischen Stabilisierung, Integration in die Gesellschaft und zur Rückfallprävention beitragen.

Dieter Kußmann: Erfahrungen mit Einsamkeit während und nach der Haftstrafe

Wie reagiert Ihr Umfeld darauf? Komisch und ganz eigen – manche finden es toll, dass man so offen ist, und bei manchen merkt man sofort, wie da die Jalousien runtergehen. Ich hab’ erst vor kurzem noch jemanden kennengelernt, wo ich dachte: »Die ist ziemlich offen und eben locker drauf.« Aber es war leider genau das Gegenteil, aber das ist halt eben auch der Fall. Ich sage mal so: Zu 70 Prozent sind die Leute negativ belastet, wenn man denen das erzählt und vielleicht 30 Prozent sagen: »Ey, find ich gut, dass du so offen bist und du so offen darüber quatschst!« Ja, was meinen Bekannten- und Freundeskreis betrifft, die sagen klipp und klar: »Wenn du damit offen umgehst, stehen wir hinter dir.« Das sind nicht viele, aber es sind ein paar. Fällt es Ihnen schwerer, über die Haftstrafe oder über Einsamkeit zu sprechen? Über Einsamkeit ist es schwerer zu sprechen, weil es ein Gefühl ist – Haftstrafe ist kein Gefühl. Über Gefühle zu sprechen ist immer schwieriger. Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihnen selbst? Welche Rolle spielt die Haftstrafe in Bezug darauf? Das Verhältnis zu mir selbst ist manchmal nicht so gut. Also ich sehe mich teilweise oder sehr oft nicht minderwertig, aber eben so, dass ich mir selbst nicht genüge. Das können unterschiedliche Gedanken sein, etwa: »Ich bin nicht gut genug!«, »Ich sehe nicht gut genug aus!« oder »Ich bin nicht gut genug für die Arbeit!« oder »Ich bin nicht genug für das oder das, oder, oder …«. Das sind diese Selbstzweifel, die man dann hat, und das macht mir dann auch schon zu schaffen, dass ich dann nicht hinter meiner Person stehe. Andererseits war es früher so, dass ich, auf Deutsch gesagt, mehr so auf den Dicken gemacht hab. Das war anders. Da war ich anders orientiert, was Gefühle betrifft. Da hab’ ich Sachen nicht an mich herangelassen. Da hab’ ich das mehr so weggedrückt, verdrängt, versteckt oder wie auch immer man das sagen mag. Hat sich dieser beschriebene Wandel durch die Haftstrafe verändert? Durch die Haftstrafe bin ich trauriger geworden. Da hatte ich mehr »depressive Sachen«. Das wurde durch die Haftstrafe enorm, zu etwa 60 oder 80 Prozent, gesteigert. Also früher war ich nie so, bevor ich in Haft war. Wenn ich so zurückdenke: Da war es nie so, dass ich ’ne depressive Phase hatte oder dass ich eben so drauf war und dachte, »Alles ist scheiße!« Das ist heute anders. In letzter Zeit geht es, aber es fängt jetzt wieder an. Meine Mutter ist schwer erkrankt und das drückt einem dann, ich sag jetzt mal, den Kopf runter und danach ist man schon sehr oft traurig. Man steht da wie dumm und kann nix machen. Das ist so.

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Würden Sie sagen, dass man durch Einsamkeit oder Alleinsein so etwas wie eine innere Einkehr erfahren beziehungsweise sich besser kennenlernen kann? Und ist das gut oder schlecht? Ich kann nur für mich persönlich sprechen. Bei mir ist das so: Wenn ich alleine bin, lerne ich mich nicht kennen. Dann ekel ich mich an. Wenn ich mit Herrn Gaub oder Frau Muth4 spreche, kann ich so ’n bisschen aus mir herauskommen. Ich kann darüber sprechen. Dann ist auch keiner böse, glaub’ ich, wenn ich dann über irgendwelchen Mist rede. Ich kann mich mit jemandem unterhalten und mich mitteilen. Wenn man dagegen keinen zum Unterhalten hat, dann ist das doof. Gibt es etwas, das Ihnen akut fehlt? Gibt es etwas, das Ihr Umfeld oder die Gesellschaft tun könnte? Ja, akut fehlt es mir eigentlich an nichts, wenn ich ehrlich bin und das nicht eigennützig betrachte. Egoistisch gesehen, fehlt mir vielleicht ’ne Partnerin. Es fehlen mir gute Freunde, weil schlechte Freunde kann man viele kriegen. Vielleicht fehlt Verständnis von Behörden oder anderen Menschen. Aber manche Sachen sind halt so. Manche können vielleicht kein Verständnis aufbringen. Wie sieht ein guter Freund für Sie aus? Ein guter Freund, der fragt nicht »Wenn« und »Aber«. Wenn man den anruft und sagt: »Hör zu Fritz/Franz, ich bin jetzt hier in Köln, ich brauch deine Hilfe, komm bitte!«, der fragt nicht nach »Weshalb, wieso, was hast du?«. Der setzt sich ins Auto und kommt. Oder wenn man irgendwie Bedarf hat zu sprechen und man ist wirklich scheiße drauf, und man weint oder was weiß ich was, und ruft dann jemanden an und sagt: »Ich muss dringend mit jemandem sprechen!«, der fragt dann auch nicht nach, sondern steht auf der Matte. Das wünscht man sich, und das wünsche ich mir, das ist aber sehr, sehr schwer zu bekommen. Ich weiß ja nicht, wie andere darüber denken, aber für mich wäre das schön. Leider ist das halt nicht so. Mittlerweile sag ich halt: »Das ist eben nicht so, nimm es als gegeben hin.« Auch, wenn sich das vielleicht doof anhört. Leider ist in der heutigen Zeit alles sehr oberflächlich. Wenn ich mal 20 Jahre zurückdenke, da wurde schon nach mir gefragt: »Was ist mit dir los?« Heute juckt das keinen mehr. Heute lebt jeder so nebeneinanderher. Ich sehe das bei meinen Freundeskreisen: Die sind schon seit zig Jahren zusammen, die laufen nebeneinander, aber nicht zusammen. Heute ist alles oberflächlicher, sehr oberflächlich teilweise. War das in Haft mit anderen Mithäftlingen anders? Gab es einen stärkeren Zusammenhalt? Das kann ich nicht beurteilen, weil ich mich immer ziemlich für mich alleine gehalten hab’. Ich hab’ da nie großartig mit Leuten über mich und meine Gefühle gesprochen. Man spricht nur oberflächlich. Also »Hallo!«, »Wie geht’s?«, »Guten Morgen!« 4

Der Name wurde geändert.

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und »Tschüss!« Auf der Arbeit das Gleiche im Endeffekt: Ich habe da mehr so mein eigenes Ding gemacht. Ich bin auch nie großartig zu irgendwelchen Freistunden oder so ’nem Kram gegangen. Ich war in meiner Zelle und da hatte ich meine Ruhe. Wenn da Kumpeleien entstehen, dann lügen sie sich gegenseitig die Taschen voll, auf Deutsch gesagt. Das muss ich nicht haben. Also haben Sie sich in Haft anders verhalten als zuvor oder danach? Würden Sie sich selbst als eher introvertiert beschreiben? Nein, ich bin sonst so drauf, dass ich mit sehr vielen Leuten etwas zusammen mache. Bei uns in der Nachbarschaft ist es sehr landwirtschaftlich geprägt, jeder kennt jeden. Da geht’s mal dahin und mal dorthin. Ich war auch am Freitag kurz auf ’nem Geburtstag und am Samstag auch nochmal. Ja, da geht man kurz hin, trinkt ’n Bier, isst etwas und dann ist wieder gut. Und man quatscht mal ’n bisschen übers Land und die Welt und geht dann wieder. Können Sie sagen, was Ihnen schwer daran fällt, über Einsamkeit zu sprechen? Man muss ja was von sich, was Inneres von sich, preisgeben. Man kann ja nicht ’ner fremden Person erzählen, was einen bedrückt oder was einen traurig macht. Das macht ja kein Mensch. Wenn das jemand ist, den man kennt oder zu dem man Vertrauen hat – das hat was mit Vertrauen zu tun – dann ist das was Anderes. Bei mir ist das sehr vertrauensabhängig. Ich hab’ mit jedem meiner Bewährungshelfer am Anfang Probleme gehabt. Vor Herrn Gaub hätt’ ich niemals sowas zugelassen, wie dieses Interview, niemals. Da hätt’ ich auch nie ein persönliches Wort reden können, weil es einfach von der Chemie alles nicht so passte und ich nie so Vertrauen gehabt habe. Ich tue mir da auch schwer mit Vertrauen. Es geht mittlerweile, aber es war schon schwierig für mich. Ich bin mittlerweile drei oder vier Jahre raus und ganz froh drüber, dass ich Herrn Gaub an der Seite hab’, weil ganz ehrlich, bei ihm brauch’ ich nicht drum herumzureden. Es ist eben schwierig, über sowas wie Einsamkeit zu reden, weil man mit einem wildfremden Menschen nicht über seine Probleme oder was einen bedrückt sprechen kann. Das macht ja keiner. Wie gehen Sie mit Einsamkeit um? Reagieren Sie auf eine bestimmte Weise, wenn Sie einsam sind? Es kommt darauf an. Meistens igel’ ich mich dann noch mehr ein: »Jetzt ist alles scheiße, alles Mist!«, so ungefähr. Dann muss ich mir irgendwie selbst einen Ruck geben oder meine Schwester macht das oder ich rufe jemanden an, mit dem ich quatschen kann. Das sind nicht viele, aber es ist einfacher für mich, seitdem ich Herrn Gaub und Frau Muth sprechen kann. Aber am Wochenende erreiche ich die ja nicht und dann muss eben meistens meine Schwester herhalten, vielleicht noch einen Freund, aber es ist auch schwierig, mit ihm zu sprechen, weil er in Thailand wohnt.

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Würden Sie sagen, dass die Corona-Pandemie etwas für Sie verändert hat? Nein, ich bin schon immer für mich alleine gewesen. Eine Sache, die während Corona anders war, ist natürlich, dass man nicht mehr so rausgehen konnte. Ich bin früher schon mal öfter irgendwo hingefahren, weil man raus wollte, zum Beispiel zu einem Motorradtreffen, irgendwo auf ’ne Party oder in ’nen Laden. Das war ja eben nicht mehr. Ich bin auch gerne über ’n Schützenfest oder ’ne Kirmes gegangen – nicht zum Saufen, sondern einfach nur, um mal drüber zu gehen, um mal zu gucken, wen man trifft, um vielleicht ’n paar Leuten »Hallo!« zu sagen, Gesichter zu gucken und sowas. Meine Schwester und ich machen viel zu Hause. Wir kochen samstags oft und unter der Woche ist es arbeitstechnisch sowieso schwierig, etwas zu unternehmen – aber das ist halt so. Wo war Corona jetzt intensiver im Vergleich zu vorher? Ich fahre jeden Sonntag essen, das gehört zu den Dingen, die ich mir angeeignet hab’ – weil man das irgendwie schätzen gelernt hat. Was würden Sie sich für die Zukunft für sich selbst wünschen? Dass ich mit Situationen, in denen ich Einsamkeit empfinde oder traurig werde, besser umgehen kann, ich vielleicht nicht mehr so oft irgendwelche Leute stören oder anrufen muss. Dass ich damit besser fertig werde, wenn solche Situationen entstehen. Was bedeutet für Sie Einsamkeit? Traurigkeit – im Großen und Ganzen.

IV. Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung: Der Tod als einsam(st)es Thema?

Einsames Sterben und unentdeckte Tode Susanne Loke (Ruhr-Universität Bochum) | Thanatosoziologie

1. Einleitung Dieser Beitrag beschäftigt sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit dem weitgehend unbeachteten Thema eines einsamen Lebensendes. Die gesellschaftliche und auch die wissenschaftliche Debatte verkennen bislang die beträchtliche Relevanz der sozialen Phänomene des einsamen Sterbens und des unentdeckten Todes, welche sich in der Verborgenheit des privaten Raums ereignen. Die folgende, dem widersprechende Argumentation erläutert zunächst die soziale Dimension der Einsamkeit, des (einsamen) Sterbens sowie des (unentdeckten) Todes und dann – vor dem Hintergrund eines differenzierten Sterbekonzepts – die Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und den sozialen, psychischen und physischen Prozessen des Sterbens. Danach wird mit Verweis auf die Forschungsergebnisse zu unentdeckten Toden die besondere Problematik von Einsamkeit der sozialen Exklusion am Lebensende herausgestellt und hieraus Schlussfolgerungen für die Handlungspraxis abgeleitet.

2. Die soziale Dimension des (einsamen) Sterbens und des (unentdeckten) Todes Etwa 70 Prozent der Deutschen versterben in Krankenhäusern oder in Senior:innen- beziehungsweise Pflegeeinrichtungen, nur weniger als ein Viertel der Todesfälle (circa 23 Prozent) ereignet sich im privaten Umfeld.1 Dieser Verteilung stehen die in Erhebungen geäußerten Wünsche zum eigenen Lebensende entgegen, wonach bis zu drei Viertel aller Befragten das eigene Zuhause als Sterbeort bevorzugen.2 Allerdings steht dieses angenommene gute Sterben im eigenen Zuhause unter

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B. Dasch et al. (2015): Place of death. W. Haumann (2016): Sterben zuhause, S. 22; Statista (Hg.) (2020): An welchem Ort sterben?

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Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung: Der Tod als einsam(st)es Thema?

dem Vorbehalt der Schmerzfreiheit und Selbstbestimmung sowie einer positiven sozialen Einbettung.3 Das einsame Sterben und der unentdeckte Tod – wie sie in diesem Beitrag thematisiert werden – vollziehen sich zwar in der Obhut der eigenen Wohnung, allerdings sind die Sterbenden allein und müssen die nicht geringen physischen sowie psychischen Schmerzen und Belastungen ohne soziale oder medizinisch-pflegerische Begleitung und Unterstützung bewältigen. Quantitative Erhebungen in zwei Großstädten belegen, dass mindestens jede fünfte Person, die im privaten Umfeld stirbt, bei Todeseintritt unbegleitet ist.4 Prinzipiell lässt sich das einsame Sterben dadurch erklären, dass die meisten Betroffenen allein leben. Wenn jedoch die ausbleibenden Lebenszeichen mehrere Tage, Wochen oder Monate unbemerkt bleiben, so weist die »Liegezeit« – das heißt die Zeit, die bis zur Entdeckung der Tode vergeht – mit jedem weiteren Tag immer deutlicher auf brüchige oder fehlende soziale Netzwerke der Verstorbenen hin und lässt ein »einsames« – das heißt unfreiwilliges, sozial unbegleitetes – Sterben infolge dieses Beziehungsdefizits sehr plausibel erscheinen. Die subjektive Gefühlslage der Einsamkeit lässt sich postmortal nicht erheben, aber theoretisch plausibilisieren und empirisch nachvollziehen, indem Menschen in vergleichbarer Lebenslage zu ihrem subjektiven Erleben interviewt werden. Die eigene Fall- und Feldforschung bestätigte durch eben solche Befragungen, dass das gehäufte Auftreten unentdeckter Todesfälle auch mit einer sozialräumlichen Verdichtung, also stärkeren Verbreitung, von Einsamkeit einherging.5 Die soziale Dimension der Einsamkeit wie auch des einsamen Sterbens lässt sich mindestens in dreierlei Hinsicht begründen: anthropologisch, soziokulturell und sozialstrukturell. Die anthropologische Begründung bezieht sich auf den Menschen als soziales Wesen und dessen Gemeinschaftsbezug. Diese soziale Dimension des Gefühls der Einsamkeit charakterisiert unser Erleben in der Beziehung zu anderen Menschen. Einsam zu sein bedeutet nach dem hier zu Grunde liegenden Begriffsverständnis immer eine zugleich unfreiwillige und belastende, vom subjektiven Erleben bestimmte Defiziterfahrung. Dadurch ist Einsamkeit zunächst einmal unabhängig von objektiven Faktoren wie der Anzahl und Häufigkeit sozialer Kontakte. Doch auch wenn die Erscheinung der Einsamkeit einen individuellen, subjektiven Charakter trägt, ist sie ebenso durch objektive, gesellschaftliche (soziokulturelle und sozialstrukturelle) Rahmenbedingungen (mit)beeinflusst und (mit)verursacht. Über einsames Sterben und unentdeckte Tode wird öffentlich kaum gesprochen. Der Umgang in den Medien ist eher auf die Skandalisierung und Emotionalisierung von

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W. Haumann (2016): Sterben zuhause, S. 24; N. Jakoby/M. Thönnes (2017): Zur Soziologie des Sterbens, S. 5; S. Stadelbacher (2017): Das Lebensende als Randgebiet des Sozialen?, S. 49ff. S. Loke (i.E.): »Einsames« Sterben und »unentdeckte« Tode. Ebd.

Susanne Loke: Einsames Sterben und unentdeckte Tode

Extremfällen fokussiert und verkennt die beträchtliche gesellschaftliche Relevanz dieses sozialen Phänomens, welches sich in der Verborgenheit und Unsichtbarkeit des privaten Raums ereignet.6 Die direkte und indirekte Begegnung mit der eigenen oder fremden Einsamkeit löst eher Abwehr und Unbehagen aus und kann mit dem Gefühl der Scham und Peinlichkeit, Ängsten vor sozialer Entblößung und Stigmatisierung sowie der Assoziation sozialer Inkompetenz verbunden sein.7 Die Einsamkeitsforschung spricht von einem turn away-Effekt.8 Die Thanatologie (Sterbeforschung) verweist auf die Verdrängung des eigenen beziehungsweise fremden Todes sowie die Vermeidung der persönlichen Begegnung mit Sterbenden und Toten.9 Im Phänomen des einsamen Sterbens und des unentdeckten Todes laufen diese Tendenzen zusammen und verschränken sich. Der indirekte Ausschluss der einsam Lebenden und Sterbenden wie auch der unentdeckt Verstorbenen wird dadurch forciert, dass soziale Abwendung, Vermeidung und Verdrängung vielen sozialen Handlungen und Unterlassungen in subtiler Weise zu Grunde liegen. Prinzipiell betreffen Einsamkeit und ein einsames Sterben alle Menschen gleichermaßen und treten ohne Unterschied an allen Lebens- und Sterbensorten auf. Tatsächlich aber sind Menschen in sozialstrukturell benachteiligter Lebenslage und in sozialstrukturell benachteiligten beziehungsweise benachteiligenden Sozialräumen häufiger betroffen.10 Sachverhalte wie das Verfolgen einer Austeritätspolitik11 , unzureichende soziale Sicherungssysteme, Kürzungen im Sozialetat oder in der kommunalen Daseinsvorsorge sowie mangelnde sozialräumliche Gelegenheitsstrukturen wirken sich auf die Lebens- und Sterbensbedingungen der hiervon betroffenen Bevölkerungsgruppen aus12 und finden ihren Ausdruck auch in einem gehäuften Auftreten von Einsamkeit – vor allem in der spezifischen Erscheinungsform der »Einsamkeit der sozialen Exklusion« (siehe unten).13 Die sozialstrukturellen Defizite sind in der Folge insbesondere für ressourcenarme Personen – also Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen,14 mit geringem

6 7 8 9 10 11 12 13 14

Ebd. D. Perlman/P. Joshi (1987): The revelation of loneliness; C. Bohn (2006): Einsamkeit im Spiegel. E. Elbing (1991): Einsamkeit; J.T. Cacioppo/J.H. Fowler/N.A. Christakis (2009): Alone in the crowd. K. Feldmann (2010): Tod und Gesellschaft, S. 77. S. Loke (i.E.): »Einsames« Sterben und »unentdeckte« Tode. Dem Duden nach ist Austeritätspolitik die »energische Sparpolitik zur Verringerung der Staatsverschuldung«. Vgl. S. Loke (2019): Einsam verstorben. S. Loke (i.E.): »Einsames« Sterben und »unentdeckte« Tode. L.C. Hawkley/J.P. Capitanio (2015): Perceived social isolation, evolutionary fitness and health outcomes; M. Luhmann (2018): Einsamkeit, S. 70.

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Einkommen und niedrigem Bildungsstatus15 und bei Arbeitslosigkeit16 – mit einem deutlich erhöhten Einsamkeitsrisiko verbunden.

3. Soziales Sterben Thánatos ist ein Totengott in der griechischen Mythologie. Die nach ihm benannte, interdisziplinär ausgerichtete Wissenschaft versteht sich als »breite Forschung zum Lebensende«.17 Die empirisch ausgerichtete Thanatosoziologie fokussiert die soziale Dimension des Sterbens und des Todes und untersucht die entsprechenden menschlichen Interaktionen, die Formen der Kommunikation sowie die sozialen Handlungen und Kontexte, welche von den gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen, Normen und Werten geprägt sind.18 Die Frage danach, wann das Sterben beginnt, wie der Verlauf zu beschreiben ist und wann der Tod eintritt, wird aus soziologischer Perspektive anders beantwortet als aus psychologischer oder medizinischer Sicht. Die mehrdimensionale Betrachtungsweise eines differenzierten Sterbekonzepts19 verdeutlicht, dass für den Einzelfall parallel unterschiedliche Zustände des Lebens und des Sterbens zu beschreiben sind. Es lassen sich demnach drei Dimensionen des Sterbens sowie der jeweils zugehörigen Tode benennen: das physische Sterben mit dem biologischen Tod, das psychische Sterben mit dem psychischen Tod sowie das soziale Sterben mit dem sozialen Tod. Das physische Sterben vollzieht sich als körperlicher Abbau beziehungsweise Krankheit und geht mit physiologischen und medizinischen Vorgängen einher.20 Der biologische Tod bezeichnet entsprechend den irreversiblen Organ- und Zelltod.21 In psychologischer Perspektive richtet sich der Fokus auf das Erleben – Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse – und das daraus resultierende Verhalten der Sterbenden.22 Der Beginn des psychischen Sterbens wird durch das Todesbewusstsein 15

16 17 18 19

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L.C. Hawkley et al. (2008): From Social Structural Factors to Perceptions of Relationship Quality and Loneliness; A. Böger/M. Wetzel/O. Huxhold (2017): Allein unter vielen oder zusammen ausgeschlossen; K. Mahne et al. (Hg.) (2016): Altern im Wandel; P. Böhnke/S. Link (2017): Poverty and the Dynamics of Social Networks. A.K. Orth/T. Eyerund (2019): Einsamkeit in Deutschland, S. 16f. H. Wittwer/D. Schäfer/A. Frewer (2010): Sterben und Tod, S. VIII. N. Jakoby/M. Thönnes (2017): Zur Soziologie des Sterbens, S. 2. H. Wittwer/D. Schäfer/A. Frewer (2010): Sterben und Tod; K. Feldmann (2010): Tod und Gesellschaft, S. 17ff.; Feldmann, Klaus (2010): I. Sicht der Wissenschaften und Religionen. 6. Soziologie, S. 63f.; Bromley 1974, S. 267, zitiert nach J. Wittkowski/H. Strenge (2011): Warum der Tod kein Sterben kennt, S. 41. J. Wittkowski/H. Strenge (2011): Warum der Tod kein Sterben kennt, S. 41. Ebd. Ebd.

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beziehungsweise durch das veränderte Selbstbild der unheilbar kranken, sterbenden Personen markiert. Im weiteren Verlauf kommt es zu einem schrittweisen Verlust von mentalen Kompetenzen und des Bewusstseins,23 bis mit dem unwiderruflichen Verlust des Bewusstseins der psychische Tod eintritt. Das psychische Sterben ist dadurch charakterisiert, dass objektive und subjektive Faktoren – das heißt die medizinische Diagnose und das Sterbebewusstsein ‒ gleichermaßen einbezogen werden. Das soziale Sterben bedeutet allgemein formuliert den (schrittweisen) Verlust von sozialen Beziehungen und sozialem Kapital.24 Der soziale Tod ist kulturspezifisch und kennzeichnet das Ende der aktiven Teilnahme an der menschlichen Gemeinschaft.25 Entgegen der juristischen Auslegung werden physisch Tote in der rituellen Handlungspraxis vieler Gesellschaften – zumindest für eine Übergangszeit – auch nach dem Tod »als Mitglied der Gemeinschaft angesehen und ›behandelt‹«.26 Abhängig vom sozialen Umfeld der Verstorbenen wird das postmortale soziale Weiterleben in Dauer und Form unterschiedlich ausgestaltet und kann auch mit Vorstellungen des Übergangs in ein Reich der Toten verbunden sein.27 Dieser Beitrag konzentriert sich jedoch auf die prämortale soziale Dimension des Sterbens sowie die Verknüpfungen mit physischen und psychischen Prozessen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich sukzessive ein erweitertes Verständnis des sozialen Sterbens durchgesetzt, wonach »alle möglichen Formen einer auferlegten Minderung der Teilhabe am sozialen Leben« hierunter aufgefasst werden.28 Das soziale Sterben wird in diesem umfassenden Sinne als eine soziale Exklusionserfahrung ausgelegt, die einerseits durch den »Verlust von sozialen Teilhabechancen« und/oder andererseits durch den »Prozess der Desintegration«29 von sozial benachteiligten Personen(-gruppen) bestimmt sein kann.30 Der Verlust von sozialen Positionen und Rollen, von sozialer Wertschätzung und Anerkennung, von Interaktionsund Kommunikationsmöglichkeiten oder von sozialer Teilhabe stellen gleichermaßen soziale Sterbeerfahrungen dar.31 Dies verdeutlicht, dass das (umkehrbare) soziale Sterben im Verlauf des Lebens andauernd und in unterschiedlichen Kontexten – etwa bei Schul-, Berufs- und Ortswechseln, Abbruch und Verlust von (bedeutsamen) Beziehungen, schweren Erkrankungen oder bei Arbeitslosigkeit – vorkommt,

23 24 25 26 27 28 29 30 31

K. Feldmann (2018): Sterben, Sterbehilfe, Töten, Suizid, S. 45. Ebd. J. Wittkowski/H. Strenge (2011): Warum der Tod kein Sterben kennt, S. 142. K. Feldmann (1998): Physisches und soziales Sterben, S. 97. K. Feldmann (2018): Sterben, Sterbehilfe, Töten, Suizid, S. 50. W. Fuchs-Heinritz (2010): II. Grundlagen und Konzepte. 9. Sozialer Tod, S. 134. Desintegration als Gegenpol zur Integration bezeichnet die Entbindung aus Gesellschaft und Gemeinschaft. K. Feldmann (2010): Tod und Gesellschaft, S. 132. K. Feldmann (2018): Sterben, Sterbehilfe, Töten, Suizid, S. 46.

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und dass sich über die Auseinandersetzung mit diesen belastenden und krisenhaften Ereignissen nach und nach eine gewisse »Übung« im sozialen Sterben einstellt. Auch wenn ein Sterben ohne Endpunkt nicht möglich ist, so ist das prozessuale Sterbegeschehen jedoch prinzipiell reversibel. Die sozialen Sterbeerfahrungen mehren sich im Lebensverlauf ebenso wie im Zusammenhang mit einem niedrigen sozioökonomischen Status – letzteres unabhängig vom Lebensalter.32 Ältere und alte Personen sowie Personen mit niedrige(re)m Sozialstatus tragen ein höheres Risiko für soziales Sterben und verfügen gleichzeitig häufiger über geringere Bewältigungs- und Kompensationsmöglichkeiten. Vergleichbare Sterbeerlebnisse werden interindividuell different durchlebt und auch abhängig von den gemachten Erfahrungen bewältigt. Mit fortschreitender Einschränkung der gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten reduzieren sich Anzahl und Häufigkeit der sozialen Kontakte und das Risiko der sozialen Vereinzelung wächst. Durch das andauernde physische Alleinsein schreitet das soziale Sterben objektiv – und bei gleichzeitigem Erleben von auswegloser Einsamkeit auch subjektiv im Sinne des psychischen Sterbens ‒ weiter voran. Das skizzierte weit gefasste Verständnis des sozialen Sterbens ist allerdings nicht in jeder Hinsicht überzeugend: Auf der einen Seite befördern unzureichende Teilhabemöglichkeiten und brüchige oder fehlende soziale Netzwerke ein soziales »Hinaussterben« beziehungsweise »Herausgestorben-Werden« vor dem Tod. Für unentdeckt Verstorbene ist mit zunehmender Liegezeit anzunehmen, dass diese zu Lebzeiten einsam und/oder sozial isoliert beziehungsweise sozial exkludiert gewesen sind.33 Dem physischen Sterben und Tod ist also ein allmähliches Hinausdriften aus den sozialen Zusammenhängen vorausgegangen. Auf der anderen Seite kann dieses soziale Sterben – im Sinne einer graduellen Einschränkung der sozialen Teilhabe – Wochen, Monate, Jahre, unter Umständen auch Jahrzehnte vor dem physischen Tod einsetzen. Postmortal lässt sich demnach nicht klären, ob der soziale Rückzug selbstbestimmt oder infolge eines fremdbestimmten sozialen Ausschlusses erfolgt ist. Eine weitere Schwäche dieser Argumentation liegt darin, dass die Unterstellungen eines einsamen oder sozial exkludierten Lebens lediglich auf den Zeitpunkt der Entdeckung des Todes bezogen sind und nicht mit der subjektiven Zufriedenheit beziehungsweise Unzufriedenheit oder der objektiv ausoder unzureichenden sozialen Einbindung übereinstimmen müssen. Mit dem Tod 32 33

Ebd., S. 46f. Das zugrundliegende Konzept der sozialen Isolation bezieht sich im Gegensatz zu dem der Einsamkeit nicht auf den subjektiven, sondern auf den objektiven Aspekt der sozialen Lage und stützt sich auf äußere, messbare Faktoren wie die Anzahl und die Häufigkeit der sozialen Kontakte. Der Begriff der sozialen Exklusion bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Individuum oder Gruppen und der Gesellschaft, und beschreibt deren fehlenden Zugang zu und die mangelnde Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen (C. Kuhlmann/H. MoggeGrotjahn/H.-J. Balz [2018]: Soziale Inklusion, S. 12).

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erlischt die Reziprozität sozialer Beziehungen. Die Spanne der Liegezeit hängt vom postmortalen sozialen Handeln des Umfelds ab und kann, muss aber nicht zwingend, die prämortalen Beziehungen zu den Verstorbenen widerspiegeln.

4. Einsames Sterben Um das psychische Erleben der sozial Sterbenden näher zu charakterisieren, wird nun der Fokus auf die verschiedenen Erscheinungsformen der Einsamkeit gerichtet und das einsame Sterben in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Die Besonderheit einer sozialen Emotion wie Einsamkeit34 ist, dass die Gefühlslage unser Verhältnis zu anderen widerspiegelt und hier konkret auf deren (objektive) physische und/oder (subjektiv erlebte) emotionale Abwesenheit bezogen ist. Näher betrachtet kann dieses Mangelgefühl durch das Fehlen einer engen Bezugsperson, durch ungenügende Integration in ein persönliches Netzwerk von Freund- und Bekanntschaften, durch mangelnde Einbindung in größere Gemeinschaften beziehungsweise in die Gesellschaft oder auch durch eine Kombination dieser Formen ausgelöst sein. Weiss35 hat die beiden ersten Facetten als »emotionale« und »soziale« Einsamkeit [loneliness of emotional and social isolation] beschrieben. Cacioppo et al.36 haben diese um eine dritte Form der »kollektiven« Einsamkeit [collective loneliness] ergänzt, um den Fokus auf die fehlende (identitätsstiftende) Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe, Gemeinschaft oder zur Gesellschaft zu legen. Dieser Beitrag geht von einer vierten Form – der »(verschränkten) Einsamkeit der sozialen Exklusion« – aus. Während die obige Dreiteilung zwar die (untereinander unabhängige) Kombination verschiedener Ursachen von Einsamkeit offenlässt, ist für diese vierte Form die gleichzeitige und sich wechselseitig verstärkende Erfahrung von Einsamkeit und sozialer Exklusion charakteristisch. Das Auftreten der Einsamkeit ist primär auf eingeschränkte oder fehlende Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe infolge einer sozial benachteiligten Lebenslage zurückzuführen. Durch die Verschränkung der Problemlagen nimmt die psychosoziale Belastung zu, sodass vor allem bei ihrer Verstetigung davon auszugehen ist, dass die Einzelnen ihre schwierige Gesamtsituation nicht eigeninitiativ zu verbessern vermögen, sondern auf soziale Unterstützung angewiesen sind. Angesichts der Komplexität der Lebenslage ist kaum zu ermessen, inwiefern die Gefühlslage der Einsamkeit als Ursache, Folge oder Begleiterscheinung von sozialer Exklusion auftritt.

34 35 36

Vgl. Soziologiemagazin e.V. (Hg.) (2014): Emotionen. R.S. Weiss (1973): Loneliness. J.T. Cacioppo et al. (2015): Loneliness Across Phylogeny and a Call for Comparative Studies and Animal Models.

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In seinem Essay »Über die Einsamkeit der Sterbenden« nannte Norbert Elias die emotionale Einsamkeit ein prägnantes sozialstrukturelles Kennzeichen der »entwickelteren Gesellschaften« mit einem hohen Grad an Individualisierung.37 Besonders intensiv schätzt Elias die Einsamkeit derjenigen Sterbenden ein, welche noch zu Lebzeiten spüren, dass sie für ihr soziales Umfeld kaum beziehungsweise keine Bedeutung mehr besitzen und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sind.38 Dieses subjektive Erleben der mangelnden sozialen Wertschätzung und der gesellschaftlichen Anerkennung stellt auch eine mögliche Ausprägung der »Einsamkeit der sozialen Exklusion« dar. Anders als bei einer flüchtigen oder periodischen beziehungsweise situativen Einsamkeit ist die chronifizierte Form der Einsamkeit weder eine vorübergehende Stimmung infolge einer alltäglichen Belastungssituation, in welcher unterstützende Personen nicht zur Verfügung stehen, noch die Folge eines krisenhaften Lebensereignisses, dessen sicherlich auch schmerzhafte Bewältigung zwar einige Monate andauern kann, aber letztlich, etwa durch das Eingehen neuer Beziehungen, handhabbar ist.39 Falls die Bewältigung von Lebenskrisen misslingt und/oder die Gefühlslage der »Einsamkeit der sozialen Exklusion« dominiert, kann sich das Einsamkeitsgefühl chronifizieren und auf allen Ebenen des Erlebens und Verhaltens manifestieren. Die ausgedehnte Gefühlslage wird als immer quälender und auswegloser empfunden. Einsamkeitstypische Gedanken und Gefühle, oft mit Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsproblemen verbunden, verfestigen und verstetigen sich.40 Bezeichnend sind Denkmuster wie: »Ich gehöre nicht dazu!« oder »Niemand möchte mit mir zusammen sein.« Chronische Einsamkeit verändert das Handeln der Betroffenen und bewirkt, dass die vorhandenen sozialen Kompetenzen seltener eingesetzt werden.41 Auch die sozialen Kognitionen können verzerrt sein, sodass die Perspektiven anderer ‒ etwa deren Absichten ‒ nicht mehr angemessen eingeschätzt werden.42 Infolgedessen sind Verhaltensweisen des »Sonderlichen«, des übertrieben Vertrauensseligen oder Misstrauischen möglich,43 welche allesamt soziale Interaktionen erschweren und hierdurch einen sozialen Rückzug beziehungsweise Ausschluss verstärken können. Die Betroffenen können in einem »Teufelskreis der Einsamkeit« gefangen sein,44 in dem sich ihre Einsamkeit in einer Verkettung von negativen Überzeugungen, Wahrnehmungen und dysfunktionalen Verhaltensweisen verstärkt und stabilisiert. Der anhaltende Stresszustand fördert darüber hinaus physiologische 37 38 39 40 41 42 43 44

N. Elias (2002): Über die Einsamkeit der Sterbenden, S. 75. Ebd., S. 66f. Vgl. H.P. Buba/H. Weiß (2003): Einsamkeit und soziale Isolation schwuler Männer, S. 16. Ebd., S. 15. J.T. Cacioppo/W.H. Patrick (2011): Einsamkeit, S. 15. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 222f.

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Prozesse, welche sowohl die Morbidität als auch die Mortalität45 der Betroffenen erhöhen können.46 Ein einsames Sterben und unentdeckte Tode stellen gewissermaßen die Endpunkte dieser abwärts gerichteten Spirale der chronischen Einsamkeit, der sozialen Isolation und der sozialen Exklusion dar. Im einsamen Sterben kann ein Gefühl der absoluten, nicht mehr steigerbaren Einsamkeit auftreten. Sterbende Menschen sind in besonderer Weise verletzlich und auf die Fürsorge anderer angewiesen – und dies sowohl hinsichtlich mitmenschlicher Zuwendung als auch hinsichtlich der Gestaltung menschenwürdiger Sterbebedingungen. Einsam Sterbenden fehlen nicht nur psychosoziale Begleitung und Unterstützung, sondern auch ausreichende Möglichkeiten der Symptomlinderung, sodass sie unter Umständen nicht nur mit starken Gefühlen der Ohnmacht, Verzweiflung und mit Todesängsten, sondern auch mit immensen körperlichen Schmerzen konfrontiert sind; und dies meist über einen längeren Zeitraum, denn das Sterbegeschehen erstreckt sich fast immer über mehrere Tage.47 Nur bei etwa fünf Prozent aller Fälle tritt der Tod »plötzlich« und »unerwartet« ein.48

5. Fazit: Schlussfolgerungen für die Handlungspraxis – Prävention gegen einsames soziales Sterben Wie dargelegt, zeigt sich sowohl im Auftreten der Einsamkeit als auch des sozialen und des einsamen Sterbens ein sozialer Gradient. Die Erscheinungsform der Gefühlslage der »(verschränkten) Einsamkeit der sozialen Exklusion« betont diese soziale Ungleichheit mit negativen Folgen für das subjektive Wohlbefinden und die Lebensqualität wie auch für die Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung und der sozialen Teilhabe. Aber wie ist die Personengruppe derer, die einsam und unentdeckt sterben, näher zu kennzeichnen, und wie die Sterbeumstände und die »gefährdenden« Sterbeorte? Die deskriptivstatistische Analyse unentdeckter Tode in zwei Großstädten belegt, dass etwa zwei Drittel der Verstorbenen »ledige«49 Männer mit einer sehr weit unterdurchschnittlichen Lebensdauer sind.50 Insbesondere Tode mit höheren Liege45 46 47 48 49 50

Unter Morbidität versteht man die Krankheits- und unter Mortalität die Sterblichkeitswahrscheinlichkeit. Ebd., S. 127ff.; J. Holt-Lunstad/T.B. Smith/J.B. Layton (2010): Social Relationships and Mortality Risk; J. Holt-Lunstad et al. (2015): Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality. M. Trachsel/A. Maercker (2016): Lebensende, Sterben und Tod, S. 6. Deutsche Hospiz Stiftung (Hg.) (2006): Meinungen zum Sterben, S. 1. Als Merkmal in Abgrenzung zu »geschiedenen/getrennten« beziehungsweise »verheirateten« oder »verwitweten« Männern. S. Loke (i.E.): »Einsames« Sterben und »unentdeckte« Tode.

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zeiten treten gehäuft in strukturschwachen Sozialräumen auf. Auch sind die Anteile an Suiziden und nicht natürlichen Todesursachen (im Kontext von gesundheitsriskanten Verhaltensweisen) in dieser Gruppe auffällig hoch.51 Wenn in diesen Fällen mehrheitlich als die häufigste Ursache von Suiziden Beziehungsprobleme beziehungsweise -defizite, oft in Verschränkung mit weiteren sozialen und gesundheitlichen Problemlagen, unterstellt werden,52 so lässt sich über diesen Hinweis ein Leidensdruck der Verstorbenen zu Lebzeiten herleiten und plausibilisieren, dass dem unentdeckten Tod ein einsames Leben und Sterben vorausgegangen ist. Die Analyse der Lebens- und Sterbensverhältnisse verdeutlicht das sich wechselseitig beeinflussende Zusammenwirken von einsamkeits-, isolations-, und exklusionsbegünstigenden Bedingungen auf der Individual-, Sozialraum- und Gesellschaftsebene. Prävention und Intervention müssen diese Interdependenzen auf der jeweiligen Ebene und zwischen den Ebenen berücksichtigen, um wirksame (mehrdimensionale) Strategien gegen Einsamkeit, soziale Isolation und soziale Exklusion – mit dem übergeordneten Ziel der Verbesserung der Möglichkeiten der sozialen Teilhabe – zu entwickeln. Auf Gesellschaftsebene geht es vor allem darum, im Rahmen einer nationalen Gesamtstrategie Bewusstsein für die Problematik zu schaffen, zu informieren und sozialpolitische Maßnahmen zur Stärkung der individuellen und sozialräumlichen Ressourcen zu veranlassen. Auf der Ebene des nahen und kommunalen Sozialraums können diese Zielsetzungen durch die Aufwertung des öffentlichen Raums, etwa durch die Schaffung von Begegnungs- und Unterstützungsmöglichkeiten in sozial benachteiligenden Gebieten, umgesetzt werden. Für die Auswahl der entsprechenden Quartiere können durch die statistische Auswertung der Sterbeorte unentdeckter Tode im Rahmen des Sozialmonitorings wichtige ergänzende Hinweise gewonnen werden. Aufgrund der Verborgenheit des sozialen Phänomens erscheint es unverzichtbar, insbesondere in diesen Räumen die aufsuchende, auf Menschen zugehende Sozialarbeit zu verstärken, um sowohl instrumentelle als auch psychosoziale Unterstützungsangebote – angepasst an die individuellen Problemlagen – an einsame, sozial isolierte oder sozial exkludierte Personen heranzutragen und so schlussendlich auch einem einsamen Sterben und einem unentdeckten Tod vorzubeugen.

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Ebd. R. Köchert (2018): Einsamkeit und Freitod im Alter, S. 185ff.

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Sterben, Tod und Einsamkeit Silke Malzahn (Palliativmedizinischer Konsiliardienst Dortmund GbR, Palliativ- und Hospiznetz Dortmund) | Begleitung für Sterbende und ihre Angehörigen

1. Einleitung Wir begegnen Einsamkeit in allen möglichen Situationen in unserem Leben. Sie nimmt in unserer Gesellschaft eine ähnliche Stellung ein wie die Themen Tod und Sterben: Es wird kaum über sie gesprochen, obwohl sie zu unserem Leben untrennbar dazugehört und (fast) jede:n irgendwann mittelbar oder unmittelbar betrifft. Die Arbeit in der Palliativversorgung verdeutlicht, was Einsamkeit – im Guten wie im Schlechten – bedeuten kann, wie sie sich zum Alleinsein verhält und was mit dem sozialen Umfeld passieren kann, wenn solche tabuisierten, vielleicht sogar stigmatisierten Themen in eben dieses Umfeld hineingeraten. Dieser Beitrag führt so unmittelbar und barrierefrei wie möglich in die Themen Sterben, Tod und Einsamkeit aus Erfahrungsperspektive der Palliativversorgung ein. Das Ziel dabei ist, ein solches Einfinden in ein doppelt tabuisiertes Terrain – Einsamkeit und Tod – zu erleichtern, indem im besten Fall Angst und Hemmungen genommen werden, sich mit diesen beiden Phänomenen auseinanderzusetzen.1

2. Was bedeutet Einsamkeit? Zu definieren, was Einsamkeit bedeutet, ist aufgrund der vielen sie umgebenden Faktoren nicht einfach. Aus den Erfahrungen in der Palliativversorgung kann allerdings der Versuch unternommen werden, eine mögliche Definition von Einsamkeit 1

Die Inhalte dieses Beitrags basieren auf einem Interview, das am 25. Mai 2022 von Nora Becker und Sara Mann (stellvertretend für das gesamte Herausgeber:innenteam) mit mir geführt wurde, und einem Vortrag, der am 11. November 2020 im Rahmen der Vortrags- und Diskussionsreihe »Lonely Lectures: Perspektiven auf Einsamkeit« an der Professur für Politikwissenschaft von Christoph Schuck der Technischen Universität Dortmund (organisiert durch die Herausgeber:innen dieses Bandes) von mir gehalten wurde. Um den beschriebenen Einstieg in die genannten Themen zu erleichtern, habe ich mich für eine Kombination der beiden mündlichen Formate zu einem kommentarähnlichen Fließtext entschieden.

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wie folgt aufzustellen: Einsamkeit könnte sein, Gedanken zu haben, die andere nicht mittragen. Beispielsweise kann sich eine schwer erkrankte Person einsam mit dem Wunsch fühlen, ab einem bestimmten Zeitpunkt auch tatsächlich sterben zu wollen, weil sie in ihrem Umfeld mit großer Wahrscheinlichkeit auf Unverständnis dafür stößt. Im ersten Moment versteht man unter Einsamkeit oft auch »Alleinsein«. Das Alleinsein ist wie die Einsamkeit ein Bestandteil unseres Lebens. Wie gut man mit dem Alleinsein umgehen kann, das ist sicherlich für jede:n unterschiedlich. Einsamkeit könnte davon abhängen, wie gut der Umgang mit dem Alleinsein funktioniert und ob es sich um ein situatives oder ein grundsätzliches Alleinsein handelt. Manche Menschen sind sogar gerne alleine. Dies hängt sicherlich damit zusammen, in welche sozialen Beziehungen sie eingebunden sind beziehungsweise wie gut man sich selbst eingebunden fühlt. Wenn man um seine guten sozialen Beziehungen weiß, dann ist einem das auch im Alleinsein bewusst – und dieses verliert seinen Schrecken. Aus dem Gefühl einer positiven Einsamkeit lässt sich viel gewinnen, etwa, indem man in sich selbst hineinhört und diesem Innehalten Raum und Legitimation gibt. Mit sich im Reinen zu sein und mit sich selbst klarzukommen, ist ein weiterer wichtiger Punkt, um sich nicht einsam in einem negativen Sinn zu fühlen. Die Frage danach, ob man mit sich im Reinen ist und mit sich selbst klarkommt, ist insbesondere am Ende des Lebens präsent. Erfahrungen des Alleinseins am Lebensende können viele Erkenntnisse bringen. Im Palliativbereich wird immer wieder die Erfahrung gemacht, dass man gerade bei schweren Schicksalsschlägen oder in schwierigen Lebensphasen bemerkt, wer zu einem hält. In solchen Situationen zieht sich das soziale Umfeld oft zurück. Viele Freundschaften brechen weg, sodass sich »wahre« Freundschaften herauskristallisieren. Ein solcher Rückzug geschieht meist aus Angst, weshalb er nicht auf Anhieb verurteilt werden sollte – wie im Folgenden noch weiter ausgeführt wird. Obwohl Einsamkeit positive Seiten haben kann, hört sich das Wort »Einsamkeit« eher traurig an. Diese Eigenschaft wird der Einsamkeit häufig zugeschrieben. Dies liegt vermutlich an den vielen Formen des Alleinseins, die mit etwas Schrecklichem verbunden sind und daher eine negative Einsamkeit bilden, wie etwa das Ende einer Partnerschaft. Auch Ereignisse und Entwicklungen im Leben wie die Erkenntnis »Ich habe jetzt Krebs!« oder der Gedanke »Ich bin überarbeitet und keiner sieht es …« können zu Gefühlen von Einsamkeit führen. Einsamkeit kann auch dann auftreten, wenn man nicht alleine ist. So kann man sich auch unter Menschen einsam fühlen, etwa inmitten einer Fußgängerzone: Leute rempeln einen an und drumherum wimmelt es von Menschen, aber man wird nicht gesehen. Solche Umstände können das Gefühl auslösen, ganz allein auf weiter Flur zu sein. Um daran etwas zu ändern, muss man in der Welt sein, sich ins Leben werfen, Menschen wahrnehmen und mit ihnen kommunizieren. Das ist unter bestimmten Voraussetzungen alles andere als einfach – doch ohne ein Miteinander kann nichts Neues entstehen. Nähe ist wichtig: ein Blick, eine Berührung, der Austausch mit anderen Menschen oder einfach

Silke Malzahn: Sterben, Tod und Einsamkeit

ein gemeinsames Lachen; das macht den Menschen zum Menschen. Wofür sonst haben wir Sprache, Mimik und Gesten; Augen zum Sehen oder Ohren zum Hören? Dies alles befähigt uns, miteinander zu agieren und in Kontakt zu treten. Zwischenmenschlicher Kontakt und Nähe sind auch am Lebensende von großer Bedeutung, selbst nach dem Tod. So berühren viele Angehörige mit einem engen Verhältnis zur verstorbenen Person noch einmal deren Körper.

3. Einsamkeit im Kontakt mit dem Tod Der Kontakt mit dem Tod, wie er in der Palliativversorgung auftritt und hier betrachtet wird, ereignet sich in der Gegenwart eines leblosen Körpers. Er hat für Palliativpfleger:innen per se nichts Einsames. Vor dem Tod hat man den Menschen lebendig gesehen: lachend und weinend, teilweise auch nicht sprechend oder nicht ansprechbar, aber meist zumindest mit Augenkontakt. Und dann ist der Mensch eben tot. In diesem Moment ist man weder alleine noch einsam, weil der Körper des Verstorbenen noch da ist und damit in gewisser Weise auch das, was vor dem Tod gewesen ist.2 Hinzu kommt, dass meistens auch Angehörige anwesend sind. Im palliativen Bereich versuchen wir, sie mit ins Boot zu holen, um sie nicht mit dem Sterbeprozess und dem Versterben alleine zu lassen: Aufgabe der Palliativversorgung ist es auch, den Angehörigen Ängste und Sorgen so weit wie möglich zu nehmen. Insbesondere Kinder möchten »begreifen«. Sie reagieren auf den Tod häufig unbefangen, indem sie ihm mit einer offenen und neugierigen Haltung begegnen: »Ach das ist tot? Das ist ja krass!«3 Eltern sind – wie viele Erwachsene – dagegen eher ängstlich oder unsicher und möchten die Kinder von der Begegnung mit dem Tod und den Toten fernhalten. Auch das ist verständlich, kann aber dazu führen, dass Kinder selbst eine ängstliche 2

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Durch die noch vorhandene Wärme des Körpers einer verstorbenen Person besteht im Prinzip eine Ähnlichkeit zu einer schlafenden Person. Meist haben die Patient:innen auch vor dem Tod bereits eine gewisse Zeit wie leblos da gelegen. Kurz nach dem Tod ist es genauso, nur, dass der Mensch nicht mehr atmet. Die Angehörigen können das in der Regel gut annehmen und reden zum Beispiel noch mit der verstorbenen Person. Wissenschaftlich betrachtet lässt das Gehör in seiner Funktion als Letztes nach. Der Zustand der verstorbenen Person ändert sich zunehmend mit dem Einsetzen der Leichenstarre, was für die Angehörigen insbesondere wegen des leeren Blickes bei geöffneten Augen auch ein Gefühl von Grusel hervorrufen kann. So erkundigen sie sich nach den neuen Erfahrungen und zu beobachtenden Veränderungen, etwa, wenn der Leichnam nach einiger Zeit versteift (Totenstarre). Die Verstorbenen verbleiben im Hospiz längere Zeit im Zimmer, damit Angehörige und Freund:innen genug Zeit haben, um sich persönlich zu verabschieden. Kinder äußern ihre Beobachtungen dann oft sehr offen: »Opas Hand kenne ich so hart nicht!«

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oder unsichere Haltung entwickeln: Wenn ich selbst Angst vor Spinnen habe, entwickelt mein Sohn diese mit hoher Wahrscheinlichkeit auch. So verhält sich das auch mit dem Tod und dem Sterben: Die Angst davor ist in der Gesellschaft weit verbreitet. Sie wird in jeder Generation durch die Beobachtung von Vorbildern oder andere Formen des Modelllernens (wie etwa aus Medien) neu erlernt. Das kann unter anderem dazu führen, dass Trauernde aus vorgeschobenen Pietätsgründen »in Ruhe« gelassen werden. Viele wissen gar nicht, wie sie mit dem Thema und den zugehörigen Emotionen umgehen sollen – unabhängig davon, was sich die trauernde Person in diesem Moment eigentlich wünscht. Damit sich trauernde Angehörige nicht einsam fühlen, besteht ein dauerhaftes Gesprächsangebot von Seiten des Palliativ- und Hospiznetzes, um etwa über die Erlebnisse und den Tod zu sprechen. Für viele mag der Tod abschreckend wirken; er ist etwas, womit man möglichst nichts zu tun haben möchte. Kaum jemand möchte über seinen eigenen Tod oder den Bekannter oder Angehöriger freiwillig nachdenken. Dadurch, dass Tod und Sterben in der hiesigen Kultur nach wie vor weder in ausreichendem Maße noch in angebrachter Weise thematisiert werden, fällt es vielen schwer, damit umzugehen.

4. Der (einsame) Weg des Sterbens Während des Sterbens geht es vorrangig um die Person, die von uns geht – diese Person ist einsam in dem Sinne, dass sie allein den Weg des Sterbens bestreiten muss und ihr niemand diese Hürde nehmen kann. In der Regel wird das Thema Einsamkeit von Sterbenden allerdings nicht explizit thematisiert. Wie sich eine (sterbende) Person den Weg des Sterbens und den Tod vorstellt, ist zutiefst individuell. Es ist geprägt von grundlegenden Überzeugungen, intimsten Annahmen und dem Glauben einer Person. Es kann einen großen Unterschied machen, wenn beim Sterben nicht nur von einer »Menschenverlassenheit«, sondern auch von einer »Gottverlassenheit« ausgegangen wird. So betonen Gläubige insbesondere vor ihrem Tod häufig, dass sie niemals alleine sind und dass das auch für das Sterben und über den Tod hinaus gilt: »Gott ist immer bei mir!«, »Maria hilf!« oder »Allah wird es richten!«. Insbesondere in der älteren Generation finden viele im Glauben Trost und Kraft. Er bildet eine Art Rückversicherung und hilft, sich nicht (so) einsam zu fühlen.4 Sie sehen Gott bei sich und vertrauen darauf, dass es nicht so schlimm wird. Das ist be-

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Wie sehr dieser Glaube Berge versetzen kann, ist faszinierend. Gläubige sagen etwa »Das ist mir so gegeben!« oder »Ich weiß nicht, was ich womöglich falsch gemacht habe!«, kasteien sich aber in der Regel auch nicht selbst und sprechen auch nur selten davon, dass etwas »Gottes Strafe« sei.

