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German Pages [159] Year 2012
Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal
Stefanie Arend
Einführung in Rhetorik und Poetik
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
978-3-534-22826-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71913-6 eBook (epub): 978-3-534-71914-3
Inhalt I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rhetorik und ihre Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff ,Rhetorik‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entstehung im antiken Griechenland: Platon und die Sophisten . . . . . . . . . . . . . . 3. Der ideale Redner . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Dreistillehre und das Ideal der Angemessenheit
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III. Rhetorik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit . . . . . . . . 1. Rhetorik in Mittelalter und Humanismus: u. a. Predigtlehre, Ciceronianismus . . . . . . . . . . . 2. Rhetorik in der Reformation: Melanchthon, Luther . . . 3. Rhetorikunterricht in der Frühen Neuzeit: Schulrhetorik, Rhetoriklehrbücher, politisch-höfische Rhetorik . . . . IV. Rhetorik und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tendenzen der Rhetorik im 18. Jahrhundert . . . . . 2. Verfall der Rhetorik seit dem 19. Jahrhundert? . . . 3. Neue Rhetorik: Impulse aus Amerika und Frankreich 4. Rhetorical turn, Rhetorizität, Medienrhetorik . . . .
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V. Angewandte Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Theorie und Praxis der Redekunst . . . . . . . . . . . . . . 2. Redeanalyse: Heinemanns Ansprache zum 325. Jahrestag des Westfälischen Friedens (1973) . . . . . . 3. Die eigene präsente Rede, Körperrhetorik, agonale Rhetorik
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VI. Poetik als Sonderfall der Rhetorik: die Anfänge . . . . . . . . . . 1. Begriff ,Poetik‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Platons Ion: Dichtung als göttliche Inspiration . . . . . . . . 3. Die ersten Poetiken als Maßstab: Aristoteles und Horaz . . .
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VII. Poetik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit . . . 1. Poetik im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . 2. Poetik im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . 3. Poetik und Literaturkritik im 18. Jahrhundert
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VIII. Poetik und Moderne: Auflösung der Systematik seit dem 18. Jahrhundert . . . . . . . 1. Genieästhetik, Shakespeare statt Aristoteles . . . . . . . . .
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Inhalt
2. Autonomieästhetik, Kunst und Dichtung im Rahmen anthropologischer und kulturtheoretischer Entwürfe . . . . 3. Romantisierung der Welt, das Konzept der Universalpoesie 4. Bürgerlicher Realismus: Verklärung, Idealisierung, Behaglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Literarische Manifeste um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ausblicke: Antimimesis und Poetizität, das Paradigma der Schrift (écriture), Brechts Erinnerung an Aristoteles . . .
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IX. Praxis des Schreibens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kreatives Schreiben / Literarisches Schreiben . . . . . . . . . 2. Die Poetikvorlesung: Autoren der Gegenwart über ihr Verhältnis zu den Regeln (Durs Grünbein, Robert Gernhardt) . . . . . . . . . . . . . .
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Systematischer Anhang
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Kommentierte Bibliographie
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Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung Der römische Staatsmann und Philosoph Cicero (106–43 v. Chr.), Verfasser zahlreicher Rhetoriklehrbücher und selbst ein hervorragender Redner, stellt in der Vorrede seines Jugendwerks De inventione / Über die Auffindung des Stoffes (ca. 80–81 v. Chr.) die Frage, wie es dazu kam, dass die Menschen begannen, Gemeinschaften zu bilden, Sorge füreinander zu tragen und nach verbindlichen Gesetzen zu leben. Die Antwort liefert er sogleich selbst: Es kamen Männer, die gut zu reden verstanden und die Menschen, die noch wild und gesetzlos lebten, kultivierten: Vollends, nachdem Städte gegründet waren, wie konnte es da geschehen, daß sie [die Menschen; Anm. der Verf.] lernten, Treue zu pflegen und Gerechtigkeit zu bewahren, und sich daran gewöhnten, anderen aus eigenem Willen zu gehorchen, und glaubten, sie müßten nicht nur Strapazen auf sich nehmen für das allgemeine Wohlergehen, sondern auch das Leben drangeben – wie konnte dies schließlich geschehen außer dadurch, daß jene Männer es fertigbrachten, ihre Mitmenschen von dem, was sie durch vernünftige Überlegung herausgebracht hatten, mit den Mitteln der Beredsamkeit zu überzeugen? (Cic., De Inv. 1.3) Cicero verlebendigt seine Darstellung durch das Mittel der subiectio: Die Frage, die er stellt, beantwortet er selbst. Dabei wiederholt er in Form einer Anapher den Frageanfang, so dass der Eindruck entsteht, es könne gar keine andere Antwort geben. Diesen Eindruck verstärkt er dadurch, dass er die einleitenden Satzglieder der Frage parallel aufbaut: ,wie konnte dies schließlich geschehen außer dadurch …‘ Durch diese Rhetorik weist er der Beredsamkeit in der Kulturgeschichte der Menschheit eine entscheidende Rolle zu. Mit ,jenen Männern‘ sind diejenigen Redner gemeint, die weise sind und ausschließlich Gutes im Sinn haben, wobei Cicero die Gefahren einer demagogischen Rede, die zu Schlechtem verführen kann, nur zu gut kannte. Die Hochschätzung des guten Redens, das sogar dazu bewegen kann, das eigene Leben für das ,Wohlergehen‘ anderer aufzugeben, mag uns heute etwas übertrieben und vielleicht anachronistisch erscheinen. Ob tatsächlich in der Kulturgeschichte der Menschheit die Beredsamkeit jene Rolle beanspruchen darf, die Cicero ihr verleiht, bleibe dahingestellt. Festzuhalten ist aber, dass er darauf aufmerksam macht, wie sehr eine Rede die Zuhörer beeinflussen kann, wieviel Verantwortung folglich derjenige besitzt, der sich vor andere hinstellt und redet. Insofern können wir seinen Worten folgen: Wir können täglich beobachten, dass Reden, in kleinem Kreis oder öffentlich vor großem Publikum vorgetragen, große Aufmerksamkeit erfahren, besprochen und diskutiert und dass so manche Redewendungen immer wieder zitiert werden und im kulturellen Gedächtnis lange erhalten bleiben. Ebenso kann es sich mit schriftlich verfassten Texten verhalten. Sprachliche Produkte, seien sie gesprochen oder niedergeschrieben, können viel bewirken, unsere Aufmerksamkeit fesseln, faszinieren oder Empörung auslösen. Dass sie
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I. Einleitung
Poetik und das literarische Feld
uns bewegen, liegt gleichwohl nicht nur in ihnen selbst begründet, sondern ist auch von unserer jeweiligen Verfassung während der Rede und der jeweiligen Einstellung des Publikums abhängig. Einblicke in die jeweilige Kunst der mündlichen oder schriftlichen Rede schaffen Distanz, die nötig ist, um über sprachliche Äußerungen, seien es fremde oder eigene, zu reflektieren. Der kleine Ausschnitt aus Ciceros Text zeigt, dass ein solches Nachdenken nicht neu, sondern fest in der abendländischen Kultur verankert ist. Zudem wurden für die ,Rhetorik‘ als ,Redekunst‘ als auch für die ,Poetik‘ als ,Dichtkunst‘ bereits in der Antike Systematiken entworfen. Beispielsweise verfasste Aristoteles (384–322 v. Chr.) eine Rhetorik (vermutlich um 330/340 v. Chr.) und eine kleine Poetik (ca. 335 v. Chr.), Horaz (65 v. Chr. – 8 n. Chr.) ein Buch Über die Dichtkunst (entst. um 18 v. Chr.). Diese Schriften stellen Regeln und begriffliche Instrumentarien bereit. Sie werden über die Jahrhunderte europaweit ein kulturelles Fundament bilden. Einen Höhepunkt der Rezeption erfahren diese Schriften in der Frühen Neuzeit, speziell in der Zeit vom 16.–18. Jahrhundert. Dann ereignen sich auf beiden Feldern Rhetorik und Poetik Krisen und virulente Neubewertungen, die jeweils in ihren kulturgeschichtlichen Zusammenhängen zu betrachten und zu erklären sind. Diese Einführung wird den Kernbestand der jeweiligen Systeme und ihre Begrifflichkeiten – wie sie seit der Antike überliefert sind – darstellen, Wandlungsprozesse sichtbar machen und diese bis in die Gegenwartskultur hinein verfolgen. Seit der Frühen Neuzeit hat sich die Poetik als normatives System aufgelöst. An ihre Stelle traten ästhetische Reflexionen, häufig verbunden mit literaturkritischen Überlegungen und verankert in philosophische und anthropologische Diskurse, und schließlich, besonders um 1900, literaturprogrammatische Manifeste. Auch die klassische Rhetorik durchlebte seit der Frühen Neuzeit Anfechtungen und Krisen und wurde aus unterschiedlicher Perspektive immer wieder auf ihre Legitimation und Praktikabilität hin geprüft und neu bewertet. Teile ihrer Systematik haben sich stets als krisenfest erwiesen. Außerdem ist die klassische Rhetorik schon deshalb „nicht überholt“ (Knape 2005, 15), weil „Rhetoriktheorie […] immer auch Produktionstheorie“ ist (ebd., 18). Die ästhetische Verfasstheit von Texten kann mit rhetorischen Begrifflichkeiten beschrieben werden. Mindestens seit der Entstehung eines öffentlichen Literaturmarktes, der sich in Wechselbeziehungen mit tragenden literaturkritischen Organen seit dem 18. Jahrhundert rasant entwickelte, ist zu beobachten, dass in der Auseinandersetzung mit den antiken Vorgaben neue literaturtheoretische Standpunkte formuliert wurden. Häufig spielte der Impetus eine Rolle, sich auf dem jeweiligen literarischen Feld der Zeit und allgemeiner in der kulturellen Lebenswelt eine Position zu verschaffen (vgl. Bourdieu 2001, 365–371). Es ist ein Anliegen dieser Einführung, die jeweiligen Hintergründe und möglichen Interessen sichtbar zu machen, die zu neuen, oft rhetorisch geschickt formulierten, Positionen und Programmatiken führten. Namhafte Literaturtheoretiker, etwa in der Aufklärung Johann Christoph Gottsched (1700–1766) oder Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) und in der Klassischen Moderne Hermann Bahr (1863–1934), bedienten sich gerne einer effektreichen Polemik, um sich abzugrenzen und zu positionieren. Diese Einführung wird auch diesen kulturellen Positionierungskämpfen nachgehen und beobachten, wie die
I. Einleitung
Stützpfeiler der normativen Poetik im Laufe der Moderne immer mehr ins Wanken gerieten. Statt Poetiken verfassen Autoren heute Poetikvorlesungen, in denen sie die Genese ihrer Texte zu erklären versuchen. Der Verzicht auf Poetiken bedeutet aber nicht, dass sich literarisches Schreiben nicht systematisch erfassen lässt und dass man heute grundsätzlich der Idee von Regeln skeptisch gegenüber steht. Seminare oder Ratgeber versuchen ,Kreatives Schreiben‘ praxis- und regelorientiert zu lehren. Die Rhetorik war seit ihrem Entstehen virulenten Krisen ausgesetzt. Die Sophisten stellten die Redekunst unter den Verdacht, die Menschen zu verführen und sie glauben zu machen, was auch immer der versierte Redner möchte. In der Frühen Neuzeit kann eine langsame und facettenreiche Auflösung des klassischen Systems der Rhetorik beobachtet werden, deren historisch-kulturelle Hintergründe äußerst komplex sind (vgl. Till 2004, 105). Beispielsweise gerät im 18. Jahrhundert die Redekunst, die zweifelsohne dem Rollenspiel und der eigenen Verstellung dienen kann, in Widerspruch zu den anthropologischen aufklärerischen Idealen der Natürlichkeit und Spontaneität. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert drängen an den Universitäten die sich herauskristallisierenden Einzelwissenschaften die Rhetorik als Fach an den Rand. Nichtsdestoweniger aber bahnten sich auch in diesen Krisenzeiten die Prinzipien der Redekunst ihren Weg. Diese fanden im politisch bewegten 19. Jahrhundert vielfältig Anwendung und konnten neue mediale Formen für sich nutzen. Die „Anpassungsfähigkeit“ (Neumann 1996, 223) der Rhetorik, die über die Jahrtausende ihr Überleben sicherte, resultiert daraus, dass ihre Systematik zwar ein festes Begriffsarsenal vorgibt, dieses aber beweglich und offen ist. Eingedenk der Tatsache, dass jenseits der Rhetorik als eines artifiziellen Lehrgebäudes der Mensch in seiner lebensweltlichen Praxis überzeugen will, spricht man auch von der „Ubiquität der Rhetorik“ (Gadamer 1971, 63; Ueding/Steinbrink 2005, 136; vgl. Oesterreich 1990, 5) oder von der „Unhintergehbarkeit des Rhetorischen“ (Till 2007, 439). Einem Problem wird sich die Rhetorik indes immer stellen müssen: ihrem möglichen Missbrauch. In Deutschland haben besonders die Erfahrungen des Dritten Reiches dazu geführt, dass sich die Rhetorik als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung nur schwer etablieren konnte. Jedoch gründete Walter Jens 1967 in Tübingen das Seminar für Allgemeine Rhetorik, an dem in den Jahren 1992–2009 das Historische Wörterbuch der Rhetorik erstellt wurde. 1980 wurde die International Society for the History of Rhetoric ins Leben gerufen. Neben diesen Institutionalisierungen sind seit der Nachkriegszeit verdienstvolle Bemühungen zu verzeichnen, die Rhetorik für die Literaturwissenschaft wiederzugewinnen: Beispielsweise rief Ernst Robert Curtius mit seiner Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) in Erinnerung, in welch hohem Grade literarisches Schreiben, aber auch Kunst und Musik auf rhetorische Denkfiguren und Topoi, auf überlieferte Muster, zurückgreifen. Heinrich Lausberg verfasste ein breit angelegtes Handbuch der literarischen Rhetorik (zuerst 1960). Besonders machte die Barockforschung auf die Bedeutsamkeit der Rhetorik aufmerksam. Zu nennen wären etwa Joachim Dycks Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition (1966) oder Wilfried Barners Barockrhetorik (1970). Manfred Fuhrmann widmete sich in seinem Buch Die antike Rhetorik (1984) den Ur-
Probleme der Rhetorik
Rhetorikforschung
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I. Einleitung
sprüngen der Systematik. Schließlich legte Marc Fumaroli eine umfassende Studie zur Geschichte der Rhetorik vor, Histoire de la rhétorique dans l’Europe moderne 1450–1950 (1999). In spezieller Weise entdeckten in den 1960er Jahren Philosophie und Sozialwissenschaften das Feld der Rhetorik neu. Chaïm Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca diskutierten in ihrer Neuen Rhetorik (1958) die Rhetorik als Argumentationstheorie. Außerdem geriet sie als lebensweltlich grundlegendes Phänomen in den Blick, als conditio humana des Menschen (vgl. etwa Gadamer 1971, Oesterreich 1990). Das permanente Interesse an der Rhetorik, einst bezeichnet als „regina artium und Königin der Wissenschaften“ (Jens 1969, 42, Hervorh. im Text), das sich in der heutigen Forschung niederschlägt, beweist ihre Faszination und zeugt von ihrer Beharrlichkeit, mit der sie sich den Krisen entgegenstellte, die sie seit ihren Anfängen in der Antike heimsuchten.
II. Rhetorik und ihre Anfänge Um die Anfänge der Rhetorik und ihre Entwicklung zu erläutern, liefern Texte aus der griechischen und römischen Antike reichlich Material. Sie bieten nicht nur einen Einblick in die Systematik, sondern auch in die Problemlagen, vor die sich die Rhetorik von Anfang an gestellt sah. Für die Erläuterungen nehmen vier Persönlichkeiten eine besondere Stellung ein, die uns immer wieder begegnen werden: die griechischen Philosophen Platon (427–347 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.), der römische Politiker und Philosoph Cicero (Marcus Tullius Cicero, 106–43 v. Chr.) und der römische Redelehrer Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus, ca. 35–100 n. Chr.). Platon verfasste seine Dialoge unter dem Eindruck seiner Begegnung mit Sokrates, dessen Schüler er acht Jahre lang bis zu dessen Tod 399 v. Chr. war. Der Dialog Gorgias liefert wichtige Einblicke in die problematischen und krisenhaften Anfänge der Rhetorik. Aristoteles, der nach seiner Mitgliedschaft in der platonischen Akademie philosophisch eigene Wege ging, stellt in seiner Rhetorik (vermutlich um 330/340 v. Chr.) Überlegungen zu Zielen der Beredsamkeit und ihren argumentativen Grundlagen an. Bei Quintilians Ausbildung des Redners, der Institutio oratoria (ca. 95 n. Chr.), handelt es sich um die ausführlichste Erörterung und Systematik der klassischen Rhetorik, die aus der Antike überliefert ist. Eine wichtige Rolle für die Nachzeichnung der antiken Rhetorik spielen Ciceros Schriften. Neben der bereits genannten frühen Schrift De inventione / Über die Auffindung des Stoffes (80–81 v. Chr.) bieten der Orator / Der Redner (46 v. Chr.) sowie De oratore / Über den Redner (55 v. Chr.) wichtige und kulturgeschichtlich interessante Einblicke in die Geschichte und die Systematik der Rhetorik und in die Vorstellungen, die man damals von einem ,guten Redner‘ hegte. Zu nennen ist weiter die anonyme Rhetorica ad Herennium / Rhetorik an Herennius (vermutlich zw. 86–82 v. Chr.), die bis zum 15. Jahrhundert Cicero zugeschrieben wurde.
1. Begriff ,Rhetorik‘ Das selbständige Substantiv ,Rhetorik‘ (=htorikfi / rhetorike) findet sich zuerst in Platons Phaidros (vgl. 266d). Für den Begriff ,Redekunst‘ ist zu dem Adjektiv ,rhetorisch‘ das Nomen ,Technik‘ (t¡xnh / techne) hinzuzudenken: =htorikfl t¡xnh (rhetorike techne). Er ist in Platons Dialog Gorgias belegt (vgl. Platon, Gorgias, 449c). In Quintilians Institutio findet sich die Wendung ars bene dicendi (Quint. Inst. orat., 2.17.37), die ,Kunst des guten Redens‘. Die Rhetorica ad Herennium spricht zu Beginn von der ratio dicendi, der ,Technik der Rede‘ (Rhet. ad Her., 1.1). In Ciceros De oratore finden sich gleichwertig die Wendungen ratio dicendi (Cic. De orat., 1.4) und ars dicendi (1.66). Mit dem Wort ,Redner‘ (=fitvr / rhetor) bezeichnete man in der Antike zum einen denjenigen, der in der Öffentlichkeit, etwa in der
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II. Rhetorik und ihre Anfänge
Rhetorik als Kunst des Überzeugens
Volksversammlung, eine Rede hielt, zum anderen den Redelehrer (vgl. Fuhrmann 2008, 11). Aus diesem Überblick wird deutlich, dass der Begriff ,Rhetorik‘ etliche Konnotationen besitzt. Er meint zum einen die ,Kunst des Redens‘ selbst. Da wir für gewöhnlich reden, um mit anderen zu kommunizieren, ließe sich zum anderen auch von der ,Kunst der Kommunikation‘ sprechen. Dies klingt bereits in Aristoteles’ Definition an, wenn die Rhetorik als ein „Gegenstück zur Dialektik“ (Arist., Rhet., 1354a) bezeichnet wird, als ein verwandtes ,Gegenstück‘ zur Kunst einer streng logischen Gesprächsführung, die Thesen findet und Gegenthesen aufstellt. Dieser Bezeichnung trägt Aristoteles Rechnung, da er vor allem eine Argumentationstheorie entwirft, Grundlagen der Beweisführung. Dabei spielt das Enthymem eine wichtige Rolle, ein mehr oder weniger formalisiertes Argumentationsverfahren, das zu einer plausiblen Schlussfolgerung führen soll. Die jeweiligen Argumente werden auf der Grundlage von Topoi, den Fundorten (topoi / loci), gesucht, die Aristoteles in einer gesonderten Topik systematisierte, die er „für akademische Übungsgespräche“ über philosophische Streitfragen entworfen hat (Ottmers 2007, 89). Es liegt auf der Hand, dass die frühe Gerichtspraxis ein Ort war, an dem die Argumentationstheorie ihren Ausgang nahm. Besondere Aufmerksamkeit findet die Rhetorik in diesem Sinne in der Rhetorica ad Herennium. Außerdem meint Rhetorik die Ästhetik der Rede, ihren Aufbau, den Redeschmuck, Gedankenfiguren und Wortfiguren, die theoretisch in einer Systematik beschrieben werden können (vgl. den Systematischen Anhang). Dieser Aspekt der Rhetorik findet besonders in Quintilians Institutio oratoria Berücksichtigung. Er ist konstitutiv für die Rezeption der Rhetorik in Mittelalter und Früher Neuzeit und bildet das Bindegelied zur Poetik, denn die Ästhetik eines niedergeschriebenen Textes lässt sich unter rhetorischen Gesichtspunkten theoretisch beschreiben. Des Weiteren handelt es sich bei der Rhetorik um die Bezeichnung für ein Unterrichtsfach. In der Schulbildung nahm die Rhetorik bereits in der Antike eine zentrale Rolle ein. Diese Rolle wird sie in Mittelalter und Früher Neuzeit behalten und sich als Studienfach an den Universitäten etablieren. Zudem tragen Lehrbücher der Redekunst die Bezeichnung ,Rhetorik‘, wie Aristoteles’ Rhetorik oder Friedrich Riederers Spiegel der waren Rhetoric (1493), das erste umfassendere Lehrbuch in deutscher Sprache. Schließlich ist die Rhetorik auch ein Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung. Die genannten Aspekte ließen sich folgendermaßen zusammenfassen: Rhetorik bezeichnet „eine kommunikative Praxis, die darauf bezogene Theorie, ein kommunikationstechnisches Schulungsfach und eine wissenschaftliche Disziplin“ (Knape 2000a, 9). Trotz der Veränderungen und Erweiterungen, die die Rhetorik im Laufe ihrer Geschichte erfahren hat, ist unstrittig, dass in ihren Anfängen ein zentrales Ziel formuliert wurde, das bis heute im Kern erhalten ist. Rhetorisches Sprechen meint ein wirkungsvolles Sprechen, das zum Ziel hat, andere von etwas zu überzeugen. Rhetorisches Sprechen lässt sich folglich als pragmatisches Sprachhandeln begreifen, das sich bewusst oder unbewusst bestimmter Mittel bedient. Bereits in der Antike wurde das Reden als eine Kunst angesehen, deren vorrangiges Ziel im Überzeugen der Zuhörer besteht. Dabei ist zu beachten, dass im Gegensatz zur deutschen Sprache weder die lateinische noch die
1. Begriff ,Rhetorik‘
griechische Sprache einen Unterschied zwischen ,überzeugen‘ und ,überreden‘ macht (zum Wortfeld vgl. Oesterreich 1990, 47–51). In der deutschen Sprache besitzt ,überreden‘ eine negative Konnotation: Wenn jemand überredet wird, dann ist er nicht nachhaltig von der Sache überzeugt, zu der er überredet wurde. ,Überzeugen‘ hingegegen impliziert einen grundlegenden „mentalen Wechsel“, der im besten Fall auch grundlegende Änderungen im Verhalten nach sich zieht (Knape 2003, Sp. 875; vgl. Mayer 2007, 86; vgl. Kopperschmidt 2008, S. 27). Beispiel: Jemand wird davon überzeugt, dass Rauchen schädlich ist und hört tatsächlich ernsthaft mit dem Rauchen auf. ,Überzeugen‘ und ,überreden‘ gibt die griechische Sprache mit dem Verb peyein (peithein) wieder, die lateinische Sprache mit dem Verb persuadere. Entsprechend kann das Substantiv persuasio unterschiedslos mit ,Überzeugung‘ oder ,Überredung‘ übersetzt werden. Platons Dialog Gorgias spricht von der Rhetorik als der ,Meisterin der Überredung‘ (vgl. 453a). Aristoteles bezeichnet die Rhetorik als „Kunst“, deren „Aufgabe“ es sei, „das Überzeugen“ zu leisten (Arist. Reth., 1354a). Er definiert die Trias der zentralen Überzeugungsmittel: Ethos (•yow), Pathos (pa’ yow) und Logos (lægow). Der Redner überzeugt erstens durch seine Haltung, vor allem durch seine Glaubwürdigkeit, dann dadurch, dass er den Zuhörer emotional berührt, und schließlich durch vernünftige Argumentation (vgl. ebd., 1356a; vgl. Mayer 2007, 13). Zudem definiert Aristoteles das Ziel dieser Kunst: Sie hat die Aufgabe, „das Wahre und das von Natur aus Bessere“ aufzufinden (Arist. Rhet. 1355a). Das, wovon überzeugt werden soll, ist laut Aristoteles zugleich das Wahre und Richtige. Somit weist er der Rhetorik und dem Redner eine große Verantwortung zu. Der Antike mit ihrem relativ festen Wertehorizont war es noch möglich, die Rhetorik auf das Wahre zu verpflichten und den Redner auf seine ethische Verantwortung festzulegen. Er soll durch kunstgemäßes Überzeugen den Adressaten zur Erkenntnis führen. Auch Platons Phaidros unterlegt der Rhetorik eine ethische Komponente. Sie sei die „Kunst des wahren und überzeugenden Redners“ (Platon, Phaidros, 269d). In Platons Dialog Gorgias betont Sokrates die ethische Verantwortung des Redners: Der „rechtschaffene und kunstmäßige“ Redner solle die Seelen seiner Mitbürger im positiven Sinne beeinflussen und in ihnen den Sinn für „Gerechtigkeit“, „Besonnenheit“ und „Tugend“ wecken (Platon, Gorgias, 504e). Auch Cicero unterstreicht, dass nur derjenige ein guter Redner sei, der wisse und sage, „was nicht im Widerspruch zu menschlicher Gesittung“ stehe (Cic., De orat. 1.219) und der den Willen mitbringe, in diesem Sinne zu „überzeugen“ (ebd., 1.223). Unserer Zeit mag es fern liegen, dem Reden eine solche ethische Verantwortung zuzuschreiben, da die Maßstäbe von ,wahr‘ und ,falsch‘, ,gut‘ und ,schlecht‘ keineswegs mehr leicht aufgestellt werden können. Soll nach antiker Vorstellung der Zuhörer von einem Zweifelhaften (dubium) zu etwas Sicherem (certum) geführt werden (vgl. Knape 2003, 877), so sind heute Sicherheiten in Erkenntnisprozessen keineswegs mehr gegeben. Bei dem sogenannten certum kann es sich nurmehr um eine mögliche Erkenntnis handeln. Allerdings waren sich auch die antiken Rhetoriklehrer bewusst, dass Erkenntnisprozesse unsicher sein können. So wird im nächsten Kapitel gezeigt, dass bereits Aristoteles auch lediglich wahrscheinlich richtige Argumente als überzeugungsfähige anerkannte.
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II. Rhetorik und ihre Anfänge
Zunächst aber ist zu erläutern, wie es dazu kam, dass in der Antike das Überzeugen vom Wahren und Gerechten sowie die Erkenntnisfindung als Ziel der rhetorischen Kunstfertigkeit ins Zentrum rückte. Anders gefragt: Wie kam es dazu, dass die Rhetorik in diesen Texten so vehement auf die Ethik verpflichtet wurde? Um dies zu verstehen, ist es sinnvoll, noch weiter zurückzugehen und sich zu vergegenwärtigen, unter welchen Bedingungen die Rhetorik im 4.–5. Jahrhundert v. Chr. entstanden war.
2. Entstehung im antiken Griechenland: Platon und die Sophisten Damit sich eine Kultur herausbilden kann, in der die Kunst der Rede einen geeigneten Ort findet, um sich zu entwickeln, bedarf es elementarer Bedingungen. So muss gewährt sein, dass öffentliches Reden möglich oder sogar notwendig ist. In einer Kultur, die öffentliche Auseinandersetzungen nicht zulässt, kann sich eine Redekunst schwer entfalten. Anders gesagt: Eine Gesellschaft, die demokratisch organisiert ist, fordert sie geradezu heraus. So sollen im 5. Jahrhundert v. Chr. in Sizilien die Redner Teisias und Korax nach dem Sturz der Tyrannenherrschaft (467 v. Chr.) Formen der Prozessreden entwickelt haben. Ebenso bot die griechische Polis der Rhetorik ein ausgezeichnetes Forum. Hier konnten sich Redegattungen wie die Gerichtsrede, das sogenannte genus iudicale, oder die beratende (politische) Rede, das genus deliberativum, systematisch entwickeln. Aber auch die Festrede, das genus demonstrativum, wurde in der Praxis reichlich erprobt. Als die alte Polis mit dem Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta (431–404 v. Chr.) zerfiel, kam es zu Auseinandersetzungen und rechtlichen Streitfällen, die einen weiteren Nährboden für die Rhetorik bildeten. Einer der letzten großen Redner, der die Werte der alten Polis zu verteidigen suchte, war Demosthenes (384–322 v. Chr.). In diesem Sinne sind seine Olynthischen und Philippischen Reden leidenschaftliche Plädoyers. Cicero schätzte Demosthenes sehr: In Erinnerung an sein berühmtes Vorbild nannte er seine Reden gegen Antonius Philippische Reden. Bereits zur Blütezeit der Polis zogen die Sophisten nach Athen und gründeten eigene Rednerschulen. Auch wenn sie besonders durch die platonischen Dialoge in Verruf geraten sind, ist ihre kulturelle Leistung unbestritten, waren sie doch Ausdruck einer großen Aufklärungsbewegung. Gemäß dem Prinzip der „Redegleichheit“, die allen Bürgern das gleiche Recht zugestand, öffentlich ihre Meinung zu äußern, zogen sie tradierte Normen und Vorstellungen in Zweifel (Schirren/Zinsmaier 2003, Einl. 14; vgl. Robling 2007, 61 f.). Den festen Glauben an die Götter und die bestehenden Gesetze stellten sie auf den Prüfstand und rüttelten an den Grundfesten einer noch archaisch geprägten Kultur, die sich gegenüber Neuerungen und Wandel schwer tat. Den Sophisten hat die Idee der Bildung etliche fruchtbare Impulse zu verdanken. Unter ihnen fanden sich so berühmte Redner wie Lysias (444–380 v. Chr.) oder Isokrates (436–338 v. Chr.), beide sogenannte Logographen, die gegen Bezahlung Reden verfassten. In der Erziehung der Jugend, der Paideia, wies Isokrates der Rhetorik eine herausragende Stellung
2. Entstehung im antiken Griechenland
zu: Redenkönnen sah er als ausgesprochen wichtige Fertigkeit an, um sich in der Lebenswelt zu behaupten. Seine Reden Helena und Busiris gelten als Musterstücke. Wegen seiner Stilistik und seines pädagogischen Engagements wird Isokrates der zweiten sophistischen Schule zugerechnet. Er war ein Schüler des radikal sophistischen Gorgias von Leontinoi (ca. 480–380 v. Chr.), nach dem Platons Dialog benannt ist. Als Wanderredner gab Gorgias auch Redeunterricht, der ihm ein beachtliches Vermögen sicherte. Erhalten sind von ihm zwei Musterreden, der Palamedes und die Helena. In der Helena reflektiert Gorgias auch theoretisch über das Verhältnis zwischen Redner und Zuhörer. Er betont die Wirkung der Rede, der sich die Zuhörer, selbst wenn sie es wollten, nicht entziehen können. Gorgias befreit Helena, die Paris’ Werben erlegen war, von Schuld: Die „Rede“ habe ihre „Seele überredet“ und sie bezwungen (Schirren/Zinsmaier 2003, 85). Sie hatte keine andere Wahl. Gorgias löste radikal die Wirkung der Rede von ihrem Gegenstand ab und gestand dem Redner die Macht zu, seine Zuhörer von allem überreden zu können, wenn er die Redekunst gut beherrscht. Er verpflichtete das Reden folglich nicht darauf, möglichst von dem ,Wahren‘ zu überzeugen, wie es Aristoteles in seiner Rhetorik fordert. Er rückte nicht die Frage in den Vordergrund, ob die Absicht eines Redners ,falsch‘ oder ,richtig‘ sei. Die ethische Komponente des Redens fällt weniger ins Gewicht als die Macht des Redners, der seine Zuhörer in der Hand hat. In Platons Gorgias befragt Sokrates den Sophisten kritisch zu den Kriterien seiner Redekunst. Er prüft Gorgias’ Selbsteinschätzung, dass er ein ,vollkommener Redner‘ sei (Platon, Gorgias, 449a). Gorgias erläutert, das Ziel seiner Rhetorik bestehe darin, „durch Worte zu überreden“ (ebd., 452e). Derjenige habe „Gewalt“ über seine Zuhörer, der verstehe, „zu sprechen und die Menge zu überreden“ (ebd.). Nach seiner Auffassung bringt die Redekunst kein Wissen hervor, sondern einen Glauben von den Dingen. Deshalb bezeichnet Sokrates die sophistische Rede kritisch als „Meisterin in einer glaubenmachenden, nicht in einer belehrenden Überredung in bezug auf Gerechtes und Ungerechtes“ (ebd., 455a). Nach Gorgias ist das Reden eine Fähigkeit, die in jedem Berufsstand notwendig ist. Wenn etwa ein Arzt den Kranken nicht mehr überreden könne, die Medizin zu nehmen, dann leiste dies der Redner (vgl. ebd., 456b f.). Die Hintergründe für diese Vorstellung von Rhetorik, die von allem überreden kann, wenn die rednerischen Mittel wirksam eingesetzt sind, liegen in der radikal erkenntniskritischen Haltung der Sophisten der ersten Generation begründet. Sie lehnten die Existenz eines unverbrüchlich Seienden ab, die Platons Ideenlehre fundiert. In einer Schrift Über das Nichtseiende oder über die Wahrheit, die vielleicht von Gorgias stammt, heißt es: 1) daß nichts ist; 2) daß, wenn es ist, es dem Menschen nicht erfaßbar ist; 3) daß, wenn es erfaßbar ist, man es wenigstens nicht aussprechen und den Menschen mitteilen könnte. (Schirren/Zinsmaier 2003, 63) Aus dieser Sentenz spricht mit dem Erkenntnispessimismus eine sprachkritische Haltung. Auch wenn etwas existierte und für den Einzelnen verstehbar wäre, könnte er sich doch seinen Mitmenschen nicht mitteilen. Zwangsläufig resultieren aus dieser Prämisse Folgen für die Redekunst. Sie muss sich
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II. Rhetorik und ihre Anfänge
Sophistische Redekunst: ,Das Schwächere zum Stärkeren machen‘
Aristoteles und das Wahrscheinliche
nicht darauf verpflichten, etwas Seiendes oder gar Wahres aufzufinden. Auch der noch so kunstfertigen Sprache ist es nicht möglich, dieses zu formulieren, geschweige denn mitzuteilen. Die Sophisten wussten allerdings auch, dass die alltägliche Lebenswelt den Einzelnen Entscheidungen für oder gegen etwas abverlangt. Das Handeln nach objektiv richtigen Maßstäben war aber nach ihrer Einsicht nicht möglich, weil es diese nicht gab. Folglich bestand für sie das Ziel der Erziehung, der Paideia, darin, Meinungen (dæjai / doxai) hervorzubringen, die ein Handeln in der Welt ermöglichen sollten. Ihre Redekunst verwendeten sie eben darauf, die Menschen dazu zu bringen, Meinungen zu entwickeln und aufgrund dieser ihre Entschlüsse zu fassen. Die grundlegende These der Sophisten lautete, dass Meinungen konstruiert, geschaffen oder gesetzt werden. Sie nahmen an, dass generell die Sitten und Gebräuche der Menschen auf Übereinkunft und Konventionen beruhen, aufgrund einer Setzung (yfisei / thesei) entstehen und nicht von Natur aus (fn’ sei / physei) vorhanden sind. Sitten, Gebräuche und Meinungen könnten sich schnell ändern, es komme nur darauf an, neue Übereinkünfte und Konventionen festzusetzen. Die Redekunst sahen sie als exzellentes Mittel an, solche Veränderungen zu bewirken, die Menschen zu beeinflussen und sie für neue Meinungen zu gewinnen. Das Selbstbewusstsein der Sophisten drückt sich in der legendären Wendung des Protagoras aus, dass das wahre rednerische Vermögen fähig sei, im geeigneten Augenblick „die schwächere Argumentation zur stärkeren zu machen“ (Schirren/Zinsmaier 2003, 47). Hingegen war für Aristoteles zunächst die Natur der Maßstab, an dem sich die Dinge und Meinungen messen lassen müssen. In seiner Rhetorik heißt es sogar, dass „das Wahre und das von Natur aus Bessere“ auch „überzeugender“ sei (Arist., Rhet., 1355a). Allerdings sah Aristoteles, ursprünglich ein Schüler Platons, auch die Aporien eines moralischen Rigorismus. Er sah, dass die Verpflichtung auf eine abstrakte Wahrheit in der alltäglichen Lebenswelt handlungshemmend sein kann. Im Sinne einer Redekunst, die auch lebenspraktisch tauglich sein und zu Entscheidungen führen können muss, die vielleicht in kurzer Zeit zu treffen sind, verteidigte er bei aller Polemik gegen die Sophisten die Kategorie des Wahrscheinlichen, weil sie eine gewisse Orientierung bieten kann und Handlung in dem Fall ermöglicht, wenn die Wahrheit nicht deutlich zu finden ist. Musste Sokrates, der vor dem Hintergrund der platonischen Ideenlehre argumentierte, das Wahrscheinliche als Maßstab ablehnen, so erkannte Aristoteles die Möglichkeit an, die Zuhörer mit wahrscheinlichen Argumenten zu überzeugen. Das rhetorische Beweisverfahren (Enthymem) darf zu wahrscheinlichen Schlussfolgerungen und Meinungen (doxai) führen, die in Platons Gorgias ein bloßes Scheinwissen darstellen, die Aristoteles aber aufwertet, weil sie auf Erfahrungen beruhen und insofern von empirischen Wert sind (vgl. ebd.). Kann die Wahrheit nicht zweifellos ermittelt werden, so können Meinungen einen Konsens schaffen, der lebensweltliches Handeln möglich macht. Wenn das Reden sich nicht darauf verpflichten lässt, die Wahrheit zum Vorschein zu bringen, so ermöglicht es dennoch Entscheidungsfindungen auch in unsicheren Situationen. Das Reden hat die Aufgabe, Entscheidungsfindungen sowie Konsensbildung zu leisten, auch und gerade dann, wenn es
2. Entstehung im antiken Griechenland
nicht möglich ist, das tatsächlich Richtige und Wahre zu finden oder auszudrücken. Darin sieht Hans Blumenberg (1920–1996) die spezifische Aufgabe und Leistung der Rhetorik in der Moderne: Handeln ist die Kompensation der ,Unbestimmtheit‘ des Wesens Mensch, und Rhetorik ist die angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des ,substantiellen‘ Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln möglich wird. Unter diesem Aspekt ist Sprache nicht ein Instrumentarium zur Mitteilung von Kenntnissen oder Wahrheiten, sondern primär der Herstellung der Verständigung, Zustimmung oder Duldung, auf die der Handelnde angewiesen ist. Hier wurzelt der consensus als Basis für den Begriff von dem, was ,wirklich‘ ist. (Blumenberg 1993, 108) Folgen wir Blumenberg, so hat die Rhetorik ihren eigentlichen Ursprung in jenem erkenntnistheoretischen Skeptizismus, auf den sich die Redekunst der Sophisten stützte, die es sich zum Ziel setzte, Meinungen und Konventionen zu schaffen. Diese Funktion prägt die Rhetorik auch in der Moderne. Sie hat folglich Anteil an der pragmatischen Herstellung von Lebenswelt und ihren Bedingungen und trägt erheblich dazu bei, dass diese Lebenswelt in ihrer Komplexität und trotz des Fehlens metaphysischer Gewissheiten funktionieren kann. Blumenberg bringt die Sache auf den Punkt: „Rhetorik schafft Institutionen, wo Evidenzen fehlen“ (ebd., 110).
3. Der ideale Redner Die Wirkung, die Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), römischer Staatsmann und Politiker, hinsichtlich der Redekunst im antiken Rom ausgeübt hat, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er wurde für die weitere geschichtliche Entwicklung der Rhetorik bis in die Frühe Neuzeit hinein zum Leitstern und auch heute gehören so manche seiner Reden zum Kanon der Lektüre an Schulen und Universitäten – beispielsweise die Reden gegen Verres, einen korrupten Statthalter auf Sizilien (In Verrem) sowie die Reden gegen Catilinia, den er des Amtsmissbrauchs überführte (In Catilinam). Ciceros besondere Leistung bestand zum einen darin, auf die Bedeutung der attischen Redner wie Demosthenes, Lysias, Isokrates u. a. hinzuweisen und die Rhetorik an diese Tradition zurückzubinden. Er führte die Arbeit von Hermagoras von Temnos weiter, der bereits im 2. Jahrhundert die Grundlagen der griechischen Rhetorik in Rom eingeführt hatte. Zum anderen war für Cicero diese Rehabilitierung der alten griechischen Redekunst mit einem wichtigen Anliegen verknüpft: Er wollte die Trennung von Rhetorik und Philosophie aufheben, die Sokrates in der Apologie durch seine Kritik an den Sophisten nahegelegt hatte. Als politisch umtriebiger und einflussreicher Staatsmann sah er die Notwendigkeit, die Rhetorik auf philosophische Füße zu stellen, anders gesagt: immer wieder daraufhinzuweisen, dass zwischen diesen beiden Feldern eine Allianz bestehe, der sich der öffentlich Redende bewusst zu sein habe. In dem fingierten Gespräch, das in De oratore / Über den Redner Crassus und Antonius über die Rhetorik führen, wird explizit Sokrates dafür verantwortlich gemacht, dass den einen die Weisheit zugestan-
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II. Rhetorik und ihre Anfänge
Beredsamkeit und Weisheit
Beredsamkeit und Wissen / Übung und Begabung
den wurde, den anderen das gute Reden (vgl. Cic., De orat., 3.60). Dieses „Zerwürfnis zwischen Zunge und Gehirn“ sei ,unsinnig‘ und ,nutzlos‘ (ebd., 3.61). In Ciceros Vorstellung ist der Schulterschluss zwischen Philosophie und Rhetorik vor allem von den Staatsmännern zu leisten, denen mit der politischen eine ethische Verantwortung zukommt. Der Redner hat nicht nur politisch, sondern auch menschlich ein Vorbild zu sein. Ein bemerkenswerter Appell für die Verbindung von Rhetorik und Philosophie findet sich im ersten Proömium der Schrift De inventione / Über die Auffindung des Stoffes. Dieses Proömium formuliert eine leidenschaftliche Verteidigung einer Beredsamkeit, eloquentia, die das Bündnis mit der Weisheit, der sapientia, sucht. Cicero räumt wohl ein, dass die Beredsamkeit in der Geschichte viel Übles angerichtet habe. Größer hingegen sei ihr Nutzen gewesen, vor allem dann, wenn sie sich mit der Weisheit verbündet habe (De inv., 1.1). Es sei sinnlos, „geistige und sittliche Bildung“ zu vernachlässigen und all seine Anstrengungen „nur auf Redewendungen“ zu richten (ebd.). Hier konturiert Cicero einen idealen Redner, der rednerisch begabt und zugleich ein sittlichmoralisch vorbildlicher Mensch ist. Seine Redebegabtheit ist eine Frucht auch seiner moralischen Bildung, seiner Tugend. ,Tugend‘ ist ein Begriff, der heute etwas altertümlich anmutet, für den Bildungsgedanken der Römer aber zentral ist. Die Tugend (virtus) ist das Ziel der Bildung und Grundvoraussetzung für den idealen Redner, der sich der moralischen Verantwortung seiner Rede bewusst ist. Die große Qualität eines solchen Redners, der Beredsamkeit mit Weisheit verbindet, liegt darin, dass er Gemeinschaft stiftet und dazu verhilft, sie zu erhalten, dass er die Menschen dazu bewegen und sie davon überzeugen kann, den besseren Teil in sich zu aktivieren, den geselligen und zur Gemeinschaft und Vernunft fähigen (vgl. ebd.). Vor jeder Vereinnahmung durch geschickte Redner, die die Redekunst missbrauchen, steht für Cicero eine kulturelle Leistung der Rhetorik, ohne dass er dabei in die Emphase eines Sokrates verfällt, dass die Rhetorik die Wahrheit auffinden müsse. Auch der Orator unterstreicht, dass der Redner der Philosophie bedarf: „Denn ohne die Philosophie kann niemand mit breiter Ausführlichkeit über bedeutende und mannigfache Themen reden“ (Cic., Orat., 4.14). Die ,wahre‘ und ,vollkommene Beredsamkeit‘ (vera et absoluta eloquentia) trenne die Beherrschung der Sprache und ihrer Ausdrucksmittel nicht von der Philosophie, nicht von der Erkenntnis der Dinge (ebd., 5.17). In De inventione verbindet Cicero die Beredsamkeit zudem mit der Politik, indem er unterstreicht, dass sie für das Funktionieren des Staatswesens unerlässlich sei: Die Rhetorik sei ein Teil der politischen Wissenschaft (civilis scientia, vgl. Cic., De inv., 1.5). Ciceros Schrift De oratore zeichnet das Bild vom idealen Redner noch schärfer. Er erscheint zum einen als moralisch integre Persönlichkeit, zum anderen als ausgesprochen kenntnisreich. Er ist „ein Ehrenmann“, ein vir bonus (Cic., De orat., 2.85), genießt ein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit und kennt sich auf vielen Wissensgebieten aus. Er überzeugt durch seine Glaubwürdigkeit (vgl. Mayer 2007, 17–21). Prinzipiell ist er in der Lage, über alles kenntnisreich zu sprechen, da er sowohl auf der Grundlage der antiken artes liberales allgemeingebildet als auch in „Geschichte, Philosophie und Recht“ kundig ist (Robling 2007, 111). Daraus folgt, dass dem Red-
3. Der ideale Redner
ner das Redenkönnen nicht einfach so zufliegt, sondern er muss sich intensiv Wissen in vielen Studienfächern aneignen, sich mit ehemaligen großen Rednern beschäftigen und sich auch die Theorie der Redekunst aneignen und sich immer wieder im Reden üben. Zu dieser Ausbildung und den Übungen, die sowohl das Reden aus dem Stegreif als auch schriftliche Ausarbeitungen umfassen (exercitatio, vgl. Cic., De orat., 1.150), muss jedoch eine „natürliche Begabung“ hinzutreten (ingenium, vgl. ebd., 1.113). Da eine solche Begabung von Natur aus als gegeben angenommen wird, können bestimmte Voraussetzungen eines guten Redens nicht erlernt werden. Als natürlich gegeben gelten beispielsweise Scharfsinnigkeit, eine gewisse Schnelligkeit im Denken, aber auch Stimme und äußerliche Gestalt (vgl. ebd., 1.114). Kann einerseits auch eine noch so fleißige exercitatio ohne dieses ingenium nicht viel ausrichten, so bedarf andererseits das ingenium der exercitatio. Das ingenium steht „als Talent zur Kombination und Anwendung der Regeln über dem Schulwissen“ (Robling 2007, 111). Ein geringes ingenium kann aber nicht vollkommen durch die exercitatio ausgeglichen werden, will heißen, natürliche Begabung ist die Grundvoraussetzung eines idealen Redners. Anders als dies heute oft der Fall ist, hielten damals die Redner ihre Reden selbstverständlich auswendig. So betont Cicero in De oratore, dass ein guter Redner ein gutes Gedächtnis (memoria) haben müsse (Cic., De orat., 1.64). In der systematischen Rhetoriktheorie bildet das Auswendiglernen den vierten Arbeitsschritt: nach der Auffindung des Stoffes (inventio), der Anordnung der Argumente (dispositio) und der sprachlichen Ausgestaltung (elocutio) und vor dem Halten der Rede (actio). Dass das Memorieren einen eigenen Arbeitsschritt darstellt, zeigt, welch große Bedeutung der Gedächtnisleistung des Redners zuerkannt wurde. Die Rhetorica ad Herennium beschreibt diesen Arbeitsschritt: „Das Sicheinprägen ist das feste geistige Erfassen der Gegenstände, der Worte und der Gliederung“ (Rhet. ad Her., 1.2.3). Die memoria wird als „Schatzkammer“ (thesaurus) und als „Hüter aller Teile der Redekunst“ (omnium partium rhetoricae custos) bezeichnet (ebd., 3.16.28). Durch diese Bezeichnungen erhält das Gedächtnis zwei Konnotationen: Es ist zum einen ein Ding, ein Aufbewahrungsort, zum anderen eine Art Person, die eine Tätigkeit ausführt (vgl. Berns 2003, 539). Für diese Tätigkeit des Sicheinprägens wurde eine eigene komplexe Technik entwickelt, die sogenannte Gedächtniskunst (ars memorativa) oder Mnemotechnik. Sie basiert auf dem Prinzip, dass für die Dinge, die verhandelt werden, für Wörter, Sinnabschnitte und ganze Redeteile, jeweils eigene Orte und Bilder, loci und imagines, gesucht und die Bilder den Orten zugewiesen werden. So entsteht ein „Erinnerungsgebäude“, das der Redner beim Vortrag in seinem Geiste durchwandert. „An allen erinnerten Orten“ nimmt er die dort „deponierten Bilder“ ab (Yates 2001, 12). Die Rhetorica ad Herennium führt als Beispiel eine Anklagerede an, in der es darum geht, dass ein Mann anlässlich eines Erbschaftsstreits vergiftet wurde. Man könnte sich einen Kranken in seinem Bett vorstellen, der als Zeichen für die Vergiftung in der einen Hand einen Becher trägt. In der anderen Hand trägt er eine Schreibtafel als Hinweis darauf, dass das Motiv für die Vergiftung ein Erbschaftsstreit war. Außerdem trägt er an einem seiner Finger die Hoden eines Widders (testiculi) als Zeichen dafür, dass es Zeugen (testes) für diese Tat gibt. Dieses Gedächtnisbild könnte weiter ausgeführt und schließlich die Rede mit Hilfe der
Beredsamkeit und Gedächtnis / Gedächtniskunst
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II. Rhetorik und ihre Anfänge
gewählten Orte und Bilder memoriert werden (vgl. Rhet. ad Her., 3.20.33). An diesem Beispiel ist zu erkennen, dass die Gedächtniskunst eine komplexe Technik darstellt und einiges erfordert: die Orte und Bilder müssen einerseits prägnant gewählt sein, sich andererseits auch leicht einprägen lassen. Denn auch an sie muss man sich erinnern. Da das Gedächtnis ein Vermögen darstellt, besteht die Frage, in welcher Beziehung es zu der natürlichen Begabung steht, die der ideale Redner mitbringen muss. In De oratore heißt es, dass „die natürliche Begabung die wichtigste Voraussetzung“ für ein gutes Gedächtnis sei (Cic., De orat., 2.356). Allerdings lasse sich das Gedächtnis durch Übungen fördern und sei sogar darauf angewiesen, trainiert zu werden (ebd., 3.357). Cicero erläutert jene Technik, die die Rhetorica ad Herennium beschreibt und begründet ihren Vorteil damit, dass sich Bilder und Orte, die sich der Gesichtssinn einmal eingeprägt habe, gut zur Gedächtnisstütze verwenden und leicht merken ließen (vgl. ebd.). Die Gefahr einer Überladung des Gedächtnisses sieht er nicht, sondern bekräftigt die Notwendigkeit dieser Technik, die schlummernde Gedächtniskräfte zu Tage fördern könne (ebd., 3.360).
4. Die Dreistillehre und das Ideal der Angemessenheit Der ideale Redner vermag es, zu jedem Anlass die richtigen Register zu ziehen. Er ist prinzipiell jeder Situation gewachsen und auch fähig, aus dem Stegreif die richtigen Worte zu finden und die Zuhörer zu überzeugen. Nicht zu jeder Rede passt jeder Stil. In Abhängigkeit von den zentralen Aufgaben des Redners (officia oratoris) und im Hinblick auf das Ideal der Angemessenheit entwickelte vor allem Cicero die sogenannte Dreistillehre, die bis in die Frühe Neuzeit zu einer leitenden Konstante der Rhetoriktheorie wurde. In einer prägnanten Passage im Orator heißt es: Es gibt so viele Stilarten, wie es Aufgaben des Redners gibt: den schlichten Stil, wenn es darauf ankommt, zu überzeugen; den gemäßigten, wenn man Gefallen finden will; den leidenschaftlichen, wenn es darum geht, erschütternden Eindruck zu machen. In diesem einen liegt die gesamte Wirkungsmöglichkeit des Redners. Über ein sicheres Urteilsvermögen und höchste Fähigkeit wird also der verfügen müssen, der diese dreigeteilte Wandlungsfähigkeit im richtigen Maß und Verhältnis einsetzen soll. Denn er wird sich ein Urteil zu bilden haben, was jeweils nötig ist, und er wird so zu reden vermögen, wie es der Fall auch immer erfordert. Aber die Redekunst hat wie die anderen Fähigkeiten ihre Grundlage in der Weisheit. Denn wie im Leben so gibt es auch in der Rede nichts Schwierigeres, als zu sehen, was angemessen ist. Die Griechen bezeichnen das als pr¡pon (prépon), wir wollen es einfach geziemend nennen. (Cic., Orat., 21.69 f.) Belehren, Unterhalten, Bewegen
Bei der Wahl des Stils muss der Redner zunächst überlegen, welche Wirkung er beim Zuhörer erzeugen möchte. Bei den drei zentralen Aufgaben des Redners (officia oratoris) handelt es sich um das Belehren oder Beweisen (docere oder wie hier probare), das Unterhalten (delectare) oder das Bewegen (movere oder wie hier flectere).
4. Die Dreistillehre und das Ideal der Angemessenheit
(1) Will ein Redner belehren oder etwas darlegen und beweisen (docere / probare), wählt er den schlichten Stil. Die Grundlage einer solchen Beweisführung bilden eher rationale Argumente, die im genus subtile (einfach) vorgetragen werden. Für den einfachen oder ,niederen Stil‘ finden sich im Lateinischen neben genus subtile u. a. auch die Bezeichnungen humile (niedrig, gering, alltäglich) oder tenue (gering, schlicht, einfach). Die Schlichtheit drückt sich beispielsweise aus in der Wortwahl oder in der Verwendung des Redeschmucks, des ornatus, aber auch in der Syntax, in einfachen und leicht nachzuvollziehenden Satzperioden. (2) Will der Redner hingegen Gefallen erregen bzw. unterhalten (delectare), dann wählt er den gemäßigten Stil, das genus modicum oder auch mediocre bzw. medium (ausgewogen, in der Mittellage), wobei er den Redeschmuck maßvoll einsetzt. Spricht der ,niedere Stil‘ nicht nur, aber vor allem den Verstand der Zuhörer an, so ist der ,mittlere Stil‘ dazu angetan, auch Affekte zu erregen, die aber den Verstand nicht ausschalten sollen. Er hält die goldene Mitte zwischen den Extremen der einfachen und nüchternen Beweisführung und der pathosreichen Rede. (3) Die im genus vehemens (heftig, leidenschaftlich) vorgetragene Rede legt es vollständig darauf an, die Affekte der Zuhörer zu erregen und emotional zu bewegen (movere/flectere). Neben vehemens finden sich auch die Bezeichnungen grande oder grandiloquus (großartig, feierlich). Dieser Stil ist „der ,hypnotischste‘“ (Spang 1994, 923). Für eine solche pathosreiche Rede bei beispielsweise feierlichen Anlässen werden auffallender Schmuck verwendet sowie gegebenenfalls gewagte und ungewöhnliche Satzgefüge, die allein schon durch ihre Ästhetik Aufmerksamkeit erregen. Der ,hohe Stil‘ kann, wenn er nicht gut beherrscht wird, leicht in ein übertriebenes Pathos oder in Schwulst ausarten. Diese drei Stilhaltungen sind nun nicht ohne Weiteres drei bestimmten Redeanlässen oder Redegattungen zuzuordnen. Zwar wird vor allem der einfache Stil, das genus subtile, verwendet, wenn es darum geht, etwas möglichst objektiv darzustellen, etwa eine Beweisführung vorzunehmen, in die die Zuhörer problemlos Einblick nehmen können, so vorzugsweise in der Gerichtsrede (genus iudicale) oder in der beratenden Rede (genus deliberativum). Allerdings kann es auch hier angebracht oder angemessen sein, Witziges einzustreuen und die Zuhörer zu unterhalten oder durch Pathos Affekte zu erregen. Oberstes Gebot ist es, die Zuhörer aufmerksam zu machen (attentum parare) und ihre Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten (vgl. Rhet. ad Her., 1.7). Sicher wird für die Festrede, das genus demonstrativum, vorzugsweise der hohe Stil verwendet, das genus vehemens. Allerdings kann es sich hier empfehlen, etwa bei einer Hochzeitsrede, vorübergehend in den unterhaltenden Gestus zu wechseln. Aus dem oben angeführten Zitat aus dem Orator wird deutlich, dass sich Weisheit und Kunst des Redners gerade darin erweisen, zwischen diesen drei Stilhaltungen zu wählen, sie zu wechseln oder sie zu vermischen. Laut Quintilian ist die Angemessenheit das „allernotwendigste“ Stilprinzip (Inst. orat., 11.1.1). Die Dreistillehre bildet eine theoretische Leitlinie für die Angemessenheit, wobei aber etliche weitere Aspekte zu beachten sind. Beispielsweise muss bei der Wahl des Stils der Ort berücksichtigt werden, an dem die Rede gehalten wird, die Rezipienten, ihre Anzahl und ihr Alter –
Stilhaltungen und Redeanlässe
Angemessenheit, prepon, aptum, decorum
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II. Rhetorik und ihre Anfänge
Deutlichkeit (perspicuitas)
gegebenenfalls auch ihr Geschlecht. In der modernen Kommunikationstheorie spricht man von den ,Receiver-Faktoren‘ (vgl. Mayer 2007, 91). Ob ein Redner angemessen reden kann, ist zudem von seinem Wissen und seiner Erfahrung, von seiner Klugheit abhängig (vgl. Cic., De orat., 3.212). Eine Rede erhält erst dann ihr Tüpfelchen auf dem i, wenn der Redner all seine Begabung anwendet, um vielleicht auch einmal gegen die Regeln zu verstoßen – auch dies kann angemessen sein. Wie ließe sich diese schwer fassbare Angemessenheit definieren? Für ,angemessen‘ finden sich im Lateinischen die Wörter ,aptum‘ oder ,decorum‘, im griechischen pr¡pon (prepon). Aristoteles’ Rhetorik definiert ,Angemessenheit‘ im sprachlichen Ausdruck als eine Art Mittellage. Angemessen sei eine Rede dann, wenn sie verständlich sei sowie „nicht zu banal und nicht über die Maßen erhaben“ (Arist., Rhet., 1404b). Dies impliziert, dass sich eine Rede auf dem schmalen Grad zwischen natürlicher und künstlicher Ausdrucksweise bewegen soll. Dem gekünstelten Reden trauen die Zuhörer nicht. Allerdings schließen sich Angemessenheit und Kunstfertigkeit keinesfalls aus. Im Gegenteil vermag es ein guter Redner, seine hochgradige Kunstfertigkeit durchscheinen zu lassen, sie aber zugleich zu verbergen, das Prinzip der dissimulatio artis zu beherrschen. Ein Redner soll seine Rede „unmerklich komponieren und nicht den Anschein des gekünstelten, sondern des natürlichen Redens erwecken – diese nämlich ist überzeugend“ (ebd.). Der Schein des Natürlichen gewährt, dass eine Rede angemessen wirkt. Zur Angemessenheit gehört vor allem die Deutlichkeit bzw. die Verständlichkeit, die perspicuitas. Auch wenn Cicero die Deutlichkeit als eine von vier Vorschriften aufzählt, nach dem sprachlich richtigen und vor dem wirkungsvollen und dem angemessenen Sprechen (Cic., De orat., 1.144, vgl. Göttert 1998, 39), bildet sie doch mit eine Grundlage der Angemessenheit. Deutlichkeit garantiert das Verstehen und die Einsicht in den dargestellten Sachverhalt und schlägt eine Brücke vom Redner zu seinen Zuhörern. Im Lateinischen finden sich die Bezeichnungen plane oder dilucide loqui, als Substantive perspicuitas, claritas oder explanatio. Die Rhetorica ad Herennium nennt drei notwendige Qualitäten der Rede: „Gewähltheit“ (elegantia), eine „gehörige Anordnung“ (compositio) und eine „würdige Darstellung“ (dignitas, Rhet. ad Her., 4.17). Elegantia wird durch den reinen und grammatisch richtigen Ausdruck und durch Deutlichkeit gewährt. Voraussetzung für Deutlichkeit wiederum ist die angemessene Wahl der Worte (verba). Sie sollen nicht entlegen sein und die Sache (res) treffen (vgl. ebd.). Quintilian widmet in seiner Institutio oratoria der Deutlichkeit ein eigenes Kapitel. Deutlichkeit ist dann erreicht, wenn der ,eigentliche Ausdruck‘ verwendet wird, das verbum proprium (vgl. Quint., Inst. orat., 8.2.3). Gegen das Prinzip des eigentlichen Ausdrucks zu verstoßen, heiße einen „Fehler“ zu begehen (ebd.). Quintilian unterstreicht aber, dass dieses Prinzip nicht ausschließt, Metaphern zu verwenden, weil diese mitunter den eigentlichen Sinn der zu vermittelnden Sache deutlich machen und dem Verständnis dienen können (vgl. ebd., 8.2.6). Zu vermeidende Gegenteile der Deutlichkeit sind Dunkelheit des Ausdrucks (obscuritas), Zweideutigkeit (ambiguitas) und Geschwätzigkeit (loquacitas). Diese Fehler stellen sich ein, wenn Worte benutzt werden, die be-
4. Die Dreistillehre und das Ideal der Angemessenheit
reits aus dem Gebrauch gekommen oder solche, die nicht überall bekannt sind oder einen dialektalen Einschlag besitzen. Auch zu lange und komplizierte Sätze arbeiten der Deutlichkeit entgegen. Allerdings ist zu beachten, dass gegebenenfalls auch diese Fehler als Stilmittel eingesetzt werden können, etwa bewusst eine Tatsache verdunkelt dargestellt werden kann, um Spannung zu erzeugen. Es liegt auf der Hand, dass das Kriterium der Angemessenheit zu einer Schnittstelle zwischen Ästhetik und Ethik führt. So heißt es im Orator, dass das Thema des ,Schicklichen‘ oder ,Angemessenen‘ im Grunde zu „den Fragen des rechten Handelns“ gehöre (Cic., Orat., 21.72). Als angemessen oder unangemessen können auch menschliche Verhaltensweisen bezeichnet werden. In der antiken Rhetoriklehre meint die Angemessenheit einer Rede zugleich die Fähigkeit des Redners, sich in bestimmten Situationen mit seiner Meinung zu behaupten. Ziel der Angemessenheit ist zum einen, die Zuhörer zu überzeugen, zum anderen und damit verbunden aber auch, der eigenen Person eine sichere Position zu verleihen. Indem man sich angemessen verhält, schützt man sich, wendet ,praktische Klugheit‘ an (vgl. Cic., De orat., 3.212). Insofern ließe sich die Angemessenheit auch „als Variante des biologischen Prinzips der Anpassung begreifen, d. h. der Fähigkeit von Lebewesen, sich zum Zweck des Überlebens wechselnden Anforderungen der Umwelt anzugleichen“ (Asmuth 1992, 579). Ob nun eine Rede, ein Kunstwerk oder menschliches Verhalten als angemessen oder unangemessen bewertet wird, hängt stets mit dem jeweils herrschenden Normen- und Wertesystem zusammen. Die Antike mochte sich leichter tun, besaß sie noch den Maßstab des ,Schönen‘ und des ,Guten‘, in deren Nähe die Angemessenheit angesiedelt ist. Im Zuge der Diskussionen um den angemessenen Stil entwickelte sich seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. der Attizismus oder stilus atticus zu einem maßgeblichen Stil in Redekunst und Kunstprosa. Die sogenannten Attizisten verfolgten eine ästhetische Programmatik, die sich einem schlichten und einfachen Stil verschrieb. Sie beriefen sich auf die attischen Redner des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., wie Lysias oder Demosthenes, wobei der stilus atticus vor allem ein ästhetisches Prinzip darstellte. Die Attizisten traten als Wächter der Sprache und als Vertreter eines puristischen Stils auf. Sie reagierten auf diejenige Gruppe von Rednern, die sich fremden Einflüssen und Sprachen, besonders aus den asiatischen Provinzen, gegenüber öffneten, um neue und ungewohnte Formen des Ausdrucks zu erproben. Aus der Perspektive der Attizisten waren diese Neuerer im Bereich der Rede ,Asianisten‘. ,Asiaticus‘ fungierte folglich als „ein polemisches Schlagwort jener Attici zur Diskreditierung ihrer Gegner“ (Adamietz 1992, 1114 f.) Die Attizisten warfen den Asianisten vor, sich neumodischer Rede- und Schreibweisen zu bedienen, die altehrwürdigen Vorbilder zu verachten und somit die eigene Kultur in Gefahr zu bringen. Aus Sicht der Attizisten pflegten die Asianisten einen Stil, der in jeder Hinsicht ein gewisses Maß überschritt, jene Angemessenheit, jenes sogenannte schwer fassbare aptum. Was bedeutete dies in der Praxis? Es wurden neue Wörter erfunden, Neologismen, ungewöhnliche Satzperioden konstruiert, Satzbrüche (Anakoluthe) verwendet oder schwer nachvollziehbare grammatische Konstruktionen. Das Ziel des attischen Stils hingegen war Eleganz (elegantia). Dies forderte Schlichtheit und die sichere
Angemessenheit an der Schnittstelle zwischen Ästhetik und Ethik
Attizismus versus Asianismus
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II. Rhetorik und ihre Anfänge
Wahl des angemessenen Wortes (dilectus verborum). Die Redetheorie der Attizisten legte den Schwerpunkt auf den sprachlichen Ausdruck, auf die elocutio (fra’ siw, phrasis). Bei der elocutio handelt es sich um den vierten der fünf Schritte, die der Redner gemäß der klassischen Ausbildung beim Verfassen der Rede absolviert, nach der Auffindung des Stoffes (inventio) und der Anordnung der Argumente (dispositio) und vor dem Einprägen des zu Redenden (memoria) und dem öffentlichen Auftritt (actio, vgl. Rhet. ad Her., 1.3). Zur Diskussion standen stets mögliche Definitionen der jeweiligen Stilrichtungen. Genau zu bezeichnen, welcher Stil ,attisch‘ oder welcher ,asianisch‘ sei, setzte bereits einen gewissen Konsens über ästhetische Grundsatzfragen voraus, der aber nicht immer zu erlangen war (vgl. Cic., Orat., 9.28). Im Laufe der Auseinandersetzungen kristiallisierte sich eine Art Programm des Attizismus heraus, dem sich besonders Dionysios von Halikarnassos (geb. ca. 60 v. Chr.) verschrieben haben soll. Er verfasste eine Schrift über die alten Redner, De oratoribus veteribus, die zum einen eine Geschichte der Beredsamkeit darstellt, zum anderen eine Anleitung zur Redekunst. In der Schrift Über die Anordnung der Wörter / De compositione verborum beschäftigt er sich mit Stilfragen. Besonderes Vorbild war, wie auch für Cicero, der attische Redner Demosthenes. Die Geschichte Roms / Antiquitates Romanae vergleicht die Entwicklung der Stadt Rom mit derjenigen der griechischen Polis. Hatte hier die ideale Redekunst der attischen Redner ihre Verankerung, so soll ihre Redeweise auch Vorbild für die Redekunst der eigenen Zeit sein. Allerdings verschwand mit dem Übergang der römischen Republik zum Prinzipat die Notwendigkeit der öffentlichen Rede. Der Senat entschied nicht mehr auf der Grundlage öffentlicher Streitreden, sondern hatte die kaiserlichen Anordnungen auszuführen.