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eindruckend und legt den Schluss nahe, dass Religion bis zu einem gewissen Grad ein Schutz vor Einsamkeit sein kann. Eine wesentliche Rolle beim Sterben und der Frage nach der Einsamkeit dabei spielt die Anwesenheit der Angehörigen: Im besten Fall waren diese vor dem Tod um die sterbende Person versammelt. Allerdings passiert es manchmal, dass wir zu Menschen kommen, die bereits (alleine) verstorben sind, zum Beispiel, wenn sie alleine lebten. In einem solchen Fall wird oft von einem einsamen Tod gesprochen. Doch ob der Tod wirklich einsam war, ist schwer zu beurteilen: Womöglich führte die verstorbene Person kürzlich noch ein erfüllendes Gespräch oder sie fand es nicht schlimm, alleine zu sterben; wollte es vielleicht sogar. Allerdings kommt es insbesondere bei älteren, betagten Menschen häufiger vor, dass Kontaktpersonen wie Freund:innen und Familie bereits verstorben sind und von einer solchen Freiwilligkeit zumindest von außen betrachtet nicht zu sprechen ist. Somit lässt sich nur mutmaßen, ob es gewünscht war, alleine zu sterben. Des Weiteren wird in der Palliativarbeit häufig erlebt, dass sich Sterbende in einem Prozess gewissermaßen zu entscheiden scheinen, »wann« sie sterben. Wenn die Familie 24 Stunden, sieben Tage die Woche bei der sterbenden Person ist, raten wir manchmal dazu, auch einmal einen Kaffee trinken zu gehen und das der sterbenden Person auch explizit anzukündigen, selbst dann, wenn die Person schon seit Tagen nicht mehr ansprechbar ist. Es kommt häufig vor, dass die Menschen dann tatsächlich in diesem Zeitraum sterben. Darauf werden die Angehörigen entsprechend vorbereitet.5 Einblicke in die Biographien der Sterbenden lassen mögliche Erklärungen erahnen. So erfährt man etwa, dass die sterbende Person früher zum Beispiel nie vor den Angehörigen geweint beziehungsweise Schwäche gezeigt hat. Ein typisches Beispiel dafür ist eine Aussage wie: »Mutter6 haben wir noch nie weinen gesehen, die war immer die Starke!« Sie scheinen sich dazu entschieden zu haben, diesen Schritt alleine zu gehen, als hätten sie den »einsamen« Tod gewählt. Manchmal verläuft es auch gegensätzlich: Die sterbende Person fühlt sich einsam und wartet auf eine bestimmte Person, bevor sie loslassen und sterben kann – das sind Geschichten, die auch uns noch länger beschäftigen. Nach den Erfahrungen aus dem Hospiz scheinen sich Menschen am Ende des Lebens bis zu einem gewissen Grad entscheiden zu können, ob sie alleine sterben möchten oder nicht. Auch wir als Pflegende müssen dann mitunter aus dem Zimmer gehen und den Wunsch respektieren, dass die Person für sich sein möchte.

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Viele Angehörige haben Hemmungen, die sterbende Person alleine zu lassen, da sie in solchen existenziellen Momenten alles »gut« und »richtig« machen möchten. Wenn die Angehörigen gut aufgeklärt sind und verstehen, weshalb es in Ordnung ist, die Person alleine sterben zu lassen, entsteht kein schlechtes Gewissen, wenn sie im Moment des Sterbens nicht da sind; es kann im Gegenteil sogar eine Erleichterung sein. Oder natürlich auch: »Vater haben wir noch nie weinen gesehen, der war immer der Starke!«

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Elisabeth Kübler-Ross konstatiert fünf Sterbephasen, die eine gute Orientierung bieten, um den Umgang von Betroffenen mit einer tödlichen Diagnose zu verstehen – und mithilfe derer sich Einsamkeit auf dem Weg des Sterbens zusammenfassend verorten lässt: Schockphase, Findungsphase, zum Schluss die Akzeptanz, dazwischen Wut und Trauer mit diversen Nuancen zwischen den Extremen. Die erste Phase wird mit einem »Nicht-Wahrhaben-Wollen« beschrieben. Die eigene Sterblichkeit und das Sterben kann nicht mit anderen Menschen geteilt werden, sondern bezieht sich nur auf einen selbst, weshalb in dem Moment des Wahrhabens der unmittelbaren eigenen Sterblichkeit ein tiefes Gefühl von Isolation und damit Einsamkeit entstehen kann: Man ist in dieser Situation mit Blick auf die empfundenen Gefühle die einzige Person »ihrer Art«. Die eigenen Empfindungen sind von denen anderer entkoppelt. An diese Gefühlslage und die damit verbundenen Ängste kommt niemand heran. Betroffene, die die Prognose erhalten, in absehbarer Zeit zu versterben, tun sich oft schwer, sich über Gedanken, Nöte und Ängste mit Freund:innen, Angehörigen oder Nachbar:innen auszutauschen. Wir versuchen in der Palliativversorgung, diese Gefühle und Bedürfnisse mit Gesprächen aufzufangen, indem wir auf unsere Erfahrungen und unser Wissen zurückgreifen. So stehen wir einer Patientin zur Seite, die etwas sagt wie »Ich habe Angst zu ersticken!« – was aufgrund Ihrer Erkrankung ohne Medikation auch tatsächlich passieren würde –, und sprechen mit ihr über ihre Angst und die Möglichkeiten der Medikation zur Symptomlinderung. Bei zu hoher Symptomlast (wie in diesem Fall den Erstickungsanfällen) kann man nach Zustimmung der betroffenen Person eine Palliative Sedierung in der Finalphase7 durchführen. Insofern können wir die Patient:innen zwar bis zu einem gewissen Grad unterstützen und auf ihre Bedürfnisse oder Ängste im Rahmen unserer Möglichkeiten eingehen, jedoch müssen sie die Situation trotzdem »alleine« durchstehen. Es handelt sich um einen individuellen Kampf, bei dem alle anderen Statist:innen sind: »Menschen, Bett, ein Rollator – das sind Hilfsmittel. Aber ich, mein Körper, der muss das durchziehen.« Das ist schrecklich und unvorstellbar – auch für die Angehörigen. Manchmal rutscht nahestehenden Menschen dann auch ein »Stell dich nicht so an!« heraus. Vermutlich fühlen sich die Sterbenden in solchen Situationen einsam, auch wenn die Einsamkeit angesichts der präsenteren Ängste und Bedürfnisse in den Hintergrund zu treten scheint. Das Gefühl,

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Bei palliativer Sedierung handelt es sich grundsätzlich um die Verabreichung stark beruhigender (sedierender) Medikamente bei Sterbenden in der letzten Phase vor dem Tod beziehungsweise dem Beginn des körperlichen Sterbeprozesses (Finalphase), um anders nicht in den Griff zu bekommende (therapierefraktäre) Symptome wie Angstzustände, Atemnot, delirante Symptome, Schmerz, Übelkeit und Erbrechen wirksam zu behandeln. Da den Leitlinien zufolge eine Beschleunigung des Sterbeprozesses, die als mögliche Komplikation in Kauf genommen wird, nicht intendiert ist, liegt eine klare Abgrenzung zur aktiven Sterbehilfe vor.

Silke Malzahn: Sterben, Tod und Einsamkeit

von Angehörigen nicht verstanden zu werden, weil diese das entweder nicht verstehen können oder ab einem bestimmten Punkt aufgrund von Selbstschutz nicht wollen, stimmt mit dem oben geschilderten Verständnis von Einsamkeit sehr gut überein: Einsam zu sein kann heißen, missverstanden zu werden, dass andere die eigenen Gedanken nicht mittragen, weil sie es nicht können oder wollen. Das eigene Erleben kann nicht so (mit)geteilt werden, wie es für ein echtes Verstehen notwendig wäre.

5. Der Umgang mit dem Tod Die Frage nach dem richtigen Umgang mit Schicksalsschlägen scheint angesichts der aufgezeigten Problematiken beinahe absurd: Realistische Selbsteinschätzungen führen dazu, dass den Sterbenden klar wird, dass niemand verstehen kann, was sie diesbezüglich empfinden und was in ihnen vorgeht. Diese Ängste können also einsam machen, weil man so grotesk alleine damit ist, denn: »Ich muss sterben, nicht du, ich bin betroffen!« Doch was macht ein Todesurteil mit einem Menschen, der vielleicht nicht weiß, wie lange er noch leben wird? Die einen sammeln sich erst einmal, versuchen die Botschaft mit vertrauten Mitteln zu verarbeiten oder sich in Ablenkmanöver zu flüchten. Die anderen begehen Kurzschlusshandlungen und auch Suizide kommen vor. Der Gedanke an das frühzeitigere Beenden des eigenen Lebens ist bei einigen da, auch mit dem Wunsch, die Angehörigen nicht zu belasten und vor den Folgen einer längeren Erkrankung zu bewahren. Einige reisen ins Ausland, um ärztlich assistierten Suizid beziehungsweise Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Letzten Endes geht jede:r mit einer solchen Botschaft anders um. Die Patient:innen haben schließlich alle etwas in sich, das sie tötet – das möchte und kann sich niemand vorstellen. Das soziale Umfeld reagiert in vielen Fällen mit Distanz: Viele trauen sich nicht, Sterbende beziehungsweise Menschen mit einer tödlichen Diagnose anzurufen oder danach zu fragen, wie es ihnen geht. Selbst wenn man in dieser Situation nur einfache Alltagsgespräche führen möchte, werden Gesprächspartner:innen rar. Eine solche Ausgrenzung erfolgt oftmals, obwohl die meisten das Leben erst einmal wie gewohnt weiterführen möchten. Wer möchte schon freiwillig über Tod und Sterben sprechen? Wer möchte sich schon freiwillig selbst eingestehen »Ja, ich sterbe!«? Angehörige, Freund:innen oder Nachbar:innen wenden sich oft aus Unsicherheit ab: »Was soll ich sagen? Wie soll ich reagieren, wenn das Thema angesprochen wird?« Die Einsamkeitsgefühle bei den Betroffenen folgen entsprechend schnell. Auch Angehörigen oder Hinterbliebenen kann es so ergehen, wenn etwa die Partner:in eine Krebsdiagnose erhält oder stirbt: Wenn Krankheit und Tod so nah bei einem sind, ruft häufig plötzlich niemand mehr an. Oft erfolgt diese Reak-

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tion unbewusst, aus Angst und Unsicherheit bezüglich der eigenen Reaktion, zum Beispiel in Hinblick darauf, wie man sich verhalten soll. Das soziale Umfeld dünnt sich aus; der Kontakt mit den Betroffenen wird lieber vermieden. Die Einsamkeit bezüglich des Verlustes oder der Veränderung der Lebenssituation kann mit einer zusätzlichen Einsamkeit bezüglich des sozialen Umfelds einhergehen. Freund:innen, Nachbar:innen, Bekannte, Onkel oder Tanten halten sich fern, schließen die Betroffenen aus. Auf einmal meldet sich die Kollegin von früher nicht mehr, weil sie vielleicht pietätvoll sein will oder weil sie (Berührungs-)Ängste hat. Regelmäßig berichten Angehörige so etwas wie: »Meine Nachbar:innen machen ihre Tür zu, wenn ich aus dem Haus gehe.« Sie wollen mit »dieser Angelegenheit« nichts zu tun haben. Die Erfahrung zeigt, dass das oft gar nicht böse gemeint ist; es haftet dem Thema selbst an. Personen möchten zum Beispiel nicht fragen, wie es einem geht, weil sie Angst haben, dass das Gegenüber in Tränen ausbricht. Das läuft den Bedürfnissen der Betroffenen entgegen, die solche Gespräche brauchen und sich wünschen, dass jemand zum Beispiel sagt: »Komm, wir gehen mal etwas essen und reden einfach über das Wetter oder darüber, was letztens im Fernsehen lief!« Viele trauen sich das nicht. Auch man selbst weiß bei einem Todesfall in der Familie nicht immer, ob man anrufen, was man sagen oder wie man reagieren soll. Wenn sich die Menschen aus dem Umfeld erst einmal komplett zurückziehen, verstärkt dies das Gefühl des Alleingelassen-Seins und der Einsamkeit für die Betroffenen. Einsamkeit kann also sowohl bei den Sterbenden als auch bei den Angehörigen dadurch verstärkt werden, dass eine gewisse Scham und Angst vor dem Tod innerhalb der Gesellschaft existiert und die beschriebene Rückzugsreaktion erfolgt. Das ist bei anderen – schambesetzten – Themen ähnlich: Eine Freundin hat Depressionen – »Wie soll ich damit umgehen, darf ich in ihrer Gegenwart noch scherzen oder lachen?« Auch im Hospiz gibt es Angehörige, die beim Feiern von Festen, wie etwa Karneval, der Meinung sind, dass man das »doch nicht machen kann«. Teilweise sind Angehörige nicht zu solchen Feiern gekommen, weil sie Trauer und Ausgelassenheit sowie Tod und Leben zur gleichen Zeit nicht ertragen konnten.8 Der Umgang der Sterbenden selbst mit dem Tod hängt auch davon ab, ob man mit sich im Reinen ist und was man sich im Leben noch vorgestellt hat. Die meisten unserer Patient:innen sind am Ende ihres Lebens nicht mit sich im Reinen. Stellen Sie sich vor, Sie bekommen von einem auf den anderen Moment gesagt, dass Sie noch ungefähr zwei Jahre zu leben haben. Die meisten Menschen sind in ihrem Leben weder Multimillionär:innen geworden, noch haben sie ihre Löffelliste9 vollstän-

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Viele Angehörige feiern aber auch mit – die Beispiele wurden gewählt, um die unterschiedlichen Reaktionen der Beteiligten auf solche Themen und Situationen zu verdeutlichen und in Bezug auf Einsamkeit zu problematisieren. Eine Löffelliste, im Englischen auch »Bucket List« genannt, beschreibt eine Aufzählung von Dingen, die man noch erledigen oder erleben möchte, »bevor man den Löffel abgibt«.

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dig abgehakt: Viele haben gearbeitet wie verrückt und nach dem Eintritt in die Rente die Diagnose bekommen – entgegen des Plans, auf einem Wohnwagenplatz am Gardasee zu leben oder den Lebensabend anderweitig zu genießen. Der Gedanke, Pläne nicht mehr realisieren zu können, weil es zeitbedingt, körperlich und/oder finanziell nicht mehr reicht, kann einen aus dem Gleichgewicht bringen. Das Bereuen von Handlungen kommt dagegen selten vor; es ist eher die Reue darüber, etwas nicht gemacht zu haben: »Hätte ich doch den nochmal besucht; wir kennen uns ja schon ewig.« Das Aufschieben – nicht nur in Form der Löffelliste, sondern auch des alltäglichen Zwischenmenschlichen – bereuen viele: »Das machen wir nächste Woche!«, »Wir treffen uns im Oktober mal …«. Bei vielen Menschen kommt dann irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie die verpassten Dinge auch nicht mehr erleben oder nachholen möchten, weil es insbesondere körperlich nicht mehr geht. Dann wird zunehmend nach Sterbehilfe gefragt. Etwa 90 Prozent unserer Gäste sind Krebspatient:innen, die oft eine jahrelange Odyssee inklusive Chemotherapie hinter sich haben. In dieser Zeit findet ein Prozess statt, in dem sich die betroffene Person mit der eigenen Diagnose und dem neuen Lebensumstand auseinandersetzt.10 Die Diagnose einer tödlichen Erkrankung ist wohl einer der größten Schocks, die ein Mensch so erleben kann. Nicht zu wissen, wann man stirbt, aber so unmittelbar zu wissen, dass man stirbt, ist ein Gefühl des Uhrtickens, das man – als Außenstehende:r »zum Glück« – nicht nachvollziehen kann. Häufig beobachten wir, dass die Patient:innen die Diagnose nach einiger Zeit und nach einigem Auf und Ab akzeptieren: »Ich nehme jetzt an, dass ich krank bin und dass es keine Therapie mehr für mich gibt. Jetzt sehe ich zu, dass meine Symptome gelindert werden und ich gut drauf bin, um noch ein paar Dinge zu tun.« Diese Akzeptanz erscheint in Anbetracht der Konsequenzen alternativlos und tritt nach der Erfahrung in der Palliativversorgung früher oder später ein: Ich kenne nur sehr wenige, die bis zum Schluss rebelliert haben.

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Die erfahrungsbasierte Wiedergabe dieses Prozesses erinnert stark an die fünf Sterbephasen von Elisabeth Kübler-Ross und bestätigt sie – abhängig selbstverständlich von der jeweiligen Person, aber auch der Art und dem Verlauf der Erkrankung: Zunächst haben die meisten wahnsinnige Angst, vor allem aufgrund der Ungewissheit. Auf eine erste Prüfung der bestehenden Möglichkeiten folgt gegebenenfalls Hoffnung. Bei dem Anschlagen einer Behandlung beruhigen sich die Betroffenen meist, auf eine Verschlechterung folgen wiederum oft Trotz (»Haha, ich werde den Krebs besiegen, der kann mich mal!«), Wut und Trauer. In der Regel tritt irgendwann Akzeptanz ein, die oft auch mit Resignation verbunden ist. Der Wunsch nach Sterbehilfe wird etwa aus Angst davor laut, nur noch im Bett zu liegen, Grundbedürfnissen nicht mehr selbstständig nachgehen zu können oder irgendwem zur Last zu fallen. Niemand möchte solche Dinge erleben, oft wird der Tod mit Blick darauf gar als Erleichterung empfunden.

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6. Der Umgang mit Einsamkeit in der Palliativversorgung Die Palliativversorgung besteht aus vielen Komponenten der Begleitung von Sterbenden und ihren Angehörigen. International wird das Konzept der Palliativversorgung als »Palliative Care« bezeichnet.11 Der Begriff »palliativ« hat seinen etymologischen Ursprung in dem lateinischen palliare, »mit einem Mantel bedecken« und verbindet sich in der Palliative Care mit der lateinischen cura, der (Um-/Für-)Sorge: ein Auftrag, an dem sich die Palliativversorgung orientiert. Das primäre Ziel der Palliativversorgung ist es, das Sterben so einfach und angenehm wie möglich für den Sterbenden selbst sowie sekundär auch für die Angehörigen zu gestalten. Das beinhaltet die Erfüllung medizinischer und sozialer Bedürfnisse sowie die Linderung konkreter Sorgen und Ängste. Neben einer schmerzlindernden Medikamentierung spielt das Führen von Gesprächen, die Vermittlung zwischen Sterbenden und ihren Angehörigen, aber auch das bloße Da-Sein, insbesondere bei denjenigen, die unfreiwillig alleine sind, eine zentrale Rolle. Da wir am Ende des Lebens zu den Menschen kommen und viel mit den Sterbenden sprechen, erfahren wir zahlreiche persönliche Dinge, was insbesondere bei Menschen ohne Hinterbliebene häufig vorkommt. Auch möchten viele Menschen, denen bewusst ist, dass sie bald sterben, die letzten Gelegenheiten nutzen, um Geschichten zu erzählen, die mit der Welt geteilt werden sollen. Die Palliativversorgung gibt Raum für solche Gespräche, wofür sich – wenn auch nicht unbegrenzt – Zeit genommen wird. Im Zweifel heißt es: »Die Geschichte erzählen Sie mir morgen weiter!« In der Regel lernt man die Leute am Ende des Lebens sehr gut kennen. Viele öffnen sich noch einmal vor dem Tod, gerade diejenigen, die einsam sind. Eine Ausnahme bilden dabei Menschen mit einer verschlosseneren Persönlichkeit, plakativ gesagt wird man als schüchterner, introvertierter Mensch nicht plötzlich laut seine Lebensgeschichte erzählen. Den Charakter behält der Mensch auch im Sterben: Wie wir leben, so sterben wir auch. Der Wunsch nach dem Sterben im eigenen Heim Nach unseren Erfahrungen möchten die Menschen zu Hause sterben. Manche geben es aber nicht zu oder stellen ihre eigenen Bedürfnisse hinten an, weil sie zum Beispiel ihre Angehörigen entlasten möchten. Das eigene Bett, der eigene Fernseher, der eigene Kaffee, die eigene Kaffeetasse oder die eigene Couch: Das sind Kleinigkeiten, die fehlen, wenn der Sterbeprozess ausgelagert wird. Wir versuchen immer, diesem Wunsch nachzukommen, jedoch ist es manchmal schlicht nicht machbar, teilweise auch auf emotionaler Ebene. Die Entscheidungen der Betroffenen werden zwar nicht hinterfragt, aber es muss auch auf die Angehörigen 11

Im Deutschen als Begriff etwa in der »Palliativ-Care Fachkraft« zu finden. Mehr Informationen zur Palliativversorgung im anschließenden Infokasten.

Silke Malzahn: Sterben, Tod und Einsamkeit

geachtet werden. Es ist ebenfalls wichtig, wie es diesen mit der Situation geht: Patient:innen ist nicht damit geholfen, wenn die Angehörigen am Ende ihrer Kräfte sind und irgendwann selbst umfallen. Deswegen berücksichtigen wir die Konstellation immer mit. Der Arbeitsbereich des Palliativ- und Hospiznetzes ist geprägt von Ausnahmesituationen. Beteiligte Personen können oft nicht ausdrücken, was sie brauchen, oder trauen es sich nicht – beispielsweise aus Rücksicht auf andere oder aufgrund von Scham oder Rollenerwartungen. Viele Angehörige scheuen sich zum Beispiel zu sagen, wenn sie damit überfordert sind, den Sterbeprozess zu Hause zu begleiten. Es ist schwer zu sagen: »Ich liebe dich von Herzen, ich habe dir geschworen in guten wie in schlechten Zeiten für dich da zu sein, aber das kann ich nicht!« – obwohl das völlig legitim und sogar wichtig ist. Bei den Sterbenden, die alleine leben, kann der Wunsch, zu Hause zu sterben, ein großes Problem darstellen. Wir erachten es in der Regel als ethisch nicht vertretbar, sie alleine zu Hause zu lassen, weil davon ausgegangen werden muss, dass wir sie dann eines Tages tot auffinden werden; zum Beispiel können manche nicht einmal mehr ein Wasserglas aufheben, wenn es umkippt. Wir versuchen es immer bis zum Äußersten, aber in solchen Fällen vermitteln wir einen Hospizplatz oder übergangsweise einen Platz auf der Palliativstation. Nach unseren Erfahrungen leben vor allem ältere Menschen um die 80 Jahre alleine, weil in ihrem sozialen Umfeld bereits viele verstorben sind. Sie wohnen oft unfreiwillig alleine und sind daher in der Regel einsam. Dies trifft oft auch auf alleinstehende Männer zwischen 50 und 60 Jahren zu, die ebenfalls vermehrt von uns betreut werden. Darüber hinaus beobachten wir bei alleinlebenden Patient:innen nicht selten, dass sich diese während des Berufslebens für die Karriere entschieden haben, eine gemeinsame Wohnung in der Partnerschaft vermieden und/oder traditionelle Familienmodelle beziehungsweise Lebensformen aufgebrochen wurden. Aber auch ohne familiäres Netz gibt es Möglichkeiten, im eigenen Heim zu sterben; sie sind allerdings wesentlich seltener gegeben und nicht für jede:n zugänglich.

7. Fazit Die Phänomene des Alleinseins und der Einsamkeit am Ende des Lebens sind schwer zu greifen. In der Palliativversorgung begegnen wir unterschiedlichen Formen davon. Viele sterbende Menschen bedauern, dass sie im Laufe ihres Lebens Freundschaften und andere Beziehungen nicht ausreichend gepflegt haben. Andere müssen miterleben, wie sich das eigene soziale Umfeld aus Angst oder Pietät abwendet, sobald eine tödliche Erkrankung diagnostiziert wurde, was zu Einsamkeit führen kann. Auch Angehörige können vom Rückzug des sozialen Umfelds betroffen sein und nach dem Tod eines geliebten Menschen gewissermaßen allein und auch einsam zurückbleiben. Schlussendlich ist es die Patient:in allein, die den Weg des

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Zwischen Tabu und sozialer Herausforderung: Der Tod als einsam(st)es Thema?

Sterbens bestreiten muss. Manche haben Angst davor, alleine zu sterben, während andere diesen Schritt bewusst ohne das Beisein anderer gehen möchten. Und dann ist da der schwierige, oft schmerzhafte Umgang mit der eigenen Sterblichkeit und dem eigenen Tod. Wenn Einsamkeit bedeutet, Gedanken zu haben, die andere nicht mittragen, dann macht das eigene Sterben zu einem gewissen Grad einsam. Denn andere können einem weder den Tod abnehmen noch die Empfindungen während des Sterbens durchdringen oder gar nachempfinden. Wir Palliativpfleger:innen sagen, dass wir nicht mitleiden, aber mitfühlen. Wir können letztlich nicht verstehen, was in unseren Patient:innen vorgeht, oder wie es ist, zu sterben, weil wir es nie erlebt haben. Aber wir versuchen, den Patient:innen beizustehen und sie mit dieser Ausnahmesituation nicht alleine zu lassen. Palliativ bedeutet dem lateinischen Ursprung nach »mit einem Mantel bedecken«: Im Rahmen der Palliativversorgung können wir die existenzielle Einsamkeit, mit der Menschen am Ende des Lebens oftmals konfrontiert sind, weder gänzlich verstehen noch verhindern. Jedoch können wir einen schützenden und tröstenden Mantel um die Patient:innen und ihre Angehörigen legen, um sie ein Stück weit durch diese Einsamkeit zu begleiten.

Silke Malzahn: Sterben, Tod und Einsamkeit

Der Palliativmedizinische Konsiliardienst Dortmund GbR (PKD) Der Palliativmedizinische Konsiliardienst (PKD) Dortmund besteht seit 2010, seit 2020 ist er der Palliativmedizinische Konsiliardienst Dortmund GbR (PKD) und behandelt mit 14 niedergelassenen Palliativärzt:innen und sechs Koordinatorinnen (Palliativ-Care Fachkräften) jährlich circa 2.200 Palliativpatient:innen. Der PKD bietet unheilbar erkrankten Patient:innen sowohl ambulant im häuslichen Umfeld, in Pflegeheimen oder im ambulanten Betreuten Wohnen als auch in den Hospizen eine palliativmedizinische und -pflegerische Versorgung. Dabei wird eine durchgehende Rufbereitschaft Tag und Nacht sichergestellt. Anfragen erfolgen über Krankenhäuser, Hausärzt:innen, Angehörige oder die Patient:innen selbst. Das Hauptziel ist es, den Patient:innen zu ermöglichen, die verbleibende Lebenszeit mit der bestmöglichen Lebensqualität zu verbringen. Das geschieht idealerweise im eigenen Zuhause oder, wenn anders nicht möglich, in einem Hospiz. Das Hospiz ähnelt einer Wohngemeinschaft. Jede:r Patient:in bekommt ein gut ausgestattetes Einzelzimmer mit Zugang zu Gemeinschaftsräumen und der Möglichkeit zur Übernachtung für nahestehende Menschen. Das Palliativ- und Hospiznetz Dortmund Das Palliativ- und Hospiznetz Dortmund ist ein Zusammenschluss der Dortmunder Palliativkräfte zur Koordination und Organisation der Palliativversorgung. Die Palliativversorgung lässt sich in die Säulen Palliativmedizin (vornehmlich durch Palliativärzt:innen), Palliativpflege (vornehmlich durch speziell ausgebildetes Pflegepersonal) und Hospizarbeit (etwa innerhalb organisierter Hospizeinrichtungen) gliedern. Mit der Palliativversorgung wird nicht die Heilung einer Erkrankung, sondern die Linderung von Symptomen und Begleiterscheinungen einer unheilbaren Krankheit angestrebt. Dies geht ausdrücklich über die Versorgung medizinischer Bedarfe hinaus und beinhaltet auch die Berücksichtigung seelischer und menschlicher Bedürfnisse der Patient:innen sowie ihres sozialen Umfelds. Kontakt Webseiten: https://pkd-dortmund.de; www.phnetz-do.de

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V. Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit

Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit Noëmi Seewer (Universität Bern, Schweiz) | Klinische Psychologie und Psychotherapie, Tobias Krieger (Universität Bern, Schweiz) | Klinische Psychologie und Psychotherapie

1. Einleitung Menschen sind soziale Wesen und das Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit wird häufig als eines der grundlegendsten menschlichen psychologischen Grundbedürfnisse angesehen.1 Fühlen wir uns nicht ausreichend sozial verbunden, können Einsamkeitsgefühle entstehen. Einsamkeit ist eine subjektive, aversive Empfindung, die auftritt, wenn eine Diskrepanz zwischen den gewünschten und tatsächlich vorhandenen sozialen Beziehungen einer Person besteht.2 Einsamkeit kann auch als subjektive soziale Isolation bezeichnet werden. Davon abzugrenzen ist die objektive soziale Isolation, die als ein objektives Maß für das Vorhandensein eines sozialen Netzes einer Person verstanden wird. Soziale Isolation stellt keine hinreichende oder notwendige Bedingung dar, um sich einsam zu fühlen, entsprechend zeigen sich in empirischen Untersuchungen nur schwache Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und sozialer Isolation.3 Einsamkeit ist also ein subjektives Gefühl und man kann einer Person nicht ansehen, ob sie sich einsam fühlt oder nicht. Aufgrund dessen wird Einsamkeit in der Regel mittels Selbstbeurteilungsfragebögen erfasst. Zur Erfassung gibt es verschiedene Fragebögen, wie zum Beispiel die UCLA Loneliness Skala4 oder die De Jong Gierveld Skala5 . Die verschiedenen Arten, Einsamkeit zu erfassen, unterscheiden sich unter anderem darin, ob mit einer oder mehreren Fragen danach gefragt wird, ob Einsamkeit als eindimensionales oder mehrdimensionales Konstrukt mit verschie-

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R.F. Baumeister/M.R. Leary (1995): The need to belong. L.A. Peplau/D. Perlman (1982): Perspectives on loneliness. J.E. McHugh et al. (2017): The discrepancy between social isolation and loneliness as a clinically meaningful metric. D.W. Russell (1996): UCLA Loneliness Scale. Zum Beispiel J. de Jong Gierveld/T.G. van Tilburg (1999): Manual of the loneliness scale.

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Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit

denen Facetten (zum Beispiel soziale und emotionale Einsamkeit6 ) verstanden wird, und ob Einsamkeit direkt oder indirekt erfragt wird. Bei der indirekten Erfragung wird auf die Verwendung von Begriffen wie »Einsamkeit« oder »einsam« verzichtet, da es Hinweise darauf gibt, dass die Art, wie nach Einsamkeit gefragt wird, einen Einfluss darauf hat, ob Personen angeben einsam zu sein oder nicht.7 Einsamkeit ist ein verbreitetes Phänomen. In einer europaweiten Studie8 berichteten rund sieben Prozent der befragten Personen, dass sie sich häufig einsam fühlen, wobei die Verteilung regionale Unterschiede aufweist. Repräsentativen Studien aus Deutschland zufolge berichten ungefähr zehn Prozent der Befragten, sich einsam zu fühlen und darunter zu leiden.9 Verschiedene Studien10 zeigen, dass entgegen der verbreiteten Annahme nicht nur Personen in fortgeschrittenem Alter von Einsamkeit betroffen sind, sondern dass Einsamkeit für Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg ein Thema werden kann. Es gibt erste empirische Hinweise dafür, dass Einsamkeit in den letzten Jahrzehnten im Durchschnitt leicht zugenommen hat.11 Während der Corona-Pandemie intensivierten sich die Befürchtungen hinsichtlich einer Zunahme von Einsamkeit zusätzlich. Erste Studienergebnisse lieferten hierzu gemischte Ergebnisse. Während einige Studien eine Zunahme von Einsamkeit während der Corona-Pandemie zeigten,12 konnte in anderen Studien keine bedeutsame Veränderung aufgrund der Pandemie gefunden werden.13 Eine Meta-Analyse14 mit einem Fokus auf längsschnittliche Studien15 zeigt einen durchschnittlich leichten Anstieg der Einsamkeit während der Corona-Pandemie auf.16

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Emotionale Einsamkeit bezieht sich auf das subjektiv erlebte Fehlen einer nahen, intimen Bindungsperson, wie zum Beispiel in einer Partnerschaft oder einer engen Freundschaft, während die soziale Einsamkeit den subjektiv erlebten Mangel eines weiteren sozialen Netzwerks – das heißt Freund:innen und Bekannte, die ein Gefühl der Zugehörigkeit bieten – oder das fehlende Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, beschreibt. S. Shiovitz-Ezra/L. Ayalon (2012): Use of Direct Versus Indirect Approaches to Measure Loneliness in Later Life. B. d’Hombres et al. (2018): Loneliness. M.E. Beutel et al. (2017): Loneliness in the general population. Zum Beispiel M. Luhmann/L.C. Hawkley (2016): Age differences in loneliness from late adolescence to oldest old age. S. Buecker et al. (2021): Is loneliness in emerging adults increasing over time? Zum Beispiel S. Lippke et al. (2021): Einsam(er) seit der Coronapandemie. Zum Beispiel M.E. Beutel et al. (2021): Mental health and loneliness in the German general population during the COVID-19 pandemic. Eine Meta-Analyse ist ein statistisches Verfahren, das die Resultate mehrerer Studien zur selben Fragestellung zusammenfasst. Dies meint Studien, in denen dieselben Personen zu mehreren Zeitpunkten befragt wurden. M. Ernst et al. (2022): Loneliness before and during the COVID-19 pandemic.

Noëmi Seewer und Tobias Krieger: Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit

Wenn über Einsamkeit gesprochen wird, ist es wichtig, vorübergehende und chronische Einsamkeit17 zu unterscheiden. Vorübergehende Einsamkeit beschreibt kurze und gelegentliche Phasen der Einsamkeit, die von den meisten Menschen immer mal wieder erlebt werden. Sie kann sich beispielsweise zeigen, wenn man an einem Abend alleine zu Hause ist, am nächsten Tag jedoch schon wieder vorbei sein, wenn man Freund:innen im Sportverein trifft. Situative Einsamkeit erleben Personen, die befriedigende soziale Beziehungen haben, aber mit einer spezifischen Krise oder einem Lebensumbruch – wie zum Beispiel einer Trennung, einem Todesfall oder einem Wohnortswechsel – konfrontiert sind, wodurch das soziale Netzwerk verändert wird respektive eine einschneidende Veränderung der zuvor intakten Beziehungen erfolgt. Überdauernde oder auch chronische Einsamkeit umschreibt eine länger anhaltende Erfahrung von Einsamkeit und eine damit einhergehende Unzufriedenheit mit der Qualität und Quantität der vorhandenen sozialen Beziehungen. Während vorübergehenden und situativen Einsamkeitsgefühlen in der Regel ein adaptiver Wert18 zugeschrieben wird19 und Einsamkeit deshalb nicht per se pathologisiert werden sollte,20 stellt chronische Einsamkeit einen auslösenden und/oder aufrechterhaltenden Faktor für eine beeinträchtigte psychische und physische Gesundheit dar.21 Zudem wurde Einsamkeit wiederholt mit einem schlechteren Gesundheitszustand22 und einem erhöhten Sterberisiko23 assoziiert. Die weitreichenden negativen Folgen und Zusammenhänge von Einsamkeit mit gesundheitlichen Problemen führten in den letzten Jahrzehnten zur Entwicklung und Evaluation unterschiedlicher Maßnahmen und Interventionen mit der Absicht, Einsamkeit zu reduzieren und/oder damit einhergehende gesundheitliche Folgen einzudämmen. 17

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Der Begriff chronische Einsamkeit wird in der Literatur häufig verwendet, um eine maladaptive Form von Einsamkeit von einer grundsätzlich adaptiven Form abzugrenzen. Ein anderer Begriff, den man hierzu in der Literatur antrifft, ist überdauernde Einsamkeit. Dieser ist synonym zu chronischer Einsamkeit zu verstehen. Einsamkeit kann als sozialer Durst (L.C. Hawkley/J.T. Cacioppo [2010]: Loneliness Matters) bezeichnet werden, da uns durch sie signalisiert wird, dass eines unserer Grundbedürfnisse nicht befriedigt ist. Einsamkeit wahrzunehmen, kann somit Menschen motivieren, aktiv zu werden und Schritte zu unternehmen, um sich mit Mitmenschen wieder verbundener zu fühlen. Die evolutionäre Theorie der Einsamkeit (J.T. Cacioppo et al. [2006]: Loneliness within a nomological net). Cacioppo et al. gehen sogar so weit, dass die Fähigkeit, Einsamkeitsgefühle wahrnehmen und entsprechend darauf reagieren zu können in der Geschichte der Menschheit einen Überlebensvorteil mit sich brachte. J.T. Cacioppo/L.C. Hawkley (2009): Perceived social isolation and cognition. S.R. Asher/J.A. Paquette (2003): Loneliness and Peer Relations in Childhood. S. Shiovitz-Ezra/L. Ayalon (2010): Situational versus chronic loneliness as risk factors for all-cause mortality. L.A. Rico-Uribe et al. (2018): Association of loneliness with all-cause mortality. J. Holt-Lunstad et al. (2015): Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality.

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Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit

2. Interventionsebenen In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedentlich Versuche unternommen, Einsamkeit zu reduzieren und/oder ihr Auftreten zu verhindern. Interventionen (respektive Maßnahmen) gegen Einsamkeit können in Bezug auf die Zielgruppe auf unterschiedlichen Ebenen verortet werden.24 Während die Interventionen auf allen Ebenen zum Ziel haben, Einsamkeit bei betroffenen Personen zu mindern oder vorzubeugen, unterscheidet sich zwischen den Ebenen, ob nur die betroffene Person selbst oder zusätzlich weitere Personen beziehungsweise Instanzen angesprochen und spezifisch mit einbezogen werden. Interventionen auf der individuellen Ebene zielen auf betroffene Personen selbst ab. Interventionen auf gemeinschaftlicher Ebene beinhalten Interventionen, bei denen auf Personengruppen, die potenziell mit Betroffenen in Kontakt kommen könnten – wie beispielsweise Fachpersonen, Familienmitglieder, lokale Gruppen oder Freiwilligenorganisationen –, abgezielt wird. Damit sollen Möglichkeiten für den sozialen Austausch geschaffen werden oder Betroffene dabei unterstützt werden, soziale Kontakte aufzubauen, wodurch das Verbundenheitsgefühl in der lokalen Gemeinschaft gesteigert werden soll. Interventionen auf gesellschaftlicher Ebene beinhalten Maßnahmen durch Regierungsorganisationen, Stiftungen, Medien oder auch Forschungsförderungen, bei denen beispielsweise Öffentlichkeitskampagnen zur Relevanz von Einsamkeit und sozialer Verbundenheit über die Lebensspanne hinweg und zum Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Gesundheit lanciert werden, oder wenn dem Thema Einsamkeit auf der gesundheitspolitischen Agenda generell eine hohe Priorität eingeräumt wird. Interventionen können nach Mann et al. zudem auf jeder dieser Ebenen diesbezüglich unterschieden werden, ob sie direkt oder indirekt auf die Reduktion von Einsamkeit abzielen.25 Bei direkten Interventionen ist die Einsamkeitsreduktion das primäre Ziel, während dies bei indirekten Interventionen ein erwünschter Nebeneffekt von sonstigen, zum Beispiel auf die soziale Teilhabe abzielenden, Maßnahmen darstellt. Eine Übersicht über mögliche Interventionen, aufgeteilt auf die verschiedenen Ebenen und unterteilt in direkte und indirekte Interventionen, sowie eine Verortung der involvierten Personen und Instanzen findet sich in Tabelle 1. 24 25 26 27

28

Vgl. F. Mann et al. (2017): A life less lonely. Ebd. Bei einsamkeitsbezogener Psychoedukation handelt es sich um die Vermittlung von Wissen zum Thema Einsamkeit und zu den Möglichkeiten, diese zu bewältigen. Gemeint ist, dass von Einsamkeit betroffene Personen zum Beispiel von Hausärzt:innen an eine spezifische Fachperson »überwiesen« werden, die über Kenntnisse lokaler Aktivitätsangebote oder sozialer Gruppen verfügt und betroffene Personen dabei unterstützt, Zugang zu einem ihnen entsprechenden Angebot zu erhalten. Dies können zum Beispiel barrierefreie, etwa rollstuhlgängige, Lokalitäten sein, damit auch Personen mit körperlichen Einschränkungen an Angeboten teilnehmen können, oder Ört-

Gesellschaft

Lokale Gemeinschaft

Individuum

Interventionsebene

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• •

• •

• •



Priorität für öffentliche Gesundheit Medienaufmerksamkeit Öffentlichkeitsarbeit Finanzierung von Forschung Universelle Prävention29

Angebote für Gruppenaktivitäten Problembewusstsein in der lokalen Gemeinschaft fördern Intergenerationale Programme Soziales Verschreiben27

Psychologische Interventionen (zum Beispiel kognitive Verhaltenstherapie) Psychoedukation26 Training sozialer Fertigkeiten

Direkte Interventionen

Lokale Transportmöglichkeiten und Zugänglichkeiten verbessern28 Gruppenaktivitäten kreieren, die Menschen zusammenbringen, aber nicht direkt auf Einsamkeitsreduktion abzielen

Arbeitssituation verbessern Bildung fördern Wohnsituation verbessern

• • • •

Arbeitswesen Bildungswesen Raumplanung Förderung von sozialem Zusammenhalt und Inklusion

Andere politische Bereiche wie:





• • •

Indirekte Interventionen

Tabelle 1: Mögliche Interventionen beziehungsweise Maßnahmen zur Reduktion und Prävention von Einsamkeit.30

• • • • •

• • •

• • •



Regierungsorganisationen Wohltätigkeitsorganisationen Medien Universitäten Unternehmen

Betroffene Person Familienangehörige, Freund:innen Fachpersonen für psychische Gesundheit Hausärzt:innen Lokale Gruppen Freiwilligenorganisationen

Betroffene Person

Im Fokus stehende Personen/Instanzen

Noëmi Seewer und Tobias Krieger: Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit 231

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Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit

Die in Tabelle 1 aufgeführten Interventionen sind nicht erschöpfend und nicht alle Interventionen und Maßnahmen lassen sich immer trennscharf einer Ebene zuordnen. Im Rahmen dieses Beitrages sollen im Folgenden insbesondere Interventionen, die schwerpunktmäßig der individuellen Ebene zugeordnet werden können und direkt auf die Reduktion von Einsamkeit abzielen, genauer betrachtet werden. Hierbei fokussieren wir uns vor allem auf Übersichtsarbeiten.

3. Direkte Interventionen auf individueller Ebene In den vergangenen Jahrzehnten wurde eine Vielzahl an unterschiedlichen Interventionen zur Reduktion von andauernder Einsamkeit entwickelt, die auf der Ebene des Individuums ansetzen. Die entwickelten und wissenschaftlich untersuchten Interventionen sind hierbei sehr heterogen und nicht allen liegt eine theoretische Basis zu Grunde. Die Interventionen unterscheiden sich in Bezug auf ihre Interventionsstrategie, in ihrer Zielgruppenfokussierung oder auch bezüglich des Settings31 , in welchem sie umgesetzt werden. Aufgrund der großen Heterogenität, besonders in Bezug auf den Fokus der Interventionen zur Reduktion von Einsamkeit (zum Beispiel Reduktion von Einsamkeit durch die Verbesserung der sozialen Unterstützung), haben verschiedene Forschungsgruppen versucht, die bestehenden Interventionen einer systematischen Klassifikation, beispielsweise in Bezug auf die Kernelemente der spezifischen Intervention, zu unterziehen.

3.1 Interventionsstrategien Interventionen gegen Einsamkeit können auch in Bezug auf ihren Fokus nicht immer eindeutig voneinander abgegrenzt werden.32 Masi und Kolleg:innen33 unternahmen als erste einen Versuch, Interventionen gegen Einsamkeit auf der Grundlage der angewandten Strategie zu klassifizieren. Sie identifizierten in der Litera-

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33

lichkeiten, die erreichbar sind, auch wenn kein privates Auto für die Anfahrt zur Verfügung steht. Die universelle Prävention richtet sich an die Allgemeinbevölkerung, das heißt nicht nur an Personen, die von Einsamkeit betroffen sind. Das Ziel ist es, Einsamkeit in der Allgemeinbevölkerung vorzubeugen. Adaptiert nach F. Mann et al. (2017): A life less lonely. Das sogenannte Setting beschreibt den Rahmen, in welchem eine Intervention dargeboten wird, zum Beispiel als Einzel- oder Gruppenangebot. Viele Interventionen fokussieren nicht nur isoliert einen spezifischen Aspekt (zum Beispiel Verbesserung der sozialen Unterstützung), sondern vermitteln beispielsweise auch soziale Fertigkeiten, wie Personen soziale Unterstützung einholen können. Dadurch wird die Einteilung in spezifische Interventionsgruppen erschwert. C.M. Masi et al. (2011): A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness.

Noëmi Seewer und Tobias Krieger: Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit

tur vier Kategorien von Interventionen: 1) Interventionen zur Verbesserung sozialer Fertigkeiten, 2) Interventionen, welche die Möglichkeiten für soziale Interaktionen erhöhen, 3) Interventionen, die die soziale Unterstützung fördern und 4) Interventionen, bei denen die Veränderung von dysfunktionalen sozialen Kognitionen34 im Vordergrund steht. In einer Meta-Analyse zu diesen Interventionstypen stellten die Autor:innen fest, dass in randomisiert-kontrollierten Studien35 , die Interventionen mit Fokus auf die Veränderung maladaptiver sozialer Kognitionen untersuchten, diese Interventionen verglichen mit den anderen drei Interventionskategorien die größten Effekte in der Reduktion von Einsamkeit aufwiesen. In einer Meta-Analyse wurde dieselbe Kategorisierung angewendet und es zeigte sich, dass die untersuchten Interventionen insgesamt einen positiven Effekt, im Sinne einer Steigerung der wahrgenommenen Qualität sozialer Beziehungen, auf das Einsamkeitserleben haben.36 Vergleiche zwischen den Kategorien stehen im Einklang mit den Ergebnissen von Masi und Kolleg:innen,37 das heißt psychologische Interventionen beispielsweise mit einem Fokus auf die Veränderung maladaptiver Kognitionen führten zu einer bedeutsamen Veränderung im Einsamkeitserleben, während weder für Interventionen zur Erhöhung sozialer Interaktionen noch für Interventionen zur Förderung von sozialer Unterstützung signifikante Veränderungen auf das Einsamkeitserleben nachgewiesen werden konnten. Aufgrund einer geringen Studienzahl konnten Interventionen zur Verbesserung sozialer Fertigkeiten in der Studie von Zagic et al. für die Gruppenanalysen nicht berücksichtigt werden.38 Die oben beschriebene Kategorisierung der Interventionsformen auf der Grundlage des Wirkungszwecks und der Wirkmechanismen wurden kürzlich erweitert und angepasst,39 sodass Interventionen in die folgenden sieben Kategorien eingeteilt werden können:

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Dysfunktionale soziale Kognitionen sind Gedanken und Einstellungen bezüglich des sozialen Kontexts und bezüglich Interaktionen, die auf früheren Erfahrungen und Überzeugungen beruhen und sich in hinderlicher Weise auf das Verhalten und Erleben auswirken; auch maladaptive Kognitionen genannt. Dabei handelt es sich um ein Studiendesign, bei dem Versuchspersonen per Zufall mindestens zwei verschiedenen Gruppen zugeteilt werden, wovon in mindestens einer Bedingung eine Intervention durchgeführt wird und die andere eine Kontrollgruppe darstellt, die die zu untersuchende Intervention nicht oder erst zu einem verzögerten Zeitpunkt durchläuft. Dadurch soll die Wirksamkeit der Intervention auf ein spezifisches Ergebnismaß hin untersucht werden. D. Zagic et al. (2021): Interventions to improve social connections. C.M. Masi et al. (2011): A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness. D. Zagic et al. (2021): Interventions to improve social connections. C. Gardiner/G. Geldenhuys/M. Gott (2018): Interventions to reduce social isolation and loneliness among older people; C.Y.K. Williams et al. (2021): Interventions to reduce social isolation and loneliness during COVID-19 physical distancing measures.

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Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit a) Interventionen zur Erleichterung des sozialen Kontakts [social facilitation interventions] b) Interventionen zur Stärkung der wahrgenommenen sozialen Unterstützung [befriending interventions] c) Psychologische Interventionen im weitesten Sinne [psychological therapies] d) Gesundheits- und Sozialfürsorge [health and social care provision] e) Tiergestützte Interventionen [animal interventions] f) Interventionen zur Kompetenzentwicklung [leisure/skill development] g) Edukative Programme [educational programmes]

Die Kategorie a) Interventionen zur Erleichterung des sozialen Kontakts beschreibt Interventionen, deren Hauptzweck darin besteht, die soziale Interaktion zwischen betroffenen Personen zu fördern, indem beispielsweise Videokonferenzen oder Fokusgruppen-Diskussionen abgehalten werden oder sonstige Veranstaltungen organisiert werden, von denen alle beteiligten Teilnehmer:innen in gleichem Maße profitieren sollen. Davon unterscheiden sich b) Befriending-Maßnahmen, bei denen einsame Personen meist von Freiwilligen unterstützt werden und zum Beispiel etwas mit diesen unternehmen. Bei c) psychologischen Therapien werden theoretisch fundierte psychologische Interventionen von geschulten Psycholog:innen durchgeführt (zum Beispiel achtsamkeitsbasierte Ansätze oder kognitiv-verhaltenstherapeutische [KVT] Interventionen40 ), während bei d) Maßnahmen des Gesundheitsund Sozialwesens die Unterstützung durch andere Fachkräfte des Gesundheits- oder Sozialwesens erfolgt. Konkret kann dies bedeuten, dass Personen beispielsweise Heimbesuche von Pflegefachpersonen erhalten und beim Erstellen und Einhalten von persönlichen Gesundheitsplänen, zum Beispiel mit Fokus auf die mentale Gesundheit oder soziale Teilhabe, unterstützt werden. Bei e) tiergestützten Interventionen werden echte, aber auch Roboter-Tiere (zum Beispiel die Roboterrobbe »Paro«) zur Einsamkeitsreduktion eingesetzt. Bei f) Interventionen mit Fokus auf Kompetenzentwicklung wird darauf abgezielt, spezifische Fähigkeiten, beispielsweise mittels Kommunikationstraining, zu fördern. g) Edukative Programme umfassen Interventionen, in denen Teilnehmende zum Beispiel im Rahmen von Workshops oder Diskussionsrunden etwa über den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Gesundheit sowie Wohlbefinden informiert werden. In einer systematischen Übersichtsstudie wurde die Effektivität von Interventionen, die diesen Kategorien zugeordnet werden können, evaluiert und dabei gemischte Ergebnisse innerhalb sowie zwischen den verschiedenen Kategorien gefun-

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Bei der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) stehen die Wahrnehmung der Patient:innen sowie deren Gedanken im Vordergrund. Hauptfokus der KVT ist das Identifizieren und Verändern dysfunktionaler Gedanken und Einstellungen, wodurch auch das Erleben und Verhalten verändert werden soll.

Noëmi Seewer und Tobias Krieger: Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit

den. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Resultate mit Vorsicht zu genießen sind, da einige der untersuchten Studien methodische Mängel (wie beispielsweise eine geringe Stichprobengröße) haben. Die vielversprechendsten Interventionen gehörten zur Gruppe der psychologischen Interventionen. Tiergestützte Interventionen konnten in den von Williams et al.41 untersuchten Studien vor allem dann eine Reduktion im Einsamkeitserleben bewirken, wenn Roboter-Tiere eingesetzt wurden. Edukative Programme vermochten Einsamkeit insbesondere dann zu reduzieren, wenn sich deren Inhalt auf Freundschaft und soziale Integration fokussierte. Bezüglich Interventionen zur Erleichterung des sozialen Kontakts wurden gemischte Ergebnisse berichtet. Während drei Interventionen zu einer Reduktion von Einsamkeit beitragen konnten, konnte in drei weiteren Interventionen dieser Kategorie keine solche Veränderung erzielt werden. Interventionen zur Kompetenzentwicklung waren sehr heterogen in ihrem Inhalt (zum Beispiel Computer-Trainings, bewegungsbezogene Interventionen) und nur in wenigen Studien konnte Einsamkeit in bedeutsamem Maße reduziert werden. Darüber hinaus konnten keine Veränderungen im Einsamkeitserleben mittels Befriending-Ansätzen und Interventionen mit Fokus auf Gesundheits- und Sozialfürsorge aufgezeigt werden. Insgesamt wurde von den Autor:innen der Studie festgehalten, dass die Studienqualität eingeschränkt ist und die meisten Studien mit älteren Menschen durchgeführt wurden, sodass zum Beispiel die Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf jüngere Personen fraglich ist.42 Eine Meta-Analyse fokussierte die Wirksamkeit psychologischer Interventionen zur Reduktion von Einsamkeit.43 Als primäres Ergebnismaß wurde bei allen berücksichtigten Studien Einsamkeit erfasst. Dabei erwiesen sich psychologische Interventionen im Durchschnitt als wirksam in der Verringerung von Einsamkeit verglichen mit Kontrollgruppen (durchschnittliche Effektstärke g = 0.43). Weiterführende Vergleiche konnten keine Überlegenheit von Ansätzen, die auf kognitiver Verhaltenstherapie beruhten, gegenüber einer heterogenen Gruppe von nicht auf KVT basierenden, aber psychologischen Interventionen (zum Beispiel Achtsamkeits-Interventionen, Training sozialer Fertigkeiten, integrative Ansätze), nachweisen. Auch hier betonen die Autor:innen jedoch, dass noch weitere und qualitativ hochwertigere Studien nötig seien.

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C.Y.K. Williams et al. (2021): Interventions to reduce social isolation and loneliness during COVID-19 physical distancing measures. Ebd. N. Hickin et al. (2021): The effectiveness of psychological interventions for loneliness.

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Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit

3.2 Interventionen in verschiedenen Zielgruppen Lange Zeit lag der Fokus von Interventionen gegen Einsamkeit und demzufolge auch von Studien dazu vor allem auf älteren Personen.44 Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Einsamkeit lange meist ausschließlich als ein Problem des Alters angesehen wurde. Dadurch wurden möglicherweise Interventionsaspekte, die für andere Altersgruppen zu beachten sind, vernachlässigt. In welchem Ausmaß das Alter der Zielpersonen von Einsamkeitsinterventionen mitberücksichtigt werden muss, ist deshalb noch nicht ausreichend empirisch geklärt. Es ist allerdings anzunehmen, dass Interventionen das Alter der betroffenen Personen berücksichtigen sollten, da unterschiedliche Lebensphasen mit unterschiedlichen Herausforderungen (beispielsweise Loslösung von den Eltern und Stärkung der Beziehungen zu Peers bei Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen; gesundheitliche Beschwerden beziehungsweise Einschränkungen oder die Veränderung des sozialen Netzes durch Todesfälle insbesondere bei älteren Personen) einhergehen, weshalb unterschiedliche Maßnahmen beziehungsweise Interventionen erforderlich sein können.45 Im Folgenden wird gesondert auf die empirische Evidenz zur Wirksamkeit von Interventionen bei drei Personengruppen eingegangen, welche immer wieder mit einem erhöhten Risiko für Einsamkeit diskutiert werden: Ältere Menschen, Jugendliche und junge Erwachsene sowie Personen mit psychischen Erkrankungen46 . Ältere Personen In einem Übersichtsartikel, der 34 Interventionsstudien mit Personen ab 55 Jahren analysierte, wurden zwei Drittel der untersuchten Interventionen im Gruppenund ein Drittel im Einzelsetting durchgeführt.47 Davon vermittelten die meisten Interventionen (circa 70 Prozent) psychoedukative Inhalte, zum Beispiel zu Aspekten wie man Beziehungen auf- oder wie man sein soziales Netzwerk ausbaut, und 20 Prozent der Interventionen setzten den Schwerpunkt auf das Fördern gemeinsamer Aktivitäten. Es zeigte sich in Bezug auf die Reduktion von Einsamkeit, dass insgesamt 12 der 34 untersuchten Interventionen als »effektiv« und

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C.M. Masi et al. (2011): A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness. P. Qualter et al. (2015): Loneliness Across the Life Span. Einsamkeit tritt häufig im Zusammenhang mit psychischen Störungen, wie zum Beispiel Depression oder Angststörungen, auf. Bisherige Untersuchen weisen auf wechselseitige Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und Depression sowie Angststörungen hin, das heißt Einsamkeit kann sowohl Ursache als auch eine Folge der psychischen Störung sein und eine relevante Rolle in der Behandlung der psychischen Störung spielen. Auch für andere psychische Störungen gibt es Befunde, dass sie mit Einsamkeit assoziiert sind. J. Cohen-Mansfield/R. Perach (2015): Interventions for Alleviating Loneliness among Older Persons.