III. Rhetorik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit Die Grundlagen der einschlägigen Rhetorikschriften, wie sie im ersten Kapitel dargelegt wurden, sind bis in die Frühe Neuzeit unter veränderten Vorzeichen Konstanten geblieben. Seit dem Aufkommen des Christentums in der Antike ergab sich jedoch für die Sprache, sowohl für die mündliche als auch für die schriftliche, eine neue Aufgabe: Gottes Wort, wie es im Alten und Neuen Testament festgehalten wird, auszulegen, zu verstehen und mitzuteilen. Gleichwohl standen Teile der Kirche der Rhetorik aufgrund ihrer ,heidnischen‘ Herkunft und ihres potenziell verführerischen Charakters kritisch gegenüber (vgl. Ueding/Steinbrink 2005, 49). Dennoch geriet vor allem die Bibel als eine Sammlung von Schriften in den Blick, die selbst mit rhetorischen Begrifflichkeiten zu beschreiben und somit auch mit ihrer Hilfe zu deuten ist. Beispielsweise schien es wichtig, gewisse schwer verständliche Stellen, die unter die Kategorie der Dunkelheit (obscuritas) fallen, zu erhellen, durch die Auslegung Deutlichkeit (perspicuitas) zu stiften. Kirchenväter wie Augustinus (354–430 n. Chr.) oder Hieronymus (348–419/20 n. Chr.) sahen dies als eine ihrer vordringlichen Aufgaben an. Dass gerade Schriften, die biblische Texte auslegen, selbst in hohem Grade auslegungsbedürftig erscheinen, steht dabei auf einem anderen Blatt. Im Mittelalter wurde die Rhetorik zum einen ein wichtiges Fundament für die Predigtlehre, die ars praedicandi, zum anderen erhielt sie innerhalb des Lehrsystems der artes liberales einen festen Ort. Allerdings wurde sie in gewisser Weise zunehmend ,literarisiert‘, geriet zu einem Literaturstudium und wurde unerlässlich für die ,Neue Poetik‘ und die Briefstellerei (diesem Aspekt widmet sich Kap. VII. 1). Einen neuerlichen Aufschwung als öffentliche Redekunst erfuhr die Rhetorik im Zuge der Reformation, deren Ziele zudem durch den Buchdruck entscheidend gefördert werden konnten. Schließlich war besonders im 17. Jahrhundert für die oftmals hochbelesenen Autoren das gute Dichten ein in Sprache gegossenes gutes Reden. Die gelehrten Autoren, die poetae docti, absolvierten bereits im Gymnasium mehrjährige Rhetorikkurse. Viele literarische Texte des 17. Jahrhunderts sind rhetorische Meisterstücke. Das folgende Kapitel erläutert exemplarisch einige wichtige Aspekte der Rhetorikgeschichte bis in die Frühe Neuzeit.
1. Rhetorik in Mittelalter und Humanismus: u.a. Predigtlehre, Ciceronianismus Sowohl die schriftliche als auch die mündliche Auslegungs- und Vermittlungskunst der biblischen Wahrheiten hatte sich einem Problem zu stellen, das an die krisenhaften Anfänge der Redekunst zu Zeiten der Sophisten erinnert. Derjenige, der die Heilige Schrift auslegt und sie anderen verständlich
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III. Rhetorik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit
Vierfacher Schriftsinn
Augustinus’ Kritik an der Rhetorik und der christliche ,vir bonus‘
machen will, ist verpflichtet, ihren wahren Sinn ausfindig zu machen. Den Rezipienten gegenüber hat er eine hohe Verantwortung. Eines der hervorragenden Mittel, das Bibelwort im Sinne des wahren Glaubens verständlich zu machen und es auf die Lebenswelt zu beziehen, war die Auslegung gemäß dem vierfachen Schriftsinn. Angenommen wurde ein buchstäblicher (sensus litteralis), ein allegorischer (sensus allegoricus), ein moralischer (sensus moralis) und ein heilsgeschichtlicher Sinn (sensus anagogicus) der Worte. Augustinus von Dakien (13. Jahrhundert) fasste den vierfachen Schriftsinn in einem Merkvers folgendermaßen zusammmen: „Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia.“ – „Der Buchstabe lehrt, was geschehen ist, die Allegorie, was zu glauben ist, der moralische Sinn, was zu tun ist, die Anagogie, wohin zu streben ist.“ Ein klassisches Beispiel ist das Wort ,Jerusalem‘: Zunächst bedeutet es die historische Staat, dann meint es die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche, zum dritten verweist es auf die Seele des Gläubigen, der nach dem Wort Gottes zu handeln hat, und viertens auf die Heilsgeschichte. Der vierfache Schriftsinn bildet stufenweise Schritte der Erkenntnis ab. Diese nimmt sich vom ersten bis zum vierten Sinn stets komplexer aus und fordert von Stufe zu Stufe einen immer höheren Grad an Einsichtsfähigkeit, Intellektualität und schließlich an Weisheit (vgl. de Lubac 1959–1964). Der vierfache Schriftsinn als Mittel der Schriftexegese gab der Auslegung einen Rahmen vor und hatte zum Ziel, die Zuhörer davon zu überzeugen, dass alles, was in der Welt erscheint und durch Sprache benannt wird, auf die Glaubenswahrheiten zu beziehen ist. Er bildete einen mehr oder weniger verbindlichen Leitfaden sowohl für die ars praedicandi, aber auch für das Verfassen literarischer Texte im engeren Sinne bis in die Frühe Neuzeit hinein. Der eigenen Ausgestaltung (inventio) ließ er einigen Spielraum. Prinzipiell konnte den Prediger leicht derselbe Vorwurf treffen wie die Sophisten, dass es ihm nicht um die Wahrheit gehe, sondern darum, durch schön gedrechselte Reden Effekte zu erzielen. Prägnant und wegweisend hat der Kirchenvater Augustinus besonders im vierten Buch seiner Schrift De doctrina christiana / Die christliche Bildung (fertiggestellt 426/427 n. Chr.) auf dieses Problem hingewiesen. Einerseits unterstreicht er, dass die Beredsamkeit im Dienste des Glaubens steht und deshalb ihre Kenntnis für denjenigen, der ihn vermittelt, notwendig ist. Andererseits hebt er hervor, dass es in Glaubensdingen auch auf ein intuitives Verstehen ankommt, so dass die Sprache, wenn man sie nicht sorgsam einsetzt, auch Verwirrung stiften und die Sache, um die es geht, verdunkeln kann. Ins Zentrum stellt er das „Weitergeben“ der Glaubenserkenntnis und versteht dieses als eine komplexe rhetorische Handlung (August., De doctr. christ., 4.1.2). Wie Cicero, einer seiner wichtigsten Gewährsmänner (vgl. Göttert 1998, 135–138, Ueding/Steinbrink 2005, 54), bestreitet Augustinus, dass die Beredsamkeit vollständig lernbar sei. Alle Kenntnis der rhetorischen Regeln nütze nichts, wenn die „Begabung“ fehle (De doctr. christ., 4.3.10). Demjenigen, der die Aufgabe hat, mit Weisheit das Bibelwort zu vermitteln, jedoch nicht sehr beredsam ist, empfiehlt Augustinus, sich möglichst eng an das Bibelwort zu halten, um es nicht zu entstellen (vgl. ebd., 4.5.21). Demjenigen, der weise und beredsam zugleich sprechen kann,
1. Rhetorik in Mittelalter und Humanismus
empfiehlt er, sich an Vorbildern zu orientieren, nicht jedoch in die Schulen der Rhetoriklehrer zu gehen (vgl. ebd., 4.5.22). Es gibt für Augustinus eine ideale christlich fundierte Beredsamkeit, die man in diesen Schulen nicht lernen könne. Ihr Fundament bilden der Glaube und die Weisheit. Das Ideal einer solchen Beredsamkeit ist dann erreicht, wenn „die Weisheit […] aus dem Herzen der Weisen“ heraustritt und „die Beredsamkeit ihr wie eine unzertrennliche Dienerin – sogar wenn ungerufen – folgt“ (ebd., 4.6.30). Das Gegenteil einer solchen Beredsamkeit sei eine „rhetorische Aufgeblähtheit“ (ebd., 4.6.26) und „Aufgeblasenheit“ (ebd., 4.6.28). Augustinus plädiert für den sermo humilis. Er greift zwar Ciceros Dreistillehre auf (vgl. ebd., 4.17.97), lässt sie aber nur mit Einschränkung gelten. Angesichts der Welt als göttlicher Schöpfung könne es nichts wahrhaft Niedriges geben, sondern nur Erhabenes. Es gehe darum, diese so erhabenen Dinge den Menschen in möglichst einfacher Weise verständlich zu machen (vgl. ebd., 4.19.104; vgl. Auerbach 1958, 42). Augustinus zeichnet in Anlehnung an Cicero das Ideal eines nun christlichen vir bonus, der „zugleich Hörer Gottes“ (Otto 1998, 179) und in Glaubensdingen sehr bewandert ist. Aus dem Impuls heraus, den Menschen die gehörten Worte weiterzugeben, fliegt diesem die Beredsamkeit zu. Als Maßstab des richtigen Predigens gelten die Reden der Apostel, die rhetorisch geschickt aufgebaut sind, aber nicht künstlich wirken. Augustinus zeigt an Beispielen, inwiefern etwa die Reden des Paulus reich sind an klug verwendeten rhetorischen Mitteln (vgl. August., De doctr. christ., 4.7.33–43), ohne dass sie effektvoll ihre Kunstfertigkeit ausstellen und so von ihren Themen ablenken. Die Bibeltexte sind als Ausfluss des göttlichen Geistes zu verstehen. Sie zeugen von einer exklusiven Begabung und von einer Allianz zwischen Beredsamkeit und Weisheit. Die Devise könnte lauten: „Guter Stil“ ist „biblischer Stil“ (Tornau 2006, 354). Die Schrift De doctrina christiana avancierte im Mittelalter zu einem wichtigen Bezugspunkt für die Predigtlehre. Zugleich erhielt die Rhetorik im System der ,Sieben freien Künste‘, der artes liberales, einen festen Ort. Unter der Bezeichnung artes liberales versteht man einen Kanon von sieben Fächern, die sich in zwei Gruppen unterteilen: in das sogenannte Trivium aus Grammatik, Dialektik und Rhetorik und in das Quadrivium aus Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik. Die ,freien Künste‘ bildeten den Gegenpol zu den ,praktischen Künsten‘ (artes mechanicae) und eine Art Vorstudium für die höheren Fächer, die Jurisprudenz, die Philosophie und vor allem die Theologie. Die Grundlage dieses Lehrsystems findet sich im Hellenismus. Die Sophisten entwarfen auf der Basis eines Fächerkanons die Idee einer umfassenden Erziehung, der ⁄gkkliow paidea (enkyklios paideia). Die Bezeichnung ,freie Künste‘ resultierte aus der Vorstellung, dass das Lernen dieser Fächer eines ,freien Mannes‘ würdig war, der – im Unterschied zu einem Sklaven – nicht arbeiten musste, um sein Überleben zu sichern. Die artes liberales studieren zu können, war folglich ein Bildungsprivileg. Ein wichtiger Vermittler der antiken enzyklopädischen Bildungsidee war Martianus Capella. In seiner Schrift De nuptiis Philologiae et Mercurii / Die Hochzeit der Philologie mit dem Merkur (vermutlich 5. Jahrhundert n. Chr.) schenkt Merkur seiner Frau Philologia zur Hochzeit als Dienerinnen die sie-
Das Lehrsystem der artes liberales
Ikonographie: Die Dame Rhetorica
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III. Rhetorik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit
Abb. 1: Christophoro Giarda: die Dame Rhetorica (1628)
ben freien Künste. Die Fächer werden durch allegorische Figuren dargestellt. Die Rhetorik tritt als eine schöne und majestätische Frau in erhabener und zugleich anmutiger Körperhaltung auf. In ihrer Hand hält sie Waffen, mit denen sie ihre Gegner verletzen kann, und auf ihrem Gewand findet sich der ornatus – der Redeschmuck (vgl. Capella, De nupt., 5.426). Der
1. Rhetorik in Mittelalter und Humanismus
Renaissancephilosoph Christophoro Giarda (1572–1649) zeichnet die ,Dame Rhetorica‘ in seinen Icones Symbolicae (1628) ähnlich mit einem reich geschmückten Gewand (Abb.1, Giarda 1979, vor S. 77). Aus ihrem Mund hängen Ketten, mit denen sie Hunde zur ihren Füßen im Zaum hält. Versinnbildlicht wird die Kraft der überzeugenden Rede, die die Zuhörer auf ihre Seite zieht, Gegner wirkungsvoll und zugleich anmutig in beschützende Freunde verwandeln kann. Im Mittelalter bestand das Fach Grammatik vor allem in der Unterweisung der lateinischen Sprache, der Universalsprache in den Wissenschaften und Künsten. Die Dialektik vermittelte die streng logische Beweisführung nach aristotelischem Muster. Die Rhetorik lehrte vor allem sprachlichen Ausdruck und nun weniger das öffentlich wirksame Reden. Der Rhetorikunterricht bestand zu einem guten Teil darin, antike Autoren zu lesen, die als vorbildlich galten. Als ein Fach, das in diesem System vor allem den sprachlichen Ausdruck lehrte, rückte sie zunehmend in die Nähe der Poetik. Angedeutet ist diese Entwicklung von der Rhetorik als Redekunst zur Rhetorik als Schreibkunst auf einer Darstellung aus dem 12. Jahrhundert im Hortus deliciarum der Äbtissin Herrad von Landsberg (Abb. 2). In Anlehnung an Martianus Capella stellen allegorische Figuren die sieben freien Künste dar, denen jeweils Gegenstände zugeordnet sind: der Astronomie ein Astrolabium – ein Gerät, mit dem am Himmel die Winkel zwischen den Sternen und Planeten gemessen werden konnte –, der Geometrie ein Zirkel, der Arithmetik ein Rechenseil, der Musik eine Zitter, der Grammatik eine Rute, der Dialektik eine Schlange und der Rhetorik Tafel und Griffel. Die Zuordnung von Schreibgeräten ist bezeichnend: Die überlieferten Poetiken des Mittelalters und der Renaissance zeigen, dass sich die Rhetorik vorwiegend in den Dienst der Poetik stellte bzw. dass Rhetorik und Poetik eng miteinander verknüpft waren (vgl. Kap. VII. 1). Als tatsächliche Redekunst im öffentlichen Raum darf die in Italien entstehende ars arengandi bezeichnet werden (vgl. Koch 1992). In der sich hier entwickelnden bürgerlichen Stadtkultur diente sie dazu, die Rechte der Bürger politisch und juristisch zu vertreten. Ein sogenannter Podestà, der die notwendigen speziellen juristischen und bürokratischen Kenntnisse besaß, rief Versammlungen ein, war allerdings oft im Reden nicht ausgebildet. Aus diesem Grund entstanden etliche Lehrbücher, Podestàspiegel, die schriftliche Anleitungen und Formulierungen für die jeweiligen Anlässe an die Hand gaben und auch Exempel beinhalteten. Ein früher anonymer Podestàspiegel ist der Oculus pastoralis (1222). Guido Faba (ca. 1190–1245) vermittelt in seiner Sammlung Arenge (1240) eine große Anzahl an Redemodellen. Für den öffentlichen Gebrauch wurden diese Anleitungen in die Volkssprache übersetzt. Es gab jedoch auch Podestàspiegel, die sowohl mit lateinischen als auch mit volkssprachlichen Exempeln arbeiteten. Die ars arengandi weist Schnittstellen mit der ars dictamnis auf (vgl. Kap. VII. 1). Beide greifen auf die klassische rhetorische Systematik zurück. Seit dem 12. Jahrhundert entwickelte sich eine Predigtlehre (Homiletik, ars praedicandi oder auch ars concionandi), die einerseits den Anschluss an Augustinus’ Schrift De doctrina christiana suchte, andererseits systematisch an die antike Rhetoriktheorie anknüpfte. Es war Papst Innozenz III., der im 12. Jahrhundert dem Predigeramt einen neuen Status verlieh und etliche Sat-
Literarisierung der Rhetorik
Ars arengandi
Ars praedicandi, Predigtlehre, Homiletik
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Abb. 2: Herrad von Landsberg: Hortus deliciarum (12. Jh.)
zungen erließ, um die Qualität der Predigten zu verbessern. In der Folge erschienen europaweit hunderte von Handbüchern. Die Forschung spricht von einer ,homiletic revolution‘ (vgl. Murphy, 1990, 310). Zu nennen wäre etwa die Rhetorica divina (1240) des Wilhelm von Auvergne (ca. 1180–1249), die auch Anleitungen zum Beten enthält, oder die etwa zur selben Zeit entstandene Forma praedicandi von Robert von Basevorn. Größere Aufmerksamkeit fanden in Anlehnung an die rhetorische Systematik beispielsweise der Aufbau einer Predigt (compositio), ihre erzählende Passage (narratio) und ihre Beweisführung (argumentatio) durch Gleichnisse sowie die Person des Predigers selbst, sein Verhalten beim Vortrag (actio). Ob-
1. Rhetorik in Mittelalter und Humanismus
gleich die antike Rhetoriktheorie für die christliche Predigtkunst den Maßstab bildete, kam es im Humanismus und im Kontext der Reformation zu einer gewissen Konkurrenzsituation zwischen antiker Überlieferung und Christentum. Im 14. Jahrhundert begannen italienische Humanisten Ciceronianische Schriften neu zu entdecken, zu edieren und zu kommentieren. Ein wichtiger früher Vermittler war Francesco Petrarca (1304–1374) und der Florentinische Kanzler Coluccio Salutati (1331–1406). Beide entdeckten Teile der Briefe Ciceros wieder (Ad familiares) und orientierten sich fortan am Cicerionianischen Stil. Neu entdeckte Reden wurden zum Gegenstand des Rhetorikstudiums. 1499 erschien eine Gesamtausgabe der Ciceronianischen Reden von Filippo Beroaldo dem Älteren (1453–1505). Auch die Institutio oratoria Quintilians wurde 1416 in St. Gallen vollständig wiederentdeckt. Pedantische Kommentare und textkritische Apparate machten aus der Rhetorik ein hochgelehrtes Bücherstudium (vgl. Classen 2003, 11). Außerdem gerieten so manche Philologen in den Verdacht, den Glauben ihrer Cicero-Verehrung aufzuopfern. Dieses Phänomen reflektiert Erasmus (zw. 1466/69–1536) in seinem Dialog Der Ciceronianer (Dialogus cui titulus Ciceronianus sive De optimo dicendi genere / Der Ciceronaner oder der beste Stil des Redens, 1528). Karikiert wird ein eingefleischter Ciceronianer mit Namen Nosoponus, der kränkelnd und blass der Ciceromanie verfallen ist. Diese Satire auf einen Gelehrten, der sein ganzes Leben ausschließlich dem Bücherstudium widmet, jede Geselligkeit meidet und kaum noch Nahrung zu sich nimmt, gipfelt in der ernsten Überlegung, ob in einem ,heidnischen Stil‘ überhaupt über den christlich Glauben zu reden sei (vgl. Erasmus 1995, 325). Der Text schließt mit der Mahnung, dass man Cicero nicht „auf Kosten seines Christseins“ verehren dürfe (ebd., 353). Wie Augustinus mehr als tausend Jahre zuvor, betont Erasmus, dass die Rhetorik im Dienst der Glaubensverkündigung zu stehen habe (vgl. Göttert 1998, 151). Unweigerlich bahnte sich im Zuge der Reformation und der beginnenden Glaubenskämpfe eine neue und facettenreiche Reflexion auf die Rhetorik an. Einen Gegenpol zum Ciceronianismus bildet der ,Anti-Quintilian‘ des Petrus Ramus (1515–1572), die Rhetoricae distinctiones in Quintilianum (1549), eine scharfe und polemische Abrechnung mit Quintilians Institutio oratoria, der ein ,Anti-Aristoteles‘ (Aristotelicae animadversiones 1543) und ein ,Anti-Cicero‘ (Brutinae quaestiones in Oratorem 1547) vorangegangen war. Ramus kritisiert an Quintilians Lehrbuch, dass es nicht mehr zeitgemäß und einer kulturellen Situation angepasst ist, die andere kommunikative Möglichkeiten bot. Für Ramus ist Quintilians Handbuch eine unhaltbare Mischung aus den Fächern Rhetorik, Dialektik und Grammatik, die er klarer unterscheiden möchte. Zur Rhetorik gehört nach seiner Vorstellung nur der Bereich der elocutio und der actio / pronuntiatio, die sprachliche Ausarbeitung der Rede und der eigentliche Vortrag (vgl. Knape 2000b, 243). Ramus’ Kritik nimmt Tendenzen der Rhetorikdiskussion im 18. Jahrhundert vorweg. Zunächst bleibt die klassische Rhetorik jedoch ein zentraler Bezugspunkt sowohl in den theoretischen Diskussionen als auch in der mündlichen und schriftlichen Praxis.
Ciceronianismus
Kritik an der klassischen Rhetorik
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III. Rhetorik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit
2. Rhetorik in der Reformation: Melanchthon, Luther
Melanchthons Erweiterung der Gattungstrias
Martin Luther
Es wäre verkürzt zu behaupten, die Rhetorik verdanke ihre Bedeutung im 16. Jahrhundert vor allem den konfessionellen Auseinandersetzungen bzw. der Reformation, die offiziell 1517 mit Luthers Thesenanschlag in Wittenberg ihren Ausgang nahm. Ohne Zweifel aber wird sie nun verstärkt in den Dienst genommen. In öffentlichen Reden auf Marktplätzen, Flugschriften, ausgearbeiteten Predigten oder anderen Erbauungsschriften wird sie genutzt, um den neuen Glauben zu verbreiten. Zudem ist im Kontext der reformatorischen Debatten, wie im Falle von Erasmus angedeutet, eine ausgeprägte theoretische Reflexion darüber zu beobachten, auf welche Weise der rechte Glaube wirksam und nachhaltig zu verkünden sei. Weiterhin bildeten für diese Überlegungen die antiken Rhetoriktheorien sowie Augustinus’ viertes Buch von De doctrina christiana die Grundlagen. Letzteres wurde im 15. Jahrhundert in etlichen Auflagen nachgedruckt, etwa als Ars praedicandi Sancti Augustini (1465) in Straßburg. Auf dieses stützt sich das Predigtlehrbuch des Reformators Philipp Melanchthon (1497–1560) De officiis concionatoris (1535). Allerdings setzte Melanchthon wie auch Martin Luther (1483–1546) hinsichtlich der Glaubensvermittlung eigene Akzente. Beispielsweise machte sich Melanchthon Gedanken über den Stellenwert der Rhetorik für die Erziehung der Jugend. Er betonte einerseits, dass die Rhetorik ihre Grundlagen in der Dialektik besitzt und warnte andererseits vor allzu ausgefeilten dialektischen Spitzfindigkeiten. Schließlich sah er das Desiderat einer Redeweise, die den Bedürfnissen einer christlichen Erziehung angepasst war. So erweiterte er die antike Trias der Redegattungen genus iudicale, genus deliberativum und genus demonstrativum. Ausgangspunkt war für ihn das genus demonstrativum, die epideiktische Rede, die im Sinne eines erzieherischen Aspekts etwas aufzeigen kann und, indem sie lobt oder tadelt, vor allem auf das movere, das Bewegen, ausgerichtet ist. Dieser Redeweise fügte Melanchthon das Moment des docere, des Belehrens hinzu (vgl. Classen 2003, 261). Auf diese Weise entwarf er eine vierte Gattung, das genus didascalicum, das beide wirkungsästhetischen Prämissen, docere und movere, vereint. Melanchthon meinte, dass eine solche Rede in besonderem Maße der Erziehung der Jugend dienlich sein könnte. In seinen Elementa rhetorices (auch Elementorum Rhetorices libri duo), den Grundbegriffen der Rhetorik (1531), verleiht er im Sinne einer reformatorischen Predigtlehre dem genus didascalicum einen eigenen Ort und stellt es neben die drei traditionellen Gattungen der Rede (vgl. Melanchthon 2010, 41; vgl. Knape 1993, 68–70, 124 f.). Im Zentrum von Luthers Rhetorik steht die Predigt des Wortes Gottes, die den Glauben stiftet (vgl. Röm 10,17) und den Anspruch erhebt, selbst Gottes Wort zu sein. Luther machte sich inbesondere Gedanken über die Wirkungsmöglichkeiten der gesprochenen Rede und hier vor allem derjenigen, die vor dem einfachen, bzw. dem ungelehrten Volk gehalten wurde. Der Prediger stand vor erheblichen Anforderungen, denn aus der Sicht der Lutherschen Anthropologie bedarf der sündige Mensch, dessen Vernunft verfinstert ist, einer gründlichen katechetischen und homiletischen Unterweisung. Leitprinzip war für Luther wie für Augustinus folglich der sermo humilis, der ,niedrige und einfache Stil‘, der die Hörer intellektuell nicht überfor-
2. Rhetorik in der Reformation
derte. Außerdem kam dem movere, dem Bewegen, eine besondere Rolle zu. Die affektive Ergriffenheit sah Luther als Voraussetzung dafür, dass auch eine intellektuelle Einsicht zustande kommen konnte. Diese Ergriffenheit meint jedoch nicht nur eine gefühlsmäßige. In Luthers Anthropologie stellt das Herz den Ort des Hörens und so des Glaubens dar. Das Herz ist jedoch nicht nur mit dem Gefühl gleichzusetzen und dem Verstand entgegengesetzt, sondern Affekt und Verstand stehen in wechselseitigem Austausch. Das Herz gilt Luther wie auch Augustinus als „das geistige Erkenntnisorgan des Menschen“, als „das innerste, äußerem Zugriff entzogene und nur Gott einsichtige Zentrum seiner Persönlichkeit. Im Herzen geschieht die Begegnung mit Gott. Herz und Verstand sind unlöslich miteinander verknüpft“ (Stolt 2000, 50). Deshalb vollzieht sich auch das Verstehen im Herzen: „Das Herz ist Sitz des geistigen Vermögen, Verstand, Gefühl, Wille, Urteilsvermögen, Gedächtnis und anderes mehr“ (ebd., 51). Von daher ist die Ästhetik der Predigten Luthers zu begreifen, die oft sehr bildreich und affektgeladen sind, weil sie die Hörer aufrütteln, innerlich ergreifen wollen. Als Voraussetzung dafür, dass der Zuhörer das Wort Gottes in seinem Herzen hört, erkannte Luther in hohem Grade ein spezielles Vermögen des Predigers. Dieser soll das Wort Gottes verstehen und von ihm so überzeugt sein, dass er es selbst ,fühlt‘, um es dann wirkungsvoll mitteilen zu können. Luther folgte dem Prinzip des ipse moveatur, das Cicero und Quintilian als wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Rede beschrieben hatten. Ihre Überlegungen gingen davon aus, dass der Redner nur diejenigen Gefühle beim Zuhörer erwecken kann, von denen er selbst affiziert ist: Das Geheimnis der Kunst, Gefühlswirkungen zu erregen, liegt nämlich […] darin, sich selbst der Erregung hinzugeben. Denn es kann doch zuweilen sogar lächerlich wirken, Trauer, Zorn, Empörung wiederzugeben, wenn wir nur unsere Worte und Miene, nicht aber auch unser Inneres darauf einstellten. Denn woran liegt es denn sonst, daß das, was Trauernde im ersten Schmerz ausrufen, durchweg am allerberedtsten wirkt, und daß der Zorn zuweilen auch Menschen ohne jede kunstgerechte Schulbildung Redegabe verleiht, als daran, daß aus ihnen die Kraft ihres eigenen Denkens und Fühlens und die Echtheit ihrer ganzen Wesensart spricht? (Quint., Inst. orat., 6.2.26; vgl. Cic., De orat., 2.178) So forderte Luther vom Redner eine affektive und intellektuelle Ergriffenheit durch dasjenige, was zu vermitteln ist, das Wort Gottes (vgl. Stolt 2000, 55). Zu diesem Zweck sollte auf hochgelehrte und mit dialektischen Spitzfindigkeiten geschmückte Redewendungen verzichtet werden. Als Vorbild galt die biblische Sprache des Wortes Gottes, der sich den Menschen zuwendet, sich herabneigt und sich durch Bilder und Gleichnisse zu verstehen gibt. Luthers eigene Reden zeigen, dass dem Wortschmuck eine wichtige Funktion zukam. Gerade für die exhortatio, für die Ermahnung, und für die consolatio, den Trost, akzeptierte Luther die wiederholende Verwendung von Beispielen und einprägsamen Gleichnissen. Diese sollten eine bereits in der antiken Rhetoriktheorie wichtige grundlegende Aufgabe des Redens erfüllen: die Aufmerksamkeit erhalten oder sie stets wieder erwecken. Wie der Apos-
Betonung des movere
Das Prinzip des ,ipse moveatur‘
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III. Rhetorik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit
Wissen und Glauben
tel Paulus, so Luther, dürfe der Prediger „viel hubscher, vorblümeter wort“ nutzen, um „eyn feyne bundfarbe rede“ zu komponieren (WA 10 / I, 2, 2, 4 f.; vgl. Stolt 67). Dieses Zitat legt nahe, dass Luther den Aspekt des delectare, des Unterhaltens oder der Erbauung, ebenfalls mitdachte, allerdings sollte stets die Vermittlung der Glaubenswahrheiten im Zentrum stehen. Dabei reflektierte Luther, ebenso wie Melanchthon, die bereits von Aristoteles postulierte Definition der Rhetorik als eines Gegenstücks zur Dialektik (vgl. Arist., Rhet., 1354a). Für die intellektuelle Vermittlung der Glaubenswahrheiten, der Lehre oder doctrina, erkannte er die Dialektik als geeignete Methode an. Für die Aufforderung jedoch, dieses Wissen auch in die Glaubenshaltung umzusetzen, es auf die eigene Lebensführung zu beziehen, Theorie in Praxis zu verwandeln, für die exhortatio sowie für den Trost, die consolatio, erklärte er die Rhetorik als unhintergehbar. Luther bringt die Sache auf den Punkt: „Si rethor non habet dialecticam, tum est wesscher, Si simplex dialecticus, nihil monet. Sed Rhetor habens dialecticam, der kans treiben, das lebt“ (Luther, WA 40 / II, 27, 10–12). Paraphrasiert hieße das: „Wenn der Redner keine Dialektik beherrscht [das heißt, kein Wissen besitzt, Anm. der Verf.], dann ist er ein Schwätzer. Wenn er nur Dialektiker ist, dann ermahnt er in keiner Weise. Aber der Redner, der die Dialektik beherrscht, der kann viel bewegen.“ Die Dialektik ist hier gleichbedeutend mit der doctrina, mit den Inhalten der Glaubenslehre (vgl. Steiger 2002, 162 f.). Anders gesagt: Allein das Wissen reicht nicht aus. Der Glaube ist notwendig, um es auf das eigene Leben applizieren zu können. Den Anstoß für eine solche applicatio vermag die rhetorische Versiertheit des Predigers zu geben, die jedoch ebenso allein – ohne einen von ihr zu vermittelnden Inhalt – zum ,Gewäsch‘ gerät. An anderer Stelle wird Luther noch deutlicher, indem er eine unzweideutige Metapher nutzt: „Sic dialectica dormit, rhetorica autem excitat. Argumentum ist wie ein leere bruch […], sed rhetorica seu eloquentia, die bleset die schweinsbloßen auff vnd sagt, wie iederman in dem negotio zu sinn sey“ (Luther 1950, 60). Paraphrasiert hieße das: „So schläft die Dialektik, die Rhetorik aber weckt auf. Der Beweis ist wie eine leere Hose, aber die Rhetorik oder die Beredsamkeit, die bläßt die Schweinsblasen auf und sagt, wie ein jeder sich zu verhalten habe.“ Luther will auf eine ideale Verbindung von movere und docere hinaus, ähnlich wie Melanchthon sie durch seine Erfindung des genus didascalicum angedacht hat. Er wusste, dass die Redekunst leicht zu einer bloßen Wortklingelei werden und auch Übles anrichten kann, wenn sie sich nicht darauf verpflichtet, die Glaubenswahrheiten mitzuteilen.
3. Rhetorikuntericht in der Frühen Neuzeit: Schulrhetorik, Rhetoriklehrbücher, politisch-höfische Rhetorik In der Frühen Neuzeit kam es zu einer markanten Schnittmenge zwischen Rhetorik und Poetik. Die Literarisierung der Rhetorik erreichte im 17. Jahrhundert einen Höhepunkt. Der typische Autor der Frühen Neuzeit war der gelehrte Dichter, der poeta doctus, der sich bereits in seiner schulischen
3. Rhetorikuntericht in der Frühen Neuzeit
Ausbildung ein gelehrtes Wissen erworben hat. Zu dieser schulischen Ausbildung gehörte ein mehrjähriger Rhetorikunterricht, der sich unweigerlich in der poetischen Produktion niederschlug. Allerdings kam auch der öffentlichen Rede eine große Bedeutung zu. Reden war eine Fähigkeit, die man als Jurist oder auch als Hofbeamter beherrschen musste. Nicht selten nahmen die gelehrten Dichter öffentliche Positionen ein, Andreas Gryphius (1616–1664) als Landessyndikus in Breslau oder Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683), ebendort als Landessyndikus und als Kaiserlicher Rat am Hof in Wien. Ein Impuls, den Rhetorikunterricht fest in den Schulplänen zu verankern, ist im Reformationszeitalter zu suchen. Die Rhetorik war einerseits Mittel des Glaubenskampfes, andererseits konfessionsübergreifend eine anerkannte Kunst, die in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft immer wichtiger wurde. Zunächst wurde der Rhetorikunterricht in den Schulplänen der protestantischen Gymnasien fest verankert. Eine wichtige Rolle kam dabei Johannes Sturm (1507–1589) zu. Als Rektor in Straßburg, wohin er 1537 berufen wurde, begründete er auf der Grundlage derjenigen Reformen, die Melanchthon durchgesetzt hatte, ein akademisches Gymnasium, das sogar Vorlesungen anbot, u. a. in Rhetorik und Dialektik. Die Straßburger Schulpläne gerieten zum Vorbild für zahlreiche andere protestantische Gymnasien im deutschen Sprachgebiet, etwa in Danzig, Breslau, Nürnberg, Leipzig oder Halle. Im Rhetorikunterricht wurde neben Melanchthons Lehrbüchern besonders die Rhetorice contracta / Kurzgefasste Rhetorik (1621) des Leidener Professors Gerhard Johannes Vossius (1577–1649) verwendet (Rhetorices contractae, sive partitionum oratoriarum libri quinque). Dieses Buch war im ganzen 17. und bis hinein in das 18. Jahrhundert das maßgebliche Rhetoriklehrbuch in den Schulen (vgl. Barner 2002, 266). Gewährsmänner sind Aristoteles, Cicero und Quintilian. Für die literarischen Beispiele, die exempla, schöpft Vossius u. a. aus Ovid, Horaz, Vergil, Plautus und Terenz. Die Nähe zur Poetik sowie zur „rhetorische[n] Praxis“ (ebd., 271) wird dort sehr sichtbar, wo das Buch Anweisungen gibt, wie Texte zu bestimmten Anlässen zu verfassen seien, u. a. Hochzeitsreden (Epithalamia), Begräbnisreden (Epicedia) oder Lobreden (Laudationes), die mündlich zu halten waren oder verschriftlicht wurden. Ausschließliche Grundlage dieses Lehrbuches war das Lateinische. So wurden die protestantischen Gymnasien zu Keimzellen der sogenannten res publica literaria, jener hochgebildeten ,Gelehrtenrepublik‘, deren Mitglieder sich untereinander europaweit auf Latein verständigten. Eine Besonderheit bildet die Teutsche Rhetorica / Oder Redekunst (1634) des Theologen Johann Matthäus Meyfart (1590–1642). Es handelt sich, nach Kaspar Goldtwurms Schemata Rhetorica (1545), die aber bald in Vergessenheit gerieten, um das erste Rhetoriklehrbuch in deutscher Sprache, das die Praxis der lebendigen Redekunst im Auge hatte (vgl. Steiger 1995, 540). Es steht insofern in einer anderen Tradition als die früheren deutschsprachigen Rhetoriken, die vor allem auf die Briefstellerei ausgerichtet sind (vgl. Trunz 1987, 196 f.; vgl. Kap. VII. 1). Im Zentrum steht die elocutio, die sprachliche Ausgestaltung, und die pronuntiatio, der eigentliche Redeakt (vgl. Trunz 1987, 197). Als Beispiele fungieren lateinische Texte in deutscher Übersetzung, Predigten der Kirchenväter und Exzerpte aus der Luther-Bibel. Meyfart verfasste seine Teutsche Rhetorica in einem faszinierenden Spagat
Rhetorikunterricht in den protestantischen Gelehrtenschulen
MeyfartsTeutsche Rhetorica
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III. Rhetorik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit
Didaktik des Rhetorikunterrichts
Jesuitenrhetorik
zwischen antiker Tradition und Christentum und mit einem utopischen gesellschaftlichen Anspruch. Er stellt heraus, dass die schöne Dame „WolRedenheit“ Einzug halten möge „in den Auditorn der Academien unnd Gymnasien / in den Choren der Kirchen und Capellen / in den Pallästen der Monarchen vnd Potentaten / in den Saeaelen [sic] der Canzleyen und Rathäuser“ (Meyfart 1977, 7). Eine besondere Funktion erhält die Rhetorik als Mittel der Verkündigung des göttlichen Wortes. Obwohl sich Meyfarts Rhetoriklehre nicht darauf beschränkt, ist diese Stoßrichtung doch deutlich. Insofern trägt sie Akzente einer Predigtlehre, die im Anschluss an Luther die homiletische Tradition in den muttersprachlichen Diskurs nun systematisierend aufnimmt. Einen anderen Schwerpunkt setzt Balthasar Kindermanns (1636–1704) Der Deutsche Redner (1660). Hierbei handelt es sich um ein mit Exempeln gespicktes Handbuch für Gelegenheitsreden. Im deutschsprachigen theoretischen Schriftkorpus fand die Rhetorik ansonsten ihren Ort vor allem in den auf Deutsch verfassten Poetiken, von denen im 17. Jahrhundert, angestoßen durch Martin Opitz’ (1597–1639) Buch von der Deutschen Poeterey (1624), zahlreiche erschienen (vgl. Kap. VII. 2). Der Rhetorikunterricht bestand vornehmlich aus dem Lernen der Beispiele (exempla) aus Texten und Reden vorbildlicher Autoren und der Nachahmung (imitatio). Konzipiert wurden Kollektaneen, Sammlungen mit Formeln und Floskeln, die auswendig zu lernen waren und anhand derer zunächst eigene Texte verfasst wurden, etwa Briefe, Verse oder dramaturgische Szenen. Wichtige Kompositionsübungen bildeten die sogenannten Progymnasmata (Vorübungen), in denen anhand eines vorgegebenen Themas Elemente der rhetorischen Systematik erprobt wurden: beispielsweise der Beginn einer Rede (exordium), der erzählende Teil (narratio), die Beschreibung (descriptio) oder die Erweiterung (amplificatio). Die höchste Stufe des Rhetorikunterrichts war dann erreicht, wenn der Schüler selbst als Redner seine Fähigkeit in einer öffentlichen Deklamation unter Beweis stellen durfte. Neben dieser ars declamatoria, der monologischen Rede, wurde die ars colloquendi gelehrt, die Kunst der Dialogführung, sowie die ars disputandi, die Streitkunst oder die Eristik, die eng an die Dialektik geknüpft war. Besonders die ars disputandi sollte die Schüler auf die lebensweltliche Praxis vorbereiten. Ihre Fortschritte in der eloquentia bewiesen sie auch in öffentlichen Aufführungen, den oft feierlich gestalteten Schulactus, die häufig an Feiertagen stattfanden oder an Geburtstagen öffentlicher Personen, etwa des Schulrektors oder des Landesfürsten, oder auch auf Abschlussfeiern der Schulen, auf Examens- oder Promotionsfeiern. Nachgespielt wurden ganze Prozessverläufe, den Ciceronianischen Reden entnommen, literarische Stoffe, historische Ereignisse, mythische Erzählungen und schließlich auch eigene Stücke. Im Kontext der Gegenreformation entwickelten die Jesuiten, die seit 1537 in dem Orden Societas Jesu organisiert waren, eine humanistisch fundierte Schulbildung, die sich an den protestantischen Vorbildern orientierte. 1586 wurde die Ratio studiorum, die Studienordnung für Jesuitenschulen, entworfen und 1599 offiziell verabschiedet. Von Rom ausgehend wurden seit Mitte des 16. Jahrhunderts überall in Deutschland zahlreiche Kollegien gegründet (vgl. Meid 2009, 53). Elementare Unterschiede zu den Lehrinhalten des Rhetorikunterrichts an den protestantischen Gymnasien festzustellen, ist
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ausgesprochen schwierig. Trotz der konfessionellen Grabenkämpfe gab es gerade unter den Gelehrten auch Annäherungen und gegenseitige Inspirationen. Die rhetorischen Fundamente bildeten hier wie dort die antiken Lehrbücher. In den Jesuitenschulen maßgeblich wurde das Kompendium De arte rhetorica libri tres ex Aristotele, Cicerone et Quintiliano praecipue deprompti / Drei Bücher über die Rhetorik vornehmlich zusammengestellt aus Aristoteles, Cicero und Quintilian (1560) des portugiesischen Jesuiten Cyprianus Soarez (1524–1593). Dieses Buch wurde als ,Cyprianus‘ kanonisch und bis in das 19. Jahrhundert hinein immer wieder aufgelegt. Es ist ähnlich aufgebaut wie das Lehrbuch von Johannes Vossius. Auffällig ist, wie Soarez die „psychagogische[n] Wirkmacht der Rede“ herausstreicht (Bauer 1986, 151). Der Psychagogie, der seelenlenkenden und -leitenden Macht der Rede auf der Basis der Affekterregung, kam eine wesentliche Rolle bei der Glaubensvermittlung zu. Dies lässt sich beispielsweise am sinnlich und synästhetisch aufwendigen Jesuitendrama gut ablesen, das oft effektvoll allegorische Figuren auf die Bühne bringt – etwa am Cenodoxus von Jacob Bidermann (1578–1639), das als Schuldrama 1602 am Augsburger Jesuitengymnasium uraufgeführt wurde. Ein weiteres wichtiges Stil- und Rhetoriklehrbuch bildeten die Progymnasmata latinitatis / Übungen in der lateinischen Sprache (1588–1594) von Jacob Pontanus (1542–1626), langjähriger Lehrer am Augsburger Jesuitengymnasium. Pontanus hatte die Anforderungen der alltäglichen Lebenswelt im Auge. Redenkönnen sah er als eine gesellschaftliche Schlüsselqualifikation an, als eine Voraussetzung für das Verhaltensideal der städtisch-höfischen Gewandtheit, der urbanitas (vgl. ebd., 255). Ein weiteres wichtiges Rhetoriklehrbuch stammte aus der Feder Jacob Masens (1606–1681), Lehrer am Kölner Jesuitengymnasium. Seine Palaestra oratoria / Rednerschule (1659) weist der Erregung der Affekte eine bedeutende Rolle zu sowie der Ausbildung der argutia, der witzigen Scharfzüngigkeit, die zunehmend zu einem Ideal in der rednerischen Praxis am Hof avancierte. Seine Palaestra eloquentiae ligatae / Übungsschule für die Kunst der gebundenen Rede (1654–1657) macht die rhetorische Systematik für die Poetik fruchtbar. Auf dem Feld der Rhetorik setzte der Theologe, Jurist und Philosoph Christian Weise (1642–1708) besondere Akzente und schloss in gewisser Hinsicht an Tendenzen der Jesuitenrhetorik an, die die Redekunst als eine Kunst des klugen Sich-Verhaltens angedacht hatte. Seit 1668 als Sekretär am Hof in Sachsen-Weimar und seit 1670 als Hofmeister in Magdeburg wurde er mit den spezifischen Gegebenheiten der politischen Lebenswelt vertraut. Seit 1678 war er Rektor am Zittauer Gymnasium. Im Sinne einer höfischen Erziehung entwarf er in Politischer Redner. Das ist / kurtze und eigentliche Nachricht wie ein sorgfältiger Hofemeister seine Untergebene zu der Wolredenheit anführen soll […] (1677) eine recht umfangreiche Redekunst, die auf die Anforderungen in der höfisch-politischen Lebenswelt reagierte. Diese war, zumal im 17. Jahrhundert, eine komplizierte Welt von Etiketten und eine gefährliche. Ein Mann am Hof musste sich einerseits auf dem gesellschaftlichen Parkett sicher bewegen, und andererseits darauf achten, sich in einer Welt voller Gefahren, Fangstricken und Intrigen zu behaupten. Im Politischen Redner geht es nicht nur um die Kunst, eine Rede halten zu können, sondern das Reden wird als ein elementarer Bestandteil des Sich-Verhaltens
Christian Weise: Reden im Zeichen der Klugheit
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III. Rhetorik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit
aufgefasst, von dem die Akzeptanz der eigenen Person, ja, das Überleben selbst abhängig sein kann. Im Zeichen der Staatsräson und der politischen Klugheitslehren, die bereits von Niccolò Machiavelli (1469–1527) im Il Principe / Der Fürst (1532) und von Justus Lipsius (1547–1606) in seinen Politicorum sive civilis doctrinae libris sex / Sechs Bücher der politischen oder bürgerlichen Wissenschaft (1589) formuliert worden waren, avancierte ein Verhalten im Zeichen umsichtiger Vernunft (prudentia) zum Ideal, das vom moralischen Rigorismus absehen durfte. Dies implizierte, dass die öffentliche Rede nicht mehr darauf verpflichtet werden konnte, die Wahrheit zu sagen oder gar Ausdruck einer tadellosen Gesinnung zu sein. Die „Nichtidentität von Innen und Außen auch in der Sprache“ gehörte zu den elementaren Voraussetzungen der Selbstbehauptung vor allem des Fürsten, aber auch derjenigen, die sich in seinem Umkreis bewegten und überleben wollten (Kühlmann 1982, 238). Nicht nur konnte es von existentieller Bedeutung sein, wie man etwas sagte, sondern auch, dass man etwas nicht sagte, etwas verschwieg (vgl. Benthien 2006, 241). Die von Cicero postulierte Verbindung von Rhetorik und Philosophie geriet zur Utopie. Auf das Ideal der prudentia reflektierte im 17. Jahrhundert besonders Balthasar Gracián (1601–1658) u. a. in seinem El discreto / Der kluge Weltmann (1646) und im Oráculo manual y arte de prudencia / Handorakel (1647). Gracián greift besonders auf Baldassare Castigliones (1478–1529) Il libro del Cortegiano / Das Buch vom Hofmann (1528) zurück. Das dialogisch aufgebaute Buch konturiert den honnÞte homme, der klug, und zugleich galant das Ideal der gesellschaftlichen Gewandtheit (urbanitas), das heißt auch und vor allem: das passende Wort in der angemessenen Weise zur richtigen Zeit findet (vgl. Castiglione 1960, 65–68). Die in diesen Texten angelegten Diskurse bündelt Christian Weises Politischer Redner auf prägnante Weise. Bereits die Widmung an den Leser ist aufschlussreich. Sie weist sogleich darauf hin, dass „ein gelehrter Politicus […] auff sein Mund=Werk bedacht“ sein müsse. Das Reden sei eine „lautere Praxis“ und wohl sei es ein großer Unterschied, ob man ein Professor der Beredsamkeit werden wolle oder ein „geschickte[r] Redner“ in der Welt der Politik (Weise 1681, unpag.). Das Reden wird hier als Gesamtkunstwerk dargestellt, in dem die mündliche Äußerung nur eine Facette ist. Die Wirkung der Rede ist auch von den Körperbewegungen und insgesamt von der äußeren Erscheinung abhängig (vgl. ebd.). Es geht einerseits darum, die eigene Person durch seine Worte zu schützen, aber auch darum, klug und witzig Effekte zu erzielen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ein eigenes Kapitel widmet Weise den argutiae, den „sinnreiche[n] Reden“, die „mit einer sonderbahren Annehmligkeit“ eingeschoben werden (ebd., 60) und „theils in spielenden Worten / theils in artigen und scharffsinnigen Sachen“ bestehen (ebd., 62). Sie dienen im besten Fall dazu, den Regenten auf kluge Art zu unterhalten und ihm zu schmeicheln. War die Schmeichelei (das blandiri) im antiken und christlichen Tugendkanon ein Kardinallaster, so profiliert sie Weise zu einer praktikablen Strategie der Selbstbehauptung (vgl. ebd., 169). Ein wichtiger Bestandteil bildet folglich die Komplimentierkunst – die Kunst, angenehm und höflich Konversation zu führen, die besonders in der höfischen Lebenswelt ihren Ort hat (vgl. ebd., 161; vgl. Braungart 1988, 225–236). Weise gibt jeweils auf amüsante Art Beispiele, wie man zu gewis-
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sen Gelegenheiten reden möge oder eben nicht, etwa wenn man eine Dame zum Tanz auffordert oder einem angesehenen Mann zum Geburtstag gratuliert. Bei allem Zugeständnis an eine spielerisch-kluge Kunst des Sich-Verhaltens, in der das Redenkönnen konstitutiver Bestandteil ist, warnt Weise auch vor inhaltslosem Wortgeklingel, vor aufgeblähten Reden, vor der „aeußerliche[n] Gleißnerey“ (Weise 1681, 169). Zentral ist auch die aus der Antike bekannte Kategorie der Angemessenheit, die jedoch von ihrem moralischen Überbau befreit ist. Angemessenes Redeverhalten meint hier die Fähigkeit, sich den jeweiligen Situationen anzupassen, um für die eigene Person einen größtmöglichen Vorteil zu erzielen. Mit seinem Neu-Erleuterten Politischen Redner (1684) betrat Weise ähnliche Wege. Er traf den Nerv der Zeit, weil er die Redekunst an die Erfordernisse der lebensweltlichen Praxis am Hof anpasste.
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IV. Rhetorik und Moderne 1. Tendenzen der Rhetorik im 18. Jahrhundert Fragt man nach dem Stellenwert der Rhetorik im 18. Jahrhundert, so ist es vor allem die vehemente Kritik Immanuel Kants (1724–1804), die im kulturellen Gedächtnis verankert ist und die den Schluss nahelegen könnte, die Aufklärung habe der Rhetorik ausschließlich skeptisch gegenübergestanden. In der Kritik der Urteilskraft (1790) weist Kant der Dichtkunst einen hohen Rang zu, während er jene „Beredsamkeit“ abwertet, die es darauf absehe, die Zuhörer „durch den schönen Schein zu hintergehen“ (Kant 1957, 430). Kant räumt ein, dass die Beredsamkeit auch für gute Zwecke angewandt werden könne, jedoch gefährde sie durch die „Maschinen der Überredung“ (ebd.) die vernünftige Urteilskraft, weil sie Dinge beschönige oder das Übel verberge, so dass sie stets unter dem Verdacht „einer künstlichen Überlistung“ stehe (ebd., 431). Kant unterstellt einer solchen Redekunst, dass sie glaubte, auf der Grundlage eines kausalen Wirkungsverhältnisses den Menschen ohne Weiteres manipulieren zu können. Er erteilt der Redekunst als solcher allerdings keine definitive Absage, sondern macht eher auf ihre Verantwortung aufmerksam. Impliziert ist ein Plädoyer, die Redekunst ,vernünftig‘ zu verwenden. Insofern evoziert Kants Kritik auch das Bild eines Redners, der sich seiner moralischen Verantwortung bewusst ist. Aus dieser Perspektive ist sie anschlussfähig an Tendenzen der Rhetorikdebatten im 18. Jahrhundert, die die Redekunst auf neue Füße stellen wollten, in ihr ein Instrument der Aufklärung, der Verständigung und der Reflexion sahen, als ein Mittel sogar, das ein gutes und glückliches Leben gewähren kann, ein Leben in Eudaimonie. In den Blick geriet mit den Reflexionen auf die Rhetorik die prinzipiell jedem Menschen zukommende vernünftige Sprach- und damit Denkfähigkeit, die er im geselligen Miteinander und im Gespräch (vgl. Fauser 1991) unter Beweis stellen kann. Dabei galten nicht nur in Deutschland, sondern im gesamten Europa die antiken Rhetoriklehrbücher eines Cicero und Quintilian in weiten Teilen als Autoritäten (Ueding 2009, 23 f.). Eine besondere Vermittlerrolle kam Charles Rollin (1661–1741) zu, der Quintilians Institutio herausgab (vgl. ebd., 22). Dabei hatte es die antike Rhetorik, die im 17. Jahrhundert in der gelehrten Dichtkunst eine Heimat gefunden hatte, im Kontext der Entfaltung der neuzeitlichen Wissenschaften und des aufklärerischen Rationalismus nicht leicht. Nachdem im 16. Jahrhundert Petrus Ramus in scharfem Ton „Systemkritik“ (Knape 2000b, 239) an der antiken Rhetorik geübt hatte, betonte zu Anfang des 18. Jahrhunderts Giovanni Battista Vico (1668–1744), Professor der Rhetorik an der Universität von Neapel, ihre Bedeutung für die gesamten Wissenschaften. In seiner Rede De nostri temporis studiorum ratione / Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung (1709) erklärt er die Topik der antiken Redekunst als das notwendige Fundament aller Wissenschaften, auch der Naturwissenschaften, die wiederum diese Topik befruchten könnten (Vico
1. Tendenzen der Rhetorik im 18. Jahrhundert
1963, 33–37). Allerdings waren in Deutschland auch kritische Töne zur antiken Rhetorik zu vernehmen, die an Petrus Ramus (1515–1572, vgl. Kap. III. 1) erinnern. Das Feld der Rhetoriklehrbücher verändert sich (vgl. Bibliographie Dyck/Sandstede 1996, kritisch dazu Till 2004, 11–14). Besonders das System des Redeschmucks geriet in den Verdacht, dem Einsatz von überflüssigen Figuren Vorschub zu leisten und die Wahrheit zu verhüllen. Hinzu kam, dass sich das „Mekka der politischen Rhetorik“ (Ueding 2009, 32) in England fand, wo das Parlament ein Forum der freien Meinungsäußerung bildete. Inspiriert durch das Postulat der Vernunft, das besonders von dem wirkungsmächtigen Aufklärer Christian Wolff (1679–1754) vertreten wurde, lässt sich in Deutschland eine neue Reflexion auf den Nutzen einer vernünftigen Beredsamkeit beobachten, die einerseits dazu dienen soll, die Verstandestätigkeit auszubilden, andererseits der deutschen Literatursprache neue Impulse zu verleihen. Nicht selten sind jene Texte, die für die Beredsamkeit plädieren, selbst rhetorisch versiert verfasst. So bildet in der Inkubationsphase der Aufklärung Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) programmatische Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und sprache beßer zu üben, samt beygefügten vorschlag einer Teutsch-gesinten gesellschaft (1697) ein geschickt aufgebautes Plädoyer, die deutsche Sprache und Beredsamkeit zu pflegen. Zunächst preist sie in längeren Passagen die Vorzüge der deutschen Kultur, erregt so Aufmerksamkeit (attentum parare) und Wohlwollen (captatio benevolentiae), um dann darauf aufmerksam zu machen, dass es gleichwohl am Willen fehle, „glückseelig zu seyn“ (Leibniz 1986, 803). Angesprochen werden alle diejenigen, „die ihr gemüth wohl vermittelst guther bücher, als nüzlicher gesellschafft, weiden wollen“, sowohl um sich selbst zu erquicken und zu ergötzen, als auch zum „gemein besten […] des Vaterlandes“ (ebd., 805). Leibniz spricht sich gegen die Vorherrschaft der gelehrten Lateinkundigen aus und empfiehlt die Gründung einer „Teutschgesinte[n] gesellschaft“ (ebd., 806), eine Art bürgerliche Kommunikationsplattform für gesellige Gespräche über Kultur, Politik und Wissenschaft in deutscher Sprache. Gegen Ende der Schrift tritt der Kern der eigentlichen Ermahnung (adhortatio) zu Tage, wobei die Wirkungsabsicht des movere durch die angewandte Polemik stets deutlicher wird. Leibniz zeigt in seiner Ermahnung, die deutsche Sprache zu pflegen, selbst, was die deutsche Sprache vermag. Die „gegenwärtige fast allgemeine GrundVerderbung der Teutschen beredsamkeit“ (ebd., 816) manifestiere sich in der Tatache, „dass anderswo offt Knaben von zwölf Jahren mit einander vernünfftiger reden als offtmahls bey uns Jünglinge von zwanzigen“, dass Pfarrer und Juristen in ihren Schriften „mit Rothwelschen französisch umb sich werffen“, so dass „die gesunde Vernunfft […] nothleide“ (ebd., 816). Es sei „dieses übel gleichsam zu einer ansteckenden LandSeuche“ geworden (ebd., 817). „Verstand[,] gelehrsamkeit und beredsamkeit“ auf der Basis der deutschen Sprache sollten gepflegt werden, „damit der lauff der barbarey gehämmet“ würde (ebd., 819). Die „rechte[n] schreibeKunst“ sei zu pflegen, das heißt zugleich: die wahre Beredsamkeit (ebd.). Schlagworte der Aufklärungbewegung wie Glück, Verstand und gesunde Vernunft bilden das Zentrum dieses aufrüttelnden Plädoyers. Im Anschluss an Leibniz fordert der Jurist Christian Thomasius (1655–1728) in seinen Hoechstnoethigen Cautelen (1713) für die Jurastu-
Gottfried Wilhelm Leibniz’ Ermahnung an die Teutsche
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IV. Rhetorik und Moderne Vernünftige Redekunst zur Erlangung von Glückseligkeit
Kritik an der antiken Rhetorik und das Ideal der Natürlichkeit
denten einen gründlichen Rhetorikunterricht auf der Basis einer „gesunde[n] Vernunft“ (Thomasius 1729, 186) und einer gründlichen Kenntnis der deutschen Sprache, die ein Jurist benötige, auch um das deutsche Rechtssystem wahrhaft zu begreifen (vgl. ebd., 142). Thomasius polemisiert zudem gegen die „Pfaffen“ (ebd., 187), die auf der Kanzel eine Redekunst wider die Vernunft praktizierten. Johann Andreas Fabricius (1696–1769) hebt zu Beginn seiner Philosophischen Oratorie, Das ist: Vernünftige Anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit (1724) den Zusammenhang zwischen der Beredsamkeit und der Glückseligkeit der Menschen hervor. Dabei wird jene Redekunst abgewiesen, die durch Geschwätz bloßes Wortgeklingel hervorbringt und versucht, unter dem Schein der Wahrheit die Menschen zu manipulieren. Zwischen direkten Zuhörern und Lesern wird kein Unterschied gemacht. Das Ideal einer vernünftigen Beredsamkeit, die den mittleren und ausgeglichenen Stil (genus medium) pflegt und der Förderung der Gemeinschaft und Gesellschaft dienlich ist, sowie das Ideal des Ciceronianischen vir bonus scheinen durch. Seine Oratorie stellt Fabricius als „eine vernünftige anweisung zur beredsamkeit“ dar (Fabricius 1974, 2). Der Redner möge seine Gedanken so ausdrücken, dass er eben diese auch bei den Rezipienten hervorruft, so dass „die glückseligkeit des menschlichen geschlechts befördert und der umgang unter ihnen angenehm gemacht werde“ (ebd.). Entsprechend dem Titel, aber maßvoller als Christian Weise, legt Fabricius einen Schwerpunkt auf die Konversation, auf die annehmliche und galante Beredsamkeit, die etwa in der Komplimentierkunst anzuwenden ist. Dabei wird deutlich, dass zum Zwecke der Atmosphäre auch einmal die Worte nicht ganz dem eigenen Gefühl entsprechen müssen. Beispielsweise dürfe man im Falle einer Danksagung auch schon einmal „ein wenig zu freygebig mit seinem dancke sein“ (ebd., S. 412). Glückseligkeit hat folglich als Voraussetzung nicht Authentizität, sondern diese kann ihr sogar hinderlich sein. Verstellung in Maßen ist ihr mitunter zuträglich. Diejenigen, die besonders in die Verantwortung genommen werden, die „einer vernünftigen bredsamkeit [sic] am meisten benöthiget“, sind die Juristen und die Theologen, weil diese „gantze staaten […] mit worten regieren“ (ebd., 478). Während sich Fabricius’ Oratorie durch einen affirmativen, wenn auch bisweilen kritischen Umgang mit der antiken Rhetorik auszeichnet, die sowohl theoretisch als auch praktisch immer noch dienlich sei (vgl. ebd., 17), sind in der weiteren Rhetorikgeschichte auch vehementere Töne zu vernehmen. Mit der Forderung nach einer speziell deutschen Redekunst ist bisweilen auch eine Kritik an der antiken Rhetorik und ihren Gewährsmännern verbunden, die an jene des Renaissancehumanisten Petrus Ramus erinnert, die er etwa in seinem Anti-Quintilian, den Rhetoricae distinctiones in Quintilianum (1549) lancierte. Thomasius kritisierte, dass die Schriften der antiken Rhetoriklehrer für die gegenwärtige Praxis des Juristenberufs untauglich seien (vgl. Thomasius 1729, 185). Ebenso verwarf der lutherische Theologe Friedrich Andreas Hallbauer (1692–1750) in seiner Anweisung zur Verbesserten Teutschen Oratorie (1725) ihr artifizielles Regelsystem und wertete es als Hemmschuh für die Ausbildung einer Beredsamkeit, die sich das Ideal der Natürlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat. Gleichwohl bedient er sich einer rhetorisch ausgefeilten Polemik. Er fordert eine spezifisch deutsche Redekunst, die sich auch von den alten Rhetoriklehrern Aristoteles und
1. Tendenzen der Rhetorik im 18. Jahrhundert
Cicero emanzipieren soll, deren „Speichel“ man immer noch ,lecke’ (Hallbauer 1974, Vorrede, unpag.). Außerdem würde Cicero seine Regeln selbst nicht beachten, und wenn er ihnen in der Praxis vor Gericht gefolgt wäre, wäre er kein berühmter Redner geworden (ebd., 231). Insgesamt erklärt er das Regelwerk der Alten, auf dem der gegenwärtige Rhetorikunterricht beruhe, als unnütz für die gegenwärtigen Anforderungen: Es ist die Schul=Oratorie nach dem Fuß der Alten eingerichtet, daher sie sich auf unsern heutigen Zustand nicht schicken kann. Die Regeln der griechischen und lateinischen rhetoricorum haben ihre Absicht auf die Verfassung ihrer Republiken: und wenn sie heutiges Tages in unserer Republik und Kirche leben sollten, würden sie solche ganz anders einrichten. Ja wenn wir Aristoteles und Ciceronis rhetorische Schriften betrachten; so finden wir, daß sie viel unnützes, inpracticables, und zu einer affektirten Beredsamkeit führendes in sich enthalten, das also an sich und zu allen Zeiten zu verwerfen. Was soll man mit so viel trockenen Regeln, die man bey ihnen findet, machen, die mehr Selzamkeit, als Nutzen in der Ausübung zeigen? (ebd., 230) Als Ideal profiliert Hallbauer eine auf Klugheit, Vernunft und Erfahrung beruhende „natürliche Beredsamkeit“ (ebd.), die sich von den künstlichen Regeln frei macht. Er warnt vor einer „kindische[n] Ausputzung der Reden mit Gleichnissen, Zeugnissen, Exempeln, emblematibus, heraldicis, hieroglyphicis, Münzen, proverbiis“ (ebd., 232), die Schein erzeugten und die Wahrheit verhüllten. Das antike System der Topoi lehnt Hallbauer ab – diese seien „leere Schachteln“ (ebd., 272 f.). Das Konzept des vir bonus aber findet Beifall (vgl. ebd. 223), da es gerade für Theologen und Juristen, die Hallbauer wie Fabricius ins Zentrum stellt, als vorbildlich gelten kann, weil sie eine große moralische Verantwortung besitzen. Bezugspunkt ist für Hallbauer der Abriß einer gründlichen Oratorie (1711) von Gottfried Polycarp Müller (1684–1747), der ebenso scharf gegen die Topik der Alten polemisiert (vgl. Grimm 1983a, 69) und der das Konzept der „Meditation“ (Hallbauer 1974, 214, 237) bereits andachte, der gründlichen gedanklichen Vertiefung in die Sache, das an die Stelle des bewussten Gebrauchs von Regeln treten, logische Gedankenführung gewähren und so zu jener natürlichen Beredsamkeit führen solle. Mit ,Natürlichkeit‘ wird ein zentraler anthropologischer Begriff der Aufklärung in die Waagschale geworfen (vgl. Till 2004, 347–360). Während Hallbauer vor dem Hintergrund eines aufklärerischen Rationalismus mit den Traditionsbeständen der antiken Rhetorik bricht, so dass man fragen könnte, inwiefern es sich bei seiner Oratorie überhaupt noch um ein Rhetoriklehrbuch handelt, lässt Johann Christoph Gottsched (1700–1766) in seiner Ausführlichen Redekunst (1736) die antiken Redelehrer als Autoritäten weiter gelten und übt lediglich in Maßen Kritik. Gottscheds Ausführlicher Redekunst (1736) war 1728 der Grundriß einer vernunfftmäßigen Redekunst vorangegangen. Folgen wird 1759 die Akademische Redekunst. Der programmatische Gesamttitel Ausführliche Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer; Geistlichen und weltlichen Redner zu gut, in zweenen Theilen verfasset und mit Exempeln erläutert macht bereits deutlich, dass Gottsched bewusst den Anschluss an die antike Tradition sucht, aber auch neu-
Johann Christoph Gottsched
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IV. Rhetorik und Moderne
Redekunst, Beredsamkeit, Wohlredenheit
Affektenlehre
ere Rhetorikschriften aus dem europäischen Ausland gelten lässt. In seiner Vorrede erwähnt Gottsched Bernhard Lamys (1640–1715) De l’art de parler (1676), auf die sich auch Fabricius’ Oratorie häufig bezieht (vgl. Gottsched 1973, Vorrede, 2r). Durch den Titel grenzt sich Gottsched deutlich von jenen dargestellten Tendenzen ab, die bei Petrus Ramus (1515–1572) ihren Anfang nahmen und die die antike Rhetorik als unzeitgemäß verwarfen (vgl. Kap. III. 1). In seiner Historischen Einleitung blickt Gottsched dann über etliche Seiten auf die Geschichte der Beredsamkeit zurück und kommt zu dem Schluss, dass die Griechen und Römer es auf diesem Feld zur „Vollkommenheit“ gebracht hätten (Gottsched 1973, 7), wobei er Cicero eine besonders herausragende Rolle zuweist (vgl. ebd., 16). Fortan konstatiert Gottsched nurmehr einen Verfall der Beredsamkeit, der erst durch Melanchthon (vgl. ebd., 22), dann vor allem durch Martin Opitz aufgehalten worden sei, der sich durch eine hervorragende „Kenntniß der Alten“ (23) ausgezeichnet habe. Christian Weise aber ist für Gottsched ein Epigone, dem es an Gelehrsamkeit fehlte. Besonders polemisiert er gegen den ,Schwulststil‘ eines Daniel Casper von Lohenstein (vgl. ebd., 25, 157 f.). Die zeitgenössischen Bemühungen um die Rhetorik erkennt er an und verspricht, in typisch aufklärerischem Gestus, „Beredsamkeit mit Verstande“ (ebd., 29) treiben zu wollen. Dazu gehört für Gottsched eine Unterscheidung, die seine Vorgänger nicht gemacht haben und die dazu beiträgt, die antike Rhetorik zu rehabilitieren. Das erste Hauptstück trägt den Titel Was die Redekunst sey, imgleichen von der Beredsamkeit und Wohlredenheit überhaupt. Im Folgenden wird der Unterschied zwischen der Redekunst als der Theorie und der Beredsamkeit als der Praxis betont. Die Theorie könne man verstehen, ohne je selbst zu reden, die Praxis müsse man stets üben (vgl. ebd., 33). Dem von Ramus und Hallbauer erhobenen Vorwurf, Ciceros Theorie sei unnütz und er halte sie nicht ein, nimmt er den Wind aus den Segeln, indem er die Rhetoriklehrbücher als eine eigene Gattung profiliert. Außerdem unterscheidet Gottsched von der Beredsamkeit die Wohlredenheit, „das ist zierlich, und anmuthig zu reden, oder zu schreiben. Sie besteht also fast gänzlich in einer guten Schreibart“ (ebd.). Jemand, der gut schreibe, sei aber noch lange kein guter Redner (vgl. ebd., 34). Durch diese Spezifizierung driften zwei Felder deutlich auseinander, die im 17. Jahrhundert noch eng miteinander verzahnt waren: Beredsamkeit und Poesie. Der Beredsamkeit kommt als der Fähigkeit, überzeugend zu reden, eine bedeutende Rolle zu. Die Rhetoriklehrbücher schützt Gottsched vor dem Vorwurf, praxisfern zu sein. Auch wenn er meint, dass man sich heute „leicht ohne die Topik der Alten behelfen“ (ebd., 107) könne, so akzeptiert er doch ihre Grundidee, plädiert aber für Beweisgründe, die, gemäß der Leibniz’schen Lehre, auf einem „zulänglichen Grund“ basieren sollten (ebd., 108). Insgesamt strebt er aber nach einer „Synthese zwischen Reformbewegung und Tradition“ (Grimm 1983a, 91), hält sich, im Unterschied zu Hallbauer, mit Kritik an den Alten zurück und weist ihrer Rhetorik eine historisch unhintergehbare Rolle zu. Seine eigentlichen Gegner sind die Nachopitzianer des 17. Jahrhunderts. Wie Fabricius und Hallbauer legt Gottsched einen besonderen Akzent auf die Affektenlehre. Unter der wahren Beredsamkeit versteht er die „Geschicklichkeit […], seine Zuhörer von allem, was man will, zu überreden,
1. Tendenzen der Rhetorik im 18. Jahrhundert
und zu allem was man will, zu bewegen […]“ (Gottsched 1973, 34). Neben dem docere kommt dem movere, der affektiven Bewegung der Zuhörer, eine besondere Bedeutung zu. Als nötig erklärt Gottsched eine gründliche Menschenkenntnis, die „Psychologie“ als der „Lehre von der menschlichen Seele“ (ebd., 48). Aufgabe eines guten Redners ist es, die Menschen mit Vernunftgründen zu überzeugen und zu lenken. Voraussetzung dafür ist ein Einblick in die jeweiligen Voreinstellungen und Emotionen, um hier mit Hilfe des movere das docere zu leisten. Geleitet ist der Text von dem Optimismus, dass ein solcher Einblick auch möglich ist. Im 18. Jahrhundert gab es die Tendenz, den Menschen und seine Handlungen als einen Mechanismus von Funktionen zu betrachten. 1749 publiziert Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) seinen Traktat L’Homme machine. Hier findet sich eine streng mechanistische Auffassung vom menschlichen Affektleben. Gottsched lässt diese anklingen, wenn er die psychagogischen Wirkungsmöglichkeiten einer Rede betont, wobei er jedoch die Verantwortung des Redners herausstellt und explizit Ciceros Konzept des vir bonus, der auf der Basis von Wissen und Philosophie überzeugen will, eloquentia und sapientia auf ideale Weise vereint (vgl. ebd., 1873, 49 f.). Erscheint bei Gottsched die Affektenlehre noch als Mittel zum Zweck der vernunftmäßigen Unterweisung, so wird gerade der emotionalen und affektiven Seite des Menschen in der Folge eine größere Beachtung geschenkt (vgl. Ueding/Steinbrink 2005, 109). So leitet Christoph Martin Wieland (1733–1813) seine Theorie und Geschichte der Red=Kunst und Dicht=Kunst (1757) mit den Worten ein: „Wir verstehen unter der Red=Kunst eine auf die Kenntniß der Reglen gegründete Fertigkeit, wohl zu reden, d. i. durch seine Reden die Zuhörer zu überzeugen, sich ihrer Affecten zu bemeistern und sie zu dem Zweck zu lenken, den man sich vorgesetzt hat […]“ (Wieland 1916, 303). Es wird hervorgehoben, dass es Vergnügen und Annehmlichkeiten bereite, wenn ein Redner die Affekte seiner Zuhörer errege und so das Herz bewege (vgl. ebd., 304 f.). Wieland beklagt jedoch, dass in den meisten Ländern die „rechten Theater der Beredsamkeit“ geschlossen seien und sich die Redner „fast allein auf die Canzeln geflüchtet“ hätten (ebd., 305). In Deutschland, wo es, wie in Frankreich, keine politischen Verhältnisse gab, die öffentlich-kritisches Reden zuließen, fand die Redekunst vor allem in der Predigtlehre eine Nische, aber auch in der Festrede, „in der gesellschafts- und hofkritischen Literatur“ (Ueding 2009, 34) und in der politischen Publizistik, die sich von Frankreich aus in Europa verbreitete. Ebenso entfaltete sich eine ebenfalls durch Frankreich inspirierte Briefkultur. Auch hier galt das Ideal der Natürlichkeit. Der Brief sollte ein natürliches Gespräch nachahmen bzw. die Affekte möglichst authentisch ausdrücken. So schreibt Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) in seinen Gedanken von einem guten deutschen Briefe (1742): „So viel ist gewiß, daß wir in einem Briefe mit einem andern reden, und daß dasjenige, was ich einem auf ein Blatt schreibe, nichts anders ist, als was ich ihm muendlich sagen wuerde […]“ (Gellert 1989, 99). Gellert hebt hervor, dass ein Brief „natuerlich“ (101) sein müsse und polemisiert gegen die von der Rhetorik inspirierten Briefsteller, die zu viele und künstliche Regeln vorgeben und so das Briefeschreiben zu einem Zwang werden ließen – so etwa gegen Benjamin Neukirchs (1665–1729) häufig aufgelegter Anweisung zu teutschen Briefen (1709) (vgl. ebd.).