Noëmi Seewer und Tobias Krieger: Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit

weitere 15 als »potenziell effektiv«48 klassifiziert werden konnten. Die Gruppeninterventionen waren im Vergleich zu den Interventionen im Einzelsetting zwar seltener als »effektiv« klassifiziert, dagegen aber auch häufiger als »potenziell effektiv« und sogar seltener als »ineffektiv«. Unter anderem aufgrund dieser Befunde scheinen Gruppeninterventionen bei älteren Personen, unter Berücksichtigung gruppenspezifischer Anpassungen (siehe unten),49 erfolgversprechende Interventionsmöglichkeiten darzustellen.50 Eine andere systematische Übersichtsarbeit zu Interventionen gegen Einsamkeit und soziale Isolation im Alter weist darauf hin, dass die Kombination aus verschiedenen Ansätzen am vielversprechendsten zur Reduktion von Einsamkeit beiträgt.51 Ein Beispiel dafür ist ein Programm, welches psychoedukative und kognitive Elemente sowie die Steigerung der sozialen Unterstützung kombiniert, um dadurch andere Mitglieder der Gemeinschaft besser kennenzulernen.52 Ebenso weisen Poscia et al.53 darauf hin, dass diverse technologiebasierte Interventionen (zum Beispiel Unterstützung bei der Computernutzung oder Begleitroboter) bei älteren Personen das Potenzial besitzen, Einsamkeit zu reduzieren und soziale Isolation zu verringern. In einer Übersichtsarbeit zu Interventionen gegen Einsamkeit und soziale Isolation bei älteren Personen54 kristallisierten sich drei Aspekte heraus, die für eine erfolgversprechende Intervention in dieser Zielgruppe relevant zu sein scheinen: 1) Einbezug der betroffenen Personen bei der Entwicklung und Ausgestaltung der Intervention im 48

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53 54

Die Autor:innen bewerteten Interventionen als möglicherweise effektiv, wenn nicht signifikante Veränderungen im Einsamkeitserleben erzielt wurden und eine Stichprobengröße von weniger als 100 Personen vorlag. Dadurch würde die »statistische Power« (also die Wahrscheinlichkeit, dass ein signifikantes Ergebnis gefunden wird, wenn es tatsächlich vorliegt) berücksichtigt werden, die unter anderem abhängig von der Stichprobengröße ist. Vgl. C. Gardiner/G. Geldenhuys/M. Gott (2018): Interventions to reduce social isolation and loneliness among older people. J. Cohen-Mansfield/R. Perach (2015): Interventions for Alleviating Loneliness among Older Persons. A. Poscia et al. (2018): Interventions targeting loneliness and social isolation among the older people. T. Saito/I. Kai/A. Takizawa (2012): Effects of a program to prevent social isolation on loneliness, depression, and subjective well-being of older adults. Diese Intervention, aufgebaut aus mehreren Gruppensitzungen, richtet sich an ältere Personen mit Migrationshintergrund. Dabei wurden Informationen zur Stadt, in der die Personen leben, und mögliche lokale soziale Aktivitäten für ältere Personen vermittelt, Diskussionen über Migrationserfahrungen und deren Einfluss auf das Leben der Einzelnen geführt sowie persönliche Bedürfnisse mit dem Ziel identifiziert, die Bildung eines sozialen Netzes und die soziale Unterstützung zwischen den Teilnehmenden zu fördern. Zusätzlich standen Personen mit Kenntnis lokaler Angebote wie Freiwilligenarbeit, Freizeitaktivitäten für Senior:innen oder Gesundheits- und Wohlfahrtsthemen zur Verfügung, um Interventionsteilnehmenden den Zugang zu den gewünschten Angeboten zu erleichtern. A. Poscia et al. (2018): Interventions targeting loneliness and social isolation among the older people. C. Gardiner/G. Geldenhuys/M. Gott (2018): Interventions to reduce social isolation and loneliness among older people.

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Vorhinein, 2) den Betroffenen ermöglichen, eine aktive Rolle auch während der Intervention einnehmen zu können und 3) flexible Anpassung der Interventionen, zum Beispiel an die örtlichen Bedingungen. Bei älteren Personen sollten zusätzlich mögliche Einschränkungen in der Mobilität aufgrund körperlicher Probleme und gegebenenfalls kognitiver Beeinträchtigungen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung und Durchführung von Interventionen spielen. Jugendliche und junge Erwachsene Wie Interventionen für Jugendliche und junge Erwachsene ausgestaltet werden sollen, ist bislang hingegen weniger klar. Bezüglich der Effektivität von Interventionen gegen Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen weist eine Meta-Analyse darauf hin, dass Einsamkeit mithilfe verschiedener Interventionen auch bei jüngeren Personen reduziert werden kann.55 Da sich die einbezogenen Studien jedoch stark hinsichtlich der untersuchten Interventionen, der Studienqualität sowie der spezifischen Alters- (Altersspanne: drei bis 25 Jahre) und Zielgruppen unterscheiden, können keine Aussagen getroffen oder Empfehlungen gemacht werden bezüglich einer spezifischen Intervention für Kinder und Jugendliche. Eine weitere systematische Übersicht kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass es deutlich mehr Forschung braucht und bisherige Arbeiten zu Einsamkeitsinterventionen bei Kindern und Jugendlichen oftmals theoretisch nicht ausreichend verortet sind.56 Bisherige Interventionsstudien zielen vor allem auf spezifische Risikogruppen ab, weshalb von einer Verallgemeinerung der Ergebnisse auf andere Personengruppen abgesehen werden muss. Wiederum zeigt sich, dass das Hauptaugenmerk einer Intervention auf der Akzeptanz der Intervention durch die Betroffenen liegen sollte. Im Zuge einer kritischen interpretativen Synthese von empirischen Studien und Gesprächen mit verschiedenen beteiligten Personengruppen (Stakeholder:innen) wurde ein kontextuelles Rahmenmodell für Interventionen zur Einsamkeitsreduktion bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausgearbeitet.57 Auf dieser Grundlage empfehlen die Autor:innen, analog zur Empfehlung bei älteren Menschen, Interventionen gemeinsam mit den betroffenen Personen zu entwickeln, um sicherzustellen, dass sie auf die individuellen Bedürfnisse der Zielgruppe abgestimmt sind. Dabei gilt es, die verschiedenen Kontextfaktoren (sozial, intra- und interpersonal)58 sowie verschiedene Inhalte (zum Beispiel interpersonale Strate55 56 57 58

A.M. Eccles/P. Qualter (2021): Alleviating loneliness in young people. T. Osborn/P. Weatherburn/R.S. French (2021): Interventions to address loneliness and social isolation in young people. E. Pearce et al. (2021): Loneliness as an active ingredient. Zu sozialen Kontextfaktoren zählt beispielsweise das Vorliegen oder Fehlen von sozialer Unterstützung durch Familie oder Freund:innen oder ein allgemeineres Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Intrapersonale Kontextfaktoren umschreiben beispielsweise psychologische Hürden (zum Beispiel fehlendes Vertrauen in andere Menschen oder Angst vor

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gien wie das Training sozialer Fertigkeiten oder individuelle Strategien wie die kognitive Verhaltenstherapie) miteinzubeziehen. Menschen mit psychischen Störungen Die Autor:innen einer Übersichtsarbeit zur Reduktion von Einsamkeit bei Personen mit psychischen Störungen kommen zum Schluss, dass Interventionen vorzugsweise auch auf die Veränderung dysfunktionaler sozialer Kognitionen abzielen sollten.59 Obschon die Steigerung von Möglichkeiten zur sozialen Interaktion oder der sozialen Unterstützung hilfreich sein können, scheinen solche Interventionen für sich allein nicht ausreichend, um Einsamkeit längerfristig bei Personen mit psychischen Störungen reduzieren zu können.60 Eine weitere systematische Übersichtsstudie deutet ebenso darauf hin, dass verschiedene Interventionen zur Steigerung der wahrgenommenen sozialen Unterstützung verglichen mit Kontrollgruppen keine signifikanten Effekte aufweisen.61 Interventionen, die hingegen auf die Veränderung von sowohl Einsamkeit als auch objektiver sozialer Isolation abzielten, waren mehrheitlich effektiv im Vergleich mit Kontrollgruppen oder üblichen Behandlungen [treatment as usual; TAU]. Einige Studien mit Menschen mit psychischen Störungen weisen zusätzlich darauf hin, dass durch die Reduktion der Einsamkeit indirekt auch eine Reduktion der Ausprägung der psychischen Störung erfolgen kann, sowie auch umgekehrt positive Effekte auf das Einsamkeitserleben durch die Behandlung der psychischen Störung auftreten können. Dieser Effekt wurde bislang zum Beispiel bei sozialen Angststörungen gefunden.62 Reinhard et al.63 zeigen in einer (unkontrollierten) Studie auch einen Effekt einer für chronisch depressive Störungen konzipierten Therapieform64 auf das Einsamkeitserleben und die depressive Symptomatik bei Personen mit einer persistierenden depressiven Störung. Dabei zeigten sich im Prä-Post-Vergleich statistisch bedeutsame Abnahmen sowohl hinsichtlich Einsamkeit als auch hinsichtlich der depressiven Symptomatik. Es braucht weitere Studien in störungsspezifischen Stichproben, welche untersuchen, ob die gegenseitige Beeinflussung von Einsamkeit und störungsspezifischen Symptomen auch bei anderen psychischen Störungen auftritt. Trotz dieser interessanten ersten

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Zurückweisung), die einer betroffenen Person eigen sind. Zu den interpersonalen Kontextfaktoren gehören Aspekte wie soziale Fertigkeiten. F. Mann et al. (2017): A life less lonely. Ebd. R. Ma et al. (2020): The effectiveness of interventions. E.B. O’Day et al. (2021): Reductions in social anxiety during treatment predict lower levels of loneliness. M.A. Reinhard et al. (2021): Cognitive behavioral analysis system of psychotherapy reduces loneliness. Es handelt sich dabei um die Therapieform »Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy« (CBASP) (vgl. zum Beispiel E. Schramm/F. Caspar/M. Berger [2006]: Spezifische Therapie für chronische Depression).

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Befunde gilt jedoch auch bei Interventionen für Menschen mit psychischen Erkrankungen, dass die vorliegende Evidenz nicht ausreichend ist, um sagen zu können, welche Interventionen besonders geeignet sind, um bei betroffenen Personen Einsamkeit effektiv und langfristig reduzieren zu können.

3.3 Interventionen in unterschiedlichen Settings Interventionen gegen Einsamkeit können in unterschiedlichen Settings durchgeführt werden. So kann etwa zwischen Einzel- und Gruppensettings oder zwischen Face-to-Face- und Online- beziehungsweise technologiegestützten Interventionen differenziert werden. Mit einem Fokus auf die technologiebasierten Interventionen werden diese Settings nun exemplarisch dargestellt. Einzel- vs. Gruppensetting Interventionen gegen Einsamkeit wurden sowohl für das Einzel- und Gruppensetting65 als auch für die Kombination der beiden Settings66 entwickelt. Während im Einzelsetting besser auf die individuellen Bedürfnisse der betroffenen Person eingegangen werden kann, bietet das Gruppensetting andere Vorteile, so zum Beispiel die Möglichkeit, durch den Austausch mit anderen Betroffenen von deren Erfahrungen zu lernen, Zugehörigkeit zu erleben oder sich womöglich besser verstanden zu fühlen. In einer älteren Übersichtsstudie erwiesen sich Gruppeninterventionen als wirksam in der Reduktion von Einsamkeit.67 Eine etwas ältere Meta-Analyse findet keine generelle Überlegenheit des Gruppenformats gegenüber dem Einzelsetting,68 wie oben beschrieben findet sich aber eine solche Tendenz bei älteren Personen.69 Während Gruppensettings und die Zugehörigkeit zu Gruppen im Allgemeinen für gewisse Personen sehr gewinnbringend zu sein scheinen, wurden in einer qualitativen Studie Gründe und Barrieren untersucht, weshalb einsame Personen Gruppensettings tendenziell kritisch gegenüber eingestellt sind.70 Dabei berichteten Befragte von verschiedenen hinderlichen Faktoren bezüglich der Teilnahme an einer Gruppenintervention, zum Beispiel von negativen Erfahrungen hinsichtlich sozialer Zugehörigkeit in der Vergangenheit, von Misstrauen anderen Personen gegenüber oder vom Gefühl, nicht in die Gruppe zu passen. Diese Aspekte sollten bei der Konzeption einer Gruppenintervention also sicher berücksichtigt werden.

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Zum Beispiel C. Haslam et al. (2016): Groups 4 Health; N. Stevens (2001): Combating loneliness. J. Cohen-Mansfield et al. (2018): Efficacy of the I-SOCIAL intervention for loneliness in old age. M. Cattan et al. (2005): Preventing social isolation and loneliness among older people. Vgl. C.M. Masi et al. (2011): A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness. J. Cohen-Mansfield/R. Perach (2015): Interventions for Alleviating Loneliness among Older Persons. A. Stuart et al. (2022): ›Oh no, not a group!‹.

Noëmi Seewer und Tobias Krieger: Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit

Face-to-Face vs. Online In den letzten Jahren wurde der potenzielle Nutzen des Internets zur Vermittlung von therapeutischen Inhalten erkannt und eine Vielzahl an verschiedenen Interventionen entwickelt. Internetbasierte Interventionen können neben Interventionen mit Robotern, telefonbasierten Angeboten, Computerspielen oder Online-Chatgruppen der heterogenen Gruppe von technologiebasierten Interventionen zugeordnet werden.71 Die Vorteile von internetbasierten Inhalten sind, dass sie unabhängig von Ort und Zeit zugänglich sein können und häufig niedrigschwelliger sind. Gewisse Arten dieser Interventionen sind zudem gut skalierbar72 , sodass viele Personen erreicht werden können.73 Zusätzlich haben einige internetbasierte Interventionen großes Potenzial als niedrigschwellige, Selbsthilfeorientierte Angebote. Dies scheint auch insbesondere in Bezug auf Interventionen gegen Einsamkeit ein wichtiger Aspekt zu sein, da Einsamkeit häufig mit einer starken Tendenz zur (Selbst-)Stigmatisierung74 assoziiert wird.75 Die mit Einsamkeit einhergehenden Schamgefühle und die damit zusammenhängende Angst vor erwarteter Zurückweisung können das Aufsuchen von Unterstützungsangeboten oder professioneller Hilfe erschweren oder verhindern. Internetbasierte Selbsthilfeinterventionen sind oftmals so konstruiert, dass Nutzende verschiedene Module online selbständig bearbeiten und je nach Intervention eine Kontaktmöglichkeit zu Fach- respektive Begleitpersonen besteht. In solchen Interventionen konnten bei Teilnehmer:innen weniger Befürchtungen vor der Interaktion mit einer Fachperson als in herkömmlichen Face-to-Face Kontakten nachgewiesen werden.76 Studien zur Wirksamkeit von internetbasierten Selbsthilfeprogrammen für verschiedene psychologische Störungsbilder ergaben vielversprechende Ergebnisse.77 Dabei zeigte sich insbesondere, dass KVT-basierte Ansätze vermittelt über das Internet vergleichbare Effekte hervorbringen wie KVT

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P. Khosravi/A. Rezvani/A. Wiewiora (2016): The impact of technology on older adults’ social isolation. Eine gute Skalierbarkeit beschreibt die Möglichkeit, Interventionen einer großen Zahl von Personen zugänglich zu machen respektive zu vervielfältigen. G. Andersson (2016): Internet-Delivered Psychological Treatments. Stigmatisierung beschreibt einen Prozess, bei dem Individuen oder Gruppen negativ bewertete Merkmale und Eigenschaften zugeschrieben werden. Bei der sogenannten »Selbststigmatisierung« werden sich gesellschaftliche Stereotype und Vorurteile über bestimmte Personengruppen oder Störungsbilder selbst zugeschrieben (vgl. zum Beispiel P.W. Corrigan/J.R. Shapiro [2010]: Measuring the impact of programs that challenge the public stigma of mental illness). S. Lau/G.E. Gruen (1992): The Social Stigma of Loneliness. J.N. Soucy/H.D. Hadjistavropoulos (2017): Treatment acceptability and preferences for managing severe health anxiety. G. Andersson (2016): Internet-Delivered Psychological Treatments.

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im Face-to-Face Setting.78 In verschiedenen Studien wurden mehrere internetbasierte Selbsthilfeinterventionen zur Reduktion von Einsamkeit getestet. Käll et al.79 untersuchten die Wirksamkeit eines achtwöchigen internetbasierten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Programms (zu Englisch gekürzt ICBT) in einer randomisiert-kontrollierten Pilotstudie. Im Rahmen des Programms beschäftigten sich die Teilnehmenden mit ihren Gedanken und Verhaltensweisen rund um ihre Einsamkeitsgefühle und erhielten ein wöchentliches schriftliches Feedback durch eine Fachperson [Guidance]. Die Interventionsgruppe zeigte eine signifikante Veränderung im Einsamkeitserleben verglichen mit der Wartekontrollgruppe.80 Zum Follow-up-Zeitpunkt zwei Jahre nach dem Ende der Intervention wurde bei vielen Teilnehmenden eine weitere Abnahme der Einsamkeit festgestellt.81 Weitere Hinweise für die Wirksamkeit dieser Intervention liefert eine zweite Studie, in der zwei internetbasierte Selbsthilfeprogramme (ICBT und Internetbasierte Interpersonale Therapie [IIPT]82 ) mit einer Wartekontrollgruppe verglichen wurden.83 Dabei unterschied sich die Veränderung im Einsamkeitserleben zwischen der IIPT und Wartekontrollgruppe nicht in bedeutsamer Weise. Jedoch wurden in der ICBT-Gruppe verglichen mit der Wartegruppe mittlere bis große Effekte nach der Interventionsphase erzielt, sowie moderate Effekte verglichen mit der IIPT-Gruppe.84 Aktuell wird diese Art der Intervention in einer weiteren Studie im deutschsprachigen Raum untersucht.85 Verschiedene Übersichtsartikel, die eine größere Bandbreite an technologiebasierten Interventionen mehrheitlich bei älteren Personen untersucht haben, zeigen gemischte Ergebnisse bezüglich deren Wirksamkeit. Eine systematische Zusammenfassung von Übersichtsarbeiten zu Interventionen, die übers Internet vermittelt wurden und entweder Informations-, Kommunikations- oder andere elektronische Technologien verwendeten, zeigte, dass meist Internet- beziehungsweise Computernutzungs-Trainings untersucht wurden, sich diese in randomi-

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83 84 85

P. Carlbring et al. (2018): Internet-based vs. face-to-face cognitive behavior therapy for psychiatric and somatic disorders. A. Käll et al. (2020): Internet-Based Cognitive Behavior Therapy for Loneliness. Ebd. A. Käll et al. (2020): Lonesome no more? Die Interpersonale Therapie (IPT) ist eine Kurzzeittherapie, in deren Rahmen unter anderem die Relevanz zwischenmenschlicher Beziehungen für die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen fokussiert wird. A. Käll et al. (2021): Therapist-Guided Internet-Based Treatments for Loneliness. Ebd. N. Seewer et al. (2022): Evaluating the Efficacy of a Guided and Unguided Internet-Based Self-help Intervention.

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siert-kontrollierten Studien aber als nicht effektiv erwiesen.86 Ebenso berichten Chipps et al.87 von gemischten Wirksamkeitsnachweisen für Roboter-Haustiere oder Videospiele und geben Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Einsamkeitsreduktion und der Nutzung von Videotelefonie. Letztere wurden allerdings in einer neueren Übersichtsstudie als ineffektiv in der Reduktion von Einsamkeit bewertet.88 Während sich in einer Übersicht von systematischen Literaturreviews sogenannte eInterventionen89 als »möglicherweise wirksam« in der Reduktion von Einsamkeit zeigten,90 kam eine kürzlich erschienene Meta-Analyse mit Fokus auf Interventionen mit digitalen Technologien (zum Beispiel soziale Aktivitäten via sozialer Medien, Videokonferenzen oder Chat-Gruppen) zum Schluss, dass die untersuchten Interventionen den Kontrollbedingungen statistisch nicht überlegen sind.91 Zurzeit fehlen qualitativ hochwertige Studien, welche die Wirksamkeit verschiedener technologiebasierter Interventionen eindeutig belegen und aus denen konkrete Empfehlungen abgeleitet werden könnten. Nichtsdestotrotz wurden als Reaktion auf die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus verschiedene technologiebasierte Interventionen entwickelt und untersucht, um akuter Einsamkeit entgegenzuwirken. Beispielhaft sollen hier zwei Studien herausgegriffen werden. In einer randomisiert-kontrollierten Pilotstudie mit älteren Personen wurde die Wirksamkeit von Gruppengesprächen per Videokonferenz mit einer Wartekontrollgruppe untersucht.92 Die Intervention zielte darauf ab, betroffenen Personen eine Plattform für soziale Interaktionen zu bieten sowie kognitive und verhaltensbezogene Fertigkeiten zu vermitteln, um die pandemiebedingte soziale Isolation und die damit einhergehenden Einsamkeitsgefühle besser bewältigen zu können. Die sieben 60- bis 90-minütigen Gruppensitzungen bestanden aus einer geführten Diskussion (beispielsweise zu angenehmen und unangenehmen Erfahrungen in der Vorwoche oder Stressbewältigungsstrategien), der Vermittlung von Strategien aus der Kognitiven Verhaltenstherapie und Achtsamkeitsübungen. Mithilfe von Gruppengesprächen per Videokonferenz konnte Einsamkeit in der Interventionsgruppe vergli-

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J. Chipps/M.A. Jarvis/S. Ramlall (2017): The effectiveness of e-Interventions on reducing social isolation in older persons. Ebd. C. Noone et al. (2020): Video calls for reducing social isolation and loneliness in older people. Dazu zählen Interventionen, die aus Informations- beziehungsweise Kommunikationstechnologien aller Art bestehen, oder internetgestützte Interventionen mit oder ohne menschliche Begleitung. M.A. Jarvis et al. (2020): The effectiveness of interventions addressing loneliness in older persons. S.G.S. Shah et al. (2021): Evaluation of the Effectiveness of Digital Technology Interventions to Reduce Loneliness in Older Adults. S. Shapira et al. (2021): A pilot randomized controlled trial of a group intervention via Zoom to relieve loneliness and depressive symptoms.

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chen mit der Kontrollgruppe statistisch signifikant reduziert werden. In einer weiteren Studie wurde die Wirksamkeit kurzer Telefongespräche zur Reduktion von Einsamkeit untersucht.93 Geschulte Lai:innen führten dabei über einen Zeitraum von vier Wochen mit den Studienteilnehmenden zwei ungefähr zehnminütige Telefongespräche pro Woche. Die Gesprächsinhalte wurden hierbei nicht vorgegeben, sondern konnten von den Studienteilnehmenden eigenständig bestimmt werden. In der Studie wiesen die Personen in der Interventionsgruppe nach Beendigung der Intervention ein geringeres Einsamkeitserleben auf als Personen in der Wartekontrollgruppe. Während diese beiden Studien aufzeigen, dass Veränderungen von akutem Einsamkeitserleben mithilfe von Kurzinterventionen auch ohne direkten persönlichen Kontakt erzielt werden können, bleibt die Frage ungeklärt, ob diese positiven Veränderungen von dauerhafter Natur sind und auch über das Interventionsende hinaus anhalten sowie ob diese Interventionsformen auch bei chronischer Einsamkeit geeignet sind.

4. Diskussion Der vorliegende Beitrag bietet eine Übersicht über verschiedene Interventionen zur Reduktion von Einsamkeit mit einem Fokus auf Interventionen auf der individuellen Ebene und deren Effektivität. In Bezug auf die Interventionsarten kann festgehalten werden, dass Interventionen zur Reduktion von Einsamkeit sehr heterogen sind und bezüglich verschiedener Aspekte unterschieden werden können. Zudem können Interventionen in unterschiedlichen Settings und für unterschiedliche Zielgruppen durchgeführt werden. Bezüglich der empirischen Evidenz in Bezug auf die Wirksamkeit der beschriebenen Interventionen zeigt sich ein gemischtes Bild. Um objektive soziale Isolation zu verringern, scheint das Schaffen von mehr und niedrigschwelligeren Möglichkeiten zur sozialen Interaktion in einigen Fällen ausreichend zu sein. Allerdings sind solche Interventionen alleine nicht in jedem Fall geeignet, um auch Einsamkeit, also subjektive soziale Isolation, bedeutsam zu verändern. Einiges deutet darauf hin, dass der chronischen Einsamkeit zu Grunde liegende aufrechterhaltende Mechanismen, wie verzerrte soziale Kognitionen oder ausgeprägtes Vermeidungsverhalten,94 bearbeitet werden sollten, damit sich die wahrgenommene Qualität von sozialen Beziehungen verbessern und dadurch Einsamkeit reduziert werden kann. Entsprechend weisen verschiedene Übersichtsstudien auf den

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M.K. Kahlon et al. (2021): Effect of Layperson-Delivered, Empathy-Focused Program of Telephone Calls. A.W.M. Spithoven/P. Bijttebier/L. Goossens (2017): It is all in their mind.

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positiven Effekt von Interventionen hin, die insbesondere soziokognitive Prozesse einbeziehen.95 Es bleiben jedoch viele Fragen offen, deren Beantwortung für die Entwicklung effektiver Interventionen zur Reduktion von Einsamkeit wichtig ist. Wiederholt wurde in Übersichtsarbeiten festgehalten, dass bisherige Studien in ihren Designs von unzureichender Qualität sind, um verlässliche Aussagen darüber zu machen, welche Interventionen für welche Personen(gruppen) in Bezug auf eine Reduktion der Einsamkeit wirksam sind:96 Viele Studien weisen beispielsweise eine geringe Stichprobengröße auf,97 haben ein unzureichendes theoretisches Fundament,98 verwenden unterschiedliche Messmittel zur Erfassung von Einsamkeit99 oder fokussieren auf unterschiedliche Zielgruppen.100 All diese Faktoren führen dazu, dass ein Vergleich der Resultate oder eine Verallgemeinerung erschwert wird. AkhterKahn und Au101 weisen in diesem Zusammenhang auf den Umstand hin, dass in Interventionsstudien der Komplexität von chronischer Einsamkeit bislang oft zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde und Interventionen meist nach dem Prinzip »one size fits all« entwickelt und getestet wurden: Demnach wurde eine Intervention ungeachtet der Art (emotional oder sozial) oder Dauer (vorübergehend, situativ oder überdauernd) der empfundenen Einsamkeit getestet. Bislang mangelt es zudem an Studien, die verschiedene Interventionsansätze zur Reduktion von Einsamkeit direkt miteinander vergleichen. Studien dieser Art sind jedoch wichtig, um besser verstehen zu können, welche spezifischen Interventionen bei wem zu einer Verringerung von Einsamkeit beitragen. Nicht zuletzt gilt es bei der Beurteilung von Einsamkeitsinterventionen zu berücksichtigen, über welchen Zeithorizont sie wirksam sind und ob die Effekte über das Interventionsende hinaus bestehen bleiben. Dabei kann unterschieden werden, ob akute Einsamkeit vorübergehend reduziert werden soll oder aber eine längerfristige Veränderung im (chronischen) Einsamkeitserleben angestrebt wird. In diesem Zusammenhang zeigen verschiedene Studien, dass Einsamkeit unmittelbar nach der Interventionsphase zwar deutlich geringer ist. Die längerfristige Wirksamkeit von Interventionen wurde aber bislang nur in wenigen Studien nachgewiesen. M.A. Jarvis et al. (2020): The effectiveness of interventions addressing loneliness in older persons; F. Mann et al. (2017): A life less lonely; C.M. Masi et al. (2011): A Meta-Analysis of Interventions to Reduce Loneliness; D. Zagic et al. (2021): Interventions to improve social connections. 96 Zum Beispiel N. Hickin et al. (2021): The effectiveness of psychological interventions for loneliness; F. Mann et al. (2017): A life less lonely. 97 N. Hickin et al. (2021): The effectiveness of psychological interventions for loneliness. 98 T. Osborn/P. Weatherburn/R.S. French (2021): Interventions to address loneliness and social isolation in young people. 99 N. Hickin et al. (2021): The effectiveness of psychological interventions for loneliness. 100 A.M. Eccles/P. Qualter (2021): Alleviating loneliness in young people. 101 S.C. Akhter-Khan/R. Au (2020): Why Loneliness Interventions Are Unsuccessful. 95

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Obschon Interventionen auf individueller Ebene zentral zu sein scheinen, wurde bislang möglicherweise zu wenig berücksichtigt, dass Einsamkeit und der Umgang damit nicht auf der individuellen Ebene enden. Man stelle sich in einem Gedankenexperiment eine Person vor, die sich mit ihren hinderlichen sozialen Kognitionen befasst und diese verändert, ihre sozialen Fertigkeiten verbessert oder sich darum bemüht, mehr soziale Interaktionen zu haben. Stößt diese Person dabei allerdings in ihrem sozialen Umfeld auf wenig Resonanz im Sinne einer positiven Rückmeldung, so werden ihr die zwar wichtigen, aber gleichwohl eingeschränkten eigenen Einflussmöglichkeiten bewusst. Einsamkeit respektive soziale Verbundenheit wird also nicht alleine durch individuelle Faktoren bestimmt, sondern auch durch Aspekte der Gemeinschaft im Sinne des sozialen Umfeldes sowie der Gesellschaft.102 All diese Ebenen beeinflussen sich gegenseitig und werden deshalb aus Perspektive der öffentlichen Gesundheit [Public Health] als wichtig erachtet, um Einsamkeit nachhaltig zu reduzieren und soziale Verbundenheit zu fördern.103 In verschiedenen Ländern, wie zum Beispiel Großbritannien oder Japan, wurde die Dringlichkeit des Themas Einsamkeit als gesellschaftliches Problem bereits erkannt. Entsprechende politische Gremien wurden installiert, die sich des Themas Einsamkeit auf den unterschiedlichen Ebenen annehmen und somit ganzheitlichere Ansätze verfolgen.104

5. Fazit Die allermeisten Menschen werden im Verlauf ihres Lebens Gefühle von Einsamkeit erleben. Vorübergehende Einsamkeitsgefühle sind – auch wenn sie sehr schmerzhaft sein können – durch und durch normal und gehören zum Leben mit dazu, weshalb sie nicht pauschal problematisiert werden sollten. Sind Einsamkeitsgefühle jedoch chronisch, können sie mit einer Vielzahl negativer Konsequenzen für die psychische wie auch physische Gesundheit einhergehen. Anders als oftmals angenommen, sind nicht nur ältere Personen, sondern auch Personen im jungen und mittleren Alter von Einsamkeit betroffen. Potenzielle Maßnahmen und Interventionen zur Reduktion von Einsamkeit lassen sich auf verschiedenen Ebenen verorten. Im vorliegenden Beitrag wurden diese verschiedenen Ebenen erörtert. Dabei wurde ein Fokus auf Interventionen auf der Individualebene und deren empirische Evidenz in Bezug auf ihre Wirksamkeit gelegt. Der Umstand, dass chronische Einsamkeit kein diagnostizierbares Störungsbild darstellt, hat mit dazu beigetragen, dass in den letzten Jahren jedoch vergleichsweise wenig spezifische Interventi102 J. Holt-Lunstad (2018): Why Social Relationships Are Important for Physical Health. 103 J. Holt-Lunstad (2022): Social Connection as a Public Health Issue. 104 Vgl. M.H. Lim/R. Eres/S. Vasan (2020): Understanding loneliness in the twenty-first century.

Noëmi Seewer und Tobias Krieger: Interventionen gegen Einsamkeit und ihre Wirksamkeit

onsforschung stattgefunden hat. Durch die Corona-Pandemie hat das Thema Einsamkeit vermehrt mediales und öffentliches Interesse sowie Beachtung erfahren. Es bleibt in diesem Zusammenhang zu hoffen, dass dieser Effekt einen nachhaltig positiven Einfluss auf die Interventionsforschung in Bezug auf chronische Einsamkeit haben wird. Denn trotz der zahlreichen Interventionen, die in den letzten Jahrzehnten zur Reduktion von Einsamkeit entwickelt und evaluiert wurden, sind wir noch weit davon entfernt, alle Personen, die unter chronischer Einsamkeit leiden, effektiv und nachhaltig unterstützen zu können. Es wird in den kommenden Jahren weiterhin von großer Bedeutung sein, Interventionen im Rahmen von qualitativ hochwertigen Studien zu untersuchen und dabei sowohl Faktoren der individuellen, gemeinschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Ebenen zu berücksichtigen. Erst dadurch können verlässlichere Aussagen darüber gemacht werden, welche Interventionen für welche Personen unter welchen Umständen zur Reduktion von chronischer Einsamkeit geeignet sind, damit betroffenen Personen nachhaltig geholfen werden kann.

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Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit

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Telefonieren gegen Einsamkeit Hilfe zu jeder Zeit Ruth Belzner (TelefonSeelsorge Würzburg/Main-Rhön) | Seelsorge und Beratung am Telefon, im Chat und per E-Mail

1. Einleitung Die Anruferin ist von Menschen enttäuscht und lebt vollkommen einsam. Sie hat mehrere Katzen und liebt Tiere über alles. Tiere sind die besseren Menschen. Sie hat sich damit arrangiert, braucht aber doch ab und zu menschliche Stimmen und ruft dann bei der TelefonSeelsorge an. Es war nett, sich mit ihr zu unterhalten und ich habe ihr die Zeit gegeben. Sie hätte gerne noch länger geredet, hatte aber Verständnis, als ich beenden wollte.1 Einsamkeit ist in den Gesprächen der TelefonSeelsorge häufig ein Thema. Die Mitarbeiter:innen der TelefonSeelsorge dokumentieren – natürlich anonymisiert – jedes Gespräch, das sie mit Anrufer:innen führen, und legen zum Teil auch Gesprächsnotizen an. Um einen ersten Einblick in die mit der TelefonSeelsorge tagtäglich geteilten Erfahrungen mit Einsamkeit zu geben, werden zunächst ausgewählte Gesprächsnotizen dargestellt, die im weiteren Verlauf des Beitrags näher beleuchtet und verortet werden. Die folgende Notiz eines 28-minütigen Gesprächs mit einer Frau Anfang 60, das mittags geführt wurde, bestätigt zum Beispiel das Dilemma zwischen der Sehnsucht nach erfüllenden Beziehungen und einer gefühlten Hilflosigkeit angesichts der eigenen Einsamkeit, das im Folgenden noch einmal weiter ausgeführt wird. Zudem wird deutlich, wie leicht es am Telefon passieren kann, dass man zu Ratschlägen greifen möchte – entgegen dem Leitbild einer neutralen Hilfestellung, das von der TelefonSeelsorge in der Regel vertreten wird: Die Anruferin trauert ihrem Freund noch nach, obwohl sie sich bereits vor eineinhalb Jahren von ihm getrennt hat. Die Fernbeziehung hat nicht mehr funktioniert,

1

Es handelt sich hier um die Gesprächsnotiz eines 45-minütigen Telefonats mit einer Frau Ende 60, das kurz nach Mitternacht geführt wurde.

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weil er dem Alkohol zugesprochen hat. Die Anruferin hat einen Teilzeitjob, aber mit den Kolleginnen will sie nichts zu tun haben. Aus ihrer ersten Ehe hat sie Kinder und Enkelkinder, die von ihr nichts mehr wissen wollen. Es fällt ihr schwer, die Einsamkeit zu akzeptieren, aber für neue Versuche, Bekanntschaften zu machen, fühlt sie sich zu alt. Alle meine Ideen und Vorschläge fruchten nicht. Das Gespräch endet mit meinen besten Wünschen. Eine freundlich-zugewandte, gewährende Haltung ist die Grundlage eines guten Kontakts mit einem einsamen Menschen. Jedoch ist die Fähigkeit zur zeitlichen Begrenzung gleichermaßen notwendig. Diese beiden Aspekte der Gesprächsführung werden im Laufe dieses Beitrags noch ausführlicher betrachtet. Anrufende betonen immer wieder von sich aus, wie wichtig ihnen die Gespräche mit der TelefonSeelsorge sind; das schätzen Mitarbeitende sehr. Die hier von einem männlichen, Mitte 50-jährigen Anrufer vorgenommene Gleichsetzung von »nur mal wieder reden« mit »kein Anliegen« in einem 33-minütigen Gespräch am Vormittag lässt sich allerdings in Frage stellen – auch alltägliche Gespräche sind ein menschliches Bedürfnis, das besonders bei einsamen Menschen oft unerfüllt bleibt: Der Anrufer fragt als Erstes, ob ich ihn an der Stimme erkenne. Als ich verneine, lobt er die Telefonseelsorge [sic!], die ihn schon lange begleite und geholfen habe, wenn er Gesprächspartner suche. Dann umreißt er seine Geschichte: Er hat viele Jahre die kranke Mutter gepflegt, lebt in Streit und Auseinandersetzung mit den Nachbarn, ist, noch nicht anerkannt, erwerbsunfähig, sehnt sich nach einer Beziehung, da er einsam ist. Heute hat er kein Anliegen, wollte nur mal wieder reden, bevor er jetzt kocht. Er bedankt sich für das Gespräch. Dankbarkeit drückt sich immer wieder in Gesprächen aus. Ein »froher« und damit passender Abschluss der Fallbeispiele sei dieses 34-minütige Gespräch mit einer Frau Mitte 50, das nach 20:00 Uhr geführt wurde und viele der Aspekte anklingen lässt, die im Folgenden zum Phänomen »Einsamkeit« dargelegt werden: Die Anruferin ist erschöpft, einsam, fühlt sich verloren […]. Sie ist jetzt auf Hartz IV und hat vor allem große Probleme in ihrer Mietswohnung. Der Vermieter, der Hausmeister und jetzt auch die Nachbarn seien gegen sie. Während ihrer Abwesenheit würde ihre Wohnung betreten werden und in ihren Sachen gewühlt, und das alles, um sie zu retraumatisieren. Die Polizei glaubt ihr nicht, ich habe da auch so meine Zweifel. Aber dass sie einsam ist, spüre ich. Das war sie wohl schon immer, auch wenn sie eigentlich Familie hatte (Trennung, Kinder bei Vater). Ich höre ihr einfach zu und als sie den Begriff Kraftquelle nennt, kommen wir auf ihre Pflanzen, Fische, ihr Singen und sie wird immer fröhlicher und hat Energie. Das sagt sie auch ganz konkret. Die TS [TelefonSeelsorge] helfe ihr, sich wieder zu spüren, dass da jemand ist, mit dem sie reden kann. Sie ist sehr dankbar und geht deutlich ›froher‹ in den Abend.

Ruth Belzner: Telefonieren gegen Einsamkeit

2. Einsamkeit in Gesprächen mit der TelefonSeelsorge: ein quantitativer Einblick Wer sich zur Sprache bringen kann, hat im Wesentlichen seine Einsamkeit überwunden. Dieser Satz aus Peter Handkes »Aufzeichnungen zweckfreier Wahrnehmungen«, die er unter dem Titel »Das Gewicht der Welt« veröffentlichte, klingt beim ersten Hören wie für die TelefonSeelsorge formuliert. In der Tat können sich Menschen bei ihr »zur Sprache bringen« und bekommen darüber hinaus Resonanz – in dem Sinn, dass sie erfahren, wie sie wahrgenommen werden, was von ihnen verstanden wird und eventuell auch, welche Reaktionen sie im Gegenüber auslösen. Eine große Zahl der Gespräche wird mit Menschen geführt, die zutiefst einsam sind, wie in diesem Beitrag noch quantitativ und qualitativ belegt wird. Allerdings: Die Hoffnung, dass die Einsamkeit dieser Menschen durch die Gespräche mit der TelefonSeelsorge überwunden wird, kann nicht erfüllt werden. Für die Menschen, die über einen langen Zeitraum und teils auch in großer Regelmäßigkeit den Kontakt zur TelefonSeelsorge suchen, sind die Gespräche aber eine Möglichkeit, den Schmerz der Einsamkeit immer wieder für einen Moment zu lindern. Jedoch ebnen sie allein noch keinen Weg aus der Einsamkeit. Jeder Kontakt, ob am Telefon, im Chat, per Mail oder – was einige Stellen auch anbieten – von Angesicht zu Angesicht (»face-to-face«), wird statistisch erfasst, wofür die folgenden zum Teil geschätzten Informationen erhoben werden: der Zeitpunkt und die Dauer des Kontakts, das Geschlecht, das Alter, die berufliche Situation, die Lebensform, ob es ein wiederholter Kontakt war, ob Suizidalität eine Rolle spielte und ob eine psychische Erkrankung der Ratsuchenden bekannt ist. Aus einer vorgegebenen Liste, die auch das Item »Einsamkeit« enthält, werden ein bis drei Gesprächsthemen markiert. Zudem haben Mitarbeitende die Möglichkeit, zu den Inhalten des Gesprächs eine Notiz zu verfassen, wie in der Einleitung vorgestellt wurde. Jede Angabe kann auch mit »nicht bekannt/nicht einzuschätzen« offengelassen werden; es werden keine Daten »abgefragt«. In den Gesprächsnotizen der ersten beiden Monate des Jahres 20222 findet sich 33-mal das Substantiv »Einsamkeit« und 75-mal das Adjektiv »einsam«, das überwiegend in Formulierungen wie »Ich fühle mich einsam!« genutzt wird. Das Thema »Einsamkeit« wurde in 509 Datensätzen markiert. Diese Markierung erfolgt nach Einschätzung der Mitarbeiter:in über die vorgegebene Item-Liste. Nur in einem von fünf Einsamkeitsgesprächen wird Einsamkeit explizit benannt beziehungsweise als Anliegen entsprechend formuliert. Anzunehmen ist, dass in diesen Gesprächen der

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Notizen vergangener Jahre sind aus Datenschutzgründen aus dem digitalen System gelöscht und lassen sich dementsprechend nicht mehr auswerten.

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Kontext der Einsamkeit von den Mitarbeiter:innen als besonders bemerkenswert wahrgenommen und daher markiert wurde. Für die Interpretation der folgenden Daten sind in diesem Zusammenhang zwei Hinweise wichtig: Aussagen lassen sich nur über die Zahl der Gespräche treffen, nicht über die Zahl der Personen, die diese Gespräche generieren. Zudem stellen die markierten Themen eine subjektive Auswahl der gesprächsführenden Mitarbeitenden dar und sind deshalb immer auch bedingt davon, worin diese im Gespräch den Fokus sehen. Dieser beeinflusst nicht nur die Auswahl der Items für die Dokumentation, sondern auch die Gesprächsführung. Möglicherweise entsteht der Fokus unter anderem auch durch die Aufmerksamkeit, die ein bestimmtes Thema zu der Zeit außerhalb der TelefonSeelsorge hat – so wie das Thema »Einsamkeit« seit Beginn der Pandemie. Mit Blick auf das komplexe Phänomen der Einsamkeit und seine Bedeutung in der TelefonSeelsorge sind drei Parameter von Interesse, die daher im Folgenden aufgegriffen werden: »Einsamkeit« als markiertes (Gesprächs-)Thema, »alleinlebend« als Lebensform und »einsam« oder »Einsamkeit« als ein in den Notizen festgehaltener Begriff. Am Telefon wurde »Einsamkeit« schon vor der Pandemie signifikant häufiger als Thema markiert als in den E-Mail- beziehungsweise Chat-Kontakten und den Faceto-Face-Gesprächen: Während 22 Prozent aller Telefongespräche mit dem Thema »Einsamkeit« markiert wurden, waren es nur zehn Prozent der Mail- beziehungsweise Chat-Kontakte und sogar nur unter sieben Prozent der Face-to-Face-Gespräche. Die folgende Analyse ist deshalb auf die Daten der Telefonkontakte beschränkt.3 Nicht überraschend ist, dass in der Zeit des ersten Lockdowns vom 16. März 2020 bis zum 16. Juni 2020 das Thema »Einsamkeit« mit 27 Prozent aller Telefongespräche sehr viel häufiger markiert wurde als zuvor und auch insgesamt im Jahr 2020. Der Jahresgesamtwert für 2020 liegt bei 25 Prozent und hat sich auch 2021 in dieser Größenordnung bewegt. Damit sind die Jahreswerte höher als noch 2019. Es ist daher eine naheliegende These, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen den Lockdown-Maßnahmen beziehungsweise Kontaktbeschränkungen und der Relevanz des Themas am Telefon besteht. Vermutlich wirken zwei Effekte: Zum einen haben gesetzliche Kontaktbeschränkungen das Einsamkeitserleben befördert. Zum anderen dürfte parallel die Aufmerksamkeit der Mitarbeitenden für das Einsamkeitserleben von Anrufenden erhöht worden sein, da diese auch selbst von Kontaktbeschränkungen betroffen waren und das Thema öffentlich viel Aufmerksamkeit bekam. Dass Alleinlebende seit Beginn der Corona-Pandemie besonders stark von Einsamkeit betroffen sind – wie auf den ersten Blick vermutet werden könnte –, lässt 3

Die Daten stammen von der TelefonSeelsorge Würzburg/Main-Rhön aus den Jahren 2019, 2020 und 2021.

Ruth Belzner: Telefonieren gegen Einsamkeit

sich durch unsere Zahlen nicht belegen. Unabhängig von der Corona-Pandemie besteht ein Zusammenhang zwischen dem markierten Thema »Einsamkeit« und dem Merkmal »alleinlebend«: In Gesprächen mit Alleinlebenden ist die Wahrscheinlichkeit, dass Einsamkeit thematisiert wird, etwa dreimal so hoch wie bei Nichtalleinlebenden. Im Jahr 2019 wurde in neun Prozent der Gespräche mit Nichtalleinlebenden »Einsamkeit« als Thema markiert; in Gesprächen mit Alleinlebenden war dies bei 30 Prozent der Fall. Die Daten der 12.709 geführten Gespräche im Jahr 2021 in der Würzburger Stelle zeigen allerdings, dass sich dieses Verhältnis seit Beginn der Corona-Pandemie verschoben hat: Die Häufigkeit von Einsamkeitsgesprächen mit Nichtalleinlebenden lag bei 13 Prozent, mit Alleinlebenden dagegen bei 32 Prozent. Die Häufigkeit der Nennung von »Einsamkeit« oder »einsam« hat also bei Nichtalleinlebenden zugenommen, während sie bei Alleinlebenden weitestgehend konstant geblieben ist. Hier wird noch einmal deutlich, dass Einsamkeit kein auf Alleinlebende begrenztes Phänomen ist. So kann zum Beispiel die fehlende Möglichkeit einander auszuweichen eine vorher latente Einsamkeit in manchen Beziehungen verfestigen. Des Weiteren ist auffällig, dass die Lebensform »alleinlebend« mit zwei weiteren Merkmalen in Zusammenhang steht: »Suizidgedanken« zum einen und »psychische Erkrankung« zum anderen. Beides ist bei Gesprächen mit Alleinlebenden signifikant häufiger notiert als bei Nichtalleinlebenden: Suizidgedanken mit sechs gegenüber vier Prozent und psychische Erkrankung mit 42 gegenüber 33 Prozent. Über den Begründungszusammenhang, auch unter Bezugnahme auf Einsamkeit, ließe sich allerdings aus Sicht der TelefonSeelsorge nur spekulieren. Bei den Gesprächen, in denen »Einsamkeit« oder »einsam« notiert wurde, lassen sich eine Reihe von Differenzen zu Gesprächen finden, in denen dies nicht der Fall ist: So ist zum Beispiel überraschend, dass in den Gesprächsnotizen mit den Worten »Einsamkeit« oder »einsam« Männer deutlich häufiger zu hören sind als grundsätzlich. 39 Prozent aller markierten Einsamkeitsgespräche werden mit Männern geführt, während dies bei nur 29 Prozent der Telefongespräche der TelefonSeelsorge insgesamt der Fall ist. Bei den folgenden Aussagen mit signifikanten Unterschieden zwischen Männern und Frauen in den geführten Einsamkeitsgesprächen wird dieser Umstand entsprechend hervorgehoben.4 Gespräche ohne das Thema »Einsamkeit« verteilen sich ziemlich gleichmäßig über die 24 Stunden des Tages, unabhängig vom Geschlecht der Anrufenden, mit einem leichten Rückgang zwischen 2:00 Uhr und 6:00 Uhr morgens. Gespräche über Einsamkeit werden bevorzugt zwischen 8:00 und 10:00 Uhr morgens und zwischen

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Die Gespräche mit diversen oder geschlechtlich nicht einzuordnenden Anrufenden müssen hier unberücksichtigt bleiben, weil sie durch ihre geringe Anzahl keine statistisch signifikanten Aussagen zulassen.

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21:00 und 24:00 Uhr abends geführt. Um in den Tag starten und um ihn abschließen zu können, ist für sich einsam fühlende Menschen ein Kontakt mit einem anderen Menschen – so die naheliegende Vermutung – besonders wichtig. Der Effekt ist abends bei einsamen Männern ausgeprägter als bei einsamen Frauen; einsame Männer rufen also häufiger zum Ende als zu Beginn des Tages an. Menschen mit einer psychischen Erkrankung sind in Einsamkeitsgesprächen mit der TelefonSeelsorge häufiger zu hören, als mit Blick auf die Verteilung in der Gesamtbevölkerung zu erwarten ist: Bei den Gesprächen mit notierter »Einsam(-keit)« leben 43 Prozent mit einer psychischen Erkrankung; bei den Gesprächen ohne liegt die Zahl bei 37 Prozent. Hier sind die Zahlen für Männer und Frauen jeweils identisch. Ein Zusammenhang erscheint naheliegend, da es gut vorstellbar ist, dass psychische Erkrankungen oft von Einsamkeitsgefühlen begleitet werden. In Gesprächen mit der TelefonSeelsorge ohne »Einsamkeit« in der Notiz spielen Suizidgedanken ohne konkrete Suizidabsicht in 5,5 Prozent und konkrete Suizidabsichten in 1,3 Prozent eine Rolle. Bei den konkreten Suizidabsichten gibt es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Dagegen äußern Männer suizidale Gedanken ohne konkrete Suizidabsichten (mit 6,5 Prozent) in den Gesprächen etwas häufiger als Frauen (mit 5,1 Prozent). Wenn »Einsamkeit« als Thema markiert ist, spielen konkrete Suizidabsichten interessanterweise sogar seltener eine Rolle: bei Frauen (mit 0,4 Prozent) noch seltener als bei Männern (mit 0,78 Prozent). Bei den Gesprächen mit Suizidgedanken und markierter Einsamkeit ist die Häufigkeit hingegen bei Frauen (mit 6,44 Prozent) erhöht, während sie bei Männern (mit 4 Prozent) reduziert ist. Dies kann allerdings auch durch die Codierung der Mitarbeitenden bedingt sein: Äußern Anrufer:innen konkrete Suizidabsichten, liegt der Fokus vermutlich verstärkt darauf und weniger auf anderen Themen. In 53 Prozent der Gespräche mit Frauen ohne die Markierung von »Einsamkeit« als Thema lebt die Anruferin allein; bei männlichen Anrufern ist das in 60 Prozent der Gespräche der Fall. In markierten Einsamkeitsgesprächen mit Männern leben 81 und mit Frauen 79 Prozent allein. Bemerkenswert ist der Blick auf weitere Lebensformen: Bei 10,1 Prozent der Einsamkeitsgespräche mit Frauen lebt die Anruferin in einer Ehe oder Familie, bei denen mit Männern sind es weniger als 3 Prozent. Das legt nahe, dass das Risiko, sich im familiären Umfeld einsam zu fühlen, für Frauen deutlich höher ist als für Männer. Hinzukommt, dass von Frauen in 13,2 Prozent und von Männern in 2,9 Prozent der Einsamkeitsgespräche »Ehe« oder »Familie« thematisiert werden. Wenn »Einsamkeit« nicht genannt wird, sind es 33,2 Prozent bei den Frauen beziehungsweise 22,7 Prozent bei den Männern. Frauen sprechen also grundsätzlich häufiger über ihre Ehe und Familie als Männer. Sie äußern immer wieder, dass sie sich in einer bestehenden Beziehung nicht gesehen oder zu wenig wertgeschätzt fühlen. Gleichzeitig fühlen sie sich innerhalb der Partnerschaft nicht frei, Freundschaften zu pflegen. Diese Gemengelage kann schnell zu Einsamkeit führen. Männer, die sich einsam fühlen, sind dagegen möglicherweise häufiger

Ruth Belzner: Telefonieren gegen Einsamkeit

tatsächlich ganz alleine oder Angehörige spielen lediglich durch eine andere Art der Gesprächsführung eine geringere Rolle. Das markierte Thema »Körperliches Befinden (Beschwerden, Erkrankungen, Behinderungen)« kommt in Gesprächen ohne markierte »Einsamkeit« mit 20 Prozent vor, bei Frauen mit 21 Prozent. Innerhalb der Einsamkeitsgespräche sinkt die Häufigkeit des Themas bei Männern auf 14,5 Prozent und steigt bei Frauen auf 22,5 Prozent. Der Zusammenhang zwischen Einsamkeit und körperlichem Leiden ist bekannt. Hier scheint es so, als beträfe er Frauen in besonderem Maße und/oder als ob ein Unterschied zwischen Männern und Frauen in der Wahrnehmung oder sogar Akzeptanz der eigenen Befindlichkeit sowie deren Kommunikation besteht. Signifikant und nicht ohne Weiteres zu interpretieren ist der Zusammenhang zwischen »Einsamkeit« und »Ärger und Aggression« als markierte Gesprächsthemen. Der Wert liegt in Gesprächen ohne Einsamkeitsbezug bei Frauen bei 11,2 Prozent und bei Männern bei 8,4 Prozent. Dass Frauen prozentual häufiger Ärger und Aggression thematisieren als Männer, ist möglicherweise auch dadurch zu erklären, dass auf Seiten der TelefonSeelsorge die Wahrnehmung von Aggression bei Anruferinnen sensibler ist.5 Damit ist jedoch nicht zu erklären, warum in Verbindung mit Einsamkeit der Wert bei Männern auf 2,2 Prozent und bei Frauen auf 4,2 Prozent sinkt. Dass vereinsamte Menschen nach diesen Zahlen scheinbar grundsätzlich weniger mit Ärger und Aggression zu kämpfen haben als andere, ist eine spannende Erkenntnis. Ein ebenso unerwarteter Zusammenhang lässt sich bei Ängsten6 finden: Sie sind ohne Einsamkeit bei Frauen mit 15,5 Prozent und bei Männern mit 9,3 Prozent im Sinne einer Nennung in den Notizen vertreten. In Kombination mit Einsamkeit sind es lediglich 9,6 Prozent beziehungsweise 4,5 Prozent der Gespräche, in denen Ängste eine Rolle spielen. Vielleicht reduziert der Schmerz der Einsamkeit die Möglichkeit, sich mit Ängsten auseinanderzusetzen, oder er überlagert im Moment des Gesprächs andere Empfindungen. Zum Abschluss des quantitativen Einblicks soll noch eine Beobachtung ergänzt werden, die nahelegt, dass Einsamkeit die Fähigkeit zur Lebensführung beeinträchtigen kann und dass Männer und Frauen sich hinsichtlich der Stärke des Effekts un5

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Diese erhöhte Sensibilität verdeutlicht, inwiefern die Notizen von unbewussten Vorurteilen und Stereotypen der TelefonSeelsorger:innen geprägt sein können. Auch wenn die Notizen durch eine Codierung standardisiert werden, enthalten sie immer auch eine Interpretation des Gesagten. Gleiches gilt auch für die Anrufer:innen selbst, in deren Aussagen und Anliegen Verzerrungen aufgrund von Rollenerwartungen und/oder sozialer Erwünschtheit auftreten können. Diese potenziellen Verzerrungen sind daher immer mitzulesen. Es handelt sich hierbei vor allem um alltägliche Ängste und Sorgen, die eher das aktuelle Weltgeschehen wie etwa die Corona-Pandemie, Krieg oder die Inflation betreffen, und weniger um individuelle Ängste wie etwa Verlustängste. Angsterkrankungen wie eine spezifische oder soziale Phobie werden dagegen als »diagnostizierte psychische Erkrankung« codiert.

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terscheiden: Das Thema »Alltagsgestaltung« spielt ohne markierte »Einsamkeit« bei Männern mit 5,8 Prozent und bei Frauen mit 4,6 Prozent eine Rolle. In Verbindung mit Einsamkeit gibt es bei Männern einen Anstieg auf 9,3 Prozent und bei Frauen auf 5,6 Prozent. Ob und inwiefern Einsamkeit die Alltagsgestaltung für Männer stärker erschwert als für Frauen, ist ebenfalls ein interessanter Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Im Folgenden werden hieran anknüpfend die Ergebnisse einer qualitativen Studie zu den Anliegen der Anrufenden vorgestellt. Diese Studie lässt vermuten, dass die statistischen Daten bei weitem nicht das ganze Ausmaß des Phänomens »Einsamkeit« erfassen. Sie gibt einen Hinweis darauf, wie der Umgang mit Einsamkeit gestaltet werden kann, der daran anschließend näher betrachtet wird.

3. Einsamkeit in Gesprächen mit der TelefonSeelsorge: ein qualitativer Einblick In einer von Walburga Hoff und Christiane Rohleder von der Katholischen Hochschule Münster (Westfalen) durchgeführten Studie7 wird anhand von Gesprächsnotizen aus der TelefonSeelsorge, wie sie beispielhaft zu Beginn des Beitrags wiedergegeben wurden, untersucht, ob und wenn ja welche Anliegen, Motive, Problemstrukturen und Bewältigungsstrategien von Anrufenden sich aus diesen Protokollen erkennen und typisieren lassen. 476 Gesprächsprotokolle aus vier TelefonSeelsorgeStellen aus dem Jahr 2019 bildeten hierfür die Datengrundlage. Im ersten, für diesen Beitrag besonders interessanten Teil der Auswertung geht es um die Typologie der Anliegen. Die Klärung des individuellen Anliegens der anrufenden Person (Auftragsklärung) wird als wichtiger Bestandteil der Gesprächsführung oft vergessen, obwohl sie in der Ausbildung und in Supervisionen immer wieder thematisiert wird. Besonders bei einer unbekannten anrufenden Person geht man fast reflexartig von der Prämisse aus, dass sie von einem Problem erzählt, für das es eine Lösung zu finden gilt. So macht man sich auf die Suche nach einer Lösung, ohne zu prüfen, ob es wirklich ein Problem gibt, und wenn ja, ob die andere Person wirklich eine Lösung wünscht. Das kann sehr anstrengend und frustrierend sein – möglicherweise für beide Seiten. Durch eine direkte Nachfrage (etwa: »Was brauchen Sie jetzt von mir?«) oder auch einen direkt formulierten Wunsch des Anrufenden (etwa: »Hören Sie mir einfach mal zu!«) können Erwartungen und Ziele vorab geklärt werden. Die Auftragsklärung kann den TelefonSeelsorger:innen also helfen, sich in Gesprächen bewusst zu machen, um was es den Anrufer:innen gehen könnte.

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W. Hoff/C. Rohleder (Hg.) (2022): Psychosoziale Beratung und Soziale Arbeit.

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Die zuvor thematisierte Forschungsabsicht der Studie rückt diese Auftragsklärung ins Bewusstsein. Dabei ist zu beachten, dass das Anliegen nicht identisch mit dem Thema sein muss. So kann zum Beispiel ein Paarkonflikt als Thema mit dem Anliegen formuliert werden, den Ärger loszuwerden, Ideen zur weiteren Kommunikation zu erhalten, oder aber auch, über das »Gehen oder Bleiben« zu entscheiden. Daher sind die Typologisierung und die Quantifizierung der Anliegen, wie sie von den beiden Forscherinnen vorgenommen wurden, von zentraler Bedeutung. Im weiteren Verlauf wird näher beleuchtet, inwiefern Einsamkeit mit ausgewählten Anliegen zusammenhängt. Die Anliegen lassen sich in die folgenden Kategorien einteilen: »akute Krisensituation«, »konkreter Entscheidungsprozess«, »Informationsbedarf«, »Verbalisierung von Ärger und Aggression«, »Mitteilung von Alltagsereignissen«, »Akute Alltagsprobleme/-herausforderungen« sowie »Langfristige und komplexe Belastungssituationen«. Eine »akute Krisensituation« veranlasst 7,9 Prozent der Gespräche. Das sind die Gespräche, die am ehesten der Gründungsidee der TelefonSeelsorge entsprechen: Ein Mensch sucht in einer akuten Krise, wie zum Beispiel nach einer Krankheitsdiagnose, dem Scheitern eines Lebensplans oder dem Verlust eines Menschen, Unterstützung zum Durchstehen und Bewältigen. 7,9 Prozent mag als ein geringer Prozentsatz erscheinen, allerdings ist das – insbesondere vor dem Hintergrund einer akuten Krisensituation – in absoluten Zahlen durchaus beachtlich. Bei den jährlich etwa 1.000.000 Seelsorgegesprächen deutschlandweit sind das 79.000 Krisengespräche pro Jahr, also 216 täglich. Diese Gespräche stehen weniger im Zusammenhang mit Einsamkeit als andere Kategorien von Anliegen. Hier geht es häufiger darum, dass das soziale Umfeld der Anrufenden von der Krise entweder mitbetroffen ist oder aber nicht belastet werden soll. Daher wird eine außenstehende Person zum Reden gesucht. »Konkrete Entscheidungsprozesse« bestimmen als Anliegen drei Prozent der Gespräche. Dies kann sehr gewichtige Entscheidungen wie einen Ortswechsel oder eine Trennung, aber auch relativ »banale« Fragen der Freizeitgestaltung betreffen. Die TelefonSeelsorge bekommt hier oft die Aufgabe, Anrufende bei der Bewältigung der Unsicherheit zu unterstützen, die mit dem Sich-entscheiden-Müssen einhergeht, indem sie die Entscheidung bestätigt oder beim Abwägen der Kosten und des Nutzens hilft.8 Entscheidungen fallen vielen Menschen schwer. Sie bedeuten immer einen Verzicht, nämlich auf das, wofür man sich nicht entscheidet. Zudem stellen sie stets ein Risiko dar, weil sie eine Festlegung für eine Zukunft sind, die man einfach noch nicht kennt. Anzunehmen ist, dass die TelefonSeelsorge bei einem

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Mitarbeitende können hierbei weder Entscheidungen abnehmen noch Handlungsanweisungen geben, aber sie können durch entsprechende Nachfragen und Strukturierungen des Gesprächs Anrufer:innen bei der Entscheidungsfindung unterstützen und sie in dem Selbstvertrauen stärken, im Anschluss mit den Konsequenzen der Entscheidung umgehen zu können.

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solchen Anliegen gefragt ist, weil sie bezüglich der Entscheidung keine eigenen Interessen hat und/oder weil Menschen, mit denen man solche Entscheidungen (in dieser Form) besprechen könnte, im eigenen Umfeld fehlen. Dies legt wiederum einen Zusammenhang zwischen dem Anliegen konkreter Entscheidungsprozesse und sozialer Isolation beziehungsweise Einsamkeit nahe. Um das Anliegen »Informationsbedarf« geht es bei 2,6 Prozent der Gespräche. Das sind oft Gespräche auf der Sachebene. Fragen werden gestellt und – wenn möglich – Antworten gegeben. Dass ausgerechnet die TelefonSeelsorge als Informationsquelle genutzt wird und nicht das Internet oder eine analoge Möglichkeit wie zum Beispiel ein örtlicher »Beratungsführer«, lässt vermuten, dass es bei diesen Gesprächen nicht bloß um Information, sondern auch um den sozialen Kontakt geht – abermals ein möglicher Hinweis auf Einsamkeit. In 5,6 Prozent der Gespräche dient der Anruf zur »Verbalisierung von Ärger und Aggression«. Gefühle, die alleine schwer auszuhalten sind, nach außen tragen zu können, kann eine entlastende Wirkung haben. Das zu wissen, kann wiederum einer reflexhaften Abwehrhaltung auf Seiten der TelefonSeelsorger:innen entgegenwirken, wenn ihnen Ärger oder Aggression entgegenschlägt, und zu einer reflektierten Entscheidung bezüglich der eigenen Belastbarkeit verhelfen: »Wie viel davon kann ich jetzt gut anhören und wo ziehe ich die Grenze?« Darüber hinaus ist es mit Blick auf dieses Anliegen gut zu wissen, dass Anrufende nicht unbedingt beruhigt werden wollen. Im besten Fall beruhigen sie sich von selbst durch das Gespräch, was man aber dann oft nicht mehr mitbekommt. In welchem Zusammenhang Ärger und Aggression sowie Einsamkeit stehen, wurde bereits betrachtet – in diesem Fall kann vom Thema (»Ärger und Aggression«) auf das Anliegen rückgeschlossen werden, da die Verbalisierung selbst das Anliegen ist. In 12,6 Prozent der Gespräche geht es um die »Mitteilung von Alltagsereignissen«, ein Anliegen, für das es im Leben der Anrufenden sonst kein offenes Ohr gibt. Diese Gespräche mögen auf den ersten Blick als »harmlose Plauderei« erscheinen. Doch dieser Eindruck täuscht, da es sich häufig um lange Gespräche handelt, bei denen sich nicht leicht ein Ende finden lässt. Denn für diese in der Regel sehr vereinsamten Anrufenden sind die Gespräche vermutlich ein wertvolles »Schmerzmittel«. Allein das Erleben, dass eine andere Person ihnen aufmerksam zuhört, sich interessiert, kann bei diesen Menschen den Schmerz zumindest für den Moment lindern. »Akute Alltagsprobleme/-herausforderungen« zu besprechen, das ist mit 32,8 Prozent das am häufigsten mitgebrachte Anliegen. Es müssen dabei nicht die richtig kniffligen Herausforderungen sein, bei denen unmittelbar einleuchtend ist, dass man sie mit einer anderen Person besprechen möchte. Für psychisch instabile oder gar erkrankte Menschen kann schon eine unangenehme Erfahrung wie die unfreundlich schauende Nachbar:in, eine kleine Enttäuschung wie der ausverkaufte Lieblingsjoghurt oder ein Missgeschick wie ein nicht gelungener Kuchen zu einer gefühlt großen Herausforderung werden. Wenn dann eine stabilisierende

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Person im Umfeld fehlt, kommt gegebenenfalls immer wieder der TelefonSeelsorge diese Aufgabe zu. Insofern hilft sie nicht nur bei der Bewältigung der akuten Herausforderung, sondern lindert mitunter auch die damit verknüpfte Einsamkeit. Das Anliegen »Langfristige und komplexe Belastungssituationen« steckt hinter 27,2 Prozent der Gespräche: Ähnlich wie bei der Mitteilung von Alltagsereignissen geht es im Kern auch hier in der Regel nicht um ein konkretes Problem, für das eine Lösung zu finden ist. Menschen mit einem solchen Anliegen suchen Entlastung und sehen die TelefonSeelsorge als »immerwährende Ansprechpartnerin«, die – anders als vermutlich die meisten Menschen im sozialen Umfeld – nicht die Geduld verliert. Betroffene können immer wieder dieselbe Belastungssituation thematisieren, ohne einen Veränderungsauftrag erfüllen zu müssen. Das betrifft nicht nur Menschen mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung, sondern auch Menschen, die zum Beispiel in einer schwierigen Beziehung oder Arbeitssituation verharren, die es nicht schaffen, Enttäuschungen zu überwinden, oder die mit ihrer Lebenssituation hadern. Dadurch wird abermals der Zusammenhang zwischen Einsamkeit und dem Verhältnis der Betroffenen zu ihrem sozialen Umfeld deutlich, das einen zentralen Einflussfaktor für das Einsamkeitsempfinden darzustellen scheint. Nachfolgend wird dargelegt, mit welchen Strategien Anrufende ihre subjektiv nicht auflösbaren Problemstrukturen bewältigen können und welche Aufgabe der TelefonSeelsorge innerhalb der verschiedenen Strategien zukommt. In jeder der vier dargestellten Strategien übernimmt die TelefonSeelsorge – mit unterschiedlichen Schwerpunkten – eine Rolle, die eine Leerstelle im sozialen Umfeld der Betroffenen füllt: Sie akzeptiert Menschen auch in ihrer Resignation; sie trägt es mit, wenn Lösungen immer wieder imaginiert, aber nicht umgesetzt werden und bietet Entlastung durch wertschätzendes Zuhören. Dafür sollen die Rolle der TelefonSeelsorge sowie grundsätzliche Arbeitsweisen verortet werden: Auf die von den meisten Mitarbeitenden geteilte Wahrnehmung, dass das Telefonat mit der TelefonSeelsorge nur eine momentane Linderung und allenfalls einen Startpunkt für den oft langwierigen Weg aus der als belastend empfundenen Lage heraus darstellen kann, folgen unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich eines zielführenden Umgangs mit Vielfachnutzer:innen. Die Vertreter:innen einer eher restriktiven Haltung fordern: Die TelefonSeelsorge müsse für die Vielfachnutzer:innen die Dauer und Häufigkeit der Gespräche begrenzen. Denn die Möglichkeit der immer wieder leicht verfügbaren Schmerzlinderung verhindere, dass die Betroffenen sich um nachhaltige Auswege aus ihrer Einsamkeit bemühen würden. Vertreter:innen eines sogenannten helfend-beeinflussenden Ansatzes9 sehen diese nur momentane Linderung damit grundsätzlich als kon9

Die Begrifflichkeiten helfend-beeinflussend und freundlich-zugewandt wurden von einer Untersuchung über die Wirkung der Ausbildung auf die Persönlichkeit beziehungsweise Einstellungen der Teilnehmenden übernommen. Darin beschreiben die Autorinnen Ulrike Dinger

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traproduktiv. Die freundlich-zugewandte Haltung vertritt dagegen den Standpunkt, dass nicht zu erwarten ist, dass ein Entzug des Angebots der TelefonSeelsorge Betroffene zum Aufbau tragfähiger sozialer Kontakte motiviert und befähigt. Dafür ist Einsamkeit ein Phänomen mit zu komplexen Ursachen und einer oft langen Geschichte. Das ausschlaggebende Argument dieser Position ist, dass die TelefonSeelsorge nicht zu entscheiden hat, welche Strategien ein Mensch wählt, um seinen Alltag zu bestehen. Insofern darf sie sich nicht von »pädagogischen« Gründen leiten lassen; sie darf nicht versuchen, Betroffene zu erziehen. Organisatorische Gründe wie der Umgang mit Zeit als begrenzte Ressource sind dagegen von diesen Positionen unabhängige entscheidende Faktoren bei der Frage nach dem Umgang mit Vielfach-Nutzer:innen. Beide Positionen eint daher die Auffassung, dass der Häufigkeit und Dauer der Gespräche mit einem einzelnen Menschen Grenzen gesetzt werden sollten, auch wenn die jeweiligen Gründe verschieden sind. Weil die TelefonSeelsorge auch den Auftrag hat, in einer akuten, möglicherweise suizidalen Krise möglichst schnell erreichbar zu sein, muss darauf geachtet werden, die Leitungen für solche Fälle freizuhalten. Für einen möglichen Umgang mit Einsamkeit wird im Folgenden dargestellt, was den Mitarbeitenden der TelefonSeelsorge Würzburg/Main-Rhön zum Thema Einsamkeit an einem Ausbildungsabend vermittelt wird.

4. Der Umgang mit Einsamkeit in der TelefonSeelsorge »Einsamkeit« war 2020 zum ersten Mal Thema in der Reihe der Abende zu psychosozialen Themen, die regelmäßig von der TelefonSeelsorge organisiert wird und die einen festen Bestandteil der Ausbildung10 der TelefonSeelsorger:innen darstellt. Ein Anstoß war der Weltkongress der TelefonSeelsorge im Juli 2019 in Udine (Italien) mit dem Titel »Leaving Loneliness – Building Relationships«, auf dem aus vielen Perspektiven die Relevanz des Themas für die Arbeit der TelefonSeelsorge deutlich wurde. Verständlich wurde so zum Beispiel, wieso es in der Regel wenig hilfreich ist, einem einsamen Menschen »einfach« die Nutzung der Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten in seinem Umfeld anzuraten, um seiner Einsamkeit zu entkommen.

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und Isabelle Rek drei verschiedene »interpersonelle Motive« der Mitarbeitenden: »submissiv-altruistisch«, »helfend-beeinflussend« und »freundlich-zugewandt«. Eine Zusammenfassung der Studie ist zu finden in: U. Dinger/I. Rek (2017): Effekte der Seelsorgeausbildung Ehrenamtlicher. Die Ausbildung der TelefonSeelsorger:innen umfasst drei Schwerpunkte: Biographiearbeit, Methodik der Gesprächsführung und psychosoziales Grundwissen zu Themen wie psychische Erkrankungen, Trauer, Gewalt in Beziehungen, Suizidalität, sexualisierte Gewalt sowie der entsprechenden Angebote im Hilfsnetz.

Ruth Belzner: Telefonieren gegen Einsamkeit

Aufgrund der Relevanz des Themas für die Arbeit der TelefonSeelsorge ist es wichtig, den Mitarbeitenden theoretische Hintergründe dazu an die Hand zu geben. An dem von der TelefonSeelsorge zur Ausbildung organisierten Themenabend zu Einsamkeit haben die Teilnehmenden daher die Möglichkeit zu Rückfragen sowie Anmerkungen und bekommen in Kleingruppen Raum zum Austausch über eigene Erfahrungen mit Einsamkeit – als direkt Betroffene und/oder als indirekt Miterlebende. Deutlich wurde bisher jedes Mal, dass einige der Teilnehmenden durchaus selbst Erfahrungen mit Einsamkeit haben, allerdings vorübergehend und oft in einem klaren Zusammenhang mit äußeren Umständen, in der Regel ein Ortswechsel oder sehr hohe berufliche Beanspruchung. Der Unterschied zwischen dem vorübergehenden, an eine spezifische Situation geknüpften Einsamkeitserleben unserer Mitarbeitenden und einer chronifizierten Einsamkeit wird anhand unseres Ausbildungshandouts im nächsten Abschnitt vorgestellt. Handout der TelefonSeelsorge Würzburg/Main-Rhön zum Umgang mit Einsamkeit11 Circa 61 Prozent der Gespräche, die in der TelefonSeelsorge im Jahr 2021 geführt wurden, fanden mit einem Menschen statt, der – bekanntermaßen oder vermutet – alleine lebt. In 25 Prozent aller Gespräche wurde explizit Einsamkeit thematisiert, bei den Alleinlebenden lag der Anteil dieser Gespräche bei 32 Prozent. Die Gespräche über Einsamkeit kamen zu knapp 80 Prozent von jemandem, der allein lebt. Das heißt im Umkehrschluss: Auch für Menschen, die in Partnerschaften, Familien oder Gemeinschaften leben, kann Einsamkeit ein Problem sein. Während sich der prozentuale Anteil der Gespräche mit Alleinlebenden in den letzten Jahren nicht signifikant veränderte, war in den Jahren 2020 und 2021 insgesamt eine signifikante Zunahme des Gesprächsthemas »Einsamkeit« zu beobachten: von 22 Prozent der Gespräche auf 25 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet das: 2019 gab es 2.528 Gespräche mit »Einsamkeit« als Thema und 2021 waren es 3.142, also acht bis neun Gespräche pro Tag.12

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Die folgenden Seiten geben das Handout der TelefonSeelsorge Würzburg/Main-Rhön zum Thema Einsamkeit aus dem Ausbildungsjahr 2021/2022 mit wenigen sprachlichen Anpassungen und Änderungen für den Beitrag wieder. Ich habe das Handout als Zusammenfassung im Nachgang an den Einsamkeits-Kongress verfasst, das seitdem den Auszubildenden in jeweils aktualisierter Fassung vor Themenabenden als Lektüre an die Hand gegeben wird. Das Handout dient ihnen als Hilfestellung zur Einordnung bisheriger Erfahrungen mit einsamen Menschen, insbesondere auch in den Hospitationen am Seelsorge-Telefon. Das Handout soll im Beitrag verdeutlichen, wie die TelefonSeelsorge mit Einsamkeit umgeht, und einen unmittelbaren Einblick in deren Arbeitsweisen ermöglichen. Auch diese Aufzählung basiert auf den erhobenen anonymen Datensätzen, die zu Beginn des zweiten Kapitels behandelt wurden. Diese enthalten die folgenden zum Teil vermuteten Informationen zum Anruf: den Zeitpunkt, die Dauer, das Alter (in Dekaden), das Geschlecht, die Lebensform, den Erwerbsstatus und darüber hinaus, ob Suizidalität eine Rolle spielt, ob

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Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass zwischen Einsamkeit und Alleinsein unterschieden werden sollte: Alleinsein ist ein äußerer Umstand; Einsamkeit ist ein Erleben. Nicht jeder alleinlebende Mensch ist einsam und nicht jeder einsame Mensch lebt tatsächlich allein. Einsamkeit hat in erster Linie mit der (fehlenden) Qualität von Beziehungen zu tun, weniger mit der Quantität, also mit wie vielen Menschen man wie häufig zusammen ist. Einsamkeit ist verbunden mit dem Gefühl von emotionaler Isolation und fehlender Zugehörigkeit. Diese Gefühle können auch in der Gegenwart von anderen Menschen entstehen. Zugehörigkeit ist wiederum eine zentrale Voraussetzung zur Entwicklung und zum Erhalt eines stabilen Ichs. Umgeben von anderen Menschen einsam zu sein, weil man sich nicht zugehörig fühlt, ist vermutlich deutlich schmerzhafter als Einsamkeit aufgrund fehlender Kontakte.13 Einsamkeit tritt in zwei Lebensphasen überdurchschnittlich häufig auf: zum einen in der Adoleszenz, also im Jugend- und jungen Erwachsenenalter, und zum anderen im hohen Alter. Dass viele Jugendliche sich einsam fühlen, ist vor allem den spezifischen Anforderungen dieser Entwicklungsphase geschuldet: Es geht darum, die eigene Erwachsenen-Identität zu entwickeln, sich von den Eltern abzulösen, stabile außerfamiliäre Beziehungen aufzubauen und dabei auch mit Diversität umzugehen und seinen Platz in einer sehr heterogenen Gesellschaft zu finden. Das erfordert, in der Vielfalt möglicher und vorgelebter Lebensentwürfe einen eigenen zu entwickeln, und sich in ihm einzurichten sowie gleichzeitig Menschen, die ganz anders sind und leben, nicht als Infragestellung der eigenen Identität abzuwehren oder abzuwerten. Auf dem Weg zu dieser Identität fühlen sich viele Jugendliche zumindest vorübergehend einsam. Nicht alle Jugendlichen sind zudem hinreichend für die Bewältigung dieser Phase und das Hineinwachsen in ein Erwachsenenleben mit sozialen Bindungen gerüstet. Besonders betroffen sind die Jugendlichen, deren Eltern von früh an nicht angemessen auf die emotionalen Bedürfnisse ihres Kindes eingehen konnten, zum Beispiel wegen einer eigenen psychischen Erkrankung. Innerlich einsame Jugendliche ziehen sich häufig auch äußerlich immer weiter zurück. Wird dieser Rückzug von der Umgebung hingenommen – und das ist nicht selten der Fall – kann sich bei den Betroffenen das Gefühl verstärken, auf sie komme es nicht an.

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eine psychische Erkrankung bekannt ist und ob es sich um einen Erst- oder Wiederholungsanruf handelt. Diese Überlegung resultiert aus der Zusammenführung des wissenschaftlichen Inputs der Einsamkeits-Konferenz, den eigenen Erfahrungen in der Arbeit am Seelsorge-Telefon sowie der Beschäftigung mit dem Thema »Scham«, durch die die Bedeutung von Zugehörigkeit für die psychische Gesundheit deutlich wurde. Ein Verlust oder der Entzug von Zugehörigkeit kann ein starkes Schamgefühl auslösen.

Ruth Belzner: Telefonieren gegen Einsamkeit

Bei Menschen im hohen Alter ist das Erleben von Einsamkeit hingegen oft einer Vielzahl von anderen Faktoren geschuldet: Es fehlen die beruflichen Aufgaben und Beziehungen, die erwachsenen Kinder (wenn es sie denn gibt) sind entweder nicht vor Ort und/oder pflegen die Beziehung nicht entsprechend den Bedürfnissen des älteren Menschen. Je älter man wird, desto mehr soziale Beziehungen hat man an den Tod verloren. Und nachlassende körperliche und geistige Mobilität erschwert das Ergreifen von eigener Initiative zur Pflege von Beziehungen oder gar das Knüpfen neuer Kontakte. Wenn die genannten Erfahrungen und Lebensumstände von Jugendlichen beziehungsweise älteren Menschen dazu führen, dass sich das Gefühl von Einsamkeit verstetigt, spricht man von »chronischer Einsamkeit«. Egal in welchem Alter: Chronische Einsamkeit kann zu einer emotionalen und kognitiven Fehlanpassung führen. Je weniger Erfahrung und Übung man mit auf Gegenseitigkeit beruhenden sozialen Kontakten hat, desto weniger Anteil hat man am Leben anderer Menschen und desto eher wird das eigene Wahrnehmen und Denken auf sich selbst bezogen. Interessiert man sich dadurch verstärkt nur für sich selbst, wird man auch für andere Menschen immer uninteressanter. Ein griffiger Spruch dazu: Ein Mensch ist nur so interessant, wie er interessiert ist. Dabei hat das fehlende Interesse an anderen in der Regel eine nicht selbst gewählte Vorgeschichte. Zu dieser Vorgeschichte kann es gehören, überwiegend mit Botschaften aufzuwachsen wie »Du bist nicht in Ordnung!« oder »Du enttäuschst uns!«. Ein Kind, das nicht erlebt, dass sich die Bezugspersonen wirklich für es selbst und seine eigene Persönlichkeit interessieren, hat wenige innere Möglichkeiten, sich seinerseits für andere zu interessieren. Stattdessen kreist es um sich und sein Mangelerleben. Zudem zeigen chronisch einsame Menschen häufig eine zunehmende Hypersensitivität für negative Gefühle: Wenn eine Situation ambivalent ist, also sowohl positive also auch negative Empfindungen und Gedanken auslöst, nehmen chronisch einsame Menschen oft überwiegend oder sogar ausschließlich die negative Dimension wahr. Einer neuen Situation zum Beispiel begegnet ein psychisch stabiler Mensch auch bei Unsicherheit gleichzeitig mit Interesse und Lust auf neue Erfahrungen. Durch Einsamkeit emotional und kognitiv fehlangepasste Menschen nehmen tendenziell weder Lust an neuen Erfahrungen noch Interesse wahr. Sie spüren nicht selten ausschließlich die Unsicherheit, die sehr belastend sein kann. Sie erleben sich in einer nicht routinierten Situation oft als wenig bis gar nicht selbstwirksam und fühlen sich dann häufig überfordert und hilflos. Das kann ein Teufelskreis sein. Chronisch einsame Menschen interpretieren soziale Situationen eher als belastend, sie fokussieren die negativen Aspekte von Interaktionen und verhalten sich dann so, dass sich ihre Befürchtung, nicht dazuzugehören und nicht anerkannt zu werden, zuverlässig bestätigt – es handelt sich gewissermaßen um eine selbsterfüllende Prophezeiung. Ein innerer Dialog eines einsamen Menschen könnte dann zum Beispiel wie folgt lauten: »Dass der andere gerade

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Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit

so freundlich zu mir ist, ist sicher geheuchelt, der will doch was von mir.« Andererseits, wenn jemand nicht freundlich, sondern indifferent ist: »Der mag mich wohl nicht oder ärgert sich gar über mich.« Sich einsam fühlende Personen können aus für andere nicht unmittelbar einleuchtenden Gründen entsprechend abweisend reagieren, wodurch sich ihre soziale Isolation verstärkt und ihre Einsamkeit genährt wird. Insofern ist der Ratschlag, sich doch einfach in Gesellschaft zu begeben, für chronisch einsame Menschen eher keine Hilfe. In Gesellschaft kann sich das Erleben ihrer Einsamkeit im Gegenteil sogar verstärken und sie können sich in ihrer negativen Haltung gegenüber sozialen Kontakten bestätigt sehen. Dennoch leiden sie darunter, einsam zu sein, und sehnen sich nach Beziehung – wie gesagt, ein Teufelskreis. Dieser Teufelskreis hat hohe Folgekosten: Einsamkeit erhöht das Depressionsrisiko um ein Elffaches, das Risiko für Zwänge um ein Zehnfaches, Einsamkeit kann soziale Phobie verstärken und zu Suchtverhalten führen. Bildgebende Verfahren zeigen: Einsamkeit wird im Gehirn wie physischer Schmerz verarbeitet.

5. Fazit Viele Anrufe bei der TelefonSeelsorge können auch als Schmerzmittel gegen Einsamkeit gesehen werden. Das erklärt, weshalb es bei vielen Gesprächen, insbesondere mit regelmäßig Anrufenden, nicht leicht ist, ein »konkretes Anliegen« zu erkennen: Einsamkeit wird oft nicht direkt thematisiert, sondern häufig hinter anderen Belangen versteckt. Nach einer Studie aus dem Jahr 2019 geht es in rund 13 Prozent der Gespräche mit der TelefonSeelsorge vordringlich um »Mitteilung von Alltagsereignissen«. Aus den Ausführungen des vorliegenden Beitrags wurde deutlich, dass diese scheinbar »harmlosen« Gespräche, in denen »einfach nur geplaudert wird«, für die Anrufenden vermutlich einen hohen Wert haben und damit keineswegs belanglos sind. Auch die knapp 33 Prozent der Gespräche, in denen es um »akute Alltagsprobleme/-herausforderungen« als Anliegen geht, dürften oft auch deshalb mit der TelefonSeelsorge geführt werden, weil sonst keine Gesprächspartner:innen zur Verfügung stehen. Das möglicherweise durch die Einsamkeit beschädigte Selbstwirksamkeitserleben wird in vielen dieser Fälle vermutlich nicht für die Bewältigung der zunächst vielleicht banal erscheinenden Probleme ausreichen. Das Begriffsverständnis von Einsamkeit als subjektiv wahrgenommener Mangel an sozialen Interaktionen, die wiederum Ausdruck von Zugehörigkeit sind und das Gefühl der Zugehörigkeit stärken, spiegelt sich in den Problematiken von fehlenden Gesprächspartner:innen, des beschädigten Selbstwirksamkeitserlebens sowie der damit verbundenen Suche nach »Zugehör« wider.

Ruth Belzner: Telefonieren gegen Einsamkeit

Zuhören, sich wirklich interessieren und verstehen, dass und wieso es für viele unserer Anrufenden keinen einfachen Weg aus der Einsamkeit gibt: Mit einer solchen Haltung können die Mitarbeitenden der TelefonSeelsorge einsamen Menschen begegnen und ihnen so ein – sicher nebenwirkungsfreies – Schmerzmittel anbieten, das diese Menschen zumindest für den Moment brauchen. Dass wir die Dosis für jede:n Einzelne:n begrenzen müssen, liegt in einer Überlegung zur Verteilungsgerechtigkeit mit Blick auf die Ressourcenknappheit begründet: Leider sind Zeit und Aufmerksamkeit am Telefon begrenzte Ressourcen. Gleichzeitig sollen sie möglichst vielen Menschen zur Verfügung stehen. Dies führt dazu, dass Gespräche zuweilen kürzer ausfallen müssen, als es den Anrufenden zum Teil lieb ist. Auf der anderen Seite wird in TelefonSeelsorge-Kreisen auch die Position vertreten, wir müssten im Interesse der Anrufenden selbst eine Grenze ziehen, da unsere ständige Verfügbarkeit Betroffene von Einsamkeit daran hindere, reale soziale Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Um den Bogen zu dem Zitat von Peter Handke zurückzuschlagen: Zur Überwindung der Einsamkeit trägt die TelefonSeelsorge nicht bei, auch wenn sich betroffene Menschen hier ausführlich »zur Sprache bringen« können. Dass die TelefonSeelsorge dieses Allheilmittel gar nicht sein kann, ist sicher deutlich geworden. Das schmälert nicht ihre Bedeutung für die Einsamen, die sich an sie wenden. Auch wenn die zeitlichen Ressourcen der TelefonSeelsorge leider begrenzt sind, die Mitarbeitenden bemühen sich, möglichst vielen Menschen ein offenes Ohr zu bieten: Wer sich grundsätzlich einsam fühlt, sollte ermuntert werden, sich an die TelefonSeelsorge zu wenden, um dort eine »Erhaltungsdosis Kontakt«14 zu bekommen, aus dem vielleicht Ermutigung und Kraft geschöpft werden können.

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Erhaltungsdosis ist ein Begriff aus der Medizin: Er meint die Medikamentendosierung, die einen nicht zu bessernden oder zu heilenden Zustand wenigstens stabil hält; in diesem Fall bezogen auf den Kontakt zu anderen Menschen.

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Der Herausforderung begegnen: Hilfsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit

Der TelefonSeelsorge Deutschland e.V. Die TelefonSeelsorge® ist ein bundesweites Netzwerk von derzeit 104 Stellen, das sich zwischen Sylt und Bad Reichenhall, von Greifswald bis nach Freiburg erstreckt. Insgesamt arbeiten circa 7.700 Menschen ehrenamtlich am Seelsorge-Telefon, die dafür eine circa 150-stündige Ausbildung in ihrer Stelle durchlaufen haben. Ein Teil von ihnen bietet über www.telefonseelsorge.de auch Seelsorge im Chat oder per Mail an. Unter 0800/111 0 111, 0800/111 0 222 oder 116 123 ist die TelefonSeelsorge deutschlandweit, gebührenfrei, anonym und datengeschützt 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche erreichbar. Kontakt Ökumenischer Dachverband: TelefonSeelsorge Deutschland e.V. Caroline-Michaelis-Straße 1 10115 Berlin Hotline: 0800/111 0 111, 0800/111 0 222 oder 116 123 E-Mail: [email protected] Webseite: www.telefonseelsorge.de

Literatur Dinger, Ulrike/Rek, Isabelle (2017): Effekte der Seelsorgeausbildung Ehrenamtlicher: Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojekts in der Telefonseelsorge. In: Pastoraltheologie, 106. Jg., Nr. 12, S. 469–498. DOI: https://doi.org/10.13109/ path.2017.106.12.469. Hoff, Walburga/Rohleder, Christiane (Hg.) (2022): Psychosoziale Beratung und Soziale Arbeit. Leverkusen: Barbara Budrich.

VI. Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter

Nachtschicht von Studierenden für Studierende Ein niedrigschwelliges Zuhörangebot Alina Käfer (Förderinitiative Nightlines Deutschland e.V.) | Zuhörtelefon für Studierende

1. Einleitung Einsamkeit ist, das Gefühl zu haben, dass man vergessen wird und niemand an einen denkt – dass man sich komplett allein fühlt. Es ist ein Gefühl, das sich niemand wünscht. Doch es gibt immer eine Person, die an einen denkt und mit der man reden kann! Zum Einstieg dieses Beitrags erfolgt ein fiktives Fallbeispiel, an dem Aspekte deutlich gemacht werden, die bei den Klient:innen der Nightlines sehr häufig vorkommen und im Laufe eines Kontaktes geschildert werden. Der Name und der Inhalt dieses Beispiels sind frei erfunden, da die Nightlines größten Wert auf die Anonymität der kontaktaufnehmenden Personen legen. Weiterführend wird auf die häufig empfundene Einsamkeit von Studierenden und dazu beitragende Faktoren als Auslöser für eine Kontaktaufnahme eingegangen. Im Anschluss daran werden Auswirkungen der Corona-Pandemie thematisiert, woraufhin die Arbeit der Nightline beleuchtet wird, die ein niedrigschwelliges Zuhörangebot von Studierenden für Studierende darstellt.

2. Ein Fall für die Nightline Marie hatte sich das irgendwie anders vorgestellt. Vor Kurzem war sie für den Beginn ihres Studiums in eine neue Stadt gezogen. Ein bisschen Angst hatte sie schon davor, aus ihrem bisherigen Zuhause auszuziehen. Auf der anderen Seite freute sich Marie auch schon darauf: Endlich mal raus und die Freiheit genießen! Das Studierendenleben leben, von dem alle immer so schwärmen und das auf Instagram bei ihrer älteren Schwester und ihren Freund:innen immer so cool aussah. Sie freute sich auch auf das Studium selbst, auf die Vorlesungen und Seminare. Aber nach zwei Monaten im Semester kam Marie die Entscheidung gar nicht mehr richtig vor, obwohl sie das Gefühl hatte, im Studium gut mitzukommen und auch das richtige Fach gewählt zu haben. Das Geld war auch kein Problem, sie wurde

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Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter

von ihren Eltern unterstützt und mit dem BAföG hatte überraschenderweise alles schnell funktioniert. Außerdem konnte sie einen der begehrten Plätze im Wohnheim ergattern. Eigentlich passte alles, sie musste sich keine Sorgen machen. Eigentlich. Denn Marie hatte trotzdem das Gefühl, nicht so richtig in der neuen Stadt und in ihrem Studium anzukommen. Mit ihren Mitbewohner:innen kam sie zwar klar, aber richtige Freundschaften waren das trotzdem nicht. Es gab so viele Kommiliton:innen, von denen sie auch einige während der Einführungswoche kennengelernt hatte, aber das verlief sich alles in den riesigen Einführungsvorlesungen mit Hunderten von Studierenden. Gerne würde sie mal mit jemandem darüber sprechen und gemeinsam überlegen, was sie machen kann und soll. Mit ihrer Mutter konnte sie nicht reden, die hatte ihr gleich gesagt, dass sie sich für die Hochschule in der nahegelegenen Stadt einschreiben solle und dann zu Hause wohnen könne. Ihre Schwester hatte schon vor zwei Jahren begonnen zu studieren und ziemlich sicher diese Probleme nicht, sie war doch immer beliebt. Die würde sie nicht ernst nehmen. Ihre Freund:innen von zu Hause waren alle auch zum Studieren in andere Städte gezogen und könnten das sicher auch nicht verstehen. Deren Instagram-Stories zeugten auf jeden Fall von Spaß auf den Ersti-Partys. Früher hatte sie den auch, dachte Marie. Und jetzt fühlte sie sich einsam und wusste nicht, mit wem sie zu den Ersti-Partys gehen sollte. Sie traute sich kaum, sich das selbst einzugestehen. Manchmal musste sie weinen, wenn sie an ihre Situation dachte, meistens, wenn sie allein im Bett lag und nicht einschlafen konnte. Auf der Toilette bei den großen Hörsälen hingen Abreißzettel mit der Nummer der lokalen Nightline: »Kein Anschluss?« stand darauf, zusammen mit einem Bild von einem durchgeschnittenen Telefonkabel.1 Marie nahm einen Zettel mit. Als sie eines Abends wieder von dem Einsamkeitsgefühl übermannt wurde, wählte sie die Nummer.

3. Einsamkeit unter Studierenden So oder so ähnlich wie Marie fühlen sich viele Anrufer:innen unserer Nightlines. Die Nightlines sind ein Zuhörangebot von Studierenden für Studierende, das vornehmlich abends und nachts per Telefon oder Chat verfügbar ist. Zwar erheben die Nightlines weder in systematischer Weise Informationen über Kontaktsuchende, noch werten wir diese in Form von Statistiken aus, jedoch lassen sich aus der Erfahrung mit und Literatur über Hilfetelefone Hinweise ziehen, aus welchen Gründen

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Beispiel einer Werbepostkarte der Nightline Leipzig.

Alina Käfer: Nachtschicht von Studierenden für Studierende

Personen die Nightline kontaktieren. Die Zielgruppe der Nightline sind hauptsächlich Studierende, weswegen im weiteren Verlauf dieses Beitrags darauf der Fokus gelegt wird. Es können hauptsächlich drei Gruppen unterschieden werden, die zur Nightline Kontakt aufnehmen. Eine Gruppe von Kontaktsuchenden hat zwar Kontaktpersonen, möchte mit diesen aber nicht über (bestimmte) Probleme, Ängste oder Sorgen reden, zum Beispiel aufgrund von Scham, Wut oder der Sorge, nicht ernst genommen beziehungsweise nicht verstanden zu werden. Weiterhin kann es auch sein, dass die Kontaktpersonen gerade nicht erreichbar sind (beispielsweise nachts). Eine zweite Gruppe besteht aus Studierenden, die keine geeigneten Kontaktpersonen zum Reden haben. Eine dritte Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sie konkrete Fragen oder Hilfsbedürfnisse hat, also beispielsweise Personen, die sich über die Vor- und Nachteile eines Urlaubssemesters informieren wollen, und daher an geeignete Stellen weiterverwiesen werden möchten. Es kann bei manchen dieser augenscheinlichen Informationsgesuche aber angenommen werden, dass nicht der Wunsch nach Information im Vordergrund steht, sondern wie bei den anderen Gruppen der Wunsch nach Kontakt und einem Gespräch. Diese drei Gruppen teilen alle das Gefühl, keine oder nicht die richtige Ansprechperson für ihre aktuelle Situation zu haben. Scherzanrufe kommen selten vor. Der Großteil der Anrufenden befindet sich in erheblichen Stresssituationen.2 Das ist bei einigen Anrufenden beispielsweise an stockender Sprache (wiederholter Beginn eines Satzes, Suche nach Wörtern) oder an der Äußerung von starken Emotionen (Traurigkeit oder Wut etwa durch Weinen oder eine lautere Stimme) zu bemerken. Viele äußern auch konkret das Gefühl, sich einsam zu fühlen – sowohl als Auslöser der Kontaktinitiierung, als auch als Teil des Problems, über das sie sprechen möchten. Warum fühlen sich Studierende einsam? Welche Gründe tragen dazu bei, dass sie die Nightline anrufen? Die tägliche Arbeit der Nightlines lässt die folgenden Antworten vermuten: Für viele Studierende beginnt mit dem Studienstart ein neuer Lebensabschnitt. Ein Umzug in eine neue Stadt oder Wohnung und die Umstellung auf neue Tagesabläufe, Situationen und Strukturen kann schwierig sein. Die Verbindung zum gewohnten Umfeld sowie dem bisherigen Freundeskreis zu halten, ist eine zusätzliche Herausforderung.3 Dabei werden gerade diese Kontakte in schwierigen Phasen als mentale Ressource benötigt. Die Etablierung einer neuen Freundesgruppe ist eine der größten Herausforderungen und gleichzeitig von enormer

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Auch wissenschaftliche Studien zeigen das, siehe etwa M. Brülhart/R. Lalive (2020): Daily suffering. Auch diese Beobachtungen stützen die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien, siehe etwa L. Thomas/E. Orme/F. Kerrigan (2020): Student Loneliness.

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Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter

Bedeutung für den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Diese neuen Freundschaften können tiefer als die vorherigen sein, sogar die Unterstützung der Familie ersetzen, und sind als Netzwerk für das Universitätsleben von entscheidender Bedeutung (zum Beispiel verringern gute Bindungen die Wahrscheinlichkeit eines Studienabbruchs).4 Die genannten Herausforderungen, die sowohl Personen mit als auch ohne Netzwerk bewältigen müssen, sind vielfältig. Adoleszenzprozesse, in denen Phasen emotionaler und moralischer Entwicklung durchgemacht werden und in denen eine eigene Identität geformt wird, können von der Pubertät bis in das Studium hinein andauern. Dieser Lebensabschnitt kann besonders große Unsicherheiten und ambivalente Bindungen durch Ablösungsprozesse mit sich bringen.5 Das fällt insbesondere durch die Erwähnung von Eltern oder langjährigen Freund:innen in den Gesprächen via Telefon, Mail oder Chat auf, zu denen die kontaktsuchende Person eine Distanz hat und dadurch verunsichert ist. Hinzu können erschwerende Rahmenbedingungen wie die Wahl des falschen Studienfachs, inhaltliche und administrative Schwierigkeiten mit dem Studium, Lern- und Konzentrationsstörungen, Motivationsprobleme oder Prüfungsangst kommen. Ärger mit der Wohngemeinschaft, den Eltern, Beziehungsstress oder Liebeskummer gehören ebenfalls zu häufig genannten Themen. Finanzielle Probleme (hohe Ausgaben, ein zu geringes Einkommen) können ebenfalls Sorgen bereiten6 und verringern die Chance auf Teilhabe am sozialen Leben. Überforderungen, Frustration und Stress sind häufige Reaktionen darauf.7 Diese Themen kommen regelmäßig während des Kontakts mit der Nightline zur Sprache und zeigen, wie unterschiedlich das Zusammenspiel der oben genannten Faktoren im individuellen Fall sein und zu Einsamkeit führen kann. Während manche Anrufende direkt in ihren ersten Sätzen das Thema zur Sprache bringen, um das es ihnen geht, kommen andere erst in den letzten Minuten zum Kern des Problems. Es ist wichtig anzumerken, dass diese Faktoren gehäuft vor allem in der Orientierungsphase, das heißt zu Beginn des Studiums, auftreten, aber auch in unterschiedlichen Ausprägungen und Zyklen im weiteren Verlauf vorkommen. Selbst wenn neue Freundschaften geknüpft werden, kann es sein, dass individuelle Probleme nicht gerne mit den neuen Freund:innen besprochen werden – oder die geeignete Ansprechperson in einer akuten Situation nicht erreichbar ist. Hier kann also trotz sozialer Bindungen ein Gesprächsbedarf aufkommen, der nicht durch bisher

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Siehe auch R.E. Maunder et al. (2013): Listening to student voices. V. King (2004): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Auch hier decken sich unsere Erfahrungen mit Einschätzungen aus der Wissenschaft, siehe etwa T. Richardson et al. (2017): A Longitudinal Study of Financial Difficulties and Mental Health. Eine Beschreibung von einzelnen Erfahrungen dieser Art findet sich in A. Himmelrath et al. (4. Dezember 2021): Vor dem Bildschirm vergessen.

Alina Käfer: Nachtschicht von Studierenden für Studierende

existierende Kontakte befriedigt werden kann (wie es sich zum Beispiel bei Personen zeigt, die der oben genannten Gruppe zugeordnet werden können). Beispielsweise kann auch ein Auslandssemester oder ein Praktikum in höheren Semestern (erneut) Einsamkeitsgefühle auslösen und Bindungen im Freundeskreis schwächen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Fehlen von Freundschaften beziehungsweise Netzwerken oder eine als unzureichend empfundene Unterstützung große Schwierigkeiten für viele Studierende bedeuten und zu Einsamkeit führen kann. Ist Einsamkeit nicht von Dauer und tritt sie vor allem beim Übergang zwischen Lebensphasen auf, ist von einer sogenannten »vorübergehenden Einsamkeit« [transient loneliness] zu sprechen.8 Ist Einsamkeit hingegen von Dauer, wie es zum Beispiel bei älteren Menschen der Fall sein kann, spricht man von chronischer Einsamkeit. Die Aspekte der Transition begegnen uns auch in unserer Arbeit: Zwar werden die Auswirkungen eines solchen Überganges zwischen verschiedenen Phasen häufig nicht explizit angesprochen, gleichwohl lassen nebenbei gemachte Bemerkungen über einen kürzlich getätigten Umzug oder eine Trennung Rückschlüsse zu und verdeutlichen die Wichtigkeit eines aufmerksamen Zuhörens für ein kohärentes Bild. Trotz der zeitlichen Begrenzung bedarf auch diese Form der Einsamkeit temporärer Unterstützung. Der Bedarf an psychosozialer Beratung an Universitäten sowie Therapieplätzen für Studierende und andere junge Menschen nimmt stetig zu, was auch durch einen steigenden Druck auf Studierende bedingt sein könnte. Das kann zum einen Leistungsdruck sein, hervorgerufen durch das Studium und verwandte Themen wie ein »perfekter« Lebenslauf, und zum anderen sozialer Druck durch das Umfeld, wozu auch Konkurrenz und Neid unter Peer-Gruppen fällt. Unsere Erfahrungen zeigen, dass dabei auch soziale Medien eine Rolle spielen können, da häufig der Eindruck entsteht, dass andere in einer »heilen Welt« ohne Probleme leben.9 Die Nightline kann hier als niedrigschwelliger Anlaufpunkt einen präventiven Beitrag leisten, wenn andere Beratungsstellen nachts geschlossen sind. Zudem ist die Anwendung des Peer-Prinzips, nämlich mit Personen in der gleichen Lebenssituation zu sprechen, ein weiterer Faktor, der zur Niedrigschwelligkeit beiträgt.

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Zum Phänomen der transient loneliness siehe S. Lawson et al. (2014): Loneliness in the digital age. Siehe dazu auch die Aussagen von Wilfried Schumann (Leiter des psychologischen Beratungsservice des Studentenwerks in Oldenburg) in einem Interview mit Manfred Götzke (Deutschlandfunk) (M. Götzke/W. Schumann [20. März 2019]: Immer mehr Studierende brauchen Beratung).

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Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter

4. Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Einsamkeitsempfinden von Studierenden Wie in diesem Beitrag hervorgehoben wurde, gibt es eine Vielzahl an Gründen, weswegen Personen die Nightline kontaktieren. In den vergangenen Jahren haben die Kontaktaufnahmen stetig zugenommen, was die Wichtigkeit von Hilfetelefonen wie der Nightline verdeutlicht. Insbesondere vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie stellt sich die Frage, ob sich durch die Ausnahmesituation bestimmte Effekte verstärkt haben. Eine Untersuchung über die TelefonSeelsorge kam zu dem Schluss, dass die Anzahl der Anrufe bei der TelefonSeelsorge in den ersten Wochen des Lockdowns im März 2020 um 25 Prozent zugenommen hat. Bei den Anrufer:innen, die als Grund Einsamkeit angegeben haben, gab es einen Anstieg von über 30 Prozent, vermutlich bedingt durch den fehlenden Kontakt im Familien- und Freundeskreis sowie den Wegfall von Hobbys und beruflichen Kontakten. Im Laufe der Zeit sanken die Kontaktaufnahmen wieder, allerdings nicht auf das Niveau von vor der Pandemie.10 Es erfolgt keine systematische Erfassung der Kontaktaufnahmen bei den Nightlines, die einen solchen Anstieg an Anrufen exakt beziffern könnte. Auch die Nightlines hatten mit den erforderlichen Umstellungen durch die Pandemie zu kämpfen, insbesondere bei organisatorischen Fragen und der Durchführung von Dienstschichten, die für gewöhnlich in Präsenz in einem dafür vorgesehenen Dienstraum erfolgen. Dennoch haben auch die Nightlines gemerkt, wie sich der Bedarf an Gesprächen verändert hat. Im ersten Pandemie-Studiensemester (Sommersemester 2020) ließ sich tendenziell ein Anstieg von Anrufen im Themenbereich der Einsamkeit feststellen (beispielsweise fehlender Kontakt am Studienort, Wunsch nach einer Beziehung).11 Im darauffolgenden Semester (Wintersemester 2020/2021), das an vielen Universitäten als Semester mit mehr Präsenzveranstaltungen angekündigt wurde und in dem zumindest an einigen Universitäten wieder mehr vor Ort stattfand, rückten andere Themen (zum Beispiel Lernprobleme, Prüfungsangst, Geldsorgen) wieder stärker in den Fokus. So hat beispielsweise die Zahl der Hochschulabschlüsse abgenommen, was auf erschwerte Studienbedingungen hinweisen könnte.12 Trotz einer zurückkehrenden Normalität an Universitäten ist Einsamkeit in den Gesprächen weiterhin ein Thema. Alles in allem lassen die Anrufe einen großen Redebedarf vermuten. Dies könnte sich dadurch erklären lassen, dass sich die oben aufgezeigten Dynamiken durch die Pandemie beziehungsweise die Einschränkungen des öffentlichen Lebens in

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S. Armbruster/V. Klotzbücher (2020): Lost in lockdown? Dies deckt sich auch mit Beschreibungen von Studierenden, siehe A. Himmelrath et al. (4. Dezember 2021): Vor dem Bildschirm vergessen. Statistisches Bundesamt (Hg.) (3. September 2021): Zahl der Hochschulabschlüsse 2020.

Alina Käfer: Nachtschicht von Studierenden für Studierende

Deutschland (unter anderem durch Lockdowns oder Social Distancing als exemplarische Schlagwörter für die getroffenen Maßnahmen) verschärft haben. Durch geschlossene Gastronomien und Kultureinrichtungen, in denen oft Nebenjobs an Studierende vergeben werden, sowie den Wegfall von geringfügig entlohnten Jobs in anderen Sektoren, haben viele Studierende finanzielle Sorgen.13 Zudem wurde in vielen Bereichen der Universität auf Online-Lehre und Online-Treffen umgestellt. Viele Studierende sind deswegen oftmals nicht in die Stadt des Studienorts gezogen beziehungsweise kennen trotz Umzug ihre Kommiliton:innen nur digital. Dies erschwert das Knüpfen von Kontakten erheblich. Das ist in den geführten Gesprächen immer wieder Thema. Über 80 Prozent der Studierenden erleben es als Herausforderung, dass der persönliche Kontakt zu anderen Studierenden fehlt, 55 Prozent fühlen sich oft einsam.14 53 Prozent der Befragten zwischen 14 und 29 Jahren gaben in einer Studie an, dass sich ihre psychische Gesundheit in der Coronazeit verschlechtert hat.15 Ein Pfeiler des lösungsorientierten Umgangs mit Einsamkeit und psychischen Problemen besteht neben einem gesteigerten Bewusstsein auch in Hilfsangeboten wie den Nightlines. In Baden-Württemberg wurde unter Federführung des Ministeriums für Soziales und Integration im April 2020 eine Telefonhotline zur psychologischen Ersthilfe in der Pandemie implementiert und evaluiert: Die Autor:innen kamen zu dem Schluss, dass niedrigschwellige Hotline-Angebote eine praktikable Möglichkeit zur psychologischen Ersthilfe darstellen.16 Die Nightlines erhoffen sich noch mehr Anerkennung ihrer Relevanz, um das bestehende Angebot verstetigen und ausweiten zu können. Für die kommenden Jahre sind daher die Gründung weiterer Nightlines in Deutschland, Österreich und der Schweiz geplant. So können wir noch mehr Studierenden im akuten Bedarfsfall Erste Hilfe durch Zuhören leisten und bei der weiteren Lösungsfindung unterstützen. Auch wenn die kommenden Semester an vielen Hochschulen und Universitäten wieder als Präsenz- oder Hybrid-Semester geplant werden, ist die Lage weiterhin volatil. Insbesondere im Winter 2021 kam es nach einem Sommer ohne tiefergehende Einschränkungen erneut zu einer Verschärfung der pandemischen Situation. Es lässt sich daher vermuten, dass einige dieser Probleme und Auswirkungen vor allem in den Wintermonaten erneut auftreten können. Die Nightlines stellen sich daher weiterhin auf vermehrte Kontaktaufnahmen im Winter ein. Gerade durch die Pandemie ist das Thema der psychischen Gesundheit in die breite Öffentlichkeit gelangt. Medienberichte beziffern den Anstieg an psychischen

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Siehe unter anderem auch S. Maas (17. November 2020): Nebenjobs dringend gesucht. A. Traus et al. (2020): Stu.diCo. Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann, in A. Himmelrath et al. (4. Dezember 2021): Vor dem Bildschirm vergessen. R. Vonderlin et al. (2022): Implementierung und Evaluation einer Telefonhotline.