Nischen der Rhetorik
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IV. Rhetorik und Moderne
Literaturkritik
Nur mehr vage erinnert schließlich Johann Gotthelf Lindner (1729–1776), Professor für Poesie in Königsberg, in seinem Kurzen Inbegriff der Ästhetik, Redekunst und Dichtkunst (1771–1772) an die antike Rhetorik. Den größten Raum nimmt im ersten Band die Ästhetik ein als die Lehre vom Schönen, die durch Alexander Gottlieb Baumgartens (1714–1762) Aesthetica (1750) Konjunktur erlangte. Bezeichnenderweise findet sich hier eine prägnante Formulierung der rhetorischen Wirkungsabsicht, aus der die Summe der anthropologischen Diskurse des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu sprechen scheint. Nicht sei der „Zweck der Beredsamkeit […] die philosophische Überzeugung“, sondern „die sinnliche Ueberedung und Ruehrung“ (Lindner 1971, Bd. 2, 5). Nicht nur eine Nische, sondern ein öffentliches und viel beachtetes Experimentierfeld für die schriftliche Redekunst bildete zudem die Literaturkritik, die sich im 18. Jahrhundert in zahlreichen Organen, etwa in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (ADB) oder in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen (GGA), rasant etablierte. Der Anspruch der aufklärerischen Literaturkritik bestand darin, nach den Maßstäben der Vernunft rückhaltlos zu kritisieren, „Fehler“ – vor dem Hintergrund noch existierender regelpoetischer Vorgaben – aufzudecken (Anz/Baasner 2007, 24). Aus diesem Anspruch erklärt sich die Aggressivität vieler Kritiken, die deshalb möglich war, weil der Rezensent häufig anonym blieb. Im Vordergrund stand zwar das docere. Dies zu erreichen wurde aber das movere bewusst eingesetzt. Tadeln und manchmal auch loben, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, galt als die beste Strategie, um die Fehler herauszustreichen. Berühmte Kritiker, die auch heute noch lesenswerte und teils amüsante Rezensionen verfassten, waren neben Gottsched Albrecht von Haller (1708–1777), Johann Joachim Eschenburg (1743–1820) und vor allem Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) (vgl. Kap. VII. 3).
2. Verfall der Rhetorik seit dem 19. Jahrhundert? Der langsame Abschied von dem System der klassischen Redekunst, der sich im 18. Jahrhundert in den Lehrbüchern ankündigt, setzte sich im 19. Jahrhundert fort. Nach der Neuordnung der Universitäten 1810 wurde die Rhetorik als Fach an den Rand gedrängt. Die Nationalphilologie erhielt ein höheres Gewicht, in größerer Anzahl wurden germanistische Lehrstühle, beispielsweise mit der Bezeichnung ,Deutsche Sprache und Literatur‘, besetzt, eine Entwicklung, die zeigt, dass sich das Interesse auf die spezifisch eigene Sprache, Literatur und Kultur verlagerte. Die Aufgabe sah man nun vor allem darin, die Überlieferung des Eigenen, etwa in Editionen und Ausgaben, zu sichern. Die Rhetorik löste sich „als kohärentes Bildungssystem“ (Ueding/Steinbrink 2005, 137) auf, und dieser Auflösung leistete die stetige Ausdifferenzierung der Wissenschaften Vorschub. Diese Entwicklung spiegelt den dargestellen Vorbehalt gegenüber dem als artifiziell empfundenen Regelsystem der klassischen Rhetorik, deren Systematik in Teilen jedoch weiter gelehrt und genutzt wurde. Frucht einer fortschreitenden „Literarisierung der Rhetorik“ (Schanze 1993, 72) ist besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Pathos- und Schwulststil, der das System des orna-
2. Verfall der Rhetorik seit dem 19. Jahrhundert?
tus deutlich ausschöpft. Zugleich bilden sich neue Foren, die, unterstützt durch neue Medien, wieder öffentliches Reden, nun im Zeichen einer Massenrhetorik, ermöglichen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der alten Rhetorik von Seiten eines Predigtverständnisses, das im Zeichen der Romantik für eine spezifisch christliche Beredsamkeit votierte, bisweilen antiquierte Theorielastigkeit vorgeworfen. Auch dann wurden jedoch Versatzstücke der überlieferten Systematik genutzt. In seinen Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland (1812) konstatiert der Jurist und Historiker Adam Müller (1779–1829) eine Verschriftlichung der gesamten Lebenswelt, die die eigentliche Rede überflüssig mache. „Wo sollen die Redner herkommen?“ – so formuliert Müller in seinem Vorwort zum Abschluss einer langen Suggestivfrage (Müller 1967, 35), der noch weitere folgen. Eindringlich macht er darauf aufmerksam, dass die mündliche Rede variantenreich durch die schriftliche ersetzt, die „Rednerbühne“ durch einen „Schreibtisch“ vertauscht wurde (ebd.): „Wer überhaupt lernt reden aus dem Papier, aus der toten Schrift? Hören muß und gehört werden, wer sprechen lernen will […]“ (ebd., 36). Es sind vor allem die politischen Verhältnisse, die fehlende nationale Einheit, das mangelnde öffentliche Forum, das die Redner überflüssig macht und den Schriftverkehr dominieren lässt, auf den sich Müller selbst zurückgeworfen zeigt. Wenn auch unter anderen historischen und kulturellen Vorzeichen erinnern Müllers Äußerungen, auch in ihrem Gestus, an Tacitus’ (ca. 58–120 n. Chr.) Dialogus de oratoribus / Dialog über die Redner (um 102 n. Chr.). Diese Schrift beklagt die Restriktionen, die der Beredsamkeit nach dem Ende der römischen Republik auferlegt wurden und die Tatsache, dass „Hörsäle und Archive“ der Rede ihre eigentliche Wirkungsmacht entzogen hätten und vieles durch Gesetze und ohne öffentliche Anhörung entschieden würde (Tac., Dial., 39.1.). Tacitus’ Dialog stellt zur Disposition, ob das Schreiben von Literatur als eine Flucht aus der Realität und vor gesellschaftlicher Verantwortung zu werten sei. Müller geht so weit nicht und räumt ein, dass die Literatur zwar ein Feld sei, auf dem die Beredsamkeit beheimatet sein könnte, aber gerade die deutsche, sowohl wissenschaftliche als auch schöne Literatur, die tatsächlich die Leser ansprechen könne, rede nur mit sich selbst oder bleibe stumm, werde nicht gelesen (vgl. Müller 1967, 36 f.). Außerdem beklagt er die Übermacht anderer Sprachen, etwa des Französischen, die verhindere, dass sich in Deutschland eine lebendige Rhetorik ausprägen könne. Insgesamt sei das Sprechen und Reden an sich in den anderen europäischen Ländern höher geachtet: „Jene scheinen zu leben, um zu sprechen; wir nur zu sprechen, um die übrigen Lebensfunktionen zu befördern […]“ (ebd., 40). Müller legt Wert auf diejenige Rede, die tatsächlich gehalten wird. Die Rede „ist eigentlich nicht eher da, als bis sie leibhaftig vor denen ausgesprochen wird, die dadurch ergriffen werden“ (ebd., 109). Diese unmittelbare Rede will er zu neuem Leben erwecken. Die gegenwärtige „ganze neuere Rhetorik“ aber verlege „ihr eigentliches Wesen […] in das vorbereitende häusliche Erdichten und Aufschreiben der Rede“ (ebd., 115). Die lebendige Rede hat für Müller ihren Ort besonders in der Erziehung der Jugend. Hier sei eine Beredsamkeit anzuwenden, die der Zeit angemessen ist und insofern jener der Alten vorzuziehen, „die das Höhere nicht kannten“ (ebd.,
Rhetorikkritik und neue christliche Beredsamkeit
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IV. Rhetorik und Moderne
187); diese sei „eine heilige, eine christliche Beredsamkeit“ (ebd., 188). Müller spielt auf die Predigtlehre (Homiletik) an, von der er meint, dass sie mehr als die Kunst der Alten die gegenwärtige Praxis der Redekunst befruchten könne. Einen wichtigen Schlüssel für das romantisch konnotierte Predigtverständnis, das wie Müller die actio in den Mittelpunkt stellt, bilden Friedrich Schleiermachers (1768–1834) Reden über die Religion (1799). Die Religion, so Schleiermacher, bedürfe eines „Mittlers“ (Schleiermacher 1985, 81), der hervortrete und in einer Versammlung den „toten Buchstaben“ verlebendige (ebd.). Allerdings erkennt Schleiermacher die Systematik der antiken Redekunst unumwunden an und verbindet ars und Religionsvermittlung miteinander, wenn es heißt, dass es dem Mittler gebühre, „auf das Höchste, was die Sprache erreichen kann, auch die ganze Fülle und Pracht der menschlichen Rede zu verwenden“ (121). Es sei „unmöglich, Religion anders auszusprechen und mitzuteilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache“ (ebd.). Beeinflusst zeigt sich Müller vom Hofprediger Franz Theremin (1780–1846), der 1814 seine Beredsamkeit eine Tugend, oder Grundlinien der systematischen Rhetorik vorlegt. Theremin erklärt „das positive Christentum“ (das, was die Offenbarung zur Grundlage erklärt), als „nothwendige Basis der geistlichen Beredsamkeit“ (Theremin 1837, Vorrede, unpag.). Diese bezeichnet er als „ein sittliches Handeln“ (ebd.) und betont die Kluft zwischen Theorie und Praxis, die schon bei den Alten zu beobachten sei. Auch bei ihnen sei es aber schon so gewesen, dass die „Erfahrung“, nicht die „Lehrbücher“ die guten Redner hervorgebracht habe (ebd., 4). Und ohnehin sei die christliche Beredsamkeit „den Alten gaenzlich unbekannt“ (ebd.). Dieser Standpunkt erinnert an die erwähnte Diskussion, die unter den Reformatoren geführt wurde und die Erasmus’ Ciceronianer zum Gegenstand hat: ob christliche Wahrheiten generell mit den Mitteln der antiken Rhetorik vermittelt werden könnten. Theremin unterscheidet zwar die christliche Beredsamkeit sehr streng von der antiken Rhetorik, trennt sie sogar von der Poesie und der Philosophie und polemisiert gegen Aristoteles’ Definition, die Rhetorik sei das Gegenstück zur Dialektik (vgl. ebd., 18). Ohnehin sei dessen Rhetorik kein wissenschaftlich einheitliches Werk (ebd., 19). Er erklärt die Beredsamkeit jedoch dann zu einem „Theil der Ethik“ und als „eine Fertigkeit nach ethischen Gesetzen zu wirken“, Beredsamkeit sei eine „Tugend“ (ebd., 23). So weit ist Theremin von den geschmähten Alten und dem Konzept des vir bonus nicht entfernt, auch wenn es unter anderen Vorzeichen als „sittliches Genie“ erinnert wird (ebd., 95). Auch hält er die Trias der Redegattungen für sinnvoll und nutzt für seine Darstellungen die Konzepte inventio, dispositio, exordium und elocutio (vgl. ebd., 74, 76, 103). Versuche, sich von den Alten abzugrenzen und den Sinn dieser Begriffe neu zu begründen, geraten mehr oder weniger überzeugend. Wortreich und engagiert versucht Theremin das Band zur antiken Rhetorik zu zerschneiden, was ihm sichtlich Mühe bereitet. Offensichtlich erwies sich trotz aller Kritik die antike Systematik als sinnvoll. Sie fungiert, wie in den Rhetoriklehrbüchern des 18. Jahrhunderts, wie ein Steinbruch. Das, was allerdings herausgebrochen wird, scheint durch anderes kaum ersetzbar zu sein. Die Vermutung liegt nahe, dass die klassische Redekunst gerade auf einem Feld besonders präsent bleiben könnte, auf dem sie in der Antike ih-
2. Verfall der Rhetorik seit dem 19. Jahrhundert?
ren Ausgang genommen hatte: auf dem Feld der gerichtlichen Redekunst. Grundlegend für das 19. Jahrhundert wurde die Anleitung zur Gerichtlichen Beredsamkeit (1810) des Heidelberger Rechtswissenschaftlers Karl Salomo Zachariä (1769–1843). Zachariä hielt die Lehrbücher der Alten zwar für wichtige Fundgruben für die zeitgenössische Rechtsprechung und gerade die Statuslehre, ein gerichtliches Kernstück der antiken forensischen Rhetorik, für nicht überholt (Ueding/Steinbrink 2005, 148). Allerdings sah er ihre Grenze darin, dass sie von einer Verquickung von Recht und Politik lebte, d. h. zugunsten des Staates Recht gesprochen wurde. Sein Buch traf besonders nach 1848 auf großes Interesse, da im Zuge der Reformen immer mehr Strafverfahren mündlich durchgeführt wurden. Es inspirierte etliche weitere Rhetoriken wie etwa das Lehr- und Handbuch der gerichtlichen Beredsamkeit (1850) von Oskar Ludwig Bernhard Wolff (1799–1851) oder die Gerichtliche Redekunst (1887) von Hermann Friedrich Ortloff (1828–1920). Ortloff evoziert in seiner Einleitung zwar Ciceros Ideal des vir bonus, allerdings betont er in der Folge Zachariäs, dass „die Rhetorik der Griechen und Römer […] nur mässig zu verwerten“ sei, da es sich bei ihr „vorzugsweise“ um „eine Staatsberedsamkeit“ gehandelt habe (Ortloff 1887, 9). Auffällig ist, dass gerade die Rolle der Affekte, die die Rhetoriken des 18. Jahrhunderts stark machten, zurückgedrängt wird. Es möge allein das „Vernunft- und Pflichtgebot“ gelten (ebd., 6). Auch wenn Ortloff eine wichtige Essenz der forensischen Rhetorik ausklammert, hält er am klassischen Aufbau einer Rede und an Begriffen wie Überzeugung (persuadere), perspicuitas (Deutlichkeit) oder aptum (Angemessenheit) fest. Inwiefern der Rhetorikunterricht im 19. Jahrhundert noch an den Schulen verankert war, müsste eine Sichtung der Schulpläne im Einzelnen nachweisen. Es ist davon auszugehen, dass es weiterhin, von Region zu Region verschieden, den lateinischen Rhetorikunterricht an den Schulen gab, wenn auch nicht mehr in der Extensität und Qualität wie noch im 17. Jahrhundert (vgl. Ueding/Steinbrink 2005, 155). Die Schulreformen, die um 1812 einsetzten, sahen jedoch häufig vor, dass der Rhetorikunterricht auch in der Muttersprache abgehalten werden sollte. Eine besonders enge Bindung an die alten Sprachen blieb besonders im Süden Deutschlands erhalten, wo 1825 Friedrich Thiersch (1784–1860) mit der Neugestaltung der Schulpläne beauftragt war. In Preußen sahen die Schulpläne besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im höheren Grade auch Übungen mit Hilfe als vorbildlich geltender deutscher Autoren vor sowie freie Redeübungen und Aufsätze über historische oder politische Themen. Dabei waren die Grenzen zu den sogenannten Stilübungen fließend. Disziplinenübergreifend und inspiriert durch eine neuerliche Lust, auszuprobieren, was die deutsche Sprache vermochte, lässt sich eine rhetorisch ausgefeilte künstlerische Schreibart beobachten, die nur zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass Rhetorik- und Stilunterricht selbstverständlich zum Schulunterricht gehörten. Literatur und Kultur entwickelten sich gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge eines engen Kulturtransfers mit anderen Ländern, etwa mit Russland und besonders mit Frankreich. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschte ein Stilpluralismus, der sich aus den unterschiedlichsten Quellen speiste. ,Symbolismus‘, ,Naturalismus‘ und ,Décadence‘ sind nur einige Begriffe, die Facetten dieses Pluralismus bilden.
Gerichtliche Beredsamkeit und antike forensische Rhetorik
Rhetorik an den Schulen
Pathos und Schwulst
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IV. Rhetorik und Moderne
Rhetorik und Masse
Dominante Merkmale waren Pathos und ,Schwulst‘ im Sinne eines überbordenden und heute bisweilen als manieriert empfundenden Ornats. Man denke an die Schriften Jakob Burckhardts (1818–1897), an die Ringstraßenarchitektur in Wien, an die Literaturkritik der Gebrüder Heinrich und Julius Hart (1855–1906/1859–1930), Karl Bleibtreus (1859–1928) oder Hermann Bahrs (1863–1934), die emphatisch Neuanfänge forderten und heftig polemisierten, und besonders an die Opern Richard Wagners (1813–1883). Bezeichnend ist die Kritik Thomas Manns (1875–1955), die er in seiner Rede Leiden und Größe Richard Wagners (1933) an Wagners Opern übt. Mann sieht Richard Wagners Musik als ein typisches Symptom des 19. Jahrhunderts. Inspiriert wurde Mann von der scharfen Polemik, die Friedrich Nietzsche (1844–1900) in Der Fall Wagner (1888) lancierte. Die klassische Rhetorik war in der Praxis der politischen Öffentlichkeit im Fortgang des 19. Jahrhunderts kaum noch ein geschätzter Orientierungspunkt. Zunächst besaß die politische Beredsamkeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kaum Felder und wich vor allem in die politische Publizistik aus. Nach der 1848er-Bewegung boten die neu entstehenden Arbeiterbewegungen und der Deutsche Reichstag Bühnen, auf denen berühmt gewordene Redner wie Ferdinand Lasalle (1825–1864), August Bebel (1840–1913) und Otto von Bismarck (1815–1898) hervortraten. Allerdings blieb der Vorwurf einer unzeitgemäßen Theorielastigkeit der antiken Rhetorik, der seit Petrus Ramus (1515–1572, vgl. Kap. III. 1) immer wieder erhoben wurde und der letztlich zu einer Marginalisierung der Rhetorik an den Universitäten geführt hatte, erhalten. Er trug dazu bei, Demagogie und Propaganda, einer folgenreichen „Theatralisierung der Politik“ (Ueding 2009, ebd., 87) im Kaiserreich, Tür und Tor zu öffnen. Es entwickelte sich gerade im öffentlichen Raum eine bisweilen predigtartige narkotisierende Rhetorik, die durch die Entwicklung neuer Technik, besonders des Lautsprechers, unterstützt wurde (vgl. Göttert 1998a, Kap. XVIII). Voraussetzung für die aufkommende Katastrophe war ein tief greifender Strukturwandel, dem die klassische Theorie hinterherhinken musste, die Transformation der Rede in ein „Massenkommunikationsmittel“ (Ueding 2009, 90) über die Grenzen der politischen Lagerbildung hinweg. Soziologisch geriet ,die Masse‘ bereits 1895 in Gustav le Bons (1841–1931) wirkungsmächtiger Studie Psychologie des foules in den Blick. Auf die neue Möglichkeit der Rede, die „großen Massen“ bewegen zu können, macht die 1914 erschienene Rhetorik von Ewald Geißler (1880–1946) aufmerksam, die die alte Rhetorik als unzeitgemäß zurückweist (Geißler 1914, 1. Teil, 5). Geißler interessiert vor allem die Beziehung zwischen dem Redner und der Masse. Der Redner gewinne diese vor allem durch seine „Gesamtpersönlichkeit“ – nicht, so könnte man hinzufügen, durch eine klug abgewogene Argumentation (Geißler 1914, 2. Teil, 101). Geißler sah jedoch die Gefahr einer Massenrhetorik. Er weist darauf hin, dass ein Redner stets „ein Führer“ sein solle, ohne aber ein „Demagogentum“ zu pflegen (ebd., 100). Seine Rhetorik wurde für Adolf Hitler zu einer wichtigen Orientierungsmarke (vgl. Ueding 2005, 94). Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm in Amerika die ,Neue Rhetorik‘ ihren Ausgang.
2. Verfall der Rhetorik seit dem 19. Jahrhundert?
3. Neue Rhetorik: Impulse aus Amerika und Frankreich Unter dem Begriff ,Neue Rhetorik‘ sind verschiedene Ansätze zu verstehen, die sich seit den 1930er Jahren ausgehend von den USA entwickelten. Eine wichtige Tendenz dieses Neuanfangs der Rhetorikforschung war die Öffnung zur Sprachwissenschaft, Anthropologie, Kommunikationswissenschaft und Argumentationstheorie. Einige der neuen Forschungsansätze halfen, den ,cultural turn‘ vorzubereiten, dem die Prämisse zugrunde liegt, dass Kultur sprachlich verfasst ist bzw. erst die sprachlichen Erzeugnisse und Beschreibungsmodi Lebenswelten konstituieren. Damit gewannen fächerübergreifend die Bereiche der elocutio und inventio Aufmerksamkeit. Die ,Wissenschaftsrhetorik‘ rückte in den Blick. ,Rhetorik‘ wurde abgelöst durch das Paradigma der ,Rhetorizität‘. In Frankreich rehabilitierte die ,Nouvelle Rhétorique‘ einerseits die klassische Rhetorik als Argumentationstheorie, andererseits wurde deren Ende verkündet, sie jedoch als Sockel für eine strukturalistisch konnotierte neue Rhetorik genutzt. Die Forschungen, die in Amerika seit den 1930er Jahren entstanden, geben kein einheitliches Bild ab. Als ,neu‘ können sie zudem nicht immer ohne Einschränkung bezeichnet werden, da die klassische Rhetorik bisweilen einen wichtigen Bezugspunkt darstellt, allerdings an neue sprachphilosophische und kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen, oft in interdisziplinärer Arbeit, angeschlossen wird. In Folge dieser speziellen Neubelebung der Rhetorik wurde die Rhetorikforschung in den USA weitaus intensiver institutionalisiert als in Deutschland. Seit den 1950er Jahren entstanden unter den Denominationen ,Communication Studies‘, ,Rhetoric‘ oder ,Speech Communication‘ zahlreiche Lehrstühle. Namengebend für die New Rhetoric war vor allem die Studie Daniel Fogartys mit dem programmatischen Titel Roots for a New Rhetoric (1959). Sie synthetisiert wichtige, vorwiegend sprachphilosophisch und anthropologisch orientierte Arbeiten, etwa Ivor Armstrong Richards (1893–1979) The Meaning of Meaning (1923, mit Charles Kay Ogden) und The Philosophy of Rhetoric (1936), Kenneth Burkes (1897–1993) The Rhetoric of Hitler’s „Battle“ (1939) und The Rhetoric of Motives (1950) sowie Richard Malcolm Weavers (1910–1963) The Ethics of Rhetoric (1953). Hintergrund dieser Studien war die Propagandaforschung, die sich seit den 1930er Jahren und im Zuge der Weltkriege entwickelte. Aus ihr formierte sich ein eher empirisch ausgerichteter interdiszplinärer Forschungszweig, der versuchte, unter Berücksichtigung von Mediendifferenzen, ein Instrumentarium für die Erforschung von manipulierenden Beeinflussungsmöglichkeiten zu erstellen. Zu nennen wären hier Harold D. Lasswells (1902–1978) Language of Politics (1949), Carl J. Hovlands (1912–1961) The Order of Presentation in Persuasion (1957) sowie Wilbur Schramms (1907–1987) Mass Communication (1960). Mögliche Funktionalismen der Manipulation wurden nun auf der Basis empirischer Daten und unter Berücksichtigung der Erkenntnisse verschiedener Fächer wie u. a. Psychologie, Soziologie, Politologie und Linguistik systematisch erörtert. Wegweisend für die Entwicklung der New Rhetoric war Ivor Armstrong Richards mit seiner Philosophy of Rhetoric (1936) insofern, als er mit einer zentralen Vorannahme der klassischen Rhetorik brach. Stellte diese an den
New Rhetoric
Sprachphilosophie und Anthropologie der New Rhetoric
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IV. Rhetorik und Moderne
Endpunkt einer rhetorischen Handlung eher das Einverständnis und den mentalen Wandel, so erklärte Richards das Missverstehen zur Grundkonstante der Kommunikation und vollzog somit „eine kopernikanische Wende“ (Kramer 2003, 262). Das Ziel rhetorischen Handelns sah Richards darin, Missverständnisse zu vermeiden. Auch wollte er die Rhetorik nicht als Stillehre aufgefasst wissen, sondern er generalisierte die Rhetorik, indem er sprachphilosophische und anthropologische Überlegungen anstellte. Als Grundlage des sprachlichen Aktes entwickelte er gemeinsam mit Ogden in The Meaning of Meaning (1923) eine Theorie der Bedeutung, die einerseits angelehnt ist an die Semiotik von Charles Sanders Peirce (1839–1914), andererseits an die Diskussion in Platons Kratylos sowie an die sophistische Auffassung von Sprache (vgl. Ogden/Richards 1974, 42 f.), denn sie geht davon aus, dass sprachliche Zeichen (verba) nicht auf eine unverbrüchlich feststehende Bedeutung (res) in der Wirklichkeit verweisen. Diese Zeichen nennen Ogden und Richards „Symbole“; bei diesen Symbolen kann es sich um „Wörter, Wortgruppierungen, Bilder, Gesten und stellvertretende Darstellungen wie Zeichnungen oder nachahmende Laute“ handeln (Ogden/Richards 1974, 32, Hervorh. im Text). Symbole besitzen je nachdem, in welchen „Kontexten“ sie auftreten, unterschiedliche Bedeutungen, die durch lebensweltliche und individuelle Erfahrungen zustande kommen (ebd., 82). Ogden und Richards entwerfen ein Dreieck mit den Konstituenten ,Symbol‘, ,Gedanke oder Bezug‘ und ,Referent/Bezugsobjekt‘, in dem die Linie zwischen ,Symbol‘ und ,Referent/Bezugsobjekt‘ unterbrochen ist, denn eine Beziehung nehmen sie jeweils als individuell und deshalb als uneindeutig an (ebd., 18). Deshalb werten sie das Symbol als ein „sehr unvollkommenes Kommunikationsmittel“ (ebd., 24). Voraussetzung jeder Kommunikation ist eine prinzipielle Mehrdeutigkeit der Sprache. Dass überhaupt Verstehen gelingt, ist deshalb extrem unwahrscheinlich und am ehesten dann möglich, wenn annähernd ähnliche Erfahrungskontexte gegeben sind (vgl. Holocher 1996, 33). Ziel kommunikativer, d. h. die Aufgabe rhetorischer Akte wäre folglich, den Mangel an gemeinsamer Erfahrung auszugleichen. Als Schlüssel für die Vermittlung der eigenen Erfahrung erkennt Richards in The Philosophy of Rhetoric die Metapher. Sie sei weder, wie die alten Rhetoriker annähmen, „eine Art fröhliche Wortspielerei“ noch „eine Verschönerung, ein Ornament oder eine zusätzliche Macht der Sprache“, sondern deren „konstitutive Form“ (Richards 1996, 32). Sie bildet für Richards nicht nur eine rhetorische Figur des Gedankenschmucks (ornatus), sondern sie ist diejenige Form, in der sich menschliches Denken prinzipiell äußert. Liegt schon für Quintilian die besondere Leistung der Metapher darin, etwas zu erhellen oder deutlich zu machen, wofür der „Ausdruck“ fehle (Quint., Inst. orat., 8.6.4), so erscheint bei Richards die Sprache als grundsätzlich metaphorisch. Die Metapher ist „das allgegenwärtige Prinzip der Sprache“ (Richards 1996, 33), sie ist „Austausch und Verkehr von Gedanken, eine Transaktion zwischen Kontexten“ (ebd., 35, Hervorh. im Text). Eine Reflexion über eine so verstandene Metapher ist deshalb zugleich eine über Denkprozesse, sowohl über die eigenen als auch über die der anderen. Sie soll helfen, sprachliche Äußerungen besser zu verstehen, seien es solche des Alltags, der Wissenschaft oder der Literatur. Die Generalisierung der Metapher als grundsätzliche ,Form‘ der Sprache rückt elocutio und inventio auf
3. Neue Rhetorik: Impulse aus Amerika und Frankreich
neuartige Weise in den Blick. Sie bereitet den Weg zum Paradigma der ,Rhetorizität‘. Die Arbeiten von Kenneth Burke (u. a. The Rhetoric of Motivs, 1950) sind u. a. vom Neukantianer Ernst Cassirer (1874–1945) und seiner harmonistischen Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929) inspiriert. Burke entwickelte eine „Rhetorik der Identifikation“ (Kramer 2003, 267, vgl. Burke 2007, 19–29) auf der Basis spezieller anthropologischer Vorannahmen. Dabei schließt Burke an Richards sprachphilosophische Überlegungen an. Als Grundlage jeder Sprachhandlung erkennt Burke den Antrieb des Menschen, sich seine Welt durch Symbole zu erschließen, die ihn dann jedoch von der Realität trennen. Der Mensch strebt danach, sich wieder mit der Welt zu identifizieren, indem er mittels der Sprache neue überzeugendere Symbole erfindet, die versprechen, die verlorene Einheit wiederherzustellen. Der Wunsch nach Identifizierung leitet auch den Redner und drückt sich beispielsweise in der captatio benevolentiae aus, die ebenso vom Zuhörer, der auch nach Identifizierung strebt, erwartet wird (vgl. Kramer 2003, 268). Auch Burke ebnet mit seiner Generalisierung der Rhetorik dem Paradigma der ,Rhetorizität‘ den Weg. Ist die antike Rhetorik in diesen Ansätzen nur noch schattenhaft zu erkennen, so erfährt sie in Richard Malcolm Weavers Ethics of Rhetoric (1953) eine große Würdigung. Weaver macht, anders als Richards und Burke, das Ideal des vir bonus stark (vgl. Weaver 1963, 18) und stellt den Tendenzen der modernen Rhetorikforschung ein konservativ geprägtes Plädoyer für die antike Rhetorik zur Seite. Dem kulturellen Verfall, der sich seit dem 19. Jahrhundert vollziehe, soll durch die produktive Rezeption der Überlieferung ein hemmendes Moment entgegengestellt werden. Kaum mehr zu erkennen ist indes die antike Rhetorik in der Forschungsrichtung der Allgemeinen Semantik, die innerhalb der New Rhetoric jedoch am populärsten wurde. Der Mathematiker Alfred Korzybski (1879–1950) lieferte 1933 mit seiner Studie Science and Sanity. An Introduction to NonAristotelian Systems and General Semantics das Grundlagenwerk für die Allgemeine Semantik. Er nimmt hier, wie der Titel bereits ankündigt, eine dezidiert anti-aristotelische Haltung ein. Er fordert eine neue Rhetorik, die das System der Definitionen und Abstraktionen verlässt und mehr den unbewussten Motiven des menschlichen Handelns Raum gibt und die modernen „human neurological problems“ berücksichtigt (Korzybski 2005, lxxix). Diese Probleme resultieren daraus, dass sich simplifizierende Gewohnheiten verfestigen, Dinge zu bewerten, so dass sie in der Folge die psychische ,Gesundheit‘ verhindern. Solche „generalizations“ (ebd., 40; vgl. Holocher 1996, 54) sieht Korzybski als die Basis des Totalitarismus. Sie werden aus seiner Sicht durch die Sprachauffassung der Aristotelischen Rhetorik begünstigt, weil diese nach der Übereinstimmung von Wort (verba) und Sache (res) strebt. Der großen Zahl an möglichen Bedeutungen, derer sich der Mensch oft nicht bewusst wird, kann diese Rhetorik nicht gerecht werden. Es bedarf einer Rhetorik, die den Menschen als komplexes Wesen auffasst, das auf vielfältige Weise auf sprachliche Reize reagieren kann. Korzybski inspirierte prominent gewordene Vertreter der Allgemeinen Semantik wie Stuart Chase (1888–1985), Berater des Präsidenten Franklin D. Roosevelt (1882–1945), und Samuel Itchie Hayakawa (1906–1992), Linguist
Allgemeine Semantik
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IV. Rhetorik und Moderne
Nouvelle rhétorique in Frankreich / Argumentationstheorie
und von 1977–1983 als Repräsentant Kaliforniens Mitglied des US-Senats. Chase verfasste wirkungsmächtige Arbeiten wie The Tyranny of Words (1938), The Power of Words (1954) sowie Guides to Straight Thinking (1956). Besonders The Tyranny of Words wurde ein großer Erfolg. Im Anschluss an Korzybskis Thesen sollen Argumentationen unter den Verdacht der Einseitigkeit und mangelnden Überprüfbarkeit gestellt werden. Ziel soll es sein, „Denkschablonen und Wertvorstellungen“ (Holocher 1996, 51), die durch Rhetorik hervorgerufen werden, umzustoßen und neue zu schaffen, die den modernen Entwicklungen gerecht werden. „Althergebrachte Bewertungsgewohnheiten“ sollen zur Disposition gestellt werden (ebd.). Mit seinem Buch Language in Thought and Action (1949), einer ausführlicheren Fassung des 1939 erschienenen Language in Action, trat Hayakawa als erster Schüler von Korzybski etwas gemäßigter in dessen Fußstapfen. Er plädierte für eine größere Einsicht in die Wirkungsmöglichkeiten einer prinzipiell als polyvalent anzusehenden Sprache und dafür, sich Manipulationsmöglichkeiten, etwa durch die Werbung in Rundfunk und Fernsehen, stärker bewusst zu machen. Ein angemessenes Sprachbewusstsein sah er als Voraussetzung für eine psychische ,Gesundheit‘ und für mehr ,Kooperation‘ unter den Menschen (vgl. Hayakawa 1972, 10 f.). Stellte für die Allgemeine Semantik die antike Rhetorik ein Reizsystem dar, so findet die Nouvelle rhétorique in Frankeich auf verschiedene Weise wieder den Anschluss. Der Rechtsphilosoph Chaïm Perelman (1912–1984) und die Sozialwissenschaftlerin Lucie Olbrechts-Tyteca (1899–1988) näherten sich der antiken Rhetorik von Seiten der Argumentationswissenschaft. 1958 erschien La nouvelle rhétorique. Traité de l’argumentation. In L’Empire rhétorique. Rhétorique et argumentation (1977, dt. Das Reich der Rhetorik) legte Perelman eine prägnante Zusammenfassung vor. Geprägt von der Brüsseler Schule (vgl. Dominicy 2006) rehabilitierte Perelman ein wichtiges Element der traditionellen Rhetorik, die Argumentationstheorie (vgl. Kopperschmidt 2006, 13). Er wendet sich gegen eine Vereinnahmung der Rhetorik durch die Sprach- und Literaturwissenschaften, gegen eine bloße „Rhetorik der Figuren“, und wertet die antike Rhetorik als „Technik des überredenden Diskurses“ aus philosophischer Perspektive und im Anschluss an Aristoteles und Quintilian auf (Perelman 1980, 4). Damit grenzt er sich von der Cartesianischen formalen Logik ab, die ein vorgegebenes Schema der Beweisführung ausfüllt und gemäß diesem Schema ,Wahrheiten‘ deduziert, jenseits einer Zuhörerschaft, und setzt ähnliche Akzente wie Stephen Toulmin (1922–2009) in The uses of argument (1958). Zentral ist in Perelmans Theorie die Idee eines Publikums, das in einer vernunftgeleiteten Argumentation überzeugt sein will und das die vorgebrachten Argumente auch „zum Gegenstand einer neuen Argumentation“ nehmen kann (Perelman 1980, 56). Thesen, die die Argumentation nutze, seien immer von der Zustimmung von „Öffentlichkeiten“ getragen und müssten wiederum „Konsens“ erwerben (ebd., 55). Ähnlich begreift Hans Blumenberg die Funktion der Rhetorik in der Moderne. Rhetorik sei „die angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des ,substantiellen‘ Fundus an Regulationen treten müssen“, sie diene „der Herstellung der Verständigung, Zustimmung oder Duldung“, des „consensus“ (Blumenberg 1993, 108, Hervorh. im Text). Anschlussfähig ist insofern auch Jürgen Habermas’ (*1929) Idee des
3. Neue Rhetorik: Impulse aus Amerika und Frankreich
,öffentlichen Räsonnements’ (vgl. Habermas 1995, 119) und sein Konzept der ,Diskursethik‘ (vgl. Göttert 1998, 204–206). Perelman denkt bei dem zuhörenden Publikum (auditoire) an eine unmittelbare Zuhörerschaft oder an die Leser eines Buches. Es kann sich aber auch um kein konkretes, sondern um ein vom orator zu imaginierendes Publikum handeln, sogar um das „Alter Ego im inneren Dialog der Autokommunikation“ (vgl. Knape 2000b, 304). Das ,Neue‘ an Perelmans Rhetorik sind die Anknüpfung seiner Argumentationstheorie an Aristoteles und Quintilian, die für die zeitgenössische Philosophie nicht selbstverständlich war, der Versuch, die Rhetorik von der Verengung auf sprach- und literaturtheoretische Fragestellungen zu befreien und die fein abgestimmte Ausrichtung der Argumentation auf jedes erdenklich mögliche Publikum. Perelmans Argumentationstheorie bildete eine Gegenbewegung zu der aktuellen Tendenz in Frankreich, besonders der Figurenlehre Aufmerksamkeit zu widmen. Symptomatisch für diese Tendenz war 1967 die Gründung der Lütticher Gruppe, die sich der Erforschung der Metapher vor allem aus linguistischer und soziologischer Perspektive verschrieb und sich nach dem entsprechenden Anfangsbuchstaben benannte (vgl. Perelman 1980, 5). Der Literaturwissenschaftler Gérard Genette (*1930) polemisierte in La rhétorique restreinte (1970, Die restringierte Rhetorik) gegen jene „tropologische[n] Reduktion“ (Genette 1996, 232, Hervorh. im Text). Für Roland Barthes (1915–1980) war sie Anlass, die ,alte Rhetorik‘ auf spezielle Weise als ein generelles System stark zu machen, das Texte bzw. Diskurse produziert. In L’ancienne rhétorique. Aide-mémoire (1970, dt. Die alte Rhetorik) nennt er das ,Reich der Rhetorik‘ „ein riesigeres und standhafteres Reich als jedes politische“ (Barthes 1988, 17), jedoch ein „alte[s]“ (94), das der Erneuerung bedürfe, wie ein Wunder jedoch zählebig seine Dominanz behaupte und besonders durch seine Systematik, durch seine Form, über alle Differenzen hinweg eine fragwürdige Einheit des Abendlandes begründet habe: Man bedenke […], daß die Rhetorik – ungeachtet der internen Variationen des Systems – im Abendland zweieinhalb Jahrtausende hindurch geherrscht hat, von Gorgias bis zu Napoleon III.; man bedenke, was sie alles ohne Erschütterung oder Abnutzung, ungerührt, gelassen und wie unsterblich, entstehen, vorüberziehen und untergehen sah: die athenische Demokratie, die ägyptischen Königreiche, die römische Republik, das römische Kaiserreich, die Völkerwanderung, den Feudalismus, die Renaissance, die Monarchie, die Revolution; sie hat Staatsformen, Religionen und Zivilisationen verdaut; seit der Renaissance dem Tod geweiht, zieht sich ihr Sterben über drei Jahrhunderte hin; und noch ist ihr Tod alles andere als gewiß. Die Rhetorik eröffnet den Zugang zu dem, was man wohl als Überzivilisation bezeichnen muß: die historische und geographische des Abendlands: sie war die einzige Praxis (mit der nach ihr entstandenen Grammatik), in der unsere Gesellschaft die Sprache, ihre Herrschaft […], anerkannt hat, die auch sozial eine „Herrschaftlichkeit“ war; die Einteilung, die sie ihr aufgezwungen hat, ist das einzige wirklich gemeinsame Merkmal an aufeinanderfolgenden und unterschiedlichen historischen Zusammenhängen, als existierte über den inhaltlichen Ideo-
Das ,alte Reich‘ der Rhetorik: Roland Barthes
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logien und den direkten Determinationen der Geschichte eine Ideologie der Form […]. (ebd., 18) Barthes legt nahe, dass die Rhetorik ,systematisch‘ zugerichtet wurde und durch ihre starre Form Krisen überdauern und Identität stiften konnte. Als für besonders kritikwürdig hält er den Umstand ihrer Entstehung. Sie sei während des Zerfalls der griechischen Polis aus Eigentumsstreitigkeiten entstanden (vgl. ebd., 19). Daraus folge, dass auch die Literatur „aus einer politischgerichtlichen Praxis hervorgegangen“ sei, dort, wo „die brutalsten Geld-, Besitz- und Klassenkonflikte“ durch Prozesse gelöst wurden, wo „das fingierte Sprechen reglementiert“ und Bedeutungen „kodifiziert“ worden seien (ebd., 95). In einem historisch etwas verkürzten Blickwinkel erklärt Barthes, dass die Rhetorik in dem Moment „todgeweiht“ worden sei, als der Unterricht in der Frühen Neuzeit begann, sie als Stillehre zu nutzen. Hier sei sie zu einer „Farbe“, einer „Ausschmückung“ reduziert und dann unter der Maßgabe des ,Natürlichen‘ „streng überwacht“ worden (ebd., 45, Hervorh. im Text). Anders als Perelman verspricht Barthes, die „rhetorische Kunst“ neu als ein „Artefakt“ entwerfen zu wollen, als „eine subtil verkettete Maschine“ (ebd., 19) zur Erzeugung von Sprache und Diskursen. Zunächst stellt er in einem kritischen Rückblick einige wichtige Stationen der Rhetorikgeschichte sowie zentrale Elemente der historischen Systematik dar. Sein zum Teil phantasiereich erstelltes „Netz“ der Rhetorik (ebd., 49) ist hier und da strukturalistisch und semiologisch konnotiert. Die Distanz, die Barthes einnimmt, erscheint bisweilen nicht nur kritisch, sondern auch ironisch bis heiter, wenn er etwa die Rhetorik mit einer „Strumpfmaschine“ (ebd., 52) vergleicht: „Der rhetorischen ,Maschine‘ werden einer angeborenen Aphasie kaum entwachsene Gedankengänge im Rohzustand eingegeben, Tatsachen, ein ,Gegenstand‘; am Ende findet man einen kompletten, strukturierten, für die Überredung gerüsteten Diskurs“ (ebd.). Die Rhetorik soll von ihrer ideologischen Belastung befreit, neu gestaltet, durch „eine neue Denkweise erweitert“ werden, die den Anschluss sucht an Fächer wie „Linguistik, Semiologie, Geschichtswissenschaft, Psychoanalyse, Marxismus“ (ebd., 94). Als allgemeine Textwissenschaft rehabilitiert und befreit von ihrer Reduktion auf bloßen Redeschmuck kann die so neu gestaltete ,alte Rhetorik‘ überleben, die Barthes als Sockel seines Artefaktes nutzt. Barthes lenkte durch seinen speziellen Blick auf die klassische Rhetorik den Blick auf die sprachliche Verfasstheit von Texten und damit auf die Produktionsästhetik. In Abgrenzung zu den argumentationstheoretischen Neuansätzen etablierte sich eine Literaturwissenschaft, die sich nun im Zeichen des Strukturalismus und des Dekonstruktivimus und im Rückgriff auf die Theorien Richards und Burkes für Formen und Funktionen der Tropen interessierte, diese nicht als zusätzlichen Schmuck (ornatus) auffasste, sondern als ästhetisches Grundprinzip des literarischen Sprechens. Dabei war die Idee leitend, dass Metaphern, Allegorien, Metonymien etc. nicht auf einen bestimmten Sinn verweisen, sondern eine Fülle von Bedeutungsimplikationen anbieten, zu einer prinzipiell unabschließbaren Lektüre auffordern. Die Dekonstruktion zeigte, wie rhetorische Figuren eine Sinnerschließung unmöglich machen, indem sie stets auf weitere Zeichen verweisen, die Eindeutigkeit verhindern. Paul de Man (1919–1983) machte in Allegories of Reading / Alle-
3. Neue Rhetorik: Impulse aus Amerika und Frankreich
gorien des Lesens (1979) die Kluft zwischen Zeichen und Bedeutung zum Ausgangspunkt seiner dekonstruktivistischen Lektüre. Er zeigt beispielsweise, wie Texte Rainer Maria Rilkes (1875–1926) sich einer „neue[n] Rhetorik“ bedienen, die sich von „referentiellen Zwänge[n]“ losgelöst hat und ein „Spiel rhetorischer Umkehrungen“ in Gang setzen kann (de Man 1988, 79), das stets zu neuen und gegensätzlichen Semantisierungen führt. Die Allegorie ist mehr als eine Stilfigur. Das allegorische Lesen ist ein ständiges Anders-Lesen, das permanent neue und sich widersprechende Lesarten entwirft.
4. Rhetorical turn, Rhetorizität, Medienrhetorik Wenn Roland Barthes die Rhetorik als eine ,Maschine‘ begreift, die Diskurse hervorbringt, generalisiert er ihre Funktion. Sie erhält einen fundamentalen Status für die Erzeugung von Sprache und damit von Welt. Einige der dargestellten Ansätze der New Rhetoric haben, in Abgrenzung oder kritischer Auseinandersetzung mit der klassischen Rhetorik, dazu beigetragen, das Feld durch sprachphilosophische und anthropologische Überlegungen zu verallgemeinern, wenn etwa das metaphorische Sprechen als prinzipielle Form der Sprache (Richards) oder Sprachhandeln als Symbolerzeugung mit dem Ziel der Identifikation bzw. Überzeugung (Burke) begriffen wird. Auch Perelman öffnete der Rhetorik mit seinem offenen Publikumsbegriff ein weites ,Reich‘. Einerseits wurde deutlich, wie prinzipiell jede Wissenschaft auf Sprache und sprachliches Überzeugen angewiesen ist, andererseits weitete sich der Textbegriff. Unter der Prämisse, dass Sprache die Erscheinungen in der Welt durch ihre Diskurse entwirft, kann die gesamte Kultur als Text aufgefasst werden. Der sogenannte cultural turn erklärte die gesamte Kultur zu einem Text, der erschrieben und im Moment des Aufschreibens, durch die spezifische Wahl der eingesetzten Mittel, bereits gedeutet wird (vgl. Bachmann-Medick 1996). Der New Historicism stellte die auf Aristoteles’ Poetik zurückgehende Unterscheidung zwischen einem Text, der etwas objektiv darstellt, und der literarischen Fiktion in Frage (vgl. Arist., Poetik, 1451b) und forderte, „einen Sinn für das komplexe Ganze einer bestimmten Kultur“ zu entwickeln, die sich in Texten äußert (Greenblatt 1996, 56). Clifford Geertz (1926–2006) rückte in seiner Thick description (1973, dt. Dichte Beschreibung) die Arbeit des Ethnologen in die Nähe eines „Literaturwissenschaftlers“ (Geertz 1999, 15). Die vermeintlich objektiven „Daten“, die der Ethnologe bei der Beschreibung einer Kultur liefere, seien „Auslegungen“ (ebd., 14) desjenigen Textes, den er beobachte, des Textes der Kultur, die im Moment der stets deutenden Wahrnehmung bereits ein ,Text‘ ist. Geertz bringt die Sache auf den Punkt: Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen (im Sinne von „eine Lesart entwickeln“), das fremdartig, verblaßt, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist. (ebd., 15)
Cultural turn, rhetorical turn
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IV. Rhetorik und Moderne
Rhetorizität als conditio humana
Kulturen sind bereits vor der Niederschrift als Texte aufzufassen, die ,gelesen‘ werden (vgl. Fauser 2004, 27–32). Das Aufschreiben der Kultur ist ein rhetorischer Akt, der Sprache nutzt, um die eigene Deutung dieser Kultur mitzuliefern. Auch die Naturwissenschaften gehen so vor und präsentieren ihre Ergebnisse in Texten, die bereits deuten und dabei Objektivität suggerieren. Die Rhetorik ist insofern unhintergehbar, als ein jeder auf diejenige Sprache und ihre bereitgestellten Mittel und Verfahren, die mit Hilfe der rhetorischen Systematik erfasst werden können, angewiesen ist. Diese Auffassung prägte das Paradigma vom rhetorical turn (vgl. Simons 1990). Im Anschluss an diese umfassende Generalisierung der Rhetorik wurde der Begriff ,Rhetoriziät‘ in die Waagschale geworfen. Angesichts der dargestellten Entwicklungen schien es offensichtlich, dass die Rhetorik, wie sie die antiken Lehrbücher überlieferten, die Komplexität des ,Rhetorischen‘ nicht abbilden konnte. Rhetorik war mehr als ein System, das man mithin lernen und weitergeben konnte. Das ,Rhetorische‘ avancierte zur conditio humana des Menschen. John Bender und David E. Wellbery (*1947) schlugen vor, statt von ,Rhetorik‘ von ,Rhetorizität‘ zu sprechen. Der Begriff ,Rhetorik‘ solle der überlieferten Systematik vorbehalten bleiben, wie sie jahrhundertelang in Europa in bestimmten Institutionen und somit auch nur in bestimmten Gesellschaften gelehrt wurde. Rhetorizität hingegen sei das Phänomen, das die modernen Lebenswelten grundlegend bestimme und das Prinzip der menschlichen Diskurse bilde: Modernism is an age not of rhetoric, but of rhetoricality, the age, that is, of a generalized rhetoric that penetrates to the deepest levels of human experience. The classical rhetorical tradition rarified speech and fixed it within a gridwork of limitations: it was a rule-governed domain whose procedures themselves were delimited by the institutions that organized interaction and domination in traditional European society. Rhetoricality, by contrast, is bound to no specific set of institutions. It manifests the groundless, infinitely ramifying character of discourse in the modern world. (Bender/Wellbery 1990, 25, Hervorh. im Text)
Medienrhetorik und klassische Rhetorik
,Rhetorizität‘ erscheint als conditio humana des modernen Menschen, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die sprachliche Verfasstheit von Welt ein unhintergehbares Faktum ist. Die Nutzbarkeit der Rhetorik als eine zu lernende und lernbare Kunst scheint mit dem Paradigma der Rhetorizität aber nicht in Frage gestellt. Sich dieser Rhetorizität bewusst zu sein und sie zu reflektieren, dazu kann die überlieferte Systematik beitragen, weil sie Distanznahme erfordert. Die Geschichte der Rhetorik vollzieht sich im Zeichen epochaler medialer Umbrüche, des Wechsels von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, der Literarisierung infolge des Buchdrucks, der Erfindung von Radio, Fotografie und Fernsehen und schließlich der digitalen Medien (vgl. Schanze 1996). Eröffnen sich der Rhetorikforschung seit Ende des 19. Jahrhunderts neue Felder, so verlangt besonders die sich seit einigen Jahrzehnten rasant entwickelnde Medienwelt ein neues Methodenbewusstsein. Gerade die Vielfalt der sich stets wandelnden Mediensprachen lässt eine differenzierte und systematisierte Medienrhetorik wünschenswert erscheinen, die Buch, Radio, Film, Internet, Handykommunikation, Zeitung und Werbung etc. berück-
4. Rhetorical turn, Rhetorizität, Medienrhetorik
sichtigt. Nötig wäre zunächst ein Medienbegriff auf der Basis eines erweiterten Textbegriffs, der dazu dienen könnte, systematisch eine Medienrhetorik zu entwerfen. Ob für einen solchen die Arbeiten des Medientheoretikers Herbert Marschall McLuhan (1911–1980) mit ihrem sehr weit gefassten Medienbegriff Impulse geben könnten, ist äußerst fraglich (u. a. Understandig media. The Extension of Man 1964, The Medium ist the Massage 1967, vgl. dazu kritisch Knape 2005, 24 f.). Indes kann die klassische Rhetorik für die Entwicklung einer Medienrhetorik äußerst hifreich sein, denn auch in der multimedialen Welt bleiben etliche ihrer Stützpfeiler erhalten. Die Instanz des orators als Sender erscheint jedoch in vielerlei performativen Gestalten. Ebenso verhält es sich mit dem Empfänger, der nicht nur das unmittelbare Auditorium, die Masse einer Kundgebung oder der Mensch vor dem Fernseher sein kann, sondern der Mitspieler im Chatroom oder der Teilnehmer einer Videokonferenz. Information und Kommunikation finden auf vielfältige Weise statt. Auch spielt das für die antike Rhetorik vorrangige Ziel der Redekunst, die Überzeugung, in den neuen Medien häufig eine wichtige Rolle, etwa in den variantenreichen Werbekampagnen. Hier ist „rhetorisches Kalkül“ gefragt (Knape 2005, 23; vgl. Koeppler 2000), das einerseits erfordert, einen perfekten Werbetext zu entwerfen, andererseits, das optimale Medium auszusuchen, das diesen Text verbreiten soll. Die Medienwelt liefert dabei der actio zahlreiche Möglichkeiten. Die gegenwärtige Kultur ist geprägt von dem Impetus, Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Medienrhetorik beobachtet, auf welche Art und Weise in der multimedialen Welt das attentum parare geleistet wird und macht diese Möglichkeiten bewusst, kann somit einen kritischen Umgang mit den Medien einüben. Ist von Medienrhetorik die Rede, so sind nicht nur die modernen technischen Medien Gegenstand der Reflexion. Bereits in der klassischen Rhetorik spielt ein Medium eine zentrale Rolle, das unhintergehbar ist: das Gedächtnis (memoria, vgl. Knape 2005a, 21; vgl. Kap. II. 3). Das menschliche Gedächtnis ist immer im Spiel und bildet das zentrale Speichermedium, das in eine Interaktion mit anderen technisierten Speichermedien tritt. Am Beispiel des Internet wurde gezeigt, wie zentrale Begriffe der klassischen Systematik für eine Internetrhetorik fruchtbar gemacht werden können. Beispielsweise lässt sich eine Internetpräsentation mit Hilfe der fünf klassischen Produktionsstadien einer Rede analysieren, inventio, dispositio, elocutio, memoria und actio. Die Analyse der inventio, der Gedankenfindung, beobachtet die gesamte „mediale Struktur“, neben dem sprachlich verfassten Text die „bildliche Darstellungen“ sowie „Animationen“ und berücksichtigt eventuelle „Ziele des Kommunikators“ sowie Einstellungen des Nutzers (Kramer 2005, ebd., 204). Die dispositio meint die „Art der Verteilung der Informationen auf unterschiedlichen Webseiten“, die miteinander verlinkt sind, die elocutio die gesamte mediale ästhetische Verfasstheit (vgl. ebd.). Gerade Internetseiten zeichnen sich häufig durch einen hohen Grad an Synästhesie aus. Man hat auch gesehen, dass sich die Struktur von Emblemen wiederholt (vgl. ebd., 204 f.), so dass emblemtheoretische Überlegungen weiterhelfen könnten, die sich der Verankerung in der rhetorikgeschichtlichen Tradition bewusst sind. Besondere Beachtung verdient der Komplex der memoria, weil das Internetgedächtnis selbst als Speichermedium unzuverlässig ist, sehr kurzlebig oder oft auch sehr langlebig sein kann
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IV. Rhetorik und Moderne
bzw. die Webseiten sich schnell verändern. Eine Frage wäre, wie sich diese Kurzlebigkeit auf die Rezeption auswirkt bzw. in welchem Verhältnis die memoria des Internet zur memoria des Rezipienten stehen könnte. „Radikale Veränderungen“ sind im Bereich der actio zu bemerken, denn der orator erscheint nicht in menschlicher Gestalt, sondern wird „automatisiert“ (ebd., 205), wenngleich diese Automatisierung der Phantasie einer menschlichen oratorischen Instanz entspringt. Wahrscheinlich ist, dass eine solche automatisierte oratorische Instanz wenig Glaubwürdigkeit erlangt. Überzeugt der orator sein Publikum nach klassischer Auffassung durch sein persönliches ethos, so fragt sich, auf welche Weise das Internet Glaubwürdigkeit beanspruchen könnte, zumal Hacker sich immer leichter Zugänge verschaffen und immer mehr Aufwand betrieben wird, Anwendungen im Internet zu sichern. So kommt es, dass „komplementär zu dem Bedeutungsverlust der personalen Autorität des orators […] der Rezipient an Macht“ gewinnt und gewissermaßen den Verlauf des Textes bzw. der ,Rede‘ selbst lenken kann (ebd.). Schließlich kann so aus dem Rezipienten selbst ein orator unter anderen Vorzeichen werden (vgl. ebd., 206). Erwies sich die Kategorie des aptum, der Angemessenheit, in der Rhetorikgeschichte stets als eine schwierige und änigmatische, so scheint eine Kultur der Aufmerksamkeit gerade ihre Übertretung zu fordern. Allerdings beansprucht das aptum häufig immer noch Gültigkeit. Beispielsweise wird vom modernen orator, der eine PowerPoint-Präsentation einsetzt, oft erwartet, dass er diese dem aptum entsprechend gestaltet, das heißt, nicht zu viele und nicht zu wenige Folien einsetzt, diese nicht mit Informationen oder Farben überlädt etc. Woher, so könnte man fragen, rühren derartige Erwartungen bzw. wie differieren sie in den unterschiedlichen Kontexten? Ebenso wird bei den Empfängern häufig ein angemessener Umgang mit diesem Medium vorausgesetzt und erwartet, dass sie die verschiedenen Elemente der actio, Körper, Stimme, Bild und Bildwechsel, kombinieren können und nichts missverstehen, in gewisser Weise vorgeschult sind, hören und zugleich sehen, synästhetisch angemessen wahrnehmen, so dass sie die zentralen Punkte im Gedächtnis behalten. Vielleicht zielt der orator mit seiner Präsentation aber auch mit einer bewussten Übertretung des aptum darauf ab, Verwirrung zu stiften und auf diese Weise Nachhaltigkeit zu erzeugen? Auch dann aber gilt implizit das aptum als eine Grenze, die bewusst übertreten wird. Dies sind nur einige Aspekte, die zeigen, dass die klassische Rhetorik in wichtigen Aspekten geeignete Impulse für den Entwurf einer Medienrhetorik liefern kann, die sowohl Produktionsästhetik als auch Rezeptionsästhetik der komplexen multimedialen Welt berücksichtigt.