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Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter

Erkrankungen mit einer Zunahme von 25 Prozent seit Beginn der Corona-Pandemie in Rückgriff auf Zahlen der Weltgesundheitsorganisation17 und verdeutlichen damit die Relevanz von Hilfsangeboten. Auch Arbeitgeber:innen bemerken einen Anstieg von psychischen Erkrankungen.18 Die meisten Menschen werden im Laufe ihres Lebens mit psychischen Erkrankungen konfrontiert, weil sie entweder selbst erkranken oder dies bei Personen im Bekanntenkreis der Fall ist. Im Umfeld fast aller finden sich Personen, die mit dem Umgang mit der Pandemie und deren Folgen körperlich, aber auch psychisch zu kämpfen haben. Es ist zu hoffen, dass der verstärkte Diskurs über psychische Gesundheit im privaten und öffentlichen Raum sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene zu einem bewussteren Umgang führt und für eine Enttabuisierung sorgt.

5. Zur Arbeit der Nightline Wenn Studierende die Nightline kontaktieren, erreichen sie ehrenamtlich aktive Studierende, die in lokalen Nightlines anderen Studierenden als Gesprächspartner:innen zur Verfügung stehen. Ziel ist es, eine erste Anlaufstelle in akuten Situationen zu sein, vorurteilsfrei zuzuhören, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten und gegebenenfalls an professionelle Beratungsstellen zu verweisen – oder aber einfach da zu sein, sodass sich jemand in der Situation nicht alleingelassen fühlt. Die Mitarbeiter:innen der Nightlines werden im non-direktiven Zuhören speziell in einer mehrtägigen Schulung ausgebildet und darüber hinaus supervisorisch19 betreut. Sowohl die Kontaktsuchenden als auch die Nightliner:innen bleiben dabei anonym, um einen möglichst geschützten Raum für alle herzustellen. Alle lokalen Nightlines folgen der gleichen Idee und denselben Werten, alle Neumitglieder werden nach den gleichen Prinzipien geschult. Als Kontaktkanäle lassen sich das Telefon als ursprünglicher Hauptkanal sowie die späteren Ergänzungen von E-Mail und Chat unterscheiden. Jede Nightline entscheidet selbst, welche dieser Kanäle sie anbieten möchte, weswegen sich auch die Nutzung der verschiedenen Kanäle zur Kontaktaufnahme von Stadt zu Stadt unterscheidet. Die Kontaktsuchenden müssen zu keinem Zeitpunkt Daten über sich preisgeben. Telefonnummern, E-Mail-Adressen oder Nicknames sind für die Nightline nicht sichtbar und

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Tagesschau (Hg.) (17. Juni 2022): Mehr psychische Krankheiten durch Corona. H. Ott (16. Mai 2022): Psychische Erkrankungen im Job. Supervision beschreibt eine professionelle Form der Beratung, bei der Menschen, die zum Beispiel sozialen, seelsorgerischen oder therapeutischen Tätigkeiten nachgehen, mit unabhängigem Fachpersonal die eigene Arbeit reflektieren und besprechen können, um die Professionalität und Qualität eben dieser sicherzustellen und gegebenenfalls eigene Belastungen aufzufangen.

Alina Käfer: Nachtschicht von Studierenden für Studierende

auch im Nachhinein weder von Mitarbeiter:innen der Nightline noch durch die Telefonbetreiber auslesbar. Dadurch wird bei der Nightline absolute Anonymität sichergestellt. Zudem wird die Niedrigschwelligkeit nochmals betont, da Telefon, Handy oder Computer den meisten Studierenden zur Verfügung stehen. Die Nightlines können die Wochentage und Uhrzeiten ihrer Erreichbarkeit individuell bestimmen. Im Wintersemester 2021/2022 deckten alle Nightlines zusammen alle Wochentage von jeweils 20:00 bis 1:00 Uhr ab. Die genauen Erreichbarkeiten hängen oftmals von der Anzahl der Mitglieder und dem dadurch möglichen Schichtplan ab. Im Gegensatz zum Notruf, bei dem man standortabhängig an die nächstgelegene Leitstelle weitergeleitet wird, haben die Nightlines eigenständige Kontaktkanäle: Das heißt, die Kontaktsuchenden können selbst entscheiden, welche der lokalen Nightlines sie kontaktieren möchten, sei es beispielsweise die Universitätsstadt, die Heimatstadt, eine andere Stadt in der Nähe oder bewusst eine weit entfernte Stadt. Durch diese Wahl kann eine psychische Sicherheit durch die Kontrolle der Situation erlebt werden. Das Angebot der Nightlines ist kostenfrei. Es fallen lediglich die üblichen Gebühren für einen Anruf oder die Kosten für die Nutzung des Internets an. Die Anrufer:innen können mit den Nightlines über sämtliche Themen sprechen, sowohl aus dem Studium als auch dem Privatleben. Die geschulten Mitglieder der Nightline hören aktiv zu oder geben Auskünfte über weitere Informations- und Hilfsangebote. Im Fokus steht demnach die Hilfe zur Selbsthilfe. Durch konzentriertes und aktives Zuhören wird das Gesagte beziehungsweise Geschriebene der hilfesuchenden Person durch die Nightliner:innen gespiegelt, wohingegen beim passiven Zuhören keine Verarbeitung des Gesagten stattfindet. In erster Linie soll das Gespräch den Anrufer:innen helfen, emotional entlastet zu werden, Abstand zur eigenen Lage zu gewinnen und die eigenen Gedanken zu sortieren. Erst dann kann – auf Wunsch gemeinsam – nach Lösungswegen gesucht werden. Gleichzeitig geht es auch um die Herausarbeitung und Stärkung von Ressourcen, auf die trotz der als negativ empfundenen Situation zurückgegriffen werden kann. Ein weiterer Grundpfeiler beim Zuhören ist die Vorurteilsfreiheit. Über jedes Thema darf gesprochen werden. Allerdings liegt es im eigenen Ermessen der Nightliner:innen, Gespräche gegebenenfalls abzubrechen, wenn die eigenen Grenzen der Belastbarkeit erreicht sind. Durch theoretische Grundlagen, wiederholte Übungen wie Rollenspiele oder Simulationen und stetige Weiterbildung werden die Nightliner:innen in den nötigen Grundlagen für den Dienst geschult. Es werden keine Ratschläge gegeben oder Vorschläge zum richtigen Umgang mit den individuellen Problemen gemacht, was im weiteren Verlauf noch näher behandelt wird. In erster Linie versteht sich die Nightline als präventive Maßnahme, womit die Zuspitzung von Krisen vermieden werden soll. Das unterscheidet die Nightline von manchen anderen Telefonhotlines, die teils mit professionelleren, hauptberuflichen Fachkräften besetzt sind und damit eine therapeutische Begleitung in Akutsituationen

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oder Betreuung über einen längeren Zeitraum stabiler leisten können. Durch die Ausbildung und Verfasstheit der Organisation oder Institution ergibt sich außerdem ein unterschiedlicher rechtlicher Rahmen für die jeweiligen Hilfsangebote – auch in Bezug auf die rechtlich eingeräumten Kompetenzen und entsprechend mögliche Leistungen. Die Nightline ist keine psychologische Beratungsstelle und ersetzt weder eine Psychotherapie, noch gibt sie praktische Tipps und Ratschläge zu einem Verhaltensmuster. Bei spezifischen Problemen wie Sucht, Krankheit oder Missbrauch können Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie spezielle Beratungsund Anlaufstellen vor Ort zu erreichen sind. Grundlagen und Methoden der Gesprächsführung Als wichtige Technik lässt sich insbesondere die non-direktive Gesprächsführung nach Carl R. Rogers nennen: Der non-direktiven Gesprächsführung liegen die Werte bedingungslose Wertschätzung, Selbstkongruenz sowie Empathie zu Grunde.20 Die hilfesuchende Person mit ihren Problemen, Gefühlen, Wünschen und Zielen steht im Mittelpunkt des Gesprächs, die Nightliner:innen treten in den Hintergrund. Bewertungen des Handelns der hilfesuchenden Person und das Erteilen von Ratschlägen werden vermieden (Non-Direktivität). Dies geschieht auf Grundlage der Überzeugung, dass die Klient:innen über ihre Lebenswelt am besten Bescheid wissen und eine äußere Einmischung nicht zielführend wäre. Mithilfe von Fragen und Rückmeldungen (Spiegeln) der ausgedrückten Emotionen der hilfesuchenden Personen oder zusammenfassenden Erläuterungen versuchen die Nightliner:innen, die ratsuchende Person Stück für Stück weiterzubringen. Ein weiterer Vorteil der Non-Direktivität ist, dass die hilfesuchende Person selbst über die Inhalte und den Prozess des Fortschrittes bestimmen kann. Weitere Techniken können die Zusammenfassung und Strukturierung eines Sachverhaltes sein. Ziel ist es, eine neue Wahrnehmung und Sichtweise der Dinge entstehen zu lassen, die zu einer Lösungsfindung beitragen kann. Die Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn, die Kommunikationstheorie von Paul Watzlawick sowie das Vier-Seiten-Modell von Friedemann Schulz von Thun bilden weitere Grundannahmen über Kommunikation, die dem Gesprächsverständnis der Nightline zu Grunde liegen: Cohn geht davon aus, dass einzelne Personen (»Ich«) und eine Gruppe (»Wir«), Themen (»Inhalt«) und das Umfeld nicht voneinander abgetrennt, sondern nur gemeinsam betrachtet werden können.21 Für Watzlawick ist alles Kommunikation – Kontext und Beziehungen sollten immer bei der Analyse eines Sachverhaltes eingeschlossen werden.22 Schulz von Thun beschreibt, dass jede

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C.R. Rogers (1981): Der neue Mensch. Stiftung Ruth Cohn (Hg.) (2021): Die wesentlichen Elemente des TZI-Konzepts. M. Geipel (2020): Paul Watzlawicks 5 Axiome.

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Kommunikationsinteraktion sowohl vom Sender als auch vom Empfänger hinsichtlich vier Aspekten (Seiten) interpretiert werden kann: bezüglich der Seite der Sache (Informationen über den Sachverhalt), der Selbstoffenbarung (Meinungen, Sichtweisen), der Beziehung (Beziehung von Sender und Empfänger) sowie des Appells (was der Sender beim Empfänger erreichen möchte).23 Die vier Seiten des Senders, also das, was der Sender mit einer Äußerung ausdrücken möchte, müssen nicht mit den Interpretationen des Empfängers übereinstimmen. Deshalb machen die vier Seiten einer Nachricht die Kommunikation anfällig für Störungen oder Missinterpretationen.24 Für die Arbeit der Nightlines ergibt sich daraus konkret die Wichtigkeit eines Bewusstseins darüber, dass nur die Kontaktsuchenden über ihre individuelle Situation und die Kontextfaktoren Bescheid wissen. Zudem können sich die Nightliner:innen nie gewiss sein, einzelne Äußerungen richtig verstanden zu haben. Das bedeutet wiederum, dass niemals voreilige Schlüsse durch die Nightliner:innen gezogen werden sollten. Den Kontaktsuchenden können daher auch keine Ratschläge erteilt werden, da zwangsläufig nicht alle Informationen vorliegen können. Nur die Kontaktsuchenden können daher auf die Lösung für ihre Situation kommen, wobei die Nightline auf dem Weg dorthin unterstützen kann. Generell gelten das Anonymitäts- und das Vertraulichkeitsprinzip. Das heißt, dass sowohl Kontaktsuchende als auch Nightliner:innen sich nicht zu erkennen geben und Nightliner:innen zusätzlich eine Schweigepflichtserklärung über die Inhalte der Gespräche unterzeichnen. Weil die Arbeit der Nightliner:innen teils sehr belastend sein kann, besteht jederzeit die Möglichkeit, ein Gespräch mit einer psychologischen Betreuer:in der lokalen Nightline in Anspruch zu nehmen, um die Gespräche verarbeiten zu können. Darüber hinaus gibt es regelmäßige Gruppensupervisionen durch ausgebildete Externe. Ausbildung der Nightliner:innen Bei der Ausbildung sind neben diesen Kommunikationsgrundlagen besondere, schwierige Situationen, mit denen die Nightliner:innen umgehen können müssen, Schwerpunkte der Schulungen. Zum einen gibt es gelegentlich missbräuchliche Kontaktaufnahmen wie zum Beispiel sexuelle Belästigungen der Nightliner:innen durch Anrufer:innen, denen entschieden entgegengetreten werden muss, zum anderen muss der Umgang mit starken Gefühlen, Schweigen beziehungsweise Passivität sowie suizidalen Gedanken der Kontaktsuchenden geübt werden. Bei starken Gefühlen wie Traurigkeit oder Wut ist es besonders herausfordernd, zu den Personen am Telefon oder über den Chat durchzudringen. Hier hilft, den Klient:innen immer wieder rückzuversichern, dass man trotz des Gefühlsausbruchs weiterhin da ist und zuhört. Auch für die Nightliner:innen selbst ist es nicht immer 23 24

Schulz von Thun Institut für Kommunikation (Hg.) (18. August 2022): Das Kommunikationsquadrat. Ebd.

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einfach, eigene Emotionen zu kontrollieren. Der Umgang mit all diesen Situationen wird speziell trainiert. Die Nightlines können selbst über die Anzahl und die Auswahl der neuen Nightliner:innen entscheiden. Grundsätzlich spielt dabei die Schulungskapazität der Nightline eine Rolle, da alle Neumitglieder intensiv geschult und betreut werden. Ein weiteres Kriterium ist oftmals ein formeller Studierendenstatus (Student:in oder Doktorand:in). Ansonsten stammen in vielen Nightlines die Ehrenamtlichen aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen mit unterschiedlichem Vorwissen bezüglich Psychologie und Gesprächsführung. Nicht alle Ehrenamtlichen betreuen die Kontaktsuchenden, manche Mitglieder kümmern sich beispielsweise ausschließlich um Technik, Presse und Social Media oder organisatorische Themen.

6. Fazit Die Nightlines bieten insbesondere Studierenden die Möglichkeit, sich bei Problemen oder Redebedarf telefonisch, per Chat oder E-Mail zu melden. Einsamkeit spielt bei den Nightlines nicht zuletzt seit der Corona-Pandemie in den Gesprächen mit kontaktsuchenden Personen eine wichtige Rolle. Es gibt vielfältige Faktoren, die Einsamkeit bei Studierenden bedingen. Die Erfahrungen der Nightliner:innen zeigen, dass Einsamkeitsgefühle insbesondere mit Studienbeginn auftreten, der in der Regel mit großen Veränderungen verbunden ist, wie zum Beispiel dem Umzug in eine neue Stadt, dem plötzlich geringen Kontakt zu den Eltern und Freund:innen aus der Schulzeit oder neuen Rahmenbedingungen durch das Studium. Die Nightliner:innen möchten aktiv und vorurteilsfrei zuhören, leisten Hilfe zur Selbsthilfe und verweisen falls nötig an professionelle Anlauf- und Beratungsstellen. Dabei besteht die Hoffnung, dass die Linderung etwa von Einsamkeitsgefühlen der Anrufer:innen zumindest für einen Moment gelingt.

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Die Nightlines und der Förderinitiative Nightlines Deutschland e.V. Der Verein »Förderinitiative Nightlines Deutschland e.V.« ist eine Initiative für ein Nightline-Netzwerk in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die ehrenamtlichen Mitarbeitenden sind oftmals ehemalige Mitglieder von lokalen Nightlines. Sie unterstützen die Nightlines im deutschsprachigen Raum ideell und administrativ. Neben der nationalen und europäischen Vernetzung mit anderen Nightlines, dem Austausch von Ideen und Konzepten und der Durchführung von Projekten, wie beispielsweise einer einheitlichen IT-Infrastruktur, ist die Förderung der Gründung von neuen (lokalen) Nightlines ein zentrales Ziel der Förderinitiative. Das Modell der Nightlines stammt aus Großbritannien, wo die erste Nightline als Telefonhotline in den 1970er Jahren in Essex gegründet wurde.25 Die Nightline Heidelberg ist die erste Nightline in Deutschland und existiert seit 1995.26 Mittlerweile gibt es 22 deutschsprachige Nightlines in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In anderen europäischen Ländern sind ebenfalls Variationen davon verbreitet. Über die zugehörigen Verbrauchsstiftung »Nightline-Stiftung« ist die Förderinitiative für die finanzielle Förderung der Nightlines verantwortlich, die Nightlines selbst sind oft ebenfalls als Vereine organisiert, um als niedrigschwelliges Zuhörangebot für Studierende erreichbar zu sein.27 Kontakt E-Mail: [email protected] Webseiten: www.nightline-stiftung.de/; www.nightlines.eu/erreichbarkeit/

Literatur Armbruster, Stephanie/Klotzbücher, Valentin (2020): Lost in lockdown? COVID-19, social distancing, and mental health in Germany (Arbeitspapier). In: Covid Economics, Nr. 22, S. 117–153. DOI: https://doi.org/10.13140/RG.2.2.17900.39043.

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Zur Genese der britischen Nightlines siehe: D. Thompson/J. Thompson (1974): Nightline—a student self-help organisation. F.P. Meyer (2010): Existenzangst, so schlimm wie Liebeskummer. Das ursprüngliche Startkapital der Nightline-Stiftung wird durch Zustiftungen von privaten Förder:innen und anderen Organisationen immer wieder erweitert. Zudem erhalten die Nightlines häufig nach einem Nachweis ihrer erfolgreichen Arbeit finanzielle Unterstützung von den Universitäten und Hochschulen ihres Standortes, den Verfassten Studierendenschaften oder Studierendenwerken. Kosten der Nightlines entstehen hauptsächlich durch die nötige Infrastruktur für Telefon-, E-Mail- und Chat-Dienste, aber auch durch die Erstellung von Werbematerialien, sowie regelmäßige Schulungen und Supervisionen.

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Brülhart, Marius/Lalive, Rafael (2020): Daily suffering: helpline calls during the Covid19-crisis. In: Covid Economics, Nr. 19, S. 143–158. Geipel, Maria (2020): Paul Watzlawicks 5 Axiome. In: BR Alpha Lernen. URL: https: //www.br.de/alphalernen/faecher/deutsch/3-paul-watzlawick-axiome100.htm l, letzter Besuch: 3. September 2022. Götzke, Manfred/Schumann, Wilfried (20. März 2019): Immer mehr Studierende brauchen Beratung (Podcast). In: Campus und Karriere. URL: https://www.deu tschlandfunk.de/psychologischer-beratungsservice-immer-mehr-studierende -100.html, letzter Besuch: 18. August 2022. Himmelrath, Armin/Hölter, Katharina/Olbrisch, Miriam/Schirmer, Sophia (4. Dezember 2021): Vor dem Bildschirm vergessen. In: Der Spiegel Nr. 49/2021. URL: https://www.spiegel.de/start/corona-an-deutschlands-unis-und-hochsc hulen-im-dauer-shutdown-a-f0026b45-6724-42e3-84e1-dc8fbdf0f730, letzter Besuch: 18. August 2022. King, V. (2004): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lawson, Shaun/Vines, John/Wilson, Michael/Barnett, Julie/Barreto, Manuela (2014): Loneliness in the digital age: Building strategies for empathy and trust. URL: https://researchportal.northumbria.ac.uk/en/publications/loneliness-inthe-digital-age-building-strategies-for-empathy-and, letzter Besuch: 26. August 2022. Maas, Sebastian (17. November 2020): Nebenjobs dringend gesucht: Wo Studierende in der Coronakrise Arbeit oder Unterstützung finden. In: Spiegel Online. URL: https://www.spiegel.de/start/corona-studierende-leiden-unter-shutdowns-n ebenjobs-dringend-gesucht-a-ad7bb843-3e24-4725-a550-5a75c415c0d8, letzter Besuch: 18. August 2022. Maunder, Rachel E./Cunliffe, Matthew/Galvin, Jessica/Mjali, Sibulele/Rogers, Jenine (2013): Listening to student voices: student researchers exploring undergraduate experiences of university transition. In: Higher Education, 66. Jg., Nr. 2, S. 139–152. DOI: https://doi.org/10.1007/s10734-012-9595-3. Meyer, Florian P. (2010): Existenzangst, so schlimm wie Liebeskummer. In: Süddeutsche.de. URL: https://www.sueddeutsche.de/karriere/sorgentelefon-fuer -studenten-existenzangst-fast-so-schlimm-wie-liebeskummer-1.952017, letzter Besuch: 3. September 2022. Ott, Helena (16. Mai 2022): Psychische Erkrankungen im Job: »Die Botschaft muss immer lauten: Gesundheit ist wichtiger als die Arbeit«. In: WirtschaftsWoche. URL: https://www.wiwo.de/my/erfolg/management/psychische-erkrankunge n-im-job-die-botschaft-muss-immer-lauten-gesundheit-ist-wichtiger-als-die -arbeit/28330178.html, letzter Besuch: 18. August 2022.

Alina Käfer: Nachtschicht von Studierenden für Studierende

Richardson, Thomas/Elliott, Peter/Roberts, Ron/Jansen, Megan (2017): A Longitudinal Study of Financial Difficulties and Mental Health in a National Sample of British Undergraduate Students. In: Community Mental Health Journal, 53. Jg., Nr. 3, S. 344–352. DOI: https://doi.org/10.1007/s10597-016-0052-0. Rogers, Carl R. (1981): Der neue Mensch. Stuttgart: Klett-Cotta. Schulz von Thun Institut für Kommunikation (Hg.) (18. August 2022): Das Kommunikationsquadrat. URL: https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/daskommunikationsquadrat, letzter Besuch: 18. August 2022. Statistisches Bundesamt (Hg.) (3. September 2021): Zahl der Hochschulabschlüsse 2020 um 6% gesunken. Corona-Pandemie führt zu deutlichem Rückgang der Absolventenzahlen (Pressemitteilung). URL: https://www.destatis.de/DE/Pres se/Pressemitteilungen/2021/09/PD21_414_213.html, letzter Besuch: 18. August 2022. Stiftung Ruth Cohn (Hg.) (2021): Die wesentlichen Elemente des TZI-Konzepts. URL: https://www.stiftung-ruth-cohn.de/tzi-konzept.html, letzter Besuch: 20. August 2022. Tagesschau (Hg.) (17. Juni 2022): Mehr psychische Krankheiten durch Corona. URL: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/who-corona-anstieg-psychi sche-krankheiten-101.html, letzter Besuch: 18. August 2022. Thomas, Lisa/Orme, Elizabeth/Kerrigan, Finola (2020): Student Loneliness: The Role of Social Media Through Life Transitions. In: Computers & Education, 146. Jg., S. 103754. DOI: https://doi.org/10.1016/j.compedu.2019.103754. Thompson, David/Thompson, Jennifer (1974): Nightline—a student self-help organisation. In: British Journal of Guidance and Counselling, 2. Jg., Nr. 2, S. 200–211. Traus, Anna/Höffken, Katharina/Thomas, Severine/Mangold, Katharina/Schröer, Wolfgang (2020): Stu.diCo. – Studieren digital in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie Stu.diCo. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim. DOI: https://doi.org/10.18442/150. Vonderlin, Ruben/Biermann, Miriam/Konrad, Michael/Klett, Martin/Kleindienst, Nikolaus/Bailer, Josef/Lis, Stefanie/Bohus, Martin (2022): Implementierung und Evaluation einer Telefonhotline zur professionellen Ersthilfe bei psychischen Belastungen durch die COVID-19-Pandemie in Baden-Württemberg. In: Der Nervenarzt, 93. Jg., Nr. 1, S. 24–33. DOI: https://doi.org/10.1007/s00115-021 -01089-x.

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Beraterische Unterstützung an der Universität Herausforderungen in der Corona-Pandemie Christian Kloß (Psychologische Studienberatung TU Dortmund) | Psychologische Beratung im Universitätskontext

1. Einleitung Einsamkeit wird häufig durch jüngere Generationen, möglicherweise auch als Selbstschutz, zu einem Problem und einer Herausforderung der älteren Generationen erklärt. Indem etwas negiert oder einer Gruppe zugewiesen wird, der man selbst nicht angehört, verringert sich die Bedrohlichkeit. Es wird, zumindest kurzfristig, etwas kontrollierbarer und weniger bedrohlich. Kinder verlassen das Haus, ein:e Partner:in verstirbt, der Lebensmittelpunkt ist ländlich und nicht urban. Dies sind Faktoren, die – so der Erfahrung der Psychologischen Studienberatung nach oft der Eindruck in den jüngeren Generationen – bei älteren Menschen, weit weg von der wahrgenommen, eigenen Lebensrealität, zum Gefühl von Einsamkeit beitragen können. Doch nicht zuletzt die Corona-Pandemie hat in der beraterischen Praxis gezeigt, dass auch für jüngere Generationen das Einsam-Sein eine Herausforderung darstellen kann, die von starker psychischer Belastung gekennzeichnet ist – und dass es einen Bedarf an Unterstützung gibt, die Einsamkeit aus eigener Kraft im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe überwinden zu lernen. Erste Forschungsarbeiten belegen diese Einschätzung. Nachfolgend wird nach Begriffsklärung und Übersicht zur aktuellen Forschungslage, mithilfe derer die Psychologische Studienberatung der TU Dortmund auch in der Beratung arbeitet, darauf eingegangen, wie eben diese der Einsamkeit der Ratsuchenden zu begegnen versucht und welche Kernelemente der Beratung sich als besonders hilfreich erwiesen haben.

2. Einsamkeit unter Studierenden Einsamkeit ist eine Erfahrung, die über die Lebensspanne hinweg von den meisten Menschen erfahren werden kann und die in ihrer Intensität ein krankheitswertiges Ausmaß anzunehmen vermag. Auf körperlicher und psychischer Ebene kön-

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nen Symptome erkennbar werden, die weit über eine kurzfristige und phasenweise Stimmungseintrübung hinausgehen und somit einen hohen Leidensdruck erzeugen. Einsamkeit kann als unangenehmes und belastendes subjektives Phänomen beschrieben werden, das entsteht, wenn Menschen ihre sozialen Interaktionen als unzureichend in Bezug auf Häufigkeit oder Qualität bewerten.1 Folgen der Abwesenheit von (subjektiv ausreichenden) sozialen Kontakten können Belastungen auf körperlicher, psychischer und kognitiver Ebene sein.2 Aus der beruflichen Praxis können hier wiederkehrende Magenschmerzen, sehr hohes Stresserleben oder auch negative Gedankenspiralen und starkes Grübeln angeführt werden. Häufig wird von einer gedanklichen Einengung auf die Belastung berichtet und davon, dieser gefühlt ausgeliefert zu sein, ohne Handlungsspielraum zu haben. Sowohl soziale Isolation als auch Einsamkeit nehmen nach Einschätzung mancher Studien gesamtgesellschaftlich zu und können auf psychologischer, biologischer und der Verhaltensebene zu einer Abnahme der Gesundheit und der Lebensdauer von Individuen führen.3 Gerade bei jüngeren Menschen in dem für die Psychologische Studienberatungsstelle relevanten Zeitabschnitt scheint Einsamkeit durch die für die Lebensspanne charakteristischen sozialen Umbrüche stark ausgeprägt auftreten zu können,4 wie zum Beispiel das alleine Leben getrennt von der Kernfamilie bedingt durch wohnortfernes Studieren,5 der Übergang von Schule zu Hochschule oder Ausbildungsstätte, das Entdecken und Herausbilden der eigenen Identität oder auch die Neuformierung sozialer Beziehungen.6 Einsamkeit und soziale Isolation stellten einen massiven Stressfaktor für jüngere Menschen während der coronabedingten Einschränkungen dar,7 wie auch in der erhöhten Anfrage an die Psychologische Studienberatung festgestellt werden konnte. Für Deutschland verdeutlicht die NAKO8 -Gesundheitsstudie, dass seit Einsetzen der Pandemie insbesondere jüngere Menschen, und Frauen noch einmal stärker als Männer, Einsamkeit vermehrt belastend wahrgenommen haben. Einen Schutzfaktor vor Einsamkeit können hier bessere psychosoziale Ressourcen bilden,9 wie

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D. Perlman/L.A. Peplau (1981): Toward a social psychology of loneliness; S. Buecker (2021): Einsamkeit. S. Shapira et al. (2021): Teaching and Practicing Cognitive-Behavioral and Mindfulness Skills in a Web-Based Platform among Older Adults through the COVID-19 Pandemic. J. Holt-Lunstad et al. (2015): Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality. G. Sampogna et al. (2021): Loneliness in Young Adults During the First Wave of COVID-19 Lockdown. J. Holt-Lunstad/T.B. Smith/J.B. Layton (2010): Social Relationships and Mortality Risk. L.L. Wieczorek et al. (2021): Understanding Loneliness in Adolescence. M. Matos et al. (2021): The role of social connection on the experience of COVID-19 related post-traumatic growth and stress. Abkürzung entstammt dem ursprünglichen Namen der Studie: »Nationale Kohorte«. K. Berger et al. (2021): Einsamkeit während der ersten Welle der SARS-CoV-2-Pandemie.

Christian Kloß: Beraterische Unterstützung an der Universität

beispielsweise Selbstwirksamkeitswahrnehmung, sozialer Rückhalt oder auch soziale Kompetenzen. Wie Einsamkeit im Rahmen psychologischer Beratung in der beraterischen Praxis grundsätzlich begegnet werden kann, wird nachfolgend zunächst anhand eines Überblicks theoretischer Maßnahmenebenen vorgestellt, bevor der Beitrag einen Blick auf die besondere Lage während der Corona-Pandemie wirft.

3. Wie Einsamkeit in der beraterischen Praxis grundsätzlich begegnet werden kann Die institutionelle Psychologische Beratung stellt eine wichtige Säule in der psychosozialen Versorgung dar.10 Kern der Beratung ist die Förderung und Unterstützung der Ratsuchenden bei der Entwicklung von Kompetenzen, um autonom und im Sinne der Selbsthilfe Belastungen überwinden zu können und Schutzmechanismen für zukünftige mögliche Stressoren zu entwickeln.11 Auf diesem Verständnis von Beratung basiert auch die Arbeit der Psychologischen Studienberatung, wie im Verlauf des Beitrags deutlich werden wird. Im Rahmen von unterstützender Beratung werden die Themen ungewollte Einsamkeit – also die Form der Einsamkeit, die ein Individuum nicht bewusst sucht, um beispielsweise dem Bedürfnis nach Ruhe oder Kontemplation nachkommen zu können – und Isolation häufig adressiert. Es existiert eine Vielzahl evidenzbasierter Interventionen, um die Belastung durch Einsamkeit kurz- und langfristig zu reduzieren, die auch in Beratungen direkt angewendet werden können. Im Folgenden werden einige dieser Maßnahmen schlaglichtartig dargestellt. Es ist hilfreich, die Herangehensweise verschiedener Interventionsstrategien zu klassifizieren, um mögliche Ansatzpunkte einer Beratung wie jener der Psychologischen Studienberatung der TU Dortmund besser nachvollziehen zu können. Es besteht die Möglichkeit, das Gefühl von Einsamkeit auf Ebene der Kognitionen (also der Gedanken und Überzeugungen), auf Handlungsebene (der dadurch möglichen Modifikation des Umfeldes durch die Veränderung der eigenen Sozialkompetenz) und auf direkter Ebene der äußeren Hindernisse zu adressieren.12 Beraterische Maßnahmen können also auf diesen verschiedenen Ebenen ansetzen. Die Psychologische Studienberatung richtet das individuelle Beratungskonzept danach aus, welche Ebene für die Ratsuchenden jeweils eine zentrale Stellung einnimmt.

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E. Leibing/W. Hiller/S. Sulz (Hg.) (2012): Lehrbuch der Psychotherapie. Ebd., S. 445. M. Sonnenmoser (2012): Einsamkeit.

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Ebene der Kognitionen Eine nicht genuin für den Umgang mit Einsamkeit entwickelte, aber der Erfahrung der Psychologischen Studienberatung nach dafür sehr wirksame Methode, ist die kognitive Umstrukturierung. Die Methode geht davon aus, dass Individuen auf Stimuli (also Reize) der Umgebung unter Zuhilfenahme von Bewertungen reagieren. Ziel der kognitiven Umstrukturierung ist es, Ratsuchende darin zu unterstützen, negative oder den Selbstwert schädigende Bewertungsmuster zunächst zu identifizieren und im Anschluss umzuformen.13 Ausgehend von der Vermittlung eines plausiblen kognitiven Modells wird die Identifikation eigener dysfunktionaler (im Sinne selbsthindernder bis zu selbstschädigender) Gedanken und Überzeugungen angestrebt. Diese werden einem Veränderungsprozess unterzogen, dem die Festigung von neu entwickelten funktionalen Gedanken und auch ihre Übertragung auf andere Lebensbereiche folgen.14 Um Einsamkeit in der Psychologischen Studienberatungsstelle begegnen zu können, müssen Grundannahmen, die mit Einsamkeit korrelieren, zunächst identifiziert und im Anschluss diskutiert werden. Hier kann es zwischen den Beratungssitzungen hilfreich sein, situative Analysen durchzuführen, die auf die Identifikation und Modifikation von dysfunktionalen Gedanken abzielen. Handlungsebene Die Veränderung der Umwelt (also des sozialen Umfeldes) einsamer Menschen kann durch ein Training der sozialen Kompetenzen der Ratsuchenden positiv beeinflusst werden. Exemplarisch kann hier das Gruppentraining sozialer Kompetenzen nach Hinsch und Pfingsten angeführt werden.15 Fokus des Trainings ist die Vermittlung und Einübung von sozialen Fertigkeiten, um beispielsweise zwischenmenschliche Beziehungen erfüllend leben zu können, beziehungsweise zunächst einmal wieder befähigt zu werden, den sozialen Rückzug oder auch die soziale Isolation zu durchbrechen.16 Auch hier kann die Psychologische Studienberatung durch Einzelberatung und Gruppenangebote helfen. Die Inhalte des Gruppentrainings können auch in Einzelgesprächen aufgegriffen und erarbeitet werden, bevor sie dann im Anschluss von den Ratsuchenden im Lebensalltag ausprobiert und geübt werden. Während der Kontaktbeschränkungen war es nicht möglich, ein Gruppenangebot zum Umgang mit sozialen Ängsten vor Ort anzubieten.

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B. Wilken (2019): Methoden der kognitiven Umstrukturierung. H. Schöttke (2010): Kognitive Techniken. Rüdiger Hinsch und Ulrich Pfingsten nach E. Leibing/W. Hiller/S.K.D. Sulz (Hg.) (2012): Lehrbuch der Psychotherapie. Ebd.

Christian Kloß: Beraterische Unterstützung an der Universität

Ebene der äußeren Hindernisse Äußere Hindernisse im Sinne von materiellen Faktoren, die Einsamkeit »von außen« strukturell verstärken, können räumliche Distanz (etwa zu geliebten Menschen), genauso aber auch das Fehlen vernetzender Infrastruktur sein. Ein pandemierelevantes Beispiel ist – über die räumliche Distanz durch Kontaktbeschränkungen und weitere Maßnahmen hinaus – eine zusätzliche virtuelle Distanz, etwa über den fehlenden Zugang zu Videokonferenzdiensten, sei dies etwa technisch, finanziell oder auch durch fehlende Nutzungskompetenz begründet.17 Doch auch von der Pandemie unabhängige Faktoren, wie die lokale Verfügbarkeit von Vereinen oder anderen Freizeitgruppen, können das Knüpfen oder Aufrechterhalten von sozialen Kontakten erschweren. Nicht alle diese Umstände lassen sich ohne Weiteres beeinflussen, dennoch ist eine gewisse Intervention möglich: Beispielsweise hilft das konstante Informieren über und Recherchieren von Möglichkeiten, die soziale Interaktion zu fördern, in der Beratung, aus einem Pool von verschiedenen Optionen Empfehlungen oder Tipps geben zu können, etwa wohin man gehen oder an wen man sich wenden kann – orientiert an den individuellen Bedürfnissen der Ratsuchenden. Natürlich kann nicht direkt auf äußere Hindernisse Einfluss genommen werden, jedoch zeigt sich, dass die gerade beschriebene Recherche und Wissensvermittlung hilfreich ist und im Rahmen der Beratung vorgebrachte Ideen von den Ratsuchenden in die Tat umgesetzt werden. Unabhängig von der konkreten Intervention können während einer Beratungssitzung starke Gefühle aktiviert werden. Neben beispielsweise Wut, Trauer, Hoffnungslosigkeit und Leere zählt Einsamkeit ebenfalls zu dieser Gruppe von Gefühlen. Wird das Gefühl der Einsamkeit nicht in ausreichendem Maße adressiert, kann dies dem Beratungsfortschritt, das heißt zum Beispiel eine den Beratungszielen folgende Reduzierung des Belastungserlebens, zuwiderlaufen. Dies geschieht, wenn dysfunktionale Verhaltensmuster durch die Ratsuchenden reaktiviert werden, um das Gefühl zu reduzieren beziehungsweise es nicht mehr spüren zu müssen. Linehan führt hier an, dass es wichtig ist, als Beratende:r die jeweiligen Emotionen zu antizipieren18 und als »zu lösende Probleme« zu bearbeiten.19 Dies kann darin bestehen, ausreichend Zeit für den Sitzungsabschluss einzuplanen, Zwischensitzungsübungen zu vereinbaren, im Bedarfsfall die Sitzung zusammenzufassen, motivierendes Lob einfließen zu lassen oder für Beruhigung und Bestätigung zu sorgen. Besonders Letzteres kann im beraterischen Setting dadurch realisiert werden, dass den Ratsuchenden dargelegt wird, dass auch zwischen Terminen Kontaktaufnahmen

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M. Sonnenmoser (2012): Einsamkeit. Antizipation bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Beratende ein Bewusstsein dafür entwickelt haben sollten, welche negativen Gefühle im Rahmen einer Beratungssitzung entstehen können und wie professionell mit diesen umgegangen werden kann. M.M. Linehan (2017): Dialektisch-Behaviorale Therapie, S. 342.

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möglich sind, sei dies niedrigschwellig via E-Mail oder in der telefonischen Sprechzeit. Genauso ist es aber auch hilfreich und vor allen Dingen entlastend, wenn bereits in den Beratungen je nach Bedarf externe Anlaufstellen mit den Ratsuchenden besprochen werden, die eine möglichst 24-stündige umfassende Kontaktaufnahme mit Hilfe und Unterstützung ermöglichen, zum Beispiel die TelefonSeelsorge oder Notfallambulanzen. Im Sinne der Antizipation von Gefühlen, die zu Belastungssituationen führen können, steht auch die Vorwegnahme von Schwierigkeiten und das gezielte Ansprechen von Möglichkeiten zur Selbsthilfe an zentraler Stelle. Beratende helfen nicht bloß dabei, dass Einsamkeit nach der Beratung überhaupt erst wahrgenommen wird, sondern sie helfen auch, ein Konzept zu erarbeiten, wie mit diesem Gefühl selbstfürsorglich umgegangen werden kann, ohne Gefahr zu laufen, dysfunktionale Verhaltensmuster zu reaktivieren. So kann es funktional sein, negative Affekte akzeptierend und wertungsfrei anzuerkennen und Bedürfnisse, die bis dato möglicherweise frustriert wurden, wieder ernst zu nehmen und zu beginnen, diese wieder zu erfüllen. Diese bewährten Maßnahmen stießen im Rahmen der Corona-Pandemie jedoch an gewisse Grenzen. Zunächst sollen diese neuen Herausforderungen dargestellt werden, bevor sich der Beitrag der durchgeführten beraterischen Praxis während der Pandemie widmet.

4. Neue Herausforderungen durch die Corona-Pandemie Die beraterische Praxis war durch das Einsetzen der Corona-Pandemie massiven Veränderungen unterworfen – einmal auf Seite der Ratsuchenden, zum anderen aber auch auf Seite der Beratenden. Die Pandemie führte bei vielen zu einer Belastung der mentalen Gesundheit mit Symptomen wie Depression, Angst und gesteigertem Gefühl von Einsamkeit und Isolation.20 Gleichzeitig mussten ad hoc neue Wege der Beratung gefunden und etabliert werden, da die bis dato praktizierten Angebote von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie temporär verunmöglicht wurden (in den nächsten Kapiteln mehr dazu). Neben der Ebene des Angebotes von Beratung ließ sich wiederum auf der Ebene der Beratungsanliegen eine thematische Verschiebung feststellen. Viele Themen, die vor Beginn der Pandemie häufig Gegenstand der Beratungen waren – wie beispielsweise das Sprechen vor größeren Gruppen im Rahmen von Referaten, die herausfordernde Interaktion mit Teilnehmer:innen und Dozent:innen im Seminar oder die aktive Beteiligung etwa durch Diskussionsbeiträge – fielen durch den Wechsel auf digitale Lehre fast gänzlich weg. Die gezielte Vermeidung dieser mit Sorge oder gar Angst besetzten

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M. Godara et al. (2021): Investigating differential effects.

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Tätigkeiten wurde durch die Umstellung auf Online-Lehre obsolet, da die angstbesetzten Studienaufgaben nicht mehr wie gewohnt stattfinden konnten. Gleichzeitig war aber auch eine Konfrontation mit diesen Ängsten, und damit auch ihre Überwindung, bis auf Weiteres nicht mehr möglich. Die angesprochene Verschiebung der Anliegen und der damit verbundenen Problematiken wurde erstmals mit Einsetzen der ersten Prüfungsphasen deutlich. Studierende konnten der gewohnten und in vielen Teilen erfolgreich entwickelten Lernpraxis zur Prüfungsvorbereitung nicht mehr nachgehen. Bibliotheken waren geschlossen oder nur sehr eingeschränkt aufsuchbar, Lerngruppentreffen waren in der gewohnten Personenstärke nicht gestattet und durch das Gebot des Social Distancing nicht mehr ohne Weiteres abhaltbar. Zu diesem Zeitpunkt wurde Einsamkeit zunächst auf der akademischen beziehungsweise universitären Ebene merklich spürbar. Die Studierenden konnten die aufgebauten Lernroutinen nicht mehr wie gewohnt verfolgen, Lerngruppen waren höchstens noch digital realisierbar, zahlreiche Studierende begannen ihr Studium sogar digital ohne reale Interaktionsmöglichkeit mit den Mitstudierenden. Und mit wiederkehrenden Lockdowns entwickelte sich auch auf der privaten, nicht universitären Ebene des Lebens bei den Ratsuchenden ein Gefühl von belastender und vor allem nicht freiwillig gesuchter Einsamkeit, die für mitunter starkes Belastungserleben sorgte. Eine Hypothese, weshalb in der Arbeit der Psychologischen Studienberatung erst die akademische und dann die private Einsamkeit wahrgenommen wurde, ist, dass der akademische Betrieb in kürzester Zeit auf digitales Lernen und Lehren umgestellt werden musste, durch die landesrechtlichen Auflagen zum Teil eben noch schneller und umfassender als in anderen, privaten Lebensbereichen. Es fand eine intensive Konfrontation mit immer wieder neuen Regelungen statt, die den Studierenden vor Augen führte, was während der Lockdowns nicht mehr möglich war. Und erst mit der Zeit entwickelten sich Arbeitsroutinen, die wieder Raum dafür gaben, durch Introspektion die eigene Gefühlslage zu verstehen, sich etwa bewusst zu werden, dass Einsamkeit auch begonnen hat, den privaten Lebensrahmen zu belasten. Auch in vorpandemischen Zeiten begegnete den Beratenden der Psychologischen Studienberatung das Thema Einsamkeit, dies jedoch in einem sehr moderaten Ausmaß. Die Herausforderung für die Beratung lag darin, nicht auf evidenzbasierte Verfahren zurückgreifen zu können, um die Ratsuchenden zu unterstützen, weil es bislang noch keine ausreichenden Erkenntnisse zu digitalen Unterstützungsangeboten für Studierende, auch nicht in Bezug auf Einsamkeit, gab. Stattdessen mussten neue Angebote entwickelt und geschaffen werden, sowohl auf der inhaltlichen Ebene wie auch auf der Ebene der Darreichung. Nachfolgend wird ein Abgleich der Evidenz zur jeweiligen Wirksamkeit verschiedener beraterischer Angebote in Zeiten der Pandemie mit den digital angepassten und teils gänzlich neu konzipierten Angeboten der Psychologischen Studienberatung vollzogen.

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5. Wie Einsamkeit in der beraterischen Praxis in der Corona-Pandemie begegnet wurde Bevor die beraterische Praxis der Psychologischen Studienberatung der TU Dortmund ausgeführt wird, sollen vorab kurz empirische Befunde aus der Wissenschaft bezüglich einer möglichen beraterischen Praxis während der Pandemie vorgestellt werden, um die Praxis der Psychologischen Studienberatung besser einrahmen zu können. In einer umfangreichen meta-analytischen Untersuchung zu qualitativen sozialen Verbindungen in digitalen Settings (»Digital Interventions – Quality Social Connections«, D-QSC) berichten Dewa et al., dass ein vorheriges persönliches Treffen mit den Beratenden die Qualität der digitalen Arbeit nachhaltig verbessern kann.21 Auch in der Arbeit der Psychologischen Studienberatung zeigte sich, dass punktuelle persönliche Treffen, sobald diese wieder möglich waren, die gemeinsame Arbeit an den Themen der Ratsuchenden sehr unterstützten. Überdies stellt Einsamkeit einen Indikator für fehlende D-QSC, das heißt fehlende wertvolle soziale Beziehungen im digitalen Raum, dar. Sampogna et al. berichten im Rahmen einer Untersuchung mit (N=) 6.232 teilnehmenden italienischen Jugendlichen, dass ein adaptives Coping, also die anpassbare Bewältigungsstrategie für den Umgang mit einem Problem, in der gezielten Suche nach hilfreichen Informationen, einer strukturierten Planung oder dem positiven Reframen, also dem Einnehmen einer neuen Perspektive und der Neubewertung einer Situation bestehen kann. Auch das Ausmaß posttraumatischen Wachstums kann das Level von Einsamkeit herabsetzen: Posttraumatisches Wachstum beschreibt positive Veränderungen, die ein Individuum nach einer traumatischen Erfahrung durchlaufen kann. Diese können beispielsweise im Bereich der Selbstwahrnehmung, der Beziehungsgestaltung oder auch der allgemeinen Sichtweise auf das Leben liegen.22 Brog et al. berichten von einer internetbasierten Selbsthilfeintervention namens ROCO (»Resilience and Optimism during COVID-19«).23 Diese habe zwar bei bereits vorliegenden Symptomen von Depression oder Ängsten kaum Wirkung entfalten können, präventiv scheint diese Form der Intervention aber sinnvoll zu sein. Insbesondere der Erwerb von Emotionsregulationsstrategien und die Förderung der persönlichen Resilienz, also der psychischen Widerstands- und Anpassungsfähigkeit angesichts von Veränderungen und Belastungen, seien durch die »ROCO-Intervention« unterstützt worden.24 Ergänzend schlussfolgern Matos et al., dass Interventionen, die das Gefühl sozialer Sicherheit und sozialer Verbundenheit stärken, Ressourcen wie

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L.H. Dewa et al. (2021): Quality Social Connection. G. Sampogna et al. (2021): Loneliness in Young Adults During the First Wave of COVID-19 Lockdown. N.A. Brog et al. (2022): Effects of an internet-based self-help intervention for psychological distress due to COVID-19. Ebd.

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Resilienz und mentales Wohlbefinden fördern können.25 Die Autor:innen halten zudem basierend auf einer von der Arbeitsgruppe durchgeführten Untersuchung fest, dass posttraumatisches Wachstum signifikant mit dem Gefühl sozialer Verbundenheit korreliert. Demnach entwickeln Menschen, die sich zum einen sozial sicher und verbunden fühlen und zum anderen Mitgefühl sich selbst und anderen gegenüber ausleben können, ein stärkeres posttraumatisches Wachstum.26 Diese Erkenntnis stellt für die Psychologische Studienberatung ein wichtiges inhaltliches Handlungsfeld dar, auf das im folgenden Kapitel noch näher eingegangen wird. Im Rahmen eines systematischen Reviews wurde der Einfluss von Achtsamkeit auf Individuen untersucht, die unter anderem durch Quarantäne soziale Isolation und Einsamkeit durchlebten. »Mindfulness based stress reduction« (MBSR)27 beispielsweise wird identifiziert als mildernde Intervention bei wahrgenommener Einsamkeit.28 MBSR hilft Menschen dabei, die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol zu reduzieren, was entlastend wirken kann, wenn aufgrund von Isolation und einer etwaigen häuslichen Quarantäne Stressreduktion durch vertraute Strategien wie beispielsweise Sport oder Ähnliches nicht möglich ist.29 Eine solche achtsamkeitsbasierte Stressreduktion besteht aus einer mentalen Übung, die durch Konzentration auf eigene Bedürfnisse, belastende Gedanken oder den Körper als Ruhepol Achtsamkeit für sich selbst fördern soll. Eine Übung kann etwa darin bestehen, bewusst an etwas Schönes zu denken, eine Sitzposition bewusst einzunehmen und auf den eigenen Atem zu achten oder (auf anderem Weg) kurz – und damit alltagstauglich – innezuhalten. Ergänzend zu diesen Befunden berichten auch Shapira et al. von einer signifikanten Herabsetzung des Einsamkeitsempfindens in einer randomisiert kontrollierten Studie, in der eine kurze Gruppenintervention dargeboten wurde, die Inhalte der kognitiven Verhaltenstherapie und Achtsamkeitskompetenz vermittelte:30 In dieser Studie wurde in Kleingruppen via Videokonferenz für jeweils maximal anderthalb Stunden über einen Zeitraum von vier Wochen gearbeitet. Dabei wurden den Teilnehmenden Atemtechniken, die Übung zum sicheren inneren Ort31 und Achtsamkeitsmeditationen nähergebracht. Flankiert wurde dieses Angebot durch eine ergänzende Messenger-Gruppe, in der zusätzliche Materia25 26 27 28 29 30 31

M. Matos et al. (2021): The role of social connection on the experience of COVID-19 related post-traumatic growth and stress. Ebd. Zu Deutsch etwa »achtsamkeitsbasierte Stress-Reduktion«. E.K. Lindsay et al. (2019): Mindfulness training reduces loneliness and increases social contact. M. Bursky et al. (2021): The Utility of Meditation and Mindfulness-Based Interventions in the Time of COVID-19. S. Shapira et al. (2021): Teaching and Practicing Cognitive-Behavioral and Mindfulness Skills in a Web-Based Platform among Older Adults through the COVID-19 Pandemic. Die Übung zum sicheren inneren Ort ist eine Imaginationsübung, bei der ein sicherer, geborgener und vor negativen äußeren Einflüssen geschützter Raum entwickelt wird, der regel-

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lien geteilt und besprochen wurden.32 O’Day et al. berichten für eine Studienpopulation von sozial ängstlichen Patient:innen ebenfalls von einer signifikanten Herabsetzung des Einsamkeitsempfindens nach einer Gruppenintervention, die kognitivbehaviorale Techniken und MBSR beinhaltete.33 Welche Angebote hat die Psychologische Studienberatung erfolgreich umgesetzt? »Hilf mir, es selbst zu tun« – dieses Postulat Maria Montessoris half auch in der Pandemie bei der Beratung. Von einem auf den anderen Tag konnten beraterische Hilfen nicht mehr in gewohnter Weise greifen, da ihnen die Grundlage entzogen wurde: das persönliche Einzel- oder Gruppengespräch, der Vortrag in einem Hörsaal oder auch die spontane persönliche Begegnung. Sicher war einzig die Unsicherheit, wie sich alles entwickeln würde. Die Psychologische Studienberatung der TU Dortmund war daher gefragt, die Beratungsarbeit zu digitalisieren und neue Konzepte zu schaffen, um die Ratsuchenden trotz der Kontaktbeschränkungen erreichen zu können. Der dafür konzipierte Handlungsplan sah vor, zunächst bereits etablierte Beratungsformate sofort digital anzubieten, parallel neue Konzepte für die nächsten Monate zu entwickeln und initial Soforthilfe für Studierende und Mitarbeitende durch fernmündliche Ansprechbarkeit sicherzustellen. Wie weiter oben bereits angesprochen, gewann über den Verlauf der vergangenen »Corona-Semester« insbesondere die Frage danach an Bedeutung, wie mit Einsamkeit und Isolation unter den gegebenen Voraussetzungen umgegangen werden kann. Nachfolgend wird daher ausgeführt, wie diese Frage beantwortet wurde und welche Maßnahmen die Psychologische Studienberatung deshalb gezielt ergriff, um Einsamkeitsempfindungen zu lindern und den Umgang mit sozialer Isolation selbstfürsorglich zu gestalten. Die psychosozialen Ressourcen, die Berger et al. als protektive Faktoren benennen, um vor Einsamkeit zu schützen,34 adressierte das Team der Psychologischen Studienberatung zunächst durch ausführliche Informationsmaterialien, die mit Einsetzen der Lockdown-Maßnahmen den Studierenden niedrigschwellig zur Verfügung gestellt wurden. Speziell für die Bedarfe der Studierenden und auch für die Mitarbeitenden wurden Handreichungen entwickelt, die eine erste Orientierung in der Arbeit von zu Hause aus geben sollten. Es wurde adressiert, wie der Arbeitsplatz

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mäßig, insbesondere aber auch in Momenten stärkerer Belastung, gedanklich aufgesucht werden kann. S. Shapira et al. (2021): Teaching and Practicing Cognitive-Behavioral and Mindfulness Skills in a Web-Based Platform among Older Adults through the COVID-19 Pandemic. E.B. O’Day et al. (2021): Reductions in social anxiety during treatment predict lower levels of loneliness. K. Berger et al. (2021): Einsamkeit während der ersten Welle der SARS-CoV-2-Pandemie.