V. Angewandte Rhetorik 1. Theorie und Praxis der Redekunst Das Feld der Rhetorik ist seit seinen Anfängen eines, das Theorie und Praxis miteinander vereint. Auf der einen Seite finden sich jene Lehrbücher, die Rhetorik als ein zu lernendes System vermitteln, auf der anderen Seite berühmt gewordene Reden, etwa Ciceros Anklage- und Verteidigungsreden, die im Kontext einer spezifischen historischen Situation zu verstehen sind. Ob nun Cicero in seinen Reden darauf achtete, seine eigene Theorie auch mustergültig ,anzuwenden‘, steht auf einem anderen Blatt. Die Rhetorikgeschichte zeigt, dass die Tradition der Lehrbücher variantenreich fortgesetzt wurde, die Rhetorik als Kunstlehre jedoch stets anders gewichtet, zur Stillehre umgeschrieben, die antike Systematik zwar geschmäht, jedoch weiterhin in Versatzstücken genutzt und an die jeweils neuen historischen Bedingungen angepasst wurde. Die klassische Rhetorik, seit dem 18. Jahrhundert stets in der Kritik, bewies dennoch ihren Gebrauchswert, war, zumindest in Teilen, offenbar immer noch anwendbar. Auch heute liefert der Markt der ,Angewandten Rhetorik‘ eine Vielzahl von Ratgebern, die sich an ihr orientieren. Diese greifen häufig die technischen Aspekte auf, so dass „die klassische Lehre der Beredsamkeit vollständig instrumentalisiert“ erscheint und oft auf die fünf Produktionsstadien einer Rede reduziert wird (Ueding 2009, 107). Diese Art der produktiven Rezeption bezeugt jedoch eine gewisse Beharrungskraft der klassischen Tradition und ihre Faszination (vgl. Bartsch u. a. 2009; Hägg 2003). Warum das so ist, kann und soll in diesem Rahmen nicht beantwortet werden. Es verhält sich aber offenbar so, dass sich je nach Redeanlass und Situation bestimmte Strategien als praktikabel, Erfolg versprechend oder einfach als gebräuchlich erwiesen haben. Die Vielzahl an Ratgebern suggeriert einerseits, dass Reden tatsächlich lernbar ist, andererseits, dass es sich dabei um eine höchst schwierige Praxis handelt, die in jedem Fall einer Anleitung bedarf. Selbst wenn diese Anleitung nach bestem Wissen und Gewissen praktisch befolgt wird, ist der Erfolg einer Rede nicht garantiert. Dies liegt im Übrigen nicht nur am Redner selbst, sondern auch an einer Vielzahl äußerer und unberechenbarer Faktoren: Die jeweilige Atmosphäre, die beispielsweise von der Einstellung des Publikums, aber auch vom Ort der Rede abhängt, kann zwar vorher mit in Betracht gezogen werden, ist aber niemals vollständig im voraus kalkulierbar. Auch wenn der Redner sehr gut vorbereitet ist, kann er seine Einstellung, seine psychische und physische Verfassung zur Zeit seiner Rede nur zu beeinflussen suchen, aber nicht gänzlich ,vorprogrammieren‘. Vielleicht lagen auch die alten Lehrmeister Cicero und Quintilian nicht falsch mit ihrer Annahme, dass Reden nur bedingt tatsächlich lernbar ist, ein gewisses Talent unverzichtbar. „Mit Hilfe einer Technik“, sei das Reden nicht zu erlernen – so äußert sich Crassus, einer der Dialogpartner in Ciceros De oratore, zur Frage nach dem Verhältnis von Lehrbüchern und oratorischer Praxis (Cic.,
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V. Angewandte Rhetorik
De orat., 1.114). Zugleich räumt er ein, dass die vermittelte „Technik […] manchen Leuten einen gewissen Schliff“ geben könne (ebd., 1.115), vor allen denjenigen, die bereits eine gewisse Begabung mitbringen. Bei den anderen könnte sie dazu beitragen, immerhin etwas zu verbessern (vgl. ebd.). Auch gibt Crassus zu, dass der öffentliche Erfolg nicht einmal immer vom rednerischen Talent abhängig ist, sondern gerade die Öffentlichkeit, das war zu seiner Zeit das Forum, „selbst Rednern mit den schlimmsten Fehlern Raum gibt“ (ebd., 1.118). Mit dieser Bemerkung legt er den Finger in die Wunde. Wozu, könnte man fragen, sind dann Lehrbücher überhaupt von Nutzen, wenn doch gerade auch diejenigen, die sich nicht an die Regeln halten und, gemessen an der klassischen Lehre, ständig Fehler produzieren, Erfolg verbuchen, im Gedächtnis bleiben, die Zuhörer bewegen können? Und was sind überhaupt Fehler? Tatsächlich konnte man in der Geschichte immer wieder beobachten, dass Redner Erfolg hatten, denen eine klassische Ausbildung offenbar fehlte. Ein gerne angeführtes Beispiel für einen solchen Redner ist Otto von Bismarck (1815–1898). Er gehörte vermeintlich zu jenen „Persönlichkeiten der Geschichte, die ihre Zuhörer faszinierten, ohne dass ihnen das rhetorische Instrumentarium der Beredsamkeit zur Verfügung gestanden hätte“ (Kühn 1986, 30 f.). Es war vor allem die actio und hier das Zusammenwirken von körperlicher Erscheinung und Stimme, das irritierte und durch eben diese Irritation faszinierte. Die mächtige körperliche Statur kontrastierte mit seiner schwachen Fistelstimme, die nicht immer als sympathisch wahrgenommen wurde. Wegen Nervosität musste sich Bismarck häufig räuspern und seine Sätze unterbrechen, sich außerdem häufig den Schweiß von der Stirn wischen (vgl. ebd.). Allerdings beherrschte er offenbar – wenn auch der Nervosität geschuldet – das Ideal der brevitas. Mit seinen kurzen und prägnanten Sätzen zog er die Zuhörer an und erlangte Aufmerksamkeit (vgl. ebd., 32 f.). Vielleicht lag das Geheimnis seines Erfolgs gerade darin, dass er im Vergleich zu anderen Politikern, die rhetorisch geschulter waren als er und diese angelernte Redekunst auch ausstellten, eine solche Beredsamkeit strikt ablehnte und sich dadurch Aufmerksamkeit sicherte, dass er stets bekundete, kein Redner zu sein. Man könnte diese Strategie als eine „rhetorica contra rhetoricam“ bezeichnen – als eine „Distanzierung als besonderer rhetorischer Kunstgriff“ (Ueding 2009, 63, Hervorh. im Text). Diese führt dazu, dass er bei den Zeitgenossen als ein besonders interessanter Redner galt (vgl. Göttert 1998a, 343). Zu Bismarcks ganz eigener Performanz gehörte es offenbar, sich abzugrenzen und hervorzuheben, anders zu reden, das überlieferte System zu ignorieren und die Kategorie des aptum zu übertreten. Dabei beherrschte er offenbar bestimmte rednerische Taktiken sehr wohl und konnte zahlreiche Register ziehen, in unterschiedlichen Rede- und Kommunikationssituationen Eindruck erwecken und überzeugen. Das Beispiel Bismarck zeigt, dass die Persönlichkeit des Redners und die öffentliche Performanz viel zum Erfolg beitragen können und es viele Möglichkeiten gibt, Rede und Kommunikation mit einer eigenen Note zu gestalten, die nicht ohne Weiteres in Lehrbüchern aufzuspüren ist, und so ein eigenes Profil zu entwickeln (Mayer 2007, 62). Ratgeber zur Angewandten Rhetorik sind bisweilen mit Vorsicht zu genießen, können aber sicher hier und da wertvolle Hinweise geben, und sei es
1. Theorie und Praxis der Redekunst
generell, die Reflexion über das eigene Reden zu stärken. Auch die Analyse historischer Reden kann die eigene Reflexion schulen, Anregungen bieten, selbst dann, wenn das Thema fern liegen mag oder wenn man hinterher die Entscheidung trifft, ganz andere Wege zu betreten. Ausgewählt wurde eine Ansprache des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Walter Heinemann (1899–1976). Dessen Reden zeichnen sich häufig durch einen klugen Aufbau aus.
2. Redeanalyse: Heinemanns Ansprache zum 325. Jahrestag des Westfälischen Friedens (1973) Am 24. Oktober 1648 wurden im Westfälischen Frieden die Verträge geschlossen, die den Dreißigjährigen Krieg beendeten. Zwischen dem 15. Mai und dem 24. Oktober 1648 wurden parallel in Münster und Osnabrück die Verträge unterzeichnet, die nach fünf Jahren Verhandlung den Frieden sichern sollten. Der „erste große Friedenskongreß der Neuzeit“ versammelte alle großen europäischen Mächte (Burkhardt 1992, 200). Einige der getroffenen Vereinbarungen wurden zu Elementen der Verfassung bis 1806. Aus Anlass des 325. Jahrestags hielt Gustav Walter Heinemann, Präsident der Bundesrepublik Deutschland von 1969–1974, am 25. Oktober 1973 in Osnabrück folgende Ansprache: 1
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Der Westfälische Friede hat in unseren Geschichtsbüchern keinen guten Ruf. Man braucht nur die buntgefleckte Landkarte Deutschlands von 1648 anzusehen, um die Ohnmacht des Reiches zu erkennen: einige hundert weltliche oder geistliche Fürstenstaaten und reichsfreie Städte, wichtige Flußmündungen in schwedischer Hand, die Schweiz und die Niederlande aus dem Reiche ausgeschieden, Frankreich die Vormacht Europas. Deutschland, vom langen Kriege verheert, schien als Staatswesen und politische Kraft ausgelöscht. Eigentümlicherweise ist dieses Urteil aber erst neueren Datums. Die Zeitgenossen urteilten günstiger. Bei ihnen herrschte die Freude über den endlich zurückgekehrten Frieden vor. Noch heute singt man in unseren Kirchen den schönen Friedenschoral, den Paul Gerhardt damals anstimmte: Gottlob, nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenwort, daß nunmehr ruhen sollen die Spieß und Schwerter und ihr Mord. Wohlauf und nimm nun wieder dein Saitenspiel hervor, oh Deutschland, und sing Lieder im hohen, vollen Chor. Pax optima rerum – wer könnte das besser nachempfinden als wir in unserem kriegsgepeinigten 20. Jahrhundert! Doch nicht allein des Friedens wegen pries man die Verträge von Münster und Osnabrück.
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Noch hundert Jahre später, 1748, sang Justus Möser, ein Sohn dieser Stadt Osnabrück:
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Oh Tag, oh größter unserer Tage! Du schufst die Gleichheit jener Waage, die Reiche gegen Reiche wiegt. Du hast des Gottesdienstes Rechte, die Glück und Unglück wechselnd schwächte, besäult, daß sie kein Feind besiegt! Was hier als Ergebnis des Westfälischen Friedens gelobt wurde, waren das Gleichgewicht der Mächte als Unterpfand des Friedens und die Rechtssicherheit eines friedlichen Nebeneinanders der Konfessionen. Hier liegt der Ansatz zur weltanschaulich neutralen Staatsmacht unserer Tage. Erst abermals ein Jahrhundert später, im Revolutionsjahr 1848, als es um Einheit und Freiheit der Nation ging, setzte sich ein ungünstigeres Urteil durch, und bei der 250-Jahrfeier im Jahre 1898 wußte man nur noch zu rühmen, der Westfälische Friede habe immerhin den Aufstieg Brandenburg-Preußens zur Vormacht im Wilhelminischen Reich eingeleitet. Im übrigen überwog bitterer Tadel. Das Jahr 1648 galt als ein Tiefpunkt deutscher Nationalgeschichte. 1948 dann, dreihundert Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, hatte man wieder mehr Sinn für den Frieden als höchstes Gut, ohne daß allerdings die kritischen Töne verstummt wären. So wandeln sich die Meinungen mit den Jahrhunderten, und der Rückblick ermutigt nicht zu neuem Urteil. Was kann uns der 325. Jahrestag sagen? Was können wir zu ihm sagen? Sollen wir jubeln wie Paul Gerhardt, loben wie Justus Möser oder tadeln wie die Gedenkredner im 19. Jahrhundert? Mir scheint das alles wenig sinnvoll zu sein. Es nutzt nichts, der Geschichte nachträglich Zensuren zu erteilen. Wir ändern sie nicht mehr. Der Sinn einer historischen Gedenkstunde kann nur sein, die Vergangenheit unbefangen zu betrachten und unsere eigenen Anschauungen zu überdenken, indem wir den Boden erkunden, auf dem wir stehen. Gegenwart ist allemal nicht viel mehr als ein großer Haufen Geschichte unter unseren Füßen. Wer so auf den Westfälischen Frieden zurückblickt, wird zunächst einmal einer Grundtatsache inne: der nationale Einheitsstaat ist nicht der Normalfall unserer deutschen Geschichte gewesen. Im Gegenteil, nur 74 Jahre hat er bestanden, ein Menschenleben lang, von 1871 bis 1945. In den Jahrhunderten vor 1871 war Deutschland lediglich ein Staatenbund. 1945 begann seine Teilung in zwei voneinander unabhängige Staatswesen unter dem Dach einer Viermächte-Verantwortung. War der größere Teil unserer Geschichte deshalb schlecht? Müssen wir diese Frage nicht um so mehr hören, als gerade der einheitsstaatliche Abschnitt unserer Geschichte zweimal in einen Weltkrieg und zweimal in schreckliche Katastrophen führte?
2. Redeanalyse: Heinemanns Ansprache
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Das sind beunruhigende Fragen, und wer sie stellt, setzt sich Mißverständnissen aus. Unser Grundgesetz fordert uns auf, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Daran halten wir fest, gerade jetzt im Zeichen eines sich neugestaltenden Verhältnisses zum anderen Staat in Deutschland, ohne die Hindernisse zu übersehen, die diesem Ziel im Wege stehen. Aber das hindert uns nicht, über die sehr eigentümliche Wechselbeziehung von Einheit und Freiheit in unserer Geschichte nachzudenken. Dazu kann heute ein Anlaß sein. (Heinemann 1975, 157–159)
Diese Ansprache hielt Heinemann vermutlich vor Honoratioren der Stadt Osnabrück sowie vor Vertretern der kulturellen Einrichtungen, etwa der Universität. Die grundlegende Frage dieser recht kurzen Festrede (genus demonstrativum) lautet, was dieser Jahrestag des Westfälischen Friedens den modernen Zeitgenossen nach 325 Jahren noch zu sagen hat. Der Schluss der Ansprache mündet in einer Pointe, die der Beginn nicht vermuten ließ. Insofern ist diese Rede von einem bemerkenswerten Spannungsbogen getragen: Die Spannung wird direkt zu Beginn aufgebaut und löst sich erst gegen Ende in prägnanter Weise auf. Der Schluss der Rede, die peroratio oder conclusio, streicht die Bedeutung des Jahrestages für die gegenwärtige Geschichte so heraus, dass sich alle angesprochen fühlen konnten. Am Ende gelingt es Heinemann, aus dem Gedenktag einen Appell abzuleiten. Die spezifische Kunst seiner Rede besteht darin, seine Zuhörerinnen und Zuhörer hinzuhalten, indem er die historischen Beurteilungen des Gedenktages und seine Relevanz für die Gegenwart zunächst in Frage stellt. Eine solche Strategie wird in der antiken Rhetorik sustentatio genannt – diese „spielt mit der Erwartungshaltung der Zuhörer“ (Ueding/Steinbrink 2005, 314), indem Paradoxa aufgebaut und überraschende Wendungen vorgenommen werden (vgl. Quint. Inst. orat., 9.2.22 f.). Der Beginn der Rede (exordium / prooemium, Z. 1–8) ist knapp gehalten. Die antike Rhetorik empfiehlt, den Anfang aus der Sache (res) selbst zu entwickeln (vgl. Cic., De orat., 2.318). Dies ist hier der Fall: Der erste Satz spricht das Ereignis, den Westfälischen Frieden, sogleich an. Außerdem soll – folgt man der antiken Theorie – der Beginn so angelegt sein, dass er die Rezipienten ,einnimmt und gewinnt‘ (vgl. ebd., 2.315). Dies erfolgt durch eine Strategie, die zunächst nicht für die Sache selbst wirbt, sondern sie in Frage stellt: „Der Westfälische Friede hat in unseren Geschichtsbüchern keinen guten Ruf“ (Z. 1 f.). Diese Wendung ist geeignet, Aufmerksamkeit zu erregen (attentum parare), da das Wort ,Frieden‘ allgemeinhin positiv konnotiert ist. Zudem hielt Heinemann seine Rede in der Zeit des Kalten Krieges, der Erinnerungen an die Weltkriege evozierte. Man könnte sich vorstellen, dass damals dem Wort ,Frieden‘ eine besondere Bedeutung zukam, so dass die Feststellung, der Westfälische Friede habe ,keinen guten Ruf‘, vor dem Hintergrund einer stets präsenten Kriegsangst irritierte. Heinemann deutet eine Distanznahme zu dieser Auffassung an, indem er auf die ,Geschichtsbücher‘ verweist, die dem Westfälischen Frieden diesen Ruf eingetragen haben. Nun wird eine Erklärung erwartet, die diese Auffassung begründen könnte. Heinemann verwendet im Folgenden nicht den Konjunktiv, sondern den Indikativ, so dass seine Distanznahme wieder etwas zurückgenommen
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wirkt und er scheinbar Parteinnahme für die Auffassung der Geschichtsbücher ergreift. Er beschreibt die „Ohnmacht des Reiches“ (Z. 3) durch eine Reihung. Diese erfolgt ohne Bindewörter, asyndetisch. Zudem fehlen die jeweiligen Prädikate, zum Beispiel „wichtige Flußmündungen in schwedischer Hand“ (Z. 5) statt „wichtige Flußmündungen waren in schwedischer Hand“. Diese asyndetische Reihung weist Ellipsen auf, der Stil verfolgt das Ideal der brevitas: Die These, dass der Westfälische Friede ,keinen guten Ruf habe‘, wird dadurch kurz, aber prägnant bestätigt, so, dass es zunächst scheint, als könnten kaum Einwände zum Tragen kommen. Bezüglich der Verwendung des Redeschmucks (ornatus) fällt weiter auf, dass Heinemann von der „buntgefleckte[n] Landkarte Deutschlands“ (Z. 2) spricht. Das Adjektiv ,buntgefleckt‘ deutet den Eindruck – wenn auch etwas euphemistisch – an, den die Reihung dann bestätigt: Deutschland ist gezeichnet von Zerrissenheit, von Uneinigkeit, von dem Einfluss heterogener Mächte. Der Ausdruck ,buntgefleckte Landkarte‘ versinnlicht den Eindruck bereits im Vorfeld, stellt den Rezipienten das Problem vor Augen, macht die Sache konkret und evident, unterstützt die Deutlichkeit (perspicuitas). Prägnant heißt es nach Abschluss der Reihung: „Deutschland, vom langen Kriege verheert, schien als Staatswesen und politische Kraft ausgelöscht“ (Z. 7 f.). Der Eindruck der ,buntgefleckten Landkarte‘ wandelt sich zu demjenigen der ,Auslöschung‘ – eine Steigerung (amplificatio), die die Spannung aufrechterhält, denn einerseits erscheint so der Zweifel an der positiven Bedeutung des Westfälischen Friedens als gerechtfertigt, andererseits weiter als unverständlich, beendete er doch einen verheerenden Krieg. Die belesenen Rezipienten können sich nun angesprochen und bewegt fühlen, insofern eine Allusion in Form eines intertextuellen Verweises auf Andreas Gryphius’ (1616–1664) Gedicht Thränen des Vaterlandes / Anno 1636 zu stiften ist: Der erste Vers lautet: „Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret“ (vgl. Maché/Meid 2000, 116). Die folgenden Verse des Gedichts entwerfen illusionslos apokalyptische Bilder von Untergang und Verwesung, die Heinemanns Rede durch den Verweis aus dem kulturellen Gedächtnis seiner Rezipienten aufrufen könnte. Insofern kommt die memoria mit ins Spiel, die je nach individueller Ausgestaltung aktiv wird und die jeweiligen Einstellungen zur Rede mit bestimmt. Die Grauen des Dreißigjährigen Krieges, niedergeschrieben in zahlreichen literarischen Texten und anderen kulturgeschichtlichen Zeugnissen, werden erinnert. Vor diesem Hintergrund erscheint der erste Satz Heinemanns „der Westfälische Friede hat in unseren Geschichtsbüchern keinen guten Ruf“ einmal mehr als paradox, da er eben diesen Krieg und das mit ihm verbundene Leid beendete. Auf der anderen Seite hinterließ dieser Krieg ein in sich zerrissenes und in einzelne Fürstentümer zersplittertes Land, ein Zustand, den auch der Frieden nicht ändern konnte. Heinemanns exordium erweist sich letztendlich als vielschichtig. Es steigert die Spannung, indem es die Frage nach der positiven Bedeutung des Westfälischen Friedens nicht beantwortet und zugleich eine Distanz aufbaut zu jenen ,Geschichtsbüchern‘, die ihn als unbefriedigenden Abschluss eines grauenvollen Krieges deklarieren. Im Folgenden macht Heinemann deutlich, dass die Geschichte bereits zahlreiche und sehr unterschiedliche Urteile über den Westfälischen Frieden gefällt hat. Mit dem Hinweis, dass die Zeitgenossen „günstiger“ urteilten
2. Redeanalyse: Heinemanns Ansprache
(Z. 10), werden die Rezipienten darauf aufmerksam gemacht, dass ein neuer Teil der Rede beginnt, der offenbar in die Geschichte zurückspringen wird. In der ,Erzählung‘ (narratio, ab Z. 12) hält Heinemann die Unsicherheit über die Bedeutung des Westfälischen Friedens weiter aufrecht. Deutlicher greift er nun zu literarischen Zitaten. Nehmen wir an, es saßen belesene Rezipienten im Publikum, so konnten sich diese wiederum angesprochen fühlen. Der Redner erwirkt Wohlwollen (captatio benevolentiae), indem er auf ein gemeinsames kulturelles Wissen rekurriert und sich bewandert zeigt. Er steigert seine Glaubwürdigkeit (ethos). Es entsteht der Eindruck, dass Heinemann offenbar weiß, wovon er spricht. Die Zitate, die folgen, belehren und unterhalten zugleich, dienen dem docere wie dem delectare, aber auch dem movere. Die Beispiele (exempla) sind kalkuliert gewählt: Paul Gerhardt (1607–1676) ist auch heute noch einer der bekanntesten protestantischen Kirchenlieddichter. Seine Texte sind nicht nur den Experten der Barockliteratur vertraut. Zahlreiche seiner Lieder wurden im 17. Jahrhundert zum festen Bestand der Gesangbücher. Das Lied Gottlob, nun ist erschollen befand sich zur Zeit Heinemanns, der für seine bisweilen christlich angehauchten Reden bekannt war, noch als Nr. 392 im Evangelischen Kirchengesanbuch (EKG), das 1993 vom Evangelischen Gesangbuch (EG) abgelöst wurde. In diesem findet sich das Lied nicht mehr. Von besonderem regionalen Interesse ist Justus Möser (1720–1794), „ein Sohn dieser Stadt Osnabrück“ (Z. 26 f.). Justus Möser war Jurist, Historiker und Literaturkritiker mit literarischen Ambitionen, der in Osnabrück als Rechtsanwalt tätig war und großen Einfluss im Fürstbistum besaß. Er verfasste u. a. eine Osnabrückische Geschichte (1768). Im 19. Jahrhundert wurde ihm ein Denkmal auf dem Domhof zu Osnabrück gewidmet. Die exempla sind auch deshalb gut gewählt, weil sie zwei unterschiedliche Register ziehen. Beide drücken Freude über den Westfälischen Frieden aus und lancieren einen theologischen Diskurs. Gerhardts Verse bringen die rein menschliche Freude über den Ausgang des Krieges zum Ausdruck. Mösers hingegen betonen die politisch-rechtlichen Errungenschaften, die zweifellos zu verzeichnen waren. Gerhardts Verse verdeutlichen, wie sehr die Zeitgenossen den Frieden begrüßten. Die konkreten Verhandlungen in Münster und Osnabrück, die aus dem Blickwinkel der ,Geschichtsbücher‘ eine ,buntgefleckte Landkarte Deutschlands‘ und dessen faktische politische Entmachtung zur Folge hatten, spielen hier keine Rolle – machten sie doch vor allem dem Grauen des Krieges ein Ende. Typisch für die Barocklyrik werden in Gerhardts Zeilen Synekdochen verwendet, in denen ein Teil für das Ganze steht (vgl. Quint., Inst. orat., 8.6.19): ruhen mögen die „Spieß und Schwerter“ (Z. 17) als konstitutive Bestandteile des Kriegsgeschehens. Deutschland wird personifiziert und zum Friedensgesang aufgerufen (vgl. Z. 20 f.). Dem sezierenden und kritischen Blick der ,Geschichtsbücher‘ wird die unmittelbare Freude über den Frieden und der eher analytischen Wertung der Nachkommen ein Urteil (iudicium) aus dem Gefühl zur Seite gestellt. Die auf das movere abgestimmten Verse sind geeignet, emotionale Sympathie für die vom Krieg gepeinigten Zeitgenossen zu entwickeln. Mit dem Motto des Westfälischen Friedens, der lateinischen Sentenz „pax optima rerum“ (Z. 22, „der Frieden ist das höchste Gut“), bedient Heinemann die Gelehrten unter seinen Zuhörerinnen und
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Zuhörern und fügt einen Appell an, der mahnt, den Wert des Friedens allgemein zu achten. Insofern gewinnt aus der historischen Perspektive des 17. Jahrhunderts der Westfälische Friede auch für die modernen Zeitgenossen im Publikum an Relevanz. Die Verse Justus Mösers aus dem 18. Jahrhundert beleuchten das Geschehen eher von der politisch-rechtlichen Seite. Sie stehen wiederum in Kontrast zu der eher negativen Wertung der ,Geschichtsbücher‘, die Heinemann zu Beginn seiner Ansprache referierte. Jener Tag, an dem der Westfälische Friede beschlossen wurde, erscheint glorifiziert, in Form einer Hyperbel, die laut Quintilian „in einer schicklichen Übersteigerung der Wahrheit“ besteht (Quint., Inst. orat., 8.6.67), als „größter unserer Tage“ (Z. 28) und als personifizierter Stifter von Rechts- und Konfessionsgleichheit. Heinemann streicht nun die politische Bedeutung heraus, die der Westfälische Friede für die Gegenwart besitzt, wurden doch hier die Ideen vom „Gleichgewicht der Mächte“ (Z. 35) und der religiösen Toleranz (vgl. Z. 36) verfassungsmäßig festgesetzt (vgl. Burkhardt 1992, 199 f.). So jedenfalls ließe sich dieser Friede auch interpretieren. Heinemann macht deutlich, dass sowohl die Perspektive Gerhardts als auch diejenige Mösers nicht anachronistisch sind, sondern beiden Beurteilungen auch aus heutiger Sicht etwas abzugewinnen ist. Allerdings hält sich Heinemann mit einer deutlichen eigenen Bewertung zurück, die aber von den Rezipienten erwartet werden könnte. Das Hinhalten, die sustentatio, setzt sich fort, zudem der Gang durch die Geschichte noch nicht abgeschlossen ist. Heinemann macht in der weiteren narratio darauf aufmerksam, dass die Urteile im 19. Jahrhundert negativer ausgefallen sind. Im Zeichen eines aufkommenden Nationalismus bewertete man die Ergebnisse der Friedensverhandlungen von 1648 als unbefriedigend: „Das Jahr 1648 galt als ein Tiefpunkt deutscher Nationalgeschichte“ (Z. 44 f.). Diese Auffassung änderte sich nach den beiden Weltkriegen, als die Grauen des Krieges noch präsent waren. Es entwickelte sich wieder „mehr Sinn für den Frieden als höchstes Gut“ (Z. 47). Aufgenommen wird nun in deutscher Sprache die lateinische Sentenz „pax optima rerum“ (Z. 22). Durch die Erinnerung (commoratio) an diese Sentenz könnte man erwarten, dass Heinemann eben auf diesen Aspekt hinaus will und die Bedeutung des Friedens allgemein exemplarisch am Westfälischen Frieden herausstreichen möchte. Allerdings erfolgen wiederum ein Bruch der Erwartungshaltung und eine Ernüchterung. Heinemann konstatiert: „So wandeln sich die Meinungen mit den Jahrhunderten, und der Rückblick ermutigt nicht zu neuem Urteil“ (Z. 49 f.). So gelingt es ihm, die Spannung weiter aufrechtzuerhalten oder auch zu erweitern (docilem parare), Neugier, wenn nicht gar Ungeduld zu erwecken. Mit einer Reihe von Fragen wird die Beweisfühung (argumentatio, ab Z. 51) eingeleitet. Nach gut der Hälfte der Ansprache formuliert Heinemann nun Fragen (interrogationes), die sich die Rezipienten an dieser Stelle vermutlich selbst stellten. Dabei personifiziert er den Jahrestag des Westfälischen Friedens und fingiert eine Dialogsituation zwischen diesem ,Tag‘ und dem Publikum. Die Fragen erhalten ein besonderes Gewicht, indem sie Wortwiederholungen aufweisen. Anapher und Epipher, Wortwiederholungen am Anfang und am Ende, werden in parallel aufgebauten Sätzen miteinander kombiniert
2. Redeanalyse: Heinemanns Ansprache
(Symploke oder complexio): „Was kann uns der 325. Jahrestag sagen? Was können wir zu ihm sagen?“ (Z. 51). Diese Fragen spiegeln den Grad der Verwirrung, die durch das Hinhalten (sustentatio) bei den Rezipienten eingetreten sein könnte. Die Fragen werden in Form eines ausgestellten Zweifels (dubitatio) fortgesetzt und die Urteile, die im Gang der Geschichte gefällt wurden, noch einmal zusammengefasst: „Sollen wir jubeln wie Paul Gerhardt, loben wie Justus Möser oder tadeln wie die Gedenkredner im 18. Jahrhundert?“ (Z. 52 f.). Ein solches Fragespiel (subiectio) verlebendigt die bisher eher monologische Rede. Allerdings wird Heinemann deutlich machen, dass er sich keinem der historischen Urteile anschließen wird. Wieder bricht er mit der Erwartungshaltung des Publikums und erzeugt dadurch Spannung. Worauf will er hinaus? Er weist die Urteile der anderen zurück: „Mir scheint das alles wenig sinnvoll zu sein“ (Z. 53 f.). Sodann geht seine recht kurze argumentatio einen eigenen Weg. Heinemann plädiert dafür, die einzelnen Beurteilungen nicht in Frage zu stellen, sondern eine andere Haltung einzunehmen, die davon geprägt ist, nicht über die Geschichte zu richten. Er hat keinen konkreten Gegner, den er in einer streng logischen Beweisführung widerlegen möchte (refutatio), sondern er bereitet einen Appell vor, der die unmittelbare Zeitgeschichte im Auge hat. Es geht ihm um den Nutzen der geschichtlichen Vergangenheit für die eigene Zeit. Sich als Richter über die Geschichte aufzuwerfen, ändert diese nicht. Er plädiert für Unbefangenheit gegenüber der Geschichte (vgl. Z. 57), für eine distanzierte Haltung, die fähig ist, aus dem Vergleich einen „Sinn“ für die eigene Zeit zu ermitteln (ebd.). Zugleich aber beweist er mit Hilfe einer Metapher, dass Geschichte und Vergangenheit beachtet werden müssen. Den „Boden“ (Z. 58) der eigenen Zeit bildet „ein großer Haufen Geschichte unter unseren Füßen“ (Z. 59 f.), sie macht sogar die „Gegenwart“ (Z. 58 f.) selbst aus. Dies verdeutlicht Heinemann mit einer Untertreibung (litotes): Wenn er meint, Gegenwart sei ,allemal nicht viel mehr als ein großer Haufen Geschichte unter unseren Füßen‘, dann will gesagt sein, dass sich die Gegenwart ausschließlich und nur aus der Geschichte speise. Die Metapher des ,Boden unter den Füßen‘ versinnlicht das abstrakte Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit. Nicht soll diese aus der Distanz, wie ein entfernter Gegenstand bewertet, sondern als Boden unter den eigenen Füßen, auf dem man steht, wahrgenommen und erkundet werden, um den eigenen Standort besser zu verstehen. Diese Metapher ist im Redeverlauf deshalb von großer Bedeutung, da sie mit der Wendung von der ,buntgefleckten Landkarte Deutschlands‘ (Z. 2) verschaltet werden kann. Beide Wortfiguren aus dem weiteren Feld des geografischen Diskurses bezeichnen eine entgegengesetzte Haltung zur geschichtlichen Vergangenheit. Vor der leblosen ,Landkarte‘ steht der Betrachter, der sich sogleich wieder abwenden oder sie zusammenfalten und weglegen kann. Den ,Boden unter den Füßen‘ aber kann er niemals negieren. Er bildet stets das Fundament seines Denkens und Handelns, mit dem er behutsam umgehen muss. Wenn man aus einer ,nahen Distanz‘ auf die Geschichte blickt, indem man auch die eigene Zeit berücksichtigt, so muss auffallen – folgen wir Heinemann –, dass die gewünschte Einheit des Landes, die man auch nach dem Westfälischen Frieden vermisste, selten vorhanden war: von 1871 bis 1945. Der Gedenktag ist dazu angetan, über diese Tatsache zu reflektie-
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ren. Dabei sollten Bewertungen, die sich aus dem Fehlen dieser Einheit ergeben könnten, unterbleiben. Heinemann stellt nun tatsächliche Fragen, die er bewusst nicht beantworten will, da aus seiner Warte die Geschichte nicht zu zensieren ist. Beunruhigend könnten diese Fragen deshalb sein, weil gerade in dem kurzen Zustand der Einheit zwei Weltkriege zu verzeichnen sind (vgl. Z. 70–72). Heinemann warnt vor Missverständnissen, wendet sich implizit an jene Kritiker, die einer möglichen Einheit skeptisch gegenüberstehen. Die Spannung, die das Hinhalten aufbaute, wird erst gegen Ende, in einer peroratio oder conclusio aufgelöst. Heinemann erinnert an das Grundgesetz, das in der damaligen Form in seiner Präambel dazu aufforderte, die Einheit Deutschlands ,zu vollenden‘ (vgl. Z. 75). Den Zustand Deutschlands nach dem Westfälischen Frieden zu betrachten, soll dazu dienen, über den Gang der eigenen Geschichte und über das Thema ,Einheit‘ nachzudenken. Die Leistung dieses Friedens, einen grauenvollen Krieg beendet zu haben, will Heinemann damit nicht mindern. Diese steht auf einem anderen Blatt und ist unbestritten. Er nimmt jedoch eher eine politische, dabei sachliche, Perspektive ein und nutzt den Gedenktag, um einen Appell zu lancieren, die Bemühungen um eine Einheit Deutschlands verstärkt fortzusetzen. Erst am Ende lässt Heinemann die Katze aus dem Sack. Aus der Sache (res) wird ein Mittel zum Zweck. Die Taktik seiner Rede besteht darin, durch den ständigen Bruch mit möglichen Erwartungen die Spannung zu halten und erst am Schluss die unmittelbar praktische Relevanz zu erweisen, die das geschichtliche Ereignis für die Gegenwart besitzt. Heinemanns Rede ist insgesamt in einem mittleren Stil verfasst (genus medium). Sie setzt Wortschmuck und Gedankenfiguren sehr sparsam ein. Pathos ist kaum zu spüren. Von dem pathetischen Gestus etwa eines Justus Möser distanziert sich Heinemann. Das genus medium passt insofern gut zur Sache, als Heinemann kaum urteilt und nirgendwo Partei ergreift. Er will in dieser Festrede möglichst alle Zuhörerinnen und Zuhörer über einen lebensweltlichen Zugang erreichen. Dies wäre ihm nicht möglich, indem er ein bestimmtes Urteil über die Geschichte fällt, dem möglicherweise weite Kreise im Saal nicht zugestimmt hätten. Die Kunst seiner Rede besteht in der Gedankenführung, im Hinhalten, in der bewussten Irreführung, in der Kombination von Unterhaltung, Belehrung und Rührung, und nicht zuletzt in der Kürze, in der Entwicklung der prägnanten conclusio und des Appells, der sich nicht so ohne Weiteres aus dem Anlass von selbst ergibt. Heinemann folgt der Empfehlung der antiken Rhetorik, „etwas Hervorragendes […] für den Schluß der Rede“ aufzubewahren (Cic., De orat., 2. 314). Mit dem Hinweis auf die Präambel des Grundgesetzes, die am 3. Oktober 1990 neu gefasst wurde, verleiht er seiner Ansprache geschickt eine Überzeugungskraft, die ihre Wirkung vermutlich nicht verfehlt haben dürfte.
3. Die eigene präsente Rede, Körperrhetorik, agonale Rhetorik Diese Ansprache von Heinemann erhält ihre Eindringlichkeit durch ihren klugen Aufbau und durch ihre Pointe am Ende. Aus ihr ist zu lernen, dass
3. Die eigene präsente Rede, Körperrhetorik, agonale Rhetorik
eine kluge Findung der argumentativen Struktur viel bewirken kann, wobei sich über die konkrete damalige Redesituation aus heutiger Sicht gleichwohl nur noch spekulieren lässt. Auf dem einen Blatt steht das schriftliche Verfassen einer Rede, auf dem anderen das Halten der Rede, die actio. Heute schreiben die wenigsten Politiker oder auch Manager ihre Reden selbst – sie lassen sie schreiben. Allerdings erweist sich erst in der actio, ob eine Rede gelungen ist oder nicht. Dies gilt für jede Rede, ob sie selbst geschrieben wurde, oder nicht. Verfasst man die Rede selbst, so ist die Reflexion auf der Grundlage der Systematik sicher hilfreich bzw. unumgänglich. Bei der Ausgestaltung der eigenen Rede, die man stets schriftlich vollständig ausformulieren sollte (vgl. Cic., De orat., 3.190; Bernstein 1995, 14; vgl. Mayer 2007, 74 f.), ist es hilfreich, die Rede zu gliedern, etwa gemäß der antiken Ordnung, die vier Redeteile (partes orationis) vorsieht: exordium (Einleitung), narratio (Erzählung), argumentatio (Beweisführung) und peroratio oder conclusio (Redeschluss), wie sie auch in Heinemanns Rede nachgewiesen werden konnten. Der Findung der Argumente und dem Aufbau der Rede, der inventio und der dispositio, ist größte Sorgfalt zu widmen. Dabei ist im Auge zu behalten, dass es sich bei den Rezipienten um Zuhörer handeln wird, zunächst nicht um Leser, die zurück- und vorblättern können, so dass es sinnvoll ist, dass eine auch beim Hören „plausible Makrostruktur“ erkannt werden kann (Mayer 2007, 137), die die Rezipienten nicht überfordert. Aber auch ein in der Schriftform sehr klug abgewogener Aufbau einer Rede garantiert nicht, dass die eigene Rede gelingt. Dies ist von vielen unwägbaren Faktoren abhängig, die man selbst nicht immer beeinflussen kann. Wie schwierig es letztlich ist, auf diesem Feld Ratschläge zu geben, zeigen auf humorvolle Weise die vielzitierten Ratschläge für einen schlechten Redner (1930) von Kurt Tucholsky (1890–1935, vgl. Tucholsky 2003). Dennoch sollen einige Aspekte im Folgenden Erwähnung finden. Die Situation, öffentlich aufzutreten und eine Rede zu halten, ist in der Regel eine komplexe. Es ist sinnvoll, sich dieser Komplexität bewusst zu sein und den gesamten Auftritt wie auch den eigentlichen Inhalt der Rede auf diese Situation abzustimmen. Es ist sinnvoll, sich bewusst zu machen, zu welchem Anlass die Rede gehalten werden soll, wie viele Zuhörer erwartet werden und wie sich das Auditorium zusammensetzt, mit welchen sozialen und beruflichen Gruppen und mit welchen Altersgruppen zu rechnen ist, welches Vorwissen man voraussetzen darf, wen man überhaupt mit seiner Rede erreichen, welche Wirkung man erzeugen will. Es ist sinnvoll, sich den jeweiligen Anlass bewusst zu machen, sei es ein Geburtstag, ein politisches Forum oder eine wissenschaftliche Tagung, und seine jeweiligen Gegebenheiten im Vorfeld zu überdenken. Auch ist es nützlich, sich – wenn möglich – die jeweiligen räumlichen Gegebenheiten zu vergegenwärtigen, sich vorzustellen, an welcher Stelle und in welcher Ausrichtung zum Publikum man selbst stehen wird, ob ein Pult oder eine Bühne vorhanden ist. Ebenfalls ist der Zeitpunkt der Rede zu beachten, sowohl die Tageszeit als auch die eigene Position innerhalb einer Reihe von aufeinanderfolgenden Reden oder Vorträgen. Je nachdem ist mit einem eher sehr wachen und noch aufnahmebereiten Publikum zu rechnen oder mit einem bereits ermüdeten, das noch einmal mitgerissen werden muss. Auch ist es hilfreich, sich über die jeweilige Beleuchtungssituation und die technischen Möglichkeiten zu informie-
Die äußeren Umstände
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Medieneinsatz
Überzeugen durch Präsenz
ren, ob man im Neonlicht oder im Tageslicht auftreten wird, ob ein Mikrofon, ein Projektor oder ein Beamer zur Verfügung stehen oder nicht. Wenn es nicht möglich ist, im Vorfeld die räumliche Situation selbst zu erfahren, dann ist Flexibilität und Spontaneität gefragt und sich auch auf Überraschungen gefasst zu machen, die sich negativ, aber auch positiv auf die Rede auswirken können. In jedem Fall ist zu überlegen, inwieweit es sinnvoll ist, Medien einzusetzen. Es ist anzuraten, sparsam mit Medien umzugehen, insbesondere mit der aktuell so beliebten PowerPoint-Präsentation, die, eingeführt 1987/88, mittlerweile alle Branchen beherrscht. In vielen Situationen wird sie heute erwartet, der souveräne Umgang mit ihr vorausgesetzt und entsprechende Kurse angeboten. Der Grund für diesen zweifelhaften „Siegeszug“ ist vermutlich darin zu suchen, dass PowerPoint durch die oft rasche Aufeinanderfolge der Bilder den „Unterhaltungswert“ steigert (Mayer 2007, 32). Die oft bunten und bisweilen noch mit beweglichen Elementen bestückten Folien lenken den Blick allerdings von der eigentlichen Argumentation, die in der mündlichen Rede stattfindet, ab. Statt dem Redner aufmerksam zuzuhören, sind die Rezipienten damit beschäftigt, Bilder zu betrachten oder Zusammenfassungen der vorgestellten Thesen bzw. Zitate auf den Folien zu lesen. Die bisweilen komplexen Argumentationen werden zu leicht konsumierbaren Portionen verarbeitet, so dass vieles verloren geht, was für die nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Rede von Wichtigkeit sein könnte. Sicher ist nicht von der Hand zu weisen, dass es Redeanlässe gibt, für die sich die PowerPoint-Präsentation eignen mag, Bilder sogar gezeigt werden müssen. Dies kann allerdings sparsam erfolgen, so, dass immer wieder Bildbzw. Folienpausen eingesetzt werden. Das Gebot der Sparsamkeit gilt auch für einfache Folien oder Thesenpapiere, die, ausgeteilt, ebenso den Nachteil haben, dass sie stets von der eigentlichen Rede ablenken. Im Zentrum der Kritik am Einsatz von Medien, Folien, Papieren und insbesondere der PowerPoint-Präsentation steht die Tatsache, dass der Redner selbst und seine ganz persönliche actio aus dem Blick geraten (vgl. ebd., vgl. Klotzki 2004, 77). Ein einleuchtender Kritikpunkt ist, dass der Redner durch den Einsatz von Medien den „intensiven Augenkontakt mit dem Publikum verliert“ (ebd.), der viel bewirken und zur Überzeugung beitragen, auch Glaubwürdigkeit stiften kann. Bei Cicero lesen wir: „Der sprechende Ausdruck der Augen ist […] wesentlich“ (Cic., De orat., 3. 221). Man könnte einwenden, dass Medien gegebenenfalls die Argumentation stützen. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn sie geschickt und maßvoll eingesetzt werden. Vermutlich ist es etwas übertrieben, zu behaupten, dass „der gute Redner […] nichts von technischen Hilfsmitteln“ halte (Hägg 2003, 152). Überzeugen wird er allerdings eher durch seine Person, zudem dann, wenn er sie nicht hinter einer Flut von Bildern versteckt und sich selbst fast unsichtbar macht (vgl. Alt 2004, 150). Dem Einwand, dass eine ,neue Rhetorik‘ diese neuen Medien berücksichtigen müsste, ist entgegenzuhalten, dass die persönliche, unverwechselbare actio des Redners das erste und nachhaltigste Überzeugungsmittel darstellt. Um welche Form der Rede es sich auch immer handeln mag: Dem persönlichen Auftritt, der eigenen Präsenz vor dem Publikum kommt, im Verein mit der sprachlichen Ausgestaltung, eine große Bedeutung zu. Wie bereits
3. Die eigene präsente Rede, Körperrhetorik, agonale Rhetorik
erwähnt, können wir über die Wirkung, die Heinemanns Rede tatsächlich erzielte, keine zuverlässige Auskunft geben. Selbst Augenzeugenberichte würden nicht alles erzählen und nur einen indirekten und gefilterten Eindruck wiedergeben. Sicher ist aber, dass Heinemanns Rede vor dem Publikum anders wirkte, als in Schriftform, in der sie analysiert wurde. Denkbar ist, dass sie weniger beeindruckte als in der Schriftform, wenn sie nicht gut vorgetragen war. In der Rhetorica ad Herennium heißt es über die actio: „Der Vortrag ist der maßvoll abgestufte, anmutig feine Einsatz von Stimme, Mienenspiel und Gebärden“ (Rhet. Ad Her., 1.3). Cicero äußert sich zur actio in De oratore folgendermaßen: „Der Vortrag […] hat in der Redekunst allein entscheidende Bedeutung. Denn ohne ihn gilt auch der größte Redner nichts, ein mittelmäßiger, der ihn beherrscht, kann aber oft die größen Meister übertreffen“ (Cic., De orat., 3.213). Die schriftliche Ausgestaltung der Rede steht auf dem einen Blatt, aber, so gibt Cicero weiter zu bedenken, sie mag noch so klug abgewogen und kalkuliert sein – erst der eigentliche Vortrag entscheidet über Erfolg oder Misserfolg der Rede. Besonderes Augenmerk widmet Cicero im Folgenden dem Gesamteindruck einer Rede, der im hohen Grade durch die körperliche Präsenz und Aktivität des Redners erzeugt wird: „Der Vortrag ist […] die Sprache unseres Körpers“ (ebd., 3.222). Cicero vergleicht das Reden mit dem Musizieren: „Der ganze Körper eines Menschen, sein gesamtes Mienenspiel und sämtliche Register seiner Stimme klingen wie die Saiten eines Instruments, so wie sie jeweils die betreffende Gemütsbewegung anschlägt“ (ebd., 3.216). Heute unterscheidet man zwischen nonverbalen und paraverbalen Zeichen. Nonverbale Zeichen rufen Mimik, Gestik, Bewegung und Geruch hervor. Paraverbale sind hörbare Zeichen, die der Klang der Stimme, Lautstärke und Intonation erzeugen. Der Vortrag ist ein synästhetisches und sinnliches Zusammenspiel dieser Zeichen, das von den Rezipienten ebenso mit allen Sinnen wahrgenommen wird. Einerseits kann die Körpersprache die verbale Sprache bestätigen oder vervollständigen, andererseits selbstständig weitere „eigene Bedeutung[en]“ konstruieren (Mayer 2007, 33). Sie kann bewusst eingesetzt werden oder unbewusst ablaufen. Häufig findet man die 55-38-7-Regel: Man hat herausgefunden, dass 55% der Wirkung die nonverbalen Zeichen, 38% die paraverbalen und nur 7 % der Inhalt der Rede hervorrufen. Auch wenn diese Regel nicht in jedem Einzelfall Geltung beanspruchen darf, so weisen etliche Experimente darauf hin, dass den sinnlichen Eindrücken, jenseits der inhaltlichen Aussage, eine erhebliche Bedeutung zukommt (vgl. ebd., 33 f.). Dies mag einerseits desillusionistisch sein, andererseits dem Redner ein Ansporn, seine ganze Person und ihren Spielraum mit in die Waagschale zu werfen und sich nicht durch eine PowerPoint-Präsentation seiner Möglichkeiten zu berauben. Schließlich erfolgt das Überzeugen vor allem durch die Glaubwürdigkeit (ethos), die zu einem erheblichen Teil vom Eindruck der Rednerperson abhängt. Zu einer gelungenen actio trägt sicherlich der äußerlich sichtbare Aspekt der Performanz vieles bei, etwa die Gestik. Diesbezüglich finden sich in der Literatur reichlich gut gemeinte Ratschläge, wie etwa folgender: „Abzuraten sind Spielereien mit Stiften oder Brille, ebenso immer noch, die Hände in den Taschen zu versenken oder in die Hüften zu stemmen. Besser ist es, die Hände auf das Rednerpult zu legen. Dies gibt Chancen, sparsam aber zielsi-
Körperrhetorik
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V. Angewandte Rhetorik
cher die richtigen Gesten zu machen“ (Klotzki 2004, 79). Woraus resultieren derartige Ratschläge? Die antiken Lehrbücher wissen zwar um die Relevanz der Gestik und generell der Körpersprache und erkennen sie als Ausdruck innerer Empfindungen. Sie betrachten die Körpersprache aber vor allem als ein Element, das die gesprochene Rede unterstützt (vgl. Cic., De orat., 3.220) oder beurteilen sie aus ästhetischen Gesichtspunkten. So heißt es bei Quintilian: „Übermäßig die Beine zu spreizen ist schon im Stehen unschön und, wenn noch Bewegung hinzukommt, fast unanständig“ (Quint., Inst. orat., 11.3.125). Es wurde richtig darauf hingewiesen, dass wir uns angewöhnt haben oder vielmehr dass uns angewöhnt wurde, darüber hinaus Gesten auf eine bestimmte Art und Weise zu interpretieren, etwa von den Händen in den Hosentaschen auf Arroganz oder Langeweile zu schließen oder von den verschränkten Armen auf Ablehnung oder Zurückweisung (vgl. Mayer 2007, 50, 54). Zu nennen ist beispielsweise Samy Molchos äußerst erfolgreiches und mehrfach aufgelegtes Buch Alles über Körpersprache (zuerst 1995), das Gesten mit bestimmten inneren Haltungen verknüpft (vgl. Mayer 2007, 50). Derartige Bücher vermitteln ein geradezu hermeneutisches Bedeutungssystem, das Gestik und auch Mimik auf eine bestimmte Art und Weise lesbar macht und das dazu tendiert, Allgemeingültigkeit zu beanspruchen. So gelingt es ihnen, Rezeptionshaltungen zu lenken. Als Redner hat man die Wahl. Man kann sich auf das von ihnen konstruierte Bedeutungssystem einlassen und sich anpassen, um der Kritik – etwa durch Hände in den Hostentaschen oder durch verschränkte Arme – nicht Tür und Tor zu öffnen. Man kann es aber auch ignorieren und vielleicht gerade dadurch Aufmerksamkeit erregen. Wie dem auch sei, ein jeder Redner möchte glaubwürdig wirken und durch seine Person überzeugen. Wie auch immer er sich bewegen mag – er erreicht dies nicht, wenn er ,zu gekünstelt‘ wirkt, seinen Bewegungen in irgendeiner Form Gewalt antut und vielleicht ungewollt komisch oder gar lächerlich erscheint. Gefragt sind offenbar, gerade in unserer medialen Welt, Authentizität und ein gewisses Maß an Natürlichkeit (vgl. ebd., 53). Inwieweit man Eindrücke, die diese Aspekte vermitteln könnten, bewusst durch Bewegungen steuern kann, ist eine schwierige Frage. Vermutlich aber kommen diese Eindrücke dann nicht zustande, wenn man ihnen zuviel Aufmersamkeit widmet. Hinzu kommt, dass nicht jedem Körper alle Bewegungen uneingeschränkt möglich sind. Die individuelle Statur setzt natürliche Grenzen. Dasselbe gilt für die Mimik, deren Möglichkeiten durch die gegebene Physiognomie bestimmt sind. Die antike Rhetorik warnt vor Schauspielerei. In Ciceros De oratore ist zu lesen: „[…] das Bild unseres Gesichts darf nicht verändert werden, damit wir uns nicht zu Grimassen oder einer Fratze hinreißen lassen“ (Cic., De orat., 3. 222). Gemeint ist, dass der Redner sich nicht verstellen solle, weil dies seine Glaubwürdigkeit gefährdet. Das ethisch fundierte Ciceronianische Rednerideal korrespondiert insofern mit dem heutigen Wunsch nach Authentizität. Als für das „Mienenspiel“ (ebd., 3. 223) entscheidend erkennt Cicero die „Augen“, weil sie „Empfindungen je nach dem Stil der Rede zu erkennen geben“ (ebd., 3. 222). Bei Quintilian lesen wir: „Regen sich aber die Augen, so blicken sie gespannt, gelassen, stolz, wild[,] sanft oder hart; wie es der Vorgang verlangt, gibt man dem Blick einen solchen Ausdruck“ (Quint., Inst. orat., 11.3.75). Allerdings rech-
3. Die eigene präsente Rede, Körperrhetorik, agonale Rhetorik
neten Cicero und Quintilian mit einem relativ kleinen Auditorium, das das Gesicht des Redners direkt anblicken konnte, eine Situation, von der man heute in Zeiten der multimedialen Massenrhetorik nicht mehr generell ausgehen kann. Man erkennt aber, wie sehr die Körpersprache als unterstützendes Element der Rede selbst betrachtet wird. Sie bestimmt den Stil der Rede mit bzw. gleicht sich demjenigen der schriftlich verfassten Rede an. So wird nach klassischer Vorstellung die actio zu einem Gesamtkunstwerk, in dem alle Zeichen harmonisch aufeinander abgestimmt sind. Man könnte von einer allzu vagen möglichen Hermeneutik der Körpersprache absehen und den zentralen Gedanken der antiken Lehrbücher aufnehmen, dass Gestik und Mimik die eigene Rede unterstützen können. Dies gilt auch für die Stimmführung. Cicero empfiehlt nachvollziehbar, dass Variationen in Intonation und Lautstärke der Aufmerksamkeit förderlich sind (vgl. Cic., De orat., 3.224 f.). Es gibt übrigens zahlreiche Möglichkeiten, die Stimme zu trainieren. Demosthenes soll seine von Natur aus sehr schwache Stimme ausgebildet haben, indem er mit Steinen im Mund Gedichte rezitierte. Ein ,Trainingsbuch‘ empfiehlt dementsprechend, mit frischen Karotten oder einem Korken im Mund die Aussprache zu verbessern (vgl. Bartsch u. a. 2009, 71). Es hilft jedenfalls, sich der Möglichkeiten bewusst zu werden, wie nonverbale und paraverbale Zeichen das Gesagte begleiten, unterstreichen oder auch kommentieren können. Ließe sich auch über viele Regeln alleine deshalb diskutieren, da jede Person sehr individuell ihre Körperrhetorik ausbilden und der jeweiligen Situation anpassen muss, so ist es heute ein Konsens, dass der Kontakt mit dem Publikum außerordentlich wichtig ist. Dieser wird, wie bereits erwähnt, vor allem durch den Blick geleistet. „Jeder im Publikum muss sich angesehen fühlen“ (Mayer 2007, 58). Der Redner muss darauf achten, nicht nur in eine Richtung zu blicken, sondern den Blick schweifen zu lassen und nicht am Manuskript zu kleben. Dies setzt idealerweise voraus, dass er frei spricht und nicht abliest. Die antiken Redner sprachen selbstverständlich auswendig. Wem das Auswendiglernen zu aufwendig ist, der sollte seine Rede zumindest sehr gut kennen, sie oft gelesen und geübt und sie zumindest passagenweise im Kopf haben. Um tatsächlich frei zu sprechen, wird auch angeraten, sich ein Skript mit den wichtigsten Stichpunkten anzufertigen (vgl. Bernstein 1995, 136). Ein sehr erfahrener Redner arbeitet mit Notizen oder Karteikarten, was ihm jenseits des Rednerpults mehr Bewegungsfreiheit und damit eventuell mehr Publikumskontakt ermöglicht (vgl. ebd., 139). Voraussetzung dafür ist allerdings bei einem großen Publikum ein portables Mikrofon. Es ist deutlich geworden, dass die actio ein plurimediales Ereignis ist, bei dem der eigentliche ,Inhalt‘ der aufgeschriebenen Rede ein wichtiges Element darstellt, das durch die Kombination vieler Zeichen vermittelt wird. Allerdings ist ,Form‘ vom ,Inhalt‘ nicht zu trennen, sondern die Form bestimmt oft den Inhalt bzw. steuert den Eindruck und die Erinnerung. Um nun bezüglich der Körperrethorik aber nicht zu allzu vielen Verrenkungen verführt zu werden, die sich zu Verstauchungen und Verkrampfungen durchaus im metaphorischen Sinne auswachsen können, ist der Gedanke entlastend, dass ein Redner die Gestik „richtig“ einsetzt, wenn er versucht, sein Publikum „mit ganzem Herzen“ zu überzeugen: „Die Gestik kommt dann unbewusst
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V. Angewandte Rhetorik
Verkaufsgespräch/ agonale Rhetorik
und richtig an der passenden Stelle“ (Bartsch u. a. 2009, 73). Ob dies aber tatsächlich in jedem Fall so ist, bleibe dahingestellt. Die Performanz spielt nicht nur bei der monologischen Rede eine wichtige Rolle, sondern auch in anderen Kommunikationsformen, wie etwa dem Werbegespräch oder in der sogenannten agonalen Rhetorik. Diese Formen sollen hier zumindest kurz Erwähnung finden. Auch für sie gilt das Überzeugen als das erste Ziel. So wurde für die Strategie eines Verkaufsgesprächs bereits Ende des 19. Jahrhunderts von Elmo Lewis (1872–1948) die sogenannte AIDA-Formel entwickelt: Die Großbuchstaben stehen jeweils für die Phasen oder Stufen Attention / Interest / Desire / Action. Die erste Stufe (Attention/Aufmerksamkeit) erinnert an die Systematik der klassischen Rhetorik. Auf ihr soll zunächst die Aufmerksamkeit des Kunden für das Produkt geweckt werden. Auf der zweiten Stufe (Interest/Interesse) zeigt der Kunde bereits ein verstärktes Interesse. Auf der dritten Stufe (Desire/Verlangen) hat sich das Interesse idealerweise in einen Kaufwunsch verwandelt. Die vierte Stufe (Action/Handeln) sieht vor, dass der Kunde das Produkt tatsächlich kauft. Mit dem Kauf ist das Überzeugen gelungen. Es versteht sich von selbst, dass die actio des Verkäufers, ein gewinnender Auftritt, viel bewirken kann. Es liegt aber auch auf der Hand, dass nur mehr gewisse Versatzstücke der rhetorischen Systematik zur Anwendung kommen. Unter die agonale Rhetorik fallen diverse Kommunikationsformen, in denen mehrere Beteiligte miteinander reden und unterschiedliche Standpunkte vertreten. Eine Ciceronianische Gerichtsrede, die für oder gegen jemanden Partei ergreift, hat ebenso agonalen Charakter. Wenn allerdings in einem schnellen Schlagabtausch gestritten wird, so ist keine ausgefeilte Rede gefragt, sondern schnelles Reaktionsvermögen und Schlagfertigkeit. Besonders das ,Wortgefecht‘ verlangt Spontaneität. Zu einem vorgegebenen Thema müssen Argumente schnell gefunden und so formuliert werden, dass sie den Gegner mit der besseren Beweisführung überzeugen. Erzählende Passagen (narratio) oder Abschweifungen (digressio) sind hier nicht gefragt, sondern eher störend. Teil des Wortgefechts kann auch eine Stegreifrede sein, in der spontan kurz und prägnant geprochen wird (vgl. Bartsch u. a. 2009, 86 f.). Im Unterschied zum freien Wortgefecht zeichnet sich die seit Antike und Mittelalter überlieferte Form der Disputation (ars disputandi) durch einen streng geregelten argumentativen und zeitlichen Ablauf aus. Teilnehmer sind in der Regel ein Defendent und ein oder mehrere Opponenten oder auch Respondenten. Eine Disputation bildet heute an manchen Universitäten (alternativ zum Rigorosum, der Prüfung in verschiedenen Fächern) den Abschluss der Doktorarbeit, deren Thesen vorgestellt und gegen Einwände verteidigt werden (vgl. Rädle 2007). Auch die sogenannte Debatte, eine Form, die etwa in Parlamenten gepflegt wird, verläuft nach einem geregelten Schema. In Debattierclubs wird diese Form der Diskussion bisweilen auf hohem Niveau und auf sportliche Art und Weise gepflegt. Einer der ersten deutschen Debattierclubs Streitkultur e. V. wurde 2001 in Tübingen gegründet. Seit 2001 existiert der Verband der Debattierclubs an Hochschulen e. V. (VDCH), der bundesweit Turniere ausrichtet, auf denen die jeweils besten Redner von Juroren ermittelt werden, unter anderem die ZEITDebatten unter der Schirmherrschaft des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt
3. Die eigene präsente Rede, Körperrhetorik, agonale Rhetorik
(*1918). Diese Turniere sind ein geeignetes Übungsfeld für angehende Politiker und Führungskräfte, die auf rhetorischem Terrain Erfahrung sammeln wollen. Sie folgen entweder dem Format der Offenen Parlamentarischen Debatte (OPD), das in Tübingen entwickelt wurde (vgl. Bartsch u. a. 2009, 178–200), oder dem British Parliamentary Style (BPS). Es sind jeweils zwei unterschiedliche Standpunkte zu vertreten, die die Redner nicht selbst wählen, sondern die ihnen zugeteilt werden. Die Redezeit beträgt in der OPD höchstens sieben Minuten. Im Unterschied zum BPS sind auch fraktionsfreie Redner vorgesehen, die zu Wort kommen und die von einer der beiden Seiten überzeugt werden sollen. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Debattiergesellschaft (DDG) gibt der Verband der Debattierclubs an Hochschulen (VDCH) das Online-Magazin Die Achte Minute heraus. Im Unterschied zum Wortgefecht kann der Redner in den längeren Redepassagen, die Disputation und Debatte vorsehen, alle rhetorischen Register ziehen. Das Wechseln von der schriftlichen Ausarbeitung in die öffentliche actio wird häufig unterschätzt, bildet aber die Essenz der Redekunst. Stets ist zu bedenken, wie das mit aller Sorgfalt Ausgearbeitete von präsenten Rezipienten aufgenommen werden könnte. Auch wenn das Schreiben andere Möglichkeiten eröffnet als das Reden und an andere Bedingungen geknüpft ist, so ist die Poetik doch mit der Rhetorik eng verwandt.
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VI. Poetik als Sonderfall der Rhetorik: die Anfänge Mit den Ausführungen zur Poetik kehren wir in die Antike zurück. Die Poetik als Theorie des dichterischen Schreibens kann als ein Sonderfall der Rhetorik bezeichnet werden, insofern sie sich speziell mit der schriftlich verfassten literarischen Rede beschäftigt, die gleichwohl unter rhetorischen Gesichtspunkten gelesen und analysiert werden kann. Die Poetik ließe sich in ihren Anfängen aus einer bestimmten Perspektive auch als „eine Analogkonstruktion zur Rhetorik“ (Till 2007, 441) bezeichnen. Die eine stellt den geschriebenen Text ins Zentrum, die andere die mündliche Rede. Aristoteles verfasste sowohl ein Lehrbuch zur Rhetorik als auch eine Dichtungstheorie. Allerdings steht Aristoteles’ Rhetorik (vermutlich 330/ 340 v. Chr.) bereits in einer längeren systematischen Tradition, die für die theoretische Auseinandersetzung mit Literatur zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu verzeichen ist (vgl. Fuhrmann 2003, 10; vgl. Kap. I). Außerdem galt für die Poetik die Rhetorik als „die federführende Disziplin“, insofern sie stilistisch im Bereich der elocutio die theoretischen Inspirationen lieferte (Barner 2000, 39). Das System der Tropen und Figuren entwickelte zunächst die Rhetorik. Die Eigenart der Poetik erweist sich jedoch darin, dass sie Anweisungen gibt, wie auf dem Feld bestimmter Gattungen zu verfahren sei. Auch hier aber macht die Poetik, besonders in ihrer Wirkungsästhetik, Anleihen bei der Rhetorik. Die Poetik beweist auch dann eine große Nähe zur Rhetorik, wenn sie auf die ethische Verantwortung des Dichters verweist, der moralisch integer und gelehrt sein möge. Dies ist, wie auf dem Feld der Rhetorik, von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein der Fall. Auch stellt und beantwortet sie die Frage nach der Lernbarkeit des Schreibens bis zu diesem Zeitpunkt auf ähnliche Weise. Die fundamentalen Stützen der Poetik, die bis ins 18. Jahrhundert hinein Bestand haben, finden sich in wenigen, aber zentralen Texten der Antike: In Platons (427–347) frühem Dialog Ion, in Aristoteles’ (384–322 v. Chr.) Poetik (ca. 335 v. Chr.) und in Horaz’ (65–8 v. Chr.) Ars poetica / Über die Dichtkunst (entst. um 18 v. Chr.).
1. Begriff ,Poetik‘ Dem Wort Poetik liegt das griechische Adjektiv poihtikæw [poietikos] zugrunde. Dieses ist abgeleitet von poien [poiein]: machen, herstellen, dichten. poihtikfl t¡xnh [poietike techne] meint die ,herstellende Kunst‘. Selbstständig findet sich das Substantiv poihtikfi als ,Dichtkunst‘ beispielsweise im Titel der Poetik des Aristoteles: per poihtikfiw: Über die Dichtkunst. In Anlehnung an Aristoteles nennt Horaz seine Poetik Ars poetica: Über die Dichtkunst. Diese Titel vermitteln die Auffassung, dass das Dichten ein
1. Begriff ,Poetik‘
künstlerischer Prozess ist. Es finden sich Anweisungen und Ratschläge, wie zu schreiben sei. Dichtungslehren, die auf diese Art und Weise verfahren, werden unter den Begriff ,normative Poetik‘ subsumiert. Eine normative Poetik ist „ein explizit normierendes System poetischer Regeln, das in geschlossener Form (z. B. als Lehrgedicht oder als gelehrte Abhandlung) schriftlich niedergelegt wird“ (Fricke 2007, 101). Die Normierungen betreffen häufig die Produktions- und Wirkungsästhetik bestimmter Gattungsformen, aber auch die Person des Dichters. Die Kategorie der Angemessenheit (aptum) wird sich, wie in der Rhetorik, als zentral erweisen. Auf Aristoteles’ und Horaz’ Lehrbüchern basiert das System der normativen Poetik bis in das 18. Jahrhundert. Wie auch im Hinblick auf die Rhetorik ist die Frage interessant, welchen Status diese Normierungen für die literarische Praxis tatsächlich einnahmen, denn es ist davon auszugehen, dass sie Spielräume offen hielten, die genutzt wurden, dass es zudem einiges gibt, was diese Lehren nicht lehren (vgl. Barner 2000, 34). Das Besondere der normativen Poetik liegt darin, dass die tradierten Normen auch einen Maßstab für die Beurteilung von Texten lieferten, für die literarische Wertung und die Literaturkritik, die besonders im 18. Jahrhundert Konturen annahm. Eine normative Dichtungslehre, die zugleich vehement Literaturkritik betreibt, bildet beispielsweise Johann Christoph Gottscheds (1700–1766) Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730). Von der normativen Poetik zu unterscheiden ist die implizite Poetik. Hierbei handelt es sich nicht um theoretische Anweisungen oder Normen, die in lehrhaften Traktaten niedergeschrieben sind, sondern um die besondere Ästhetik, die in literarischen Texten selbst zu beobachten ist, um diejenigen ästhetischen Verfahren, denen ein Autor bewusst oder unbewusst folgt. Es ließe sich auch von bestimmten ,Schreibweisen‘ oder ,Stilprinzipien‘ sprechen, die theoretisch beschrieben werden können (vgl. Fricke 2007, 101). Eine Besonderheit auf dem Feld der Poetik stellen die Poetikvorlesungen dar, die heute an manchen Universitäten fest etabliert sind. Die Autoren sprechen selbst über ihre Texte, geben Einblick in die Entstehungsbedingungen, in Vorüberlegungen, in die Hindernisse und Rückschläge, die sie im Prozess des Schreibens erfahren haben. Die Poetikvorlesung ist ein Phänomen, das von der Auflösung der Poetik als normatives System zeugt. Diese Auflösung erfolgte in einem stärkeren Maße als auf dem Feld der Rhetorik, deren Systematik immerhin auch im 19. Jahrhundert noch als Steinbruch genutzt wurde. Diese Auflösung eröffnete faszinierende neue Möglichkeiten. Allerdings blieben dennoch alte regelpoetische Vorgaben auch in der Praxis erhalten. Außerdem etablierte sich mitunter das ,Neue‘ in einer offensiv vehementen Zurückweisung des ,Alten‘, so dass es weiterhin latent Gültigkeit beanspruchen durfte. Auch für die heutige literarische Produktion gilt wohl immer noch eine zentrale wirkungsästhetische, aus der Rhetorik übernommene Vorstellung der normativen Poetik, dass Literatur rühren und unterhalten solle. Es ist zu überlegen, ob Aristoteles’ Idee der Katharsis, der Reinigung durch und von den Leidenschaften, die die Tragödie zu leisten habe, aus produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive über Gattungs- und Mediengrenzen hinaus Zeitlosigkeit beanspruchen dar f. Wie seine Rhetorik entwickelte Aristoteles seine Dichtkunst in Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Platon, der zwar kein Lehrbuch zur Poetik hinterließ, aber die Grund-
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VI. Poetik als Sonderfall der Rhetorik
lagen einer Inspirationstheorie, die sich bisweilen im System der normativen Poetik wiederfinden wird.
2. Platons Ion: Dichtung als göttliche Inspiration
Der verborgene Sinn
Es wird sich zeigen, dass Aristoteles’ Poetik deshalb von außerordentlicher Bedeutung ist, weil sie jenem Dichtungsverständnis neue Akzente verleiht, das Platon in seinem Dialog Ion konturiert. Dieser Dialog begreift Dichtung nicht als eine Kunst, die gewissen Regeln zu folgen hat. Sie gibt keine Anweisungen oder Normen vor, kann folglich im engeren Sinne auch nicht als ,Poetik‘, geschweige denn als ,normative Poetik‘ bezeichnet werden (vgl. Till 2007, 442). Allerdings entwirft der Dialog mit seiner Inspirationsästhetik eine Dichterpersönlichkeit, die in den normativen Poetiken mitunter weiter verhandelt wird. Im Zentrum steht die Idee des Dichters als Seher, des poeta vates, der göttlicher Eingebung folgend dichtet. Der Text ist ein Pendant zu Platons Staat. Dieser kritisiert die Dichter, weil sie, wie etwa Homer, Unwahres über die Götter erzählen (vgl. Platon, Staat, 377e) und eine Gefahr für die Jugend darstellen. Umso mehr wird der Dichter in die Verantwortung genommen, sich an die Wahrheit zu halten und keine Täuschungen hervorzubringen. Am höchsten wird die Dichtung geschätzt, der „ein verborgener Sinn“ (ebd., 378d) innewohne, den aber die jungen Menschen nicht immer erkennen können. Eben dieser verborgene Sinn bildet im Ion den Dreh- und Angelpunkt eines im Vergleich zum Staat positiven Dichterbildes. In Platons Dialog entspinnt sich ein Gespräch zwischen Sokrates und dem Rhapsoden Ion über dessen „Kunst“ (Platon, Ion 530b). Sokrates beschreibt diese Kunst als eine, die sich mit anderen Dichtern beschäftigt und ihre Gesänge vorträgt, wobei dem auch von Ion besonders geschätzten Homer außerordentliche Bedeutung zukommt. Der Rhapsode ist jemand, der zwischen dem Dichter und dem Publikum steht und nicht nur die „Worte“, sondern auch den „Sinn“ dieser Worte zu vermitteln hat (ebd., 530c). Die Aufgabe des Rhapsoden besteht folglich darin, den Dichter, den er rezitiert, richtig zu verstehen. Sokrates fasst die Kunst der Rhapsoden folgendermaßen zusammen: Wahrlich, oft habe ich schon euch Rhapsoden beneidet um eure Kunst. Denn sowohl daß auch am Leibe immer geschmückt zu sein und euch aufs schönste zu zeigen eurer Kunst angemessen ist, als auch daß ihr in der Notwendigkeit seid, mit vielen andern trefflichen Dichtern euch zu beschäftigen, besonders aber mit dem Homeros, dem trefflichsten und göttlichsten der Dichter, und seinen Sinn zu verstehen, nicht seine Worte nur, daß ist beneidenswert. Denn es kann doch keiner ein Rhapsode sein, wenn er nicht versteht, was der Dichter meint; da ja der Rhapsode den Zuhörern den Sinn des Dichters überbringen soll, und dies gehörig zu verrichten, ohne einzusehen, was der Dichter meint, ist unmöglich. (ebd., 530b f.) In Sokrates’ Beschreibung steht nicht ein Autor im Mittelpunkt, der sich vor der Aufgabe sieht, einen Text zu verfassen. Der Rhapsode ist eine von drei Instanzen, deren Position angesichts eines bereits vorhandenen Textes –
2. Platons Ion: Dichtung als göttliche Inspiration
hier Homers Epos – zu bestimmen ist. Ein erster Hinweis findet sich bereits in dem eben angeführten Zitat: In der Dichtung verbirgt sich ein Sinn, der zu verstehen ist. Gehen wir heute eher davon aus, dass es mehrere Lesarten eines Textes gibt, die von den Rezipienten jeweils zu entwickeln sind, ist für den Ion ein dezidiert hermeneutisches Dichtungsverständnis grundlegend. Wie ist nun die Tätigkeit desjenigen zu werten, der diesen verborgenen Sinn vermittelt, in diesem Fall des Rhapsoden? Zunächst stellt Ion sein besonderes Verhältnis zu Homer heraus. Er ist der Meinung, dass er ihn besser versteht, auslegen und vortragen kann, als andere Dichter, auch wenn sie über dasselbe sprechen und dieselben Stoffe verarbeiten. Anders als alle anderen aber weckt Homer ihn auf, inspiriert ihn, macht ihn aufmerksam, so, dass er besonders gut über ihn sprechen, ihn besonders gut interpretieren, besonders eindringlich den Sinn seiner Worte vermitteln kann. Diese Beobachtung an sich selbst macht Ion stutzig und er fragt Sokrates um Rat. Sokrates, der zuvor seinen Gesang als Kunst bezeichnet hatte, antwortet ihm nun, dass er den Homer nicht aufgrund von „Kunst und Wissenschaft“ (ebd., 532c) ausgezeichnet verstehen und vermitteln könne. Denn ansonsten würde er auch alle anderen Dichter gut auslegen und über sie sprechen können. Aus der Tatsache, dass Homer imstande ist, den Ion aufzuwecken, ihn zu inspirieren und dazu zu bringen, Vieles zu sagen, schließt Sokrates, dass die Tätigkeit des Rhapsoden keine Kunst sei, das heißt hier, dass dieser keinen besonderen „Sachverstand“ (Schlaffer 1990, 12) benötige, den er anwenden könne, sobald es die Situation erfordert. Wenn das Rezitieren von Dichtung eine Kunst wäre, dann würde Ion einen kunstfertigen Umgang auch mit anderen Dichtern beweisen, einen professionellen Umgang. Im Falle von anderen Künsten, wie der Malerei oder der Bildhauerei, verhalte es sich doch so: Nicht könne man über den einen Maler oder Bildhauer besonders gut sprechen und über andere nicht, wenn man doch ein Wissen besitze, sich über diese Dinge zu äußern (vgl. Platon, Ion, 532d–533c). Auf Umwegen nähert sich nun Sokrates der Definition von Dichtung. Offenbar hat es mit ihr eine besondere Bewandtnis. Es gibt eine Art von Dichtung, die, wie diejenige Homers, auf wunderbare Weise wirkt. Sie löst in den Rezipienten, so wie im Rhapsoden, etwas aus und versetzt sie in einen Zustand der Entrückung. Der Rhapsode ist als Mittler empfänglich für die besondere „göttliche Kraft“ (ebd., 533d), die eine solche Dichtung ausstrahlt. Begeistert gibt er diese Kraft an seine Zuhörer weiter. Durch ein Ringgleichnis stellt Sokrates die Wirkung dieser göttlichen Kraft dar. Sie zieht den Rhapsoden wie einen eisernen Ring an. Der Rhapsode zieht als „Mittelglied in der göttlichen Wirkungskette“ (Gellhaus 1995, 44) weitere Ringe, das heißt Zuhörer, an und hängt sie aneinander, vereinigt sie im Sinne der magnetisch göttlichen Kraft, „so daß bisweilen eine ganze lange Reihe von Eisen und Ringen aneinanderhängt“ (Platon, Ion, 533e). Jeder Zuhörer kann gegebenenfalls selbst zum Mittler werden und seine Begeisterung weitergeben. Diese Formation entsteht durch die besondere Qualität derjenigen Dichtung, der etwas Göttliches innewohnt. Im Ion findet sich eine zentrale Referenzstelle für das Phänomen des furor poeticus, des dichterisches Wahnsinns oder des Enthusiasmus (⁄nyousiasmæw):
Dichtung als göttliche Inspiration
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VI. Poetik als Sonderfall der Rhetorik
Alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, und ebenso die rechten Liederdichter, sowenig die, welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind, in vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie der Harmonie und des Rhythmos erfüllt sind, dann werden sie den Bakchen ähnlich und begeistert, wie diese aus den Strömen Milch und Honig, nur wenn sie begeistert sind, schöpfen, wenn aber ihres Bewußtseins mächtig, dann nicht, so bewirkt auch der Liederdichter Seele dieses, wie sie auch selbst sagen. (ebd., 533e–534a) Alle ,rechten Dichter‘, das heißt alle jene, die von der göttlichen Kraft berührt sind, verfassen ihre Texte in einem unbewussten Zustand des Wahnsinns, nicht aufgrund einer besonderen Kunstfertigkeit. Affiziert können sie gar nicht anders, als ihre Begeisterung mittels ihrer Dichtung weiterzugeben. Das Dichten erfolgt offenbar ohne Reflexion, aus dem Impuls heraus – ohne Vernunft. Im Folgenden findet sich ein weiteres Gleichnis, das mit dem Ringgleichnis korrespondiert. Die Dichter werden mit Bienen verglichen, die „aus honigströmenden Quellen aus gewissen Gärten und Hainen der Musen“ (ebd., 534b) ihre Gesänge pflücken und weitertragen, wie die Bienen. Wie beim Ringgleichnis steht der Aspekt der Vermittlung im Vordergrund. Das, was die Dichter in den Hainen der Musen sammeln, verwandeln sie zu eigenen Gesängen, durch die sie das Gesammelte weitergeben. Der Dichter wird als „heilig“ (ebd.) bezeichnet. Es wird herausgestellt, dass es Voraussetzung für das Dichten ist, der Vernunft nicht mehr teilhaftig zu sein, die Reflexion aufgegeben zu haben. Deshalb ist ebensowenig wie die Tätigkeit der Rhapsoden das Dichten eine Kunst im Sinne eines erlernbaren Wissens, sondern Ausdruck einer göttlichen Beseelung. Der Dichter ist Mittler der göttlichen Weisheit, das Medium, durch das sich der Gott offenbart. Diesem ist er untergeordnet, von diesem ist er seiner Vernunft beraubt. Er erscheint vor seinen Zuhörern als wahnsinnig, wobei dieser Zustand aber derjenige ist, der ihn befähigt, die Botschaft Gottes zu vermitteln. Angesichts der platonischen Anthropologie, die den Menschen als der göttlichen Vernunft teilhaftig anerkennt, ist dies ein erstaunlicher Befund, der aber die exzeptionelle Stellung des Dichters zu unterstreichen imstande ist. Einerseits erscheint der Dichter, seiner menschlichen Vernunft beraubt, erniedrigt und willenlos, andererseits exponiert, da er gerade im Zustand dieser Vernunftlosigkeit dem Gott besonders nahe ist. Platons Ion entwirft eine Vorstellung von Dichtung, die nicht durch Anweisung und Anleitung oder gar durch Nachahmung anderer als vorbildlich anerkannter Texte erlernbar ist. Sie ist Frucht einer Begabung, die die Nähe zum Göttlichen beweist. Sie ist nur Auserwählten gegeben. Der Dichter ist Seher (vates) und Mittler der göttlichen Weisheit, die er in einem Zustand des Enthusiasmus weitergibt. Obgleich späterhin die normative Poetik anders verfährt und Dichtung als eine Kunst profiliert, für die ein erlernbares Wissen unumgänglich ist, wird sie Facetten dieses platonischen Dichterbildes weitertragen. Besondere Beachtung fand der Ion im Neuplatonismus der Renaissance: Marsilio Ficino (1433–1499) entwickelte in einem Brief an einen jungen Dichter mit dem Titel De divino furore (1457) eine Inspirati-
2. Platons Ion: Dichtung als göttliche Inspiration
onstheorie auf platonischem Fundament (vgl. Wels 2009, 198–200). Von zeitlosem Interesse ist der Dialog Ion insofern, als er auf eine Frage eine extreme Antwort gibt, die wir heute von der Hand weisen würden, auf eine Frage aber, die, wie auch auf dem Feld der Rhetorik, wohl mit endgültiger Gewissheit nicht zu beantworten ist: diejenige nach dem Anteil der Begabung am künstlerischen Produktionsprozess. Es sind vor allem zwei Aspekte, die die Nähe zur Rhetorik beweisen. Die Idee des dichterischen Enthusiasmus erinnert an das Prinzip des ipse moveatur, das, in der Antike angedacht, im christlichen Kontext besonders für Fragen der Glaubensvermittlung an Relevanz gewann. Nur derjenige vermag gut und überzeugend zu sprechen, der von demjenigen, über das er redet, selbst emotional ergriffen ist (vgl. Quint., Inst. orat., 6.2.26; Cic., De orat., 2.178; vgl. Kap. III. 2). Außerdem wird dem Dichter eine ethische Verantwortung zuteil, die die antike Rhetorik auch vom Redner fordert. Der Dichter vermittelt den Menschen idealerweise die göttliche Wahrheit und kann insofern auch seine Tätigkeit legitimieren. Ästhetische Aspekte einer solchen Dichtung interessieren im Ion allerdings nicht. Aus der Perspektive des Dialogs gilt unbesehen der tatsächlichen ästhetischen Faktur gerade diejenige Dichtung als besonders gelungen, die zum Enthusiasmus veranlasst.
3. Die ersten Poetiken als Maßstab: Aristoteles und Horaz Gegenüber seinem Lehrer Platon ist Aristoteles mit seiner Poetik eigene Wege gegangen. Er befreite die Dichtung von dem Nimbus, den Platon ihr verliehen hatte, und stellte sie auf praktische Füße. Er widmete ihr ein eigenes, wenn auch kleines, Buch und rehabilitierte die Dichtung als Kunst, die Regeln folgt. Dies bedeutet, dass es ein Wissen gibt, dessen Kenntnis die Voraussetzung dafür ist, gut zu dichten. Aristoteles’ Poetik liefert somit Maßstäbe für die literarische Wertung. Sie lässt zudem im Vergleich zu Platon andere anthropologische Vorannahmen erkennen. Dichtung ist einerseits Kunst, ein Produkt von Reflexion und nicht bewusstlosen Wahnsinns, andererseits ein menschliches Bedürfnis. Aristoteles begreift die Nachahmung (mmhsiw [mimesis], lat. imitatio) als leitendes Prinzip der Dichtung und zugleich als menschlichen Urtrieb. Ihre Nachahmungen, die zugleich Darstellungen sind, resultieren aus der menschlichen Erfahrung selbst. Sie sind deshalb – auch hier argumentiert Aristoteles anders als Platon – nicht als bloße Schattenbilder anzusehen, die die Sinne trügen. Der allgemein gehaltene Titel Poetik verspricht einiges. Aristoteles kündigt an, sich mit den „Gattungen“ (Arist., Poetik, 1447b) der Dichtkunst zu beschäftigen. Man könnte Ausführungen über Epos, Lyrik und Dramatik erwarten. Allerdings stellt Aristoteles dann vor allem die Tragödie ins Zentrum, deren theoretische Vorgaben bis in die Moderne wegweisend geworden sind. Aristoteles schuf diese Theorie aus der Distanz, denn die Tragödie, die er zum Maßstab nahm, war eine Schöpfung der Blütezeit der griechischen Polis. Im 5. Jahrhundert v. Chr. war Athen das Zentrum der Theaterkultur. Dort fanden die Wettkämpfe um die besten Theaterstücke statt, etwa die Lenäen oder die
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VI. Poetik als Sonderfall der Rhetorik
Nachahmung / Mimesis
Großen Dionysien, auf denen u. a. Aischylos (525–456 v. Chr.) und Sophokles (496–406 v. Chr.) ihre Dramen vorstellten. Als Aristoteles seine Poetik verfasste, vermutlich ab 335 v. Chr., war diese Blütezeit bereits vorbei. Allerdings standen ihm Textmaterial und Aufführungsberichte zur Verfügung. Seine Tragödientheorie entwickelte er vor allem mit Rekursen auf Sophokles’ König Ödipus (436–433 v. Chr.). Er stellt zwar in Aussicht, über die Komödie zu sprechen (vgl. ebd., 1449b), dieser Teil ist aber vermutlich verloren. Insgesamt bildet Aristoteles’ Poetik kein organisches Ganzes. Tatsächlich handelt es sich bei dieser ersten überlieferten normativen Regelpoetik um eine etwas „spröde“ Lektüre (vgl. Fuhrmann 2003, 3), die aber komplex und in Teilen bündig Literaturtheorie betreibt, die unhintergehbar geworden ist. Auch wenn die Tragödie im Zentrum steht, können einige aus ihr abgeleitete Bestimmungen auch für die Komödie bzw. für das Drama allgemein gelten. Die Dichtung ist ein Feld, auf dem sich der menschliche Urtrieb der Nachahmung äußert. Hatte Platon die Ursache der dichterischen Hervorbringung in einer göttlichen Kraft gesehen, die sich denjenigen Menschen magnetisch mitteilt, die für sie empfänglich sind, so nimmt Aristoteles eine andere Ursache an: Es ist die Natur des Menschen selbst, nicht etwas Göttliches, die ihn zu Nachahmungen bewegt und ihn auch dazu veranlasst, Freude an Nachahmungen zu empfinden. Dass die Natur die Ursache ist, gilt dem Empiriker Aristoteles als „Erfahrungstatsache“ (ebd., 1448b). Durch die Fähigkeit zur Nachahmung unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen und durch sie erwirbt er „seine ersten Kenntnisse“ (ebd.). Nachahmung ist ein Urtrieb und überdies lebensnotwendig. Dass Aristoteles die Empirie, die Erfahrung, zur Grundlage der Dichtung erklärt, zeigt seine Eigenständigkeit gegenüber Platon. Die Dichtung ist auch deshalb von Wert, da sie der menschlichen Sinnesfreude Nahrung liefert. Für Platon ist die sinnliche Erfahrung bloße Täuschung, die von vernünftiger Erkenntnis überwunden werden muss, damit der Aufstieg zur Welt der Ideen möglich ist. Im Hinblick auf die dichterische Tätigkeit gilt das Prinzip der Nachahmung für alle Gattungen, für Epos, Dramatik und Lyrik. Die unterschiedlichen Textsorten unterscheiden sich lediglich in Mittel und Weise der Nachahmung und in ihrem Stoff (vgl. ebd., 1447a). Nirgendwo ist die Rede davon, dass die Dichter lügen. Während Platon im Staat kritisiert, dass die Dichter Unwahres über die Götter erzählen und damit der Erziehung der Jugend schaden könnten, legt Aristoteles einen anderen Maßstab an. Für ihn sind die Götter der mythologischen Erzählungen wie auch die Könige und Helden, die die Literatur bevölkern, Figuren, die das Handeln der Menschen in typischer Weise nachahmen. Sie sind Stellvertreter menschlicher Leidenschaften und halten den Zuschauern einen Spiegel vor. Der Mensch soll sich selbst auf der Bühne wiedererkennen können: Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter eine dieser beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir. (ebd., 1448a)
3. Die ersten Poetiken als Maßstab
Die Dichtung erfährt inhaltlich eine hohe Wertschätzung, weil sie das Allgemeinmenschliche zum Gegenstand hat und Verhaltensmöglichkeiten, Tugenden und Schwächen, vor Augen führen kann (vgl. ebd., 1451b). Eine Voraussetzung dafür ist, dass sie die Regeln der Wahrscheinlichkeit einhält. Dies ist dann der Fall, wenn die Handlung in einem Drama oder in einem Epos für die menschliche Erfahrung nachvollziehbar ist. Vorausgesetzt werden Ursache- und Wirkungsverhältnisse, die sich in einem gewissen Rahmen bewegen müssen, damit sie glaubwürdig sind. Dieses Wahrscheinlichkeitspostulat wird unter anderen Vorzeichen die Poetik im 18. Jahrhundert wieder aufnehmen und, im Sinne einer Erziehung zur Vernunft, alles ,Widersinnige‘ aus der Dichtung verbannt wissen wollen. In Aristoteles’ Poetik dient die Regel der Wahrscheinlichkeit auch dazu, die Dichtkunst von der Geschichtsschreibung abzugrenzen, die etwas mitteilt, was wirklich geschehen ist (vgl. ebd.). Diese Unterscheidung wird heute differenzierter betrachtet und gesehen, dass Literatur und Geschichtsschreibung nicht so deutlich voneinander zu trennen sind. Das Herz der Aristotelischen Poetik bildet die Tragödientheorie, hier die komplexe und seit der Frühen Neuzeit häufig diskutierte Definition der Tragödie sowie die Bestimmung ihrer wichtigsten Elemente. Im Zentrum der Definition steht zum einen das Nachahmungspostulat, zum anderen die Wirkungsästhetik der Katharsis. Wenn es heißt, dass die Tragödie „Nachahmung einer […] in sich geschlossenen Handlung“ (ebd., 1449b) sei, dann wird postuliert, dass sie einen deutlich konturierten Verlauf haben solle, deren Ordnung, wie in einer gut komponierten Rede, einsehbar ist, einen deutlichen Anfang und einen deutlich nachvollziehbaren Schluss besitzt. Der Hinweis, dass die Tragödie in „anziehend geformter Sprache“ gestaltet sein möge (ebd.), verpflichtet den Autor darauf, im Bereich der stilistischen Gestaltung, der elocutio, poetische Sorgfalt walten zu lassen. Ein weiteres Paradigma aus der Rhetorik klingt an, wenn von der Wirkung der Tragödie die Rede ist: Sie soll „Jammer und Schaudern“ (eleos und phobos) hervorrufen und „hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen“ bewirken (ebd.). Die Reinigung oder Katharsis setzt voraus, dass die Zuschauer bewegt und gerührt werden (movere), indem sie die Leidenschaften, die sie auf der Bühne mimetisch dargestellt sehen, nachempfinden, so dass die Reinigung von diesen Leidenschaften zugleich eine Reinigung durch diese bedeutet, eine doppelte Konnotation, die im griechischen Originaltext grammatisch angelegt ist. Die Reinigung bewirkt auch, im Verein mit der ,anziehenden‘ elocutio, dass die Tragödie, trotz der nachgeahmten tragischen Handlung, erfreut oder Vergnügen bereitet (delectare). Diesen zweifachen Zweck der Dichtung wird später Horaz deutlicher auf den Punkt bringen. Es gehört zur Komplexität der Aristotelischen Poetik, dass sie die Wirkungsabsicht der Katharsis nicht weiter erläutert. Vielleicht hat gerade der Verzicht auf ihre nähere Erklärung dazu geführt, dass sie in der Frühen Neuzeit und besonders im Zuge einer Neubestimmung des Dramas in der Aufklärung ausführlich diskutiert wurde. Aus anthropologischer Sicht ist bemerkenswert, dass Aristoteles’ Poetik den Menschen als leidenschaftliches Wesen in den Mittelpunkt stellt, dessen Sinne angeregt werden, damit schließlich, durch den Ausgang des Stücks, Erkenntnis erfolgen kann. Der sinnliche Aspekt der Tragödie und mithin
Tragödientheorie
Elemente des Dramas
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VI. Poetik als Sonderfall der Rhetorik
Angemessenheit
eines Dramas im Allgemeinen wird auch aus der Bestimmung der sechs wichtigsten Elemente deutlich. Als erstes Element nennt Aristoteles die „Inszenierung“ (opsis, ebd.), die Darstellung auf der Bühne, die geschaut werden kann. Dann folgen „Melodik“ (melopoiia) und „Sprache“ (lexis), wobei unter ,Melodik‘ das fällt, „was seine Wirkung ganz und gar im Sinnlichen entfaltet“ (ebd.), Gesang und generell musikalische Einlagen. Weitere wichtige Elemente sind die Figuren und ihr jeweiliger „Charakter[s]“ (ethos) und ihre „Erkenntnisfähigkeit“ (dianoia, ebd.). Im Falle der ,Erkenntnisfähigkeit‘, der argumentativen Gedankenführung, kommt Aristoteles auch auf die Rhetorik zu sprechen: Die Erkenntnisfähigkeit ist „das Vermögen, das Sachgemäße und das Angemessene auszusprechen, was bei den Reden das Ziel der Staatskunst und der Rhetorik ist. Denn die Alten ließen die Personen im Sinne der Staatskunst reden, die Jetzigen lassen sie rhetorisch reden“ (ebd., 1450b). Zu ,den Alten‘ zählen vermutlich auch die ehrwürdigen Dichter wie Sophokles und Aischylos, deren poetische Redekunst, die das Angemessene (aptum) im Blick behält, Aristoteles deutlich von derjenigen seiner eigenen Zeit abgrenzt. Die Formulierung, dass die jetzigen Dramendichter ihre Figuren ,rhetorisch reden lassen‘, meint, dass sie ihnen Reden zuschreiben, die auf bloßen Effekt aus sind. Hier klingt die ethisch-moralische Verpflichtung der Redekunst an. Als letztes Element nennt Aristoteles die „Handlung“ (mythos, ebd., 1450a). Diese wertet er als ,das Wichtigste‘ (vgl. ebd.). ,Mythos‘ meint nicht eine Göttererzählung, wie sie etwa in Ovids (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) Metamorphosen (entst. zwischen 2 und 8 n. Chr.) zu finden ist, sondern die Struktur der Handlung, die „Zusammenfügung der Geschehnisse“, die deshalb so wichtig sei, weil die Tragödie „Lebenswirklichkeit“ nachahme (ebd.). Nun ist mit Lebenswirklichkeit nicht das wirklich Geschehene gemeint, das laut Aristoteles Gegenstand der Geschichtsschreibung ist, sondern das Mögliche und Wahrscheinliche, das sich in der Lebenswelt abspielen und von den Zuschauern nachvollzogen werden kann. Ohne diesen Nachvollzug kann die Tragödie ihre kathartische Wirkung nicht entfalten. Deshalb bezeichnet Aristoteles die Handlung als „das Fundament“ und als die „Seele der Tragödie“ (ebd.). Er geht so weit zu sagen, dass eine gelungene Handlung die Katharsis auch ohne Inszenierung herbeiführe (ebd., 1453b). Die wichtigsten Handlungsmomente sind „Verknüpfung und Lösung“ (desis und lysis, ebd., 1455b). Die Lösung beginnt dort, wo sich der Umschwung der Handlung, die „Peripetie“ (peripeteia, ebd., 1452a), ankündigt. Im Zusammenhang mit der Peripetie steht die „Wiederkennung“ (anagnorisis), der „Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis“ (ebd.), der in der Tragödie ins Unglück oder in der Komödie, die stets einen guten Ausgang hat, ins Glück erfolgt. Die Zusammenfügung der Handlung erinnert an die dispositio in der Rhetorik, dem zweiten Arbeitsschritt nach der Findung des Stoffes, der inventio. Es ist darauf zu achten, dass die Handlung, die möglichst nicht einen Tag überschreiten soll (vgl. ebd., 1449b), innere Schlüssigkeit beweist und die Geschehnisse nicht willkürlich einsetzen oder aufhören. Ein wichtiges Kriterium ist „das Schöne“ (ebd., 1450b), das klassisch gedacht die Harmonie der Teile, ihr nahtloses Ineinandergreifen und ihr angemessener Umfang gewährleisten. Beim Entwurf des Handlungsgefüges und bei der sprachlichen Ausarbeitung (elocutio) soll die Angemessenheit (aptum) beachtet werden. „Das Pas-
3. Die ersten Poetiken als Maßstab
sende“ möge man finden und „Deutlichkeit“ walten lassen (ebd., 1455a). Auch im Hinblick auf die Zeichnung der Charaktere soll die „Angemessenheit“ (ebd., 1454a) beachtet werden. Sie bildet, wie in der Rhetoriktheorie, das omnipräsente ästhetische Ideal. Da es sich um ein änigmatisches und schwer fassbares Ideal handelt, begreift Aristoteles das Dichten nicht als eine Kunst, die ohne Weiteres erlernbar wäre, auch wenn er von der platonischen Inspirationstheorie deutlich Abstand nimmt. Die Tragödie, bzw. das Drama allgemein, ist als ein Gesamtkunstwerk zu verstehen, dessen Elemente nur ein echter Könner harmonisch aufeinander abstimmen kann. Im Falle einer Aufführung entscheidet strenggenommen, wie bei einer Rede, zudem die actio der Figuren über den Erfolg. Aristoteles aber weist dem geschriebenen dichterischen Wort einen hohen Wert zu und bezeichnet die „Inszenierung“ als „das Kunstloseste“, das „am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun“ habe (ebd., 1450b). Der gute Dichter zeigt sich darin, dass er allein durch seinen schriftlichen Text zu bewegen vermag. Quintus Horatius Flaccius (65–8. v. Chr.), einer der bedeutendsten Autoren der Augusteischen Klassik, legte neben Epoden, Satiren und Oden zwei Bücher Versepisteln vor (Epistulae / Briefe), die Reflexionen über die Tätigkeit des Dichtens, literaturkritische Äußerungen sowie theoretische Anweisungen enthalten. Im zweiten Buch dieser Episteln findet sich die Abhandlung Über die Dichtkunst / Ars poetica, die um 18 v. Chr. entstand und 13 v. Chr. erschien. In diesem zweiten Buch folgt sie als dritter Teil zwei Literaturbriefen. Der erste richtet sich lobend an den Kaiser und Förderer Augustus, der zweite an den jungen Autor Iulius Florus. Dieser diskutiert u. a. kritisch das Dichterleben und das Verhältnis zwischen Dichten und Weisheit. Die folgende Ars poetica, den sogenannten Pisonen gewidmet (Lucius Calpurnius Piso und seinen Söhnen, die selbst Gedichte verfassten), ist ebenso „Reflexion über Dichtung und Dichtung zugleich“ (Fuhrmann 203, 125 f.; vgl. Jung 2007, 34). Sie stellt relativ unsystematisch generelle Überlegungen über das Dichten in den verschiedenen Gattungen sowie über die Dichterpersönlichkeit an. Immer wieder spielt dabei die Frage nach der Angemessenheit eine Rolle, nach dem aptum. Angemessenheit und eine klassische Ordnungsvorstellung macht der berühmt gewordene Anfang durch einen Vergleich mit der Malerei zum Programm. Der Dichter möge sich davor hüten, Texte zu entwerfen, die dieselben Fehler aufweisen wie die Bilder eines unbegabten Malers. Als Warnung, wie nicht zu dichten oder zu malen sei, entwirft Horaz das Bild eines Monstrums, eines Fabelwesens, das den Regeln klassischer dispositio und ordo nicht gehorcht, aus Körperteilen zusammengesetzt ist, die nicht zusammengehören, einen menschlichen Kopf, aber den Hals eines Pferdes, Vogelfedern, aber den Leib eines Fisches besitzt und deshalb gegen das Ideal des aptum verstößt: Wollt an ein menschliches Haupt ein Maler den Hals eines Pferdes Fügen, die Glieder dann nehmen von allen nur möglichen Tieren, Bunt mit Federn geschmückt, um garstig in schwärzlichen Fischleib Schließlich das Weib, das oben so schön, dann enden zu lassen, Würdet ihr, lüde man euch als Freunde zum Schaun, da nicht lachen? Glaubt mir, Pisonen, ganz ähnlich ist solchem Gemälde die Dichtung,
Horaz’ Ars poetica
Dichtung und Malerei
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VI. Poetik als Sonderfall der Rhetorik
Die gleich Träumen des Kranken phantastische Bilder uns vorführt So, daß dabei weder Fuß noch Kopf einem einzigen Körper Wirklich gehören […]. (Horaz, Ars poetica, 1–9)
Dieses Monstrum offenbart den normative Gestus von Horaz’ Dichtkunst: Es ist klar zu unterscheiden, was ,gesunde‘ und was ,kranke‘, was gute und was schlechte Kunst, sei es Malerei oder Literatur, auszeichnet. Wie wirkungsmächtig dieser programmatische Beginn war, zeigt ein Sprung in das 17. Jahrhundert. Der Titelkupfer des Romans Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch (1669) von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (1621/22–1676) verbildlicht dieses Monstrum (vgl. Grimmelshausen 2005, 10). Das Bild könnte im Sinne des erzählerischen Programms der ,verkehrten Welt‘ gedeutet werden. Während Horaz in seiner Dichtkunst davor warnt, Unpassendes zusammenzufügen, scheint dieser Titelkupfer genau das Gegenteil anzukündigen. Er macht neugierig auf eine Erzählkunst, die sich dadurch auszeichnet, gewisse Erzähllogiken nicht einzuhalten, Unpassendes und Ungereimtes aneinanderzufügen, Überraschungen und Unerwartbares zu bieten. Der Titelkupfer diente dann als Allegorie für ein ästhetisches Verfahren, das Normen in Frage stellen wird. Die Spannung des Bildes besteht darin, dass es auch als Warnung für eine übersteigerte erzählerische Phantasie dienen könnte (vgl. Breuer 1999, 27–29, vgl. Gersch 2004, 48–53). In Horaz’ Dichtkunst ist das Bild eindeutig. Die Warnung vor der Übertretung des aptum zieht sich wie ein roter Faden durch den weiteren Text. Das aptum hat überall zu gelten, sei es auf der syntaktischen Ebene, sei es im Bereich der bildlichen Gestaltung. Die Teile der Sätze sollen zueinander passen, einen durchgehenden Stil aufweisen, wie auch die Bildlichkeit sich nirgendwo ins Phantastische versteigen soll. Horaz spricht ebenso vom aptum, das Schauspieler in ihrer Darstellung auf der Bühne, in ihrer actio, einzuhalten haben (vgl. Horaz, Ars poetica, 99–113). Das aptum gebiete auch, auf dem Theater allzu grausame Szenen nicht zu zeigen (vgl. ebd., 180–188). Um das aptum einhalten zu können, ist „Kunstsinn“ (ebd., 31) nötig: ars. Während Aristoteles’ Poetik affirmativ vorgeht und Anweisungen erteilt, wie, besonders im Falle einer Tragödie, zu dichten sei, wählt Horaz die Unterweisung ex negativo: Er warnt zuerst davor, wie man nicht dichten solle und unterstreicht auf diese Weise, wie schwierig es ist, gut und richtig zu dichten. Anders als Aristoteles nutzt er den Vergleich mit der Malerei, um Fehlerquellen darzustellen. In Horaz’ Dichtkunst findet sich die Formel „ut pictura poesis“ (ebd., 361; vgl. Rhet. ad Her., 4.39). Der Formel liegt die Auffassung zugrunde, dass Dichtung und Malerei in gleicher Weise mimetisch verfahren, nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit nachahmen und darstellen können. Sie hatte lange Gültigkeit und wurde erst in der Frühen Neuzeit durch Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) in aller theoretischen Konsequenz geprüft und verifiziert. Lessing wies in seiner Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) prägnant und nachhaltig auf die unterschiedlichen Möglichkeiten von Dichtung und Malerei hin: auf ihre mediale Differenz.
3. Die ersten Poetiken als Maßstab
Über Aristoteles hinausgehend widmet sich Horaz den Voraussetzungen des Dichtens. Ähnlich wie Cicero den vir bonus als den idealen Redner zeichnet, der Rhetorik und Weisheit miteinander verbindet, setzt Horaz voraus, dass für das ,richtige Schreiben‘, das ,recte scribendi‘, Weisheit, sapientia, nötig sei, ein Gespür für das, was sich im Umgang mit anderen Menschen jeweils geziemt (vgl. Horaz, Ars poetica, 309–316). Voraussetzung ist aber auch ein gewisses Maß an Kunstfertigkeit und technischem Wissen. Das Ideal des poeta doctus klingt an, des gelehrten Dichters, das besonders in der Frühen Neuzeit Konjunktur erlangen wird. Neben allem Wissen aber, so Horaz, dürfe „die poetische Ader“ nicht fehlen (ebd., 410). Natürliche Begabung und Kunstfertigkeit reichen im Idealfall, wie in der Redekunst, einander die Hand (vgl. ebd., 411). Schließlich findet sich eine wichtige Forderung der normativen Poetik, die bei Aristoteles noch nicht so deutlich formuliert wurde. Der Dichter erhält seine gesellschaftliche Legitimation, indem er durch seine Texte ,nützt‘ (prodesse) bzw. belehrt (docere), wobei auch das bloße ,Ergötzen‘ oder ,Unterhalten‘ (delectare) als Wirkungsziel anerkannt wird. Im Idealfall kommt, wie in der Redekunst, beides zusammen (vgl. ebd., 333 f.). Horaz’ Dichtkunst stellt ein lateinisches Pendant zu Aristoteles’ Poetik dar. Während diese aber in einem antiplatonischen Gestus verfasst ist, zieht Horaz’ Text kunstvoll die Summe aus dem Literaturbetrieb seiner Zeit und der eigenen Erfahrung als Dichter. Er nimmt sich weniger abstrakt aus, sondern führt das prodesse und delectare selbst vor und würzt die theoretischen Reflexionen mit anschaulichen Beispielen und bisweilen mit Spott und Ironie. Die beiden Poetiken ergänzen sich insofern auf ideale Weise und werden in Mittelalter und Früher Neuzeit die Stützpfeiler sowohl der Literaturtheorie als auch der literarischen Praxis bilden. Ergänzende Facetten lieferte im 1. Jahrhundert n. Chr. die Schrift Vom Erhabenen (ca. 25–40 n. Chr.), die Longinus zugeschrieben wurde, heute aber als anonym gilt (vgl. Fuhrmann 2003, 162 f.). Die Schrift behandelt die Kategorien des Erhabenen und des Pathos vor allem aus rhetorischer Perspektive, enthält aber wichtige dichtungstheoretische Überlegungen, wobei sie häufig ästhetischen und anthropologischen Diskurs miteinander verschränkt. Sie polemisiert vor allem gegen Dichter des Hellenismus und klagt sie der „Mittelmäßigkeit“ an (Fuhrmann 2003, 201). Sie preist die „genialen Schriftsteller[n]“, deren Dichtung „Größe“ und „Erhabenheit“ auszeichne (vgl. Long., Vom Erh., 36.1). In der Frühen Neuzeit wurde mitunter unter Berufung auf diese Schrift Freiheit vom Regelzwang in der Kunst, Enthusiasmus und echte Ergriffenheit gefordert (vgl. Wels 2009, 306–309).
Die Dichterpersönlichkeit
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VII. Poetik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit 1. Poetik im Mittelalter War die Rhetorik im Mittelalter Bestandteil der sieben freien Künste und neben Grammatik und Dialektik ein Fach im Trivium, so beanspruchte die Poetik eine solche Stellung nicht, war aber mit der Rhetorik eng verknüpft. Dies zeigt sich in den überlieferten Poetiken des Mittelalters. Diese lehren das kunstmäßige Schreiben in Anlehnung an die überlieferte rhetorische Systematik. Die enge Verzahnung von Rhetorik und Poetik zeigt beispielsweise ein Detail in der Pariser Poetik (Parisiana poetria de arte prosaica, metrica et rithmica, nach 1229) des Johannes von Garlandia (1195–1272). Das ,Rad des Vergil‘ (rota Vergilii) nimmt die Idee der Ciceronianischen Dreistillehre auf und macht sie für Prinzipien der Dichtkunst fruchtbar (Abb. 3, von Garlandia 1974, 40).
Abb. 3: Johannes von Garlandia: Rota Vergilii (12. Jh.)
1. Poetik im Mittelalter
Vergil (Publius Vergilius Maro, 70–19 v. Chr.), wie Horaz ein prominenter Vertreter der Augusteischen Klassik, wurde im Mittelalter unter christlichen Vorzeichen rezipiert. Seine Hauptwerke wie die Bucolica (entst. zw. 42 und 39 v. Chr.), Gedichte (Eklogen), die das idyllische Leben auf dem Land preisen, die Georgica (entst. bis 29 v. Chr.), ein Lehrgedicht über den Landbau, und die Aeneis (entst. seit 29. v. Chr.) galten als vorbildlich und wurden als Grundlage für Stilübungen genutzt. Im Rad des Vergil sind diese Texte nicht genannt, aber in dem dreigliedrigen Schema angedeutet: Der niedrige Stil, humilis stilus, wird für die Bucolica verwendet. Der mittlere Stil, der mediocris stilus, findet sich in den Georgica. Der hohe oder pathetische Stil, gravis stilus, ist dem Epos, der Aeneis, vorbehalten. Mit den Stilen sind hier keine wirkungsästhetischen Maximen verbunden, sondern bestimmte Zeichen. Das System sieht von außen nach innen folgende Zuordnungen vor: In einem Text, der im niedrigen Stil (humilis stilus) verfasst ist, begegnen wir als menschlicher Figur dem in Ruhe lebenden Hirten (pastor ociosus), wie in Vergils Georgica Tityrus und Meliboeus. Typische Zeichen seiner Lebenswelt sind das Schaf (ovis), der Hirtenstab (baculus), die Weiden (pascua) und die Buche (fagus). In einem Text, der im mittleren Stil (mediocris stilus) verfasst ist, findet sich der Bauer (agricola), wie in den Georgica Triptolemus als Erfinder des Ackerbaus und Ceres als Göttin des Getreideanbaus, das Rind (bos), der Pflug (aratrum), der Acker (ager) und die Obstbäume (pomus, pirus). In einem Text, der im hohen Stil (gravis stilus) verfasst ist, begegnen wir heldenhaften Soldaten und Herrschern (miles, dominans), wie in der Aeneis Hector und Aiax. Zu diesen gehören Pferd (equus) und Schwert (gladius). Die Handlung spielt in Städten und Kriegslagern (urbs, castrum). Die entsprechenden Pflanzen sind Lorbeer und Zeder (laurus, cedrus). Den jeweiligen Stil bilden die für ihn typischen Zeichen. Der sprachliche Ausdruck (elocutio) muss ihm angepasst sein. Die Ordnung stellt eine theoretische Richtlinie dar, die möglichst im Sinne der Reinheit des jeweiligen Stils eingehalten werden soll. Dichtung und Rhetorik sind eng miteinander verzahnt, indem die seit der Antike bekannte Dreistillehre nicht mehr an Redeanlässe zurückgebunden ist, sondern an die ästhetische Verfasstheit literarischer Texte. Der gewählte Stoff bestimmt die Richtung, nach der sich die Erfindung der Zeichen, die inventio, zu richten hat. Weitere wichtige ,Poetiken‘ des Mittelalters waren die Poetria nova (ca. 1208–1216, vgl. Faral 1958, 27–33) des Galfred von Vinsauf (gest. nach 1210) und die Art poétique (ars versificatoria, ca. 1175, vgl. ebd., 13 f.) des Matthaeus von Vendôme (12. Jh.). Beide interessieren sich für bestimmte Aspekte der rhetorischen Systematik, wie den Möglichkeiten der dispositio (Gliederung) oder der descriptio (Beschreibung), der amplificatio (Ausweitung) oder der abbreviatio (Kürzung). Vor allem ist zu beobachten, dass mittelalterliche Texte die Techniken der Ausweitung und Beschreibung variantenreich ausschöpfen und Dinge und Figuren in allen, vermeintlich auch unwichtigen Details, erzählen und so auch die mittelalterliche Lebenswelt mit erschreiben (dilatatio materiae, vgl. Worstbrock 1985). Besonders wird auch das Feld der elocutio für die Produktion von literarischen Texten fruchtbar gemacht (vgl. Göttert 1998, 143). Die Bedeutung der memoria und actio indes wurde zurückgedrängt. In Anlehnung an Vendômes Poetik ist ars versificatoria zu einem feststehenden Begriff geworden.
Rota Vergilii / Rad des Vergil
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VII. Poetik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit Ars versificatoria
Ars dictaminis (ars dictandi)
Die Poetiken spiegeln die ars versificatoria, wie sie im Mittelalter an den Schulen gelehrt wurde. Strenggenommen handelte es sich dabei um die ,Kunst, Verse zu schmieden‘, wobei aber auch das Verfassen von Prosatexten vermittelt wurde. Die ars versificatoria war ein Bestandteil des schulischen Grammatik- und Rhetorikunterrichts. Als Maßstab galt u. a. Horaz’ Ars poetica. Außerdem begann bereits Aristoteles’ Poetik Aufmerksamkeit zu finden. Der arabische Philosoph Averroës (1126–1198) übersetzte und kommentierte im 13. Jahrhundert zahlreiche Aristotelische Schriften. Sein Kommentar zu Aristoteles’ Poetik wurde übersetzt und wiederum kommentiert. Daneben nutzte man weiterhin die rhetorischen Vorschriften Ciceros oder Quintilians. Die ars versificatoria ist folglich ein Konzept, das Poetik und Rhetorik zusammenführt. Sie stützt sich zudem auf schon vorhandene Handbücher zum Versbau und zur Grammatik, die teils sogar in volkssprachlichen Versionen seit dem frühen Mittelalter erschienen. Den Poetiken lag daran, diesen reichen Fundus an bereits gesammelten Wissen und Vorschriften zu systematisieren, der Unterweisung eine schriftliche Form zu geben, dabei durchaus auch neue Akzente zu setzen und die überlieferten Regelsysteme auszuschreiten. Die Grundlage der ars versificatoria bildete zunächst die formale Unterweisung in den grammatischen Regeln. Der zweite Schritt bestand darin, literarische Texte, die als ästhetisch und inhaltlich vorbildlich galten, allen voran Ovid und Vergil, zu studieren. Deren Texte dienten als Sammlungen von Exempeln für das eigene Schreiben, das in einem dritten Schritt erprobt wurde, der den progymnasmata des Rhetorikunterrichts in der Frühen Neuzeit entsprach. Die ars versificatoria lehrte vor allem, kleinere Vers-, und Prosatexte zu verfassen, vermittelte aber auch Regeln für die Predigtlehre, die ars praedicandi, für die schließlich eigene Lehrbücher entstanden (vgl. Kap. III. 1), und für die sogenannte ,Brieflehre‘ bzw. ,Briefstellerei‘, die ars dictaminis. Die ars dictaminis hatte vor allem pragmatische Prosatexte zum Gegenstand. Ihre Entstehung ist kulturgeschichtlich auf den Aufbau der städtischen Verwaltungen und des Kanzleiwesens zurückzuführen. Die erforderlichen Sekretäre und Notare benötigten Anweisungen, auf welche Weise bestimmte Schriftstücke zu verfassen waren. Notwendig wurde eine juristische Verwaltungs- und Urkundensprache. Die ars dictaminis gab für diese Sprache und für den Aufbau von Briefen Regeln und Formeln vor. Dafür war die rhetorische Systematik hilfreich (vgl. Camargo 1991, 19), denn auch bei einem Brief ist zu beachten, wer der Adressat ist und zu welchem Zweck der Brief verfasst wird. Briefsteller setzten für die jeweiligen Anlässe Begrüßungsformeln (salutatio) und Anfänge fest (exordium). Sie empfahlen, wie die Gunst des jeweiligen Adressaten zu erlangen (captatio benevolentiae) und der Sachverhalt zu erläutern sei (narratio). Sie lieferten Muster für die Formulierung einer Bitte (petitio) und eines Abschlusses (conclusio). Ästhetisches Kriterium war die Angemessenheit (aptum). Welche sprachlichen Mittel jeweils empfohlen wurden, hing in der stark hierarchisierten Gesellschaft des Mittelalters vom jeweiligen Rang des Adressaten ab. Wie in der mündlichen Redekunst bestand das Ziel darin, den Adressaten eines Briefes von einer Sache zu überzeugen. Wie im Falle der ars versificatoria wurde die ars dictaminis anhand von kompletten Musterbriefen erlernt. Aus Frankreich ist der Libellus
1. Poetik im Mittelalter
de arte dictandi rhetorice (1181–1185) von Peter von Blois überliefert. In Deutschland verfasste Bernard von Meung die Flores dictaminum (ca. 1190), die vermutlich Galfred von Vinsauf zu seiner Summa de arte dictandi (1190) inspirierten. Das europaweit einflussreichste Werk wurde die Summa dictaminis (1228/29) von Guido Faba. Im Laufe der Zeit entstanden auch volkssprachliche Anleitungen. Im 15. Jahrhundert entstanden in Deutschland Schriften in deutscher Sprache, die sich als ,Rhetoriken‘ bezeichnen. Diese zielten aber nicht auf das Reden im öffentlichen Raum, sondern sie schrieben in deutscher Sprache jene ars dictaminis aus, die seit dem 12. Jahrhundert entstanden war (vgl. Knape/Roll 2002, 15). Zu nennen wären etwa die Nördlinger Rhetorik (1427), die Neue Rhetorik des Friedrich von Nürnberg aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die auch auf Latein erschien (Rhetorica nova), sowie die anonyme Ingolstädter Briefrhetorik (1481). Eine erste „Gesamtrhetorik“ (Knape 2000b, 207) in deutscher Sprache stellt schließlich Friedrich Riederers (*um 1450) Spiegel der waren Rhetoric (1493) dar. Riederer legt einen Schwerpunkt auf die ars dictaminis, geht aber in seinen einzelnen Teilen weit über diese hinaus, wobei er sich vor allem an Cicero orientiert. Wo er künstlerische „Prinzipien der Vertextung“ (ebd., 229) erörtert, wird die Literarisierung der Rhetorik offensichtlich. Diese Briefsteller reagierten auf soziale Bedürfnisse und Erfordernisse der Alltagskommunikation, die vor allem in den neu entstehenden Kanzleien und Verwaltungen stets komplexer wurde. Gefördert wurde die Briefkultur in Deutschland zum einen dadurch, dass die frühneuhochdeutsche Sprache bereits seit dem 13. Jahrhundert als „Urkundensprache“ (Barner 2002, 157) genutzt wurde, zum anderen durch die „Einführung des Papiers als Medienmaterial“ (Knape/Roll 2002, 17) und den Buchdruck in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Es eröffneten sich neue Möglichkeiten der strukturierten „Distanzkommunikation“, für die der Brief zum „Inbegriff“ (ebd., 16) wurde und der sich die Briefrhetoriken anpassten. Neue Verkehrswege und Postverbünde entstanden. Hand in Hand mit dieser Entwicklung ging die rasante Entwicklung des Verlagswesens, der Grundlage der literarischen Produktion. Schließlich verzeichnet die Renaissance eine Reihe von Poetiken, die in der Tradition der ars dictaminis stehen und sich an den klassischen Arbeitsschritten einer Rede orientieren. Relevant sind inventio, dispositio und elocutio. Memoria und actio werden mithin entbehrlich und oft nicht genannt (vgl. Plett 2004, 91). Zu nennen wären Jacques Peletier du Mans (1517–1582) Art poétique (1555), Pierre de Ronsards (1524–1585) Abrégé de l’Art poétique français (1565) oder Pierre de Laudun d’Agaliers (1575–1629) L’Art poétique françois (1597). Diese Poetiken weisen einerseits auf die enge Allianz zwischen Rhetorik und Poetik hin, andererseits auf ihre Differenz, die man darin sah, dass die Rhetorik die ungebundene Sprache (oratio soluta) zum Gegenstand hat, die Poetik die gebundene in Versen (oratio ligata, vgl. ebd., 89). Diese Aspekte kehren in den Poetiken des 17. Jahrhunderts wieder, die weiterhin ihre Verankerung in der rhetorischen Tradition beweisen, jedoch die Dichtkunst auch als eigenständiges und besonderes Feld betrachten.