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im Homeoffice sinnvoll gestaltet werden kann, wie Arbeits- und Freizeit voneinander abgekoppelt werden können und – hier besonders wichtig – welche Wege sich ergeben, um mit Kolleg:innen oder Mitstudierenden regelmäßig in Kontakt treten zu können (zum Beispiel in einer digitalen Mittagspause). Ergänzt wurden diese Materialien durch eine schnelle Umsetzung der bestehenden Beratungsangebote auf digitalem Wege. Die aktuelle Forschungslage eröffnet, dass die Anwendung von Entspannungsverfahren sinnvoll ist, um Einsamkeitsempfindungen zu lindern. In der Videoberatung zeigte sich, dass eine direkte Anwendung von MBSR-Verfahren nur schwer zu realisieren war. Demgemäß wurde verstärkt psychoedukativ gearbeitet, das heißt, die Vorteile solcher evidenzbasierter Verfahren wurden vermittelt, Materialien zum Selbststudium wurden digital mitgegeben und über den Verlauf der Beratung konnte gemeinsam evaluiert werden, welches Verfahren am ehesten zu den Bedürfnissen der jeweiligen Ratsuchenden passte, um Stress und das Gefühl von Einsamkeit reduzieren zu können. Bereits bestehende, universitätsinterne Netzwerke konnten – als weitere Strategie in diesen Zeiten – auch in der Pandemie gut genutzt werden. Es zeigte sich, dass durch die vorab geleistete, sehr weitreichende Netzwerkarbeit eine wertvolle Quelle der Kooperation während der Hochphasen der Pandemie geschaffen wurde. Wiederholt wurden kurzfristig wie auch längerfristig geplante Netzwerktreffen aller beratenden Akteure im universitären Kontext anberaumt, um Räume für fachlichen Austausch, gegenseitige Updates und – besonders wichtig – Bedarfsklärungen zu schaffen. Diese Netzwerke setzen sich zusammen aus den Studienkoordinierenden der verschiedenen Fakultäten, dem Hochschulsport und den Akteuren, die Studierende in unterschiedlichsten Anliegen beraten. »Was brauchen Studierende gerade?«, »Welche Herausforderungen müssen Mitarbeitende aktuell bewältigen?« und »Wie können wir als Beratungseinrichtung an beiden Stellen gezielt unterstützen?«, diese Fragen wurden wiederholt gestellt und halfen auch im laufenden Betrieb, Angebotsausrichtungen immer wieder zu modifizieren. Dabei fanden die Bedarfswechsel nicht nur beim Übergang vom gewohnten Leben in den Lockdown statt, sondern auch, als es wieder zurück in die vormals alltägliche Routine ging: Eine sehr wichtige Veränderung der studentischen Bedarfe wurde ausgelöst durch den Wechsel von Distanzlehre wieder hin zu Angeboten auf dem Campus. Fragen danach, wie mit den vielen zwischenmenschlichen Begegnungen umzugehen sei, und wie reale Kontakte zu Mitstudierenden aufgebaut werden können, die man eventuell seit der Aufnahme des Studiums noch nie gesehen hat, wurden lauter. Im Rahmen von Einzelgesprächen konnten diese Sorgen und Ängste adressiert und ein selbstfürsorglicher Umgang damit, unter Wahrung der eigenen Bedürfnisse nach Intensität und Schnelligkeit der Interaktionen, entwickelt werden. Selbstfürsorge bedeutet hier, dass die Belastung durch die schnellen Veränderungen validiert und nicht defizitär betrachtet wird, sie also ihre Gültigkeit erhält

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und nicht als Fehler angesehen wird: Ihr Vorhandensein ist demnach in Ordnung und in diesem Moment Teil der eigenen Lebensrealität. Fürsorge ist dem Duden nach ein »aktives Bemühen um jemanden, der dessen bedarf«. Die Selbstfürsorge ist also einfach gesagt das aktive Bemühen um einen selbst, inklusive der Anerkennung bestehender Herausforderungen, Emotionen und Belastungen. Die Selbstfürsorge ist eine wichtige Grundlage, um herausfordernden Situationen begegnen zu können. Wege zurück in die Präsenz an der Universität wurden in Ruhe vorbereitet und so gestaltet, dass möglichst kein Überforderungserleben, zum Beispiel durch eine zu schnelle und massive Konfrontation mit den Anforderungen des vormals normalen Universitätsbetriebs, auftrat. Die gerade angesprochene Intensität und Schnelligkeit der Interaktion wurde durch Ruhe und ein Vorgehen in eher kleineren Schritten entsprechend den Bedürfnissen der Ratsuchenden moderiert. Zumeist fand Stück für Stück ein Herantasten statt, vielmals wurde der Wunsch nach nicht zu viel Eile in den Beratungen deutlich. Dies führte kognitiv teils zu Konflikten, da Ratsuchende stressverschärfende Gedanken wie »Ich muss doch jetzt schnell wieder richtig einsteigen können!« hatten. Hier wurde dann zunächst an der Auflösung und Veränderung dieser Stressverstärker gearbeitet. Vor der Pandemie war Einsamkeit ein nicht überzufällig häufig anzutreffendes Beratungsanliegen, dem mit den eingangs genannten Strategien begegnet werden konnte. Bis auf die Interventionsebene der Kognitionen, wie sie bereits skizziert wurde, wurden die meisten Interventionen durch die Einführung von Kontaktbeschränkungen und weiterer Maßnahmen jedoch obsolet. Es bestand beispielsweise kaum mehr die Möglichkeit, Menschen in größeren Gruppen zusammenzubringen. Die bereits bestehenden Gruppenangebote wurden zeitnah in digitale Formate übertragen, was von den Studierenden sehr positiv aufgenommen wurde. Um Stabilität und Austausch zu unterstützen, wurden diejenigen Gruppenangebote in ihrer Frequenz erhöht, die offen sind, das heißt, die keinem festen und terminlich begrenzten Lehrplan folgen.35 Das bedeutet zum Beispiel, dass die Gruppe zum Schreiben von Abschlussarbeiten nicht mehr nur zweiwöchentlich, sondern wöchentlich angeboten wurde. Diese Änderung wurde sehr begrüßt und konnte mit Erfolg verstetigt werden. Die Studierenden beschrieben, dass der regelmäßige Austausch und die Möglichkeit, Mitstudierende zumindest digital zu sehen, selbst wenn sie nicht dem eigenen Studiengang angehörten, sehr förderlich war für den Aufbau eigener Motivation. Neben dem Konzipieren und Durchführen gezielter Einzel- und Gruppenangebote fungiert die Psychologische Studienberatung auch als Vermittlerin zwischen Studierenden: Eingangs zu diesem Absatz wurde Maria Montessori zitiert, da der 35

Das Prüfungscoaching beispielsweise umfasst eine feste Anzahl an Gruppentreffen und ist somit keine offene Gruppe, in die jederzeit eingestiegen werden kann.

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Grundsatz, Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten, sich als sehr sinnvoll erwies. Die Einschränkungen durch die Pandemie führten zu einem kreativen Aufblühen zahlreicher Ideen, wie auch in Isolation Gemeinschaft gelebt werden kann. Und diese Ideen versuchte die Psychologische Studienberatung aufzunehmen und mit den Studierenden zu teilen. Im Rahmen digitaler Vorträge oder Gruppenangebote, genauso aber auch im Rahmen der Einzelberatung, wurden Ideen und Inspirationen zur Vernetzung mit den Studierenden und Zuhörenden geteilt. Als Konsequenz daraus entstand ein bemerkenswertes Engagement der Studierenden, sich akademisch, aber auch privat zu vernetzen. Es wurden Messenger-Gruppen gegründet, »study with me-Streams« ins Leben gerufen, in denen sich Studierende zum gemeinsamen ortsunabhängigen Lernen in Videokonferenzen trafen, und wieder begonnen, sich gegenseitig Briefe zu schreiben. Dies sind nur einige ausgewählte Beispiele für die Kreativität, die sich aus kleinen Impulsen entwickelte und die für die Akteure in großen Teilen sehr entlastend wirkte. Gute Beratung oder gute Einzelpsychotherapie basieren auf dem Aufbau einer tragfähigen therapeutischen oder beraterischen Beziehung, die auch über das Beratungsende hinaus Bestand hat, nachhaltig ist und bei Bedarf wieder aktiviert werden kann. Wiederholt zeigte sich, dass auch in solchen Pandemiezeiten die Hilfe zur Selbsthilfe als Konzept dafür trägt und sich so etwa auch ehemalige Ratsuchende mit Fragen oder Sorgen wieder an die ehemaligen Berater:innen wandten, um Probleme zu klären und zu bewältigen. Gerade bei späteren Terminen, die nach einer abgeschlossenen Beratung angefragt wurden, wurde vielmals deutlich, dass in der Zwischenzeit die Beratungsinhalte intensiv weiterbearbeitet wurden und dass sich neue Routinen und auch Bewertungsmuster verstetigt hatten, die in ihrer Wirkung entlastend und ressourcenstärkend waren. Zu Beginn dieses Beitrags wurde auf die Wichtigkeit der Veränderung des kognitiven Umgangs mit Belastungserleben eingegangen. Die kognitive Umstrukturierung und deren Einbettung in einen Unterstützungskomplex, der hilft, das Erlernte auch auf andere Lebensbereiche zu übertragen, wurde angeführt. Uneingeschränkt zeigte sich auch vor dem Hintergrund der veränderten Beratungsbedarfe im Rahmen der Corona-Pandemie, dass diese Form der Hilfe von großem Nutzen für die Ratsuchenden war. Allein durch den veränderten Umgang, genauer gesagt durch die veränderte Bewertung der Situation, konnten Ressourcen wie Selbstwirksamkeit und Autonomie wieder freigelegt und nutzbar gemacht werden. Handlungsfähigkeit konnte wiederhergestellt werden, und Situationen, von denen vorher noch gedacht wurde, man sei ihnen hilflos ausgeliefert, wurden bewältigbar. Bezugnehmend auf Linehans Erläuterungen, dass unter anderem die Emotion »Einsamkeit« von Therapeut:innen beziehungsweise Beratenden antizipiert und

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»bearbeitbar«36 gemacht werden muss, um eine Reaktivierung von maladaptiven Verhaltensmustern zu vermeiden,37 half es in der Einzelberatung sehr, zunächst einmal alle Anliegen der Ratsuchenden zuzulassen. Dies ist kein neues Beratungsprinzip, sondern schon seit vielen Jahren erfolgreich gelebte Beratungspraxis. Doch gerade in Zeiten von vermehrter Unsicherheit erwies es sich als große Entlastung, über alles frei sprechen zu können – sowohl über Themen, die auf den ersten Blick trivial erscheinen, wie zum Beispiel das selbstständige Strukturieren des Tagesablaufes, als auch über Themen, die mit Scham oder anderen negativen Empfindungen behaftet sind. Die Abdeckung der Zeitspannen zwischen den Sitzungen durch das Verabreden von Handlungsmöglichkeiten (Aufsuchen eines Study-Streams, Eintragen in eine Messenger-Gruppe etc.) und die sehr ausführliche Klärung, wer, wann, wo und wie zur Seite stehen kann (TelefonSeelsorge, Psychologische Studienberatung, Notfallambulanz), sorgte bei den meisten Ratsuchenden für ein Gefühl der Sicherheit und des Aufgefangenwerdens. Das Bewusstsein, nicht allein zu sein und engagierte Ansprechpartner:innen zu haben, half deutlich, Ressourcen wieder frei werden zu lassen und zur Ruhe kommen zu können – und reduzierte dadurch natürlich auch das Gefühl von Einsamkeit.

6. Fazit Einsamkeit kann ein Gefühl von Machtlosigkeit und Kontrollverlust auslösen, insbesondere, wenn sich beinahe täglich neue Änderungen in der Umwelt und im alltäglichen Leben ergeben. Diese ständig neuen Änderungen stellten während der Corona-Pandemie den neuen Alltag dar. Für Beratungsstellen war das eine Doppelbelastung: Zum einen waren die Wichtigkeit und der Bedarf von Beratung in diesem Bereich deutlich erhöht, zum anderen mussten sie sich selbst immer wieder auf diese Neuerungen einstellen. Die Beratungssituation war unbekannt, es gab noch keine evidenzbasierten Interventionen. So war es wichtig, behutsam Interventionen aufzubauen, um auch in unbekannten Situationen sicher und richtig handeln zu können. Die ersten Forschungsarbeiten zeigen, dass diese Umsicht genau den Kern der Maßnahmen traf, der von der Zielgruppe als am hilfreichsten wahrgenommen wurde. Nun, da die meisten Kontaktbeschränkungen und Hygieneregelungen gelockert beziehungsweise ausgesetzt sind, nimmt das Thema Einsamkeit als Hauptanliegen

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Bearbeitbar heißt, dass die Emotion so greifbar gemacht werden muss, dass Beratende die bekannten und beherrschten Interventionen und Techniken an ihr anwenden und somit entsprechend an ihr arbeiten können. M.M. Linehan (2017): Dialektisch-Behaviorale Therapie.

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für eine Beratung wieder ab. Es ist aber nicht verschwunden und immer noch häufiger als zuvor Gegenstand von Beratungsterminen. Nämlich insbesondere in solchen Konstellationen, in denen beispielsweise durch Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe (entweder aufseiten der Ratsuchenden selbst oder von nahestehenden Menschen) immer noch ein erhöhtes Maß an Vorsicht und Verzicht gelebt werden muss. Einsamkeit wird in diesem Beitrag als ein Gefühl verstanden, das universitär und privat entstehen kann. Im akademischen Kontext können fehlende Lernpartner:innen, das Studieren ohne Präsenzangebote oder auch fehlendes Wissen über Vernetzungsmöglichkeiten an der Universität ein Gefühl von Einsamkeit hervorrufen, ebenso wie der fehlende oder erschwerte wissenschaftliche Diskurs, der im Präsenzstudium häufig sogar en passant entstehen kann. Privat erlebte Einsamkeit, die nicht aus eigenem Wunsch gesucht wird, ist häufig gekennzeichnet von sozialer Isolation, dem Fehlen von Ansprechpartner:innen oder der wahrgenommenen Unmöglichkeit, mit anderen Menschen in Kontakt treten zu können. Studierende und Mitarbeitende können durch unterschiedlichste Gründe (hier exemplarisch herangezogen die Corona-Pandemie) von Freund:innen und Familie, genauso aber auch von Kolleg:innen, abgeschnitten werden und sich plötzlich isoliert wiederfinden. Betroffene sehen sich dem Gefühl, das von Traurigkeit und einem Hilflosigkeitserleben geprägt sein kann, ausgesetzt. Hierdurch entstehen starke Belastungen, denen die Psychologische Studienberatung mithilfe der Einzel- und Gruppensettings proaktiv und evidenzbasiert begegnen möchte. Einsamkeit ist kein Phänomen einer bestimmten Altersgruppe, sondern kann lebensspannenübergreifend auftreten und zu einer massiven Belastung führen. Es gilt, diese zu reduzieren und Betroffene dahingehend zu unterstützen, aus eigener Kraft Einsamkeit zu überwinden (hier greift das Prinzip der »Hilfe zur Selbsthilfe«) und soziale Integration (erneut) leben zu können. Die größte Herausforderung, die die Corona-Pandemie in Bezug auf das professionelle Bearbeiten der Belastung durch Einsamkeit hervorrief, war die starke Beschneidung der bis dato etablierten Interventionsstrategien. Für die Psychologische Studienberatung zeigte sich, dass durch sehr gute und niedrigschwellige Ansprechbarkeit, eine stete Analyse der Bedarfe der Ratsuchenden sowie eine weitverzweigte Vernetzung eine bestmögliche Unterstützung der Studierenden gewährleistet werden konnte, die zum Glück äußerst tragfähig war.

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Die Psychologische Studienberatung der TU Dortmund In der Psychologischen Studienberatung der TU Dortmund werden Einzelberatungen, Gruppenangebote und verschiedene Vorträge für Studierende angeboten. Kern der Tätigkeit ist die Unterstützung der Studierenden beim Studienerfolg. Dieser kann auf rein akademischer, aber auch auf der persönlich-privaten Ebene gefördert werden. Die psychologische Studienberatung geht nicht vorrangig von einem Krankheitsverständnis aus, sondern bemüht sich um Unterstützung bei der Erarbeitung von Bewältigungsstrategien in schwierigen Lebenssituationen und um die Erweiterung der studienbezogenen Kompetenzen. Die Psychologische Studienberatung ist als Teil der Zentralen Studienberatung eine Serviceeinrichtung der TU Dortmund für ihre Studierenden und Beschäftigten. Von Einzelgesprächen über Gruppenangebote bis hin zu Vorträgen bietet die Psychologische Studienberatung eine Reihe an spezifischen aber auch individualisierten Angeboten für die Studierenden und Beschäftigten der TU Dortmund an. Kontakt TU Dortmund Zentrale Studienberatung – Psychologische Studienberatung Emil-Figge-Straße 61 44227 Dortmund E-Mail: [email protected]; [email protected] Webseite: www.tu-dortmund.de/psychologischeberatung

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833538/3db278c99cb6df3362456fefbb6d84aa/19-13-135dneu-data.pdf, letzter Besuch: 25. August 2022. Bursky, Mikell/Kosuri, Mahathi/Walsh Carson, Kaitlin/Babad, Sara/Iskhakova, Alexandra/Nikulina, Valentina (2021): The Utility of Meditation and Mindfulness-Based Interventions in the Time of COVID-19: A Theoretical Proposition and Systematic Review of the Relevant Prison, Quarantine and Lockdown Literature. In: Psychological Reports, S. 1–44. DOI: https://doi.org/10.1177/00332941211048734. Dewa, Lindsay H./Lawrance, Emma/Roberts, Lily/Brooks-Hall, Ellie/Ashrafian, Hutan/Fontana, Gianluca/Aylin, Paul (2021): Quality Social Connection as an Active Ingredient in Digital Interventions for Young People With Depression and Anxiety: Systematic Scoping Review and Meta-analysis. In: Journal of medical Internet research, 23. Jg., Nr. 12, S. e26584. Godara, Malvika/Silveira, Sarita/Matthäus, Hannah/Heim, Christine/Voelkle, Manuel/Hecht, Martin/Binder, Elisabeth B./Singer, Tania (2021): Investigating differential effects of socio-emotional and mindfulness-based online interventions on mental health, resilience and social capacities during the COVID-19 pandemic: The study protocol. In: PLOS ONE, 16. Jg., Nr. 11, S. e0256323. DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0256323. Holt-Lunstad, Julianne/Smith, Timothy B./Baker, Mark/Harris, Tyler/Stephenson, David (2015): Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality: A Meta-Analytic Review. In: Perspectives on Psychological Science, 10. Jg., Nr. 2, S. 227–237. DOI: https://doi.org/10.1177/1745691614568352. Holt-Lunstad, Julianne/Smith, Timothy B./Layton, J. Bradley (2010): Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review. In: PLOS Medicine, 7. Jg., Nr. 7, S. e1000316. DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1000316. Leibing, Eric/Hiller, Wolfgang/Sulz, Serge K.D. (Hg.) (2012): Lehrbuch der Psychotherapie, Band 3: Verhaltenstherapie. München: CIP-Medien. Lindsay, Emily K./Young, Shinzen/Brown, Kirk Warren/Smyth, Joshua M./Creswell, J. David (2019): Mindfulness training reduces loneliness and increases social contact in a randomized controlled trial. In: Proceedings of the National Academy of Sciences, 116. Jg., Nr. 9, S. 3488–3493. DOI: https://doi.org/10.107 3/pnas.1813588116. Linehan, Marsha M. (2017): Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Oberhaching: CIP-Medien. Matos, Marcela/McEwan, Kirsten/Kanovskỳ, Martin/Halamová, Júlia/Steindl, Stanley R./Ferreira, Nuno/Linharelhos, Mariana/Rijo, Daniel/Asano, Kenichi/Vilas, Sara P. (2021): The role of social connection on the experience of COVID-19 related post-traumatic growth and stress. In: PLOS ONE, 16. Jg., Nr. 12, S. e0261384.

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O’Day, Emily B./Butler, Rachel M./Morrison, Amanda S./Goldin, Philippe R./Gross, James J./Heimberg, Richard G. (2021): Reductions in social anxiety during treatment predict lower levels of loneliness during follow-up among individuals with social anxiety disorder. In: Journal of Anxiety Disorders, 78. Jg., S. 102362. DOI: https://doi.org/10.1016/j.janxdis.2021.102362. Perlman, Daniel/Peplau, Letitia Anne (1981): Toward a social psychology of loneliness. In: Personal Relationships in Disorder, hg. v. Steve Duck, Robin Gilmour, S. 31–56. London: Academic Press. Sampogna, Gaia/Giallonardo, Vincenzo/Del Vecchio, Valeria/Luciano, Mario/ Albert, Umberto/Carmassi, Claudia/Carrà, Giuseppe/Cirulli, Francesca/ Dell’Osso, Bernardo/Menculini, Giulia/Belvederi Murri, Martino/Pompili, Maurizio/Sani, Gabriele/Volpe, Umberto/Bianchini, Valeria/Fiorillo, Andrea (2021): Loneliness in Young Adults During the First Wave of COVID-19 Lockdown: Results From the Multicentric COMET Study. In: Frontiers in Psychiatry, 12. Jg., Artikel Nr. 788139. DOI: https://doi.org/10.3389/fpsyt.2021.788139. Schöttke, Henning (2010): Kognitive Techniken. In: Lehrbuch Psychotherapie, hg. v. Wolfgang Lutz, S. 337–356. Bern: Huber. Shapira, Stav/Cohn-Schwartz, Ella/Yeshua-Katz, Daphna/Aharonson-Daniel, Limor/Clarfield, Avram Mark/Sarid, Orly (2021): Teaching and Practicing Cognitive-Behavioral and Mindfulness Skills in a Web-Based Platform among Older Adults through the COVID-19 Pandemic: A Pilot Randomized Controlled Trial. In: International Journal of Environmental Research and Public Health, 18. Jg., Nr. 20, Artikel Nr. 10563. DOI: https://doi.org/10.3390/ijerph182010563. Sonnenmoser, Marion (2012): Einsamkeit: Einfluss auf den Therapieerfolg. In: Deutsches Ärzteblatt PP, 11. Jg., Nr. 1, S. 24–26. Wieczorek, Larissa L./Humberg, Sarah/Gerstorf, Denis/Wagner, Jenny (2021): Understanding Loneliness in Adolescence: A Test of Competing Hypotheses on the Interplay of Extraversion and Neuroticism. In: International Journal of Environmental Research and Public Health, 18. Jg., Nr. 23, Artikel Nr. 12412. DOI: https: //doi.org/10.3390/ijerph182312412. Wilken, Beate (2019): Methoden der kognitiven Umstrukturierung: Ein Leitfaden für die psychotherapeutische Praxis. 8. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer.

»Einfach mal reden« gegen Einsamkeit Entlastende Telefongespräche für alle ab 60 Jahren Amira Mahdi (Silbernetz e.V.) | Telefonisches Gesprächsangebot für ältere Menschen, Elke Schilling (Silbernetz e.V.) | Telefonisches Gesprächsangebot für ältere Menschen

1. Einleitung Einsamkeit ist durch die Corona-Pandemie verstärkt in den öffentlichen Fokus gerückt, trotzdem ist sie noch immer ein Tabuthema. Viele Menschen trauen sich nicht, über ihre Einsamkeit zu sprechen, manche gestehen sich selbst nicht ein, dass sie sich isoliert oder nicht wahrgenommen fühlen. Einsamkeit wird als Zeichen für soziales Versagen angesehen, als Schwäche. Und Schwäche ist nicht hoch angesehen in unserer Leistungsgesellschaft. Das gilt besonders für ältere Menschen. Es gibt allerdings keinen Grund, sich für Einsamkeit zu schämen, wichtig ist nur, sich Hilfe zu holen – und das geht am besten, indem man darüber redet. Einsamkeit tut nicht nur weh, sondern ist ein ernstzunehmender Risikofaktor für die Gesundheit und verringert die Lebenserwartung. Chronische Einsamkeit hat ähnliche Auswirkungen auf den Körper wie starkes Übergewicht oder das tägliche Rauchen von 15 Zigaretten: Sie schwächt das Immunsystem und erhöht die Wahrscheinlichkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und Demenz.1 Insofern ist die Bekämpfung von Einsamkeit kein schmückendes Beiwerk, sondern eine wichtige und notwendige Gesundheitsprävention. Eine solche Hilfe können sich Betroffene zum Beispiel bei Silbernetz holen, denn bereits »einfach mal zu reden«, kann schon eine große Unterstützung sein – wie die folgenden Berichte aus den unterschiedlichen Formaten des Hilfenetzwerkes für Menschen ab 60 Jahren zeigen.

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Vgl. J. Holt-Lunstad/T.B. Smith/J.B. Layton (2010): Social Relationships and Mortality Risk.

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2. Telefonieren gegen Einsamkeit in unterschiedlichen Lebenssituationen Einsamkeit kann auch ohne tatsächliche soziale Isolation eintreten. Nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben, dem Auszug der Kinder oder dem Tod der Lebenspartner:in stehen ältere Menschen vor einer neuen Situation. Die Kinder sind oft berufstätig und haben eigene Familien gegründet. Einsamkeit kann jede:n betreffen, sie bedeutet nicht, dass sich Angehörige nicht genug kümmern. Einsamkeit ist ein Gefühl und lässt sich nicht unbedingt an objektiven Kriterien – wie der Häufigkeit des sozialen Kontakts – messen, der Tag hat 24 Stunden und will gefüllt werden: Das ist gerade im höheren Alter gar nicht so einfach. Auch die Anrufenden am Silbertelefon befinden sich in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen. Es melden sich sowohl Menschen, die zu Hause wohnen, als auch Heimbewohner:innen. Viele Senior:innen sind mobilitätseingeschränkt, andere noch sehr mobil. Sie kommen aus allen sozialen Schichten, wobei am Silbertelefon oft von Armut betroffene Menschen anrufen. So auch die 72-jährige Daueranruferin, die erstaunlich gelassen bleibt, wenn sie sagt: »Es ist Monatsende, jetzt teilen Minka und ich uns die Dosen.« Minka ist ihre Katze und sie spricht von Katzenfutterkonserven.2 Es melden sich aber auch Senior:innen mit Angehörigen oder in einer Partnerschaft Lebende, die »einfach mal mit jemand anderem reden« möchten: so zum Beispiel eine Frau aus Süddeutschland, deren Mann an Demenz erkrankt ist und der immer nachfragt, mit wem sie spricht, wenn sie beim Silbertelefon anruft. Und dann gibt es die objektiv sozial isolierte 89-jährige Dame, die berichtet, seit zwei Wochen mit niemandem gesprochen zu haben, sich jedoch selbst niemals als einsam bezeichnen würde. Viele Menschen denken bei Einsamkeit im Alter vor allem auch an pflegebedürftige Personen oder Senior:innen, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Lage nicht mehr ihrem bisherigen Leben nachgehen können. Doch auch pflegende Angehörige sind oftmals von Einsamkeit betroffen. Zum einen ist häusliche Pflege sehr zeitintensiv und erschwert das Knüpfen und Aufrechterhalten von Kontakten, ungeachtet dessen, dass eigene Alltagsroutinen ebenfalls vollständig aufgelöst werden und die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund rücken. Zum anderen mangelt es oftmals an Verständnis für die besondere Lebenssituation pflegender Angehöriger. So meldete sich zum Beispiel Cornelia G. bei Silbernetz: Sie ist 67 Jahre alt und hat zwei erwachsene Töchter, die mehrere Hundert Kilometer entfernt wohnen und durch Beruf sowie kleine Kinder sehr eingespannt sind. Sie lebt in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt und pflegt ihren bettlägerigen Schwiegervater Ludwig G. (94). »Ich wünsche mir einfach jemanden, der mich versteht«, sagt sie. Cornelia hat zwar zwei 2

Da alle Gespräche bei Silbernetz vertraulich und anonym sind, wurden die persönlichen Angaben und Lebensumstände der geschilderten Personen verfremdet.

Amira Mahdi und Elke Schilling: »Einfach mal reden« gegen Einsamkeit

Freundinnen aus alten Zeiten und einige Bekannte, aber die winken beim Thema Pflege ab. Sie solle ihren Schwiegervater in professionelle Hände geben und ihr eigenes Leben genießen. »Das sehe ich aber anders«, sagt die ehemalige Erzieherin, »Familie ist füreinander da. In guten wie in schlechten Zeiten. Ich habe vor einiger Zeit ein Pflegeheim angesehen, aber die Atmosphäre hat mir überhaupt nicht gefallen, das ist nichts für Ludwig.« Mehrmals in der Woche ruft Cornelia beim Silbertelefon an, wenn sie es in ihren Tagesablauf einbauen kann und sich danach fühlt. Dort stellt niemand ihren Lebensentwurf in Frage, sie kann »einfach mal reden« und durch ein gutes Gespräch Kraft tanken. Einige Silbernetz-Telefonist:innen kennt sie inzwischen schon. Diese Vertrautheit macht die Telefonate für sie ebenso schön wie das Kennenlernen neuer Stimmen. Es tut ihr gut, auch einmal über andere Themen als die Pflege ihres Schwiegervaters zu sprechen und vom Pflege-Alltag abgelenkt zu werden sowie auf Verständnis für ihre Situation zu treffen. Das Silbernetz-Angebot richtet sich explizit an Menschen ab 60 Jahren, da es für diese Altersgruppe schwieriger ist, sich über Angebote zu informieren, die zu mehr oder intensiveren Außenkontakten beitragen. Es gibt viele Senior:innen, die fit im Umgang mit dem Internet sind und Spaß an ihrem Smartphone und den sozialen Medien haben. Zumindest auf zwei Drittel der Hochaltrigen trifft dies jedoch nicht zu.3 Die Mehrheit der Anrufenden bei Silbernetz gibt Folgendes an: Sie haben über Flyer oder Aushänge vom Silbertelefon erfahren, zum Beispiel bei Ärzt:innen, oder über das Fernsehen, wenn die Hotline-Nummer lange genug eingeblendet war, sodass die Senior:innen sie mitschreiben konnten.

3. Das Silbertelefon: einfach mal reden Die zentrale Säule von Silbernetz ist das Silbertelefon als erster Schritt der Wiederaufnahme sozialer Kontakte. Die Hotline ist anonym, vertraulich und kostenfrei für Menschen ab 60 Jahren erreichbar.4 Es braucht kein konkretes Problem, um anzurufen, und es gibt keine therapeutische Hilfe oder Fachberatung. Das Motto ist »einfach mal reden«. Silbernetz ist bewusst ein rein telefonisches Angebot nach dem Vorbild der britischen »Silver Line Helpline«5 . Am Telefon kann man offener sprechen, da es 3

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Seit Ende 2021 veröffentlicht das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) Erkenntnisse der neuen Studie über Hochaltrige ab 80 Jahren. Im fünften Teilbericht ist belegt, dass zwei Drittel der Hochaltrigen das Internet nicht nutzen (vgl. J. Wenner et al. [2022]: Soziale Eingebundenheit). Die Anrufe sind für die Senior:innen kostenfrei, die Telefongebühren liegen jährlich im hohen fünfstelligen Euro-Bereich und werden aus Spenden finanziert. Die Silver Line Helpline ist nach eigenen Angaben ein »kostenloser, vertraulicher Telefondienst nur für ältere Menschen«, der »Freundschaft, Gespräche und Unterstützung 24 Stunden am

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Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter

keinen Blickkontakt mit dem Gegenüber gibt und man das Gespräch jederzeit beenden kann. Durch die konsequente Anonymität fühlen sich die Anrufer:innen auch vor möglicherweise unerwünschten Hilfeangeboten geschützt. Täglich zwischen 8:00 und 22:00 Uhr treffen Anrufende bei Silbernetz auf ein offenes Ohr, zwischen Heiligabend und Neujahr sogar rund um die Uhr. So kann der Gesprächszeitpunkt selbst bestimmt werden. Diese Faktoren sorgen dafür, dass das Angebot möglichst niedrigschwellig ist. Die Gespräche sind anonym und vertraulich, was weiteren Schutz bedeutet. Die Mitarbeiter:innen melden sich mit einem Pseudonym und auch die Anrufenden bleiben anonym. Manche Themen sind dann leichter besprechbar – zum Beispiel schambesetzte Erlebnisse. So rief in den ersten Tagen des Krieges in der Ukraine ein alter Mann (Jahrgang 1928) am Silbertelefon an, der weinte und von schrecklichen Taten erzählte, die er im Zweiten Weltkrieg begangen hat. Meistens geht es in den Gesprächen um alltägliche Begebenheiten, wobei die Anrufer:innen und ihre persönlichen Anliegen sehr unterschiedlich sind. Da gibt es die Daueranrufer:innen, die nur ein gutes Wort zum Start in den Tag brauchen: Zum Beispiel erzählt der 75-jährige Mahmoud F., der sich gegen 8:30 Uhr meldet, dass er gefrühstückt hat, und verabschiedet sich nach zwei netten Sätzen wieder. Dann gibt es Daueranrufer:innen mit großem Redebedürfnis, die wirklich ein offenes Ohr brauchen und die Bestätigung, dass ihnen jemand zuhört. Ganz anders die Menschen, die darum bitten, dass die Telefonist:innen ein Thema vorschlagen, weil »in meinem Leben so wenig passiert. Ich weiß gar nicht, was ich Ihnen erzählen soll.« Eine hochbetagte Dame aus dem Norden bat darum, gemeinsam StadtLand-Fluss zu spielen. Insgesamt sind Einsamkeit, Krankheiten und Alltagssorgen die häufigsten Anliegen, die am Silbertelefon angesprochen werden. Alltagsbezogene Probleme wie die kaputte Waschmaschine, Streitigkeiten mit den Kindern oder den Nachbar:innen werden durch das Gespräch ein wenig leichter. Viele Menschen sind überrascht, wenn die Telefonist:innen am Silbertelefon berichten, wie viele Ältere von Liebeskummer berichten. Auch positive Rückmeldungen kommen in rund einem Drittel der Gespräche vor: Die älteren Menschen drücken ihre Dankbarkeit darüber aus, dass jemand da ist, der zuhört und positiv gestimmt ist. Mit dem ersten Corona-Lockdown im März 2020 verdoppelte sich die Zahl der Anrufe am Silbertelefon. Durch die Kontaktbeschränkungen riefen auf einmal auch vormals aktive und stark vernetzte Senior:innen an. Sie berichteten von Ängsten vor dem Virus, Schwierigkeiten bei der Impfterminvereinbarung, entfallenen Freizeitaktivitäten und dem Schmerz, die Kinder und Enkelkinder nicht sehen zu können. Vielen wurde bewusst, dass ihre verbleibende Lebenszeit begrenzt ist. Seit der Pandemie ist die Anzahl der anrufenden Männer signifikant gestiegen, sie verdoppelte Tag, 7 Tage die Woche« bietet (siehe https://www.thesilverline.org.uk/, Übersetzung durch die Autorinnen).

Amira Mahdi und Elke Schilling: »Einfach mal reden« gegen Einsamkeit

sich in etwa – war vorher bei jedem zehnten Gespräch ein Mann am Apparat, war dies jetzt bei jedem fünften Telefonat der Fall. Über 300.000-mal wurde die Silbernetz-Hotline-Nummer zwischen März 2020 und Juni 2022 gewählt.

4. Die Silbernetz-Freundschaften: wöchentliche persönliche Telefonate Wiltrud A. (79) ist in ihrer Mobilität stark eingeschränkt, aber geistig voll da. Sie würde am liebsten noch viel erleben, ist immer gern gereist und mag interessante Gespräche. Für die Befriedigung dieser Bedürfnisse fehlt professionellem Pflegepersonal und oftmals auch den Angehörigen die Zeit: »Wir haben extra einen modernen Pflegedienst ausgewählt, die Pflegepersonen sind reizend, aber leider immer so schnell weg«, sagt ihr Sohn Christian A. (48). So wie Wiltrud und ihrem Sohn geht es vielen Menschen. Deshalb bietet Silbernetz die Silbernetz-Freundschaften an, die einen intensiveren Austausch ermöglichen: Dabei werden interessierte Senior:innen mit »ihrem« oder »ihrer« Ehrenamtlichen vernetzt und einmal pro Woche für ein persönliches Telefongespräch angerufen. Inhaltlich sind die Gespräche frei, es gibt keinen definierten Ablauf und auch keine bestimmte Methode. Die Telefonate funktionieren anonym und kostenfrei über eine Schaltung bei Silbernetz. Über 185 regelmäßige Telefonfreundschaften waren im Juni 2022 aktiv. Es gibt inzwischen Telefonfreundschaften, die bereits seit drei Jahren bestehen. Das Tandem aus Judith M. und der Seniorin Barbara K. hat sich nach knapp drei Jahren entschieden, die Anonymität aufzugeben, damit die Silbernetz-Freundschaft zu verlassen, und eine »normale« Freundschaft einzugehen. Silbernetz ist so niedrigschwellig wie möglich angelegt: Um Interesse an einer Silbernetz-Freundschaft zu bekunden, müssen die Senior:innen sich jedoch selbst bei Silbernetz über die Hotline melden. Denn häufig rufen Angehörige von älteren Menschen an, um einen regelmäßigen Telefonkontakt für diese anzufragen. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass ein solches Vorgehen nicht funktioniert. Die älteren Menschen müssen diese Telefonfreundschaft selbst wirklich wollen und nicht aus Rücksichtnahme auf ihre Kinder oder Bekannten eingehen. Sonst sind die Kontakte, wenn sie überhaupt zustande kommen, nur von kurzer Dauer. Damit die Silbernetz-Freundschaften bereichernd sind, werden die Telefonpartner:innen sorgfältig ausgewählt: Das sogenannte »Matching«, also die Zusammenführung geeigneter Tandempartner:innen, ist aufwändig und dauert mitunter mehrere Monate. Eine Silbernetz-Mitarbeiterin führt mit beiden Seiten ein ausführliches Gespräch darüber, wie die Freund:in sein sollte (und wie nicht), und welche Themen besprochen werden können. Auf dieser Grundlage werden dann geeignete Freundschaftspartner:innen zusammengebracht. Der Aufwand lohnt sich, die Matches funktionieren meist sehr gut. Mitunter werden jedoch erst

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Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter

nach den ersten Gesprächen Eigenheiten sichtbar, sodass sich nicht der erwartete gute Kontakt ergibt. Die Ehrenamtlichen werden in der vorbereitenden Schulung auch darauf eingestellt, wenn »die Chemie nicht stimmt«, die Chance einer Neuvermittlung anzusprechen und schließlich in anderer Zusammensetzung neu zu beginnen. »Mein Senior bedrängte mich vom ersten Gespräch an immer wieder, ich solle ihm meine private Nummer geben, obwohl ich ihm sagte, das sei nicht Sinn der Silbernetz-Freundschaft. So musste ich ihm sagen, dass wir den Kontakt beenden«, teilte uns zum Beispiel eine Silbernetz-Freundin mit. In den regelmäßig angebotenen Supervisionen und kollegialen Beratungen können solche und andere Fragen bearbeitet werden. Die Ehrenamtlichen werden in einem zweitägigen Workshop auf ihre Aufgabe vorbereitet –Perspektivwechsel, Kommunikationstechniken, Rollenspiele und der Austausch zwischen den Ehrenamtlichen stehen auf dem Programm, das von professionellen Coaches geleitet wird. Die ehrenamtlichen Silbernetz-Freund:innen sind so unterschiedlich wie unsere Gesellschaft: in Bezug auf Alter, Lebenswelt und Motivation für das Engagement. Viele Ehrenamtliche sind dankbar für ihre guten Lebensumstände und wollen etwas zurückgeben – Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt wird von vielen erwähnt. Häufig werden auch private Beweggründe angeführt, wie zum Beispiel den Kontakt zur älteren Generation zu halten, wenn die Großeltern gestorben sind. Viele ältere Ehrenamtliche sehen bei Silbernetz die Chance, nach dem Eintritt ins Rentenalter einer sinnvollen und vielseitigen Tätigkeit nachzugehen. Manche wollen damit auch einer drohenden eigenen Einsamkeit entgegenwirken. Alle schätzen die Möglichkeit, mit nur einer Stunde Engagement pro Woche ein erfüllendes Ehrenamt ausüben zu können, das wirklich einen Unterschied im Leben eines Menschen machen kann. Für Wiltrud ist die Silbernetz-Telefonfreundschaft mittlerweile ein fester Bestandteil ihres Alltags. Sie hat immer einen Block in ihrer Nähe, auf dem sie interessante Informationen und Fragen notiert – für das nächste Gespräch mit Benjamin K. am kommenden Mittwochabend.

5. Fazit Einsamkeit hat viele Gesichter. Deshalb ist es unmöglich, eine Typologie der klassisch einsamen Person zu zeichnen. Aus dem gleichen Grund ist es auch so schwer, sich gegen Einsamkeit im Alter zu wappnen. »Niemand plant, einsam zu werden«, sagt unsere 81-jährige Ehrenamtliche Eveline H. Wenn es doch zu Einsamkeit kommt, ist die Arbeit von Silbernetz aber ein Beispiel dafür, wie ihr begegnet werden kann. Das Silbernetz ist ein telefonisches Angebot für Menschen ab 60 Jahren, die sich einsam fühlen oder »einfach mal reden« möchten.

Amira Mahdi und Elke Schilling: »Einfach mal reden« gegen Einsamkeit

Einsamkeit kann sich nicht nur unangenehm anfühlen, sondern stellt auch einen Risikofaktor für die Gesundheit und Lebenserwartung dar. Durch das Alter kann es zum Beispiel aufgrund von Mobilitätseinschränkungen schwer sein, Kontakte zu anderen Menschen zu halten oder aufzubauen. Ältere können in solchen Fällen das Silbertelefon anrufen, um anonym, vertraulich und kostenlos mit Silbernetz zu sprechen oder auf das Angebot der Silbernetz-Freundschaft zurückgreifen, bei dem langfristige Telefonfreundschaften angestrebt werden. Daneben können sich Anrufer:innen bei der Silberinfo über Angebote vor Ort informieren. Auf Einsamkeit im Alter muss besonders geachtet und reagiert werden, da es für Ältere schwieriger ist, sich über Angebote zu informieren, die zu mehr Verbundenheit führen.

Der Silbernetz e.V. Der bundesweit tätige Verein Silbernetz e.V. mit Sitz in Berlin wurde 2016 gegründet. Er bietet ein dreistufiges Angebot für Menschen ab 60 Jahren, die sich einsam fühlen. Am Silbertelefon finden Senior:innen täglich von 8:00 bis 22:00 Uhr unter 0800 4 70 80 90 ein offenes Ohr bei 20 Festangestellten und über 40 Ehrenamtlichen, um »einfach mal zu reden«. Anders als bei Krisentelefonen braucht es für ein Gespräch mit Silbernetz kein Problem und keine Notlage. Wenn sich Anrufende einen verbindlichen telefonischen Kontakt zu einer festen Ansprechperson wünschen, bietet sich eine Silbernetz-Freundschaft an: Hierfür werden interessierte Senior:innen mit einer persönlich zugeordneten ehrenamtlich engagierten Person vernetzt und dann einmal pro Woche für ein persönliches Telefongespräch angerufen. In vielen Telefonaten zeigt sich, dass die Anrufenden weitere Unterstützung benötigen oder offen für andere Angebote sind, um mit Menschen in Kontakt zu treten. Silbernetz führt also nicht nur freundschaftliche Gespräche, sondern informiert über weiterführende Angebote. Hierfür gibt es unter anderem auch die Silberinfo: Die Silbernetz-Mitarbeitenden informieren deutschlandweit zu Angeboten der Altenhilfe der Länder und Kommunen und stellen Kontaktinformationen bereit. Auch diese Angebote sind vertraulich, kostenfrei und anonym. Das Schlüsselerlebnis für die Gründung von Silbernetz im Jahr 2016 in Berlin war der einsame Tod des Nachbarn von Elke Schilling. Er war allein gestorben und lag wochenlang unbemerkt in seiner Wohnung. Ihr Unterstützungsangebot hatte er zuvor abgelehnt. Seit Jahren schon war sie als Seniorenvertreterin im Bezirk Mitte und Mitglied des Landesseniorenbeirates von Berlin auf die komplexe Problematik der Vereinsamung Älterer aufmerksam geworden. Nach diesem erschütternden Erlebnis zeigten ihr intensive Recherchen unter anderem, wie oft so etwas in Deutschland geschieht – etwa 300-mal im Jahr in jeder einzelnen deutschen Großstadt. Sie stieß dann auf die »Silver Line Helpline« in London – und gründete ein entsprechendes Pendant in Deutschland: Silbernetz.

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Besondere Lebensabschnitte, besondere Herausforderungen: Einsamkeit im Studium und Alter

Kontakt Silbernetz-Hotline Silbertelefon: 0800/4 70 80 90 Täglich von 8:00 bis 22:00 Uhr E-Mail: [email protected] Webseite: www.silbernetz.de

Literatur Holt-Lunstad, Julianne/Smith, Timothy B./Layton, J. Bradley (2010): Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review. In: PLOS Medicine, 7. Jg., Nr. 7, S. e1000316. DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1000316. Wenner, Judith/Albrecht, Andrea/Schäfer, Nicole/Wagner, Michael (2022): Soziale Eingebundenheit. In: D80+ Kurzberichte, Nr. 5. URL: https://www.dza.de/for schung/aktuelle-projekte/hohes-alter-in-deutschland-d80, letzter Besuch: 25. August 2022.

VII. Besondere Lebenslagen, besondere Einsamkeit: Soziale Angst, Wohnungslosigkeit und Armut

Unfreiwillig einsam Soziale Angst, Schüchternheit und Einsamkeit Julian Kurzidim (intakt e.V.) | Norddeutscher Verband der Selbsthilfe bei sozialen Ängsten

1. Einleitung Die treffende Übersetzung für »soziale Phobie« ist »Angst vor anderen Menschen«. Sie ist in der ICD-10 als psychische Störung mit dem Code F40.1 gelistet.1 Der intakt e.V. benutzt mehrere Begriffe, um das Problemfeld weit – nicht nur als Krankheit – zu umschreiben und um damit Menschen mit unterschiedlicher Vorgeschichte gezielter ansprechen zu können: Das Wort »Schüchternheit« benennt im Alltag ein leise-zurückhaltendes Auftreten, das Ausdruck einer sozialen Angst sein kann. Es soll diese Angst als Alltagsphänomen ohne Krankheitskontext zeigen und Menschen ansprechen, die noch keine psychotherapeutische Hilfe gesucht haben. »Schüchternheit« soll als Begriff auch als Ansatzpunkt dienen, im Rahmen einer »Schüchternenkultur« die positiven Seiten der mit sozialer Phobie einhergehenden Eigenschaften hervorzuheben – dieser Punkt wird später noch einmal gesondert aufgegriffen. Der Ausdruck »unfreiwillige Einsamkeit« soll dagegen eine den Betroffenen aus ihrem eigenen Alltag bekannte Folgeerscheinung beschreiben. Die meisten Gruppeninteressierten haben jedoch durch eine Diagnose den Begriff »soziale Phobie« kennengelernt. Viele Betroffene von sozialer Phobie zeigen übliche Angstsymptome, die biochemisch in einen »Kampfmodus« versetzen sollen: Hormonausschüttung, Anspannung, Wahrnehmungsverengung auf den Angstauslöser. Die Symptome Erröten und Schwitzen sind für andere sichtbar, wodurch ein Gefühl der »Peinlichkeit vor anderen« entstehen kann. Die Wahrnehmung im Akutfall kann sehr auf diesen

1

Die ICD-10 ist die »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (kurz »Internationale Klassifikation der Krankheiten«; ICD aus dem Englischen: »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems«). F steht dabei für psychische Störungen und Verhaltensstörungen, 40 für phobische Störungen.

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Besondere Lebenslagen, besondere Einsamkeit: Soziale Angst, Wohnungslosigkeit und Armut

Symptomen liegen und so die Angst per Zirkelschluss verstärken. Erythrophobie (Angst vor Erröten) ist daher ein verwandtes Krankheitsbild. Typische Angstsituationen sind das Sprechen vor anderen (vor allem öffentlich), Prüfungssituationen oder die eigene Meinung sagen und verteidigen. Informelles Reden wie Small Talk (in den intakt-Gruppen ein großes Thema) scheint zwar einfach zu sein, wird wegen seiner Bedeutung zum Kontaktaufbau aber häufig ebenfalls als Stressor empfunden. Soziale Ängste können spezifisch vor beziehungsweise in einzelnen dieser Situationen auftreten oder sich generalisiert als Selbstunsicherheit manifestieren, wie auch in den intakt-Gruppen immer wieder deutlich wird. Spezifische Ängste sind für andere aus deren Kenntnisstand oft nicht erkenn- und nachvollziehbar (»du bist ja gar nicht schüchtern«). Angstbesetzte Situationen werden häufig mit Stress durchlebt – oder vermieden. Ausweich- und Ersatzhandlungen können als weiteres Symptom gelten. Hier werden notwendige, sogar unbequeme Alltagsaufgaben herangezogen. Anstatt zum Beispiel Kontaktversuche zu anderen Menschen zu unternehmen, wird die Wohnung gereinigt. Ein solches Vermeidungsverhalten kann dazu beitragen, dass Einsamkeit auftritt oder verstärkt wird. Gesellschaftliche Ideale, wie Teamfähigkeit und Fröhlichkeit, und gruppenspezifische Normen verstärken das Bewusstsein dafür, welche Teile der eigenen Persönlichkeit vermeintlich verborgen werden sollten, zum Beispiel werden in Männerrunden Ängste vor der »Frauen-Anmache« verschwiegen. Nötig ist eine lange Zeit, um solche Regeln zu durchschauen und ihre Erfüllbarkeit zu prüfen – es braucht Zeit zum »Auftauen« gegenüber anderen Menschen. Auch das wird in den intakt-Gruppen so thematisiert – und akzeptiert. Die Gruppen geben Gelegenheit, sich dort diese Auftauzeit zu nehmen. Die Prävalenz von sozialer Phobie wird in verschiedenen Studien mit Werten von drei bis 13 Prozent angegeben.2 Die große Spanne erklärt sich aus den Kriterien der Untersuchungen: Es werden unterschiedlich lange Zeiträume (zum Beispiel zwölf Monate oder die komplette Lebenszeit) betrachtet, in denen die Vorkommenshäufigkeit einer Störung erfasst wird. Bei sozialen Ängsten besteht zudem auch eine hohe Dunkelziffer, die in Studien entsprechend nur schwierig berücksichtigt werden kann; das Problem besteht schließlich darin, nicht auffallen zu wollen, zu dürfen, oder zu können. Trotz der erwähnten Zahlen wurde soziale Phobie zu den »erfundenen Krankheiten« gezählt.3 Die Verteilung auf Frauen und Männer ist gleich.4

2 3 4

Vgl. H. Morschitzky (2002): Angststörungen, S. 87; Dietmar Schulte nach G. Lazarus-Mainka/S. Siebeneick (2000): Angst und Ängstlichkeit, S. 378. J. Blech (2003): Die Abschaffung der Gesundheit. Dietmar Schulte nach G. Lazarus-Mainka/S. Siebeneick (2000): Angst und Ängstlichkeit, S. 378.

Julian Kurzidim: Unfreiwillig einsam

Der Männerüberschuss in den intakt-Gruppen könnte durch gruppendynamische Effekte erklärt werden. Studien fanden eine Komorbidität5 zu Depressionen von 14 bis 50 Prozent, »je nach Diagnosekriterien«.6 Viele Selbsthilfegruppen zu Angst allgemein bedienen auch das Thema Depression. Zur Alkoholabhängigkeit beträgt die Komorbidität 20 Prozent;7 der Hinweis auf Hemmungsabbau unter Alkoholeinfluss (»Mut antrinken«) wird in Gruppen gern satirisch benutzt. Menschen mit Alkoholkrankheit finden sich in unseren Gruppen selten, da sie eher Alkoholtherapien in Anspruch nehmen. Zum Folgeproblem Arbeitslosigkeit – in den Gruppen überrepräsentiert – wird von den Betroffenen oft die folgende Erklärung herangezogen: In Vorstellungsgesprächen muss ein »guter Eindruck« in kurzer Zeit und in unbekannter Umgebung »rübergebracht« werden – eine Hürde, die mit einer sozialen Phobie besonders schwer zu nehmen ist. Ein Arbeitsplatz kann mit seinen verlässlichen Kontakten und Gesprächsthemen allerdings einen Rahmen bieten, in dem Unsicherheit und damit auch Einsamkeit abgebaut werden können. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass soziale Phobie und Einsamkeit häufig Hand in Hand gehen. Soziale Ängste tragen einerseits zur Entstehung von Einsamkeitsgefühlen bei, weil Interaktionen mit anderen Menschen häufig mit Stress erlebt und daher vermieden werden. Zum anderen können soziale Ängste Einsamkeit auch aufrechterhalten, weil die Überwindung der eigenen Einsamkeit Handlungen erfordert, die Menschen mit sozialen Ängsten besonders große Überwindung kosten.

2. Ursachen von sozialer Phobie und Einsamkeit Die Ursachen sozialer Angst sind so vielfältig wie Menschen mit sozialen Ängsten selbst. Über genetische Ursachen wird sowohl in der Wissenschaft als auch den intakt-Gruppen diskutiert. Auch die Gehirnbiologie (Synapsenstrukturen) wird oft herangezogen.8 Nach Erfahrung des intakt e.V. kann die Reaktion der Umwelt auf Menschen mit solchen Auffälligkeiten zu gegenseitigem Unverständnis, zur Ausbildung sozialer Ängste und damit auch zu Einsamkeit führen. Dieser Mechanismus wiederum kann verhaltenspsychologisch erklärt werden und wird im weiteren Verlauf genauer erläutert.

5 6 7 8

Komorbidität beschreibt eine Begleiterkrankung, die zusätzlich zu einer anderen Erkrankung auftritt. H. Morschitzky (2002): Angststörungen, S. 88. Beide Zahlen und Zitat: ebd. Vgl. zum Beispiel ebd., S. 167ff.

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Erklärungen, die auf nicht beeinflussbaren Gründen basieren, können als »nachträgliche Entlastung« benutzt werden, falls eine Verhaltens- oder Persönlichkeitsänderung scheitert. Sie entziehen dem Individuum gewissermaßen die Verantwortung für den Ist-Zustand und können – wie wir auch immer wieder in unseren Gruppen erleben – damit sogar als Vorwand missbraucht werden, um eine Therapie nicht zu beginnen. Eine Gruppe des intakt e.V. hat eine Liste möglicher Lebenssituationen zusammengestellt, die soziale Ängste und Einsamkeit begünstigen können.9 Sie enthält eine Vielzahl von Einzelgründen, die anhand von Oberbegriffen im Folgenden grob kategorisiert werden sollen: •









Lebensumbrüche: Verlust von Familienmitgliedern, Ablösung vom Elternhaus, Ende einer Lebenspartnerschaft, Verlust der Arbeitsstelle, Umzug in eine neue, fremde Umgebung Verlorene Lebensbalance: übermäßiges Arbeiten, Schichtdienst, Vernachlässigung der Beziehung beziehungsweise von Freundschaften, im Alltag ausgebrannt beziehungsweise leer sein Krisen: eine individuelle, belastende Lebenssituation, innere Ängste oder Depressionen, eine körperliche oder seelische Verletzung beziehungsweise Misshandlung Defizite: eine körperliche Beeinträchtigung, Abhängigkeit oder Sucht (Drogen, Alkohol, dominante Eltern oder toxische Beziehungen), Mutlosigkeit, allein neu zu beginnen Sonstiges: Manche fühlen sich ganz einfach einsam und allein im Leben und sind es somit auch. Dieser letzte Punkt lässt auch die Folgerung zu, dass es nicht immer nötig ist, den Grund für soziale Ängste oder Einsamkeit zu suchen beziehungsweise ihn zur Vorbedingung einer Therapie zu machen. Persönlicher Leidensdruck ist Berechtigung genug, Hilfe zu suchen.

Die Liste der Alltagsgründe sagt nichts über psychische Mechanismen aus, weshalb im Folgenden ausgewählte psychologische Modelle exemplarisch aus Perspektive des intakt e.V. skizziert werden. So umfassen lerntheoretische Erklärungsansätze für soziale Phobie die klassische und operante Konditionierung sowie das Imitationslernen. Das Assoziieren eines zuvor neutralen Reizes mit einem anderen (zum Beispiel emotional besetzten) Reiz, der nach wiederholter Darbietung eine bestimmte Verhaltensweise auslöst, wird als klassische Konditionierung bezeichnet. Sie bietet einen lerntheoretischen Erklärungsansatz für soziale Phobie. Berühmt ist Pawlows Experiment mit Hunden, denen eine Verbindung von Tonsignal und Futter antrainiert

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intakt e.V. (Hg.) (2018): Du bist nicht allein, S. 5.