Renaissancepoetiken
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2. Poetik im 17. Jahrhundert
Sprachpflege als Voraussetzung für Dichtung
Humanismus und Reformation haben eine reiche volkssprachige Literatur hervorgebracht. Das Lateinische war noch weit bis ins 17. Jahrhundert hinein diejenige Sprache, die in Kunst und Wissenschaft dominierte. Der Unterricht in Schule und Universität fand auf Latein statt. Es diente als Kommunikationsmedium über die Landesgrenzen hinweg. Innerhalb der europäischen gelehrten Zirkel verständigten sich die Mitglieder vorzugsweise auf Latein. Die protestantischen Gelehrtenschulen und die Jesuitenkollegien bildeten den Typus des gelehrten Dichters aus, des poeta doctus, der auf der Basis eines lateinischen Rhetorikunterrichts grundsätzlich lateinische Texte verfasste, sich aber häufig auch der deutschen Sprache bediente. Martin Opitz (1597–1639), ein prominentes Mitglied der europäischen ,Gelehrtenrepublik‘, der res publica literaria, der ein umfangreiches Oeuvre sowohl in lateinischer, als auch in deutscher Sprache hinterließ, lieferte mit seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624), dem ersten Poetiklehrbuch in deutscher Sprache, eine programmatische Initialzündung für eine nationalsprachliche Dichtung. Etliche Aspekte sind aus der Rhetorik übernommen und werden auf die Dichtung, in erster Linie auf die Form der gebundenen Rede in Versen (oratio ligata), übertragen (vgl. Dyck 1969). Eine zukünftige deutsche Literatur sollte sich dadurch auszeichnen, dass sie mit den bereits angesehenen Literaturen der anderen europäischen Länder mithalten konnte. Nun hatte Aristoteles’ Poetik seit der Renaissance vor allem in Kommentaren eine reiche Rezeption erfahren. Wichtig für die Aristoteles-Rezeption im 17. Jahrhundert waren die Poetices libri septem / Sieben Bücher über die Dichtkunst (1561), eine kommentierende Übersetzung von Julius Caesar Scaliger (1484–1558), sowie der Aristotelis de poetica liber / Über Aristoteles’ Poetik (1611), ein Kommentar von Daniel Heinsius (1580–1655, vgl. Zeller 2002). Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey liefert inhaltlich nur wenige neue Akzente und ist vor allem kein Ausweis einer dezidierten Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Poetik, die jedoch, wie auch Horaz’ Ars poetica, als unbestrittene Autorität im Raum steht. Es handelt sich vor allem um einen kulturpolitischen Akt, der die deutsche Sprache als Literatursprache ins Bewusstsein rückte, deren Gebrauch zudem in Zeiten des verheerenden Dreißigjährigen Krieges (1618–1648, vgl. Kaminski 2004) und der Zersplitterung des Landes in Fürstentümer sowie regionalsprachlicher Unterschiede die Einheit Deutschlands befördern sollte. Bereits einige Jahre zuvor hatte Opitz in seiner wohl ursprünglich als Rede verfassten Schrift Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae / Aristarch oder wider die Verachtung der deutschen Sprache (1617, vgl. Robert 2004, 286) einen Appell lanciert, die deutsche Sprache zu pflegen. Benannt ist die Schrift nach Aristarchos von Samothrake (ca. 217–145 v. Chr.), Grammatiker, Philologe und Direktor der berühmten Bibliothek von Alexandria. Ein idealer Vertreter der Pflege und Wertschätzung der Philologie ist Aristarch als Opitz’ Sprachrohr zu verstehen. Bemerkenswerterweise ist die Schrift auf Latein verfasst – ein Umstand, der paradox erscheint, geht es doch darum, der deutschen Sprache Aufwind zu verschaffen. Jedoch bilden die lateinische Sprache und ihr Verfall, sichtbar in Normverstößen des neulateinischen Schrifttums, „die Folie für den perhorreszierten Verfall des
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Deutschen“ (ebd., 292; vgl. Kühlmann 1982, 263–265), dessen Verachtung Opitz entgegenwirken will, um einer nationalsprachlichen Dichtung eine geordnete Basis zu sichern. In diese Richtung wandten sich auch die Bemühungen der zahlreich entstehenden Sprachgesellschaften, etwa der vermutlich 1617 gegründeten Fruchtbringenden Gesellschaft, deren Mitglied Opitz später wurde. Im Aristarch macht Opitz für seine Argumentation das aus der antiken Rhetorik bekannte Gebot der Sprachreinheit bzw. Sprachrichtigkeit (latinitas/puritas) fruchtbar. Er lobt die germanische Sprache als eine „edle, vornehme Sprache“ (Opitz 2005, 78). Von den Franzosen und Italienern sei zu lernen, wie man die eigene Sprache unverfälscht und rein erhalte um das „Ansehen“ (ebd., 81) des eigenen Landes zu bewahren und zu befördern. Opitz sucht, wie die antike Rhetorik, den Anschluss an die Ethik und nutzt selbst eine metaphorisch effektvolle Sprache, um zu überzeugen. Er appelliert an „alle wohlgesinnten Deutschen“, die eigene „schöne Sprache“ zu schützen, die derzeit „durch ein Gewand“, das ihr nicht passe, „geschändet und entstellt“ sei (ebd., 83). Die eigene Sprache, die sich aus anderen Sprachen Worte leiht, vergleicht er mit einer Jungfrau, die ein Kleid trägt, dessen Einzelteile nicht miteinander harmonieren, das Anleihen macht bei der französischen, der spanischen, der römischen und der athenischen Mode, so dass nichts mehr zusammenpasst und überall gegen die Angemessenheit (aptum) verstoßen werde (vgl. ebd., 83 f.). Angemessenheit auf der Basis von Sprachreinheit aber sieht Opitz als die grundlegende Voraussetzung für eine Literatur, die mit denen anderer europäischer Ländern konkurrieren kann. Bei dem Aristarch handelt es sich nicht um eine Poetik, aber die Schrift macht deutlich, welche Voraussetzungen für das literarische Schreiben vorerst geschaffen sein müssen: Hochschätzung und Pflege der eigenen Sprache. Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey ist vor allem ein Manifest, das, aus rhetorischer Perspektive gelesen, Aufmerksamkeit erregen (attentum parare) und davon überzeugen (persuadere) will, dass es kulturpolitisch notwendig ist, eine nationalsprachliche Dichtung auf einer geregelten Grundlage zu fördern. Geschickt sucht Opitz den Schulterschluss mit der politischen Öffentlichkeit und stellt eine Widmungsvorrede an die Bürgermeister und Ratsherren seiner Heimatstadt Bunzlau voran. In dieser wirbt er zunächst um Wohlwollen (captatio benevolentiae) für die Tätigkeit des Dichtens generell, um dann sein Unternehmen mit seiner Liebe zum Vaterland zu begründen, das durch ihn „bekandter“ werden möge (Opitz 2005, 9). Die ersten vier der insgesamt acht Kapitel des nun folgenden, eigentlichen Buches von der Deutschen Poeterey enthalten keine normativen Vorgaben im engeren Sinne, sondern erörtern Entstehung und Bedeutung der Dichtkunst, die Stellung des Dichters in der Gesellschaft und die Notwendigkeit einer Dichtung in deutscher Sprache. Das fünfte und sechste Kapitel erläutern Prinzipien des Schreibens vor dem Hintergrund der rhetorischen Systematik. Das siebte Kapitel widmet sich metrischen Fragen und entwirft, in enger Anlehnung an Scaliger, eine Gattungssystematik. Das letzte Kapitel wirbt noch einmal für die Dichtung als „goettliche[n] wissenschafft“ (ebd., 74) und klärt ihre generellen Voraussetzungen. Die Bezeichnung ,goettliche wissenschafft‘ zum Abschluss des Buches weist der Dichtung einen außerordentlichen Stellenwert zu. Bereits die ersten
Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey
Ideal des Dichters
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Rhetorik im Dienst der Poetik
Kapitel stellen das Dichten als etwas Besonderes dar, in dem es nur wenige zur Meisterschaft bringen. Opitz betont direkt zu Beginn, dass „gewisse regeln vnd gesetze“ noch nicht den Dichter machen (ebd., 13). Er spinnt die Fäden bis zurück zu Platon und betont, dass die Dichtung ursprünglich eine „verborgene Theologie“ gewesen sei (ebd., 14). Opitz’ Dichterpersönlichkeit erhält sowohl Konnotationen des platonischen Dichtersehers (vates), der Zugang zu den ewigen Wahrheiten besitzt, als auch des Ciceronianischen tugendhaften Redners (vir bonus), der auf der Basis von Begabung und Wissen redet bzw. schreibt und sich in der Gesellschaft vorbildlich verhält. Hatte die Dichtkunst im Mittelalter innerhalb der sieben freien Künste keinen eigenen Ort, so wird sie hier als ein synthetisierendes Medium profiliert. Die „Poeterey“ halte „alle andere kuenste vnd wissenschafften in sich“ (ebd. 17). Opitz zeichnet das Ideal des poeta doctus, der, wie der vir bonus, einerseits ein hohes Maß an Kenntnissen mitbringen muss, andererseits diese Kenntnisse ohne Begabung und Inspiration nicht für seine Kunst fruchtbar machen kann. Das gute Dichten zeigt sich wie das gute Reden im ingenium als der äußerst komplexen Fähigkeit, die vorgegebenen Regeln nicht nur zu kennen, sondern sie auch klug und angemessen anzuwenden und bei der produktiven Nachahmung (imitatio) anerkannter, vor allem antiker, Vorbilder Spielräume auszuschreiten (vgl. Grimm 1983b, 150). Der Dichter muss „hohe sachen bey sich erdencken koennen / soll anders seine rede eine art kriegen / vnd von der erden empor steigen“ (Opitz 2005, 18). Diese ersten Kapitel zielen darauf ab, die Bedeutung des literarischen Schaffens im Rückgriff auf Traditionen zu stärken und ihm zugleich eine fast visionäre Funktion zu verleihen. Zentrale Vorgaben aus Aristoteles’ und Horaz’ Poetiken bzw. aus der Rhetorik bleiben erhalten: Dichten ist Nachahmung (Mimesis) dessen, was geschehen könnte oder sollte, sie dient „zue vberredung vnd vnterricht auch ergetzung der Leute“ (ebd., 19; persuadere, docere, delectare). Die Dichter in Deutschland ermahnt Opitz, sich der literarischen Traditionen bewusst zu sein. Besonders die Kenntnis der lateinischen und der griechischen Literatur erachtet er als unhintergehbare Grundlage für die eigene nationalsprachliche Dichtung (vgl. ebd., 25). Besonders im fünften und sechsten Kapitel zeigt sich, in welch hohem Grade Opitz’ Poetik den Anschluss an die rhetorische Systematik findet. Der erste Arbeitsschritt des Dichtens korrespondiert mit demjenigen des Redens. Das fünfte Kapitel handelt „von der invention oder erfindung / vnd Disposition oder abtheilung der dinge“ (ebd., 26). Die Poesie, so Opitz, agiere in diesen Punkten wie die „Rednerkunst“ (ebd.). Inventio und dispositio sind jeweils abhängig vom ,Redeanlass‘, hier entsprechend von der jeweiligen Gattung. Ein heroisches Gedicht oder Epos verlangt eine andere Materie, andere Zeichen und eine andere Aufteilung als etwa eine Komödie oder Hirtenlieder (Eklogen). Stellt Aristoteles’ Poetik besonders die Tragödie ins Zentrum, so werden hier die einzelnen Gattungen (u. a. Epos, Tragödie, Komödie, Satire, Epigramm, Ekloge, Elegie, Hymne) nur knapp abgehandelt. Das sechste Kapitel widmet sich vor dem Hintergrund des Ideals der Angemessenheit Fragen des Ausdrucks, der elocutio. Die Ciceronianische Dreistillehre wird, ähnlich wie in der rota Vergilii, auf die literarischen Gattungen appliziert (vgl. ebd., 43). Wie im Aristarch plädiert Opitz unter Verwendung von zahlreichen Beispielen für Sprachreinheit (puritas), „reinligkeit der
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reden“ (ebd., 39), Verwendung des „Hochdeutsch[en]“ (vgl. ebd., 35), d. h. der Kanzleisprache, Vermeidung von Fremdwörtern und Deutlichkeit (perspicuitas). Man soll sich „fuer alle dem hueten / was vnsere worte tunckel vnd vnverstendtlich macht“ (ebd., 39), vor dem Fehler der obscuritas. Poetik und Rhetorik werden deckungsgleich, wenn Opitz erklärt, dass er auf eine ausführliche Darlegung der Tropen und Figuren verzichte, weil die Lateiner dazu bereits alles gesagt hätten, das man nachlesen könne (vgl. ebd., 41 f.). Das Studium der antiken Rhetoriklehrbücher setzt er als selbstverständlich voraus. Sie liefern das wesentliche Handwerkszeug für die literarische Rede der Dichter. Als Kernstück und als zentrale Neuerung des Buches von der Deutschen Poetery gelten Aspekte der metrischen Erörterungen im siebten Kapitel. Hier fordert Opitz für Gedichte die alternierenden Versfüße Jambus oder Trochäus und die Berücksichtigung des natürlichen Wortakzents der deutschen Sprache (vgl. ebd., 52). Opitz hat gesehen, dass die lateinische Lyriksprache auf einem hochkomplexen metrischen System beruht, das nicht ohne Weiteres auf die deutsche Sprache übertragbar ist. Tatsächlich bildeten seine Vorgaben einen wesentlichen Beitrag zur „Reform der Literatursprache“ (Meid 2009, 111), auch wenn sich mit der Zeit andere Metren ebenfalls durchsetzten. Beispielsweise legitimierte August Buchner (1591–1661), Professor der Poetik in Wittenberg, bereits um 1638 in seinen Vorlesungen die Verwendung des Daktylus wie diejenige seines metrischen Spiegelbildes, des Anapäst. Das Buch von der Deutschen Poeterey, das allein im 17. Jahrhundert dreizehn Auflagen erfuhr, gab den Startschuss für eine Fülle von Poetiken in deutscher Sprache, die sich zunächst an Opitz orientierten, ihn produktiv rezipierten, aber auch eigene Wege gingen. Sie etablierten sich im Laufe des 17. Jahrhunderts als eine eigene „Textsorte“ (Wesche 2004, 165; vgl. Grafik ebd., 164: Grimm 1983b, 281–295). Bis zum Jahre 1730 erschienen vermutlich etwa 60 an der Zahl. Von diesen seien im Folgenden nur die bekanntesten genannt: Philipp von Zesens (1619–1689) Hoch-deutscher Helikon (1640–1656), Justus-Georg Schottelius’ (1612–1676) Teutsche Sprach-Kunst (1641), Georg Philipp Harsdörffers (1607–1658) Poetischer Trichter (1647–1653), August Buchners (1591–1661) Anleitung zur Deutschen Poeterey (1665), Sigmund von Birkens (1626–1681) Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst (1679) oder Christian Weises (1642–1708) Curiöse Gedancken von Deutschen Versen (1692). Die Poetiken reagieren aufeinander und widmen sich jeweils anderen Schwerpunkten. Manche stellen dezidiert sprachgeschichtliche und grammatikalische Überlegungen oder ins Detail gehende metrische Erörterungen an. Insgesamt dokumentieren sie weiter die Verankerung in die nachgezeichneten Traditionslinien, wobei sie aber auch Spezifizierungen vornehmen. Beispielsweise weist Harsdörffer in seinem Poetischen Trichter dem Dichter vor jenem „Redner“, der „hohe und prächtige Wort“ nutzt, um den Zuhörer zu ,bereden‘, eine besondere Stellung zu, weil er nicht nur „verstanden“ werden, sondern auch „belustigen“, unterhalten und erbauen wolle (Harsdörffer 1971, Erster Theil, 4). Dies leistet er anders als ein Redner durch seine spezifische Kunstfertigkeit, die darin besteht, eine „gebundene Rede“ zu verfassen (ebd.). Harsdörffer vergleicht den Dichter mit einem Gold-
Versreform
Poetiken nach Opitz
Eigenart der Dichtkunst
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Theorie und Praxis
schmied, der sein Material durch seine spezielle Bearbeitung zur höchsten Entfaltung bringt (vgl. ebd.). Eine Grundlage dieser Bearbeitung liefert zwar die rhetorische Systematik, die jedoch keine Handreichung dafür gibt, wie Verse geschmiedet werden. Im dritten Teil Prob und Lob der Teutschen Wolredenheit empfiehlt Harsdörffer dem angehenden Redner sogar, sich bei den Schriften der Poeten Anregungen zu verschaffen, da hier „der reinste Saft“ der Sprache zu finden sei (ebd., Dritter Theil, 54). Die besonderen Möglichkeiten der poetischen Sprache sieht Harsdörffer im Bereich des uneigentlichen Sprechens, der Bildlichkeit, der Findung von Metaphern, Allegorien und Gleichnissen. Das erklärte Ziel der Erbauung hat zur Folge, dass er zwar am Ideal des poeta doctus festhält, allerdings unterstreicht, dass der Dichter mit seinem Wissen vorsichtig umgehen und es in seinen Gedichten nicht ausstellen solle, da die Wissenschaften „sehr schwer“ seien und man als Dichter „liebliche / und leichte Haendel wehlen“ solle (ebd., Erster Theil, 5). Dabei soll der Dichter selbstverständlich auch nutzen (prodesse) und vor allem darauf achten, mit seinen Schriften „niemals wider Gott“ zu handeln (ebd., 7). Das Dichten im Dienste des christlichen Glaubens profiliert in noch stärkerem Maße Birkens Rede- bind- und Dicht-Kunst. Birken leitet die Herkunft der Dichtkunst aus den biblischen Erzählungen ab und erklärt den Propheten Moses zu einem der ersten Poeten (vgl. Birken 1973, Vor-Rede, unpag., Kap. 5). Der Ursprung der Poesie liegt in den Liedern, die zu Ehren Gottes gesungen wurden. Birken bringt das Ziel seiner Poetik auf den Punkt: „Gegenwaertige Poesy-Anweisung / zielet auf der [sic] frommen Zweck / daß diese Edle Kunst zur Ehre dessen / von dem sie einfliesset / moechte verwendet werden“ (ebd., Kap. 25). Unverkennbar ist der Einfluss der platonischen Inspirationstheorie unter christlichen Vorzeichen. Durch die geistlichen Lieder, die Birken selbst als Exempla anführt, sollen die Leser „zur Andacht angefeuret“ werden (ebd.). Ließe sich eine Nähe zur Predigtkunst (ars praedicandi) stiften, so unterscheidet Birken, wie Harsdörffer, das Dichten von der Redekunst wie von der Prosa und erläutert den vielleicht etwas missverständlichen Titel seiner Poetik Rede- bind- und Dicht-Kunst. Diese gibt Anweisungen für das „Redgebaende“, das heißt für die schriftlich verfasste Rede in Versen, die oratio ligata (ebd, Kap. 26). Birken sieht, dass die Rhetorik eine Grundlage der Dichtkunst bildet, aber ihrer Eigenart als gebundener Rede in Versen nicht Rechnung trägt. So tritt die Dichtkunst aus dem Schatten der Rhetorik heraus und beansprucht eine eigene vollgültige Stellung im System der Künste und Wissenschaften. Die Poetiken etablierten sich als eigene Textsorte und agierten untereinander Positionen aus. Beispielsweise werden Spielräume und „Normierungslücken“ (Wesche 2004, 169; Hervorh. im Text; vgl. Barner 2000), die manche Poetiken offen lassen, von anderen geschlossen, die aber wiederum neue Spielräume erschließen. Die Poetiken halten oft lediglich „Rahmenrichtlinien“ (Stockhorst 2008, 2) bereit und formulieren bestimmte normierende Vorgaben, gerne mit dem Hinweis auf die vorauszusetzende Kenntnis vor allem der antiken Literatur, nur sehr vage. Die antike Literatur konnte außerdem keine ausreichenden Beispiele liefern, die den theoretischen Bedarf des stets komplexer werdenden literarischen Feldes hätte abdecken können. Eine diffizile Frage lautet, in welchem Verhältnis diese teils aufwendig kon-
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zipierten und umfangreichen Poetiken des 17. Jahrhunderts zur literarischen Textproduktion in engerem Sinne stehen, inwiefern die Literatur ihre Vorgaben erfüllt und wie sie ebenfalls Spielräume ausschreitet bzw. eröffnet. Zu vermuten ist, dass zum einen die Literatur ihrer Theorie weit voraus ist, zum anderen ihrerseits auf Lücken der Theoriebildung aufmerksam macht, auf die die Poetiken reagieren. Auch ist davon auszugehen, dass die Literatur selbst normierende Funktion besaß, vermutlich in Teilen eine tragfähigere als die Poetiken selbst, da sie es war, die die Exempla lieferte. Dies gilt nicht nur für die antike Literatur, deren Kenntnis vorausgesetzt wurde, sondern auch für die literarischen Produktionen des 17. Jahrhunderts, die, wie diejenigen Opitz’ oder Gryphius’, schon bald Vorbildfunktion beanspruchen durften.
3. Poetik und Literaturkritik im 18. Jahrhundert In ihren Anfängen konstituierte sich die Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts einerseits im produktiven Rückgriff auf die antiken Poetiken, andererseits in Abgrenzung zur Literatur des 17. Jahrhunderts, der man literarischen Schwulst und Manierismus vorwarf. Besonders wegen der Tendenz zu einer ausufernden und artistischen Bildlichkeit, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu beobachten ist, geriete die Barockliteratur aus der Sicht des aufklärerischen Vernunftspostulats Barockliteratur in Misskredit. Die Kenntnis der antiken Literatur galt weiter als Rüstzeug für das gute Schreiben, allerdings nicht mehr vorbehaltlos. Hochschätzung erfuhren die französischen Klassizisten Pierre Corneille (1606–1684) und Jean Baptiste Racine (1639–1699). Die wichtigsten Literaturtheoretiker der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Johann Christoph Gottsched (1700–1766) und Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), setzten in Auseinandersetzung mit den Traditionen und den zeitgenössischen Herausforderungen jeweils eigene Akzente. Sie lieferten die Maßstäbe für die Literaturkritik, die sich im 18. Jahrhundert in eigenen Rezensionsorganen institutionell etablierte (vgl. Anz/Baasner 2007, 35 f.). Sie selbst gehen bisweilen in schonungsloser Weise urteilend und wertend vor, um ihren eigenen Standpunkt zu stärken. Im Jahre 1730 erschien die wirkungsmächtige Programmschrift Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen des Leipziger Professors für Poesie und Beredsamkeit Johann Christoph Gottsched, der selbst literarisch außerordentlich produktiv war. Bereits bis 1751 erlebte sie vier Auflagen. Der umtriebige Reformer gab außerdem die Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit heraus (1732–44) und verfasste die Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst (1748). Eigene Stücke, wie Sterbender Cato (zuerst ersch. 1732), aber auch Übersetzungen und andere Dramen, die als Muster dienen sollten, publizierte er in der Deutschen Schaubühne (1740–45). Seine umfangreiche Critische Dichtkunst ist ein rhetorisch eindringliches Manifest regelpoetischer Vorgaben, das zeigt, wie sehr Gottsched daran gelegen war, die deutsche Literatur im Geist der aufklärerischen Ideale neu zu beleben. Allerdings stellt Gottsched eine eigene Übersetzung von Horaz’ Ars poetica voran und bekennt sich zu deren Maxime, dass Dichtung nutzen bzw. belehren und Vergnügen be-
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Ursprung der Dichtung
Dichten nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit
reiten solle, wobei die Aufklärung dem lehrhaften Aspekt von Literatur einen außordentlichen Stellenwert zuwies. Die Critische Dichtkunst selbst ist in zwei Teile untergliedert. Der Beginn des ersten allgemeinen Teils ähnelt im Aufbau Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey. Im Unterschied zu anderen Autoren des 17. Jahrhunderts schätzte Gottsched Opitz außerordentlich. Ihm widmet er 1739, zum 100. Todestag, eine Gedächtnisrede und lobt ihn als den „Vater[s] unsrer Dichtkunst“ (Gottsched 1998, 237). Wie Opitz stellt Gottsched zunächst Überlegungen zur Entstehung der Dichtung und zur Person des idealen Dichters an. Bemüht werden neben den antiken Gewährsmänner u. a. Nicolas Boileaus (1636–1711) für die französische Klassik maßgebliche L’Art póetique (1674). Es folgen Ausführungen zum Wunderbaren und zum Wahrscheinlichen in der Poesie sowie Kapitel, die sich ausführlich mit Fragen der elocutio beschäftigen. Beispielsweise trägt das achte Hauptstück den Titel Von verbluemten Redensarten und das zehnte Von den Figuren in der Poesie. Im elften Kapitel Von der poetischen Schreibart zeigt sich Gottsched als Vertreter der Ciceronianischen Dreistillehre (vgl. Gottsched 1973a, Teil 1, 432). Der zweite besondere Teil widmet sich den einzelnen Gattungen, Oden, Liedern, äsopischen Fabeln, Heldengedichten, der Tragödie und Komödie, Elegien u. a. Besondere Wertschätzung erfahren die Fabeln, denn sie erfüllen die Maxime des Lehrens und Unterhaltens auf vorbildliche Weise. Sie eignen sich „sonderlich dazu, um die an sich bittern Lehren gleichsam zu verzuckern“ (Gottsched 1973a, Teil 2, 428). Diesen besonderen Teil nutzt Gottsched auch in erheblicher Weise dazu, seine eigenen literaturgeschichtlichen Kenntnisse auszustellen. Er zeigt sich selbst allerorts als äußerst belesener Kritiker, der fähig ist, das Gelesene angemessen zu beurteilen. Der erste allgemeine Teil erläutert die Präliminarien einer Dichtkunst im Zeichen des frühaufklärerischen Rationalismus. Ähnlich wie Aristoteles leitet Gottsched, als Vertreter der zweiten Aufklärung, den Ursprung der Dichtung aus der Natur des Menschen ab. Die Dichtkunst habe „ihre erste Qvelle in den Gemuethsneigungen des Menschen“ (ebd., Teil 1, 115). Er polemisiert gegen die alte platonische Lehrmeinung, die der Poesie aus Aberglauben einen „heiligen Ursprung“ gebe (ebd., 130). Den Enthusiasmus platonischer Provenienz, der das Bild eines bewusst- und vernunftlosen Dichters entwirft, ist mit Gottscheds aufklärerischem Vernunftpostulat nicht vereinbar. Sich auf Aristoteles berufend, definiert Gottsched Dichtung als „Nachahmung der Natur“ (ebd., 141) und leitet daraus die Regel ab, dass Dichtung wahrscheinlich sein müsse. Wenn die Dichtung die Natur zum Vorbild nimmt, folgt konsequenterweise, dass sie dem Gebot der Wahrscheinlichkeit gehorcht. Gottscheds Critische Dichtkunst begründet ihre ästhetischen wie anthropologischen Annahmen durch impliziten Rekurs auf die zeitgenössische Philosophie. Dreh- und Angelpunkt ist der Naturbegriff des frühaufklärerischen Rationalismus, der wesentlich von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Christian Wolff (1679–1754) geprägt wurde. Natur ist demnach in ihrem Idealtyp vernünftig. Sie funktioniert aufgrund von kausallogischen Regeln, die von den neuen Wissenschaften beobachtet werden können. Sie ist berechenbar nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit. Das Vernünftige ist einsehbar und geschieht aus nachvollziehbaren Gründen.
3. Poetik und Literaturkritik im 18. Jahrhundert
Da in der Natur alles, was geschieht, seinen zureichenden Grund hat, so ist auch die sie nachahmende Dichtung für den Menschen nachvollziehbar. Indem sie den Regeln der vernünftigen Wahrscheinlichkeit gehorcht, ist sie imstande, die Menschen zu belehren. Hier gibt das Kriterium der Wahrscheinlichkeit dem Ideal der Angemessenheit (aptum) einen wichtigen Rahmen vor. Gottscheds ideale Dichterpersönlichkeit ist entsprechend konturiert. Der Dichter ist „geschickter Nachahmer aller natuerlichen Dinge“ (Gottsched 1973a, Teil 1, 147), wobei er, wie Aristoteles vorschreibt, vom Geschichtsschreiber zu unterscheiden ist. Zwar soll er „Phantasie“ besitzen, die aber „durch eine gesunde Vernunft“ zu mäßigen sei (ebd., 158), damit seine Kunst die Regeln der Wahrscheinlichkeit einhält. Gottsched nutzt diese Ausführungen immer wieder zu literaturgeschichtlichen und -kritischen Ausflügen und findet zahlreiche Autoren, die die „Schranken der Vernunft“ (ebd.) überschritten hätten, unter ihnen der in der Barockzeit hochgeschätzte Lucius Annaeus Seneca (ca. 1–65 n. Chr.) sowie Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679) und Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683), die „ihr Feuer nicht allemal zu maeßigen“ wussten (ebd., 159). Neben dieser typisch aufklärerischen Konnotation stattet Gottsched seinen idealen gelehrten und zugleich moralisch integren Dichter mit den aus den antiken Diskursen bekannten Facetten des poeta doctus aus. Im Sinne eines aufklärerischen Optimismus, der der Erziehung des Menschen einiges zutraut, weist er dem Anteil der Fleißes und der Übung im Kunstschaffen jedoch einen etwas höheren Stellenwert zu als seine Vorgänger. Zwar müsse ein Dichter „eine starke Einbildungskraft, viel Scharfsinnigkeit und einen großen Witz schon von Natur besitzen“ (ebd., 152), allerdings bedürften diese Fähigkeiten der „Anführung“ (ebd., 153). Ohne diese sei aller „Witz“ nur „ein ungebautes Feld, das nur wilde Pflanzen“ hervortreibe, „ein selbst wachsender Baum, der nur ungestalte Aeste und Reiser hervorsprosset“ (ebd.). Gottsched zeigt in der Wahl seiner Metapher selbst sein rhetorisches Geschick und seinen ,Witz‘, hier eine Fähigkeit des Verstandes, die sinnreiche Bilder und Vergleiche findet, diesen aber Grenzen setzt, damit sie nicht unglaubwürdig wirken. Gewährt der ,Witz‘, dass die Grenzen des aptum eingehalten werden, so ist er auch Ausweis des „guten Geschmack[s]“ (ebd., 169), der kein subjektiv je individuelles Vermögen darstellt, sondern die Fähigkeit, richtig zu urteilen, das heißt im Rahmen der „logischen Regeln“, die von der „Vernunftlehre“ vorgegeben sind (ebd., 170; vgl. Grimm 1983b, 662–665). Das Kriterium der Wahrscheinlichkeit schließt das Wunderbare in der Poesie nicht aus, das u. a. ein besonderes Kennzeichen der Fabel ist, in der beispielsweise sprechende Tiere auftreten. Das Wunderbare wird anerkannt, insofern es „nicht ungereimt“ ist und „ein allegorischer Verstand darunter verborgen liegt, den ein jeder leicht finden kann“ (Gottsched 1973a, Teil 1, 242). Das uneigentliche Sprechen gilt Gottsched zwar als eine Essenz der Dichtung, aber er plädiert dafür, entlegene und rätselhafte Bilder und Vergleiche zu vermeiden, da sie die Sinne vernebeln und trügen. Von diesem Standpunkt aus rügt er die Praktiken, die zu seiner Zeit auf den Opern- und Theaterbühnen üblich waren, etwa den Einsatz aufwendiger Maschinerien, die seltsame Erscheinungen und Verwandlungen zugunsten des Effekts vorführten. In den Ausführungen zum Wunderbaren und zum
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VII. Poetik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit
Kritik an der Antike
Bodmer und Breitinger
Wahrscheinlichen klingt die Warnung an, sich davor zu hüten, Dunkelheit (obscuritas) zu erzeugen. Von besonderem Interesse sind diese Ausführungen, weil Gottsched in seinen literaturgeschichtlichen Ausflügen mit Gallionsfiguren der Literaturgeschichte hart ins Gericht geht. Ovid, Vergil, Homer – sie alle verstanden es nicht, die Regeln der Wahrscheinlichkeit recht einzuhalten. Ovid habe „alle Wahrscheinlichkeit ueberstiegen“ (ebd., 236), Vergil sei „voll solcher Wunder, die nicht zum besten angebracht, oder uebel ausgesonnen“ seien (ebd., 237), selbst Homer habe „sich versehen“ und „die Wahrscheinlichkeit nicht recht beobachtet“ (ebd., 259). Die antike Dichtung war für die Gelehrten und Dichter des Mittelalters und der Frühen Neuzeit unbestrittene Autorität. Man musste sich in der antiken Dichtung auskennen und dies auch zeigen, um überhaupt als Dichter Anerkennung finden zu können. Die Kenntnis der Alten setzt Gottsched freilich auch voraus, aber zugleich fordert er einen distanzierten und kritischen Umgang. Die Lektüre des antiken Kanons soll nicht nur rein affirmativ betrieben, sondern berücksichtigt werden, dass sich in ihr zwar positive, aber auch negative Beispiele finden, anhand derer zu lernen ist. Gottsched klinkt sich in den Streit ein, der seit dem Ende des 17. Jahrhunderts von Frankreich ausgehend in Europa geführt wurde. Streitobjekt war die Frage, ob die Antike weiterhin für die Moderne Vorbild sein könne. Initiiert hatten diesen Streit Charles Perrault (1628–1703) und Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757). Sie entzündeten mit ihren Schriften die Querelle des anciens et de modernes (vgl. Kortum 1966). Perrault verfasste die Parallèle des anciens et des modernes (1688–97) und Fontenelle die Digression sur les anciens et les modernes (1688). Diese Abhandlungen stellen die These auf, dass die vom ständigen Fortschritt geprägte Moderne der Antike in kultureller Sicht überlegen sei. Dieser Streit schlug hohe Wellen, erschütterte nachhaltig den Vorbildcharakter der antiken Welt und beeinflusste für lange Zeit die Reflexionen über die Bedeutung der Überlieferung. U. a. wird Friedrich Schiller (1759–1805) in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) differenziert und im Rahmen geschichtsphilosophischer Überlegungen auf diese Auseinandersetzung Bezug nehmen. Gottscheds theoretische Vorgaben blieben nicht unbestritten. Mit den Schweizer Literaturkritikern Johann Jacob Bodmer (1698–1783) und Johann Jacob Breitinger (1701–1776) kam es zu Diskussionen, die als vielbeachteter Literaturstreit in die Literaturgeschichte eingingen, jedoch vermutlich inhaltlich etwas überbewertet wurden. Bereits 1740 erschienen Breitingers Critische Dichtkunst und Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Die Schriften tendieren dazu, Gottscheds als restriktiv empfundene Vorgaben aufzulockern, halten jedoch prinzipiell am Wahrscheinlichkeitsgebot fest. Ebenso verhält es sich in Bodmers 1741 erschienener Abhandlung Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter. Auch hier gilt die Natur als Maßstab, deren Regeln zu folgen ist, damit nichts Widersinniges entsteht. Allerdings zeichnet sich der Poet vor dem Maler aus, weil seine Kunst auf dem Feld der Bildlichkeit noch mehr vermag. Der Poet sei ein „magischer Mahler“, weil er „mit einer Schrift in die Phantasien aller seiner Leser mahlet“ (Bodmer 1971, 34). Gegenüber Gottsched wertet Bodmer die Phantasie deutlich auf, unterstreicht aber, dass jeder Ge-
3. Poetik und Literaturkritik im 18. Jahrhundert
genstand „seine wahre und natuerliche Gestalt nach dem Leben“ gewinnen solle (ebd., 39). Die Abweichungen von Gottsched erscheinen graduell und nicht prinzipiell. Als Autor, Literaturkritiker und Theoretiker kommt Gotthold Ephraim Lessing seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf dem kulturellen Feld eine bedeutende Rolle zu. Er schuf Theaterstücke, die einen festen Platz in der Literaturgeschichte errungen haben (u. a. Miß Sara Sampson 1755, Emilia Galotti 1772, Nathan der Weise 1779), trat in Rezensionsorganen, etwa in der Berlinischen Privilegirten Zeitung (1748–1755) und in eigenen theoretischen Schriften, etwa in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend (1759–1765), in der Hamburgischen Dramaturgie (1769) und im Briefwechsel über das Trauerspiel (entst. 1756/57) als unbequemer Kritiker und Reformer auf den Plan (vgl. Martus 2007, 177–186). Er begründete in Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Poetik und der Theaterpraxis seiner eigenen Zeit das bürgerliche Trauerspiel und setzte im Bereich der Wirkungsästhetik neue Akzente. Dabei hinterließ er, anders als Gottsched, keine stringent aufgebaute Poetik. Nichtsdestoweniger hat er der Ästhetik des Dramas neue Wege gewiesen, indem er produktiv an Traditionen der antiken Poetiken anknüpfte. Wie Gottscheds so galt auch Lessings besonderes Interesse von Anfang an dem Theater. In Anlehnung an Gottscheds Deutsche Schaubühne gab er zwischen 1754–1759 die Theatralische Bibliothek mit Übersetzungen und Auszügen von zeitgenössischen Stücken und Abhandlungen sowie Besprechungen von Theaterstücken heraus. Die 1760 erschienene Schrift Das Theater des Herrn Diderot enthält Übersetzungen von Theaterstücken Diderots, die Lessing kommentiert (vgl. Fick 2010, 237–238). Denis Diderot (1713–1784) gehörte in Frankreich zu jenen Aufklärern, die antiklassizistische Stücke verfassten und dramaturgisch neue Wege gehen wollten. Ebenso opponierte Lessing bewusst gegen Gottsched und die von ihm hochgeschätzten französischen Klassizisten. Eine seiner besonderen Vorlieben galt William Shakespeare (1564–1616), der für die deutsche Dramenproduktion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Leitlinie vorgab. Die europäischen Neuerungen auf dem Theater bildeten für Lessing eine Inspirationsquelle, ein Material, mit dem er experimentell umging, aus dem er assoziativ Neues schöpfte, ohne den Anspruch, dieses Neue in ein geschlossenes System zu überführen. Lessing entwirft seine Dramenästhetik einerseits in Auseinandersetzung mit Aristoteles, andererseits mit dem Impetus, besonders gegenüber Gottsched neue Wege zu beschreiten. Dessen Auffassungen über das Theater hielt er für überholt, seine Wirkungsästhetik den anthropologischen Gegebenheiten sowie der gesellschaftlichen Lebenswelt für unangemessen. In seinen Briefen, die neueste Literattur betreffend polemisiert er heftig gegen den „Herrn Professor“, von dem zu wünschen wäre, dass er sich „niemals mit dem Theater vermengt“ hätte (Lessing 1996, Bd. 5, 70). Gottsched hatte in seiner Critischen Dichtkunst einer konservativen Dramenästhetik das Wort geredet, etwa für die Einhaltung der Ständeklausel und der Einheit von Zeit, Ort und Handlung plädiert (Gottsched 1973, Teil 2, 319). In der Tragödie sollten Könige und Herrscher auftreten, weil nur die „Großen“ bei den Zuschauern „Traurigkeit, Schrecken, Mitleiden und Bewunderung“ erregen, wahrhaft bewegen (movere) könnten (ebd., 312).
Gotthold Ephraim Lessing
Dramenpoetik
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VII. Poetik im Wandel bis in die Frühe Neuzeit
Mitleidsästhetik, Anthropologie
Gottsched geht über die Aristotelische Katharsisformel hinaus, indem er in der Folge Corneilles die Bewunderung (admiratio) als ein wichtiges Ziel der Affekterregung annimmt (vgl. Brenner 2000, 186). Bereits in seiner Rede Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen (1729) lancierte er prägnant seine Theorie einer „regelmäßigen und wohleingerichteten Tragödie“ (Gottsched 1998, 5), die den Zuschauer auf Abstand von den Figuren hält, eine Fallhöhe verlangt, die zur Bewunderung führt und die lehrhafte und moralisierende Tendenz hervorkehrt. Der Impetus, gegenüber Gottsched und den französischen Klassizisten neue Akzente zu setzen, führte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts im Umfeld Lessings zu Diskussionen, in deren Zentrum die Aristotelische Katharsislehre stand (vgl. Fick 2010, 165 f.). Im Briefwechsel über das Trauerspiel, den Lessing mit Friedrich Nicolai (1733–1811) und Moses Mendelssohn (1729–1786) führte, steht die Frage nach der Rolle der Affekte im Mittelpunkt. Gottsched hatte dem movere eine wichtige Funktion zuerkannt, aber es eng an das docere geknüpft, wenn nicht gar in dessen Dienst gestellt. Für Lessing besteht kein Zweifel daran, dass, mit Aristoteles gedacht, die Tragödie Leidenschaften erregen soll. Er ist jedoch der Meinung, dass die Aristotelische Formel einen wichtigen Punkt offen lasse, die Frage, wie das movere erfolgen solle. Lessing fordert die Identifikation des Zuschauers mit den Figuren auf der Bühne. Die Dichter müssen den Zuschauer dazu bringen, dass er die Leidenschaften der Figuren „selbst fühlt, und nicht bloß fühlt, ein anderer fühle sie“ (Lessing 1996, Bd. 4, 161; Hervorh. im Text). Ausgangspunkt ist für Lessing zunächst nicht der die Affekte regulierende Verstand, sondern das menschliche unmittelbare Empfindungsvermögen. Die einzige Leidenschaft, die in diesem Sinne erzeugt werde, sei „das Mitleiden“ (ebd.). Wieder können Poetik und Anthropologie miteinander verknüpft werden. Die ästhetischen Prämissen in Gottscheds Critischer Dichtkunst sind in jenen philosophischen und anthropologischen Diskursen der Frühaufklärung verankert, die den Verstand als leitendes menschliches Vermögen annahmen. Diese provozierten weitere Diskurse, die Umwertungen vornahmen und den Sinnesvermögen und Emotionen des Menschen einen höheren Stellenwert zuerkannten (vgl. Brenner 2000, 189). Beispielsweise hatte bereits Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in seinem Discours sur l’inégalité / Diskurs über die Ungleichheit (1755) das Mitleid (pitié) als eine elementare menschliche Empfindung gesehen (vgl. Rousseau 1993, 140–143). Für Lessing ist das Mitleid derjenige Affekt, der Schrecken und Bewunderung zugrunde liegt. Diese erkennt er nicht als eigenständige Leidenschaften an, sondern als Variationen des Mitleids, den Schrecken als „die plötzliche Überraschung des Mitleides“ und die Bewunderung als „das entbehrlich gewordene Mitleiden“, die dann einsetzt, wenn der Held „über sein Unglück […] erhaben“ ist (Lessing 1996, Bd. 4, 162). Mitleid und Bewunderung sind, anders als in Gottscheds Theorie, nicht zu vereinen, sondern das Mitleiden soll der erste und einzige Affekt sein, da er gewährleistet, dass der Zuschauer moralische Besserung erfahre. Die „ganze Kunst des tragischen Dichters“ soll „auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleidens“ (ebd., 163) abgestimmt sein. Die Tragödie bestimmt Lessing in folgenden berühmten Worten:
3. Poetik und Literaturkritik im 18. Jahrhundert
Sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß […]. Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können. (ebd.; Hervorh. im Text) Die moralische Besserung des Zuschauer, das docere, leistet die Tragödie vor allem, indem sie rührt (movere). Gemäß der Horazschen Maxime bereitet sie, indem sie lehrt und nutzt, Vergnügen (delectare, vgl. ebd.). Eine weitere Nuancierung gegenüber Aristoteles nimmt Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie vor. Hier fordert er, phobos, bisher als ,Schrecken‘ rezipiert, mit ,Furcht‘ zu übersetzen, als die Furcht für sich selbst, die sich aus dem Mitleid ergibt (vgl. ebd., 578 f.). Aus dem Mitleidspostulat ergeben sich nach Lessing weitere Konsequenzen. Der Zuschauer kann nur Mitleid empfinden und sich mit den Figuren identifizieren, wenn er sich wieder erkennen kann, wenn er es als wahrscheinlich erachten kann, dass er selbst so handeln und denken könnte wie sie. Die Figuren sollen mit ihm „von gleichem Schrot und Korne“ sein (ebd., 580 f.). Lessing fordert den ,gemischten Charakter‘ und lehnt Kaiser und Könige auf der Bühne ab, da ihre Lebenswelt derjenigen der meisten Zuschauer fremd sei und nicht rühren könne (vgl. ebd., 294). Die ideale Lebenswelt auf der Bühne, die sich zur Identifikation eignet, ist die bürgerliche der Zuschauer. Adelige Figuren dürfen zwar auftreten, aber nur im Kontext ihrer privaten Lebenswelt, die es ihnen erlaubt, sich auf bürgerliche Weise „zu verhalten“ und Probleme auszuhandeln (vgl. Schößler 2011, 30). Die Figuren sollen als „Menschen“ (Lessing 1998, Bd. 4, 294) auf der Bühne stehen und nicht in erster Linie als Vertreter ihres gesellschaftlichen Standes. So schafft Lessing mit der Fallhöhe, die Gottsched als Essenz der Tragödie angesehen hatte, die Ständeklausel ab: Die Gattung des Dramas wird nicht mehr, wie in der normativen Poetik der Frühen Neuzeit häufig, über den Stand definiert (vgl. etwa Opitz 2005, 30). Erkennbar ist, in welch hohem Maße Lessings Dramenästhetik an Traditionen anknüpft und sie produktiv rezipiert, indem sie Umwertungen vornimmt. Mag auch ihre „Originalität“ umstritten sein (vgl. George 1972, 240; vgl. Brenner 2000, 195), so setzte sie doch nachhaltig Neuerungen durch. Obgleich Lessing, bei aller Kritik, an Aristoteles festhielt, bahnte er auch der Rezeption Shakespeares den Weg. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde im Zeichen eines neuen Gefühlskults und der Geniesästhetik die normative Regelpoetik als Fessel und Bevormundung empfunden.
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VIII. Poetik und Moderne: Auflösung der Systematik seit dem 18. Jahrhundert 1. Genieästhetik, Shakespeare statt Aristoteles In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand im Verein mit einem vehementen Widerstand gegen eine Poetik, die Regeln und Normen vorgibt, ein neues Idealbild des Dichters. Die sogenannte Genieästhetik ist geprägt von der Vorstellung, dass das wahre Dichten die Abkehr von überlieferten Vorgaben geradezu zur Voraussetzung habe. Das literarische Schreiben sollte einen neuen Status erhalten, sein Gelingen allein einer Disposition zu verdanken sein, die keiner weiteren regelhaften Anleitung bedarf. Die Diskurse, die zur Bestimmung der Genieästhetik bemüht werden, sind häufig anthropologisch konnotiert und konturieren mit ihren Äußerungen zum Dichten ein spezielles Menschenbild, das sich von demjenigen des aufklärerischen Rationalismus absetzt. Dabei erheben sie einerseits William Shakespeare (1564–1616) zu einer neuen Vorbildfigur und weisen andererseits auf die Ästhetik der Klassik voraus. Eine Schaltstelle bildet zunächst Christian Fürchtegott Gellerts (1715–1769) Rede Wie weit sich der Nutzen der Regeln in der Beredsamkeit und Poesie erstrecke (gedruckt 1756). Der Nutzen der Regeln wird hier nicht bestritten, allerdings muss das Genie hinzukommen: „Man muß Genie haben!“ (Gellert 1994, 203). Ohne Genie sei „alles leer, und ohne Leben“ (ebd.). Man benötige keine „mittelmaeßige[n]“ Dichter: „Junge Dichter ohne Genie muß man zurueckhalten“ (ebd., 209). Zwar drohen die Regeln, das Genie zu beschränken und „das edle Feuer des Geistes“ zu vertreiben (ebd., 207). Ohne sie aber kann es nicht unbedingt etwas ausrichten. Es müsse „wie ein muthiges Pferd“ durch die Zügel der Regeln gelenkt werden (ebd., 200). Gellert führt Instanzen an, die Genie und Regel ins rechte Gleichgewicht bringen: Diese sind „Verstand“ und „Herz“, „Erfahrung“ und „Empfindung“ (ebd., 197). Sie verorten den Text deutlich an der Gelenkstelle zwischen Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm und Drang. Gellert vermeidet, zwischen Regel und Genie eine deutliche Hierarchisierung vorzunehmen. Er nimmt mit dem Verstand ein Vermögen an, das typisch ist für die Anthropologie des aufklärerischen Rationalismus. Der Verstand soll jedoch nicht alleine wirksam sein, sondern im Verein mit weiteren emotionalen und sinnlichen Fähigkeiten zwischen Regel und Genie einen Ausgleich herbeiführen. Das eigentliche Konstrukt der Genieästhetik ist selbstredend niemals von den Autoren des Sturm und Drang, etwa von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737–1823), dem frühen Goethe (1749–1832), von Jacob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) oder von Friedrich Maximilian Klinger (1752–1831), der mit seinem Drama Sturm und Drang (1776) der Epoche ihren Namen lieferte, in einer systematischen Programmschrift festgehalten
1. Genieästhetik, Shakespeare statt Aristoteles
worden. Es ist aus literaturkritischen, anthropologisch-philosophischen und theologischen Schriften zu synthetisieren. Wieder ist es das Feld des Dramas, auf dem sich die neuen ästhetischen Maßstäbe am ehesten in der Praxis selbst finden lassen. Ein wichtiger gemeinsamer Grundzug ist die Orientierung an William Shakespeares im Vergleich mit Aristoteles’ Poetik unregelmäßig verfahrender Dramatik. Bereits 1741 hatte Johann Elias Schlegel (1719–1749) in seiner Vergleichung Shakespears und Andreas Gryphs die Aufmerksamkeit auf den Engländer gelenkt, der sich gegenüber den Regeln zugunsten der Figurenzeichnung eigensinnig verhalte (vgl. Blinn 1982, 55). Während Schlegels Urteil zwischen Lob und Tadel changiert, findet Gerstenberg in seinen Briefen über die Merkwürdigkeiten der Litteratur (1766/ 67) deutlichere Worte. Mit der herkömmlichen Regelpoetik, mit der „Claßifikation des Drama[s]“ (ebd., 77), seien Shakespeares Dramen nicht zu fassen, es seien „lebendige Bilder der sittlichen Natur“ (ebd., 77). Gerstenberg misst ihre Qualität besonders am movere, an der für ihn unvergleichlichen Art und Weise, die Leidenschaften auf der Bühne zu zeigen, ohne dass aber damit zugleich ein Zugeständnis an die überlieferte Gattungspoetik, etwa gar an die Katharsisformel gemacht werde. Denn „aus dem Gesichtspunkte der Tragödie“, das heißt aus demjenigen eines Regelapparates, könnten Shakespeares Werke nicht beurteilt werden (ebd., 80). Sie bewiesen ein „Genie des Dichters“, das von niemanden recht zu fassen sei (vgl. ebd., 81). In seiner Rede Zum Shakespeares-Tag (entst. 1771) stilisiert Goethe seine Shakespeare-Lektüre zu einem Initiationsereignis mysthischen Ausmaßes. Er macht deutlich, dass die Qualität dieser neuen Lektüre, nach der er sich wie ein „Blindgeborner“ vorgekommen sei (Goethe 1994, Bd. 12, 225), nicht mit der distanzierten Vernunft zu erfassen, sondern gefühlt werden müsse. Die Voraussetzungen dieser neuen Kunst sind für Goethe mit Händen zu greifen. Emphatisch ruft er zum Abschied vom regelmäßigen Theater auf, das heißt vor allem von den französischen Klassizisten. Wiederum verschränken sich ästhetischer und anthropologischer Diskurs. Die Befreiung von der Regelpoetik ist zugleich eine, die die gesamte Existenz des Individuums umfasst: Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wie viel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wie viel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte, ihre Türne [sic] zusammenzuschlagen. (ebd.) Shakespeares Genie erweist sich darin, dass er sich nicht an die überlieferte Dramenpoetik hält und deshalb die Natur des Menschen überzeugend darstellen kann. Folgen wir Goethe, so vermag es seine Ästhetik in vorbildlicher Weise, den Freiheitsdrang und den Willen des Einzelnen im Konflikt mit der Umwelt den Zuschauern lebendig vor Augen zu führen. Als ein Musterstück einer solchen Ästhetik verfasste Goethe sein Schauspiel Götz von Berlichin-
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VIII. Poetik und Moderne
Auseinandersetzung mit der Antike, Dichtung als Schöpfung
gen (1773), das große Anerkennung erfuhr, aber aufgrund seiner als anarchisch empfundenen Konzeption auch Kritik provozierte. Wie schwierig aber letztlich eine deutliche Standortbestimmung der Dichtungsauffassung dieser Zeit ist, zeigt sich darin, dass die Orientierung an Shakespeare und die Kritik an den französischen Klassizisten nicht zwangsläufig jene am antiken Theater einschloss. Im Gegenteil erklärt Goethe Homer und Sophokles, wichtiger Bezugspunkt in Aristoteles’ Poetik, zu Garanten des Gefühls, die von den Franzosen allerdings nicht recht verstanden worden seien (vgl. ebd.). Ebenso verhält es sich in Johann Gottfried Herders (1744–1803) Rezension Shakespeare (1773). Herder hält die Sophokleischen Dramen für den „Gipfel der Dichtkunst“, aus denen man dann im Nachhinein und im Zuge der Auseinandersetzung mit der Tradition in unzulässiger Weise einen „Regelnvorrath“ (Blinn 1982, 105) synthetisiert und ihn als verbindlich erklärt habe. Was man hinterher als Regeln auffasste, sei ursprünglich ,Natur‘ gewesen (vgl. ebd., 106). Erst durch das Diktat der Regeln traten Kunst und Natur in jenes Spannungsverhältnis, das Herder bei den Franzosen beoachten will. Im Zwang der Nachahmung des griechischen Dramas schufen diese nicht etwas Eigenes, sondern nur eine „Puppe des Griechischen Dramas“ (ebd., 107). Nach Herder soll die Literatur eine eigene Schöpfung sein, die die Charakteristika der eigenen Nation herausstellt. Dabei kann die Orientierung an den Griechen dann von Nutzen sein, wenn man sie fühle (vgl. ebd., 108) und nicht sklavisch die Theorie der Regeln befolge. Nicht werden die Werke der Alten aus ästhetischer Perspektive abqualifiziert, wie etwa in Gottscheds Critischer Dichtkunst. Nicht zur Diskussion steht der Kern der antiken Dramentheorie. Dass das Ziel der Tragödie die Erregung der Leidenschaften sei, wie Aristoteles behauptet, bestreitet Herder nicht (vgl. ebd., 109). Die Alten gelten als Autoritäten, die man aber nicht sklavisch nachahmen dürfe. Es geht darum, ihrer Qualität gleichzukommen, ohne sie ,nachzuäffen‘. Dies vermochte Shakespeare, da seine Dramen im „Boden“ der eigenen Zeit, des eigenen Volkes und seiner Sitten verankert seien (ebd., 110). Shakespeare wird als „Genie“ bezeichnet, als „Schöpfer“ und als ein „Sterblicher mit Götterkraft“ (ebd., 110), der etwas ganz Neues schuf, das aber in seiner Qualität den Werken der Griechen zu vergleichen ist. Jacob Michael Reinhold Lenz beschwört in seinen Anmerkungen übers Theater (1774), die sich kritisch mit Aristoteles und seiner Rezeption vor allem in Frankreich auseinandersetzen, ebenfalls das „Genie“ (Lenz 2001, 34) und führt als dessen Inbegriff Shakespeare an (vgl. ebd., 38 f.). Wenn Herder Shakespeare als ,Sterblichen mit Götterkraft‘ bezeichnet, ist der Theologe und Philosoph Johann Georg Hamann (1730–1788) mitzudenken, der Gott als schöpfenden Schriftsteller des Bibelwortes auffasste und so die Tätigkeit auch des weltlichen Dichters aufwertete und verklärte (vgl. Buschmeier/Kauffmann 2010, 56 f.). Pate für ein neues Dichterideal stand aber vor allem Shaftesbury (1671–1713), dessen Soliloquy: or, Advice to an Author (1710) den Dichter als einen zweiten Schöpfergott begriff, als einen ,Prometheus unter Juppiter‘. Dieser Vergleich bildet den zentrifugalen Punkt der Genieästhetik, der zugleich auf die Ästhetik der Klassik vorausweist, weil der hier apostrophierte Künstler im Sinne des klassischen Ideals ein formvollendetes Kunstwerk schafft (vgl. Burdorf 2000, 69). Aus struktureller
1. Genieästhetik, Shakespeare statt Aristoteles
Perspektive nimmt der Vergleich die Definition des Genies an, die in Kants Kritik der Urteilskraft (1790) begegnet: Das Genie zeichnet sich dadurch aus, dass es „Zwangsfreiheit von Regeln so in der Kunst“ ausübe, „daß diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt“, die als mustergültig gelten kann (Kant 1957, 419). In diesem Sinne unterstreicht Herder, dass Shakespeare, jenseits der überlieferten Regelpoetiken, „ein vollkommenes Ganzes“ gebildet habe (Blinn 1982, 110). Goethes Hymne Prometheus (entst. vermutlich 1773) nimmt Shaftesburys Dichterkonzept auf und überbietet es zugleich, denn ihr Prometheus ist einer, der sich mit der zweiten Rolle nicht mehr zufriedengeben, sich nicht unterordnen will und beansprucht, autonom schöpferisch tätig zu sein. Dieses Gedicht kann als Beispiel der poetologischen Lyrik gelten, weil es in literarischer Form ästhetische Theoriebildung betreibt (vgl. Neymeyr 2003, 44; vgl. zur Definition auch Pott 2004, 10–14). Damit verbunden können zudem anthropologische und politische Konnotationen aufgespürt werden, die Frage nach den Möglichkeiten der Gestaltung und der Freiheit, die der Einzelne innerhalb seiner Lebenswelt besitzt (vgl. D’Aprile/Siebers 2008, 88). Die Diskurse der Genieästhetik verleihen dem Gefühl, den Emotionen und den Leidenschaften des Menschen für das Kunstschaffen einen bedeutenden Stellenwert.
2. Autonomieästhetik, Kunst und Dichtung im Rahmen anthropologischer und kulturtheoretischer Entwürfe In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird immer deutlicher sichtbar, dass sich die normative Poetik als eine die Dichtung generell lehrende Textsorte verabschiedet. Zwar erfuhren nun, nachdem die theoretischen Diskussionen lange Zeit auf dem Feld der Dramatik ausgetragen wurden, die erzählerischen Gattungen und insbesondere der Roman Aufmerksamkeit. Christian Friedrich von Blanckenburg (1744–1796) legte 1774 seinen Versuch über den Roman vor. Allerdings verfährt dieser, anders als die normativen Poetiken, eher deskriptiv und interessiert sich vor allem für Charakterzeichnungen und für die inneren psychischen Vorgänge der Figuren wie etwa in Wielands als vorbildlich deklarierten Roman Geschichte des Agathon (1766/67, vgl. Blanckenburg 1965, 10). Literaturtheoretische Fragen werden mitunter im Rahmen der Ästhetik abgehandelt, der Lehre vom Schönen und Erhabenen in der Kunst, die sich mit Alexander Gottlieb Baumgartens (1714–1762) Aesthetica (1750–1758) als wissenschaftliche Disziplin etablierte. Johann Georg Sulzer (1720–1779) legte etliche maßgebliche Schriften zur Ästhetik vor und entwarf seine Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771–74). Die Lehre vom Schönen verlieh dem Konstrukt der Autonomieästhetik theoretische Impulse, die sich auch in polemischer Abgrenzung zu der Auffassung der Aufklärung konstituierte, die der Dichtung mit dem unterhaltenden Belehren eine deutliche Aufgabe zuwies. Nun plädierte man für eine Kunst, die nicht unter einem bestimmten wirkungsästhetischen Diktat, sondern einzig nach der Maßgabe des Schönen zu verfassen sei. Trotz einer Abweisung der tradierten Regelpoetik erscheint das klassische Schöne als der neue Maßstab, gewissermaßen als neue ästhetische Regel, und sind
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VIII. Poetik und Moderne
Autonomieästhetik
auch Facetten des aus den alten Poetiken überlieferten Dichterideals aufzuspüren. Im Kontext der ganz Europa erschütternden Französischen Revolution (1789–1799) entwarf schließlich Friedrich Schiller (1759–1805) in seinen theoretischen Schriften ein geschichtsphilosophisches Modell, das der Dichtung für die Erziehung und Selbstversicherung des modernen Menschen eine Schlüsselstellung verleiht. Auch die Schriftsteller der Romantik betrieben Dichtungstheorie im Rahmen von anthropologischen und kulturtheoretischen Entwürfen und knüpften mitunter an die klassizistischen Diskurse an. Als zentrale Schrift der Autonomieästhetik gilt Karl Philipp Moritz’ (1756–1793) Über die bildende Nachahmung des Schönen (ersch. 1788). Moritz verfasste sie unter dem Eindruck seines Aufenthaltes in Rom und seiner Gespräche, die er dort mit Goethe führte. Dieser wird später einen Auszug aus dieser Schrift seiner Italienischen Reise anfügen (gedruckt zuerst 1816/17 unter dem Titel Aus meinem Leben, unternommen wurde die Reise 1786–1788). Sie steht, ähnlich wie Herders Rezension Shakespeare (1773), im Zeichen der Genieästhetik, deutet aber noch klarer die ästhetischen Leitlinien der Klassik an. Außerdem hat sie nicht in erster Linie den Dichter im Blick, denn sie entstand vor allem durch die Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst der griechischen Antike, die damals in Italien, u. a. durch Ausgrabungen, große Aufmerksamkeit erfuhr. Mitzudenken ist auch Johann Joachim Winckelmanns (1717–1768) Schrift Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755), die emphatisch von der „edlen Einfalt und stillen Grösse in den Wercken Griechischer Meister“ spricht (Winckelmann 1755, 24) und in diesen ein ästhetisches Ideal erkennt, das sich durch Symmetrie und Harmonie der Teile und eine klare Begrenzung auszeichnet, durch die klassizistisch konnotierte Form. Folglich ist der Begriff Autonomieästhetik mit Vorsicht zu genießen: Das klassizistische Formideal gibt eine Norm vor. Im Hinblick auf die Eigenschaften des Werkes ist der Künstler nicht autonom. Allerdings schafft er es unabhängig von einer intendierten Wirkung. Im Zentrum steht das Verhältnis zwischen dem Genie und einem als vollkommen gedachten „großen Ganzen“ (Moritz 1999, 969), das erfühlt werden muss. Die Kunst hat die Aufgabe, dieses große Ganze zur Erscheinung zu bringen. Wie es dann schließlich tatsächlich wirkt, ist zweitrangig. Der Genuss ist vor allem dem schaffenden Künstler vorbehalten. Wenn sein Werk einen Nutzen (prodesse) entfaltet, dann unbeabsichtigt. Bezüglich der Wirkung eines Kunstwerkes wird sich Goethe in seiner Nachlese zu Aristoteles’ Poetik, die erst 1827 in der Zeitschrift Kunst und Altertum erschien und die eine Summe aus einer längeren Beschäftigung mit Aristoteles zieht, ähnlich äußern. Er bestreitet, dass Aristoteles mit Blick auf die „Wirkung“ seine Katharsislehre entworfen habe. Es sei ihm allein um die „Konstruktion des Trauerspiels“ selbst gegangen (Goethe 1994, Bd. 12, 343). Die Wirkung ergebe sich eher zufällig oder auch gar nicht und sei vor allem nicht planbar. Moritz’ Schrift verklärt selbst die Konstruktion eines Kunstwerks. Denken wir daran, wie eng die normative Poetik im 17. Jahrhundert die Produktion von Dichtung an die rhetorische Systematik anlehnte, an inventio, dispositio und elocutio, so mystifiziert Moritz das Kunstschaffen zugunsten des außergewöhnlichen Genies, das in einzigartiger Weise das Ideal des Schönen
2. Autonomieästhetik, Kunst und Dichtung
ahnt und fühlt. Das „echte Schöne“ ist der „Inbegriff aller harmonischen Verhältnisse des großen Ganzen der Natur“, das empfunden wird und das „keine Denkkraft“ umfassen kann (Moritz 1999, 974). Dieses verwandelt der Künstler in sinnliche Erscheinung, die die Eigenschaft des Schönen offenbart, das auf „ewigen, festen Regeln“ ruht (ebd., 969). Diese Regeln einer klassizistisch gedachten schönen Form zur Erscheinung zu bringen, macht den „edlen Stil“ im Kunstwerk aus (ebd., 961). Ein Jahr später ließ Goethe seine Schrift Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil (1789) erscheinen, die ebenfalls die Wirkungsaspekte des Kunstwerks ausblendet und sich ganz auf seine Entstehung konzentriert. Allerdings widmet sich Goethe dezidierter der Bildung des Künstlers und unterscheidet qualitativ die Stadien, die er durchläuft, bis er im Stil, der „auf dem Wesen der Dinge“ ruht (Goethe 1994, Bd. 12, 32), zur Vollendung gelangt. Mystifiziert wird diese Stufe allerdings auch, wenn es heißt, dass mit ihr der Dichter „die Schwelle des Heiligtums selbst“ betreten habe (ebd., 34). Sind hier Facetten des poeta vates, des Dichtersehers, zu bemerken, so ist der Text an weitere Tendenzen der überlieferten Poetiken anschlussfähig, insofern er betont, dass „das natürliche Talent“ (ebd., 30) erst seine volle Entfaltung durch Übung und „genaues und tiefes Studium der Gegenstände selbst“ erfahre (ebd., 32). In der Einleitung in die Propyläen (1798) wird Goethe dieses Bild eines Künstlers, der als Genie dann in ein „innerste[s] Heiligtum“ eintritt (ebd., 38), wenn er sich auf der Basis seiner natürlichen Begabung, fast im Sinne des poeta doctus, Wissen verschafft und Studium und Fleiß angewendet hat, noch stärker ausarbeiten und ebenso die ästhetischen Maßstäbe der Klassik voraussetzen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verlieh Friedrich Schiller den Diskursen über die Dichtung und generell der Kunst und ihrer Funktion neue Aspekte. Seine Schriften Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) und Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/ 96) sind u. a. in kritischer Auseinandersetzung mit den Kantianischen Schriften entstanden, der Kritik der reinen Vernunft (1781/87), der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und besonders der Kritik der Urteilskraft (1790). Ein weiterer Hintergrund bildet die Französische Revolution. Schillers Schriften liefern utopische Gegenentwürfe, die an die Stelle der Gewalt die ästhetische Erfahrung setzen, die den Menschen aus seinem unglücklichen Gefühl der Entzweiung, aus dem Widerstreit zwischen seiner vernünftigen und seiner triebhaften Natur, erlösen kann. Kants Kritik der Urteilskraft hatte dem subjektiv empfundenen Schönen einen Eigenwert jenseits eines Zweckes zugeschrieben, das zu einem freien Gedankenspiel veranlassen kann (vgl. Kant 1957, 410–412). Hieran anknüpfend geht Schiller weiter und weist der ästhetischen Erfahrung eine bedeutende Rolle zu, da sie den Menschen über den Ausgleich seiner extremen Dispositionen zur Glückseligkeit führen könne. Die Ästhetische Erziehung (1795) hebt mit einer allgemeinen Betrachtung über den Zustand der gegenwärtigen Kultur an, deren Gegebenheiten der wahren Kunst unzuträglich seien. Schiller polemisiert gegen die Tendenz, dass sich die Kunst den Bedingungen des Marktes beugt und sich dem Diktat der Ökonomie unterwirft. Schließlich sei die Kunst „eine Tochter der Freiheit“ (Schiller 1993, 572). Gleich zu Beginn entwickelt Schiller die Rolle,
Ästhetische Erfahrung: Schiller
Kulturkritik
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VIII. Poetik und Moderne
Formtrieb und Stofftrieb
Die Schönheit
die der Kunstschaffenden für die in Gesellschaft und Politik nötige Veränderung einnehmen soll (vgl. Alt 2000, Bd. 2, 131). Da der Mensch in Verhältnisse des Staates hineingeboren wurde, die die Harmonie seiner inneren Kräfte und Triebe, die Balance zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, zerstören, besteht das Ziel darin, einen anderen, einen sittlichen Staat, zu errichten. Eine wichtige Funktion nimmt dabei der Künstler ein, der auf der Basis einer inneren Einheit Produkte der Schönheit erzeugt. Phasenweise erinnern die Ausführungen an die Kulturkritik Jean-Jacques Rousseaus, etwa wenn die Kultur als „Quelle“ der „Depravation“ der „zivilisierten Klassen“ bezeichnet wird (Schiller 1993, 580; vgl. Bollenbeck 1994, 138). Das Vorbild für eine Kultur, die die Einheit des inneren Menschen verbürgte, ist die griechische Antike. Dieser Gedanke wird in Über naive und sentimentalische Dichtung zu einem wichtigen Baustein. Bei den Griechen hatte die wahre Dichtung, die sich nicht nach der Meinung der Menge oder dem Zeitgeist richtete, noch einen sicheren Ort. Dieses Zeitalter ist unwiederbringlich verloren, seine Bedingungen sind nicht wieder zu reproduzieren. Der gegenwärtige Künstler erfährt den Impetus für Veränderung aus den Widrigkeiten der Kultur, die insofern in all ihrer Negativität Bedingung für sittlichen Fortschritt ist. Um sich von diesen Widrigkeiten der Kultur zu befreien und unabhängig zu werden, ist der Künstler aufgerufen, seine innere „Anlage zu der Gottheit“ (Schiller 1993, 603), zur Vollkommenheit, zur Entfaltung zu bringen und innere Harmonie zu erzeugen. Dieser den Weg zu weisen, ist es nötig, die zwei Grundtriebe in Übereinstimmung zu bringen. Schiller nimmt einen sinnlichen Trieb an, der an die Welt, die Materie, bindet und das physische Überleben sichert, auch Stofftrieb genannt, und einen Formtrieb, der die „vernünftige[n] Natur“ (ebd., 605) des Menschen bestimmt, sein intellektuelles Vermögen und seine Reflexionsfähigkeit. Ursprünglich bestand zwischen diesen beiden Trieben ein harmonisches Miteinander, das aber durch die Kultur, die den Menschen zur Übertretung seiner Natur gezwungen hat, zerstört wurde. Die Kultur wird aufgefordert, Freiräume zu lassen, in denen der Mensch zur inneren Einheit kommen kann (vgl. ebd., 608), einer dieser Freiräume ist die Kunst. Idealerweise wirksam in dieser wie auch in der Bildung der eigenen Person ist der Spieltrieb (vgl. ebd., 612 f.), in dem Formund Stofftrieb harmonisch miteinander wirken. Im Zentrum der Schrift steht schließlich die Schönheit, die angesichts eines inneren geschauten Ideals aus diesem harmonischen Miteinander der Triebe entsteht. Ganz platonistisch gedacht kann es allerdings niemals zu einem vollkommenen Gleichgewicht kommen, das Schöne niemals in seiner Vollkommenheit entstehen noch wahrgenommen werden. Es bleibt immer hinter seinem Ideal, aufgehoben in der Welt der Ideen, zurück. Sowohl dieses als auch sein schöner Schein spornen wiederum sowohl den eigenen Spieltrieb als auch den anderer Rezipienten an, im Sinne eines harmonischen Ausgleichs tätig zu sein und weitere Produkte der Schönheit zu erzeugen, seien es Kunstwerke im engeren Sinne oder Gesetze und Institutionen des Staates. Da es „die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert“ (ebd., 573), kommt dem Künstler eine bedeutende Rolle zu. Er macht mit seinen Werken auf das verlorene Ideal aufmerksam. In der Erzeugung des schönen Scheins liegt die sittliche und moralische Dimension der Kunst,
2. Autonomieästhetik, Kunst und Dichtung
ihre Funktion für die gesamte Kultur, auch für die Politik. Aber auch wenn schließlich der sittliche Staat, eine „humanere[n] Gesellschaft“ (Darsow 2000, 127), geschaffen wurde und im Sinne des ästhetischen Ideals der Harmonie und Schönheit Gleichheit herrscht, so bleibt auch dieser immer hinter seinem Ideal zurück, so dass alle im Reich des schönen Scheins leben, der sie zum ständigen Fortschreiten veranlasst. Die Ästhetische Erziehung lässt sich nicht ohne Weiteres an Diskurse der normativen Poetiken anknüpfen, die bisher nachverfolgt wurden. Das liegt daran, dass keine speziellen dichtungstheoretischen Überlegungen angestellt werden, dass zwar von Kunst und vom Künstler die Rede ist, selten aber von einem konkreten Kunstwerk selbst und dabei generelle anthropologisch konnotierte Ausführungen dominant sind. Aus diesen lassen sich vor allem ästhetische Maximen ableiten, die zunächst die Dispositionen und Bedingungen der inneren Verfassung des Kunstschaffenden betreffen, der zugleich als Produzent wie auch als Rezipient des Schönen anzunehmen ist. Ein solcher Blick in das Innenleben des Künstlers ist den normativen Poetiken im engeren Sinne in dieser Weise fremd. Auch wenn die angenommene Funktion der Kunst für Kultur und Politik weit über diese hinausgehen, so kehren einige ihrer Aspekte jedoch wieder. Beispielsweise geht Schiller von einer wahren Kunst aus, die einen moralischen und sittlichen Nutzen besitzt wie auch ästhetisches Vergnügen bereitet (prodesse, delectare). Ebenso lässt sich die Kategorie des aptum sowohl in ästhetischer als auch in anthropologischer Perspektive aufspüren. Stoff- und Formtrieb sind in angemessener Weise auszugleichen und dies vor dem Hintergrund einer Idee von Schönheit, die natürlich das aptum erfüllt. In der Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) findet sich eine ähnliche Argumentationsstruktur. Anthropologische, kulturtheoretische und geschichtsphilosophische Konstruktionen fundieren die Gedanken über die Dichtung. Zugrunde liegt die für die abendländische Kulturkritik typische Unterscheidung zwischen Natur und Kultur. Natur ist deutlich positiv konnotiert. Sie verweist in ihrer Unberührtheit und Schönheit auf ein Ideal und auf die verlorene Einheit des Menschen in der Kultur. Über die Erscheinungen in der Natur heißt es: „Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen“ (Schiller 1993, 695; Hervorh. im Text). Der Mensch in der Kultur ist auf Entwicklung angelegt. Er hat die Aufgabe, zur verlorenen Einheit zurückzufinden, in ihrem Sinne zu werden. Dabei hilft, wie wir sogleich sehen werden, die Dichtung. Der nun folgende geschichtsphilosophische Entwurf versetzt die alten Griechen in eine gegebene Einheit mit der Natur, die nicht als Kontrast zur Kultur empfunden wurde. „Vorstellungsart“, „Empfindungsweise“ und „Sitten“ der Griechen entsprachen der „einfältigen Natur“ (ebd., 709). Die Einheit von Natur und Kultur bedingt auch die Eigenart ihrer dichterischen Erzeugnisse. Für die Modernen ist die Natur immer ein Objekt in der Distanz, das Sehnsucht nach dem Ideal und Sentimentalität weckt. Die Natur erhält den Status einer moralischen Instanz außerhalb der naturwidrigen Kultur. Sie weckt den „Trieb[e] nach Wahrheit und Simplizität“ (ebd., 710), der in jedem Menschen angelegt ist. Jedoch kann der moderne Mensch nicht mehr
Anschlussmöglichkeit an die normativen Poetiken
Natur und Kultur
Naive und sentimentalische Dichter
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VIII. Poetik und Moderne
Idee des Fortschritts
zur Natur zurück. Der Zustand, in dem die alten Griechen lebten, ist unwiederbringlich verloren. Aus dieser Diagnose der gegenwärtigen Kultur leitet Schiller zwei Gruppen von Dichtern ab. Er setzt zunächst voraus, dass alle Dichter „Bewahrer der Natur“ sind (ebd., 712; Hervorh. im Text). Für alle stellt die Natur eine wesentliche Größe dar. Aus dem jeweils unterschiedlichen Bezug zur Natur ergeben sich unterschiedliche Gruppen von Dichtern: „Sie werden entweder Natur sein, oder sie werden die verlorene suchen“ (ebd., Hervorh. im Text). Die einen sind die naiven, die anderen die sentimentalischen Dichter. Echte naive Dichter hat es vor allem in der Antike gegeben. In der Moderne sind sie die Ausnahme und erscheinen als „Fremdlinge“ (ebd., 715). Hier hat vor allem der sentimentalische Dichter seinen Ort und die Aufgabe, in seinen Texten das verlorene Ideal darzustellen (vgl. ebd., 717). Die Moderne erweist sich nun als janusgesichtig. Die Einheit mit der Natur ist zwar unwiderbringlich verloren. Allerdings wird, wie in der Ästhetischen Erziehung, deutlich, dass der gegenwärtigen Zeit etwas Positives abzugewinnen ist. Denn die Kultur macht die Besinnung auf das Ideal, das der Dichter darstellen soll, für alle Menschen notwendig, während der Mensch, der noch in Einheit mit der Natur lebte, sein Ziel bereits erreicht hat. Es gibt einen Punkt, an dem die alten Griechen einfach existierten, während die Modernen wegen der widrigen Verhältnisse ihrer Kultur voranstreben. Sie leben in einer Zeit, in der Fortschritt ständig nötig und möglich ist, weil Vollkommenheit, das Ideal, niemals ganz erreicht wird. Die Idee ist der Motor des Fortschritts. Diese Gegebenheiten spiegeln sich in der Dichtung. Wieder verschränken sich anthropologischer und ästhetischer Diskurs. Aus den unterschiedlichen Daseinsformen resultieren zwei unterschiedliche Ästhetiken. Die naiven Dichter pflegen „die Kunst der Begrenzung“, die sentimentalischen Dichter der Moderne „die Kunst des Unendlichen“ (719). Die naiven Dichter sind bereits im Zustand der Einheit. Es gibt kein unerreichbares Ideal, kein Unendliches, nach dem sie streben. Deshalb müssen sie nicht noch über das, was sie geschaffen haben, hinausgehen. Die sentimentalischen Dichter stellen das Ideal dar, ohne es aber zu erreichen. Es erscheint in ihren Werken, ist aber zugleich unendlich fern und fordert ständig heraus. Schiller weist der Dichtung eine Funktion zu, die er aus einer Diagnose der Moderne ableitet und die deshalb weit über die Maxime des prodesse und delectare hinausgeht, die aus den überlieferten Poetiken bekannt ist. Er speist seinen Entwurf mit Anleihen bei Diskursen der abendländischen Kulturkritik, besonders derjenigen Rousseaus, partizipiert auf seine Weise an der Querelle des anciens et des modernes und verleiht der Dichtung seiner Zeit eine außerordentliche Position. Indem die Dichtung auf das verlorene Ideal verweist, macht sie zum einen auf die Mängel der gegenwärtigen Zeit aufmerksam und spendet zum anderen diejenigen Energien, die nötig sind, diese Mängel zu beheben und der Welt die Moralität wiederzugeben. Bei dieser Heilung der Gesellschaft sind die Dichter wichtige Rädchen im Getriebe.
2. Autonomieästhetik, Kunst und Dichtung
3. Romantisierung der Welt, das Konzept der Universalpoesie Die Literaturtheorie der Romantik etablierte sich in einer produktiven Auseinandersetzung mit den bereits vorhandenen Positionen und verlieh sich dennoch unverwechselbare Konturen. An der Ästhetik Schillers arbeiteten sich die romantischen Diskurse zwar ab, haben aber mit ihr gemeinsam, dass sie an die Dichtung den Anspruch stellten, der Entfremdung in einer Kultur entgegenzutreten, in der die Kunst immer mehr zur Ware wurde und der Einzelne in der sich herauskristallisierenden Industriegesellschaft immer mehr zu einem Funktionselement. Gegner waren die Philister, oder die Spießbürger, die, wie Novalis (1772–1801, eigentlich Georg Friedrich Freiherr von Hardenberg) es in seinen Blüthenstaub-Fragmenten formuliert (1798), die Poesie „nur zur Notdurft“ in ihr ansonsten konventionelles und gewöhnliches Alltagsleben mischten (Novalis 1996, 117). Die Poesie, die nun gefragt ist, erhält im Vergleich zu Schillers Ästhetik andere Facetten und ist weniger fassbar eingebunden in einer gesellschaftlichen Utopie, obgleich eine solche mitgedacht werden kann. Novalis sah in der dichterischen Tätigkeit die Möglichkeit, die Welt im Blick nach innen und mit Hilfe der Imagination und der Phantasie neu zu entwerfen, auf das Unsichtbare und das Unsagbare, das Wunderbare, das Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst nur mit Einschränkung gelten lassen wollte, und das Geheimnisvolle des Lebens aufmerksam zu machen. Der Dichter zeichnet sich dadurch aus, dass er einen exklusiven Zugang zu seelisch-geistigen Gefilden besitzt, der ihm die Stellung eines modernen poeta vates verleiht: „Dichter und Priester waren im Anfang Eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der echte Dichter ist […] immer Priester, so wie der echte Priester immer Dichter geblieben“ (ebd., 114). Ein solcher Dichter möge beitragen zur Romantisierung der Welt, so dass das Besondere und das Interessante zum Vorschein kommt, die Möglichkeit der Unendlichkeit bewusst und die engen Grenzen der erlernten Erkenntnisgewohnheiten überschritten werden können. Die Dichtung soll dazu beitragen, die Welt zu ,romantisieren‘. Die folgenden berühmt gewordenen Worte beschreiben diesen Prozess auf recht komplexe und fast hermetische, eben besondere Weise: Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. (ebd., 313) Das Ich findet im Blick nach innen unendliche Möglichkeiten der Imagination vor und entwirft sich selbst neu im Kontext eines bisher unbekannten Kosmos. Die Welt neu zu sehen und bisher Ungeahntes zur Sprache zu bringen, alle Sinne in bisher unbekannter Weise zu öffnen, dies ist die Aufgabe des Dichters. Die Rede vom ,ursprünglichen Sinn‘, der zu entdecken ist, er-
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VIII. Poetik und Moderne
innert an den platonischen Dialog Ion, der die Aufgabe des Dichters eben darin sah, hermeneutisch tätig zu werden, den Sinn aufzufinden und erklärbar zu machen. Novalis’ Text geht von einem Sinn aus, der durch die lange Geschichte der Menschheit, die die konventionellen Zuschreibungen der Dinge vorgenommen hat, verhüllt ist. Wieder ist zu beobachten, wie sich anthropologischer und ästhetischer Diskurs verschränken, denn es geht auch darum, literarisch neue Formen auszuprobieren, vor allem mit dem Bekannten zu brechen, die unendlichen Möglichkeiten herauszufordern, das Experiment zu wagen, zum Beispiel durch die Form des Fragments oder durch neue Verfahren im Roman. Den Roman erklärte Friedrich Schlegel (1772–1829), einer der wichtigsten Theoretiker der Romantik und gemeinsam mit seinem Bruder August Wilhelm Schlegel (1767-1845) Gründer der Zeitschrift Athenäum (1798–1800), in seinem Gespräch über Poesie (1800) und hier im Brief über den Roman als die romantische Form in nuce, da sie alle anderen Formen der Poesie in sich begreifen könne (vgl. Schlegel 1967, 336 f.). Novalis’ bezeichnenderweise unfreiwillig Fragment gebliebener Roman Heinrich von Ofterdingen (1802) ist in diesem Sinne konzipiert, beinhaltet Legenden, Sagen und Lieder, die teilweise aus der mittelalterlichen Literatur genommen sind, die unter den Romantikern eine große Wertschätzung erfuhr. Auf seiner Reise führen Heinrich verschlungene Wege u. a. in das Innere der Erde, wo er wunderbarer Weise in Büchern sein eigenes Leben angedeutet findet. Schließlich begegnet er dem Dichter Klingsohr, der ihm in Form eines Märchens die Möglichkeiten der Dichtung und ihre erlösende Funktion nahebringt. Während sich die Romanstruktur selbst durch Unordnung und eine gewisse Unzuverlässigkeit auszeichnet, ist es in diesem Märchen die Dichtung, die eine neue nun „poetische Ordnung“ (Schmitz-Emans 2009, 104) stiftet und Möglichkeiten offenbart, sich imaginativ in einer Welt einzurichten, die auf der Oberfläche von Diskontinuitäten und Zufällen geprägt, aber dennoch für den anderen poetischen Blick offen ist. Die Ästhetik des Textes macht deutlich, dass bewusst der zeitgenössischen Romantradition neue Akzente verliehen werden sollten, die besonders durch Goethes vielbeachteten Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte. Die romantischen Theorieansätze finden zunächst eine Verankerung in philosophischen Diskursen des Idealismus. Ein wichtiger Text ist das sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, das vermutlich 1797 in einer Koautorschaft zwischen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) und Friedrich Hölderlin (1770–1843) entstand. Diese Programmschrift weist Ähnlichkeiten mit Schillers Ästhetik auf. Der mechanisch funktionierende Staat wird als ein System angesehen, das die Freiheit des schöpferischen Ichs einschränkt. Diese Freiheit zu erwerben oder wiederzugewinnen, dient die Poesie, denn diese lässt „die Idee der Schönheit“ aufscheinen (Uerlings 2000; Hervorh. im Text, 55). Der „ästhetische[n] Sinn“ (ebd.), der am ehesten in der Dichtkunst wirksam ist, soll im gesamten System der Wissenschaften und Künste das Fundament bilden. Der Text polemisiert gegen das bloße Räsonnement und das Ideal der Mathematik, der Zahl und Berechnung in den Wissenschaften, gegen das Cartesianische Erbe der mathesis universalis. Er fordert eine neue „Mythologie der Vernunft“ (ebd.; Hervorh.
3. Romantisierung der Welt
im Text, 56) als eine besondere Form von Erkenntnis, die jenseits bloß rationaler Berechnung und unter der Leitung des ästhetischen Sinns einen für alle Wissenschaften und Künste und darüber hinaus für alle Menschen unterschiedslos einheitlichen Zugang zur Welt der Ideen, zur Schönheit, ermöglicht. Der Dichter erhält in dieser Aufgabe eine Schlüsselfunktion, da er, im Sinne eines poeta vates, prädestiniert ist, die Ideen zu schauen. Ein solches Dichterideal liegt auch Schlegels Rede über die Mythologie, dem dritten Teil des Gesprächs über Poesie (1800), zu Grunde. Die hier geforderte neue Mythologie soll eine ähnliche Funktion besitzen wie die alte Mythologie, ist aber nicht als bloße Wiederauflage dieser zu verstehen. Sie stellt eine der modernen Zeit und den Bedürfnissen der Menschen entsprechende sinnlich-geistige Erkenntnisform dar, die über das Cartesianische Ideal der mathesis universalis hinausgeht und ihre besondere Ausdrucksmöglichkeit in der Poesie, vor allem in Allegorien und Symbolen, findet. Sie bringt „das höchste Heilige“ zum Vorschein und verwandelt es in eine ästhetische Form (Schlegel 1967, 312). Die modernen Dichter sollen in dieser neuen Mythologie eine gemeinsame Verankerung finden. Schlegel bezeichnet sie änigmatisch als „das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt“ (ebd., 312). Diese Definition entzieht sich wohl den bisher tradierten Gattungen von Gedichten. Die sprachlich oft rästelhafte Verfasstheit dieser Äußerungen ist selbst Programm. Sie verweigert sich jeder erlernten und üblichen Form des Redens über Dichtung. So lanciert der einleitende Teil des Gesprächs über Poesie eine deutliche Absage an die normative Poetik: „Es ist nicht nötig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernünftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gerne möchte“ (ebd., 285). Die Poesie der Worte hat denselben bewusstlosen und unsichtbaren Ursprung wie Tiere und Pflanzen, die ebenso Teil des einen großen Gedichts der Erde sind. Dieses zu begreifen, ist die Kenntnis von Gesetzen und Normen nicht notwendig, sondern jeder Einzelne ist deshalb von Natur aus dazu fähig, „weil auch ein Teil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes“ in ihm lebt (ebd., 285). Hat die Poesie einen bewusstlosen Ursprung in den Tiefen der Menschheit, so lässt sich über sie „nur in Poesie“ reden (ebd.) und nicht vor dem Hintergrund einer normativen Dichtungslehre. Bereits in seiner Schrift Über das Studium der griechischen Poesie (ersch. 1797) hatte Schlegel darauf aufmerksam gemacht, dass die Praxis der Dichtung mit der Theorie nicht identisch, dass etwa die moderne Poesie mit den Regeln der zum Ideal erhobenen klassizistischen Ästhetik nicht zu fassen ist, sondern am ehesten unter die vage Kategorie des ,Interessanten‘ fällt. Dennoch erkennt er in ihren vielfältigen Erscheinungsformen das Signum der Einheit und Ganzheit sowie ein unsichtbares Band, das sie mit allen anderen Epochen der Dichtung zusammenhält. Angelegt ist hier die Idee der „progressive[n] Universalposie“, die Schlegel im 116. Athenäums-Fragment skizziert (ebd., 182). Diese Universalpoesie ist bewusst mit den Bestimmungen der Dichtkunst, wie sie aus den normativen Poetiken bekannt sind, nicht zu fassen. Das Konzept entzieht sich von dieser Seite aus absichtlich und setzt auf den Bruch mit der Konvention,
Friedrich Schlegel
Universalpoesie
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VIII. Poetik und Moderne
Ästhetisches Ideal
auf die Sprengung von Grenzen, auf die Vermischung von bisher Getrennten, auf Poetisierung auch dessen, was bisher als unpoetisch galt. Diese Poesie findet sich überall, auch in den vermeintlich kunstlosen Äußerungen des Kindes. Mit dem Begriff der Nachahmung (Mimesis) ist sie schwer zu fassen. „Zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden“ befindet sie sich reflektierend „in der Mitte“ im Zustand einer nicht endenden und sich selbst spiegelnden Reflexion (ebd., 182). Im 238. Fragment nennt Schlegel eine solche Poesie, die in ihrer Darstellung über ihre eigene ästhetische Verfasstheit und ihre Möglichkeiten reflektiert, „Tranzendentalpoesie“ (ebd., 204) – in Analogie zur Methode der Kantianischen Transzendentalphilosophie. Tatsächlich sind zahlreiche Texte der Romantik von einer variantenreichen Selbstreflexion über die eigene Entstehung und Form geprägt und setzen dafür, wie der bereits erwähnte Heinrich von Ofterdingen, experimentierend Erzähltechniken ein, die sich einem theoretischen Zugriff, zumal aus der damaligen Perspektive der Regelpoetik, nicht einfach erschließen. Der Anspruch lautet, dass die Universalpoesie nicht analysiert oder zergliedert werden kann: „Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“ (ebd., 183). Schlegel scheint eine solche ,divinatorische Kritik‘ in diesem Fragment selbst vorzuführen, eine Kritik, die sich dadurch als neu und einzigartig zu erkennen gibt, dass sie auf der Basis normativer Poetik nicht zu agieren trachtet. Und dennoch schwebt diese romantische Kritik nicht frei im Raum. Sie operiert mit Begrifflichkeiten wie „Bildung“, „Ganzes“ oder „Klassizität“ (ebd.). Eine gemeinsame Signatur mit der klassizistischen Literaturtheorie zeichnet sich schillernd ab. In der Universalpoesie dominiert zwar das Signum des Fragmentarischen, allerdings bedeutet dies keineswegs den Verzicht auf eine Ordnung des Ganzen, eine Ordnung freilich, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat und nicht messbar ist. Monadenartig sollen die einzelnen Teile im Sinne einer unendlichen Reflexion und Potenzierung in ihrer Organisation das Ganze widerspiegeln, an dem sie partizipieren und das selbst nicht abgeschlossen ist. Begrenzung und Unendlichkeit schließen in dieser Definition von ,Klassizität‘ einander nicht aus. So lesen wir im 297. Fragment: „Gebildet ist ein Werk, wenn es überall scharf begrenzt, innerhalb der Grenzen aber grenzenlos und unerschöpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, überall gleich, und doch über sich selbst erhaben ist“ (ebd., 215). Ein solches Werk weist in sich innere Einheit und Harmonie auf und ist dennoch fähig, über sich selbst zu reflektieren, erhaben zu sein und sich innerhalb seiner Grenzen zu verändern. An anderer Stelle findet Schlegel ein bezeichnendes Gleichnis. Im 206. Athenäums-Fragment heißt es: „Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerk von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel“ (ebd., 197). Abgeschlossenheit und Selbstvollendetheit sind Konnotationen des klassizistischen autonomen Kunstwerks. Das Gleichnis des Igels gibt jedoch an die Hand, dass diese inneren Regeln nicht einsehbar sind und in Begrifflichkeiten der Regelpoetik nicht ausgedrückt werden können. Der Igel stellt aber für sich ein harmonisches Ganzes dar und allegorisiert eine Art Selbstgenügsamkeit, kann jedoch zugleich, wie das typisch frühromantische Frag-
3. Romantisierung der Welt
ment, seine Außenwelt mit seinen Stacheln, mit seinen Gedankensplittern, irritieren und das Bekannte stören. Das vermeintlich Unbedeutende und Kleine, so gibt dieses Gleichnis zu bedenken, ist auf vorbildliche Weise vollendet durchgebildet, autark und autonom. Es verweist potenziell auf eine ideale Ästhetik. Insofern fragt sich, ob mit diesem Gleichnis der beschworenen ,Willkür des Dichters‘ nicht doch Grenzen gesetzt werden und es auffordernden Charakter besitzt, eine ähnliche Funktion einnimmt wie das Bild des Monstrums zu Anfang von Horaz’ Ars poetica, das jedoch versinnbildlicht, wie man nicht dichten möge. In der Inbezugsetzung von Begriffen, die, legt man konventionelle Maßstäbe zugrunde, einander ausschließen, wie etwa Begrenzung/Grenzenlosigkeit oder fragmentarisch/vollendet, besteht das spezifisch romantische Ironiekonzept, das mit demjenigen der klassischen Rhetorik nicht ohne Weiteres zu verhandeln ist. Diese definiert die Ironie als eine Form der Allegorie, die das „Gegenteil“ von dem ausdrückt, was verstanden werden soll (Quint., Inst. orat., 8.6.54). Im 48. Lyceums-Fragment bezeichnet Schlegel die Ironie jedoch etwa anders als „Form des Paradoxen“ (Schlegel 1967, 153), des Widersprüchlichen. Eine solche Ironie findet sich in ästhetischer Form in eben jener unkonventionellen Vermischung der Gattungen und in gewagten Erzähltechniken. Die Struktur des Paradoxen verleiht auch den theoretischen Äußerungen im Vergleich zu den normativen Poetiken ein signifikantes Unterscheidungsmerkmal.
4. Bürgerlicher Realismus: Verklärung, Idealisierung, Behaglichkeit Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bildet eine Hochphase literarischer Theoriebildung. Die neuen ästhetischen Leitlinien entstanden vor dem komplexen Hintergrund tief greifender kulturgeschichtlicher Veränderungen, fortschreitender Modernisierung und Industrialisierung, der Entdeckung neuer Kunstformen, etwa der Fotografie, sowie der gescheiterten Revolution von 1848. Wie in den Diskussionen um 1800 erfolgte eine Abgrenzung von bereits Vorhandenem, nun aber nicht in erster Linie von der Regelpoetik, sondern von den Literaturen der Zeit selbst. In der Kritik stand zum einen die Literatur der deutschen Romantik mit ihrem Hang zum Wunderbaren und Phantastischen, zum anderen diejenige der Jungdeutschen Ludolf Wienbarg (1802–1872), Heinrich Laube (1806–1884), Theodor Mundt (1808-1861) und Karl Gutzkow (1811–1878), die im Geiste der Französischen Revolution die Literatur politisieren wollten, und schließlich jene französische realistische Literatur, die das Hässliche und Grausame darstellte, sich der Schieflagen der Gesellschaft annahm sowie Figuren der unteren gesellschaftlichen Schichten, Proletarier, Trunkenbolde und Dirnen, in den Mittelpunkt stellte. So wurde beispielsweise Gustave Flauberts (1821–1880) Roman Salammbô (1863) zum Gegenstand heftiger Polemik (vgl. Plumpe 1997, 193–195). Scheint es bisweilen, als hätte gegen die variantenreichen literarischen Erscheinungsformen und ästhetischen Positionen der nahen Vergangenheit und der Gegenwart ein Rundumschlag stattgefunden, so nimmt die realisti-
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sche Programmatik doch Begrifflichkeiten und Konzepte der bekannten ästhetischen Diskurse eklektizistisch auf, wie ,Nachahmung‘, ,das Wahre‘, ,das Schöne‘ oder ,Idealisierung‘, und montiert sie bruchstückartig zusammen. Wichtige Theoretiker und Stichwortgeber waren Otto Ludwig (1813–1865), Gustav Freytag (1816–1895), Julian Schmidt (1818–1886) und Theodor Fontane (1819–1898). In einem Artikel Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 (1853) umreißt Fontane das Verfahren der ,Verklärung‘, das den Kern der Programmatik des bürgerlichen Realismus bildet. Fontane beobachtet in allen Lebensbereichen und zumal in den Künsten einen Realismus, der nach handfester Erfahrung verlangt, statt nach spekulativer Erkenntnis. Aus seiner Sicht treibt dieser falsche Blüten, indem er wahllos alles darstellt, was das Auge sieht, vor allem auch das, was sich von selbst verstehe, beispielsweise die „Schattenseiten“ des Lebens, die alltägliche Wirklichkeit (ebd., 145). Dies sei ein falsch verstandener, ein „prosaische[r] Realismus“, dem „die poetische Verklärung“ fehle (ebd., 142), die den „echte[n] Realismus“ auszeichne (ebd., 146). Fontane findet ein Gleichnis: der falsche Realismus verhält sich zum echten Realismus wie „das rohe Erz zum Metall“ (ebd., 146). Dieses Gleichnis erklärt, dass der wahre Realismus nicht von der Wirklichkeit absehen muss, sondern aus ihr, wie aus einem „Marmorsteinbruch“, seinen „Stoff“ (ebd.) nimmt, um ihn zu bearbeiten. Auf welche Weise der künstlerische Zugriff zu erfolgen hat, bleibt recht vage. Das höchste Gebot besteht aber darin, die Wirklichkeit nicht bloß abzubilden, sondern mit Hilfe der Kunst aus ihr das Wahre herauszustellen: „Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre“ (ebd., 147; Hervorh. im Text). Erst Verklärung kann das Wahre rein hervortreten lassen, das durch Aspekte des Hässlichen und Alltäglichen verhüllt werden würde. Diese Ästhetik steht ganz im Dienst des delectare: Eine Literatur, die den desillusionierenden Alltag der Armen darstellt, kann nicht unterhalten oder erbauen. Da sie abstößt, kann sie keine weitere positive Wirkung entfalten und insofern auch nicht moralisch wirksam sein (docere). Eine ähnliche Bestimmung des Realismus lanciert Julian Schmidt in seinem Artikel Schiller und der Idealismus (1858). Auch er unterscheidet den wahren von dem falschen Realismus. Letzterer nimmt die Wirklichkeit in allen Details in den Blick, gibt sich der „Anschauung des wirklichen Lebens“ hin (ebd., 119) und vermag nicht zu unterscheiden. Der wahre Realismus hingegen hat Sinn „für den wahren Inhalt der Dinge“ (ebd., 120). Insofern, so folgert Schmidt, ließe sich der wahre Realismus auch mit dem Idealismus vergleichen, der sich ebenfalls dem „Wesen der Dinge“ widme (ebd., 121). Im wahren Realismus jedoch lässt sich das Ideal aus der Wirklichkeit synthetisieren und wird nicht im Kontrast zu ihr und in innerer Schau des Schönen entworfen. Konkrete Hinweise darauf, welche ästhetischen Qualitäten das realistische Kunstwerk auszeichnen sollten, gibt Schmidt nicht. Sein Artikel Der neueste englische Roman und das Prinzip des Realismus (1858) betont indes die Kategorie des delectare. Der Realismus möge zu „erfreulichen Kunstwerken“ führen, indem er „in der Wirklichkeit zugleich die positive Seite“ aufsucht und „mit Freude am Leben verknüpft“ ist (ebd., 118).
4. Bürgerlicher Realismus
Gustav Freytag, der mit Julian Schmidt seit 1848 das einflussreiche literaturkritische Organ Die Grenzboten herausgab, widmete sich in seinen Rezensionen bevorzugt der Gattung des Romans, in der er sich selbst einen Namen machte (u. a. mit Soll und Haben 1855). In einer seiner Rezensionen sind Anklänge an Schillers Ästhetische Erziehung zu vernehmen, wenn etwa vom „Reiche der Kunst, der Freiheit und Schönheit“ die Rede ist (Bucher 1975, 72). Die Aufgabe des Romanschriftstellers sieht Freytag darin, sich den zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren Charakteren zu widmen, dem „Kreis des deutschen Lebens“ (ebd.), und diese „genau zu idealiseren“ (sic., ebd., 73). Mit welchen ästhetischen Verfahren diese Idealisierung zu erfolgen hat und welche wirkungsästhetische Maxime sie leitet, wird aus einer anderen Besprechung deutlich. Die Lektüre des Romans soll beim Leser das Gefühl der Behaglichkeit auslösen. Nichts soll diesen irritieren, stören oder langweilen. Dies leiste der Roman, wenn er „als eine geschlossene Einheit“ (Plumpe 1997, 224) erscheine und seine Handlung einen „innern Zusammenhang“ aufweise (ebd., 224). Das Gefühl der Behaglichkeit soll den Leser dazu veranlassen, frei über die Dinge nachzudenken und sich einen Überblick über die vernunftmäßige Abfolge der Ereignisse zu verschaffen, so dass er in seinen moralischen Werturteilen versichert wird. Bedingung für Verklärung leistet hier die Preisgabe der Komplexität lebensweltlicher Phänomene. Dieser Verzicht garantiert, dass der Leser sich erbaut und in seiner Moral gestärkt fühlt. Delectare und docere gehen eine ideale Verbindung ein. Eine deutlich klassizistisch konnotierte Ästhetik vertritt Freytag in seiner Schrift Die Technik des Dramas (1863), die an Aristoteles’ Poetik angelehnt ist und diese für die moderne Dramatik fruchtbar machen will. Sie weist in ihrem Gestus den Charakter einer Regelpoetik auf und setzt sich für eine streng komponierte Form des Dramas ein. Nicht zuletzt ist sie durch eine kleine Skizze im Gedächtnis geblieben, die den an Aristoteles’ Vorgaben ausgerichteten idealtypischen Dramenaufbau verbildlicht (vgl. Freytag 1876, 179). Für den Dramatiker gelten dieselben Prämissen wie für den Erzähler: Er soll „Unwesentliches ausscheiden, die Hauptsachen hervorheben“ (ebd., 12) und seinen Stoff auf diese Weise „idealisiren“ (sic, ebd., 35, vgl. 15). Wie Aristoteles schenkt Freytag der Handlung (mythos) besondere Aufmerksamkeit. In dieser sollen die „innere Notwendigkeit“ und der „innere Zusammenhang“ (ebd., 26) der Ereignisse hervortreten, die Teile der Handlung zu einem „organischen Ganzen“ verbunden werden (ebd., 27). Das Prinzip der Wahrscheinlichkeit, das für Aristoteles so zentral war und das Gottsched in seiner Critischen Dichtkunst ausführlich diskutiert, muss eingehalten werden (vgl. ebd., 44–53). Wie im Leser eines Romans erregt dessen Einhaltung im Zuschauer des Theaterstücks das Gefühl der Behaglichkeit und entspricht „den Bedürfnissen des Verstandes und Herzens“ (ebd., 40). Soziales Elend ist nicht zuzumuten. Die Darstellung der „sociale[n] Verbildungen des wirklichen Lebens, Tyrannei der Reichen, die gequälte Lage Gedrückter, die Stellung der Armen“ würde nur zu einer „quälenden Verstimmung“ der Zuschauer führen (ebd., 57). Gefragt ist Komplexitätsreduktion, die Verklärung herbeiführt. Noch deutlicher lässt der Erzähler und Dramatiker Otto Ludwig in seinen Shakespeare-Studien (1858–1860) das klassizistische Formideal anklingen. Der Realist bildet die Welt nicht
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einfach nach, wie der Naturalist, sondern erschafft sie neu und zwar so, dass ein geschlossenes, einheitliches und harmonisches Ganzes entsteht, dessen Einzelteile nachvollziehbar wie Rädchen ineinandergreifen (vgl. Plumpe 1997, 148 f.). Es soll eine totale Welt geschaffen werden, die hilft, die eigene Welt besser zu begreifen. Das Verfahren der Verklärung entsorgt oder verwandelt das Unschöne und Hässliche und stellt das Positive und Angenehme heraus. Voraussetzung ist ein hohes Maß an Reduktion. Es fragt sich, inwieweit das Prinzip der Nachahmung gemäß der Wahrscheinlichkeit mit dem der Verklärung überzeugend in Einklang gebracht werden kann, denn letztere kann zur Konstruktion einer idealisierten Kunstwelt führen, die in Kontrast zu einer als möglichen empfundenen Welt steht, die keinen Wiedererkennungseffekt leistet und weniger wahrscheinlich anmutet als gefordert. Sucht man nach einem Beispiel für eine verklärende Erzählweise, bietet sich Gottfried Kellers (1819–1890) Roman Der grüne Heinrich (1854/55) an. Er schildert den Lebensweg Heinrich Lees, der es sich in den Kopf gesetzt hat, ein Künstler zu werden. Nach problematischen Schulerfahrungen und der Begegnung mit seiner Jugendliebe Anna, die früh stirbt, versucht er vergeblich, in der Münchner Kunstszene Fuß zu fassen. Heinrichs Vater ist früh verstorben. Seine in ärmlichen Verhältnissen lebende Mutter betrachtet seinen Werdegang zwar mit Sorge, ist aber bis zur Selbstaufgabe bereit, ihrem Sohn die nötige finanzielle Unterstützung zu leisten. Nicht zuletzt wegen seines Endes gilt dieser Roman, besonders in seiner ersten Fassung (die zweite erschien in modifizierter Form 1879/80) auch als Desillusionierungsbzw. als Antibildungsroman: Nach etlichen Jahren kehrt Heinrich nach Hause zurück. Als er in seinem Heimatdorf ankommt, wird seine Mutter gerade zu Grabe getragen. Kurze Zeit später, in Gedanken an seine Liebe Dortchen, die Tochter des Grafen, der ihn schließlich unterstützte, stirbt auch er. Das an sich bedrückende Ende erscheint verklärt, indem Farben und Licht die Szene synästhetisch anreichern: Der Himmel jener Jahre schien […] Heinrich vorüberzuziehen in der blauen wolkenreichen Höhe. Er vermochte aber den lachenden Himmel und das grüne Land nicht länger zu ertragen und wollte zur Stadt zurück, wo er sich in dem Sterbegemach der Mutter verbarg. Die Liebe und Sehnsucht zu Dortchen wachte aufs neue mit verdoppelter Macht auf, seine Augen drangen den Sonnenstrahlen nach, welche über die Dächer in die dunkle Wohnung streiften, und seine Blicke glaubten auf dem goldenen Wege, der zu einem schmalen Stückchen blauer Luft führte, die Geliebte und das verlorene Glück finden zu müssen. Er schrieb alles an den Grafen; aber ehe eine Antwort da sein konnte, rieb es ihn auf, sein Leib und Leben brach und er starb in wenigen Tagen […]. So ging denn der tote grüne Heinrich auch den Weg hinauf in den alten Kirchhof, wo sein Vater und seine Mutter lagen. Es war ein schöner freundlicher Sommerabend, als man ihn mit Verwunderung und Teilnahme begrub, und es ist auf seinem Grabe ein recht frisches und grünes Gras gewachsen. (Keller 2007, 897 f.) Dem Eindruck eines desillusionierenden Ausgangs, an dem zwei Menschen sterben, noch dazu eine Mutter beladen mit den Schulden des gescheiterten
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Sohnes, steuert der Blick auf das Positive entgegen, auf die warme und lichtdurchflutete Natur und ihre Farben. Der Erzähler beschreibt die Szene aus einer gewissen Distanz und mit einer Leichtigkeit, die dazu angetan ist, den Leser nicht verstimmt zu entlassen, sondern Trost zu stiften und Hoffnung auf die Zukunft zu erzeugen. Ob tatsächlich ein behagliches Lesevergnügen erzielt wird, bleibe dahingestellt. Der grüne Heinrich fand bei den zeitgenössischen Literaturkritikern insgesamt keine gute Aufnahme. Julian Schmidt lobte zwar „das poetische Auge des Dichters“ (Bucher 1975, 381), monierte aber die Neigung zu reflektierenden Abschweifungen, die verhinderten, das Wesentliche in den Charakteren zu erblicken. Keller strebe „zu hastig dem Auffallenden und Ungewöhnlichen“ nach, so dass er Freude an der Lektüre nicht recht aufkommen lasse. Es fehle „die behagliche Ruhe der Erzählung“ (ebd., 382). Der Roman fungierte, wie viele andere Literaturen der Zeit, als Mittel der Theoriebildung. Die Praxis ging dieser, wie häufig in der Literaturkritik, voraus. Welchen Status die realistische Programmatik hinsichtlich der Praxis der Literaturproduktion tatsächlich beanspruchen darf, ist umstritten. Es wird davon ausgegangen, dass viele derjenigen Texte, die in den Kanon Eingang gefunden haben, dieses Programm kaum überzeugend repräsentieren (vgl. Aust 2006, 64). Allerdings bildet es innerhalb der Poetikgeschichte einen bemerkenswerten Beitrag, da es stärker als die Romantik klassizistische Prämissen einfordert, das Bedürfnis nach ästhetischer Einheit und Ganzheit. Dieses wird sich auch in der aspektreich schillernden Klassischen Moderne um 1900 nicht verlieren, auch wenn ihre literarischen Manifeste insgesamt ein recht heterogenes Bild abgeben.
5. Literarische Manifeste um 1900 Ein weiterer Höhepunkt literaturtheoretischer Auseinandersetzung findet sich um 1900. Die Programmatiken nehmen sich nun ebenso vielgestaltig aus wie die Literatur selbst, die von einem Stilpluralismus gekennzeichnet ist. Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Neoromantik sind nur einige Konzepte, die den zahlreich erscheinenden Manifesten zugrunde liegen. Sie zeichnen sich häufig durch heftige Polemik und einen pathetischen Gestus aus. Die Kritiker kämpften um eine möglichst markante Position in einem kulturellen Feld, das zunehmend von heterogenen Kräften und Einflüssen bestimmt wurde, das sich in hohem Grade im Austausch mit der gesamteuropäischen Literatur befand und sich schnell veränderte. Im deutschsprachigen Raum hatten sich beispielsweise mit Berlin und Wien zwei Zentren ausgeprägt, die offen ins Ausland blickten, von denen maßgebliche Impulse ausgingen und die miteinander konkurrierten und agierten. Berlin war ein Zentrum der naturalistischen Programmatik, die in Emile Zola (1840–1902) ein wichtiges Vorbild fand und maßgeblich von Arno Holz (1863–1929) bestimmt wurde. Vertreter der Wiener Moderne, allen voran Hermann Bahr (1863–1934), nahmen eine Gegenposition ein und plädierten in einem bereits expressionistisch anmutenden Pathos und in kritischer Auseinandersetzung mit der europäischen Bewegung des Ästhetizismus und des l’art pour l’art (vgl. Luckscheiter 2003) für eine ,Überwindung des Natu-
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ralismus‘. Von den überlieferten Regelpoetiken sind diese essayistischen Manifeste weit entfernt. Allerdings arbeiten sie sich weiter am Konzept der Nachahmung ab und finden unterschiedliche Lösungen. Die Naturalisten forderten, dass die Literatur das Leben auch der benachteiligten gesellschaftlichen Schichten möglichst wirklichkeitsgetreu abbildet und so eine soziale Funktion übernimmt. Die Programmatik der Wiener Moderne verlangte zum einen eine Literatur, deren Ästhetik dem spezifisch Modernen Rechnung trägt, das heißt dem Nervösen als dem Inkommensurablen. Zum anderen beklagte sie jedoch auf dem Feld der Kunst ein ästhetisches Vakuum und lancierte eine Kritik an der Moderne. Emile Zola hatte mit seinem Roman Thérèse Raquin (1867) und dem Romanzyklus Les Rougon-Marquart (1871–1893) den Blick auf die Überlebensbedingungen und Probleme der benachteiligten gesellschaftlichen Lebenswelten gelenkt. Diese Texte imponierten durch ihre wache, scharfe und schonungslose Detailanalyse, die aus der Sicht der deutschen Naturalisten nicht verklärte. Die faszinierenden Darstellungen des Milieus galten als getreue und dennoch poetische Abbilder der Realität. Zola machte eine Theorie für die Literatur fruchtbar, die der positivistisch inspirierte Philosoph und Literaturkritiker Hippolyte Taine (1828–1893) angedacht hatte. Seine Trias milieu, race, temps wurde zum Stützpfeiler des gesamteuropäischen Naturalismus. Der Literatur sollte die Aufgabe zukommen, nachvollziehbar darzustellen, wie die Protagonisten sich in Abhängigkeit ihres Umfeldes (milieu), ihrer genetischen Disposition und erblichen Belastung (race) und der geschichtlichen Gegebenheiten (temps) entwickeln. Zolas Ästhetik und mit ihr die Vererbungs- und Milieutheorie wurde für die deutschen Naturalisten die Leitlinie literarischen Schreibens. Im Zentrum der Debatten stand das Mimesispostulat. Ein interessanter Text, der einerseits den Naturalismus bereits andenkt, andererseits auf seine ,Überwindung‘ vorausweist, ist Karl Bleibtreus (1859–1928) Revolution der Litteratur (1886). Bleibtreu erhebt Zolas 1885 erschienenen Roman Germinal (1885) emphatisch zum Leitbild und zur „Bibel des dichterischen Naturalismus“ (Brauneck/Müller 1987, 47). Er visiert einen neuen Realismus an, der sich vom bürgerlichen Realismus unterscheiden und den Schulterschluss mit dem französischen Naturalismus suchen soll. Unter Realismus versteht Bleibtreu „diejenige Richtung der Kunst, welche allem Wolkenkukuksheim entsagt und den Boden der Realität bei Wiederspiegelung des Lebens möglichst innehält“ (ebd., 44). Unter das ,Wolkenkukuksheim‘ fällt für Bleibtreu auch die Regel der Wahrscheinlichkeit, die den Zufällen und den Geheimnissen des Lebens nicht gerecht werde (vgl. ebd., 45). Indem diese Geheimnisse wieder Eigang in die Literatur finden, soll es zu einer Synthese zwischen „Realismus und Romantik“ (ebd.,) kommen, die den idealen Naturalismus ausmacht. Bleibtreu liefert eine Definition der ,Neuen Poesie‘, die Anschluss sucht an die gängigen Diskurse, aber gerade deswegen etwas vage bleibt: „Die Neue Poesie wird […] darin bestehen, Realismus und Romantik derartig zu verschmelzen, dass die naturalistische Wahrheit der trockenen und ausdruckslosen Photographie sich mit der künstlerischen Lebendigkeit idealer Composition verbindet“ (ebd., 45; Hervorh. im Text). Einer idealen Darstellung gelingt es, mit „sinnlich greifbarer Gestaltung zu photographiren“ [sic] und mikroskopisch und pla-
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stisch „die seelischen Vorgänge in ihren intimsten Verschlingungen“ überzeugend einzufangen (ebd.). Der Blick in das Seelische ermöglicht den Anschluss an die Romantik, mit dem Unterschied, dass Bleibtreu davon ausgeht, dass dieses Seelische in seinen Gesetzmäßigkeiten erfassbar und fixierbar ist. Den ästhetischen Kern des Naturalismus entwickelte der Literat und Kritiker Arno Holz, wie Bleibtreu Mitglied des Berliner literarischen Vereins Durch!. In Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (1891) widmet er sich ebenfalls dem Problem der Nachahmung und macht die Prämisse stark, dass Kunst die Realität unverklärt abzubilden hat. Allerdings nimmt er das Faktum ernst, dass die ästhetische Verfasstheit literarischer Texte unweigerlich dazu führen muss, dass die Realität nicht eins zu eins abgebildet werden kann. Für diesen Tatbestand findet er die Formel „Kunst = Natur - x“. Sie bildet die Forderung nach einer absoluten Mimesis ab, die sie durch den Faktor x zugleich als unerfüllbar deklariert. Für die Theorie des bürgerlichen Realismus bildete dieses x eine wesentliche Möglichkeit der Verklärung. Für Holz geht es darum, diesen Faktor x möglichst gering zu halten, wenn es schon nicht möglich ist, ihn vollständig zu eliminieren. Dieser Faktor wird zum einen durch die „Reproductionsbedingungen der Kunst“ [sic] bestimmt, beispielsweise durch das Material, zum anderen durch deren „Handhabung“ (Brauneck/Müller 1987, 149), durch die Art und Weise des Umgangs mit dem Material. In Anverwandlung des Aristotelischen Mimesispostulats formuliert Holz die Eigenart der Kunst folgendermaßen: „Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Massgabe ihrer jeweiligen Reproductionsbedingungen und deren Handhabung“ (ebd.; Hervorh. im Text). Umso mehr sich der Künstler der Einschränkungen bewusst ist, die ihm die Bedingungen der Fertigung und sein eigenes Vermögen auferlegen, umso besser gelingt es ihm, die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, Funktionalismen und Tatsachen möglichst unverstellt vor Augen zu führen, das x möglichst gering zu halten und die Kunst der Natur anzunähern. Zur selben Zeit erhoben sich in Wien Stimmen, die gegen den Naturalismus zu Felde zogen und für die Literatur und Kunst andere Inhalte forderten. Der Autor, Literaturkritiker und Publizist Hermann Bahr legte 1891 seine provokative Essaysammlung Überwindung des Naturalismus vor. Ihr Tenor lautet, dass nicht mehr die äußere Wirklichkeit Stoff künstlerischer Darstellung sein soll, sondern das Innenleben des modernen Menschen, ein nervöses Innenleben, das ständig von Sensationen heimgesucht wird, die nach Ausdruck verlangen. Mitzudenken ist, dass zu dieser Zeit in Wien Sigmund Freud (1856–1939) begann, die Psychologie hoffähig zu machen. Wenn die Kunst sich den modernen Entwicklungen anpassen will, dann hat sie auch das Nervöse ernst zu nehmen. Empfindungen und seelische Vorgänge eines modernen Ich, das sich wie ein Proteus ständig verwandelt, sollen nun Gegenstand der Nachahmung sein, an der sich Bahr jedoch theoretisch kaum ernsthaft abarbeitet. Der Essay Die neue Psychologie sieht, dass das Interesse für die „états de choses“, den „ewigen Sachenstände[n]“, demjenigen für die „états d’âme“, den „Seelenständen“, gewichen sei (Bahr 2004, 90). Es bleibt jedoch unklar, wie diese Seelenstände in der Schriftform ausgedrückt werden könnten.
Arno Holz: Kunst=Natur-x
Hermann Bahr: Literatur der Seelenstände
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Hingegen wiederholt der Text in abundanter Rhetorik die Forderung nach einer Kunst, deren neuer Maßstab vor allem in ihrem neuen Gegenstand zu suchen ist, in der Beobachtung der komplizierten Gefühlslage des modernen Menschen. Gefragt ist eine neue Wahrnehmungsform der Kunst, die Stoffsuche, mithin inventio, auf neuartige Weise betreibt. Die ,neue Psychologie‘ ist jene Wahrnehmungsform, der sich der moderne Künstler verschreibt, die „ihre ersten Elemente“ und „Anfänge in den Finsternissen der Seele“ sucht, „diesen ganzen langwierigen, umständlichen, wirr verschlungenen Prozess der Gefühle, der ihre komplizierten Thatsachen am Ende in simplen Schlüssen über die Schwelle des Bewußtseins wirft“ (ebd., 93). In Abweisung des Naturalismus liefert Bahr eher eine anthropologische Bestandsaufnahme denn eine theoretisch fundierte Literaturkritik, die zugleich ästhetisch nachvollziehbare Maximen vertritt. Der Text selbst gibt sich so unfassbar wie der anvisierte Gegenstand, relativ unverständlich und vage, dabei vorgetragen mit einem Pathos des Neuanfangs. Einer handfesten theoretischen Auseinandersetzung geht er aus dem Weg und legt sich nicht fest: Bahr ist sich bewusst, dass sich die Literatur der Zeit in einer rasanten Entwicklung befindet und das auch die Zeit der Seelenstände bald wieder vorbei sein wird. Aus den anthropologischen Bestandsaufnahmen spricht indes das Bedürfnis nach einem Punkt der Beständigkeit und Sicherheit, der jedoch gerade nicht in der Überlieferung der Väter zu suchen sei. Deutlicher wird dieses umfassende Bedürfnis in Bahrs Essay Die Moderne, der einige Gedanken aus Friedrich Nietzsches (1844–1900) Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874) aufnimmt, der zweiten der Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876). Nietzsche kritisiert den verstaubten Historismus der Großväter, der Entwicklung verhindert und den Menschen in „Moderduft“ hüllt (Nietzsche 1999, Bd. 1, 268). Bahr beklagt den „Trümmerschutt der Überlieferung“ (Bahr 2004, 13) in den Seelen der Modernen, der sie hemmt, mit der Zeit zu gehen und sich den Entwicklungen der Außenwelt anzupassen, das Innen mit dem Außen in Harmonie zu bringen. Diese Harmoniestiftung sieht Bahr als die Aufgabe der „neue[n] Kunst“ (ebd., 14). Schillers Ästhetische Erziehung ließe sich mitlesen, denn auch Bahr diagnostiziert, freilich vor einem anderen Hintergrund, eine Entzweiung des Menschen von der Natur, die durch die Kunst aufzuheben ist. Respektive solcher Appelle, das Alte von sich zu werfen und einen ganz neuen Anfang zu suchen, wird die Wiener Moderne bisweilen als eine krisenhafte Avantgardebewegung gesehen (vgl. Jung 2007, 193), die sich im Anschluss an Tendenzen in Frankreich einem gehaltsfernen Ästhetizismus verschrieben habe (vgl. Kafitz 2004, 100). Betrachtet man jedoch Bahrs Essayistik genauer, insbesondere seine erste Essaysammlung Zur Kritik der Moderne (1890), oder Hugo von Hofmannsthals (1874–1929) frühe Auseinandersetzung mit Frankreich, ist diese Auffassung zu revidieren. Die Autoren votieren eher wieder für eine Ästhetik, die den Anschluss an klassizistische Formdiskurse sucht (vgl. Arend 2010). Kaum beweist die Literatur selbst den Wunsch nach gewagten Experimenten, sondern arbeitet sich eher an Traditionen produktiv ab. Man denke beispielsweise an Arthur Schnitzlers (1862–1931) in der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels stehendes Schauspiel Liebelei (1896).
5. Literarische Manifeste um 1900
6. Ausblicke: Antimimesis und Poetizität, das Paradigma der Schrift (écriture), Brechts Erinnerung an Aristoteles Im weiteren Verlauf der Literaturgeschichte ist das Verhältnis zu den Traditionen weiter häufig von einer affektiven Ablehnung des ,Alten‘ geprägt, so etwa in den zahlreichen Manifesten des Expressionismus. Wie diejenigen Bahrs nehmen sie sich in ihren theoretischen Perspektiven oft nicht sehr präzise aus. Auch hier scheint „eine klare Abgrenzung zwischen Manifest und dichterischer Praxis häufig gar nicht eindeutig möglich“ (Bogner 2009, 64) und reflektieren die Texte ästhetisch das, was sie propagieren (vgl. ebd., 65). Ein wichtiger Kritiker war Kasimir Edschmid (1890–1966), der in seiner Rede Expressionismus in der Dichtung (1917) gegen das Nachahmungspostulat polemisierte und für eine Kunst plädierte, die sich jenseits der fassbaren Lebenswirklichkeit eigene Gesetze schafft (vgl. ebd., 64 f.). Konsequenter als in der Wiener Moderne erscheint in der Literatur des Expressionismus die Lossagung von tradierten Formen eingelöst. In noch höherem Grade war dies in der internationalen Bewegung des Dadaismus der Fall, der in Deutschland teilweise durch den Expressionismus inspiriert wurde, Schnittpunkte mit dem Futurismus und dem Surrealismus aufweist und sich als Sprachrohr für alle Künste verstand. Wichtige Vertreter in Deutschland waren Hugo Ball (1886–1927) und Hans Arp (1886–1966). Hugo Ball verfasste 1916 sein Manifest Der Künstler und die Zeitkrankheit, das viele zentrale Begriffe der Poetik und Ästhetik, wie ,Stil‘, ,Autor‘, ,Nachahmung‘ oder ,Originalität‘ in Frage stellt. Gemeinsam mit Hans Arp u. a. gründete er 1916 in Zürich das Cabaret Voltaire, das zu einem Zentrum der dadaistischen Kunst wurde und eine Bühne für antiklassizistische Formexperimente bot. Etwa zeitgleich traten in Russland die Formalisten auf den Plan, unter ihnen Roman Jakobson (1896–1982) und Boris TomaÐevkij(1890–1957). Auch sie betonten den Eigenwert des Kunstwerks, das jenseits vom Zeitgeist entsteht und weder als Transportmittel für Ideen noch als Medium, das die Wirklichkeit und die soziale Realität widerspiegele, zu begreifen sei. Sie richteten die Aufmerksamkeit auf die spezifische ,Poetizität‘ bzw. ,Literarizität‘ der Sprache, auf die ästhetischen Verfahren im Einzelnen, die einen Text als literarischen Text ausweisen. Grundlegend war die Auffassung, dass zwischen Alltagssprache und literarischer Sprache unterschieden werden könne. Kennzeichen literarischer Sprache seien Normbrüche und Verfremdungseffekte. Da sich das Interesse der Formalisten vor allem auf die Form richtete, standen sie der Linguistik nahe. Die russischen Formalisten übten erheblichen Einfluss auf den französischen Strukturalismus aus. Im Frankreich der 1970er Jahre waren es, wie gezeigt (vgl. Kap. IV. 3), zunächst Linguisten, die aus der klassischen Rhetorik den Bereich der elocutio als Gegenstand des Interesses herausschälten und ihre Aufmerksamkeit auf die Eigenarten und Funktionen der Figuren lenkten. Bereits hier zeichnete sich der Begriff der ,Rhetorizität‘ ab, der Schnittpunkte mit demjenigen der ,Poetizität‘ aufweist. In dem Maße, wie die Poetizität der Sprache in den Mittelpunkt geriet und bestritten wurde, dass Literatur unter Berücksichtigung ihres kulturellen Kontextes und der Ideengeschichte zu lesen und zu interpretieren sei, erhielten Text, Autor und Leser einen anderen Status. So propagierte Ro-
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VIII. Poetik und Moderne
land Barthes den ,Tod des Autors‘ (La mort de l’auteur, ersch. 1968) und erklärte die Schrift (écriture) zu einem „Gewebe von Zeichen“, das den Rezipienten zur Tätigkeit herausfordert, ihn zwingt, diese Zeichen zu untersuchen, sie zu zerlegen und wieder neu zu arrangieren (Barthes 2000, 191; vgl. ders. 1966). Diese Tätigkeit kann von Leser zu Leser anders ausfallen und andere Ergebnisse zeitigen. Es kommt hinzu, dass die Schrift selbst es dem Leser erschwert, einen Sinn endgültig zu fixieren. Obsolet und anachronistisch erscheint die zuerst in Platons Ion vertretene Auffassung, dass dem Text ein fest eingeschriebener Sinn innewohnt, der aufzuspüren sei. Die écriture produziert und verweigert einen solchen zugleich: Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durchstoßen werden. Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen. Sie führt zu einer systematischen Befreiung vom Sinn. Genau dadurch setzt die Literatur (man sollte von nun an besser sagen: die Schrift), die dem Text (und der Welt als Text) ein ,Geheimnis‘, das heißt einen endgültigen Sinn, verweigert, eine Tätigkeit frei, die man gegentheologisch und wahrhaft revolutionär nennen könnte. (Barthes 2000, 191; Hervorh. im Text) Der Autor spielt auch deshalb keine Rolle, weil er es nicht selbst ist, der seinen Text in origineller Weise produziert. Er ist selbst ein Leser, der unbewusst oder bewusst aus dem kulturellen Gedächtnis schöpft. Die inventio der Schrift kann niemals nur sein Werk sein, weil alles, was er schreibt, bereits geschrieben, gesagt oder gedacht wurde. Der Autor wandert in Zitaten – zumal der gelehrte Autor, der einstmals in den Poetiken gefeierte poeta doctus, der viel belesene und in den Wissenschaften bewanderte Dichter. „Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“ (ebd., 190). Der Autor wird deshalb bei Barthes zum Schreiber (scripteur), dessen „Macht“ darin besteht, „die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren“ (ebd.). Im Bereich der dispositio, hier der Zusammenfügung der Zitate, kann er sich noch als besonders kunstfertig erweisen. Zur bedeutsameren Instanz allerdings avanciert nun der Leser. Er läuft dem ,Autor‘ den Rang ab, weil er der eigentliche Träger der Zitate wird, die sich in ihm sammeln und bündeln, ob er es will oder nicht. Formalismus und Strukturalismus haben durch die Paradigmen der Poetizität und der écriture in unterschiedlicher Weise die elocutio endgültig aus ihrem regelpoetischen Kontext herausgelöst, in dem sie einst, verhaftet im Wurzelwerk der klassischen Rhetorik, einen festen Platz beanspruchte. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts und besonders im Zuge des Antimimesispostulats verlieren sich zusehends die Fäden zur normativen Poetik und geraten deren Stützpfeiler immer mehr ins Wanken, ohne aber restlos zusammenzubrechen. Bertolt Brechts (1898–1956) Schriften zum epischen Theater erinnern an sie in bemerkenswerter Weise. Sie wurden in den Jahren zwischen 1933 und 1941 verfasst und beweisen eine produktive, vielleicht bisweilen etwas eigenwillige, Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Poetik. Diese hält Brecht zwar als für die moderne Zeit nicht mehr angemessen, aber er nutzt sie, um die Theorie seines epischen Theaters zu entwickeln. Auch er stellt den Aspekt der Wirkung ins Zentrum, gewichtet ihn aber anders und sieht als Ziel des epischen Theaters die Provokation. Auch das epi-
6. Ausblicke
sche Theater widmet sich dem Allgemeinmenschlichen und erreicht alle gesellschaftlichen Stände und Klassen. Als nichtaristotelisches Theater konzipiert, ist es aber nicht seine Absicht, bei den Zuschauern eine kollektive und rein emotionale „Einfühlung“ zu bewirken (Brecht 1967, 241), sondern kritische Distanz, die jedoch emotionale Anteilnahme keineswegs ausschließt. Dafür übernehmen erzählende Elemente eine konstitutive Funktion. Montagen, Projektionen oder Tafeln auf der Bühne bilden die Umwelt und ihre möglichen Reaktionen ab, erläutern und kommentieren die Vorgänge, erschweren die Einfühlung auf Seiten der Zuschauer und setzen einen „Entfremdungsprozeß“ (ebd., 265) in Gang, der Distanz und in der Folge Verstehen gewährleistet. Die kathartische Wirkung ersetzt Brecht durch die Provokation. Der Theaterbesuch soll nachhaltig dazu beitragen, dass der Zuschauer eine gesellschaftskritische und -verändernde Haltung entwickelt. Dabei hält Brecht deutlich an einer Maxime der antiken Poetiken fest: Auch im Lehrtheater lernt und amüsiert sich der Zuschauer zugleich, es nützt und stiftet Vergnügen (vgl. ebd., 267). Die Überlegungen zu Kunst und Dichtung sind in Deutschland seit den 1950er Jahren in besonderer Weise von den Erfahrungen der Weltkriege geprägt. Vor allem flammte die Diskussion darüber auf, welche Verantwortung dem Autor in einer Gesellschaft noch zukommen, welche Funktion Dichtung einnehmen kann. An der Universität Frankfurt am Main wurde 1959/60 die erste Gastdozentur für Poetik gegründet. Ingeborg Bachmann (1926–1973) war die Erste, die dort zu einer Vorlesungsreihe über Fragen zeitgenössischer Dichtung eingeladen wurde. Die Einrichtung hat bis heute Bestand und wird auch an anderen Universitäten gepflegt. Autoren geben Einblicke in die Umstände, Kontexte und Probleme ihres eigenen Schreibens, sprechen über ihre eigenen, aber auch über Texte ihrer Kollegen. Die Poetikvorlesung hat sich heute als eine eigene Gattung etabliert und die Regelpoetik abgelöst. Allerdings sprechen die Autoren auch über Regeln und das Verhältnis zu ihnen, wie im folgenden letzten Kapitel gezeigt wird.
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IX. Praxis des Schreibens 1. Kreatives Schreiben / Literarisches Schreiben Diese Einführung beansprucht nicht, das eigene Schreiben lehren zu wollen. Sie beschränkt sich darauf, einige Einblicke in die ,Ratgeberliteratur‘ zum literarischen Schreiben sowie in die Ausbildungsstätten des professionellen Literaturbetriebs zu geben. Ratgeberliteratur ist, wie im Falle der Rhetorik, in reichlichem Maße vorhanden. Wie gezeigt, stützen sich die praktisch ausgerichteten, modernen Anleitungen zur Rhetorik auf die klassische Systematik. Sie verweisen auf die Produktionsstadien der Rede, auf Redeteile sowie auf Aspekte der actio, wie sie sich in Ciceros und Quintilians Lehrbüchern finden. Den antiken Poetiken wird eine solche offene Aufmerksamkeit nicht zuteil. Auch wenn aber die Ratgeberliteratur (u. a. Gesing 2004; Stein 1998) in anderer Weise agiert und bisweilen in hohem Grade der Kommerzialisierung der Literaturlandschaft Rechnung trägt und am potenziellen Erfolg und der Wirkung ausgerichtet ist, nutzt sie Konzepte und Begriffe aus den Feldern Poetik und Rhetorik, die offenbar zu Konstanten avanciert sind. Außerdem lässt sich beobachten, dass Aspekte des poeta doctus erinnert werden. So heterogen das Feld der Schreibschulen auch sein mag – sie sind sich relativ einig in der Auffassung, dass Schreiben und Lesen zusammengehören, dass ein Autor sein eigenes Schreiben in der Auseinandersetzung mit der Lektüre anderer Texte entwickelt. Wie die antike Rhetorik und Poetik setzen sie Begabung voraus, wenn sie auch dem Grad an Fleiß und handwerklicher Übung eine höhere Bedeutung zuweisen. Anders ausgedrückt: Sie verbreiten einen gewissen Optimismus, Begabung durch ,Training‘ ausgleichen zu können. Nicht von ungefähr bezeichnen sie das Schreiben häufig als ,Handwerk‘, ein Begriff, der besonders in unserem Kulturkreis suggeriert, dass eine gründliche Ausbildung unter Anleitung irgendwann zu einem Meisterbrief führt. Neben der Ratgeberliteratur haben sich professionelle Institutionen entwickelt, die Studiengänge im Literarischen Schreiben anbieten, deren Pläne wiederum Zeugnis dafür ablegen, welch hohen Stellenwert sowohl Lektürekenntnis als auch theoretische Grundlagen einnehmen. Die Idee, Kreatives Schreiben (creative writing) umfassend und praxisorientiert zu lehren, stammt aus dem angelsächsischen Raum. Ein wichtiger Vordenker war der sozialkritische Schriftsteller Sir Walter Besant (1836–1901). Er wollte dem Autor in der Gesellschaft größere Anerkennung verschaffen und forderte an den Universitäten Professuren für das Schreiben, das als vollwertiger Beruf akzeptiert werden sollte. In seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel Das Handwerk des Schreibens (engl: The Practice of Writing, 1996) nennt David Lodge Besant den „,Vater der Kurse in Kreativem Schreiben‘“ (Lodge 2007, 37). Besant war der Meinung, dass das Schreiben, wie andere Künste auch, auf Regeln und Gesetzen beruht, die man lernen
1. Kreatives Schreiben / Literarisches Schreiben
könne. Lodge stimmt Besant in dieser generellen Einschätzung zu, kritisiert aber, dass er nicht auf die „Rhetorik“ rekurriere, die ja eine „Technik“ sei, in der sich u. a. jene Regeln und Gesetze finden ließen, zu denen sich Besant sehr vage äußere (ebd., 40). Lodge fordert für das ,Handwerk des Schreibens‘ einen sehr bewussten analytischen Umgang mit der Sprache, den Erwerb einer „Metasprache“, die den „Prozeß der Selbstkritik“ (ebd.) entscheidend vorantreiben könne, der für das Literarische Schreiben zentral ist. Hier zeichnet sich eine Diskussion ab, deren Spur bis in die Antike zurückführt: Verbessert der bewusste Umgang mit Regeln die Kunst oder verhindert er eher Originalität? Wie verhindert man, dass die Kenntnis von Regeln so angewendet wird, dass sie das Werk künstlich und technisch erscheinen lassen? Anders gefragt: Wie erreicht man das Ideal der dissimulatio artis? Lodge widerspricht jedenfalls der Auffassung, dass „das formale kritische Literaturstudium und der Versuch, eigene, neue Literatur zu schaffen, unvereinbar“ (ebd., 40) seien. Er spricht vermutlich für die Majorität des professionellen Literaturbetriebs. Ein wesentlicher Faktor für das praxisorientierte Schreibenlernen ist neben der Theoriereflexion und der Lektüre anderer Texte der Kontakt mit Autoren, die ihre Erfahrungen mit einbringen und Kritik üben. In Deutschland hat sich in diesem Sinne die Verbindung zwischen künstlerischer Praxis und akademischen Studium institutionell etabliert. Das Literarische Schreiben ist im Zuge der BA-Reformen in geregelte Studienpläne mit akademischen Abschlüssen integriert worden. An der Universität Hildesheim angesiedelt ist das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft unter der Leitung des namhaften Autors und Germanisten Hanns-Josef Ortheil (*1951), der als ständiger writer in residence fungiert. Das Institut pflegt als Schwerpunkt den Studiengang Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Spezieller ausgerichtet auf die ,Ausbildung‘ künftiger Autoren ist das aus dem ehemaligen Johannes R. Becher-Institut hervorgegangene Deutsche Literaturinstitut Leipzig, das von Hans Ulrich Treichel (*1952) geleitet wird, ebenfalls ein bekannter Schriftsteller und gelernter Germanist. In Leipzig können die Studierenden einen BA und einen MA ,Literarisches Schreiben‘ erwerben, nachdem sie allerdings in einem Bewerbungsverfahren ihre künstlerische Eignung unter Beweis gestellt haben. Aus diesem Institut sind etliche bekannte Autorinnen und Autoren hervorgegangen. Das Vorlesungsverzeichnis (SS 2011) zeugt von einer Mischung aus Theorie und Praxis, wobei die Seminare die Theorie stets in Verbindung mit der Schreibpraxis vermitteln wollen. Da findet sich eines zu ,Methodik, Poetik, Ästhetik des Literarischen Schreibens‘, das verspricht, sich Fragen der Komposition und des Verhältnisses zwischen beschreibenden und erzählenden Passagen zu widmen. Die Rhetorik lässt grüßen: Zur Debatte stehen folglich Fragen der dispositio, der narratio und der descriptio. Am Ende sollen die Studierenden in der Lage sein, die eigenen poetologischen Standpunkte in Essayform in Worte zu fassen. Ein anderes Seminar ,Erzähltheorie‘ stellt die Analyse von Erzähltexten in den Mittelpunkt. Die angegebene Sekundärliteratur ist aus dem Germanistikstudium bekannt: Monika Fluderniks Einführung in die Erzähltheorie, Gérard Genettes Die Erzählung oder Matias Martinez’ und Michael Scheffels Einführung in die Erzähltheorie. Daneben finden sich ,Romanwerkstätten‘, die ein Forum bieten, eigene Texte zur kritischen
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IX. Praxis des Schreibens
Diskussion zu stellen und zugleich an literarisch beispielhafter Lektüre erzähltheoretische Probleme zu erörtern. Auch wenn in anderen Kursen die Theorie nicht in den Vordergrund rückt, so wollen sie stets Reflektion auf kompositorische Problemlagen oder die ästhetische Verfasstheit der Sprache, die elocutio, vermitteln. Ein Hinweis auf die Rhetorik findet sich indes nirgendwo. Vielleicht erübrigt er sich. Ein Seminar mit dem Titel ,Vertiefungsmodul Formen der Prosa‘ widmet sich der Frage, mit welchen Mitteln ein Text Glaubhaftigkeit erweckt, das heißt, anders gesagt, wahrscheinlich wirkt. Damit wird eine zentrale Forderung der normativen Poetik berührt. Offenbar sind in diesem Studiengang ,Literarisches Schreiben‘ Begriffe und Konzepte der klassischen Rhetorik und Poetik implizit präsent, an denen sich die Studierenden abarbeiten sollen. Nicht selten verwenden die Ankündigungen Begriffe wie ,Werkstatt‘, ,Regeln‘ und ,Gesetze‘, die suggerieren, dass es sich beim Literarischen Schreiben um mehr handelt, als um eine bloße Eingebung, und dass mit Fleiß und Mühe einiges erlernt werden kann. Und doch werden alle Beteiligten sich der Tatsache bewusst sein, dass auch der disziplinierteste Besuch dieser Kurse nicht den Erfolg garantiert und dass dieser, wie beim Halten einer Rede, von vielen Dingen abhängig ist, im Falle der Literatur in hohem Maße von den Gegebenheiten des Marktes. Abgesehen davon lässt sich das Schreiben und sein „geheimnisvolle[r] Prozeß der Kreativität“ wohl nicht in aller Konsequenz ergründen (Lodge 2007, 46). Häufig erweckt gerade die unbekümmertere amerikanische Ratgeberliteratur den Eindruck, als sei das Schreiben zwar mit Mühe verbunden, aber nicht mit unüberwindbaren Schwierigkeiten. Der motivierende Gestus gehört zum Geschäft. Im Zentrum stellt sie gerne die Wirkung, die ein Text beim Leser erzielen soll. Es ist zu beobachten, dass Begriffe und Konzepte aus den Feldern Rhetorik und Poetik als selbstverständliche Orientierungsmarken fungieren. „Die wichtigste Aufgabe des Romanautors“ bestehe darin, „dem Leser ein Gefühlserlebnis zu vermitteln“ (Stein 1998, 19; Hervorh. im Text). Jenseits irgendeines offensichtlichen Bezugs auf die klassische Rhetorik wird das movere in den Dienst des delectare gestellt und der Autor als Dienstleister einer potenziell willigen Leserschaft gesehen, deren Bedürfnisse nach Lust und Vergnügen zu stillen seien: „Wir üben unsere Kunst aus, um dem Leser […] einen Dienst zu erweisen“ (ebd., 20). Stets muss der Autor an die mögliche „Wirkung“ (ebd., 19) denken und darauf achten, den Leser nicht zu langweilen, ihn bei Laune zu halten und vor allem Spannung zu erzeugen. Entsprechend geraten Kompositionsfragen ins Zentrum. Ein Kapitel verspricht den „Schlüssel zum gelungenen Handlungsentwurf“ (ebd., 140). Aristoteles wusste, dass die Handlung (mythos) als die Zusammensetzung der Geschehnisse das wichtigste Element, in seinem Fall des Dramas, bildet und die kathartische Wirkung wesentlich mitbestimmt. Auch an anderer Stelle ist Aristoteles präsent. Ein Kapitel erläutert den „Schlüssel zur Glaubwürdigkeit“ (ebd., 222) und macht darauf aufmerksam, dass dem Leser die Gründe einleuchten müssen, warum das Geschehen sich so und nicht anders vollzieht: „Die Leser werden das Unwahrscheinliche nicht bereitwillig hinnehmen“ (ebd., 224). Ein weiteres Kapitel trägt den Titel „Spannung, die den Leser nicht mehr loslässt“ (ebd., 145). Gefragt sind Strategien, Aufmerksamkeit zu erregen, das attentum parare zu leisten: „Sie müssen die
1. Kreatives Schreiben / Literarisches Schreiben
Neugier des Lesers wecken und so lange wie möglich aufrechterhalten, indem Sie Spannung erzeugen“ (ebd.). Ein anderer Ratgeber aus dem deutschen Sprachraum stellt ebenfalls den möglichen Rezipienten ins Zentrum. Es komme darauf an, „eine tragfähige Brücke zum Leser zu schlagen“ (Gesing 2010, 57). Er empfiehlt, sich an den Amerikanern zu orientieren und pragmatisch vorzugehen. Für die Figurenzeichung oder für den Entwurf des plots bietet er „Checkliste[n]“ an (ebd., 71, vgl. 119). Er fordert dazu auf, Lust und Vergnügen zu erzeugen und durch die Darstellung von Leid und Krisen im Sinne von Aristoteles den Leser zu erschüttern (vgl. ebd., 59, 32). Als wichtiges Ziel des Schreibens gilt, „Aufmerksamkeit“ zu erregen (ebd., 67) und „Glaubwürdigkeit“ zu erreichen (ebd., 68). Die Handlung soll aus „nachvollziehbaren Aktion[en]“ bestehen (ebd.). Wenn vor „Übertreibungen“ gewarnt wird, gerät das Gebot der Angemessenheit (aptum) mit ins Spiel (ebd., 69). Diese Einblicke in den institutionalisierten Literaturbetrieb und in die Ratgeberliteratur vermitteln den Eindruck, dass antike Poetik und Rhetorik, wenngleich diese nicht offen bemüht werden, offenbar sowohl aus produktions- als auch aus rezeptionsästhetischer Perspektive Standards formuliert haben, die auf anthropologischen Konstanten beruhen und die praktikable Orientierungspunkte bilden. In der historischen Sichtung literaturtheoretischer Standpunkte und der Krisen der Rhetorik hatte sich ebenfalls gezeigt, dass sie eine gewisse Beharrlichkeit beanspruchen. In erstaunlichem Maße werden sie heute bemüht, um die Grundlagen literarischen Schreibens zu erlernen, um die eigene Reflexion zu stärken, um Distanz zu gewinnen – sowohl zu eigenen als auch zu fremden Texten. Wenn sie auch bisweilen in fragwürdiger Weise genutzt werden, um eine Kunst zu lehren und zu produzieren, die vor allem am Markt erfolgreich zu sein hat, so beinhalten sie doch generell ein umfassendes Reflexionspotenzial, das zeitlos erscheint und sich auf weit mehr erstreckt, als auf die äußerlichen formalen Merkmale eines Textes. Sie sind offenbar verankert in anthropologische Vorannahmen, die sich bis heute als gültig erwiesen haben.