Julian Kurzidim: Unfreiwillig einsam

wurde. Wichtig ist, dass beide Reize (hier Futter und Ton) verlässlich im erkennbaren Zusammenhang dargeboten werden und so eine – immer gleiche – Reaktion auslösen. Diese erlernte Reaktion (hier Speichelfluss) kann sich stabilisieren und sogar auf andere, dem konditionierten Reiz (Ton) ähnliche Reize ausweiten. Dieser Mechanismus spielt auch beim Menschen in Bezug auf Lernprozesse in den unterschiedlichsten Lebensbereichen eine wichtige Rolle.10 So könnte Angst durch die erlernte Verknüpfung eines neutralen Reizes mit einem negativen Ereignis ausgelöst werden. Die klassische Konditionierung wurde um die operante Konditionierung erweitert. Auch diese wurde in Tierversuchen nachgewiesen.11 Bei der operanten Konditionierung wird eine bestimmte Verhaltensweise durch einen angenehmen oder negativen Reiz bekräftigt oder gemindert. Bei einer sozialen Phobie kann sich in der konditionierten Situation (oft durch Zufall) eine Lösung finden, dem unangenehmen Reiz zu entkommen. Es wird damit möglich, die Angst kurzfristig abzustellen oder ganz zu vermeiden. Durch mehrmaliges Ausführen wird diese Reaktion, das Vermeiden des Reizes, ausgebildet und als kurzfristiger Erfolg erlebt. Doch die scheinbare Lösung kann zum Problem werden: Die durch die operante Konditionierung bedingte Vermeidung kann Erfahrungen verhindern, anhand derer geprüft wird, ob der vermiedene Reiz noch besteht. Eine Löschung der klassischen Konditionierung erfolgt nicht.12 Aufgrund von negativen Erfahrungen kann die Erwartung entstehen, keine Kontrolle gegenüber dem aversiven beziehungsweise konditionierten Reiz zu haben, wodurch es zu einer sogenannten »gelernten Hilflosigkeit« kommen kann, die sich in passivem »Über-sich-ergehen-Lassen« äußert.13 Übertragen auf soziale Phobie bedeutet das, dass sowohl Vermeidungsverhalten als auch bloßes »Aushalten« häufig nicht zu einer Besserung der Symptomatik beitragen. Diese Mechanismen können ebenso auf Erfahrungen mit Einsamkeit bezogen werden: Ein Mensch, der sich als einsam empfindet, vermeidet nach unangenehmen Erfahrungen womöglich den Kontakt zu anderen, anstatt diese Erlebnisse durch positive Erfahrungen zu überlagern. Dadurch kann sich das Gefühl von Einsamkeit verstärken. Das gleiche kann jedoch auch für Menschen gelten, die sich überwinden und sozialer Interaktion nicht aus dem Weg gehen. Sofern sie sich zum Beispiel gegenüber dem damit verbundenen Stress als »ohnmächtig« und »ausgeliefert« erleben,

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Manche Diktaturen missbrauchten den Mechanismus der Konditionierung sogar, indem sie in ihren Folterkammern wie zufällig Alltagsgegenstände platzierten, denen ihre Opfer später, zum Beispiel im sicheren Asylstaat, häufig begegneten. Vgl. dazu J. Malms (Juli 1998): Folter, S. 38. Vgl. G. Lazarus-Mainka/S. Siebeneick (2000): Angst und Ängstlichkeit, S. 158. Vgl. Dietmar Schulte nach ebd., S. 384. Vgl. ebd., S. 166.

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kann auch diese Erfahrung Gefühle von Einsamkeit aufrechterhalten oder intensivieren. Eine Angststörung entsteht nach den Modellen der Konditionierung, wenn eine objektiv harmlose Situation bewusst oder unbewusst als gefährlich bewertet wird, also von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen wird, weil entsprechende Reize miteinander verbunden wurden. »Überdauernde irrationale Überzeugungen führen somit zu aktuellen dysfunktionalen Kognitionen, […] die der Realisierung der eigenen Intentionen nicht angemessen sind oder sie behindern.«14 Zu Einsamkeit führen kann zum Beispiel eine konditionierte Vermutung wie »Die anderen wollen mich nicht.« Hinzu kommt, dass sich diese Kognitionen auch durch logisches Denken nicht unbedingt entkräften lassen, da Angst und Konditionierung stark verankert sein können. Konditionierung muss nicht am eigenen Leib erlebt werden,15 sondern kann auch durch »Modelllernen« erworben werden, indem Verhaltensweisen anderer Personen und deren Reaktionen auf eine tatsächliche oder als solche erlebte Gefahr beobachtet und imitiert werden, oder auch durch Instruktionen beziehungsweise die Vermittlung von Informationen. Dies geschieht vor allem, wenn sich die beteiligten Personen ähnlich sind oder in einer guten Beziehung zueinander stehen. »Auch der Status des Vorbildes beeinflusst den Grad der Imitation, je höher der Status, desto intensiver wird das Verhalten des Vorbildes vom Beobachter nachgeahmt.«16 Bei all dem bilden natürlich dennoch die eigenen Erfahrungen den Hintergrund: »Dies bedeutet, dass ein und dasselbe Ereignis bei verschiedenen Personen unterschiedliche Emotionen auslösen kann bzw. sogar unterschiedliche Emotionen bei einem Menschen zu verschiedenen Gelegenheiten.«17 Anhand des Modelllernens entstehen auch Konzepte darüber, welche Verhaltensweisen in der Gesellschaft grundsätzlich als positiv und welche als negativ bewertet werden.18 Im Themenfeld soziale Ängste und Einsamkeit bedeutet dies, dass nach den Lerntheorien die Angst vor sozialer Interaktion mit der Anzahl beziehungsweise der Intensität der Ablehnungserfahrungen zunehmen kann. Kontaktabbruch durch andere (»einen Korb bekommen«) oder unangemessen harte Kritik können die Rolle des unangenehmen Reizes einnehmen. Viele Berichte von Opfern von Mobbing in den intakt-Gruppen können hier als Beispiel gelten. Daraus kann der oben beschriebene Zirkel aus Angst, Vermeidungsverhalten und dem Ausbleiben positiver Erfahrungen entstehen. Dieser geht häufig auch mit Einsamkeit einher.

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Dietmar Schulte nach ebd., S. 391. So Dietmar Schulte nach ebd., S. 385. Ebd., S. 184, hier ohne die Hervorhebung im Original. Paul M. Salkovskis nach S. Rachman (2000): Angst, S. 78. Vgl. H. Morschitzky (2002): Angststörungen, S. 282.

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3. Soziale Angst und Einsamkeit – Ein Teufelskreis Die einzelnen Ursachen sowohl für soziale Angst als auch für Einsamkeit stehen im Alltag natürlich nicht allein. Sie können sich zu einer zirkulären Kausalkette verbinden. Auf die kleinere Angst, die mit dem Gefühl des »Andersseins« verbunden ist, folgt eine größere, zum Beispiel durch Mobbing, für das meist »auffällige« Personen – beispielsweise mit für andere bemerkbaren Ängsten – als Ziel gewählt werden. Mobbing kann diverse Folgen wie eine Kündigung, eine lange krankheitsbedingte Abwesenheit bis hin zu Selbstmord haben. Untersuchungen ergaben, dass Opfer von Mobbing ein höheres Angstempfinden und hohe Komorbiditäten zu anderen Angststörungen aufweisen.19 Kontakt zu anderen wird erst recht vermieden, »vorsorglich« auch zu Nichtmobbenden – Vertrauen wird nur schwer aufgebaut. Dadurch können soziale Ängste abermals Gefühle von Einsamkeit verstärken. Diese Mechanismen werden auch in unseren Gruppen regelmäßig problematisiert, ebenso wie frühere Sozialisierungsfaktoren. So berichten unsere Mitglieder zwar von dem Wunsch des Elternhauses und der Schule nach grundsätzlichem Lebenserfolg des Kindes, aber auch von deren »Therapieversuchen«, die jedoch viel zu oft inkompetent oder nicht zielführend waren; unter anderem hergeleitet aus unhinterfragten Traditionen oder eigenen Traumata aus der jeweiligen Biographie (»das wird schon«, »Jungs weinen nicht«, »Helikoptereltern«). Reaktionen dieser Art sind oft Verstärker der psychischen Probleme: Die »eigene Welt« als Rückzugsort wird noch einsamer, der »kulturelle Abgrund« zu anderen noch tiefer. Die spezifischen Herausforderungen, die mit sozialen Ängsten und Einsamkeit zusammenhängen, erschweren das Finden eines Auswegs aus diesem Teufelskreis zusätzlich. In einer extrovertierten Welt, die Präsentation belohnt, wird soziale Phobie als defizitär wahrgenommen. So ist die einheitliche Wahrnehmung unserer intakt-Mitglieder. Scheinbar bestätigt sich damit das Vorurteil, Menschen mit psychischem Behandlungsbedarf würden als »minderwertig« eingeschätzt. Hilfesuche erscheint damit als Eingeständnis von Schwäche – als wäre sie eine Bestätigung dieser Einschätzung oder des Mobbings. Ein Blick in unsere Zahlen stützt diese Beobachtung. Die Gruppen des intakt e.V. sind trotz der hohen Verbreitung sozialer Ängste schwach besucht, viele Interessierte berichten von mehreren gescheiterten Anläufen vor dem Erstkontakt: »Ich habe vier Anläufe gebraucht, um einmal nach der Zeit zu fragen.«20 Anderen fehlt das soziale Netz, das sie zum Erstkontakt auffordert und diesen erleichtert (zum Beispiel durch Begleitung beim ersten Gruppenbesuch). Die eigene Angst kann dadurch die Inanspruchnahme von Unterstützung verhindern.

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Zum Beispiel H. Leymann (1993): Mobbing, S. 21; NCS-Studie bei H. Morschitzky (2002): Angststörungen, S. 157. So lautete die Überschrift über einer Vorstellung der intakt-Gruppe Magdeburg, zitiert nach B. Ahlert (30. Juni 2007): Gemeinsam aus der Isolation.

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Wie groß die Anzahl der scheiternden Hilfesuchenden ist, bleibt leider in der Dunkelziffer verborgen. Und auch, wenn der erste Schritt der Kontaktaufnahme gemacht ist, warten weitere Hürden auf Personen mit sozialen Ängsten. Sie benötigen eine längere »Auftauphase« als viele andere, bevor sie mit neuen Menschen »warm werden«. In bestehenden Gruppen kann es noch schwieriger sein. So berichten viele Gruppenmitglieder davon, Anschluss besser (oder nur) zu Menschen zu finden, die sich untereinander noch nicht kennen und noch keine Gruppenstruktur ausbilden konnten.

4. Positive Seiten sozial ängstlicher Menschen Der intakt e.V. möchte als Selbstbetroffenen-Verein das Thema nicht auf seinen Problembezug reduzieren. In der Vereinsarbeit zeigt sich immer wieder, dass die von Betroffenen oft als störend empfundenen Eigenschaften »schüchterner« Menschen auch positives gesellschaftliches und persönliches Potenzial bergen. Angst ist eigentlich ein lebensnotwendiges biologisches Programm, das als Frühwarnsystem einen guten Zweck erfüllt: »Unsere Gesellschaft wäre ein CatcherRing, wenn wir nicht […] eine gesunde Angst vor Blamage hätten.«21 Entsprechend lassen sich die Probleme von Schüchternen als Übertreibung positiver Eigenschaften sehen: • • • • • •

Schüchterne denken nach, bevor sie etwas tun – leider zu viel, um es tun zu können. Sie machen ihre Aufgaben gut – leider zu gut und auf Kosten anderer Anforderungen, aus Angst, sich Kritik einzufangen.22 Sie nehmen Rücksicht auf andere – dabei leider nicht auf sich. Sie drängen sich nicht in den Vordergrund – dafür leider in den Hintergrund. Sie unterdrücken niemanden – aber leider sich selbst. Schüchterne können Dinge aus Sicht anderer sehen oder, wie es ein japanisches Sprichwort ausdrückt, »die Luft lesen«; eine Notwendigkeit, um befürchteter Kritik vorbeugend aus dem Weg zu gehen. Leider zeigt sich darin die »Erziehungskeule« »Was sollen die Leute denken?« und kann einen Anlass zu Einsamkeit geben, durch Vermeidung von möglichen Konflikten und damit auch dem Kontakt zu anderen Menschen.

Gesellschaftliche Mechanismen der Stigmatisierung und Benachteiligung werden von vielen Emanzipationsbewegungen beschrieben und lassen sich bis zu einem ge21 22

B.J. Carducci (2002): Erfolgreich schüchtern, S. 29. Ich hoffe, auch dieser Text wurde besser als befürchtet.

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wissen Grad auch auf soziale Ängste und Einsamkeit übertragen. Die von der Frauenbewegung thematisierten Probleme »Gehaltslücke« und »gläserne Decke« treffen auch Menschen mit »schlechter Verkaufe«, können aber zu Herausforderungen umgedeutet werden, die auch einen wichtigen Impuls für die Gesellschaft als Ganzes geben. Sie bedingen eine höhere Notwendigkeit zum Querdenken23 , der Suche nach alternativen Wegen, weil der übliche versperrt ist und nie zur Gewohnheit werden konnte. Ein Gruppenmitglied berichtete zum Beispiel von Sport in seiner Jugend, den er als Kompensation seiner »geringen« Attraktivität betrieb und der ihn dann doch noch »attraktiver« machte. Zeigen sich erhöhte Leistung und disruptive Lösungen, wird sich dies spätestens beim Wegfall der Benachteiligung zum Vorteil verwandeln. Ein auffälliger Anteil benachteiligter Minderheiten zeigt sich nicht nur »unten«, sondern auch »ganz oben«, zum Beispiel bei Nobelpreisen. Ein Beispiel dafür ist das Phänomen der »Nerds«, deren Bastelei in der einsamen Garage zum Weltstandard wird. Warum ist es ausgerechnet »der Nerd« Bill Gates, dem die Weltherrschaft per Corona-Krise vorgeworfen – und damit zugetraut – wird? Ängstliche Menschen brauchen allerdings Zeit, ihre Fähigkeiten auch zu zeigen, und dadurch ein Umfeld, das solche zusätzlichen Ressourcen wie Zeit gewährt. Spätestens wenn sie im Umgang mit ihrem aktuellen Umfeld vertrauter und damit sicherer werden, zeigen sie unerwartete Stärken.24 Dies ist ein Grund, auch »Unscheinbaren« eine Chance zu geben, zum Beispiel, indem man ihnen zunächst in einem Praktikum die nötige »Aufwärmzeit« einräumt.

5. Hilfe bei Sozialer Phobie Soziale Angst und Einsamkeit sind kein unausweichliches Schicksal. Der beschriebene Teufelskreis aus Angst, Vermeidungsverhalten und Einsamkeit kann meist durchbrochen werden, wodurch auch die Stärken schüchterner Menschen zum Vorschein kommen können. Wie bereits dargelegt, ist dies nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene wichtig. Es gibt viele Hilfsangebote und Strategien, die dazu beitragen können, sich aus diesem Teufelskreis zu befreien und die eigene Situation zu verbessern. Manche dieser Strategien können im 23

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Das Wort Querdenken wird insbesondere zurzeit leider des Öfteren vermieden, weil es von extremistischen Bewegungen missbraucht wird. Mir ist es aber andersherum lieber: Wenn diese Bewegungen das Wort vermeiden würden, weil es von mir benutzt wird. Deswegen benutze ich es und präsentiere diesen Gedankengang als Beispiel für mein eigenes Querdenken. Viele Beispiele, wie sich eine »kranke« Persönlichkeit als Basis für Erfolge nutzen lässt – und die Gesellschaft davon profitiert – finden sich bei B. Bandelow; auch soziale Phobie wird dort mehrfach genannt: B. Bandelow (2006): Celebrities, S. 136, 145, 231.

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Rahmen unserer Selbsthilfegruppen angewandt oder erlernt werden, auf andere, darüber hinausgehende Hilfsmittel weisen wir Betroffene im Rahmen unserer Vereinstätigkeit hin. Psychotherapie Zur Angsttherapie gibt es verschiedene psychotherapeutische Ansätze, die sich auf unterschiedliche psychologische Theoriestränge wie etwa die Psychoanalyse, den Behaviorismus oder den Kognitivismus beziehen und Elemente aus diesen kombinieren: So wurde bei Angststörungen die Erweiterung der Psychoanalyse durch die Konfrontation – also durch ein verhaltenstherapeutisches Element – bereits von Freud postuliert.25 Basierend auf den Therapieerfahrungen innerhalb unserer Gruppen lassen sich Therapieansätze folgendermaßen exemplarisch charakterisieren: Therapie gegen soziale Phobie kombiniert unserer Erfahrung nach häufig Gespräche, soziales Kompetenztraining und Übungen zur Angstsituation.26 Übungen zu Angstsituationen erfolgen häufig im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie und können in verschiedenen Intensitäten stattfinden: Die »Desensibilisierung« besteht aus kleinen Schritten als Annäherung an die Angstsituation. Sie können abgebrochen und/oder wiederholt werden, bis die Situation gewohnt und die Angst verschwunden ist. Das »Flooding« dagegen setzt sofort mit der höchsten Angststufe ein, »die Reizüberflutung verhindert das Auftreten von Vermeidungsverhalten«.27 Lernziel ist es, in der Angstsituation zu verharren, sie zu ertragen und dabei zu lernen, dass sie in Wahrheit ungefährlich ist.28 Bei Angst vor Ablehnung kann eine solche Übungssituation darin bestehen, in auffälliger bunter oder schäbiger Kleidung durch fremde Straßen zu gehen, die Steigerung wäre solch ein Gang im eigenen Wohnort. Die Therapiemethoden können jedoch – besonders bei hoher Intensität – selbst zum Objekt einer »katastrophisierenden Risikoerwartung« werden, die einem Therapiebeginn im Weg steht. Auch davon haben bereits Mitglieder der intakt-Gruppen berichtet. Beispiele dafür, die sich gleich zu Beginn oder noch vor einer therapeutischen Maßnahme zeigen können, sind häufig Hemmungen vor dem Gruppenbeitritt oder Therapieantrag oder wiederholtes Aufschieben des ersten Besuchs angesichts der Frage »Was kommt da auf mich zu?« sowie angesichts von Gedanken an Therapie-Klischees beziehungsweise von Medienberichten über harte Überwindungsübungen. Das Werbeflugblatt des intakt e.V. kann aus solchen Gründen monatelang auf dem Schreibtisch liegen bleiben, bevor sich Betroffene schließlich zur

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Vgl. H. Morschitzky (2002): Angststörungen, S. 412. Vgl. ebd., S. 367f. F. Strian (2003): Angst und Angstkrankheiten, S. 120. Vgl. H. Morschitzky (2002): Angststörungen, S. 345.

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Teilnahme an einer unserer Gruppen überwinden können; ähnliches gilt für psychotherapeutische Maßnahmen. Die erfolgreiche Therapierung sozialer Phobie wirkt sich in der Regel auch positiv auf das Einsamkeitsempfinden aus, indem sie die »Außenwirkung« verbessert. Die eigene Problematik wird bearbeitet und dadurch unauffälliger für andere. Sie kann damit als Hindernis im Kontakt zu anderen verschwinden. In der Therapie kann auch dieser »Eindruck« auf andere zum Thema gemacht und durch Übungen verändert werden. Auch die intakt-Gruppen thematisieren diesen Aspekt, auch dort kann zum Beispiel ein Bewerbungsgespräch im Nachhinein genau betrachtet, analysiert und kommentiert werden. Eigene Stärken nutzen Eigeninitiative ist bei jeder Angstbewältigung extrem wichtig. Zwar sind andere, vermeintlich Stärkere, »die Umstände« und »das System« beteiligt an der Ausbildung einer sozialen Phobie und dem Rückzug in Einsamkeit. Aber sie werden eben nicht unbedingt etwas tun, um den Weg zurück in die Gesellschaft zu erleichtern. Viele Regalmeter an Ratgeberliteratur zeugen von der hohen Relevanz der Eigeninitiative und lassen sich in zwei Worten zusammenfassen: »Trau dich!« Sozial ängstliche Menschen haben Stärken, nur liegt ihre Selbstwahrnehmung in der Regel auf den Schwächen. Das ergänzende Bewusstmachen der eigenen Stärken kann helfen; auch dann, wenn Schwächen sich nicht entkräften lassen. Die Idee des intakt e.V., nach dem Vorbild anderer Emanzipationsbewegungen, typische Vorteile als »Schüchternen-Kultur« zu präsentieren, fand in der Zielgruppe kaum Resonanz. Sie widerspricht zu sehr den Einsamkeitserfahrungen, den vielen Niederlagen im »Lebenskampf«.29 Der Wunsch, »normal« zu sein, ist bei vielen stärker als der Wunsch, sich authentisch zu zeigen. Dennoch lassen sich viele der angeblichen »Schwächen« als Stärken umdeuten. Näher an der Zielgruppe ist das Konzept der »Signaturstärken« nach Seligman. Gemeint sind Stärken und Aktivitäten, »die das Wesen eines Menschen ausmachen.«30 Sie geben ein Gefühl der Authentizität und Begeisterung bei ihrer Ausübung. Sie führen dadurch nicht zur Erschöpfung, sondern zu großen Lernfortschritten und weiteren Ideen. Der Nutzen dieser Stärken muss sich nicht sofort in wichtigen Lebensbereichen wie zum Beispiel dem Arbeitsplatz niederschlagen. Auch wenn sie sich »nur« in einsamen Hobbys zeigen, können sie an diesen bewusst werden. Die intakt-Gruppen versuchen daher, an diesen Signaturstärken

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So legen es die Berichte aus den intakt-Rundbriefen nahe, die online auf der Webseite des Vereins einsehbar sind. Insbesondere interessant für diese Thematik sind die Briefe intakt e.V. (Hg.) (2006): Rundbrief August 2006; intakt e.V. (Hg.) (2012): Rundbrief Dezember 2012; intakt e.V. (Hg.) (2013): Rundbrief Juni 2013. M.E.P. Seligman (2003): Der Glücks-Faktor, S. 259.

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anzusetzen und sie dem Einzelnen zu verdeutlichen. Das Ziel ist es, die Lebenszufriedenheit zu erhöhen, was idealerweise auf andere Lebensbereiche abstrahlt. Sie ergeben oft auch interessante Gesprächsthemen und erleichtern damit Kontakte. Unterstützung durch Angehörige Trotz der Bedeutung von Eigeninitiative können neben offiziellen Hilfsangeboten auch Familienmitglieder, Freunde und Bekannte dabei helfen, soziale Ängste anzugehen. Sich selbst zu trauen und die eigene Stärke nutzen heißt also nicht, diesen Weg allein beschreiten zu müssen. Dabei kann insbesondere das nahe Umfeld einiges zur Unterstützung beitragen. Angehörige sollten beispielsweise ihre Interaktion mit sozialphobischen Verwandten daraufhin überprüfen, inwieweit sie »co-ängstlich« sind. Welche Auswirkung die fremde Angst auf sie selbst hat und welche eigenen Bedürfnisse diese Angst erfüllt, sollten sie wissen. Auch über eigene psychische Probleme sollten sie sich im Klaren sein.31 Die Angst selbst sollte dabei aber nicht tabuisiert, sondern besonders in Akutsituationen als solche benannt werden. Wie beim Umgang mit anderen Kulturkreisen kann das Bewusstsein helfen, dass vieles »Fremde« trotz allem einen nachvollziehbaren Hintergrund hat. So ist im Kontext sozialer Angst ablehnendes Verhalten oft in der Erinnerung an Traumata begründet und hat nichts mit den akut abgelehnten Dingen oder Personen zu tun. Sollte Zeit zum Vertrauensaufbau (»Auftauen«) nötig sein, sollte sie gelassen werden. Konkrete Vorschläge zu Therapien, Hilfestellen etc. sind nur sinnvoll, wenn sie nicht abgewehrt werden, das heißt erst nach dem Vertrauensaufbau und mit Kenntnis des Problems. Auch hier ist also die Eigeninitiative der Betroffenen zentral. Angehörige können auch Beistand leisten, indem sie zum Beispiel beim ersten Besuch einer Selbsthilfegruppe bis zum Gruppenraum mitkommen oder, mit Zustimmung der anderen Anwesenden, bis in die Gruppensitzung. Wie die Selbsthilfegruppen des intakt e.V. bei der Bewältigung sozialer Ängste und der Überwindung von Einsamkeit unterstützen können, ist das Thema des folgenden Kapitels.

6. Unterstützung durch Selbsthilfegruppen am Beispiel der Arbeit des intakt e.V. Der intakt e.V. möchte als Selbsthilfeverband das Konzept »Selbsthilfegruppe« populär machen. Solche Gruppen sind vor allem Gesprächskreise, die meist 14-tägig stattfinden. Die Gruppenleitung ist ebenfalls vom Problem betroffen. Die Gespräche entfalten sich der Erfahrung nach am besten mit vier bis acht Personen und haben soziale Ängste und deren Lösung zum Thema. Aber auch »triviale« Gespräche, 31

Vgl. H. Morschitzky (2002): Angststörungen, S. 517f.

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zum Beispiel über Fußball, können für Einsame und Schüchterne ein Bedürfnis erfüllen – dann können eigene Kenntnisse präsentiert und Gesprächsführung geübt werden. Wer so gut wie nie Mitglied einer Kneipen- oder Kaffeerunde war, kann deren typische Gespräche nachholen. Eine Schweigepflicht existiert zwar juristisch nur für eine professionelle Gruppenleitung, ist jedoch Voraussetzung, sensible Gespräche überhaupt führen zu können. Sie besteht damit als Abmachung unter den Beteiligten. Als Selbsthilfe lassen sich Angstsituationen in eigenen Übungen aufsuchen, auf eigene Verantwortung und in selbst gewählter Intensität. Die Selbsthilfegruppe kann solche Übungen im Gesprächskreis thematisieren. Ein anderes Gruppenmitglied kann die Angstübung begleiten, Lernziel bleibt jedoch deren eigenständige Bewältigung. Die Gruppen stehen dabei nicht in Konkurrenz zu professioneller Psychotherapie, beide ergänzen sich gegenseitig und werden oft parallel genutzt. Eine Gruppe lässt sich auch nutzen, um die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken. Auf Anregung mehrerer intakt-Gruppen-Mitglieder hat der Verein diese Möglichkeit in seine Werbung übernommen. Der Erfahrungsaustausch zwischen Betroffenen stellt eine große Stärke von Selbsthilfegruppen dar und ist in diesem Kontext der naheliegendste Gesprächserfolg. Einige Mitglieder haben bereits bewältigt, was andere sich noch wünschen. Sie können als Vorbilder gesehen werden. Das eigene Problem ist bei anderen sichtbar, die eigene Außenwirkung aus neuer Perspektive erkennbar. Sie zeigen: Selbsterkenntnis ist möglich. Die Hierarchie unter den Mitgliedern ist geringer als in vielen anderen sozialen Beziehungen des Alltags. Wenn zwar das Ideal der Gleichstellung aller scheitert, weil eine Gruppenleitung schon wegen der Organisation32 vorhanden sein muss, ist doch diese selbst von sozialer Phobie betroffen und steht vor manchen Ängsten »genauso klein da«. Peinlichkeitsgefühle werden gemindert, weil die anderen Mitglieder mit ihrer ähnlichen Erfahrung zum Verständnis fähig sind – und weil sie ebenfalls »peinliche« Probleme haben. Das Paradox »Gruppe für Einsame« bedeutet ein Übungsfeld. Ängste vor anderen können auch vor Gruppenmitgliedern erlebt und damit im Akutmoment besprochen werden. Die Empfindlichkeit anderer kann aber auch überfordern, in Abwehr umschlagen. Schafft es die Gruppenleitung, den Konflikt sensibel »einzurenken«, kann er sich in eine Gelegenheit zur Selbsterkenntnis umwandeln.

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Organisation im Sinne des Anmietens von Räumen oder dem Beantworten von Anfragen. Beim Ausfüllen der Fördergeldanträge kommen sogar die angstbesetzten Themen »Geld« und »Unterschrift« zusammen.

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Gegen die Einsamkeit selbst helfen Freundschaften, die in der Gruppe entstehen können. In diesen kann eine gegenseitige Toleranz für psychische Probleme entstehen, diese sind im Betroffenen-Umfeld also kein Kontakthindernis mehr. Selbsthilfegruppen weisen auch Schwächen im Kampf gegen soziale Angst auf. Manche Defizite bestehen auch bei professionellen Angeboten, andere sind spezifisch für das Selbsthilfegruppen-Konzept. Ein Beispiel für die geteilten Defizite mit anderen Unterstützungsangeboten sind die nicht zu erfüllenden unrealistischen Erwartungen mancher Interessierten. Der Wunsch »ich will es endlich los sein« ist verständlich, aber nicht ohne weiteres erfüllbar. Die spezifischen Grenzen von Selbsthilfegruppen liegen dagegen in anderen Bereichen. So tendieren auch die Gruppen im intakt e.V. leider – wie eigentlich alle Menschengruppen – zu Homogenität. In fast jeder Anfrage wird nach Alters- und Geschlechtsstruktur der Gruppe gefragt. Die Antwort »auch eine Gruppe mit den scheinbar falschen Leuten kann helfen« überzeugt nur selten. Im Treffen setzt die Gruppenleitung mit ihrem eigenen »Hintergrund« unbewusst und ungewollt einen Standard. Speziellere Angebote (zum Beispiel nur für junge Frauen) scheitern leider oft an der schon allgemein geringen Teilnahmezahl und Hemmungen vieler, selbst Verantwortung in Gesprächs- und Gruppenleitung zu übernehmen. In Selbsthilfegruppen entstehen kaum Kosten und es herrscht kein Platzmangel. Daher besteht auch keine Gefahr, dass eine Kostenübernahme der Krankenkasse zurückgenommen oder ein Therapieplatz an andere vergeben werden könnte. Solch eine druckfreie Atmosphäre kann zwar nach Erfahrungen von Schwäche befreiend sein, auf der anderen Seite findet angstbedingter Druck (der »innere Schweinehund«) keinen Gegendruck – und das kann schwierige Übungen oder das »Offenlegen« peinlicher Themen verhindern. Interessierte in ihrem »stillen Kämmerlein« sind darüber hinaus von »außen« nicht aufzufinden, der erste Schritt kann nur von diesen selbst kommen. Häufig wird ihnen die Gruppe von Angehörigen oder Hilfestellen empfohlen. Auch der intakt e.V. erhält einen Teil der Anfragen von Angehörigen. Der Gruppenbeitritt erzeugt Ängste, oft umschrieben durch die Aussage »Ich möchte erst einmal schauen.« Die Mitglieder der Gruppe sind am Anfang noch Fremde, auch ihnen gegenüber muss erst Vertrauen aufgebaut werden. Viele Interessierte kommen nach ein bis zwei Treffen nicht mehr in die Gruppe. Die Frage nach dem Warum lässt sich extrem schwierig beantworten, da diese Personen »ohne ein Wort wegbleiben«, ihre Gründe nicht nennen und auf Nachfrage nicht reagieren. Auch dabei zeigt sich die Angst vor dem Äußern der eigenen Meinung. Diese Hürden zeigen, wie wichtig die Thematisierung von sozialer Angst und Einsamkeit ist, um dem Teufelskreis auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene etwas entgegensetzen zu können.

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7. Fazit Trotz aller Probleme durch soziale Ängste und bei deren Bewältigung lohnt sich der Weg heraus. Auch wenn die Thematik schwierig zu bearbeiten und zu kommunizieren ist, sind dem intakt e.V. viele Erfolgsgeschichten bekannt: In seinen fast 20 Jahren sind in seinen Gruppen mehrere Freundschaften, sogar Beziehungen entstanden, manche stabil, zum Teil mit Kind. Anderen gab die Gruppe ein Übungsfeld, das ihnen das Aufbauen und Aufrechterhalten zukünftiger Beziehungen erleichterte. Einsamkeit kann eine Folge von sozialer Phobie sein. Der intakt e.V. benutzt das Symbolbild eines Menschen in einem Kreis beziehungsweise unter einer Käseglocke. Damit drückt er den Doppelcharakter der Einsamkeit aus: Einerseits ist sie die Folge von Vermeidungsverhalten, eine »Schutzzone«33 vor (erneuten) Angstsituationen. Ein solcher Schutz wird aber auch zum Nachteil, zu einer unsichtbaren Mauer, die vom Rest der Gesellschaft trennt und schwer überwindbar wirkt – für andere, aber auch für die betroffene Person: »Post und Telefongespräche werden selten, Fernsehen und Alltagstrott bleiben die einzige Ablenkung. In der Rolle der Alleinlebenden fühlen sich die Betroffenen häufig als fünftes Rad am Wagen und trauen sich nicht, andere zu stören oder gar zur Last zu fallen.«34 Doch schon die regelmäßige Teilnahme an einer Gruppe hilft vielen aus unfreiwilliger Einsamkeit. Auch indirekt wirkt die Selbsthilfe gegen Einsamkeit, denn weniger Belastung durch Lebensprobleme führt zu mehr Offenheit im Umgang mit anderen. Daher ist zu wünschen, dass Angebote wie das des intakt e.V. auch in Zukunft bestehen werden.

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B.J. Carducci (2002): Erfolgreich schüchtern, S. 90. intakt e.V. (Hg.) (2018): Du bist nicht allein, S. 5.

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Der intakt e.V. – Norddeutscher Verband der Selbsthilfe bei sozialen Ängsten Der intakt e.V. nennt sich im Untertitel »Norddeutscher Verband der Selbsthilfe bei sozialen Ängsten« und war bei seiner Gründung im Jahr 2004 der erste eingetragene Verein speziell zu diesem Thema. Der Verein unterstützt Selbsthilfegruppen rund um soziale Ängste durch Hilfe bei der Gründung und in Gruppenkrisen. Er bietet ihnen Dienstleistungen, die für eine einzelne Gruppe zu aufwändig sein können, wie zum Beispiel Inhalte und Formen der Öffentlichkeitsarbeit. Vor allem das Buch »Der ängstliche Panther« ist zu nennen, das Erfahrungsberichte vieler Gruppenmitglieder zusammenfasst.35 Für einzelne Menschen ist der intakt e.V. oft eine erste Adresse bei der Suche nach einer Selbsthilfegruppe, sie erhalten dort Auskunft über entsprechende Angebote in ihrer Region. Der intakt e.V. begann mit vier örtlichen Gruppen. Nach einem Höchststand von 15 Gruppen im Jahr 2009 sind in der Corona-Krise noch etwa acht bis neun Gruppen aktiv. Vor der Corona-Pandemie hatten die Gruppen insgesamt etwa 100 Mitglieder. Das Zentrum liegt im östlichen Niedersachsen. »Norddeutsch« ist als eine Zielsetzung nicht im gewünschten Umfang erreicht worden, dafür fanden sich auch in Süddeutschland Interessierte. Der intakt e.V. ist Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband und kooperiert mit den deutschlandweiten Selbsthilfeorganisationen DASH und NAKOS. Kontakt intakt – Norddeutscher Verband der Selbsthilfe bei sozialen Ängsten e.V. Wendenring 4/Briefkasten 93 38114 Braunschweig Telefon: 0531/349 651 8 E-Mail: [email protected] Webseite: www.schuechterne.org

Literatur Ahlert, Birgit (30. Juni 2007): Gemeinsam aus der Isolation: Schüchterne treffen sich in einer Selbsthilfegruppe/Einfache Aufgaben fallen schwer: »Ich habe vier Anläufe gebraucht, um einmal nach der Zeit zu fragen«. In: Magdeburger Volksstimme. Bandelow, Borwin (2006): Celebrities: Vom schwierigen Glück, berühmt zu sein. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. ISBN: 978-3-498-00647-1.

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J. Kurzidim/intakt e.V. (Hg.) (2011): Der ängstliche Panther.

Julian Kurzidim: Unfreiwillig einsam

Blech, Jörg (2003): Die Abschaffung der Gesundheit. In: Der Spiegel, Nr. 33. URL: ht tps://www.spiegel.de/spiegel/a-260671.html, letzter Besuch: 15. August 2022. Carducci, Bernardo J. (2002): Erfolgreich schüchtern: der Weg zu einem neuen Selbstwertgefühl. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch. intakt e.V. (Hg.) (2006): Rundbrief August 2006, Nr. 4. URL: http://schuechterne.or g/rb064.htm, letzter Besuch: 26. August 2022. intakt e.V. (Hg.) (2012): Rundbrief Dezember 2012, Nr. 6. URL: http://schuechterne. org/rb126.htm, letzter Besuch: 26. August 2022. intakt e.V. (Hg.) (2013): Rundbrief Juni 2013, Nr. 3. URL: http://schuechterne.org/rb1 33.htm, letzter Besuch: 26. August 2022. intakt e.V. (Hg.) (2018): Du bist nicht allein. Selbsthilfe für Schüchterne (Broschüre). 2. Aufl. Peine/Braunschweig: Eigenverlag. Kurzidim, Julian/intakt e.V. (Hg.) (2011): Der ängstliche Panther: Erlebnisberichte von und für Schüchterne und Menschen mit Sozialphobie. Wien: Festland. ISBN: 978-3-9504121-4-7. Lazarus-Mainka, Gerda/Siebeneick, Stefanie (2000): Angst und Ängstlichkeit. Göttingen: Hogrefe. ISBN: 978-3-8017-0969-3. Leymann, Heinz (1993): Mobbing: Psychoterror am Arbeitsplatz und wie man sich dagegen wehren kann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. ISBN: 978-3-499-133510. Malms, Jochen (Juli 1998): Folter. Warum quält der Mensch den Menschen? In: PM-Magazin, S. 38–43. Morschitzky, Hans (2002): Angststörungen: Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe. 2. Aufl. Wien: Springer. ISBN: 978-3-7091-3725-3. Rachman, Stanley (2000): Angst: Diagnose, Klassifikation und Therapie. Bern: Huber. Seligman, Martin E.P. (2003): Der Glücks-Faktor: Warum Optimisten länger leben. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe. Strian, Friedrich (2003): Angst und Angstkrankheiten. 5. Aufl. München: C.H. Beck.

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Einsamkeit unter Wohnungslosen Einsam trotz Gemeinschaft Anke Voigt (Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof) | Zentraler Knotenpunkt der sozialen Hilfe

1. Einleitung Berlin: 3,7 Millionen Einwohner:innen, Hauptstadt der Bundesrepublik und Hauptstadt der Wohnungslosigkeit. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch Schätzungen gehen von circa 50.000 Wohnungslosen aus, davon 6.000 bis 10.000 Obdachlose.1 Die Gründe, auf der Straße zu leben, sind vielfältig: Finanzielle Probleme, Verlust der Arbeit, kaputte Familienverhältnisse, Sucht, psychische Erkrankungen, Schicksalsschläge oder auch freiwillige Wohnungslosigkeit2 . Genauso divers wie die Gründe

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Zu den Zahlen siehe zum Beispiel MyMolo (Hg.) (18. Juni 2021): Statistik Obdachlosigkeit Berlin; zu den Begriffen der »Wohnungslosigkeit« und der »Obdachlosigkeit«: Wohnungslos ist, wer keine Wohnung besitzt beziehungsweise nicht über einen mit einem Mietvertrag abgesicherten Wohnraum verfügt. Das sind zum Beispiel Menschen, die in Notunterkünften untergebracht sind, die als Selbstzahlende in Pensionen leben oder vorübergehend bei Verwandten beziehungsweise Bekannten unterkommen. Als obdachlos werden Menschen bezeichnet, die ohne jegliche Unterkunft auf der Straße leben. Wohnungslose sind daher nicht immer obdachlos, Obdachlose dagegen immer wohnungslos. »Auf der Straße leben« bezeichnet in diesem Beitrag sowohl Wohnungs- als auch Obdachlosigkeit. »Wohnungslosigkeit« wird nachfolgend als Oberbegriff verwendet, der Obdachlosigkeit immer einschließt; »Obdachlosigkeit« wird dagegen nur verwendet, wenn dies bewusst in Abgrenzung zur Wohnungslosigkeit geschieht. Über die Frage nach der Freiwilligkeit von Wohnungslosigkeit gäbe es viel zu sagen. Meiner Erfahrung nach müsste eigentlich (unter anderem mit Blick auf die Rechtslage) niemand, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und kognitiv noch in der Lage ist, Termine wahrzunehmen, in Deutschland auf der Straße leben. Es gibt allerdings einiges an »Aber«: Für Migrant:innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit gelten die entsprechenden juristischen Regelungen nicht; die im Rahmen der gesetzlichen Ansprüche bereitgestellten Unterkünfte sind nicht immer angenehm; auf Ämtern und Behörden wird man als wohnungslose Person oft nicht gut behandelt und die Problemlagen der Betroffenen sind oft zu groß, als dass sie in der Lage wären, diese bürokratischen Hürden ohne Unterstützung zu meistern. Davon abgesehen gibt es aber mitunter auch freiwillige Wohnungslosigkeit.

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Besondere Lebenslagen, besondere Einsamkeit: Soziale Angst, Wohnungslosigkeit und Armut

für Wohnungslosigkeit sind auch die Menschen, die davon betroffen sind. Es gibt nicht »die« stereotype wohnungslose Person! Einsamkeit spielt im Leben vieler dieser Menschen eine Rolle. Denn auch in einer Großstadt, teils fernab der Heimat, kann man sich durchaus einsam fühlen. Berlin ist an Hilfsangeboten breit aufgestellt. Es gibt Notübernachtungen (wenn auch nicht genügend Plätze), Kleiderkammern, kostenlose Essensausgaben und auch medizinische Versorgung ohne Krankenversicherung. »Berlin« – das steht für viele für Multikulti, Freiheit, Anonymität, Nonkonformismus. So zieht es jährlich immer mehr Menschen in die Stadt. Ein großer Teil der Wohnungslosen stammt aus dem europäischen Ausland, viele aus Polen, Bulgarien und Rumänien. Sie kommen in der Hoffnung, hier Arbeit zu finden. Erfüllt sich diese nicht, kehren viele nicht in ihr Herkunftsland zurück, da sie dort ebenso wenig wie in Deutschland Anspruch auf soziale Unterstützung haben. Andere Menschen werden wohnungslos, weil sie ihre bestehende Wohnung verlassen müssen. Unter anderem durch steigende Mietpreise und die zunehmende Gentrifizierung nimmt der Anteil derer, die am Rande der Gesellschaft leben, immer weiter zu. Für viele dieser Menschen ist auch Einsamkeit ein großes Thema.

2. Bahnhof und Straße: Orte der Begegnung – und des Alleinseins Anzutreffen ist eine Vielzahl dieser Menschen an oder in den Bahnhöfen der Stadt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Sich aufwärmen, Geld schnorren3 oder im Getümmel untergehen. An Bahnhöfen ist immer etwas los. Sie sind Orte der Begegnung. Am Berliner Hauptbahnhof sind täglich rund 300.000 Reisende und Besucher:innen anzutreffen. Ein stetiger Strom aus Pendler:innen, Geschäftsleuten und Tourist:innen zieht sich tagtäglich durch den Bahnhof: Alltagshektik, Urlaubsfreude, Abschiedsschmerz. Wenn man genau hinschaut, findet man zwischen dem ganzen Trubel auch Menschen »ohne Fahrschein und Ziel«: die ältere Dame mit dem großen Koffer, die seit Stunden auf der gleichen Bank sitzt und die Leute beobachtet; der Mann im Rollstuhl mit einer Flasche Schnaps in der einen und einem Pappbecher in der anderen Hand; ein aus Südosteuropa stammender junger Mann, der Obdachlosenzeitungen verkauft.

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Schnorren ist dem Duden nach ein umgangssprachlicher Ausdruck für das (gewohnheitsmäßige) Erbitten von Kleinigkeiten wie Zigaretten, etwas Geld oder Ähnlichem, ohne selbst zu einer Gegenleistung bereit zu sein. Als Slang-Ausdruck wird er auch von Wohnungslosen selbst verwendet, ohne dabei abwertend gemeint zu sein.

Anke Voigt: Einsamkeit unter Wohnungslosen

2.1 Zweckgemeinschaften statt echter Freundschaften Die Frage, inwiefern diese Menschen einsam sind, lässt sich nicht pauschal beantworten. Die Szene ist vielschichtig, doch es gibt wiederkehrende Muster, die sich in Bezug auf Einsamkeit feststellen lassen. So gibt es die Einzelgänger:innen, die sich von allem fernhalten und lieber für sich bleiben wollen. Denn mehr Menschen bedeuten potenziell auch mehr Probleme. Ich erinnere mich an viele Gäste, die auch im Winter im Zelt am Stadtrand geschlafen haben, statt in eine Notunterkunft zu gehen. Alleine im Zelt war das Sicherheitsempfinden größer, da man sich nicht noch zusätzlich mit den Problemen anderer umgeben muss. Auch hierfür sind die Gründe dementsprechend vielseitig. Es gibt aber auch Paare, die sich gemeinsam durchschlagen, oder auch sogenannte »Plattengemeinschaften«4 : Eine Gruppe von Leuten, die gemeinsam ihre Übernachtungsstätten aufbauen. Innerhalb dieser Gemeinschaften gibt es einen starken Zusammenhalt gegenüber anderen Zusammenschlüssen. Weibliche Mitglieder finden dort oft Schutz. Auch auf jüngere Mitglieder wird aufgepasst. Ich weiß noch genau wie mir L.5 , stark alkoholisiert, erklärte: »Uff die Kleene [ein 18jähriges Mädchen] pass’ ick uff. Dass die nicht uff die schiefe Bahn jerät.« Auch über die Plattengemeinschaft hinaus wird immer wieder aufeinander Acht gegeben und versucht, die eigenen Fehler nicht von anderen wiederholen zu lassen. So der Hinweis von einem Gast in der Bahnhofsmission: »Guck mal da! Die ist ganz neu hier, vielleicht kannst du da was machen, bevor was passiert.« Für das Leben auf der Straße gibt es aber auch klare Hierarchien und Spielregeln, an die man sich halten sollte, um keine Eskalationen zu provozieren. Denn wie es auf der Straße heißt: »Die Straße klärt untereinander.«6 Oft wird unter Wohnungslosen von einer »großen Familie« gesprochen. Doch sind echte Freundschaften oder gar noch innigere Beziehungen auf der Straße überhaupt möglich? Man findet gerade unter jüngeren Wohnungslosen gegenseitige Unterstützung, doch durch psychische Erkrankungen und vor allem Suchtproblematiken sieht die Realität oftmals anders aus. Für Menschen mit einer Suchterkrankung ist es das allerwichtigste, an ihre Drogen zu kommen – dabei wird häufig kei-

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Platte machen ist ein umgangssprachlicher Slang-Ausdruck dafür, obdachlos zu sein; »Platte« beschreibt einen Schlafplatz im Freien (auf dem Asphalt). Alle Beispiele in diesem Beitrag sind anonymisiert und so verändert, dass eine Zuordnung der echten Personen zu den genannten Handlungen nicht möglich ist. Wer gegen diese »Regeln« verstößt, kann durchaus auf Gegenwehr durch die Gemeinschaft stoßen: entweder verbaler oder aber auch physischer Natur. Konflikte werden meist intern geklärt, auf Hilfe von außen, wie von der Polizei oder selbst der Bahnhofsmission, wird – auch in ernsteren Auseinandersetzungen – nur selten zurückgegriffen.

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ne Rücksicht auf andere genommen.7 Durchaus kann es aber vorkommen, dass geschnorrtes Geld, Essen oder Zigaretten geteilt werden. Doch am Ende des Tages schaut jede:r auf sich selbst, muss es vielleicht auch. Diese harte Realität und der tägliche Kampf, den Alltag zu bestreiten, können auf Dauer einsam machen. Viele Zusammenschlüsse sind daher auch Zweckgemeinschaften mit dem Ziel, diesem Gefühl aus dem Weg zu gehen. Es wird ein vermeintliches Gemeinschaftsgefühl geschaffen: Man ist nicht allein – doch ob man dadurch nicht mehr einsam ist, ist eine ganz andere Frage. Mit den wirklichen Problemen des Lebens wird sich oftmals nicht auseinandergesetzt. Gefördert wird dieses Gemeinschaftsgefühl noch durch den Gedanken, von der Gesellschaft nicht gesehen zu werden. Es entsteht Wut auf das politische System, den Staat, die Polizei oder Behörden. Viele der sogenannten »Freund:innen« sind am Ende nur »Trinkgefährt:innen«, die der Gedanke eint, sich ausgestoßen zu fühlen – und dadurch versuchen, eine andere Form der Zugehörigkeit zu schaffen. Solche Gruppen können sich aus den unterschiedlichsten Charakteren zusammensetzen: Da ist die junge Trebegängerin, die sich einer Gruppe von Langzeitobdachlosen anschließt, um dort Sicherheit zu finden, während die Älteren es in ihrer Verantwortung sehen, die Jüngere von ihrer Erfahrung profitieren zu lassen. Da ist die Gruppe polnischer Männer, die fernab von zu Hause jemanden gefunden haben, mit dem sie in ihrer Muttersprache kommunizieren können. Oder die junge Frau, die ihr Geld bei ihrem »Lebensgefährten« abgibt und mit ihm gemeinsam im Zelt schläft. Ich habe mich mit ihr unterhalten. Sie arbeitet als Reinigungskraft im Krankenhaus und gibt ihr verdientes Geld ab, damit sie in der Gruppe bleiben darf. Auf die Frage, warum sie das tut, antwortete sie mir: »Ich hab’ doch sonst niemanden.«

2.2 Die eigene Einsamkeit wird häufig verdrängt In der Großstadt und der damit verbundenen Anonymität entsteht leicht das Gefühl, »verloren zu sein«. Man ist von unzähligen Menschen umgeben, man ist eigentlich niemals allein, doch einsam fühlt man sich dennoch. Diese innere Leere kann man durch verschiedenste Dinge versuchen, zu bekämpfen. Es wird sich an Orten aufgehalten, wo etwas los ist (etwa dem Bahnhof), man schließt sich mit anderen Wohnungslosen zusammen. Viele haben einen Hund. Dem geht es oft besser als dem Menschen selbst. Eine junge Frau saß bitterlich weinend vor mir, weil sie dringend in ärztliche Behandlung musste, aber ihren Hund für die Dauer der Behandlung nirgendwo abgeben konnte und wollte. Der Hund ist oftmals der beste

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Eine gewisse Gegenseitigkeit besteht wohl bei allen sozialen Beziehungen, die alltäglichen Herausforderungen der Straße erschweren altruistisches Handeln aber deutlich und binden auch grundsätzlich beinahe jegliches Handeln an einen unmittelbaren Zweck, nämlich das Erlangen von Geld, Essen oder Suchtmitteln.

Anke Voigt: Einsamkeit unter Wohnungslosen

Freund, treu, gibt einem jeden Tag eine Aufgabe und schützt – zumindest zu einem gewissen Teil – vor dem Gefühl von Einsamkeit. Ein großer Teil der Wohnungslosen greift aber auch zu Drogen und Alkohol, um dem Gefühl der inneren Leere zu entgehen. Bei manchen war die Suchtproblematik ein Grund für die Wohnungslosigkeit, viele greifen aber erst nach einiger Zeit auf der Straße zu Betäubungsmitteln, um negative Gedanken und Gefühle zu verdrängen. Sie möchten oder können sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen oder über die Zukunft nachdenken, und meist erst recht nicht über sich selbst. Stattdessen werden Gefühle betäubt. Eine ehrliche Antwort von einer wohnungslosen Person auf die Frage »Fühlst du dich einsam?« setzt – wie bei allen Menschen – ein hohes Maß an Selbstreflexion voraus. Doch möchte man sich selbst reflektieren, wenn das Leben aus den Fugen geraten ist? Entweder werden die Augen davor verschlossen oder die Antwort ist: »Ja, deswegen trinke ich.« Ein älterer Herr im Rollstuhl mit Kornflasche in der Hand erzählte mir in einem langen Gespräch vor dem Bahnhof, was ihm alles in seinem Leben widerfahren ist. Er sagte: »Wenn man das gesehen hat, was ich gesehen habe, ist man froh, wenn man nicht mehr darüber nachdenken muss.« Aufgrund verschiedener Problematiken haben fast alle Menschen ohne Obdach den Anschluss an das familiäre Umfeld, Freund:innen, eine Partnerschaft oder ehemalige Kolleg:innen verloren. Kaum jemand auf der Straße pflegt noch solche sozialen Beziehungen. Wichtig ist mir an dieser Stelle aber nochmal zu sagen: Suchtproblematiken spielen nicht bei allen Wohnungslosen eine Rolle! Jede:r bringt seine ganz eigene Geschichte mit – Einsamkeit nimmt entsprechend unterschiedliche Formen im Leben auf der Straße an.

3. Die Bahnhofsmission: eine Anlaufstelle für einsame Menschen Der Begriff der »Bahnhofsmission« wird in der Gesellschaft größtenteils positiv assoziiert. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung noch nie eine unserer Einrichtungen betreten hat, ist die Bahnhofsmission doch vielen ein Begriff. Sie ist ein Ort, an dem Menschen geholfen wird. Die Mitarbeiter:innen in den blauen Westen werden als vertrauenswürdige, freundliche Personen anerkannt, die man stets fragen und um Hilfe bitten kann. Wohnungslose kommen, um sich Essen abzuholen, um zu duschen oder um Kleidung zu bekommen. Das Angebot der Bahnhofsmissionen ist sehr vielfältig. Handys werden geladen, man bekommt Adressen für Fachberatungsstellen oder Notübernachtungen. Viele wollen auch gar nicht reden, sondern einfach nur in Ruhe eine Weile sitzen, abseits von den Schwierigkeiten des Alltags. Ja, auch um der Einsamkeit zu entgehen! Getreu dem Motto: »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.«

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Die über 100 Bahnhofsmissionen in Deutschland sind seit über 125 Jahren eine Anlaufstelle für Menschen in Notlagen am Bahnhof. Diese Notlagen sind ganz unterschiedlicher Art: mobilitätseingeschränkte Reisende, die Hilfe beim Umsteigen brauchen; Menschen, die bestohlen wurden, ihren Anschlusszug verpasst haben oder denen unterwegs schlecht geworden ist. Am bekanntesten sind die Bahnhofsmissionen – nicht zuletzt durch entsprechende mediale Berichterstattung – aber für ihre Arbeit in der Wohnungslosenhilfe. Wenn wir Medienanfragen bekommen, geht es meist um die Situation der Menschen auf der Straße. Gerade in Berlin ist die Bahnhofsmission am Zoo medial sehr präsent. Dorthin kommen täglich mehrere Hundert Menschen zur Grundversorgung. Die Arbeit und das Selbstverständnis der Bahnhofsmissionen gehen aber weit darüber hinaus. Die Bahnhofsmissionen sind niedrigschwellige Einrichtungen, die allen offen stehen. Sie sind ein Ort der Ruhe und Gastfreundschaft im Bahnhofstrubel. Ein Großteil der Gäste kommt jeden Tag in die Einrichtung. Denn jedem Gast wird dort das Gefühl vermittelt, herzlich willkommen zu sein. Man wird gesehen und wahrgenommen, wohingegen einem andernorts oftmals Ablehnung entgegenschlägt, die Augen verschlossen werden oder sich keine Zeit genommen wird: Die »Schnorrerin« in der U-Bahn – störend! Der Mann im Schlafsack in der Vorhalle einer Bankfiliale – unangenehm! Die Zelte unter der Eisenbahnbrücke – verschandeln das Stadtbild! In der Bahnhofsmission wird jede:r mit Respekt behandelt, ganz unabhängig von der spezifischen Lebenssituation. Die Mitarbeiter:innen haben ein offenes Ohr für jede:n. Die Gäste, die dorthin kommen, sind nicht immer wohnungslos. Zunehmende Altersarmut hat dazu geführt, dass auch immer mehr Rentner:innen sich eine Essensportion abholen. Im eigenen Zuhause ist niemand zum Reden da, in der Bahnhofsmission findet man immer ein offenes Ohr und kann wenigstens kurzzeitig der eigenen Einsamkeit entfliehen. Die tägliche Arbeit, Geld zu erbetteln, ist oftmals ein schwerer Gang. In der Bahnhofsmission muss man nicht als Bittsteller:in auftreten. Es werden nicht viele Fragen gestellt. Jede:r bekommt einen Kaffee und ein Lächeln dazu.