2. Die Poetikvorlesung: Autoren der Gegenwart über ihr Verhältnis zu den Regeln (Durs Grünbein, Robert Gernhardt) Seitdem die Universität Frankfurt am Main 1959/60 die erste Gastdozentur für Poetik einrichtete, ist die Poetikvorlesung zu einer beliebten Veranstaltung geworden, die auch an etlichen anderen Universitäten gepflegt wird. Häufig wird sie in Buchform veröffentlicht. Die Autoren sprechen über ihre Arbeit, über die Motive, die sie zum Schreiben veranlassten, über ihre Vorbilder, über andere literarische Texte sowie über die eigenen, auch bisweilen über die Schwierigkeiten, die ihnen beim Schreiben in den Weg traten. Bisweilen plaudern sie ein wenig aus dem Nähkästchen, wobei sie sicher das eine oder andere gerne verschweigen. Kein Künstler lässt sich ohne Weiteres in alle seine Karten schauen. Von Interesse ist in unserem Zusammenhang, wie sich namhafte Autoren zu der Frage nach Regeln und Gesetzmäßigkei-
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IX. Praxis des Schreibens
ten literarischen Schreibens äußern. Hier driften die Einstellungen weit auseinander, die Frage scheint eine existenzielle zu sein, deren Antwort Aufschluss gibt über das Selbstverständnis als Autor. Wie äußert sich dazu beispielsweise einer der erfolgreichsten Lyriker der Gegenwart, Durs Grünbein (*1962) in seiner Vorlesung Vom Stellenwert der Worte (Frankfurter Poetikvorlesung 2009)? Grünbein lässt zunächst in aller Kürze wichtige Stationen der Lyrikgeschichte Revue passieren und erzählt dann von seiner eigenen Entwicklung, von den ersten Anfängen seines Schreibens und von dem Moment, der ihn dazu veranlasste, zum ersten Mal einen Eindruck in Verse zu fassen, von seinen Initiationserlebnis. Dieser Teil der Vorlesung ist überschrieben mit dem Titel Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik. Der Begriff ,Psychopoetik‘ lässt bereits vermuten, welche Richtung die folgenden Erläuterungen oder vielmehr Bekenntnisse nehmen werden. Grünbein führt seine ersten Verse auf ein plötzliches „Geräusch“ zurück (Grünbein 2010, 15), das er vernahm, als er durch die Umgebung seiner Heimatstadt Dresden streifte. Es war das Flattern einer Taube, die aus einem Feld aufstieg. Dieses Geräusch sei ihm „förmlich ins Gesicht“ gesprungen (ebd., 16). Grünbein stilisiert diesen Moment zu einem Ereignis mystischen Ausmaßes: Er wurde „zum Modell für viele kommende, weit folgenreichere Momente von epiphanischer Qualität. Denn das war es, darum ging es bis zu dieser kurzen, unverhofften Begegnung, die mir mein ganzes Sein wie in einem Blitzschlag erhellte“ (ebd., 16). Grünbein verfasste ein kleines Gedicht, das diesen Moment und das, was sich in ihm ereignete, einfängt, das Irritierende deutlich macht und das, was es auslöste, die Erinnerung an die Kindheit und an Modellflugzeuge. Grünbein betont, das Gedicht sei „fern aller Rhetorik und sich selbst und seiner verborgenen Symbolik völlig unbewußt“ entstanden (ebd.). Später gab er ihm den Titel Am Feldrain. Er selbst schätzt das Gedicht offenbar außerordentlich hoch ein, jedenfalls glaubt er, mit ihm „Zugang zu einem uralten Geheimbund“ gefunden zu haben (ebd., 17), dem Geheimbund der Dichter. Es widerfuhr ihm eine unbewusste „Inspiration“ (ebd., 21), die ihn zum Dichter machte. Das Erlebnis im Feld fungiert als ein Modell. Der Impuls für ein Gedicht ereignet sich bestenfalls immer wieder auf eine ähnliche Weise. Grünbein sucht, wenn er sich ans Schreiben macht, einen ähnlichen „Nullpunkt“ auf (ebd., 25), das heißt offenbar einen Zustand, in dem eben nicht über die rhetorische mögliche Verfasstheit des nächsten Gedichts reflektiert wird: Damals konnte ich noch nicht wissen, was ich heute aus langer Erfahrung weiß: daß ein Gedicht, das sich als echt herausstellt, aus Hunderten Zufällen geboren wird und daß die Gedichte sich jedesmal neu erfinden und Rezepturen und Regeln nur alles verderben. Schon darum ist jeder Versuch einer Poetik für den praktizierenden Autor ein gefährliches Unterfangen. (ebd., 25 f.) Woran erkennt man wohl ein ,echtes Gedicht‘? Ist Grünbein offenbar ein Verächter von Regeln und Gesetzen, so räumt er doch im Folgenden ein, wie wichtig die Lektüre anderer Autoren für ihn gewesen ist. Außer Diskussion soll stehen, inwieweit das erzählte Initiationsereignis der Wahrheit entspricht oder einem rhetorischen Kalkül geschuldet ist. Die Inszenierung zu einem Dichter, der, von der Muse geküsst, etwas Außeror-
2. Die Poetikvorlesung: Autoren der Gegenwart
dentliches erlebte, was für andere zunächst nicht nachvollziehbar ist, etwas, worauf sich dann der große Erfolg gründete, dürfte nicht ohne Effekt geblieben sein. Man darf sich fragen, wie viele seiner Leser sogleich den Gang in die Natur angetreten und die Nähe einer Taube gesucht haben. Sicher ist, dass diese Inszenierung Ausschlusscharakter besitzt: Erfolgreich dichten kann eben nicht jeder, schon gar nicht derjenige, der es professionell lernen möchte und sich mit Regelwerken herumschlägt. Nur den Auserwählten wird diese Gabe zuteil, ,jenseits der Rhetorik‘. Es bleibe dahingestellt, ob nicht doch einmal in Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik geschielt wird. Ganz anders argumentiert Robert Gernhardt (1937–2006), ein eifriger Verfechter von Regeln bzw. der Kenntnis von Regeln. Seine Poetikvorlesungen, die er zwischen den Jahren 2001 und 2006 an verschiedenen Universitäten hielt, sind kritische und amüsante Streifzüge durch die Literatur. Sie illustrieren an Beispielen, an exempla, Eigenarten und Möglichkeiten des Gedichteschreibens in der Gegenwart und sparen nicht mit Lob und Tadel, vor allem nicht mit letzterem. In Ordnung muß sein polemisiert Gernhardt gegen die Verächter von Regeln, deren Texte beweisen, dass sie „das Handwerk des Dichtens“ (Gernhardt 2010, 98) nicht beherrschen. Er kritisiert die Unselbstständigkeit vieler zeitgenössischer Lyriker, ihr mangelndes Vermögen, mit dem Gelesenem, an dem man sich schulen soll, verantwortungsvoll umzugehen, es zu nutzen, aber nicht schamlos ausnutzen. In Die mit dem Hammer dichten wertet er es als typischen Trend der Zeit, dass Autoren „sich gezielt und zupackend an Gedichten vergreifen, indem sie diese als Punchingball, Zielscheibe oder Sparringspartner ge- bzw. mißbrauchen“ (ebd., 54). Diese Unsitte rührt für Gernhardt u. a. aus einer gewissen Bequemlichkeit und Faulheit, aus dem Widerwillen, sich ernsthaft mit dem komplexen Vorhaben des Dichtens auseinanderzusetzen, sich Fertigkeiten und Kenntnisse anzueignen, sich mit Regeln und Gesetzen verschiedener Gedichtformen vertraut zu machen, mit Prosodie und Metrik sowie mit theoretischen Grundlagen der Bildlichkeit. Natürlich würde er nicht bestreiten, dass die Lektüre anderer Texte außerordentlich wichtig ist, aber sie ersetzt nicht die Theoriereflexion. Selbst ein Meister des Sonetts, fordert Gernhardt das Bewusstsein für „Ordnung, Gesetz, Grenze“ (ebd., 78; in Ordnung muß sein). Er wundert sich ein wenig, dass ausgerechnet Grünbein, der sonst freie Rhythmen bevorzugt, einen Sinn dafür zeigt – in seinem Gedicht Biologischer Walzer. In diesem entdeckt er jedoch einen kleinen (vielleicht bewusst eingebauten) Rhythmusfehler, den er gewillt ist, großzügig zu einer „Petitesse“ zu erklären (ebd., 99). Dichten habe „nichts mit verstaubten Regelsystemen und normativer Ästhetik zu tun“; die Kenntnis der Regeln sei aber „Voraussetzung dafür […], jedem Gefühl und jedem Gedanken sprachlich gewachsen zu sein und aus jedem Einfall das Beste zu machen“ (ebd., 98). Sogar „Rechtschreibung, Zeichensetzung, Syntax“ würden bei vielen modernen Dichtern mit allen anderen „Regelsysteme[n]“ missachtet (ebd.). Gernhardt gibt sich als strenger Richter, fast schon als Aufklärer, der an die Leser denkt. Er unterstellt ihnen ein Bedürfnis nach Regeln, deren Einhaltung sie gerne überwachen. „Ordnungssysteme […] sind Suggestionserzeugungsund Faszinationssteigerungstechniken, und je mehr der Dichter davon versteht, desto besser für ihn, für seine Gedichte und letztlich auch für seine
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IX. Praxis des Schreibens
Leser“ (ebd., 90). Ein leichter Ordnungsfetischismus ist nicht zu überhören. Gernhardt zieht aber vor allem gegen die ästhetische Beliebigkeit zu Felde, die den Ernst des Dichtens bedroht, es entwertet und die eintritt, wenn alles möglich ist und die Texte zeigen, dass es nicht mehr darum geht, von etwas Kenntnis zu besitzen. Um nicht in den Verdacht zu geraten, altbacken und reaktionär zu sein, empfiehlt Gernhardt den gleichsam genialen Ausweg, den bereits Kant andachte: Wenn man die überlieferten Regeln missachtet, dann so, dass man zugleich neue schafft, die überzeugend und vorbildlich sind (ebd., 90). Das dürfte im Reich der Gedichte, in dem bereits Vieles erprobt wurde, nicht leicht sein. Dem günstigen Leser und vielleicht angehenden Dichter möge es selbst überlassen bleiben, welchem Beispiel er folgen will, sich auf die unbewusste Inspiration verlassen, wie Grünbein, oder seine Kunst auf der Basis umfassender theoretischer Regeln und Gesetzmäßigkeiten entwickeln, wie Gernhardt. Vielleicht ist, wie so oft, der Mittelweg auch nicht schlecht. Aber das wussten die Alten auch schon.
Systematischer Anhang Dieser Anhang versammelt wichtige Begriffe der rhetorischen Systematik, von denen einige bereits im Analyseteil erwähnt und erklärt wurden (vgl. Kap. V. 2). Er ist unter dem Vorbehalt erstellt worden, dass bei der Ausarbeitung oder Analyse einer Rede oder eines Textes jeweils die Funktionen der gewählten Kompositionen und Stilmittel unter der Berücksichtigung des Kontextes zu erläutern sind. Über die Tropen und Figuren sagt Quintilian: „Es kommt nicht darauf an, welchen Namen man irgendeiner dieser Erscheinungen gibt, wenn es nur deutlich ist, was sie für die Rede ausmacht […]. Denn nicht in ihren Namen liegt ihr Nutzen, sondern in ihren Leistungen“ (Quint. Inst. orat. 9.1.7 f.). Deswegen werden nur sparsam Beispiele gegeben. Zur weiteren Orientierung dienen: Göttert/Jungen 2004, Ueding/Steinbrink 2005, Lausberg 2008. A. Die Rede: Ziel / Voraussetzungen / Produktionsstadien / Redeteile / Aufgaben des Redners / Stilarten / Redearten / Stilqualitäten / Stilmängel / allgemeine Mittel des Redeschmucks Ziel der Rede: Überzeugen/Überzeugung Voraussetzungen: Natürliche Anlage Ausbildung/Unterricht Übung/Erfahrung
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persuadere/persuasio
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natura doctrina/ars exercitatio
Produktionsstadien der Rede (partes rhetoricae): 1. Auffinden der Gedanken – inventio 2. Gliederung des Stoffes – dispositio 3. Sprachliche Ausarbeitung – elocutio 4. Auswendiglernen – memoria 5. Vortrag – actio/pronuntatio Die Redeteile (partes orationis): 1. Einleitung Erlangen von Aufmerksamkeit Erweiterung der Aufnahmefähigkeit Erlangen von Wohlwollen 2. Erzählung 3. Beweisführung Gliederung/Präzisierung (Überleitung) Begründung Widerlegung 4. Redeschluss
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exordium/prooemium attentum parare docilem parare captatio benevolentiae narratio argumentatio partitio/divisio confirmatio/probatio confutatio/refutatio peroratio/conclusio
Aufgaben des Redners (officia oratoris) / Überzeugungsmittel: 1. Belehren – probare/docere durch rationale Argumentation – logos 2. Sympathie gewinnen/erfreuen – delectare/conciliare durch Glaubwürdigkeit – ethos 3. Affekte erregen – movere/flectere durch Pathos – pathos
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Systematischer Anhang Stilarten (genera dicendi): Schlichter/einfacher Stil Mittlerer Stil Hoher Stil
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genus humile/subtile/tenue genus medium/mediocre/modicum genus sublime/grande/vehemens
Redegattungen (genera causarum): Gerichtsrede Politische/beratende Rede Gelegenheitsrede
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genus iudicale genus deliberativum genus demonstrativum
Stilqualitäten (virtutes dicendi): Sprachrichtigkeit Deutlichkeit Angemessenheit Redeschmuck Kürze
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latinitas/puritas perspicuitas aptum ornatus brevitas
Stilmängel (vitia dicendi, können bewusst als Stilmittel eingesetzt werden): Dunkelheit – obscuritas Zweideutigkeit – ambiguitas Drumherumreden – circumlocutio Allgemeine Mittel der Rede, des Redeschmucks: Steigerung/Vergrößerung – amplificatio Verringerung/Abschwächung – minutio Beschreibung – descriptio Vor Augen stellen – illustratio/evidentia Vergleich – comparatio Neugebildeter Ausdruck – Neologismus Ungebräuchlich gewordener Ausdruck – Archaismus
B. Redeschmuck (ornatus): Tropen und Figuren I. Tropen Tropen meint denjenigen Redeschmuck, der sich auf einzelne Wörter bezieht und durch Vertauschung oder Ersetzung entsteht. Quintilian bezeichnet den „Tropus“ als „die kunstvolle Vertauschung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Ausdruckes mit einer anderen“ (Quint., Inst. orat., 8.6.1) Bei Tropen werden „Wörter für andere Wörter gesetzt“ (ebd., 9.1.5). Die Grenzziehung zu den Figuren, besonders zu den Wortfiguren (s. u.), ist nicht immer einfach (vgl. ebd., 9.1.1). Für die genauere Analyse der jeweiligen Funktion eines Tropus ist die Berücksichtigung seines jeweiligen Kontextes unerlässlich. Im Folgenden werden die wesentlichsten Tropen genannt: Metapher: Im Falle der Metapher liegt laut Quintilian eine „Bedeutungsübertragung“ vor (translatio, Quint., Inst. orat., 8.6.4). Die Übertragung erfolgt auf der Basis einer Ähnlichkeit (Analogie) bzw. einer semantischen Schnittmenge (tertium comparationis): „Mein Kopf war ein leeres, schwirrendes Loch“ (Irmgard Keun); „der Groschen fällt“, „er war ein Fels in der Brandung“. Allegorie: Die Allegorie fasst Quintilian als ,weitergeführte Metapher‘ auf (Quint., Inst. orat., 8.6.44). Eine genaue Definition ist indes schwierig. Die Allegorie verbildlicht und versinnlicht abstrakte Begriffe. In der Frühen Neuzeit begegnet häufig die Allegorie des
Systematischer Anhang Staatsschiffs als Sinnbild für die Schwierigkeit und die Unwägbarkeit der Staatslenkung, die Allegorie der Waage als Sinnbild für Gerechtigkeit oder die Allegorie der niederbrennenden Flamme oder des Totenkopfes als Sinnbild für die Vergänglichkeit des Lebens. Metonymie (oder denominatio): Ein Ausdruck wird durch eine andere Benennung ersetzt, die zum ersetzten Ausdruck in einer realen qualitativen bzw. semantischen Beziehung steht, z. B.: – Grund statt Folge: „der bleiche Tod“ (statt „bleichmachender Tod“) – Gefäß statt Inhalt: „einen Becher trinken“ (statt „einen Becher Wein trinken“) – Ort statt Bewohner: „Gespräche mit dem Weißen Haus“ (statt „Gespräche mit Vertretern des Weißen Hauses“) – Autor statt Werk: „Goethe lesen“ (statt „einen Roman von Goethe lesen“) Synekdoche (intellectio): Ein Ausdruck wird durch eine andere Benennung ersetzt, die zum ersetzten Ausdruck in einer realen quantitativen Beziehung steht, z. B.: – ein Teil steht für das Ganze (pars pro toto oder umgekehrt): „unter meinem Dach“ statt „in meinem Haus“ – die Art steht für die Gattung/das Spezielle für das Allgemeine (oder umgekehrt): „sein Brot verdienen“ (statt „Geld für den Lebensunterhalt verdienen“) – Singular steht für Plural (oder umgekehrt): „der Römer siegreich im Kampf“ (Livius, vgl. Quint., Inst. orat., 8.6.20) Katachrese: „Bezeichnung für Dinge, die keine eigene Benennung haben.“ Diese Bezeichnung wird „dem angepaßt, was dem Gemeinten am nächsten liegt“ (Quint., Inst. orat., 8.6.34): „Tischbein“; Der „Mangel“ (inopia) ist ursprünglich die „Voraussetzung“ für eine Katachrese (Lausberg 2008, 289, § 562). Allerdings kann auch ein geläufiger Ausdruck durch eine Katachrese ersetzt werden, wenn er nicht mehr bedeutungsstiftend oder zweideutig geworden ist. Nähe zum Bildsprung: Der gewählte Tropus passt nicht zu seinem Gegenstand: „Pillenknick“ (vgl. Ueding/Steinbrink 2005, 292). Emphase: Etwas wird hervorgehoben, dies kann auf vielfältige Weise geschehen, etwa durch Ausruf, Hyperbel, Metapher oder Litotes u. a. Hyperbel: Bewusste Übertreibung: Sie besteht laut Quintilian „in einer schicklichen Übersteigerung der Wahrheit; ihre Leistung liegt in gleichem Maße auf den entgegengesetzten Gebieten des Steigerns und des Verkleinerns“ (Quint., Inst. orat., 8.6.67); die Hyperbel kann durch metaphorisches Sprechen erreicht werden, z. B. „dunkler als die Nacht“. Ihre Verwendung kann zu übertriebenem Pathos führen (vgl. die Redeanalyse, Kap. V. 2). Litotes: Form der Untertreibung, um etwas zu betonen, z. B. durch Negation des Gegenteils: „nicht klein“ bedeutet „sehr groß“; Verstärkung durch doppelte Verneinung: „Damit Du nicht verkennst“ – im Sinne von: „Damit Du ja erkennst“ (vgl. die Redeanalyse, Kap. V. 2). Antonomasie (oder pronominatio): Ersetzung eines Eigennamens durch eine Umschreibung, z. B. „der Kommentator“ für den arabischen Philosophen Averroës, „der Allmächtige“ für „Gott“; umgekehrt: „Krösus“ für einen „Reichen“.
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Systematischer Anhang Epitheton: Hinzufügung eines Attributs, das nicht unbedingt erforderlich ist, sondern eine Bedeutung verstärkt, die dem Substantiv inhärent ist, z. B. „gebrechliches Alter“, „schöne Jugend“. Ironie: Etwas wird durch sein Gegenteil bezeichnet. Zur Ironie als Tropus heißt es bei Quintilian: „Die Römer nennen sie ,illusio‘ (Verspottung). Diese erkennt man entweder am Ton, in dem sie gesprochen wird, oder an der betreffenden Person oder am Wesen der Sache“ (Quint., Inst. orat., 8.6.54); eine Ironie liegt z. B. vor, wenn ein Betrüger als „ein lauterer und gewissenhafter Mann“ bezeichnet wird (vgl. ebd.). Periphrase: Umschreibung, wenn etwas nicht explizit ausgedrückt sein soll, z. B. für Anstößiges, „eine Art von Drumherumreden, die zuweilen einen zwingenden Grund hat“ (Quint., Inst. orat., 8.6.59), Quintilian nennt als Beispiel: „zu dem, was die Natur verlangt“ (Sallust, vgl. ebd.); die Nähe zu den Figuren ist fließend. Onomatopoeia (Klangmalerei): Es werden Worte gewählt, die den Gegenstand, den sie bezeichnen, nachdrücklich sinnlich vermitteln: „Quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant“ (Ovid, über die lykischen Bauern, die zu quakenden Fröschen verwandelt worden sind); „Die Lerche schryt auch: Dir Dir lieber GOTT allein / Danckt alle Welt, Dir Dir Dir sein wir was wir sein“ (Martin Opitz). Die Onomatopeia kann auch zu den Wortfiguren gezählt werden.
II. Figuren Eine Figur ist laut Quintilian „eine Gestaltung der Rede, die abweicht von der allgemeinen und sich zunächst anbietenden Art und Weise“ (Quint., Inst. orat., 9.1.4). Anders als der Tropus kann die Figur „mit Worten in ihrer eigentlichen Bedeutung […] zustande kommen“ (ebd., 9.1.7). Man unterscheidet Wortfiguren von Gedankenfiguren, die in einzelnen Sätzen oder längeren Gedankenführungen und erzählenden Passagen zu finden sind. Abgrenzungen erweisen sich mitunter als schwierig. Figuren begegnen oft in Kombination miteinander. Für die genauere Analyse ihrer Funktionen ist auch hier die Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes unerlässlich. Im Folgenden werden die wesentlichsten Figuren genannt: 1. Wortfiguren (figurae verborum) 1. a) Figuren durch Hinzufügung (per adiectionem) Anapher: Wiederholung eines Wortes oder einer Wortgruppe am Satz- oder Versanfang: „Wie Eiß, das der heissen Sonnen weichet / Wie ein Blitz schnell durch die Wolcken streichet.“ (Andreas Gryphius) Epipher: Wiederholung eines Wortes oder einer Wortgruppe am Satz- oder Versende: „Mein hoechster auffenthalt, mein trost undt schoenes liecht / Laß wachsen edler waldt mitt dir mein trewes liecht.“ (Martin Opitz) Complexio (symploke): Kombination von Anapher und Epipher, Wiederholung der gleichen Wörter am Anfang und am Ende zweier oder mehrerer Sätze oder Verse. „Was kann uns der 325.
Systematischer Anhang Jahrestag sagen? Was können wir zu ihm sagen?“ (Gustav Heinemann, vgl. Redeanalyse, Kap. V. 2). Geminatio (epanalepsis): Doppelsetzung eines Wortes oder einer Wortgruppe am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Satzes oder Verses: „Sterbliche! Sterbliche! Lasset diß dichten!“ (Andreas Gryphius) Reduplicatio (anadiplosis): Das in einem Satz oder Vers zuletzt gebrauchte Wort oder die zuletzt gebrauchte Wortgruppe wird an den Anfang des neues Satzes oder Verses gestellt: „Bistu mein Gott? / Gott du bist mein.“ (Johann Caspar Schade) Klimax (gradatio): Steigerung: „Blaue Lichter, rote Lichter, viele Millionen Lichter.“ (Irmgard Keun) Synonym: Wiederholung semantisch ähnlicher Wörter oder Einheiten: „Und es wallet und siedet und brauset und zischt.“ (Friedrich Schiller) Polysyndeton: Vielverbundenheit: „Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der Siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuitenorden wurde aufgehoben, und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern.“ (Johann Peter Hebel) Polyptoton: Wiederholung eines Wortes mit Änderung der Flexion bzw. des Kasus: „Lupus est homo homini“ – „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“ (Plautus/Hobbes) Figura etymologica (derivatio): Kombination von zwei Wörtern desselben Wortstammes: „An mir ist minder nichts, das lebet, als mein Leben.“ (Paul Fleming) Paronomasie: Verwendung ähnlich klingender, aber semantisch verschiedener Wörter: „O Herr Jesus, allhier las brennen und schneiden, las neiden und leiden, las nagen und plagen“. (Johann Matthäus Meyfart) 1. b) Figuren durch Auslassung (per detractionem) Asyndeton: Auslassung von Bindewörtern: „Was immer die Schwelgerei an Schandtaten, die Grausamkeit an Martern, die Habgier an Räubereien, der Hochmut an Kränkungen habe ausrichten können, das alles hätten sie unter diesem einen Prätor drei Jahre lang durchgemacht […]“. (Cicero) Ellipse: Auslassung: „Ich wollte mal richtig Taxi. Und sonst fuhr ich auch mal allein […].“ (Irmgard Keun) Zeugma (oder adiunctio): Auf ein Verb beziehen sich „mehrere Gedankenabschnitte […], deren jeder das Verb brauchte, wenn er alleine stünde“ (Quint., Inst. orat. ,9.3.62). Die Gedankenabschnitte können ähnlich sein: „Besiegt hat die Gier die Scham, die Dreistigkeit die Angst,
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Systematischer Anhang der Unverstand die Vernunft“ (Cicero, vgl. ebd.). Eine komische Wirkung entsteht, wenn die Gedankenabschnitte syntaktisch oder semantisch nicht kongruent sind: „Therese, die auch auf dem Büro und meine Freundin ist.“ (Irmgard Keun) 1. c) Figuren durch Umstellung (per transmutationem) Inversion: Umstellung der Worte entgegen der üblichen syntaktischen Ordnung: „In meiner Heimat grünen Talen.“ (Gottfried Keller) Chiasmus: Parallele Überkreuzung antithetischer Wörter oder Satzglieder zur Verstärkung bzw. Betonung: „Kueßt mir nun Ars und Lex, und flucht dem Mars. Verflucht sey Mars. Geküßt sey Lex und Ars.“ (Georg Greflinger) Hyperbaton: Versetzung eines Wortes entgegen der üblichen syntaktischen Ordnung, so dass Wörter, die zusammengehören, auseinandergerissen werden. Quintilian nennt das Hyperbaton „das Überspringen eines Wortes“ (Quint., Inst. orat., 8.6.62): Ein Wort wird „mit Rücksicht auf die schöne Wirkung weiter weg umgestellt“ (ebd., 8.6.65): „Möwen sah um einen Felsen kreisen / Ich in unermüdlich gleichen Gleisen.“ (Conrad Ferdinand Meyer) Hypallage/Enallage: Ein Wort wird so versetzt, dass es bei einem anderen Nomen steht, das ihm nachfolgt oder ihm vorangeht: „In baldiger Erwartung ihrer Antwort.“. Hysteron proteron: Die natürliche Ordnung eines Geschehens wird aufgebrochen und eine künstliche hergestellt, die unwahrscheinlich ist. Diese Figur kann in einem einzelnen Satz begegnen oder in umfangreicheren Erzählzusammenhängen. Klassisches Beispiel: „Ihr Mann ist tot und lässt sie grüßen.“ (Johann Wolfgang von Goethe) Parallelismus (isokolon): Gleichrangige kürzere oder längere syntaktische Einheiten werden miteinander kombiniert: „Wie? Wenn er erst beginnt, die Teile deiner Anklage zu zergliedern und die einzelnen Punkte des Falles an seinen Fingern aufzuzählen? Wie? Wenn er sich dann jeden Punkt einzeln vornimmt, abfertigt und erledigt?“ (Cicero) Homoioteleuton: Diese Figur fordert die gleiche Endung von Sätzen oder syntaktischen Einheiten. Der „Schluß“ der Sätze oder Einheiten erhält „dadurch einen ähnlichen Ausgang […], daß ihn gleiche Silben bilden“ (Quint., Inst. orat., 9.3.77): „Wie gewonnen, so zerronnen.“ Homoioptoton: Die Figur fordert in syntaktischen Einheiten gleiche Endung der Kasus. „Wenn das, was auf dem Felde und in verlassenen Gegenden die Dreistigkeit vermag, auf dem Forum und vor Gericht auch die Unverschämtheit zustande brächte […].“ (Cicero, vgl. Quint., Inst. orat., 9.3.80, hier kombiniert mit einem Parallelismus) Antithese: Zwei gegensätzliche Wörter oder Wortgruppen werden einander gegenübergestellt: „Was dieser heute bawt, reist jener morgen ein / […] Was itzt so praechtig blueht, wird bald zutretten werden.“ (Andreas Gryphius)
Systematischer Anhang Antimetabole (oder commutatio): Etwas wird in sein Gegenteil verändert: Zwei widersprüchliche Gedanken werden so kombiniert, dass der zweite zwar aus dem ersten abgeleitet wird, diesem aber entgegengesetzt ist: „Man isst um zu leben, nicht lebt man, um zu essen.“ – „Ein Gedicht ist ein sprechendes Gemälde, ein Gemälde ist ein stummes Gedicht.“ (vgl. Rhet. ad Her., 4.39) 2. Gedankenfiguren (figurae sententiarum) Interrogatio (rhetorische Frage): Frage, auf die der Redner keine Antwort erwartet. Subiectio: Der Redner stellt eine Frage, die er selbst beantwortet. Wie die interrogatio dient die subiectio der Verlebendigung der Rede (vgl. die Einleitung und die Redeanalyse, Kap. V. 2). Dubitatio: Der Redner simuliert einen Zweifel, um seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Communicatio: Der Redner wendet sich an das Publikum und teilt ihm seine Gedanken mit, fragt es beispielsweise um Rat, gibt vor, sich nach seinem Urteil zu richten. Sustentatio: Der Redner hält die Zuhörer hin, um ihre Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten (vgl. die Redeanalyse, Kap. V. 2). Correctio: Der Redner berichtigt seine vorher selbst geäußerte Meinung und ändert seinen Standpunkt. Diese Änderung kann authentisch sein und sich tatsächlich während der Rede eingestellt haben, oder fingiert. Permissio: Der Redner macht ein Zugeständnis an die Gegenseite, ist aber weiterhin von seinem eigenen Standpunkt überzeugt. Commoratio: Der Redner wiederholt Gedanke auf andere Art und Weise einmal oder mehrfach, damit er sich beim Publikum einprägt oder eine affektive Wirkung erzielt (vgl. die Redeanalyse Kap. V. 2). Subnexio: Gedankenverknüpfung. Parrhesia (licentia): Der Redner nimmt sich die Freiheit, offen und provozierend kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Echte Parrhesia besteht eigentlich nur dann, wenn der Redner keine Absicht verfolgt und sich seiner Strategie nicht bewusst ist. In diesem Fall aber handelt es sich strenggenommen nicht um eine Figur: „denn was ist weniger […] Figur als die echte Freiheit (der Rede)?“ (Quint., Inst. orat., 9.2.27)
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Systematischer Anhang Anticipatio (oder prolepsis, Unterformen: praemunitio, confessio, praeparatio): Der Redner greift dem, was er oder die Gegenseite zu sagen beabsichtigt, vor. Diese Figur dient dazu, sich gegen mögliche Vorwürfe oder Einwände im Vorfeld abzusichern, beispielsweise der Gegenseite den Wind aus den Segeln zu nehmen. Quintilian erklärt die anticipatio folgendermaßen: „Von ganz erstaunlicher Wirkung aber ist in Prozeßreden das Vorwegnehmen […], wobei wir einen Einwand, der gemacht werden kann, mit Beschlag belegen. Dies hat in allen Teilen der Rede keine geringe Bedeutung, kommt aber vor allem im Prooemium in Frage“ (Quint., Inst. orat., 9.2.16, Hervorh. im Text). Quintilian unterscheidet die praemunitio, die „Vorkehrung“, und die confessio, „eine Art Geständnis“ oder Zugeständnis (ebd., 9.2.17). Eine weitere Form der anticipatio ist die praeparatio. Durch sie wird bereits im erzählenden Teil der Rede die Beweisführung vorbereitet (vgl. ebd. 4.2.54). Praeteritio: Bewußtes Übergehen von Sachlagen, Gedankengängen oder Beweisen. Der Redner kündigt dieses Übergehen offen an. Quintilian leitet diese Figur „vom Verneinen“ ab (Quint., Inst. orat., 9.2.47). Wenn der Redner dabei die Dinge selbst andeutet oder aufzählt, ist Ironie inbegriffen. „Was soll ich seine Erlasse hier zur Sprache bringen, was seine Räubereien, was die Erbschaften, die er verschenkt, die er entrissen hat?“ (Cicero, vgl. ebd.) Ironie: Der Redner betreibt Verstellung (dissimulatio), stellt sich z. B. unwissend, um die Gegenseite zu verführen, mehr preiszugeben, als ihr förderlich ist. Ebenso kann er vorgeben, mit der Gegenseite übereinzustimmen, um sie milder zu stimmen. Sermocinatio (Unterformen: prosopopoeia oder personificatio, ethopoeia) Der Redner nimmt auf historische oder fingierte Personen Bezug und gibt ihre Worte, Sentenzen oder Gespräche wieder. In der prosopopoeia oder personificatio werden abstrakte Begriffe in Figuren verwandelt, wie beispielsweise das Gerücht, das Leben, der Tod, die Wollust, die Tugend und die Gerechtigkeit (vgl. Allegorie), aber auch „Götter“ und „Städte und Völker“ werden zum Sprechen gebracht (Quint., Inst. orat., 9.2.31). In der ethopoeia werden hingegen keine Personifizierungen vorgenommen, sondern Personen/Figuren genutzt, die aus der Geschichte oder dem Mythos etc. bekannt sind. Exlamatio: Ausruf, um einen wichtigen Gedanken hervorzuheben (vgl. die Redeanalyse, Kap. V. 2). Apostrophe: Abwendung vom eigentlichen Publikum und Hinwendung zur Gegenseite bzw. zu einem imaginierten Publikum/Adressaten (etwa im Musenanruf, vgl. Quint., Inst. orat., 9.2.38). Oxymoron (synoikeiosis): Form der Antithese: Zwei einander widersprechende oder sich ausschließende Begriffe werden miteinander kombiniert: „traurigfroh, wie das Herz“ (Hölderlin); „ihr Schweigen sagte alles“. Synästhesie: Zwei Sinneseindrücke werden miteinander kombiniert: „heiße Lichter“ (Irmgard Keun).
Systematischer Anhang Contradictio in adiectio: Sonderform des Oxymorons: Widerspruch im Beiwort: „Concordia discors“ – „zwieträchtige Eintracht“ (Horaz). Aposiopese (oder reticentia): Das Wichtige wird verschwiegen (beispielsweise durch Satzbruch). Anakoluth: Satzbruch. Die Konstruktion eines einfachen oder zusammengesetzten Satzes wird abgebrochen und eventuell ein neuer Gedankengang begonnen. Paradoxon: Widersprüchliche Aussage. Häufig Nähe zum Oxymoron. Ekphrasis (Form der descriptio): Ein Gegenstand wird ausführlich beschrieben. Sentenz/Gnome: Sprichwort.
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Kommentierte Bibliographie Quellen und Sammlungen: Aristoteles: Poetik. Griechisch-deutsch. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart, bibliographisch ergänzte Ausgabe 1994. Ders.: Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Halbband 1–2. Berlin 2002 (Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Begründet von Ernst Grumach. Hrsg. von Hellmuth Flashar. Bd. 4). Augustinus, Aurelius: Die christliche Bildung / De doctrina christiana. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Karla Pollmann. Stuttgart 2002. Bahr, Hermann: Die Überwindung des Naturalismus. Hrsg. von Claus Pias. Weimar 2004 (Kritische Schriften II). Barthes, Roland: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Kursbuch 5 (1966), S. 190–196. Ders.: Die alte Rhetorik. Ein Abriß. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1988, S. 15–101. Ders.: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis u. a. Stuttgart 2000, S. 185–193. von Birken, Si[e]gmund: Teutsche Rede-, bind- und Dicht-Kunst. Hildesheim, New York 1973 (Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1679). von Blanckenburg, Friedrich: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965. Blinn, Hansjürgen (Hrsg.): Shakespeare-Rezeption. Die Diskussion um Shakespeare in Deutschland. I. Ausgewählte Texte von 1741–1788. Mit einer Einführung, Anmerkungen und bibliographischen Hinweisen. Berlin 1982. Bodmer, Johann Jacob: Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter. Frankfurt am Main 1971 (Nachdruck Leipzig 1741). Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main 2001. Klassiker zur Entstehung literaturgeschichtlicher Formationen vor dem Hintergrund von Sozialgeschichte und Ökonomie. Brauneck, Manfred/Müller, Christine (Hrsg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900. Stuttgart 1987.
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Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1993, S. 104–136. Zentraler Beitrag zur möglichen Funktion der Rhetorik in einer von Kontingenz und mangelnden Gewissheiten geprägten Lebenswelt. Bogner, Ralf Georg: Einführung in die Literatur des Expressionismus. Darmstadt, 2. unveränderte Aufl. 2009. Die Einführung gibt Hinweise zur Definition der Epoche und einen Forschungsüberblick, erläutert die kulturgeschichtlichen Kontexte und die literaturgeschichtlichen und -theoretischen Rahmenbedingungen und bietet Einzelanalysen kanonischer Texte. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt am Main, Leipzig, 2. Aufl. 1994. Historisch-systematische Darstellung der Diskurse über Bildung und Kultur in der abendländischen Tradition und speziell in Deutschland. Braungart, Georg: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus. Tübingen 1988 (Studien zur deutschen Literatur 96). Untersucht die Praktiken der Rede und der Kommunikation vorzugsweise im Kontext des höfischen Lebens der Frühen Neuzeit unter Berücksichtigung des Herrscherlobs, der diplomatischen Rede, der Festrede, der Komplimentierkunst, der Briefstellerei u. a. Brenner, Peter J.: Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 2000. Einführung in Lessings Leben und Werk mit Interpretationen und unter Berücksichtigung der Literaturkritik, Religionspolemik, Ästhetik u. a. Breuer, Dieter: Grimmelshausen-Handbuch. München 1999. Nützlicher Überblick über Entstehung, Inhalt, Deutungsmöglichkeiten und Wirkungsgeschichte der Schriften von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen (1621/22–1676). Burdorf, Dieter: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart, Weimar 2001. Die Studie untersucht, in welcher Weise die Diskurse über die Form in Philosophie, bildender Kunst und Anthropologie einen Beitrag zur ästhetischen Theoriebildung seit dem 18. Jahrhundert leisten. Burkhardt, Johannes: Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt am Main 1992. Diskutiert den Dreißigjährigen Krieg vor bestimmten Fragestellungen (Religionskrieg, Organisation der Staaten und Stände, Alltag im Krieg). Buschmeier, Matthias/Kauffmann, Kai: Einführung in die Literatur des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik. Darmstadt 2010. Einlässliche Einführung mit Erläuterung der Epochenbergriffe, der Tendenzen der Forschung, der politischen, sozia-
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Kommentierte Bibliographie gen 2005, S. 17–39. Entwurf eines Medienbegriffs in Abgrenzung von McLuhan. (Knape 2005a). Koch, Peter: Art. ,Ars arengandi‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 1 (1992), Sp. 1033–1040. Überblicksartikel zur speziellen Kunst der Versammlungsrede in Italien (Spätmittelalter). Koeppler, Karlfritz: Strategien erfolgreicher Kommunikation: Lehr- und Handbuch. München u. a. 2000. Lehrbuch vor allem für die Werbebranche vor dem Hintergrund der Vorstellung messbarer Parameter im Prozess der Überzeugung. Kopperschmidt, Josef: Was ist neu an der Neuen Rhetorik? In: Ders.: Die Neue Rhetorik. Studien zu Chaïm Perelman. München 2006, S. 9–72. Kontextualisierung der ,Nouvelle Rhétorique‘ innerhalb der wissenschaftsgeschichtlichen Traditionen und Entwicklungen. Ders.: Rhetorische Überzeugungsarbeit. Annäherung an eine kulturelle Praxis. In: Rhetorik als kulturelle Praxis. Hrsg. von Renate Lachmann, Riccardo Nicolosi und Susanne Strätling. Paderborn 2008 (Figuren 11), S. 15–30. Untersucht das vorrangige Ziel der Rhetorik, das Überzeugen, als einen elementaren lebensweltlichen Vorgang und stellt die Unterscheidung zwischen Überzeugen und Überreden zur Disposition. Kortum, Hans: Charles Perrault und Nicolas Boileau. Der Antike-Streit im Zeitalter der klassischen französischen Literatur. Berlin 1966 (Neue Beiträge zu Literaturwissenschaft). Darstellung der Entstehung der ,Querelle des anciens et des modernes‘ und ihrer kultur- und sozialgeschichtlichen Hintergründe. Kramer, Olaf: Art. ,New Rhetoric‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 6 (2003), Sp. 259–288. Guter Überblick über die Tendenzen der ,neuen Rhetorik‘ in Amerika. Ders.: Rhetorik im virtuellen Raum. Das Internet in medialrhetorischer Perspektive. In: Medienrhetorik. Hrsg. von Joachim Knape. Tübingen 2005, S. 195–205. Entwurf einer Internetrhetorik vor dem Hintergrund der klassischen rhetorischen Systematik. Kühlmann, Wilhelm: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3). Standardwerk zur Genese des Gelehrtenstandes und ihrer Prämissen vor dem Hintergrund von Sozial- und Kulturgeschichte. Kühn, Heinz: Auf den Barrikaden des mutigen Wortes. Die politische Redekunst von Ferdinand Lassalle u. a. Bonn 1986. Versammelt kurze Porträts
der Redekunst von Politikern wie Ferdinand Lassalle, Otto von Bismarck, August Bebel, Karl Liebknecht, Konrad Adenauer. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Stuttgart, 4. Aufl. 2008 (zuerst 1960). Umfangreicher und detaillierter Baukasten der rhetorischen Systematik. Lodge, David: Das Handwerk des Schreibens. Aus dem Englischen von Martin Ruf. Hamburg 2007. Essayistische Einblicke in die eigene ,Schreibwerkstatt‘. de Lubac, Henri: Exégèse médiévale: les quatre sens de l’Écriture. Bd. 1–4. Paris 1959–1964. Standardwerk zum vierfachen Schriftsinn im Mittelalter. Martus, Steffen: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York 2007 (Historia Hermeneutica 3). Die Studie untersucht an prominenten Fallbeispielen die Wechselbeziehungen zwischen Schreiben und Literaturkritik und Formen und Funktionen der ,kritischen Kommunikation‘ im Wandel. Mayer, Heike: Rhetorische Kompetenz. Grundlagen und Anwendung. Mit Beispielen von Ahmadinedschad bis Juli Zeh. Paderborn 2007 (Rhesis. Arbeiten zur Rhetorik und ihrer Geschichte). Anwendungsorientiertes Studienbuch auf der Basis der antiken Rhetorik und der Wirkungsfaktoren ethos, logos und pathos; mit Einblicken in die moderne Persuasionsforschung. Meid, Volker: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740. München 2009 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 5). Breit angelegter literaturgeschichtlicher Überblick mit Zentrum im 17. Jahrhundert. Murphy, James Jerome: Rhetoric in the Middle Ages: A history of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance. Berkeley, Los Angeles, London, 6. Aufl. 1990. Standardwerk zur Rhetorikgeschichte im Mittelalter. Neumann, Uwe: Rhetorik. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 1996, S. 219–233. Überblicksartikel, der die wichtigsten Termini der antiken Systematik erläutert. Neymeyr, Barbara: Johann Wolfgang Goethe: Prometheus. Die Proklamation schöpferischer Autonomie. Poetologische Aspekte in Goethes Prometheus-Hymne vor dem Horizont der mythologischen Tradition. In: Poetologische Lyrik. Hrsg. von Olaf Hildebrand. Köln 2003, S. 28–49. Der Aufsatz liest Goethes Gedicht als Beitrag zur Theorie der Genieästhetik.
Kommentierte Bibliographie Oesterreich, Peter L.: Fundamentalrhetorik. Untersuchungen zu Person und Rede in der Öffentlichkeit. Hamburg 1990 (Paradeigmata 11). Entwirft unter Berücksichtigung der klassischen Rhetorik und der hermeneutischen Phänomenologie eine Philosophie der Rhetorik. Ottmers, Clemens: Rhetorik. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Überarbeitet von Fabian Klotz. Stuttgart, Weimar 2007. Die Darstellung widmet sich der Rhetorik vor allem als Argumentationstheorie. Otto, Gert: Art. ,Rhetorik‘. In: Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Gerhard Müller. Studienausgabe. Teil III. Berlin, New York 2006, hier Bd. 29 (1998), S. 177–191. Knapp gehaltener Überblicksartikel mit einem Schwerpunkt auf der Predigtlehre. Plett, Heinrich F.: Rhetoric and Renaissance Culture. Berlin, New York 2004. Die Studie untersucht die Verankerung der Renaissance-Poetiken in der rhetorischen Tradition, die Beziehung zwischen Architektur, Theater und Rhetorik und die Bedeutung der Rhetorik für Shakespeare. Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin 2004. Die weitblickende Studie untersucht die Programmatiken der poetologischen Literatur von der Romantik bis zur Klassischen Moderne im europäischen Kontext und ihre Wechselbeziehungen mit den Wissenschaften. Rädle, Fidel: Art. ,Disputatio‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Weimar. Berlin, New York. Bd. 1 (2007), S. 376–379. Knapper und prägnanter, historisch angelegter Überblicksartikel zur rhetorischen Gattung der Disputatio. Robert, Jörg: Martin Opitz und die Konstitution der Deutschen Poetik. Norm, Tradition und Kontinuität zwischen Aristarch und Buch von der Deutschen Poeterey. In: Euphorion 98 (2004), S. 281–322. Grundlegende Kontextualisierung der Opitzschen sprach- und dichtungstheoretischen Schriften, Diskussion ihrer gemeinsamen und unterschiedlichen Diskurse und Ziele. Robling, Franz-Hubert: Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals. Hamburg 2007. Gründliche Studie zum Rednerideal mit einer Problematisierung der ,Subjektivität‘ des Redners. Schanze, Helmut: Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800. In: Rhetorik im 19. Jahrhundert Tübingen 1993 (Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 12), S. 60–72. Der Beitrag verfolgt die These eines fortschreitenden Verfalls der Rhetorik als mündlicher Redekunst besonders im 19. Jahrhundert.
Ders.: Medialisierung der Rhetorik. In: Die Aktualität der Rhetorik. Hrsg. von Heinrich F. Plett. München 1996 (Figuren 5), S. 48–56. Der Beitrag diskutiert kritische Phasen der Medialisierung der Rhetorik, die Transformation der Rede vor dem Forum in die ,künstliche Rede‘ der digitalen Medien. Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt am Main 1990. Grundlagenstudie zur Entstehung der Poesie als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis und zur Entwicklung der Gegensätze Poesie und Wissenschaft. Schmitz-Emans, Monika: Einführung in der Literatur der Romantik. Darmstadt, 3. Aufl. 2009. Einführung in Kontexte, Theorien und kanonische Texte der Romantik mit einem Forschungsbericht. Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama. Darmstadt, 3., erneut durchgesehene Aufl. 2011. Nützliche Einführung mit einem Forschungsbericht, Darstellung der Interpretationsmethoden und der Gattungstheorie und mit Einzelanalysen. Simons, Herbert W. (Hrsg.): The Rhetorical Turn. Invention and Persuasion in the Conduct of Inquiry. Chicago 1990. Standardwerk zum Paradigma des ,rhetorical turn‘. Spang, Kurt: Art. ,Dreistillehre‘. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 2 (1994), Sp. 921–972. Umfangreicher historischsystematischer Artikel, der die Genese der Stilarten und ihre Theoriebildung in der Antike darstellt, ihre produktive Rezeption bis zum 18. Jahrhundert mit europäischer Perspektivierung verfolgt und ihre Auflösung seit dem 19. Jahrhundert beobachtet. Steiger, Johann Anselm: Rhetorica sacra seu biblica. Johann Matthäus Meyfart (1590–1642) und die Defizite der heutigen rhetorischen Homiletik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche (1995), S. 517–558. Sichtung der geistlichen Rhetorik des 16. und 17. Jahrhundert im Hinblick auf neuere homiletische Debatten über die Definition der Predigt als Rede. Ders.: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio – Imago – Figura – Maria – Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards. Leiden, Boston, Köln 2002 (Studies in the History of Christian Thought 104). Grundlagenwerk zur Theologie Luthers unter besonderer Berücksichtigung hermeneutik- und rhetorikgeschichtlicher Aspekte. Stein, Sol: Über das Schreiben. Aus dem Amerikanischen von Waltraud Götting. Frankfurt am Main, 4. Aufl. 1998. Pragmatisch ausgerichteter Ratge-
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Kommentierte Bibliographie ber für das literarische Schreiben, der die Wirkung auf den Leser ins Zentrum stellt. Stockhorst, Stefanie: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 128). Studie zu den Verfahren der Poetiken des 17. Jahrhunderts im Bereich der Gattungdiskussionen und zu ihrem Umgang mit bereits vorhanden Normen und theoretischen Defiziten. Stolt, Birgit: Martin Luthers Rhetorik des Herzens. Tübingen 2000. Einführung in die Prinzipien von Martin Luthers Rhetorik. Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 91). Detaillierte Studie zur den komplexen Wandlungsprozessen der Rhetorik als einer systematischen Redekunst. Ders.: Art. ,Rhetorik und Poetik‘. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Hrsg. von Thomas Anz. Stuttgart, Weimar 2007. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, S. 435–465. Historisch-systematischer Überblicksartikel mit dem Schwerpunkt auf der Entwicklung der Rhetorik bis in die Gegenwart. Tornau, Christian: Zwischen Rhetorik und Philosophie. Augustinus Argumentationstechnik in ,De civitate Dei‘ und ihr bildungsgeschichtlicher Hintergrund. Berlin, New York 2006 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 82). Problemorientierte Darstellung von Augustinus’ Prinzipien einer Rhetorik, die auf antiken Füßen steht und christlichen Glauben vermitteln will. Trunz, Erich: Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller des Dreißigjährigen Krieges. München 1987. Wichtiges Buch zu Leben und Werk von Johann Matthäus Meyfart (1590–1642). Ueding, Gert: Moderne Rhetorik. Von der Aufklä-
rung bis zur Gegenwart. München, 2. Aufl. 2009. Erläutert wichtige Stationen der Rhetorikgeschichte anhand zahlreicher Quellen. Ueding, Gert/Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte . Technik . Methode. 4., aktualisierte Aufl. Stuttgart, Weimar 2005. Darstellung der Geschichte und Systematik der Rhetorik von der Antike bis zur Gegenwart. Wels, Volkhard: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2009 (Historia Hermeneutica 8). Umfassende Studie, die von Averroës bis zu Herder einen Bogen spannt und aus historischer und systematischer Perspektive wichtige Stationen des theoretischen Diskurses über Dichtung darstellt. Der erste Teil widmet sich wichtigen Poetiken, der zweite dem Enthusiasmus. Wesche, Jörg: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004 (Studien zur deutschen Literatur 173). Die Studie untersucht mit Hilfe von Begriffen aus der Biologie Strategien der Barockpoetiken und ihre Wechselwirkungen mit der poetischen Praxis. Worstbrock, Franz-Josef: Dilatatio materiae. Zur Poetik des ,Erec‘ Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1–30. Grundlegender Aufsatz zur Technik der amplificatio im Mittelalter. Yates, Frances A.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare. Berlin, 6. Aufl. 2001 (Acta humaniora. Schriften zur Kunstgeschichte und Philosophie). Standardwerk zur Gedächtniskunst. Zeller, Rosemarie: Der Diskurs über die Poetik des Aristoteles in deutschen und lateinischen Poetiken des 17. Jahrhundert. In: Études germaniques 57 (2002), S. 5–34. Der Beitrag untersucht Facetten der theoretischen Auseinandersetzung mit Aristoteles’ ,Poetik‘ und insbesondere ihrer Tragödienkonzeption.
Namenregister Aufgenommen wurden die für die Rhetorik- und Poetikgeschichte relevanten Personen, die im Haupttext genannt sind. d’Agaliers, Pierre de Laudun 93 Aischylos 84, 86 Antonius, Marcus (Triumvir) 14 Antonius, Marcus (Orator) 17 Aristarchos von Samothrake 94 Aristoteles 8, 11–13, 16, 22, 34 f., 42, 48, 54 f., 57, 78–80, 83–89, 92, 94, 96, 100 f., 104 f., 107 f., 110, 121, 132 f. Arp, Hans 127 Augustinus 25–27, 29, 31, 32 f. Augustinus von Dakien 26 Augustus (Oktavian) 87 Averroës 92
Cicero, Marcus Tullius 7 f., 11, 13 f., 17–20, 22–24, 26 f., 31, 33, 35, 38, 40, 43–45, 61 f., 72–75, 89, 92 f., 130 Corneille, Pierre 99, 104 Crassus, Lucius Licinius 17, 61 f.
Bachmann, Ingeborg 129 Bahr, Hermann 8, 50, 125–127 Ball, Hugo 127 Barthes, Roland 55 f., 127 f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 46, 109 Bebel, August 50 Bender, John 58 Bernhard von Meung 93 Beroaldo, Filippo 31 Besant, Sir Walter 130 f. Bidermann, Jacob 37 von Birken, Sigmund 97 f. von Bismarck, Otto 50, 62 von Blanckenburg, Christian Friedrich 109 Bleibtreu, Karl 50, 124 f. Blumenberg, Hans 17, 54 Bodmer, Johann Jacob 102 Boileau, Nicolas 100 Le Bon, Gustav 50 Brecht, Bertolt 128 f. Breitinger, Johann Jacob 102 Buchner, August 97 Burckhardt, Jakob 50 Burke, Kenneth 51, 53, 56 f.
Fabricius, Johann Andreas 42, 44 Ficino, Marsilio 82 f. Flaubert, Gustav 119 Florus, Iulius 87 Fogarty, Daniel 51 Fontane, Theodor 120 de Fontenelle, Bernard le Bovier 102 Freud, Sigmund 125 Freytag, Gustav 120 f.
Capella, Martianus 27–29 Cassirer, Ernst 53 Castiglione, Baldesar 38 Catilina, Lucius Sergius 17 Chase, Stuart 53 f.
Demosthenes 14, 17, 23 f. Diderot, Denis 103 Dionysios von Halikarnossos 24 Edschmid, Kasimir 127 Erasmus, Desiderius 31, 48 Eschenburg, Johann Joachim 46
Gadamer, Hans-Georg 9 f. Galfred von Vinsauf 91, 93 Geertz, Clifford 57 Geißler, Ewald 50 Gellert, Christian Fürchtegott 45, 106 Genette, Gérard 55 Gerhardt, Paul 63 f., 67–69 Gernhardt, Robert 135 f. von Gerstenberg, Heinrich Wilhelm 106 f. Giarda, Christophoro 28 f. von Goethe, Johann 106–111, 116 Goldtwurm, Kaspar 35 Gorgias von Leontinoi 15 f. Gottsched, Johann Christoph 8, 43–45, 79, 99–105, 108, 115, 121 Gracián, Balthasar 38 von Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel 88 Grünbein, Durs 134–136 Gryphius, Andreas 35, 66, 99 Guido Faba 29, 93 Gutzkow, Karl 119
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Namenregister Habermas, Jürgen 54 f. Hallbauer, Friedrich Andreas 42 f., 44 von Haller, Albrecht 46 Hamann, Johann Georg 108 Harsdörffer, Georg Philipp 97 Hart, Heinrich 50 Hart, Julius 50 Hayakawa, Samuel Ichiye 53 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 116 Heinemann, Gustav Walter 63–71 Heinsius, Daniel 94 Herder, Johann Gottfried 108–110 Hermagoras von Temnos 17 Herrad von Landsberg 29 f. Hieronymus 25 Hitler, Adolf 50 Hölderlin, Friedrich 116 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 101 von Hofmannsthal, Hugo 126 Holz, Arno 123, 125 Homer 80 f., 102, 108 Hovland, Carl J. 51 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 8, 35, 78 f., 85, 87–89, 91 f., 94, 96, 99, 119 Innozenz III. 29 Ion 80–83 Isokrates 14 f., 17 Jakobson, Roman 127 Johannes von Garlandia 91 Kant, Immanuel 40, 109, 111, 136 Keller, Gottfried 122 f. Kindermann, Balthasar 36 Klinger, Friedrich Maximilian 106 Korax 14 Korzybski, Alfred 53 f. Lamy, Bernhard 44 Lasalle, Ferdinand 50 Lasswells, Harold D. 51 Laube, Heinrich 119 Leibniz, Gottfried Wilhelm 41, 100 Lenz, Jacob Michael Reinhold 106, 108 Lessing, Gotthold Ephraim 8, 46, 88, 103–105 Lewis, Elmo 76 Lindner, Johann Gotthelf 46 Lipsius, Justus 38 Lodge, David 130 f. von Lohenstein, Casper 35, 44, 101 Longinus 89 Ludwig, Otto 120–122 Luther, Martin 32–34, 36 Lysias 14, 17, 23
Machiavelli, Niccolò 38 de Man, Paul 56 f. Mann, Thomas 50 du Mans, Jacques Peletier 93 Masen, Jacob 37 Matthaeus von Vendôme 91 McLuhan, Herbert Marschall 59 Melanchthon, Philipp 32, 34 f. Mendelssohn, Moses 104 de La Mettrie, Julien Offray 45 Meyfart, Johann Matthäus 35 f. Möser, Justus 64, 67–69 Moritz, Karl Philipp 110 f. Müller, Adam 47 f. Müller, Gottfried Polycarp 43 Mundt, Theodor 119 Nicolai, Friedrich 104 Nietzsche, Friedrich 50, 126 Novalis (Georg Friedrich Freiherr von Hardenberg) 115, 116 von Nürnberg, Friedrich 93 Ogden, Charles Kay 51 f. Olbrechts-Tyteca, Lucie 10, 54 Opitz, Martin 36, 94–97, 99 f. Ortheil, Hanns-Josef 131 Ortloff, Hermann Friedrich 49 Ovid (Publius Ovidius Naso) 35, 86, 102 Paulus 27, 34 Peirce, Charles Sanders 52 Perelman, Chaïm 10, 54 f., 57 Perrault, Charles 102 Peter von Blois 93 Petrarca, Francesco 31 Piso, Lucius Calpurnius 87 Platon 11, 13, 15 f., 52, 78–84, 96, 128 Plautus, Titus Maccius 35 Pontanus, Jacob 37 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 11–12, 21 f., 33, 35, 40, 52, 54 f., 61, 68, 74 f., 92, 130 Racine, Jean Baptiste 99 Ramus, Petrus 31, 40–42, 44, 50 Richards, Ivor Armstrong 51–53, 56 f. Riederer, Friedrich 12, 93 Rilke, Rainer Maria 57 Robert von Basevorn 30 Rollin, Charles 40 de Ronsard, Pierre 93 Roosevelt, Franklin D. 53 Rousseau, Jean-Jacques 104, 112, 114
Namenregister Salutati, Coluccio 31 Scaliger, Julius Caesar 94 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 116 Schiller, Friedrich 102, 110–114 Schlegel, August Wilhelm 116 Schlegel, Friedrich 116–119 Schlegel, Johann Elias 107 Schleiermacher, Friedrich 48 Schmidt, Helmut 76 Schmidt, Julian 120–122 Schnitzler, Arthur 126 Schramm, Wilbur 51 Schottelius, Justus-Georg 97 Seneca, Lucius Annaeus 101 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of 108 Shakespeare, William 103, 105, 107–109 Soarez, Cyprianus 37 Sokrates 11, 13, 15–18, 80–82 Sophokles 84, 86, 108 Sturm, Johannes 35 Sulzer, Johann Georg 109 Tacitus, Publius Cornelius 47 Taine, Hippolyte 124 Teisias 14 Terenz (Publius Terentius Afer) 35
Theremin, Franz 48 Thiersch, Friedrich 49 Thomasius, Christian 41 f. TomaÐevkij,Boris 127 Toulmin, Stephen 54 Treichel, Hans Ulrich 131 Tucholsky, Kurt 71 Vergil (Publius Vergilius Maro) 35, 90 f., 102 Vico, Gian Battista 40 f. Vossius, Gerhard Johannes 35, 37 Wagner, Richard 50 Weaver, Richard Malcolm 51, 53 Weise, Christian 37–39, 44, 97 Wellbery, David E. 58 Wieland, Christoph Martin 45, 109 Wienbarg, Ludolf 119 Wilhelm von Auvergne 30 Winckelmann, Johann Joachim 110 Wolff, Christian 41, 100 Wolff, Oskar Ludwig Bernhard 49 Zachariä, Karl Salomo 49 von Zesen, Philipp 97 Zola, Emile 123 f.
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