4. Fazit Einsamkeit hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen sich um einen herum befinden. Man kann niemals alleine sein und sich dennoch einsam fühlen. Einsamkeit ist eine innere Isolation. So ist eine Person auch nicht grundsätzlich einsam, weil sie wohnungs- oder gar obdachlos ist. Gibt man ihr ein (eigenes) Dach über dem Kopf, ist das Gefühl nicht weg. Viel eher muss ein positives Für-sich-Sein angestrebt werden, egal in welcher Lebenslage. Die Bahnhofsmissionen versuchen dazu einen Teil beizutragen, indem sie eine Anlaufstelle für jede:n bieten – an einem Ort, der für alle offen ist, der vor Menschen nur so wimmelt und an dem jede:r früher oder später vorbeikommt: dem Bahnhof. Das Leben auf der Straße bringt viele Herausforde-

Anke Voigt: Einsamkeit unter Wohnungslosen

rungen mit sich, Einsamkeit ist nur eine davon und wird angesichts alltäglicher Sorgen und Probleme in dieser besonderen Lebenssituation nicht selten verdrängt. Die Bahnhofsmissionen gewähren Menschen eine kurze Verschnaufpause, ihre Mitarbeiter:innen bieten allen ein offenes Ohr und räumen die Zeit ein, die das Gegenüber in diesem Moment braucht. Die Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof Die Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof ist eine von drei Berliner Bahnhofsmissionen. Sie befindet sich in ökumenischer Trägerschaft der Berliner Stadtmission und dem IN VIA Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit für das Erzbistum Berlin e.V. Hier arbeiten zwei Hauptamtliche mit einem multiprofessionellen Team aus vier Freiwilligendienstleistenden (BFD/FSJ) und rund 25 Ehrenamtlichen. Auch im bundesweiten Vergleich wird eine hauptamtliche Mitarbeiter:in der Bahnhofsmission von circa zehn Ehrenamtlichen unterstützt. Die Arbeit der Bahnhofsmission wird demnach größtenteils von unentgeltlicher Mitarbeit getragen. Dies bedeutet aber keineswegs reduzierte Qualität: Es kann und wird sich stets Zeit genommen für Gespräche, Seelsorge, Beratung und Weitervermittlung in ein Hilfenetz. Man kann in der Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof telefonieren, auch ins Ausland, es gibt einen Videodolmetscher für die Beratung in anderen Sprachen, es werden Termine in Ämtern oder Botschaften gemacht und vieles mehr. Die Gäste werden versucht aufzufangen, bevor die Wohnungslosigkeit droht, oder wieder aufgebaut, um dieser zu entkommen. Wer möchte, kann aber auch einfach nur da sein. Leise, aber nicht allein. Kontakt Bahnhofsmission am Hauptbahnhof Europaplatz 1 10557 Berlin Telefon: 030/226 05–805 E-Mail: [email protected] Webseite: www.bahnhofsmission.de

Literatur MyMolo (Hg.) (18. Juni 2021): Statistik Obdachlosigkeit Berlin: 6 Zahlen zur Obdachlosigkeit in Berlin. URL: https://mymolo.de/statistik-obdachlosigkeit-berlin-6zahlen-zur-obdachlosigkeit-in-berlin/, letzter Besuch: 10. August 2022.

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Armut – Einsamkeit – Krankheit Ein Teufelskreis Heike Goebel (Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V.) | Hilfe und Beratung für Menschen in Armut und sozialer Not

1. Einleitung Einsamkeit wirkt nicht alleine: Unsere Arbeit als Therapeut:innen von Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V. zeigt jeden Tag, wie Einsamkeit sich insbesondere mit den Faktoren Armut und Krankheit verbindet und gerade im Wechselspiel eklatante Folgen für den einzelnen Menschen und sein soziales Umfeld mit sich bringen kann. Ein Aspekt, der unserer Erfahrung nach oft mit Armut einhergeht und bislang noch nicht ausreichend in die Diskussionen um Armutsvermeidung und -bekämpfung einbezogen wurde, ist genau diese Wechselwirkung aus Armut, Einsamkeit und Krankheit. Sie kann einen Teufelskreis bilden, aus dem die Betroffenen nur schwer alleine entkommen können. Armut, Einsamkeit und Krankheit bedingen und verstärken sich dann gegenseitig. Das zeigt unter anderem die Arbeit mit vielen unserer Patient:innen im täglichen Umgang mit allen drei dieser Facetten. Auch in Deutschland, einem der reichsten Industrieländer der Welt, ist Armut ein Thema: Jeder sechste Erwachsene und sogar jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut.1 Der zu Grunde gelegte Armutsbegriff ist der relative Armutsbegriff der über 30 Jahre alten EU-Konvention, der sich an der Teilhabe an einer minimalen, durchschnittlichen Lebensweise orientiert: Arm ist, wer »mit [seinem] Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt.«2 Mitten in unserer Gesellschaft befinden sich Menschen in einer Abwärtsspirale; Armut kann jede:n treffen und in Zeiten von Corona hat sich die Lage dramatisch verschärft. Das sind alltägliche Eindrücke aus unserer Arbeit, deren Ursachen wir begegnen wollen. Im Folgenden möchten wir diese drei Facetten und ihr Wechselspiel in Bezug auf Einsam-

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J. Pieper/U. Schneider/W. Schröder (2020): Gegen Armut hilft Geld. Ebd., S. 29; »[d]abei handelt es sich um das gesamte Nettoeinkommen des Haushaltes inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, anderer Transferleistungen oder sonstiger Zuwendungen.« (Ebd.)

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Besondere Lebenslagen, besondere Einsamkeit: Soziale Angst, Wohnungslosigkeit und Armut

keit daher ausgehend von unserer täglichen Arbeit mit Armut als Ausgangspunkt beleuchten.

Abbildung 1: Armut, Einsamkeit und Krankheit bedingen und verstärken sich gegenseitig.

2. Die Facette Armut als Ausgangspunkt von Einsamkeit Gleich zu Beginn seines aktuellen Armutsberichts setzt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband folgendes Statement: »Mit 15,9 Prozent hat die Armutsquote in Deutschland einen historischen Wert erreicht. Es ist die größte gemessene Armut seit der Wiedervereinigung. Über 13 Millionen Menschen sind betroffen.«3 Damit ist Armut auch in unserem Land ein ernstzunehmendes Thema. Im Gegensatz zur absoluten Armut, die das Überleben der Betroffenen unmittelbar bedroht (durch existenzielle Notlagen wie Obdachlosigkeit oder Nahrungsmangel4 ), wird in Wohlstandsgesellschaften Armut relativ im Verhältnis zum Wohlstand der übrigen Bevölkerung des Landes definiert. In Deutschland gelten Personen nach dem zitierten Armutsbericht als arm, die monatlich weniger als 60 Prozent des nationalen Mittelwerts verdienen. Untersuchungen der Soziostruktur von Armut zeigen, dass sich Armut durch alle gesellschaftlichen Schichten und Altersklassen zieht. Dabei liegt das höchste Armutsrisiko bei Arbeitslosen, Alleinerziehenden, kinderreichen Familien, jungen Menschen unter 25, Menschen mit niedriger 3 4

J. Pieper/U. Schneider/W. Schröder (2020): Gegen Armut hilft Geld. Vgl. ebd.

Heike Goebel: Armut – Einsamkeit – Krankheit

Qualifikation und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sowie mit Migrationshintergrund.5 Wie wir immer wieder in unserer Praxis erleben, ist es ein Trugschluss zu glauben, dass Erwerbstätigkeit und Bildung Garanten für finanzielle Sicherheit darstellen. Sowohl die gezeichnete Soziostruktur von Armut als auch Erwerbstätigkeit und Bildung als mangelnde Garanten für finanzielle Sicherheit spiegeln sich in unserer Arbeit wider: In unseren Naturheilpraxen reicht die Altersspanne der Patient:innen von nur wenigen Wochen alten Babys bis zu Senior:innen über 90 Jahren. Viele unserer Patient:innen sind sogenannte »Leistungsbezieher:innen« in Form von Hartz IV, Aufstockung oder Grundsicherung. Auch Menschen ohne Obdach, Nicht-Versicherte und Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus gehören dazu. Armut kann jede:n treffen. Nicht wenige unserer Patient:innen stammen aus zuvor stabilen wirtschaftlichen Verhältnissen und haben mit Abitur, Ausbildung oder sogar Hochschulabschlüssen einen hohen Bildungsgrad. Chronische körperliche Krankheiten und psychische Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, können zum Arbeitsplatzverlust bis hin zur dauerhaften Erwerbslosigkeit führen. Versorgungslücken, etwa in Form einer fehlenden Berufsunfähigkeitsversicherung, verstärken die Abwärtsbewegung in die Armut. Hiervon besonders betroffen sind Frauen. Nach wie vor ist das klassische Familienmodell in Deutschland verbreitet, bei dem die Frau und Mutter beruflich zurücktritt, um sich der Kindererziehung und Familienarbeit zu widmen. Auch bei einer Rückkehr in den Beruf werden häufig Teilzeitmodelle oder Niedriglohnjobs gewählt, sodass die Frau auf die finanzielle Unterstützung ihres Ehepartners angewiesen bleibt. Wenn solche »Versorger-Ehen« zerbrechen, geraten Frauen und Mütter in finanzielle Not und Armut. Inwiefern das insbesondere für die Einsamkeit von großer Bedeutung ist, wird im nächsten Kapitel deutlich.

3. Die Facette Einsamkeit als Resultat von Armut und Ausgangspunkt für Krankheit Obwohl Armut oft am Einkommen (oder an anderen Vermögenswerten) als messbares Kriterium festgemacht wird, ist ein alleiniger Blick auf die finanzielle Situation zu kurz gegriffen. Aufgrund ihrer prekären finanziellen Situation ist der Zugang zu zentralen Lebensbereichen wie beispielsweise Wohnen, Bildung und Gesundheit für Menschen in Armut erschwert. Oftmals können sie sich die zur Verfügung stehenden Angebote schlichtweg nicht leisten. Dies führt dazu, dass Menschen in Armut und finanzieller Not sich schnell am Rande unserer wohlhabenden Gesellschaft wiederfinden. Viele unserer Patient:innen haben diesen sozialen Ausstieg erlebt. Hinzu kommt, dass das Thema Armut mit Versagen in Verbindung gebracht 5

Ebd.

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Besondere Lebenslagen, besondere Einsamkeit: Soziale Angst, Wohnungslosigkeit und Armut

wird, was zur Stigmatisierung der Betroffenen führen kann. Wie sich in unserer Arbeit zeigt, ist ihre prekäre Situation daher für die Betroffenen selbst oft mit Scham besetzt. Ihre Sorge, dass über sie geurteilt wird, ist groß und verstärkt ihr Gefühl, nicht dazu zu gehören. Dieses Gefühl führt letztendlich zu einer Form von Einsamkeit, die auch als »kollektive Einsamkeit« bezeichnet wird: »Von kollektiver Einsamkeit wird gesprochen, wenn Betroffene die Zugehörigkeit zu größeren gesellschaftlichen Gruppen vermissen oder sich fehl am Platz fühlen in der Gesellschaft, in der sie leben.«6 Für Außenstehende ist diese Form der Einsamkeit erst einmal nicht unmittelbar sichtbar, denn einsam kann man sich auch fühlen, wenn man nicht allein ist. Unsere Erfahrungen zeigen, dass es vielen Menschen in Armut und Not nicht so sehr an Sozialkontakten mangelt, sondern an echter Anteilnahme untereinander, an ihrem Leben und vor allem an ihren Sorgen. Menschen in prekären Lebenslagen müssen oft ihre ganze Energie dazu aufwenden, grundlegende Dinge ihres Lebens zu organisieren. Sie haben nicht die Kraft, darüber hinaus noch an den Schicksalen anderer Anteil zu nehmen. Das wiederum senkt die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen und kann dadurch Gefühle von Einsamkeit weiter verstärken. »Von sozialer Einsamkeit wird [dagegen] gesprochen, wenn Betroffene sich nicht ausreichend gut in ein soziales Netzwerk an Freund*innen oder Bekannten eingebunden fühlen.«7 Unserer Erfahrung nach ist diese Form der Einsamkeit im Gegensatz zur kollektiven Einsamkeit direkt sichtbar und für die Betroffenen auch direkter spürbar. Unsere Patient:innen äußern sich über diese Form der Einsamkeit, wenn sie berichten, dass sie keine Familienangehörigen mehr haben oder kein Kontakt mehr zu ihnen beziehungsweise zu Freund:innen besteht. Hiervon betroffen sind vor allem unsere älteren und chronisch kranken Patient:innen, die insbesondere psychische Erkrankungen aufweisen und von denen sich Angehörige aus verschiedenen Gründen abgewendet haben. Die gefühlte soziale Isolation der Betroffenen führt oftmals zu einer Verstärkung der psychischen Belastung und damit auch zu körperlichen Beschwerden, wie im nächsten Kapitel verdeutlicht wird.

4. Die Facette Krankheit als Resultat und Ursache von Armut und Einsamkeit Das Deutsche Ärzteblatt bewertet Einsamkeit als gefährlich: Einsamkeit sei einer aktuellen Studie nach gleichbedeutend mit permanentem Stress.8 Ein Erklärungsmuster könnte über einen Zusammenhang von Einsamkeit und sozialer Isolation 6 7 8

S. Buecker (2021): Einsamkeit, S. 5. Ebd. M. Sonnenmoser (2012): Einsamkeit.

Heike Goebel: Armut – Einsamkeit – Krankheit

verlaufen, indem soziale Beziehungen eine Art Puffer gegen Stressfaktoren darstellen, weil sie informationelle, emotionale und materielle Ressourcen bereitstellen.9 Es wird vermutet, dass bei sozial isolierten Menschen der gefühlte Schutz der Gruppe fehlt. Der Körper gerät in Alarmbereitschaft und schüttet das Stresshormon Cortisol aus. In zahlreichen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass bei einsamen Menschen der Cortisolspiegel im Blut dauerhaft erhöht ist.10 Dies wirkt sich wiederum nachteilig auf den Blutdruck, den Blutzuckerspiegel und das Immunsystem aus. Einsame Menschen haben ein erhöhtes Risiko an Depressionen, Angsterkrankungen, Krebs oder Demenz zu erkranken sowie einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden und schlimmstenfalls daran zu versterben.11 Negative Bewältigungsstrategien wie der Konsum von Alkohol, Zigaretten oder zucker- und fetthaltiger Nahrung, aber auch mangelnde Bewegung verstärken unseren Erfahrungen nach diese gesundheitliche Abwärtsspirale und verfestigen hierdurch häufig auch Isolation und Einsamkeit. Dass Armut und Einsamkeit krank machen und sogar die Lebenserwartung verkürzen, können wir entsprechend auch in unseren Praxen immer wieder beobachten. Ebenso zu bemerken ist, dass die gesundheitlichen Folgen von Einsamkeit nach wie vor zu wenig Beachtung finden und adäquate Antworten unserer Erfahrung nach insbesondere für den betroffenen Menschen in seiner Situation nur schwer zu finden sind. So wird etwa auch aus zahlreichen Berichten unserer Patient:innen deutlich, dass der Kostendruck immens ist und die Wirtschaftlichkeit der medizinischen Leistungen oft hohe Priorität hat. Der Einfluss von Einsamkeit auf psychische und körperliche Erkrankungen ist allerdings so komplex, dass er sich nur schwer in solchen Kategorien beziffern lässt. Der Griff zu medizinischen Präparaten gegen Einsamkeit ist unserer Erfahrung nach meistens verkürzt, es geht in vielen Fällen vielmehr um das menschliche Grundbedürfnis nach Aufmerksamkeit, Nähe und Berührung. Der Kardiologe Dietrich Grönemeyer spricht sich in der NDR Talk Show im August 2018 dafür aus, dass wir berührt werden müssen, auch in der Medizin: Wir fassen nicht mehr an, wir geben keine Nähe mehr durch körperliche Nähe, dabei müssen wir uns umarmen, uns fühlen.12 Als Therapeut:innen von Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V. können wir diesem Statement zu 100 Prozent zustimmen. Hier schließt sich der Teufelskreis: Die Stärkung von Resilienz und Gesundheit spielt bei der Vermeidung und Bekämpfung von Armut gleichermaßen eine wich-

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J. Holt-Lunstad/T.B. Smith/J.B. Layton (2010): Social Relationships and Mortality Risk. J. Wolf (29. August 2019): Warum Einsamkeit uns krank macht. M. Sonnenmoser (2012): Einsamkeit. »Mit den Händen Ruhe zu geben, zu heilen. […] Diese Nähe, dieses Anberühren auch des Menschen, das fehlt ja mittlerweile in der Medizin. Es ist nicht mehr da, wir untersuchen auch nicht mehr den Körper […], das Gespräch findet nicht statt […].« (D. Grönemeyer/Westdeutscher Rundfunk [3. November 2017]: Kölner Treff ).

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Besondere Lebenslagen, besondere Einsamkeit: Soziale Angst, Wohnungslosigkeit und Armut

tige Rolle. Körperliche wie seelische beziehungsweise psychische Gesundheitseinschränkungen führen (spätestens ab einer gewissen Dauer) fast immer zu fehlender Teilhabe in diversen Gesellschaftsbereichen, was zusammen mit anderen Faktoren schnell zu kollektiver oder sozialer Einsamkeit führen kann – ein Teufelskreis in vielerlei Hinsicht.

5. Die Arbeit des Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V.: unsere Erfahrungen mit Armut, Einsamkeit und Krankheit Bei Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V. leisten wir als ganzheitliche Therapeut:innen ehrenamtlich naturheilkundlich-medizinische Hilfe und psychologische Beratung für Menschen in Armut und Not.13 Mit unserem Praxisangebot sprechen wir Familien, Kinder, Erwachsene und Senior:innen in Armut sowie Menschen ohne Obdach an, denen das kostenpflichtige Angebot der Naturheilmedizin ansonsten nicht zugänglich ist. Wir bieten diesen Menschen die Möglichkeit, zusätzlich zum schulmedizinischen Angebot den ganzheitlichen Ansatz ergänzend in Anspruch zu nehmen. Im Mittelpunkt unseres ganzheitlichen Therapie- und Hilfsangebots stehen unsere Patient:innen als Menschen. Wir begegnen Einsamkeit mit Nähe und versuchen, der Komplexität des Einsamkeitsempfindens mit einer solchen Kombination aus Maßnahmen gerecht zu werden. Ein Blick in unsere Arbeit verdeutlicht diese Auffassung und veranschaulicht unsere Erfahrungen mit Armut, Einsamkeit und Krankheit: Die Patient:innen, die in unsere Praxen kommen, wenden sich zu Beginn überwiegend wegen Schmerzproblematiken im Bewegungsapparat an uns. Vielfach weisen sie starke und langanhaltende Nackenverspannungen und Schulterschmerzen auf. Das Verschreiben von Schmerzmitteln und die Behandlung mit Cortisonspritzen erzielen hierbei oftmals nur kurzfristige Wirkungen, da die Ursache für die Schmerzproblematik für die jeweilige Person psychischer wie körperlicher Natur sein kann. Während als körperliche Ursachen chronische Krankheit wie zum Beispiel Arthrose oder Rheuma in Frage kommen, können psychische Ursachen beispielsweise in Einsamkeit und dem damit verbundenen Kummer bestehen. Sorgen können die Psyche so sehr belasten,

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Zur Klärung der Begriffe (Schul-)Medizin, Naturheilkunde und Ganzheitlichkeit: Der Duden definiert die Schulmedizin als »Medizin, die an den Hochschulen gelehrt wird und allgemein anerkannt ist.« Medizin bedeutet dem Duden nach die »Wissenschaft vom gesunden und kranken Organismus des Menschen, von seinen Krankheiten, ihrer Verhütung und Heilung.« Naturheilkunde wird dem Duden zufolge synonym zu Medizin verwendet mit der Besonderheit, dass sie »Therapien mit natürlichen Mitteln, [weitgehend] ohne pharmazeutische Arzneimittel vertritt.« Die ganzheitliche Medizin versucht Gesundheit breiter zu fassen als andere medizinische Ansätze, woran sich auch viele naturheilkundliche Ansätze orientieren.

Heike Goebel: Armut – Einsamkeit – Krankheit

dass sich das seelische Problem mitunter auch körperlich manifestiert. Unseren Patient:innen bieten wir daher ergänzend zu manuellen Behandlungen auch psychologische Beratung und Entspannungstherapien an. Wir können dabei fast immer feststellen, dass mit diesem ganzheitlichen Ansatz die Schmerzproblematik nachhaltig verbessert wird. Bei manchen Patient:innen äußern sich psychische Probleme aufgrund von Einsamkeit (zum Beispiel über die Variable Stress) nicht im Bewegungsapparat, sondern eher in den Organen. Von der behandelnden Ärzt:in wird hierbei eine psychosomatische Ursache festgestellt und dann kann der ganzheitliche Ansatz zum Tragen kommen. Ob Magenschmerzen, Reizdarm oder Herzstolpern – wenn Einsamkeit die Ursache für solche organischen Leiden ist, beziehungsweise diese in ihrer Ausprägung verstärkt, dann ist die Ergänzung des schulmedizinischen Ansatzes mit sanfter Naturheilkunde, psychologischer Beratung und Entspannungsangeboten oftmals heilsam. Ebenfalls stellen wir in unseren Praxen fest, dass Patient:innen aufgrund der psychischen Belastung durch Einsamkeit zu Kompensationsversuchen neigen, wie stark zucker- und fetthaltiges Essen (sogenanntes »Soulfood«) oder auch Nikotin und Alkohol zu konsumieren. Dies kann dann zu Folgeerkrankungen führen. Klassische Ernährungs- oder Suchtberatungen kombinieren wir auch hier mit psychologischer Beratung, um mit unseren Patient:innen gemeinsam den Ursachen auf den Grund zu gehen und eine Verhaltensänderung zu initiieren. Wir möchten mit unserem Ansatz dabei die folgenden Ansprüche erfüllen: •





Ganzheitlich: Mit unseren interdisziplinären Therapieteams aus manuellen Schmerztherapeut:innen, Therapeut:innen der inneren Medizin, psychologischen Berater:innen und Sozialberater:innen bieten wir ein breites, praxisorientiertes Hilfsangebot für Menschen in Not an. Unsere Praxen sind zudem mit medizinischen, seelsorgerischen und sozialen Hilfsangeboten anderer Initiativen eng vernetzt. Auffangend: Die nachhaltige Hilfe für unsere Patient:innen ist das Kernthema unseres Engagements – unser Ziel ist es dabei, den Teufelskreis zu unterbrechen, betroffene Menschen in ihrem Fall aufzufangen und Unterstützung zu geben, bevor sie resignieren. Stärkend: Wir stärken die seelische und körperliche Situation, machen Mut und geben Kraft zur Selbsthilfe.

Sie bilden das Drei-Säulen-Modell des Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V.

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6. Fazit In Krisenzeiten ist es besonders wichtig, Menschen aufzufangen und vor einem Absturz in bittere Armut und vor dem beschriebenen Teufelskreis zu bewahren. Sehr oft sind es ökonomische und persönliche Krisen, die das Fundament der Menschen zum Einsturz bringen. Ihnen in diesem Moment Hilfe anzubieten, ist sowohl auf institutioneller wie zwischenmenschlicher Ebene von großer Bedeutung. Menschen, die einen solchen Absturz erlebt haben, finden meist nur mit Hilfe zurück in ein geregeltes gesellschaftliches Leben. Umso wichtiger ist es, die Menschen bereits vorher aufzufangen und Hilfe anzubieten. Doch auch nach dem Fall gilt es, für diese Menschen da zu sein und genau die benötigte Hilfe zu geben. Armut und Einsamkeit nehmen in ihrer Bedeutung für unsere Arbeit zu. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Gesundheit ein wesentlicher Stellhebel in der Bekämpfung von Armut und Einsamkeit ist – und umgekehrt. Es braucht ein Umdenken sowie einen integrativen Ansatz mit medizinischen, seelsorgerischen, psychologischen und sozialen Komponenten, der die Menschen in den Mittelpunkt eines ganzheitlichen Therapie- und Hilfsangebots stellt. In unseren Naturheilpraxen ohne Grenzen sind diese Disziplinen miteinander verzahnt und die Therapeut:innen arbeiten zum Wohle der Betroffenen eng zusammen. Darüber hinaus braucht es noch einen weiteren sehr grundlegenden Faktor: Wir müssen uns Zeit nehmen für die Menschen, ihnen zuhören und empathisch auf sie eingehen.

Heike Goebel: Armut – Einsamkeit – Krankheit

Der Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V. Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, in dem Therapeut:innen und (Sozial-)Berater:innen ganzheitlich in ehrenamtlichem Engagement naturheilkundlich-medizinische Hilfe und psychologische Beratung für Menschen in Armut oder sozialer Not anbieten. Der Verein leistet Pionierarbeit auf dem Gebiet der ganzheitlichen Gesundheitsversorgung für Menschen in Armut und Not und ist in seiner heutigen Form das Ergebnis langjähriger Erfahrungen der Initiatorin und Vorsitzenden Heike Goebel. Dabei bildet – wie in diesem Beitrag ausgeführt – ein präventiver und integraler Hilfeansatz die erforderliche Basis. Der Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V. setzt an dieser Stelle an und bietet in seinen Praxen ein niedrigschwelliges naturheilkundliches Angebot, das an die bestehenden schulmedizinischen, psychotherapeutischen, sozialen und seelsorgerischen Hilfsangebote für Menschen in prekären Situationen anknüpft und diese ergänzt. Die Arbeit im Verein erfolgt vollständig auf ehrenamtlicher Basis, sodass die Behandlung für die Patient:innen unentgeltlich ist. Kontakt Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V. Postadresse: Papestraße 5 45147 Essen Telefon: 0176/81 36 47 19 E-Mail: [email protected] Webseite: www.naturheilpraxis-ohne-grenzen.de

Literatur Buecker, Susanne (2021): Einsamkeit – Erkennen, evaluieren und entschlossen entgegentreten. Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung, BT-Drs. 19/25249, hg. v. Ausschuss für Familie, Frauen, Senioren und Jugend des Deutschen Bundestags. Berlin. URL: https://www.bundestag.de/resource/blob/8335 38/3db278c99cb6df3362456fefbb6d84aa/19-13-135dneu-data.pdf, letzter Besuch: 25. August 2022. Grönemeyer, Dietrich/Westdeutscher Rundfunk (3. November 2017): Kölner Treff (Fernsehsendung), Folge 436. Holt-Lunstad, Julianne/Smith, Timothy B./Layton, J. Bradley (2010): Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review. In: PLOS Medicine, 7. Jg., Nr. 7, S. e1000316. DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pmed.1000316.

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Pieper, Jonas/Schneider, Ulrich/Schröder, Wiebke (2020): Gegen Armut hilft Geld. Der Paritätische Armutsbericht 2020, hg. v. Der Paritätische Gesamtverband. Berlin. ISBN: 978-3-947792-05-4. URL: https://www.der-paritaetische.de/filea dmin/user_upload/Publikationen/doc/broschuere_armutsbericht-2020_web.p df, letzter Besuch: 25. August 2022. Sonnenmoser, Marion (2012): Einsamkeit: Einfluss auf den Therapieerfolg. In: Deutsches Ärzteblatt PP, 11. Jg., Nr. 1, S. 24–26. Wolf, Jörg (29. August 2019): Warum Einsamkeit uns krank macht. In: W wie Wissen. URL: https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wie-wissen/ einsamkeit-krankheit-100.html, letzter Besuch: 20. August 2022.

Einsam in Gesellschaft? Schlussbetrachtungen Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz (Herausgeber:innen)

Für jene aber, die in mutlosem Schwanken und mit umdüstertem Gemüt wie im Finstern irren und nicht mehr aus und ein wissen, seien diese Zeilen Licht, das ihnen Wege und Ziel erhellt: Ziel setzen und erstreben ist alles!1

So heißt es am Ende eines Textes aus dem Jahr 1921, der heute ebenso aktuell ist wie damals. Die Zielsetzung dieses Sammelbandes ist die Betrachtung des Phänomens Einsamkeit inklusive seiner sozialen wie emotionalen Komponenten, um ein möglichst detailreiches »Mosaik der Einsamkeiten« zusammenzusetzen. Einzelne dieser Mosaiksteine aus den Beiträgen sollen nun noch einmal hervorgehoben werden, um ausgewählte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Beiträgen sowie interessante Einblicke und Ideen herauszuarbeiten, die besonders bewegen oder Potenzial für weitere Betrachtungen bieten. Denn ein Mosaik kann nicht nur in viele kleine Teile zerlegt werden, sondern bietet meist auch Anknüpfungspunkte für neue Steine. »Schlussbetrachtungen« meinen hier nicht, Einsamkeit abschließend zu betrachten, sondern die im Band versammelten Inhalte und daraus gewonnenen Eindrücke weiterzudenken. Einsamkeit ist ein Gefühl, das in unterschiedlichen Formen be- und aus vielerlei Gründen entsteht. Sie fühlt sich für jede:n anders an und doch lassen sich Parallelen ziehen. Einsamkeit ist in diesem Band als eine Form der Verfremdung im Alleinsein beschrieben worden (siehe Patient 2 in dem Beitrag von Wagener oder auch bei Rauh/ Koesling) und als das Gefühl, dass Menschen fehlen, die sich für einen interessieren oder einem zuhören (siehe Kußmann).

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L. Mann (1921): Einsame Menschen. Eine genauere Betrachtung dieses Textes findet sich im Beitrag von Ryczko.

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Dabei stehen die sozialen Beziehungen zweifelsohne im Zentrum der Einsamkeit. Soziale Beziehungen bestimmen mit, wie wir über uns selbst denken (siehe Ryczko, Schobin/Newiak), was wir als Zuhause betrachten (siehe Belzner, Voigt), wie wir mit unserem Leben umgehen (siehe Malzahn) und wo wir uns in der sozialen Umwelt verorten (siehe Seemann) – unabhängig von der unmittelbaren Anwesenheit anderer. Das soziale Umfeld spielt im Positiven (über die Qualität und Art der sozialen Beziehungen, siehe etwa Renz) wie im Negativen (von der Vermeidung über die Stigmatisierung bis hin zur Viktimisierung, siehe etwa Kurzidim, Landmann/Buecker, Loke, Malzahn, Schobin/Newiak, Wagener) eine zentrale Rolle. Auch die grundsätzliche Einbindung in alltägliche soziale Strukturen ist in diesem Kontext wichtig (siehe Mahdi/Schilling, Schobin/Newiak). Die Verfügbarkeit sozialer wie materieller Ressourcen schließt daran an und geht wiederum der sozialen Teilhabe voraus (vom »Kännchen Kaffee« bis zur Gesundheitsversorgung; siehe Belzner, Goebel, Loke, Schobin/Newiak, Voigt, Wagener). Auffällig ist, dass Einsamkeit in bestimmten Lebensabschnitten (siehe Käfer, Kloß, Mahdi/Schilling) oder herausfordernden Lebenslagen (siehe Goebel, Kurzidim, Voigt) gehäuft vorkommt. Einsamkeit beschreibt nach einem weit verbreiteten Verständnis das negative Gefühl, das durch eine Diskrepanz zwischen tatsächlichen und gewünschten sozialen Beziehungen entsteht. Es gibt unterschiedliche Facetten von Einsamkeit, die sich auf Bedürfnisse, Emotionen sowie Gruppen beziehen, und auf mannigfaltige Ursachen hinweisen (siehe Landmann/Buecker). Einsamkeit tritt über die gesamte Lebensspanne hinweg auf und hängt mit verschiedenen Faktoren wie Persönlichkeit, Migrationserfahrung, Armut, kritischen Lebensereignissen oder Kontaktbeschränkungen zusammen (siehe etwa Goebel, Kloß, Kurzidim, Landmann/Buecker, Voigt). Präventions- und Interventionsmaßnahmen können wirksame Mittel gegen Einsamkeit bieten, wozu es insbesondere mit Blick auf die Ausdifferenzierung und die Nachhaltigkeit der Wirksamkeit noch weiterer Forschung bedarf (siehe Kloß, Seewer/Krieger). Das Verständnis von Einsamkeit als ein negatives Gefühl scheint angesichts der auch in diesem Sammelband hervorgetretenen Vielfalt der Einsamkeitserfahrungen die Komplexität des Phänomens dabei nicht ausreichend widerzuspiegeln. Versucht man, auch positive Seiten der Einsamkeit zu inkludieren (siehe Rauh/Koesling, Voigt) – ohne dabei Einsamkeit und Alleinsein gleichzusetzen oder eine sich möglicherweise unterscheidende Eigen- und Fremdwahrnehmung in Bezug auf die Frage nach Einsamkeit außer Acht zu lassen – wird eine konsistente Einsamkeitsdefinition zur Herausforderung. Wir als Herausgeber:innen haben uns lange gefragt, was den Reiz der positiven Einsamkeit ausmacht – und warum ihre Gleichsetzung mit Alleinsein womöglich zu kurz gedacht ist. Es drängte sich immer wieder die Frage auf, ob sich Einsamkeit als Gefühl auch gut anfühlen kann oder ob sie als Situation der Diskrepanz nur positiv genutzt werden kann. Gerade Einsamkeitsbeschreibungen von Künstler:innen, Dichter:innen und auch einigen Philosoph:innen schildern

Leon Arlt, Nora Becker, Sara Mann, Tobias Wirtz: Schlussbetrachtungen

das Gefühl des absoluten »Von-der-Welt-Verlassenseins« nicht (nur) als grundsätzlich negativen Moment, sondern heben auch sein Potenzial für inneres Wachstum, als Quelle der Kreativität und Erkenntnis hervor.2 Anscheinend beinhaltet Einsamkeit auch in diesen als positiv beschriebenen Formen stets eine negative Komponente: »Tiefe Einsamkeit ist erhaben, aber auf eine schreckhafte Art.«3 In manchen Fällen richtet sie sich etwa auf die schreckliche Schönheit der Natur oder die Übermacht der göttlichen Schöpfung, ohne dass soziale Beziehungen im Fokus stehen (oder gar Teil der Erfahrung sind), in anderen Fällen steht womöglich wiederum auch hinter diesen als positiv beschriebenen Formen ein Mangel an sozialen Beziehungen. Diese beiden Perspektiven auf den positiven Einsamkeitsbegriff spitzen sich schließlich in der Frage zu, ob die positiv beziehungsweise negativ beschriebenen Formen der Einsamkeit als unterschiedliche Phänomene aufgefasst werden müssen oder aber das gleiche Phänomen in unterschiedlicher Ausprägung beschreiben. Eine These von uns ist, dass der Fokus in beiden Fällen auf der Diskrepanz zwischen gewünschtem und tatsächlichem sozialen Eingebundensein liegt. Stellt diese Diskrepanz den begrifflichen Kern der Einsamkeit dar, auch wenn sie mitunter (zumindest partiell) positiv wahrgenommen werden kann, lassen sich unter diesem Einsamkeitsbegriff auch die Formen der positiven Einsamkeit fassen. Verschiebt sich dieser Kern jedoch zu den positiven Empfindungen, die lediglich noch von einem negativen Gefühl begleitet werden, das womöglich gänzlich unabhängig von unzureichenden sozialen Beziehungen oder einem anderen Mangel ist, dann handelt es sich bei der positiv und der negativ empfundenen Einsamkeit um solch unterschiedliche Phänomene, dass ein Zusammenfassen unter einen gemeinsamen Begriff inkonsistent erscheint. Mit der getrennten Betrachtung dieser beiden Perspektiven auf den Einsamkeitsbegriff lässt sich verstehen, warum das Wort »Einsamkeit« in so vielen verschiedenen Formen verwendet wird. Was wird demnach nicht alles aufgewirbelt, wenn man über Einsamkeit spricht. Nutzen wir die gewonnenen Einsichten und Erkentnnisse, um damit etwas Gutes für uns selbst, unsere sozialen Beziehungen oder gar für die Gesellschaft zu tun. Gleichzeitig sollte der Schmerz nicht vergessen werden, mit dem Einsamkeit für viele Menschen einhergeht. Einsam ist man immer in Gesellschaft: Einsamkeit stellt als Tabu und soziale Herausforderung deshalb auch eine gemeinsame Aufgabe dar.

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Vgl. etwa A. Arnold/W. Pape/N. Wichard (Hg.) (2019): Einsamkeit und Pilgerschaft; R. Unger (2018): Grußwort; V. van Gogh (2019): o.T. [Brief an Theo van Gogh, Cuesmes 1880]. I. Kant: GSE, AA 02, S. 209.

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Literatur Arnold, Antje/Pape, Walter/Wichard, Norbert (Hg.) (2019): Einsamkeit und Pilgerschaft: Figurationen und Inszenierungen in der Romantik, Reihe Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft, Band 13. In: Einsamkeit und Pilgerschaft. Berlin, Boston: De Gruyter. DOI: https://doi.org/10.1515/9783110634709. Gogh, Vincent van (2019): o.T. [Brief an Theo van Gogh, Cuesmes zwischen dem 22. und dem 24. Juni 1880]. In: Briefe, hg. v. Bodo Plachta, S. 55–67. Ditzingen: Reclam Taschenbuch. ISBN: 978-3-15-020538-9. Kant, Immanuel (1900ff.): Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [GSE]. In: Gesammelte Schriften, Band II: Vorkritische Schriften II: 1757–1777 [AA 02], hg. v. Preussische Akademie der Wissenschaften. Berlin: G. Reimer. URL: https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/aa02/, letzter Besuch: 13. September 2022. Mann, L. [sic!] (1921): Einsame Menschen. In: Die Freundschaft, 3. Jg., Nr. 39. Unger, Raymond (2018): Grußwort von Raymond Unger. In: Das Einsamkeits-Buch: Wie Gesundheitsberufe einsame Menschen verstehen, unterstützen und integrieren können, hg. v. Thomas Hax-Schoppenhorst, S. 29–30. Bern: Hogrefe. ISBN: 978-3-456-85793-0.

Autor:innenverzeichnis

Leon Arlt, B.A., studiert Psychologie und Sozialwissenschaft für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen an der Technischen Universität Dortmund. Im Wintersemester 2022/2023 wechselte er vom Bachelor in den Master. Er arbeitet neben dem Studium als studentische Hilfskraft am dortigen Lehrstuhl für Sozial-, Arbeits- und Organisationspsychologie sowie als Betreuer in einem Jugendzentrum in Dortmund. Um komplexen Phänomenen wie Einsamkeit adäquat zu begegnen, bedarf es einer interdisziplinären und integrativen Herangehensweise, wie ihm seine Fächerkombination immer wieder beweist. Nora Becker, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund. Seit 2018 promoviert sie in der Politikwissenschaft zur Privatheit im digitalen Zeitalter, die unter anderem mit den sich immer wieder verschiebenden Schnittstellen von Privatem und Öffentlichem eng mit Konzepten von Identität, sozialen Beziehungen und darüber auch Einsamkeit verbunden ist. Sie koordiniert ein von der VolkswagenStiftung gefördertes Postdoc-Programm mit dem Fokus auf Zentralasien und den Kaukasus. Dipl.-Psych. Ruth Belzner, M.A., ist seit 1996 Leiterin der TelefonSeelsorge Würzburg/Main-Rhön. Sie war von 2004 bis 2019 im Vorstand des Dachverbandes »Evangelische Konferenz für TelefonSeelsorge e.V.«, inzwischen »TelefonSeelsorge Deutschland e.V.«, und von 2011 bis 2019 deren Vorsitzende. Während ihres Studiums der Psychologie absolvierte sie eine Ausbildung zur ehrenamtlichen Telefonseelsorgerin. Sie war Beauftragte für kirchliche Erwachsenenbildung für Frauen in Papua-Neuguinea und absolvierte 2008 ihren Studienabschluss im Sozialmanagement – Arbeitsfelder, in denen Einsamkeit immer wieder ein Thema ist. Jun.-Prof. Dr. Susanne Buecker ist seit Oktober 2022 Professorin für Quantitative Sozialforschung und Differentielle Psychologie in Gesundheit und Sport am

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Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln, zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitseinheit Psychologische Methodenlehre der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschung fokussiert seit ihrer Promotion zu Einsamkeit auf die Entstehung und Entwicklung von Einsamkeit über die Lebensspanne. Neben ihren Aktivitäten in Forschung und Lehre engagiert sie sich in der Wissenschaftskommunikation und Politikberatung zu Einsamkeit auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene. Zudem ist sie die Initiatorin und Sprecherin des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Interdisziplinären Netzwerks für Einsamkeitsforschung »InLoNe«. Dr.-Ing. Heike Goebel ist Gründerin und Vorsitzende des Naturheilpraxis ohne Grenzen e.V. Als Heilpraktikerin hat sie mehrere Jahre gemeinsam mit Ärzt:innen auf dem Medimobil Wuppertal, einer Arztpraxis auf Rädern der Wuppertaler Tafel in einem ehemaligen Krankenwagen, medizinische Hilfe für Menschen in Armut und sozialer Not geleistet. Sie erfuhr dabei, wie sich prekäre Lebenssituationen belastend auf die Gesundheit von Menschen auswirken können und die Betroffenen nicht selten unter körperlichen und seelisch-psychischen Beschwerden – so auch Einsamkeit – leiden. Alina Käfer, M.Sc., ist seit 2018 in der Förderinitiative Nightlines Deutschland e.V. aktiv und widmet sich der deutschlandweiten und europäischen Vernetzung der Nightlines, einem Zuhör- und Informationstelefon von Studierenden für Studierende. Bereits während ihres Studiums war sie vier Jahre lang in der Nightline Konstanz aktiv, in den eingehenden Anrufen ist Einsamkeit ein häufiges Thema. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und beschäftigt sich dort mit den psychischen Auswirkungen von Arbeit und Arbeitsumgebungen mit einem Fokus auf mentale Gesundheit am Arbeitsplatz. Christian Kloß, M.Sc., arbeitet seit 2018 als Psychologe in der Psychologischen Studienberatung der TU Dortmund. Nach seinem Abschluss im Jahr 2012 war er in der Forschung zu psychischen Erkrankungen sowie der ambulanten und stationären Versorgung von Patient:innen tätig. In seiner Arbeit begegnet er Einsamkeit auf der zwischenmenschlichen Ebene im universitären Kontext. Die Studierenden befinden sich etwa durch die Auflösung bestehender Netzwerke durch Studienwechsel oder -abschluss in einer besonderen Situation, die schnell belastend sein kann. Die Corona-Pandemie verstärkte diese Belastungen noch. Dominik Koesling, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Medizinethik und am Center for Ocean and Society der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er promoviert zum Leiden in der Kritischen Theorie und forscht dar-

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über hinaus unter anderem zum (chronischen) Schmerz einschließlich seiner Begleiterscheinungen und Komorbiditäten. Für die Betrachtung von Einsamkeit liefern diese Forschungsschwerpunkte wichtige Erkenntnisse. PD Dr. Tobias Krieger ist Forschungsgruppenleiter an der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie am Institut für Psychologie der Universität Bern, Schweiz. Zudem ist er leitender Psychologe an der Psychotherapeutischen Praxisstelle der Universität Bern. Mit seiner Forschungsgruppe fokussiert er auf das Thema der chronischen Einsamkeit und untersucht dabei im Rahmen von zwei Studien zum einen die Entstehung und Aufrechterhaltung von Einsamkeit und zum anderen die Wirksamkeit einer internet-basierten Selbsthilfeintervention gegen Einsamkeit. Dipl.-Soz. Arb./Dipl.-Soz. päd. (FH) Julian Kurzidim ist erster Vorsitzender des intakt e.V. – Norddeutscher Verband der Selbsthilfe bei sozialen Ängsten mit Sitz in Braunschweig. Er initiierte den Dachverband im Jahr 2004 aus eigener Betroffenheit als Nebenprojekt während seines Studiums der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Braunschweig-Wolfenbüttel (heute Ostfalia). Als Vorsitzender des Dachverbands hat er regelmäßig Kontakt zu Menschen, die soziale Ängste haben und damit einhergehend häufig auch von Einsamkeit betroffen sind. Die Arbeit des intakt e.V. adressiert beide Probleme im Rahmen der angegliederten Selbsthilfegruppen. Dieter Kußmann ist Klient beim ambulanten Sozialen Dienst der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen. Er hat durch eine langjährige Hafterfahrung Einsamkeit auf besondere Weise erlebt. Auch nach der Haft begleitet ihn das Thema, über das er in einem Interview offen spricht. Der ambulante Soziale Dienst (aSD) ist an jedem Sitz eines Landgerichts eingerichtet und umfasst die Bewährungshilfe, die Gerichtshilfe und die Führungsaufsicht. Prof. Dr. Helen Landmann ist seit Oktober 2022 Vertretungsprofessorin an der Universität Bremen. Sie promovierte an der Humboldt Universität zu Berlin und war wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Lehrgebiet Community Psychology an der FernUniversität in Hagen. Sie erforscht unterschiedliche Facetten von Einsamkeit sowie deren Bezug zu Naturverbundenheit und zu Verbundenheitsgefühlen mit anderen Menschen (Sense of Community). Dabei rückt sie das Erleben und Verhalten von Individuen in ihren räumlichen und sozial definierten Kontexten (Communities) in den Fokus. Sie ist Sprecherin des Fachnetzwerks Sozialpsychologie zu Flucht und Integration (www.fachnetzflucht.de) und aktives Mitglied der Initiative Psychologie im Umweltschutz (www.ipu-ev.de).

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Dr. rer. soc. Susanne Loke leitet ein Präventionsprojekt in Pflegeeinrichtungen und ist Lehrbeauftragte an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum (EvH RWL). Sie promovierte an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum zu dem Thema »Einsames Sterben und unentdeckte Tode in der Stadt«, zu dem sie über die Anfrage einer Pfarrerin gelangte. Sie ist Mitglied der DGSA-Fachgruppe »Soziale Arbeit in Kontexten des Alter(n)s« und des DVSG-Fachverbands. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Einsamkeit, Thanatologie, soziale Gerontologie, Pflegekinderhilfe und Sozialraumforschung. Amira Mahdi, M.A., kümmert sich als Referentin seit 2020 bei Silbernetz e.V., einem Hilfs- und Kontaktangebot für ältere Menschen in Deutschland, um die Öffentlichkeitsarbeit. Als Kommunikationswissenschaftlerin arbeitete sie davor über 15 Jahre in der Kommunikationsberatung für Wirtschaftskunden. Einsamkeit ist eine der Hauptmotivationen für ältere Anrufende, sich bei Silbernetz zu melden – entsprechend wichtig ist die öffentlichkeitswirksame Aufarbeitung des Themas. Silke Malzahn ist Palliativ-Care Fachkraft, seit 2017 Koordinatorin beim Palliativmedizinischen Konsiliardienst Dortmund GbR und seit 2019 Sprecherin des Palliativ- und Hospiznetzes Dortmund. Zu ihren Erfahrungen in der Palliativversorgung zählen unter anderem 13 Jahre im Hospiz am Bruder-Jordan-Haus und zwei Jahre in der ambulanten Palliativversorgung Dortmund. Die Corona-Pandemie brachte in Bezug auf die Rolle der Einsamkeit innerhalb dieser Arbeit einige Änderungen mit sich: Viele Einschränkungen nahmen den Sterbenden letzte Möglichkeiten, manche letzten Wünsche konnten einfach nicht erfüllt werden. Sara Mann, M.A., ist Doktorandin an der Professur für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund und wissenschaftliche Mitarbeiterin im von der VolkswagenStiftung geförderten Projekt »Explainable Intelligent Systems«. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Fragestellungen im Kontext erklärbarer Künstlicher Intelligenz. Die Auseinandersetzung mit freundschaftlichen Beziehungen zu Sozialen Robotern weckte ihr Interesse an ethischen Fragestellungen im Kontext von Einsamkeit sowie an Chancen und Risiken neuer Technologien als mögliches Mittel gegen Einsamkeit. Dr. Denis Newiak promovierte an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg am Lehrstuhl für Angewandte Medienwissenschaften zu Artikulationen moderner Einsamkeit in aktuellen Fernsehserien und entwickelte eine Theorie von der Moderne als Zeitalter eskalierender Einsamkeitserfahrungen. Zugleich forscht er zu den gemeinschaftsstiftenden Funktionen von Fernsehseri-

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en unter spätmodernen Lebensbedingungen sowie zum in Science-Fiction-Filmen enthaltenen Krisen- und Zukunftswissen. Dr. phil. Raphael Rauh ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er promovierte sich 2015 im Fach Philosophie mit einer Arbeit über Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche, in deren Werk Einsamkeit als eine grundlegende Erfahrung postidealistischen und metaphysikkritischen Lebens und Denkens stilisiert wird. Seither nähert er sich den medizinethischen Implikationen des Phänomens Einsamkeit an und bemüht sich um ein Verständnis von »Einsamkeit«, welches sie auch als Ressource versteht, ohne ihre leidvollen Seiten außer Acht zu lassen. Timon Renz, M.Sc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit 2020 beschäftigt er sich im Kontext seiner Arbeit für den Glücksatlas, in dessen Rahmen seit 2021 Befragungen zur Erfassung der Ursachen für Lebenszufriedenheit in Deutschland durchgeführt werden, mit der Frage, was die Deutschen glücklich macht. Er entwickelt daraus Ideen für eine bessere Sozialpolitik. Im Zuge der Corona-Pandemie spielen diesbezüglich das Alleinsein und die Einsamkeitsthematik zunehmend eine Rolle. Leo Ryczko, M.Ed., ist Doktorand am Friedrich-Meinicke-Institut für Geschichtswissenschaft der Freien Universität Berlin und Promotionsstipendiat der HansBöckler-Stiftung. Er promoviert über koloniale Motive in queeren Zeitschriften des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik sowie Verweise auf außereuropäische queere Praktiken in sexualwissenschaftlichen Publikationen zu diesen Zeiten. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschlechtergeschichte, Queer History und Sexualitätengeschichte. In seiner Forschung begegneten ihm verschiedene Quellen zu Einsamkeit, die einen Einblick in die Geschichte von Einsamkeitsempfindungen ermöglichen. Dipl.-Math. Elke Schilling ist Gründerin (2016) und erste Vorstandsvorsitzende von Silbernetz e.V., einem Hilfs- und Kontaktangebot für ältere Menschen in Deutschland. Sie ist Mathematikerin, Statistikerin und ehemalige Staatssekretärin für Frauenpolitik in Sachsen-Anhalt, Sozialunternehmerin und Feministin. Schilling erhielt 2020 den Verdienstorden des Landes Berlin sowie den Zugabe-Preis der Körber-Stiftung. Der einsame Tod ihres Nachbarn war die Initialzündung für den Entschluss, Einsamkeit im Alter durch eine Organisation wie dem Silbernetz e.V. etwas entgegenzusetzen.

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Dr. Janosch Schobin leitet als Soziologe seit 2017 die BMBF-Nachwuchsgruppe »Die Gamifizierung von Peer-Einflüssen: Die Rolle von Freundschaftsnetzwerken im Rahmen der Dekarbonisierung privater Konsumentscheidungen (DeCarbFriends)« an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Soziologie der Freundschaft und der persönlichen Beziehungen, der Soziologie sozialer Isolation und der Techniksoziologie – unter anderem auch mit Blick auf Einsamkeit als soziales Phänomen. Prof. Dr. Axel Seemann ist Leiter der Abteilung für Philosophie der Bentley University, USA. Er beschäftigt sich mit dem sozialen Aspekt des Geistes, insbesondere geteilter Wahrnehmung und gemeinsamem Wissen. Er versteht Einsamkeit als eine Erfahrung, die durch zumindest scheinbare Defizite der mit anderen geteilten Welt hervorgerufen wird, und untersucht sie daher auf Basis der Forschung zur sozialen Kognition. Noëmi Seewer, M.Sc., ist Doktorandin an der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie am Institut für Psychologie der Universität Bern, Schweiz. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe zu Einsamkeit und untersucht in ihrer Dissertation die Wirksamkeit und Wirkweise einer internet-basierten Selbsthilfeintervention gegen chronische Einsamkeit. Anke Voigt, B.A., ist Leiterin der Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof. Nach einem Germanistik- und Philosophiestudium an der Universität Potsdam gelangte sie durch eine ehrenamtliche Tätigkeit im sozialen Bereich und entsprechende Fortbildungen im Jahr 2018 als hauptamtliche Mitarbeiterin zur Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof. Dort arbeitet sie täglich mit Menschen, die den Anschluss an ihr soziales Umfeld verloren haben, am Rande der Gesellschaft leben und sogar in oder gerade in einer Großstadt von Einsamkeit betroffen sein können. Thomas Wagener, B.A., ist als Sozialarbeiter im Sozialdienst der Psychiatrie des Knappschaftskrankenhauses Lütgendortmund tätig. Er betrat erst spät das Arbeitsfeld des psychiatrischen Sozialdienstes. Nach einer Handwerksausbildung führte ein erfolg-, aber nicht glückloses Studium der Germanistik und Philosophie in eine 20-jährige Vertriebstätigkeit in einem Callcenter. Eine langjährige und enge Freundschaft zu einem Menschen mit einer paranoiden Schizophrenie brachte ihn nach dem absolvierten Studium der angewandten Sozialwissenschaften in seine jetzige Tätigkeit, in der Einsamkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: Oft wird das Ausmaß der Einsamkeit erst entdeckt, wenn ein Blick in die Lebensumstände der Patient:innen erfolgt.

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Tobias Wirtz, B.A., ist Student des Masterstudiengangs Philosophie und Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund. Neben seinem Studium erwarb er bereits durch vielseitige Tätigkeiten Kenntnisse in der universitären Forschung, der finanziellen Entwicklungszusammenarbeit, der internationalen Politik, der Klimapolitik sowie im Bereich Anti-Financial Crime. Die Themen Klimawandel, gerechte Finanzsysteme und nachhaltige Entwicklung gehören dabei sicherlich zu den wichtigsten Themen unserer Zeit. Einsamkeit hingegen erhielt im Verhältnis zu seiner Relevanz bisher eine geringe gesellschaftliche Aufmerksamkeit, weshalb er dazu beitragen möchte, dem Thema eine größere Reichweite zu verleihen.

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Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5

Kerstin Jürgens

Mit Soziologie in den Beruf Eine Handreichung September 2021, 160 S., kart. 18,00 € (DE), 978-3-8376-5934-4 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5934-8

Gabriele Winker

Solidarische Care-Ökonomie Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima März 2021, 216 S., kart. 15,00 € (DE), 978-3-8376-5463-9 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5463-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid

Gesellschaftstheorie Eine Einführung Januar 2021, 344 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-4028-1 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4028-5

Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft 2020, 320 S., Klappbroschur, 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9

Detlef Pollack

Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute 2020, 232 S., Klappbroschur, 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3

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